Heimkehr
Der Friedhof lag auf einer kleinen Anhöhe, etwa zehn Minuten vom Dorf entfernt. Die Straße führte direkt am Tor vorüber und ein Stück entlang der Friedhofsmauer, bevor sie sich ins Tal hinabschlängelte. Von hier oben aus konnte man zwischen den Bäumen hindurch den Kirchturm und die roten Ziegeldächer der Ortschaft sehen.
Ina Wendland war müde von der langen Reise, doch als der alte Diesel, mit dem ihr Onkel sie vom Bahnhof abgeholt hatte, tuckernd am Tor des Friedhofs vorüberfuhr, richtete sie sich auf und legte dem alten Mann schnell die Hand auf den Arm.
“Halt an, Onkel. Bitte, halt an!” bat sie. “Ich würde gern als erstes das Grab meiner Eltern besuchen.”
Brummelnd trat er auf die Bremse. “Du weißt, daß die Tante auf dich wartet,” sagte er. “Wahrscheinlich steht sie längst vor der Haustüre und hält Ausschau nach uns.”
“Ich weiß, aber.....” Ina sah ihn bittend an. “Fahr du doch schon mal voraus und sag ihr, daß ich gleich nachkomme. Die wenigen Schritte kann ich zu Fuß gehen.”
Der Mann nickte. “Na gut,” meinte er. Er verstand, daß es Ina zum Grab ihrer Eltern zog. Sie war lange fort gewesen.
Die junge Frau öffnete die Wagentür und stieg aus.
“Nur ein paar Minuten,” versprach sie, und dann fügte sie mit einem Lächeln hinzu: “Vielleicht bin ich schneller zu Hause, als du mit deinem alten Diesel. Ich kenne die Schleichwege nämlich noch sehr genau.”
Sie pflückte eine der Wildrosen, die neben dem
schmiedeeisernen Tor an den Mauersteinen hinaufkletterten
und schaute dem alten schwarzen Wagen des Onkels nach.
Der Friedhof war nicht sehr groß. Ein breiter Mittelweg führte vom Tor aus direkt auf das prachtvolle Grabmal zu, in dem vor langer Zeit ein reicher Dorfbewohner begraben worden war. Neben der Steintafel mit seinem Namen stand ein Engel aus schwarzem Basalt, der segnend seine Arme ausbreitete. Ein kleiner Spatz saß tschirpend auf seiner Schulter.
Erinnerungen stürmten auf Ina ein. Wie oft hatte sie als Kind verstohlen die Hand des Engels berührt und ihn gebeten, ihr den einen oder anderen ihrer geheimsten Wünsche zu erfüllen. Und später, als Teenager, hatte sie mit ihren Freudinnen manchmal respektlos allerhand lustigen Unfug mit ihm getrieben.
Das Grab ihrer Eltern befand sich nur wenige Schritte neben dem schwarzen Engel. Eingefaßt von einem niedrigen, frisch gestutzten Hag aus Buxbaum wuchsen Geranien, Begonien, und Männertreu. Neben dem Stein stand eine Vase mit gelben Rosen. Am Tag zuvor war Mamas Geburtstag gewesen, die Tante hatte nicht vergessen, daß gelbe Rosen ihre Lieblingsblumen gewesen waren.
Ina bückte sich und legte die Wildrose vor dem Stein nieder.
“Hallo, Mama! Hallo Papa!” sagte sie leise. “Ich bin wieder zu Hause.”
Und wirklich, hier hatte sie tatsächlich das Gefühl,
heimgekommen zu sein. Der Friedhof schien ihr noch immer so friedlich und vertraut wie damals, bevor sie fortgegangen war. Ihre Eltern waren verunglückt. Von einem Tag auf den anderen hatte es sie nicht mehr gegeben, und ihr Grab war das einzige, was ihr geblieben war. Ein Zufluchtsort, an dem sie sich ihnen nahe fühlte. Damals war sie fast jeden Tag hier oben gewesen. Um zu weinen, um mit ihnen zu reden und sie um Rat zu fragen. Und um sie an allem, was sie erlebte und was sie bewegte, teilhaben zu lassen.
Auch von Tom hatte sie ihnen erzählt. Und als sie ihn eines Tages mit hierher gebracht hatte, hatte sie gesagt: “Mama und Papa, schaut her, das ist Tom!”
Tom hatte das verstanden. Er verstand überhaupt alles. Einen besseren Freund als ihn konnte es gar nicht geben. Ihm konnte sie ihre geheimsten Gedanken anvertrauen, all ihre Sorgen und Ängste. Oft verbrachten sie Stunden auf der kleinen Bank unter der alten Buche neben dem Grab und redeten über Gott und die Welt. Sie stellten einander Fragen, auf die sie keine Antworten wußten, und manchmal saßen sie einfach nur da und schwiegen.
Hand in Hand zuerst, und später, als sie herausgefunden hatten, daß sie sich ineinander verliebt hatten, hielten sie sich im Arm und küßten sich zärtlich. Und unzählige Male schworen sie sich ewige Treue.
Ina seufzte. Seither war so vieles geschehen! Eines Tages war das Angebot aus Hamburg gekommen, die Chance, von der sie ihr Leben lang geträumt hatte. Sie wollte Karriere machen, reich und berühmt werden, - sie hatte einfach zugreifen müssen.
Onkel und Tante hatten ihr nicht dreingeredet.
“Es ist deine Entscheidung,” hatte der Onkel gesagt. “Wenn du glaubst, in der Großstadt dein Glück zu machen und Erfolg zu haben, dann mußt du gehen.”
Tom war traurig gewesen, aber auch er hatte es verstanden.
Das Leben in der Stadt war ganz anders gewesen, als auf dem Dorf. Und auch ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Hektik und Streß bestimmten ihren Tagesablauf, ein Termin jagte den anderen. Niemand hatte mehr Zeit, weder für sich selbst, noch für andere. Nur der Erfolg zählte.
Zu Anfang hatte ihr das Angst gemacht, aber man gewöhnte sich daran, wenn man große Pläne hatte, wenn man ehrgeizig genug war und der Erfolg nicht auf sich warten ließ. Das Dorf und seine Menschen rückten immer weiter in die Ferne. Manchmal schien ihr die Erinnerung an das Leben dort nur noch ein fast vergessener schöner Traum zu sein. Bald fand sie keine Zeit mehr, ihren Freunden zu schreiben, und auch der Griff zum Telefon wurde immer seltener.
Irgendwann lernte sie Bernd kennen, reich und erfolgreich, wie sie selbst. Sie wollte nicht länger allein sein, deshalb suchte sie Wärme und Geborgenheit bei ihm, und sei es auch nur für wenige Stunden.
Sie heirateten, erlebten dann aber ein Fiasko und trennten sich wieder. Auch für ihn hatten nur Geld und Macht gezählt. Auch er hatte keine Zeit gehabt.
“Ina?”
Zuerst glaubte sie, eine Stimme aus ihrer Erinnerung ihren Namen rufen zu hören. Aber da war es noch einmal ganz deutlich. “Ina.”
Sie schaute sich um. Ein junger Mann stand hinter ihr. Sie brauchte eine Sekunde, um ihre Gedanken zu ordnen.
“Tom?” fragte sie ungläubig. Sie stand auf und starrte ihn an. Nein, sie brauchte nicht zu fragen, ob er es war. Er hatte sich überhaupt nicht verändert.
“Mein Gott, Tom! Wie schön, dich wiederzusehen.”
Ganz spontan verspürte sie den Wunsch, ihn in den Arm zu nehmen, doch sie hielt sich zurück. Sie wußte nicht, ob ihm das recht gewesen wäre. Zu viel Zeit war vergangen seit damals. Auch in seinem Leben würde sich vieles verändert haben. So streckte sie ihm nur die Hand entgegen.
Sein Händedruck war fest und warm, und eine unbeschreibliche Kraft ging von ihm aus. Er lächelte, und in seinen Augen lag so viel Wärme und Herzlichkeit, so viel Freude über ihr Wiedersehen, daß sie dachte: Ja, nun bin ich wirklich zu Hause!
“Es ist schön, daß du wieder hier bist,” sagte er. “Wirst du jetzt für immer bleiben?”
Sie hob die Schultern. “Ich bin mir noch nicht ganz sicher. Auf jeden Fall bleibe ich die nächsten Monate, dann werde ich weitersehen.”
Er nickte. “Komm,” sagte er und nahm ihren Arm, “setzen wir uns auf unsere Bank. Wie in alten Zeiten.”
“Ja,” antwortete sie lächelnd und setzte sich. “Unsere Bank.”
Sie betrachtete ihn neugiereig.
“Jetzt erzähl mal, wie ist es dir ergangen in all den Jahren? Bist du verheiratet? Hast du Kinder?”
“Nein.”
“Du wolltest immer Schriftsteller werden. Hast du inzwischen ein Buch geschrieben?”
Er schüttelte den Kopf. “Nein,” sagte er traurig. “Ich habe damit angefangen, aber es ist nie fertiggeworden.”
Sie senkte den Kopf. “Ich hoffe, du trägst es mir nicht nach, daß ich damals so Hals über Kopf fortgegangen bin.”
“Aber nein! Du mußtest es tun,” antwortete er. “Und dein Erfolg hat dir recht gegeben. Sicher hast du alles erreicht, was du dir erträumt hast.”
Sie seufzte. “Ja,” sagte sie leise, “ich habe alles erreicht. Ich hatte Erfolg, Geld, Ansehen.....! Was will man mehr! - Aber glücklich, Tom....., glücklich war ich nie!”
Er schaute sie schweigend an aus seinen sanften dunklen Augen.
“Ich habe alles teuer bezahlen müssen,” fuhr sie fort. “Viel zu teuer! Ich habe dabei vergessen, zu leben, verstehst du?”
Er nickte. “Es gibt viele Möglichkeiten, das Leben wegzuwerfen.”
Ina sah auf ihre Armbanduhr und stand auf.
“Ich muß gehen, Tom,” sagte sie, “die Tante wartet auf mich. Komm doch mit, dann können wir auf dem Weg noch ein bißchen miteinander reden.”
Er schüttelte den Kopf und hob bedauernd die Schultern. “Ich muß in die andere Richtung.”
“Aber wir sehen uns doch wieder?”
Er lächelte. “Ganz bestimmt.”
Sie gaben sich die Hand.
“Schau doch mal bei Onkel und Tante vorbei. Ich würde mich wirklich sehr freuen. Es gibt doch noch so viel, was wir uns zu erzählen haben.”
Er nickte und hob wortlos die Hand zum Gruß.
Ina sah ihm eine Weile nach. Nun war alles gut. Mit jeder Faser ihres Seins spürte sie, daß sie wieder zu Hause war. Hier war die Welt in Ordnung, hier konnte sie sich ausruhen und neue Kraft tanken. Und Tom würde ihr dabei helfen.
Beschwingt machte sie sich auf den Weg und lief den kleinen verwinkelten Fußweg zum Dorf hinunter, den sie noch aus vergangenen Tagen kannte.
Die Tante hatte aus dem Fenster geschaut und ungeduldig auf sie gewartet. Nun kam sie aus der Haustür gelaufen und nahm sie stürmisch in die Arme.
“Ina, mein Mädchen! Wie schön, dich wieder bei uns zu haben. - Mein Gott, wie dünn du bist. Ich werde dich erst mal tüchtig herausfüttern müssen.”
Der Onkel schaute ihnen lächelnd zu.
Ina war noch immer überwältigt von diesem Gefühl aus Glück und Zufriedenheit, das sie ergriffen hatte. “Was glaubt ihr, wen ich auf dem Friedhof getroffen habe?” erzählte sie freudestrahlend, während sie sich ins Haus führen ließ. “Den Tom! Stellt euch vor, plötzlich stand der Tom neben mir!”
Die Tante hielt inne und schaute den Onkel an.
“Den Tom?”
Ina setzte sich auf das alte Sofa, - auch das erinnerte sie an ihre Kindertage. Liebevoll strich sie über den abgewetzten Plüsch. “Ja. Aber ich hatte keine Zeit, mich lange mit ihm zu unterhalten, weil ich versprochen hatte, so schnell wie möglich hier zu sein. Damit du dir keine unnötigen Sorgen machst, Tantchen. Aber ganz sicher kommt er uns in den nächsten Tagen besuchen.”
Sie sah die bestürzten Gesichter.
“Was ist denn?” fragte sie verwirrt und schaute von einem zum anderen.
“Du mußt ihn verwechselt haben,” sagte die Tante und fing an, das Kaffeegeschirr aus dem Schrank zu nehmen.
“Verwechselt?” Ina war verwundert. “Wie könnte ich Tom mit einem anderen verwechseln. Wir saßen doch zusammen auf der kleinen Bank und haben miteinander von den alten Zeiten geredet.”
Der Onkel wandte sich ab und steckte sich eine Zigarre an. Die Hände der Tante zitterten und das Geschirr klirrte, als sie es auf dem Tisch absetzte.
“Hab ich was Dummes gesagt?” fragte Ina verunsichert.
Die Tante füllte den Kaffee in die Kanne.
“Den Tom gibt es nicht mehr,” antwortete sie.
“Was sagst du da?“
“Tom ist gestorben. Er ist schwermütig geworden, wie sein Vater, und etwa zwei Jahre, nachdem du fort warst, hat er seinem Leben ein Ende gesetzt, und wir haben ihn begraben.”
Tag der Veröffentlichung: 27.02.2009
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