Zwischen Traum und Wirklichkeit
Dr. Wagner hatte Nachtdienst. Er saß an seinem Schreibtisch, gähnte und schaute auf die Armbanduhr. Es war viertel nach elf. Der Lichtkegel der Tischlampe fiel auf ein Heft mit orangefarbenem Einband. Auf dem Etikett stand in hübschen gleichmäßigen Buchstaben geschrieben: "Meine Geschichte". Es war die Geschichte von Katrin Weikert.
Dr. Wagner mochte die kleine zierliche Frau mit den großen traurigen Augen. Sie war die Frau eines Kollegen, der sie ihm als Patientin anvertraut hatte. Er hatte ihr den Vorschlag gemacht, ihre Geschichte aufzuschreiben. Das sollte ihr helfen, sich mit ihren Problemen auseinanderzusetzen.
Eigentlich hatte er gehofft, sie damit für die nächsten Wochen beschäftigt zu haben, doch dann war sie in nur drei Tagen damit fertig gewesen, und das Ergebnis sah recht dürftig aus.
“Versprechen Sie mir, meine Zeilen noch heute nacht zu lesen?” hatte sie ihn am Nachmittag gebeten, als sie ihm das Heft überreicht hatte.
Er hatte genickt und es versprochen. Warum nicht? Während des Nachtdienstes hatte er Zeit genug, um einen Blick hineinzuwerfen. Vielleicht ergaben sich daraus Hinweise, wie man ihre Therapie verändern oder gar verbessern konnte.
Nun setzte er sich bequem in seinem Sessel zurecht und zog noch einmal kräftig an seiner Zigarette, bevor er sie im Aschenbecher ausdrückte.
Er griff nach dem Heft, schlug die erste Seite auf und begann zu lesen:
"Ich war schon seit langem von Lenny Brügge fasziniert. Ich liebte seine Lieder und seine einschmeichelnde Stimme. Im Laufe der Jahre hatte ich mir all seine Platten gekauft, und ich verpaßte keinen einzigen seiner Auftritte im Fernsehen. Ich schnitt sämtliche Artikel und Fotos aus, die ich in den Zeitungen über ihn finden konnte und sammelte sie in einer Schachtel, die ich an einem geheimen Ort aufbewahrte.
Zugegeben, das mag ungewöhnlich klingen für eine Mutter von drei erwachsenen Kindern, für eine Frau von achtundvierzig, deren Mann als bekannter Chirurg mitten im öffentlichen Leben steht. Doch ich litt unter schweren Depressionen damals, weil ich mich einsam und ungeliebt fühlte, von niemandem mehr gebraucht.
Unsere Tochter Monika war verheiratet und lebte hunderte von Kilometern weit von uns entfernt. Tobias, der Mittlere, hatte kurz zuvor in einer anderen Stadt sein Studium begonnen und sich dort ein Zimmer genommen, und nur Jochen, der Jüngste, wohnte noch zu Hause. Doch auch er war inzwischen in einem Alter, in dem er sich seine Freizeit lieber mit Freunden oder Mädchen um die Ohren schlug, anstatt sich um seine Mutter zu kümmern.
Und Werner, mein Mann? Der hatte seit Monaten ein Verhältnis mit einer jungen Kollegin, und er gab sich nicht einmal Mühe, das vor mir oder der Öffentlichkeit geheimzuhalten.
Was blieb mir anderes übrig, als mir meine eigene Welt zu schaffen? Eine Welt, in der Lenny Brügge und seine Musik der Mittelpunkt waren.
Ich traf Lenny das erste Mal an einem regnerischen Abend im November. Es war früh dunkel geworden, und ich saß in meinem Zimmer, eingerollt in meiner Lieblingsecke auf der Couch, und starrte durch das gardinenlose Fenster in den wolkenverhangenen Himmel über dem Garten. Das Dämmerlicht hatte sich gespenstisch im Raum ausgebreitet, und nur schemenhaft konnte man die Einrichtungsgegenstände erkennen: Den Schreibtisch mit der kleinen, dickbauchigen Lampe, das Bücherregal an der Wand daneben und den mannshohen Philodendron, dessen gefingerte Blätter mit etwas Phantasie bizarre Figuren erahnen ließen. An diesem Abend erinnerte er an einen Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dasaß und meinen Gedanken nachging, - ich weiß nur, plötzlich war Lenny da! Er stand regungslos neben der Tür, und obwohl es fast dunkel im Raum war, konnte ich ihn doch erkennen und wußte, wer er war.
Erschrocken war ich nicht, - nur grenzenlos erstaunt. Ich hielt den Atem an und wartete, was geschehen würde.
Verwirrt stand er da und schaute mich an.
"Hallo," sagte ich, "wo kommst denn du auf einmal her?"
Er kam einen Schritt näher, blieb wieder stehen und sah sich verwundert um.
"Ich..... weiß es nicht," antwortete er.
"Schön, daß du da bist," sagte ich. "Ich habe zwar keine Ahnung, ob es ein Traum ist, oder ob ich es mir nur einbilde, aber trotzdem freue ich mich, dich zu sehen."
Ich deutete auf den freien Platz neben mir. "Komm, setz dich."
Dann streckte ich meinen Arm nach ihm aus.
"Gib mir deine Hand, ich möchte wissen, wie sich ein Traum anfühlt."
Immer noch unsicher kam er zu mir herüber und setzte sich. Ich berührte seinen Arm und fuhr zurück. Ich hatte erwartet, daß ich durch ihn hindurchgreifen würde, aber er fühlte sich fest und warm an, und ich spürte die Wolle seines Pullovers unter meinen Fingern.
“Ich verstehe überhaupt nicht, was passiert ist,” sagte er, noch immer ein bißchen verwirrt. “Ich saß im Sessel am Kamin und habe gelesen..... Ich muß wohl eingeschlafen sein."
"Ich kann es mir auch nicht erklären. Glaubst du wirklich, daß es ein Traum ist, den wir beide träumen?"
"Ist es denn überhaupt möglich, daß zwei Menschen den gleichen Traum haben können?"
“Das weiß ich nicht. Vielleicht habe ich mir einfach zu sehr gewünscht, dich zu treffen."
Er hob die Schultern, dann sah er mich neugierig an.
"Wer bist du eigentlich?"
"Ich heiße Katrin," antwortete ich, "und ich bin ein großer Fan von dir. Vielleicht sogar der größte."
Ich lachte. "Zumindest bist du bei der Richtigen gelandet, wenn das eine Art von Service ist, den du dir für deine Anhänger ausgedacht hast."
Er lächelte. "Wenn ich genau wüßte, wie es zustandegekommen ist, könnte ich es vielleicht für die Fan-Clubs wiederholen."
Er sah sich im Zimmer um. "Lebst du allein hier?"
"Nein. Eigentlich sind wir eine große Familie, aber die beiden Ältesten sind schon aus dem Haus, und mein Mann und der Jüngste..... Sie sind wohl ausgegangen.” Ich seufzte. “Sie sind fast jeden Tag unterwegs."
“Und du? Warum bist du nicht auch ausgegangen, anstatt hier allein zu Hause im Dunkeln zu sitzen?"
"Oh, das ist eine lange Geschichte."
"Dann erzähl' sie mir!"
Ich sah ihn zweifelnd an. "Ich weiß nicht, ob sie dich interessieren würde."
"Warum nicht?" Er nickte mir aufmunternd zu. "Aus
unerklärlichen Gründen bin ich nun mal hier. Ich denke, irgendwann wird es vorüber sein. Unterhalten wir uns, solange es dauert."
Ich erzählte ihm tatsächlich meine Geschichte, und er war ein guter Zuhörer. Und als ich damit fertig war, berichtete er über sich und sein Leben, und ich erfuhr viele Dinge über ihn, die in keiner Zeitung zu lesen waren. Ich war glücklich und fühlte mich leicht und frei, wie schon lange nicht mehr. Meine Wangen glühten wie bei einem Teenager, und beim Erzählen und Gestikulieren hatte sich mein aufgestecktes Haar gelöst und fiel mir über die Schultern.
Lenny hielt mitten im Satz inne und schaute mich erstaunt an.
"Du bist sehr hübsch," sagte er.
Ich wurde mir plötzlich meines Alters bewußt und schämte mich ein wenig. Er hätte fast mein Sohn sein können, und ich war ganz sicher alles andere als hübsch, das wußte ich.
"Du strahlst so viel Wärme aus," sagte er, "deine Augen sind so lebendig, und dein Lachen ist einfach mitreißend. Es macht Spaß, sich mit dir zu unterhalten."
Ich senkte den Kopf. "Ich bin eine alte Frau, von der niemand mehr etwas wissen will," antwortete ich, und diese unendliche Traurigkeit überfiel mich wieder.
"Nein," widersprach er mir, "ich sehe dich ganz anders. Ich kann nicht erkennen, ob du zwanzig bist oder fünfzig, - selbst, wenn ich es versuche. Aber vielleicht ist es ein Teil dieses Wunders, das wir gerade erleben, daß ich dich so sehe, wie es in deinem Herzen aussieht."
Er streckte die Hand nach mir aus und....., - plötzlich traf mich ein greller Lichtstrahl, so hell, daß mich meine Augen schmerzten. Ich verdeckte sie mit den Händen und blinzelte durch die Finger.
Ich sah Jochen in der Tür stehen, er hatte das Licht angeknipst.
"Hast du geträumt, Mama?"
"Nein, ich....." Ich schaute mich nach Lenny um, aber er war nicht mehr da. Ich war enttäuscht, doch gleichzeitig auch froh darüber, daß ich meinem Sohn nicht erklären mußte, was der fremde junge Mann in meinem Zimmer tat.
"Geh doch ins Bett, Mama, und leg dich schlafen. Ich kann mir auch selbst noch was zu essen machen."
In dieser Nacht lag ich noch lange wach, und in meinem Kopf schwirrten tausend Gedanken. Ich war mir ganz sicher, daß Lenny kein Traum gewesen sein konnte, kein Hirngespinst, denn ich hatte seinen Arm berührt, seine Stimme gehört, sein Lachen..... Er war so wirklich gewesen, wie das Kopfkissen, auf dem ich nun lag, wie die Uhr auf dem Nachttisch, die leise tickend das Fortschreiten der Zeit anzeigte, wie der sanfte Luftzug, der vom offenen Fenster her über mein Gesicht strich. Und dennoch....., was war nur passiert? Begann es so, wenn man langsam den Verstand verlor?
Am nächsten Tag konnte ich kaum erwarten, bis es wieder Abend wurde. Wie hatte ich früher darunter gelitten, allein zu sein. Nun saß ich auf meinem Platz in meinem Zimmer, sehnte die Einsamkeit und die Dunkelheit herbei und hoffte, daß sich das Wunder wiederholen würde.
"Lenny!" rief ich mit gedämpfter Stimme in den Raum hinein. "Lenny, bist du da?"
Ich beobachtete die Stelle neben der Tür, an der ich ihn das erste Mal gesehen hatte, - doch da war niemand. Ich ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Alles war wie am Abend zuvor, nur der Philodendron hatte diesmal die Gestalt eines Clowns angenommen. Das Gesicht mit dem lautlosen Lachen machte mir ein wenig Angst.
Und auf einmal hörte ich das Lachen wirklich. Es kam aus dem Sessel vor dem Fenster, und als ich herumfuhr, sah ich, daß Lenny darin saß.
"Voilà, hier bin ich!" sagte er und stand auf. "Hast du schon auf mich gewartet?"
"Ja," antwortete ich. "Ja!" Und ein befreites Lachen wischte alle meine Sorgen fort.
Lenny kam, so oft er konnte. Manchmal hatte er tagelang keine Zeit, dann vermißte ich ihn sehr. Oft kam er auch erst später, wenn ich längst nicht mehr mit ihm gerechnet hatte.
Es waren schöne Stunden, die wir zusammen verbrachten. Wir redeten über alles, was uns bewegte, - über unsere Sorgen und über das, was uns Freude machte, und mit der Zeit waren wir einander so vertraut, als wären wir schon seit Ewigkeiten gute Freunde. Ich lebte nur noch für die Augenblicke, in denen er da war. Meine Familie war weit in den Hintergrund getreten. Sie wollte mich nicht, - na gut, ich wollte sie auch nicht mehr! Es war mir gleichgültig, was um mich herum geschah. Die meiste Zeit des Tages verschlief ich, damit die Stunden schnell vergingen, bis ich Lenny wiedersehen und mit ihm reden konnte.
Nach einigen Wochen bemerkte ich, daß sich das Verhalten meiner Familie mir gegenüber verändert hatte. Sie mieden mich, und wenn sich eine Begegnung nicht umgehen ließ, dann behandelten sie mich wie ein kleines Kind, oder wie eine empfindliche Kranke. Ich versuchte, ihnen klarzumachen, daß ich nicht krank war, - im Gegenteil, daß ich ein Wunder erlebte, etwas ganz Besonderes. Etwas, auf das ich sehr stolz war. Sie täuschten Verständnis vor, aber ich sah in ihren Augen, daß sie mich nicht verstanden.
Und eines Tages brachte mich Werner hierher in diese Klinik. In eine Nervenheilanstalt. Als ob ich verrückt wäre!
Für mich brach eine Welt zusammen. - Meine Welt, - denn seit ich hier bin, kommt Lenny nicht mehr. Wie hätte er mich auch finden sollen? Die Medikamente lähmten meine Gedanken, und er wußte nicht, wo er nach mir suchen sollte.
Die ersten Wochen waren schrecklich für mich. Ich rief den ganzen Tag nach ihm. - Natürlich nicht laut, sonst hätten mich die Schwestern tatsächlich für verrückt gehalten. Ich weinte und betete, - aber er kam nicht. Ich sah ihn nie wieder!
Seither ist mein Leben sinnlos und leer, und ich frage mich, warum ich eigentlich immer noch hier bin. Nicht hier in der Klinik, sondern auf der Welt, - auf dieser einsamen, kalten, lieblosen Welt.
Doch Gott sei Dank gibt es einen Ausweg. Wenn Sie diese Zeilen lesen, Herr Dr. Wagner, werde ich die Schwelle in eine andere Wirklichkeit bereits überschritten haben. Dort werde ich auf Lenny warten. Mag es auch Jahre dauern, - dort drüben sind es nur Augenblicke, und eines Tages wird er mir nachkommen, und wir werden wieder zusammen sein.
Sie konnten mir nicht helfen, Herr Dr. Wagner, es war nicht Ihre Schuld.
Leben Sie wohl!"
Dr. Wagner warf das Heft auf den Tisch und sprang auf.
"Oh, mein Gott," stammelte er, stürmte auf den Korridor hinaus und rannte den Flur entlang bis zum Seitenflügel, in dem sich ihr Zimmer befand.
Als er atemlos und mit klopfendem Herzen vor ihrem Bett stand und auf sie hinunterschaute, sagte ihm ein einziger Blick, daß er zu spät gekommen war. Sie sah aus, als ob sie schlief. Das lange dunkle Haar umrahmte ihr bleiches schmales Gesicht, und auf ihren Lippen lag ein leises zufriedenes Lächeln. Ihr Arm hing schlaff über die Bettkante hinunter und spiegelte sich in der Blutlache auf dem Fußboden. Er fühlte ihr den Puls, aber es gab kein Lebenszeichen mehr. Sie war tot.
Nachdem er alles Notwendige veranlaßt hatte, kehrte er in sein Büro zurück und ließ sich müde in den Sessel fallen. Obwohl er ihre Absichten nicht hatte vorausahnen können, machte er sich Vorwürfe. Hatte er etwas übersehen? Hatte er ihr nicht richtig zugehört?
Seine Hände zitterten noch immer, als er sich erneut eine Zigarette anzündete.
Laute Schritte und Schwester Marthas energische Stimme auf dem Flur rissen ihn aus seinen Gedanken, und im nächsten Augenblick flog die Tür auf und ein junger Mann stand atemlos vor ihm. Er trug einen Trenchcoat, sein Haar war zerzaust vom Wind und feucht vom Regen. Dr. Wagner glaubte, ihn zu kennen, konnte sich aber nicht erinnern, wo er ihn schon einmal gesehen hatte.
"Tut mir leid, Doktor," entschuldigte sich Schwester Martha und zwängte sich ärgerlich an dem Eindringling vorbei. "Er ließ sich einfach nicht aufhalten."
"Schon gut!" Dr. Wagner hob beschwichtigend die Hand.
"Katrin.....?" stammelte der junge Mann, und der Arzt schaute in ein Paar angstvoll auf ihn gerichtete blaue Augen.
Er schüttelte traurig den Kopf. "Zu spät!" sagte er. "Wer immer Sie sein mögen, Sie kommen zu spät!"
Der junge Mann ließ den Kopf sinken und sagte so leise, daß man ihn kaum verstehen konnte: "Ich bin Lenny Brügge."
Tag der Veröffentlichung: 27.02.2009
Alle Rechte vorbehalten