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Wohl dem, der einen Martin hat


Es war an einem Sonntag zwischen Weihnachten und Neujahr. Zu Mittag hatte es Helenes berühmten Entenbraten gegeben, und nun saß Paul Blasius satt und zufrieden in seinem Sessel am Fenster und las die Zeitung.
Ihm gegenüber auf dem Sofa saß Helene und strickte. Sie hatte sich die Kissen gemütlich in der Ecke zurechtgerückt. Der Pullover, an dem sie arbeitete, war für ihn bestimmt. Eigentlich hätte er zu Weihnachten fertig sein sollen, aber sie hatte es nicht mehr geschafft, weil so viel anderes zu tun gewesen war.

Nach einer Weile wurde Paul schläfrig und gähnte. Er ließ die Zeitung auf die Knie sinken und schaute zum Fenster hinaus.
In der Nacht hatte es geschneit, und die ganze Welt schien wie in weiche weiße Watte gepackt. Die langen Ruten des Winterjasmins im Vorgarten neigten sich fast bis auf den Boden unter der Last des Schnees.
Die Kinder vom Nachbarn auf der gegenüberliegenden Straßenseite bauten einen Schneemann. Eine alte Frau zog einen Schlitten, auf dem ein kleiner vermummter Junge saß. Ihr Atem hing wie ein weißes Wölkchen in der kälteklirrenden Luft.

Ein Taxi fuhr vorüber. Nein, - zu seinem Erstaunen stellte Paul fest, daß es direkt vor seinem Gartentor hielt. Er reckte den Hals ein wenig, um besser hinaussehen zu können. Ein Mann stieg aus, und nachdem das Taxi weitergefahren war, stand er unschlüssig da und schaute zum Haus herüber. Er war groß, schlank und dunkelhaarig. In der einen Hand trug er eine lederne Reisetasche, mit der anderen öffnete er nun das Tor.

"Wer ist denn das!" murmelte Paul Blasius vor sich hin. "Der will ja zu uns."
Helene hatte ihr Strickzeug beiseite gelegt und kam an seine Seite, weil sie neugierig war, was es da zu sehen gab.
"Martin!" rief sie plötzlich. "Das ist Martin!"
Sie war ganz aufgeregt und lief aus dem Zimmer.
Wer ist Martin, dachte Paul, ich habe nie von einem Martin gehört.
Und dann sah er Helene den Gartenweg entlang- und auf den Fremden zulaufen, und der ließ seine Tasche fallen und fing sie in seinen Armen auf.
Paul Blasius ärgerte sich. Warum hatte Helene ihm nie etwas von diesem Martin erzählt? Sie hatte weder einen Bruder noch einen Vetter, der so hieß, - oder sollte sie etwa.....? Seine Helene? Er wagte nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken.

Einige Augenblicke später standen die beiden Arm in Arm im Türrahmen.
"Paul, das ist Martin," sagte Helene mit strahlenden Augen, und an den Fremden gewandt: "Martin, das ist mein Mann Paul."
Die beiden Männer gaben sich die Hand.
"Und wer, bitte schön, ist Martin?" fragte Paul ein wenig gereizt. Was fiel diesem Mann ein, einfach ohne Voranmeldung hier aufzukreuzen!
"Martin ist mein Freund," sagte Helene.
"Dein was?" Paul glaubte, nicht richtig gehört zu haben.
"Ja, mein Freund," wiederholte Helene arglos. Sie nahm Martin den Mantel ab, bot ihm Platz an auf dem Sofa und setzte sich neben ihn. Viel zu dicht neben ihn, dachte Paul, und dann besaß dieser Fremde auch noch die Dreistigkeit, seinen Arm um ihre Schultern zu legen und sie an sich zu drücken.
Paul wurde langsam böse.
"Kann mir mal jemand verraten, was hier gespielt wird?" fragte er ärgerlich.
Martin und Helene sahen einander lachend an.
"Erklärst du's ihm?" fragte sie ihn.
Er nickte. "Ja, ich bin Lenis Freund," wiederholte er, "und ich bin ihr alles, was Sie ihr nicht mehr sind, -sei es aus Egoismus, aus Bequemlichkeit oder ganz einfach aus Gedankenlosigkeit.”
Paul war sprachlos. Alles, was er ihr nicht mehr war? Das verstand er nicht.
Martin sprach weiter: "Ich bin immer für sie da, wenn sie jemanden braucht. Wenn sie sich nach Zärtlichkeit sehnt, nach Verständnis, nach Mitgefühl oder Anerkennung..... Ich höre ihr zu, wenn sie etwas auf dem Herzen hat, tröste sie, wenn sie traurig ist. Ich rede mit ihr über alles, was sie bewegt, teile Freude und Begeisterung mit ihr, und ich halte ihre Hand, wenn sie sich einsam fühlt....."
"Es ist nicht nötig, daß Sie sich darum kümmern, dazu hat sie doch mich!" sagte Paul.
Martin lächelte. "Sind Sie sicher?" fragte er.
"Natürlich, ich bin doch ihr Mann! Wir sind jetzt über vierzig Jahre verheiratet."
"Und wann haben Sie sie das letzte Mal in den Arm
genommen? Wann haben Sie ihr das letzte Mal richtig zugehört oder hatten Zeit für sie? Haben Sie ihr jemals dafür gedankt, daß sie all die Jahre immer für Sie da war? - Wann haben Sie ihr das letzte Mal gesagt, daß Sie sie lieben!"
"Das weiß sie doch!" brummte Paul.
Martin schüttelte den Kopf. "Das reicht nicht! Man muß es sagen. Und zeigen! - Immer wieder."
Paul schnaubte verächtlich. Was redete dieser Mann daher. Sie waren doch keine zwanzig mehr, und die Zeit des Turtelns war längst vorüber. Obwohl, - im Grunde seines Herzens verstand er, was er meinte, denn Leni war wirklich eine gute Frau. Immer war sie für ihn da gewesen, immer hatte sie zu ihm gehalten. Auf vieles hatte sie verzichtet, damit er seine Träume verwirklichen konnte.
Er dachte nach. Vielleicht hatte er sich wirklich zu wenig um sie gekümmert. Hätte sie sich vielleicht ein ganz anderes Leben gewünscht?
Martin legte die Hand auf seinen Arm.
"Es ist nicht zu spät," sagte er. "Fangen Sie gleich heute damit an, - und eines Tages braucht sie mich vielleicht gar nicht mehr."
Paul preßte die Lippen zusammen. Leni war seine Frau. Es brauchte wirklich keinen anderen, um sie glücklich zu machen!
"Paul, du solltest dich ein bißchen hinlegen," hörte er sie sagen. "Komm, ich hab dir auf dem Sofa Platz gemacht, ich kann auch im Sessel stricken. Und dann hole ich dir eine Decke, sonst erkältest du dich wieder."
Paul schaute zu ihr hinüber. Sie war allein. Wo war Martin?
Sie klopfte die Kissen zurecht und sagte: "Nun komm schon! Ein Stündchen Schlaf wird dir guttun."
Paul sah sich um und rieb sich die Augen.
"Ist Martin nicht mehr da?" fragte er vorsichtig.
Helene sah ihn verständnislos an.
"Martin? Welcher Martin!? - Ich glaube, du hast geträumt."
"Ich hab nicht geschlafen."
Sie lachte. "Du kannst es ruhig zugeben, ich hab doch gesehen, daß du eingenickt bist."

Paul stand auf. Im Vorübergehen legte er flüchtig den Arm um ihre Schulter und gab ihr unbeholfen einen Kuß auf die Wange. Das hatte er schon lange nicht mehr gemacht.
"Wenn ich dich nicht hätte!" brummte er. Ihm fiel nichts Besseres ein, aber das war doch schon mal ein Anfang.
Leni lachte wieder. "Was ist denn los mit dir," meinte sie belustigt, "der Frühling beginnt doch erst in ein paar Wochen."

Paul legte sich seufzend auf dem Sofa zurecht, ließ sich von ihr zudecken und schloß die Augen.
Es ist wahr, dachte er, ich muß etwas tun. Ich werde Karten für die Oper besorgen, - davon träumt sie doch schon seit einer Ewigkeit. Und ich werde mir mehr Zeit für sie nehmen. Und überhaupt, - ich werde ihr sagen, wie schön es mit ihr war in all den Jahren. Und dann wird Martin keine Chance mehr haben. Schließlich schlief er ein, - tief und traumlos, und voller guter Vorsätze.


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Tag der Veröffentlichung: 27.02.2009

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