1.
” auf die Rückseite geschrieben. Auf einem anderen jagte sie, zusammen mit einem Jungen in kurzen Hosen und einem schwarzen zotteligen Hund, auf einer Wiese einem Ball nach. Dann gab es Bilder vom Schuleintritt 1948, ein Gruppenfoto mit ihrer Schulklasse etwa fünf Jahre später, und eines als Konfirmandin, ein Gesangbuch in den Händen haltend. Darauf lag ein weißes Spitzentüchlein mit einem kleinen Strauß Maiglöckchen. Sie schaute sehr ernst in die Kamera, sie schien sich der Wichtigkeit dieses Tages bewußt zu sein. Auf anderen Fotos waren junge Leuten zu sehen, lachende junge Männer mit Koteletten und der berühmten Tolle der Fünfziger-Jahre, aufgenommen vor einem Auto, für das ein Liebhaber inzwischen ein Vermögen auf den Tisch gelegt hätte. In einem Lokal prosteten sie einander mit Bier- und Cola-Flaschen zu. Dazwischen Britta mit Pferdeschwanz und Pony, in weiten, durch Pettycoats aufgebauschten Röcken. Sie war ein sehr hübsches Mädchen gewesen. Oliver war aufgefallen, daß einer der jungen Männer auf fast allen dieser Fotografien zu sehen war, und ein kleines Paßbild von ihm berührte ihn ganz besonders, denn auf der Rückseite stand eine Widmung: Für meine kleine Queenie in ewiger Liebe - Rock. 2. . “Hier ruht unser Freund Bobby, gestorben am 20.8.1955”
Das Meer war ruhig; die von der sanften Brise leicht gekräuselte Wasseroberfläche glänzte rotgolden in der untergehenden Sonne. Am Horizont war im Abenddunst der Streifen des gegenüberliegenden Ufers zu sehen. Dort, auf der anderen Seite des Jadebusens, lag Dangast. Noch immer zogen die Möwen kreischend ihre Runden, ließen sich auf den Fahnenmasten nieder, auf den leeren Strandkörben, pickten nach den Krumen, die den Badegästen auf das Klinkerpflaster der Strandpromenade gefallen war. Oliver Brandström, auf das Geländer des kleinen Balkons gestützt, atmete die herbe salzige Abendluft tief in sich hinein und schaute gedankenverloren in den Himmel, an dem sich die ersten Sterne zeigten. Meine Reise hat begonnen, dachte er, meine Reise in die Vergangenheit. Er war nach Wilhelmshaven gekommen, um nach seinen Wurzeln zu suchen. Noch drei Wochen zuvor hatte er nichts geahnt von der Bedeutung, die diese Stadt einmal für ihn haben würde. Alles, was er bisher gewußt hatte, war, daß seine Mutter Julia 1958 hier geboren worden war. Kindheit und Jugend hatte sie dann im fünfzig Kilometer entfernten Oldenburg in einem Heim für Waisenkinder verbracht, bis sie im Alter von neunzehn Jahren Lars Brandström getroffen und geheiratet hatte. Das war nahezu alles, was Oliver über seine Mutter wußte. Über seinen Vater hatte er weit mehr erfahren, denn bei den Großeltern Brandström war er aufgewachsen. Allerdings konnte er sich kaum mehr an seine ersten Lebensjahre in Oldenburg erinnern. Nur vage tauchten hin und wieder Bilder vor ihm auf, und er sah sich mit der Großmutter am Grab seiner Eltern und später an dem des Großvaters stehen. Er hatte nie ganz begriffen, warum die Großmutter der Stadt Oldenburg den Rücken gekehrt hatte und mit ihm nach Stuttgart zu ihrer Schwester gezogen war. Es hatte sogar Zeiten gegeben, in denen er es ihr übelgenommen hatte, daß sie seine Eltern und den Großvater auf dem Friedhof in Oldenburg einfach zurückgelassen hatte. Eine Rechtfertigung für ihr Tun hatte sie jedoch niemals für notwendig gehalten. Großmutter war eine eigenwillige Frau gewesen. Groß und hager, mit wasserblauen Augen, kräftigem Kinn und zusammen- gepreßten schmalen Lippen. Eine meist schweigsame Frau, die Olivers Fragen stets nur unzureichend beantwortet oder sie einfach ignoriert hatte. Vor drei Wochen war nun auch sie für immer gegangen, und bis auf einige weit entfernt Verwandte war Oliver der einzige der Familie, der übriggeblieben war. Obwohl er den größten Teil seiner Kindheit und die interessantesten Jahre seiner Jugend in dem kleinen Haus in Cannstatt verbracht hatte, gab es keinen Grund für ihn, es zu behalten. Es war alt und renovierungsbedürftig, und da er schon lange zuvor ausgezogen war und sich in der Innenstadt eine eigene Wohnung gemietet hatte, tat es ihm nicht sonderlich weh, es herzugeben. Viel würde ihm der Verkauf nicht bringen, das wußte er, doch auf den Erlös war er nicht angewiesen. Als Controller in einem bedeutenden Stuttgarter Unternehmen verdiente er gut, und es gab weder Frau noch Kind, für die er zu sorgen hatte. Bevor er das Haus einem Makler übergeben hatte, war er noch einmal auf dem Speicher gewesen und hatte zwischen altem Gerümpel das eine oder andere Kleinod ausgegraben. Einen Spiegel mit vergoldetem Rahmen zum Beispiel, eine Venus-Figur aus Bronze, eine silberne Schale mit dem Konterfei Napoleons auf dem Boden und eine Tischlampe aus der Biedermeier-Zeit... Das, und einiges mehr, hatte er einem ehemaligen Schulfreund überlassen, der in der Stadtmitte einen kleinen Antiquitätenladen unterhielt. Nur eine aus Holz geschnitzte Schatulle, die seine besondere Aufmerksamkeit erregt hatte, hatte er zurückbehalten. Obwohl sie mit einem Schloß versehen war, ließ sie sich leicht öffnen, und verwundert nahm er eine Reihe alter Dokumente und Fotografien heraus. Zeugen einer längst vergangenen und vergessenen Zeit. Dokumente, die ihm Hinweise auf das Leben seiner Vorfahren geben konnten, von denen er bisher nichts gewußt hatte. Von seinen Vorfahren mütterlicherseits. Ursprünglich hatte er für diesen Sommer eine Reise in die Türkei geplant. Als er jedoch begriff, welchen Schatz ihm die Schatulle offenbart hatte, änderte er sein Vorhaben spontan und beschloß, den Hinweisen nachzugehen. Er wollte wissen, wer die Menschen waren, über deren Leben diese Dokumente Zeugnis ablegten. Und die Spur führte ihn nach Wilhelmshaven. Bisher war diese Stadt für ihn nur ein Punkt auf der Landkarte gewesen: Eine mittelgroße Stadt am Jadebusen. Nordseebad, Marinestützpunkt, doch ohne nennenswerte Industrie. Nach Durchsicht der gefundenen Papiere aber wußte er, daß dort in den Fünfziger-Jahren eine junge Frau gelebt, geliebt und gelitten hatte. Eine Frau, ohne die es seine Mutter Julia und somit auch ihn nie gegeben hätte: Britta Warrings, seine Großmutter.
Für den ersten Tag in Wilhelmshaven hatte er sich noch nichts besonderes vorgenommen. Er hatte sich ein wenig in der Stadt umgeschaut und mit der Umgebung vertraut gemacht, er war zum Ölhafen hinausgefahren und zum Marinehafen, der sogenannten 4. Einfahrt, die lange Zeit die größte Hafeneinfahrt Deutschlands gewesen war. Zum Abschluß seiner Rundfahrt hatte er in der Nordsee-Passage noch einen Kaffee getrunken und dabei dem hektischen Hin und Her der Passanten zugeschaut. Am nächsten Morgen nach dem Frühstück wollte er mit seinen Nachforschungen beginnen. Wie, darüber war er sich noch immer nicht völlig im Klaren. Doch wenn er erst einmal einen Anfang gefunden hatte, sagte er sich, würde es zügig vorangehen, davon war er überzeugt.
Eine Stimme ganz in der Nähe riß ihn aus seinen Gedanken. “Hallo Nachbar! Wie wär’s, keine Lust auf ein Bier?”
Oliver brauchte eine Sekunde, um sich zu besinnen. Auf dem Balkon des Zimmers nebenan stand ein junger Mann in gestreiftem Bademantel und winkte zu ihm herüber.
“Oh, hallo!” Oliver winkte zurück. “Wie war’s denn heute am Strand?”
Der Gefragte hob die Schultern. “Hätte nicht gedacht, daß das Wasser, trotz des schönen Wetters, so entsetzlich kalt ist. Und mit den vielen Quallen hätte ich auch nicht gerechnet. Hast du jemals so ein Ding gesehen? Das sind ja ekelige Viecher.”
Sie waren beide am Vormittag zur gleichen Zeit im Strandhotel Seestern angekommen. Während sie vor der Rezeption gewartet hatten, bis der weißhaarige, leicht gebeugte Hausdiener einige Ungereimtheiten bezüglich der Zimmerverteilung geklärt hatte, waren sie miteinander ins Gespräch gekommen und hatten sich auf Anhieb gemocht. Der andere, ein großer kräftiger Kerl mit streichholzlangem Blondhaar, hieß Kevin und kam aus der Gegend von Wiesbaden. Er hatte sich im Seestern einquartiert, um sich mit seiner Freundin Maike zu treffen, die in Berlin studierte und in den nächsten Tagen eintreffen sollte.
“Was ist nun, setzen wir uns noch ein Weilchen zusammen?” wiederholte Kevin seinen Vorschlag.
"Klar!” Oliver nickte. “Einverstanden!” rief er zurück.
“Prima. Dann treffen wir uns in ein paar Minuten. Ich muß mir nur schnell was anziehen.”
Eine halbe Stunde später saßen sie sich im Restaurant des Hotel bei einem Glas Jever gegenüber. Der Seestern war eines der vielen Strandhotels, die sich entlang der Promenade des Südstrandes, zwischen Kaiser- Wilhelm-Brücke und der 1. Hafen-Einfahrt, eng aneinanderreihten. Die Gaststube war nicht besonders groß, reichte über Mittag oft kaum aus für die zahlreichen Feriengäste, unter denen sich die gute Küche herumgesprochen hatte. Durch allerlei maritime Gegenstände, mit denen der Innenraum dekoriert war, wirkte er anheimelnd und gemütlich. Die Gardinen ließen das untere Drittel der Fenster frei, sodaß man ungehindert auf die Promenade, über den Strand und hinaus aufs Meer schauen konnte. Die Sonne war inzwischen untergegangen, die Möwen hatten sich auf ihre Schlafplätze zurückgezogen. Die Badegäste flanierten, zum Ausgehen zurechtgemacht, auf der mit Lichterketten beleuchteten Strandpromenade auf und ab oder saßen an den kleinen Tischen vor den Hotels, - vor dem Seeblick, der Seenelke oder dem Delphin...
“Wie lange hast du vor, zu bleiben?” wollte Kevin wissen.
Oliver hob die Schultern. “Keine Ahnung, ich hab mich noch nicht festgelegt. Es gibt hier einiges zu erledigen für mich, und bevor das nicht abgeschlossen ist...”
“Geschäftliches?
Oliver klopfte mit einem Bierdeckel den Takt zur Musik, die leise aus dem Lautsprecher über der Tür kam. Er überlegte, ob er Kevin von seinem Vorhaben erzählen sollte. “Nein, Privates,” sagte er. “Es ist eine ganz persönliche Angelegenheit, die ich hier zu klären habe.”
Kevin hob abbittend die Hände. “Sorry, ich wollte nicht neugierig sein.” Er grinste. “Ich vermute mal, es geht, wie immer, um eine hübsche junge Frau. Hab ich recht?”
Oliver lächelte flüchtig. “Um eine sehr hübsche Frau sogar. Nur ist sie inzwischen längst gestorben. Es geht um meine Großmutter.”
Kevin hob interessiert die Augenbrauen. “Ahnenforschung?”
“So könnte man sagen. Vor Kurzem bin ich auf alte Unterlagen und Dokumente gestoßen, die mir Aufschluß über meine Großeltern mütterlicherseits geben könnten. Ich habe bisher absolut nichts über sie gewußt. Nun habe ich herausgefunden, daß sie hier in Wilhelmshaven gelebt haben. Oder sogar noch leben, was meinen Großvater betrifft.”
“Der dürfte inzwischen schon ziemlich alt sein, oder?” Oliver nickte. “Schätze, ja. Wenn er in den Dreißiger-Jahren geboren wurde, müßte er jetzt um die siebzig sein.”
“Hast du Anhaltspunkte? Weißt du, wo du anfangen kannst, nach ihm zu suchen?”
“Nein, im Hinblick auf ihn gibt es nichts, woran ich mich halten könnte. Ich muß bei meiner Großmutter anfangen. Anhand der alten Urkunden weiß ich, daß sie erst sechzehn war, als sie meine Mutter zur Welt gebracht hat. Kurz nach der Geburt ist sie gestorben. Leider gibt es keinerlei Hinweise auf den Vater des Kindes, sie hat keinen Namen angegeben. Vielleicht wußte er nicht einmal, daß er Vater einer kleinen Tochter geworden war, und somit ahnt er auch nicht, daß er inzwischen sogar einen Enkelsohn hat.”
“Und was sagt deine Mutter dazu? Weiß sie nicht ein bißchen mehr?”
“Meine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen, deshalb bin ich bei meinen Großeltern väterlicherseits aufgewachsen. Ich war fünf, als es passierte, ich kann mich kaum mehr an sie erinnern.” Er nahm einen Schluck aus seinem Bierglas und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund. “Wie es aussieht, bin ich der einzige, speziell von Seiten meiner Mutter, der noch am Leben ist. Es scheint das Schicksal dieser Familie zu sein, jung zu sterben.”
“Das sind ja schöne Aussichten,” meinte Kevin lakonisch, fügte dann aber aufmunternd hinzu: “Laß dir dadurch bloß nicht die Freude am Leben verderben. Es muß dir ja nicht ebenso ergehen. Irgendwann wird jede Serie einmal unterbrochen. Ich wette, du wirst der erste deiner Sippe sein, der so alt wird wie Methusalem. - Bist du eigentlich verheiratet?”
“Nein.”
Kevin musterte ihn aus schmalen Augen. “Du bist schätzungsweise... Mitte zwanzig, stimmt’s?"
“Ins Schwarze getroffen, ich bin fünfundzwanzig.”
“Und immer noch frei wie ein Vogel?”
Oliver lachte. “Immer noch frei wie ein Vogel,” wiederholte er. “Die Richtige ist mir einfach noch nicht über den Weg gelaufen.”
“Das kommt schon noch, nur keine Panik.”
“Panik?” Er schüttelte den Kopf. Seine letzte Beziehung war vor knapp einem Jahr zu Ende gegangen, weil er sich in die Enge getrieben gefühlt hatte. “Nein, Panik hab ich keine. Gut Ding braucht Weile.”
“Recht so! Du hast noch viel Zeit. Bei mir sieht’s allerdings etwas anders aus, meine Zeit ist so gut wie abgelaufen.” Kevin seufzte theatralisch. “Meine Freundin ist schwanger.”
“Deshalb muß man doch heute nicht mehr gleich heiraten. Das war zu Zeiten meiner Großmutter noch wesentlich problematischer.”
Kevin nickte. “Das ist richtig. Zuerst hatten wir auch vor, auf den Trauschein zu verzichten, - für die erste Zeit jedenfalls. Dann haben wir uns aber überlegt, daß es vielleicht doch besser wäre, wenn alles seine Ordnung hat. Auch für das Kind, verstehst du? Nun haben wir den Hochzeitstermin für den September festgelegt.”
Kevin begann, ausführlich von seinen Hochzeitsvorbereitungen zu erzählen, und weil Oliver ihn mochte, versuchte er, zumindest den Eindruck zu erwecken, als fände er das Thema überaus interessant. Doch das Zuhören fiel ihm immer schwerer, deshalb war er froh, als sein Gegenüber anfing zu gähnen und schließlich den Vorschlag machte, den Abend zu beenden. Gegen elf Uhr stiegen die beiden neuen Freunde miteinander die Treppe zu den Zimmern hinauf und verabschiedeten sich vor Kevins Tür.
“Man sieht sich morgen,” sagte Oliver.
“Das hoffe ich doch! Bis dahin, gute Nacht.”
Olivers Zimmer war klein und schmal, - gerade groß genug für ein Bett, einen Tisch und zwei kleine Sessel. Durch den nachträglichen Einbau einer Naßzelle war es noch enger geworden, hatte aber die Montage eines versteckten Schrankes möglich gemacht, in dem er die wenigen Habse- ligkeiten, die er mitgebracht hatte, problemlos unterbringen konnte. Er duschte, schlüpfte in seinen Bademantel und trat noch einmal auf den Balkon hinaus. Von der Promenade her war das Gemurmel der Gäste zu hören, die noch immer vor den Lokalen saßen. Dazwischen klang hin und wieder ein Lachen zu ihm herauf, das Bellen eines Hundes und von irgendwoher Musik. Und über allem stand das leise Rauschen des Meeres.
Er ging ins Zimmer zurück, nahm die Mappe mit den alten Unterlagen aus dem Schrank, setzte sich aufs Bett und breitete den Inhalt neben sich aus: Dokumente und Fotos von Menschen, die er nicht kannte. Vergilbt und an manchen Stellen eingerissen. Die Fotos fleckig, mit Zackenrand und eingeknickten Ecken. Die meisten zeigten Britta Warrings in verschiedenen Altersstufen. Auf einem davon spielte sie als Kleinkind mit Eimerchen und Schaufel in einem Sandkasten. Jemand hatte “Unser Sonnenschein Britta im Sommer 1945
Sollte dieser Mann, der sich Rock nannte, sein Großvater sein? Oliver suchte in dem fremden Gesicht nach Merkmalen, die möglicherweise in seinem eigenen Spiegelbild wiederzufinden waren, doch obwohl sie beide dunkelhaarig waren, gab es keine Gemeinsamkeiten. Bereits seit seiner Kindheit war ihm immer wieder versichert worden, daß er äußerlich ganz der Familie Brandström nachschlug. Außer den Fotos und den Dokumenten, die aus einem ärztlichen Attest über eine Schwangerschaft, der einige Monate später ausgestellten Geburtsurkunde seiner Mutter Julia und der Geburts- und Sterbeurkunde von Britta Warrings bestanden, hatte sich noch ein dünnes Goldkettchen mit einem Kreuz als Anhänger in der Schatulle befunden. Oliver nahm es auf, legte es auf seine Handfläche und betrachtete es nachdenklich. Auf der Rückseite war derselbe Name eingraviert, der auf dem Foto stand: Rock. Hatte Britta dieses Kreuz getragen? Oder gehörte es dem fremden jungen Mann, der vielleicht sein Großvater war? Er holte tief Luft, legte das Schmuckstück an seinen Platz zurück und nahm noch einmal die Geburtsurkunde seiner Mutter zur Hand.
Julia Margarete Warrings geboren am 12. Nov. 1958 Mutter: Britta Warrings, wohnhaft in Wilhelmshaven Vater: unbekannt.
Wohnhaft in Wilhelmshaven! Aber wo? fragte sich Oliver. Wenn er herausfand, wo Britta damals gewohnt, wo sie sich aufgehalten hatte, ließen sich vielleicht ehemalige Nachbarn finden, die sich noch an sie erinnern konnten. Auf der Rückseite der Geburtsturkunde wurde Julias Taufe bescheinigt, ausgestellt von der Dreifaltigkeits-Gemeinde in Wilhelmshaven-Voslapp. Unterschrieben war sie von einem gewissen Pfarrer Worthmann. Die beiden angegebenen Paten hießen Agnes Fleischer und Frauke Zimmermann. Oliver nickte. Voslapp! Das war doch zumindest ein kleiner Hinweis, sagte er sich. Ein Punkt, an dem er ansetzen konnte. Er würde sich an die Kirchengemeinde wenden, und mit etwas Glück konnte er vielleicht sogar die beiden Paten ausfindig machen. Er breitete den Wilhelmshavener Stadtplan vor sich aus, suchte nach dem Stadtteil Voslapp und fand ihn schließlich ganz im Norden der Stadt. Sogar die Dreifaltigkeits-Kirche war auszumachen, sie war durch ein kleines schwarzes Kreuz gekennzeichnet. Er unterdrückte ein Gähnen und schaute auf seine Armbanduhr. Es war spät geworden. Zeit, schlafen zu gehen. Morgen würde er mit der Suche beginnen, und vielleicht wußte er bis zum nächsten Abend schon ein wenig mehr.
Am darauffolgenden Morgen, gleich nach dem Frühstück, rief er im Büro der Evangelischen Dreifaltigkeit-Gemeinde in Voslapp an und trug sein Anliegen vor. Die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung bat ihn freundlich um etwas Geduld.
“Die Schwierigkeit ist folgende,” erklärte sie ihm, “zur damaligen Zeit hat es diesen Kirchenbau, wie Sie ihn heute sehen, noch gar nicht gegeben. Bis Anfang der Sechziger-Jahre diente eine Art Baracke am anderen Ende der Straße als behelfsmäßige Kirche, das war die Dreifaltigkeits-Kapelle. Alle Unterlagen aus der damaligen Zeit lagern zwar hier bei uns, aber unten in den Kellerräumen im Archiv.” Sie machte eine kleine Pause. “Es ist keine Sache von zehn Minuten, die entsprechenden Bücher herauszusuchen. Doch wenn Sie mir Ihre Telefonnummer geben, könnte ich Sie benach- richtigen, sobald ich etwas herausgefunden habe.”
“Das wäre sehr nett von Ihnen,” antwortete Oliver und gab ihr seine Handy-Nummer durch. Doch schon während er sich von ihr verabschiedete, ging ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf: Die Schule! Britta Warrings mußte in jedem Fall eine Schule besucht haben. Selbst, wenn er bei jeder einzelnen nachfragen müßte, irgendwann würde er die richtige herausfinden, und logischerweise sollte er mit der Voslapper Grundschule beginnen. Dort erging es ihm allerdings nicht sehr viel anders, als bei der Kirchengemeinde. Das Schulbüro vertröstete ihn auf später, da man zuerst die alten Unterlagen aus dem Archiv heraussuchen müsse, und das sei schwierig zur Zeit, weil man durch Urlaubsausfälle nur über halbe Besetzung verfüge. Oliver seufzte. Natürlich, damit hatte er rechnen müssen, sagte er sich. Nach über vierzig Jahren konnte er nicht erwarten, daß die entsprechenden Institutionen alles parat liegen hatten, wenn er kam. Resigniert schob er sein Handy in die Tasche zurück und überlegte. Welche Möglichkeiten blieben ihm sonst noch? - Aber ja! Warum hatte er nicht gleich daran gedacht: Die Warrings! Ganz sicher würde er einige Leute mit diesem Namen im Telefonbuch finden, und warum sollte nicht der eine oder andere, - zumindest weitläufig, - mit Britta verwandt sein? Es gab achtzehn Eintragungen unter dem Namen Warrings, doch keiner dieser Leute wohnte in Voslapp. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sie alle der Reihe nach anzurufen und darauf zu hoffen, Erfolg zu haben. Nicht immer stieß er auf Verständnis, wenn er sein Anliegen vorbrachte, und ein paarmal schien er gar für einen Tunichtgut gehalten zu werden, der seine Mitmenschen zum Narren halten wollte. “Was sagen Sie? - Verwandte in Voslapp? - Das geht Sie gar nichts an.” Und schon war die Verbindung unterbrochen. Andere glaubten an eine Masche, durch die er versuchte, Kontakte zu knüpfen. “Sie suchen eine Dame namens Warrings? Bingo! Sie haben eine gefunden. - In Voslapp? Nein, ich wohne in der Innenstadt. Aber das macht doch nichts. Wir könnten uns doch trotzdem mal treffen, oder? Von mir aus könnten wir uns auch ruhig über Ihre Britta zu unterhalten.” Sie lachte anzüglich. Nur eine alte Dame schien ihn ernst zu nehmen. Daß sie alt war, hörte er an der zitterigen Stimme, mit der sie ihm antwortete.
“In Voslapp? Ja, da hat ein Cousin meines Mannes gewohnt, der Karl. Aber das ist lange her. Ich glaube, er ist bereits in den Fünfziger-Jahren gestorben.”
“Erinnern sie sich daran, ob er eine Tochter gehabt hat?”
“Ja, er hatte eine. - Oder einen Sohn? Ich weiß es nicht mehr so genau. - Warten Sie mal. - Doch, ich denke, es war eine Tochter.”
“Und wissen Sie auch noch, wo in Voslapp er gewohnt hat? In welcher Straße?”
“Ich glaube, in der Tiarkstraße. Ja, - da bin ich mir sogar ganz sicher, weil man von seinem Garten aus auf den Deich gehen konnte. Da gab es so einen kleinen Steg über den Graben...”
“Und die Hausnummer?”
“Momentchen mal! - Vielleicht die 24? Oder die 42? - Auf jeden Fall war es nicht weit weg von der Schule. Wenn man sonntags...”
Oliver hatte genug gehört. Zumindest so viel, daß er nun mit seiner Suche beginnen konnte: In der Tiarkstraße vor dem Deich. Ob Hausnummer 24 oder 42, das spielte keine Rolle, er würde es finden. “Vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen,” unterbrach er die alte Dame, doch sie schien unbedingt loswerden zu wollen, was ihr zu den Sonntagen eingefallen war. “An jedem Sonntag...”
“Bitte entschuldigen Sie, Frau Warrings. Ich würde Ihnen gern noch eine Weile zuhören, aber ich stehe wirklich sehr unter Zeitdruck.”
“Schon gut, junger Mann, schon gut. Ich weiß ja, daß die Leute heut- zutage keine Zeit mehr haben, einander zuzuhören.”
“Es tut mir leid, Frau Warrings. Und nochmals vielen Dank.”
Mit einem Blick auf den Stadtplan suchte er sich die schnellste Verbindung nach Voslapp heraus und brauchte dann etwa zwanzig Minuten, bis er die Ortschaft erreicht hatte. Er parkte seinen Wagen im Zentrum vor einem langgestreckten Klinkerbau mit Läden und Geschäften und schaute sich um. Sicher hatte sich vieles verändert, seit Britta Warrings hier gelebt hatte, doch die Reihen roter Wohnblocks und die endlosen Ketten kleiner Klinkerhäuschen, die den Ort ausmachten, mußte es damals schon gegeben haben. Von hier aus war auch die Dreifaltigkeits-Kirche zu sehen: Ein moderner, zweckmäßiger Bau mit hohem geradem Turm, unter dessen Dach durch fensterartige Aussparungen die Glocken zu sehen waren. Er überlegte, ob er nicht im Büro nachfragen sollte, ob man bereits etwas über Britta herausgefunden hatte, da er nun einmal hier war. Er beschloß dann aber, abzuwarten und zunächst dem Hinweis der alten Frau Warrings nachzugehen.
Von der Dreifaltigkeits-Kirche aus war im Hintergrund schon der Deich zu sehen. Oliver lief darauf zu, blieb aber an der letzten Kreuzung unschlüssig stehen, weil er nicht wußte, ob er sich nach rechts oder nach links wenden sollte. Doch rechts im Hintergrund hatte er ein großes kompaktes Gebäude entdeckt, von dem er annahm, daß es sich um die Schule handeln könnte, von der die alte Dame gesprochen hatte. Spielende Kinder bestätigten seine Vermutung. “Nummer 24 ist das dritte Haus auf der linken Seite,” erklärte ihm ein kleiner Blondschopf mit Skateboard, “ich wohne nämlich in der Nummer 26.”
Die Häuschen glichen einander, wie ein Ei dem anderen, unterschieden sich nur darin, daß in einem der Gärten überwiegend rote Blumen blühten, in einem anderen gelbe oder blaue, daß manche der Bewohner eine Vorliebe für Gartenzwerge zu haben schienen, anderer dagegen eher schlichte Zweckmäßigkeit vorzogen. Zum Haus Nummer 24 führte ein mit Ziegelsteinen gepflasterter Weg, rechts und links gesäumt von Rabatten bunter Sommerblumen. Die einzigen, die Oliver mit Namen kannten, waren die Löwenmäulchen, denn auch in Großmutter Brandströms Garten hatten sie nicht gefehlt. Ein aus Salzteig gefertigtes, beim Anmalen allerdings ein wenig verunglücktes Namensschild neben der Tür wies darauf hin, daß hier jetzt die Familie Reedmeier wohnte. Oliver läutete und trat wartend einen Schritt zurück. Vom Inneren des Hauses waren Schritte zu hören. Er hatte sich zurechtgelegt, was er sagen und wie er beginnen wollte, doch als sich die Tür öffnete, blieb ihm eine Sekunde lang die Sprache weg. Vor ihm stand ein bunter Paradiesvogel, von dem nur vage zu erahnen war, daß es sich um eine junge Frau handeln mußte. Das struppige Haar, gespickt mit Strähnen in Pink, Lila, Gelb und Rot stand in alle Himmelsrichtungen ab. Die Wangen übertrieben rot, die Lippen größer und greller als von der Natur bedacht. Die durchaus hübschen blauen Augen, überdeckt von dunkelgrünen Lidern, umrandet mit dicken schwarzen Kajal-Strichen schauten ihm neugierig entgegen. Von den lang herunterbaumelnden Ohrringen, der exotische Vielfarbigkeit der Kleidung und den gemusterten Fingernägel an den Händen, die die Türklinke hielten, wurde das Bild schließlich abgerundet. Oliver schluckte.
“Was gibt’s?” fragte das Wesen vor ihm kaugummikauend.
“Mein Name ist Oliver Brandström. Ich wollte Sie fragen, ob...”
“Ja?” Der leuchtende Mund lächelte, und an den Vorderzähnen glitzerte ein Steinchen.
“Ich wollte Sie fragen, ob in diesem Haus früher einmal eine Familie Warrings gewohnt hat.”
Sein Gegenüber hob die Schultern. “Keine Ahnung.” Dann wandte es sich um und brüllte in Richtung einer offenen Tür: “Mama, haben hier mal Leute gewohnt, die Warrings hießen?”
“Wer will denn das wissen?”kam die Antwort zurück.
“Ein super-gutaussehender junger Mann,” antwortete der bunte Vogel grinsend.
“Dann schick’ ihn rein.”
“Sie haben’s gehört, kommen Sie rein.” Oliver wußte nicht, wie er sich verhalten sollte, trat dann aber doch über die Schwelle und ließ sich in ein der Flurtür gegenüberliegendes Wohnzimmer führen. Eine Frau mittleren Alters, die ihrer Tochter nur in geringem Maße an Auffälligkeit nachstand, saß in einem Sessel, blätterte in einem Magazin und zog hin und wieder an einer Zigarette. Sie blickte auf, als Oliver eintrat. “Sie wollen also wissen, ob die Warrings früher hier gewohnt haben? Warum?”
“Britta Warrings war meine Großmutter. Ich bin hier, um ein bißchen etwas über ihr Leben zu erfahren.”
“So, so, Ihre Großmutter.” Die Frau blies langsam den Rauch in Richtung Decke, ohne den Blick von ihrem Besucher zu wenden. “Wußte gar nicht, daß sie jemals Kinder gehabt hat, die Britta.”
“Ihre Tochter Julia war meine Mutter.”
Frau Reedmeier nickte. “Ist nicht viel bekannt über diese Familie. Meine Mutter hat das Haus Ende der Fünfziger vom alten Karl Warrings gekauft. Er wollte weg, keine Ahnung, warum. Und keine Ahnung, ob seine Tochter mit ihm gegangen ist. Das war vor meiner Zeit. Hab gedacht, daß sie sich beide, - warum auch immer, - woanders niedergelassen haben.”
“Sie haben Britta also nie kennengelernt?”
“Junger Mann, was glauben Sie eigentlich, wie alt ich bin?”
Oliver lächelte. “Sorry, ich wollte Sie nicht kränken. Es ist nur schwierig für mich, jemanden von heute in die damalige Zeit einzuordnen.”
“Entschuldigung angenommen.” Sie lachte gurrend, während sie ihn noch immer eingehend musterte.
“Vielleicht fällt Ihnen jemand ein, der sie auf jeden Fall noch gekannt haben könnte. Jemand, der heute zwischen sechzig und siebzig sein dürfte.”
Mutter und Tochter sahen einander an. “Die Janßens vielleicht,” sagte der Paradiesvogel, der sich auf die Armlehne eines Sessels gesetzt hatte. Frau Reedmeier nahm noch einen letzten Zug von ihrer Zigarette und drückte sie im bereits halbvollen Aschenbecher aus. Sie nickte. “Das wäre möglich. Vielleicht sollten Sie wirklich mal mit den Janßens reden. Aber ob die wissen, wo die Britta abgeblieben ist...?”
Oliver sah keine Notwendigkeit, ihnen zu erzählen, daß seine Großmutter bereits als junge Frau gestorben war. Sie schienen auch nicht zu wissen, daß sie ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hatte, und er wollte vermeiden, daß erneut Gerüchte ihre Runde machten.
“Die Janßens also.” Er lief einen Schritt zurück in Richtung Korridor. “Und wo finde ich die?”
Frau Reedmeier fuchtelte mit dem Arm in Richtung ihrer Schrankwand. “Ein Stück weiter die Straße runter. Kurz vor der Schule.”
“Ich zeig’s Ihnen,” bot sich das bunte Wesen an. “Ich bin übrigens die Sandra. Für meine Freunde natürlich Sandy.”
Oliver lächelte, bedankte sich bei Frau Reedmeier für den Hinweis und folgte der jungen Frau auf die Straße.
“Es ist das vorletzte Haus auf der linken Seite. Das mit dem großen Fliegenpilz im Garten.” Sie kicherte. “Der ist natürlich nicht echt, wie Sie sich denken können.”
Oliver versuchte, so ungezwungen wie möglich mitzulachen. Ihm war nicht wohl an der Seite dieser ausgeflippten jungen Dame. Er war weder rückständig noch altmodisch, doch sie entsprach so gar nicht dem Bild, das er von einer modernen jungen Frau hatte. Er hoffte deshalb, sie würde sich möglichst schnell wieder zurückziehen. Doch mitten im Schritt hielt sie plötzlich inne, so daß auch er sich gezwungen sah, stehenzubleiben. “Ich werde mich ein bißchen für Sie umhören. Kann ich Sie irgendwo erreichen, wenn ich was rausgefunden habe?”
Oliver wollte ihr antworten, daß das nicht nötig sei, sagte sich aber, daß er keine Chance, etwas zu erfahren, außer Acht lassen sollte. Deshalb griff er in die Brusttasche seines Hemdes, zog eine seiner Visitenkarten heraus, die er für alle Fälle eingesteckt hatte, und hielt sie ihr hin.
“Wow!” staunte sie, nachdem sie einen Blick darauf geworfen hatte. “Sie kommen aus Stuttgart?”
“Ja, ich komme aus Stuttgart. Wenn Sie mir je etwas Wichtiges zu sagen hätten, rufen Sie mich über das Handy an.”
“Das mach’ ich doch glatt!” grinste sie kauend.
“Aber bitte nur, wenn Sie echte Hinweise haben.”
“Na, klar! Also dann! Das Haus mit dem Fliegenpilz, okay?”
Oliver atmete auf. Er murmelte ein: “Danke,” nickte ihr kurz zu und ging allein weiter, ohne sich noch einmal umzusehen.
Die Janßens waren sehr freundliche Leute. Matthias Janßen, - Oliver hatte den Namen am Klingelschildchen gelesen, - war ein grauhaariger, scheinbar noch rüstiger Rentner. Nachdem ihm Oliver sein Anliegen vorgetragen hatte, erklärte er sich sofort bereit, mit ihm über Britta Warrings zu reden. Er bat den fremden Besucher ins Haus und führte ihn in die Küche, wo er ihn seiner Frau vorstellte. “Elisabeth, dieser junge Mann ist ein Enkel von Britta, stell dir das mal vor!” Und an Oliver gewandt fügte er hinzu: “Dabei haben wir gar nicht gewußt, daß sie jemals Kinder gehabt hat. Wir wußten nicht einmal, daß sie geheiratet hat.”
Auch Elisabeth staunte. Sie schüttelte ein Kissen auf, legte es auf einen der Stühle und bot Oliver an, sich zu setzen. “Nehmen Sie Platz. Und nun erzählen Sie mal. Wie geht es Ihrer Großmutter inzwischen? Wir haben seit Ewigkeiten nichts von ihr gehört. - Trinken Sie eine Tasse Tee mit uns?”
Oliver setzte sich und schüttelte den Kopf. “Nein danke, ich möchte Sie nicht lange stören. Ich hab nur eben von den Reedmeiers erfahren, daß Sie meine Großmutter gekannt haben.”
“Sie stören uns doch nicht. Im Gegenteil, wir freuen uns, wenn wir Besuch bekommen. Ist es nicht so, Matthias?” Elisabeth setzte sich Oliver gegenüber auf die Eckbank und musterte ihn. “Nun erzählen Sie schon. Wir sind sehr neugierig.” Als Oliver jedoch nicht gleich antwortete, schien sie zu begreifen. “Ihre Großmutter ist...”
Oliver nickte. “Ja, meine Großmutter Britta lebt nicht mehr. Sie ist schon vor vielen Jahren gestorben.”
“Das tut mir so leid.” Elisabeth griff nach der Hand ihres Mannes, der sich zu ihr gesetzt hatte. “Hast du gehört, Matthias? Britta lebt nicht mehr.” Und erneut an Oliver gewandt, fragte sie: “Wie ist sie denn gestorben? Was hat ihr gefehlt?”
Oliver hatte sich dafür entschieden, den Janßens die Wahrheit zu sagen. Sie zeigten so viel Wärme und Anteilnahme, und sie schienen Britta gemocht zu haben. “Sie war gerade erst sechzehn, als sie kurz nach der Geburt ihres Kindes starb. Verheiratet war sie nie.”
“Nein!” Elisabeth Janßen schlug entsetzt die Hand vor den Mund, und Matthias murmelte: “Ich hab’s gewußt, daß das kein gutes Ende nehmen konnte mit diesen Burschen.”
Oliver war hellhörig geworden. “Von welchen Burschen sprechen Sie?”
“Von den jungen Kerlen, mit denen sie herumgezogen ist.” Aus seinen Worten war noch immer ein wenig Bitterkeit herauszuhören. “Von denen, die sie in ihrem amerikanischen Straßenkreuzer abgeholt und spazieren- gefahren haben. Ganz Voslapp hat sich damals das Maul darüber zerrissen.”
“So darfst du das nicht sehen, Matthias,” warf Elisabeth beschwichtigend ein, “Britta war kein schlechtes Mädchen. Ihr hat die Mutter gefehlt. Was hatte sie denn zu Hause? Der Karl hat zwar alles für sie getan, aber die Mutter konnte er ihr eben doch nicht ersetzen.”
Matthias seufzte tief und nickte. “Ja, du hast recht.” Er stand auf und zog den Teekessel vom Herd. Wie auf ein Zeichen erhob sich nun auch Elisabeth wieder, öffnete eine Schranktür, nahm drei Tassen heraus und verteilte sie auf dem Küchentisch. “Nun müssen Sie aber doch eine Tasse Tee mittrinken,” sagte sie und klopfte Oliver leicht auf die Schulter. “Dann läßt’s sich leichter reden.”
“Feiner ostfriesischer Tee. Keiner aus Aufgußbeuteln,” sagte der alte Mann, während er einschenkte.
Oliver lächelte. Er mochte die Janßens, und er spürte, daß er noch einiges mehr von ihnen erfahren konnte. Elisabeth hatte Kandis und ein Schüsselchen mit Rahm auf den Tisch gestellt, danach ließen sich die alten Leutchen erneut auf der Eckbank nieder. Matthias schaute seine Frau an und tätschelte ihre Hand. “Ja, du hast recht,” nahm er den Faden wieder auf, und an Oliver gewandt erklärte er: “Sie müssen wissen, ich bin quasi mit Britta zusammen aufgewachsen. Wir waren wie Geschwister, haben alles gemeinsam gemacht. Bis sie eines Tages die Clique mit diesen Jungs aus der Stadt kennengelernt hat. Lauter Söhne von gutbetuchten Leuten. Taugenichtse, die es sich leisten konnten, an den Ecken herumzulungern oder mit ihren schnittigen Wagen und Motorrädern die Gegend unsicher zu machen. Britta hat das imponiert. Die Zeiten waren schlecht damals, wir hatten ja kaum was. Mußten froh sein, wenn wir jeden Tag einigermaßen satt wurden, zehn Jahre nach dem Krieg. Der Karl konnte dem Mädchen nicht viel bieten, da hat sie sich von den jungen Kerlen blenden lassen.”
“Was waren das für Leute? Sind IhnenNamen bekannt?”
“Nein. Die erste Zeit machte sie ein großes Geheimnis daraus, weigerte sich, mir überhaupt etwas zu erzählen. Da hatte ich wohl selbst schuld, ich hab ihr dauernd Vorwürfe gemacht, und sie hielt das für Eifersucht.”
Elisabeth stupste ihn am Arm und lächelte. “Das war es doch auch, kannst es ruhig zugeben.”
Er lächelte zurück. “Naja, ein bißchen schon. Jedenfalls zu Anfang. Ich dachte, so viele Jahre war ich ihr gut genug gewesen als Freund. War immer für sie da und hab ihr die Kastanien aus dem Feuer geholt, wenn es Probleme gab. Und nun kamen diese Schnösel daher...”
“Und später? Hat Sie Ihnen nie erzählt, wer diese neuen Freunde waren?”
“Nein, sie redete immer nur von einem, von Rock. - Da ging es Rock hinten und Rock vorne. Sie sprach das englisch aus, wie diesen Filmstar, - Sie wissen schon, Rock Hudson.- Sie lernte ja Englisch auf der Mittelschule.”
Oliver nickte, das kleine Paßbild mit der Widmung fiel ihm wieder ein. “Ich nehme an, daß er der Vater ihres Kindes war,” sagte er mehr zu sich selbst.
“Er, oder einer der anderen. Wer immer es gewesen sein mochte, wahrscheinlich hat sie geglaubt, daß er sie heiraten würde.”
“Und dann ist sie bei der Entbindung gestorben,” flüsterte seine Frau betrübt und schüttelte den Kopf. “Das hat sie, weiß Gott, nicht verdient.”
“Haben Sie sie auch gekannt?” wandte sich Oliver an Elisabeth.
“Aber ja.” Sie nickte. “Wir sind die ersten vier Jahre zusammen zur Schule gegangen. In die da draußen am Ende der Straße. Volksschule hieß das damals noch. Nach der vierten Klasse ist sie zur Mittelschule übergewechselt. Mittelschule für Mädchen in der Stadt. Sie war sehr gescheit, die Britta. Danach haben wir uns aus den Augen verloren. Aber warten Sie, die Linda Johanns müßte sich noch an sie erinnern können. Sie war auch eine von denen, die zur Mittelschule gegangen sind. Die Mittel- und Oberschüler sind immer zusammen mit dem Bus in die Stadt gefahren. Jeden Tag. Fragen Sie doch mal bei ihr nach Britta. Sie weiß vielleicht mehr.”
“Und wo finde ich diese Frau Johanns?”
“Sie wohnt in der Flutstraße, das ist die Hauptstraße, die nach Rüstersiel führt. Die Nummer weiß ich nicht, aber es ist das Haus gegenüber der Tankstelle. Jetzt heißt sie Johanns, früher hieß sie Bremer. Sie muß bis zur zehnten Klasse mit Britta zur Schule gegangen sein und kann Ihnen sicher mehr erzählen. Vielleicht weiß sie sogar etwas über die Schwangerschaft oder kennt die Namen der Jungs aus der Stadt, mit denen sie sich getroffen hat. Ich selbst hatte danach kaum mehr Kontakt zu ihr.”
Linda Johanns freute sich sichtlich über den Besuch des jungen Mannes, - gleichgültig, weshalb er gekommen war. Trotz ihres Alters, das doch in etwa um das der Janßens liegen mußte, war sie noch immer eine sehr attraktive Frau. “Sie sind Vertreter, nicht wahr?” fragte sie mit einem gekonnten Augenaufschlag, um gleich darauf, noch bevor sich Oliver vorstellen und sein Anliegen vortragen konnte, die Hand zu heben. “Nein, warten Sie, lassen Sie mich raten. - Versicherungen? - Nein? Irgendein interessantes Gerät, das mir den Haushalt erleichtern soll? - Oder eine Zeitschrift?”
Oliver unterbrach ihren Redeschwall. “Nein, ich komme wegen einer ganz anderen Geschichte. Sagt Ihnen der Name Britta Warrings etwas?”
Die Frau stutzte, und ihr Gesichtsausdruck wurde um eine Nuance kühler. “Britta Warrings? Natürlich sagt er mir etwas. Wir waren fast sechs Jahre lang in derselben Klasse. Aber das ist lange her.”
“Ich heiße Oliver Brandström. Britta war meine Großmutter.”
“Ihre Großmutter? - Aha! - Und warum kommen Sie zu mir?”
“Gerade deshalb, weil sie mit ihr zur Schule gegangen sind. Sie ist bereits vor langer Zeit gestorben, ich habe sie leider nie kennengelern. Ich möchte nur einfach herausfinden, was für ein Mensch sie war. Sie müssen sie doch gut gekannt haben.”
Sie lachte. “Tja, wer hätte die Britta nicht gekannt. Sie hat schließlich für reichlich Gesprächsstoff gesorgt in der Klasse.” Linda Johanns hatte ein Geräusch oben auf der Treppe gehört, reckte den Hals und griff nach Olivers Arm. “Kommen Sie rein, es muß ja nicht jeder hören, was wir zu besprechen haben.” Hinter der geschlossenen Korridortüre fuhr sie dann fort: “Obwohl es eigentlich kein Geheimnis ist, denn schließlich hat jeder gewußt, daß sie ein Flittchen war.”
Oliver schluckte und schwieg, Frau Johanns schob ihn unbeirrt in ihr Wohnzimmer. “Es tut mir leid, daß ich Ihnen das sagen muß, aber das ist eine Tatsache, die sich nicht leugnen läßt.”
Oliver setzte sich, ohne daß er dazu aufgefordert worden wäre. “Das müssen Sie mir schon näher erklären.”
“Das werde ich, junger Mann, das werde ich.” Sie machte eine Pause, um ihre Worte noch eine Weile wirken zu lassen, dann fuhr sie fort: “Britta machte sich bereits im Alter von vierzehn mit Männern zu schaffen. Sie müssen wissen, daß die Zeiten damals ganz anders waren, als heute. Damals hatte ein Mädchen in diesem Alter noch keine Ahnung von Sex und dergleichen. Wir wußten nicht viel über das andere Geschlecht oder gar über die Liebe. Das meiste reimten wir uns zusammen, es gab ja kaum jemanden, den wir danach hätten fragen können. Die Mädchen von heute sind in diesem Alter bereits junge Frauen, ich sehe das an meiner Nichte Claudia. Seit ihrem vierzehnten Geburtstag nimmt sie die Pille, und ich garantiere Ihnen, die braucht sie auch.” Sie seufzte. “Nun verstehen Sie vielleicht, warum uns Brittas Verhalten so schockiert hat. Sie war noch ein halbes Kind, als sie anfing, mit dieser Clique Halbstarker herumzuziehen. Wir anderen waren auch verliebt damals, oh ja! Wir schwärmten auch für den einen oder anderen Jungen, doch schon wenn uns einer ein bißchen länger anschaute, als notwendig, bekamen wir rote Köpfe. Und wenn gar einer versuchte, unsere Hand zu halten oder seinen Arm um unsere Schultern zu legen..., oh je...,” sie verdrehte die Augen, “...dann hatten wir gleich ein schlechtes Gewissen und fürchteten, schwanger zu werden.” Oliver mußte lächeln, worauf Frau Johanns ärgerlich fortfuhr: “Ja, lachen Sie nur. Sie haben ja keine Ahnung, wie das damals war. Erst in der neunten Klasse, als es mit der Tanzstunde losging, wurde es ein bißchen besser. Aber selbst dann waren die meisten von uns immer noch total verklemmt. Britta war anders, deshalb war sie für uns die Ausgeburt des Schlechten und des Bösen.” Sie hob die Schultern. “Natürlich beneideten wir sie insgeheim ein bißchen, vor allem, wenn sie mit diesem amerikanischen Straßenkreuzer von der Schule abgeholt wurde. Die Jungs, die wir kannten, fuhren höchstens mit dem Fahrrad. Ein Auto hätte sich keiner von ihnen leisten können, - abgesehen davon, daß sie nicht alt genug waren, um schon einen Führerschein zu haben.”
“Ist es nicht zu hart, Britta deshalb gleich ein Flittchen zu nennen?”
“Es waren immerhin drei oder vier junge Männer, mit denen sie ständig auf Tour war. Junge Männer, keine unfertigen Jungs, wie die, die wir kannten und die so wenig aufgeklärt waren, wie wir selbst. Schön, meistens war es der große Hübsche, der sie abholte, die ganze Klasse beneidete sie um ihn und tuschelte hinter ihnen her. Wir gingen in eine Mädchenschule, müssen Sie wissen. Und wir alle hatten Fantasie genug, um uns vorzustellen, was da hinter den Kulissen ablaufen mochte.”
“Wissen Sie, wer diese jungen Männer waren? Kennen Sie Namen?”
“Warten Sie mal.” Frau Johanns spielte mit ihrem Ohrring, während sie überlegte. “Sie alle waren Söhne reicher Eltern, - was man damals, so kurz nach dem Krieg, als reich bezeichnen konnte. Vom Hörensagen wußte ich, daß einer von ihnen der Wilkens war, seine Eltern hatten eine gutgehende Fahrradwerkstatt. Dann war ein Mohrmann dabei, ein Junior vom Kaufhaus Mohrmann in der Gökerstraße, - das gibt es allerdings auch schon seit Jahren nicht mehr.” Sie nahm die Finger zu Hilfe, während sie weiter aufzählte. “Außerdem noch der Fabrikantensohn Brader und der Sohn vom damaligen Bürgermeister Roßmann.”
Oliver hatte sein Handy gezückt und machte sich Notizen. Wilkens, Mohrmann, Brader und Roßmann tippte er in den Memory-Speicher ein. Möglicherweise würde er noch einmal über diese Namen stolpern. “Und welcher von ihnen war der große Hübsche, von dem alle so geschwärmt haben?”
“Keine Ahnung. Ein paarmal fiel der Name Rock, aber welcher Familien- name zu ihm gehörte, das weiß ich nicht.”
In Gedanken sah Oliver wieder das Paßbild mit der Widmung vor sich. “Möglicherweise war Britta gar nicht so schlecht, wie Sie dachten. Vielleicht war sie tatsächlich nur mit Rock liiert.”
“Ich bitte Sie! Sie wurde oft genug mit allen vieren in der Stadt gesehen.”
Oliver wechselte das Thema. “Wie war sie eigentlich in der Schule? War sie eine gute Schülerin? Haben ihre Leistungen nicht sehr darunter gelitten, daß sie dauernd mit diesen jungen Männern auf Tour war, wie Sie sagen?”
“Nein.” Frau Johanns schüttelte den Kopf. “Das wundert mich noch heute, sie war immer eine gute Schülerin. Weiß der Teufel, wie sie das gemacht hat.“
“War sie irgendwie verändert in der zehnten Klasse, im letzten Jahr vor dem Abschluß?”
“In der zehnten Klasse? Da war sie schon gar nicht mehr bei uns. Irgendwann in der neunten war sie plötzlich verschwunden. Manche behaupteten, sie sei mit einem ihrer Freunde durchgebrannt, andere erzählten, ihr Vater hätte das Haus verkauft und sei mit ihr in eine andere Stadt gezogen. Es wurde sogar gemunkelt, sie sei bei einem Unfall ums Leben gekommen. Sie wissen ja, wie das mit den Gerüchten ist, Genaues weiß niemand. Und falls die Lehrer wußten, was mit ihr los war, so schwiegen sie und gaben uns keinerlei Auskunft.”
Sie wußte also nichts von Brittas Schwangerschaft, sagte sich Oliver, und er hielt es auch nicht für notwendig, daß sie davon erfuhr.
“Wir weinten ihr nicht sonderlich nach, kaum eine von uns hatte sie besonders gemocht. Deshalb war sie auch bald vergessen.”
Oliver stand auf. “Auch wenn Sie sie nicht mochten, ich danke Ihnen trotzdem dafür, daß Sie mir ein bißchen von ihr erzählt haben.”
Frau Johanns hob die Schultern. “Es war nicht viel Gutes, was ich Ihnen berichten konnte.”
Er lächelte. “Vielleicht war es nicht ganz so schlimm, wie Sie es damals empfunden haben. Es mag auch ein bißchen Eifersucht und Neid von Seiten der Klassenkameradinnen im Spiel gewesen sein, oder? Sicher hätten alle gern einen solchen Freund gehabt: Schon erwachsen, gutaussehend, mit Auto...”
“Mmh!” Frau Johanns’ Miene schloß zumindest diese Möglichkeit nicht aus. “Aber wir anderen sind auch noch zurechtgekommen,” sagte sie dann, “wir haben alle einen Mann abgekriegt.” Und mit einem tiefen Seufzer fügte sie hinzu: “Wenn auch nicht immer den richtigen.”
Sie begleitete Oliver zur Tür. “Haben Sie etwa vor, auch die vier Herren zu befragen, von denen ich Ihnen erzählt habe?”
“Ich werde nach ihnen suchen, ja.”
“Da bin ich aber neugierig, was die Ihnen erzählen werden.”
Oliver lächelte. Sie war ganz sicher die Letzte, der er das, was er möglicherweise herausfand, berichten würde.
Sie gab ihm die Hand. “So haben wir nun doch kein Geschäft miteinander machen können, junger Mann,” lächelte sie.
“Das nicht, aber Sie haben mir trotzdem sehr viel weitergeholfen. Ich danke Ihnen, daß sie bereit waren, mit mir über Britta zu reden.”
Oliver Brandström war eine Stunde lang den Deich entlanggelaufen, um nachzudenken. Das Wetter war nicht mehr so schön, wie am Tag zuvor. Ein leichter Wind war aufgekommen und hatte ihm das Haar zerzaust und die Wangen gerötet. Nun saß er, nachdem er im Seestern eine Kleinigkeit zu Mittag gegessen hatte, mit einer Cola an einem der Tische vor dem Hotel und schaute den Badegästen auf der Promenade zu. Von der Liegewiese, entlang des Ufers, klang das ausgelassene Lachen und Rufen der Kinder herrüber, vermischt mit dem Kreischen der Möwen und dem Rauschen des Meeres, übertönt vom Geräusch der Fahnen über ihm, wenn ihre Stoffbahnen im Wind wie Peitschen knallten. Noch immer hatte er keinen festen Plan darüber, wie es mit seinen Nachforschungen weitergehen sollte. Am Morgen hatten sich die Büros der Kirchengemeinde und der Schule kurz hintereinander bei ihm gemeldet und ihm angeboten, ihm Brittas Anschrift mitzuteilen, sofern ihn sein Weg nach Voslapp führen sollte. Doch da sich die Angelegenheit für ihn bereits erledigt hatte, bedankte er sich und entschuldigte sich für die Mühe, die er ihnen unnötigerweise gemacht hatte. Die Sekretärin der Dreifaltigkeits-Kirche gab ihm noch den Rat, sich an die beiden Paten Frauke Zimmermann und Agnes Fleischer zu wenden. “Sie sind beide unverheiratet geblieben, Sie finden sie also immer noch unter den gleichen Namen im Telefonbuch,” sagte sie.
Oliver überlegte. War es wirklich sinnvoll, nach den beiden Frauen zu suchen? Sollte er sich nicht lieber mit den vier Namen beschäftigen, die er sich bei Linda Johanns notiert hatte? Einer von ihnen mußte Rock sein, soviel stand für ihn fest, und es war anzunehmen, daß dieser Rock auch sein Großvater war.
“Hi, Oliver!” Kevin stieg, einen Koffer und eine Reisetasche schleppend, die Treppe vom Parkplatz herauf. Schnaufend stellte er das Gepäck neben dem Eingang ab und kam zu Oliver herüber. “Maike ist da,” strahlte er, “sie ist früher angekommen, als ich sie erwartet hatte.”
Oliver lachte. “Na, prima, dann kannst du ja endlich wieder ruhig durchatmen.”
Beim Frühstück hatte er Kevin aufgefordert, ihn auf seinem Spaziergang zu begleiten, doch der war viel zu nervös gewesen, weil ihn Maike kurz zuvor angerufen und gesagt hatte, daß sie in den nächsten Minuten losfahren würde.
“Gott sei Dank ist sie da! Alles hat reibungslos geklappt. Anscheinend ist auf den Autobahnen nicht sehr viel los gewesen. - Und was ist mit dir? Noch nichts weiter herausgefunden?”
“Ich hab den Tip bekommen, mich an die Paten zu wenden, bin mir aber nicht sicher, ob ich sie überhaupt brauche. Vielleicht sollte ich doch lieber gleich nach den vier Herren suchen, von denen ich dir...” Er schwieg, als er erkannte, daß Kevin in Eile war und sich wohl eher aus Höflichkeit nach dem Stand der Dinge erkundigt hatte. “Laß deine Maike nicht warten,” fuhr er deshalb fort, “wir reden ein anderes Mal darüber.”
Kevin klopfte ihm freundlich auf die Schulter. “Okay, das machen wir. Jetzt will ich Maike erst mal ein bißchen was von der Stadt zeigen. Aber wenn du Lust hast, könnten wir doch heute abend zusammen essen. Du mußt sie unbedingt kennenlernen.”
“Ich weiß nicht, wann ich zurück bin. Ich hab nicht mal eine Ahnung, wo genau ich jetzt anfangen soll.”
“Dir wird schon was einfallen.” Kevin wandte sich zum Gehen. “Ich drück dir die Daumen, daß du Erfolg hast.” Er nahm das Gepäck wieder auf und rief ihm noch ein: “Also dann, bis heute Abend!” über die Schulter zu, bevor er im Eingang des Hotels verschwand.
Oliver drehte sein Colaglas in den Händen und sah ihm nach, obwohl seine Gedanken längst wieder um seine eigenen Probleme kreisten. Irgendwo mußte er jetzt weitermachen. Der erste Name, den er sich notiert hatte, war Wilkens gewesen. Mit ihm würde er anfangen. - Oder sollte er doch besser zuerst nach den Paten suchen? Er wurde das Gefühl nicht los, daß ein Gespräch mit ihnen insofern interessant sein könnte, als sie vermutlich Freundinnen oder doch gute Bekannte von Britta gewesen waren. Er trank sein Glas leer und stand entschlossen auf, um im Telefonbuch nach den Namen zu suchen. Wilkens oder Fleischer, Brader oder Zimmermann... Denjenigen, den er zuerst finden würde, wollte er auch zuerst aufsuchen.
Als sein Handy klingelte, hielt er inne. “Ich bin Frauke Zimmermann,” meldete sich eine Frauenstimme. “Ich habe gehört, daß Sie der Enkelsohn von Britta Warrings sind und nach Anhaltspunkten aus dem Leben ihrer Großmutter suchen.”
Er setzte sich wieder. “Ja, das ist richtig. Das Büro der Dreifaltig- keitsgemeinde hat mir heute früh vorgeschlagen, mich mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Ich hatte gerade vor, mir Ihre Telefonnummer herauszusuchen.”
“Frau Reiser vom Gemeinde-Sekretariat hat mich darüber informiert, daß Sie da sind und nach Britta gefragt haben. Wir kennen uns vom Gesang- verein Liederkranz, wissen Sie? Ihr war bekannt, daß wir seit Jahren nach Ihrer Mutter suchen. Es ist sehr wichtig, daß wir uns sehen, Herr Brandström. Es gibt etwas, das ich Ihnen geben muß.”
“In Ordnung, ich werde mich gleich auf den Weg machen. Wenn Sie mir Ihre Anschrift durchsagen würden...”
Sie unterbrach ihn. “Nein, warten Sie, ich komme zu Ihnen, ich habe gerade in der Stadt zu tun. Sie wohnen in einem Hotel, nicht wahr?”
“Im Hotel Seestern am Südstrand. Aber es ist nicht nötig, daß Sie...”
“Mit dem Wagen ist das kein Problem. Ich bin in spätestens einer halben Stunde bei Ihnen.”
Oliver blieb auf der Promenade vor dem Hotel sitzen und wartete voller Ungeduld auf die angekündigte Besucherin. Er überlegte, was es wohl sein könnte, was sie ihm auszuhändigen hatte. War sie im Besitz weiterer Fotos und Unterlagen? Sollte es gar Hinweise auf Rock geben?
Frauke Zimmermann sah anders aus, als Oliver sie sich anhand ihrer Stimme am Telefon vorgestellt hatte. Sie war klein und rundlich, ihr volles, fast faltenfreies Gesicht ließ sie jünger erscheinen, als sie möglicherweise war. Etwas atemlos kam sie die Stufen vom Parkplatz herauf, den Autoschlüssel noch in der Hand, eine Tasche unter den Arm geklemmt. Sie machte ein paar schnelle Schritte auf ihn zu, blieb dann aber stehen und schaute ihn fragend an. “Sie sind der Herr Brandström, nicht wahr?”
Oliver stand auf und nahm ihre dargebotene Rechte. “Ja, der bin ich. Bitte nehmen Sie doch Platz. Darf ich Ihnen etwas zu trinken bestellen?”
Sie schüttelte den Kopf, setzte sich aber. “Nein, danke. Ich habe nicht viel Zeit.” Sie griff in ihre Tasche, zog einen braunen Umschlag heraus und legte ihn vor ihm auf den Tisch. “Das ist für Sie,” sagte sie. “Ursprünglich war er für Ihre Mutter bestimmt, ich sollte ihn ihr aushändigen, sobald sie das achtzehnte Lebensjahr erreicht hätte. Aber ich habe nie herausgefunden, wo sie sich aufhielt. Britta wäre sicher damit einverstanden, wenn ich ihn nun Julias Sohn überlasse, damit er ihn an seine Mutter weitergeben kann.”
“Meine Mutter lebt nicht mehr, meine Eltern sind bei einem Autounfall umgekommen.”
“Oh mein Gott! Warum wird diese Familie nur so gestraft!” sagte Frauke Zimmermann leise. “Dann ist es nur recht und billig, daß Sie dieses Vermächtnis entgegennehmen. Es ist Brittas Tagebuch, sie hat es mir anvertraut, kurz bevor sie starb.”
“Sie waren Freundinnen?”
Sie breitete mit einer vagen Geste die Arme aus. “Ja und nein,” antwortete sie. “Wir haben uns im Josephus-Haus kennengelernt. Heute ist es ein Altenheim, damals war es ein Heim für ledige Mütter. Sie war im vierten Monat schwanger, als sie zu uns kam. Ich selbst war schon ein bißchen weiter. Mein Freund hatte mich verlassen, und ich hatte keine Familie, an die ich mich hätte wenden können.”
“Aber Britta hatte doch ihren Vater.”
“Schon, aber es ging ihm gesundheitlich nicht besonders gut. Er war bereits angeschlagen aus dem Krieg nach Hause gekommen. Brittas Unglück hat ihm den Rest gegeben. Sie mußte die Schule verlassen, es gab Kompli- kationen während der Schwangerschaft... Im Heim war sie einfach besser aufgehoben. Der alte Warrings soll dann das Haus in Voslapp verkauft haben und zu einem alten Kriegskameraden, einem Witwer aus Schortens, gezogen sein. Soviel ich weiß, hat er Britta nicht sehr lange überlebt.”
“Ein Baby hätte nicht unbedingt ein Unglück sein müssen, selbst in der damaligen Zeit nicht. Warum hat sich der Vater des Kindes nicht um Britta gekümmert?”
“Er scheint sie verlassen zu haben, das war ja die Tragödie.”
“Das verstehe ich nicht. Einem Foto zufolge, das ich in alten Unterlagen gefunden habe, hat er sie doch geliebt. Warum hat er sie nicht geheiratet? Wissen Sie, wer er war? Kennen Sie seinen Namen? Und woran ist Britta eigentlich gestorben? - Es gibt so viele Fragen.”
Frauke Zimmermann hob seufzend die Schultern. “Ich würde nun doch gern eine Kleinigkeit trinken,” sagte sie und lächelte. “Ein Wasser, wenn möglich.”
Oliver erhob sich, um das gewünschte Getränk zu besorgen. Er hoffte, nun endlich Antworten zu finden und konnte kaum erwarten, zu hören, was die fremde Frau ihm zu sagen hatte. Ungeduldig sah er ihr zu, wie sie ein paar Schlucke trank, umständlich eine Packung Papiertaschentücher aus ihrer Tasche nahm und sich die Nase putzte. Dann endlich sprach sie weiter. “Ich weiß nicht, wer der Vater ihres Kindes war. Sie hat nie darüber reden wollen. Ich weiß nur, daß sie ihn sehr geliebt haben muß, und daß eine Welt für sie zusammengebrochen ist, als er sie verließ. Sie hatte allen Lebensmut verloren. Damals war es nicht einfach für eine junge Frau, ein uneheliges Kind zur Welt zu bringen, - ich weiß, wovon ich rede. Nicht nur, daß man nicht wußte, wie es finanziell weitergehen sollte, man wurde auch von seinen Mitmenschen geächtet. In ihren Augen war man leichtfertig gewesen. Man war eine Hure, ein Flittchen. Welches Schicksal dahinter- stand, das interessierte niemanden. Und Britta war erst sechzehn. Wahrscheinlich ist sie deshalb so kurz nach der Geburt gestorben, weil sie einfach nicht mehr leben wollte.”
“Aber das Kind. Hat sie denn nicht an das Kind gedacht?”
Die Frau nickte. “Das hab ich ihr auch zu bedenken gegeben. ‘Denk an den kleinen Wurm’, habe ich zu ihr gesagt, ‘wenn er schon keinen Vater hat, dann muß wenigstens seine Mutter für ihn da sein.’ Doch sie war so voller Trauer und Verzweiflung, daß sie immer nur geantwortet hat: ‘Es spielt keine Rolle, ob wir leben oder sterben, irgendwo und irgendwann werden wir wieder zusammen sein.’”
“Eine traurige Geschichte.”
“Ja, eine wirklich traurige Geschichte. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem das kleine Mädchen geboren worden war. Kalkweiß lag Britta in ihren Kissen, sie hatte sehr viel Blut verloren. ‘Ist sie nicht hübsch, seine kleine Julia?’ hat sie geflüstert, als ich sie besuchen kam. Sie sagte nicht meine kleine Julia, sondern seine. So sehr hing sie noch an ihm. Wahr- scheinlich ahnte er gar nicht, was er ihr angetan hat.”
“Und Sie haben nicht die leiseste Ahnung, wer er gewesen sein könnte? Hat sie niemals, vielleicht auch nur andeutungsweise, einen Namen genannt? Hat sie jemals von Rock gesprochen?”
Frauke Zimmermann schüttelte den Kopf. “Nein, niemals. Sie war so verschlossen. Kein Mensch wußte, was in ihr vorging.”
“Sie waren doch sicher auf ihrer Beerdigung. Ist Ihnen niemand aufge- fallen? Jemand, der möglicherweise voller Schuldgefühle an ihrem Grab stand?”
“Mir ist lediglich aufgefallen, daß nicht sehr viele Leute gekommen waren. Keine Freundinnen, keine Klassenkameradinnen, keine Verwandten. Ihr Vater hatte keine Todesanzeige aufgegeben, somit wußte wohl kaum jemand von ihrem Tod.”
“Und das Kind, also meine Mutter, hat man gleich in das Waisenhaus nach Oldenburg gebracht?”
“Ja. Dort haben wir Julia auch bis zu ihrem 3. Lebensjahr besucht, die Agnes Fleischer und ich. Doch eines Tages hieß es, sie sei in ein anderes Heim verlegt worden. Von Bremen war die Rede, oder auch von Cloppen- burg, - wir haben es nie herausgefunden. Obwohl wir Julias Paten waren, wollte man uns keine Auskunft geben. Wir vermuten, daß man uns einfach nur loswerden wollte.”
“Und Brittas Grab? Existiert das noch?”
“Oh ja, es existiert noch. Agnes Fleischer und ich haben uns regelmäßig darum gekümmert. Bis heute. Agnes war Helferin im Mütterheim, kaum älter, als wir selbst. Sie ist uns eine richtige Freundin gewesen. - Wenn Sie möchten, könnte ich Ihnen Brittas Grab zeigen. Nur nicht heute, ich habe jetzt einen wichtigen Termin, den ich leider nicht verschieben kann. Aber ich habe ja Ihre Telefonnummer, ich werde mich bei Ihnen melden. Wie lange werden Sie noch hier sein?”
“Noch mindesten eine Woche, wenn nicht gar länger...”
“Gut. Ich werde Sie anrufen, sobald es mir in meinen Zeitplan paßt.” Sie hatte ihr Wasser leergetrunken, nahm ihre Tasche und stand auf. Für einen kurzen Augenblick legte sie noch einmal ihre Hand auf den braunen Umschlag. “Vielleicht finden Sie darin Hinweise, um zu verstehen, warum alles so gekommen ist.”
Oliver gab ihr die Hand und bedankte sich. Er sah ihr nach, wie sie mit schnellen Schritten die Stufen zum Parkplatz hinunterstieg. Dann erst blickte er auf den braunen Umschlag, der vor ihm lag. “Für Julia,” stand darauf. Julia gab es nicht mehr. Dafür aber ihn, Julias Sohn, der nun mit klopfenden Herzen das Vermächtnis seiner Großmutter an sich nahm.
Nachdem er den braunen Umschlag vorsichtig geöffnet hatte, um ihn so wenig wie möglich zu beschädigen, kam ein dickes Heft mit abgegriffenem blauem Einband zum Vorschein. Auf der inneren Seite des Heftdeckels stand, in noch nicht ganz ausgereifter Mädchenhandschrift: Tagebuch von Britta Warrings
Oliver setzte sich aufs Bett, streifte die Sandalen von den Füßen und zog die Knie an. Dann schlug er die erste Seite auf und begann zu lesen:
22. August 1955:
Unser Freund Bobby ist tot! Vorgestern ist er von einem Lastwagen überfahren worden. Der hat nicht mal angehalten, weil Bobby nur ein Hund war. Zuerst hat er noch geatmet, und Matthias und ich haben ihn in vorsichtig in eine große Schachtel gelegt und mit dem Fahrrad zum Tierarzt gebracht. Aber bis wir dort ankamen, war es schon zu spät. Ich habe den ganzen Tag lang geweint, und auch heute könnte ich noch heulen, wenn ich nur daran denke. Er war der liebste Hund, den es je gegeben hat. Matthias hat sich schneller damit abgefunden, er meinte, das Leben ginge weiter, und es käme immer wieder mal vor, daß jemand stirbt. Daß das passiert, wenn jemand alt und krank ist, kann ich verstehen, aber Bobby ist nicht an Altersschwäche gestorben. Wie kann man einen kleinen Hund einfach so überfahren. Das ist unfair. Wir hatten so viel Spaß mit ihm! Um zu zeigen, wie sehr ich um ihn trauere, habe ich meinen Pferdeschwanz mit einer schwarzen Taftschleife zusammengebunden, ich habe sie in Mamas Sa- chen gefunden. Meine Mama! Wie gut wäre es, wenn sie jetzt hier wäre. Wenn ich mich in ihren Arm kuscheln und ihr von Bobby erzählen könnte. Davon, wie traurig ich bin, weil es ihn nun nicht mehr gibt. Daß sie gestorben ist damals, das war auch unfair, schließlich war auch sie noch nicht alt und krank. Sie hatte Blutvergiftung, und Dr. Meder hat mir erklärt, daß die Medikamente, die er ihr gegeben hat, nicht gewirkt haben. Ihr Blut war schon so vergiftet, daß man ihr auch im Krankenhaus nicht mehr helfen konnte. - Aber ich will jetzt nicht an meine Mama denken, sonst muß ich wieder weinen. Matthias hat mich heute mit auf den Fußballplatz hinter dem Deich genommen. Den Jungs aus seiner Klasse, mit denen er verabredet war, hat das gar nicht gefallen. “Weiber haben hier nichts verloren,” hat der eine gesagt. Der mit den roten Haaren und den Sommersprossen, dem ich neulich zugesehen habe, wie er einen kleinen Jungen verprügelt hat. Matthias hat nur gesagt: “Sie bleibt!”, also haben sie gemeint, ich könnte ja die Tore zählen. Einer von ihnen war sogar richtig nett zu mir und hat mir zugeblinzelt.
Papa kam heute später von der Arbeit nach Hause als sonst. Ich war zum Bahnhof gegegangen, um ihn abzuholen, weil er aber nicht im Zug war, mußte ich auf den nächsten warten. Er sah müde aus, als er ausstieg, aber er lachte, als er mich sah. “Da ist ja mein Mädchen,” hat er gesagt. Das sagt er jedesmal, wenn ich ihn abhole. Ich glaube, er hat es gern, wenn ich am Bahnsteig stehe und auf ihn warte. “Eine der Maschinen hat mal wieder gestreikt,” hat er mir auf dem Nachhauseweg erzählt, “es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich sie wieder zum Laufen gebracht habe. Es wäre bitter nötig, daß sie sich endlich eine neue anschaffen.”
“Warum tun sie das nicht?”
“Weil das viel Geld kostet.”
“Aber die Braders haben doch Geld.”
Papa lachte. “Ja, schon. Aber so eine Maschine können sie sich auch nicht einfach aus dem Ärmel schütteln.”
Als Papa später Spaghetti und Tomatensoße machen wollte, merkte er, daß uns die Margarine ausgegangen war, und er hat mich noch mal in Schuberts Laden geschickt, um welche zu holen. Lust hatte ich keine, aber es mußte ja sein. Und bei der Gelegenheit konnte ich auch gleich mal nachsehen, ob es wieder neue Sammelbilder gab. Welche, die mir noch fehlten. ‘Schönes Deutschland’ heißt die Serie, die ich am liebsten mag. Unterwegs fiel mir Bobby wieder ein, und ich mußte daran denken, wie Matthias und ich ihm allerlei Kunststücke beigebracht hatten. Er konnte richtig schön Männchen machen und auf Kommando über einen Stock springen, und wenn er auf dem Rücken lag und man ihn kraulte, sah es aus, als ob er lachte. Wir haben ihn übrigens im Garten von Matthias’ Eltern begraben. Ganz hinten an der Hecke. Und Matthias hat ein hölzernes Kreuz gebastelt, auf das ich geschrieben habe:
Während ich so über Bobby nachdachte, war ich so weit weg mit den Gedanken, daß ich gar nicht gemerkt habe, daß ich mitten auf der Straße lief, und beinahe hätte mich ein Auto überfahren, das gerade um die Ecke kam. Ein richtiger Straßenkreuzer, so ein amerikanischer, mit hochgezogenen Heckflossen. Kühler, Kotflügel und Türen in verschiedenen Pastellfarben: Rosa, hellblau, hellgrün... Richtig chic! Er mußte meinet- wegen so heftig bremsen, daß ich Angst hatte, er könnte nicht mehr rechtzeitig anhalten. Der Mann hinterm Steuer kurbelte das Fenster runter, und ich dachte: Oh je, jetzt gibt es ein Donnerwetter, und er schreit mich an! - Aber er sagte nur ärgerlich: “Mensch Mädchen, paß doch auf!” Ich wollte schon weitergehen, als er den Kopf zum Wagenfenster heraus- streckte. “He, Kleine, komm mal her. Kennst du die Warrings? Kannst du mir sagen, wo sie wohnen?”
Er war noch gar nicht so alt, wie ich anfangs gedacht hatte, sah so ähnlich aus, wie Matthias’ ältester Bruder Markus. Nur war er bei weitem nicht so häßlich. Er hatte aber auch so eine Tolle wie Markus, und Koteletten, und viel Pomade im Haar. Und hinten im Nacken so einen Entenschwanz. Jedenfalls hat mir Matthias erzählt, daß man das so nennt. Er will sich nämlich auch sowas wachsen lassen, weil das jetzt modern ist.
“Die Warrings?” fragte ich, um sicherzugehen, daß ich mich nicht verhört hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, was er von uns wollte. “Ja, die kenne ich,” habe ich dann geantwortet, “ich bin nämlich Britta Warrings.”
“Doch nicht etwa die Tochter vom Karl?”
“Doch! Karl Warrings ist mein Papa.”
Er lachte. Das sah hübsch aus, denn er hatte schöne weiße Zähne. “Na sowas. Ich wußte gar nicht, daß er noch so ein kleines Mädchen zu Hause hat.”
“Klein??”
Er lachte noch immer und zwinkerte mir zu. “Na ja! Ein verhältnismäßig kleines, meine ich.” Er lehnte sich mit dem Ellenbogen aus dem Wagen- fenster und sah mich an, als müßte er mich später jemandem ganz genau beschreiben. “Ich dachte immer, seine Tochter sei schon etwa zwanzig.”
“Wer sind Sie eigentlich?” fragte ich ihn, weil ich immer noch keine Ahnung hatte, was er von uns wollte. Er neigte den Kopf ein wenig. “Verzeihung, mein Fräulein, ich hätte mich Ihnen längst vorstellen müssen. Ich bin Freddy Brader. Dein Vater arbeitet bei uns. Er wird heute abend noch mal in der Fabrik gebraucht, da hat wieder eine der Maschinen den Geist aufge- geben.”
“Schon wieder? Er hat sie doch erst repariert.”
“Jetzt ist es eine andere.”
“Könnt ihr nicht endlich mal neue kaufen, damit es mein Papa ein bißchen leichter hat?”
“Das sagst du so einfach. Du hast keine Ahnung, wie viel das kostet.”
“Ihr habt doch Geld genug.”
“Meinst du?” Er grinste. “Komm, steig ein und zeig mir, wo ihr wohnt.”
“Das geht nicht, ich muß Margarine einkaufen.”
“Steig trotzdem ein. Dann holen wir eben zuerst deine Margarine.”
“Nein, ich steig nicht in fremde Autos. Sie müssen dort hinten rechts abbiegen, dann ist es das dritte Haus auf der linken Seite.”
“Danke.” Er hob die Hand, zwinkerte mir noch einmal zu und kurbelte das Fenster wieder hoch. Es wirbelte richtig Staub auf, als er Gas gab und rasant um die Ecke bog.
Der tolle Wagen stand noch immer vor unserem Haus, als ich zurückkam, und der fremde Mann saß bei uns auf dem Sofa. “Britta, das ist der Herr Brader, unser Juniorchef,” stellte Papa ihn mir vor, nahm mir die Margarine ab und legte sie auf den Tisch in der Kochnische. Und zu ihm sagte er: “Freddy, das ist meine Tochter Britta.”
“Ich weiß, wir sind uns bereits begegnet. Sie hat mir den Weg gezeigt.”
“Aha!” Papa nickte. Dann tätschelte er meine Wange. “Britta, Kind, ich muß leider noch mal weg. Eine der Maschinen...”
“...hat den Geist aufgegeben, ich weiß schon.”
Papa schaute von einem zum anderen und lächelte. “Mir scheint, du bist bestens informiert.”
Ich ging auf seinen neckenden Ton nicht ein. “Und was wird aus der Tomatensoße?” Ich ärgerte mich, weil die Braders wieder mal wichtiger für ihn waren, als ich.
“Vielleicht probierst du mal, ob du sie allein hinkriegst,” schlug Papa vor, während er seine Sachen zusammensuchte.
Kurz darauf sah ich den beiden durch den Fenstervorhang nach. Freddy Brader war sehr viel größer, als Papa. Er trug schwarze enge Nietenhosen und ein schwarzes seidig glänzendes Blouson mit rot-weiß-schwarz- gestreiften Bündchen und einem Emblem auf dem Rücken, das ich nicht entziffern konnte. Er sah gut aus, fand ich, er hätte ein Filmstar sein können
.
3.
Oliver stellte fest, daß Britta nicht regelmäßig, nicht Tag für Tag ihre Erlebnisse aufgeschrieben hatte, sondern nur sporadisch, wenn ihr danach zumute gewesen war, oder wenn sie etwas Bemerkenswertes erlebt hatte. Das konnten ein bis zwei Zeilen sein, oder auch hin und wieder eine ganze Seite. Dabei ging es um Erlebnisse in der Schule, um ein aufgeschlagenes Schienbein, das sie sich beim Einsteigen in den Bus zugezogen hatte, eine Geburtstagsfeier bei einem Nachbarmädchen und ähnliche Alltäg- lichkeiten. Oliver las alles, vor allem aber konzentrierte er sich auf die Eintragungen, in denen es um Freddy Brader ging, denn Brader war einer der Namen, die er sich bei Linda Johanns notiert hatte.
14. Oktober 1955:
Jetzt wird es schon sehr früh dunkel, die meisten der Blumen in unserem Garten sind verblüht, und die Bäume fangen an, ihre Blätter zu verlieren. Schön sieht es ja aus, wenn wir von der Schule kommen und durch den Park zur Haltestelle laufen. Die Bäume leuchten in wunderschönen Farben, und die Wege sind übersät mit Gelb und Braun und Rot. Aber es macht auch traurig. Man spürt einfach, daß etwas Schönes zu Ende geht. Matthias und ich haben Kastanien gesammelt und kleine Männchen daraus gebastelt. Und auf dem Friedhof, als wir bei Mamas Grab waren, hab ich unter der großen Buche am Eingang eine ganze Handvoll Eckern aufgelesen. Papa geht es nicht besonders gut zur Zeit, der Splitter in seinem Bein, den er im Krieg abbekommen hat, macht ihm wieder zu schaffen. Er spricht zwar nicht darüber, aber ich merke trotzdem, daß er starke Schmerzen hat. Dabei bin ich ja froh, daß er das Bein überhaupt noch hat. Herr Mannherz, unser Geschichtslehrer, hat nur einen Arm und wäre wahrscheinlich froh, wenn er ihn noch hätte und nur ein Splitter drin wäre. Und weil Papa das Laufen im Augenblick so schwerfällt, bin ich freiwillig nach Fedderwardergroden gegangen, um die Eier von Frau Jost zu holen. Bei ihr sind sie viel billiger, als im Laden. Und viel besser. Papa sagt, das kommt daher, weil die Hühner von Frau Jost auf der Wiese herumpicken dürfen und ganz besonders gutes Futter kriegen. Frau Jost hat mir eine Tasse Tee angeboten, und weil sie wieder diese himmlischen Kekse dazugestellt hat, hab ich mich eine Weile zu ihr gesetzt. Sie kann immer so nett erzählen, und es ist so gemütlich bei ihr. Ich bin dann viel zu lange geblieben, weil ich gar nicht mehr daran gedacht habe, daß es jetzt schon so früh finster wird. Als ich mich schließlich
auf den Heimweg gemacht habe, war es schon richtig dunkel. Solange man noch unter den Straßenlaternen läuft, ist es halb so schlimm, aber vor der dunklen Strecke zwischen F’groden und Voslapp hat’s mir dann doch ein bißchen gegraut. Doch dann kam auf einmal ein Schutzengel! Ehrlich! - Oder besser gesagt, einer, den mir mein Schutzengel geschickt hat. Gerade rechtzeitig, bevor ich in das Dunkle hinein mußte. Plötzlich hielt nämlich ein Auto neben mir. Zuerst hab ich einen riesigen Schrecken gekriegt, und mein Herz hat mir bis in den Hals hinein geschlagen. Dann sah ich aber, daß das Auto hochgezogene Heckflossen hatte, und viel Rosa, Hellblau und Hellgrün... Das kam mir igendwie bekannt vor. Und dann streckte Freddy Brader den Kopf aus dem Fenster und fragte: “Was machst du denn hier so allein bei Nacht und Nebel?”
“Ich mußte was besorgen,” hab ich geantwortet. Ich wußte nicht, ob ich stehenbleiben und mit ihm reden sollte, schließlich war er Papas Juniorchef. Ich bin dann aber doch weitergelaufen, und er hat das Auto langsam neben mir herrollen lassen.
“Komm schon, steig ein, ich fahr dich nach Hause.” Nun blieb ich doch stehen. “Ich weiß nicht...”
Er öffnete die Tür. “Sei nicht albern, ich bin doch kein Fremder.”
Da hatte er recht. Es war zwar erst das zweite Mal, daß ich ihm begegnet bin, aber immerhin wußte ich, wer er war. Und ich wußte auch, daß Papa ihn umbringen würde, wenn er mir was tat. “Also gut,” sagte ich und nahm den Korb mit den Eiern vorsichtig in den Arm, damit er beim Einsteigen nicht gegen die Autotür schlug. Ich hatte nie zuvor in einem so großen Auto gesessen. Matthias’ Vater hatte mich einmal in seinem VW-Käfer mitgenommen, sonst fuhr ich immer nur mit dem Bus. Es war fantastisch, wie die Scheinwerfer über die Straße huschten! Und wieviel Platz ich im Sitz hatte! Ich hätte doppelt so dick sein können und hätte mich immer noch frei bewegen können. Und die vielen Lämpchen und Lichter, die es hinter dem Lenkrad gab! Im schwachen Licht, das sie ausstrahlten, konnte ich schemenhaft Freddy Braders Gesicht erkennen. “Stell deinen Korb da unten hin, da ist er sicherer,” sagte er.
“Da sind aber Eier drin.”
“Dann erst recht.” Seine Zähne schimmerten irgendwie, woraus ich schloß, daß er lächelte. Wahrscheinlich lacht er mich aus, dachte ich, aber ich konnte mir eigentlich nicht vorstellen, warum. Ich spürte, daß er mich von der Seite ansah.
“Du trägst ja immer noch diese schwarze Schleife.”
“Ja.”
“Und warum?”
“Weil Bobby gestorben ist.”
“Ein Freund von Dir?”
“Ja.”
“Wie ist das passiert.”
“Er ist überfahren worden.”
“Oh!”
Damit er keine falschen Schlüsse zog, erklärte ich ihm, wer Bobby war. “Bobby war nur ein Hund, aber er war trotzdem mein Freund. Er ist vor einen Lastwagen gelaufen, und der Fahrer hat nicht mal angehalten.”
“Kleine Hunde und kleine Mädchen haben manchmal etwas gemeinsam, sie laufen mitten auf der Straße spazieren und träumen. Da bin ich aber froh, daß ich rechtzeitig halten konnte.”
Ich wußte, was er meinte, ich fand es aber unfair, daß er mich schon wieder als kleines Mädchen bezeichnete.
“Wahrscheinlich wird man vorsichtiger, wenn man mal so uralt ist, wie Sie,” sagte ich gekränkt.
Er lachte auf, und seine Zähne blitzen wieder. “Du bis ganz schön kess, Kleine. - Aber zu mir brauchst du nicht Sie zu sagen. Ich bin der Freddy, wie du ja weißt.”
Aus unerklärlichen Gründen wurde ich rot, aber zum Glück sah er das nicht, und bis wir in Voslapp ankamen und es somit auch wieder Straßenlaternen gab, war es vergangen. Irgendwie war ich froh, als er in unsere Straße einbog und vor unserem Haus hielt. Obwohl..., eigentlich hätte die Fahrt ruhig noch eine Weile dauern können. “Danke für’s Mitnehmen,” sagte ich, als ich, meinen Eierkorb wieder im Arm, vorsichtig ausstieg.
“Hab ich doch gern gemacht,” sagte er, und zwinkernd fügte er hinzu: “Kleine.”
19. Dezember 1955
Gestern waren wir im Weihnachtstheater von unserer Schule. Jedes Jahr führt die zehnte Klasse ein Stück auf, das mit Weihnachten zu tun hat. Wenn wir mal dran sind, werde ich bestimmt nicht mitmachen, die Schauspielerei liegt mir nämlich ganz und gar nicht. Ich kann nicht mal richtig lügen, weil mir jeder an der Nasenspitze ansieht, wenn ich nicht die Wahrheit sage. Das Stück hieß ‘Ein Stern für Rosemarie’. Warum gerade Rosemarie ist mir schleierhaft, da hätte ich mir als Autor doch einen hübscheren Namen ausgesucht. Aber egal, die Zehnte hat das ganz toll gemacht. Die Vorführung war übrigens auch für Eltern, und deshalb ist Papa mitgegangen. Was ich eigentlich erzählen wollte: Als wir nach der Aufführung an der Haltestelle standen und auf den Bus warteten, - es war so gegen halb elf, - habe ich Freddy Brader gesehen. Er mich aber nicht. Zuerst ist mir nur sein Auto aufgefallen, - wahrscheinlich gibt es nicht sehr viele davon in W’haven. Die hochgezogenen Heckflossen, und dann diese Farben, daran sieht man schon, daß es aus Amerika kommt. Das Auto stand also in der Nähe vom Adalbertplatz, und eine Clique von Jungs drum herum. Sie sahen sich alle ziemlich ähnlich, hatten die gleichen Frisuren und die gleichen Sachen an. Aber ich hab Freddy trotzdem herausge- funden, er bewegt sich irgendwie anders. Die Jungs haben ein ziemliches Geschrei gemacht, haben so laut gelacht, daß man es bis zu uns rüber hörte. Ich hab zu Papa rübergeschielt, aber er hat gar nicht hingesehen. Entweder wollte er nicht, oder es ist ihm wirklich nicht aufgefallen, daß Freddy dabei war. Und ich wollte auch nicht, daß er merkt, daß ich rübergucke. Und dann hielt auf einmal ein anderes Auto neben dem Ami-Wagen, und zwei Mädchen stiegen aus. Eine von ihnen ging zu Freddy rüber, und er nahm sie in den Arm und küßte sie. Ich weiß nicht warum, aber das gefiel mir irgendwie nicht. Ich meine, daß ich das mit ansehen mußte. Wahrscheinlich küßt er sie sonst auch, aber dann ist es mir egal, weil ich es nicht sehe. Es war übrigens ein sehr hübsches Mädchen, - von weitem sah es jedenfalls so aus. Zumindest hübscher als ich. Und älter. Keine ‘Kleine’. Sie hatte ihr Haar hochgesteckt, aber nicht wie die alten Omas. Sie hat sich oben auf dem Kopf einen Pferdeschwanz gebunden und das Haar dann rundherum in alle Richtungen fallen lassen und festge- steckt. Das sieht toll aus, finde ich. Wahrscheinlich gefällt das auch solchen Jungs wie Freddy. Ich werde das mit meinem Pferdeschwanz auch mal probieren. Das andere Mädchen hatte langes blondes Haar und hängte sich an den Arm eines der anderen Jungs. Schade, daß unser Bus so schnell kam, ich hätte sie gern noch eine Weile beobachtet. Auch, wenn es mir eigentlich nicht so richtig gefallen hat, was ich da gesehen habe
.
Fortsetzung folgt
Texte:
Copyright 2008 by Doris Bühler
Tag der Veröffentlichung: 26.02.2009
Alle Rechte vorbehalten