TEIL 1
E P I L O G
Er bewegt sich auf das Ziel zu. Seine Schritte werden immer schneller ... Peter Black ... Peter Black - dieser Name kreist in seinen Gedanken immer wieder umher und berauscht seine Sinne, als würde er in einer lebendigen Löwenhöhle nach einem Augenblick von Wahrheit suchen ... Der Traum wird Realität. Peter Black - es muss eine Verbindung geben! Was ist dieser Name, diese Identität? Was hat diese Person, wenn es sie überhaupt gibt, in seiner Gedankenwelt zu suchen? Sein Herz hört für einen kurzen Augenblick auf zu pochen. Schweiß rinnt seinen Rücken hinunter, als würde es der kalte Regenschauer einer späten Septembernacht sein. Seine Hände verkrampfen sich zu Krallen ... Peter Black ...
Eric Goldner (Verleger): Was meinst du? Gefällt es dir? Komm schon, ich weiß, dass es dir gefällt. Ich kann es in deinen Augen lesen, mich kannst du nicht täuschen, Pucholsky. Ich weiß, dass es dir gefällt!
Altun Pucholsky (Schriftsteller): Eric, wie lange kennen wir uns schon? Zwanzig, zweiundzwanzig Jahre? Wieso versuchst du mir immer wieder die Muse ins Haus zu schleifen? So funktioniert es nicht. Ich will bloß versuchen, ein gutes Buch zu schreiben, das ist alles. Ich brauche keinen, an der Ecke der 23-ten Straße erworbenen Dreigroschenfetzen oder in irgendeinem Auktionshaus in London von deinen einflussreichen „Freunden“ erworbene Schwarzmarktkopie der Übersetzung irgendeines Motel-Tagebuchs. Was soll ich denn überhaupt damit anfangen, was nützt mir dieser Papierfetzen? Ich könnte beinahe sagen, dass es an der Zeit wäre, wieder einmal die Chinesische Mauer anzupissen, aber ich werde es bei diesem Gespräch belassen, Eric. Es hat keinen Sinn, mit dir über die Veröffentlichung meines nächsten Romans zu streiten. Ich habe nicht mehr das Gespür für die Realität, für den Sinn der Dinge. Alles dreht sich in einem unabdingbaren Prozess nur um das Eine – weshalb die Mühe? Nun sage mir bitte, wer dir diesen Text in die Hand gedrückt hat?
Eric Goldner: Altun, wenn ich es dir sage, würdest du es wahrscheinlich sowieso nicht glauben. Es hat sich ein Abschnitt der berühmten letzten Kafka-Erzählung in der Bodleian Library Oxford–Abteilung „Western Manuscripts“ über all die Jahre retten können. Es ist unglaublich, aber dieses ist tatsächlich seine letzte literarische Botschaft an die Nachwelt. Laut Kafkas Wunsch sollten seine Manuskripte, von denen zu Lebzeiten kaum etwas veröffentlicht worden war, nach seinem Tod vernichtet werden. Entgegen seinen Willen veröffentlichte sein Freund Max Brod in den dreißiger Jahren die Werke. Das hier ist ein Abschnitt aus seinem letzten Roman „Mäuse und Völker“, den er nie fertigstellen sollte, na ja, die Tuberkulose hatte Vorrang. Ich habe ein Vermögen dafür bezahlen müssen. Du verstehst, so etwas hat nun mal seinen Preis. Franz Kafka hatte zwar in Max Brod einen guten Verleger, aber nicht so einen ausgezeichneten wie du, ha ha! Und nun hast du die Möglichkeit, diese Worte zu Ende zu führen oder sie an den Anfang deines neuen Buches zu setzen. Ist mir egal, Hauptsache du lieferst das fertige Buch pünktlich, sonst ist es vorbei mit Havannazigarren, Jack Daniels, Salonkommunismus und Weibern. Dein Arsch läuft auf Grundeis, Altun! Ich meine es ernst. Du hast eine letzte Chance, der Welt da draußen zu zeigen, was du kannst und wer du bist. Ich weiß, dass du es kannst. Es liegt noch ein letzter Funken Wahrheit in deinem Blick, ich kann es sehen. Lass ihn noch einmal auflodern, danach kannst du dich für den Rest deines Lebens an die Riviera in die Sonne legen oder, von mir aus, eine Weltreise machen. Schreibe dieses Buch, tue es für deinen Freund, Eric Goldner, er wird dir ewig dafür dankbar sein! Komm schon, nimm den Kafka-Ausschnitt und verwende ihn, was kann da schon passieren?! Denk an die Riviera, Altun, an die sorgenlosen Tage, wenn alles vorbei ist. Du kannst sogar New York für einige Zeit verlassen.
Altun Pucholsky: Ich kann den Menschen nicht beweisen, dass die Welt noch nicht tot ist, dass das Leben noch nicht tot ist. Meine Erinnerung trägt mich wie einen alten, vergessenen Papierfetzen auf einer leeren Straße davon. Ich hätte nie geglaubt, dass ich es sagen werde, aber ich habe keine Inspiration mehr. Der Geist ist tot, das Fleisch ist schon verfault, der Samen der Kreation ist verdorben. Der einzige Weg, in die Welt eindringen zu können, ist es, den Leuten da draußen zu sagen, dass es nicht mehr um die Wahrheit geht. Die Antwort auf das Leben ist nicht die Wahrheit, sondern der Verlust der Wahrheit, Eric! Ich werde vielleicht ein Buch schreiben, welches die Wahrheit für immer und ewig in die Verdammnis der Vergessenheit verbannen wird. Und du kannst dir deinen Kafka-Fetzen in den Arsch schieben oder deiner Frau unter den Christbaum legen. Verliere nur nicht den Glauben an die Lügen, er kann dir eines Tages den Arsch retten.
Die Lichter gingen an, lautes Gelächter war im Kinosaal zu vernehmen. Die Zuschauer hatten angefangen, in einem hysterischen Tonfall zu lachen, keiner der Anwesenden konnte sich zurückhalten. Der Schlusssatz schien den Kinobesuchern zu gefallen. Der Drehbuchautor schien sich kein Blatt vor den Mund genommen zu haben. Das mit dem Christbaum war nun wirklich etwas übertrieben, aber den Leuten schien es zu gefallen. Sie verließen den Kinoraum, und man hätte sagen können, dass ein Gefühl von Zufriedenheit auf ihren Gesichtern lag. Sie hatten sich wirklich amüsiert. Zwei elegant gekleidete junge Männer hatten sich aus der Menge gelöst und gingen auf ein nahe gelegenes Restaurant zu, in ein interessantes Gespräch vertieft:
"Wie hat er dir gefallen? Glaubst du wirklich, dass jemand einen Abschnitt des letzten Kafka-Manuskriptes gefunden hat? Ich denke, das war nur die Vorstellungskraft des Regisseurs. Was meinst du, Cire?"
"Ich weiß nicht, mir schien das Argument des Verlegers plausibel, vielleicht gibt es wirklich noch authentische Kafka-Dokumente, aber ich bin kein Kafka-Experte, ist überhaupt nicht mein Gebiet. Cire Rendlog ist nicht Germanist, er ist Futurist! Also kann ich mich dazu wirklich nicht äußern. Klaus, du hast ja mit den deutschsprachigen Schriftstellern des letzten Jahrhundertviertels geliebäugelt. Mich haben die noch nie richtig begeistern können. Meine Welt sind der Film, die Musik und die Zukunft. Ich kann zwar nicht alles miteinander vereinbaren, doch der Film hat mir gefallen."
"Interessante Ausgangssituation. Wer hat bei dem Film eigentlich Regie geführt?"
"Das war Harry Moriarty. Ein genialer Geistesmensch, vielseitig und minimalistisch. Er lebt und arbeitet in Wien. Seine Filme haben ganze Generationen von Filmemachern beeinflusst - von Antonioni bis Arronofsky."
"Ja, ich habe zwei seiner Romane gelesen. Er erinnert mich irgendwie an Tucholsky, dieser subtil-groteske Unterton."
"Hey, lass uns einen heben gehen! Ich werde wieder mal leicht philosophisch, und da gehört ein kaltes Bier dazu. Bist du noch überhaupt mit der peruanischen Monsterpuppe zusammen? Die machte einen interessanten Eindruck auf mich."
"Und nicht nur ihre 'Eindrücke' sind interessant. Glaube mir, mein treuer drug, sie hat Qualitäten, für welche Jean-Jaque Cousteau 200 Meter tief tauchen würde, bloß um einmal ihren süßen Korallenarsch streicheln zu dürfen. Wir haben uns entschieden, für eine Weile Abstand zu halten. Ihre Bronté–Selbsthilfegruppe und ihre Neigung zu osteuropäischen Männern ist nicht mehr auszuhalten. Wo nie Gras gewachsen ist, wird auch kein Schnee fallen, wenn du verstehst, was ich meine! Lass uns aber nicht über unsere verlorenen Träume sprechen. Was spricht die Musik, Cire? Schreibst du noch Songs?"
"Mir fällt da bloß dieser Song ein, an dem ich zurzeit arbeite. Ich habe mir den Arsch absitzen müssen, um ihn fertigzustellen.
Geht ungefähr so: ...
my old man told me one day, you never get wise, you only get bolder
.
"Wieso die Sprache des Barden von Avon für so einen Gedankenschinken missbrauchen? Du bist doch nicht schon wieder auf dem beatific-trip drauf, oder? Du hast schon vor zwei Jahren versucht, mit deiner Musik eine kleine Welle zu schlagen. Wieso lässt du es nicht einfach sein, ist reine Zeitverschwendung. Kunst und Gott sind inintelligibel. Du bist bloß eine dahindriftende Seele in dem unendlichen digitalen Meer, mein Freund."
Die beiden Freunde traten in den hell beleuchteten Raum des Restaurants ein, ohne jedwelche Kenntnis von der auf sie direkt zukommenden leicht aufgeregten Person zu nehmen. Eine laute Stimme griff in die Gesprächswelt der beiden über. Sie wandten sich der fremden Person zu. Es wäre lächerlich, erwähnen zu müssen, dass es eine attraktive junge Dame war, die ihr hundertprozentiges Augenmerk auf Klaus und Cire gerichtet hatte. Klaus wollte den Augenblick festhalten und erlaubte sich eine Frechheit. Er war 25 Jahre alt, also konnte man es als durchaus plausibel betrachten, wenn er seine Visitenkarte aus der rechten Außentasche seines gestreiften Anzugs mit einem Hauch von Arroganz hervorzog und sie Cire entgegenstreckte, den Blick auf das junge verblüffend intellektuell wirkende, und trotzdem schwarze Stöckelschuhe und Nylonstrümpfe tragende Geschöpf gerichtet. Die Geste schien auf sie keinen Eindruck zu machen, also ergriff Klaus die Gelegenheit und ließ die Karte beim Vorübergehen unauffällig, aus einer subtilen Bewegung des Mittel- und Zeigefingers heraus, in die leicht geöffnete Handtasche der ihn streifenden Person hineingleiten. Er war sich absolut sicher, dass er in den nächsten Tagen mit einem Anruf der attraktiven Fremden rechnen konnte. Doch schien die Tatsache, dass er so selbstsicher wirkte und einen genauen Ablauf der Dinge voraussehen konnte, nicht mehr von Bedeutung zu sein. Ein Geruch, eine Erinnerung an die verlorenen Augenblicke, ein in seinem Geist wachgerütteltes längst verlorenes Gefühl, eine Emotion, welche er zu vergessen geglaubt hatte, durchstreifte blitzartig seine Gedankenwelt. Es war Tarjastiina, der Geruch ihres Haares, ihre Anmut, sie war wieder da. Diese fremde Frau hatte in seiner Gedankenwelt einen Namen aus der Tiefe seiner Erinnerung wachgerufen, welchen er schon längst vergessen geglaubt hatte. Die in Helsinki verbrachten Tage und Nächte, der Sommer und die finnische Lebensfeinheit konnten ihn nicht loslassen, sie waren wieder da.
"Ich weiß nicht, Cire. Diese Frau hat mich irgendwie fasziniert, aber es ist doch, ich meine, ich kenne sie kaum, und trotzdem, du wirst es nicht glauben, sie erinnert mich an Tarjastiina, der Geruch ihres Haares ... Sie ist da!"
"Komm schon, Alter! Sie hat dich doch schon längst vergessen. Ich weiß, dass du sie immer noch liebst, aber es ist schon fünf Jahre her, als du sie zum letzten Mal gesehen hast. Vielleicht ist sie mit einem Fischer aus Lappland verheiratet, oder liest Knut-Hamsun-Romane in irgendeiner herabgekommenen Kneipe in Glasgow, vielleicht ist sie ..."
„Nein, ich fühle sie! Ich fühle sie in meinem Inneren wie noch nie zuvor, sie ist da! Es ist ein Gefühl des Ausgeliefertseins, der Verzweiflung. Vor zwei Minuten haben wir noch von dieser schönen vorbeigehenden Dame geschwärmt, und jetzt kann ich kaum einen klaren Gedanken fassen. Erinnerst du dich noch? Sie hat diese Zeilen vor zwei Jahren für mich geschrieben."
"Ja, ich kann mich erinnern. Du hast sie wahrscheinlich gar nicht gelesen, so, wie ich dich kenne. Für dich waren Frauen immer nur eine „Angelegenheit“, Cire. Du hast dir nie richtig Zeit für sie genommen, sie zu verstehen, zu durchdringen ..."
"Du wirst es nicht glauben, ich habe aber den Brief aufbewahrt. Ich schätze, ich habe nie den Mut gehabt, ihn zu lesen. Es war einfach zu schwer, ich konnte es nicht. Aber heute fühle ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder lebendig, irgendwie sind die Instinkte, die vitalen Instinkte wieder da. Ich will diesen Brief lesen, Klaus, ich will Tarjastiina wieder in meinem Herzen spüren. Ich habe den Brief bei mir getragen, Tag und Nacht in meiner Brieftasche, und kenne nach zwei Jahren immer noch nicht seinen Inhalt. Aber ich werde es tun, lass uns einen Tisch bestellen."
Cire setzte sich an einen benachbarten Tisch. Klaus nahm auf dem ihm direkt gegenüberliegenden Stuhl Platz. Sie blickten sich für einen kurzen Augenblick gegenseitig in die Augen. Beide wussten, was folgen sollte. Trotzdem war eine Unsicherheit auf dem Gesicht Cires zu vernehmen. Er hatte Angst, panische Angst, jene Zeilen aus seiner Brieftasche hervorzuziehen und sie zu lesen. Aber er tat es. Blitzartig zog er den Zettel hervor und begann zu lesen.
"Habe ich dir überhaupt schon erzählt, dass ich nur ihrer wegen Finnisch gelernt habe? Stell dir vor, sie hat mir die Sprache beigebracht. Jetzt sitze ich in diesem Lokal, zwei Jahre danach und lese ihren Brief. Ist das nicht verrückt?"
Er richtete seinen Blick, ohne zu Klaus aufzusehen, auf den Inhalt des Briefes ... Er begann zu lesen, seine Augen waren feucht. Klaus hatte bemerkt, dass es Cire sehr mitgenommen hatte. Er konnte seinen Blick nicht mehr von dem Brief wegrichten. Er selber wusste zwar nicht was darin stand, konnte aber sehen, dass der Mensch, den er nun seit 10 Jahren kannte, einen Ausdruck in seinem Gesicht trug, welchen er noch nie gesehen hatte.
"Ist es so, wie ich denke, Cire? Steht es drinnen? Sie ist eine Frau - und du weißt es ganz genau! - welche du nie wieder zurückerobern wirst. Sie ist weg, Cire! Du weinst? Was schreibt sie? Kann ich, darf ich?"
Cire Rendlog streckte Klaus den Brief entgegen, ohne jedwelche Regung wahrzunehmen. Er fühlte sich berauscht, benebelt, es war beinahe unmöglich, ein Wort zu formulieren. Klaus nahm den Brief in die Hand und begann zu lesen:
Ilman sinna tunnen itseni tyhjäksi. Sinä täydennät ja kun suljen silmäni olet vierelläni. Tắmắ on viimeinen yritys seurata sielujemme sắveltắ.
Er konnte mit diesen Worten überhaupt nichts anfangen und verspürte eine Wut im Bauch, nicht Finnisch sprechen zu können, hatte aber schon eine Vorahnung, welche tiefe Bedeutung diese Worte für Cire hatten. Er nahm sich vor, seinen Freund darum zu bitten, diese Zeilen zu übersetzen.
"Und jetzt kannst du mir auch sagen, was darin steht, oder? Ich will es wissen, ich will es lesen, sehen, spüren. Also schieß los, Cire!"
"Gut, ich werde versuchen, dir einen Einblick in die poetische Ader dieser Frau zu gewähren. Es sind die süßesten Zeilen, die ich je gelesen habe, und sie klingen so schön in meinem Ohr. Sie sind so leicht und unschuldig, aber entschuldige, ja, übersetzen, gut. Hm ..."
Ohne Dich fühle ich mich leer. Du vervollständigst mich. Ich erinnere mich an Deinen Geruch und wenn ich meine Augen schließe, bist Du neben mir. Dieses ist der letzte Versuch, der Stimme unserer Seele zu folgen !
"Verdammt, das muss weh tun! Es sind echte Emotionen, die dahinter stecken, ich kann es spüren. Sie hat sich dir geöffnet, Cire, und du? Tut mir leid, aber du hast vollkommen versagt. Diese Frau hätte dir die Sterne vom Himmel herunterholen können, sie hätte dir ein richtiges Leben schenken können. Es ist traurig, aber du stehst nun du und hast überhaupt keine Ahnung, was oder wer du bist."
"Es ist schwer, aber ich will versuchen, ihre Augen zu sehen, ihr Haar zu riechen, ihren Gang zu spüren . . . Ich kann es einfach nicht. Es ist, als würde sie mich aus einer weiten, einsamen Dunkelheit verfolgen ... Und trotzdem ist ein Hauch von Liebe da. Eine sanfte Liebe, Klaus. Nicht bloß, weil wir fast geheiratet und fünfzehn Quälgeister in die Welt gesetzt hätten. Es ist die Zweisamkeit, es sind die verletzlichen Augenblicke, welche ich nie wieder teilen kann, nie wieder erahnen kann ... eine Liebe . . . Es ist aus und vorbei! Jetzt bin ich nur noch eine Marionette des Schicksals. Der Puppenspieler ist nicht anzutreffen, Klaus. Ich verliere den Bezug zur Realität ..."
Es ist ein sonniger, leicht verspielter Septemberabend. Eine ruhige Stille macht sich über dem stillen See breit. Der Abend ist frisch. Akazienbäume atmen den Blütenduft ein und halten still. Da sitze ich alleine auf einer Bank, den letzten dunklen Apfel in der rechten Hand. Trockener Mund. Ich hatte schon seit Wochen mit dem Gedanken gespielt, das zu Papier zu bringen: diese beiden Freunde - Cire und Klaus ... Ich weiß nicht, es könnte ein gutes Buch, vielleicht einen guten Film hergeben, jedoch muss ich mir vorerst ernsthaft darüber Gedanken machen. Ich werde solch eine schwere Zeit haben, einen Verleger für den Roman - falls es einer sein wird - zu finden, und die Filmregisseure heutzutage sind ja sowieso auf irgendwelchen Drogen oder mit Werbeverträgen beschäftigt. Dieses finnische Liebesgedicht könnte bei den Lesern wirklich Wirkung zeigen, da bin ich mir sicher! Es ist die Möglichkeit, ein gutes Buch zu schreiben, oder vielleicht sollte ich etwas anderes ausprobieren. Freundschaft und Liebe sind die Inspirationsquelle, vielleicht bringt Recherchearbeit was. Die Bibliothek hat noch offen. Werde mal einen Blick aufs Archiv werfen. Vielleicht wird eine geniale Idee an die Oberfläche gespült, mal sehen. Trotzdem, wenn ich recht überlege, sind all diese Bemühungen, den Leserinnen ein seichtes Stück der Wahrheit vor Augen halten zu wollen, belanglos und sinnlos. Die Kunst will die Realität nachahmen, auf eine unverständliche Weise. Wir sehnen uns nach dem poetischen Wesen der Künstler und verdammen sie jedes Mal, wenn sie uns über den Weg laufen. Wir brauchen und verzehren sie, jagen sie aber an jenen finsteren Ort fort, wo nur eine einsame Seele ihr zu Hause finden kann. Ich glaube, es ist sinnlos, dieses Buch zu schreiben. Warum sollte ich meine intimsten Gedanken auf ein offenes Blatt darlegen? Ihnen einen Grund geben, mich bis auf die Socken auszuziehen?! Das Archiv wird sicher Antworten bieten können. Es ist immer ein kleines Detail aus einer längst vergessenen Biographie der guten Menschen unserer Welt zu finden. Könnte ich dadurch ein Lächeln auf die Lippen der Leserinnen zaubern? Literatur, Musik, Malerei, Film - schöne Illusionen. Doch es gibt immer einen Ausweg aus dem langweiligen Schwarz–Weiß-Denken. Vielleicht sollte ich es mit einer Ballett–Inszenierung versuchen. „Tanz & Musik“ treibt die mimetische Gier des Publikums immer auf das Äußerste, auch wenn es nur ein paar gelangweilte Schwäne sind, die aus einer Ecke der Bühne in die andere hüpfen, oder ein verliebte Prinzen- und Prinzessinnen-Paar, beide vom großen Neid an einen einsamen Ort vertrieben. Ein Ballettstück ist eine originelle Idee, zumindest würde es sich verkaufen. Nein, ich denke, die Idee mit dem Kafka-Manuskript ist doch die vernünftigste, zumindest werden sich die Leser nicht langweilen. Das Problem sind diese Namen: Cire Rendlog – Eric Goldner. Welcher der beiden kann nun das Herz und die Seele des Publikums, der Leserinnen erobern? Welcher der beiden käme in Frage? Na ja, auf der einen Seite haben wir einen geldgeilen Verleger, hm ... einen Verleger natürlich, und auf der anderen, einen futuristischen Musik– und Filmfanatiker, der auf Frauen anscheinend einen „bleibenden“ Eindruck zu hinterlassen scheint. Jedoch sind das nur zwei kleine Fische in dem großen Ozean der Inspiration, zwei Menschen, zwei mögliche Protagonisten ... na ja, vielleicht sollte ich lieber eine Pause einlegen, das Leben ein wenig genießen, reisen und so. Dieses verdammte Herzleiden? Wie viel Zeit bleibt mir überhaupt noch? Ärzte meinen A, Mediziner sagen B, und Krankenschwestern weinen C. Ich kann meinen Gesundheitszustand wahrscheinlich noch immer am Besten selber einschätzen, wie jeder vernünftige Bürger es auch tut. Warum denn immer dieser besessene Schreibzwang? Es gibt doch so vieles mehr als die Kunst, es gibt Alternativen, ja, Alternativen, die keiner wahrnimmt. Und außerdem sitzt da immer diese fette Frau im Literatur–Flügel des Archivs, die beim Lesen animalisch schwitzt und komische Geräusche von sich gibt. Das verdirbt mir immer wieder den Spaß am Lesen. Sie sollte Mutter Courage oder Madamé Bovarié mal um Rat fragen, vielleicht könnten die ihr ein paar Ratschläge für eine Schlankheitskur geben. Na ja, fette Frau oder Archiv hin, eine bessere Idee muss her. Eine einzigartige Idee, ein Einfall . . . und dann . . . die große Überraschung: Harry Moriarty ist wieder da! Das, was er erschafft, wird die ganze Welt in den Wahnsinn treiben. Ein letzter Kraftakt vor dem endgültigen Abschied von diesem süß-bitteren Leben. Er wird den Menschen Hoffnung geben . . .
V O R H A N G A U F
Mr. Black: Einen schönen guten Abend, lieber Harry Moriarty! Wie geht es dir an diesem wunderschönen Abend? Ich wusste, dass ich dich hier antreffen würde. Du kannst dich einfach nicht vom See fernhalten, was? Er hat etwas Magisches, eine innere Ruhe und ...
Harry Moriarty: Wer bist du? Wieso hast du den langen Weg bis hierher, an dieses Ende der Welt gemacht? Um einem alten einsamen Mann beim Sterben zuzusehen?
Mr. Black: Eigentlich, um ihm dabei behilflich zu sein, wenn ich ehrlich sein darf. Nun, hast du schon gefunden, wonach du suchst?
Harry Moriarty: Jeder Mensch sucht nach Sinn und Wahrheit. Ich suche bloß nach ...
Mr. Black: Harry, weißt du denn immer noch nicht, wer ich bin? Ich habe ES! Und du scheinst ein unüberwindbares Problem zu haben, welches ich unter Umständen lösen könnte! Du bist immerhin fünfundachtzig Jahre alt. Ein Mann in deinem Alter sollte ernsthaft über „das Ende“ nachzudenken beginnen. Und du scheinst einer von denen zu sein, die unseren "Lustgarten" mit Stil verlassen wollen. Was wäre für einen so von Erfolgen verwöhnten Künstler, wie du es bist, lieber Harry, wünschenswerter, als ein großes letztes ... den Rest kennst du ja selber, es stammt ja schließlich von dir!
Harry Moriarty: Ich werde dieses letzte Werk nicht aus eigener Kraft erschaffen können. ES bedarf viel mehr als bloß Inspiration.
Mr. Black: Deswegen bin ich ja hier. Ich habe deinen Werdegang verfolgt: fünfzehn erfolgreiche Filme. „Arethusa“ ist immer noch mein Lieblingsfilm. Ich habe deine Musik gehört, Harry. Und deine Gedichte ... hmm, deine Gedichte haben meine Seele in die „Arena der universellen Lyrik“ herausgefordert. Deine ideologischen Collagen haben sogar mich beeindruckt, wirklich genial! Und nun, mein lieber Harry, sitzt du da und wartest auf eine Utopie. Du glaubst, ES wäre hier von einem von euch zu erreichen?! Du täuscht dich, ihr täuscht euch alle! ES ist nicht von menschlicher Hand zu erschaffen, unmöglich, einfach IMPOSSIBLE! Und das solltest du wissen, Harry, besser als alle anderen Künstler. Nun stehe ich vor dir und biete dir einen Handel an. Die Entscheidung triffst letztendlich du allein.
Harry Moriarty: Entscheidung?! Warum soll Ruhm und Erfolg der ewige Fluch des Künstlers sein? Weshalb soll man das neugierig-kreative Kind in sich am Leben erhalten und Kunst erschaffen, wenn dieses eines Tages vor den Augen der Öffentlichkeit verkümmert? Warum sehnen wir uns nach dem Erfolg wie eine verlorene Seele nach dem Nirwana, wie die Wüste nach dem Regen? Es ist der Trieb, der unaufhaltsame Instinkt, an die Spitze zu gelangen. Und ich habe diesen Trieb niemals in mir zum Auslöschen bringen können. Er ist da, und jetzt quält er mich. Ich bin wie besessen von diesem Gedanken, ein letztes absolutes Werk zu erschaffen, welches mich in die Unsterblichkeit, in die Geschichte der Menschheit eingravieren und die Dimensionen des menschlichen Denkens und Empfindens sprengen wird.
Mr. Black: Es ist deine Entscheidung, Harry. Wenn du ES willst, musst du es mir nur sagen, ich kann dir helfen. Aber es ist deine Entscheidung, mein lieber Freund. Nun, deine Antwort lautet ...?
... das waren seine letzten Wort, eine Frage ...
Vielleicht sind diese Zeilen, welche Sie gerade lesen, bloß eine Illusion, und Sie haben den Bezug zu der realen Welt dort draußen verloren?!
(Gelächter) Mr. Black: Also gut, Harry, ich habe deine Worte klar und deutlich verstanden. Du willst ES vollbringen?! Du weißt aber, was das bedeutet, oder?
Harry Moriarty: Ich will ES vollbringen. Und nun ...
„Nein, nein, Herr Pucholsky, nicht „und nun“, sondern „warum“! Ist das wirklich so schwer zu memorieren? Ich denke, wir brauchen alle eine Pause. Maria, bereite bitte das Bühnenbild für den nächsten Akt vor. Josef, kannst du dich bitte um die neue Statistin kümmern? Weihe sie in die Rolle des Engels ein. Zwanzig Minuten Pause für alle. Herr Pucholsky, würden Sie mir einen Augenblick Ihrer kostbaren Zeit schenken, bitte?“
Der genervte Schauspieler trat von der Bühne herab und bewegte sich in Richtung Regisseursessel, ohne zu ahnen, was auf ihn zukommen würde. Er wusste, dass er die Rolle des Harry Moriarty gut spielte, sein Gedächtnis ließ aber nach. Er machte diese Arbeit schon seit 55 Jahren, und in solch einem Alter konnte schon mal ein Fehler unterlaufen. Die Angst vor dem Gespräch war Pucholsky anzumerken. Die Anspannung in dessen Gesicht konnte jeder der Anwesenden spüren. Dem Regisseur schien nicht aufgefallen zu sein, dass sie seit sieben Stunden ununterbrochen probten, und den Schauspielern die Müdigkeit in den Knochen lag. Er hatte nun mal eine diktatorische Ader, dieser Regisseur, und wollte durch Disziplin die Schauspieler zu einer homogenen Theatergruppe erziehen. Dem Gesichtsausdruck Pucholskys nach zu beurteilen, hatte er es auch geschafft.
„Herr Pucholsky, Sie sehen doch unserer Premiere mit Zuversicht entgegen. Liege ich da richtig, oder etwa nicht? Wir sind schließlich am Pariser Odeon–Theater, und nicht in irgendeinem Provinz–Schießbuden-Schauspielhaus!“
„Diese Rolle bedeutet mir sehr viel. Der Fehler ist zwar unverzeihlich, ich weiß, es wird aber nie wieder vorkommen. Darauf können Sie sich verlassen, Herr Regisseur. Und nun ...?! Ich meine „warum“ . . .
„Sie scheinen ja ein richtiger Witzbold zu sein, Pucholsky! Gehen Sie und trinken Sie ihren Kaffee. Wir sehen uns in drei Minuten auf der Bühne.“
Schon wieder ein trauriger Schauspieler und ein zufriedener Kunstmacher. Unser Herr Regisseur schien ja richtig Spaß daran zu empfinden, solche Theaterarbeit vorantreiben zu dürfen. Er musste es ja wissen. Manche hätten ihn als einen avantgardistischen Geistes–Dandy abgestempelt. Er selber sah sich als Beckett–Brecht–Nachfolger. Tja, die Bühne war ein Schlachtfeld. Theaterleute wussten nicht mehr, wogegen anzukämpfen war, welcher „der Klassenfeind“ dort draußen war, welchen man freispielen, ja freireden musste. Die Theaterwelt war bloß eine illusionäre Welt, eine vergessene Welt. Ein Sodom und Gomorra, in welchem ethische und moralische Wertvorstellungen dem Ausschweifungstrieb den Vorrang eingeräumt hatten.
„So, die Herrschaften, wenn ich bitten darf! Kaffee saufen und fressen können Sie Ihr ganzes Leben lang, hier wird ein Stück aufgeführt. Herr Pucholsky, ich hoffe, Sie werden uns dieses Mal den lieben Harry Moriarty etwas überzeugender vorführen!“
„Pucholsky - den gibt es nicht mehr. Jetzt heiße ich 'Harry Moriarty'. Diese Rolle ist die größte Herausforderung meiner Karriere. Möge der weiße Regen den ganzen Dreck von den Straßen wegspülen. Ich stehe auf der Bühne und zeige der Welt da draußen, wer Harry Moriarty ist.“
„Das ist der spirit. Das will ich von Ihnen hören, Harry. Beweisen Sie mir, dass es möglich ist, diesen Künstler, den Künstler unserer Weltbühne zu spielen, und Sie werden unsterblich werden, Pucholsky ...“
„
Harry, Harry Moriarty, ich bitte Sie!”
“Wie auch immer. Sie sind dran. Wo waren wir ...?“
Der Schauspieler machte einen nervösen Eindruck. Seine Gesichtsmuskeln strafften sich zusammen. Der Schweiß rann ihm von der Stirn. Er wusste, dass er sich zu beherrschen hatte. Da war eine unangenehme Regung seines Ichs. Er war alt. Seine Ambition wollte eine allerletzte Größe erreichen. Deswegen entschied sich unser Schauspieler, Herrn Regisseur sanft in den Arsch zu kriechen, um ein wenig Ruhm erlangen zu können und ein Stück von dem begehrten Kuchen abzukriegen. Er blickte in den leeren Saalraum. Das Gefühl der Einsamkeit, des Versagens konnte er in der Hoffnung verdrängen, bald wieder in den Applaus des Publikums eintauchen zu können. Harry Moriarty würde neue Maßstäbe in der Theaterkunst setzen. Man würde sich an den Pucholsky noch lange nach seinem Tod erinnern, ihn wie einen „Heiden der Moderne“, wie einen „Schöpfer des Guten feiern können. ES war ja schließlich kein Zufallsprodukt! Die Theaterprobe zog sich bis in die späten Nachtstunden hinaus. Die Schauspieler verließen erschöpft das Gebäude und bewegten sich Richtung Autos. Jeder wollte so schnell wie möglich nach Hause fahren. Kunst hieß Erschöpfung, hieß Arschkriechen. Und die erschöpften, arschkriechenden Schauspieler wollten nach oben, in das Pantheon der Theatergeschichte eintreten. Da war dann noch jener Alibispruch der bürgerlichen Konventionen: „Der Zweck heiligt die Mittel“. Wenn man in diesem Fall Mittel mit dem dunklen, tiefen Arschloch des Theaterregisseurs hätte gleichsetzen dürfen. Pucholsky kam zu Hause an. Er war müde und wollte nur noch eine nette Stunde vor dem Fernseher verbringen, ein wenig von dem Stress des Alltags abbauen und dann zu Bett gehen. Er schaltete den Fernseher ein und suchte sich eine ihn zufriedenstellende Sendung aus, doch als er auf der Fernbedienung hin und her schaltete, sah er plötzlich ein ihm bekanntes Gesicht auf dem Bildschirm. Es war ein Film, und die Hauptrolle spielte sein Bekannter Peter Black, der berühmte Schauspieler aus der Fernsehserie „Wie beklaue ich ein Genie“? Peter hatte sich schon etabliert, seine „vornehme“ Arschkriechkunst hatte ihn schließlich „nach vorne“ gebracht. Er hatte seine Verträge mit den Filmhäusern sorgfältig ausgehandelt und spielte nun alle gutbezahlten Rollen in den großen Filmprojekten. Pucholsky schaute sich gelangweilt den Film an und stellte fest, dass er in all den 55 Jahren seiner Schauspielerkarriere noch nie ein größeres Arschloch kennengelernt hatte, als es Peter Black eines war. Das Theaterstück schien jedoch vielversprechend. Darauf hatte er sich zu konzentrieren. Die Rolle des Harry Moriarty war eine wirkliche Herausforderung. Wer war eigentlich jener seltsame Ausnahmekünstler? In Gedanken vertieft begab sich Pucholsky ins Bett. Er war hundemüde, und am nächsten Tag stand eine weitere erschöpfende Probe vor ihm. Er musste wieder zu Kräften kommen, um jene Rolle nach eigener Zufriedenheit und jener des Regisseurs perfekt darbieten zu können.
Es ist ein regnerischer Sonntagvormittag. Ein Mann geht am Pariser Hauptbahnhof spazieren. Er begegnet dem Tod. Dieser blickt ihm melancholisch in die Augen und gibt ihm zu verstehen, dass die Zeit gekommen sei. Der Mann teilt ihm mit, dass es dafür noch zu früh ist. Er entscheidet sich, nach dem Süden zu reisen, ans Meer. Dieser steigt in sein Auto und fährt die ganze Nacht - ohne anzuhalten - durch, in der Hoffnung, dem Tod zu entkommen. Er kommt am nächsten Morgen in Toulon an. Der Mann steigt aus dem Auto aus und blickt auf das Meer hinaus. Da entscheidet er sich, mit dem Bus nach Paris zurückzufahren. Als er sicher ist, dem Tod entkommen zu sein, überschlägt sich der Autobus. Der Mann ist auf der Stelle tot.
Pucholsky richtete sich schweißgebadet in seinem Bett auf. Er hatte einen schrecklichen Traum, in welchem er sich in Paris befand und dem Tod begegnete. Er konnte sich genau an den Gesichtsausdruck des Todes erinnern, als ihm dieser zu verstehen gab, dass die Zeit gekommen war, „die ewige Reise“ anzutreten. Er blickte sich in seinem Zimmer um und konnte erst wieder aufatmen, als er wusste, dass es nur ein Traum war. Ein grausamer Albtraum, doch etwas irritierte ihn an jenem Traum. Die Begegnung mit dem Tod war eine reale Tatsache, welche er vergangenen Abend, in dem Schauspielhaus auf der Bühne, als Harry Moriarty gespielt hatte. Mr. Black und Harry Moriarty unterhielten sich über das ES, und Harry war bereit sein Ja-Wort zu geben. In seinem Traum erschien ihm der Tod in Paris auf dem Hauptbahnhof. Was hatte das zu bedeuten? Er wollte doch nicht seine Seele verkaufen, um jenes Stück makellos spielen zu können. Er wollte doch nur eine gute Rolle darstellen, das war alles. Aber wieso ...?
„Verdammt, es ist schon halb zehn. Ich muss ins Theater, der Regisseur wird mir schon wieder die Hölle heiß machen!“ Er zog sich schnell an, trank einen kräftigen Kaffee, rauchte eine Zigarette, ging scheißen und machte sich auf den Weg ins Theater. Er besaß kein Auto. Schon der Gedanke daran, eines zu besitzen, war ihm zuwider. Er stieg auf sein Fahrrad und fuhr, in Gedanken vertieft, die Hauptstraße entlang, bis er am Ufer der Seine ankam. Er überquerte die Kreuzung und befand sich vor dem Hauptbahnhof. , durchzuckte es seine Gedanken. Beinahe hätte es ihn vom Fahrrad hinuntergeworfen. Er befand sich in Paris, vor dem Hauptbahnhof, wie in seinem Traum. Eine Überschneidung der beiden Ebenen - Traum und Realität - spielte sich in jenem Augenblick vor seinen Augen ab. Er hatte ein Gefühl der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins. Was hatte das Alles zu bedeuten? Was hatte er am Bahnhof zu suchen? Er wollte ins Theater fahren. Der Weg, sein täglicher Weg in die Arbeit führte am Hauptbahnhof vorbei. Wieso schien ihm die ganze Realität vor Augen davonzugleiten? „Jetzt muss ich aber weiter. Die fragen sich sicher schon, wo der alte Pucholsky bleibt. Ich will ihnen keinen weiteren Grund geben, mich vor den Augen des Regisseurs zu blamieren. Das wird heute mein großer Tag werden. Ich fühle es. Das Theaterstück wird ein Erfolg werden. ES ist das Beste, was die Welt da draußen je zu sehen bekommen hat, und ich darf den Harry Moriarty spielen, den Künstler aller Künstler ...“ Dieser Gedanke schien unserem Herrn Pucholsky zu schmeicheln. Sein jugendliches Lächeln gab einen Hauch von Anmut preis. Das Leben hatte ihn wieder. Er fühlte sich wie an jenem Tag, als er vor 55 Jahren - im Alter von 30 - seine erste Rolle spielte. Es war Millers Biff auf der Bühne des Residenztheaters in München. Jenen Tag konnte er nie vergessen. Nervosität und Anspannung waren wieder da. Er fühlte den Frühling seines Lebens wieder, konnte dessen Hauch einatmen. Seine Sinneswahrnehmung war wie betäubt von der berauschenden Erinnerung an seine Jugendrollen. Nichts konnte ihn von diesem Erfolg abhalten. Er wird ES spüren, er wird ES spielen und ausleben können. Schon der Gedanke daran wollte ihm keine Ruhe mehr lassen. Er glitt auf dem Fahrrad voran und verspürte den Wind in seinen weißen zierlichen Haaren. Lebensmut und die Ambition seiner Träume überrollten ihn. Er konnte die frische Luft einatmen, in vollen Zügen einsaugen, ohne einen Hauch von Unmut oder den Drang zu einem missfallenden Gedanken zu verspüren. Es war eine Fotografie des Augenblicks: die Vollkommenheit seiner Seele und der Einklang seines Gemüts verschmelzten miteinander. Man konnte den glücklichen Mann vorbeifahren sehen und die uneingeschränkte Freude in seinen Augen lesen. Seine Aura und die positive Kraft seines Blickes versetzte die Menschen in Staunen und ... Dem auf ihn zufahrenden Auto konnte er nur noch mit einem ironischen Lächeln entgegnen. Ein lauter Knall war zu vernehmen. Der alte Mann wurde zwei Meter weit geschleudert. Sein Kopf schlug an einem Telefonmast an, die gräuliche Hirnmasse und das ironische Lächeln breiteten sich auf dem Asphalt aus. Der Körper lag erstarrt am Boden. Die Menschenmenge näherte sich dem Schauplatz des Unfalls. In ihren Augen war die Schaulust nicht zu übersehen. Neugierige Blicke richteten sich auf jeden einzelnen Teil der Leiche: das vom Wind zersauste Haar, die erstarrten, aus einem weißen Rollkragenpullover herausragenden Glieder, die blutbefleckte Hirnmasse, welche sich aus einer Öffnung des aufgespalteten Schädels ihren Weg durch die Menschenmenge zu bahnen schien, auf dem Weg nach einem besseren Zuhause. Unbekümmert schien die Sonne auf die weißen Dächer der umliegenden Häuser herab. Durch die Straßen blies der forsche Wind während die Menschen ihr alltägliches geisterhaftes Gleiten fortsetzten.
„Wo zum Henker bleibt dieser vertrottelte, alte Spinner? Hat jemand Pucholsky gesehen? Ich habe es ihm schon hundertmal gesagt, pünktlich zu sein. Die einzige Entschuldigung, die ich durchgehen lasse, ist, dass er tot ist!“
„Herr Regisseur, Herr Regisseur ... es ist etwas Schreckliches passiert!“ Die Frau konnte ihre Tränen nicht mehr verbergen. Alle blickten sie an und verstanden nicht, was mit der Schauspielerkollegin los war.
„Was ist nun, Frau Lucheville, was haben Sie denn? Hat Sie ihr Freund verlassen, oder haben Sie bloß ihre Tage? Was ist nun? Rücken Sie schon mit der Sprache raus!“
„Herr Pucholsky hatte einen schrecklichen Unfall, einen Fahrradunfall. Es ist in der unmittelbaren Nähe des Hauptbahnhofs, vor einer Viertelstunde passiert. Die Polizei hat soeben angerufen. Es ist grausam.“
„Wie ich schon sagte, die einzige Entschuldigung ... Also kommt schon, auf die Bühne! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Es warten Leute dort draußen, anständige Bürger unserer Stadt, die ein Theaterstück sehen wollen. Machen wir uns an die Arbeit! Wer übernimmt die Rolle des Harry Moriarty? Haben wir jemanden?“
Mr. Black und Harry Moriarty sitzen auf der Bank, den See betrachtend. Dunkelheit macht sich über der Landschaft breit. Totenstille. Ich bemerkte gar nicht, wie die Zeit verstrichen ist. Da höre ich ihn schon ...
Mr. Black: Du siehst, es kann sehr schnell ein Ende nehmen. Du kannst tun und sagen was du willst, Harry. Wann es so weit ist, bestimme bloß ich. Merk dir das, mein Freund!
Harry Moriarty: Glaubst du wirklich, dass du mir mit dieser puerilen Schauergeschichte einen Schrecken einjagen kannst? Dieser alte bekackte Schauspieler hatte ja sowieso nicht mehr viel zu leben. Sein Schicksal war schon an dem Tag versiegelt, an welchem ...
Mr. Black: Vergesse nicht, dass du mir dein Einverständnis gegeben hast! Ich habe dich nicht dazu gezwungen. Es ist deine freie Entscheidung. Nun hast du das Szenario ...
Harry Moriarty: Glaube ja nicht, ich wäre von deinen Spielchen beeindruckt, Mister Thanatos!
Mr. Black: Beeindruckt, oder nicht, vor dem Tod haben alle Menschen Angst. Vor allem pissen sie sich in die Hosen, weil sie nicht wissen, wie es sie überraschen wird, ha ha. Ob jung, oder alt, „dumm“, oder dumm, reich, oder arm ..., sie scheißen sich alle in die Hosen, wenn es darauf ankommt. Du hättest sehen sollen, wie so mancher angekrochen kam, um einen kleinen Aufschub bettelnd.
Harry Moriarty: Dein Pietätsgefühl ist ja von überwältigender Tragweite, Seńor Muerte. Hast du überhaupt schon einmal einen ehrlichen Kunden gehabt?
Mr. Black: Na ja, der einzige ehrliche Kunde, an welchen ich mich besinnen kann, wäre mein lieber Freund Alexander Sergeevich. Er hatte so etwas Treues, Aufrechtes in seinem Blick. Ich kann mich noch ganz genau an unser letztes Gespräch erinnern. Wer mag wohl die Frau gewesen sein, die er in seinem Gedicht besungen hat? Er hatte es mir nie verraten, doch besaß er die wahrhaftige Seele eines Poeten. Hör dir das an, Harry:
Вот и пришла пора прощаться, Мне нужно сделать этот шаг, Все будут мысли возвращаться, Приворожил меня ты словно маг… Тебя любила я так сильно, Что трудно будет разлюбить ... Теперь я знаю тол печально, Что без тебя мне уж не жить!
Harry Moriarty: Du scheinst ja richtig angetan zu sein von der russischen Poesie.
Mr. Black: Wenn man dich mit solchen Worten verwöhnen würde, und das von dem russischen Dichter.
Harry Moriarty: Das ist ja kitschiges Gesülze! Mit solchen Zeilen habe ich als Zwölfjähriger meiner Nachbarin imponiert, damit sie ihr rosa Höschen runterlässt. Anscheinend hat sich der liebe alte Alexander Sergeevich schon im Delirium befunden, als er diese Worte aussprach, oder versucht, dich damit zu beeindrucken, um ihm noch ein Weilchen hier unten zu gewähren.
Mr. Black: Ob du es glaubst, oder nicht: Wenn sie an meine Pforte klopfen, winseln sie alle wie kleine Babys. Sogar Viktor Frankenstein hatte einst seinen Mut verloren. Du hättest seine Augen sehen sollen - der leere Blick eines Irren, kein Funken von menschlicher Größe, Mut oder Selbstachtung.
Harry Moriaty: Ich habe deine Anspielungen schon verstanden. Glaube ja nicht, dass die Menschheit durch deine Existenz geschunden sei. Wir werden dich abschaffen. Liebe, Freundschaft, Hoffnung, das Licht und vor allem die Kunst sind immer für uns da. Kunst ist das Lebenselixir, das lodernde Feuer unserer intimsten Träume und der goldene Weg in die Ewigkeit. Ich will dir eine Begebenheit erzählen, welche sich vor vielen Jahren - als ich noch ein junger Student in Prag war - ereignet hatte. Es muss so an die 63 oder 64 Jahre her sein ...
Eine alte geldgierige und sehr einsame Großeigentumsbesitzerin vermietete eine ihrer Wohnungen an einen jungen Kunstlehrer. Der junge Mann versprach, pünktlich die Miete zu bezahlen, keinen Besuch zu empfangen und das Appartement sauber zu halten. Eines Tages entschied er sich, eine Theateraufführung zusammen mit seinen Schülern zu veranstalten. Es war Shakespeares „Romeo and Juliet“. Da er keine andere Räumlichkeit zur Verfügung hatte, sah er sich gezwungen, das Stück in seiner eigenen Wohnung aufzuführen. Er wusste, dass es der Vermieterin nicht gefallen würde, scheute jedoch keine Mühe, eine kleine Bühne inmitten des Wohnzimmers zu improvisieren. Er begann mit den Kindern der 7. Klasse, Shakespeares Meisterwerk einzustudieren, und vertiefte sich so sehr in die Proben, dass er ganz und gar vergaß, die Besitzerin um Erlaubnis zu bitten. Die Türe zur Wohnung stand offen, jeder Interessierte konnte sich die Aufführung ansehen. Eines Abends - es war während einer der Vorstellungen - erstattete die alte Dame ihrem Untermieter einen Besuch, um ihre Miete abzuholen. Als sie den Raum betrat und die vielen Zuschauer und die Bühne sah, rastete sie aus. Sie fing an, hysterisch zu kreischen und den Lehrer zur Rechenschaft zu ziehen, ihn und seine Schüler vor dem ganzen Publikum blamierend. Die Aufführung wurde natürlich abgebrochen, die Gäste verließen die Wohnung und der junge Mann sah sich gezwungen, die Kinder nach Hause zu schicken. Er entschuldigte sich bei der Frau und bat sie, ihm die Wohnung nicht zu kündigen. Nach einem demütigenden Gespräch, in welchem er versprechen musste, dass so etwas nie wieder vorkommen würde, erlaubte sie ihm in einem äußerst misstrauischen Ton, die Wohnung zu behalten. Er hielt sich nicht an die Vereinbarung und setzte am nächsten Abend die Aufführung fort. Alle Beteiligten schienen den Zwischenfall schon vergessen zu haben, die Kinder spielten ihre Rollen mit Begeisterung und wollten gar nicht mehr aufhören. Der Zauber des Theaterspiels schien von ihnen Besitz zu ergreifen, sie in eine gesunde Abhängigkeit hineinzustürzen. Zwei Tage später erschien die Besitzerin erneut in der Wohnung. Ihr Misstrauen wollte ihr keine Ruhe lassen. Sie wollte sich überzeugen, dass man sie nicht hinterginge. Dieses Mal betrat sie gerade in jenem Augenblick die Wohnung, in welchem die Schlussszene gespielt wurde. Ewige Liebe schworen sich die beiden Liebenden. Der Anblick jener zärtlichen Berührung löste eine Regung in ihr aus, welche die längst verdrängte Lebensleidenschaft und Liebessehnsucht, vor der sie sich in all den Jahren in ihrer Einsamkeit zu verstecken versucht hatte, in eine berauschende Gefühlswallung übergehen ließ. Sie versteckte sich im hinteren Teil des Raumes und beobachtete neugierig die dritte Szene des fünften Aktes. Als der Vorhang fiel, rollte eine winzige Träne über ihre linke Wange. Von nun an verkleidete sie sich und besuchte jeden Abend die Aufführung, betrachtete verschämt aus der letzten Reihe das Geschehen auf der Bühne und ließ keinen, von ihrer Anwesenheit im Raum Kenntnis nehmen. Das Stück hatte ihr einen Halt gegeben, eine längst verdrängte Sehnsucht wachgerüttelt. Und an jedem Abend verließ sie die Wohnung mit einem mädchenhaften, verspielten Lächeln auf den Lippen, selbstverständlich ein paar Minuten vor Schluss. Der junge Lehrer konnte seine Wohnung behalten. Manchmal wunderte er sich, weshalb die Vermieterin die Miete nicht mehr persönlich abholte.
Mr. Black: Ich nehme an, der junge Kunstliebhaber - das warst du.
Harry Moriarty: Das spielt eigentlich gar keine Rolle. Ich wollte dir nur beweisen, dass Kunst jeden Menschen verändern kann. Sie hat die Kraft, Humanität, Sensibilität und Mitgefühl freizusetzen. Dagegen kannst nicht einmal du etwas ausrichten.
Mr. Black: Ich muss zugeben, deine kleine nette Geschichte hat mich beeindruckt. Solch ein humanes Engagement soll man auf Erden selten antreffen.
Harry Moriarty: Kehren wir nun zu unserem Geschäft zurück. Ich bin damit einverstanden, den Tausch einzugehen. Du gibst ES mir, und ich lege dir meine Seele zu Füßen. Einverstanden?
Mr. Black: Dein Wunsch ist mit Befehl. Vergiss bloß nicht, dass der Tod nur der Beginn einer unendlichen Reise ist, welche ihr schon vor eurer Geburt geplant habt. Das Ziel ist leider unbekannt. Wie schade eigentlich!
Harry Moriarty: Deine morbide Ader kann mich nicht mehr beeindrucken, dafür habe ich schon zu viel gesehen und erlebt. Auch wenn du dich für einen zweiten Großinquisitor Santori hältst. Let's roll the dice and break the ice!
Mr. Black richtet sich auf und streckt mir einen Zettel entgegen. Ein kleines Stück Papier soll den Besitzer wechseln. Ich strecke die Hand aus und nehme es in meinen Besitz. Ich falte es auf und bemerke den mit roten Buchstaben darauf gekritzelten Satz. Als ich mir die Wörter genauer ansehe, stelle ich fest, dass sie mit Blut geschrieben sind. Ich schrecke für einen Augenblick zusammen, meine Neugierde ermöglicht es mir aber nicht, den Blick davon abzubringen. Es ist ein in rumänischer Sprache verfasster Satz. Darunter sind einige Buchstaben fett hervorgehoben:
Dumnezeu este entitatea, care transcendează între paralelitatea multidimensională a existenţei umane.
Ich blicke ihn fragend an und versuche eine Erklärung in seinem Blick zu finden. Er grinst mir mit einem süffisanten Lächeln zu.
Harry Moriarty: Was willst du mir damit sagen? Ist das deine Art, einem alten Mann einen Streich zu spielen?!
Mr. Black: Du hast doch nicht erwartet, dass ich es dir so einfach mache? In diesem Satz findest du ES. Vielleicht solltest du dich auf den Weg zu deiner Wohnung machen.
Das sind seine letzten Worte. In das Nichts, aus welchem er aufgetaucht ist, verschwindet er auch. Nun sitze ich auf der Bank unter den wachsamen Akazien, mit einem Papierfetzen, auf welchem ein chiffrierter Satz draufsteht, in meiner rechten Hand und dem Gefühl einsamer Verzweiflung im Bauch. Gedanken: 'Wir haben alle unser Kreuz zu tragen. Die einen tragen die Verantwortung für das Schnitzen des Holzkreuzes, und die anderen tragen es auf dem Rücken durchs Leben. Zu welchen ich mich hinzuzählen darf ...? Ach, was soll´s! Der Abendwind streichelt mein Gemüt auf eine liebliche Weise, die Tage meines irdischen Daseins sind gezählt. Warum soll ich mir so viele Gedanken machen? Einem alten Mann wird wohl keiner das Bein auf seinen letzten Schritten durch den Tag-und–Nacht-Wandel stellen! Es ist schon sehr spät, die Begegnung mit Mr. Black hat mich sehr mitgenommen. Auch wenn es meine Eitelkeit nie zugeben würde. Was soll ich mit diesem Zettel anfangen? Wieso habe ich das Gefühl, dass ich im Stich gelassen worden bin? Ich vermisse meine Freundin Natasha Golthnik. Wenn sie bloß hier wäre! In Gedanken vertieft mache ich mich auf den Heimweg. Sperre die Wohnungstür auf, trete in die Küche ein, stoße die Türe zum Arbeitszimmer auf und . . .
N a m l i t R e n g a w namlit rengaw N A M L I T R E N G A W NAMLIT RENGAW N a m l i t R e n g a w N a m l i t R e n g a w N A M L I T R EN G AW N a m l i t R e n g a w NAMLIT RENGAW NAMLIT RENGAW NAMLIT RENGAW NAMLIT RENGAW
Überall sind diese Buchstaben mit rotem Blut - wahrscheinlich animalischen Ursprungs. Sie rinnen herunter. Große und kleine Buchstaben - an der Decke, auf der Türe. Ein grelles Rot. Ich nähere mich einer der Aufschriften, streiche mit meinem Zeigefinger über die Farbe, tauche meine Zunge leicht hinein und schmecke sofort die Dickflüssigkeit dieser ... Es ist menschliches Blut! Mein Körper ist wie gelähmt. Ich kann meine Arme und Beine nicht bewegen. Überall an den Wänden dieser Anblick
N A M L I T R E N G A W ...
N A M L I T R E N G A W … N A M L I T R E N G A W … N A M L I T R E N G A W …
Aus einem instinktiven Gefühl heraus greife ich in meine Hosentasche und hole den Papierzettel, welchen ich noch vor einer halben Stunde so ahnungslos angestarrt hatte, zum Vorschein. Ich lege ihn vor mich auf den Tisch und betrachte ihn schweigend. Dabei fallen mir die fettgeschriebenen Buchstaben auf. Ich versuche sie krampfhaft in eine sinnergebende Reihenfolge zu bringen.
Dumnezeu este entitatea, care transcendează între paralelitatea multidimensională a existenţei umane.
Der erste Buchstabe ist ein N, dann folgt ein A, ein M, ein L, ein I und ein T. Wieso habe ich das Gefühl, dass dieser Satz einen Zusammenhang mit den Wörtern an der Wand hat? „N A M L I T“. Dasselbe Wort, wie es an der Wand steht. Was soll dieses Wort bedeuten, und was ist mit dem anderen Wort „R E N G A W“ ? Da fällt mir ein, dass ich den Satz - auf dem Heimweg, in Gedanken - ins Deutsche übersetzt habe. Wie war denn ...
GOTT IST DIE ENTITÄT, WELCHE ZWISCHEN DER MEHRDIMENSIONALEN PARALLELITÄT DER MENSCHLICHEN EXISTENZ TRANSZENDIERT
Ja, das ist es! Da sind ein G, ein W, ein A, ein N, ein E und ein R. Oh, mein Gott! R E N G A W - dieselben Wörter, wie sie an der Wand stehen. N A M L I T R E N G A W! Die Erkenntnis, einen Sinn dahinter zu finden, die Schrift entziffern zu können, löst schiere Angst in mir aus. Ich weiß nicht weshalb, ich fühle aber ein entsetzliches Zittern in meinem Inneren. Ist es vielleicht das Ende? Ich frage mich bloß, wer für diese Schmiererei in meiner Wohnung verantwortlich ist? Ich bin mir sicher, dass dieser Mr. Black seine Hände im Spiel hat. Wieso hat er mich nicht bei unserer Begegnung mitgenommen?
„So, das reicht mir jetzt! Ich schalte den Fernseher ab. Dieser Film regt mich nur auf. Was werden wir heute Abend essen, Liebling? Kannst du bitte die Kinder rufen? Sie sitzen wahrscheinlich wieder vor dem Computer.“
„Brad, wieso sehen wir uns den Film nicht zu Ende an? Mir gefällt er ganz gut.“
„Es ist doch immer dasselbe, Jennifer: Sex und Gewalt. Und das noch am Wochenende. Wie soll man da noch ein Auge zudrücken und entspannen, wenn man jeden Abend mit dieser Gewalt konfrontiert wird? Lass uns lieber einen entspannten Abend im Schoss der Familie verbringen.“
„Du hast ja Recht. Ich gehe nach oben und sehe mal nach ihnen.“
Jennifer war von der Entscheidung, den Film abzubrechen, sichtlich empört. Ein Ausdruck von Enttäuschung machte sich auf ihrem Gesicht breit. Sie wollte es Brad gegenüber nicht zeigen. Sie konnte sich die anderen Millionen Haushalte vorstellen: Ehemann schlürft gemütlich sein Bier, Frau strickt zufrieden den Weihnachtspulli, und die Kinder albern herum. Sie beneidete sie. Wieso konnten sie nicht, wie jede andere normale Familie in den Vereinigten Staaten von Amerika, den Abend vor dem Fernseher verbringen? War es ein Verbrechen, jener entspannenden Beschäftigung nachgehen zu wollen? Sie klopfte an die Tür des Kinderzimmers, öffnete sie und konnte nicht fassen, was sie zu sehen bekam: ihre beiden Kinder - Edward (10 Jahre alt) und Patricia (8 Jahre alt) - saßen auf dem Bett und schauten sich denselben Film auf ihrem Fernseher an.
„Guten Abend, Mom. Wir sehen uns gerade einen sehr spannenden Film an. Dürfen wir bitte noch ein wenig hier oben bleiben? Patricia ist sooo happy.“
„Patricia, Edward, euer Vater hat mich gebeten, euch zum Essen zu rufen. Er wird sonst ganz sauer. Ihr wisst, dass er die ganze Woche hart arbeitet und das Wochenende mit euch verbringen will. Kommt schon, schaltet den Fernseher ab.“
„Ach, bitte, Mom, der Film ist doch fast schon zu Ende. Er dauert doch nur noch ein paar Minuten. Dann kommen wir sofort runter. Versprochen.“
„Kommt nicht in Frage!“
Sie schaltete den Fernseher ab und drehte sich zu den Kindern um, ohne ein Wort zu sagen. Jenen Blick kannten sie nur zu gut. Sie wussten, dass es keine Widerrede gab. Sie hatten zu folgen. Patricia und Edward verließen traurig ihr Zimmer und gingen ins Wohnzimmer, wo ihr Vater schon ganz ungeduldig auf sie wartete.
„Was hat denn so lange gedauert, ihr habt doch nicht schon wieder am Computer gespielt?! Wie oft ...?“
„Nein, Daddy, wir haben uns einen Film angesehen, er war so spannend.“
„Das ist doch nur so ein blöder europäischer Film. Ich weiß gar nicht, wer dieser komische Mr. Irgendwie sein soll. Das ist doch ...“
„Das ist der Schwarze Mann, Daddy, der böse Schwarze Mann, der einen holt, wenn man nicht brav ist.“
„Blödsinn, Patricia, es gibt keinen Schwarzen Mann. Vielleicht in den Köpfen der dummen Leute. Aber nicht da, wo ich lebe. Wo ist eure Mutter?“
„Sie hat uns doch gerufen. Vorhin war sie noch in unserem Zimmer. Edward, weißt du, wo sie ist?“
„Nein. Ich denke, sie ist noch oben.“
„Oben?!“, waren Brads empörten Worte.
Jennifer saß oben im Kinderzimmer und sah sich den Film an, sie konnte einfach nicht abschalten. Jener alte Künstler hatte so eine charismatische Ausstrahlung. Er erinnerte sie an ihren Großvater - der große Künstler der Familie. Eigentlich wollte sie in seine Fußstapfen treten, aber dann lernte sie Brad kennen. Dann kamen die Kinder zur Welt. Alle ihre Jugendträume von einer Künstlerinkarriere waren geplatzt.
„Was zum Henker machst du hier?“, schreit Brad sie an, die Treppen zum Kinderzimmer hinaufsteigend. Er bleibt im Türrahmen stehen.
„Brad, oh ... ich ... tut mir leid!“ Sie schaltete den Fernseher ab und blickte ihren Mann verschämt an. Sie wusste, dass er es nicht leiden konnte, wenn man seine Entscheidungen nicht respektierte. Sie gingen beide nach unten, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Dort saßen sie nun zu viert am Tisch. Jeder kaute verängstigt auf seinem Essen. Keiner traute sich, ein Wort zu sagen. Brad skizzierte ein falsches Lächeln und trank einen Schluck Wein, Jennifer senkte ihren Blick in den Küchenfußboden, und die Kinder aßen stillschweigend den Schweinebraten, die Bratkartoffeln und die Erbsen von ihrem Teller weg. Der Abend machte sich breit, und alle Mitglieder der Familie White gingen zu Bett. In der South Avenue 11 von Des Moines neigte sich ein weiterer Tag dem Ende zu. Der zarte Wind einer stillen Julinacht strich sanft über die Dächer der Häuser, und das entfernte heisere Bellen einiger Straßenhunde war das einzige Geräusch weit und breit.
Am nächsten Morgen ging alles der gewohnten Routine nach:
a) Brad trank seinen Kaffee im Stehen.
b) Jennifer bereitete die Jause der Kinder vor.
c) Edward und Patricia aßen herumalbernd ihre Cornflakes mit Milch, Obst und Honig.
„Also dann, ich muss jetzt los. Wir sehen uns heute Abend, Liebling. Kinder, kommt bitte nicht zu spät zur Schule. Ich liebe euch.“
Mit diesen Worten verließ Brad White - so wie jeden Morgen seit 11 Jahren - seine Wohnung in der South Avenue 11 und fuhr in seinem Toyota Camry ins Büro. Er war Versicherungsvertreter. Es machte ihm riesigen Spaß, jeden Tag vor der Türe seiner Kunden zu stehen, und mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht, den inzwischen schon Routine gewordenen Satz auszusprechen: „Einen recht schönen guten Morgen, mein/e sehr verehrte(r) Dame/Herr! Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, was passieren würde, wenn Sie eines Tages einen Unfall haben, und Sie nicht versichert sind?“ Jedes Mal, wenn er einen neuen Vertrag abschließen konnte, schlug sein Herz schneller, und er überlegte sich schon, ob er und seine Familie in jenem Jahr in Florida Urlaub machen konnten. Schließlich wollte er nicht als Versager dastehen. Seine Kinder sollten die Früchte seiner Arbeit zu sehen bekommen, und Jennifer hatte ihn schon seit zwei Wochen darauf aufmerksam gemacht, dass die Espressomaschine schon längst nicht mehr denselben aromatischen Duft hervorzaubern wollte wie früher.
An jenem Morgen war Brad nicht ganz bei der Sache. Er musste ununterbrochen an den Film denken, den er gestern Abend im Fernsehen gesehen hatte. Obwohl er ihm nicht gefiel, hatte sich jener Harry Moriarty in seiner Gedankenwelt breitgemacht. Er fuhr die Interstate 235 zu seinem nächsten Kunden und überlegte, wie ihn ein Film dermaßen beschäftigen konnte. Er hatte noch nie viel übrig für jene Art von Unterhaltung gehabt. Für ihn waren Filme reine Zeitverschwendung, bloß eine von jenen sinnlosen Erfindungen der Menschen. Keine seriöse Beschäftigung, bloß Rumblödelei! Er ließ sich Zeit, bis er an seinem Ziel ankommen sollte. Er parkte den Wagen vor dem Haus seines nächsten Kunden und blickte aus dem Autofenster. Er stieg aus dem Auto und rückte seine blaue Krawatte, welche ihm Jennifer zu ihrem 5-ten Hochzeitstag geschenkt hatte, zurecht. Die Haare waren glattgekämmt, das 350-$-Grinsen aufgesetzt. Er klopfte an die Tür von Mr. Griswald - in der Locust Street 13, gleich beim East River Front Park - an und wartete. Dann läutete er an. Das 350-$-Grinsen schrumpfte binnen von Sekunden zu einem 2-Cent–Lächeln zusammen. Er klopfte noch einmal an die Haustür. Dieses Mal ging sie auf. Er trat ohne zu zögern ein.
„Hi, ich bin Brad White, der beste Versicherungsvertreter, den Des Moines zu bieten hat. Ist denn jemand zu Hause? Wissen Sie, ich möchte Ihnen das Angebot ihres Lebens machen.“
Er blickte sich um. Die Inneneinrichtung gefiel ihm. 'Sehr rational eingerichtet', dachte er sich. Ein gedämpftes Stöhnen war aus dem Nebenraum zu vernehmen. Er drehte sich um und folgte dem Geräusch.
„Hi, ich bin Brad White, entschuldigen Sie die Störung, aber ich würde Sie gerne ...“ Er öffnete langsam die Tür, aus welcher die Geräusche zu hören waren. Der Anblick, welcher sich ihm bot, war mehr als beunruhigend. Auf dem frisch bezogenen Bett vergnügte sich ein Pärchen. „This Is an Illusion“ von den Storges Minds strömte aus der Anlage.
„Hi! Es tut mir leid, dass ich so einfach hinzustoße, aber vielleicht könnte ich Sie kurz sprechen.“
Das Licht ging an, und Brad ein Licht auf.
„Oh, mein Gott, Jennifer, was machst du denn hier?!“
„Brad, was machst du denn hier?!“
„Dasselbe habe ich dich schon vorhin gefragt.“
„Spionierst du mir etwa nach? Was hast du eigentlich hier zu suchen?“
„Ich bin dabei, für uns Geld zu verdienen, Honey! Hier wohnt doch Mr. Griswald. Stimmt das?“
„Hm, darf ich vielleicht auch endlich zu Wort kommen? Wir sind ja schließlich in meinem Haus. Mein Name ist John Griswald, ich bin der Besitzer dieser Wohnung. Was kann ich für Sie tun, Mister?“
„Oh, entschuldigen Sie bitte die Störung. Mein Name ist Brad White, ich bin Versicherungsvertreter. Schon seit elf Jahren, wissen Sie. Ich habe noch nie einen unzufriedenen Kunden gehabt. Man nennt mich den „Brad-Buck“ in unserer Firma. Wieso ficken Sie meine Frau?“
„Das ist mir jetzt wirklich peinlich, Mr. White. Sie meinen, die junge Dame in meinem Bett ist Ihre Ehefrau?“
„Ganz genau. Die junge Dame in Ihrem Bett ist meine Frau.“
„Das tut mir aber wirklich leid. Ich meine ..., es ist mir eine besondere Freude, Sie kennenzulernen, Mr. White.“
„Die Ehre ist ganz meinerseits, Mr. Griswald. Es tut mir leid, dass wir uns nicht unter etwas anderen Umständer, ich meine Umständen, Umständen natürlich, kennenlernen. Dürfte ich vielleicht mit meiner Frau unter vier Augen sprechen? Sie wissen schon: privates, langweiliges Familiengequatsche. Entschuldigen Sie uns bitte. Jennifer, kann ich dich mal kurz sprechen?“
„Natürlich, Mr. White. Bitte sehr. Wir wollen die Angelegenheit mit allerhöchster Diskretion behandeln. So ein Familiengequatsche ist sicher sehr spannend. Ich gehe in die Küche und werde einen leckeren Kaffee aufsetzen. Wie trinken Sie ihn gerne, Mr. White?“
„Oh, das ist nett. Viel Milch und viel Zucker, bitte!“
„Brad, was hast du hier überhaupt verloren?“
„Dasselbe könnte ich dich fragen.“
„Lass uns bitte zu Hause darüber sprechen, Liebling. Es wäre doch unhöflich, Larry ..., ich meine Mr. Griswald gegenüber, ihn alleine in der Küche warten zu lassen.“
„So, da bin ich schon, meine Lieben, Kaffee ist fertig! Warum setzen wir uns nicht mal hin und lernen uns etwas besser kennen.“
„Sie scheinen die Bekanntschaft meiner Frau ja bereits gemacht zu haben, und ich bin wirklich nicht in der Stimmung dafür.“
„Aber Brad, wieso bist du denn plötzlich so grob?“
Brad White stand vor dem Bett jenes Fremden, mit welchem seine Ehefrau ihren Beischlaf–Defizit noch vor einigen Minuten aufgebessert hatte, und starrte ins Leere. Er konnte keinen einzigen klaren Gedanken fassen. Seine Wut entfachte sich auf eine solch stürmische, plötzliche Art, dass es den Polizeibeamten - die genau einundzwanzig Minuten später die Auffahrt zur Locust Street 13 hinauffahren sollten - anschließend sehr schwer fiel, die Haut– und Fleischfetzen von der Wand des Schlafzimmers herunterzukratzen.
"Mr. Brad White, das Gericht von Des Moines, Iowa, befindet Sie für schuldig des Mordes and Ihrer Ehefrau, Mrs. Jennifer White, und Mr. Harry Griswald, und verurteilt Sie zu einer lebenslangen Haftstrafe. Sie werden den Rest Ihres irdischen Daseins im Staatsgefängnis von Iowa fristen“, waren die Worte, die Brad White bei halbem Bewusstsein vernehmen konnte.
Einen Tag später wachte er mit unerträglichen Magenschmerzen in einem Bett auf, das sich inmitten einer feuchten, unangenehm riechenden Gefängniszelle befand. Blitzschnell wurde ihm klar, was geschehen war. Im Gerichtssaal wurde er ohnmächtig. Die Schmerzen waren so stark, dass er sich zusammenkauerte und nicht einmal in der Lage war, Luft zu holen. In jener Haltung verbrachte er die nächsten Stunden, welche so langsam verstrichen, dass er die Augenblicke in seinen Gedanken zählen konnte. Er schloss seine Augen und versuchte ein wenig zu schlafen, in der Hoffnung, dass die Schmerzen nachließen. Es sollte die schlimmste Nacht seines Lebens werden!
Er öffnet seine Augen, blickt hoch. Brad erspäht die weiße Glut der Sonne am hellblauen Himmel. Er hatte einen seltsamen Traum gehabt: eingesperrt in einer Zelle, unerträgliche Magenschmerzen - ein grauenvoller Albtraum. Gott sei Dank war es nur ein Traum. Er trocknet sich den Schweiß von der Stirn ab und holt tief Luft. Als er sich umblickt, bemerkt er die öde Umgebung, weißer Sand überall. Wo ist er? Was hat er hier zu suchen? Wieso befindet er sich alleine in der Wüste? Die staubige Hitze macht ihm zu schaffen. Ein krampfhafter Versuch, sich zu erinnern.
(Ein einsamer Mann in der Wüste von Takla Makan ohne Proviant und Kompass ist ein gefundenes Fressen für die Geier, vor allem ein Mann ohne Gedächtnis.)
Er weiß nicht, wer er ist, woher er kommt oder wo er hinmuss. Das Einzige, woran er sich erinnern kann, ist ein Name: Peter Black. Seine schäbige Kleidung lässt darauf schließen, dass er schon eine Weile in der Wüste unterwegs gewesen sein musste. Seine Lippen und die Haut auf dem ganzen Körper, welchen die bedürftige Kleidung freigibt, sind von der Sonne verbrannt. Er versucht sich aufzurichten und ein paar Schritte zu gehen, sein Körper ist aber zu geschwächt. Er sackt in sich zusammen. Der letzte Funken eines Hoffnungsschimmers erlischt in seinen Augen. Er hört das Krächzen der über seinem Kopf kreisenden Geier. Und wieder taucht dieser Name in seiner Erinnerung auf: Peter Black. Was ist dieser Name, diese Identität? Was hat diese Person, wenn es sie überhaupt gibt, in seiner Gedankenwelt zu suchen?
„Aufwachen, 1113! Die Zeiten, wo du bei Mutti zu Hause bis Mittag in die Matratzen reinvixen durftest, sind vorbei. Los, mach schon, beweg deinen Arsch, oder soll ich Mister Knüppel mal um Unterstützung bitten?“
Blitzschnell wurde ihm klar, wo er sich befand. Die Stimme des Gefängniswärters und die kalte Pritsche, auf der er die letzte Nacht verbrachte, ließen ihn wieder in die Realität zurückkehren. Dabei wäre ihm in jenem Augenblick jedwelcher Ort auf der Welt lieber gewesen als jenes Gefängnis, sogar eine einsame Wüste oder der Nordpol. Während jene Gedanken in seinem Kopf umherschweiften, trat er aus seiner Zelle heraus und stellte sich wie alle anderen Insassen in der Reihe, welche vor den Augen der Wärter gebildet wurde, auf. Ein grauhaariger Mann in dunklem Anzug blickte ihn an und fing an zu grinsen:
„Einen schönen guten Morgen, Ladies, willkommen im Bonebrake–Gefängnis. Ich bin der Direktor dieses bezaubernden 5-Sterne-Hotels. Mr. Slashface (auf jenen zeigend) und seine beiden Freunde Josh und Pete (auf zwei uniformierte Gorillas zeigend) werden sich um euch persönlich kümmern. Wir werden eine unvergessliche Zeit in dieser staatlichen Luxus-Institution verbringen. Drei Dinge werdet ihr euch gut merken, wenn ihr hier drinnen überleben wollt:
1. Ich hasse Tunten und Wehrdienstverweigerer!
2. Jeder von euch wird lernen, wie man im Sitzen pisst!
3. Alle werden das Wort Gottes achten! Ich dulde keine Blasphemien in meinem Gefängnis, ist das klar?“
Mit jenen Worten versiegelte er die nette Begrüßung der neuen Häftlinge, befehlte seinem Adjutanten, Mr. Slashface, jedem Gefangenen eine Bibel in die Hand zu drücken, und verließ den Trakt #5. Seine Schritte füllten für ein paar Augenblicke den Raum, in welchem Brad White zum ersten Mal in seinem Leben stand. Die Angst verhüllte Brads Gesicht in Schweigen. Er konnte seine Anwesenheit an jenem grausamen Ort noch nicht richtig realisieren. Die Anspannung aller Beteiligten war nicht zu übersehen, auch wenn manche der Gefangenen einen gelassenen Eindruck bei ihren Leidensgenossen zu hinterlassen versuchten. Wahrscheinlich war es bloß der Versuch, nicht als Schwächling vor den anderen dazustehen. Mr. Slashface, der grimmige Oberwärter, welcher für die Gruppe der Inhaftierten, zu der auch Brad White gehörte, zuständig war, verteilte die Bibeln, so wie es ihm sein Boss aufgetragen hatte, und blickte jedem seiner neuen Lämmchen direkt in die Augen. Seine rechte Hand hieß 'Josh', der andere Wärter war Pete - zwei loyale Angestellte des Bonebrake–Zuchthauses. Sie folgten ihrem Mentor überall auf Schritt und Tritt. Mr. Slashface gefiel es, sie ständig an seiner Seite zu haben. Es gab ihm ein Gefühl von Überlegenheit. Nur dann, wenn der Direktor nicht dabei war. Vielleicht war es aber auch nur die Angst, dass er es alleine nicht packen würde.
„Kommt schon, bewegt euch in die Kantine! Es gibt nur einmal Frühstück, oder glaubt ihr, dass wir das Essen aufwärmen und es auch ans Bettchen bringen?“
„Wäre nicht mal so schlecht, ich könnte damit leben. Aber vergesst nicht den frischgepressten Orangensaft!“, antwortete einer der Männer.
„Wer war das? Welcher klugscheißende, hirnamputierte Arsch war das? Ich will wissen, wer von euch sein Maul aufgerissen hat?“
Ein kleinwüchsiger, schmächtiger Mann mit einem dunklen Gesicht trat einen Schritt aus der Reihe hervor:
„Das war ich, Timotheus Savraki, der letzte Überlebende des Savrakis–Clans ...“
„Ist mir scheißegal, aus welchem Clan du kommst, du verdammter Ziegenficker. Josh, Pete, schnappt euch diesen Arsch und bringt ihn in die „Chirurgie“. Ich komme gleich nach. Wir werden ja sehen, ob er dann noch solche Sprüche klopft.“
„Was ist die „Chirurgie“? Ich wollte doch nur ein wenig Spaß machen, Mr. Slashface. Es tut mir leid, es wird sicher nie wieder vorkommen. Lassen sie uns den Zwischenfall einfach vergessen. Hey, Kumpels (die anderen Insassen anblickend), helft mir doch!“
Pete und Josh schleppten 1756 ab. Keiner der Beteiligten wagte es, etwas zu sagen. Sie brachten Timotheus Savrakis in einen Nebenraum des Traktes #5 - ein weißes Zimmer mit Gummiwänden, in dessen Mitte ein Operationstisch stand. Der Anblick jenes Raumes löste eine panische Angst in Timotheus aus. Vergebens versuchte er sich aus dem festen Griff der beiden Wärter zu lösen.
„Ich wollte doch nur ein wenig rumalbern, Jungs. Kommt schon, was habt ihr denn mit mir vor? Ihr wollt mir doch nichts antun, oder?“
„Keine Angst, es wird nur am Anfang ein wenig wehtun, dann spürst du gar nichts mehr. Pete, was meinst du, verabreichen wir ihm eine S4 oder eine S5?“
„Hm, bin mir nicht sicher. Warten wir lieber auf Mr. Slashface.“
„Hey Jungs, seid doch vernünftig, was soll diese S4-S5–Scheiße? Ich werde mich bei eurem Vorgesetzten beschweren, und dann werdet ihr euer blaues Wunder erleben ...“
„Das kannst du in ein paar Minuten tun, Sportsfreund. Mr. Slashface wird sich persönlich um deine Beschwerde kümmern. Keine Angst, er tut es nicht zum ersten Mal. Pete, hilf mir seine Arme am Tisch festzubinden.“
Die beiden Gefängniswärter schnallten den zappelnden Körper des Gefangenen Savrakis an dem Metalltisch fest und stopften ihm einen Knebel in den Mund. Es schien ihnen Spaß zu machen, die bewaffnete, uniformierte Überlegenheit auszukosten. Pete streichelte das Gesicht des neuen „Patienten“ und grinste dabei seinen Freund Josh an. Der regungslose Mann lag auf dem Tisch und versuchte sich zu befreien, er zappelte wie ein wildes Tier. Sein Versuch blieb erfolglos. Nachdem er dafür gesorgt hatte, dass die Gefangenen in die Kantine gebracht wurden, machte sich Mr. Slashface auf den Weg in die „Chirurgie“. Das Funkeln in seinen Augen und das hämische Lächeln auf seinen Lippen verrieten schon, was in dem weißen Raum, den sie die „Chirurgie“ nannten, passieren sollte. Er betrat den Raum und betrachtete den Mann auf dem OP-Tisch mit einer gelassenen Zufriedenheit.
„So, jetzt kannst du deine Beschwerde persönlich unserem Vorgesetzen vorbringen, 1756. Er wird sich um dich kümmern.“
(zu dem Gefängnis-Direktor) „Mr. Slashface, er möchte sich über die Behandlung hier bei uns beschweren, würden Sie sich bitte darum kümmern!“
„Mit allergrößter Freude, Pete. Lasst mich bitte alleine mit ihm. Ich rufe euch, wenn ich euch brauche. Und sperrt die Türe von außen ab, ich will nicht gestört werden.“
Das Letzte, was Josh und Pete hören konnten, nachdem sie die Türe absperrten, war ein dumpfer Schrei und ein lautes Lachen. Man wusste nicht, was in der „Chirurgie“ passierte, aber alle, die es lebend herausschafften, wollten nie wieder eine Frau zu Gesicht bekommen, und das auch nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis.
Brad White hatte sich inzwischen mit den Regeln in „Bonebrake“ vertraut gemacht. Die Monate verstrichen schnell und schmerzvoll. Er wusste, wen er vermeiden musste, um keinen Ärger zu kriegen, und ging seinen eigenen Weg, schloss keine Freundschaften. Eines Tages ging er auf dem Gefängnishof spazieren, so wie er es jeden Mittag nach dem Essen tat. Als er sich umschaute, bemerkte er den Insassen Timotheus Savrakis, dessen dunkle, melancholische Augen er auf Anhieb wiedererkannte. Eine innere Stimme befiehl ihm, obwohl es gegen seine Prinzipien verstieß, auf ihn zuzugehen und ein Gespräch anzufangen. Er bewegte sich mit kleinen Schritten auf den Stein zu, auf welchem Savrakis ganz alleine saß, und sprach ihn an:
„Hätte nicht geglaubt, dass ich dich jemals wiedersehen würde. Mein Name ist Brad, Brad White.“
„Was willst du, Mann? Ist mir egal, wie du heißt. Lass mich in Ruhe!“
„Eigentlich ist es nicht meine Art, Fremde einfach so anzuquatschen. Wollte dich bloß fragen, warum du eigentlich hier bist?“
„Was soll die Scheiße? Ich bin unschuldig, Mann, habe nur ein paar Autos aufgeknackt.“
„Und wie viel hast du abzusitzen?“
„Fünf Jahre, Mann, verdammt! Bloß wegen dieses bescheuerten Kumpels, der mich bei den Bullen verpfiffen hat. Er sitzt jetzt in irgendeiner Bar und säuft sich die Rübe voll, während ich hier drinnen verrotte. Wie sieht es mit dir aus, Alter, was hast du verzapft?“
(Zögernd) „Habe meine Frau und ihren Liebhaber ermordet. Habe dafür lebenslänglich bekommen.“
„Scheiße, Mann, du bist ein echter Mörder? Siehst aber gar nicht so aus. Weißt du, Mann, du bist der Einzige, der mich nicht gefragt hat, was sie mir in der „Chirurgie“ angetan haben.“
„Ich will es gar nicht wissen. Es geht mich eigentlich gar nichts an.“
Sein Gegenüber streckte ihm die Hand entgegen: „Savraki, Timotheus Savraki ist mein Name, ich bin der letzte Überlebende des Savraki–Clans. Alle meine Verwandten sind hier, in der USA verreckt. Sie kamen vor 30 Jahren hierher, auf der Suche nach dem großen Glück, und haben sich den Arsch abgerackert, bis sie krepiert sind. Scheiß-Amerika! Lügen und Illusionen ... Meine Eltern konnten sich nicht einmal den Traum erfüllen, in ihrer Heimat begraben zu werden, wäre zu teuer gekommen. Aber Timotheus ist nicht so leicht runterzukriegen. Bloß dieser verfluchte Slashface hat ...“ Eine Träne rollte über die rechte Wange, er drehte seinen Kopf schnell um.
„Ist schon o.k., du bist in ein paar Jahren draußen. So schlimm kann es gar nicht sein.“
„Du hast ja gar keine Ahnung, was mir diese Schweine angetan haben.“
„Tut mir leid, Mann. Die Welt, in der wir leben, ist leider nicht so, wie man sie aus der Bibel oder aus den Ammenmärchen kennt. Die Menschen sind fähig, Dinge zu tun, von denen manche nicht einmal sprechen können.“
„Und das sagst ausgerechnet du, der zwei Menschen ermordet hat? Wieso sollte ich dir vertrauen, Mann, du bist ja nicht besser als alle anderen.“
„Weißt du, als ich die erste Nacht in meiner Zelle verbrachte, hatte ich einen seltsamen Traum. Ich war ganz alleine in der Wüste und hatte mein Gedächtnis verloren. Eigentlich ein gefundenes Fressen für die Geier. Da wachte ich plötzlich auf und dachte mir: 'Gott sei Dank bin ich noch am Leben. Ich hätte mir zwar gewünscht, woanders zu sein, aber es war ein so gutes Gefühl noch zu leben, und ich glaube darauf kommt es auch an - am Leben zu bleiben, egal was passiert. Dasselbe solltest du dir auch sagen, Timotheus. Das Leben ist schließlich das einzig erträgliche Leid, das wir kennen. Die meisten von uns brauchen Jahre, sogar Jahrzehnte, um das zu verstehen. Wenn du das Leben liebst und respektierst, kann dich niemand und nichts mehr zerstören.“
„Mann, warst du Priester dort draußen? Du klingst, als hättest du die Hälfte deines Lebens in der Kirche verbracht. Ich nehme an, dass du an Gott glaubst. Da er mir persönlich niemals begegnet ist, kann ich nicht viel mit dem alten Mann anfangen. In meinem Land hat jeder einen Lebensspruch, der dich das ganze Leben lang begleitet, so eine Art Lebensdevise. Mein Urgroßvater hatte seinen Leitspruch, mein Großvater auch, meinen Vater begleitete seine eigene Lebensweisheit bis in den Tod, in den Slums von Pittsburgh. Ich habe natürlich auch mein eigenes Lebensmotto.“
„Und wie lautet dein Lebensmotto, Timotheus?“
„Ich habe nichts – ich erhoffe mir nichts – ich bin frei!" Er weint.
„Schließlich ist dieser Lebensspruch das Einzige, was du hast. Oder willst du dich damit trösten und noch fünf Jahre in diesem Loch schmoren?“
„Wie meinst du das, Brad?", sich die Tränen aus dem Gesicht abwischend.
„Ich weiß nicht, wie es mit dir aussieht, ich habe aber vor, dieses Rattennest zu verlassen, und zwar ziemlich bald.“
„Du meinst, du willst ausbrechen? Wenn sie dich schnappen, bist du ein toter Mann, das ist dir doch klar?“
„Entweder du entscheidest dich zu leben, oder du entscheidest dich zu sterben. Ich werde nicht den Rest meines Lebens hier drinnen verbringen. Wie sieht es mit dir aus?“
„Ich bin zwar nur noch ein halber Mann, aber was habe ich schon zu verlieren? Wie sollen wir denn hier rauskommen?“
„Überlass' das mir, Timotheus, ich habe schon einen Plan. Wir treffen uns heute Abend um 8 Uhr im Waschraum. Ich kann das nicht alleine schaffen, ich brauche jemanden, der mir hilft. Wenn du interessiert bist, dann komm' heute Abend hin, o.k.?“
„Ich werde da sein!“, waren Timotheus´ geflüsterten Worte. Er stand von seinem Stein auf und machte sich auf den Weg zurück in seinen Trakt. Brad blickte ihm in Gedanken vertieft und mit einem Schmunzeln auf den Lippen noch eine Weile nach. Er wusste, dass er den Ausbruch alleine nicht schaffen konnte, und hoffte, dass sein neugewonnener Freund nicht kalte Füße bekommen würde. Er wollte noch eine halbe Stunde auf dem Innenhof seines neunen Zuhauses verbringen und ging noch einmal in Gedanken den ausgeklügelten Plan durch, den er sich in seiner Zelle Nacht für Nacht ausgedacht hatte, als ein Wärter auf ihn zukam:
„1113, du hast Besuch.“
„Ich? Ich erwarte Keinen.“
„Stell nicht mehr so viele Fragen und beweg deinen Arsch in den Besucherraum, ehe ich es mir noch anders überlege!“
Jene Ankündigung kam sehr überraschend, vor allem weil Brad White zu keiner einzigen Person von draußen in den letzten acht Monaten Kontakt hatte. Während er sich überlegte, wer ihn hätte sehen wollen, durchstreifte er nochmals den Hof des Gefängnisses. Dann kam er in den Haupttrakt, öffnete die Türe, ging einen kleinen Gang entlang, stieg ein paar Treppen hinauf, in den ersten Stock, wo er dann linkerhand den Besucherraum betrat. Er blickte sich um, konnte aber kein ihm vertrautes Gesicht erkennen. Einer der Wärter machte ihm ein Zeichen, sich auf den Stuhl zu setzen, der sich am anderen Ende des Raumes befand. Als er sich setzen wollte, überkam ihn plötzlich ein unkontrollierbares Zittern, das sich über seinen ganzen Körper zog. Auf der anderen Seite der Trennscheibe saßen Edward und Patricia - seine beiden Engelchen, in Begleitung einer älteren Frau - und sahen ihn mit großen Augen der Verwunderung an. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte, und setzte sich vorerst ruhig hin. Er konnte seinen eigenen Kindern nicht in die Augen sehen, der Schmerz und die Scham waren zu groß. Vor allem wusste er gar nicht, wie er ihnen erklären sollte, was mit ihrer Mutter passiert war. Er wusste nicht einmal, was ihnen erzählt wurde. Jennifer und Edward versteckten sich hinter der Frau, die er zum ersten Mal in seinem Leben sah. Nachdem sie die Kinder aufgefordert hatte, sich auf die Bank in die Ecke zu setzen, machte sie ihm ein Zeichen, den Hörer, welcher auf der rechten Seite an der Wand befestigt war, abzuheben. Er zögerte einen Augenblick, entschloss sich dann aber, ihrer Aufforderung Folge zu leisten.
„Mr. White, guten Tag. Mein Name ist Miriam Dickinson. Ich bin die Pflegemutter Ihrer beiden Kinder. Hat man Ihnen gesagt, dass sie in einer Pflegefamilie untergebracht wurden?“
„Ähm ..., nein ..., ich meine ..., ich weiß nichts davon.“
„Wie Sie sich wahrscheinlich denken können, ist es nicht gestattet, dass sich die Kinder eines für Mord angeklagten Vaters mit diesem in Verbindung setzen. Ich will Ihnen aber nicht vorenthalten, dass sich die Kinder aus eigener Entscheidung hier befinden. Es war ihr Wunsch, mit Ihnen sprechen zu wollen.“
„Wie, haben Sie gesagt, heißen Sie?“
„Dickinson, Miriam Dickinson.“
„Mrs. Dickinson, ich ..., wissen Sie ..., ich bin ... Wie soll ich meinen eigenen Kindern erklären, dass ihre Mutter ...?!“
„Machen Sie Sich keine Sorgen. Patricia und Edward wissen nicht, was genau passiert ist. Man hat ihnen gesagt, dass ihre Mutter bei einem Autounfall ums Leben kam. Sie hatten eine sehr schwere Zeit, die armen Kleinen. Mein Mann und ich, wir haben sie wie unsere eigenen Kinder aufgenommen. Wir können keine eigenen Kinder haben, wissen Sie, ich bin ... Mein Mann hat sich immer zwei Kinder gewünscht. Sie müssen sich keine Sorgen machen, Ihre Kinder sind gut bei uns aufgehoben. Nun möchte ich Ihnen sagen, warum ich eigentlich hier bin. Es ist ein Verstoß gegen das Gesetz, ich konnte aber die armen Kinder nicht davon abhalten, ihren Vater zu sehen, oder?!“
„Ja, ich meine, natürlich nicht. Aber was haben Sie ihnen denn von mir erzählt, wieso ich im Gefängnis bin?“
„Ach, das ist nicht so, wie Sie denken. Patricia und Edward wissen bloß, dass Sie einen unangenehme Auseinandersetzung mit einem Arbeitskollegen hatten, und dass Sie für ein Jahr hier drinnen sein müssen, weil Sie die Polizei bestraft hat. Machen Sie Sich keine Sorgen, die Kinder wissen nicht, was passiert ist.“
„Ja, aber ...“
„Mr. White, Sie wollen doch vernünftig sein, oder?“
„Was meinen Sie damit? Was soll das bedeuten?“
„Hören Sie mir jetzt ganz gut zu! Ich bin nicht den ganzen Weg hierher gefahren, um Ihre Mörderfresse zu sehen. Es handelt sich um das Sorgerecht Ihrer Kinder. Mein Mann und ich haben uns entschieden, Edward und Patricia zu adoptieren.“
„Was sagen Sie da? Sie wollen mir meine Kinder wegnehmen? Haben Sie denn den Verstand verloren? Das sind meine Kinder!“ Brad erhob seine Stimme. Der Wärter ermahnte ihn mit einem eindeutigen Blick. Die Kinder sahen den zornigen Gesichtsausdruck ihres Vaters und fingen an zu weinen.
„Sehen Sie, was Sie angerichtet haben, jetzt weinen die kleinen Engel. Was fällt Ihnen denn ein?“
„Hören Sie, Mrs. Dickinson. Ich werde auf keinen Fall zulassen, dass Sie mir meine Kinder wegnehmen.“
„Was wollen Sie denn überhaupt noch von ihnen? Reicht es denn nicht, dass Sie ihre Mutter ...? (sich zu Edward und Patricia umdrehend) 'Kinder, geht ihr mal kurz nach draußen, bitte. Der liebe Mann in Uniform dort drüben wird euch eine heiße Schokolade geben.'
'Ginge das, Herr Wärter? Es dauert nur ein paar Minuten.'“
„Aber sicher doch, Mrs. Na kommt, Kinder, wir wollen jetzt mal eine Tasse leckeren Kakao trinken.“ Der uniformierte Mann nahm die beiden Kinder an der Hand und ging mit ihnen nach draußen.
„Also, Mr. White: Ich hatte geglaubt, einen vernünftigen Mann in Ihnen antreffen zu können, aber Sie scheinen ja keinerlei Anstand gegenüber den Menschen zu haben, die Ihnen helfen wollen.“
„Helfen?! Haben Sie helfen gesagt? Wie wagen Sie es?“
„Und wer soll sich um die Kleinen kümmern, während Sie für den Rest Ihres Lebens hier drinnen verrotten werden. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht?“
Brad hätte für den Bruchteil einer Sekunde beinahe seinen Fluchtplan jener fremden Frau verraten. Er konnte seine Wut mit schwerer Mühe vor ihr und den Sicherheitsbeamten hinter ihm verbergen. Es wäre aber leichtsinnig gewesen. Er wusste, dass er seine
Emotionen verbergen musste. Binnen weniger Augenblicke beruhigte er sich wieder. Die vielen Transcendental Meditation-Trainingseinheiten hatten sich endlich bezahlt gemacht.
„Rufen Sie bitte Edward und Patricia. Ich will mit meinen Kindern sprechen.“
„Auf Wiedersehen, Mr. White.“ Sie legte den Hörer in die Gabel, stand auf und verließ den Raum, ohne jedwelche Anzeichen davon zu machen, wieder zurückkehren zu wollen. Als sie die Türe des Zimmers öffnete, kamen ihr die Kinder entgegen. Sie nahm diese an der Hand und drängte sie zur Tür hinaus.
„Mrs. Dickinson, ich will mit Dad sprechen“, waren Edwards Worte.
„Er muss jetzt wieder zurück in sein Zimmer. Das geht jetzt nicht, wir werden ihn aber bald wieder besuchen. Kommt, Kinder, wir gehen ins Kino. Wir schauen uns den neuen „Harry Potter“ an. Na, was meint ihr?“
„Oh ja, das ist toll, ist das vielleicht der mit dem Zauberstein?“
„Edward, du Blödmann, das ist „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes - Teil 2“. Das weiß doch jeder.“
„Selber Blödmann! Ich habe es eh gewusst, aber du musst ja immer ...“
„Kinder, Kinder, kommt schon. Wollen wir nun ins Kino, oder streiten?“
„Kino! Kino! Kino!“, riefen sie gleichzeitig in einem hellen Ton der Begeisterung.
Brad wurde in seine Zelle zurückgebracht. Er setze sich auf das Bett und starrte die Wand an. Der Gedanke des Ausbruchs konnte ihm keine Ruhe lassen. Unentwegt brütete er seinen Plan aus. Sein Jugendfreund Michael Dexxa - ein Medizinstudent und Hobby-Psioniker - hatte ihm auf einer Party vor 3 Jahren erzählt, wie man einen Scheintod vortäuschen könne. Die Einnahme von 10 mg Curare reichte, um eine vierstündige Leichenstarre auszulösen. Das Gift legte die Muskeln lahm, hielt aber noch eine Mindestkreislauftätigkeit zur Versorgung der lebensnotwendigen Organe aufrecht. Er war sich sicher, dass keine Autopsie vorgenommen sein würde, da Curare dieselben Sterbeanzeichen hervorrief wie ein Herzinfarkt. Von einem Gefangenen, der auf der Krankenstation arbeitete, hatte er erfahren, dass die Leichen der im "Bonebrake" Verstorbenen binnen drei Stunden in das staatliche Leichenschauhaus von De Moines überführt wurden. Das war sein Plan: er wollte zusammen mit seinem griechischen Freund aus dem Leichenwagen, welcher sie beide nach ihrem „Ableben“ aus "Bonebrake" wegbrachte, ausbrechen. In den letzten Tagen hatte er den Ablauf des Plans bis ins letzte Detail durchdacht:
06.30 Einnahme von 10 mg Curare
07.00 Uhr morgens - Koma
09.00 Uhr - offizielle ärztliche Untersuchung
10.30 Uhr - Transport der „Leichen“ im Leichenwagen des Gefängnisses/Erwachen aus dem Koma
11.00 Uhr - Savrakis setzt den Fahrer außer Gefecht/ für die Immobilität des Beifahrers sorgen/ in dulci jubilo aus dem Auto fliehen
„1113, was machst du da?“, schnauzte ihn eine Stimme von draußen an.
„Ach, bloß so vor mich hindenken."
"Denken, sagst du? Das ist doch gequirlte Scheiße!"
Der Wärter schnappte den Schlitz wieder zu und entfernte sich mit langsamen Schritten.
Brad setzte seinen Gedankengang fort. Er musste das Curare aus der „Chirurgie“ beschaffen. Es lag in einem Wandschrank verstaut, so wie es ihm sein Kumpel Bogumil gesagt hatte, der auf der Krankenstation arbeitete. Es hatte ihn drei Stangen Lucky Strike gekostet, aber im Gefängnis hatte nun mal Alles seinen Preis. Nun brauchte er die Hilfe von Timotheus, der die Substanz aus dem Raum herausschmuggeln sollte. Keiner würde Verdacht schöpfen, da Savrakis schon einmal dort als Patient war. Er musste ihn nur noch dazu überreden. Es war schon fast acht Uhr abends. Wie jeden Freitag war es Duschzeit. Er hörte das laute Geräusch des automatischen Türöffnens und schritt aus seiner Gefängniszelle hinaus. Dann blickte er sich um und machte sich auf den Weg in den Waschraum. Als er dort ankam, sah er Timotheus unter der Dusche. Er nickte unauffällig. Er zog sich aus und stellte sich unter eine Dusche direkt neben Timotheus. Der heiße Wasserstrahl platschte auf seine Haut und löste seine Anspannung. Er schloss seine Augen und stellte sich bildlich vor, wie er ein heißes Bad in einem mexikanischen Hotel nahm und eine eisgekühlte Tequila–Flasche leersoff. Er öffnete erneut seine Augen, unauffällig schmunzelnd. Das Geräusch des Wassers ermöglichte es ihnen ohne Verdacht zu schöpfen, sprechen zu können.
„Hey, Timotheus, wo wirst du denn als Erstes hingehen, wenn du mal hier draußen bist?“
„Oh Mann, in eine Kneipe und mich mit Raki vollaufen lassen, was sonst? Ich werde die ganze Nacht durchsaufen und ein paar hübsche Bräute abschleppen, eine Runde ficken ..."
Er fing zu weinen an. Brad schaute Timotheus tief in die Augen.
„Überleben ist es, worum es hier geht. Du musst stark sein. Hör mir gut zu: Du musst mir Etwas aus der „Chirurgie“ beschaffen!“
„Bist du denn nicht ganz dicht? Ich soll in die „Chirurgie“ reingehen?“
„Es ist unbedingt notwendig, Mann. Die einzige Möglichkeit hier rauszukommen, hängt davon ab. Hinter dem Operationstisch, auf der rechten Seite, ist oben an der Wand ein kleines gelbes Wandschränkchen. Drinnen findest du ein paar Fläschchen. Du schnappst dir das mit der Aufschrift 'Curare' und verschwindest. Den Rest erledige ich.“
„Du musst wohl verrückt sein. Ich gehe auf keinen Fall dort rein. Das ist die reinste Hölle.“
„Jetzt mach´ dir nicht ins Hemd, Mann! Willst du hier raus, oder nicht?“
„Aber was sollen wir denn mit einem Fläschchen? Willst du es dir in den Arsch schieben und hier rausfliegen? Warte mal, ist das nicht dieses Pfeilgift, das die südamerikanischen Indianer zur Erlegung von Beuteltieren verwenden? Ich habe da mal was im <font;_italic>National Geographic darüber gelesen. Du bist ein gerissener Fuchs, Brad White.“
„Ich werde dir das später erklären, beschaffe mir einfach das Curare und vertraue mir.“
„Scheiße, Alter, ich glaube es einfach nicht. Ich soll dort rein? Wie soll ich das bloß anstellen?“
„Hör zu, ich habe einen Kumpel, der auf der Krankenstation arbeitet – Bogumil, ein lässiger Weißrusse. Hat seine Großmutter erwürgt, ist aber ein sympathischer Kerl. Trete ihm nur nicht zu nahe. Er wird dir die Schlüssel zu dem Raum geben. Du musst aber verdammt schnell sein, in zwanzig Sekunden muss die Sache erledigt sein, mehr Zeit hast du nicht. Morgen, während der Mittagspause, wenn die Wachen beim Essen sind, ziehen wir es durch. Um 12.00 Uhr wartest du auf Bogumil im Hof, er wird dich in die „Chirurgie“ reinbringen. Wir treffen uns dann morgen hier und gehen das Ganze durch. Also, bist du dabei?“
„O.k, o.k, ich mach es. Wenn sie mich schnappen, bin ich erledigt. Hoffentlich weißt du, was du tust.“
„Timotheus, in zwei Tagen werden wir zusammen einen heben. Du wirst so viel Raki saufen, dass du eine Woche lang nur noch Hochprozentiges pissen wirst. Also, morgen treffen wir uns hier. Vergiss nicht, das Fläschchen mitzubringen.“
Mit diesen Worten beendeten sie das Gespräch. Brad trocknete sich ab, zog seine Kleider an und machte sich auf den Weg in seine Zelle. Beim Weggehen warf er Timotheus noch einen vertraulichen Blick zu. Als er in seiner Zelle ankam, liefen ihm tausende Gedanken durch den Kopf. Er versuchte sich abzulenken, indem er unter der Decke onanierte. Den harten Schwanz in seinen Händen zu spüren, verlieh ihm ein Gefühl von Selbstsicherheit und Kontrolle. Während er sich Pamela Anderson und Heidi Klum nackt vorstellt, rubbelte er wie besessen an seinem Glied, bis der weiße klebrige Saft das Innere seiner Lustrute verließ, eine Lake auf der verranzten Decke hinterlassend. Gleich darauf schlief er ein. Man konnte den zusammengekauerten Mann in der dunklen Zelle sich unruhig auf der Pritsche herumwälzen sehen. Eine ganze Welt schien sich durch seine Gedanken zu verflechten. In jener Nacht träumte Brad White, wie er sich in die Strömung des Daseins gleiten ließ, wie er im Labyrinth des Unbewussten umherschweifte ...
Er öffnet seine Augen, blickt hoch. Brad erspäht die weiße Glut der Sonne am hellblauen Himmel. Er hatte einen seltsamen Traum gehabt: eingesperrt in einer Zelle, unerträgliche Magenschmerzen - ein grauenvoller Albtraum. Gott sei Dank war es nur ein Traum. Er trocknet sich den Schweiß von der Stirn ab und holt tief Luft. Als er sich umblickt, bemerkt er die öde Umgebung, weißer Sand überall. Wo ist er? Was hat er hier zu suchen? Wieso befindet er sich alleine in der Wüste? Die staubige Hitze macht ihm zu schaffen. Ein krampfhafter Versuch, sich zu erinnern.
(Ein einsamer Mann in der Wüste von Takla Makan ohne Proviant und Kompass ist ein gefundenes Fressen für die Geier, vor allem ein Mann ohne Gedächtnis.)
Er weiß nicht, wer er ist, woher er kommt oder wo er hinmuss. Das Einzige, woran er sich erinnern kann, ist ein Name: Peter Black. Seine schäbige Kleidung lässt darauf schließen, dass er schon eine Weile in der Wüste unterwegs gewesen sein musste. Seine Lippen und die Haut auf dem ganzen Körper, welchen die bedürftige Kleidung freigibt, sind von der Sonne verbrannt. Er versucht sich aufzurichten und ein paar Schritte zu gehen, sein Körper ist aber zu geschwächt. Er sackt in sich zusammen. Der letzte Funken eines Hoffnungsschimmers erlischt in seinen Augen. Er hört das Krächzen der über seinem Kopf kreisenden Geier. Und wieder taucht dieser Name in seiner Erinnerung auf: Peter Black. Was ist dieser Name, diese Identität? Was hat diese Person, wenn es sie überhaupt gibt, in seiner Gedankenwelt zu suchen? 'Brad White wird nicht resignieren!', denkt er sich und richtet sich mit allerletzter Kraft auf. Er geht einige Schritte durch den heißen Sand und versucht sein Gleichgewicht zu behalten. Während er noch an den Namen aus seiner Erinnerung denkt, erblickt er in unmittelbarer Ferne die Silhouette eines in schwarz gekleideten Mannes.
'Wer zum Henker ist das denn?'
"Hallo, können Sie mich hören?
'Verdammt! Wahrscheinlich ist das bloß eine Fata Morgana. Ich bin mitten in der Wüste, was soll das bloß?'
Der fremde Mann bewegt sich auf Brad zu.
„Einen schönen guten Tag, der Herr. Heißer Tag heute, was?“
„Sind Sie wirklich hier, oder träume ich bloß?“
„Natürlich bin ich hier. Was denken Sie denn? Dass ich bloß in Ihrer Einbildung existiere? Wenn ich mich vorstellen darf: 'Black, Peter Black' ist mein Name. Und Sie, wie ist denn Ihr Name?“
„Was haben Sie da gesagt?!“
„Ich sagte, mein Name ist 'Peter Black'. Haben Sie auch einen Namen, fremder Mann?“
„Das darf doch nicht wahr sein, ich meine, ich bin ganz ... White, Brad White. Wer sind Sie? Was machen Sie hier? Was soll das überhaupt?“
„Was meinen Sie, Brad?“
„Ich bin doch im Gefängnis! Ich soll doch morgen zusammen mit Timotheus aus 'Bonebrake' ausbrechen! Was tue ich denn hier? Und Sie kenne ich, ich meine, Ihr Name, der kommt mir so bekannt vor.“
„Ich fürchte, dass mir die Ehre noch nicht zuteil gekommen ist. Ich vergesse niemals ein Gesicht.“
„Aber Ihr Name, Peter Black, ich ...“, waren seine letzten Worte. Sein schlaffer Körper sackte in dem glühenden Sand zusammen. Brad White lag regungslos vor den Füßen von Peter Black am Boden. Er war tot! Die Wüste Takla Makan sollte ein weiteres Opfer verschlucken.
Mr. Black: Wie gefällt dir diese nette, kleine Geschichte? Unser lieber Versicherungsbeamte hat sich wohl ein wenig überschätzt, was?
Harry Moriarty: Ich kann immer noch nicht verstehen, warum er seine Frau und deren Liebhaber ermorden musste. Eine Scheidung hätte ihm wohl eine Menge Ärger ersparen können.
Mr. Black: Manche Männer können einfach nicht loslassen, sie halten wohl den Mord an ihrer besseren Hälfte für eine Art Willensstärke. Wenn sie ihre Frau selbst nicht bis ans Ende der Tage bumsen dürfen, dann soll es auch kein anderer tun. Männlich-triebhafter Realitätswahn. So seid ihr nun mal gebaut, da kann man leider nichts daran ändern. Patriarchal-phallokratischer Schwachsinn!
Harry Moriarty: Wieso gibst du mir nicht eine direkte Antwort? Ich weiß, dass meine Tage gezählt sind. Mein Herz ist schwach, und die Ärzte sagen, dass es nur eine Frage der Zeit ist. Vielleicht fünf oder sechs Monate. Wieso verschwendest du überhaupt meine Zeit?
Mr. Black: Nicht so überheblich, mein lieber Harry. Du scheinst vergessen zu haben, wer die Ruder in der Hand hält. Wie lange du zu leben hast, bestimmt Gott, ha ha, was du daraus machst, bestimmst du selber. Wer hat das gesagt? Ich glaube es war Johann Wolfgang. Erstaunlich, wie ein Mann von seinem Format solch eine panische Angst vor dem ... Ihr seid bloß Menschen, darf man schließlich nicht vergessen.
Harry Moriarty: Wieso kehren wir denn nicht zu unserem Geschäft zurück? Bislang hast du mich noch nicht überzeugen können. Deine Phrasendrescherei wird immer kurzatmiger, und du scheinst überhaupt vergessen zu haben, weswegen du hier bist.
Mr. Black: Au contraire, mon ami.
Harry Moriarty: Wie habe ich denn das zu verstehen?
Mr. Black: Wer bin ich? Was bin ich? Aber vor allem: Wie lange bin ich?
Harry Moriarty: Ist das noch eines von deinen Rätseln? Wie dieser Papierfetzen, auf dem dieser Satz in rumänischer Sprache geschrieben stand.
Mr. Black: Und, hast du schon den Sinn dahinter entschlüsselt?
Harry Moriarty: Soll Namlit Rengaw etwa eine verschlüsselte Antwort für ein noch nie erschaffenes Kunstwerk sein? Das bezweifle ich aber sehr.
Mr. Black: Jetzt enttäuscht du mich aber. Ihr Künstler seid doch alle gleich, ihr denkt bloß mit eurer Seele. Deswegen können euch die Bürger nicht verstehen. Ihr solltet es mal öfters mit der Ratio versuchen.
Harry Moriarty: Jetzt rutscht du ins Triviale. ES ist scheinbar nicht einmal von jemandem wie dir zu erschaffen.
Mr. Black: Ziehe keine voreiligen Schlüsse, Harry. Du wirst ES schon noch verstehen. ES ist eigentlich ganz einfach.
Harry Moriarty: Ich fürchte, meine bescheidene Aufnahmefähigkeit lässt es leider nicht zu, deine Worte zu verstehen.
Mr. Black: ES wird dich finden, du musst gar nicht danach suchen. Mach dir bloß keine Sorgen. Vergiss aber nicht, dass du einen hohen Preis dafür bezahlen musst.
Harry Moriarty: Weswegen sollte ich mir Gedanken machen, was mit meiner Seele passiert? Wer intelligent genug ist, gibt sich Rechenschaft, dass unser Leben eine „Comedia del Arte“ ist.
Mr. Black: Und was ist mit Gott, oder der Religion, dem Glauben an das Gute?
Harry Moriarty: Gott ist der Ursprung ewigen Lichtes, immerwährende Energie. Religionen hingegen täuschen bloß darüber hinweg, dass alles Unsinn ist. Dogmatik ist Gift für den Geist.
Mr. Black: Und das kommt von einem so erhabenen Künstler? Du sprichst mir direkt aus der - ha! ha! - Seele. Kein Wunder, dass du dich in einer so unangenehmen Lage befindest.
Harry Moriarty: Du hast mir immer noch nicht erklärt, welche die Bedeutung dieser Worte ist. Ich werde meinen Teil der Vereinbarung einhalten, falls du ...
Für einen Augenblick halte ich aus der spontanen Neugierde heraus, mir sein Antlitz mit Genauigkeit anzusehen, inne. Als ich ihm in die Augen blicken will, weiß ich schon, was folgen sollte. Dieser melancholische Blick, diese ... Aber wieso sollte man euch so viel verraten, meine treuen Leserinnen und Leser? Ich denke, ihr solltet euch selbst ein Bild vom Sinn dieser Zeilen machen, wenn es so weit ist.
Harry Moriarty: Dann werde ich wohl den Schluss abwarten müssen, oder?
Mr. Black: Du hast es erfasst. Lasse dich einfach überraschen. Aber bevor ich´s vergesse - ich habe noch etwas für dich.
Er streckt mir erneut ein Stück Papier entgegen, dieses mal ohne auch nur das Anzeichen eines Lächelns zu skizzieren. Ich nehme den Zettel in die Hand und scheue mich für einen Augenblick davor, ihn zu lesen. Dann falte ich ihn auseinander und lese den Inhalt des Papierbogens:
Er bewegt sich auf das Ziel zu, seine Schritte werden immer schneller ... Peter Black ... Peter Black, dieser Name kreist in seinen Gedanken immer wieder umher und berauscht seine Sinne, als würde er in einer lebendigen Löwenhöhle nach einem Augenblick von Wahrheit suchen ... Der Traum wird Realität. Peter Black - es muss eine Verbindung geben! Was ist dieser Name, diese Identität? Was hat diese Person, wenn es sie überhaupt gibt, in seiner Gedankenwelt zu suchen? Sein Herz hört für einen kurzen Augenblick auf zu pochen, der Schweiß rinnt an seinem Rücken herunter, als würde es der kalte Regenschauer einer späten Septembernacht sein, und seine Hände verkrampfen sich zu Eisenkrallen ... Peter Black ... Peter Black ... Wer ist das? Seine Gedanken scheinen sich allmählich in einem unendlichen Wandel der Sinne auf seine eigene Identität zu projizieren ... „Peter Black ... das bin ich!“ Diese Worte kommen mit derselben Absicht über seine Lippen, mit welcher er nun versteht, was passieren sollte ...
Ich blicke auf den Zettel in meiner Hand und fange laut und hysterisch an zu lachen. Die Worte ziehen sich durch meine Gedanken wie ein Güterzug, der an einem zertrümmerten Bahnhof vorüberstreift. Wenn es einen Sinn hinter diesen Zeilen gibt, so werde ich ihn wahrscheinlich niemals verstehen. In der dunklen Einsamkeit des Augenblicks fühle ich die magische Anziehung einer mir unbekannten Kraft. Ich drehe mich um und beobachte, wie ein dunkler Nebelstreifen hinter den Bäumen verschwindet. Ich verstehe sofort, was geschehen ist. Ich mache mich auf den Weg zu meiner Wohnung. Es ist schon sehr spät am Abend. Die Eindrücke der vergangenen Stunden haben mich so sehr in meinem Bewusstsein verändert, dass ich allmählich den Bezug zur Realität verliere. Ich gehe den langen Weg am Seeufer entlang und beobachte die Sterne. Es ist eine traurige Nacht. Der Himmel seufzt. Da fällt mir der Zettel ein. Als ich das Papier aus meiner Hosentasche zum Vorschein bringe, es sorgfältig ausfalte und zu lesen anfange, wird mir schwindlig vor Augen. Es steht geschrieben:
Ich gehe den langen Weg am Seeufer entlang und beobachte die Sterne. Es ist eine traurige Nacht. Der Himmel seufzt. Da fällt mir der Zettel ein. Als ich das Papier aus meiner Hosentasche noch einmal zum Vorschein bringe, es sorgfältig ausfalte und zu lesen anfange, wird mir schwindlig vor Augen. Ein leichter Stich in meiner Brust rüttelt mich wach. Ich sah vorhin einen Abschnitt meines eigenen Lebens auf einem einfachen Stück Papier niedergeschrieben. Die Illusion des Übergangs in eine andere Welt ist vollkommen. Meine Gedanken, mein ganzes Ich, meine Handlungen lösen sich in Schrift auf. Wahn und Sinn werden zu einer Einheit. Es ist nicht mehr zu vermeiden: ICH WERDE WAHNSINNIG! Ich beschleunige meine Schritte, laufe, hetze nach Hause. Mein Herz rast. Ich spüre, wie meine Kehle nach Luft ringt, ein leichter Stich durchzuckt meinen Brustkorb. Die doppelte Dosis meiner Herzpillen ist nun fällig, doch ich stelle fest, dass ich sie zu Hause habe liegen lassen. Ich biege in die Straße ein, welche sich in den letzten zehn Jahren in meine Fußschritte verliebt hatte, erreiche Hausnummer 11, sperre die Tür auf und trete auf den Hausflur. Ich schalte das Licht ein und gehe den langen Gang entlang. An meiner Wohnungstür angelangt bleibe ich stehen, schließe die Tür auf und gehe sofort ins Schlafzimmer. Ich sehe sie auf dem Tisch liegen: Strophanthin. Lege mir zwei davon unter die Zunge und werfe mich auf das Bett. „Das ist wieder einmal verdammt knapp gewesen“, denke ich mir und fange an zu schmunzeln. Die Schmerzen lassen langsam nach. Ich ziehe meine Schuhe aus und richte mich auf. Neben mir liegt die aufgeschlagene Tageszeitung, eine Filmkritik freigebend. Ich fange an zu lesen:
ELECTRONIC LOVE - Experimentalfilm im Filmcasino Wien
The soul is the only existent truth. Reality and imagination are two unseparable dimensions. Only love can break the frontier between them. The Modern World is a one – way road, it is leading us to nowhere. The third millenium has found a new soul - nutrition: Electronic love! God is dead, the electronic age has begun. Electronic love is my religion, our all religion. The New Age is Electronic love. Electronic love. Electronic love replaces our souls.
Diese Worte werden den Filmliebhabern noch für eine Weile im Gedächtnis haften bleiben. Das neue Filmprojekt zweier junger Filmemacher trägt den Titel "Electronic Love". HOME MOVIE CORNER- EXPERIMENTAL lädt alle Interessenten ein, sich das Kurzfilmprojekt am Donnerstag, den 13. 03. d. J., um 18.00 Uhr im Filmcasino Wien, in der Margaretenstrasse 78, anzuschauen.
"Die jungen Leute heutzutage haben kein Gefühl fürs Filmemachen. Wenn ich an die guten alten Zeiten denke: Uraufführung von „Simple Truth“ in Venedig vor zwanzig Jahren oder der Erfolg von „Arethusa“ in Locarno vor dreißig Jahren. Mein Gott, waren das Zeiten! Und am Donnerstag zeigen sie 'Electronic Love' im Filmcasino", höre ich mich laut sagen. Ich lege die Zeitung wieder zurück und gehe ins Bad. Um die Geschehnisse des heutigen Tages besser zu verarbeiten, putze ich mir die Zähne und gehe dann gemütlich auf eine Runde 'Ballast abwerfen'. Danach trinke ich einen Schluck warmer Honigmilch und lege mich schlafen. Sieben Stunden später wache ich auf. Die müden Glieder richte ich mühselig auf, den Wandspiegel starre ich enttäuscht an. Da fällt mir der seltsame Traum der letzten Nacht ein.
Es ist eine viktorianische Julivision einer Party in einem Mailänder Hotel. Models in Sandalen und Pelzmänteln, bekiffte Studenten, musizierende Araber auf LSD, in Frauenkleider herumlaufende androgyne Männer, achtzigjährige Millionärinnen in rosa Dessous, Pekinesen, blonde südamerikanische barfüßige Geschäftsfrauen und fickende lesbische Tänzerinnen feiern und trinken Sekt. Es ist zwei Stunden vor Mitternacht. Ich sitze vor dem karminroten Kamin. Jemand malt ein Bild von zwei Vögeln, im Hintergrund ist ein Halbmond zu sehen. Den Rahmen bildet eine verträumte Naturlandschaft. Auf dem Boden, vor dem Baum im Vordergrund, aus dessen Stamm uns geöffnete und geschlossene Augen anstarren, liegt ein rotes Tuch im Gras. Ich ziehe es aus dem Bild heraus und winke damit.
Wir lachen alle. Dann spielt jemand ein Lied auf der Gitarre, ich singe mit: ... on the pink underwear of a Russian lady I would write sweet words of life in blood and tears ...
Das ist der einzige Teil des Traumes, an den ich mich noch erinnern kann. In meinem Hinterkopf spukt das Erlebnis vom letzten Abend, vielleicht ist es aber auch nur eine optische Täuschung. Menschen irren sich öfter, als ihnen lieb ist. Was kann man dann noch von einem alten Mann wie mir erwarten ? Wenn aber tatsächlich die Möglichkeit eines Übergangs aus der Realität in das Fiktionale bestehen würde, könnte ich ES schaffen. Das Leben kann und darf aber auf keinen Fall mit der Kunstwelt verschmelzen, es würde fatale Folgen haben. In diesen Gedankengang vertieft, verbringe ich die nächsten zwei Stunden auf dem antiken blauen Sessel im Wohnzimmer meines Appartements. Fragen, bloß Fragen, und keine Antworten sollen mich erneut auf die Probe stellen. Um mich von den unangenehmen Erinnerungen abzulenken, lege ich eine Heather-Nova–Platte auf. Der Zauber ihrer Stimme lindert meinen Seelenpein binnen Sekunden. Ich lausche im Halbschlaf ihren Worten. Das sinnliche Zittern in ihrer Stimme berauscht meine Sinne und versetzt mich in einen süßen Nachmittagsschlaf. Eine Stunde später wache ich auf und fühle mich einsam. Ich verspüre den Drang, meiner Freundin Natasha Goltnik einen Besuch abzustatten. Sie ist meine einzige Bekanntschaft in dieser altmodischen Stadt. Und ich kann sehr viel mit ihrer Begabung, Menschen zuzuhören, anfangen. Außerdem liebe ich ihr Klavierspiel. Ich rufe sie an und teile ihr mit, dass ich sie besuchen komme. Sie erklärt sich bereit, mich zu empfangen.
Natasha Goltnik bereitet sich in der Sigmund Freud Straße 4/14 auf netten Besuch vor: sie stellt zwei Brandy–Gläser bereit, legt die blaue Vase auf den Tisch und setzt sich an den Flügel. Sie wartet auf Harry Moriarty - ihr bester Freund und ihre große Liebe.
Ich richte meine übriggebliebenen paar Haare vor dem Spiegel zurecht, ziehe meinen silbergrauen Anzug an, dazu schwarze Schuhe und träufle ein paar Tropfen Sculpture–Parfüm auf meinen Hals. Auf dem Weg zu ihrer Wohnung kaufe ich am Naschmarkt Blumen. Orchideen sind Natashas Lieblingsblumen. Sie hat eine Schwäche für Gustav Mahler und Orchideen. Heute möchte ich ihr eine Freude bereiten und sie mit einem Strauß blauer Orchideen überraschen. Ich steige in die U6 ein. Sie lernten sich bei einem Gustav-Mahler–Konzert vor fünfundzwanzig Jahren in Krakau kennen. Seit daher sind sie beste Freunde, sie vertrauen einander auf eine sehr selten anzutreffende Art. Immer noch am Klavier sitzend, blickt Natasha auf die Haustür und richtet ihre Haare zurecht. Eine kindische Eitelkeit überkommt sie. Sie schmunzelt bei dem Gedanken, ihm das zu beichten. Mit einem frischen Orchideenstrauß in der Hand fahre ich mit dem Fahrstuhl in die zweite Etage des Wohnhauses Nr. 4 in der Sigmund–Freud-Straße. Ich rücke meinen Hut zurecht und streiche mit der linken Hand über meinen weißen Schnurrbart, so wie ich es immer zu tun pflege, wenn ich sie besuche. Ich läute an und warte. Ein kleines „Klick“, und ihr Lächeln strahlt mir entgegen. Eine Wärme, welche ich lange vermisst habe, durchströmt meinen Körper.
„Einen schönen guten Tag wünsche ich meiner lieben Natasha. Ich hoffe, dass ich nicht störe.“
„Sei doch nicht albern, Harry. Du bist doch mein bester Freund, du könntest niemals stören!“
„Ich habe dir etwas mitgebracht. Ich weiß, dass du sie liebst.“
Ich trete in die Wohnung ein und lege ihr die Blumen auf den Arm. Da erblicke ich die blaue Vase auf dem Wohntisch. Ein seichtes Gefühl überkommt mich. Natasha bemerkt meine Reaktion und strahlt eine gespielte Freude aus. Sie nimmt mir Mantel und Hut ab.
„Was für eine wunderschöne Freude du mir doch immer bereiten kannst, lieber Harry. Es sind meine Lieblingsblumen. Komm, setz dich bitte. Ich habe uns einen Brandy eingeschenkt.“
Während wir uns an den kleinen Mahagonitisch hinsetzen, versucht sie das Gespräch von der Blumenvase abzulenken. Es ist ihr auffällig peinlich, meine Reaktion vorhin beobachtet zu haben. Sie liebt mich immer noch.
„Wenn ich dir erzählen würde, was mir passiert ist, würdest du mich für derangiert halten. Also erzähl dem alten Harry von dieser seltsamen Begegnung, die du am Telefon erwähntest.“
„Ich habe nichts von einer Begegnung gesagt. Bloß dass es eine merkwürdige Geschichte ist.“
„Wieso habe ich den Eindruck, dass du mir etwas verschweigst?“
„Also gut, wenn du darauf bestehst. Ich hatte Besuch vor zwei Tagen. Ein Herr meldete sich telefonisch bei mir an und fragte, ob er vorbeikommen könne. Zuerst war ich sehr skeptisch, aber als er deinen Namen nannte und sogar hinzufügte, dass er dich kennt, habe ich eingewilligt, ihn zu einem Kaffee einzuladen.“
„Hat er sich am Telefon vorgestellt?“
„Ja, sehr merkwürdig. Er stellte sich als Mr. Black vor.“
„Was hast du gerade gesagt?“
„Ich sagte, er stellte sich als Mr. Black vor. Das ist sein Name. Zumindest hat er sich so vorgestellt.“
„Ich glaub's einfach nicht! Was hat das zu bedeuten?“
"Ich verstehe nicht, was du meinst. Kennst du ihn?“
„IHN? Soll das ein Witz sein? Er ist doch ... Was hat er denn von dir gewollt? Hatte er einen bestimmten Grund, dich aufzusuchen?“
„Er hat mich über deinen Gesundheitszustand ausgefragt. Anfangs wollte ich ihm überhaupt keine Auskunft geben, dann zeigte er mir aber diesen Zettel.“
„Was denn für einen Zettel?“
„Er meinte, du hättest ihn schon. Es ist ein Ausschnitt aus einem Kafka–Roman. Arbeitest du zur Zeit an einem Buchprojekt, Harry?“
„Ich glaub's einfach nicht! Ja, ich schreibe an einem Roman, eigentlich könnte ich sagen, dass wir an einem Roman schreiben.“
„Wen meinst du denn mit wir?“
„Mr. Black und mich.“
„Du kennst ihn also? Du hast noch nie an literarische Zusammenarbeit geglaubt, Harry! Dafür bist du zu eitel und zu intelligent. Sage mir nun bitte, wer dieser Mr. Black überhaupt ist?“
„Ich bin ein alter Mann, Natasha, und dazu noch todkrank. Ich will mir beweisen, dass ES möglich ist.“
„ES?“
„Novalis hat ES als blaue Blume, Tenessee Williams als die blauen Vögel ohne Füße, welche immer in der Luft bleiben müssen, verstanden. Dali nannte ES den Film, welchen man mit geschlossenen Augen wahrnehmen kann. Für Beethoven war ES die absolute Stille, welche vor dem irdischen Chaos niederkniet. Godard erfasst ES als androgyn-intellektuelle Botschaft. Jeder Künstler träumt davon, ES zu erschaffen. Es gibt eine Zeitlosigkeit in der Erschaffung eines Kunstwerks. Wer die Wahrheit sagt, wird früher oder später dabei ertappt, Natasha. Ich versuche meine eigene Wahrheit zu erschaffen - eine künstlerische Wahrheit, welche das Engelhafte mit dem Dämonischen versöhnen soll.
„Was hat denn dieser Mr. Black damit zu tun?“
„Er ist der Einzige, der mir dabei behilflich sein kann. Der Starke ist am mächtigsten allein, habe ich immer geglaubt. Bloß dieses eine Mal muss ich die Hilfe eines anderen in Anspruch nehmen. Ich will die nuda veritas der künstlerischen Ewigkeit auf Papier festhalten. Ich habe Vieles in der Krankheit gelernt, das ich hätte niemals in meinem Leben lernen können.“
„Willst du mir sagen, dass dieses Buch dein Todesurteil ist?“
„Ich würde es eher einen Todeskompromiss nennen. Wir müssen alle eines Tages dem Tod in die Augen sehen. Und Eines habe ich in meinem Leben gelernt, Natasha. Es gibt nur zwei Arten guter Menschen: die Toten und die Ungeborenen. Ich werde mich in Bälde zu den Ersten zählen dürfen. Doch bevor ich das tue, will ich dieses Buch schreiben.“
„Amen! Komm, trink noch einen Schluck Brandy. Das wird dich beruhigen.“
„Warum nimmst du mich nicht ernst, Natasha? ES ist das einzig Wahrhaftige, woran ich glaube. Jede Anstrengung zu einem bestimmten Ziel ist nur die Verlängerung des Daseins. Letztendlich ist der Tod das Ziel. Die Menschen, welche die Härte das Lebens erfahren haben - und ich glaube, das habe ich - reifen zum Charakter und lernen sich zu beugen, ohne ihren Stolz zu verlieren. Mein Ziel habe ich schon kennengelernt, dieses Privileg ist bloß wenigen Menschen vorbehalten. Dafür muss ich aber auch einen sehr hohen Preis zahlen.“
„Ist es das, was ich glaube?“
„Ich fürchte, ja.“
„Und wohin wird ES dich führen, Harry?“
„An einen Ort, der an einem guten Tag die ganze Welt ersetzen wird.“
P A U S E N B E G I N N
Die Erde wird in genau sechs Tagen, 32 Stunden und 10 Minuten mit dem Kometen "Luchkastrink", in dessen Laufbahn um den Planeten Jupiter kollidieren. Der Einladung des „Weltverbandes für Weltraumforschung“ Folge leistend, kamen Wissenschaftler aus der ganzen Welt vor einer Woche in Paris zusammen, um den exakten Einschlagwinkel des Kometen zu berechnen. Nach zwei Tagen detaillierter Studien der Geschwindigkeit, mit welcher "Luchkastrink" seinen Weg durchs All fortsetzt, wurde konstatiert, dass ein sechs Kilometer breiter Monolith auf das gesamte Territorium der Vereinigten Staaten von Amerika abstürzen wird. Alle Maßnahmen zur Evakuierung der amerikanischen Bevölkerung sind getroffen worden. Die Weltöffentlichkeit ist von der Nachricht zutiefst erschüttert. Alle Staaten der Welt versetzen ihre Streitkräfte in Alarmbereitschaft. Gespannt erwartet man weltweit die Rede des amerikanischen Präsidenten an die Nation:
"Dear citizens of the United States of America. People all over the world have heard the latest news about the upcoming collision of the monolith 'Luchkastrink' ... fuckin' stone! ... with the earth. He will destroy our so beloved continent, which puritan pioneers centuries ago have conquered with big sacrifices. Now it's time to gather all our emotional, physical and financial resources and prove this son of a bitch, that a citizen of the United States of America is not to be brought to his knees by anyone or anything in this world, especially not by a stupid stone. God bless America!"
P A U S E N E N D E
“Verdammtes Fernsehen! Ich weiß gar nicht, wieso ich mir diese idiotischen Nachrichten ansehe. Es ist immer dasselbe Affentheater. Politik ist bloß eine dieser geistesvernichtenden Erfindungen wie die Kirche und die Medien - überbewertete Randerscheinungen unseres Zeitalters.“ Ich schalte den TV–Kasten ab und schüttle mir einen Cocktail zurecht, um diese erschütternde Nachricht vom Monolithen und dem bevorstehenden Untergang der U.S.A besser verdauen, bzw. mir eine antiamerikanische Laune zurechtrücken zu können. Nach einer Nachdenkzeit von zwanzig Sekunden und einem kräftigen Schluck vom kalten Cocktail schlafe ich ein. Am nächsten Morgen wache ich schweißgebadet auf meinem Sofa in der Webgasse 37 auf. Ich hatte einen seltsamen Traum:
Dante Alighieri und Roberto Benigni trinken Sake, rauchen einen Joint und spielen Golf in Las Vegas. Ich beobachte sie aus einem Versteck. Sie sprechen über Politik: „Nella politica l´indiguazione morale non é rilevante, solo perdere è un peccato.” Dann wird Benigni wütend und befiehlt seinen Leibwächtern, Dante zu erschießen. In demselben Augenblick steigt Beatrice aus einer schwarzen Kutsche aus und geht auf Alighieri zu. In der linken Hand hält sie eine blaue Schreibfeder, aus deren Spitze Blut tropft. Daraufhin schreit Benigni: "Dove sei, cara Greta?"
Dieses ist der einzige Teil des Traumes, an welchen ich mich noch erinnern kann. Ich stehe auf, öffne die Schublade und hole mein Traumdeutungsnotizheft heraus. Ich schreibe den Traum auf und vermerke den Eintrag mit dem Datum 11.03.2011. Darunter kritzele ich noch die Worte: Es gibt keinen künstlerischen Patriotismus. Dann lege ich das Notizheft in die Schublade zurück und mache mich auf den Weg zum Badezimmer, um meiner Darm-Morgengymnastik nachzugehen. Während ich den letzten Teil der Darm-Gymnastikübung zu bewältigen versuche, spüre ich einen heftigen Stich in meiner Brust. Es ist ein Herzinfarkt, das wird mir sofort klar. Binnen weniger Minuten schaltet sich das ewige Licht ab. Meine letzten bewussten Gedanken sind:
ﮕﯼﺱﺹﺴﺶ
ﮕﯼﺱﺹﺴﺶ
ﮕﯼﺱﺹﺴﺶ
Mr. Black: Ich habe dich schon erwartet, mein lieber Harry.
Harry Moriarty: Was für eine „unerwartete“ Begegnung?!
Mr. Black: Weißt du, wo du dich in diesem Augenblick befindest?
Harry Moriarty: In meinem Buch natürlich, wo sonst?
Mr. Black: Ich muss eingestehen, du bist und bleibst einer meiner Lieblingskunden. Weißt du eigentlich, wieso ich dich ausgesucht habe? Schließlich gibt es genügend erfolgshungrige junge Künstler, welche bereit wären, für ein wenig Geld und Ruhm ihre Seele dem Teufel, ich meine . . . , du weißt schon, . . . zu verkaufen.
Harry Moriarty: Wahrscheinlich hat das Zusammentreffen mit den Herrschaften Hesse und Kerouac einen bleibenden Eindruck bei dir hinterlassen. Ich schätze, du hast ihnen denselben Irrsinn mit der Erschaffung eines Überkunstwerks vorgegaukelt wie mir. Doch sie gingen ihren Weg. Genialität darf sogar für jemanden wie deinesgleichen nicht zu einem manipulierbaren Objekt der geistigen Zierde werden. Überschätze niemals die schöpferische Energie eines kreativen Erschaffungsprozesses. Omnia vincit amor! Die Kunst aber überwindet Zeit und Gedankenabstraktion, sie triumphiert sogar über Liebe und Tod. Durch das Befliegen eines eigenen Himmels jenseits des rationalen Denkens erreicht sie eine durch menschliches Empfinden niemals zu erfassende Überlebens- und Wirkungsfläche. Deswegen kannst du ES unmöglich kennen, ES übersteigt die Reichweite deiner Vorstellungskraft . . . , mein lieber Mr. Black! Und weißt du auch, warum? Weil ES vom Zorn der Götter erschaffen ist – DE IRA DEORUM.
Mr. Black: Es hat mich gefreut, deine Bekanntschaft gemacht zu haben, Harry, jedoch scheinst du vergessen zu haben, wer ich bin und welches meine Absichten sind. Du hast Recht, ES existiert tatsächlich, doch nicht von Menschenhand erschaffen. Keine Angst, Harry, der Tod (lacht) hat euch schon alle erlebt und überlebt. Kommen wir nun zum Geschäftlichen. Würdest du mir bitte unauffällig folgen.
VORHANG ZU
„Dieses Manuskript darf niemals das Licht der Öffentlichkeit erblicken, hast du mich verstanden? Ich hoffe, dass du es schon ausgelesen hast. Wenn SIE uns verhaften, muss das Manuskript vernichtet werden. Es ist die einzige Möglichkeit. ES darf nicht in ihre Hände geraten!“
„Ich habe 79 Seiten daraus gelesen. Das scheint der ganze Inhalt des Manuskriptes zu sein. Es gefällt mir sehr gut. Wieso sollte es nicht veröffentlicht werden? Wer hat es geschrieben?“
In dieses Gespräch vertieft, sitzen die beiden Jugendfreunde und Künstler Mao Pì Chang und Li Wừ Chiun in einem kleinem Lokal am südlichen Rand des Platzes des Stillen Friedens bei einem Glas Gin Tonic. Es ist der 11.03. 2023 mitternachts. Überall im „Satori“ sitzen gelangweilte Soldaten, besoffene Studenten oder Künstler mit ein paar Yuans in der Tasche, trinken und sprechen über das Leben. In der linken Ecke des Künstlerkaffees spielt eine koreanische Jazzband einen verraucht-irischen Sound. Hinter der Bar steht ein großer schlanker Mann mit Schnauzbart, grauen Haaren und blauer Hornbrille. Er unterhält sich mit einer älteren Frau und schenkt ihr ein Glas Rotwein ein. In der rechten hinteren Ecke, gleich neben dem Ausgang, kann man um 00:013 Uhr immer noch die beiden Lyriker Mao Pì Chang und Li Wừ Chiun am Tisch sitzen, ein Manuskript in der Hand halten und gestikulieren sehen.
„Wer es geschrieben hat? Es ist der letzte Roman eines großen Künstlers aus Wien, sein Name ist Harry Moriarty. Er ist vor 3 Jahren gestorben.“
„Dann ist es also ein autobiografisches Werk?“
„Es schildert die letzten Tage seines Lebens und die Begegnung mit dem Tod. Der Roman wurde niemals einem Verlag zugejubelt. Dass es diesen Text überhaupt gibt, wissen nur einige wenige Leute. Ich war damals gerade in Wien. Der Verband „Kultur-Kontakt“ hatte mich zu einer Lesung eingeladen. Hatte gerade meinen zweiten Gedichtband „The Dharma Ricochet-Effect“ fertiggestellt. Die Zeitungen haben einen Riesenwirbel um den Tod von Harry Moriarty gemacht. Keine Freunde, Familienangehörige, bloß der Name einer Freundin - Goltnik wurde erwähnt. Sie ist eine jüdische Russin, die in Wien lebt und am Konservatorium Klavier unterrichtet. Sie soll gewusst haben, dass Harry Moriarty an einem außergewöhnlichen Projekt arbeitet. Doch kein Journalist konnte aus ihr herauslocken, worum es sich genau handelte.“
„Woher hast du das Manuskript, Li Wừ Chiun? Ist es das, was ich glaube?“
„Wenn ich dir verraten würde, Mao Pì Chang, wie ich in den Besitz dieses Schriftstückes gelangt bin, würdest du mich wahrscheinlich in die Klapsmühle einweisen lassen.“
„Komm, erzähl schon! Du kannst mir vertrauen. Es wird niemand davon erfahren. Ich nehme an, du wirst deine Gründe gehabt haben, mir zu erlauben, das Buchfragment lesen zu dürfen. Also tue mir bitte den Gefallen.“
„Einverstanden. Hör mir gut zu, ich werde es nicht wiederholen: Nin keneng hui yiwei zhe ju hua li yinzangzhe yizhong shenmide hanyi. Qing nin yuanliang, chule wenzi de benyi nin xianzai suo dude hua wanquan meiyou biede yisi.
„Ich glaube es einfach nicht, Li Wừ Chiun! Ich halte dich für einen sehr begabten Dichter mit einem Schuss in der Birne. Ich liebe deine Gedichte, mein verehrter Freund. Auch unsere großen Qü Yüan und Cao Zhi - mögen ihre Seelen im Nirwana schweben! -, würden sie lieben. Du bist mir ein wahrer Freund, doch will ich dich in Kenntnis darüber setzen, dass du deinen letzten Funken gesunden Menschenverstand verloren hast, als du überhaupt das Manuskript angenommen hast. Ist dir überhaupt bewusst, worauf du dich da einlässt?“
Mitteilung: Die Gesprächabhörabteilung des chinesischen C. I. Z.-Sektors 3. teilt mit, dass sich die Herren Mao Pì Chang und Li Wừ Chiun, welche sich zum jetzigen Zeitpunkt - 0:27 Uhr - im „Santori“–Café aufhalten, unverzüglichst im C. I. Z.-Sektor 3./Abteilung C4 vorzusprechen haben. Zwei Beamte, welche draußen auf sie warten, werden sie dorthin begleiten", dröhnt es plötzlich aus den Lautsprechern der Gesprächabhöreinrichtung, welche in jedem Gebäude der Zone eingerichtet wurde.
Li Wừ Chiun wurde bereits dreimal von der C. I. Z. (Central Information Zone) verhaftet. Wegen ideologischem Täuschungsmanöver und Verfassen von 23 Gedichten wurde er zu fünf Jahren Haft verurteilt. Literatur, Kunst überhaupt war in der Zone strengst verboten. Nach der chinesischen Kulturrevolution von 2013, in der Deng Xiaoming, der Sohn Deng Xiaopings, in der südlichen Provinz Sezuan einen Coup d`etat versucht hatte, fiel über die mandarinische Perle Asiens der Vorhang eines gnadenlosen Kontrollapparates, welcher sich nach dem Prototyp der in den U. S. A. konzipierten C. I. Z. benannte. Die neokapitalistische Zone war eine kunstverachtende, als neosozialistischer Regierungsapparat vertarnte Militärdiktatur, welche mit Gedankenmanipulation, Freiheitsbeschränkung und maschinellem Clonen die Menschen zu genetischem Restmüll hat erklären lassen. Nur einige wenige Künstler leisteten durch die Produktion von Büchern, Filmen, Musik oder Malerei Widerstand. Sie lebten unauffällig und zurückgezogen. 'KUNST IST GIFT! KUNST ZERSTÖRT IDEOLOGIEN!, hatte man ihnen in der Schule eingeprägt', erinnert sich Li Wừ Chiun auf dem Weg zum C. I. Z.-Sektor 3. Umgeben von zwei Beamten des C. I. Z.–Überwachungsapparates blickt er Mao Pì Chang an. Er kann seine Angst nicht verbergen. Für den Besitz eines 79 Seiten starken „literarischen Objektes“, wie es in der Terminologie der C. I. Z.–Sprache hieß, konnten sie beide für mindestens drei Jahren hinter Gitter. Sie werden der Kunstvernichtungskommission vorgeführt, welche in einem roten Gebäude mit kahlen Wänden und 134 Bewachungskameras im Auftrag der C. I. Z.–Führung für die Aufnahme, Zensur und Vernichtung von Kunst jeglicher Form zuständig ist.
„Aufnahme und Registrierung eines Manuskriptes. 79 Seiten“, sind die trockenen Worte des Beamten Nr. 1 am Schalter der Eingangshalle. Eine riesige blaue Metalltür öffnet sich vor den Augen von Mao Pì Chang, Li Wừ Chiun und der Beamten Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 3. Sie treten in den Raum ein. Es ist dunkel und still. Vier Stimmen brüllen sie aus dem linken hinteren Teil des Zimmers an:
Gedankenkontrollapparat: „Wer? Was? Vor allem: Wo ist ES?“
Kunstvernichtungskommission: „Wer? Was? Vor allem: Wo ist ES?“
Freiheitsbeschränkungsorgan: „Wer? Was? Vor allem: Wo ist ES?“
C. I. Z.–Strafgerichtshof: „Wer? Was? Vor allem: Wo ist ES?“
Beamte Nr. 1 (vorsichtig hervortretend): „Das 79 Seiten starke Manuskript befindet sich im Besitz der C. I. Z–Zensurabteilung. Das literarische Objekt wird soeben sorgfältig überprüft und nach undichten Stellen untersucht.“
Beamte Nr. 2 (stolz hervortretend): „Wir haben diese zwei Bürger, welche sich im Besitz dieses literarischen Objektes befanden, verhaften können. Es handelt sich um die Kunsteremiten Mao Pì Chang und Li Wừ Chiun.“
Beamte Nr. 3 (langsam hervortretend, die beiden Verhafteten am Arm haltend und vorzeigend): „Die Beamten des C. I. Z.-Sektors 3. haben sie heute aufgespürt.“
Mao Pì Chang (einen Versuch zu sprechen wagend): „Sehr geehrte ..." Beamte Nr. 1 und 2 strecken ihn mit einem Seitenhieb zu Boden. Mao Pì Chang liegt zusammengekauert am Boden, nach Atem ringend. Sein Freund Li Wừ Chiun versucht ihn aufzuheben. Während er sich nach dessen Hand auszustrecken versucht, wird er von Beamte Nr. 3 zu Boden geschlagen. Die vier Beamten versetzen den beiden am Boden Liegenden von allen Seiten Hiebe.
Gedankenkontrollapparat: „Aufhören! Es ist zwecklos. Ihre Gedanken richten sich immer noch gegen uns. Während ihr wie wilde Tiere auf sie einschlagt, überlegen beide, wie sie auf das Staatssymbol der C. I. Z. urinieren.“
Die Beamten Nr. 1, 2, 3 und 4 fordern Li Wừ Chiun und Mao Pì Chang auf, sich zu erheben. Beim Anblick ihrer blutenden Gesichter fangen die Sicherheitsbeamten auf eine süffisante Art zu schmunzeln an.
Kunstvernichtungskommission: „Beamte Nr. 2, treten Sie in Verbindung mit dem zuständigen Sachverständigen der Zensurabteilung und sorgen Sie dafür, dass das Manuskript sofort hierhergebracht wird!“
Beamter Nr. 2 entfernt sich. Auf dem Weg zur Zensurabteilung stellt er sich vor, wie er höchstpersönlich das Manuskript der Kunstvernichtungskommission vorlegen darf.
Freiheitsbeschränkungsorgan: „Es bedarf einer exakten Untersuchung des literarischen Objektes. Wir werden bald wissen, in welchem Verhältnis die beiden Verdächtigen zum Verfasser ... Wie heißt der Autor des literarischen Objektes?“
Beamte Nr. 3 (stolz hervortretend): „Name des Autors: Harry Moriarty. Titel des Buches: „De Ira Deorum“.
Gedankenkontrollapparat: „Wir haben ES!“
Kunstvernichtungskommission: „Wir haben ES!“
Freiheitsbeschränkungsorgan: „Wir haben ES!““
C. I. Z.–Strafgerichtshof: „Wir haben ES!"
Stille erfüllt den schwarzen Raum. Die Beamten Nr. 1 und Nr. 3 packen die verhafteten Künstler von hinten und schubsen sie nach vorne. In weiter Entfernung geht ein winziges Licht an. 200 Meter weiter hinten ist eine weiße Kanzel zu erkennen.
C. I. Z.–Strafgerichtshof: „Li Wừ Chiun, du wirst zu vier Jahren Haft wegen Besitzes eines literarischen Objektes verurteilt. Mao Pì Chang, du wirst zu drei Jahren Haft wegen Mittäterschaft an einer künstlerischen Aktivität verurteilt. Der C. I. Z.–Strafgerichtshof hat sein Urteil ausgesprochen.
C. I. Z.–Strafgerichtshof (zu den Beamten Nr. 1, 3 und 4): Abführen!“
Li Wừ Chiun und Mao Pì Chang blicken sich tief in die Augen. Sie werden von den drei Sicherheitsbeamten hinausgezerrt. Als sie den Raum verlassen, begegnen sie dem Beamten Nr. 2, welcher mit einem stolzen Grinsen auf den Lippen eine braune Mappe unter dem rechten Arm trägt.
„Unsere Seelen werden sich im Nirwana wiederfinden, mein lieber Freund“, sind Li Wừ Chiuns letzte Worte, bevor er in den Sicherheitstrakt Q 24/7 der C. I. Z–Haftanstalt gebracht wird. Mao Pì Chang verabschiedet sich mit einer stillen Miene von seinem Freund. Er kann seine Tränen nicht zurückhalten, als die Beamten Nr. 2 und Nr. 3 ihn in den Sicherheitstrakt L 34/12 bringen. Während die Bedeutung der Textzeilen des Manuskriptes von der Zensurabteilung der C. I. Z. entschlüssel, und von den vier leitenden Organen der Zone begutachtet werden, wartet Li Wừ Chiun in einer marmorweißen Metallzelle auf seine letzte Reise.
Langsam schließt er seine Augen und besinnt sich seiner Weltaufgabe. Er schmunzelt. Es ist der 13. Juli 1977. Die Sonne brennt gnadenlos auf den weißen Sand herab. Drei bedürftig gekleidete, barfüßige junge Frauen sitzen und warten. Die blonde blauäugige Maria trägt ein rotes Kleid und hält einen blauen Stein in der rechten Hand. Auf ihrer zarten bleichen Haut spiegelt sich die rote Glut der Sonne wieder. Die schwarzen Haare Amalias, welche neben ihr niederkniet und mit dem Zeigefinger ihrer linken Hand einen Kreis in den Sand zeichnet, fallen auf Marias nackten schmutzigen Füße. Amalias athletischer Körper ist von einem schneeweißen langen Kleid eng umschlungen und bewegt sich geschmeidig im Rhythmus des Windes, welcher leicht über den Sand weht. Kassandra steht vor ihnen, einen Gedichtband in den Händen haltend, und trägt ein Gedicht in einem honigsüß-melancholischen Ton vor. Ihre langen feuerroten Haare verdecken ihre schüchternen smaragdgrünen Augen und tanzen frech und eigensinnig im Wind. Das traurige Zittern in ihrer Stimme und das stechende Schwarz ihres Kleides vereinnahmen Amalias und Marias Aufmerksamkeit.
„Meine lieben Amalia und Maria, dieses Gedicht möchte ich unserer wunderbaren Welt und all den darin lebenden Frauen widmen. Ich nenne es 'WAHN UND SINN':
GOTT IST LIEBE IST GÖTTER IST LIEBE IST GÖTTIN IST LIEBE IST OPIUM IST SEX LIEBE IST LEBEN IST LIEBE IST LEBEN IST SEX IST GOTT OPIUM IST WAHNSINN GOTT IST LICHT IST SEX IST OPIUM IST GÖTTIN IST ENERGIE IST LICHT GOTT IST WAHNSINN : : : LIEBE IST WAHN UND SINN : : : OPIUM IST WAHNSINN : : : SEX IST WAHN UND SINN
Amalia und Maria blicken Kassandra voller Bewunderung an. Kassandra schmunzelt leicht verlegen und legt den Gedichtband auf den Boden. Ein lautes Schweigen und die Stille der Wüste sind die einzigen Geräusche in der öden Wüstenlandschaft. Kassandra, Amalia und Maria blicken zum Himmel hoch. Sie lassen ihren Blick in die Ferne schweifen und warten. Amalia richtet sich plötzlich auf und zeigt mit dem Finger auf einen winzigen schwarzen Punkt am Horizont. Maria legt den blauen Stein neben den Gedichtband in den Sand und richtet ihr Augenmerk auf den von Amalia angedeuteten schwarzen Punkt in der Ferne, welcher sich zu bewegen scheint. Im gleichen Augenblick bückt sich Kassandra und hebt den Gedichtband auf. Sie hält ihn eng umschlungen an ihrem rasend pochenden Herzen und versucht ihre Angst vor Amalia und Maria zu verbergen. Die Silhouette einer ganz in schwarz gekleideten Person zeichnet sich allmählich vor dem verschwommenen Horizont ab. Eine angespannte Stille macht sich breit. Allmählich ist ein Mann zu erkennen, welcher direkt auf sie zukommt. Sein Gesicht ist von einem schwarzen Seidentuch bedeckt, sein Gang regelmäßig und standhaft. Er kommt vorsichtig auf Maria zu und blickt ihr tief in die Augen. Sie erwidert seinen durchbohrenden Blick mit einem unschuldigen, aber selbstbewussten Lächeln, während sie vorsichtig ihren linken Fuß auf den am Boden liegenden blauen Stein stellt. Der Fremde wendet seinen Blick von Maria ab und richtet ihn auf Kassandra, welche sich immer noch an dem Gedichtband festkrallt. Das grüne Funkeln ihrer Smaragdaugen reflektiert sich in den pechschwarzen Kohlenaugen des fremden Mannes. Er streckt seine rechte Hand mit einem Buch darin aus. Auf dem Umschlag sind die Worte „DE IRA DEORUM“ zu lesen. Sie blickt ihn fragend an, will ihre linke Hand nach dem Buch ausstrecken, als Amalia sie von hinten zurückzieht. Der Fremde schaut Amalia zornig an und steckt das Buch wieder ein. Seine einzigen Worte sind: "I SHALL FIND HIM"! Nachdem er ein allerletztes Mal den Blick der drei Frauen zu erwidern versucht, dreht er sich um und geht mit denselben standhaften, regelmäßigen Schritten den Weg zurück, welchen er gekommen war. Seine schwarzen Umrisse verschwinden im dunstigen Weiß der Takla Makan-Wüste. Die drei Frauen setzen sich erneut in den Sand nieder und warten.
Li Wừ Chiun öffnet die Augen. Er wartet in seiner Zelle. Als er ein lautes Trampeln von jenseits der Metalltür hört, weiß er, dass die Zeit gekommen ist, seine Willensstärke unter Beweis zu stellen. Sie werden versuchen, seinen Glauben zu brechen, die Wahrheit über seine Weltaufgabe herauszufinden. Was SIE aber nicht wissen - er ist schon bereit für die zeitlose Reise. Als die lauten Schritte vor der Tür zum Stillstand kommen, richtet er sich auf und geht auf sie zu. Er wartet. Die Eisentür wird aufgesperrt. Zwei Sicherheitsbeamte treten in die Zelle ein. Li Wừ Chiun glaubt einen der Beamten, welche ihn und seinen Freund verhaftet haben, wiederzuerkennen. Seine Lippen richten sich in ihren Mundwinkeln auf. Er blickt dem Beamten Nr. 2 tief in die Augen und bemerkt dessen Angst in einem seelenlosen Blick. Beamte Nr. 2 blickt in den Boden. Li Wừ Chiun wird abgeführt. Als er die Inschrift „Chirurgie“ über dem oberen Rand der Tür, in welche er von den beiden Sicherheitsbeamten hineingebracht wird, liest, weiß er ganz genau, dass ihm zwei Stunden schmerzvoller Lobotomie–Kastrations-Folter bevorstehen. Er schließt seine Augen, versetzt sich in einen Trancezustand und spricht sanft seine Mantras. Die einzigen Worte, die er mit einem letzten Aufbäumen seiner Seele noch zum Ausdruck bringen kann, während sie ihn an den OP–Tisch festbinden - „OMNIA VINCIT AMOR!“ - verstummen unter der schweren Last einer surrenden Seziersäge.
TEIL 2
Wir setzen uns zu ihnen. Harry Haller trägt einen maßgeschneiderten beigen Tweedanzug, dazu einen Schal aus schwarzer Seide und einen beigen Hut. Dean Moriarty blickt zornig aus der abgetragenen blau-grauen Cordjeans und seiner schwarzen abgefuckten Lederjacke durch die Rauchwolke hindurch, welche aus Hallers Zigarre aufsteigt. ES ist genau so, wie ich ES mir vorgestellt hatte. Ich habe ES geschafft. Mr. Black verabschiedet sich von mir, Harry und Dean und kehrt zurück zu seiner „Arbeit“.
Harry Moriarty: Guten Abend, Herr Haller. Good evening, Mr. Moriarty.
Dean Moriarty: Hi, man. Call me Dean, ok?
Harry Haller: Einen recht schönen Abend wünsche ich ebenfalls.
Harry Moriarty: IT is exactly like I imagined it in the deep forest of my unconscious.
Harry Haller: Unsere Götter haben einen wahrhaftig schönen Ort für uns erschaffen. Weshalb sind wir hier? Ist es bloß einer dieser irdischen Zufälle des Schicksals?
Nein, meine lieben Freunde. Alles was ist, wird sein.
Dean Moriarty: Why do u tell him all this, Harry? He just arrived, and you already try to explain.
Harry Haller: No! You got me wrrrong.
(To Dean Moriarty whispering): I am trying to help him. It is my duty to tell him the truth.
Dean Moriarty: I don´t see the point in telling him ...
(To Harry Haller whispering) ... the truth. Show him the respect he deserves. Treat him the way you would treat your children or your friends, the birds or butterflies in the sky. How is the world doing these days? What became of my dusty railroads, beggers and beatnics?
Harry Moriarty: Oh Dean, the world is not what it used to be back in your times. Mother Earth is bleeding. Nowadays, a few greedy monsters are trying to make us believe that humanity is lost, that only violence and money can solve our problems.
Dean Moriarty: What is it like today in the U.S.?
Harry Moriarty: A brilliant contemporary from New York can attest.
Dean Moriarty: My God! I remember when we drove those dusty highways together with Sal and the boys. From the fuckin` East to the fuckin West and back. Body, sould and spirit. I bet that <font;_bold>freedom changed its meaning.
Harry Moriarty: Well ...
Harry Haller: Was wolltest du uns von den U.S.A. erzählen?
Harry Moriarty: Das gegenwärtige Amerika – ein spätkapitalistischer Koloss im Eigentum großer Konzerne, der als Demokratie herumstolziert und von rabiater Kommerzialisierung und Konsumismus bestimmt wird – versucht im Grunde, die Welt mittels transnationaler Unternehmen, Hollywoodkino und Fernsehen, dem Export kultureller amerikanischer „Werte“, der Disneyfizierung des Globus zu dominieren. Der Rest der Welt sollte sich nicht so sehr vor den Dinosauriern und Außerirdischen fürchten als vielmehr vor der Verdinglichung aller Sphären der menschlichen Existenz, vor der scheinbar unaufhaltsamen Kommerzialisierung des menschlichen Lebens und der Gesellschaft, dem sich vergrößernden, alles durchdringenden dunklen Schatten, der aus der Welt eine einzige Vergnügungs- und Kaufparklandschaft macht.
Harry Haller: Du bist erst vor einigen Augenblicken hier angekommen, und schon entpuppst du dich als skeptischer Hinterfrager der Dinge. Das zeugt von Größe, mein Lieber. Was hast du in deinem irdischen Leben getan?
Dean Moriarty: What achievements do u have to confess, amigo?
Harry Moriarty: Why dont you ask the author of this book?
Harry Haller & Dean Moriarty (together): Where is he? Wo ist er?
Harry Moriarty: He is living in Europe. Come on, ask him!
Harry Haller & Dean Moriarty (together): How are you doing, dear Sir?
S I L E N C E
Good evening, dear friends. I am trying to finish this fuckin´ novel. This spherical mirror reflects my feelings. My sweetheart is sleepin´ upstairs like an angel. Father, brother and mother far away, and my mouth is dry like Takla Makan. Love keeps me in the saddle and writing saves me from downfall.
S I L E N C E
Harry Haller & Dean Moriarty (together): It feels good to see you are one with the world, true friend. Be of steady determination all your life. Be yourself, no matter what they say.
Es ist der Abend des 13. Juli 2011. Harry Haller, Dean Moriarty und Harry Moriarty machen sich auf den Weg in die öde Einsamkeit der Takla Makan-Wüste. Durch eine konkrete Gedankenabstraktion durchschlüpfend steigen sie in die Realität des Lebens ein. Binnen weniger Sekunden teleportiert sie ihre Vorstellungskraft in die chinesische Wüstenlandschaft. Sie blicken sich um. In einiger Ferne sehen sie ein Kamel mit einer grauen Palme sprechen. Wahrscheinlich unterhalten sie sich über das flüssige Gold der Zukunft - "Wasser". In Kürze sind sie von der bedrückenden Hitze überwältigt. Sie setzen sich in den Sand und warten. Die Silhouette einer ganz in schwarz gekleideten Person zeichnet sich allmählich vor dem verschwommenen Horizont ab. Eine angespannte Stille macht sich breit. Allmählich ist ein Mann zu erkennen, welcher direkt auf sie zukommt. Sein Gesicht ist von einem schwarzen Seidentuch bedeckt, sein Gang regelmäßig und standhaft. Er bleibt vor Dean Moriarty stehen, versucht dessen Lederjacke herunterzureißen, während aus seinem Schleier ein stechender lauter Schrei herausströmt. Harry Moriarty und Harry Haller halten ihre Ohren zu. Dean Moriarty setzt zu einem Kinnhaken an. Er streckt seine geballte Faust dem fremden Mann entgegen. Der Fremde blickt Dean tief in die Augen, und schon senkt sich dessen Hand wieder. Der Schrei hört auf. Harry Haller und Harry Moriarty lösen sich von dem Schmerz und gelangen langsam in den Besitz ihrer Kräfte. Die einzigen Worte des Fremden sind: „I SHALL FIND HIM!"
Harry Haller, Dean Moriarty & Harry Moriarty (all together): ER HAT SICH SCHON FÜR EINE SEITE ENTSCHIEDEN.
HE ALREADY MADE HIS DECISION CLEAR. HIS SOUL IS NOT TO BE TOUCHED BY EVIL FOR THE REST OF ETERNITY.
Nachdem er ein allerletztes Mal den Blick der drei Männer zu erwidern versucht, dreht er sich um und geht mit denselben standhaften, regelmäßigen Schritten den Weg zurück, welchen er gekommen war. Seine schwarzen Umrisse verschwinden im dunstigen Weiß der Takla Makan-Wüste. Die drei Männer setzen sich erneut in den Sand und warten. Verschiedenartige Wolken-Wortspiel-Projektionen breiten sich vor ihren Augen auf der blauen Unendlichkeit des Himmels aus. Sie liegen entspannt und genügsam auf dem heißen trockenen Sand und lassen ihre Seelen in der zarten Brise eines leichten Windes baumeln.
M A G I S C H E S T H E A T E R
E I N T R I T T N I C H T FÜR JEDERMANN
Auf zum fröhlichen Jagen! Hochjagd auf Automobile!
Regelmäßig habe ich mich, solange ich in Rom bin, mit Maria getroffen, die einzige Frau, mit welcher ich einen Kontakt wirklich pflegte, zu der zu gehen ich jede Woche ein Bedürfnis gehabt habe die ganze Zeit, zu der gescheiten gehst du, habe ich immer gedacht, zu der phantasievollen, zu der großen, denn ich zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass das, das sie schreibt auch groß ist, immer noch größer gewesen ist, als alles andere von allen anderen Dichterinnen.
hektor aber, des priamos sohn, und der edle odysseus, maßen die weite des raumes zuerst und nahmen die lose, schwenkten sie dann im ehernen helm, damit sie erführen, wem von beiden zuerst die lanze zu schleudern bestimmt sei. flehend erhoben die mannen indes zu den göttern die hände. also betete mancher der troer und männer achaias: vater zeus, erhabenster gott, du herrscher vom ida!
Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge. Kunst offenbaren, den Künstler verbergen, ist das Ziel der Kunst.
Even if human reality has nothing more ´before it`, even if ´its account is closed`, its being is still determined by this ´self–anticipation`.
ich sitze am straßenrand der fahrer wechselt das rad. ich bin nicht gern, wo ich herkomme. ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. warum sehe ich den radwechsel mit ungeduld?
Marlow ceased, and sat apart, indistinct and silent, in the pose of a meditating Buddha. Nobody moved for a time. `We have lost the first of the ebb,´ said the Director, suddenly. I raised my head. The offing was barred by a bank of clouds, and the tranquil waterway leading to the uttermost ends of the earth flowed sombre under an overcast sky – seemed to lead into the heart of an immense darkness.
DOM JUAN, faisant de grandes civilités. – Ah ! Monsieur Dimanche, approchez. Que je suis ravi de vous voir, et que je veux de mal á mes gens de ne vous pas faire entrer d´abord ! J´avais donné ordre qu´on ne me fît parler personne ; mais cet ordre n´est pas pour vous, et vous étes en droit de ne trouver jamais de porte fermée chez moi. M. DIMANCHE : . – Monsieur, je vous suis fort obligé.
WILLY (now assured, with rising power): Oh, Ben, that´s the whole beauty of it! I see it like a diamond, shining in the dark, hard and rough, that I can pick up and touch in my hand. Not like – like an appointmen, Ben, and it changes all the aspects. Because he thinks I´m nothing, see, and so he spites me. But the funeral – (Straightening up) Ben, that funeral will be massive! They´ll come from Maine, Massachusets, Vermont, New Hampshire! All the old- timers with the strange license plates – that boy will be thunderstruck, Ben, because he never ralized – I am known! Rhode Island, New York, New Jersey – I am known, Ben, and he´ll see it with his eyes once and for all.
Wenn ich jetzt darangehe, die höchst merkwürdigen Ereignisse zu schildern, welche sich unlängst in unserer bis dahin durch nichts hervorgetretenen Stadt zugetragen haben, muß ich, weil ich es nicht besser verstehe, ein wenig ausholen und mit einigen biographischen Details über den talentvollen und hochgeschätzten Stepan Trofimowitsch Werchowenski beginnen. Als sie es dann wagten, verstohlen erst und dann ganz offen, da mussten sie lächeln. Sie waren außer -ordentlich stolz. Sie hatten zum ersten Mal etwas aus Liebe getan.
So first let us find out if we can become compassionate. To come to that point one must be extraordinaly alert to all human frailties, to all human limitations, which are one´s own limitations. You are not separate from the rest of mankind. If once you see the truth of that, then your whole attitude towards life and action changes completely ...
Wir wollen zuerst herausfinden, ob wir barmherzig werden können. Um an diesen Punkt zu kommen, muß man ungewöhnlich wach für alle menschlichen Schwächen, für alle menschliche Beschränktheit sein, die die eigene Grenze ist. Sie sind von der übrigen Menschheit nicht getrennt. Wenn Sie diese Wahrheit einmal erkannt haben, verändert sich völlig Ihre Einstellung zum Leben und Handeln. Doch, doch. Wir wollen in dieser wahn – witzigen Welt noch wieder, immer wieder lieben!
HABE NUN, ACH! PHILOSOPHIE, JURISTEREI UND MEDIZIN, UND LEIDER AUCH THEOLOGIE! DURCHAUS STUDIERT, MIT HEIßEM BEMÜHN. DA STEH ICH NUN, ICH ARMER TOR! UND BIN SO KLUG ALS WIE ZUVOR; ALLES VERGÄNGLICHE IST NUR EIN GLEICHNIS; DAS UNZULÄNGLICHE, HIER WIRD´S EREIGNIS; DAS UNBESCHREIBLICHE, HIER IST`S GETAN; DAS EWIG – WEIBLICHE ZIEHT UNS HINAN. FINIS
Der Kaiser aber hing Herrn Friedrich, nach der Trauung, eine Gnadenkette um den Hals; und sobald er, nach Vollendung seiner Geschäfte mit der Schweiz, wieder in Worms angekommen war, ließ er in die Statuten des geheiligten göttlichen Zweikampfs, überall wo vorausgesetzt wird, dass die Schuld dadurch unmittelbar ans Tageslicht komme, die Worte einrücken: WENN ES GOTTES WILLE IST.
Die drei Kunsteremiten liegen auf dem Rücken und betrachten den Himmel. Zwei blaue Vögel schweben über ihren Blicke hinweg, in die unendliche Weite des Himmels emporsteigend. Ihre Blicke verfolgen die zarten Flügelbewegungen der kleinen Geschöpfe und verlieren sich in salzigen kristallklaren Tränen, welche über ihre Wangen in den ausgetrockneten Sand rollen und in die durstige Erde hineinsickern.
Harry Haller: Und, mein lieber Freund, zweifelst du immer noch daran?
Harry Moriarty: ES ist einmalig! Dieser himmlische Wortzauber kann nur von den Göttern erschaffen sein.
Dean Moriarty: I will go for a walk in the sun.
Dean Moriarty entfernt sich mit zögernden Schritten. Er geht langsam auf den Horizont zu. Seine Blicke spucken kleine unsichtbare Flammen. Sein rabenschwarzes zerzaustes Haar sträubt sich gegen den Wind. Harry Moriarty und Harry Haller blicken ihm in aufgelöster Entspannung nach.
SILENCE
TEIL 3
Worte fließen aus dem innersten Raum meines seelischen Bedürfnisses nach Wahrheit, durch die blutgetränkten Arterien, welche sich unter meiner Schädeldecke wie flammende Schwerter aufwühlen, während ich in meinem Arbeitszimmer in Wien sitze und in die melancholischen Augen meines Bruders schaue. Ich sehe ihn an und spüre, wie sich mein Herz von Liebe erfüllt. Er durchschaut mich, seine schwarzen Augen lächeln mich an und verraten die Einmaligkeit seiner intellektuellen Größe. Er streichelt mein Haar und lächelt. Ich lächle verlegen und stehe auf, um Orangensaft für uns zu holen. Es läutet an der Tür. Ich blicke auf die Küchenwanduhr. Es ist 21:30 Uhr. Eigentlich erwarte ich keinen Besuch. Ich will mir zwei Monate Zeit für meinen Bruder nehmen. Ich habe ihn schon seit mehr als drei Jahren nicht gesehen. Er ist vor drei Tagen auf Besuch nach Wien gekommen. Ich sperre die Türe auf. Eine rothaarige Frau mit grünen Augen steht vor der Tür und lächelt mich an. Sie fragt, ob ich wüsste, wo Herr Wagner wohnt. Ich schüttle lächelnd den Kopf. Auf dem Weg ins Arbeitszimmer nehme ich zwei Gläser Orangensaft mit. Ich verspüre den dringenden Wunsch nach Musik und lege den Song „Children of the Revolution“ ein.
„Du erinnerst dich - unsere Kindheit in S.?“
Er schmunzelt nachdenklich und klopft mit dem rechten Zeigefinger seiner linken Hand den Rhythmus der Musik auf den Holztisch. Er ist glücklich und geht schlafen. In den nächsten zwei Monaten werden wir uns Vieles zu erzählen haben. Ich freue mich schon. Mich hatten die Eltern immer als den rebellischen Sohn betrachtet. Wahrscheinlich lag es an meiner Aversion gegenüber Autorität und Kontrolle. Mein Bruder hingegen war schon immer der Sanftmütige.
Ich sehe meine Mutter in der Gestalt der schönen rassigen Filumena Marturano in „Matrimonio all´ italiana“ oder der galant-majestätischen Medea. Manchmal überrasche ich mich, sie als Idealbild der Frau in „Otto e mezzo“ vor meinem geistigen Auge zu tragen. Ich erinnere mich an einen regnerischen Samstagabend im vergangenen Monat. Ich hatte einen furchtbaren Tag. Die Einsamkeit machte sich über meine Seele breit. Ich sah mir „Mamma Roma“ an. Jene aufopfernde Kämpfernatur erinnerte mich an meine Mutter. Ihre stolzen schwarzen Augen, die Sinnlichkeit einer Römischen Schönheit verkörpernd, die fürsorgliche Sorge um ihre Söhne - all diese Feinheiten des Lebens entführten mich in meine Kindheit. Seltsam, wie man im Angesicht der wahrhaftigen Kunst diese instinktiv zu einem sakralen Altar der innigsten Hoffnungen und verborgenen Projektionen seines eigenen Ich emporhebt. Wie Gedanken und Gefühle in einer anderen Sprache:
doar viaţa poate învinge, iar îngerii plâng când ninge
doar sufletul se naşte nepătat, iar conştiinţa se prelinge tandră şi curată
peste pleoapele dimineţii, ce se aşterne peste visele noastre sincere şi pline de încrederea,
ce ne este acordată din prima clipă, în care deschidem curioşi ochii
şi zărim primele raze de soare, zâmbetul unei mame iubitoare,
trotuarul umezit de ploaie, roşul fructelor târzii şi adevărul,
chiar adevărul absolut.
dar mai trebuie să învăţăm . . .
să aşteptăm . . .
să cugetăm . . .
să înţelegem, de ce suntem doar oameni pe acest pământ!
Ich erinnere mich, wie mein Vater mir im Alter von fünf Jahren das Auswendiglernen der „Bürgschaft“ als lebensnotwendige Aufgabe auftrug. Ich erinnere mich an die geistreichen Gespräche mit ihm - Entzückung meiner Kindheit. Eine Kindheit, in welcher wir Brüder versucht hatten, unsere Individualität zu finden. Unsere Familie hatte ihren besonderen Platz im liberalen humanistisch-christlichen Lebensbereich gefunden. Ich erinnere mich an den Rat meines Herrn Papa. Er sagte uns: „Eine galante Frau trägt die Größe inne, wahre Liebe zu erkennen.“ Ich habe gesucht und gesucht und meine große Liebe gefunden.
Ich sitze am meinem Schreibtisch und denke nach. Ich denke darüber nach, wie wir jenseits von Gut und Böse, jenseits von Himmel und Hölle stehen werden. Ich blicke in den Zeitspiegel und staune über mein Schweigen. Neben mir steht ein Engel, rotes T-Shirt und goldene Haare. Wenn ich Ihnen davon berichten könnte, wie wir beide in diesem Augenblick fühlen, könnte es mich meinen Verstand kosten. Um unangenehme Gemütszustände zu vermeiden, entscheide ich mich, einen Roman zu schreiben. Ich habe schon immer vorgehabt, einen Roman zu schreiben. Ich richte meinen Blick auf das Weiß des Papiers und lasse meine Finger darüber schweben.
P R O L O G
Er bewegt sich auf das Ziel zu. Seine Schritte werden immer schneller ... Peter Black ... Peter Black - dieser Name kreist in seinen Gedanken immer wieder umher und berauscht seine Sinne, als würde er in einer lebendigen Löwenhöhle nach einem Augenblick von Wahrheit suchen ... Der Traum wird Realität. Peter Black - es muss eine Verbindung geben! Was ist dieser Name, diese Identität? Was hat diese Person, wenn es sie überhaupt gibt, in seiner Gedankenwelt zu suchen? Sein Herz hört für einen kurzen Augenblick auf zu pochen. Schweiß rinnt seinen Rücken hinunter, als würde es der kalte Regenschauer einer späten Septembernacht sein. Seine Hände verkrampfen sich zu Krallen ... Peter Black ...
TILMAN OTTO WAGNER
*1977 Sibiu, Rumänien. Lebt und arbeitet in Wien.
Texte: copyright © tilman otto wagner 2011
Tag der Veröffentlichung: 14.09.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Christian, Iulia, Udo-Peter, Robert & ANDREEA zugewidmet
Dedicated to Christian, Julia, Udo-Peter, Robert & ANDREEA