Meine imaginäre Gesellschaft am einsamen Frühstückstisch ziehe ich mir ansonsten dank der intensiven Zeitungslektüre heran. Heute aber habe ich einen realen Gast, einen kleinen Quirl an Leben und Daseinsfreude, mein mich besuchendes Urenkelmädchen, das mir gegenüber am Tisch herum hopst. In wenigen Tagen wird es seinen siebenten Geburtstag feiern, und es ist an der Zeit, sich zu überlegen, wodurch oder womit dem Kind eine wirkliche Freude gemacht werden könnte.
Am besten, man fragt es und erkundigt sich nach seinen Wünschen.
„Sag, mein Bonbonkügelchen, was wünschst du dir denn zum Beispiel von der Safta (hebr.Wort für Großmutter) zum Geburtstag?“
Man möchte schließlich Freude machen, Eindruck erwecken (a la:„Meine Safta findet immer was Gutes raus!“)
Ein halbes Knusperbrötchen mit Schlabberhonig und Weißkäse sind in Sösis Mund schon häppchenweise verschwunden. Jetzt knabbert sie an der Unterlippe -, ein deutliches Zeichen intensiver Nachdenklichkeit. Ich gebe ein bisschen Schützenhilfe.
„Wie steht es mit neuen Barbys, Lilofees, Geräten für das Puppenhaus, ein Kleidchen für dich, neue Stiefelchen, den großen Bettvorleger mit den Koalabärchen drauf, den wir letztens sahen…?“
Von mürrischem Kopfschütteln über kreischende Abwehr bis zum resignierten Schulterzucken ist die Antwort auf alle liebevollen Beschwörungen herrlichster Sachen.
Mein fragendes: „Ein Besuch im Kindertheater?“ erzeugt nur verächtliches Gähnen: „Schon wieder? Waren wir erst neulich von der Schule aus.“
Den laufenden Schwimmkursus bezahlte gerade ihre Tante, ich kam wieder mal zu spät. Voriges Jahr war das neue Fahrrad fällig. Wäre vielleicht in ein, zwei Jahren wieder akut, aber diesmal gewiss nicht.
Ich spule verzagt ab, was mir gerade in den Sinn kommt: „Einen Tag im Zoo oder auf einem Reiterhof, im Märchenwald oder… oder…?“
Sösi winkt müde, fast genervt, ab. „War ich doch schon überall, Safta, hast du das ganz vergessen? Kenn ich doch schon alles. Außerdem krieg ich einen Besuch im Disneyland von Mama und Papa. “
„Ein neues Gelände für deine Drachensammlung vielleicht? Die Sauriere möchten eventuell mal wieder umziehen?“ Mein Kopf glüht , raucht geradezu vor Anstrengung. Gut, dass mir das mit den Dragons gerade noch einfiel; vielleicht hab ich Glück, ist immerhin Sösis Lieblingsspielzeug. Aber - es macht wenig Eindruck auf sie.
„Puuhh! Mama hat gerade zwei Drachenhöhlen in den Keller gebracht, Safta. Sie meint, bei uns sähe es aus wie in der Urwelt“
Ich schiebe kopflos dem schmollenden Kind die Schale mit den Keksen rüber, sozusagen als Entschuldigung für die einfallslose, langweilige Ahnfrau. Sösi schiebt schwungvoll zurück.„Bähhhh… Safta, immer diese doofen Bisquits…! Kannste selber essen!“
Die Kekse haben die von mir heute noch nicht beachtete Zeitung an den Tischrand geschoben, und nun fällt sie knisternd auf den Boden. Sösi hopst vom Stuhl und hebt sie auf. Dabei hängt plötzlich ihr Blick gefesselt an einem Bild und sie sucht, wie meist Kinder dieses Alters, erste Leseerfolge zu erzielen .
„ H-u-n-g-e-r , - in -A-f-r-i--k-a!”
Sie quietscht auf. „Safta, gucke mal, was ist denn mit der…?“
Sie zeigt auf das Foto, über dem die heraus buchstabierte Überschrift prangt. Es zeigt eine Frau, man weiß nicht recht,ob jung oder alt, das ist nicht auszumachen, sie ist so dürr, das Gesicht eingefallen, die Augen wie tot, es könnte einer Zwanzigjährigen ebenso gut gehören wie einer Neunzigjährigen. Ein Bild des Elends. Warum soll sich Sösi so etwas ansehen? In ihrem Alter gibt es solche Probleme nicht. Aber als ich ihr die Zeitung wegnehmen will, hält sie sie verbissen zwischen den kleinen zarten Fingerchen fest. Sie will sich das Bild eher noch genauer betrachten.
„Die hat ein Kind auf dem Arm, Safta, aber - Uromas kriegen doch keine eigenen Kinder mehr. Ob das auch eine Safta ist wie du? Bloß du bist viel dicker als die.“
Sösi – ich kenne das schon – ist richtig schräg drauf, wenn sie sich an einem sie interessierenden Thema festgebissen hat. So bequeme ich mich zur Auskunft.
„Ich esse eben gern - und oft ein bisschen zu viel. Dieses hier auf dem Bild ist bestimmt die Mama von dem Baby, mein kleiner Schatz. Und sie ist so dünn, weil sie nichts zu essen hat.“
„Warum kauft sie sich denn nichts? Man sieht nicht schön aus, wenn einem so die Rippen rausstechen. Warum hat die denn gar keine Brust? Hat sie vielleicht Krebs gehabt? Wurde sie operiert?“
Ich merke schon, das kann ein längeres Gespräch werden. Sosi kennt ihre Safta; wenn die ganz tief Luft holt, dann redet sie gleich wie ein Wasserfall,und es ist toll, ihr zuzuhören. So hopst sie - inzwischen ein kleines Schwergewicht – ihr nicht wie früher auf den Schoß , sondern auf ihren Stuhl, in den Fäustchen die Zeitung, den Blick nicht vom Bild wendend und hört, wie ich beginne…
Ich erzähle ihr von einem fernen Land, in dem die Menschen mit der schwarzen Haut leben und oft sehr arm sind. Ich erzähle, um es ihr begreifbarer zu machen, von einem Dorf in Afrika, wo die Sonne das Gras und die Felder verbrennt, wo es oft kein Wasser gibt, um sich und die Natur erfrischen zu können.
„Und wenn es regnet…?“
„Der Himmel über Afrika, mein kleiner Mausespeck, ist ein heiß glühender Himmel ohne Wolken, aus denen erfrischender Regen strömen könnte. Dort regnet es lange Zeit keinen einzigen kleinen Wassertropfen.
„Wie lange denn, Safta?“
Ich suche, es ihr kindgerecht nahe zu bringen.
„Oft so lange - wie von Weihnachten bis wieder Weihnachten, ein ganzes Jahr.“
Sösi schnauft und überlegt.“Dann vertrocknet alles. Auch das Gras? Und die Bäume?
„So ist es , meine Kleine, Gras und Bäume, damit auch Früchte und wachsende Lebensmittel. Es kann nichts geerntet werden, und wo es keine Ernte gibt, herrscht der Hunger. Nun sterben auch die Tiere, und die Menschen haben überhaupt nichts mehr. Es kann auch die liebevollste Mama ihrem Kindchen nichts zu trinken, nichts zu essen geben, es muss verhungern… und es stirbt.“
Sösi klimpert mit den Lidern und haucht: „Dann sind die schwarzen Mamas bestimmt sehr traurig.“
„Das sind sie, Sösi. So traurig und selbst so verhungert, dass auch sie sterben.“
Sösi regt sich schrecklich auf. Ein Tränchen fließt. Sie fasst nach meiner Hand.
„Aber, Safta, - warum geben wir ihnen denn nicht was von uns ab? Wir haben doch genug zu essen. Manchmal schmeißen wir auch was weg, weil es uns gar nicht schmeckt. Man muss doch jemand helfen, dem es so schlecht geht. Du hast ihnen doch bestimmt schon was gegeben?“
Mir wird heiß und kalt. Mit einer so direkten Frage habe ich nicht gerechnet. Aber ich will nicht schwindeln. Sösi soll wissen, dass, wenn ihre Safta etwas sagt, das auch wahr ist.
„Nein, Sösi, hab ich nicht, noch nicht.“
Die glatte weiße Stirn meines geliebten Urenkelchens kraust sich, wird faltig – aber nicht aus Altersgründen, sondern im Akt intensiver Überlegung. Das rote Haar fliegt im ausgeatmeten Pustewind aus dem Gesicht, mein Hexlein glüht mich an mit schillernden Katzenaugen.
“Safta“ schreit es schrill, mit mich bis ins Innere durchdringendem Stimmlein. „Ich weiß, was du mir zum Geburtstag schenken kannst. Ich will, dass dieses Kindchen nicht verhungert und seine Mama nicht stirbt. Tu was dafür, - versprich es, los, versprich es mir ganz fest. Du weißt ja, wie man das macht.“
Ich weiß, natürlich weiß ich. Wir haben so unsere, ganz eigenen Abmachungen, für verschiedene Dinge, und ich atme tief auf. Ich sage:“Versprochen, Sösi, ganz großes Indianerehrenwort.“
Mein Hexlein schmiegt sich an mich, aber ich fühle mich von einem Engelchen berührt. Ich küsse die Pfirsichbäckchen meiner Kleinen.
So einfach ist es, sich ein Glücksgefühl zu verschaffen, das so stark ist, dass es einem Tränen in die Augen treibt.
Wer würde sich von einem solchen Geburtstagswunsch nicht berührt und selbst reich dadurch beschenkt fühlen?
Das Cover wurde von Walter Podschwadek für die Nr. 27
der Reihe: LITERATUR ZUM ANGEWÖHNEN zur Verfügung gestellt.
MUTTER, SAG MIR...
(erschienen im M.u.N.Boesche Verlag)
Nachdruck nicht gestattet
Tag der Veröffentlichung: 17.08.2011
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