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INHALT:


1.
STACHELDRAHT IM AMSELTAL Seite 7

2.
DER SCHÜTZE Seite 15

3.
EIN GANZ BESONDERER FREUND Seite 31


1.

STACHELDRAHT IM AMSELTAL



Als eines Tages ein Besucher das Gartentor offenließ, entwischte der kleine Junge. Auf seinen kurzen, dicken Beinchen marschierte er auf die Straße, und dort begegnete er dem fremden, grauen, verwahrlosten Hund.
Seine Mutter vermisste ihn bald auf dem gewohnten Spielplatz. Sie begann zu suchen, entdeckte die offene Gartentür und eilte voller Schrecken ebenfalls auf die Straße. Was sie erblickte, brachte sie einer Ohnmacht nahe.
Sie sah ihren kleinen, sorgsam behüteten Jungen in den Tatzen eines riesigen, hässlichen Hundes. Aber ehe sie sich aufraffen konnte, dem Untier ihr Baby abzujagen, drang ein erstickter Freudenjuchzer an ihr Ohr, dem in immer schnellerer Reihenfolge Quietscher hellster Begeisterung nachfolgten. Der kleine Junge strampelte im Straßenschmutz – seiner Mutter zum Entsetzen - und die Schnauze des großen Hundes kugelte ihn sanft hin und her, so, als wüsste das Tier genau, dass es sich um einen leicht verletzlichen Gegenstand handelte.
„Lass ihn nur“, sagte der vom Schrei seiner Frau angelockte Vater. „Unserem Kleinen hat immer ein Spielkamerad gefehlt!“
Er war selbst auf dem Land groß geworden und konnte sich nie recht an das Stadtleben gewöhnen. Deshalb war er auch dem Lärm und der Betriebsamkeit entflohen, indem er sich an Berlins Peripherie ein Häuschen baute. Hier sollte sein Sohn aufwachsen, hier konnte er mit den Amseln um die Wette herumhüpfen und singen.
„Wenn er sich nur nicht so entsetzlich beschmutzen würde“, wandte die Mutter ein. Aber ihr ängstlich klopfendes Herz beruhigte sich allmählich. Instinktiv spürte sie, das Tier tat ihrem Kind nichts Böses.
Der Vater lachte.
„Lass uns versuchen, den Hund in den Garten zu locken. Dort könnten die beiden nach Herzenslust auf dem Rasen herumkugeln.“
Das war der Anfang einer großen Freundschaft zwischen Kind und Hund. Allmorgendlich wurde der kleine Junge vom Gekläff seines Freundes geweckt, und er lief selbst hinaus, um ihm das Gartentor zu öffnen. Zum ersten mal in seinem lieblosen Dasein bekam der Hund eine streichelnde, schmeichelnde Hand zu spüren, wurde er gesättigt, und das dankte er mit Treue und Anhänglichkeit.
Eines Morgens jedoch stand die Sonne schon hoch am Himmel, und noch immer ertönte kein Hundegebell vor der Tür. Stattdessen war auf der Straße das Rufen und Schreien befehlsgewohnter Männerstimmen hörbar. Auch wurde gehämmert und mit Drahketten gerasselt.
Die Mutter trat ans Fenster und – schrak zurück.
„Mein Gott, „ried sie, „es seht aus, als würde mitten auf der Straße eine Mauer errichtet, und als würden sie obendrauf Stacheldraht ziehen. Es sieht aus wie eine Barriere, eine Trennwand…“
Es sah nicht nur so aus. Es war wirklich eine Trennwand, eine Mauer, eine Landesgrenze. Männer standen und schichteten Stein auf Stein, während andere sie mit Gewehren zu bewachen schienen. Schließlich stand die Wand, und oben drauf spannte sich der Draht mit Stacheln. Niemand konnte nun wie bisher von Hier nach Dort gehen; jeder musste bleiben, wo er sich befand…
Es war die Grenze, die eine Stadt teilte, die Menschen voneinander trennte. Sie trennte auch Herzen und verhinderte, dass Eltern zu ihren Kindern, Kinder zu ihren Eltern gehen konnten, wenn ihnen danach zumute war.
Auch der Hund konnte fortan nicht mehr den kleinen Jungen besuchen, denn die Leute, denen er gehörte, wohnten auf der anderen Seite der Mauer.
Allmorgendlich wartete der kleine Junge und begriff seinen Freund nicht. Wo war der geblieben? Hatte er ihn denn ganz vergessen?
„Hasso kann nicht zu dir kommen“, sagte die Mutter. „Schau nur, sie haben eine Mauer gebaut, und niemand kann herüberklettern.“
Voll Trauer und Kummer blickte der kleine Junge die glatte, harte Wand an, die mitten auf der Straße stand und den Blick auf das fortlaufende, blühende Land verwehrte. Der Gram ließ ihn krank werden. Fiebernd lag er im Bett und jammerte: „Hasso soll wiederkommen! Bitte, macht doch, dass er zu mir kommt.“
In seinen fiebrigen Träumen spielte er mit dem Hund, wie eh und je, aber wenn er wieder klar denken konnte, wusste er, das irgendwelche bösen Menschen diese schreckliche Mauer aufgerichtet hatten, deren Sinn und Zweck kaum jemand, geschweige denn er, der Kleine, erfassen konnte.
Bis eines Tages von irgendwoher ein dumpfes, heiseres Gebell erklang. Der kleine Junge richete sich im Bett auf und rief: „Hasso ist da. Macht ihm die Tür auf. Schnell!“
Gern wollte die Mutter alles tun, um ihren Liebling glücklich zu sehen. Zwar glaubte sie nicht wirklich, dass das Gebell von Hasso stamme – wie hätte er auch die Mauer überwinden sollen? – dennoch ging sie vor das Haus. Unmittelbar vor sich, auf dem schmalen Grat der Mauer sah sie die zottige, graue Gestalt eines Hundes. Es war wirklich Hasso. Von jenseits war er auf die Mauer gesprungen, getrieben von der Sehnsucht nach seinem kleinen Freund. Am Draht mochte er sich die Pfoten blutig gerissen haben, aber gleich würde er diesseits herunterspringen, und man würde ihn gesund pflegen…
Schon duckte er sich in der Spannung zum Abschnellen, da ertönte ein kurzer, peitschender Knall. Dem Hund schien von hinterrücks etwas einen Schlag versetzt zu haben, dumpf heulte er auf, zusammenzuckend, und plötzlich stürzte er wie ein Stein von der Mauer auf die diesseitige Straße herunter.
„Hasso, mein Hasso“, rief der kleine Junge, der seiner Mutter nachgelaufen war und nun im Hemdchen zu der Stelle stürzte, wo der Hund lag und vergeblich auf die Beine zu kommen suchte. Eine große Blutlache verbreitete sich unter ihm, und mühsam hob er den Kopf, als wolle er die ihn streichelnden Hände lecken.
„Wie bin ich froh, dass du da bist“, sagte der kleine Junge glücklich und zauste das struppige Fell, denn ihm war die Bedeutung des unentwegt rinnenden Blutes noch unbekannt. „Jetzt bleibst du für immer bei mir, ich lasse dich nie mehr weg!“
Der Hund wedelte mit seinem buschigen Schweif, er blaffte leise, dann fiel sein Kopf ruckartig herunter, dem kleinen Jungen in den Schoß.
„Komm zurück!“ schrie die Mutter, die den ersten Schrecken überwunden hatte. Sie riss ihr Söhnchen in die Arme und drückte es gegen die Brust, voller Furcht auf die Mauer starrend, hinter der sich Mörder verbargen, die vielleicht noch öfter schießen würden, nur weil jemand es wagte, von einer zur anderen Straßenseite gelangen zu wollen.
Der kleine Junge sträubte sich gegen die ihn fortziehende Mutter. Er wollte bei seinem Freund bleiben, wollte mit ihm spielen, so wie früher in glücklichen Tagen.
„Mami, ich hab es Hasso versprochen, dass er für immer bei uns bleiben darf. Du erlaubst es doch?“
Die Mutter, sonst nicht sehr weich veranlagt, hatte Tränen in den Augen.
„Ja, natürlich“, sagte sie erstickt, „er bleibt jetzt für immer bei uns. In unserem Garten ist genügend Platz für ihn. Wir werden ihn in die Erde legen, und obendrauf darfst du Blumen pflanzen. Das soll dein eigener kleiner Garten sein, so wie du es dir schon manchmal gewünscht hast.“
Der kleine Junge begriff seine Mutter nicht. Er begriff überhaupt nichts. Weshalb rührte sich Hasso denn nicht? Mußte er gerade jetzt tief und fest schlafen, da sie doch viel lieber um die Wette miteinander hätten laufen sollen, endlich vereint? Und überhaupt, weshalb stand die Mauer da und warf dunkle Schatten, wo früher ohne sie - selbst gegen Abend - helle Sonnenkringel noch Bilder auf die Asphaltierung gemalt hatten?
Die Mauer trennte ihn auch von den Blumen auf der anderen Straßenseite, an die er sich gut erinnern konnte, die er so gern angesehen hatte. Aber alles Helle da drüben, alles Strahlende war untergegangen in Rätseln und einem entsetzenbringenden Schatten, der sogar nach ihm, einem kleinen unwissenden Kind griff.
„Ich will nicht, dass Hasso in der Erde liegt, Mami. Ich möchte viel lieber mit ihm spielen!“
„Hasso wird nie mehr spielen können“, sagte seine Mutter. „Hasso ist tot!“
Es war das erste mal, dass der kleine Junge dieses Wort hörte, und augenblicklich verband es sich für ihn mit ihm Begriff der dunklen, hohen Mauer, mit Blut und einem bewegungslosen Körper. Totsein, das bedeutete Kälte, Starre, Schweigen und Stille. Nun drängte er sich an die Mutter, ein kleiner, lebendiger Körper, zum ersten mal gestreift von der Hand des Unbegreiflichen.
„Vater wird Hasso nachher holen“, sagte seine Mutter. Sie nahm ihn auf den Arm und trug ihn rasch fort in das schützende Haus. Über ihre Schulter hinweg warf der kleine Junge einen langen, letzten Blick auf seinen bewegungslosen Freund. Die Sonne schien, aber er zitterte vor Kälte. Er hatte Angst vor allem, was plötzlich auf ihn eindrang. Er hatte den ersten Schritt aus dem friedlichen Kinderparadies gemacht, und wäre er schon ein wenig klüger gewesen, hätte er sich gewünscht, niemals groß und erwachsen werden zu nüssen, sondern immer ein Kind bleiben zu dürfen, behütet und beschützt zu sein. Aber gleichzeitig würde er auch schon gewußt haben, dass dies einer der unerfüllbaren Wünsche der Menschheit war, und nichts würde ihm übrig bleiben, als zu hoffen, ein guter Mensch zu werden, der niemals Mauern baute, um Sonne, Licht und Leben auszusperren…

Entnommen der Anthologie: MAUERN, Wons-Verlag 1978, herausgegeben von der LITERARISCHEN UNION e.V.



2.
DER SCHÜTZE



Sie hatten die halbe Nacht hindurch gefeiert. Der Junge war mit Orden und Ehrenzeichen behängt worden. Man klopfte ihm auf die Schulter und beglückwünschte ihn, weil es ihm gelungen war, einen Menschen zu erschießen. Im Grunde handelte es sich bei dem Erschossenen nicht ausgesprochen um eine Persönlichkeit an sich, eher um ein Subjekt suspekten Charakters. Der Erschossene war ein Verräter der Sache, der sie sich verschrieben hatten, um einen Ignoranten der neuen Staatsordnung. Dieses Individuum hatte es gewagt, von einem Teil der Stadt in den anderen gelangen zu wollen. Schwimmend durch den Kanal versuchte es, das westliche Ufer drüben zu erreichen, welches zum nunmehr feindlichen Lager gehörte und vor dessen schädlicher Auswirkung man die eigene Bevölkerung zu schützen suchte.
Sie kannten die Person nicht, die sie im grellen Licht der Scheinwerfer ausgemacht und dann aufs Korn genommen hatten. Es war ihnen auch völlig egal, wer da herumschwamm. Für sie handelte es sich ohnehin nur um einen namenloser Verräter, eine alters- und sogar geschlechtslose Person. Für sie zählte der kraftvoll schwimmende Körper in diesem Moment ebenso viel wie eine nur papierene Schießscheibe, kein Jota mehr und keins weniger.
Man hatte sie lange und eisern genug darauf gedrillt, dass es vor allem auf sie ankam, hinter der von ihnen hochgezogenen Mauer ihr Vaterland zu schützen und dass es von jeder Kugel aus ihrem Gewehrlauf abhing, dieses Vaterland stark und kräftig sein und bleiben zu lassen. Jenen, die wie die Hasen auf der Flucht ihrer Heimat den Rücken zu kehren wünschten, blieb als einzige Vergütung der treffende Schuss.
Sie lernten an Tontauben und Schießscheiben, um eines Tages gezielt rennende, verzweifelte, springende, kletternde oder schwimmende Menschen aufs Korn zu nehmen. Sie avancierten zu ihres Volkes hochgelobten jungen Helden, die es bedauerten, wenn ihnen jemand entwischte. Für ihren jeweiligen Grenzmauerabschnitt wünschten sie Ruhm und Ehren einzuheimsen.
Hier nun war es geschafft. Die ganze Kompanie, der der Junge angehörte, strahlte ob ihres tüchtigen Scharfschützen, der aus dem kräftig ausholenden Schwimmer einen leblosen, im Wasser versinkenden Leichnam gemacht hatte.
Nach der Prozession der Ordensverleihung und all der eines solchen Anlasses würdigen Ansprachen, die zum Ausdruck brachten, wie stolz ein Volk auf seine jungen Helden sein durfte, ging es ans Feiern, und die Funktionäre drückten sogar mal beide Augen zu, als plötzlich zwischendurch ein Twist und später ein Madison erklang, zu dem einige sich kurz drehten. Für manche besaß der westliche Stadtteil zwar immer noch eine letzte Spur von heimatlichem Charakter aufgrund familiärer Bindungen, aber wirklichen Sand ließen sie sich von denen da drüben doch nicht wirklich mehr in die Augen streuen. Langsam aber doch sehr sicher wurde in ihrer Gedankenwelt das Drüben der Vorhof zur Hölle, den man zu meiden hatte. Und sie mochten glauben, dass der von ihnen erwischte Kerl im Wasser es besser hatte, von ihnen getroffen worden zu sein, als sich dem Kapitalismus in die Arme zu werfen und sich von Provokateuren ausbeuten zu lassen.
Lieber tot sein im Osten, als im Westen leben zu müssen! lautete die in ihre Köpfe gechipte Parole.
Sie feierten und tanzten. Erst im Morgengrauen war Zapfenstreich, und sie krochen in ihre Kojen. Manche mussten von den Kameraden geführt werden; ihnen war der Ruhm ihres Meisterschützen ebenso zu Kopf gestiegen wie der scheußliche Fusel, der ihnen in Mengen spendiert worden war. Zusammen ergab das einen mordsmäßigen Rausch.
Auch der ausgesprochene „Held des Tages“ lag nun unter seiner wollenen Decke im unteren Bett. Über ihm und im dritten Stockwerk des Bettengebäudes schnarchten und rülpsten die Genossen. Ihn konnte der Schlaf nicht gleich überwältigen. Er war noch jung und idealistisch, und der ganze Rummel, den sie um ihn herum machten, regte ihn auf. Er fühlte sich zwischen Stolz und Verwirrung hin- und hergerissen. Weshalb machten sie eigentlich von einer ganz natürlichen Sache so viel Aufhebens? Im Krieg wurden tausende von Feinden erschossen, ohne dass es an die ganz große Glocke gehängt wurde. Und hier um eines einzigen Toten willen wurde so viel Wind gemacht.
Aber – immerhin! Es war ja kein Krieg, er selber war -so hatte einer der Redner es ausgedrückt – ein Kämpfer des Friedens im Frieden, und um diesen Frieden zu erhalten, musste auch mal geschossen werden.
Ob der eine Tote von gestern nachmittags, derjenige, den er zusammenschoss, wirklich den demokratischen Frieden gestört hätte? Selbst wenn es ihm gelungen wäre, die heilige Staatsgrenze zu überwinden, ihre Republik war doch groß und recht mächtig, ob ein Einzelner ihr wirklich etwas hätte anhaben können, wenn er lebend drüben angekommen wäre? Man konnte die gleiche Frage unter anderen Umständen stellen. Konnte eine ständig nagende kleine Maus ein großes Gebäude zum Einsturz bringen?
Der Junge lächelte ein wenig vor sich hin, ohne es zu realisieren. Er dachte an seinen Vater, und was jener wohl sagen würde, wenn er erfuhr, was sein Sohn geleistet hatte. Schon morgen würden die Zeitungen damit voll sein und „Das neue Deutschland“ wollte sogar sein Bild auf die Schlagseite setzen.
Schade eigentlich, dass der Leichnam des Erschossenen abgetrieben worden war und somit in den Bereich der westlichen Wasserpolizei geriet. Die östlichen Todesschützen hatten mit Feldstechern die Szenerie beobachtet, und diese nahm der Junge in seinen nunmehr einsetzenden Traum mit hinein. Nun erlebte er nochmals die Stunde seines Triumphes.
Er sah die grellen Scheinwerfer, die im sinkenden Abend den Körper im Wasser erfassten und nicht mehr losließen, obwohl der verzweifelte Anstrengungen unternahm, ihnen zu entkommen. Immer wieder tauchte der Flüchtling, aber immer wieder musste er an die Oberfläche kommen. Einen so langen Atem besaß der beste Schwimmer nicht, wie die Leute oben an den Scheinwerfern sich Zeit lassen konnten. Sie warteten ja nur auf diese naturbedingten Gegebenheiten. Der Lichtkegel suchte und fand erneut, obwohl der Schwimmer unter Wasser ein gutes Stück hinter sich gebracht hatte. Letztendlich nützte es ihm doch gar nichts.
„Feuer, Jungs, gebt es ihm!“ sagte der Unterleutnant. Er hielt sein Gewehr auch im Anschlag, aber selbst schoss er nicht. Er wollte wahrscheinlich seinen Jungs die Möglichkeit bieten, sich zu bewähren, zu zeigen, was sie drauf hatten. Einen anderen Grund für seine Passivität hätte der Junge nicht zu sagen gewusst. Er hielt sein Gewehr im Anschlag und nickte. Der Unterleutnant konnte sich auf ihn verlassen, auf ihn, den Jungen, der heißen Herzens sein Vaterland schützte.
Sein Vater hatte es nicht sonderlich begrüßt, als sein Einziger zur Volkspolizei ging. Aber nun konnte er stolz sein. Eigentlich war sein Vater ein wenig sonderbar, er war mit vielem nicht einverstanden, und manchmal sagte er das sogar. Das lag wahrscheinlich an seinem doch schon etwas älteren Lebenssemester. Er musste gut aufpassen, zu wem er was sagte. Er war nicht überall gut angeschrieben. Aber das würde sich jetzt ändern. Dem Vater eines jungen Helden würde jedermann verständnis- und achtungsvoll entgegenkommen.
Der Junge hing sehr an seinem Vater. Er liebte ihn, und es machte ihn glücklich, seinem Vater Ehre machen zu können.
Er träumte immer noch. Im Wasser sah er die Gestalt treiben. Aber sie bewegte sich nicht mehr. Der Schuss aus seinem Maschinengewehr hatte ausgezeichnet gesessen, haargenau in den Kopf. Ja, er war ein guter Scharfschütze, der Kleine.
Der Unterleutnant spitzte anerkennend die Lippen.
„Donnerwetter, hast du tatsächlich getroffen!?“
Ein bisschen des soeben noch gehegten Zweifels schwang darin und so etwas wie leichte Betroffenheit, weil er damit ja eigentlich zugab, es ihm letztendlich doch nicht zugetraut zu haben. Der Junge errötete vor Stolz. Nun würde der vorgesetzte Offizier ihn gewiss loben. Doch dieser wandte sich schweigend ab und ging davon, mehr oder weniger wortkarg wie immer. Eigentlich war dem Geschehen ja auch nichts mehr hinzuzufügen. Die Aktion war abgeschlossen, alles war besorgt, was besorgt werden musste.
Die westliche Wasserpolizei hatte ein Schlauchboot zu Wasser gelassen und wartete, dass der treibende Körper über die markierte Grenzlinie in den Bereich ihrer ausgestreckten Arme geriet. Als sie ihn hatten, kippte der Körper schlaff ins Boot. Das bewies seinen Tod.
Der träumende Junge atmete schwer. Irgendein schweres Gewicht lastete auf seiner Brust. Es war der Tote aus dem Kanal. Ein Gesicht besaß er nicht. Da – wo sonst jeder Mensch Mund, Nase und Augen zu sitzen hatte, war hier Dunkelheit und völlige Anonymität.
Von irgendwoher hallte die Stimme des Unterleutnants: „Armer Junge, und das wirst du nun dein Leben lang mit dir herumschleppen!“
Weshalb nannte er ihn einen armen Jungen? Er war doch ein Held!
„Ich bin stolz!“ sagte der Junge im Traum, „stolz, dass ich so gut getroffen habe!“
„Stolz!“ wiederholte der Unterleutnant und wies auf das Gespenst, das dem Jungen auf der Brust hockte. „Sieh ihn dir an, sieh sein Gesicht…!“
„Er hat keins!“ wollte der Junge murmeln, aber als er die Augen hob – immer im Traum – sah er, dass nun plötzlich doch ein Gesicht da war. Es hob sich aus dem Schatten. Schrecklich war es, mit anzusehen, wie ein Teil nach dem anderen sich aus dem Nichts schälte und Form wurde. Es waren seines Vaters Augen, seines Vaters Nase und seines Vaters Mund, der früher einmal viel gelacht hatte, der sprach und die Mutter küsste, als sie noch lebte.
Der Junge keuchte. Er selber hatte noch keine Gelegenheit gehabt, ein Mädchen zu küssen. Er musste schießen lernen, da blieb für andere unnütze Dinge keine Zeit übrig. Und nun – nun hatte er mit einem einzigen Schuss das sorgsam angepeilte Ziel getroffen. Das Ziel war sein Vater, dem die Häscher auf den Hacken waren, der sein Heil in der Flucht suchte und der in den Kanal sprang, bis sein Sohn, sein eigener Sohn - ihn - erschoss…
„Nein“, keuchte der Junge, „nein, das kann nicht wahr sein. Du bist nicht tot, Vater, ich – ich hab dich nicht erschossen. Ich liebe dich doch, wie hätte ich dich töten können?“
„Aber du tatest es, und nun bist du ein Held!“ sagte der Unterleutnant, der seine Sprache wiedergefunden zu haben schien. Er lachte, er lachte so schrill, dass der Junge aus tiefem Schlaf hochschrak und verwirrt um sich blickte. Er war schweißgebadet, in der Kehle steckte ihm noch der sich Bahn brechen wollende Aufschrei. Wo war er? Es dauerte einen Moment, bis er richtig zu sich kam. Gott sei Dank, er hatte nur geträumt.
Nur? Der Traum war schrecklich genug gewesen. Noch erfüllte er ihn mit Angst und Entsetzen bis in die Zehenspitzen hinein.
Um seine schnarchenden Kameraden nicht zu wecken, erhob er sich sehr leise, aber selbst die Tatsache, dass er seine Notdurft verrichtete, vermochte ihn nicht zu erleichtern. Der Druck saß anderswo, höher, viel höher, eher in der Herzgegend.
Immerzu musste er an seinen Vater denken und an den unbekannten Fremden im Kanal, dem er das Gesicht weggeschossen hatte, der von ihm getötet worden war, ermordet nicht nur mit Erlaubnis seiner Nation, sondern sogar durch ihren Auftrag. Zum ersten mal in diesem Zusammenhang fiel ihm zu seiner Tat der Begriff Mord ein. Ein Schauder überlief seinen Körper.
Wenn es sich bei dem Traum nun um eine Art von Vorausschau handelte? Wenn es wirklich sein Vater gewesen war, den er tötete? Das Herz schlug ihm bis in den Hals hinein.
Leise schlich er in den angrenzenden Gemeinschaftsraum. Er wusste, wenn man ihn jetzt und hier und bei welchem Tun erwischte, würde es ihm schlecht ergehen. Doch darüber nachzudenken, verbot er sich. Er wollte versuchen, sich Gewissheit zu verschaffen, damit er seine Ruhe zurück erhielt.
´Mein Gott, Vater,` dachte er, `wenn du es - gewesen bist…?´
Er schaltete das Radio ein und drehte an den Knöpfen, um den verbotenen Westsender herein zu bekommen. Es klang eine ihm bekannte Sinfonie auf, und die Musik schien ein böses Omen zu sein. Sein Vater hatte sie früher oft auf der Geige gespielt, in einer anderen, besseren Zeit.
Der Junge holte mühsam Luft. Er wusste, gleich war das Opus beendet, danach brachte man Nachrichten. Wirklich gelang es ihm, etwas über die Geschehnisse am Kanal zu erfahren.
„Die Westberliner Polizei konnte die Personalien des vor vierundzwanzig Stunden von östlichen Grenzpolizisten erschossenen Flüchtlings feststellen. Es handelt sich um einen gewissen…!“
Dem Jungen brauste es in den Ohren. Er kroch fast in den Apparat hinein, um den Namen zu hören. Einen – ihm - fremden Namen. Der Kopf des Jungen fiel kraftlos nach vorn, schlug gegen die Tasten des Rundfunkgerätes, es mitten im Ton abschaltend. Dennoch schien echogleich der Name in der Luft zu hängen, ein ihm unbekannter Name. Der Tote im Kanal war nicht sein Vater.
Der Junge weinte, so erleichtert fühlte er sich. Aber dann fiel ihm ein, dass er damit nur einem kleinen Teil seiner Not entkam. Jeden Tag neu konnte er sich in der Situation finden, jemand morden zu müssen, jemand, der nur von einem Stadtteil in den anderen zu gelangen wünschte. Auch wenn es sich nicht um seinen eigenen Vater gehandelt hatte, so mochte der für alle Zeit ihm gesichtslos bleibende Fremde Kinder haben, Eltern, die in diesem Augenblick um ihn weinten, Menschen, die ihn liebten, denen er verloren gegangen war - durch seine - exakt abgefeuerte Kugel.
Es durchfuhr den Jungen wie ein Blitz, dass er nicht ein Irgendetwas erschossen hatte, sondern einen Menschen, der ebenso gelebt hatte, wie er selber lebte, der gefühlt hatte, auch so wie er, der Todesschütze: das Dasein, das volle Leben, der nur gerne glücklich hatte sein wollen.
Wieso wurde man zum Verbrecher gestempelt, nur, weil man woanders leben wollte, als diesseits der Grenze? Selbst wenn es drüben so chaotisch zuging, wie man ihnen erzählte, es war doch Sache eines jeden Einzelnen, für sich die Entscheidung zu treffen, im Osten oder im Westen, im Süden oder Norden, ob in der Ordnung oder lieber in einem Chaos leben zu wollen.
Ihm schien, als höre er die heisere Stimme des Unterleutnants : „Gebt Feuer, Jungs!“ Aber er selber schoss nicht, und der Junge wusste plötzlich, dass jener nicht zum Mörder hatte werden wollen, nur weil er zufällig in dieser Uniform steckte.
„Mein Gott,“ murmelte der Junge, der nicht konfirmiert worden war und so gut wie nichts von Gott wusste. „Lieber Gott, hilf mir!“
Ihm blieb selbst unklar, weshalb und wofür er Gottes Hilfe anrief. Vielleicht, um sich innerhalb seiner eigenen zerschmetterten Ideale zu behaupten oder weil er wusste, dass er ein Mörder war, der nun gestraft wurde, den Schatten des hinterrücks Gemeuchelten ewig auf seinen Schultern zu tragen
Er presste die Hände vor die Augen und dachte: ´Nie mehr, - nie mehr werde ich zielen, um zu treffen!`
Jedes mal konnte es sein Vater sein, den er tötete, jedes mal der Vater eines anderen, jedes mal aber immer ein – Mensch.
Deshalb beschloss er, dass seine Kugel keinen Menschen mehr töten solle.
Das würde ihm gelingen; wozu war er ein brillanter Scharfschütze, der das Ziel seiner Kugel so exakt anzuvisieren verstand, dass er haargenau daneben zu treffen vermochte.
Bln. 25.August 1963

Für die DDR-Grenzsoldaten galt in Fällen des „ungesetzlichen Grenzübertritts“ der Schießbefehl. Bei den Versuchen, die 167,8 Kilometer langen und schwer bewachten Grenzanlagen in Richtung West-Berlin zu überwinden, wurden nach derzeitigem Forschungsstand (2009) zwischen 136 und 245 Menschen getötet. Die genaue Zahl der Todesopfer an der Berliner Mauer ist nicht bekannt
(Wikipedia-Information)


3.
EIN GANZ BESONDERER FREUND



Wäre der Hass nicht gewesen und das Gefühl, einmal Rache nehmen zu müssen an dem Schurken, der ihn hier hereingebracht hatte - für acht lange Jahre – niemals wohl hätte Mathias Kampendonck den Tag seiner Freilassung erlebt. Man hatte endlich seinem Gnadengesuch stattgegeben, vom Anwalt an die Staatsanwaltschaft gerichtet. Drei der gleichen Art, früher eingereicht, waren abschlägig beschieden worden. Mehr als ein Jahr wollte man Kampendonck nicht schenken. Immerhin war er Westberliner. Er würde über die Grenze abgeschoben werden müssen und hatte somit auch nicht die Möglichkeit, sich zu bewähren, wie es in der Fachsprache genannt wird.
Neun Jahre insgesamt, so lautete das Urteil, nun kam er nach acht Jahren wieder hinaus.
Man brachte ihn zu einem der Grenzkontrollpunkte, die man, kleine und nur für Sonderfälle bestimmte Löcher in der Mauer, eingerichtet hatte.
Mathias Kampendonck passierte legal die Grenze. Er war wieder in West-Berlin. Er besaß kein Geld der hier gültigen Währung, und er hatte Hemmungen, sich zu erkundigen, ob man sein im Zuchthaus „verdientes“ Ostgeld in Zahlung nähme, um ihm den Kauf einer Bus-Fahrkarte zu ermöglichen.
Mathias Kampendonck lief also; er gebrauchte seine Beine und marschierte stundenlang durch Straßen mit verlockend ausgelegten Schaufenstern. Sein Magen knurrte. Die Tageszeir, in der er sonst im Zuchthaus sein karges, oft ungenießbares Essen bekommen hatte, war längst vorbei.
Mathias Kampendonck lief immer noch. Wenn man ihn gefragt hätte, was eigentlich sein Ziel sei, so würde er nur ausweichend geantwortet haben. Aber vielleicht wusste er selber, so lange seine Beine ihn trugen, gar nicht, wohin sie ihn bringen würden. Erst in dem Moment, als er vor dem Haus stand, das – ihm gehörte, ihm, dem Mann, der schuldig war an seinen verlorenen acht Lebensjahren, der – um die eigene Haut zu retten, einen anderen der Sabotage bezichtigte, erst da ging es Mathias Kampendonck auf, dass er in all diesen letzten Jahren immer nur an dieses eine Ziel gedacht hatte.
Er stand vor dem hübschen, villenähnlichen Haus und genoss das Gefühl, gleich dem Kerl gegenüber zu stehen, dem er all seine Pein, seine Qual und die Folterungen des SSD verdankte.
„Guten Tag, mein Lieber“, würde er sagen, ganz ruhig und lässig. „Kennen Sie mich noch?“
Mathias Kampendonck hoffte, wenigstens noch der Schatten seines früheren Ich zu sein, damit Friebe ihn erkannte. Dieser Max Friebe, dieser Schurke, der feige und hinterhältig war. Max Friebe, der so viel Dreck am Stecken hatte und doch einen anderen, einen völlig Unschuldigen mit in seine dunklen, schmutzigen Machenschaften hineingerissen und ihn geopfert hatte.
Stundenlang hatte man ihn verhört. Stundenlang? Gott im Himmel, das wäre ja noch gnädig gewesen gegen das reale Tagelang - Wochenlang – Ununterbrochene. Es gab da so kleine Kniffe, so nette Hilfsmittelchen, die auch einen halb Bewusstlosen wieder fit zu machen imstande waren, damit er wieder reden, endlich gestehen konnte.
Aber was – wenn es doch gar nichts zu gestehen gab?
„Ich bin unschuldig. Ich bin nicht der, für den Sie mich halten.“ Wie oft mochten die dicken, steinernen Wände solche verzweifelten Schreie schon gehört haben? Und wie oft die Antwort darauf vernommen: „Warte, du verstocktes Bürschlein, du wirst noch dazu von uns gebracht werden, alles zu gestehen. Irgendwann bist du so weit!“
„Uneinsichtig und verstockt!“ waren die Schlagworte von Staatsanwältin und Richterin. Frauen hatten ihn angeklagt, Frauen hatten ihn verurteilt. Sollten Frauen nicht mütterlich und einfühlsam sein? Mit kalten Augen, mit harten Worten ließen sie es nicht nur zu, sie waren sogar die Ursache der wilden Verzweiflung eines schuldlosen Mannes, der schließlich für neun Jahre ins Zuchthaus gesteckt wurde.
Wie gut, dass es den Hass gab. Hass stärkt, Hass gibt Kraft. Liebe kann erkalten, Hass bleibt. Hass ist das einzige Gefühl, Zeiträume einigermaßen unbeschadet zu überwinden.
Acht lange Jahre träumte Kampendonck Tag und Nacht von dem Augenblick, in dem er Max Friebe gegenüberstehen würde. Und nun – in wenigen Minuten – nun würde es soweit sein. Zur Beruhigung hätte er gerne eine Zigarette geraucht. Aber er besaß keine.
„Ich bin gekommen, Friebe, um – abzurechnen, mit Ihnen!“
Kampendonck atmete tief, ganz tief, um einigermaßen ruhig zu bleiben. Es gingen Leute vorbei, die den abgerissen wirkenden Mann misstrauisch und neugierig von der Seite betrachteten. Was tat der hier? Baldowerte er die Gelegenheit zu irgendeiner Straftat aus?
Kampendonck drehte sich weg, ihm war es egal, was man von ihm dachte, wofür man ihn hielt. Nun war es an der Zeit, den Klingelknopf unterhalb des Namensschildes zu drücken. Auch eine Sprechanlage gab es, in die hinein man nach Aufforderung seinen Namen nannte, damit einem das Gartentor geöffnet wurde.
Wenn er sich vorstellte: „Hier ist Kampendonck, Mathias Kampendonck!“ ob man ihn dann wohl hinein ließ?
Noch stand er, ein bisschen unschlüssig und voller Bangnis, wie sich der Fortgang der Aktion wohl entwickeln würde. Da kam ein junges Mädchen die Straße entlang und blieb direkt neben Kampendonck stehen. Es zog ein Schlüsselbund aus der Manteltasche und bewies damit, hierher zu gehören.
Kampendonck war unwillkürlich einen Schritt zur Seite gewichen. Ehe er sich entschließen konnte, ob er etwas sage sollte und was, kam die junge Frau ihm zuvor. „Wo wollen Sie hin? Wollen Sie zu uns?“
Die Würfel waren gefallen. Er sagte: „Ich möchte Max Friebe besuchen. Der wohnt doch hier – oder…?“
„Ja, er ist mein Vater!“ sagte sie und fragte: „ Und wer sind Sie?“
Es war eine ganz normal gestellte Frage, aber Kampendonck hörte mehr heraus. .Friebe hatte sich in seinem Bau verkrochen, hinter fest verschlossenen Türen. Der ließ so leicht niemand und schon gar nicht irgendjemand Suspektes herein. Friebe würde eher von Angst und schlechtem Gewissen geplagt sein. Unangemeldet kam ihm niemand vor die Augen.
Kampendonck räusperte sich. Er murmelte: „Ich bin ein Freund, ein Freund von Max Friebe.“ Fast glatt kam es ihm über die Lippen und war doch die größte Lüge.
Das Mädchen sah ihn mit großen, sonderbar traurigen Augen an. „Oh, ein Freund meines Vaters?! Dann kommen Sie herein. Er – wird sich gewiss freuen, mal einen Freund zu sehen. Er – hat nicht sehr viele, die er so nennt.“ Es freute ihn, dass sie so arglos war. Vielleicht lag es an ihrer Jugend, an einer Naivität, die noch von keiner allzu großen Menschenkenntnis getrübt war. Max Friebes Tochter. Über eine Familie, die zu Friebe gehören könnte, hatte er nie nachgedacht. Wozu auch, die ging ihn gar nichts an.
Der Kies unter ihrer beider Sohlen knirschte, als sie den Weg zum Haus einschlugen. Sie traten in den Eingang. Von irgend woher rief eine Stimme: „Monika, bist du zurück? Komm schnell, beeile dich!“
„Ja, Mama“ sagte Monika neben Kampendonck, „Ich komme ja schon!“ Und zum Besucher gewandt: „Wir müssen uns beeilen!“
Sie durchschritten eine Diele, deren Weitläufigkeit und Harmonie Kampendoncks schönheitsdurstiges Auge unter anderen Umständen entzückt hätte, in diesem Moment jedoch nur Bitterkeit entfachte. So also hatte Friebe gelebt und in diesem Luxus gewohnt, all die Zeit über, während er selbst hinter Gittern saß. Ob Friebe jemals an ihn – Kampendonck – auch nur mit einem Gedanken gedacht hatte?
Wohl kaum. Es stieg etwas in Kampendonck auf, das noch vor etlichen Minuten nicht wirklich greifbar da gewesen war. Gehasst hatte er Friebe, heimzahlen wollte er es ihm. Aber um das Wie hatte er sich keinerlei Gedanken gemacht. Jetzt schlossen sich seine Finger um das kleine Taschenmesser in der Manteltasche, das ihm bei der Haftentlassung mit seinen übrigen Sachen ausgehändigt worden war. Damals hatte man es ihm bei der Inhaftierung abgenommen. Jetzt gehörte es wieder ihm. Vielleicht dauerte es gar nicht mehr so lange, und er würde es benutzen. Zu einem guten Zweck!
Kampendonck atmete schwer. Es überkam ihn so etwas wie ein Rausch, ein Blut- und Mordrausch. Sich endlich rächen zu können, das würde eine feine Sache sein. Das Schwein ebenso leiden lassen, wie er gelitten hatte, während ihn die SSD-Schergen zusammenschlugen und der andere in sein tolles Heim zurückkehrte, um es sich gut gehen zu lassen.
Gleich würde er Friebe gegenüberstehen, gleich! Unter irgendeinem Vorwand – Bitte um ein Glas Wasser vielleicht! – würde er das Mädel fortschicken. Es war ja nicht unbedingt notwendig, sie zusehen zu lassen, wie ihr Vater seine gerechte Strafe bekam.
Der Raum, in den sie nun traten und dessen Tür Monika leise ins Schloss drückte, war dämmerig. Dennoch sah Kampendonck eine Frau auf dem Stuhl neben einem Bett. Und auf dem Bett lag ein stöhnender Mensch, der leise lallende Worte ausstieß.
„Wie gut, Monika, dass du den Doktor gleich mitgebracht hast“, sagte die Frau, kaum aufblickend. „Es geht Vater sehr schlecht. Er phantasiert!“
„Der Doktor war nicht da, Mama. Ich habe gebeten, man möge ihn verständigen,- dieses hier ist Herr…, ich weiß nicht seinen Namen, aber er sagte, er wäre ein Freund Papas.“
Die Frau drehte Kampendonck ihr tränenüberströmtes Gesicht entgegen. „Ein Freund von Max, wie schön, dass Sie gekommen sind. Sehen Sie nur, wie er leidet. Max, Max, sieh nur, ein Freund von dir, ist das nicht schön…?“
Der Kranke auf dem Bett stöhnte und bäumte sich auf.“ Lass mich, ich habe noch etwas zu erledigen, etwas sehr Wichtiges…“
Er suchte, aus dem Bett zu steigen. Die Frau schrie: „Das hat doch immer noch Zeit, Max, - du musst liegen bleiben. Mein Herr, mein Herr…“ sie wandte sich an Kampendonck, „helfen Sie mir, ihn zu beruhigen. Ich schaffe es nicht, ihn zu halten…“
Sekundenlang starrte Kampendonck auf den Mann, den er Sekunden vorher vorgehabt hatte, zu töten. Nun bewegte er sich wie in Trance, packte Max Friebe an die Schultern und drängte ihn in die Kissen zurück, wo dieser erschöpft die Augen schloss und vor sich hin keuchte.
Monika strich dem Kranken über die Wangen und flüsterte Kampendonck zu: „Es scheint ihn etwas zu quälen. Immerzu redet er von einer Schuld, die er auf sich lud, - vor vielen Jahren. Er behauptet, ein Schuft gewesen zu sein, und dass er etwas gut zu machen habe. Mein Himmel, Papa – und ein Schuft. Er war immer der beste und liebste Vater dieser Welt. Sie, als sein Freund, werden mir doch bestimmt zustimmen.“
Kampendonck öffnete den Mund. Er wollte lachen, laut und schallend lachen. Er wollte sagen, dass er sehr gut eine Aufklärung vornehmen könnte. Vor Jahren war Friebe an ihm zum Schurken geworden und nun sei er hier, um Vergeltung zu üben.
Aber dann schloss er den Mund wieder. Er sah das Mädchen weinen, das um seinen geliebten Vater Tränen vergoss, er sah die verhärmte Frau, deren Hände die Finger des offensichtlich Sterbenden umklammerte.
Im Krieg hatte Kampendonck als Sani im Lazarett gearbeitet und sah viele Menschen sterben. Er hatte einen Blick dafür, wenn sich der letzte Schatten über das Leben senkte, um es auszulöschen.
Unwillkürlich steckte er die Hand in die Manteltasche und stieß dabei auf das kalte, glatte Messer. Als hätte er sich selber einen Schnitt versetzt, so rasch zog er die leeren Finger wieder heraus..
Er stand neben dem Bett und sah dem Sterbenden in das Gesicht. Als hätte dieser den Blick gespürt, öffnete er die Augen und starrte Kampendonck an.
„Bist du tot?“ ächzte er. „Kommst du, mich holen? Bitte, bitte, mach es gnädig, ich kenne meine Schuld…Es tut mir so leid…!““
„Vater“, sagte Monika, „schau, dein Freund, - er ist gekommen, um nach dir zu sehen.“
Aber Friebe hörte sie nicht mehr. Er keuchte, fiel zurück, dann war es aus und zu Ende mit ihm. Sie alle standen sekundenlang wie erstarrt. Kampendonck lauschte in sich hinein. War es Genugtuung, die sich in ihm ausbreitete, jetzt, da Friebe tot war? Nein, es war so etwas wie Leere, die ihn mit ihrer ganzen Gegensätzlichkeit erfüllte. Wo war der Hass? Wo war er geblieben? Aufgelöst schien er, wie Rauch in vibrierender Luft.
Max Friebe war tot. Er war gestorben und hatte Kampendoncks Hass mit sich genommen. Er war fort. Es würde nie mehr möglich sein, ihn anzufachen, ihn wieder aufleben zu lassen.
Kampendonck stand, mit leerem abwesendem Gesicht. Er fühlte sich verwirrt und gleichzeitig plötzlich sehr dankbar, weil es ihm erspart geblieben war, zu einem Mörder zu werden. Hatte er wirklich geglaubt, damit die letzten acht Jahre auslöschen zu können? Im Gegenteil, er wäre erneut hinter Gitter gekommen, diesmal wahrscheinlich für immer. Ein Mord wäre kaum ein guter Start für die Zukunft gewesen.
Wann hatte Kampendonck das letztemal an Gott gedacht? Acht Jahre lang hatte er ihn verflucht, in diesem Moment falteten sich seine Hände zum Dankgebet.: „Gott im Himmel, Dank dir, dass er gestorben ist – ohne mein Dazutun.“
Irgendwo schrillte eine Klingel durch das Haus. „Das wird der Arzt sein,“ sagte das Mädchen Monika. „Aber er ist zu spät gekommen!“
Sie ging an Kampendonck vorbei, sich plötzlich seiner Gegenwart erinnernd.
„Ich möchte gehen“, sagte er. Wieder durchschritten sie das Haus, aber es machte Kampendonck nun nichts aus, die Pracht zu sehen. Friebe hatte nichts mehr davon, er war tot, während er – Kampendonck - lebte, und er würde es schaffen, wieder auf die Beine zu kommen. Fast empfand er so etwas wie Mitgefühl für den toten Friebe. Was für eine erstaunliche Wandlung in ihm stattgefunden hatte.
„Wenn Papa Sie doch noch hätte erkennen können“, sagte Monika leise. Und es klang, als wolle sie ihn trösten.
Kampendonck antwortete darauf nicht. Hatte Friebe ihn vielleicht doch erkannt? Aber weshalb den Hinterbliebenen nun das Herz noch schwerer machen?
Die Haustür öffnete sich, er ging an einem ernst blickenden Mann vorbei, der ihm hinterher sah „War schon ein Kollege beim Patienten?“
„Es war nur ein Freund meines Vaters“ erwiderte Monika, „ Es muss wohl ein ganz besonderer Freund sein, denn er kam genau zur rechten Zeit, als hätte er geahnt, dass sie voneinander Abschied zu nehmen hätten.“
Kampendonck hörte ihre helle, zitternde Stimme hinter sich verklingen. Er ging die Straße zurück, die er erst vor kurzem heraufgekommen war. Wie anders fühlte er sich jetzt. Er ging und ging, fühlte sich leicht und frei. So leicht und frei, wie er sich nicht erinnern konnte, überhaupt schon einmal gefühlt zu haben.
Er hätte, ja, wirklich, er hätte am liebsten vor sich hin gepfiffen, So erleichtert war er. Max Friebe war tot, doch das war nicht einmal die Hauptsache. Sehr viel wichtiger schien es zu sein, dass Kampendoncks Hass auch tot war und er nun in sich genügend Platz fühlte, neue Gefühle, positive, gesunde, schöne Gefühle zu speichern.
„Danke!“ sagte er laut. Dabei wusste er nicht einmal ganz sicher, wofür genau er dankte, denn alles, aber auch wirklich alles, was er sah, was sich um ihn herum bewegte, erschien ihm schön und absolut wert, dieses neue wunderbare Gefühl des Lebens entwickeln zu dürfen.


Veröffentlicht am 13.8.1962 in: Deutsche Illustrierte Nr. 33 / 1962


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Tag der Veröffentlichung: 17.07.2011

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