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Den Schuldschein, lieber Gott, lass mich den Schuldschein finden. Er steckte doch immer in einem roten Umschlag mit der gedruckten Aufschrift: Rechnung. Nelson war bekannt ob seines besonders ausgeprägten Sinns für makabre Späßchen. Wer bei ihm Schulden hatte, musste eines Tages die Rechnung bezahlen.
Oft genug hatte ich ihn diesen Umschlag in der Hand wiegend gesehen, während er feixte: „Ein Jahr ist keine Ewigkeit, und dann heißt es – mit Zins und Zinseszins zurückzahlen!“
Recht behalten hatte er. Das Jahr ist unglaublich schnell vorbeigegangen. Der Schuldschein ist fällig.
Aber ich finde ihn nicht. Wo ist nur das kleine Stück Papier, mit dem Nelson einen Menschen vernichten kann? Er ist ja längst nicht die Humanität in Person, als die er sich so gerne ausgibt. Nelson ist hart und unbarmherzig. Was ihm unbequem ist, wird vernichtet. Das weiß auch ich. Alle meine Bekannten wissen es. Sie kennen die Geschichte mit Hilka, seiner langjährigen Freundin, die ihn liebte.
Plötzlich war sie aus dem Gesichtskreis seiner Freunde verschwunden, und mancher fragte anfangs noch: „Wo steckt Hilka eigentlich?“
Aber über dieses Thema schwieg sich Nelson hartnäckig aus. Er wollte nicht mehr über die Frau reden, die es wagte, von ihm ein Kind zu bekommen und die ihn darüber hinaus bat, sie nun endlich zu heiraten. Ihre Forderung erboste ihn. Was glaubte sie, wer sie war, dass sie sich an ihn hängen wollte? Er war fertig mit ihr. Ob er eigentlich gehört hatte, dass das Kind gleich nach der Geburt starb und dass Hilka nun genügend Zeit und Muße blieb, sich ganz ihren Rache- und Hassgefühlen hinzugeben?
Die meisten Leute hatten ohnehin nie wirklich begriffen, was die sensible, zarte Hilka zu dem blatternarbigen, stiernackigen Nelson zog. Er selber gab – als noch alles in Ordnung schien – die Antwort darauf: "Wo die Liebe eben hinfällt, mitunter sogar auf einen Dunghaufen!“ Recht hatte er, er w a r ein Dunghaufen!
Ich will jetzt nicht an diverse unwesentliche Dinge denken. Ich kam ja, den Schuldschein zu suchen und – natürlich - ihn zu finden. Papiere fallen mir entgegen aus geöffneten Schubläden. In meiner Nervosität zerreisse ich einige sogar. Aber was ich auch betrachte, der Schuldschein ist nicht dabei. Er scheint wie vom Erdboden verschwunden, dieses wichtige Schriftstück, unter dem der Name Roy Burton steht und von dem so viel für mich abhängt.
Der Schein ist zehntausend wert. Im Grunde eine lächerliche Summe. Aber für den Schuldner, der sie nicht bezahlen kann, doch ein Motiv, den Gläubiger um die Ecke zu bringen.
Nelson um Stundung zu bitten, wäre Wahnsinn.
„Ich habe kein Geld zu verschenken, und ich habe es dir nicht aus Menschenliebe geliehen oder weil ich davon überzeugt bin, dass du, lieber Roy, ein großartiger Erfinder bist. Das Jahr ist um, und ich muss dich nun zur Kasse bitten oder …!“
Die Drohung hängt schrill schweigend in der Luft. Wer weiß, was er sich ausdenkt, um seinen Schuldner völlig zu erledigen. Es dröhnt mir der Kopf.
Nein, es ist nicht der Kopf. Es ist ein Auto, das draußen vor der Gartenpforte hält. Nelson kommt früher zurück, als ich vermutet habe. Hätte ich den Schein, wäre das egal, umso schneller hätte ich die Sache dann hinter mir. Aber so? Der zweite Teil der Vorstellung kann nicht gestartet werden. Wenn ich tue, was ich vorhatte, ohne den Schein gefunden zu haben, wäre das glatter Selbstmord. Und ich will ja nicht sterben. Wieso auch? Etwa Nelsons wegen?
Es bleibt mir nichts anderes zu tun, als den Rückzug anzutreten, allerdings keinen sehr siegreichen. Ich kann nicht einmal mehr durch die mit dem Nachschlüssel geöffnete Tür. Gleich einem erbärmlich gescheiterten Dieb muss ich die Flucht durch das Fenster ergreifen. Welch ein Glück, dass Nelsons Arbeitszimmer sich im Erdgeschoß des Hauses befindet. So laufe ich wenigstens nicht Gefahr, mir das Genick zu brechen. Höchstens die Strümpfe gehen dabei entzwei, aber das wäre das geringste Opfer, das ich Nelson bringen würde.
Mit angehaltenem Atem horche ich auf die von draußen hereindringenden Geräusche. Ich warte darauf, dass die Autotür zuknallt. Nelson hat noch nie Rücksicht auf die ruhebedürftige Nachbarschaft genommen. Ich erwarte, dass seine harten, derben Schritte aufklingen, dass er auf den Haupteingang an der Stirnseite des Gebäudes zu stampft und mich nicht mehr sieht, wie ich mich aus dem Fenster an der Rückfront schwinge.
In meinen Schläfen klopft das Blut. Die Stille zerrt an meinen Nerven. Es packt mich Angst. Dabei hatte ich alles so gut bis auf´s I-Tüpfelchen vorbereitet. Es schien alles ganz einfach. Ich musste nur den Schuldschein verschwinden lassen, das Weitere würde sich dann von selber ergeben, wenn ich Nelson in das feiste Hängebackengesicht sah.
Noch immer – kein Laut. Es ist kaum zu ertragen. Meine Nerven gehen mit mir durch. Ich wende mich zum Fenster, um zu ergründen, ob wirklich ein Auto dort steht oder ob es nur eine Wahnvorstellung von mir war, den Kies unter den Rädern knirschen zu hören?
In dem Moment, in dem ich die Gardine zur Seite schieben will, wird es gleißend hell im Raum. Urplötzlich hat jemand den Stromschalter betätigt. Das Licht überflutet mich und wirkt lähmend wie ein Schock. Ich finde nicht einmal die Kraft, mich umzudrehen. Ich weiß ja, hinter mir steht Nelson und wird – sobald er die Anwesenheit eines anderen Menschen hier entdeckt den Revolver ziehen und schießen. Menschen seines Schlages sind immer darauf vorbereitet, unangenehme Dinge von sich fern zu halten. Wenn er mich nicht sofort erkennt, aber auch, wenn er mich erkennt – was weiß ich - ob mir nicht gleich eine Kugel zwischen den Schulterblättern steckt…
Ich ergebe mich in mein Geschick - was bleibt mir denn sonst auch übrig? – und senke den Kopf. Aber dann höre ich eine Stimme, mit der ich überhaupt nicht gerechnet habe. Sie gehört nicht Nelson und klingt fassungslos: „Du bist hier?“
Es wirbelt mich herum. Da steht jemand vor mir. Es ist Roy Burton. Ist auch er gekommen, seinen Schuldschein zu suchen? Vielleicht finden wir ihn gemeinsam schneller. Es ist eine total makabre Situation. Die hysterische Lust, ein unbändiges Gelächter anzustimmen, wandelt mich an.
„Früher hätte es niemand gewundert, mich hier zu finden“, sage ich. „Aber so ändern sich eben die Zeiten, nicht wahr, Roy?“
Er wirkt verlegen. „Stimmt, mit dir habe ich auf keinen Fall gerechnet.“
Ich zittere an allen Gliedern.
„Kannst du dir nicht denken, was mich hergetrieben hat, Roy? Ich wollte abrechnen. Du weißt doch, was Nelson verbrochen hat?“
„Natürlich“, murmelt er. Es klingt mitleidig. Er war eigentlich immer der Anständigste von allen in Nelsons Clique. Und plötzlich schäme ich mich. Ich muss mir meine Qual vom Herzen reden.
“Ich bin gekommen, ihn umzubringen. Verstehst du, Roy, glatt umzubringen…“
„…und dein weiteres Leben hinter Gefängnismauern zuzubringen?“ unterbricht er mich ungläubig.
Ich schlucke, ich schüttele den Kopf.
„Niemand wäre darauf gekommen, dass ich es gewesen sein könnte. Ich wollte den Verdacht gezielt auf jemand anders lenken. Auf – dich, Roy.“
Er wird fahlbleich und hebt die Augenbrauen.
„Auf mich? Wie wolltest du das denn tun?“
„Ich habe nach deinem Schuldschein gesucht“, quäle ich mich zu flüstern. „Alle Welt wusste von den Zehntausend, die du von ihm geliehen hast –für ein Jahr. Und alle Welt weiß ebenso, dass du mit deinen Erfindungen keine glückliche Hand hast. Du wirst nie in der Lage sein, Nelson deine Schulden abzutragen. Dafür bricht er dir ganz und gar das Genick mit dem Stückchen Papier, das deine Unterschrift trägt. Jeder hätte hier gewusst oder vermutet, dass du ihm den Lebenshahn zugedreht hast…“
„…wenn er mich dabei erwischt hätte, dass ich in seinen Papieren wühle? Ich denke, so etwas würde man mir doch nicht zugetraut haben Dazu bin ich doch gar nicht fähig."
Ich nicke zu Tode erschöpft. „Vielleicht doch, Roy!“ Wem wäre besser bekannt als mir, was man in Ausnahmefällen zu tun imstande ist?
Roy sieht mich an. Was blinkt in seinen Augen? Entsetzen? Mitleid? Schrecken? Abneigung?
Er fragt: „Und - hast du den Schuldschein gefunden?“
„Nein!“ bricht es schreiend aus mir heraus, „hab ich nicht! Hab ich nicht! Aber jetzt suche ich auch nicht mehr danach. Es war gemein von mir, dich da mit hinein reißen zu wollen, Ich bin richtig froh, dass ich ihn nicht fand.“
Was wird er nun tun, wird er mich zur Seite stoßen, wird er mich schlagen, um selber in die Schiebladen zu sehen?
„Du konntest ihn nicht finden“, versetzt er sanft. „Ich habe nämlich doch mit dieser letzten Erfindung Glück gehabt, für die ich Nelson so viel Geld schuldete. Aber es hat sich amortisiert, es kam doppelt und dreifach wieder herein, und ich konnte ihm auf Heller und Pfennig alles zurückgeben. Hast du denn nichts davon gehört?“
Der Atem preßt sich von tief innen aus mir heraus.Ich kann nur röcheln. Nein, ich wußte nichts davon. Woher auch? Ich hatte so viel mit mir selber zu tun, dass ich die alten Kreise zu suchen vermied. Ich fühl mich leer und ausgebrannt. Das Feuer ist in sich zusammengesunken. Mir ist klar, ein zweitesmal werde ich keine solchen Pläne ausklügeln können, Nelson umzubringen. Also soll er am Leben bleiben, soll er sogar glücklich sein, sofern ein Mensch seines Schlages glücklich zu sein vermag.
„Ich verstehe dich sogar, wenn du es für deine Pflicht ansiehst, Nelson über mein Vorhaben zu informieren. Ich werde meine Strafe bekommen und zu tragen haben.“
„Hassest du ihn immer noch?“ will Roy leise wissen und legt mir die Hand auf die Schulter. Es entringt sich mir ein dumpfes Stöhnen.
„Wie dicht liegen doch Hass und Liebe beisammen. Ich weiß es nicht, was ich fühle, was ich empfinde, wenn ich an ihn denke…“
Er schiebt seinen Arm unter den meinen, weil er merkt, dass ich mich kaum noch auf den Füßen halten kann.
Seine leise Stimme dringt an mein Ohr.
„Vor einer Stunde“ , sagt er, „wurde Nelson das Opfer eines fürchterlichen Verkehrsunfalles. Er liegt in den letzten Zügen und will dich sehen. Er verlangt nach dir. Ihm ist sein Unrecht an dir zum Bewusstsein gekommen. Ich kam hierher, um in seinen Papieren deine Telefonnummer zu suchen und dich anzurufen. Das ist ja nun nicht mehr nötig. Nimm dich zusammen, wir fahren zu ihm ins Krankenhaus, vielleicht treffen wir ihn noch lebend an, Hilka…!“

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Tag der Veröffentlichung: 12.05.2011

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