...hätte Schariar ihr nicht vorher
Gnade angedeihen lassen
Cover: ORIGINAL-LINOLSCHNITT von FRITZ MÖSER
aus: Auf der Suche nach der Liebe
(C) Der Karlsruher Bote / Kurt Rüdiger 1972
Als der alte Kalif von Bagdad das Zeitliche gesegnet hatte, folgte ihm sein einziger Sohn auf dem Thron. Es war ein kluger, wohlgestalteter Jüngling, dem das gute Leben prächtig anschlug. Er lag in den Pfühlen, ließ sich Wind zufächeln und mit Wein laben. Er sah den Sklavinnen beim Tanz zu und ergötzte sich am süßen Gesang der Honigvögel.
Doch bei all diesem Wohlleben wurde er fett und träge an Leib und Seele. Nicht einmal sein Lieblingssklave vermochte ihm eine Regung zu entlocken.
Immer matter und apathischer lag er in den seidenen Kissen. Sein Arzt schüttelte den Kopf und sprach: „Oh, König unserer Zeit, wenn das so weitergeht, werden dich die Seelen deiner Vorväter bald bei sich begrüßen dürfen. Ändere dein Leben, bewege deinen Körper, verschaffe deiner Seele Nahrung, sonst erblickst du das Ende dieses segensreichen Jahres nicht mehr.“
Da erhob sich der junge Sultan, machte zwei, drei Schritte und fiel kraftlos zurück. Man brachte eine Sänfte, setzte ihn hinein, und er ließ sich zum Gestade des süßen Sees bringen, über den hinweg man in die Gefilde der Seligen zu schauen vermochte. Aber sein Geist wurde immer matter, seine Glieder schwächer, und er seufzte: „Soll ich denn wirklich, oh, heiliger Salomo , so jung schon in den Garten des Himmels eingehen ?“ Es steckte in ihm aber die Trägheit des Geistes und ließ ihn schwanken, als hätte er zu viel des goldenen Weines genossen. Es gelang ihm einfach nicht, sich aufzuraffen und seinen Körper zu bewegen.
Da erbarmte sich eine der schönen Huris im Paradesgarten seiner. Sie betrachtete ihn durch einen Tautropfen und beschloss, ihm zu helfen. Sie zeigte sich ihm, auf einer Wolke, in all ihrer Pracht und Schönheit, dass er davon noch benommener wurde und seufzte: „Komm zu mir, ich brauche dich!“
Aber die Schöne schüttelte ihr Haupt und sprach: „Ich will dir gehören. Aber nicht ich kann zu dir kommen. Du musst dich auf den Weg zu mir machen.“ „Wo bist du?“ klagte der junge Sultan. „Ich sehe dich wohl, aber du scheinst unendlich weit von mir entfernt zu sein. Wie soll ich je zu dir gelangen?“ Da lächelte die Huri so holdselig, dass ein Strahl dieses Lächelns in sein Herz fiel und es versengte. Und da, wo die Trägheit ausgemerzt war, entstand Liebe
„Schau vor dich, König der Zeit“, hauchte die Huri. „Siehst du am Horizont die Türme der Stadt? Dort werde ich auf dich warten. Mach dich auf den Weg, denn – ich sehne mich nach dir!“
Er blickte auf und erkannte am Himmel, wo Licht und Wasser zusammen stießen, Minarette und runde Kuppeln. Ganz nah erschien ihm die Stadt, so nah, dass er sie gewiss in Kürze erreicht haben würde. Es lag wohl nur der See dazwischen. Eilig ließ er ein Boot kommen und stieg schwerfällig hinein, damit ein paar Sklaven ihn hinüber rudern konnten. Doch kaum hatten sie die Mitte des Wassers erreicht, als sich ein gewaltiger Sturm erhob, der das Schifflein tanzen ließ, als sei es eine Nussschale in einer Badewanne. Die Sklaven gingen über Bord, nur der König vermochte sich zu halten, den Blick fest auf die Silhouette der Stadt gerichtet, in welcher ihn die Schöne erwartete, nach der es ihn verlangte.
Er ergriff eines der Ruder und legte sich selber in die Riemen. Leicht war es nicht, dennoch erreichte er schließlich das Ufer. Doch nur Sand war da, eine ungeheure Wüste war da, und wie er um sich schaute, erblickte er in einiger Entfernung die Stadt mit den Türmen, in der seine Geliebte auf ihn wartete, wie sie ihm versprochen.
Er ruhte nur kurz, weil es ihn drängte, sein Ziel zu erreichen. Zimbelnschlagende Tänzerinnen kreuzten seinen Weg und suchten, ihn in ihren Kreis zu ziehen. Aber er, der früher stets der Selbsttäuschung erlegen war, entzog sich ihnen.
„Ich habe keine Zeit!“ rief er. „Ein wichtiges Ziel erwartet mich!“ Und er eilte, denn gleich würde er wohl die Stadt seiner Sehnsucht erreicht haben und die Holde ans Herz nehmen können. Aber als er sich ganz dicht davor wähnte, türmte sich plötzlich ein riesiger Berg vor ihm auf. „Nein!“ seufzte er, niedersinkend, „nein, das schaffe ich niemals. Das ist zuviel!“
„Zu viel – für mich, Liebster?“ fragte eine Stimme in seinem Herzen, und es war die Stimme seiner Huri, nach der er sich verzehrte. Erhitzt sprang er auf und begann zu steigen, zu klettern, zu kriechen, bis es ihm gelungen war, den Berg zu überwinden.
„Gleich“, jubelte er lauthals, „gleich, Geliebte, bin ich bei dir!“
„Ich warte!“ sang die Stimme in seinem Herzen. „Ich warte so sehr auf dich!“ Doch abermals entrückte ihm die Nacht das Ziel seiner Sehnsucht, und am folgenden Morgen sah er, dass die Stadt seines Traumes immer noch sehr weit entfernt war. Ja, er meinte, er habe sich ihr überhaupt um kein Jota genähert, seit er aufgebrochen war. Schon wollte er endgültig aufgeben, als ihm das Bild der schönen Huri einfiel, wie es sich ihm ins Herz gebrannt hatte. Neue Kraft belebte seinen schwächlichen, von Orgien und Wohlleben ermatteten Körper.
„Ich schaffe es doch!“ sagte er zu sich selber. „Ich muss nur wollen, dann gelingt es gewiss.“ So wanderte er und wanderte immer weiter. Er stieg über Berge und schwamm durch Flüsse. Er hungerte und darbte, er bettelte und arbeitete. Längst waren seine Kleider zerschlissen, und einmal schenkte ihm jemand einen harten, derben Mantel, wie ihn seine Haut, als sie noch weich gewesen war, kaum vertragen hätte. Jetzt aber war er froh und zufrieden, etwas zu besitzen, das ihn schützte vor Kälte und Regen. Auch trocken Brot mundete ihm nunmehr, und wenn er auf Streitende traf, trennte er sie, denn sein Arm war muskulös und kraftvoll geworden. Wegelagerer und anderes lichtscheues Gesindel fürchtete er längst nicht mehr, weil seine Glieder sich durch die Entbehrungen und Strapazen gekräftigt hatten. Er war stärker als alle anderen, die ihm begegneten, und obwohl er in Lumpen ging, strömte er eine hoheitsvolle Aura aus, dass sich jeder vor ihm neigte. Nur das Ziel seiner Sehnsucht hatte er noch immer nicht erreicht. Mal schien es schon zum Greifen nah; schon meinte er, die Hörner der Torwächter zu vernehmen, die der Huri seine Ankunft verkündeten – ein anderes mal war die Stadt einfach in den Wolken verschwunden, und er seufzte: „Nie erreiche ich sie!“
Trotzdem ging er weiter, und nichts vermochte ihn aufzuhalten. Die Liebe stärkte ihn, und die Sehnsucht zog ihn vorwärts. Immer wieder aber erschien die Huri in seinen Träumen und flüsterte: „Wann kommst du nur? Ich verzehre mich nach dir, mein Liebster!“
Dann hoffte er doch wieder, sein Ziel zu erreichen, sie in den Armen zu halten, den Kopf in ihrem Schoß zu bergen und endlich ausruhen zu dürfen, Ruhe und Frieden zu finden, nach allen Strapazen, die er ihretwegen erduldete.
Und dann war es eines Tages wirklich soweit. Er sah goldene Minarette und Kuppeltürme vor sich, und er hörte tatsächlich die Signale der Wächter am Tor. Aber es waren keine Freudenklänge, die ihn begrüßten, sondern Hilferufe, weil Räuberscharen in die Stadt eingedrungen waren, alles brandschatzend und vernichtend.
Dem jungen Kalifen klopfte das Herz vor Glück, endlich sein Ziel erreicht zu haben und vor Verlangen, sofort zu helfen.
„Wartet“, rief er, „ich vertreibe die Räuber!“ Einem der verdutzten Wächter entriss er das Schwert und begann in den unzivilisierten Haufen der Räuber hineinzudreschen, bis auch der Letzte getötet oder geflohen war. Da näherten sich die Großwesire der Stadt mit dem goldenen Schlüssel auf samtenem Kissen. Sie verneigten sich und sprachen: „Sei du unser Herr und König, denn seit unser Gebieter uns verlassen hat, gibt es niemand mehr, der uns regiert und sagt, was gut oder schlecht ist.“
Da sah er auf und erkannte all seine Kämmerer und Wesire. Er erkannte die Stadt, die seine eigene war und die er so lange allein gelassen hatte.
Es ging ihm auf, dass er einmal um den Erdball gewandert war, dass er Abend und Morgen durchkreuzt hatte, dass er Länder und Meere und Berge überwunden hatte, um dahin zurückzukommen – wo sein Ziel war. Hier hatte er begonnen, hier endete seine Reise.Er hatte die Heimat gefunden, die so geblieben war, wie er sie in der Erinnerung hatte. Nur er selber hatte sich gewandelt. Er war voller Kraft und Stärke, bar jeglichen Übergewichts und jeder Trägheit.
Wie er noch versuchte, sich hindurch zu finden, vernahm er wieder die Stimme in seinem Herzen, die ihn geführt hatte, immerzu, auch hierher. Sie sagte: „Meine Liebe geleitete dich und half dir. Jetzt bist du gesund, und ich kann dich verlassen. Du brauchst mich nicht mehr.“
„Doch!“ schrie er und streckte seine Hände dem Himmel entgegen. „Ich brauche dich, brauche dich jetzt mehr denn je. Wo bist du? Wo bist du nur? Zeige dich mir.“
Und während er den Blick suchend hin und her schweifen ließ, fiel er auf die Tochter eines seiner Würdenträger. Sie war schön wie die Sonne und sanft wie der Mond.
Da opferte sich die Huri bis zum Letzten, denn sie liebte den Sultan mehr als sich selber. Sie ließ ihm die Gnade des Vergessens zuteilwerden. Und es entschwand ihm, dass er um seiner Sehnsucht willen einmal um den Erdball gewandert war. Er meinte, dieses Mädchen allein müsse das Ziel seiner Zuneigung gewesen sein, und er wollte sie zu seiner Sultanin machen
Er nahm sie an die Hand und schritt mit ihr zum Palast – kräftig, gesund, jung und voller Elan – ein vollendeter Herrscher und Beherrscher all dessen, was um ihn herum war.
Wie es der Huri erging, die mit ihrer Liebe allein zurückblieb?
Frag nicht! Woher soll ich es wissen? So wenig, wie du ein Sultan bist, so wenig bin ich jene Huri.
Oder – sollten wir nicht doch einmal darüber nachdenken?
Alle sollen es wissen:
WER WÄRE REINER, WENN ES DIE LIEBE NICHT GÄBE
Tag der Veröffentlichung: 26.11.2010
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