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Nachdem die Begräbniszeremonie für meine jüngere Schwester (sie hatte fast 20 Minuten nach mir das Licht der Welt erblickt) vorbei war, nahm mich unsere untröstliche und verhärmte Mutter beiseite und gestand mir unter Tränen, dass sie sich für den Tod Albertas verantwortlich fühle.
„Aber, Mama“, sagte ich und fürchtete, sie habe durch den Schmerz ihren Verstand verloren. „Alberta kam durch einen Unfall ums Leben. Du hast sie doch nicht unter das Auto gestoßen…?“
„Natürlich nicht“, flüsterte sie, und ihre rot geweinten Augen starrten mich vorwurfsvoll an.
„Ich war nicht einmal in der Nähe, als es geschah -“
„Na, siehst du, - weshalb also quälst du dich?“
Doch sie brach aufs Neue in Tränen aus und wisperte: „Sie hat es, denke ich, ihr Leben lang gespürt, dass ich sie nicht wollte.“
„Mama, bitte!“ Jetzt ängstigte ich mich wirklich um ihren Geisteszustand. „Du warst für uns die allerbeste Mutter, die man sich nur vorstellen kann. Du wolltest doch immer Kinder.“
„Gewiß, aber doch nicht gleich zwei auf einmal“, gestand sie und schnupfte. „Es war alles so schwer für mich. Ich war jung und unerfahren, und oft war ich so fertig, dass ich euch richtig hasste.“
„Mom, es gibt Mütter, die erklären, ihre Kinder über alles zu lieben, und doch kümmern sie sich kaum um sie. Wenn du jetzt erklärst, du habest uns gehasst, dann ist mir dieser Widerspruch sehr viel lieber. Denn nie hatten wir uns über mangelnde Fürsorge und Liebe zu beklagen. Wir haben es jedenfalls nicht bemerkt, dass wir dir zur Last fielen.“
„Ach, Kind, du warst nie sehr gut in puncto Psychologie“, lächelte meine Mutter nun unter Tränen. „Aber Alberta hat es gewusst. Bestimmt! Denk mal an die Idee mit den verschiedenfarbigen Röcken für euch Mädchen…“
Oh ja, diese Idee, die es ihr erleichtern sollte, ihre Zwillinge auf einen einzigen Blick auseinander halten zu können.
„Nun, Mom, ich meine, gerade dadurch hast du Alberta bewiesen, dass du eigentlich s i e lieber hattest als mich. S i e bekam den weißen Rock, - mir teiltest du die schwarze Farbe zu.“
„Ich sagte es bereits, du hast ganz einfach keinen Spürsinn für die Vorgänge der menschlichen Seele. Gerade weil ich zornig auf Alberta war, sie das aber nicht spüren lassen wollte, gab ich i h r die Farbe, auf die auch du scharf warst. Verstehst du das?“
Ja, ich verstand, verstand plötzlich ganz genau. Sie hatte ihr eigenes schlechtes Gewissen zu bemänteln versucht. Doch was war mir, die sie anscheinend eher akzeptierte als die nach mir geborene Schwester, dadurch angetan worden? Nur zu gut erinnerte ich mich, wie sehr ich die schwarzen Hosen und Röcke verabscheute, während Alberta stets wie ein Schneeflöckchen herumspazierte. Sauber rein, das war sie immer gewesen, bis in ihre eigenen tiefsten Tiefen hinein. Ganz anders als ich, die stets ein paar dunkle Einsprengsel in sich trug.
Seltsamerweise fiel mir jener Tag ein, an dem ich all ihre weißen Röcke in den Schmutz warf, und den einzigen, der ihr geblieben war, zog ich selber an, um wenigstens einmal so hübsch wie sie auszusehen und so hell und licht zu wirken wie sie. Ich tänzelte vor ihr herum, und alles Bitten und Flehen, ihr ihren Rock wiederzugeben, denn sie sei verabredet, nützte ihr nichts.
„Geh doch“, sagte ich hohnlachend, „such dir einen von meinen schwarzen Fummeln aus.“
Ich wusste genau, sie würde das ganz gewiss nicht tun. Alberta hielt sich an Abmachung und Regel. Die Rockfarben waren für uns eine mütterliche Gesetzgebung, die zu brechen sie nie gewagt hätte.
Eigenartigerweise verschwammen von da an meine Erinnerungen an jenen fernen Tag. Ich weiß nur, dass ich im weißen Rock davon stolzierte, aber längst nicht so viel Freude daran hatte, wie eigentlich anzunehmen gewesen wäre. Zudem kam mir dann noch irgend so ein Kerl in die Quere, der mich belästigte. Mich vor einem Schaufenster entdeckend, schlich er sich rückwärts an mich heran, fasste mich einfach um und küsste mich. Nun, ich ließ mich keinesfalls von jedem überfallmäßig küssen, und die Ohrfeige, die ich ihm daraufhin verpasste, war keineswegs von schlechten Eltern.
Sonderbar, von jenem Tag an verstanden Alberta und ich uns nicht mehr besonders. Auch so etwas soll es unter Zwillingsschwestern geben. Es schien, als habe sie mir die Sache mit ihrem weißen Rock nie verziehen. Wir befanden uns in einem Alter, in dem jede anfing, ihren eigenen Weg zu gehen. Ich heiratete zweimal und verlor meine Männer, einen an den Tod, einen an das Leben mit einer Anderen, aber alles in allem - denke ich – hab ich mein Schicksal ganz ordentlich gemeistert.
Im Gegensatz zu Alberta, Sie heiratete nie, ging ins Ausland und ließ oft jahrelang nichts von sich hören. Sie war einfach ruhelos, wie ich es nannte. Aber suum cuique, jedem das Seine. Nun war sie zum Besuch in die Heimat gekommen – und hier ereilte sie das Geschick, oder genauer ausgedrückt, ein verantwortungsloser Autoraser, der zudem darauf Fahrerflucht beging und wahrscheinlich nie gefasst werden würde.
Die Tage verstrichen. Ich war nur zu Albertas Beerdigung gekommen, es wurde nun Zeit für mich, wieder abzureisen. Unsere Mutter schien sich etwas gefangen zu haben, und ich beschloss, noch ein wenig Kultur zu genießen, ehe ich Abschied nahm.
Es war eher Zufall, der mich in die Bilderausstellung eines mir als ungewöhnlich empfohlenen Malers führte. Ich wollte mir mal seine Arbeiten ansehen. Sein Name war mir bis dahin unbekannt gewesen. Sam Joachim! Das Einzige, was ich damit verband, war die Überlegung, ob er eventuell ein Nachkomme jenes Musikers Joachim aus der Zeit des großen Brahms sein könne.
Am Eingang der Museumshallen kaufte ich mir einen kleinen Band, der durch die Ausstellung führte und gleichzeitig den Künstler präsentierte. Eigentlich interessiere ich mich mehr für Literatur als für die Gestaltende Kunst, und schon der erste Rundgang ermüdete mich. Aber weil ich die Bilder doch ansprechend fand und nicht so schnell aufgeben wollte, setzte ich mich auf eine Bank im Vorraum und blätterte in der Lebensbeschreibung des Malers.
Es war keine aufregende Vita, wie ich fand. In der Jugend schien ihn eine unglückliche Liebe geprägt zu haben, sodass er auf und davon ging, Er reiste herum, ohne wirklich irgendwo heimisch zu werden .Nur sein Talent entwickelte sich. Ich blätterte in dem Büchlein und sah, dass ich die an den Wänden hängenden Gemälde auch im Katalog vor mir hatte. Dabei fiel mir ein Bild auf, das ich anscheinend bis jetzt nicht hatte entdecken können. Aber richtig aufmerksam machte mich seine Betitelung.
„DAME IM WEISSEN ROCK“ nannte es sich, und als ich den Blick genau auf das Konterfei einer jungen Frau richtete, erschrak ich. Ich sah mein eigenes Gesicht.
Da ich jedoch nie mit einem Maler bekannt gewesen war und nie jemand Modell gesessen hatte, konnte es sich nur um Alberta handeln, deren Bild ich hier vor mir hatte.
Dass offensichtlich s i e einen Maler inspiriert hatte, war mir bis zu diesem Moment auch unbekannt gewesen. Aber nun nahm ich es zur Kenntnis.
Alberta, natürlich, s i e war die Dame im weißen Rock.
Es war eine noch blutjunge Alberta, die das Bild zeigte. Damals mochten wir höchstens siebzehn, achtzehn Jahre alt gewesen sein, befanden uns also am Anfang unseres Lebens.
Nun war Alberta tot, und in meinem eigenen Dasein würde sich auch nichts Besonderes mehr ereignen. Plötzlich verdunkelte sich das Bild durch den Schatten eines Menschen, der neben mir stand. Ich sah auf und blickte in ein interessantes Altmännergesicht. Ich kannte es nicht, glaubte aber mit einemmal genau zu wissen, dass dies Sam Joachim sein musste, der Künstler, der Maler des Gemäldes vor mir.
„Alberta“, sagte er, und seine Stimme schien mich zu streicheln. „Ich wusste, wir würden uns wiedersehen. Wie geht es dir?“
Ich versuchte zu lächeln, aber meine Lippen waren wie steifgefroren.
„Ich bin nicht Alberta“, wollte ich aufklären. „Ich bin Daniela, ihre Schwester. Wir sind Zwillinge. Sie haben Ihr Bild >Dame im weissen Rock< genannt. I c h war immer nur die Frau im schwarzen Rock.“
„Verzeihung“, murmelte er, „ich dachte, - ich glaubte, du - Sie wären in Trauer.“
„Das bin ich auch“ flüsterte ich. Tränen stiegen mir in die Augen. „Alberta ist tot, einem Verkehrsunfall zum Opfer gefallen, gerade vor ein paar Tagen erst.“
Er schrak zusammen und griff sich mit der Hand in das Gesicht. Es war eine Geste, die mir bekannt vorkommen wollte. So hatte sich damals der junge Mann, der mich küsste, seine Wange gehalten, auf die ich ihn schlug. Eine schreckliche Ahnung wollte mich beschleichen, - noch wehrte ich mich dagegen.
Der Mann war leichenblass geworden.
„Also – also doch!“ raunte er. Er beugte sich zu mir und packte mich am Arm.
„War es – ein Donnerstag, an dem der Unfall geschah? War es – der fünfzehnte August?“
„Genau, der fünfzehnte August, ein Donnerstag“, bestätigte ich. „Ein verdammter Autofahrer streifte sie und ließ sie liegen. Sie starb an den Folgen. Jede Hilfe kam zu spät.“
Er schluckte, und es war deutlich, dass ihn Bewegung übermannte.
„Dieser Autofahrer war – ich. Ich sah sie, meine geliebte Frau im weißen Rock. Mir wurde schwindelig. Ich wollte anhalten, ich wollte rufen, ihren Namen nennen, aber dann dachte ich, ich hätte jetzt völlig den Verstand verloren. Zu oft habe ich sie gesehen, im Traum, in meiner Vorstellung, - von meinen Wünschen herbeigezwungen. Immer wieder erschien sie mir – seit sie mich verriet. Es war ein Wahnwitz. Ich trat auf das Pedal, ich gab Gas, überfuhr das Trugbild einfach und bog um die Ecke. Als ich am folgenden Tag über die gleiche Kreuzung fuhr, fürchtete ich, sie wieder sehen zu müssen. Aber alles blieb still und friedlich. Es gab kein Phantom, keine Alberta, ich hatte keinen Albtraum wie am Tag zuvor. Als ich sie hier jetzt sitzen sah, glaubte ich wieder an eine Vorspiegelung. Ich sprach sie an, wie man auch im Traum mit seinen Vorstellungen spricht. Ich wollte fragen, weshalb hast du mir das angetan hatte, diese Lügen, diese Qualen all die Jahre, ein Leben lang, diese Sehnsucht und immer mit der Frage `warum - warum´?“
Er keuchte, war zutiefst erregt, während auch mir das Herz wie ein Hammer in der Brust schlug. Sein Geständnis hätte mich doch eigentlich aufspringen lassen müssen. Der Mann war schließlich schuld an Albertas Tod. Aber alle meine Glieder waren wie gelähmt.
„Hat - meine Schwester- Sie geliebt?“ fragte ich fast atemlos.
Er seufzte.
„Ich glaubte es. Sie ließ es mich glauben. Aber es war Spielerei und Lüge. Ich weiß nicht, warum sie das tat. Wir hatten uns einige Male getroffen. Ich wollte ihr gestehen, was ich für sie empfand. Ihre Augen hatten mir schon längst ein Jawort gegeben, und als ich sie am Schaufenster sah, konnte ich nicht widerstehen. Ich küsste sie… und sie schlug mir dafür hart in das Gesicht. Dabei zischte sie mir ein verächtliches `Verdammter Lump!´ entgegen. Ich verließ am nächsten Tag die Stadt, halb irr vor Verzweiflung, wollte sie nie mehr wieder sehen. Aber dann zwang es mich, sie zu malen, - aus all meiner Sehnsucht heraus. Ich brauchte etwas, woran ich mich festhalten konnte, was ich berühren durfte, ohne fortgestoßen zu werden.“
Er wies auf das Bild, von dem mich Albertas Augen ansahen. Sie schienen zu sprechen, laut, sehr laut, sodass es um mich herumhallte: „Du warst es, Daniela, die den Mann schlug und von mir forttrieb. Den Mann, den ich über alles liebte, von dem ich mich verraten fühlte. Nie mehr hörte ich von ihm. Und so trieb es mich ruhelos in der Welt umher. Manchmal hoffte ich, ihm noch einmal zu begegnen. Aber meine Suche blieb vergeblich, und du – trägst die Schuld daran.“
Meine Lippen zuckten. Sekundenlang musste ich die Augen schließen, um mich zu fangen, ohne Albertas anklagendem Blick ausgeliefert zu sein. Ich wollte sprechen, wollte eine Erklärung abgeben, wollte Sam Joachim sagen, wie das alles hatte passieren können und dass Alberta seinetwegen auch allein geblieben war.
Als ich aufsah und mich zu ihm umwandte, fand ich mich allein. Hatte mich ein Spuk geäfft?
Nein, der Maler war nur fortgegangen. Er hatte mir in das Gesicht geblickt und festgestellt, dass ich nicht diejenige war, nach der er sich sehnte, auf die er gewartet hatte, ein Leben lang.
Sie würde nie mehr wiederkommen, denn seine Geliebte war tot, gestorben durch ihn. Wann? Damals – vor dreißig Jahren? Oder - am fünfzehnten August auf der Straße?
Es riss mich hoch. Ich fühlte, er hatte ein Recht darauf, die Wahrheit, die volle Wahrheit zu erfahren. Nicht nur irgendein Recht, nein - er m u ß t e wissen, was sich tatsächlich seinerzeit zugetragen hatte. An mir war es, ihn aufzuklären, sonst würde ich nie mehr zur Ruhe kommen.
Ich suchte ihn, lief durch alle Räumlichkeiten, bis ich zu einem abgelegenen Kabinett kam, das mir bei der ersten Umrundung entgangen war. Hier saß er, die Hände beide fest auf die Brust gepresst. Sein Gesicht trug den Stempel des Sterbens. Die tiefinnere Erregung war dabei, ihn zu töten.
„Mar Joachim“, sagte ich und legte ihm leicht die Hand auf die Schulter, damit er auf mich aufmerksam würde. „Bitte, hören Sie mir zu. Ich habe Ihnen etwas zu sagen.“
Aber er schien mich gar nicht zu hören, raunte vielmehr heiser vor sich hin: „Du bist gekommen, endlich bist du doch gekommen und nimmst mich nun zu dir, damit wir für alle Ewigkeit zusammen bleiben können. Gleich trennt uns nichts mehr!“
Er sprach nicht zu mir. Ich war durchsichtig für ihn. Sein Blick glitt fremd an mir vorbei und heftete sich auf etwas, das ich noch nicht entdeckt hatte.
Langsam wandte ich mich um und bemerkte an der Wand das lebensgroße Ölgemälde, aus dessen Goldrahmen mich Albertas Augen musterten – oder sah auch sie durch mich hindurch? Trafen sich die Blicke der Liebenden, um zu verschmelzen und nie mehr voneinander lassen zu müssen?
Unter dem Bild standen die in meinem Tränenschleier ertrinkenden Lettern: „DAME IM WEISSEN ROCK“.


Ein Luftzug streifte mich. Mir war sehr kalt, und ich fühlte mich allein, aus- und abgesondert von einer Welt, zu der ich nie gehören konnte.
Mein schwarzes Kleid raschelte schmerzlich…


Der Erstdruck der vorliegenden Erzählung erfolgte
1998 durch die in Tel Aviv erscheinende einzige
deutschsprachige Tageszeitung Israels.
> ISRAEL CHADASHOT<


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Die Inspiration erhielt die Autorin durch den am
15. August 1996 in Ramat-Gan verstorbenen
Rechtsanwalt und Kunstmäcen
JOACHIM SAMUEL s.A.


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Impressum

Texte: Tilly Boesche-Zacharow
Bildmaterialien: bookrix
Tag der Veröffentlichung: 19.03.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Eugenie

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