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EIN GUTER MANN


Sie können sich nicht oft sehen. Es würde seiner Familie auffallen. Sie würden fragen, wo er gewesen sei, mit wem er sich getroffen habe. Und – er kann schlecht lügen. Die Wahrheit würde Krach programmieren, brächte noch mehr Chaos. Also ist seine Zeit für sie beschränkt.
Sie sitzen sich im Caféhaus gegenüber, nicht nebeneinander. Er sagt, er möchte ihr in die Augen sehen, wenn er mit ihr redet.
I h r wäre es lieber, Stuhl neben Stuhl; da würde sich doch mitunter eine Berührung ergeben. So bleibt ihr nur, manchmal über den Tisch hinweg, die Hände nach ihm auszustrecken. Aber vieles steht zwischen ihnen, auch Teller, Gläser, Tassen. Einmal hat sie ein Glas umgeworfen, als sie zu hastig nach seinen Fingern griff. Das war unangenehm. Die Bedienung putzte murrend alles fort, er schämte sich und sagte: “Lass das lieber!“
Nun lässt sie es. Sie sieht ihn nur an und träumt mit offenen Augen. Es ist wirklich schön, dass man sich so direkt in das Gesicht sehen kann. Blicke kennen keine Distanz. Sie schwebt in anderen Welten, indem sie sich in seinen Augen verliert. Er holt sie auf den Erdboden zurück. Er weckt sie. Die Realität ruft. Seine Familie heisst Realität. Er selbst hat einen anderen Namen. Aber er liebt es nicht, wenn sie ihn zu laut damit anredet. „Es muss doch nicht jeder wissen, wer hier sitzt!“, verwahrt er sich. So, als sei er eine „very important person“, was man modern einfach als VIP bezeichnet. Eigentlich ist er sonst nicht so bescheiden, aber hier ist ihm sein Inkognito lieber.
„Es wird wirklich Zeit!“, sagt er und seufzt. Es ist das Zeichen zum Aufbruch. Der Seufzer gehört dazu, rundet alles ab, tröstet sie ein wenig, weil auch er offensichtlich unter der Trennung leidet.
„Es war eine schöne Stunde mit dir“, sagt sie. Er lacht verhalten: „Eine gestohlene Stunde!“
Eigentlich hat er schon viel Zeit für sie gestohlen. Manchmal sagt er auch, sie sei eine Frau, mit der man Pferde stehlen könnte. Das ist, als mache er sie zur Diebin. Sie fühlt sich deprimiert. Tränen laufen ihr über das Gesicht.
Das ist ihm ebenso peinlich wie seinerzeit das umgefallene Glas, nur mit dem Unterschied, dass er die Bedienung nicht zu rufen braucht, um ihr die Augen zu wischen. Mit Augenwischerei muss man selber fertig werden. Wer zu dicht am Wasser baut, darf sich nicht über nasse Füsse wundern ...
„Sei nicht traurig!“, redet er ihr gut zu. Der Tisch steht voll; sie streckt ihre Hand nicht nach ihm aus, obwohl es sonst nichts gibt, woran sie sich festhalten könnte. Immerhin, sie könnte seine Augen sehen, wenn die ihren nicht so tränengefüllt wären.
„Meine Frau wartet. Sie hat mir schon wieder viel Arbeit vorbereitet“, sagt er. Sie weiss, seine Frau ist eigentlich schon lange nicht mehr seine Frau. Sie fungiert nur noch als Sekretärin und „ – sie ist sehr tüchtig, weißt du?“
Sie will es gar nicht wissen. Aber er redet auf sie ein, um ihre Tränenflut zu dämmen. „Ich muss schließlich viel Geld verdienen, für unsere Zukunft.“
Er sagt es, damit sie sich freut, freut auf die Zukunft mit ihm, eine Zukunft, die seine nur noch auf dem Papier existierende Ehefrau mitbegründet ... Warum kann sie keinen Dank empfinden?
S i e wird niemals eine tüchtige Sekretärin werden. I h r Fundament ist die Fantasie.
Er erhebt sich ein wenig schwerfällig. Er ist immer müde, wenn er mit ihr zusammen ist. Mit seiner Frau arbeitet er, aber bei i h r kann er sich endlich ausruhen. Sie sollte stolz darauf sein, dass s i e es ist, die ihm Ruhe und Entspannung verschafft.
Zusammen gehen sie durch das Lokal, sehen sich vor der Tür nur kurz an, dann winkt er nach einer Taxe und – schon ist er fort.
Sie sieht ihm nach und weiss, dass sie undankbar ist. Wieder hat er für sie gestohlen, - Zeit.
Gestohlen ist gestohlen, und sie ist Mittäterin, sie ist eine Diebin.
Schwer ist es, damit fertig zu werden. Tief innerlich quält sie die Frage, ob Diebe auch tüchtige Menschen sein können.


DIE NELKE

Allmorgendlich geht Micha am selben Nelkenbeet vorüber. Er findet nichts Besonderes daran. Die Nelken wachsen und blühen einfach, aber sie sind stumm.
Eines Tages jedoch hört Micha eine sprechen. Sie sagt: „Guten Morgen!“ Ganz deutlich hört er es. Sie spricht zu ihm: „Guten Morgen, Micha, - schau her, ich bin gerade aufgeblüht!"
Micha ist ein höflicher Mensch. Spricht jemand ihn an,dann antwortet er. So haben ihn seine Eltern erzogen.
Er erwidert: „Guten Morgen, ich sehe, dass du blühst.“
„Siehst du es auch wirklich?“, vergewissert sich die Nelke.
„Natürlich, bin ich vielleicht blind?“ Micha ist ärgerlich, weil die Nelke zu zweifeln scheint, dass er Augen im Kopf hat.
Die Nelke ist eine hartnäckige Nelke: „Hätte ich dich nicht angesprochen, wärst du an mir vorbeigegangen, - gib es doch zu!“
Micha tut es, mürrisch.
„Du nimmst also nur Notiz von mir, weil ich dich ansprach!“
„Ja doch“, brummelt Micha. „Wie sollte ich dich sonst auch bemerken, wenn du da einfach so stumm vor dich hinblühst?“
„Der Mensch bekam seine Sinne, um sie zu gebrauchen“, doziert die Nelke. "Wozu taugen die Augen, wenn du erst dein Gehör brauchst, um etwas zu sehen?“
„Ich weiss wirklich nicht, was du eigentlich von mir willst“, regt sich Micha auf, aus seiner morgendlichen Ruhe gerissen. “Mir scheint, du willst Streit anfangen. Ja, d a s ist der Grund, dass du mich angesprochen hast.“
Die Nelke wiegt sich im Morgenwind. Schön sieht sie aus und geradezu feurig, denn ihre Blütenblätter sind wechselhaft gelb und rot geflammt. Trotzdem – Micha hätte sie nicht bemerkt, wenn sie nicht zu sprechen begonnen hätte. Und jetzt muss er sich mit ihr streiten. Das ärgert ihn.
Er streitet nicht gern, schon gar nicht am frühen Morgen, wenn er lieber geruhsam gute Gedankengänge einübt. Er geht weiter, an der Nelke vorbei und ist bemüht, sie aus seiner Erinnerung zu streichen, weil sie sich so negativ auf seine Stimmung auswirkt. Sie ist nichts anderes als ein Störfaktor im gewohnten Ablauf des Tages.
Glücklicherweise hat er sie und das von ihr bereitete Ärgernis bis zum Abend vergessen. Tausend kleine Routine-Tätigkeiten waren ihm dabei behilflich.
Am nächsten Morgen kommt er wieder am Nelkenbeet vorbei. Keine Stimme ertönt, keine Nelke spricht …
Micha muss sich an diesem Tag nicht ärgern. Das ist ein guter Tag.

Impressum

Texte: In Israel-Nachrichten veröffentlicht
Tag der Veröffentlichung: 16.03.2009

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