DER TEUFLISCHE REGISSEUR
Mit einem Reisefan im gleichen Boot
von
Joachim Ross
Vielen Dank für die freundliche Unterstützung an
Jürgen Reintjes
Inhalt
Der Abreisetag
Oder: Die Vertreibung aus dem Paradies
Die amüsante Schilderung der Abreise von einem Kreuzfahrtschiff
Der teuflische Regisseur
Szenen einer Reise nach Jena
Ein kurzweiliger Langstreckenflug mit weitreichenden Folgen
Leben und Tod
Alles fließt
Wie ich durch Richard Wagner zur Kreuzfahrt kam
Oder: Die Vertreibung aus dem Paradies
Die amüsante Schilderung der Abreise von einem Kreuzfahrtschiff
Vorwort
Unter den Menschen, die zum ersten Mal auf einem Kreuzfahrtschiff waren, gibt es nach meiner Erfahrung drei Gruppen. Die Mitglieder der ersten, wirklich verschwindend kleinen Gruppe sagen aus den unterschiedlichsten Gründen: einmal und nie wieder. Die der zweiten, vielleicht größten Gruppierung meinen: einmal und jederzeit gerne wieder. Das sind die vom Kreuzfahrtvirus Infizierten. Und die Angehörigen der dritten, der Zahl nach nicht zu unterschätzenden Gruppe sagen mit den Worten eines mir persönlich bekannten Kreuzfahrtschiffkapitäns: einmal Meer, immer mehr. Das sind die Kreuzfahrtsüchtigen.
Ich gehöre definitiv der letztgenannten Gruppe an, habe ich doch gerade meine 13. Kreuzfahrt absolviert (übrigens ohne jeden Unglücksfall), davon allein zwölf in den letzten zweieinhalb Jahren und davon wieder elf auf den All inclusive-Schiffen derselben Reederei. Als einem solchermaßen Suchtkranken mögen es mir alle Babys und Mütter dieser Welt sowie alle Gläubigen verzeihen, wenn ich jetzt zwei nach deren Verständnis sicherlich völlig unpassende Vergleiche anstelle: wenn ich nach einer Kreuzfahrt das Schiff verlasse, dann glaube ich mich zu fühlen, wie ein Baby sich fühlen muss, das aus der warmen Geborgenheit des Mutterleibs in eine unwirtliche Welt hineingeworfen und zuletzt auch noch von der bisher genossenen Rundumversorgung abgenabelt und damit abgeschnitten wird. Oder Adam und Eva mögen sich bei und nach der Vertreibung aus dem Paradies so gefühlt haben, wie ich mich jedes Mal als ein Abreisender fühle.
Da hilft dann auch kein Bekreuzigen mehr, wobei allen völlig Unerfahrenen, die schon einmal etwas von der sog. Christlichen Seefahrt gehört haben, an dieser Stelle gesagt werden muss, dass der Begriff Kreuzfahrt sich ohnehin nicht von dem christlichen Symbol des Kreuzes ableitet, sondern von dem aus der Zeit der Segelschiffe stammenden Kreuzen (im Zickzackkurs den Wind nutzend) stammt. Übrigens will ich an dieser Stelle versichern, dass ich - vom Abreisetag einmal abgesehen - noch nie an Bord eines Kreuzfahrtschiffes eine Situation erlebt habe, bei der Anlass bestanden hätte, sich zu bekreuzigen.
Aber um auf meine Gefühlslage zurückzukommen: seien wir doch einmal ehrlich, die einzigen, das dolce vita etwas erschwerenden Belastungen an Bord eines Kreuzfahrtschiffes sind doch Entscheidungen wie: was ziehe ich an, was esse ich wo, was trinke ich wo, auf welchen der tollen Landausflüge gehe ich, an welcher der zahlreichen Abendveranstaltungen nehme ich teil. Nun mag der eine oder andere Nörgler dagegen einwenden: oh Gott, immer diese Entscheidungen! Oder: wer die Wahl hat, hat die Qual! Und ein philosophisch angehauchter Mensch, der in der Welt der Erkenntnisse schon weit herum gekommen ist, mag sagen: ein auf immer und ewig angelegter Aufenthalt im Paradies wäre am Ende doch auch nur die Hölle. Letzterem würde ich zwar uneingeschränkt zustimmen und will allen, die gerne über solche Dinge nachdenken, an dieser Stelle den Satz mit auf den Weg geben: wo auf Dauer kein Bedürfnis mehr, da auf Dauer auch kein Genuss mehr.
Trotzdem, ich bleibe dabei, der Aufenthalt auf einem Kreuzfahrtschiff hat schon etwas sehr paradiesisches an sich. Man denke nur an die zahlreichen, stets freundlichen und hilfsbereiten guten Geister (Crew genannt), die einem bis auf die oben genannten alle weitere Lasten abnehmen und von denen man doch von morgens bis abends hinten und vorne gepampert wird. Und wer an dieser Stelle von dem angeführten philosophischen Einwand verunsichert sein sollte, dem sei zu seiner Beruhigung gesagt, dass jede Kreuzfahrt ein meist allzu schnelles Ende hat, das durch den Abreisetag markiert wird. Und damit nähern wir uns dem Thema dieses Buches, welches einen von mir persönlich so erlebten Abreisetag beschreibt. Wer genau aufgepasst hat, weiß jetzt, dass es mein 13. Abreisetag von einem Kreuzfahrtschiff war und ich überlasse es dem Urteil des geneigten Lesers, am Ende zu entscheiden, ob die Zahl 13 nun meine Glücks- oder Unglückszahl ist.
Der Abreisetag ist - man erahnt es ausweislich meiner oben geschilderten Gefühlslage an einem solchen Tag - ein sehr, sehr einschneidender Tag, der seine Schatten in diesem Fall nicht voraus, sondern quasi im Voraus zurückwirft, nämlich mindestens schon auf die zwei ihm vorangehenden Tage.
Allerspätestens am vorletzten Tag vor der Abreise werden die ersten Anzeichen sichtbar, allerdings zunächst nur für den erfahrenen Kreuzfahrer, der diese Zeichen richtig zu deuten weiß: in den Bordgeschäften tauchen vermehrt Sonderangebote auf. Dabei frage ich mich immer, ob das in fürsorglicher Absicht geschieht, etwa um böse Vorahnungen eines herannahenden Endes durch die Inaussichtstellung von Schnäppchenkäufen und einen dadurch verursachten Konsumrausch in ihrer deprimierenden Wirkung zu dämpfen, oder ob hier eine schon eingetretene allgemeine Depression und damit psychische Notlage schamlos ausgenutzt werden soll. Selbstverständlich wird ersteres der Fall sein.
Allerdings ist die Stimmung an Bord in diesen letzten Tagen - von einigen Jetzt-erst recht - Ausbrüchen abgesehen - sicht- und fühlbar herabgestimmt. Man redet z.B. plötzlich vermehrt darüber, was zuhause wieder so alles anstehe. Meist kein sehr erfreuliches Thema, im besten Fall nur Waschen, Kochen, Putzen, Einkaufen, alles aber Dinge, die an Bord nicht anfallen. Im weniger guten Fall ruft auch so etwas wie Arbeit (das wenigstens habe ich als Pensionär hinter mir, mir droht allenfalls Arbeitslosigkeit). Oder es wird festgestellt, dass die zweite Hälfte der Reise, also die nach dem sog. Bergfest, doch immer viel schneller vergehe als die erste (Bergfest wird doch tatsächlich auch das Erreichen der Reisemitte auf hoher See genannt, obwohl es da doch gar keine richtigen Berge gibt und die immer nur vergleichsweise kurz aufgehäuften Wellenberge kaum zeitlich ausreichen, um darauf ein Fest zu feiern, ganz abgesehen davon, dass beim Auftreten nennenswerter Wellenberge vielen das Feiern ohnehin vergeht, wenn Sie wissen, was ich meine).
Unter Unerfahrenen wird auch schon mal die leidliche Kofferproblematik angesprochen: muss man die selbst vom Schiff bringen oder werden die gebracht? Ach so, die kann man einfach vor die Kabine stellen! Der in diesem Zusammenhang unvermeidliche Witz macht die Runde: Ein Ehepaar hat wie vorgesehen am Vorabend des Abreisetags die Koffer vor die Kabine gestellt, um am nächsten Morgen erschrocken festzustellen, dass man ja jetzt gar nichts mehr zum Anziehen hat, worauf man in den freundlicherweise von der Reederei - allerdings nicht für diesen Zweck - bereitgestellten weißen Bademänteln das Schiff verlassen musste, um aus den jetzt schon im Terminal befindlichen Koffern Anziehsachen herauszuholen. Ha, Ha! Gelächter allenthalben. Ich sage: Galgenhumor.
Lustige wie tragische Geschichten über Unwägbarkeiten bei früheren Heimreisen mit Bus, Bahn, Auto und Flieger machen die Runde, Vor- und Nachteile werden diskutiert, Horrorfilme über nie wieder aufgetauchtes Gepäck abgespult. Man sieht die ersten verzweifelten Verbrüderungen und Umarmungen unter den Passagieren, Anschriften und Visitenkarten werden ausgetauscht, Wiedersehensversprechen abgegeben. Man nimmt auch schon die ersten echten Abschiedsszenen wahr, Motto: falls man sich nicht mehr sehen sollte!
An dieser Stelle muss ich für die solchermaßen Vorsichtigen eine Lanze brechen: es gibt Leute, die sieht man gleich am ersten Tag einer Kreuzfahrt und hat vielleicht sogar einen sehr anregenden Abend mit ihnen, um sie dann leider während der ganzen Reise nie wieder zu sehen. Es gibt Menschen, die trifft man jeden Tag an Bord gleich mehrmals und schließlich gibt es solche, die sieht man nach der Reise am Bahnhof oder im Flughafen das erste Mal. Meine Theorie hierzu ist: es liegt an den Gewohnheiten. Haben Leute ähnliche Gewohnheiten, dann werden sie zu ähnlichen Zeiten ähnliche Plätze auf dem Schiff aufsuchen und dann trifft man sich eben. Et vice versa.
Aber zurück zu den Wehen, die dem Abreisetag vorausgehen. Viele diskutieren schon die nächsten Reisepläne und das ist nicht das schlechteste Anästhetikum. Denn nach der Reise ist vor der Reise! Wir sind im Moment aber noch auf der Reise und da liegen schon am Abend vor dem letzten Reisetag die sog. Abreiseinformationen auf dem Kabinenbett bereit, die jetzt ablenkenderweise die volle Konzentration und Aufmerksamkeit erheischen, nebst fröhlich-bunten Banderolen, mit denen man am Folgeabend die vor die Kabinentüre gestellten Koffer aufhübschen kann, damit wenigstens diese nicht so traurig aussehen (nein, natürlich damit sie nach Verbringung vom Schiff durch nächtliche Heinzelmännchen am Abreisetag in der Gepäckaufbewahrung leichter wiedergefunden werden können).
Alle Fragen und Unklarheiten, die bis dato noch Gegenstand mancher der zitierten, schon etwas freudlosen Gespräche waren, werden durch die Abreiseinformationen abschließend geklärt. Diese sind in ihrer Detailliertheit wie in ihrer Sprache schonungslos und lassen keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass mit Riesenschritten der Tag naht, an welchem aus herzlich willkommenen, lieben Gästen Abreisende werden, die man zwar irgendwann sehr gerne wieder willkommen heißen würde, jetzt dann aber doch erst mal möglichst reibungslos loshaben möchte.
Ist dann der letzte Tag vor der Abreise (meist ein Seetag) angebrochen, sind alle Illusionen dahin. Es gibt praktisch nur noch ein Thema an Bord: Kofferpacken. Alle Gespräche drehen sich um dieses Thema, vor allem um den entscheidenden Zeitpunkt. Hier gilt es psychologisch geschickt zu handeln, was natürlich von Person zu Person zu anderen Taktiken führt. Die einen packen den Koffer schon am Vormittag. Das hat den Vorteil, dass man den Druck loshat, aber den Nachteil, dass man jetzt schon äußerlich sichtbar mit der Reise abgeschlossen hat. Die anderen packen den Koffer erst am späten Abend. Das hat den Vorteil, dass…..Na, ja Sie werden selbst darauf kommen. Schließlich sollen Sie ja mitfühlen und dazu müssen Sie auch mitdenken!
Es gibt übrigens Menschen, für die das Kofferpacken ein so schreckliches Ereignis ist, dass sie damit praktisch schon am Tag nach ihrer Anreise beginnen und - unter freiwilliger Beschränkung ihrer freien Verfügungsgewalt - bereits jeden weiteren Tag Teile ihrer Reiseutensilien schon präventiv wieder in den Koffer verbannen. Und nicht wenige würden für jeden weiteren Tag an Bord ohne die Pflicht des Kofferpackens freiwillig eine weitere Seenotrettungsübung auf sich nehmen. Die Erfahrenen unter Ihnen wissen um die heroische Größe dieses Opfers und die Unerfahrenen wollen wir hier nicht weiter beunruhigen.
Dass man sich in den letzten Tagen vor der Abreise gelegentlich auch mit ganz anderen Problemen beschäftigen muss, soll eine kleine Geschichte zeigen, die ich wirklich genau so erlebt habe und die zu den seltsamsten und bis heute rätselhaftesten Begebenheiten meines Lebens gehört:
Es war der späte Nachmittag eines der letzten Tage einer 14-tägigen Kreuzfahrt von den Kanaren zu den Kapverden. Ich war gerade von einem Landausflug etwas erschöpft und durstig an Bord zurückgekehrt. Für die Vorbereitungen zum Abendessen war es noch zu früh und oben an Deck etwas ungemütlich windig. Ich entschloss mich also eine von mir nur sehr selten genutzte Entspannungslounge am Bug des Schiffes aufzusuchen, in der es immer sehr ruhig zugeht und die sich dadurch auszeichnet, dass man einerseits geschützt in einem geschlossenen Raum sitzen, andererseits aber durch die großzügige Rundumverglasung einen tollen Blick nach draußen genießen kann, wie man ihn so sonst nur noch von der Brücke des Schiffes hat.
Im vorderen Bereich der Lounge direkt an den Fenstern, die bis zum Boden herabreichten, standen Liegen, die so breit waren, dass zwei Personen bequem nebeneinander liegen konnten. Dahinter, durch niedere Raumteiler abgetrennt, standen kleine Tische mit Stühlen. Obwohl die Liege vor mir frei war, zog ich es vor, auf dem Stuhl an dem Tischchen dahinter Platz zu nehmen. Ich benutze nie Liegen, auch an Deck nicht, was den wunderbaren, zur Erholung ungemein beitragenden Nebeneffekt hat, dass man weder Liegen reservieren noch sich über die allzu Vielen ärgern muss, für die genau das die wichtigste Urlaubsbeschäftigung zu sein scheint.
Ich saß also auf meinem Stuhl, genoss die Aussicht aufs Meer und schlürfte einen Campari Orange, den besten Drink für diese Tageszeit, weil einerseits erfrischend und andererseits wegen der leicht bitteren Note bereits als vorgezogener Aperitif geeignet.
Eine jüngere, schlanke und hübsche Dame, die ich auf der ganzen bisherigen Reise noch nie gesehen hatte, näherte sich der Liege vor mir mit einem Buch in der Hand. Sie blieb etwas unschlüssig neben der Liege stehen, sah sich um, blickte dann in meine Richtung und fragte unvermittelt: wollen Sie sich zu mir auf die Liege legen?
Ich war völlig überrascht, nein perplex und es hätte nicht viel gefehlt, dass ich mich umgedreht hätte, um zu schauen, ob hinter mir vielleicht Brad Pitt oder George Clooney aufgetaucht waren. Aber es war ebenso unglaublich wie sicher: sie meinte mich, einen doch jetzt auch schon etwas älteren Herrn mit leichtem Bauchansatz und Resthaarverwaltung!
Irgendetwas in mir ließ mich ein nein danke stammeln, was ich natürlich schon im nächsten Augenblick bereute. Aber ich war immer noch wie gelähmt. Die Dame legte sich also unbegleitet (aber nicht unbekleidet) auf die Liege, ohne sich allerdings im Geringsten um ihr mitgebrachtes Buch zu kümmern. Suchte sie eine Unterhaltung? Die Minuten vergingen und es arbeitete schwer in mir. Was um alles in der Welt konnte sie zu diesem aus meiner Sicht völlig ungewöhnlichen Schritt veranlasst haben. Ich meine, würden Sie als Frau oder auch als Mann einen wildfremden Menschen, der schon einen Sitzplatz inne hatte, fragen, ob er/sie sich zu Ihnen setzen, geschweige denn legen wolle?
Allein mit der Vernunft ist das nicht zu erklären, Vernunft ist aber das, was mich hauptsächlich leitet. Und die flüsterte mir in dieser Gemengelage unterschiedlichster Gedanken halb tröstend halb lähmend zu, dass sich die Reise dem Ende zuneige, weshalb es doch ohnehin gar nicht sinnvoll sei, noch groß jemand neues kennen zu lernen.
Schließlich konnte ich mich wenigstens zu dem Entschluss durchringen, der Dame zu erklären, warum ich ihr freundliches Angebot abgelehnt hatte. Denn schließlich war zu befürchten, dass meine Absage unter den gegebenen Umständen ernsthafte Selbstzweifel mit unüberschaubaren Folgen in ihr auslösen könnte. Wahrheitsgemäß, wenn vielleicht auch etwas im Vordergründigen weilend, erzählte ich der Dame, dass ich gerade von einem längeren und anstrengenden Landausflug zurückgekommen sei und dass vermutlich weder meine Füße noch meine Socken in einem ausreichend präsentablen Zustand seien, um zum Zwecke der Liegenbenutzung freigelegt zu werden. Worauf die Dame freundlich antwortete, es sei ja gut, dass ich daran gedacht habe.
Erst viel später - leider bin ich, das haben Sie bestimmt bereits bemerkt, kein sehr spontaner Mensch - fiel mir ein, wie ich gleichzeitig dem Wunsch der Dame wie ihrem Geruchsempfinden und dem der anderen Gäste hätte Rechnung tragen können: ich hätte mich einfach neben sie auf die Liege setzten können. Und mein Hinweis auf das leidige Sockenproblem hätte gleich einen lockeren Gesprächseinstieg abgegeben.
Aber nichts dergleichen geschah, mein Campari Orange war inzwischen ausgetrunken und ich verabschiedete mich, um mich für das planmäßig immer gegen 18:00 Uhr anstehende Abendessen fertig zu machen. Auf den Gedanken, die Dame zu fragen, ob sie sich mir anschließen wolle, kam ich nicht.
Den ganzen Abend über ärgerte ich mich über mich selbst. Auch wenn ich normalerweise überhaupt nicht an so etwas glaube: aber vielleicht hatte ein freundliches Schicksal mir hier eine Chance geboten und ich hatte sie ungenutzt verstreichen lassen. Wer weiß, was alles sich hätte daraus entwickeln können. Mindestens ein paar nette Gespräche oder gemeinsame Abende. Vielleicht eine Freundschaft, wie sie sich schon aus einigen Reisebekanntschaften entwickelt hatte.
Ich beschloss zwei Dinge: erstens sollte mir so etwas nie wieder passieren. Künftig wollte ich auf eine solche Situation - obschon zufriedener Single und überzeugter Alleinreisender - spontan, geschmeidig und offen reagieren. Schließlich bin ich doch auch sonst nicht auf den Mund gefallen! Zweitens wollte ich die Dame wiedersehen. Ich hielt den ganzen nächsten Tag die Augen auf, überall, wo ich mich aufhielt, suchte ich die Umgebung nach ihr ab.
Ich fand sie nicht. Nun ist es zwar nicht besonders ungewöhnlich, dass man auf einem großen Schiff Leute, die man einmal getroffen hat, nie wieder sieht. Aber das doch sehr Ungewöhnliche der geschilderten Situation ließ mich zu diesem Zeitpunkt insgeheim jetzt doch zweifeln, ob ich in der Entspannungslounge vielleicht eingeschlafen war und die ganze Sache nichts als ein süßer Traum gewesen war.
Am Abend vor dem Abreisetag überlegte ich hin und her, ob ich auch an diesem Abend wie an jedem Abend noch in die Disco zum Abtanzen gehen sollte. Irgendwie war ich nicht mehr sonderlich motiviert und musste zudem am nächsten Morgen schon um 5:00 Uhr aufstehen, weil ich einen unangenehm frühen Rückflug hatte. Aber letztlich siegte meine Bordroutine, ein wenig Bewegung konnte ohnehin nicht schaden und ich wollte mich auch noch vom DJ persönlich verabschieden, der mir doch so manchen Musikwunsch erfüllt hatte und den ich schon von früheren Reisen her kannte.
Also begab ich mich in die Tanzbar. Viel war dort am Abreiseabend um diese Zeit nicht mehr los. Ich unterhielt mich ein Weilchen mit dem DJ und konnte ihn überreden, einige meiner Lieblingssongs zu spielen, was mich dann sogar noch den Weg auf die Tanzfläche finden ließ, wo ich mich ein letztes Mal - die Tanzfläche war leer - um mich selbst drehte und dabei einmal mehr die Zeit vergaß. Eigentlich hätte ich plangemäß längst in der Koje liegen müssen.
Plötzlich betrat eine einzelne Dame die Bar. Sie blieb etwas unschlüssig im Eingangsbereich stehen und sah sich um. Ich traute meinen Augen kaum: sie war es, die Dame auf der Liege, die, die ich die ganze Zeit gesucht hatte! Die bislang abends noch nie in der Disco war! Ich erkannte sie sofort. Ob sie mich im flackernden Licht der Tanzfläche auch erkannt hatte, weiß ich nicht.
Während sich meine Beine im Rhythmus der Musik automatisch weiter bewegten, stand mein Verstand still. Was sollte ich tun? Später war es mir völlig klar, was ich hätte tun sollen: ich hätte zu ihr hingehen und sie fragen sollen, ob ich sie, die mich so nett auf ihre Liege eingeladen hatte, jetzt freundlicherweise auf meine Tanzfläche einladen dürfe. Aber etwas in mir bremste mich aus: es war diese blöde Vernunft, die mir zuflüsterte: was soll das Ganze denn noch, es ist spät, du musst eh ins Bett, morgen ist sehr frühe Abreise! Und ich gehorchte und unternahm nichts.
Ich drehte mich weiter im Kreise. Die Dame blieb noch kurz stehen und dann ging sie. Ich habe sie nie wieder gesehen.
Und erst jetzt, da ich die Geschichte niederschreibe, kommt mir der Gedanke, ob auch sie mich vielleicht gesucht hatte und die Tanzbar der letzte Ort war, wo sie mich ihrer Ansicht nach noch hätte finden können. Oder war sie am Ende nur ein Geist, der mich zu dieser mitternächtlichen Stunde heimsuchen wollte? Oder ein Wunschbild? Nein, ich kann Ihnen versichern, die Dame war absolut real und ich habe weder alkoholbedingt noch aus irgendwelchen anderen Gründen Gespenster gesehen. Sie werden ganz bestimmt zugeben müssen: eine ganz und gar rätselhafte, eine verrückte Geschichte, eine unglaubliche, aber wahre Geschichte.
Zur Entspannung von solchermaßen unerklärlichen Vorfällen schildere ich Ihnen hier abschließend und auch auf das Thema dieses Büchleins zurückkommend einmal ganz kurz, wie ich meinen Tag vor der Abreise plane und gestalte:
Nach dem Aufstehen um 08:00 Uhr mache ich mich fertig (haben Sie schon mal darüber nachgedacht, wie bescheuert das eigentlich klingt: sich fertigmachen - und das schon am frühen Morgen?; wir Schwaben sagen dazu: sich richten, aber das ist auch nicht viel besser, wenn überhaupt).
Nach dieser Prozedur verzichte ich erst einmal und zum ersten Mal auf der Reise überhaupt komplett auf das Frühstück. Der Verzicht auf eine komplette Mahlzeit auf einer Kreuzfahrt ist - man unterschätze das nicht - angesichts der zahllosen sirenengleichen Verlockungen eine wahrhaft mannhafte Großtat (auch wenn diese von einer Frau begangen werden sollte) und soll bei mir in diesem speziellen Fall einen Gesundheits-Halbtag einleiten. Denn ein Blick in den Spiegel offenbart immer, dass das schlaraffenlandgleiche Paradies bereits äußerlich deutliche Spuren hinterlassen hat.
Sodann gönne ich mir im Spa-Bereich eine Fußreflexzonenmassage. Nicht nur, dass die Füße von den zahlreichen Fußwegen auf den Landausflügen und durch meine mir selbst auferlegten Treppengänge auf dem Schiff malträtiert sind, nein, auch die ungewohnten nächtlichen Tanzrunden, die ich ausschließlich auf einer Kreuzfahrt drehe, haben ihr Übriges getan, so dass den Füßen auch einmal etwas Gutes getan werden soll. Und außerdem werden durch eine solche Massage ja bekanntermaßen auch die inneren Organe angeregt, was angesichts der Aufgaben, die in den letzten Tagen auf diese zugekommen sind, sicherlich nicht das Schlechteste ist.
Die Massage endet immer mit der zeremoniellen Verabreichung eines Grüntees (die inneren Organe werden sich wundern, welche ganz und gar unbekannten Dinge da noch so auf sie zukommen sollten) und anschließend begebe ich mich in eine Entspannungslounge, wo ich mir - zumindest der so angeregte und entsprechend dem Bauchumfang ohnehin geweitete Magen mahnt bereits energisch sein Recht an - einen habhaften Lassi und einen ebensolchen Smoothie gönne.
So entspannt gehe ich um 11:15 Uhr auf meine Kabine und bringe das leidige Kofferpacken hinter mich. Für mich persönlich steht dahinter die folgende Überlegung: erstens kann ich in der Kürze der Zeit bis zu dem von mir immer auf 12:00 Uhr angesetzten Mittagessen ohnehin nicht mehr viel anderes unternehmen, zweitens habe ich das gute Gefühl, den meisten Mitreisenden jetzt weit überlegen zu sein, weil ich mir diese Riesenlast schon von der Seele geschafft habe, und drittens habe ich von nun an den ganzen Nachmittag und vor allem auch den Abend zur unbelasteten und freien Verfügung. Und besonders letzteres ist mir sehr wichtig. Noch einmal so tun, als gebe es auf dieser Reise auch noch weitere solche Abende.
Wenn das Packen dann nach etwa einer halben Stunde erledigt ist, begebe ich mich - nicht ohne die inneren Organe zuvor noch durch einen Sherry medium wieder auf eine härtere Gangart einzustimmen - ebenfalls zum ersten Mal auf der Reise in eines der Fischrestaurants, wo ich mir ein 3-gängiges, aber durch viele Omega-3-Fettsäuren in seinen negativen Auswirkungen etwas abgemildertes Menü gönne: Räucherlachs auf Schwarzbrot, Backfisch mit Kartoffel- und Gurkensalat und Remouladensauce, rote Grütze.
Der so eingeleitete Nachmittag vergeht dann meist sehr schnell, häufig findet noch eine Veranstaltung speziell für Stammgäste statt und am Abend wird noch ein letztes Mal meine Bordroutine abgespult: 5-Gänge-Menü, - wenn möglich - klassisches Konzert, Zigarre und Whisky, Barbesuch mit Live-Band und schließlich Besuch der Disco (von mir intern Abnehmbar genannt) zum Abtanzen bis zu der von Helene Fischer gepriesenen Atemlosigkeit und mit den wenigen, die an diesem Tag und zu dieser vorgerückten Stunde immer (noch) lachen.
Ich kenne übrigens persönlich Kreuzfahrtsüchtige, die die letzte Nacht auf dem Schiff einfach durchmachen. Nicht das Schlechteste, wenn man bedenkt, dass man dann erstens die letzten Stunden maximal genutzt hat und zweitens alle Unannehmlichkeiten des Abreisetags wie im Schlaf vergehen dürften. Ich aber gehöre zu den Disziplinierten und begebe mich spätestens um 01:30 Uhr auf den Weg in meine Kabine. Denn so ein Abreisetag kann einem manchmal ganz schön viel abverlangen und deshalb gilt es, ihm einigermaßen ausgeruht zu begegnen, welche Theorie sich an dem hier beschriebenen Abreisetag noch bewahrheiten sollte.
Wenn ich dann so durch die menschenleeren Gänge und Korridore gehe, wo mir allenfalls noch nachtaktive Heinzelmännchen begegnen, und wenn ich dann die langen, verödeten Kabinenflure betrete mit den vor die Kabinentüren gestellten Koffern, die wie stocksteife Soldaten wirken, die die Gemächer ihrer Herrschaften bewachen, dann weiß ich: es gibt kein Schönreden mehr, keinen Verdrängungsmechanismus, keine Vermeidungstaktik, dies ist das unwiderrufliche Ende, der Abreisetag ist angebrochen.
I.
Ich hatte den Tag minutiös geplant. Das mache ich immer so, denn mein zweiter Vorname ist Planung. Ich liebe es, wenn die einzelnen Abschnitte eines Reisetags zahnradgleich und exakt wie ein gut geöltes Räderwerk einem genauen Plan folgend ineinandergreifen und ablaufen.
Die bereits am Vorabend des letzten Seetages auf dem Kabinenbett bereitgelegten Abreiseinformationen (von mir intern Marschbefehl genannt) hatte ich - obgleich als Stammgast durchaus abreiseerprobt - mehrmals genauestens gelesen und erneut verinnerlicht. Da die Abreise von einem Kreuzfahrtschiff gleichermaßen einer Vertreibung aus dem Paradies wie aus dem Schlaraffenland gleicht, verdrängt man die Details ja jedes Mal sehr gekonnt und sieht sich ihnen dann am Ende einer Reise quasi immer wieder als etwas völlig Neuem konfrontiert.
In diesem Zusammenhang frage ich mich stets, warum die Kabinencrew so gemein ist, den Marschbefehl gleichsam wie ein saures Betthupferl gerade auf das Bett zu legen, obwohl es in der Kabine durchaus auch andere Präsentationsmöglichkeiten gäbe. Will man den angesichts der bevorstehenden Abreise ohnehin schon zur Depression neigenden Gästen etwa auf ihre letzten Tage auch noch den Nachtschlaf rauben? Ich jedenfalls räche mich präventiv für derlei vermutete Absichten, indem ich den Abreiseinformationen die Ehre gebe, mir als morgendliche Klolektüre zu dienen, zumal ihr auf- und anregender Inhalt durchaus angetan ist, den Prozess des Wachwerdens und andere physiologische Prozesse anzukurbeln.
Natürlich hatte ich auch die zur Tristesse der bevorstehenden Abreise in einem seltsamen Kontrast stehenden, weil fröhlich bunten Banderolen an meinem großen Koffer angebracht und diesen ausnahmsweise einmal wieder rechtzeitig vor die Kabinentür gestellt und damit - kreuzfahrttechnisch gesprochen - aufgegeben, allerdings nicht im ganz eigentlichen Sinne des Wortes, sondern wie immer verbunden mit der nie ganz aufgegebenen Hoffnung, ihn dereinst wieder zu bekommen.
Ausnahmsweise deshalb, weil ich den großen Koffer bei Bahnan- und -abreise immer der Bequemlichkeit halber einem Frachtunternehmen anvertraue. Sonst stelle ich den Koffer nie schon am Vorabend der Abreise vor die Türe, um von den Heinzelmännchen für mich aus dem Schiff getragen zu werden. Das mache ich nämlich am nächsten Morgen selbst.
Dies hat den entscheidenden Vorteil, dass ich mir nicht schon am letzten Abend den Kopf darüber zerbrechen muss, was ich schon einpacken darf und was ich am nächsten Tag alles noch brauchen würde. Denn ich sage Ihnen: Kopfzerbrechen zählt am Ende einer Kreuzfahrt, auf der man sich fast über gar nichts Gedanken machen muss, nicht gerade zu meinen Lieblingsdisziplinen. Außerdem kostet es keine wirklich großen Mühen, den Koffer selbst zu transportieren, und man erspart sich die Sorge, dass ein schon im Reisefieber befindlicher abreisender Mitreisender unter den vielen sehr ähnlich aussehenden Koffern im Kofferterminal aus Versehen meinen erwischt.
Von zwei Weckern und einem von der Rezeption aus gesteuerten telefonischen Weckruf melodisch auf den großen Tag eingestimmt hatte ich also nun meine morgendliche Kabinenroutine gekonnt abgespult und war - zwar völlig planwidrig, aber angesichts der noch folgenden Ereignisse letztlich nicht weiter störend - sage und schreibe eine Viertelstunde vor der von der Schiffsführung auf 09:00 Uhr angesetzten Entsetzung aus der Kabine abmarschbereit.
Gerüstet mit Jacke, unvermeidlichem Hut und Trolley war ich gerade im Begriff, mein Nest der Geborgenheit endgültig zu verlassen, da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: die Bordrechnung!
Denn natürlich wird der Abreisetag von der gemeinen Crew zu allem Überfluss auch noch dazu genutzt, endlich einmal ordentlich mit den Passagieren abzurechnen, wenngleich auch nur finanziell. Der Tag der Abrechnung war also - einem Jüngsten Gericht nicht ganz unähnlich - gekommen. Das hätte ich diesmal tatsächlich fast vergessen! Wohl auch ein Ergebnis der bereits erwähnten Verdrängungsmechanismen oder sollte etwa meine schwäbische und damit der jederzeitigen Kontrolle über die Finanzen mächtige Mentalität unter dem tagelangen Aufenthalt unter den diesbezüglich weitaus lockereren Norddeutschen gelitten haben und entschlafen sein?
Wie auch immer, jedenfalls erwachte der Kontrollzwang sofort mit ganzer Macht, ich nahm den vor die Kabinentür gesteckten Umschlag mit der Bordrechnung, öffnete ihn, überflog den Inhalt und….
Natürlich, mein in solchen Dingen ebenso geübtes wie grundsätzlich misstrauisches Auge erkannte den Fehler sofort: sie hatten den 15€-Stammgäste-Spa-Gutschein, der neben dem finanziellen Aufwand auch noch die durchaus nicht zu verachtenden Schmerzen einer Fußreflexzonenmassage abfedern sollte, nicht verrechnet.
Nun sind 15€ für einen Schwaben keine zu vernachlässigende Größe, machen diese doch immerhin exakt 0,3% des Gesamtreisepreises aus! Ergo musste der vorgefasste Plan die erste Änderung erfahren. Das war leider unumgänglich. Die ersten Sandkörner waren ins Getriebe geraten….
Ich nahm also meine Siebensachen (der geneigte Leser wird mitgezählt haben: es waren mit Jacke, Hut und Trolley tatsächlich nur drei) und machte mich auf den Weg zur Rezeption, einen Weg, der, wenn man ihn beschreiten muss, immer mit etwas Unangenehmem verbunden ist und daher dem berühmten Weg nach Canossa vergleichbar ist.
Wie nicht anders erwartet, hatten natürlich viele andere Gäste den gleichen schweren Weg und es wimmelte dort nur so von Menschen. Natürlich: wo abgerechnet wird gibt es Widerstand! Und immerhin waren - einige von ihnen durfte ich persönlich kennenlernen - mehrere Schwaben an Bord….Aber lassen wir das, schließlich sollte man Klischees auch nicht überstrapazieren und natürlich möchte ich auch nicht als Nestbeschmutzer des Ländles verwiesen werden.
Und es liegt ja auch nicht ganz außerhalb des Möglichen, dass eine nicht ganz unerhebliche Anzahl von Gästen der Vertreibung vom Schiff dadurch zu entgehen hofften, dass sie in letzter Sekunde noch die sich anschließende Norwegenreise buchen wollten, um sich so unversehens von rechtlosen Abreisenden zu willkommenen Durchreisenden zu verwandeln. Als erfahrener Vielfahrer weiß ich: ein vollkommen hoffnungsloses Unterfangen, welches in tiefster Enttäuschung enden wird. Denn alle Reisen sind fast immer ausgebucht.
Letztlich ist sichtbar geteiltes Leid ja nur halbes Leid und die ältere Dame, die in der Reihe vor mir war, hatte ganz offensichtlich ein ähnliches Anliegen wie ich. Schön, dann war die Rezeptionistin schon mal in die Thematik eingearbeitet! Auch unter peinlichst genauer Wahrung des Diskretionsabstands konnte ich an der streitgegenständlichen, mehrere Seiten umfassenden Bordrechnung der Dame vor mit erkennen, dass diese in der Einkaufspassage kräftig eingekauft hatte. Und aus ihren mit leicht erhobener Stimme gesprochenen Worten konnte ich entnehmen, dass sie sich partout nicht mehr erklären könne, wofür sie gerade den Betrag von 75€ ausgegeben haben sollte.
Ich war selbstverständlich voll des Mitgefühls: schließlich wusste ich erstens, wie lang der mit Geschäften gespickte Weg von den Bars zum Theater ist, zweitens weiß ich auch, welchen Versuchungen gerade weibliche Passagiere hier ausgesetzt sind und natürlich weiß ich drittens auch um die enthemmende Wirkung der im Gegensatz zu den in den Geschäften angebotenen Waren inklusiven Cocktails und des bargeldlosen Einsatzes der Bordkarte. Da kann man schon mal den Überblick verlieren. Und im direkten Vergleich von meinen 15€ zu ihren 75€ musste sie ja exakt die 5-fachen Qualen erleiden.
Schließlich konnte nach eingehender Prüfung - mein zeitlicher Vorsprung zum ursprünglichen Plan A schrumpfte bereits sichtlich - geklärt werden, dass die verdächtige Ausgabe just für die Handtasche getätigt worden war, welche die Dame die ganze Zeit in ihren leicht verkrampften Händen gehalten hatte. Derart erleichtert trollte sich also die Dame und ging ihren Weg des Unvermeidlichen.
Relativ rasch wenngleich mit personalintensivem Einsatz konnte auch mein Anliegen zur Zufriedenheit aller gelöst werden und ich konnte - fast pünktlich und mit einem gewissen Triumphgefühl, der Schlamperei und Unordnung in dieser Welt einmal mehr ein Schnippchen geschlagen zu haben - den Weg zum letzten Frühstück an Bord (intern Henkersmahlzeit genannt) und nächsten Abschnitt des Abreisetags antreten.
II.
Zur Feier des Tages hatte ich etwas Besonderes geplant: ich wollte das Frühstück in einem Restaurant einnehmen, welches ich auf dieser Reise noch nie zum Frühstück aufgesucht hatte. Dort saß man auch zu dieser Mahlzeit an einem weiß gedeckten Tisch, bekam den Kaffee an den Tisch geliefert und konnte beim Ober auch allerlei Köstliches individuell bestellen. Daneben gab es aber auch ein Buffet zur Selbstbedienung. Nun ließ mein fast noch intakter Zeitplan zwar einige Luft, aber man sollte ja angesichts zahlreicher Unwägbarkeiten trotzdem nicht Vabanque spielen und so entschloss ich mich, die Sache mit der Feier nicht zu übertreiben und mich am Buffet selbst zu bedienen.
Das gestaltete sich nun aber etwas zeitaufwändiger als bislang gewohnt. Denn zum einen war das Buffet anders aufgebaut als die Buffets, die mir an Bord vertraut waren, und zum anderen setzten die Abreisedepression und die zum Ende einer Reise immer bemerkbare Übersättigung meinem Appetit gewisse Grenzen. Hinzukam das durch eine rasch durchgeführte Sichtkontrolle mehr als bestätigte Gefühl, dass man vielleicht schon heute mit dem unvermeidbaren Abnehmen beginnen sollte.
Aber alle den Buffetgebrauch begrenzenden Aspekte waren schnell verworfen: schließlich ist auch der Abreisetag noch ein Reisetag und damit ein Urlaubstag, den man - soweit das überhaupt möglich ist - genießen sollte, und dann ist da ja auch noch die lange und entbehrungsreiche Heimreise. Also wurde der Teller mit den üblichen verdächtigen Energieträgern beladen: Rührei, Bohnen, Würstchen, Rösti und für die Gesundheit quasi einem Alibi gleich eine Grilltomate. Dazu ein Teller mit „Käse schließt den Magen“. Und zur Abrundung und damit der Körper schon mal weiß, welche Waffen im Kampf mit den Kilos zuhause aufgefahren werden: ein Obstteller.
Derart gerüstet saß ich an meinem Platz und während ich gerade etwas wehmütig bei dem Gedanken an den kargen heimischen Frühstückstisch das erste Stück der köstlichen Würstchen zerkaute, glitt mein Blick wohlgefällig über die bereits erwähnten und dem mitdenkenden Leser wohlbekannten Siebensachen.
Diese hatte ich meiner Natur entsprechend sehr sorgfältig und übersichtlich aufgebaut: über dem Trolley mit dem ausgezogenen Griff hing die Jacke und darauf war wiederum der Hut gesetzt. Man hätte meinen können, ein kleiner uniformierter Wachsoldat eskortiere einen der letzten Akte meiner Wachablösung auf dem Schiff (nein, an eine andere Auslegung unter dem Gesichtspunkt der Henkersmahlzeit dachte ich jetzt nicht). Schön, dass es noch kleine Stellen gibt, wo morgens um 09:20 Uhr die Welt noch in Ordnung ist und aller guten Dinge drei sind….
Aber….verdammt….das kann doch nicht sein!!Wo hat der Uniformierte denn die Umhängetasche? Die Umhängetasche, die ich auf Reisen immer dabei habe! Das vierte Stück der Siebensachen! Das mit Geld, Kreditkarte, Reiseunterlagen, Reisepass…..Das gibt’s doch nicht, oh nein, bitte nicht!
Nur ganz kurz verdächtigte ich im ersten Schrecken und in einer meiner gelegentlichen misanthropischen Anwandlungen unbekannte Mitreisende, die Tasche während meines Aufenthalts am Buffet entwendet zu haben, was aber schon deshalb nicht der Fall sein konnte, weil ich - und ich bin gewöhnlich ein sehr strukturierter Mensch - meine Umhängetasche ihrer Bestimmung gemäß immer umgehängt habe, sobald ich meinen Platz verlasse, um an ein Buffet zu gehen.
Also - und hier beweist sich einmal mehr der Wert fester Handlungsstrukturen - konnte ich nur eine Sekunde später messerscharf schließen, dass ich die Tasche bei dem planwidrigen, weil jetzt plötzlich zum Zwecke des Canossa-Ganges initiierten Auszugs aus meiner Kabine, am Kleiderhaken in der Kabine hängen gelassen hatte. Und das war alles andere als eine erfreuliche Erkenntnis: denn als erfahrener Abreisender wusste ich genau, dass mittlerweile alle Kabinentüren vom Housekeeping zum Zwecke der Reinigung geöffnet worden waren und einladend offen standen. Selbst ein Atheist wie ich es bin, konnte sich angesichts der Bedrohlichkeit des sich jetzt vor meinen Augen abspielenden Szenarios eines „Oh Gott“ nicht erwehren.
Ich verlasse also Hals über Kopf Henkersmahlzeit nebst Wachsoldaten (ja, plötzlich hatte das letzte Frühstück wieder jenen bedrohlichen Charakter für mich angenommen) und laufe, nein renne Richtung Kabine. Irgendwie geht mir ein alter Titel von Ernst Mosch durch den Kopf: „Weit, so weit ist mein Heimatland…“. Und natürlich „So weit die Füße tragen“, der Film der ursprünglich mit Heinz Weiss verfilmt wurde, dem Schauspieler, der in späteren Jahren Traumschiffkapitän wurde, womit sich auch der Kreis meiner Gedanken schloss.
Der geneigte Leser wird meinen in diesem Moment völlig desolaten und jetzt auch gänzlich unstrukturierten Geisteszustand
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 30.03.2017
ISBN: 978-3-7438-0547-7
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