Genervt sprang ich aus dem Wagen meiner Eltern, mitten hinein in die Dunkelheit. Auf diesen Umzug hatte ich wirklich keine Lust.
Ich vermisse Mona ja jetzt schon, ging es mir durch den Kopf.
Mona war meine beste Freundin. Wir kannten uns schon seit dem Kindergarten und gingen seitdem durch dick und dünn. Sie war dann aber auch schon so ziemlich das einzige, das ich vermissen würde.
Oh, tut mir leid, ich hatte vergessen, mich vorzustellen. Mein Name ist Riley Sophia Richards und ich bin vor wenigen Wochen erst 17 geworden.
Da war auch noch alles Okay.
Vor fünf Wochen war ich immer noch in dem Glauben gewesen, Dan und ich seien Glücklich und dachte, dass wir für immer in Dexterville bleiben würden.
Bei dem Gedanken an meine alte Heimat musste ich unwillkürlich seufzen.
Ich vermisste meine Freundin ja jetzt schon, und dabei waren wir erst heute Mittag endgültig abgereist.
Der Grund für unseren Umzug war, dass mein Vater eine besser bezahlte Stelle angeboten bekommen hatte. Wir bekamen sogar Geld, um uns hier in Nevermoore eine neue Wohnung zu kaufen und den Umzug zu finanzieren.
Und dann ging alles ganz schnell.
Vor drei Wochen hatten wir eine alte, zu einer Wohnung umgebaute Mühle gekauft und hatten in Dexterville alle Zelte abgebrochen. Für unser altes Haus gab es auch schon Interessenten.
Ich war mal wieder die Einzige, der das alles nicht passte.
Ich meine, es war ja nicht so, dass ich etwas gegen mehr Geld hatte. Aber mussten wir dafür denn unbedingt in so ein kleines Kaff ziehen?
Ich bin ein Großstadtkind.
Ich bin daran gewöhnt, Abends auf Partys zu gehen und jederzeit mit dem Bus zu meiner Freundin kommen zu können.
Ich bin an die lauten Geräusche und die vielen Lichter der Stadt gewöhnt.
Aber dieser Ort hatte nur zwei Buslinien, die Stündlich fuhren, und der nächste Große Ort lag vermutlich 30 Kilometer weit weg. Und nach Straßenlaternen oder vorbeifahrenden Autos konnte man hier lange Ausschau halten.
Wie sollte ich das denn bloß aushalten?
"Komm Schatz, helf' uns beim ausladen. Es ist schon Spät und wir wollen doch alle schlafen gehen." rief mein Vater freundlich und riss mich somit aus meinen trüben Gedanken. Widerwillig nahm ich ihm die Kiste ab und trug sie in unser neues Haus.
Wenn ich nicht so müde gewesen wäre, hätte ich ihnen erstmal einen Vortrag gehalten, wie schrecklich hier doch alles war.
Klar, sie hatten das alles auch für uns gemacht, aber trotzdem!
Ja, ich liebe meine Eltern. Das steht außer Frage.
Ich liebe meine Mutter für ihre leicht vergessliche Art und ihre Begabung, einem immer das Gefühl zu vermitteln, einen verstehen zu können.
Ich liebe meinen Vater für seine oft strenge, aber immer auch liebevolle Art und die Größe, sich auch Fehler einzugestehen und jede noch so ausweglose Situation kühl zu betrachten und dann eine Lösung zu finden.
Und ich liebe sie beide dafür, dass sie immer für mich da sind.
Ich komme ganz einfach nicht mit dem klar, was vor dem Umzug passiert ist.
"Andy! Mach sofort die Musik leiser!" schrie ich durch die Wand meinen Bruder an. Stattdessen höre ich aber nur ein Lachen. Wir waren noch nicht einen Tag weg und schon musste er mich wieder Ärgern.
Andy ist mein Zwillingsbruder, und genau 12 Minuten und 37 Sekunden älter als ich. Wir haben die gleichen braunen, glatten Haare und sehen uns auch vom Gesicht her sehr ähnlich. Allerdings habe ich grüne Augen, und Andy hellblaue. Die hat er eindeutig von unserem Vater, denn meine Mutter hat, genau wie ich, grüne Augen.
Damit in der Schule aber nicht auffällt, dass wir Zwillinge sind, habe ich mir die Haare etwas heller gefärbt. Seltsamerweise kam ihm das ganz recht, obwohl er ansonsten jede Gelegenheit nutzt, um mich aufzuziehen oder vor anderen zu necken.
Ich musste lächeln, als ich daran dachte, wie wir vor knapp zwei Jahren für ein Pärchen gehalten wurden. Es hatte echt lange gedauert, bis uns jeder geglaubt hatte, dass wir Geschwister sind. Für Andy war die ganze Sache wahrscheinlich peinlicher gewesen, als für mich.
Genervt stand ich auf. Jetzt hatte das weiterschlafen eh keinen Sinn mehr, ich war hellwach. Das würde er noch zurück bekommen!
"Ach Andy..." säuselte ich und lehnte mich lässig in seinen Türrahmen. Wie auch in meinem Zimmer standen hier überall noch Kisten herum. Natürlich hatte er es sich nicht nehmen lassen, seinen Laptop als erstes auszupacken und seine Lieblingsmusik, Rap, in voller Lautstärke abzuspielen.
Als er sich verwirrt in meine Richtung drehte und die Augen zusammenkiff warf ich einen nassen Waschlappen nach ihm und rannte. Ich rannte die Treppe herunter und schnurstracks in die Küche. Andy war schneller als ich, aber bis er sich aufgerappelt hatte, war ich bereits in der Küche angekommen.
"Morgen Dad." Ich umarmte meinen Vater überschwänglich und drehte ihn dabei so, dass er mit dem Rücken zur Tür stand. Wie ich gehofft hatte, warf Andy einfach den Lappen, ohne zu schauen. Mit einem lauten 'klatsch' traf er seinen Rücken und viel dann zu Boden. Ich musste mich echt zusammenreißen, um nicht laut los zu lachen.
Ich sah genau, wie Andy sich das lachen verkniff und stattdessen reumütig zu unserem Vater aufsah. "Tut mir echt leid, Dad. Eigentlich war der für Riley bestimmt." Er warf mir einen gespielt bösen Blick zu und hob dann den Waschlappen auf.
"Das ihr euch nicht einen Tag vertragen könnt." Unser Vater schüttelte den Kopf. Ich sah Andy grinsen. Er kam auf mich zu und umarmte mich. "Aber das tun wir doch! Ich hab dich lieb, Schwesterherz!" Er drückte mir einen Kuss auf die Wange, hob mich hoch und wirbelte mich dann im Kreis. Er hatte sein Ziel erreicht, als ich mich wankend vor Schwindel an ihm festhalten musste, um nicht über meine eigenen Füße zu stolpern.
Jetzt musste auch mein Vater lachen. Als ich mich wieder gerade hinstellen konnte, ohne umzufallen, boxte ich ihm spielerisch gegen die Schulter. Auch wenn wir uns nicht immer gut verstanden, war er immer für mich da. Ich wusste, dass ihm das mit dem Umzug auch nicht so gut gefiel, trotzdem versuchte er immer noch mich aufzuheitern.
Und leider musste ich zugeben, dass die alte Mühle ein richtig gemütliches Heim abgab. Sie hatte drei Stockwerke, das oberste war ursprünglich der Lagerraum für das Mehl. Es sollte später mal mein Zimmer werden. Dann hätte ich sogar ein eigenes Bad. Darunter lagen die Zimmer meines Bruders und meiner Eltern. Im Erdgeschoss hatte man den Mühlstein abmontiert und aus dem Raum ein Wohnzimmer gemacht, daneben gab es noch die Küche und ein Bad.
Das eigentliche coole an meinem Zimmer war aber, dass man durch eine Leiter, die im Schuppen hinter der Mühle steht, direkt durch eine Luke in mein Zimmer gelangen konnte. Man musste zwar knapp sechseinhalb Meter klettern, aber die Idee war trotzdem genial.
"Erde an Riley!" Meine Mutter stand vor mir und wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht. Ich hatte weder mitbekommen, dass sie den Raum betreten hatte, noch was sie gesagt hatte. "Was?" frage ich verwirrt.
"Sie hat gefragt, was wir heute machen wollen." erklärte mir mein Bruder grinsend. "Ich werde mit ihr in die Stadt fahren. Mich mal dort umschauen und so."
Ich dachte kurz nach. "Ich denke ich werde hier bleiben. Vielleicht gehe ich später mal spazieren. Aber ich habe keine so große Lust, mir diesen kleinen Ort hier genauer anzuschauen. Ich werde hier den Rest meines Lebens verbringen müssen. Da hat das auch noch einen Tag Zeit."
Ich sah genau den enttäuschten Blick meiner Mutter und ich hörte auch das seufzen meines Vaters. Aber es war mir egal. Ich wollte nicht hier leben und das konnten sie auch gerne wissen.
Ich nahm mir eines von den belegten Brötchen, die noch von der Fahrt übrig waren und ging wieder in mein Zimmer. Meine Mutter rief mir noch hinterher, dass sie um 12 Uhr fahren würden, falls ich mich doch noch umentschied.
Leicht genervt ließ ich mich auf dem Holzboden nieder. Ich durchsuchte einige Kisten nach meinem iPod. Als ich ihn endlich gefunden hatte, war meine Laune auf dem Nullpunkt. Ich musste immer wieder an meine Freunde in Dexterville denken. Ganz besonders an Dan. Ich konnte einfach nicht verstehen, warum er schluss gemacht hatte.
Ich bemerkte, wie mir eine Träne die Wange herunter lief. Hastig wischte ich sie weg. Ich versuchte, mich wieder zu beruhigen.
Nachdem ich wieder klar denken konnte, begann ich damit, die ersten Kisten auszuräumen. Ich bezog mein Bett (die letzte Nacht hatte ich in einem Schlafsack verbracht), räumte meinen Kleiderschrank ein und stellte die ersten Bücher in das Regal.
Wir hatten kaum Möbel mitgenommen, da dieses Haus schon mit Schreibtischen, Betten, einer Küche, einer Couch und allen anderen wichtigen Dingen ausgestattet war.
Nach einer halben Ewigkeit waren fast alle Kartons ausgepackt. Aber ich hatte keine Lust mehr, weiter zu machen. Und außerdem waren meine Gedanken immer wieder abgeschweift. Ich hielt es einfach nicht mehr länger aus. Ich musste raus hier, und zwar dringend.
In Windeseile zog ich mir Jogginghose und Laufschuhe an, rief einmal durch das ganze Haus, dass ich joggen gehen würde und kletterte dann die Leiter runter. Ich hatte keine Lust, mit irgendwem zu sprechen, was auch der Grund war, weshalb ich mich für diesen Weg entschieden hatte.
Ich rannte aus dem Schuppen direkt in eine Blumenwiese. Der Duft der blauen und roten Blüten benebelte meinen Kopf, und ich war froh darüber. Gestern war es zu dunkel gewesen, um irgendetwas zu erkennen. Aber jetzt, bei Tageslicht, stellte sich heraus, dass die Umgebung genauso schön war, wie die Mühle von innen. Wieso konnte es denn nur nicht hässlich sein? Dann hätte ich meine Eltern leichter davon überzeugen können, wieder zurück zu fahren. Obwohl ich die Hoffnung daran schon längst aufgegebenen hatte.
Aber diese Ruhe brachte mich ganz langsam um. In der Ferne konnte ich ein Rauschen hören, auf das ich jetzt zulief. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich den Fluss erst bemerkte, als ich fast hineingelaufen wäre.
Natürlich!, dachte ich. Wir wohnen in einer Mühle. Logischerweise muss dann auch ein Fluss in der Nähe sein.
Für diese Dummheit hätte ich mich gerne selbst getreten.
Ich sah zurück. Die Mühle lag schon ein ganzes Stück hinter mir, aber ich wollte nicht umkehren. Also beschloss ich, dem Flusslauf zu folgen. Nach einer halben Stunde monotonen Laufens blieb ich erschöpft an einer kleinen Brücke stehen. Ich ließ mich an dem Pfosten nieder, zog die Schuhe aus und ließ meine Füße im Wasser baumeln. Das Rauschen hinderte mich am Denken, obwohl es eher leise war. Ich legte mich auf den Rücken, die Füße immer noch im Wasser, und genoss die Sonne. Plötzlich sah ich durch meine Augenlieder nicht mehr gelb sondern schwarz. Mit dem Gedanken, dass es wohl nur eine Wolke war, ließ ich die Augen geschlossen.
"Ich kenne dich gar nicht. Wer bist du?" fragte jemand über mir. Erschrocken fuhr ich hoch und riss die Augen auf. Ich sah nur einen dunklen umriss, da mich die Sonne blendete.
"Ich wüsste nicht, was dich das angeht." antworte ich nur und stand auf. Langsam gewöhnten sich meine Augen wieder an das Licht. Direkt neben mir stand ein ca. 1,80 Meter großer Kerl, der mich belustigt und neugierig ansah.
"Schlechte Laune, was?" fragte er weiter, immer noch fröhlich, obwohl ich so unfreundlich war. "Hast du ein Problem damit?" antwortete ich schnippisch.
Wieder ignorierte er meine Antwort. "Ich bin übrigends Phil. Und du?"
Genervt sah ich auf den Boden, hob meine Schuhe auf und zog sie dann an. Seine ausgestreckte Hand beachtete ich einfach nicht.
"Weist du, eigentlich wollte ich nur freundlich sein, weil du offensichtlich neu bist. Aber ich kann auch wieder gehen..." Gerade als er sich umdrehen wollte hielt ich ihn am Arm fest und zog ihn wieder zurück.
"Tut mir leid Phil. Heute ist einfach nicht mein Tag. Vielleicht können wir ja einfach noch mal von vorne anfangen? Hi Phil, ich bin Riley." sagte ich entschuldigend. Jetzt breitete sich ein grinsen auf seinem Gesicht aus.
"Riley also... Ich wohne hier in Nevermoore. Ich nehme an, du bist gerade erst in die Stadt gezogen? Sowas spricht sich hier ziemlich schnell herum. Wie alt bist du denn?" textete er mich zu.
"Langsam!" rief ich lachend. "Ja, wir sind gerade in die Stadt gezogen. Meiner Familie gehört die alte Mühle. Und ich bin 17. Und was ist mit dir?" Dieser Kerl hatte es doch tatsächlich geschafft, meine Laune zu verbessern.
"Euch gehört also die Mühle? Es heißt schon seit ein paar Wochen, dass sie einem alten Ehepaar gehört." Sein lachen war irgendwie ansteckend. "Und ich werde bald 18. Das bedeutet, dass wir in die gleiche Klasse gehen. Denn unsere Schule ist so klein, dass wir nur eine Oberstufenklasse haben. Du gehst doch noch zur Schule, oder?" Ich nickte. "Na klar."
Erst jetzt betrachtete ich Phil genauer. Er sah eigentlich gar nicht so schlecht aus. Hellblonde Haare, blau-graue Augen und ein immerwährendes grinsen. Aber mein Herz hing einfach immer noch an Dan. Ich bemerkte selbst, wie ich mich immer weiter in meinem Kummer verlor, aber ich konnte nichts dagegen tun. Warum erinnerte mich bloß alles und jeder an Dan?
"Riley? Warum weinst du denn jetzt? Hab ich was falsches gesagt?" Phil schüttelte mich an den Schultern. "Nein. Es ist nur..." Ich konnte den Satz nicht fertig sprechen. Phil zog mich zu sich und nahm mich in den Arm. Ich kannte ihn nicht. Und trotzdem beruhigte ich mich schon nach wenigen Minuten und entspannte mich.
"Ist die Vorstellung so schrecklich, mit mir in eine Klasse zu kommen?" fragt er dann, als ich mich wieder beruhigt hatte. Jetzt musste ich sogar lachen. Er ließ mich wieder los und wischte mir die letzten Tränen mit seinem Daumen aus dem Gesicht. Diese Geste war so vertraut und dennoch neu für mich.
Ich schüttelte den Kopf. "Ich musste nur gerade an mein Leben in Dexterville denken." erklärte ich dann. Er nickte wissend und ich war Dankbar, dass er mir keine 'Was-ist-denn-passiert?' fragen stellte. Dann schaute er nachdenklich. "Aber erklär mir eines. Wie kommt eine Großstadtfamilie darauf, in so ein Kaff zu ziehen?" Seltsamerweise wunderte es mich gar nicht, dass er von seiner Heimat so herablassend sprach.
"Mein Vater hat einen guten Job angeboten bekommen. Glaub mir, ich wäre lieber in Dexterville geblieben. Das ist jetzt nichts Persönliches, aber hier ist es irgendwie viel zu Ruhig und naja... Auch irgendwie langweilig." erklärte ich.
Energisch schüttelte er den Kopf. "Das liegt nur daran, dass du dich hier noch nicht auskennst. Aber zum Glück hast du ja mich." -Stolz zeigte er mit dem Finger auf sich- "Und ich kenne diese Stadt so gut wie niemand anders. Wenn du wissen willst, wo hier irgendeine Party stattfindet, dann bist du bei mir genau richtig!"
"Also entweder bist du einfach nur eingebildet, oder naiv!" meinte ich gespielt ernst. "Beides." meinte er dann und wir mussten beide anfangen zu lachen.
Phil sah auf seine Uhr. "Tut mir leid Riley, aber ich muss jetzt los. Hat mich echt gefreut dich kennen zu lernen. Wir sehen uns sicher bald mal wieder. Und wenn du mich vermisst, ich arbeite von Montags bis Samstags bei der Pizzeria. Immer von 17 bis 21 Uhr. Also dann, 'tschüss." Wie selbstverständlich umarmte er mich zum Abschied.
"Vielleicht komme ich dich ja mal besuchen." lachte ich und winkte ihm hinterher. Er ging genau in die andere Richtung, über die Brücke und dann einen Feldweg entlang.
Ich beschloss, mich auch auf den Weg zu machen. Ich lief wieder durch die Wiese und musste dabei die ganze Zeit an dieses kleine Gespräch denken. Auf dauer könnte Phil bestimmt ganz schön anstrengend werden. Aber irgendwie wusste er auch immer, wann es der passende Zeitpunkt war, still zu sein. Auf einmal stellte sich mir die Frage, ob er immer irgendwelche Fremden Menschen ansprach. Ich beschloss, es ihn zu fragen, wenn ich ihn das nächste mal sah.
Erst während dem Rückweg bemerkte ich, dass ich versucht hatte, wegzulaufen. Ich war ein wenig erschrocken über mich selbst. War ich wirklich schon so am Boden zerstört? Nein, nur verzweifelt., beantwortete ich mir selbst meine Frage.
Für den Rückweg ließ ich mir Zeit. Ich dachte über alles Mögliche nach: Wie es Mona, meiner besten Freundin in Dexterville, ging, wie wohl der Unterricht werden würde, warum Dan Schluss gemacht haben könnte...
Bei letzterem versuchte ich jetzt, die Sache auch mal aus seiner Sicht zu betrachten. Dennoch kam ich auf kein Ergebnis.
Allmählich wurde es dunkel und ich ging ein wenig schneller. Wie viel Uhr es wohl war? Eigentlich wurde es erst gegen halb acht dunkel. Wie lange hatte ich denn bitte auf dieser Brücke gelegen?
Ich wusste es nicht.
Nach weiteren 15 Minuten laufens war ich zu Hause angekommen. Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass ich diese Mühle als mein Zuhause bezeichnete.
Ich drückte auf die Klingel und hörte ein lautes 'Ding-Dong' auf der anderen Seite der Tür.
Nach einigen Sekunden öffntete mir mein Vater. "Da bist du ja wieder. Wir haben uns langsam schon Sorgen gemacht, wo du so lange bleibst." erklärte er mir sofort. "Ich bin dem Flusslauf gefolgt, bis ich eine Brücke gefunden habe. Da hab ich mich hingesetzt und dann die Zeit vergessen." erwiderte ich. Von Phil erzählte ich lieber mal nichts. Es würde meinen Eltern nicht sehr gut gefallen, dass ich mit einem Fremden Typen in einer eher verlassenen Gegend allein war. Und bei Andy würde bestimmt sofort wieder der Beschützerinstinkt aufflammen. Ganz überzeugt schien mein Vater zwar nicht, aber er fragte auch nicht weiter nach.
Ich duschte mich, zog ein altes T-Shirt und eine Jogginghose an und ging dann in die Küche. Mein Magen knurrte schon seit einer ganzen Weile. Dann hörte ich das Klingeln und wie Andy mit irgendwem sprach. Neugierig ging ich zur Tür.
"Oh. Hey..." Phil verstummte mitten im Satz, weil ich hektisch mit den Händen fuchtelte und versuchte, ihm klar zu machen, dass er bloß still sein sollte. Zum Glück hatte er mich verstanden. Verwirrt drehte Andy sich um, zuckte dann aber mit den Schultern und wandt sich wieder zu dem Pizza-Lieferanten. Er drückte Phil einige Scheine in die Hand und nahm ihm mehrere Schachteln ab. "Riley, nimm mal." meinte er zu mir. Allein schon bei dem Geruch begann mein Magen wieder zu grummeln. Immerhin hatte ich den ganzen Tag noch nichts Richtiges gegessen.
Ich nahm die Schachteln mit der Pizza entgegen und warf einen kurzen Blick auf Phil. Schnell verkniff ich mir ein Lachen. Er sah einfach zu komisch aus, mit seiner blau-rot Karierten Schürze und dem dazu passenden T-Shirt.
Er grinste und zwinkerte mir zu und Andy kniff die Augen zusammen. "Sag mal, was fällt dir eigentlich ein, fremde Mädchen anzumachen?" fuhr Andy den verwirrten Phil an. Jetzt konnte ich mich nicht mehr zusammenreißen vor lachen. Phil wollte gerade etwas erwiedern, als ich Andy anstupste. "Lass ihn doch. Er wollte einfach nur nett sein." wiederholte ich seine Worte von vorhin. "Genau." meinte Phil und jetzt mussten wir beide lachen.
Leicht entsetzt schaute Andy zwischen uns beiden hin und her. Dann schob er mich hinter sich, zischte Phil noch ein "Mach das nie wieder!" zu und knallte die Tür ins Schloss.
"Oh Mann, Riley!" genervt lief Andy an mir vorbei, hielt mir noch eine der Schachteln hin und ging dann ins Wohnzimmer. Das hasste ich an ihm. Seit ein paar Jahren meinte er, jeden Jungen von mir fernhalten zu müssen. Als ob ich nicht selbst auf mich aufpassen könnte!
Dan hatte ihn einfach ignoriert. Schnell schüttelte ich die Gedanken wieder ab und wandt mich meiner Pizza zu.
Am Abend sah ich mir noch einen Film im Fernsehen an, was erstaunlich war, da ich nicht damit gerechnet hatte, dass wir hier überhaupt einen Sender empfangen würden. Dann entschloss ich mich dazu, Mona anzurufen. Als ich auf das Display meines Handys sah, sah ich 7 verpasse Anrufe und 3 ungelesene Nachrichten. Allesamt von Mona. Die erste war schon gestern Abend angekommen.
Hey Süße! Wie gehts dir? Seid ihr alle gut angekommen? Antworte mir bitte so schnell wie möglich. Deine ABF
Hallo Kleine! Schreib mir doch bitte mal. Ich versuche schon die ganze Zeit, dich zu erreichen, aber du gehst einfach nicht an dein Handy. LG
Die dritte Nachricht machte mich ein wenig glücklich.
Riley? Hier ist es so furchtbar langweilig ohne dich! Bestimmt geht es dir da auch nicht sonderlich toll. Hast du schon Freunde gefunden? Ich vermisse dich ganz dolle! Meine kleine Partyqueen... Meld dich mal bald, okay? Mona
Wahrscheinlich war Mona die einzige, die sich auch nur annähernd vorstellen konnte, wie schrecklich ich das alles fand.
Ich ging in mein Zimmer und drückte auf 'Anruf'. Es tutete zwei Mal, bevor jemand am anderen Ende der Leitung abhob.
"Riley? Endlich meldest du dich. Ich hab mir schon Sorgen gemacht, ob dein Handy vielleicht kaputt gegangen ist. Wie geht es dir?" sprudelte sie direkt drauf los.
"Hey Mona. Mir gehts ganz gut. Und was ist mit dir?"
"Mir geht es zwar gut, aber mir ist total langweilig! Ohne dich weis ich gar nicht so Richtig, was ich machen soll! Aber erzähl lieber von dir. Wie ist euer Haus? Und hast du schon wen kennengelernt?" fragte sie weiter.
Ich erzählte ihr von meinem Zimmer und davon, dass wir in einer Mühle wohnen. Und ich berichtete ihr von Phil und sie fragte mich sofort, welche Haarfarbe er hatte, wie groß er war, bla, bla, bla... Sie beschloss, ihn unbedingt kennen zu lernen, wenn sie mich mal besuchen kam. "Du musst unbedingt ganz schnell herkommen! Nur Schade, dass ihr die ganzen Ferien Urlaub am Strand macht..." meinte ich ein wenig betrübt. Ihr müsst dazu wissen, dass wir gerade Herbstferien bekommen hatten. Deshalb hatten wir auch überhaupt erst so schnell umziehen können.
"Na und? Dann komme ich eben in drei Wochen am Wochenende vorbei! Lieber nur zwei Tage als gar nicht." meinte sie bestimmend und ich musste grinsen. Wenn Mona sich erstmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte man ihr das nicht so schnell wieder austreiben.
"Du Riley, mein Vater nervt mich schon die ganze Zeit, ich soll endlich auflegen, weil wir gleich ins Flugzeug müssen." erklärte sie.
"Kein Problem, das verstehe ich. Du kannst ja mal ne SMS schreiben, wenn ihr da seid. Es hat mir echt gut getan, deine Stimme zu hören. Bis bald!" rief ich in das Handy.
"Alles klar! Das mit dem Wochenende steht! Bis dann Süße!" rief sie zurück. Wir verabschiedeten uns noch mehrmals, bis wir letztendlich auflegten.
Ich hatte gar nicht gemerkt, wie sehr mir ihre Stimme gefehlt hatte. Müde warf ich mein Handy auf eine der immer noch geschlossenen Kisten und machte das Licht aus.
Ich fiel fast augenblicklich in einen traumlosen Schlaf.
Na toll! dachte ich. Es war Sonntag. Und das hieß nur, dass ich noch zwei Wochen Langeweile vor mir hatte. Ich konnte vielleicht noch ein oder zwei Tage damit verbringen, irgendwelche Kisten auszuräumen. Aber sonst? Nichts. Nada.
Ich freute mich sogar schon auf die Schule, nur damit ich etwas zu tun hatte. Ich meine, wie verrückt ist das denn?
"Riley!" schrie Andy vor meiner Zimmertür. "Was?" rief ich genervt zurück. "Ich wusste doch, das du schon wach bist." gab er selbstgefällig zu und kam herein.
"Geh mir nicht auf die Nerven!" war alles was ich dazu sagte. Er setzte sich zu mir aufs Bett und nahm mich in den Arm. Aber er hielt mich zu fest, als das ich mich aus seiner Umarmung hätte befreien können.
"Och komm schon! Ich weis, hier ist alles schrecklich. Aber ich kann das einfach nicht mehr mit ansehen! Wir werden heute in die Stadt gehen und alles einfach mal vergessen, ja."
Ich zog ihn noch näher an mich und versuchte angestrengt, nicht zu schluchzen. Ein paar Tränen konnte ich aber nicht zurückhalten. "Ich verstehe einfach nicht, warum er das gemacht hat!"
Andy wusste, dass ich von meinem Ex-Freund redete. "Ich weis es auch nicht. Aber glaub mir: Wenn ich ihn das nächste mal sehe, werde ich mich nicht zurückhalten." Die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme erschreckte mich.
In diesem Moment wurde mir klar, warum er immer versucht hatte, alle Jungen von mir fernzuhalten. Damit ich nie diesen Schmerz spühren sollte, verlassen zu werden. Damit ich nie diese Leere in mir fühlen musste. In den letzten Tagen und Wochen hatte ich so oft geweint, dass es schon ein Wunder war, dass ich noch nicht ausgetrocknet war. Nicht alle Tränen hatte ich wegen Dan vergossen, aber die meißten.
Ich hatte einen Entschluss gefasst: Ich würde nicht mehr wegen ihm weinen. Ich würde nicht mehr zurückschauen. Nur noch nach vorne.
Hastig wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und sah Andy an. "Wann gehen wir?"
Ein wenig verwirrt schaute er mich an, wirkte dann aber froh. "Sobald du fertig bist. In der Stadt gibt es ein kleines Café, da können wir zu Mittag essen." Ich nickte und schob ihn aus meinem Zimmer.
Hektisch durchwühlte ich eine Kiste mit Klamotten, zog mich an und putzte mir die Zähne. Eigentlich benutzte ich ja keine Schminke, aber ich hatte so tiefe Augenringe, dass ich sie ein wenig überdeckte. Während ich meine Haare durchkämmte beschloss ich, sie nicht mehr länger zu überfärben. Andy gehörte zu mir, und das konnte auch ruhig jeder sehen.
Eine Viertelstunde später liefen wir Arm in Arm den langen Feldweg entlang. Rechts von uns erstreckte sich ein riesengroßes Feld voller Blumen, das gleiche, über das ich gestern erst gelaufen war. Allerdings war der Weg weniger uneben. Ich wunderte mich, dass die Blumen auch im September noch so prachtvoll wuchsen.
Circa 50 Meter vor uns konnte man den Fluss erkennen. Über ihm war eine Brücke für Autos und Fußgänger gebaut worden. Und links war einfach eine große Wiese, auf der auch einzelne Blumen wuchsen.
Wir überquerten die Brücke. Andy alberte den ganzen Weg herum und lenkte mich so ab. Irgendwie kam es mir immer noch so vor, als würden wir nur einen Urlaub in der Ländlichen Gegend machen. Aber es war unser neues Zuhause.
Als wir nach knapp 40 Minuten laufen endlich die ersten festen Straßen betraten, wurden wir von allen Menschen komisch angeschaut. So, als ob wir Außerirdische wären, die wie selbstverständlich über die Straßen der Erde laufen. Es war ja nicht so, dass wir hier viele Menschen antrafen, aber trotzdem mochte ich die ganze Aufmerksamkeit nicht.
Ein älteres Pärchen blieb direkt vor uns stehen und begann zu tuscheln. Und damit waren sie auch nicht die einzigen. Ich umklammerte Andys Arm etwas fester. Er zog mich weiter und ging etwas schneller, bis wir irgendwann vor einem kleinen Café standen. Wir gingen hinein.
An den Tischen saß nur eine Gruppe Jugendlicher, wahrscheinlich auch in unserem alter. Allerdings ignorierten sie uns genauso gekonnt wie wir sie. Wir bestellten zwei Kaffee und zwei Stücke Schokotorte. Ich saß mit dem Rücken zur Tür, aber als sie auf ging, verfinsterte sich Andys Mine ein wenig. "Da ist ja wieder dein Freund von gestern." meinte er nur trocken. Ich verstand nicht, was er meinte, bis ich mich umdrehte.
Phil war in den Laden gekommen und winkte mir zu, als er mich sah. Ohne zu denken hatte ich zurück gewunken. Und dann hätte ich mir am liebsten gegen die Stirn gehauen. Wie konnte ich denn nur so blöd sein?
Lächelnd kam Phil auf uns zu und setzte sich ohne zu zögern zu uns an den Tisch. Ich hörte, wie die Gruppe begann, aufgeregt durcheinander zu reden. "Hi." sagte Phil und ich wollte meinen Kopf gegen die Wand rammen. Bleib ruhig Riley. Du hast dir das selbst eingebrock, jetzt musst du auch irgendwie wieder rauskommen. wies ich mich selbst an. Leichter gesagt als getan!
"Hi." antwortete ich und nippte nervös an meinem Kaffee, um nicht reden zu müssen. Glücklicherweise übernahm Phil diese Aufgabe.
"Ich bin Phil." Er streckte uns die Hand hin und wir schüttelten sie. Jetzt hatte er sich mir schon zum dritten mal vorgestellt. Ich musste grinsen, sagte ihm dann wieder meinen Namen. Wiederwillig tat Andy es mir gleich, aber auch nur, weil er sonst unhöflich gewesen wäre.
Schnell aß ich ein Stück des Kuchens und der Teller erschien mir mit einem mal interessanter als alles andere.
Eigentlich war ich ja nicht auf den Mund gefallen, aber dass ich wirklich so dumm sein konnte...
Gerade als Phil etwas sagen wollte, klingelte mein Handy. Schnell zog ich es aus meiner Hosentasche und dankte Mona im stillen für ihre Rettung. So etwas konnte man nur beste Freundin mit perfektem Timing nennen. Allerdings... Sie war doch im Urlaub, und der Anruf musste verdammt wichtig sein, wenn sie so viel Geld dafür ausgab.
“Hi Mona. Was gibt`s?“ fragte ich mit gemischten Gefühlen.
Die aufgebrachte Stimme meiner Freundin ließ mich nichts gutes ahnen. “Schau so schnell du kannst auf deine Pinnwand. Ich kann es dir nicht erklären, du würdest es mir nicht glauben. Es tut mir ja so leid, Riley...“
“Was? Aber warum soll ich auf meine Pinnwand sehen?“
Es drangen nur noch Bruchstücke zu mir durch. “...Internet...schnell...Kommentare...Dan...“ Bei letzterem war ich mir aber nicht sicher, ob ich mich verhört hatte. Dann ertönte ein lautes tuten, das mir bedeutete, dass das Gespräch zu Ende war.
Ich war immer noch verwirrt, da hielt Andy mir schon sein Handy und ein paar Kopfhörer vor`s Gesicht. Seine Mine war versteinert, aber ich wusste immer noch nicht, was das zu bedeuten hatte.
Ich sah auf das Handy. Andy hatte sich bereits bis zu meiner Pinnwand durchgeklickt und ich steckte mir einen der Kopfhörer in die Ohren. Dan hatte mir ein Video auf die Pinnwand gepostet. Für einen Moment fragte ich mich, ob er sich vielleicht entschuldigen wollte.
Aber als ich das Video startete, blieb mir das Herz für einen Moment stehen. Eng umschlungen küsste er ein für mich fremdes Mädchen. Dann ließ er sie los und blickte in die Kamera. “Das ist meine neue Freundin, Riley. Und im Gegensatz zu dir lässt sie mich wenigstens an ihre Wäsche.“
Ich schaltete das Handy aus und ließ es auf den Tisch fallen. Es hatte Dan tatsächlich nicht gereicht, mir das Herz zu brechen. Er musste es mir auch noch herausreißen und darauf herum treten. So, als hätte ich ihm nie etwas bedeutet. Und als hätte mir das schon nicht den Rest gegeben, musste er mich auch noch vor allen die mich kennen bloß Stellen.
Ich brach in tränen aus und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Die aufgeregt tuschelnden Jugendlichen und die Fragenden Blicke aller anwesenden waren mir noch nie so egal.
Hasste er mich wirklich so sehr? Was hatte ich ihm bitte angetan, das ich so etwas verdient hätte?
In meinen Ohren rauschte das Blut und ich bekam nur noch mit, wie Andy fast über den Tisch sprang, um mich an sich zu ziehen, bevor ich nichts mehr als mein schluchzen mitbekam.
Und erst in diesem irrealen Moment wurde mir klar, dass ich bis jetzt immer noch geglaubt hatte, noch mit ihm zusammen zu kommen.
Diese Erkenntnis gab mir den Rest, bevor ich endgültig in Andys Armen zusammenbrach.
Ich hatte die letzte Woche in meinem Bett verbracht. Ich hatte geweint, war vielleicht ein mal aufgestanden, um etwas zu trinken oder auf die Toilette zu gehen, aber ich hatte weder gegessen, noch geschlafen. Ich hatte mich sogar ein mal dazu durchringen können, zu duschen. Seit ich dieses Video gesehen hatte, war ich ein einziges Wrack. Und mit der Zeit hatte sich ein Teil meiner Trauer in pure Wut gewandelt und sich mit ihr vermischt. Ich verstand Dan einfach nicht und ich konnte für nichts garantieren, wenn ich ihn je wiedersehen sollte.
Die erste Liebe war wunderschön. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie endete.
Obwohl Phil keine Ahnung hatte, was eigentlich los war, hatte er angeboten, uns zurück zur Mühle zu fahren, nachdem ich mich ein wenig beruhigt hatte. Andy hatte die Idee nicht so gut gefallen, aber er hatte mich auch nicht nach Hause tragen können. Denn zum laufen war ich nicht mehr im Stande.
Und seitdem redete ich auch nicht mehr. Denn mit jedem Wort brach ich wieder in tränen aus. Da zog ich es vor, mich in meinem Zimmer zu verschanzen, niemanden an mich heranzulassen, und einfach Löcher in die Luft zu starren.
Eine ganze Weile war ich sogar damit durch gekommen.
Aber jetzt klopfte alle paar Stunden jemand an der Tür und fragte mich, wie er helfen könnte. So wie jetzt zum Beispiel.
“Lass mich in Ruhe, Andy.“ heulte ich in mein Kissen und hörte ihn seufzen. “Ich habe jetzt genug.“, rief er zurück, “Entweder du schließt jetzt die Tür auf, oder ich hole was um sie selbst auf zu machen.“
“Mach doch.“ rief ich nur kraftlos zurück. Ich wusste, das er Türen mit Haarnadeln oder Check-Karten öffnen konnte, und es dauerte auch keine 40 Sekunden, bis er einen erschreckten laut ausstieß und die Tür mit einem klicken wieder hinter ihm zufiel.
“Riley...“ hörte ich ihn seufzen. Die Bettkante wurde herunter gedrückt und Andy zog mich zu sich. Ich hatte einfach keine Kraft mehr.
Andy drückte mir nur wortlos einen Löffel in die Hand und hielt mir dann eine riesige Schachtel mit meinem Lieblings-Eis hin. Vanille-Caramell.
Ich begann zu essen. Mit jedem Löffel wurde mir schlechter. Auf einen leeren Magen war so viel Fett vielleicht nicht die beste Idee, aber egal.
Ich war froh, dass Andy mich nicht zum reden bringen wollte und einfach nur für mich da war.
Nachdem ich die Schüssel halb gelehrt hatte,drückte ich sie ihm wieder in die Hand und ließ mich auf den Rücken fallen. Und dann starrte ich erneut Löcher in die Luft.
“Willst du mit in die Stadt kommen?“
Kopf schütteln.
“Kann ich irgendwas für dich tun?“
Nicken.
“Soll ich dich alleine lassen?“
Nicken.
Andy seufzte. “Gut. Aber versprich mir, dass du dich jetzt duschst und anziehst. Und dann gehen wir heute Abend weg. Hier soll es einen ganz guten Club geben, und ich denke,das können wir jetzt beide ganz gut gebrauchen. Und tu mir bitte einen Gefallen und weine nicht mehr um dieses Arschloch, okay? Er ist es einfach nicht wert.“
Davon war ich zwar ein wenig irritiert, aber ich stand trotzdem auf. Die Chance, nachzufragen, ließ Andy mir erst gar nicht, denn er hatte den Raum bereits verlassen.
Aber ich beschloss, zu tun was er sagte, wusch mir die letzten tränen aus dem Gesicht und ging unter die Dusche.
Genervt saß ich auf meinem Barhocker und nippte lustlos an meiner Cola.
Warum war ich auch überhaupt mit gegangen?
Ja, ich musste zugeben, dass es hier ganz schön war. In welcher Farbe die Wände gestrichen waren, konnte man zwar nicht erkennen, aber alles war schön und modern eingerichtet. Es gab mehrere Sitzecken mit gemütlichen Sesseln, einen Außenbereich und die besagte Bar, an der ich saß. Eigentlich war es ein Wunder, dass wir überhaupt hier rein durften, weil man in Discos ja erst mit 21 Jahren durfte. Aber das sollte ja nicht mein Problem sein, oder?
Wenn man in der richtigen Stimmung war, konnte man hier auch sicher Spaß haben. Für so ein kleines Kaff war hier auch unglaublich viel los. Wahrscheinlich war heute der halbe Ort anwesend.
Aber ich konnte mich nicht mal auf die Musik konzentrieren, die mir von allen Seiten entgegen dröhnte. Meine Gedanken schweiften die ganze Zeit ab.
Ich glaube, ich hatte Dan jetzt endgültig abgehakt. Ich dachte nur über meine Rache nach. Natürlich wollte ich mich nicht auf sein Niveau herablassen, aber es musste irgendwas cooles und gleichzeitig raffiniertes sein.
Andy kam strahlend auf mich zu. Er schien sich zu amüsieren. Und bevor ich mich wehren konnte, hatte er mich von dem Hocker gezogen und auf die Tanzfläche geschleift. Ich sah, wie mich die umherstehenden Mädchen mit ihren Blicken erdolchen wollten und musste unwillkürlich lachen.
“Scheint so, als wärst du ziemlich begehrt unter den Damen.“ rief ich und beugte mich extra weit zu meinem Bruder. Auch er musste lachen und zog mich noch näher zu sich. Natürlich spielte ich das Spiel mit.
Immer wieder wurde Andy von anderen Mädchen angetanzt, aber er würdigte sie keines Blickes. Wie eifersüchtig die waren! Selbst bei dem immer wechselnden Licht konnte man sehen, wie Rot einige wurden.
Ich hatte mir heute keine Mühe mit meinem Outfit gegeben. Alles was ich trug war eine kurze Hotpants in weiß und mein weites, gelbes Trägertop. Und trotzdem spürte ich einen Blick fest auf mir liegen. Immer wieder sah ich mich um, aber ich konnte einfach niemanden ausmachen, dessen Augen unentwegt auf mir lagen.
Ich hatte tatsächlich wieder ein bisschen bessere Laune bekommen.
Nach einer Weile war ich schweißgebadet und Andy und ich beschlossen, uns hinzusetzen. Aber kaum hatten wir uns etwas zu trinken bestellt, kamen drei kichernde Mädchen auf uns zu und machten sich an meinen Bruder ran. Es schien nicht so, als würde ihn das stören, also ignorierte ich sie ganz einfach.
Stattdessen suchte ich den Raum wieder nach dem Unbekannten Beobachter ab. Ich konnte beim besten Willen nicht sagen, aus welcher Richtung es kam.
Bis ich ein Räuspern neben mir hörte.
Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Schwer zu sagen, welche Farbe die Augen hatten, aber es waren eindeutig die, die mich angestarrt hatten.
“Willst du mit raus kommen? Da ist es nicht ganz so laut.“ rief mir der Unbekannte zu und klang dabei schon ein wenig heiser.
Eigentlich war ich nicht so der Typ, der in einem Club irgendwelche Jungs aufreißt. Aber als ich Andy nach seiner Meinung fragen wollte, sah ich, wie er einem der Mädchen seine Zunge in den Hals steckte.
Das war genug.
Ich nickte dem Fremden zu, nahm mein Glas Cola und folgte ihm in den Außenbereich. Was sollte mir auch schon passieren? Zur Not könnte ich auch einfach die Security um Hilfe bitten.
Ich beobachtete ihn ganz genau. Er musste mindestens 1,90 groß sein. Er hatte kurze, blonde Haare, die nicht so recht zu ihm passen wollten, und trug ein kurzärmeliges, rot kariertes Hemd und eine knielange Jeanshose.
Damit wir uns in dem Gedränge nicht verlieren, nahm er meine Hand, was ich unglaublich süß fand. Er zog mich zu einem der Tische.
Die kalte Luft kribbelte angenehm auf meiner Haut.
Ich wollte ihn gerade fragen, was er von mir wollte, als ich in der Ecke betrunkene Leute sah, die sich gegenseitig absabberten. Widerlich!
Schnell wandt ich meinen Blick wieder ab.
“Also... Ich bin Kolan.“ Verlegen fuhr sich der junge Mann durch seine Haare. Irgendwie machte ihn das sofort sympathisch.
“Ich bin Riley.“ hörte ich mich sagen.
Wenn ich jetzt so darüber nach dachte, passte seine helle Haarfarbe tatsächlich nicht. Aber die Augen faszinierten mich. Auf den ersten Blick schienen sie zwar gold-braun, aber wenn man genauer hinsah, erkannte man grüne Sprenkeln um die Iris.
Vielleicht würde dieser Abend doch gar nicht so schlimm werden, wie ich gedacht hatte.
“Naja, du fragst dich sicher, warum ich dich angesprochen habe. Aber um ehrlich zu sein... Ich weis es selbst nicht.“ er lächelte mich an und ich konnte nicht anders, als es zu erwidern. Vielleicht war das auch nur seine Masche, um irgendwelche Frauen abzuschleppen. Komischerweise glaubte ich das aber nicht.
“Ich weis nur, das ich es bereut hätte, wenn ich es nicht getan hätte.“, sprach er weiter, “Du musst sicher zu der Familie gehören, die die alte Mühle gekauft hat.“
Ich nickte. “Das scheint sich hier tatsächlich wie ein Lauffeuer zu verbreiten.“
Ich konnte ihn beim besten Willen nicht zu einem Alter zuordnen, also fragte ich ihn danach.
“19. Und ich schätze, du bist 17 oder 18.“
“Ja, stimmt. Erzähl mir was von dir.“ “Okay...“ Kolan schien echt überlegen zu müssen. Also half ich ihm etwas auf die Sprünge.
“Lieblingsfarbe?“
“Gelb.“ Er deutete mit der Hand auf mein Oberteil und grinste. “Und deine?“
Also spielten wir das Antwort-gegen-Antwort Spiel. Wobei ich mir schon fast wie beim Speed-Dating vorkam. “Moosgrün. Geschwister?“
“Nein, ich bin Einzelkind. Und du?“ fragte er weiter.
“Ja, einen älteren Bruder.“ Das dieser nur wenige Minuten älter war, musste er ja nicht unbedingt wissen.
“War der Typ, mit dem du eben getanzt, hast dein Freund?“ fragte er mich dann.
“Nein.“ war meine knappe Antwort. Unglaublich, dass man uns das immer noch abkauft. “Und bist du allein hier?“ war die Gegenfrage. Ich driftete kurz in meine Gedanken über den Rache-Plan ab, bis mich seine Antwort wieder in die Gegenwart holte.
“Ja, kann man so sagen. Hast du einen Freund?“ bohrte Kolan weiter.
“Auch das nicht, nein.“ Ich zuckte nur mit den Schultern. Hartnäckiger Typ.
“Und wie sieht's bei dir so aus?“
Jetzt schien er schon fast erleichtert. “Single. Hobbys?“
“Tanzen, zeichnen, fotografieren und Gitarre spielen und dazu singen. Auch wenn ich der Meinung bin, dass ich das nicht wirklich gut kann.“ gestand ich und lächelte verlegen.
Ohne das ich fragen musste, zählte er auch seine Hobbys auf. “Schwimmen und auch Gitarre spielen. Früher habe ich auch gerne fotografiert, aber dazu habe ich leider keine Zeit mehr... Vielleicht können wir ja mal zusammen spielen? Dann kann ich mich selbst davon überzeugen, wie gut du singst.“ Er grinste mich an. Dabei wirkte er wirklich enttäuscht darüber, keine Zeit mehr zum fotografieren zu haben.
“Gerne. Gehst du eigentlich noch zur Schule?“ Diese Frage beschäftigte mich schon, seit ich sein Alter kannte. Zu meinem Glück nickte er.
“Jap. In die Abschlussklasse. Ich schätze, da sehen wir uns dann wieder.“ antwortete er wissend. Ich verstand erst nicht recht, was er damit meinte, bis ich einen aufgebrachten Andy auf uns zu stürmen sah.
Ich sah den Kuli in Kolan's Hand, wie er etwas auf einen Zettel kritzelte und ihn schnell in meine Hand drückte. Und dann stand Andy neben mir.
Unbemerkt verstaute ich den Zettel in meiner Hosentasche und machte mich innerlich schon auf eine Auseinandersetzung gefasst.
“Sag mal Riley spinnst du eigentlich? Da drehe ich mich für drei Sekunden um und schon bist du verschwunden!“ fährt er mich an.
“Tut mir wirklich leid, allmächtiger, allwissender, großer Bruder, dass ich nicht gelangweilt neben dir sitzen wollte, um zuzusehen, wie du der Barbie die Zunge in den Hals steckst.“ erwiderte ich sarkastisch.
Im Augenwinkel sah ich, dass Kolan ein grinsen unterdrücken wollte. Aber das misslang ihm auf ganzer Linie.
“Und du da drüben musst nicht so selbstgefällig grinsen.“ blaffte er nun auch Kolan an, was dieser nur gekonnt überhörte.
“Weist du, eigentlich wollte ich dir, euer Hoheit, noch bescheid geben, dass ich ein wenig frische Luft schnappen gehe. Aber du warst gerade anderweitig mit der Blondine beschäftigt.“ Dagegen konnte er nichts mehr erwidern und so war ich es, die nur selbstgefällig grinste.
Wütend griff er meine Hand. “Wir gehen!“ bestimmte er und zog mich über die Tanzfläche nach draußen.
Natürlich ließ ich es mir nicht nehmen, Kolan noch kurz und unauffällig zu zuwinken. Ich wusste, dass Andy mir nicht lange böse sein konnte. Zwar hatte ich mir den Abend etwas anders vorgestellt, aber letztendlich hatte ich jetzt so gute Laune wie schon lange nicht mehr.
Und außerdem interessierte es mich brennend, was Kolan auf den Zettel geschrieben hatte. Vielleicht ja sogar seine Nummer? Aber ich sollte mir wahrscheinlich nicht zu viele Hoffnungen machen. Am Ende würde ich dann doch nur enttäuscht werden.
Vor dem Club blieb Andy stehen. “Sag mal Riley hast du irgendwas getrunken?“
“Ja. Cola.“
“Wieso bist du dann sonst so...?“
“So was? Gut gelaunt?“
Andy nickte. “Doch nicht etwa wegen diesem Typen, oder?“ seufzte er dann.
Ich grinste in mich hinein. “Vielleicht zum Teil. Aber vor allem...“ Ich spannte ihn bewusst auf die Folter.
“Was vor allem? Jetzt sag schon!“ drängelte er.
Ich schüttelte den Kopf. Das das auch immer wieder funktionierte! “Vor allem, weil du dich so furchtbar darüber aufregst.“
Gespielt wütend sprang er auf mich zu und wir mussten beide anfangen zu lachen. Dann hakte ich mich bei ihm ein und wir machten uns auf den Rückweg durch die Dunkelheit.
Ich wusste doch, dass er nicht lange böse war. Aber das lag auch nur daran, dass ich seine Schwester bin. Zum Glück, denn sonst hätte ich wahrscheinlich ein kleines Problem gehabt.
Diesen Abend schlief ich auch endlich wieder richtig. An meinen Traum kann ich mich leider nicht mehr erinnern.
Hastig durchwühlte ich die Hosentaschen meiner Hotpants. Wo, zum Teufel, ist dieses verdammte Stück Papier?Endlich fühlte ich das dünne Papier. Gespannt faltete ich es auseinander. Ich konnte nicht fassen was da stand.
Das mit dem Gitarre spielen steht, oder? Ruf mich an, wenn du Zeit hast. Kolan
Und dann hatte er noch seine Telefonnummer drunter geschrieben.
Das erste was ich dachte war:Für einen Jungen hat er 'ne erstaunlich ordentliche Schrift.
Und dann, als ich realisiert hatte, was da stand, dachte ich nur noch: Oh mein Gott, ich habe seine Nummer!
Wie ein kleines Kind, das an Weihnachten vor riesigen Geschenken steht und sie endlich öffnen darf, hüpfte ich aufgeregt durch mein Zimmer.
“Riley! Die Decke kracht noch ein wenn du weiter so hüpfst!“ rief Andy genervt von unten. Ich kicherte aufgeregt und rief zurück: “So schwer bin ich nun auch nicht!“
Aber es war noch viel zu früh, um anzurufen. Wir hatten ja gerade mal Viertel nach neun. Wie ich so früh schon auf sein konnte, wusste ich zwar selbst nicht, aber egal. Ich musste auch nicht lange überlegen, was ich machen konnte. Mein Zimmer brauchte dringend einen Persönlichen Touch.
Gut Gelaunt drehte ich die Musik auf volle Lautstärke und packte die Kiste mit meinen Fotos aus. Ich klebte die Fotos, auf denen meine Familie und Mona gezeigt waren zu einer Collage an die Wand über meinem Bett. Einige der Bilder waren wirklich lustig und alle weckten Erinnerungen in mir wach. Die meisten waren spontan entstanden.
Zum Beispiel das von der letzten Übernachtungsparty, als Mona sich Schoko-Eis als 'Maske' ins Gesicht geschmiert hatte und wir es abwaschen wollten. Das ganze hatte in einer riesigen Wasserschlacht geendet. Das Bild zeigte uns beide mit nassen Haaren und durchgeweichten Klamotten. Unwillkürlich musste ich seufzen.
Die Landschaftsbilder bekamen einen Platz über meinem neuen Schreibtisch. Ich beschloss, auch eins von der Mühle und vielleicht auch welche von der Umgebung zu machen. Aber das hatte noch Zeit.
Als nächstes holte ich die Rolle mit der Tafel-Folie heraus. Ich holte mir einen Stuhl und spannte zwei Bahnen von der Decke bis zum Boden. Dann befestigte ich die Kreide mit mehreren Schnüren und Haken an der Wand. Wie durch eine Eingebung malte ich einfach drauf los.
Meine Hand flog nur so über die schwarze Wand und zauberten zwei ineinander verschränkte Hände, etwa in der Größe von einem DinA2 Blatt. Ich wischte an ein paar Stellen noch ein bisschen herum, bis ich zufrieden war. Bevor es zerstört werden konnte, machte ich schnell ein paar Fotos davon.
Dann stellte ich noch meine Gitarre neben das Bett und betrachtete mein Werk. Das Zimmer war zwar noch nicht perfekt, aber mit dem jetzigen Zustand konnte ich leben.
Also schaltete ich die Musik aus und ging die Treppe hinunter, weil mein Magen grummelte.
“Hallo Schätzchen. Du kommst gerade rechtzeitig zum Mittagessen.“ begrüßte sie mich fröhlich. Sie fragte sich nicht, warum ich sie plötzlich wieder mit meiner Anwesenheit ehrte, sondern freute sich einfach darüber.
“Was? Wie spät ist es denn?“ fragte ich mich selbst. Mit einem Blick auf die Uhr vergewisserte ich mich: Es war tatsächlich schon fast halb zwei.
Ich doofe Nuss hatte doch tatsächlich vergessen, Kolan anzurufen.
Schnell half ich meiner Mutter, den Tisch zu decken. “Na Riley, du bist ganz schön gut drauf. Ist irgendwas passiert?“ fragte mein Vater, der gerade in die Küche gekommen war.
“Also gestern Abend...“ begann mein Bruder. Ich konnte ihm gerade noch gegen das Bein treten, woraufhin er schmerzverzerrt das Gesicht verzog. Geschieht ihm recht!
“Was war gestern Abend?“ fragte nun unsere Mutter neugierig.
Bevor Andy auch nur ein Wort sagen konnte, rief ich: “Da haben wir die Leute im Club verarscht.“ War ja immerhin nicht gelogen.
Andy schaute zwar zuerst böse, stimmte mir dann aber doch zu.
Als endlich alle mit dem Essen fertig waren, half ich meiner Mutter noch schnell, den Tisch abzuräumen und verschwand dann wieder in meinem Zimmer. Es war immer noch komisch, diesen Raum 'mein' zu nennen.
Sollte ich ihn jetzt wirklich anrufen? Ich entschloss mich dann doch dazu, ihm erstmal eine SMS zu schreiben. Vielleicht hatte er ja auch keine Zeit und dann wäre es blöd, wenn ich angerufen hätte.
Hey Kolan. Ich wollte dir nur auch meine Nummer geben. Wenn du möchtest, kannst du ja auch anrufen. Riley
Irgendwie kam ich mir schon ziemlich dämlich vor. Aber bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, hatte ich auf 'absenden' gedrückt.
Ungeduldig lief ich auf und ab. Hat er mich vielleicht doch nur verarscht...
Doch dann vibrierte plötzlich mein Handy und die Nummer von Kolan blinkte auf. Ich quiekte kurz, atmete tief durch und ging ran.
“Kolan?“ fragte ich, als hätte ich nicht mit einem Anruf gerechnet. Ehrlich gesagt hatte ich wirklich nicht mehr damit gerechnet.
“Hallo Riley. Ich hatte schon gedacht, du willst nichts mit mir zu tun haben. Also, wann hast du Zeit?“ kam er direkt zum Punkt. Ich war froh, dass es ihm genauso zu gehen schien.
“Also... Jetzt und...“ Ich kam gar nicht dazu, weiter zu reden, er schnitt mir das Wort ab.
“Gut, ich bin in zwanzig Minuten da. Mach deine Gitarre fertig und zieh dir Schuhe an, mit denen wir durch den Wald laufen können. Ich bringe alles andere mit, das wir brauchen.“ Und dann hatte er aufgelegt. Ich starrte das Handy an. Was bitte war das denn gewesen?
Anscheinend hatte ich jetzt ein Date. Wenn man das überhaupt so nennen konnte. Absagen konnte ich das jetzt jedenfalls schlecht. Aber wie ich das meinen Eltern beibringen sollte, wusste ich auch nicht.
Klasse Riley. Du hast's echt drauf, dich in blöde Situationen zu bringen.
Allerdings hatte ich mir so was dummes echt schon lange nicht mehr geleistet.
“Mum, hast du was dagegen, wenn ich mich jetzt mit einem Freund treffe?“ rief ich durchs Treppenhaus.
“Du hast schon jemanden kennen gelernt? Wie schön, Schätzchen.“ Das deutete ich dann einfach mal als ja. Hoffentlich hatten mein Dad oder Andy nichts mitbekommen. Das würde nämlich nur in Diskussionen enden.
Also packte ich meine Gitarre in die Tasche, zog mir ein mit Farben bekleckstes T-Shirt und eine Jeansshorts an, kämmte mir noch ein letztes mal durch die Haare und ging dann die Treppe hinunter. Dort schlüpfte ich in meine Stoffschuhe und verließ das Haus, ohne noch irgendwem über den Weg zu laufen.
Gott war ich aufgeregt! Was, wenn Kolan doch so ein Perverser war, der einen erst vergewaltigte und dann nieder stach? Dann lachte er sich jetzt bestimmt ins Fäustchen. Ich war wohl ziemlich naiv.
Aber ich konnte nicht weiter darüber nachdenken, denn mir kam schon ein knallrotes Auto entgegen. Einige Meter vor mir kam es zum stehen und wenige Augenblicke später kam ein strahlender Kolan auf mich zu. Und damit meine ich so richtig strahlend, von innen heraus.
Mein Blick haftete immer noch auf dem schicken Neuwagen. Deshalb nahm ich auch nur nebenbei war, wie Kolan mich begrüßte. “Hi.“ murmelte ich nur verlegen zurück.
Wie ein Gentleman hielt er mir die Tür auf. Die Gitarre legte er zu seiner auf die Rückbank, dann stieg er ein und fuhr los. Einige Sekunden herrschte ein bedrückendes schweigen. Dann brach die Musik aus dem Radio das Schweigen.
Es lief gerade 'Move on' von Chase, einem neuen Jungstar. Ganz in Gedanken summte ich die Melodie mit.
“Magst du das Lied?“ fragte plötzlich Kolan. Irgendwie hatte ich ihn ganz ausgeblendet.
“Ich finde seine Lieder nicht schlecht, aber bei seinen öffentlichen Auftritten kommt er immer ziemlich abgehoben und eingebildet rüber. So, als würde er sich für was besseres halten, weist du?“ antwortete ich ehrlich. Warum nur kam es mir so vor, als würden wir uns schon ewig kennen?
Nachdenklich nickte Kolan. “Ja, du hast wohl recht.“ antwortete er dann. Meine Worte machten ihm wohl wirklich zu schaffen.
Ich konzentriere mich wieder auf die Musik, bis der Wagen anhielt und Kolan mit einer Hand vor meinem Gesicht wedelte. “Wir sind da.“ grinste er und ich verlor mich für einen Moment in seinen ungewöhnlichen Augen. Ich konnte wirklich nicht sagen, wie lange wir gefahren sind.
Wir liefen einige Minuten durch den Wald, bis wir an einem kleinen See ankamen. Das Wasser glitzerte in der heißen Sonne und die Blätter der Baumkronen hinterließen tanzende Schatten auf dem Waldboden. Es sah wunderschön aus.
Erst jetzt bemerkte ich den Korb, aus dem Kolan eine Decke holte, sie im Schatten ausbreitete und dann einen großen, umliegenden Baumstamm heran rollte.
Ich konnte mir gut vorstellen, dass dieser Ort hier sehr Beliebt ist. Als hätte er meine Gedanken erraten, meinte Kolan plötzlich: “Diese Stelle im Wald kennen nicht viele Leute. Deshalb komme ich auch so gerne hier her. Meistens hat man nämlich seine Ruhe.“
Da konnte ich ihn wirklich verstehen.
Er stimmte schon seine Gitarre. Sie hatte ein ziemlich aufwendiges Muster und war ganz bestimmt nicht billig gewesen. “Sie ist schön.“ stellte ich fest und begann auch, meine Gitarre auszupacken. Ich hatte sie seit Wochen nicht mehr in der Hand gehabt.
“Danke. Aber es kommt ja nicht auf das aussehen an, sondern auf das, was man aus ihr rausholen kann.“ erklärte er und spielte ein paar Akkorde.
Ich setzte mich zu ihm auf den Baumstamm.
“Also, was willst du spielen?“ fragte er mich dann.
Da musste ich wirklich nicht lange überlegen. Ich begann, die Melodie von 'Fairytale gone bad' von Sunrise Avenue zu spielen. Schon nach wenigen Sekunden stimmte Kolan mit ein. Gleichzeitig begannen wir zu singen und ich musste lächeln. Mein absolutes Lieblingslied.
Unsere Stimmen und Gitarren verschmolzen. Fast hätte ich gezittert, weil es so schön klang. Wann hatte ich das das Letzte mal gemacht? Es war eindeutig schon viel zu lange her.
“Mein Lieblingslied.“, Kolan grinste, “Und wehe, du erzählst mir noch ein mal, du könntest nicht singen. So eine schöne Stimme habe ich wirklich schon länger nicht mehr gehört.“
Ich seufzte. “Das Kompliment kann ich übrigens nur zurück geben.“ Das stimmte. Er hatte echt eine außergewöhnlich schöne Stimme.
“Seit wann spielst du schon?“ fragte er mich dann.
“Hm... Seit fast drei Jahren. Aber die Gitarre habe ich erst seit letztem Weihnachten.“
Er lächelte. “Dafür bist du ziemlich gut. Ich habe schon mit acht angefangen. Damals hatte ich extra Unterricht, weil ich meine Eltern so lange damit genervt habe.“
Jetzt musste ich lachen. “Ich habe zwar nicht meine Eltern genervt, dafür aber meinen Bruder. Ein mal habe ich ihm sogar gedroht, alle Saiten durchzuschneiden, wenn er es mir nicht beibringt.“
Warte! Warum erzählte ich ihm das eigentlich?
Aber es fühlte sich Richtig an.
“Die arme Gitarre!“ theatralisch stöhnte er auf.
“Keine Sorge, sie lebt noch.“ versicherte ich ihm und musste grinsen.
“Aber du hast echt 'ne schöne Stimme. Sanft und doch kräftig und ausdrucksstark.“
Ich spürte, wie ich rot wurde. “Danke.“ murmelte ich leicht beschämt.
Taktvoll, wie er war, übersah er das einfach. “Weist du, ich wohne auch erst seit zwei Jahren in Nevermoore. Die Leute hier sind eigentlich ganz nett, wenn man sie näher kennen lernt. Allerdings bin ich mit meiner Familie immer noch der 'Neue'.“ erklärte er mir dann.
Na toll! Das bedeutet dann, ich werde für den Rest meines Lebens die Neue sein.
“Wenn du willst, können wir uns in der Schule nebeneinander setzten. Unsere Klassenlehrerin heißt übrigens Frau Klaus.“
Jetzt musste ich ihn einfach unterbrechen. “Zierlich, blonder Bob und schickt einen beim leisesten Ton zum Nachsitzen?“
Irritiert blickte er mich an. “Ja, woher weist du das?“
Ich brach in schallendes Gelächter aus.
“Die Frau ist schrecklich! Wieso lachst du?“ Kolan war vollkommen verwirrt.
“Ich hasse sie. Sie war meine Physik und Deutsch Lehrerin. Aber bei niemandem sonst kann man so einfach gute Noten schreiben.“ erklärte ich, nachdem ich mich wieder beruhigt hatte.
Kolan war fassungslos. “Geht's dir noch gut? Der ganze Kurs schreibt total schlechte Noten!“
“Ihr habt einfach noch nicht den Trick raus. Ich bin wirklich enttäuscht.“ Ich schüttelte den Kopf. “Du musst die Wörter zählen. Bei den Multiple Choice Aufgaben, die sie eigentlich immer macht. Und dann musst du nur die Antwort mit den meisten Wörtern ankreuzen. In 80 Prozent der Fälle liegst du damit richtig und die zwei ist dir gesichert.“ erläuterte ich Systematisch mein Vorgehen.
Ungläubig starrte er mich an. “Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, oder?“
“Doch. Du kannst mir ruhig vertrauen. Ich hatte sie seit der siebten Klasse. Was glaubst du, wie ich so gute Noten schreiben konnte? Ich hasse Physik!“ Den Trick hatte ich irgendwann mal von einem der freiwilligen Nachhilfe-Lehrern bekommen. An unserer alten Schule war das sozusagen ein offenes Geheimnis.
“Und jetzt erzähl mir doch bitte, in welchen Fächern mir die gute Note garantiert ist.“
Kolan war immer noch total verblüfft von dieser Neuigkeit. “Physik, Chemie, Deutsch und Geschichte.“
“Sehr schön. Das bedeutet, ich bekomme endlich wieder ein paar mehr Zweier auf das Abschlusszeugnis.“ Zufrieden über diese Neuigkeit, zupfte ich einige Noten, die mir im Kopf schwirrten.
Plötzlich war Kolan wieder aus seiner Starre erwacht. “Warte, spiel das noch mal!“
Also wiederholte ich die Noten.
“Das ist genial!“ rief er begeistert und schrieb etwas auf einen Block. Danach umarmte er mich überschwänglich. Perplex ließ ich es zu.
Was hatte ich denn jetzt so tolles gemacht?
Kolan summte etwas, während er meine Melodie und die dazu gehörigen Akkorde spielte. Wow, das klang tatsächlich gut, was ich da zusammengereimt hatte.
Aber er war auch ein viel besserer Gitarrist, als ich es noch vor wenigen Minuten gedacht hatte. Und er sah auch wirklich nicht schlecht aus. Relativ groß, gut gebaut und mit so einer geheimnisvollen Art. Nur die Haare störten ein wenig, sie waren zu hell. Insgeheim hatte ich aber schon immer ein Faible für Musiker und Künstler. Das erklärt vielleicht auch, warum ich mit neun Jahren mein Zimmer mit allerlei bekannten Stars zutapeziert hatte...
“Willst du einen Muffin?“ riss mich Kolans Stimme aus meinen Gedanken.
“Ähm... Gerne.“ stotterte ich. Er reichte mir einen Muffin mit Schokoladenglasur. “Wow! Die sind ja göttlich. Wer hat die gemacht?“
Stolz zeigte er mit dem Finger auf sich, woraufhin ich eine Augenbraue hochzog. “Ehrlich! Meine Mutter hat mir nur dabei geholfen, dass sie nicht verbrennen. Ich hätte sie nämlich fast im Backofen vergessen.“ gestand er dann.
Ein Junge der kocht. Und dann auch noch so gut? Schwer vorzustellen.
“Wenn du es mir nicht glauben willst, muss ich dich wohl oder übel zum Essen einladen.“
Stop! War das gerade eine Einladung gewesen? Was sollte ich denn jetzt sagen?
Ich spürte schon, wie mir die röte ins Gesicht schoss. “Also?“ fragte Kolan dann, was mir bestätigte, dass er es ernst meinte.
“Ich... Ich weiß nicht...“ stammelte ich. Noch nie hatte mich jemand so aus der Fassung gebracht, schon gar kein Junge.
“Tut mir leid, ich wollte dich nicht bedrängen.“ winkte er ab. Wie kann er nur so ruhig bleiben?
Entweder, er musste öfter solche Situationen überspielen, oder er war ein verdammt guter Schauspieler.
“Schon okay.“, murmelte ich und fügte dann etwas lauter hinzu: “Wollen wir noch was spielen?“
Wenn ich ihn jetzt genauer betrachtete, wirkte er tatsächlich ein wenig verlegen und enttäuscht.
Als er plötzlich anfing, einfach drauf los zu spielen und dann auch noch sang, lief mir ein Schauer über den Rücken. Ich kannte das Lied nicht, weshalb ich nur stumm daneben saß und Kolan betrachtete. Ganz in seinem Element spielte er immer weiter.
Das Lied handelte vom Leben, davon, wie man sich fühlte, wenn man das Gefühl hatte, dass keiner einen verstand und man sich doch eigentlich nur nach jemandem sehnte, der einen Akzeptiert, wie man wirklich ist.
Vollkommen berührt bemerkte ich nicht die Tränen, die langsam meine Wangen herab flossen. Seit langem hatte ich mich schon nicht mehr so verstanden gefühlt, dieser Song drückte meine geheimsten Gedanken und Gefühle aus.
“Spiel weiter, bitte.“ meine Stimme zitterte und brach sogar.
Kolan betrachtete mich einen Moment, als hätte er nicht damit gerechnet, dass dieser Song so etwas in der Art bei mir auslösen könnte.
Er spielte immer weiter, ohne darüber nachzudenken, warum ich geweint hatte, bis seine Stimme ganz Rau wurde und seine Finger schon ganz rot und wund waren.
Die meisten der Wörter nahm ich gar nicht mehr richtig wahr, aber seine Stimme beruhigte mich. “Danke. Tut mir leid.“ flüsterte ich und wusste selbst nicht so genau für was. Wahrscheinlich dafür, dass er jetzt heiser war.
“Hab ich gerne gemacht. Ich habe schon lange nicht mehr vor jemandem Gitarre gespielt, geschweige denn, mit jemandem zusammen. Zumindest nicht aus ganzem Herzen. Dafür brauchst du dich nicht zu entschuldigen. Eigentlich müsste ich dir Dankbar sein.“ antwortete er ebenso leise und lächelte sanft.
“Von wem war das Lied?“ fragte ich nach einer Weile. Ich musste nicht erwähnen, dass ich das erste meinte.
Er zögerte, als wäre er sich nicht sicher, ob er mir die Wahrheit sagen sollte. Dann seufzte er. “Ich hab es selbst geschrieben. Es ist zwar schon eine Weile her, aber es stimmt trotzdem jedes Wort.“ Der letzte Satz war nur ein Hauch, aber ich verstand ihn trotzdem.
Konnte es tatsächlich wahr sein, dass es Kolan genau so ging wie mir? Schwer vorzustellen.
“Wir sollten bald gehen, es wird dunkel.“ verkündete Kolan kurz darauf.
Ich hatte es nicht bemerkt, aber er hatte recht. Der Himmel war bereits in einen hellen rosa-Ton gefärbt und es wurde kühler. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich leicht zitterte. Noch wenige Minuten und wir würden im vollkommen dunklen Wald festsitzen.
Ich half ihm beim zusammenpacken und wir stürmen aus dem Wald. Gerade als wir an dem roten Auto ankamen, ging die Sonne endgültig unter. Hier auf dem 'Fast'-Land war es echt dunkel. Nur die Sterne erhellten die Straße.
Meine Gedanken kreisten immer wieder zu diesem Lied zurück. “Wie heißt dein Song?“ fragte ich in die Stille hinein.
“Ich habe noch keinen Namen.“ kam es prompt zurück, was mich ein wenig überraschte.
“Secret Feelings and Thoughts.“ sprach ich meinen Gedanken sofort aus und ich hätte mir gerne gegen die Stirn geschlagen, was ich nur nicht tat, damit es nicht noch peinlicher wurde. Aber so war ich halt manchmal.
Ich hörte ihn allerdings schmunzeln, dann sagte er: “Ja, das passt. Hätte ich auch eigentlich selbst drauf kommen können.“
Es gefiel ihm? Heute ist echt mein Tag., jubelte ich in Gedanken.
Zumindest dachte ich das, bis wir in unsere Einfahrt einbogen und ich ein nur allzu bekanntes Auto erblickte.
Was sollte das? Konnte es nicht ein mal gut laufen?
Das würde gleich hässlich werden, und zwar so richtig.
Mein ganzer Körper hatte sich bei dem Anblick dieses Sportwagens verkrampft. Als ich einen Blick auf das Nummernschild warf, wurde ich zunehmend nervös. Er hatte sich doch tatsächlich hier her getraut.
“Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist, Riley?“ fragte Kolan mich zum wiederholten male. “Soll ich wirklich nicht mit rein kommen? So, wie du gerade blass geworden bist, rastest du gleich entweder aus, oder du brichst zusammen.“
Ich schüttelte den Kopf. “Nein. Wahrscheinlich beides, aber ich muss das jetzt machen, alleine.“ Nach kurzem zögern fügte ich allerdings noch hinzu: “Wartest du?“
Kolan nickte.
Ich stand auf und verließ das Auto. Eigentlich hatte ich klingeln wollen, aber als ich sah, dass er in seinem Auto saß, ging ich direkt auf ihn zu.
Ich trat fest gegen seine Tür und atmete tief durch. Als er zusammen zuckte, lächelte ich zufrieden. Wer weiß, wie lange meine Ruhe noch anhalten würde.
Als er mich erkannte, stieg er aus und hielt einen Blumenstrauß unter meine Nase. Das konnte jetzt aber nicht sein ernst sein, oder?
Meine Hand hinterließ einen Abdruck auf seiner Wange. Fluchend rieb er sich darüber.
“Es tut mir leid, Riley.“
Ich lachte laut los. “Erst machst du per SMS Schluss, dann erzählst du mir, du hättest mich nie geliebt und wolltest mich eigentlich nur ins Bett kriegen, und danach postest du dieses scheiß Video an meine Pinnwand. Und jetzt stehst du seelenruhig vor meiner Haustür und denkst, ein Blumenstrauß würde das wieder gut machen? Ich habe mit dir abgeschlossen, Dan. Verschwinde endlich aus meinem Leben.“ Ich bemerkte selbst, wie meine Stimme immer lauter wurde. Aber endlich hatte ich ihm jetzt ins Gesicht sagen können, was ich von ihm halte.
Gar nichts.
Und meine Wut wurde dadurch auch ein erhebliches Stück kleiner.
Er lachte bitter. “Wie ich sehe, hast du dir ja eh schon einen neuen Typ angelacht. Ich meine es ernst. Aber vielleicht verstehst du das ja auch nicht.“
“Oh doch. Ich verstehe sehr wohl, dass du mich schon wieder ausnutzen willst. Und jetzt steig endlich in deinen Wagen und hau ab!“ Meine Hände zitterten, und ich schrie, aber das war auch schon alles. Ich war erstaunt von mir selbst, wie ruhig ich blieb. Aber das war eher die Ruhe vor dem Sturm.
Ich drehte mich auf dem Absatz um und ging in Richtung Haus. Aber der Idiot von Ex-Freund musste mir ja nachlaufen. Also wandte ich einen der Selbstverteidigungs-Kick-Box-Tricks an, die ich von meinem Bruder gelernt hatte, und Dan sank keuchend Richtung Boden.
“Ich empfehle dir, weg zu sein, bis ich wiederkomme.“ zischte ich ihm noch entgegen und klingelte.
“Riley? Dan hat vorhin geklingelt, aber ich habe ihn nicht rein gelassen. Er wartet...“ Andy verstummte, als er ihn auf dem Boden liegen sah, und grinste.
Ich lächelte schwach. Das ganze hatte mir doch mehr zugesetzt, als ich je zugeben würde.
“Geht es?“ fragte er mich liebevoll.
Schnell schüttelte ich mit dem Kopf. “Ich brauche ein bisschen Abstand. Sag Mum und Dad, dass ich morgen wiederkomme.“ Ehe ich weiter nachdenken konnte, drehte ich mich um und rannte, direkt in Kolans Arme. Was hatte er schon alles mitbekommen? Wie lange stand er schon da?
Andy war zu verwirrt, um zu reagieren und blieb reglos im offenen Türrahmen stehen.
“Du kannst bei mir übernachten, ich kläre das mit meinen Eltern. Irgendwie.“ Mit diesen Worten drückte er mich auf den Beifahrersitz und fuhr los.
Es liefen mir zwar heiße Tränen über das Gesicht, aber ich musste nicht schluchzen. Vor allem war ich aber dankbar dafür, dass Kolan mir keine Fragen stellte. Und dafür, dass er sich um mich kümmerte.
Verdammt! Was mache ich denn eigentlich hier? Wieso musste Dan auch kommen? Ich habe es so schon schwer genug, damit fertig zu werden! Aber Schluss jetzt mit diesen trüben Gedanken, Riley. Konzentrier dich lieber auf die Musik!
Trotzdem bekam ich nicht mal die Melodie richtig mit. Auch den Weg vom Auto bis in eines der Zimmer nahm ich nur verschwommen wahr. Aber dass ein älterer Mann Kolan noch “Darüber reden wir später.“ zuraunte, das wusste ich noch.
“Ich muss nicht hier bleiben. Ich kann auch wieder nach Hause gehen. Es war nur... Ich war einfach nur durcheinander.“ erklärte ich Kolan.
Aber der schüttelte nur den Kopf. “Du beruhigst dich jetzt erstmal wieder. Ich hab doch gesagt, ich kläre das. Und außerdem werde ich dich nicht gehen lassen, bevor du mir nicht verraten hast, wie du den Typen außer Gefecht gesetzt hast.“ Seine Stimme war eindeutig noch rau.
Er drückte mir dabei ein Taschentuch in die Hand, obwohl ich schon wieder grinsen musste. “Aber bin ich auch sicher nicht im Weg? Ich meine, ihr habt doch sicher kein Bett mehr und vielleicht finden deine Eltern...“ begann ich, wurde jedoch von Kolan unterbrochen.
“Nicht vielleicht. Das ist in Ordnung. Du kannst in meinem Bett schlafen, für eine Nacht kann auch die Couch für mich herhalten. Und jetzt sag bloß nicht >Ich will dich aber nicht aus deinem Bett vertreiben und in deine Privatsphäre eintreten< immerhin habe ich dich ja mitgenommen."
-Verdammt hatte der Muskeln!-
und als er sich gerade zu mir herunter beugen wollte, machte ich zwei kleine Bewegungen, mit denen ich ihm den Arm auf den Rücken drehte und seinen Oberkörper Richtung Boden drückte.
“Ah! Du tust mir weh! Was geht denn mit dir ab?“
Ich ließ ihn los und musste mir lachend den Bauch halten. So einen Lachflash hatte ich schon länger nicht mehr gehabt. Auch Kolan prustete los.
“Das ist überhaupt nicht lustig!“ jammerte der Kerl mit den schwarzen Haaren und massierte seine Schulter.
“Aber du wolltest doch mitmachen.“ betonte Kolan unschuldig und wir klatschten uns ab. Er war wirklich jemand, der schnell schaltete, ansonsten hätte das nie funktioniert.
“Riley, dass ist mein Kumpel Marco, kurz Mac. Und das ist Riley. Ihrer Familie gehört die Mühle."
Mac nickte wissend, sah mich aber finster an. Dann wandte er sich an Kolan. “Sie wird Maurice gefallen.“
“Ja. Aber sie kann sich wehren.“
Was ging denn jetzt ab?
“Äh, ich bin auch noch anwesend. Könntet ihr mir das bitte erklären?“ Ich verstand nämlich nur Bahnhof.
“Maurice, 19, von sich selbst überzeugt, belästigt gerne hübsche Frauen, mein großer Bruder.“ erklärte Marco dann, wobei er am Ende immer wütender wurde und die Zähne zusammen biss. Unglaublich, wie schnell die Stimmung umschlagen konnte.
“Du solltest echt auf dich aufpassen. Besonders da er dich nicht kennt und nicht einschätzen kann, wird er vor nichts zurückschrecken. Auch wenn ich der Meinung bin, dass er schneller zu Boden gehen wird, als der Kerl vorhin. Denn ich bin mir sicher, dass du noch mehr drauf hast.“ ergänzte Kolan.
Obwohl ich diesen Jungen nur wenige Minuten kannte, tat er mir leid. “Ach, mit dem werde ich schon fertig.“
“Kole, was macht sie eigentlich hier?“ meinte Marco dann.
“Lange Geschichte.“ wank ich die Frage ab, woraufhin Mac eine Augenbraue hochzog.
“Vielleicht erzähl ich es dir irgendwann mal, wenn wir uns besser kennen. Ich will jetzt nicht darüber reden.“ Mit dem Date hatte ich kein Problem, dafür aber mit Dan. Und ich kannte weder Marco, noch Kolan gut genug, um mit ihnen darüber zu reden.
“Also. Bis dann, Riley. Es war schön dich kennen zu lernen. Ruf mich an, Kumpel.“ verabschiedete sich Mac nach einer Weile wieder.
Wir hatten noch eine Zeit lang gequatscht und Marco versichert, dass nichts zwischen uns läuft. Es hatte auch keiner von uns beiden ein Wort darüber verloren, dass ich bei Kolan übernachten würde und dafür war ich ihm dankbar.
“Hier. Du willst sicher nicht in den Sachen schlafen.“ Kolan hielt mir ein übergroßes T-Shirt und eine Jogginghose hin. “Das Bad ist da drüben.“ -er wies auf eine Tür auf dem Flur- “Wenn du möchtest, kannst du dich auch duschen. Handtücher und so was findest du da in den Schränken.“
Ich nickte.
Das Oberteil war mir ohne Frage viel zu groß, genau wie die Hose. Nach dem duschen ging ich zurück in Kolans Zimmer. Der war gerade dabei, die Couch aufzuklappen.
“Ich kann wirklich auf der Couch schlafen.“ versuchte ich erneut ihn zu überzeugen.
“Nein. Und jetzt leg dich endlich hin.“
Unwillkürlich seufzte ich auf. Sturkopf!
“Was grinst du eigentlich so?“
“Ach nichts. Ich finde nur, dass dir meine Klamotten stehen.“ Das Grinsen wurde noch größer, wenn das überhaupt geht. Na klasse, Riley. Was tust du dir eigentlich immer an?
Kolan knipste das Licht aus und mit der Dunkelheit kamen auch die Erinnerungen. Ich vergrub mich immer weiter in meiner Vergangenheit.
“Riley? Was ist los?“ Die sanfte Stimme drang zu mir durch und riss mich in die Wirklichkeit zurück. Zwei starke Arme lagen um meinen zitternden Körper und die bekannten Tränen liefen über meine Wangen.
Zuerst dachte ich, es wäre mein Bruder, aber dann wurde mir klar, dass es Kolan sein musste. Letztendlich war es mir egal, ich lehnte mich an seine Brust und weinte.
Er flüsterte mir beruhigende Worte zu und ließ mich nicht los, auch als es mir wieder besser ging. Seine Nähe gab mir Kraft, mehr noch, und auf eine andere Weise, als Andy es je könnte.
Ich hatte das Gefühl, wenn ich ihn jetzt loslassen würde, würde ich in tausend Teile zerfallen. Dabei kannte ich ihn doch überhaupt nicht!
“Besser?“ fragte er leise. Ich nickte an seiner Brust. Obwohl ich es nicht wollte, ließ ich ihn los, und ein Teil der Einsamkeit und des Zweifels kam zurück.
Kolan wollte aufstehen, aber ich hielt ihn fest. “Bitte bleib. Ich kann einen guten Freund jetzt wirklich gebrauchen.“ sagte ich so unüberlegt wie meistens. Aber es stimmte, für mich war er ein guter Freund. Auch wenn er mir auf seltsame Weise mehr bedeutete.
Ich rutschte ein Stück zur Seite und Kolan legte sich neben mich. Er schien ein wenig verunsichert, aber sein Blick lag wieder auf mir.
“Danke.“, murmelte ich, “Danke für alles.“
Ohne Antwort zog er mich zu sich und legte seinen Arm um mich. Mit dem Kopf auf seiner Brust schlief ich dann doch ein, begleitet von Kolans ruhigem Atem.
“Kolan!“ schrie eine wütende Frauenstimme.
Verschlafen öffnete ich meine Augen für einen Spalt und riss sie sogleich auf. In der Tür stand unverkennbar Kolans Mutter, die uns entsetzt anstarrte. Irgendwie fühlte ich mich wie auf frischer Tat ertappt, auch wenn rein gar nichts passiert war.
“Beruhig dich Mum. Lass uns noch ein bisschen schlafen, ja. Es war gestern ein harter Tag für sie. Und wenn du schauen willst, wir haben beide noch was an.“ Die Stimme kam von unter mir. Liege ich etwa immer noch auf Kolan?
Ich fuhr mit meiner Hand ein Stück nach oben. Ja, eindeutig Haut. Warte! War er etwa nackt? Nein, sein Shirt war nur ein wenig hochgerutscht.
Ohne Kommentar wurde die Tür wieder geschlossen. “Ich wollte nicht, dass du dich wegen mir mit deiner Mutter streitest. Ich sollte gehen.“
Eigentlich wollte ich aufstehen, aber ich wurde festgehalten. Nur meinen Kopf konnte ich so drehen, dass ich ihm in die Augen sehen konnte.
Ein Fehler.
Mein Herzschlag wurde schneller, als unsere Gesichter sich immer näher kamen.
Hör auf, Riley. Es würde alles kaputt machen. Du würdest es bereuen. Das hier ist falsch. Ganz falsch.
Wie ein Mantra wiederholte ich diese Worte immer wieder und wieder. Aber es half nichts.
Meine eigenen Gefühle verwirrten mich, während Kolan nur meine Reaktion abwartete. Minuten, vielleicht auch Stunden, rang ich mit mir selbst, bis ich mich losreißen konnte.
Fluchtartig sprang ich von dem Bett und Kolan, nahm meine Sachen und verschwand im Bad.
Dort ließ ich mich erstmal gegen die Tür sinken. Das war verdammt knapp! Was ist nur in mich gefahren?
Ich wollte schreien, ein Loch in die Wand schlagen und den Spiegel eintreten. Aber stattdessen zog ich mich um, band meine Haare zu einem Zopf, legte die Sachen von Kolan zusammen und wusch mir das Gesicht.
Ich ging noch einmal zurück zu Kolan, um ihm seine Kleidung zu geben und mich zu verabschieden. Aber als ich ihn sah, hatte ich richtige Gewissensbisse. Denn er stand mit der Stirn an die Wand gelehnt da und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Auch er murmelte irgendwas vor sich hin.
“Kolan, ich gehe jetzt. Es... tut mir leid.“ Eine schwache Entschuldigung.
“Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen, es war meine Schuld. Ich werde dich fahren. Es hat geregnet, der Bus fährt erst in einer Stunde und laufen wirst du sicher nicht. Außerdem ist es kalt und du hast fast nichts an.“
Für einen Moment ließ ich mir die Möglichkeiten durch den Kopf gehen, aber ich hatte wohl keine andere Wahl. “Okay.“ stimmte ich ihm zu.
Er schien vollkommen fertig. Was habe ich nur getan?
Wir fuhren wieder aus der Stadt heraus. Obwohl ich das Gefühl hatte, ihn schon Ewigkeiten zu kennen, fand ich einfach keine Worte.
Als wir fast vor unserer Einfahrt waren, sprach Kolan dann. “Also... Wenn du mich jetzt noch leiden kannst... Ich habe Tickets für ein Konzert morgen Abend. Sind verschiedene Bands dabei, auch Sunrise Avenue.“
Tickets? Da musste ich nicht lange überlegen. “Klar. Also... Das heißt, wenn meine Eltern mich nach der Aktion überhaupt noch aus dem Haus lassen, gerne.“
Jetzt konnte er auch wieder lachen. Hatte er sich Sorgen darüber gemacht, ob ich ihn noch mögen würde, nachdem wir uns fast geküsst hätten? Was für ein Schwachsinn. Das war meine Schuld.
Als ich aus dem Auto ausstieg, musste ich vor Kälte zittern. Als ich eine zweite Tür zuschlagen hörte, drehte ich mich um. Kolan war auch ausgestiegen und hielt mir meine Gitarre und seine Lederjacke entgegen.
Ohne Widerstand zog ich sie über. Gerade als ich ihn zum Abschied umarmen wollte, sah ich im Augenwinkel jemanden auf uns zu stürmen.
“Riley Sophia Richards! Was fällt dir ein, einfach die ganze Nacht weg zu bleiben? Du wirst sofort rein kommen. Und sie, junger Mann, werden auch mitkommen. Wissen sie, dass ich sie jetzt wegen Entführung Minderjähriger anzeigen könnte? Ich hoffe, sie haben eine Entschuldigung.“ Mein Vater zog mich in die Mühle und Kolan folgte uns freiwillig. Er sollte wirklich lieber weglaufen. Aber war das nicht das gleiche, das ich auch versucht hatte? Bei mir hatte es auch nicht funktioniert.
Mein Vater drückte mich auf einen Stuhl, während Andy mir komische Blicke zuwarf und meine Mutter aufgebracht durch die Küche lief. Wir wurden beide richtig vorgeführt, aber Kolan ließ sich ganz gelassen neben mir nieder.
“Also, was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“ herausfordernd sah mein Vater mich an.
“Dan ist hier aufgekreuzt und wollte mich um Verzeihung bitten, ich war verwirrt und verletzt und mir wurde das hier alles zu viel. Ich brauchte Abstand, okay.“
“Und dann dachtest du dir, du könntest mit einem Fremden abhauen und die Nacht mit ihm verbringen? Nur weil dein gestörter Ex hier auftaucht? Riley, du hast es zu weit getrieben. Ich werde mir noch anhören, was der Typ zu sagen hat und dann wirst du ihn nie wieder sehen.“
Das reichte, um mich erneut zum weinen zu bringen. “Bitte tu mir das nicht an! Ich kann verstehen, dass ihr wütend seid. Aber Kolan kann nichts dafür. Bitte!“
Ich wusste, dass das flehen nichts bringen würde. Mein Vater würde nicht nachgeben, ich konnte es in seinen Augen sehen. Also musste ich noch die wenigen Minuten, die uns bleiben würden, ausnutzen und lehnte mich an Kolan. Er drückte mich fest und flüsterte mir: “Tut mir leid, dass du wegen mir Ärger hast zu.“ ins Ohr.
“Nimm gefälligst deine Hände von meiner Tochter!“ fuhr mein Vater ihn an.
Aber Kolan zog mich nur noch näher zu sich. “Ich denke, ihre Tochter ist alt genug, um selbst zu wissen, wer sie umarmen und anfassen darf, und wer nicht. Wenn sie es mir sagt, werde ich sie sofort loslassen.“ Ich musste darüber grinsen, dass er sich tatsächlich mit meinem Vater anlegte. Auch wenn es womöglich ziemlich dämlich war.
“Ich hätte nie gedacht, dass du dich so leichtgläubig auf den erstbesten Kerl einlässt, der dir über den Weg läuft. Eigentlich hatte ich gedacht, du hättest aus der Sache mit Dan etwas gelernt.“ Das von meinem Vater zu hören, gab mir den Rest. Was wussten sie denn noch von meinem Leben?
“Vergleich Kolan nie wieder mit ihm! Er würde das NIE tun! Ihr beide wisst doch gar nichts über ihn. Und wie kommst du auf die Idee, ich hätte mit ihm geschlafen? Ja, ich habe die Nacht bei ihm verbracht. Ich habe auch in seinem Bett geschlafen. Aber er hat auf der Couch gelegen, sich Sorgen um mich gemacht und mich getröstet. Er hat es geschafft, dass ich mich besser fühlte. Ich habe einfach vergessen, was in letzter Zeit passiert ist und das nur weil er für mich da war. Dafür bin ich ihm dankbar. Er hat es einfach nicht verdient, dass ihr so über ihn redet.“ Kolan drückte meine Hand. Woher nahm ich plötzlich das Selbstvertrauen?
Meine Mutter wollte gerade auch etwas sagen, als Andy sich einmischte. “Sie hat recht, Dad. Keiner von uns ist in den letzten Wochen zu ihr durchgedrungen, aber dieser Junge hat es geschafft. Ihr solltet ihm wenigstens eine Chance geben.“
Aber bevor er weiter reden konnte, unterbrach ihn mein Vater. “Geht mir aus den Augen, beide!“
Trotzig stand ich auf und zog Kolan mit. Mein Vater schaffte es doch immer wieder, mein Leben zu zerstören. Erst der Umzug und jetzt das hier. Wenn Kolan jetzt noch was mit mir zu tun haben wollte, wäre das ein Wunder.
“Es tut mir leid, Riley.“ meinte Andy, der vor mir auf der Treppe lief.
“Du hast es ja versucht.“ war meine Antwort. Auch wenn es nur ein schwacher Trost war.
Ich hatte Kolans Hand nicht losgelassen, bis wir in meinem Zimmer waren. Wie auch am Abend zuvor zog er mich in seine Arme. Aber ich wollte nicht weinen, ich war nur wütend auf meine Eltern.
“Hasst du mich jetzt?“ fragte ich ihn.
“Was? Wieso sollte ich dich hassen? Niemand kann etwas für seine Eltern. Und irgendwo ganz tief in mir kann ich sie sogar ein kleines bisschen verstehen. Aber was hat dieser Dan dir angetan, das du jedes mal so ausrastest?“
Er wusste eh schon mehr als die Meisten Menschen in meiner Umgebung. Warum sollte er also nicht die ganze Geschichte kennen? Als ich geendet hatte, zog Kolan mich wieder zu sich.
“Das wusste ich nicht. Jetzt kann ich verstehen, warum du mich grade so krass verteidigt hast. Und das du wegen ihm jetzt so ein schlechtes Bild von Männern hast, tut mir leid.“
“Oh, naja. Ich weiß, dass so was nur die Ausnahme ist. Zumindest hoffe ich das. Aber er hat mich trotzdem verletzt.“
“Bist du deshalb vorhin abgehauen? Weil du nicht wieder verletzt werden wolltest? Du hattest schon recht, ich könnte so was nie machen.“ Ich zuckte mit den Schultern, als mir klar wurde, dass er von unserem fast-Kuss sprach.
“Kann schon sein. Aber ich bin mir auch einfach nicht sicher, ob es überhaupt richtig wäre.“
Daraufhin nickte Kolan. So offen hatte ich mit niemandem außer Mona über meine Gefühle geredet.
“Wahrscheinlich hast du recht, es ist besser so. Ich sollte jetzt aber gehen. Das mit dem Konzert wird wohl nichts. Aber wir sehen uns dann in der Schule.“
Kolan wollte mein Zimmer gerade verlassen, als mir eine Idee kam. “Warte. Ich komme morgen mit. Wann holst du mich ab?“
Er schien leicht verwirrt, nickte aber. “Ich werde um halb acht draußen warten.“
Dann ging er.
Seit ich Kolan kennen gelernt hatte, lief nichts wie geplant. Obwohl, welchen Plan hatte ich denn schon? Zumindest eine Idee, wie ich morgen unbemerkt abhauen könnte...
“Ich weiß nicht, Riley. Wenn wir auffliegen, sind wir beide dran. Und Mum und Dad sind auch so schon richtig sauer auf dich.“ zweifelte Andy immer noch.
“Wir werden aber nicht auffliegen. Du musst sie nur dazu überreden, dass sie mich mit dir gehen lassen. Und auf dem Rückweg rufe ich dich an und wir holen dich ab.“
“Na gut. Aber dafür habe ich was gut bei dir! Drei Wochen Hausaufgaben abschreiben, oder ich mach's nicht.“
Ich fiel meinem Bruder um den Hals. “Danke, danke, danke!“
“Dank mir lieber erst, wenn wir das Haus verlassen haben. Noch haben wir es nicht geschafft.“
Mein Plan sah vor, unsere Eltern davon zu überzeugen, dass wir wieder in den Club gehen würden. Andy würde dann auch tatsächlich dort hin gehen, während ich mit Kolan zu dem Konzert gehen würde. Und auf dem Rückweg würde Kolan dann am Club anhalten und uns beide bis zu unserer Einfahrt fahren.
So weit, so gut. Jetzt musste das auch nur noch funktionieren.
Eine halbe Stunde später kam Andy wieder in mein Zimmer. “Aber pass auf, dass deine Schwester nicht abhaut und kommt vor zwei Uhr wieder.“ imitierte er die Stimme unseres Vaters.
“Ja!“ rief ich und umarmte ihn erneut. “Zehn nach sieben unten.“ meinte ich dann und schob ihn aus meinem Zimmer.
Ich hatte verboten bekommen, alleine das Haus zu verlassen und es grenzte an ein Wunder, dass ich heute Abend weg durfte.
Außerdem musste ich den Rest der Ferien in meinem Zimmer verbringen. Also war es noch seltsamer, dass meine Eltern ihre Meinung geändert hatten.
Aber eigentlich konnte mir der Grund auch ganz egal sein, Hauptsache ich durfte weg.
“Mittagessen ist fertig!“ rief meine Mutter von unten. Wollte sie sich jetzt wieder mit mir versöhnen, oder was? Ich wollte das nicht.
“Kein Hunger.“ antwortete ich.
Eine Stunde später hielt ich es dann aber doch nicht mehr aus und schlich die Treppe hinunter. Aber natürlich saß mein Vater noch mit seiner Zeitung am Tisch. So ein Mist!
Ohne auf ihn zu achten nahm ich mir einen Jogurt aus dem Kühlschrank und ging wieder in mein Zimmer. Als ich schon fast wieder oben war, hörte ich ihn trotzdem sagen: “Du wirst diesen Jungen nie wieder sehen, egal wie lange du mich ignorierst.“
Ha! Wenn er wüsste!
Um sieben Uhr lief ich aufgeregt durch mein Zimmer.
Ich hatte mich für mein trägerloses lila Kleid mit der schwarzen Schleife und meine schwarzen High Heels entschieden. Meine Haare trug ich offen, aber zu sanften Wellen gedreht. Nur einige Strähnen hatte ich nach hinten gesteckt, damit sie mir nicht ins Gesicht fielen. Abgerundet wurde das ganze von Kolans Lederjacke. Sie passte einfach perfekt dazu und ließ mein Outfit nicht zu edel, sondern eher lässig-rockig rüber kommen.
Um mir die Zeit zu vertreiben, lackierte ich mir die Fingernägel in lila und tuschte mir die Wimpern.
Als wir noch in Dexterville gelebt haben, war das schon fast tägliches Programm. Aber diese Zeiten waren wohl für immer vorbei.
Nachdem ich noch einen letzten Blick in den Spiegel geworfen hatte, sah ich auf die Uhr. 7.23! Verdammt!
Ich rannte die Treppe hinunter und lief fast in Andy hinein.
“Wir gehen!“ rief er und wir verschwanden, ohne noch von irgendwem aufgehalten zu werden.
“Willst du nicht noch eine Kette anziehen? Wie wär's mit der hier?“ fragte er dann.
Verdutzt sah ich ihn an. Er hielt mir ein dünnes Goldkettchen mit einem kleinen Stern als Anhänger hin. Ich fand sie wunderschön. “Danke. Aber... Wofür ist die?“
“Dafür, dass du meine Schwester bist und ich es nicht fair finde, was Mum und Dad machen. Und weil ich finde, dass sie dir steht.“
“Danke.“ wiederholte ich noch einmal, während er sie mir anlegte. Dass so was von ihm kam... Normalerweise war er doch der erste, der mich von jedem Mann der Welt fernhalten wollte.
Dann liefen wir noch einige Meter weiter über den matschigen Boden, bis uns Scheinwerfer entgegen kamen.
“Viel Spaß im Club!“ rief ich meinem Bruder zu und stieg zu Kolan in den Wagen.
“Hey Riley. Schöne Kette.“ bemerkte Kolan als ich einstieg.
“Danke. Die habe ich geschenkt bekommen.“ Ich fuhr mit dem Finger über den kleinen Stern.
“Sollen wir deinen Bruder irgendwohin mitnehmen?“ fragte er mich dann, während er sein Auto wendete.
“Nein, er geht in den Club. Aber auf dem Rückweg müssen wir ihn dort abholen. Und ich muss um zwei wieder hier sein. Ansonsten fliegt mein Alibi auf.“ erklärte ich ihm dann.
“Ich sage dir jetzt besser nicht, dass ich es nicht gut finde, dass du deinen Eltern nicht bescheid gesagt hast...“ Er meinte das ernst, ich sah es an seiner Haltung.
“So was mache ich auch normalerweise nicht, aber sie haben mir keine andere Wahl gelassen. Wenn sie mir verbieten, dich zu treffen, bleibt mir ja nichts anderes übrig, als zu lügen.“
Daraufhin kam nur ein nicken von Kolan und er drehte das Radio lauter.
Nach einer halben Stunde hatten wir einen Parkplatz in einem Parkhaus gefunden und waren zum Eingang der Konzerthalle gegangen.
Ich wollte mich gerade in der ewig langen Schlange anstellen, als Kolan mich am Arm mit zog. “Wieso willst du dich anstellen? Mit VIP-Tickets kann man direkt an den Türstehern vorbei gehen.“
Ich verstand seine Worte erst, als er zu dem Türsteher ging, ihm die Tickets unter die Nase hielt und mich an ihm vorbei schob. Wir wurden nicht mal auf Waffen, Pfefferspray oder irgendwas anderes kontrolliert. Dann drückte er mir einen Pass in die Hand und zog mich weiter. 'VIP-Backstage-Pass' stand da in Druckbuchstaben.
“Was? Woher hast du die? Das kann ich unmöglich annehmen. Dieses Stück Papier ist bestimmt mehr Wert, als meine Eltern zusammen im Monat verdienen.“
Wir gingen durch eine kleine Tür und kamen zu einem Abgesperrten Bereich. Es sah so aus, als würde Kolan sich hier auskennen, also folgte ich ihm einfach.
“Sagen wir mal, ich kenne einige der Künstler, die heute Abend auftreten. Und wehe du gehst jetzt. Denn das wäre dann wirklich eine Verschwendung der Tickets.“
Ich konnte es immer noch nicht fassen. Ich war gerade mit einem gut aussehenden Typ, mit dem ich mich überhaupt nicht treffen dürfte, im Backstage-Bereich eines total angesagten Konzerts, auf dem meine Lieblings-Band auftreten sollte. Und das alles, ohne meinen Eltern etwas davon zu erzählen. Wenn ich nach Hause kam, musste ich das unbedingt sofort Mona berichten. Ich meine: Wann würde mir das schon noch einmal passieren?
“Und jetzt komm mit, ich will ein paar Freunde begrüßen. Das Konzert beginnt erst in einer Stunde.“ Damit nahm er meine Hand und zog mich weiter durch einen kleinen Gang.
Vor einer Tür mit einem großen Stern blieben wir stehen und Kolan klopfte an.
“Ja?“ kam es gedämpft von der anderen Seite.
Die Tür wurde geöffnet und vor uns stand niemand anderes als Jaiden Miller. Auch er war ein großartiger Sänger, aber richtig Berühmt wurde er erst durch seine Rolle im Film 'Nightmare'. Und dieser Internationale Star stand jetzt keinen Meter von mir entfernt.
“Oh mein Gott!“ war alles, an das ich noch denken konnte. Mein Herz flatterte aufgeregt in meinem Brustkorb, aber ich versuchte ruhig zu bleiben.
“Hey Kumpel! Du bist ja doch gekommen.“ Die beiden klatschten sich ab, dann sah Jaiden mich an. Sie kennen sich?
“Und wer bist du, wenn ich fragen darf?“
“Ich bin Riley.“ Fast hätte ich gestottert, nur weil er mich angesprochen hatte. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Jaiden Miller!
Auf den Fotos hatte ich ihn schon oft gesehen, aber erst wenn man ihm so nah war, konnte man das wirklich besondere an ihm sehen. Sein eines Auge war blau, das andere braun.
“Sie ist mit mir hier, also schau sie nicht so an.“ erklärte Kolan. Wie sah Jaiden mich denn an?
Irgendwie hatte es sich gerade so angehört, als würde Kolan mich für sich beanspruchen. Seltsam.
“Kommt rein. Ich habe keine Lust, wieder von so ein paar verrückter Fans belagert zu werden.“
“Och, armer Jaiden.“ Kolan tätschelte Jaiden den Kopf, und diese irreale Situation war es, die mich zum kichern brachte.
Der Raum, den wir betraten, war nicht besonders groß und außer einem schwarzen Ledersofa, einem Tisch, einigen Postern von Jaiden und einem Spiegel gab es dort auch nicht viel mehr. Ich setzte mich neben Kolan auf das Sofa.
Immer wieder ertappte ich mich selbst dabei, wie mein Herz schneller schlug und ich Jaiden anstarrte. Während er und Kolan über belanglose Dinge redeten, schweiften meine Gedanken andauernd ab. Ich musste schon zugeben, dass Jaiden gut aussah, aber ihm fehlte das gewisse etwas, das in meinen Augen nur Kolan hatte. Diese Augen... Verdammt Riley! Was ist nur in dich gefahren?
“Ich denke, wir lassen dich dann noch mal alleine. Du brauchst sicher noch ein wenig Ruhe und ich will Rose noch kurz hallo sagen, bevor ihr anfangt.“ meinte Kolan.
“Alles klar. Es war schön, dich wieder zu sehen, Kumpel. Nett, dich kennen zu lernen, Riley. Willst du noch ein Autogramm haben? Ich weiß ja nicht, wann wir uns das nächste mal sehen sollten.“ fragte Jaiden an mich gerichtet.
Als ob ich mir so eine Chance entgehen lassen würde! Allerdings würde Mona mich dafür umbringen, weil sie ein totaler Jaiden-Miller-Freak ist.
“Kannst du vielleicht 'für Mona' drauf schreiben?“ fragte ich und bekam daraufhin zwei Postkarten mit Autogramm und unterschiedlichen Widmungen von Jaiden.
Zum Schluss umarmte er mich sogar, wobei er mir seltsame Worte zuraunte. “Du musst etwas besonders sein. Er hat noch nie ein Mädchen mitgebracht.“ Was genau wollte er mir damit sagen?
Vielleicht hatte ich es mir ja auch nur eingebildet.
Nachdem Jaiden die Tür wieder geschlossen hatte, musste ich ein kreischen unterdrücken. Ich, Riley Sophia Richards, hatte gerade Jaiden Miller kennen gelernt und war ihm näher gekommen, als die Meisten seiner verrückten Fans es je sein werden.
“Woher kennst du ihn?“ schoss es aus mir heraus, während Kolan schon weiter gegangen war.
“Er ist ein guter Freund.“ Das war keine Antwort auf meine Frage, aber ich war in diesem Moment viel zu sehr mit meinen Gedanken beschäftigt, um weiter zu bohren. Außerdem waren wir gerade in einem großen Raum am Ende des Ganges angelangt. Überall standen Mikrofone, Computer, Scheinwerfer und andere Technik. Mehrere Menschen liefen hektisch vom einen Ende zum anderen und sprachen dabei in die Kopfhörer, die in ihren Ohren steckten, ein. Hier war es heller als im Flur und das grelle Licht brannte mir für einen Moment in den Augen.
Deshalb bemerkte ich auch erst kurze Zeit später, dass eine Frau mit Blazer und Stöckelschuhen auf uns zu kam und Kolan umarmte.
Tief in mir drin versetzte mir das einen kleinen Stich und in diesem Augenblick war ich mir sicher, dass ich das Gesicht verzog und mein Herz einen aussetzer machte.
Was war das nun schon wieder für ein Gefühl?
Ist diese Frau seine Freundin? Nein, Kolan hatte gesagt, er ist Single. Aber wer war sie dann? Hatte er nicht eben zu Jaiden gesagt, er wolle noch eine Rose begrüßen? Hätte ich doch nur besser zugehört! Die ganze Unruhe und Hektik um uns herum machte mich schon ganz wirr im Kopf.
“Rose, das ist Riley.“ stellte Kolan mich vor.
Gute Mine zum bösen Spiel. Also lächelte ich. “Hi.“
Die Frau kam auch auf mich zu und schloss mich in eine Umarmung. “Ich bin Rose, schön dich kennen zu lernen.“ Wie oft ich diese Worte in den letzten Tagen schon gehört hatte...
Rose war ein ganzes Stück größer als ich und sie sah richtig hübsch aus mit ihren kurzen, blonden Locken.
“Also Cousinchen, erzähl mal, wie läuft es so?“
Sie war seine Cousine? Ich hatte das Gefühl, ein riesen Stein würde von meinem Herzen fallen. So eine Erleichterung hatte ich noch nie gefühlt auch wenn ich immer noch nicht wusste, worüber ich erleichtert war.
“Gut. Ich habe schon ein Kleid und wir haben die Ringe ausgesucht. Jetzt müssen wir nur noch die Kirche und den Saal buchen, wenn wir den Termin gefunden haben. Ich werde nächstes Jahr heiraten, weißt du, Riley. Übrigens hat Kole eure Karten von mir, denn ich gehöre zu den Organisatoren des Konzerts.“
Das erklärte natürlich so einiges, zum Beispiel warum er Backstage-Pässe verschenkt.
“Das ist ein schönes Kleid. Du hast einen guten Geschmack, Koles Jacke passt echt gut dazu.“
Ich spürte die Hitze in meinem Gesicht und sah verlegen weg. “Danke.“ murmelte ich. Ertappt...
“Das ist meine Jacke?“ fragte Kolan verwirrt, wofür er von Rose einen klapps auf den Hinterkopf bekam. Ich beschloss sie zu mögen.
“Sag mal, erkennst du jetzt deine eigenen Sachen nicht mehr, oder was?“ fuhr sie ihn an. Sie war mindestens 25, aber so wie sie gerade mit ihrem Cousin sprach, hätte sie auch zehn sein können.
Jetzt, im nachhinein, wäre sie wahrscheinlich schon etwas zu alt, um Kolans Freundin zu sein. Ich kam mir unendlich blöd vor, weil ich so etwas gedacht hatte.
“Also ich muss jetzt weiter arbeiten, ihr solltet auch langsam vor die Bühne gehen, wenn ihr den Anfang nicht verpassen wollt. Bis dann.“ Genau so schnell, wie Rose gekommen war, war sie auch schon wieder in der hektischen Menschenmenge verschwunden.
“Rose war für mich immer die große Schwester, die ich nie hatte. Du hast tatsächlich meine Jacke an? Ich habe nicht damit gerechnet, sie wieder zu sehen.“ meinte Kolan mehr zu sich selbst, aber ich antworte trotzdem.
“Eigentlich wollte ich sie dir später wiedergeben.“ Ja, ich konnte ruhig zugeben, dass ich jetzt ein wenig verunsichert war.
Kolan hingegen hatte ein spitzbübisches grinsen aufgelegt. “Behalt sie, ich hab noch genug andere Jacken. Das solltest du noch lernen; Wenn sich ein Mädchen einen Pulli oder irgendwas anderes von einem Jungen ausleiht, gibt sie es nie zurück.“
Sein lachen war einfach ansteckend.
Wir machten uns auf, den Weg, den wir gekommen waren, zurück zu gehen. Als wir vor dem Eingang ankamen, warf ich einen Blick nach Draußen. Dort war es noch voller als vorhin und die Leute warteten schon ungeduldig, endlich reingelassen zu werden.
Wir gelangten in eine riesige Halle mit blitzenden Lichtern. Am Ende des Raums war eine Bühne aufgebaut, die mit vielen Instrumenten und noch mehr Scheinwerfern ausgestattet war. Im Hintergrund hing ein Banner, der darauf hinwies, dass das Konzert für einen guten Zweck stattfand und die Einnahmen an eine Hilfsorganisation gespendet werden. Alle Künstler traten unentgeltlich auf.
Während Kolan und ich uns durch die Menge nach vorne kämpften, trat ein etwas älterer Mann auf die Bühne, begrüßte alle und sagte den ersten Auftritt an. Es herrschte eine tolle Stimmung und ich hatte einen großen Spaß mit Kolan.
Es traten viele eher unbekannte Künstler auf, aber keiner von ihnen war schlecht. Als dann Sunrise Avenue auf die Bühne kam, musste ich auch kreischen. Und als Jaiden auftrat, riefen mehrere Mädchen, sie würden ihn lieben. Kolan und ich grinsten uns nur verschwörerisch an. Für die Autogramme in meiner Handtasche würden hier so einige töten.
Fast hätte ich gesagt, dass ich einem Star noch nie so nah gekommen war wie Cro, der meine Hand berührte, aber das stimmte nicht. Immerhin hatte Jaiden mich umarmt.
Um ein Uhr war das Konzert noch nicht vorbei, aber wir mussten uns auf den Rückweg machen. Es war schade, aber es ging nicht anders. Kolan nahm meine Hand und schob mich vor sich her durch die Leute um mich nicht zu verlieren. Einige warfen uns säuerliche Blicke zu, aber das ignorierte ich.
Die Türsteher ließen uns durch und ich hakte mich bei Kolan unter. Rechtlich gesehen hätte ich schon seit einer Stunde zu Hause sein müssen, deshalb sollte ich mich besser nicht von irgendeinem Polizisten erwischen lassen, die hier überall herumliefen.
“Danke für den schönen Abend. Ich bin froh, dass ich mitgekommen bin.“ Erst als ich es ausgesprochen hatte, bemerkte ich, wie wahr diese Worte waren.
“Ich wusste, dass ich es bereuen würde, wenn ich dich nicht anspreche. Zum Glück habe ich es getan.“
Zwar war ich mir nicht sicher, ob er mit sich selbst oder mir sprach, aber es stimmte.
Wir hatten die ganze Fahrt über richtig gute Laune und sangen mit dem Radio um die Wette. Kolan fuhr gerade vor den Club, als Andy aus diesem heraus kam. Er stieg ein und Kolan fuhr uns bis zur Einfahrt.
Andy erzählte, dass er auch seinen Spaß hatte. Die Mädchen waren wieder auf ihn, wie die Mücken zur Torte, geflogen.
“Also noch einmal danke.“ Da ich es in dem Augenblick passend fand, drückte ich ihm einen Kuss auf die Wange und stieg dann aus. Seine Haut war weich und warm, ein schönes Gefühl.
Mein Bruder wartete bereits auf mich. Ich wollte nicht gehen, aber ich musste. “Und sag Jaiden und Rose schöne Grüße von mir.“ Ich schlug die Tür hinter mir zu.
Der Motor wurde angeworfen und das Auto, und damit auch Kolan, entfernte sich.
Wahrscheinlich hatte ich wieder nicht zugehört, denn Andy wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht. “Ja?“ fragte ich und hielt sie fest.
“Wer sind Jaiden und Rose?“ Ungeduldig sah er mich an.
Ich hatte ein fettes grinsen im Gesicht, ich wusste es einfach. “Rose ist seine Cousine. Von ihr hatte Kolan die Tickets, sie hat da irgendwas organisiert. Und Jaiden...“ Ich hielt ihm die Autogramme entgegen.
“Jaiden Miller! Und du bringst Mona ein Autogramm mit, und mir nicht? Doofe Nuss!“
Ich stopfte die Autogramme zusammen mit dem Backstage-Pass in meine Tasche, da wir schon fast wieder an der Mühle angekommen waren.
Ich zuckte mit den Schultern. “Wenn ich ihn das nächste mal sehe, werde ich ihn fragen, ob er für dich auch eins schreibt.“
Andy blieb mitten in der Bewegung stehen. “Wenn du ihn das nächste mal siehst?“ wiederholte er mich.
“Ja. Er und Kolan schienen ziemlich gut befreundet zu sein.“
Andy Schloss die Tür auf und wünschte unseren Eltern noch eine gute Nacht, aber ich tat immer noch auf stur und ging einfach nach oben.
So langsam holte mich die Müdigkeit ein und ich zog mich nur schnell um, bevor ich unter die Bettdecke schlüpfte. Aber ich ließ es mir nicht nehmen, meinen Status auf Facebook zu ändern.
Ein wundervoller Abend mit wunderbaren Menschen.
Dann verlinkte ich noch die Konzerthalle und postete ein Bild von dem Pass und dem Autogramm. Ich war wirklich nicht so ein Mensch, der der ganzen Welt mitteilen muss, dass er gerade zur Toilette geht, aber so was großes konnten die wenigen Menschen, die ich noch zu meinen Freunden zählte, ruhig wissen.
Seit ich Kolan kennen gelernt hatte, ging es mir so viel besser. Ich hatte so viel gelernt und gesehen.
Mit diesem Gedanken schlief ich dann ein.
Ich würde diesen Abend nie vergessen.
Ich würde Kolan nie vergessen.
Ich hatte noch nie so gut geschlafen. An meinen Traum konnte ich mich leider nicht mehr erinnern, aber er musste gut gewesen sein.
Jetzt begann es draußen schon wieder dunkel zu werden. Hausarrest ist ja so langweilig!
Den Vormittag hatte ich durch geschlafen und am Nachmittag hatte ich die Zeit mit zeichnen und Gitarre spielen tot geschlagen. Aber auf beides hatte ich jetzt keine Lust mehr. Ich hatte mich die ganze Zeit verspielt und das Bild hatte ich zerrissen und weggeschmissen, weil es so schrecklich aussah.
Ich wollte aus Frust gerade meinen Kopf gegen die Wand schlagen oder aus Langeweile versuchen, meinen Fuß hinter mein Ohr zu klemmen, als mein Laptop ein 'Bling' von sich gab. Es war ja überhaupt schon ein Wunder, dass wir hier Internet-Empfang hatten.
Ich sprang auf und stürmte auf ihn zu. Eine Skype-Anfrage von einem Butterkeks19. Komischer Name, aber löschen konnte ich ihn ja immer noch.
Kaum hatte ich auf 'annehmen' geklickt, wollte Butterkeks19 eine Videokonferenz mit mir führen.
Ich hätte natürlich auch einfach fragen können, wer das ist, aber das wäre ja zu einfach. Mit dem Daumen hielt ich die Kamera zu, aber als ich in Kolans Gesicht sah, nahm ich ihn sofort weg.
“Hi.“ Meine Stimmung hatte sich gerade um 80 Prozent verbessert.
“Hast du dich eben zugehalten?“ fragte Kolan und lachte.
“Ich konnte ja nicht wissen, welche merkwürdige Person hinter dem Namen Butterkeks steckt.“ gab ich zurück und er lachte noch lauter.
“Da hast du wohl recht. Was machst du so?“
Ich seufzte leise. “Mich langweilen. Ich hab bis zum Ende der Ferien Hausarrest. Und du?“
Er umging meine Frage mit einer Gegenfrage. “Haben sie das mit gestern etwa rausgefunden?“
Er schien dabei echt besorgt, deshalb schüttelte ich schnell den Kopf. “Nein, das ist immer noch die Strafe dafür, dass ich bei dir übernachtet hab.“
“Na ja, dann hab ich dir ja wenigstens nicht noch mehr Ärger eingebracht. Aber dann hat sich auch die Frage erübrigt, ob du mit an den Strand kommen möchtest.“ Mit jedem seiner Worte wurde das, mir nun schon vertraute, grinsen schmaler.
Ich dachte nach. Dann rief ich “Warte kurz.“ und schlich die Treppe herunter bis zu Andys Tür.
Er spielte gerade irgendein Videospiel auf seinem Laptop und der Rolladen war geschlossen, sodass es in dem Raum vollkommen dunkel war. Bestechung war die einzige Möglichkeit, wenn ich mich mit Kolan treffen wollte.
“Ich mach' für eine Woche deine Hausaufgaben, wenn du Mum und Dad für 'ne Viertelstunde ablenkst und dafür sorgst, dass sie mich nicht rufen und nicht in mein Zimmer kommen.“
“Geht klar. Aber du machst in letzter Zeit ziemlich viel scheiß. Es ist schon wieder wegen diesem Kolan, oder? Pass auf dich auf, kleine Schwester.“ Andy sah nicht mal von seinem Spiel auf.
“Danke. Werde ich. Und auch kleine Schwestern können groß werden.“ Ohne auf eine Antwort zu warten rannte ich zurück in mein Zimmer.
“Ich komme mit.“ rief ich schon, bevor ich an meinem Rechner angekommen war.
“Wie hast du deine Eltern überzeugen können?“ fragte Kolan etwas ungläubig.
“Gar nicht. Bestechung meines Bruders trifft es eher. Aber hast du vielleicht was unauffälligeres als deinen knallroten Wagen?“ erklärte ich.
“Hm. Nein. Aber Marco und ich wollten ein Lagerfeuer machen, vielleicht kann ich ihn davon überzeugen mit dem Jeep seiner Eltern zu kommen, der ist zwar größer, aber dafür dunkelblau.“
Ich hätte es zwar schöner gefunden, mit Kolan allein zu sein, aber Marco war ja wirklich nett und wenn es mir zu einer unbemerkten Flucht helfen würde, wäre das schon okay.
“Also gut. Zieh dir was warmes an und vergiss deine Gitarre nicht. Ich bin in zwanzig Minuten da.“
“Bis gleich.“
Die Verbindung wurde unterbrochen und ich klappte Laptop zu. Vier Tage hintereinander hatten wir uns schon gesehen. Woher hatte er eigentlich meinen Skype-Namen? Das musste ich ihn gleich unbedingt fragen.
Ich packte meine Gitarre ein, zog Stiefel und einen dicken Pullover an und ging noch einmal zu Andy. Er musste unsere Eltern dazu bringen, lange genug nicht aus dem Fenster zu sehen, damit ich unbemerkt abhauen konnte.
Dann ging ich wieder hoch und stopfte noch einen Schlüssel für die Haustür und einen für den Schuppen in die Gitarrentasche, da ich ja nicht wusste, wann ich wieder da sein würde.
Ich musste auf alles vorbereitet sein.
Zumindest für den ersten Teil sollte ich durch die Scheune gehen, da ich nicht sagen konnte, wo sich meine Eltern gerade befanden. Später, wenn alle schliefen, könnte ich vielleicht auch durch die Haustür kommen. Aber in jedem Fall musste ich verdammt vorsichtig sein.
Ich knipste das Licht aus und stieg, gemeinsam mit meiner Gitarre, die Leiter hinab. Dann schloss ich das Tor von innen auf und dann wieder zu, nachdem ich draußen war.
Kolan hatte sogar die Scheinwerfer aus gemacht, deshalb bemerkte ich ihn erst, als die Geräusche näher kamen. Ich rannte dem dunkelblauen Jeep entgegen und stieg schon ein, während er noch am bremsen war.
“Hey Riley. Du heißt wirklich mit zweitem Namen Sophia?“ quatschte Marco, der auf der Rückbank saß, direkt drauf los. Hatte er sich etwa extra nach hinten gesetzt, damit ich neben Kolan sitzen konnte? Sicherlich nicht. Oder?
“Ja. Woher weißt du das?“ verdutzt sah ich nach hinten.
Was mache Jaiden denn hier? Sollte ich jetzt etwa den ganzen Abend mit drei Jungs alleine am Strand verbringen? Na das konnte ja was werden.
“Hat Kolan gesagt. Aber ich wollte es ihm nicht glauben.“ Marco grinste frech und Jaiden nickte mir verschwörerisch zu.
“Was hab ich mir nur angetan?“ fragte ich mich selbst halblaut. Eine Frage, auf die ich erst am Ende des abends eine Antwort wissen würde. Wieder einmal war das Verlangen groß, meinen Kopf gegen etwas zu stoßen.
“Keine Sorge, sie sind eigentlich gar nicht so schlimm.“ versuchte Kolan mich zu beruhigen und warf dabei einen Blick nach hinten, wo Jaiden und Marco sich gerade ein Stein-Schere-Papier Battle lieferten. “Okay, vielleicht doch. Aber das wird schon. Falls sie dich ärgern und die auf die nerven gehen, hast du hiermit die Erlaubnis, einen deiner Tricks an innen vorführen zu dürfen.“
Das brachte mich zum lachen und die beiden Jungs auf der Rückbank stoppten mitten in der Bewegung und sahen mich komisch an. Verschwörerisch grinste ich Kolan an. “Ich denke nicht, dass sie eine Chance haben.“
Ich spürte die fragenden Blicke, die sich in meinen Rücken bohrten, Kolan nickte aber nur zustimmend. “Sie werden zu Boden gehen.“ fügte er nüchtern hinzu.
“Was? Warum?“ riefen sie gleichzeitig.
Ich grinste böse. “Wollt ihr das wirklich herausfinden?“
Verunsichert und verwirrt lehnten sie sich wieder in ihren Sitz zurück. Vielleicht würde der Abend auch einfach nur lustig werden.
Der Rest der Fahrt verlief nicht besonders nennenswert. Jaiden entwickelte sich für mich einfach zu einem Jungen in unserem alter, der nicht mehr zur Schule ging und abends nicht auf Konzerte geht, um dort zu feiern, sondern um aufzutreten. Und Marco war noch verrückter, als letztes mal.
Nach zwanzig Minuten Fahrt und zehn Minuten Fußmarsch ließen wir uns samt Gepäck auf dem weichen Sand nieder. Um uns herum war weit und breit nichts als diese kleinen Körnchen, man konnte nur einige Meter weiter das Meer hören und der salzige Geruch schlug mir entgegen.
Als wir noch in Dexterville gelebt haben, waren wir nur selten zum Stand gefahren, weil er so weit weg war. Das letzte mal war ich an meinem Geburtstag hier und die Erinnerung daran war eine der wenigen schönen, kurz vor unserem Umzug.
Marco ließ einen Haufen Äste und Treibholz fallen, stapelte es und hielt dann ein Feuerzeug daran. Nach einiger Zeit gab er auf.
“Hast du alte Zeitung oder so was dabei? Was ihr da veranstaltet... Da kann man ja nicht mit zusehen!“ fragte ich nach einer Weile, als auch Jaiden erfolglos geblieben war.
Von der Seite kam eine Packung Taschentücher angeflogen, die gegen meinen Kopf knallte. Mac grinste nur frech. Ich werde ihn umbringen.
Aber zuerst musste ich unser Lagerfeuer retten.
Ich hatte tatsächlich noch nie so unbegabte Männer gesehen. Jeder sollte doch ein Feuer anzünden können!
Also baute ich aus den größeren Ästen eine Art Hütte, in die ich zerknüllte Taschentücher und kleinere Holzstücke legte und diese dann ansteckte. Zuerst brannten nur die kleinen Stücke, aber schon bald sprangen die Flammen auf das gesamte Holz über.
Links von mir fing Kolan an zu lachen.
“Du lässt dich echt von ihr fertig machen, Alter.“ stimmte auch Jaiden mit ein.
Marco warf schmollend die Arme in die Luft. “Ich wollte sie nur auf die Probe stellen. Bestanden. Aber auch nur ganz knapp.“
Blitzschnell sprang ich auf und warf ihn auf den Boden. “Das kannst du allen erzählen, aber nicht mir. Du willst nur nicht zugeben, dass du es nicht kannst.“
Meine Haare kitzelten ihn im Gesicht und ich hielt seine Hände in den Sand gedrückt. Auch diesen Trick hatte ich von Andy gelernt. “Ist ja gut, du hast recht! Lass mich los. Bitte!“ bettelte Marco ohne den geringsten Widerstand.
Ich gab ihn wieder frei und ging zurück auf meinen Platz zwischen Kolan und Jaiden, der sich vor lachen auf dem Rücken kugelte.
“Klasse Frau hast du da mitgebracht. Schlagfertig, frech, mutig und selbstbewusst.“ lobte Jaiden, als er sich wieder beruhigte.
“Ja, klasse. Gewalttätig und schnell und kratzbürstig, wie eine Raubkatze.“ Marco schüttelte sich den Sand aus seinen Haaren.
Die Ironie in Marco Stimme war mir relativ egal, aber ich konnte es nicht leiden, von allen bewundert zu werden und Komplimente zu bekommen. Gut, schlechte Dinge wollte ich auch nicht über mich hören, aber egal.
“Könnt ihr bitte aufhören, über mich zu reden? Zumindest wenn ich anwesend bin?“ fragte ich, zog mir dabei Stiefel und Socken aus und stellte meine Füße in den, vom Feuer, warmen Sand. Schon nach wenigen Sekunden hatte ich alles um mich herum ausgeblendet, es gab nur noch mich, das Feuer, den Sand und meine Gedanken.
Vor allem meine Gedanken.
Die Riley, die mutig und meist mit viel zu viel Selbstbewusstsein durchs Leben geht, gibt es noch nicht allzu lange. Auch diese freche Art hatte ich mir erst angewöhnt, seit ich mit Dan zusammen war. Ich hatte mich unbesiegbar gefühlt, weil der schönste Junge der Schule mir seine Liebe gestanden hatte.
Dabei war alles nur ein Spiel.
Eine dumme Wette.
Alle hatten mich vor ihm gewarnt. Mona. Andy. Aber auf niemanden hatte ich gehört. Ich hatte Mona sogar unterstellt, sie wäre auf mich eifersüchtig. Das mit Dan und mir ging zwar nur zwei Monate, aber er hatte mich trotzdem verändert.
Eigentlich kam mir dieser Umzug sogar ganz gelegen. Ich konnte es als Neuanfang betrachten. Eine neue Chance. Nur, dass ich es dieses Mal besser machen würde.
Mit dieser Erkenntnis ließ es sich um einiges leichter leben. Auch wenn man seine Vergangenheit nicht auslöschen kann, man kann zumindest aus ihr lernen. Ich hatte gelernt, nicht jedem einfach so zu vertrauen.
Aber hatte ich das nicht bereits getan?
Bevor ich diesen Gedanken weiter verfolgen konnte, schüttelte mich jemand von der Seite.
“Alles okay? Du hast grade ganz unglücklich geschaut und nicht geantwortet.“ fragte Kolan.
Ich nickte. Wieder war ich kurz den grün-goldenen Augen gefangen, wandte mich aber schnell ab. Durch den schein des Feuers wirkten sie noch aufmerksamer und eindringlicher als sonst. “Was wolltest du denn wissen?“
Kolan sah mich noch einen Moment an, drehte seinen Kopf aber auch zum Feuer zurück. “Jaiden wollte wissen, ob du mit uns Gitarre spielst?“
Ich umschlang meine Beine, legte das Kinn zwischen meine Knie und starrte in die Flammen. “Ich mag es nicht, vor vielen Menschen zu spielen.“
Mein Selbstbewusstsein war gerade in den Keller gesunken. Vielleicht war die alte Riley doch noch nicht ganz verschwunden. Hatte ich Kolan wirklich schon so sehr vertraut?
Zumindest war ich ohne zu zögern mit ihm gefahren, obwohl ich ihn nicht kannte.
“Aber du bist gut, wirklich. Und außerdem musst du ja nicht mal singen.“ Kolan war wohl aufgefallen, dass ich gerade drohte, wieder in Selbstmitleid zu versinken, denn als ich aufsah, blickte er mich besorgt an.
Ich wollte doch nicht mehr so traurig sein! Vielleicht würde mir das spielen ja tatsächlich helfen? Einen Versuch war es allemal wert.
Ohne zu antworten zog ich die Tasche, die hinter mir lag, zu mir, streckte die Beine aus und öffnete sie auf meinem Schoß. Erst jetzt sah ich auch die anderen beiden Jungen an.
Mac hatte ein paar Bongos ausgepackt und fuhr sich gerade durch sein schwarzes Haar. Irgendwie tat er mir leid, weil sein Bruder ja offensichtlich ein Arschloch sein musste. Wie auch Kolan und Jaiden wirkte er recht muskulös und aufgeschlossen, aber hinter seiner fröhlichen Fassade versteckte sich ein besorgter und feinfühliger junger Mann, der sich viele Gedanken über sein Leben macht. Gerade in solchen ruhigen Momenten konnte man das besonders gut beobachten.
Jaiden stimmte seine Gitarre. Seine verschiedenfarbigen Augen lagen auf den Saiten und er konzentrierte sich vollkommen auf die Klänge seiner Gitarre. Ich hatte ihn immer für abgehoben gehalten, und unnahbar, so wie man sich eben einen Superstar vorstellt. Aber er war anscheinend auch nur froh, hin und wieder etwas Abstand von dem ganzen Rummel um ihn zu bekommen.
Dann wanderte mein Blick zu Kolan, der mich aufmerksam betrachtete. Ein kleines lächeln stahl sich auf meine Lippen und er erwiderte es. Dieser unglaublich aufgeweckte Mann... In diesem Augenblick begriff ich, dass ich ihm wirklich vertraute. Ganz unbemerkt hatte er sich in mein Herz und meine Gedanken geschlichen. Ich konnte nur hoffen, dass ich es nicht bereuen würde.
Ja, ich denke schon, dass ich Kolan zu meinen Freunden zählen konnte. Er wusste ja auch als einziger in dieser Stadt, außer Andy natürlich, was zwischen mir und Dan passiert war. Bis jetzt hatte er auch das mit dem Video für sich behalten, aber es war wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis er es weitererzählen würde. Ich konnte nur hoffen, dass er es für sich behielt.
Völlig in Gedanken begann ich, das erste Lied zu spielen, das mir einfiel. 'Shooting Stars & Fairytales' von Mrs. Greenbird. Ich bemerkte erst, dass ich zu singen begonnen hatte, als Kolan in den Refrain mit einstieg.
Ich wurde rot, was man wegen dem Feuer zum Glück nicht sehen konnte, weil ich mich doch eben noch geweigert hatte, überhaupt mitzuspielen. Alles um mich herum hatte ich wohl einfach ausgeblendet.
Das Lied passte irgendwie trotzdem. Kolan übernahm den männlichen Part und ich lauschte dem dunklen Klang seiner Stimme.
Durch das spielen wurden meine Probleme zwar nicht weniger, dafür wurde ich zumindest abgelenkt.
Als die letzten Töne verlangen, sah ich auf. Drei Gesichter sahen mich fassungslos an.
“Sie ist gut, nicht?“ fragte Kolan, ohne seinen Blick von mir abzuwenden.
Ich war ein wenig verunsichert. Was sollte das? Wieso fand Kolan, dass ich so gut singen konnte?
“Riley, wenn du mir noch einmal erzählst, du könntest nicht singen, dann bringe ich dich eigenhändig um. Hast du schon mal darüber nachgedacht, das beruflich zu machen? Das zeug dazu hättest du allemal. Ich muss für mein neues Album noch einen Song aufnehmen, aber mir fehlt noch ein weiblicher Part dazu. Wie wär's?“ fragte Jaiden.
Sollte das gerade sein ernst sein? Ich und Sängerin? Dazu war ich doch viel zu unbegabt. Unwillkürlich musste ich ein lachen unterdrücken. Fast hätte ich ihm den Scherz abgenommen. Dabei sah er in dem Licht schon fast bedrohlich aus.
“Also? Was sagst du dazu?“ er sah mir fest in die Augen.
Aber ich konnte doch nicht mit einem Superstar einen Song aufnehmen! Allein schon dass ich ihn kannte war auf einer Wahrscheinlichkeitsskala von eins bis hundert kleiner als nullkommaeins. Es war einfach unmöglich.
“Ich... Das geht doch nicht! Das kann ich nicht. Ich meine... Nicht nur, dass ich jetzt eigentlich gar nicht hier sein dürfte, ich hätte dich auch gestern gar nicht kennen lernen dürfen. Ich hätte Kolan nicht mehr wieder sehen dürfen. Nichts. Und dann kann ich doch jetzt nicht nach Hause gehen und meinen Eltern erzählen, dass ich jetzt zufällig mit dir einen Song aufnehme. Verstehst du?“ Ich wollte schreien und irgendwas zerschlagen. Stattdessen blieb ich aber ruhig sitzen und umklammerte den Gitarrenhals. Wieso musste denn auch immer alles so kompliziert sein?
Kolan stieß mir aufmunternd in die Seite, während Marco immer noch still da saß. “Was meinst du mit 'Du hättest Kolan nicht mehr sehen dürfen und mich gestern nicht kennen lernen dürfen'?“ fragte Jaiden weiter.
Frustriert fuhr ich mir durch meine langen Haare. “Glaubst du ernsthaft, ich hätte mich heute zum ersten mal heimlich weggeschlichen? Ich habe nicht nur Hausarrest, mein Vater hat mir auch verboten, Kolan je wieder zu sehen.“ Ich wiederholte die Worte meines Vaters und starrte dabei wieder in die Flammen.
“Du musst ja 'nen ziemlich schlechten Eindruck hinterlassen haben, Kumpel.“ neckte Marco Kolan mit einem spöttischen unterton. Ein Versuch, die Stimmung zu lockern. Leider war er vergebens.
“So ähnlich.“ war dessen knappe Antwort.
Dann ging für einen Moment jeder seinen eigenen Gedankengängen nach. Toll hast du das wieder hinbekommen, Riley. Jetzt sind die anderen auch schlecht drauf.
Minutenlang lag eine bedrückende Stille über uns.
Jaiden seufzte. “Und wenn du einfach nur singst? Du musst nicht mit ins Video und ich werde keinem deinen Namen sagen. Es wäre zwar schade um dein Talent, aber anders wird es wohl nicht gehen. Wie alt bist du?“
Ich zuckte mit den Schultern. Er wollte wirklich, dass ich mit ihm seinen Song aufnahm. Aber was, wenn er sich doch verplapperte? “Vielleicht könnte das funktionieren. Ich bin 17. Wieso fragst du?“
“Wenn du zusagst, und dann doch damit einverstanden bist, dann kann ich an deinem 18. Geburtstag immer noch verraten, welches geheimnisvolle Mädchen mit mir gesungen hat. Überleg es dir einfach und sag mir bis Sonntag bescheid. Denn am Montag reise ich wieder ab.“ Jaidens Laune hatte sich schlagartig verbessert und er grinste mich an. Offenbar war er überzeugt von seiner Idee.
Ich war mir da nicht ganz so sicher, aber überlegen konnte ich es mir ja trotzdem. Einen Song aufnehmen... Interessant wäre das ja schon.
“Aber jetzt mal ernsthaft, Kolan. Was hast du gemacht?“ wechselte der Superstar das Thema.
Gleichzeitig sahen wir uns an und mussten lachen. Ich wusste selbst nicht, warum ich auf einmal lachen konnte.
“Lange Geschichte. Und nicht ganz so toll. Aber sagen wir es mal so: Ihr Vater hat etwas verdrehte Vorstellungen der Tatsachen. Weißt du noch, wie rot sein Kopf wurde?“ fragte Kolan an mich gewandt.
Obwohl die Situation alles andere als lustig war, musste ich erneut lachen. Er verstand sich echt darin, immer genau zu wissen, wann man aufgeheitert werden musste, und wann getröstet.
“Warst du deswegen vorgestern bei ihm?“ fragte Mac, der genau so wenig wie Jaiden verstand, warum wir lachten.
“Ja. Nein. Eigentlich nicht.“ sprachen wir wie aus einem munde und fingen erneut an zu lachen.
Wie gut diese Ausgelassenheit doch tut!
Kolan stimmte 'Hall of Fame' von The Script an und Marco gab den Takt dazu. Als ich mich schnell beruhigt hatte, begann ich, auch mitzuspielen. Jaiden zupfte dazu und sang. Er war ein unfassbar guter Gitarrist, genau wie Kolan. Es klang einfach großartig, seine Stimme passte perfekt zu dem Lied. Er hatte es wirklich verdient, berühmt zu sein.
Und jetzt hatte er mir angeboten, auch die Möglichkeit dazu zu haben. Aber wollte ich das auch? Wollte ich auf der ganzen Welt bekannt sein? Wollte ich hunderte von Fans haben? Wenn ich ganz ehrlich war, dann schon. Wieso hatte ich mich dann gerade gewehrt?
“Ich mach's.“ Meine drei Begleiter sagen mich fragend an, also musste ich wohl genauer werden. “Der Song. Ich mach's. Ich werde ihn mit dir aufnehmen.“
Jaiden sprang auf mich zu und zerquetschte mich fast in seiner Umarmung. “Jaaaaaa!“ schrie er mir ins Ohr. Nachdem er sich wieder gesetzt hatte, strahlte er über beide Wangen.
Auch Mac grinste. Nur Kolan schien nicht ganz so erfreut über meine Entscheidung zu sein, sein lächeln wirkte leicht gezwungen. Vielleicht irrte ich mich aber auch.
“Könnte allerdings ein Problem werden, dass du nicht raus darfst. Wir werden uns da noch was einfallen lassen. Wenn's geht musst du dich wahrscheinlich wieder raus schleichen.“ Von diesem Problem ließ er sich die Stimmung nicht vermiesen. Ganz im Gegenteil, er wurde immer aufgeregter, wie ein Mädchen vor seinem ersten Date.
Dabei hatte er doch schon so viele Lieder aufgenommen. Warum war das mit mir jetzt etwas besonderes?
Wir spielten gerade 'The Lazy Song' von Bruno Mars, als hinter mir ein lautes kreischen zu hören war. Ich war vollkommen verwirrt, als der Schrei näher kam. Die Jungs hingegen handelten blitzschnell, als Kolan “FF.“ rief, und zogen sich die Kapuzen ihrer Pullover ins Gesicht, während ich nur irritiert da saß. Was ist denn jetzt los?
Ich verstand rein gar nichts, als Kolan sich zu mir rüber beugte, und auch mir meine Kapuze über den Kopf zog.
Der Schrei verstummte urplötzlich neben mir und ich wollte gerade fragen, was los war, als mir eine aufgeregte Mädchenstimme das Wort Abschnitt. “Jaiden Miller? Du bist es doch, oder?“
Warte, die Stimme kannte ich doch! Bei ihrem klang lief mir ein Schauer über den Rücken.
Das durfte doch echt nicht wahr sein!
“Meinst du den Superstar Jaiden Miller? Sorry Schätzchen, den haben wir hier nicht gesehen.“ meinte Marco zu dieser von mir so verhassten Person. Als wäre es einstudiert, begannen die drei zu lachen. Sie waren ein eingespieltes Team.
Jetzt begriff ich auch, warum sie ihre Gesichter verdeckten. Sie wollten nicht von einem von Jaidens Fans erkannt werden.
Das Mädchen neben mir trat verunsichert von einem Fuß auf den anderen. Ich hatte nicht mal mitleid mit ihr. Dazu hasste ich sie viel zu sehr.
Ich warf einen Blick zur Seite. Ja, ohne Frage, sie war es. Niemand sonst würde wohl auf die Idee kommen, mit High Heels an den Strand zu kommen.
Meine Feindin stammelte ein “Tut mir leid für die Störung.“ und wandte sich zum gehen um.
Aber ich konnte es nicht lassen, ihr noch eins rein zu würgen.
Ohne mich umzudrehen rief ich: “Ich wusste gar nicht, dass du so ein verrückter Jaiden Miller Freak bist. Aber was mich noch mehr überrascht hat, war, dass du dich auch entschuldigen kannst, Sam.“
Ich hörte, wie Samantha bei ihrem verhassten Spitznamen stehen blieb und scharf die Luft einzog. Der Name klang ihr zu männlich.
Samantha Breiner.
Selbsternannte Schulgöttin, ohne Zweifel strohdumm und die Oberzicke schlechthin.
Ich hatte mich schon gefreut, sie endlich los zu sein, und dann musste sie doch tatsächlich hier auftauchen.Die hat vielleicht nerven!
Die verwirrten und dennoch aufmerksamen blicke meiner Begleitungen konnte ich deutlich auf mir spüren. Sie schienen nicht sonderlich erfreut, als Sam wieder zurück kam.
Sie bohrte Löcher in meinem Hinterkopf und fragte sich wahrscheinlich gerade, woher ich sie kannte. “Wer bist du?“ fragte sie in gebieterischem Tonfall.
“Ach Sam. Du kennst mich doch nur zu gut. Warum willst du dann wissen, wer ich bin?“ fragte ich gelassen zurück. Ich sah ihren Kopf schon vor Anstrengung dampfen und musste mir ein lachen verkneifen.
“Richi? Unter deinem Männerpullover hätte ich dich fast nicht erkannt.“
Was? Wollte sie mich damit etwa ärgern? Dazu war der Kommentar echt zu schlecht. Richi hatte sie mich immer wegen meinem Nachnamen genannt, aber es störte mich nicht im geringsten.
Lässig streifte ich mir die Kapuze über den Kopf und sah zu ihr hoch. Ich sah die Anspannung, die sich zwischen den Jungs ausbreitete. Als ich mich nicht, wie von Samantha beabsichtigt, gegen ihre Behauptung auflehnte, funkelte sie mich an.
War das jetzt schon alles, oder wie?
Es machte gar keinen Spaß, sich mit Sam auseinander zu setzen, weil sie erstens die Hälfte aller Witze nicht verstand, und zweitens, wenn sie dann mal etwas verstanden hatte, keine Antwort darauf wusste. Richtig langweilig.
“Dan ist ein richtig guter Küsser. Seit du nicht mehr da bist, macht er sich an alles ran, was zwei Beine hat.“ Samantha grinste, in der Hoffnung, nun endlich meinen wunden Punkt getroffen zu haben. Aber da hatte sie sich wirklich getäuscht.
“Ich hätte nicht gedacht, dass er sich so tief sinken lässt. Viel Spaß mit ihm. Und richte ihm doch bitte aus, dass sein Auto, wenn er hier noch einmal auftauchen sollte, aufgeschnittene Reifen verpasst bekommt.“ Ich lächelte Samantha an, die jetzt, wie ein Fisch, immer wieder den Mund auf und zu klappte.
Vollkommen überfordert stand sie da und starrte mich an. “Du kannst jetzt wieder gehen. Du hast uns wirklich lange genug gestört, Sam.“ stichelte ich weiter und grinste dabei einen wenig gehässig. Naja, nicht nur ein wenig, eher ziemlich viel.
Irritiert über die gute Laune, die sie bei mir wegen dem Thema Dan ausgelöst hatte, drehte sie sich tatsächlich um und tat, was ich ihr gesagt hatte.
Als sie hinter einem großen Sandhaufen verschwunden war, konnte ich mein Lachen nicht mehr länger zurückhalten. Ich konnte einfach nicht anders.
Die Anspannung war zwar aus den Gesichtern der anderen verschwunden, dafür sahen sie mich nun fragend und mit einer Spur von Wut an. “Was war das denn bitte?“ fragte Kolan, während mich die anderen beiden immer noch fassungslos anstarren.
“Das“, brachte ich zwischen mehreren Lachern hervor, “Das war Samantha Breiner, meine absolute, allerliebste Lieblingsfreundin aus Dexterville.“ Der Sarkasmus in meiner Stimme war nicht zu überhören.
Sam und ihre Clique hatten mich früher immer fertig gemacht und, naiv wie ich war, hatte ich mich natürlich nicht gewehrt. Was sie gegen mich hat habe ich noch nie verstanden. Aber seit ich mit Dan zusammen war, hatten sie mich in Ruhe gelassen. Und jetzt ließ ich mir die eher langweiligen Beleidigungen nicht mehr gefallen. Nein, ich brauchte Andy wirklich nicht mehr als Beschützer.
“Und wer ist der glückliche, dem du die Autoreifen aufschlitzen willst?“ fragte Marco. So wie er mich gerade ansah, hoffte er, dass ich ihn nicht wieder anspringen würde. Wahrscheinlich machte er sich Sorgen um seine eh schon zerstörte Frisur.
“Mein Ex-Freund.“ Ich zuckte nur mit den Schultern. “Und wenn er hier noch mal auftaucht, dann wird es nicht nur eine Warnung bleiben.“
Marco schüttelte seine Hand. “Dich will man auch nicht als Feind haben.“ erklärte er grinsend.
Ich musste auch grinsen. “Ja, vermutlich schon. Was bedeutet eigentlich FF?“
“Freaky Fan. So was wie unser Codewort. Aber hör mal, Riley. Wenn das noch mal passieren sollte, sei bitte leise. Ich kann es echt nicht ausstehen, von diesen nervigen Fans belagert zu werden. Und wenn einer mal raus hat, wo ich mich befinde, dauert es nicht lange und es steht auf Facebook oder Twitter und unzählige andere Fans kommen angerannt.“ Jaiden betrachtete niedergeschlagen die Gitarre in seinen Händen.
“Okay, ich verspreche es dir. Aber das musste gerade einfach sein. Seit ich sie kenne hat sie mich gehasst und gemobbt. Ich konnte das doch nicht auf ewig auf mir sitzen lassen.“ Meine Verteidigung war schwach, aber Jaiden lächelte trotzdem zufrieden.
Langsam wurde es richtig kalt, nur mein Gesicht und meine Füße waren von den Flammen aufgeheizt. Der Sommer war wohl endgültig vorbei, und damit auch die heißen Nächte und Tage.
Ein Windzug strich an mir vorbei und ich fröstelte. Mein Körper konnte sich aber trotzdem nicht entscheiden, ob er zittern oder schwitzen sollte.
“Will jemand ein Bier?“ fragte Kolan und kramte in einer Tasche neben sich. Er zog mehrere Flaschen heraus und warf sie seinen nickenden Freunden zu. Gewagt, aber sie fingen sie auf, ohne das irgendwas zu Bruch ging.
Als er meinen misstrauischen Blick sah, entschied Kolan sich doch dafür, mir die Flasche in die Hand zu drücken, anstatt sie zu werfen.
“Hast du vielleicht Cola-Bier oder so was?“ fragte ich nach. So ein Bier war schon gut, aber meistens war es mir zu bitter.
“Mädchen-Bier.“ grinste Mac von der anderen Seite und nahm einen schluck. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Jaiden seine Flasche gerade mit einem Feuerzeug öffnete.
“Ich bin ja auch ein Mädchen. Oder ich habe in Bio irgendwas falsch verstanden.“ gab ich zu bedenken.
Kolan reichte mir eine Dose und trank dann aus seiner Flasche. Ich klopfte einige male auf den Deckel und öffnete die kühle Dose in meiner Hand mit einem leisen 'plop'. Erst als die kühle Flüssigkeit meine Kehle hinunter rann, bemerkte ich, wie durstig ich eigentlich war. Gierig nahm ich noch ein paar schlucke, dann stellte ich die Dose neben mir in den Sand.
Als ich wieder aufsah, tippte Jaiden gerade etwas auf einem super modernen Smartphone. “Ich habe endlich die weibliche Stimme für meinen Song gefunden und verbringe einen wundervollen Abend mit meinen Freunden und einem Lagerfeuer. In einem Monat kommt das neue Album raus. Bis dahin, euer Jai.“ murmelte er vor sich hin.
Jetzt war ich doch neugierig. “Was schreibst du da?“ Ich lehnte mich ein wenig, über meine Gitarre hinweg, zu ihm.
Er drehte den Bildschirm in meine Richtung. Darauf stand der Text, den er gerade vorgelesen hatte, und es war ein Bild von Kolan, Marco und mir samt Feuer abgebildet, auf dem wir Gitarre spielen. Unsere Köpfe waren allerdings abgeschnitten. Wann hatte er das Bild gemacht?
“Twitter muss doch die neuesten Neuigkeiten wissen.“ erklärte er ernst.
“Dann solltet du sie lieber nicht warten lassen.“ erwiderte ich grinsend und sah, wie Jaiden auf 'Senden' klickte.
Ich lehnte mich wieder zurück, als mein Handy in meiner Hosentasche klingelte. So eilig, wie ich es herausziehen wollte, dauerte es natürlich ewigkeiten. Ich lehnte mich ein Stück nach hinten, um besser daran zu kommen, und warf dabei fast mein Bier um. “Ach verdammt!“ fluchte ich und stand auf, wobei ich meine Gitarre kurzerhand Kolan gab.
“Ja?“ fragte ich in mein Telefon, ohne auf den Namen des Anrufers zu schauen.
“Du hast ja ganz schön lange gebraucht. Warst wohl anderweitig beschäftigt?“ der spöttische Unterton in der Stimme meines Bruders ließ mich grinsen.
“Na und? Haben sie was gemerkt?“ Gegenfrage. Eine gute Taktik, um der Antwort aus dem Weg zu gehen.
“Nein. Mum ist vor einer halben Stunde ins Bett gegangen und Dad schaut gerade noch Fernsehen.“
Ich merkte, wie mir ein Stein vom Herzen fiel, auch wenn ich noch nicht wieder zu Hause war. Mein nervöses hin- und hergelaufe stoppte. “Warum rufst du dann an?“
Die Antwort kam leicht verzögert. “Also... Ich wollte eigentlich nur wissen...“
“Ja?“
“Ich wollte wissen, ob dieser Kolan mir ein Autogramm von Jaiden Miller besorgen kann.“ Gott! War er jetzt auch schon zu so einem FF mutiert?
Freaky Fan. Das Wort gefiel mir.
“Weiß ich nicht. Frag ihn selbst. Ist Andy.“ damit drückte ich dem verwirrten Kolan mein Handy in die Hand.
“Hi. Ja. Mhm. Ja. Nein. Keine Ahnung. Ich geb ihn dir, dann kannst du selbst fragen.“ Innerlich lachte ich mir ins Fäustchen. Klar, ich hätte Andy ja auch direkt mit Jaiden sprechen lassen können, aber so war es doch viel lustiger.
Kolan grinste, während Jaiden das Handy entgegen nahm. “Du bist ganz schön fies, weißt du das?“
Energisch schüttelte ich mit dem Kopf. “Nein. Wenn ich fies wäre, dann hätte ich ihn nach der Frage einfach weggedrückt.“
Jetzt mischte sich auch Marco ein, während Jaiden etwas auf eine Autogrammkarte schrieb. “Wer war das denn?“
“Mein Bodyguard, mein Alibi und mein großer Bruder.“ erklärte ich vollkommen ernst und ließ mich wieder auf den Boden sinken. Das war zumindest für den heutigen Abend zutreffend. Der Anruf war mit Sicherheit ein Kontrollanruf und das Autogramm nur eine Ausrede.
Jaiden gab mir mein Handy zusammen mit besagtem Autogramm zurück und lachte. “Netten Bruder hast du da.“
Ich nickte wissend und hielt mein Telefon wieder an mein Ohr. “Und, bist du jetzt zufrieden?“ fragte ich in den Hörer.
“Du bist ganz schön blöd, weißt du das? Komm nicht zu spät zurück, ja. Hab dich lieb, Schwesterchen.“ kam es von der anderen Seite.
“Klar, weiß ich doch. Mach's gut, ich hab dich auch lieb.“ Nachdem das tuten erklang, legte ich auch auf und stopfte mein Handy wieder in meine Hosentasche. “Manchmal ist er sogar noch schlimmer als Mum.“ murmelte ich dabei.
Wiedereinmal spürte ich diese faszinierenden Augen mit den grünen sprenkeln auf mir liegen. Mittlerweile war das für mich sogar schon fast zur Gewohnheit geworden, beobachtet zu werden. Aber dieses mal fühlte es sich anders an. Intensiver, als ob uns etwas verbinden würde.
Ich sah ihn an. Kolan sah unglaublich gut aus, und das gedämpfte Licht verlieh ihm etwas geheimnisvolles. Mein Herz begann, schneller zu schlagen, als ich Kolan musterte. Sein Pulli saß etwas schief, seine Beine hatte er ausgestreckt und in den Händen hielt er zwei Gitarren.
Erst nach einer gefühlten Ewigkeit wurde mir bewusst, dass ich ihn anstarrte und die eine der Gitarren meine war. Verlegen nahm ich sie wieder an mich und starrte lieber wieder in das Feuer. Was ist nur in letzter Zeit mit dir los, Riley?
Meine wirren Gedankengänge wurden von Marco unterbrochen, der bereits aufgestanden war: “Wir sollten noch einmal Holz sammeln, sonst ist das Feuer gleich aus.“
Seufzend standen wir drei auf und suchten im dunkeln nach Treibholz. Schon nach wenigen Metern war mir eiskalt und ich bereute es, meine Schuhe ausgezogen zu haben.
Plötzlich wurde ich zu Boden gerissen und ließ alle Äste fallen. Aber anstatt auf dem harten Sand zu landen, wurde ich von einem weichen, warmen Körper aufgefangen.
Ich stieß einen ersticken Schrei aus, woraufhin mir eine Hand auf den Mund gedrückt wurde. “Psst, Riley, ich bin's!“ flüsterte mir ein kichernder Kolan ins Ohr. Da ich mich in seiner Umarmung kaum bewegen konnte, blieb ich ganz ruhig liegen. Das würde Rache geben, das war ja so was von sicher!
“Erschreck mich nie wieder!“, fuhr ich ihn an, “Was sollte das überhaupt?“ Ich konnte ihn immer noch nicht anschauen, weil ich auf dem Rücken, auf Kolans Brust, lag. Sein warmer Atem kitzelte meinen Nacken, während er seine Arme um meinen Körper geschlungen hatte. “Ich wollte nur wissen, ob du schreckhaft bist. Und ich wollte dir was zeigen.“ erklärte er und ich konnte ihn praktisch grinsen sehen.
Ich wollte wütend sein, wirklich.
Aber die plötzliche Nähe zu ihm vernebelte mein Hirn und ich nickte nur.
“Schau mal nach oben. Sieht schön aus, nicht wahr?“ fragte er und lockerte seine Umarmung.
Jetzt hätte ich problemlos abhauen können, aber dazu war ich viel zu gebannt von dem Sternenhimmel über uns. Millionen funkelnde kleine Lichter erstreckten sich auf dem schwarzen Himmel der Nacht. Einige Sterne leuchteten heller als andere und der Mond hatte in dieser Nacht etwas magisches.
Noch nie hatte ich so viele Sterne auf einmal gesehen. Das konnte zum einen daran liegen, dass man durch die Lichter der Großstadt kaum Sterne zu Gesicht bekommt. Es konnte aber auch daran liegen, dass man am gesamten Himmel keine einzige Wolke sehen konnte.
“Wow.“ war alles, was ich dazu sagen konnte. Ich kuschelte mich an Kolan und starrte weiterhin in die Sterne. Seine Hände lagen auf meinen und mein Kopf auf seiner Brust. Ich kam mir unbewusst wie ein Pärchen vor, aber ich genoss es, denn es fühlte sich keineswegs falsch an. Es hatte etwas romantisches, mit ihm in die Sterne zu schauen.
“Danke.“ sagte ich nach einer Zeit der Stille.
“Wofür das denn?“
Ja, wofür eigentlich?
“Dafür, dass du mich angesprochen hast und wir uns kennen gelernt haben. Und dafür, dass du für mich da bist.“ Ich drehte meinen Kopf ein wenig, um Kolan ansehen zu können.
Dadurch konnte ich aber auch seinen Herzschlag hören, der fast genau so schnell ging, wie mein eigener.
Warum ist Kolan nervös? Und warum fühle ich mich bei ihm so wohl? Wieso gibt er mir so viel Kraft? Und warum bin ich so nervös? Das, was im Moment mit mir passiert, habe ich vorher noch nie gefühlt. Aber was genau ist 'das'?
Kolan setzte sich auf und zog mich dabei gleichzeitig auf seinem Schoß. Seine Stimme war fest, aber sein Herz hatte mir gerade etwas anderes verraten. Er legte sein Kinn auf meine Schulter und drückte mir schnell einen Kuss auf die Wange. “Dafür braucht du dich nicht zu bedanken. Das ist selbstverständlich. Freunde sind füreinander da.“
Nach ein paar wirren Gedanken realisierte ich seine Worte.
Hatte er das jetzt ernsthaft gesagt? Freunde.
Es hört sich gut an, das von jemand anderem, als von der besten Freundin, gesagt zu bekommen.
Freunde.
Ich hatte nie viele Freunde, war immer eine der unbeliebten Mädchen auf der Schule gewesen. Warum Mona mit mir befreundet war, verstand ich selbst nicht so genau, sie war immer von vielen Menschen umgeben. Viele hatten sie um ihr aussehen beneidet, -ja, selbst ich war ein wenig neidisch darauf- ich war das einzige, was ihr 'geschadet' hat. Trotzdem hatte sie immer zu mir gehalten.
Und jetzt hatte ich Freunde, vier Stück um genau zu sein, von denen ich mich mehr verstanden fühlte, als von meiner Familie. Und das nur wegen einem einzigen Abend in der Disco.
Ich sollte mich unbedingt nochmal bei Andy bedanken.
“Was macht ihr denn da?“
Erschrocken zuckte ich zusammen und klammerte mich an Kolans Hände. “Okay, du bist doch schreckhaft.“
Der Moment, was auch immer da gerade zwischen uns war, war verflogen.
“Du bist doch doof!“ Ich boxte ihm gegen die Brust und traf auf Muskeln. Unauffällig schüttelte ich meine schmerzende Hand und zog ein beleidigtes Gesicht. Gut, das sollte ich mir merken und nicht wiederholen.
“Ihr sollt doch Holz sammeln, und nicht flirten.“ belustigt sah Jaiden uns an und hob die Äste auf, die mir, dank Kolans Attacke, runtergefallen waren. Die Hitze stieg mir ins Gesicht und ich schubste Kolan ein kleines Stück von mir weg, um aufzustehen. Aber dazu kam ich gar nicht, denn ich wurde von hinten von zwei starken Armen gepackt und über eine Schulter geworfen.
“Nein, lass mich runter!“ lachte ich und zappelte herum. Aber auch Kolan lachte nur und sprintete los. “Was hast du vor?“ fragte ich, da das rauschen des Meeres immer näher kam.
Ohne mir eine Antwort zu geben, ließ er mich runter. Direkt in das kalte Wasser.
“Du Arschloch!“ schrie ich und warf mich grinsend auf ihn. Erst war er verwirrt, weil er plötzlich im Meer saß, dann griff er nach meinem Arm und zog mich zu sich nach unten.
Jetzt musste ich doch lachen, weil er einfach zu niedlich war, mit seinem Hundeblick. Ich konnte wirklich nicht verstehen, was in diesem Kopf vor sich ging. Manchmal hatte der Typ doch echt einen an der klatsche. Und manchmal ist er auch einfach unwiderstehlich. Vielleicht, gerade weil er manchmal verrückt ist. fügte ich unwillkürlich in Gedanken hinzu.
“Na toll, jetzt sind wir beide nass.“ stellte ich zitternd fest, während Kolan mir auf half.
“Das fällt dir früh auf, Cat.“ Er legte mir einen Arm um die Schulter, aber das half nicht viel.
Bis zur Taille waren meine Klamotten nass, genau wie der rechte Ärmel meines Pullis und meine Haarspitzen. Auch Kolan sah nicht viel besser aus, ihn hatte es eher schlimmer erwischt.
“Warum denn Cat?“ verwirrt lief ich neben ihm, zurück zu unserem Lagerfeuer.
“Du bist eine Raubkatze, schon vergessen?“ fragte er und lachte, weil ich wohl wenig begeistert aussah.
Die nassen Klamotten waren wirklich ekelhaft auf der Haut, und außerdem fror ich darin ziemlich. Der Schwere-Grad meiner Rache wurde gerade verdoppelt.
“Was ist denn mit euch passiert?“ fragten Marco und Jaiden gleichzeitig.
“Sie hat mich ins Meer geschubst.“ Wie ein kleines Kind, schob Kolan alles auf mich. Aber das konnte ich auch.
“Und er wollte unbedingt, dass ich ihm Gesellschaft leiste.“ Leider klang meine Stimme nur halb so wütend wie beabsichtigt. Ich konnte ihm einfach nicht böse sein.
Marco lachte. Gut, wenn er auch ein bisschen frieren wollte. Ich beugte mich zu ihm herunter und umarmte ihn. “Dich hab ich doch auch lieb.“
Als er dann angewidert das Gesicht verzog, war ich es, die lachte. Ich blickte auf und sah schon Jaiden, der abwehrend die Hände hob, sich aber ein grinsen nicht verkneifen konnte. “Ich sag schon nichts dazu, versprochen!“ rief er energisch und ich nickte. “Ich denke jetzt einfach mal, dass du Mac auslachst.“
Das Feuer wärmte mich zwar etwas auf, aber durch den salzigen Wind wurde das zunichte gemacht. Außerdem klebte jetzt der ganze Sand an meiner Hose und auch teilweise in meinen Haaren. Bis zu meinen Schultern waren sie wasserdurchtränkt und ich hatte sie zu einem langen Zopf geflochten, weil mir einige Strähnen andauernd im Gesicht hängen geblieben waren.
Ich begann erneut zu zittern. Kolan hatte es gut. Er konnte einfach sein Oberteil ausziehen und zum trocknen hinlegen. Obwohl meine Aussicht dadurch wirklich nicht schlechter wurde, er war echt durchtrainiert.
“Das kann man ja nicht mit ansehen! Hier, zieh den an, sonst erkältest du dich noch.“ Jaiden zog seinen Pulli aus und hielt ihn mir hin.
“Danke.“ sagte ich und zog ohne zu zögern meinen nassen Pullover aus. Ich hatte damit noch nie ein wirkliches Problem, denn ein BH ist doch so ziemlich das gleiche, wie ein Bikini-Oberteil. Die Jungs sahen das anscheinend etwas anders, denn alle drei sahen etwas beschämt zu Boden.
Der Pulli roch nach Rauch und Männerdeo, was keine besonders tolle Mischung war, aber immer noch besser als zu frieren.
“Ich bin wieder angezogen.“ rief ich und grinste. Nein, die drei konnten mir wirklich nicht erzählen, noch nie ein Mädchen in Unterwäsche gesehen zu haben. Und genau deshalb war es jetzt umso lustiger, dass es ihnen peinlich war.
Als wäre es Gedankenübertragung, begannen sie im gleichen Moment 'All Summer long' von Kid Rock zu spielen. Im Refrain stieg ich mit ein. Es machte einfach unheimlich viel Spaß, ganz ungezwungen mit seinen Freunden zu singen und zu lachen.
Ich konnte es immer noch nicht recht glauben. Diese drei Männer waren tatsächlich meine Freunde.
Ich konnte nicht genau sagen, wie lange wir schon hier saßen, aber das Feuer war nur noch zu einem Häufchen Glut zusammengesunken. Mehrere Bierflaschen und Dosen lagen neben uns im Sand, zwischen meinem Pullover, einigen Taschen und meinem Handy.
Da ich es ja schlauerweise mit im Meer ertränkt hatte, konnte ich nur noch hoffen, dass es nach dem trocknen wieder funktioniert. Kolan hatte mir zwar angeboten, ein neues zu kaufen, aber ich war nur ein wenig errötet und hatte abgelehnt. Schließlich hatte ich ihn auch zu erst ins Wasser geschubst.
Ich hatte vielleicht eins, zwei Bier zu viel gehabt, denn langsam begann mein Kopf zu schmerzen. Außerdem holte mich langsam aber sicher die Müdigkeit ein.
Immer noch herrschte eine ausgelassene Stimmung zwischen uns und wir hatten richtig Spaß. Aber auch wenn es Spaß gemacht hatte, den ganzen Abend lang zu Singen und Gitarre zu spielen war dennoch anstrengend.
Erschöpft ließ ich meinen Kopf auf Kolans, immer noch nackte, Schulter sinken und schloss die Augen. Seit wir gemeinsam in die Sterne geschaut haben, hatte sich etwas in mir verändert, aber ich konnte dieses Gefühl beim besten Willen nicht zuordnen. Irgendwie hatte Kolan sich seitdem immer wieder in meine Gedanken geschlichen und merkwürdigerweise gab es mir ein Gefühl von Sicherheit, Glück und Verständnis, ihn zu sehen.
Ich verstand selbst nicht so ganz, was da in mir vorging.
“Bist du müde?“ wollte Kolan von mir wissen und ich konnte sein grinsen aus seiner Stimme hören.
“Nein.“ meinte ich überzeugt, nur um im nächsten Moment zu gähnen, wie um meiner eigenen Aussage zu widersprechen.
“Sehe ich ja.“ Er lachte sein tiefes, melodisches Lachen leise in mein Ohr. “Ich denke eh, wir sollten bald gehen. Es ist schon fast halb vier.“
Sofort sprang ich auf und sah ihn mit großen Augen an. “Was? Andy wird mich umbringen.“ stellte ich erschrocken fest.
Blitzschnell hatte ich meine Sachen zusammen gepackt und die anderen angefeuert, sich auch zu beeilen.
Aber im Gegensatz zu mir wirkten Jaiden und Marco immer noch müde und bewegten sich nur träge.
“Du bist ganz schön anstrengend, Küken.“ Müde sah Mac mich aus seinen braunen Augen an, aber in seiner Stimme hörte ich die Belustigung.
Genervt von diesem Spitznamen blitzte ich ihn wütend an. “Du hättest dir wenigstens etwas kreatives einfallen lassen können.“
Er war auf die glorreiche Idee gekommen, mich so zu nennen, weil ich ja noch so 'Jung' war. Zumindest die jüngste von uns vier. Aber was konnte ich denn bitte dafür, die einzige hier zu sein, die noch nicht 18 ist. Gut, dass ich auch erst vor kurzem 17 geworden bin, mussten sie ja auch nicht wissen, aber egal.
“Also, wenn ich Cat nicht schöner finden würde, dann fände ich den Namen auch nicht so schlecht, Küken.“ mischte sich nun auch Kolan ein.
Jetzt war ich nicht nur eine Katze, nein, ich war auch ein Küken. Abgesehen davon, dass die Katze in Wirklichkeit wohl das Küken auffressen würde, ist das ja auch absolut logisch. Wundervolle Freunde hatte ich da.
Als sie sich dann endlich auch aufgerappelt hatten, war ich wieder durchgefroren. Da half auch der geliehene Pulli nichts. Obwohl wir schon einige Zeit am Feuer gesessen haben, waren meine Jeans und mein Pulli immer noch feucht.
Und deshalb hüpfte ich auch die ganze Zeit über auf und ab, von einem Bein auf das andere, um mich warm zu halten. Allerdings wurde dadurch der Druck in meiner Stirn nur größer und ich gab es schnell wieder auf. Stattdessen rieb ich mit meinen Fingern über meine Schläfe.
“Och, hat unsere kleine Tänzerin etwa zu viel getrunken?“ fragte Jaiden. Es sollte ein Scherz sein, aber bei meiner Größe kannte ich keinen Spaß. Eine Tänzerin war ich, aber bestimmt nicht klein, mit meinen 1,79 Metern. Ich habe so was wie einen Tick, was das anbelangt, einfach weil ich es nicht leiden kann, klein genannt zu werden.
Noch dazu machte mich der Restalkohol im Blut etwas hitziger als sonst. “Ich bin nicht klein.“ Bei jedem Wort ging ich einen Schritt näher auf Jaiden zu, der plötzlich zunehmend unsicher wirkte.
“Na schön, dann bist du nicht klein. Aber du bist zumindest keiner als ich.“ Klar, dass Jaiden immer noch sein Recht behalten wollte. Ich hatte schon eine spitze Bemerkung auf der Zunge, als ich mich umentschied, die Aussage unkommentiert ließ und mich einfach zum gehen umdrehte.
Nein, der Alkohol tat mir nicht sonderlich gut. Er machte mich unausstehlich und zickig. Und furchtbar müde.
Ich gähnte erneut und lächelte die anderen dann müde an. “Können wir dann gehen?“
So, wie sie mich gerade ansahen, verstanden sie meine Stimmungsschwankungen auch nicht so ganz. Die Übermüdung war daran wahrscheinlich auch nicht ganz unschuldig.
Dann zuckten sie jedoch mit den Schultern und folgten mir.
Jaiden schulterte seine Gitarre und lief dann neben mir her. “Aber kannst du überhaupt tanzen? Da hast du mir zumindest nicht widersprochen.“ Die Herausforderung war deutlich zu hören.
Ich blieb stehen, stemmte die Hände in die Hüfte und reckte mein Kinn in die Höhe. “Willst du dich wirklich mit mir anlegen?“ Ich musste ihm ja zumindest die Chance geben, nein zu sagen, oder?
“Ja. Aber nicht jetzt. Ich habe um zehn einen Termin für ein Interview bei einer Zeitschrift, und es kommt nicht so gut, wenn ich da mit tiefen Augenringen und kratziger Stimme auftauche. Das verschieben wir dahin, wenn wir den Song aufnehmen.“ Mit diesen Worten zog er mich weiter. Hinter mir konnte ich Marco leise kichern hören.
“Feiger Superstar. Du hast nur Glück, dass ich es selbst so eilig habe.“ murmelte ich leise, ging aber weiter.
“Du solltest dich nicht mit Riley anlegen. Sie macht dich fertig.“
Damit hatte Kolan nicht unrecht. Ich hatte ja nicht umsonst zehn Jahre Tanzunterricht.
Damals, in der ersten Klasse, hatte Mona mich mitgeschleift, weil sie nicht alleine gehen wollte. Sie wurde von ihrer etwas eigenwilligen Mutter praktisch dazu gezwungen, alle möglichen Dinge zu machen. Reiten, Klavier spielen, Tennis, Golf, Ballett. Mona hat schon so ziemlich alles gemacht. Sie war sogar mal für zwei Stunden in einer Pantomime-Theatergruppe, aber das fand sie so schrecklich, dass sie sich einfach weigerte, wieder hinzugehen.
Sie kommt auch nur deshalb nicht so gut mit ihrer Mutter klar, weil sie sich einfach zu ähnlich sind. Auch wenn Mona das nicht passt, aber den Dickschädel hatte sie eindeutig von ihr geerbt.
Nach kurzer Zeit waren wir am Jeep angekommen, dieses mal saß ich mit Jaiden hinten, Marco fuhr. Die ganze Zeit über grinste Jaiden mich verschwörerisch an und zuckte mit den Augenbrauen, bis er mich so sehr nervte, dass ich ihm die Zunge rausstreckte. Daraufhin kicherte er wie ein kleines Mädchen, das gerade ein Geheimnis erzählt bekam, ließ mich aber in Ruhe.
“Ich würde ja sagen, ich rufe dich an. Aber da dein Handy wahrscheinlich nicht mehr funktioniert, musst du mir bitte mal deinen Skype-Namen geben.“ bestimmte Jaiden dann aber nach einer Weile. Er hatte ein kleines Heft aufgeschlagen und hielt einen Kugelschreiber in der rechten Hand.
Also fügte ich mich und diktierte ihm meinen Namen. “Sag mal Kolan, woher wusstest du eigentlich, wie ich in Skype heiße?“
Kolan drehte sich um und grinste mich frech an. “Ach komm schon. Du hast nur dein Geburtsjahr hinter deinen Namen gehängt, das ist wirklich nicht schwer zu erraten. Du musst dir schon einen cooleren Namen ausdenken.“
“Ja. So was wie Monsterküken88.“ rief Marco begeistert, ohne von der Fahrbahn aufzusehen.
“Oder Tanzende-Elfe13.“ meinte Jaiden neben mir.
Gott, die sind ja schlimmer als eine Horde Kleinkinder!
Während sie immer noch weiter über meinen 'unkreativen und langweiligen' Profilnamen -wie Marco so schön sagte- diskutierten, summte ich die Melodie, für die Kolan mich umarmt hatte. Was er daran so toll gefunden hatte oder wieso er sich überhaupt dafür interessierte, wusste ich nicht. Auf jeden Fall war sie mir im Kopf geblieben, auch wenn sein Verhalten schon komisch war.
“Also, wir schreiben dir die besten Namen auf und du darfst dir dann einen davon aussuchen. Und ich werde dir noch mal bescheid geben, wie wir das mit dem Song machen. Bis bald, Riley.“ Jaiden sah mich eindringlich an, worauf ich nur nickte.
Der Jeep kam zum stehen und ich öffnete die Tür. “War echt ein schöner Abend. Wir sehen uns ja bald wieder, nicht? Bis dann.“ rief ich ihnen nach, schloss die Autotür hinter mir und ging die letzten Meter bis zur Mühle.
Da es drinnen schon komplett dunkel war, beschloss ich, direkt durch den Haupteingang zu gehen. In meiner Gitarren-Tasche brauchte ich nicht lange nach dem Schlüssel zu suchen und betrat einen Moment später unser neues Haus. Ich hatte noch kein Gefühl dafür, welche Treppenstufen knarzten und welche nicht, trotzdem schaffte ich es fast lautlos bis in mein Zimmer.
Vollkommen übermüdet stellte ich nur die Gitarre auf ihren Halter und warf die restlichen Sachen auf meinen Schreibtisch. Auf dem Weg zum Bett ließ ich meine Schuhe einfach mitten im Weg fallen. Dann quälte ich mich aus der nassen Hose und in eine bequeme Jogginghose.
Keine Sekunde später lag ich schlafend zwischen Kissen und einer Decke.
Lachend laufen wir Hand in Hand über die Wiese. Um uns herum sind lauter duftende, farbenfroh bunte Blumen. Die Sonne leuchtet hell am Himmel und erwärmt unsere Gesichter. Atemlos legen wir uns ins Gras und der Geruch der wundervollen Blumen wird stärker. Gedankenverloren betrachte ich unsere Finger, die immer noch ineinander verschränkt sind. Meine Augen wandern hoch zu seinem Gesicht, auf dem ebenso wie bei mir ein lächeln liegt. Ich sehe genau in seine strahlenden Augen und bin so gebannt von ihnen, dass ich gar nicht bemerke, dass Kolan keine blonden Haare hat. Aber was hat das zu bedeuten?
Mit einem warmen Gefühl im Herzen wachte ich auf. Es war ein schöner Traum. Warum ich allerdings von Kolan geträumt hatte, konnte ich mir nicht erklären. Vielleicht lag es wirklich einfach daran, dass ich die ganze Woche mit ihm unterwegs war.
Die Sonne strahlte hell, selbst durch meine geschlossenen Augen hindurch war es nicht dunkel. Ich hatte keine Chance, noch einmal einzuschlafen.
Also schälte ich mich aus der Bettdecke und schlurfte erstmal ins Bad. Nur gut, dass ich es mir nicht mit jemandem teilen muss.
Auf dem Weg stolperte ich fast über meine Schuhe, die ich der Einfachheit halber an die Wand kickte. Nachdem ich mir den Sand und das Salzwasser aus den Haaren gewaschen hatte, war ich dann auch endgültig wach.
Nur mit Handtuch bekleidet und den Klamotten in denen ich geschlafen hatte auf dem Arm ging ich zurück in mein Zimmer. Ich musste grinsen. Meine Sammlung von Jungs-Klamotten wurde immer größer.
Meinen Pulli und die Jeans warf ich in meinen neuen Wäschekorb, der neben dem Kleiderschrank stand. Dann zog ich mir frische Sachen an und räumte die letzten Dinge an die richtige Stelle, die an meinen Ausflug von letzter Nacht erinnerten.
Gerade als ich meinen Laptop hochfahren wollte, knurrte mein Magen. Essen war gar keine so schlechte Idee.
Mit einem Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass es schon nach Mittag war. Vielleicht hatte ich Glück und Mum war schon mit dem Essen fertig und mein Vater noch auf der Arbeit. Meiner Mutter hatte ich das mit dem Hausarrest schon verziehen, aber das, was Dad mir und Kolan unterstellt hatte, konnte ich nicht so leicht vergessen. Klar, er war wütend und hat sich Sorgen gemacht, trotzdem, das geht einfach nicht.
Mit großen Schritten ging ich die Treppe hinunter und direkt in die Küche. Wie ich gehofft hatte, der Tisch war schon gedeckt und Mum war gerade dabei, den letzten Topf auf einem Untersetzter zu stellen.
Der köstliche Geruch von Bratkartoffeln, Grillhähnchen und Rahmsoße stieg mir in die Nase und wie auf Kommando meldete sich mein Magen erneut.
“Oh, hallo Schätzchen. Lebst du auch noch?“ fragte die leicht belustigte Stimme meiner Mutter.
“Ja, Mum.“ augenverdrehend setzte ich mich auf einen der Stühle.
“Auch schon aufgewacht, Kleine?“ Andy ließ sich auf dem Stuhl neben mir nieder. Hatten wir das mit dem 'Klein' nicht erst heute Morgen? Na ja, mein Bruder darf das sagen.
Nachdem ich Mum gefühlte Tausend mal erklären musste, dass ich einfach so gut drauf war, und wir fertig gegessen hatten, lief ich ins lichtdurchflutete Wohnzimmer. Aber erst als ich bereits mitten im Raum stand, fiel mir auf, dass ich seit unserer Ankunft noch nicht ein mal hier war.
Genau wie der Rest der Mühle, war der Raum in weiß gestrichen und eine der Wände war nicht gerade, sondern gebogen. Deshalb sah auch dieses Zimmer eher nach einem Halbkreis aus. Auf dem Boden lag ein teuer aussehendes Parkett in einem dunklen braun. An den Wänden hingen, zwischen den riesigen Fenstern, sowohl Fotografien, als auch eine Leinwand, die ich bemalt hatte, als ich noch kleiner war. Obwohl 'bemalt' wahrscheinlich der falsche Ausdruck war, ich hatte mit den verschiedensten Farben kunterbunte Kleckse darauf gespritzt.
Bedächtig fuhr ich mit einem Finger über ein ebenfalls weißes Sideboard, das sogar noch glänzte, weil es so neu war. Obwohl immer noch einige Kisten in einer Ecke standen, wirkte es hier so aufgeräumt und ordentlich, dass ich mich gar nicht traute, etwas anzufassen.
Links von mir stand, mehr oder weniger, mitten im Raum, ein Sofa, das in einem kräftigen weinrot getunkt war und mindestens so groß war, dass locker acht Leute darauf Platz hätten. Auf dem kleinen Couchtisch davor stand eine liebevoll dekorierte Vase, die mit den Blumen von der Wiese vor unserem Haus geschmückt war.
Darunter lag ein edler, heller Teppich, der besonders gut auf dem dunklen Holz zur Geltung kam. Der Typ, der dieses Gebäude eingerichtet hat, hatte einen guten Geschmack, das musste man ihm ja lassen.
Dann sah ich in die andere Richtung und mir entfuhr ein leises “Wow.“
Genau gegenüber dem Sofa hing ein unglaublich großer Fernseher an der Wand, und, soweit ich das beurteilen konnte, sahen die beiden Boxen rechts und links davon und die weiße Rolle an der Decke verdächtig nach einem Heimkino aus. Ein Heimkino!
Sofort lief ich zu dem riesigen Fernseher und suchte nach einer Fernbedienung. Auf der rechten der Boxen wurde ich fündig.
Nachdem ich wahllos irgendwelche Knöpfe darauf gedrückt hatte, ohne zu sehen was ich überhaupt tat, schaltete sich der Bildschirm an. Ich ließ mich auf die Couch plumpsen und starrte gebannt nach vorne.
“Nun kommen wir zu dem Thema, das seit dieser Nacht wahrscheinlich viele deiner Fans beschäftigt. Du hast getwittert, dass du die weibliche Stimme für deinen nächsten Song gefunden hast. Wer ist es?“ fragte die braunhaarige Frau fordernd in ein Mikrofon. Ich schätzte sie auf etwas über dreißig.
Hinter ihr erschien das Bild von uns am Lagerfeuer. Jetzt machte die Kamera einen schwenk und Jaiden war im Bild. Er lächelte freundlich und dennoch überlegen. “Tut mir leid, aber das darf ich nicht sagen.“
Der Hauch von Enttäuschung lag auf dem Gesicht der Reporterin. “Du kannst uns doch wenigstens einen kleinen Tipp geben, oder? Ist sie das Mädchen auf dem Foto?“
Ein kurzes Nicken von Jaiden, begleitet von einem blitzen in seinen Augen.
“Ist sie in der Musik-Szene bekannt?“ wollte die hartnäckige Frau weiter wissen.
“Nein. Aber dafür hat sie gleich dreimal so viel Talent dafür.“
Während ich dem Gespräch lauschte, wurde mir wieder bewusst, dass sie ja von mir sprachen. Wenn Jaiden sich jetzt verplapperte, dann hätte ich ein ganz schön großes Problem. Und ich konnte nichts weiter tun, als hier zu sitzen und zu hoffen.
“So, wie du von ihr redest, scheinst du sie zu bewundern. Ist das geheimnisvolle Mädchen vielleicht sogar deine Freundin?“
Jetzt musste ich lachen, genau wie Jaiden. “Nein. D ist ein tolles Mädchen, aber wir sind nicht zusammen.“
“D? Ihr Anfangs-Buchstabe? Also, jetzt sag schon, wie heißt sie?“ bohrte die Brünette wieder ungeduldig. Die hat ja echt nerven!
Aber auf Jaidens Antwort war ich jetzt auch gespannt. Wie kam er denn auf D?
“Ich sagte doch schon, ich werde ihren Namen nicht verraten. Aber ein Tipp, und das wird auch der letzte gewesen sein: Ja, es ist eine Abkürzung. Aber nicht von ihrem richtigen Namen, sondern von ihrem Spitznamen. Und, so leid es mir auch tut, mehr werde ich dazu nicht sagen.“ jetzt klang Jaiden leicht genervt, aber die Reporterin hatte scheinbar begriffen, dass er ihr keine weiteren Informationen geben würde.
Spitznamen. Tänzerin. Dancer.
Daher kam also das D.
Ich muss sagen, Jaiden war schon echt schlau, aber das wurde mir erst einen Moment später bewusst, als die Nachrichten eingeblendet wurden. Mit dieser Meldung würde er noch tagelang in den Medien bleiben und richtig viel Werbung für sein Album machen. Nein, blöd war Jaiden wirklich nicht.
Auf der Fernbedienung suchte ich kurz nach dem Aus-Knopf und schaltete dann den Fernseher aus. Ich ging zurück in mein Zimmer. Als nächstes nahm ich mein Handy auseinander und föhnte mit kalter Luft die einzelnen Teile ab. Ein wenig Sand rieselte dabei auf den Boden.
Meine Hoffnung schien sich zu erfüllen, denn als ich alles wieder zusammen gesetzt hatte, vibrierte es. Ich hatte echt Glück. Eigentlich dachte ich immer, mit Salzwasser wäre jedes Handy hinüber.
“Ach verdammt!“ fluchte ich, als ich wie blöde auf dem Touchscreen rumtippte, sich aber rein gar nichts tat. Das war's dann wohl mit meinem Glück. Super. Das durfte ich dann auch gleich noch meinen Eltern beibringen.
Vielleicht konnte Andy ja noch was retten? Den Versuch war es zumindest Wert.
Etwas bedrückt, und mit Handy und Autogramm in der Hand, tapste ich die Treppe wieder runter und klopfte an die Tür.
Leider hatte Andy auch nicht mehr, als die SIM-Karte und meine Speicherkarte retten können. Und da ich mein altes Mobiltelefon auch ertränkt, oder eher mit gewaschen, hatte, hatte ich jetzt erstmal gar kein Handy. Erst wenn man mal eine Zeit lang darauf verzichten muss, merkt man, wie abhängig man doch davon ist. Ein Tag war bereits eine verdammt lange Zeit.
Auch wenn Andy es nie zugeben würde, ich hatte das Leuchten in seinen Augen gesehen, als ich ihm das Autogramm gegeben habe. Er war eben doch ein FF, ein Jaiden Miller Fan.
Mein Wecker zeigte gerade kurz nach vier, als Mum von unten rief. “Kommt ihr zwei jetzt? Wir müssen eure Schuluniform kaufen, bevor der Laden in der Stadt schließt.“
Ich hätte mich fast an meiner eigenen Spucke verschluckt. Hat sie gerade ernsthaft SCHULUNIFORM gesagt?
Ich hatte noch nie von einer Amerikanischen Schule gehört, in der man Uniformen tragen musste. Wahrscheinlich war das hier die einzige im ganzen Bundesstaat. Und, wie sollte es denn auch sonst sein, mussten wir genau auf diese eine, verdammte, Schule gehen.
Mein Bruder schien genau so wenig begeistert, wie ich.
Wir befanden uns in einem kleinen, stickigen Laden, der sich auf den Verkauf von Schulartikeln spezialisiert hatte. Und dazu zählten nun mal auch Uniformen.
Der Verkäufer war ein dickbäuchiger älterer Mann mit Halbglatze. Er roch nach Tabak, Schweiß und einem widerlich penetranten Parfum. Eine schreckliche Mischung. Seine verbliebenen Haare hatte er mit viel Gel zurück gekämmt. Allein sein Anblick ließ mich schaudern.
Merkwürdigerweise schaffte es meine Mutter trotzdem, höflich und ruhig zu bleiben.
Ich nahm die Plastiktüten mit meiner Uniform entgegen und verschwand in einer der beiden, viel zu kleinen, Umkleidekabinen.
Mürrisch riss ich die Verpackung auf. Das erste, was ich daraus zog, war ein schwarzer Blazer mit dem Aufdruck des Schul-Logos auf der rechten Brust und rotem Saum. Dazu gab es eine Bluse mit weiß-roten Karos. Damit könnte ich mich sogar noch anfreunden. Ich meine, eine andere Wahl hatte ich eh nicht.
Aber was ich dann in der Hand hielt, ließ mich scharf Einatmen. “Nein! Mum, das werde ich nicht anziehen!“
Weiße Stulpen und ein knallroter, ziemlich kurzer, Rock. Nie würde ich auch nur auf die Idee kommen, so etwas anzuziehen. Der Stoff war zwar recht schwer, aber ich konnte es trotzdem nicht leiden, Röcke in der Schule zu tragen. Nicht weil ich sie nicht schön finde, sondern weil es immer mindestens einen 'netten' Jungen gibt, der sich einen Spaß daraus macht, den Mädchen die Röcke hochzuziehen. Und zu jedem dieser liebenswerten Jungs gehört natürlich auch eine ganze Gruppe anderer, die darüber lacht.
“Ach komm schon, Schätzchen. Probier es doch erst einmal an.“ kam die ruhige Stimme meiner Mutter.
“Ich sehe aus, wie ein Streber!“ beschwerte sich nun auch Andy. Wenigstens er konnte mich verstehen!
Widerwillig schlüpfte ich in die Uniform. Der Rock endete ein ganzes Stück über meinen Knien. Die restlichen Sachen waren eigentlich gar nicht so schlimm. Es ging mir einfach gegen den Strich, dass ich das Zeug überhaupt anziehen musste.
“Das ist schrecklich!“ jammerte ich, während ich den Vorhang wieder aufzog. Als ich dann aber Andy sah, musste ich laut los lachen.
Er hatte eine schwarze Schlaghose aus Stoff an. Dazu trug er ebenfalls ein kariertes Hemd und ein Jackett mit dem Schul-Logo. Jetzt musste er sich nur noch das Hemd in die Hose stecken und eine Brille mit überdimensionalen Gläsern aufsetzen, und er würde wirklich als klischeehafter Streber gelten.
Wir lachten uns gegenseitig aus, aber das war immerhin besser, als die ganze Zeit zu jammern.
“Jetzt musst du dir noch einen Zopf machen, dann siehst du aus, wie das unschuldige Schulmädchen.“ erklärte er grinsend.
“Seht ihr, so schlimm ist es doch gar nicht. Jetzt zieht die Sachen wieder aus und dann können wir gehen. Ich bezahle in der Zwischenzeit.“ Mum lief zur Kasse.
Andy wollte gerade in der Kabine verschwinden, aber ich hielt ihn am Arm fest. “Was soll ich jetzt wegen meinem Handy machen?“ fragte ich flüsternd.
“Hast du's dabei?“ war seine Gegenfrage.
Ich nickte und holte es aus der Hosentasche meiner Jeans, die ich achtlos auf den Boden geworfen hatte.
“Spiel mit!“ zischte er mir zu und schlug mir das Mobiltelefon im selben Moment aus der Hand.
“Was?“ Verwirrt sah ich ihn an. Was sollte das denn jetzt?
“Andy, du Arsch! Was sollte das?“ wiederholte ich meine Gedanken.
“Ich hab dir doch gesagt, ich will nicht, dass du ein Foto von mir machst!“ gab er cool zurück.
Das hatte er also vor! “Das heißt noch lange nicht, dass du es auf den Boden werfen musst! Jetzt ist es kaputt! Was soll ich denn jetzt machen? Mum...“ flehte ich und sah diese mit Hundeblick an.
“Ach Schätzchen, das ist doch kein Problem. Wir halten auf dem Rückweg einfach bei einem Elektronik-Laden und kaufen dir ein Neues. Dieses hier ist in jedem Fall hinüber.“ Sie hob mein kaputtes Handy auf. Die Risse, die sich über das gesamte Display zogen, ergaben ein merkwürdiges Muster.
Innerlich musste ich grinsen. Danke, Mum.
Nachdem wir wieder unsere normalen Klamotten anhatten und die Uniformen, die wir gleich in mehrfacher Ausführung gekauft hatten, bezahlt waren, machten wir uns auf den Weg zum Elektronik-Laden. Der Verkäufer hatte uns den Standort beschrieben und da es quasi fast um die Ecke war, gingen wir zu Fuß.
“Wie kann ich ihnen helfen?“ fragte uns eine junge Frau mit einem freundlichen Lächeln. Sie trug eine moderne Brille, von der ich nicht sagen konnte, ob sie aus Fensterglas war, und hatte ihren hellbraunen Haaren einen Bob verpasst.
Sie stellte mir mehrere Modelle vor und beriet mich, welches davon besonders gut war. Am Ende entschied ich mich für eines mit guter Kamera und großem Display. Als ich mir von der Wand mit den Hüllen eine ausgesucht hatte und mich umdrehte, rempelte mich jemand an.
"Pass doch auf!" fluchte ich. Ein recht großer Junge mit Cappy und Sonnenbrille murmelte ein "Sorry.", hob die Hülle mit den Schmetterlingen und der großen Blume auf, drückte sie mir in die Hand und verließ dann fluchtartig den Raum. Er ließ mich verdattert zurück und gab mir gar keine Zeit, mich noch weiter aufzuregen."Was war das denn?" fragte ich mich selbst und zuckte dann mit den Schultern.
Meine Mutter bezahlte alles und ich wechselte die SIM-Karte direkt nachdem wir im Auto saßen. Den Jungen hatte ich schnell vergessen und die Zeit bis zur Mühle verging wie im Flug.
'Danke fürs Lügen :)' simste ich Andy als erstes und wir grinsten uns verschwörerisch an.
'Für dich immer gerne ;P' war seine Antwort.
Als wir nach Hause kamen, war Dad noch auf der Arbeit. Ich war froh darüber, denn so musste ich ihm nicht schon wieder aus dem Weg gehen. Ich konnte seine überzogene Reaktion immer noch nicht ganz nachvollziehen. Immerhin kannte er Kolan ja auch überhaupt nicht.
Jetzt hatte ich eine Idee, wie ich Mum vielleicht doch noch auf meine Seite bringen könnte. Den Versuch war es auf jeden fall wert."Mum? Was habt ihr eigentlich gegen Kolan?" fragte ich vorsichtig. Zuerst dachte ich, ich würde gar keine Antwort mehr bekommen, weil sie einfach weiter an ihrem Kaffe nippte, in der Tageszeitung blätterte und mich gar nicht zu beachten schien.
"Nichts, Schätzchen. Wir haben nur Angst, dass du dich wieder in etwas, oder besser gesagt jemanden, verrennst und dir wieder so etwas passiert wie mit Dan. Ich glaube dir, wenn du sagst, dass dieser Junge so etwas nicht tun würde. Aber du kennst ihn auch noch nicht sonderlich lange. Ich mache mir Sorgen um dich. Das letzte mal bist du vollkommen zerstört gewesen und hast dich zurückgezogen und von der Außenwelt abgeschottet. Ich will einfach nicht, dass dir das noch einmal passiert."
So eine Predigt hatte ich jetzt wirklich nicht erwartet. Auch wenn ich mit dieser Begründung schon gerechnet hatte.
"Ihr könnt mich aber auch nicht auf ewig von allem, das ihr für schlecht befindet, fern halten. Früher oder später wird mir wieder jemand das Herz brechen, das ist unvermeidbar. Aber ich glaube einfach nicht dass Kolan derjenige ist. Abgesehen davon darf sich Andy auch mit jedem treffen und es interessiert euch nicht. Nur bei mir seid ihr so übervorsichtig und wollt nichts falsch machen." Gegen Ende war meine Stimme doch etwas lauter geworden, aber ich hatte mich schnell wieder im Griff.
"Ja, vielleicht hast du recht." Ihre Einsicht kam unerwartet, aber was sie dann sagte, überwältigte mich erst recht. "Dein Vater wird frühestens in einer Stunde da sein. Wenn er Zeit hat soll dein Kolan direkt vorbeikommen und ich werde mit ihm reden. Dann werde ich mal sehen was ich bei deinem Vater erreichen kann."
"Oh... Okay." stammelte ich und wollte die Treppe hoch rennen, als mir ein Gedanke kam. Vielleicht sollte ich ihr die Wahrheit sagen… Ich drehte mich im Türrahmen um. Meine Mutter lächelte gütig und nickte mir zu.
"Ich weiß doch schon längst dass du dich noch einmal mit ihm getroffen hast. Er tut dir gut."
Ist heute etwa der Tag, an dem mich alle verwirren wollen? "Aber… Woher?"
"Andy hat es mir gesagt. Oder was glaubst du, wie er den Sturkopf davon überzeugen konnte, deinen Hausarrest für einen Abend aufzuheben? Und jetzt geh endlich und ruf ihn an!" Sie wand sich wieder ihrer Zeitung zu.
Ich ging einen Schritt weiter, drehte mich aber noch ein letztes mal um. "Danke, Mum." meinte ich ehrlich und rannte dann bis in mein Zimmer.
Ungläubig fuhr ich mir durch die Haare. Das war gerade wirklich passiert. Ich hatte nicht geträumt. Mit einem leisen Schrei wählte ich die Nummer von Kolan und wartete das tuten ab. Nach dem vierten mal hob er ab.
"Ja?" fragte er und schien dabei ein wenig abgelenkt.
"Hey Kolan. Störe ich grade?" fragte ich sicherheitshalber und lief im Raum auf und ab.Es knisterte leise im Hintergrund und als es verstummte hörte ich eine Tür zuschlagen.
"Nein, schon okay. Was gibt's?"
"Also… Ich hab mit meiner Mum geredet und… das ist etwas kompliziert. Auf jeden fall wollte ich fragen, ob du Zeit hättest jetzt kurz vorbei zu kommen." Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe.
"Ähm. Gib mir zehn Minuten, dann bin ich da. Aber ich hab nicht viel Zeit, ja? Bis gleich."
Schon bevor ich antworten konnte hatte Kolan aufgelegt. "Bis gleich." antwortete ich leicht enttäuscht in den Raum hinein und legte auf.
Direkt nachdem Kolan angekommen war und ich ihn begrüßt hatte, wurde ich von meiner Mutter aus der Küche ausgesperrt. Sie wollte 'mit ihm allein reden'. Obwohl er noch nicht lange da war, zog sich die Zeit ewig lang, wie Kaugummi. Und jetzt starrte ich nervös und angespannt an die Decke des Wohnzimmers und malte mir aus, was sie alles zu bereden hätten. Ich malte mir die schrecklichsten Szenarien aus. Wie sie sich gegenseitig anschreien. Wie meine Mutter ihn beschimpft und auch aus unserem Haus verbannt. Dass sie ihn einschüchtert und er jetzt wirklich nicht mehr mit mir reden möchte. Es ist ja nicht so, dass ich nicht schon versucht hätte zu lauschen. Aber ich hatte rein gar nichts gehört, außer der Kaffeemaschine.
Ich war so in meinem Gedanken, dass ich es nicht mitbekam, als die Küchentür geöffnet wurde. "Vielen dank, Miss Richards." ertönte Kolans Stimme.
"Kein Problem. Ich kann dich ja verstehen. Und um ehrlich zu sein war es bei mir und meinem Mann ganz ähnlich. Aber ich denke, du kannst auch seine Sicht ganz gut nachvollziehen. Bis dann, ich denke wir werden uns bald wiedersehen." antwortete meine Mutter.
Ich sprang auf und rannte auf sie zu. "Und?" fragte ich aufgeregt und fing mir dafür einen belustigten Blick von Kolan ein.
"Ich sagte doch schon, dass ich nichts gegen ihn habe."
Schon bevor sie fertig gesprochen hatte, hatte ich sie in eine Umarmung gezogen und sprang auf und ab. "Danke, danke, danke!" Meine Freude war einfach unbeschreiblich.
"Ich muss jetzt aber echt gehen, ich muss noch was zu Hause erledigen." Kolan zog mich zur Tür und Umarmte mich. Insgeheim wünschte ich mir, dass er damit nie wieder aufhören würde. "Ich hole dich in einer Stunde ab, dann fahren wir zu Jaiden ins Tonstudio. Ich hab alles mit deiner Mutter geklärt und Jaiden bescheid gegeben. Zieh dir 'nen Pulli mit Kapuze, eine Cappy und eine Sonnenbrille an. Nimm am besten einen Haargummi und wenn du es irgendwie einrichten kannst, auch deine Gitarre mit. Aber keine Sorge, sie weiß nichts von der Sache mit dem Song." Damit drückte er mich noch ein letztes Mal und ließ dann von mir ab.
Jetzt wollte ich erst recht wissen, was sie da drin besprochen hatten. Es war ein ungelöstes Rätsel, das ich unbedingt lösen wollte. Allerdings wusste ich bei seinem Blick schon, dass ich damit nicht besonders weit kommen würde."'Tschüss Riley."
"Bis später." rief ich ihm hinterher, sah noch, wie er in seinen Wagen stieg und losfuhr, und schloss dann die Tür.
"Dein Vater wird in ziemlich genau fünf Minuten hier sein. Er wird wahrscheinlich noch einen Kaffee trinken und dann zurück nach Dexterville fahren, um dort noch die letzten Sachen zu holen. Er wird über Nacht dort bleiben und Andy mitnehmen, um ihm zu helfen. Ich habe jetzt noch ein Kundengespräch für eine Werbekampagne für das Album von irgendeinem Superstar. Es wird also keiner zu Hause sein, wenn du wiederkommst. Und Riley. Er scheint dich wirklich zu mögen." Was auch immer mir meine Mutter mit dem letzten Satz sagen wollte, ich wusste es nicht genau. Sie wünschte mir noch viel Spaß und verließ dann das Haus im selben Moment, als mein Vater wieder zurück kam.
Ohne ihn eines Blickes zu würdigen ging ich zurück in mein Zimmer und packte die Dinge zusammen, die Kolan mir aufgetragen hatte mitzunehmen. Eine halbe Stunde später rief mein Vater von unten, dass sie jetzt fahren würden und ich ja hier bleiben solle.
Als ob ich darauf hören würde!
Ich wartete, bis ich den Wagen von meinem Fenster aus wegfahren sah, dann zog ich mir den Pulli über. Die Cap, die ich mir von Andy geliehen hatte, und die Sonnenbrille verstaute ich zusammen mit dem Haustürschlüssel, einer Jogginghose, falls es zu einem Tanz-Wettkampf kommen sollte, und meiner Kamera in einer Handtasche. Mein neu erworbenes Mobiltelefon stopfte ich in die Hosentasche meiner Jeans. Als letztes band ich mir die Haare zu einem Zopf zusammen, schlüpfte in Kolans Lederjacke und zog meine Chucks an.
Kurz darauf klingelte es auch schon an der Tür und ich rannte voll bepackt die Treppe herunter, um zu öffnen.
"Wenn wir da sind, verdeck so gut wie möglich dein Gesicht, zieh die Cappy tief in deine Stirn und setzt die Sonnenbrille auf. Versteck deine Haare in der Kapuze. Man soll dich so wenig wie möglich erkennen können. Ich nehme deine Gitarre und die Tasche. Die Paparazzi werden versuchen, dir Fragen zu stellen und an Fotos zu kommen, aber du gehst einfach mit gesenktem Kopf an ihnen vorbei und beachtest sie nicht, verstanden? Sobald wir drinnen sind, ist alles okay."
Ich befolgte die ersten Punkte von Kolans Anweisung. Während er angespannt zu unserem Ziel fuhr, kam bei mir langsam die Aufregung und die ersten Zweifel. Würde auch wirklich alles gut gehen? Ich hoffte es.
Kolan schien zumindest mehr Ahnung vom Umgang mit Paparazzi und dergleichen zu haben. Ich fragte mich auch immer öfter, ob dieser Trubel wirklich das Richtige für mich war.
Wir fuhren nicht mit Kolans Auto, sondern mit einem protzigen Geländewagen mit verdunkelten Fensterscheiben. Auffälliger wäre wahrscheinlich nur eine Limousine mit pinken Flecken.
"Okay, wir sind gleich da. Bist du bereit?"
Das war ich absolut nicht, aber es hinauszuzögern brachte mir auch nichts, außer dass ich noch nervöser werden würde. Also nickte ich.
"Gut. Und wenn wir das hier hinter uns haben, werde ich etwas für dich kochen. Da du eh keine Ahnung hast, wo wir gerade sind und du mir das Dinner noch schuldig bist, werden wir das direkt machen, ja? Ich werde dich einfach entführen und du kannst dann nichts daran ändern."
Jetzt sah Kolan mich das erste mal richtig an. Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer, als sich das lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete und ich hörte damit auf, an dem Bändel der Kapuze zu ziehen. Soll das jetzt wirklich ein Date werden? Okay, genau genommen waren das die ganze Woche über schon Dates.
Jetzt biss ich mir unsicher auf die Unterlippe und ich war mir sicher, dass das nur an der Nervosität lag. Zumindest wollte ich das glauben.
Wissend sah er mich an. "Glaub mir, so schlimm ist das nicht. Und wenn dir jemand zu nah kommen sollte, wendest du einfach einen deiner Tricks an."
Das wollte ich wirklich glauben, und so klammerte ich mich an diese Worte, wie ein Ertrinkender sich an einen Rettungsring klammert.
Der Wagen hielt an und auch Kolan zog sich Cappy und Sonnenbrille auf. Ich atmete noch einmal tief durch, dann öffnete ich die Tür und stürzte mich geradewegs in meinen Untergang. Na ja, vielleicht übertrieb ich jetzt auch einfach ein wenig.
Das Stimmendurcheinander, das ich zuvor nur gedämpft wahrgenommen hatte, wurde jetzt lauter und ich hörte das unaufhörliche klicken der Kameras in meinen Ohren. Ich fühlte mich bedrängt, obwohl ich noch gut einen Meter bis zur nächsten Person abstand hatte.
Ich sah strickt auf den Boden und ging zwei vorsichtige Schritte nach vorne, dann wollte mein Körper einfach nicht weiter. Das alles hier war mir zu viel.
"Miss! Miss, sagen sie uns ihren Namen! Bitte, wie heißen sie?" schrie jemand direkt neben mir.
Immer noch unfähig mich zu bewegen, blieb ich einfach mitten in der Menschenmenge stehen. Ich hatte eigentlich keine Platzangst, aber so langsam bekam ich doch Panik.
Plötzlich wurde ich an den Schultern gepackt und auf eine Tür zugeschoben. Dabei stolperte ich kurz und fiel ein Stück nach vorne, wurde jedoch von hinten festgehalten und wieder nach oben gezogen. Dann verschränkte sich eine Hand mit meiner und die zugehörige Person lief mit schnellen Schritten los.
Ich hatte keine andere Wahl, als ihr zu folgen, aber ich war meinem Retter unglaublich dankbar, als er mich durch eine Tür zog und diese hinter mir schloss.
"Alles wieder okay?" holte mich Kolans Stimme wieder zurück in die Realität.
Zu mehr als einem Nicken war ich nicht mehr imstande. Seine wunderbaren warmen Augen mit den Sprenkeln fixierten mich, während unsere Hände immer noch miteinander verschränkt waren.
"Komm, wir gehen in das Tanzstudio und holen ihn ab. Er musste noch Proben für den ersten Auftritt, bei dem er das Album vorstellt."
Kolan wollte schon weiter gehen, ab ich hielt ihn noch einmal kurz an.
"Danke. Ich weiß auch nicht, was genau da eben mit mir los war."
"Kein Problem." Sein lächeln erwärmte mir das Herz und ich erwiderte es. Ein sanftes kribbeln lief durch meinen Körper und ich lief Kolan benommen hinterher. Seine warme Hand fühlte sich gut an, wie sie meine umschloss. Ganz natürlich, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
Was soll das jetzt schon wieder bedeuten?
Meine Gefühle und Gedanken verwirrten mich in den letzten Tagen viel zu oft.
Ich versuchte gerade ernsthaft, nicht laut los zulachen. "Wen genau möchtest du umbringen?" fragte ich und biss mir dann schnell auf die Unterlippe, um nicht tatsächlich zu Lachen. Auch Kolan konnte sich gerade so ein kichern verkneifen.
Jaiden, der mit zusammengezogenen Augenbrauen und gerunzelter Stirn zum dritten Mal versuchte, eine Drehung zu machen, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren, hielt mitten in der Bewegung inne. Er taumelte ein Stück und plumpste dann auf den Boden.
Jetzt brachen ich und Kolan gleichzeitig in schallendes Gelächter aus. Jaidens ganze Haltung war dabei immer noch so angespannt und verkrampft, dass es wirklich so aussah, als wäre er gerade auf dem besten Weg, jemanden umzubringen.
Wahrscheinlich wäre das erste Opfer sein Choreograf oder Trainer, oder wer auch immer der Typ im teuer aussehenden Jogging-Anzug war, der mit einem fiesen Akzent genervt und gleichzeitig wütend auf ihn einredete. Jetzt tat er mir sogar ein wenig leid. Obwohl der Mann eigentlich eher witzig klang, so merkwürdig wie er manche Wörter aussprach.
Jaiden ignorierte ihn einfach und kam schnellen Schrittes auf uns zu. Er versuchte wohl, von dem Mann davon zu kommen. "Ja, danke. Wirklich sehr lustig. Seht ihr mir schon länger zu?" Die wenige Hoffnung, die in seiner Stimme mitschwang, brachte mich dazu, zu einem 'Nein' an zusetzten, als Kolan immer noch kichernd "Ja." rief. Okay, wir sahen ihm echt schon fast zwanzig Minuten zu. Den Trubel draußen vor der Tür hatte ich so ganz schnell wieder vergessen.
Es war aber auch wirklich zu komisch, wie blöd er sich anstellte. Dabei war das doch nur eine ganz einfache ein-einhalbe Drehung, nach der er, soweit ich das verstanden hatte, einen Schritt nach links gehen sollte. Wie man dabei schon vor der Drehung das Gleichgewicht verlieren und stolpern konnte, war mir ein Rätsel.
"Das ist echt nicht so leicht, okay." Zähneknirschend sah er uns an.
Ich schlug ihm leicht auf die Schulter. "Klar doch. Es ist super schwer, den Schwung aus zwei Schritten mitzunehmen, um sich dann zu drehen, einen Schritt nach links zu machen und dann über seine Schulter zu schauen."
Während ich die Schritte erklärte, tanzte ich sie direkt mit. Eindrucksvoll hatte ich während der Drehung auch noch Andys Cappy hoch geworfen und mir beim über-die-Schulter-schauen wieder aufgesetzt.
Meine beiden neuen Freunde gafften mich einfach nur an. Sie hatten echt ihr Sprache verloren. Der Mann mit dem Akzent allerdings nicht. Mit einem breiten Grinsen kam er auf uns zu und begann auf mich einzureden. "Oh, Mademoiselle! Ihr seid ja ein Natürtalent. Wenn isch misch vorstellen dürfte, Frederic, aber ihr dürft misch auch Fred nennen." Kokett zwinkerte er mir zu und machte dann eine halbe Verbeugung, wobei er mir den Handrücken küsste. "Isch bin der Choreograph von deinem Freund Jaiden, leider kann er absolut nischt tanzen. Il est une catastrophe! Quel imbécile!"
Okay, wenn ich mir das jetzt so anhöre - der ist eindeutig Franzose!
"Keine Sorge, Fred. Er wird das schon noch lernen." antwortete ich ihm ebenfalls in Französisch. So eine Bemerkung wie 'Vielleicht' oder 'Irgendwann' verkniff ich mir mit Absicht.
Es war schon was schönes, wenn die Familie auf der halben Welt verteilt wohnt. Man sieht seine Verwandten dann zwar nicht so oft, dafür lernt man automatisch die Sprachen, wenn man sie besuchen kommt.
So hat meine Oma (die Mutter meines Vaters), nach dem Tod meines Opas, als ich drei war, einen Franzosen geheiratet und war zu ihm gezogen.
Seitdem haben wir jedes Jahr mehrere Wochen bei ihr Urlaub gemacht. Außerdem hatte ich zwei Jahre Französisch in der Schule. Das war also echt kein Problem.
Die Schwester meiner Mutter war noch vor meiner Geburt nach Italien ausgewandert und mein Onkel lebte in Kanada mit seiner Familie. Ursprünglich kamen sie aber aus Deutschland.
Mein Vater hingegen war gebürtig aus England, wo auch noch meine anderen Großeltern leben. Warum genau wir jetzt in Amerika leben, weiß ich wirklich nicht.
Auf jeden Fall bin ich zweisprachig aufgewachsen und schon durch die halbe Weltgeschichte gereist. Für meine siebzehn Jahre war das schon beachtlich.
"Riley, komm zurück zu uns in die Trainingshalle mit der verspiegelten Wand."
"Hm?" fragte ich und zuckte zusammen.
"Von wem hast du schon wieder geträumt? Sag's mir!" forderte Kolan und kam gespielt bedrohlich auf mich zu.
"Doch hoffentlich von mir, oder?" rief Jaiden hinter ihm und grinste.
Ich hatte grade definitiv etwas verpasst, wenn sie so waren. "Niemals werde ich dir das sagen!" rief ich zurück und rannte ein Stück durch den hell erleuchteten Raum.
"Dann muss ich es wohl aus dir herauskitzeln." erwiderte er daraufhin. Es war ein bedeutungsloser Satz, der mich dazu brachte, zu beschleunigen.
Wenn er mich wirklich kitzeln wollte… Das wäre gar nicht gut. Kitzeln, - das war so was wie mein Schwachpunkt.
Aber jetzt kam auch schon Jaiden aus der anderen Richtung. Ich hatte keinen Ausweg mehr, da ich schlauerweise in Richtung Ecke gelaufen war.
Wirklich gut gemacht, Riley!
Hektisch sah ich mich nach einem Ausweg um, aber da war es schon zu spät. Kolan hatte mich von hinten geschnappt und kitzelte mich jetzt kräftig durch.
"Stopp, hör auf! Ich… Ich ergebe mich!" stieß ich atemlos hervor.
Schon die ganze Zeit wollte ich mich wehren, aber Kolan war viel zu stark und kitzelte mich bedingungslos durch, während ich mich auf dem Boden vor lachen wand.
"Ach ja?"
Er hielt kurz inne und sah mich an.
"Ich schwöre!" Immer noch grinsend sah ich ihn an und kreuzte unauffällig die Finger meiner rechten Hand. Oder wohl doch nicht so unauffällig. Denn anstatt aufzuhören, machte er noch erbahmungsloser als zuvor weiter.
"Es gehört sich nicht, zu lügen! Außerdem hast du mir gar nicht erzählt, dass du so kitzlig bist." Das Grinsen stand ihm ins Gesicht geschrieben.
"Ich darf lügen wann ich will. Und ich hielt es nicht für nötig, dir das mitzuteilen. Außerdem weißt du es ja jetzt." lachte ich wieder.
Hinter uns vernahm ich ein räuspern.
Kolan ließ von mir ab und half mir hoch. Er sah ein wenig verlegen aus.
"Ich will euch ja nicht stören, oder so. Aber woher kannst du so tanzen? Und warum zum Teufel kannst du Französisch reden?" Jaiden grinste uns, besser gesagt mich, erwartungsvoll an. Für den letzten Satz bekam er von seinem Choreografen einen vernichtenden Blick zugeworfen.
"Also jetzt glaubst du es mir doch, ja? Drei Jahre Ballet, sieben Jahre Hip Hop, ein Riverdance-Kurs und zwölf Jahre Jazzdance sollten ihr übriges dazu beigetragen haben. Außerdem war ich mal im Leistungsturnen und Cheerleaderin." Ich genoss den verdatterten Blick der beiden geradezu. "Und Französisch kann ich, weil meine Oma in Frankreich lebt."
"Das erklärt wohl einiges…" murmelte Kolan, während Jaiden noch frech grinste. "Ich glaube dir nicht, dass du das alles gemacht hast. Beweis es."
Und schon war er gekommen, der Moment der Herausforderung.
"Wo kann ich mich umziehen?" war alles, was ich darauf erwiderte.
Siegessicher kam ich aus dem muffigen Umkleideraum zurück in das moderne Tanzstudio. Die schwarze Trainingshose reichte mir bis zu den Knien und wurde dort von einem Gummiband festgehalten. Unter dem Pullover hatte ich nur ein weites grellblaues T-Shirt, das am Rücken ziemlich weit ausgeschnitten war und oben von einer Schleife zusammengehalten wurde. Vielleicht hätte ich mir auch noch ein zusätzliches Oberteil mitnehmen sollen, aber jetzt war es ohnehin zu spät. Schnell band ich mir die Haare neu zu einem Zopf.
"Also wie genau soll das jetzt ablaufen?" fragte ich gespannt.
"Wir haben fünf Lieder vorbereitet. Wir wechseln uns während jedem Lied einmal ab. Fred und Kolan bewerten, wer besser ist. Du kannst tanzen was du möchtest. Wenn jemand ein Lied aussetzt gewinnt der andere automatisch die Runde. Alles verstanden?" fragte Jaiden, der über einen CD-Player gebeugt stand.
Ich nickte. Mit dem Talent, dass er gerade gezeigt hatte, hatte er eh keine Chance. "Wer beginnt?" fragte ich und fügte im gleichen Moment noch hinzu: "Du kannst gerne anfangen, damit ich dich nicht gleich in den Schatten stelle.
"Wenn du es so willst." Jaiden lief in die Mitte der Halle, während ich es mir auf der Holzbank neben der 'Jury' gemütlich machte.
Ich erkannte das Lied direkt beim ersten Takt. Es war 'Alors on danse' von Stromae. Ein guter Song.
Jaiden bewegte sich mehr oder weniger zu der Melodie und vollführte ein paar merkwürdige Bewegungen mit seinen Armen. Irgendwie sah er leicht überfordert aus.
Irgendwann so ziemlich bei der hälfte stoppte Kolan das Lied. "Danke Jaiden für deine …Tanzeinlage, jetzt bist du dran Riley."
Ich sprang auf und wartete darauf, dass die Musik wieder zu spielen begann. Schon während Jaidens Part hatte ich mir ein paar Schritte zurechtgelegt, den Rest würde ich einfach Improvisieren. Es war eine Mischung aus einfachen Cheerleading-Schritten und Jazzdance. Nachdem ich geendet hatte, klatschten meine drei Zuschauer. Ich verneigte mich kurz, so wie ich es gelernt hatte.
"Dein Oberteil lenkt aber ganz schon von deinem Tanz ab. Echt unfair!" raunte Jaiden mir zu.
"Wieso? Weil ich nun mal die Waffen einer Frau besitze? Oder weil du eine ausrede suchst, warum ich besser tanzen kann?"
Geschlagen sah er zu Boden. "Aber jetzt fängst du an, dann hast du keine Zeit dir irgendwas zu überlegen."
"Wenn du meinst…" Ich ließ den Satz offen in der Luft hängen und ging wieder in die Mitte des Raumes. Die belustigten Blicke von Kolan und Fred entgingen mir dabei nicht.
Als die ersten Töne von 'Apologize' von One Republic durch die Lautsprecher tönten, entschied ich mich innerhalb einer Sekunde für eine kleine Ballett-Vorführung. Vor dem zweiten Refrain wurde die Musik gestoppt. Auf die Schnelle hatte ich mir keine besonders großartige Choreografie ausdenken können, trotzdem schienen die drei Beeindruckt.
"Soviel dann zu 'Ich kann ja kein Ballet'. Du bist dran Jai."
"Seit wann bin ich denn Jai?" fragte Jaiden leicht belustigt.
Ich zog eine Augenbraue hoch. "Wie wär's mit seit jetzt? Wenn du mich der ganzen Welt als 'Dancer' vorstellst, kann ich dich ja auch Jai nennen. Und jetzt tanz, kleiner JaiJai."
Ich zerstrubbelte Jaidens Frisur im Vorbeigehen, während der nur lachte.
"Du hast das Interview also gesehen, was? Ich hätte nicht gedacht, dass du sofort auf die Bedeutung kommst."
Ich wollte gerade mit 'Für so blöd hälst du mich also.' antworten, aber da begann Timbaland schon wieder zu singen.
Erstaunlicherweise blieb Jaiden diesmal sogar im Takt, allerdings passten seine Bewegungen nur ganz entfernt zum Rhythmus. Ich sah im Augenwinkel, wie Fred mit dem Kopf schüttelte und dann die Hände darüber zusammenschlug. Irgendwie tat er mir schon ein bisschen leid. Er musste sich so vorkommen, als hätte er vollkommen versagt.
Auch 'Firework' von Katy Perry begann zuerst Jaiden. Diesmal schlug er sich erstaunlich gut. Er fand sofort in die Musik rein. Ich musste ihm ehrlich zugestehen, dass er gar nicht so schlecht war.
Aber das konnte ich nicht so auf mir sitzen lassen, und so brachte ich in meine Jazzdance-Choreo auch noch ein paar Turnübungen wie Radwende und Salto ein. Diese Runde war es trotz allem recht knapp. Zum Glück hatte ich noch etwas Vorsprung, denn ich glaubte kaum, dass Jaiden bei den zwei anderen Liedern besser war.
Dann begann das nächste Lied. 'Thrift Shop' von Macklemore und Ryan Lewis. Ich muss zugeben, das war jetzt nicht ganz fair. Wir hatten mit unserer Tanzgruppe gerade an einer Choreo dafür gearbeitet. Somit konnte ich es mir nicht nehmen lassen, jetzt genau diese Schrittfolgen zu tanzen. Gut, immerhin war auch ein Großteil der Schritte von mir. Aber eben nicht alles. Und das hier war auch ein Improvisations-Wettbewerb.
Ich liebe diese Hip Hop Schritte, die wir dafür benutzt hatten. In einer großen Gruppe würde das natürlich noch besser aussehen, als alleine.
"Okay, das zählt nicht. Du musst dir noch ein Lied aussuchen. Das war die Choreo meiner Tanzcrew." erklärte ich sofort.
"Na schön. Aber ich werde trotzdem noch dazu tanzen." entschied Jaiden daraufhin.
Und während er dann auch noch sein Glück zu Rhianna und 'Umbrella' versuchte, stand ich unauffällig auf und nahm mir einen der Regenschirme aus dem Schirmständer in der Ecke des Raumes.
In Gedanken ging ich die einzelnen Schritte zur Musik durch, damit ich wusste, wo es weiter ging wenn ich an der Reihe war.
Die Schritte des Musikvideos hatte ich mir vor zwei Jahren mal selbst beigebracht. Seitdem sind sie einfach nicht mehr aus meinem Kopf gegangen. Ich könnte sie wahrscheinlich sogar blind und ohne Musik tanzen.
"Warum habe ich nur das Gefühl zu verlieren?" fragte Jaiden wahrscheinlich mehr sich selbst.
"Vielleicht weil du es gerade tust. Und jetzt mach dich bitte bereit für deinen Untergang und geh zur Seite."
"Alles klar, D. Die Bühne gehört dir." Mit einer Verbeugung trat er einen Schritt zur Seite und ließ sich dann reichlich unelegant auf die Bank fallen.
Meine Choreo endete genau wie im Video damit, dass ich den Regenschirm nach vorne wegwarf. Ich war selbst erstaunt davon, wie gut ich das alles noch konnte.
"Es kann echt keiner behaupten, dass du nicht tanzen könntest."
"Sehr Diplomatische Aussage, JaiJai."
"Riley, das war unglaublich gut!" rief Kolan dagegen begeistert. Er zog mich in seine Arme und wirbelte mich einmal im Kreis. Völlig überrumpelt blieb ich an ihn gelehnt stehen und suchte nach meinem Gleichgewicht.
"Und jetzt bitte Michael Jackson mit 'Beat it'! Aber dieses Mal könnt ihr gleischzeitig tanzen." rief Fred von der Bank aus und ich machte mich schnell wieder von Kolan los.
Nachdem wir fertig waren, klatschten Jaiden und ich uns ab.
"Isch denke ihr wisst selber, wer gewonnen hat. Das war ziemlisch eindeutig."
"Okay, ich muss echt zugeben, dass ich keine Chance hatte. Aber du bist auch verdammt gut." So wie er das sagte, hatte es Jaiden ziemlich viel Überwindung gekostet, das jetzt zu sagen.
"Danke. Aber ehrlich mal: Du bist Musiker, und dann bleibst du in vier von sechs Fällen nicht mal im Takt. Da ist wohl irgendwas nicht ganz richtig gelaufen."
"Das ist jetzt vielleicht peinlich, aber das war wirklich noch nie meine stärke. Manchmal wenn ich Songs schreibe, brauche ich sogar ein Metrum um nicht schneller zu werden. Apropos Song. Wir sollten vielleicht mal anfangen und rüber ins Tonstudio gehen. Fred, wir sehen uns dann morgen wieder."
"Bis dann ihr beiden. Und viel Glück wünsche isch dir mit diesen beiden Chaoten, Riley! Au revoir!" rief Fred noch, bevor er seine riesige Sporttasche schulterte und durch die Tür auf den Flur verschwand.
Danke Fred, ich glaube, das kann ich sehr gut gebrauchen!
"Hey Leute. Hört mal kurz zu. Das ist D, sie wird die weibliche Stimme singen. Und das sind mein Schlagzeuger Louis, mein Gitarrist Tom, Mike hier wird den Song gleich aufnehmen und mischen und das ist mein Manager und Produzent Steven Landow." stellte Jaiden uns einander vor.
Ich hatte mich kurz geduscht, wieder meine Jeans und den Pullover angezogen und dann waren wir zu dritt in das Tonstudio gegangen.
Darunter verstand sich ein kleiner Raum mit einem Mischpult mit Hunderten von Reglern und Knöpfen, der durch eine Glasscheibe von einem viel größeren Raum getrennt wurde. Darin befanden sich diverse Instrumente und mehrere Mikrofone und Kopfhörer.
"Hi." Ertönte es einstimmig von allen.
"Du hast Jaiden anscheinend ganz schön beeindruckt mit deiner Stimme. Ich hoffe du enttäuschst mich nicht und lässt mich meine Entscheidung nicht bereuen."
Super, von Erfolgsdruck hat der auch noch nie was gehört.
Ganz gelassen, aber mit argwöhnischem Blick sah mich Mr. Landow an. Er schien mir ziemlich unfreundlich zu sein.
"Ich komme später noch mal vorbei, ich muss noch einige Dinge mit Mrs. Richards wegen der Vermarktung von deinem Album besprechen. Bis dann und viel Glück."
Der Typ war mir unsympathisch. Aber etwas ganz anderes hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Als er 'Mrs. Richards' gesagt hat, hatte ich mich zuerst angesprochen gefühlt. Dann waren mir aber sofort wieder die Worte meiner Mutter in den Sinn gekommen. Sie habe heute ein Gespräch wegen dem Album von irgend einem Superstar. Ich hätte wissen müssen, dass sie damit nur Jaiden meinen konnte!
"Fuck!" fluchte ich und fasste mit den Händen an meinen Kopf, als Jaidens Produzent den Raum verlassen hatte. Erst dann wurde ich mir der anderen Leute im Zimmer bewusst, die mich alle etwas irritiert ansahen.
Ich beugte mich zu Kolan und stellte mich auf die Zehenspitzen. "Meine Mum!" flüsterte ich in sein Ohr, und da schien es bei ihm 'Klick' zu machen.
"Shit!" fluchte auch er, ebenso wie Jaiden, dem ich das selbe ins Ohr flüsterte. Ich war mir nicht so sicher, ob seine Band meinen Nachnamen wissen sollte, wenn ich unerkannt bleiben wollte. Ansonsten hätte ich meine Bedenken auch gleich Laut ausgesprochen.
"Was machen wir jetzt?" fragte ich an Jaiden gewandt, während seine Band immer noch verwirrt uns drei ansah.
Warum konnte ich auch keine Mutter haben, die einen normalen Beruf wie Kindergärtnerin oder Krankenschwester hatte. Nein, stattdessen war meine Mutter selbstständige Geschäftsfrau in der Marketing-Branche und noch dazu ziemlich erfolgreich.
"Warum musstest du auch unbedingt SIE engagieren?" fragte ich mich selbst.
"Weil sie gut ist. Ich denke wir sollten einfach anfangen. Vielleicht kommt sie ja auch gar nicht her."
Super Antwort, danke Jaiden!
"Ja, dass sie gut ist weiß ich doch selbst. Aber was ist, wenn sie doch herkommt?"
Ich meine: Jetzt ernsthaft, was soll ich dann machen? Meine Mum würde mich auch von hinten erkennen. Meine Haare würden mich verraten und außerdem kennt sie doch auch meine Stimme. Sie hatte mich ja schließlich auf die Welt gebracht!
"Warte. Wir hängen das hier an die Tür und hoffen das Beste." 'Aufnahmen. Bitte nicht stören!' stand da auf einem Zettel. Ja, mehr als das Beste zu hoffen konnte ich wohl wirklich nicht tun.
"So, nachdem wir die Melodie zu den Strophen haben, kommen wir zum Refrain. Den hab ich mir etwas schneller vorgestellt, ungefähr so." Jaiden spielte eine Melodie auf dem Klavier. Er wiederholte sie immer wieder und gab dann Anweisungen an seine Band, was sie dazu spielen sollten. Man merkte sofort, dass der das nicht zum ersten mal machte. Er war voll in seinem Element.
"Okay. Dancer, den zweiten Refrain singst du alleine und die letzten beiden singen wir zusammen. Steig einfach ein, wenn du denkst dass du den Text drauf hast." wies er nun auch mich an.
Kolan, der auf eine Sitzsack in der Ecke des Raumes saß, streckte mir seine Zunge raus. Ich wusste, dass er mich damit aufheitern wollte, aber es funktionierte trotzdem. Ich war einfach total aufgeregt und nervös. Ich musste die zweite Strophe und den sogenannten Bridge singen, sowie den Refrain. Im großen und ganzen ging es in dem Lied darum, dass Jaiden von seiner großen Liebe immer wieder davongestoßen wurde, bis sie ihm dann am Ende doch gesteht, dass sie in ihn verliebt ist und es die ganze Zeit nur nicht wahr haben wollte.
"Soll ich im Refrain nicht mit Gitarre spielen, Jai?" fragte ich, während die Band erneut die Melodie wiederholte und Jaiden dazu sang. Er stoppte. "Doch, aber das zeige ich dir wenn die anderen 'ne kurze Pause machen. Ich will erstmal, dass du den Text lernst. Komm, wir singen auch zusammen."
"Das schaffst du, Riley." flüsterte Kolan mir ins Ohr und legte mir seine Hand auf die Schulter. Ich hatte mich so erschreckt, dass ich zusammenzuckte und ihn fast ausgeknockt hätte.
"Oh mein Gott, mach das nie wieder!" zischte ich ihm zu.
Mit einem zögerlichen "Sorry." und einem riesengroßen Grinsen verzog er sich wieder in seine Ecke auf den Sitzsack.
Nachdem sich mein Herzschlag wieder beruhigt hatte stieg ich in den Text mit ein. Mitten drin wanderte Jaiden mit seinen Händen auf den tasten eine Oktave höher und hörte auf zu singen. Ich versuchte, mich nicht irritieren zu lassen und sang die letzte Zeile zu ende.
"Also jetzt weiß ich, warum du wolltest, dass sie mit dir singt. Deine Stimme ist hammer!" meinte Tom. Mike und Louis stimmten ihm zu.
"Danke." Ich konnte praktisch sehen, wie ich langsam rot wurde.
Ein Grund, warum ich meine langen Haare so liebe, ist, dass man sich so gut dahinter verstecken kann. Und genau das war es, was ich jetzt tat.
Allerdings konnte ich auch nicht verleugnen, dass mir das ganze unglaublich viel Spaß machte.
"Ich glaube, das wird einer der besten Songs die ich je geschrieben habe." lobte Jaiden sich selbst.
"Nimm den Mund nur nicht zu voll. Warten wir erst mal, bis das Album draußen ist." erwiderte Kolan darauf.
"Das kannst du ja grade sagen, Mr. Pla…" mitten im Satz hielt er inne und ihm schien etwas eingefallen zu sein, denn danach schüttelte er nur den Kopf. "Wie auch immer. Ihr könnt kurz 'ne Pause machen und ich zeig ihr die Gitarrengriffe."
Was sollte das denn eben schon wieder sein?
Nachdem ich die Akkorde und den Text perfekt beherrschte, wurden erstmal nur die Instrumente aufgenommen. Mike erklärte mir, dass wir den Text gleich in eines dieser großen schwarzen Mikrofone singen müssten und über Kopfhörer dann die Instrumentalversion eingespielt bekommen würden.
"… I know it's hard to understand, but it's true: I love you." vertönten die letzten Klänge unserer beider Stimmen.
"Alles klar, Leute. Das war's, wir sind fertig." rief Mike begeistert von der andern Seite der Glasscheibe.
Jaiden und ich zogen die überdimensionalen Kopfhörer aus und klatschten uns ab. Gentleman-like hielt er mir die Tür auf.
"Ich hätte nicht gedacht, dass du mir in einem Lied offenbaren würdest, wie du für mich empfindest." Spöttisch sah er mich an.
Lächelnd ging ich darauf ein. "Und ich wusste gar nicht, dass du so schnulzige Liebeslieder schreibst, für die du dir extra eine Co-Stimme sucht, damit dir überhaupt irgendwer sagt, dass er dich liebt."
Ich sah Jaidens Band, Freunde und Kollegen hinter hervor gehaltener Hand lachen und konnte auch mein Grinsen nicht mehr verbergen.
"Aber D, mein Schatz! Empfindest du denn gar nichts mehr für mich?" tat er beleidigt.
"Nein, tut mir leid. Und jetzt, wo ich unsere Trennung doch offiziell bekannt gegeben habe, solltest du am besten direkt ein Lied über den Trennungsschmerz den du verspürst schreiben."
"Du kaltherzige, kleine Tänzerin! Warum musstest du mir das Herz brechen?" fragte er total ernst und mit traurigem Blick.
Die anderen grinsten uns immer noch dümmlich an. Ihnen fehlte wahrscheinlich noch eine Tüte Popcorn. Aber dafür musste es jetzt einfach Rache geben. Also schwang ich mich blitzschnell auf seinen Rücken, drückte mich mit meinen Händen auf seine Schultern und saß in wenigen Sekunden auf seinen Schultern. Mein einziger richtiger Halt waren seine Haare. "Weil du mich klein genannt hast! Aber so wie ich das sehe, bin ich gerade größer als du." lachte ich daraufhin über die verdutzten Gesichter der anderen.
Nur Kolan schien nicht ganz so überrascht. Was auch kein Wunder war, immerhin hatte er Live miterlebt, wie ich meinen verlogenen Ex-Freund von Footballspieler zu Boden gebracht habe.
"Ist ja gut, ich hab's kapiert. Du bist nicht klein. Aber du zerstörst gerade meine Frisur." jammerte Jaiden.
Langsam kletterte ich wieder von ihm herunter.
"Och, sieht doch gar nicht so schlimm aus. Aber wenn du willst kann ich dir auch gerne kleine Zöpfchen flechten!" bot ich ihm Schadenfroh an.
"Bloß nicht!" rief er aufgebracht und stürmte zu einem Spiegel. Alle lachten.
Nachdem Jaiden seine Haare wieder gerichtet hatte, verabschiedeten Kolan und ich uns von allen.
Ich fühlte mich zwar wohl hier und wäre gerne länger geblieben, aber Jaiden musste jetzt erst noch was mit meiner Mutter und seine Manager klären und da konnte ich ja schlecht mitgehen. Danach hatte er noch ein Fotoshooting für das Cover.
"Apropos Fotos. Ich hab meine Kamera dabei und wollte noch ein paar Fotos von hier machen."
"Klar, mach ruhig." war die Antwort der Band.
"Ich hab aber auch schon welche gemacht, auch während euren Aufnahmen. Mir war langweilig, weißt du." Kolan schien etwas verlegen. Es war mir aber tatsächlich nicht aufgefallen.
"Und da dachtest du, du durchsuchst einfach mal meine Tasche, was?" fragte ich ein wenig sauer.
"Na ja, sie war nicht ganz zu und dann… Es tut mir leid." Kolans Blick war so reuevoll und bittend, dass ich ihm einfach vergeben musste. Ich starrte ihn noch einen Moment böse an, dann sagte ich freundlich: "Mach das einfach nie wieder. Und wenn du dich jetzt eh schon mit der Kamera auskennst, kannst du sicher auch noch ein Gruppenbild von uns allen machen."
Wir stapelten einen Stuhl auf einem kleinen Tisch, direkt neben der Tür, und legten dann noch mehrere Bücher darauf. Ich stellte in der Kamera den Selbstauslöser ein, der alle zehn Sekunden ein Bild macht. Dan drückte ich auf 'Start' und wir warfen uns alle in die verrücktesten Posen.
Nur das erste Bild sah wie ein gesittetes Fan-Foto aus. Grimassen, Handstand, Huckepack. Alles nur ein paar der Fotos.
Die Jungs waren echt cool drauf und wir hatten eine Menge Spaß. Aber dann wurde es Zeit und Jaiden musste weiter. Ich packte alle meine Sachen zusammen, warf noch ein letztes "Ciao!" in den Raum und versteckte mich dann wieder unter Kapuze und Cappy. Ich schulterte meine Gitarre.
Kolan und ich liefen bis in die Eingangshalle. Abrupt blieb ich stehen.
"Diese Leute sind doch unglaublich!" murmelte ich zu mir selbst. Denn vor der Tür standen immer noch mindestens ein dutzend Fotografen und Reporter.
Kolan seufzte. "Die sind echt hartnäckig. Ich hol das Auto, warte noch kurz hier drinnen."
Ich nickte. Aber dieses mal hatte ich keine Angst mehr vor der Menschenmasse vor der Tür. Und ich hatte da auch schon eine Idee.
Ich holte meine Kamera heraus und versicherte mich, dass ich alles dabei hatte. Die Sonnenbrille ließ ich auf meiner Nase sitzen.
Dann fuhr der protzige Wagen vor. Die lauten Stimmen schlugen mir entgegen, als ich die Eingangstür öffnete. Lächelnd knipste ich Bilder von meinen ganz persönlichen Paparazzis und kämpfte mich zur Autotür vor. Da ich aber eingekesselt wurde, gab ich Kolan ein Zeichen, dass er auf den Beifahrersitz rutschen sollte. Von innen öffnete er die Autotür und ich schwang mich auf den Sitz, während ich ihm schon meine Gitarre gab.
Kurz wank ich noch mit der Hand, dann schloss ich die Autotür und trat auf das Gaspedal. "Anschnallen!" wies ich Kolan an und lenkte den Wagen auf die Straße.
"Ich wusste gar nicht, dass du Autofahren kannst." Es klang mehr wie eine Frage.
Ich drückte ihm mein restliches Zeug in die Hand und er legte alles auf die Rückbank. "Du hast ja auch nie gefragt. Außerdem, wenn du doch schon in meiner Tasche rumschnüffeln musst, dann hättest du dir ja wenigstens auch mein Portemonnaie ansehen können." Es schwang kein Vorwurf in meiner Stimme mit, sondern war eher spöttisch gemeint.
Die Stimmung war immer noch ausgelassen und wir alberten die ganze Zeit herum. Kolan lenkte mich bis zum Supermarkt, wo wir noch kurz einkauften, dann ging er wieder ans Steuer. Er hatte sich ja vorgenommen heute Abend für mich zu kochen. Ob das etwas werden würde war die andere Frage.
"Whoa, Max! Ist ja schon gut, ich bin doch wieder da!" versuchte Kolan den riesigen Hund zu beruhigen, der schwanzwedelnd und hechelnd in großen Sprüngen auf uns zu rannte. Sein langes, zotteliges, schwarzes Fell schwang dabei mit jeder Bewegung mit.
Gerade als ich dachte, dass er mich umrennen wollte, ließ er sich vor mir auf den Boden fallen und sah mich mit seinen großen Kulleraugen an. Ich hatte den kleinen Riesen sofort ins Herz geschlossen.
"Wem gehört der Hund?" fragte ich an Kolan gewandt, während ich mich zu jenem Hund herunterbeugte und ihn knuddelte. Dabei viel mir auf, dass seine eine Vorderpfote weiß war. Es sah so aus als wäre er durch Kreide gelaufen.
Kolan balancierte die Tüten mit den Einkäufen durch das Haus, während ich ihm folgte. "Max gehört mir. Ich habe ihn vor knapp zwei Jahren als Welpe aus dem Tierheim geholt. Er galt als schwer vermittelbar, weil er recht groß werden sollte und auf vieles Aggressiv reagiert hat. Aber wir haben uns schnell angefreundet, nicht wahr, dicker?" erklärte er auf dem Weg zur Küche.
"Also groß ist er ja wirklich, aber dass er aggressiv sein soll kann ich mir nicht vorstellen." Ich strubbelte Max noch mal durchs Fell und setzte mich dann auf die Arbeitsplatte. Dieser Hund war nichts als Gehorsamkeit und Vertrauen in Person. Na ja, eher Tier. Aber nicht mal theoretisch konnte ich mir vorstellen wie er auf irgendwas losgeht oder jemanden anfällt.
"Ehrlich gesagt frage ich mich ja gerade, warum er dich noch nicht angeknurrt hat. Selbst meine Eltern bellt er manchmal noch an. Und bei Mac knurrt er immer." Kolan räumte gerade die letzte Packung Spagetti in den Schrank und begann dann alles auszuräumen, was wir zum Kochen brauchen würden. So zielstrebig wie er vorging, machte er das tatsächlich nicht zum ersten mal.
"Vielleicht hat dein Hund auch einfach nur einen besonders guten Geschmack. Oder, Max?" Wie zur Zustimmung bellte dieser einmal und sah von seinem Körbchen in der Ecke des Raumes auf.
Ich muss ja ehrlich gestehen, ich stehe voll auf Hunde. Leider konnte ich nie einen haben, weil mein Vater eine Tierhaarallergie hat. Klar kann ich das verstehen, trotzdem ist das einer von diesen unerfüllten Wünschen, die man sich verwirklichen will, sobald man von zuhause ausgezogen ist.
"Also, was genau zauberst du uns denn jetzt?" fragte ich gespannt und beobachtete Kolan weiter.
"Lass dich überraschen." war aber alles was ich dazu gesagt bekam.
"Darf ich dir denn bei der Überraschung trotzdem helfen?"
Das hätte ich wohl besser nicht gefragt.
Man musste dazu sagen, ich bin wirklich eine miese Köchin. Ich ruinierte so ziemlich jedes Essen das es gibt. Nicht mal Rührei konnte ich machen, ohne dass es versalzen oder viel zu scharf war. Und wenn es geschmacklich einmal ok war, dann hatte ich es angebrannt. In unserem alten Haus hatte ich damit mal fast die Küche abgefackelt. Aber gut, soweit dazu.
Es passierte als wir die Muffins vorbereiteten. Bis jetzt war alles gut verlaufen. Aber als ich die einfache Aufgabe bekam, Mehl in eine Schüssel zu schütten, bekann das Chaos.
Etwas zu schwungvoll kippte ich das Mehl und eine Mehlwolke stieg empor. Als das Mehl langsam zu Boden sank, war alles im Umkreis von eineinhalb Metern unter einer dünnen, weißen Schicht begraben, inklusive mir. Kolan, der gerade Eier aus dem Kühlschrank geholt hatte, und somit der Mehl-Attacke entkommen war, lachte sich halb schlapp. Okay, irgendwie musste ich schon zugeben, dass es lustig war. Auch wenn ich besser nicht wissen wollte wie ich aussah.
Ich hustete einmal, da ich auch etwas Mehl eingeatmet hatte, und wirbelte damit gleichzeitig wieder etwas Mehl auf. Jetzt musste auch ich anfangen zu lachen.
Unser Lachen erfüllte den Raum, während Kolan auf mich zukam und dabei ausrutschte. Er lachte noch lauter, jetzt auch voll Mehl und zusätzlich noch mit einem kaputten Ei auf seinem T-Shirt.
Ich reicht ihm die Hand um ihm aufzuhelfen, doch stattdessen zerdrückte er das zweite Ei in meiner Hand und zog mich nach unten, so wie ich es am Strand gemacht hatte.
Ich versuchte mich irgendwie festzuhalten, aber ich erwischte nur eine geöffnete Kakaopulver-Packung, die ich auf meinem Weg nach unten auch noch über uns beiden verteilte.
Perfekter kann man eigentlich nichts dreckig machen.
Ich landete auf Kolan und er fiel hinten über. Meinen Kopf ließ ich auf seine Brust fallen und hob ihn dann mit einem "Ihh." wieder an. An meiner Wange klebte jetzt auch Ei.
"Du miese Ratte!" fluchte ich lachend und beugte mich ein bisschen vor um im auch Ei ins Gesicht zu schmieren. "Okay, okay, du hast gewonnen!" jammerte Kolan während er versuchte mich von ihm fernzuhalten.
Ich hielt inne und wir sahen uns einen Moment lang in die Augen. Kolans Hände ruhten auf meiner Hüfte, während ich immer noch halb auf ihm lag.
Ganz unbewusst wanderte mein Kopf näher zu seinem und mein Blick huschte zu seinen Lippen. Mein Herz pochte immer schneller und ich konnte schon seinen Atem spüren, als er über mein Gesicht streifte, so nah waren wir uns.
Plötzlich fing Max an zu knurren und wir fuhren auseinander.
"Hey Alter, bist du zu hause?" rief eine mir bekannte Stimme. Ich konnte sie allerdings erst zuordnen, als Marco im Türrahmen auftauchte.
Kolan und ich hatten bereits einen halben Meter Abstand zwischen uns gebracht und er half mir gerade aufzustehen.
Ich zuckte zusammen, als Kolans bester Freund zu lachen begann. Es liefen ihm Tränen die Wangen herunter und er stützte sich in der Tür ab und konnte einfach nicht aufhören.
Obwohl ich noch immer verwirrt war, wegen dem was vor wenigen Sekunden fast passiert wäre, konnte ich dem inneren drang nicht widerstehen. Wenn er schon so schaden freudig war, konnte er auch wenigstens an unserem Leid Teil haben.
Mac bemerkte nicht, wie ich näher kam und erschreckte sich, als ich meine Arme um ihn schlang und somit auch mit dem Mehl-Kakao-Ei-Gemisch beschmierte.
Er hörte auf zu lachen und sah angewidert an sich herunter. Darauf hin mussten wir alle drei grinsen.
Was machst du denn hier, Riley?" fragte Mac.
"Backen." antwortete ich, es war ja auch nicht gelogen. Vielleicht war es nur nicht ganz richtig.
"Aber jetzt gehen wir duschen. Bevor wir noch das ganze Haus einsauen." bestimmte Kolan, bückte sich und hob mich über seine Schulter wie einen Kartoffelsack. Schon wieder.
Ich war viel zu perplex um mich zu wehren. Er trug mich den Flur entlang in ein Badezimmer, ließ Mac einfach ohne Kommentar in der Küche stehen. In der Dusche stellte er mich wieder ab, dann quetschte er sich zu mir in die Kabine und schloss die Tür.
Was soll das denn jetzt werden?
Abwartend sah ich zu ihm auf. Es trennten uns gerade mal 20 Zentimeter. Er beugte sich vor und griff hinter mich, gleichzeitig legte er seinen linken Arm um meinen Körper, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Ich war überrumpelt von dieser plötzlichen Nähe zu Kolan, obwohl ich es eigentlich gar nicht sein bräuchte. Wir hatten immerhin im selben Bett geschlafen.
Noch mehr war ich aber überrascht davon, wie wenig es mir ausmachte, wie sehr es mir sogar gefiel; wie sehr mir seine Berührung gefiel.
Das Wasser prasselte auf uns nieder und schwemmte die ersten dreckigen Reste von unseren Körpern. Kolan ließ mich wieder los und ich musste zugeben, dass ich sogar ein wenig enttäuscht war. Was geht denn schon wieder in deinem Kopf ab, Riley?, fragte ich mich selbst.
"Vielleicht habe ich das nicht so ganz durchdacht…" merkte er mit einem Blick auf mein T-Shirt an.
Wir waren bereits nass bis auf die Haut und ich wusste auch ohne an mir herunter zu sehen, dass mein weißes Oberteil durchsichtig war.
Aber was genau hatte er sich eigentlich überhaupt dabei gedacht? Ich wurde aus diesem Kerl echt nicht schlau.
Ich schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Als ich sie wieder öffnete, war Kolan gerade dabei, sich mühselig sein Oberteil auszuziehen. Als er es kurz darauf geschafft hatte, ließ er es einfach auf den Boden fallen. Dann zog er auch seine Hose aus und holte hinter sich eine Flasche Duschgel hervor. Die Boxershorts behielt er aber zum Glück an.
"Du solltest deine dreckigen Sachen auch ausziehen, ich geb' dir dann was von mir. Sonst wirst du nie sauber werden." riet Kolan mir.
Er hatte recht, trotzdem hielt ich noch einen Moment inne. Das hier konnte man jetzt also unter gemeinsam duschen verstehen. Vielleicht hätte es romantisch sein müssen, aber eigentlich war es eher lustig.
Meine Sachen auszuziehen stellte sich als schwieriger dar, als gedacht. Was auch kein Wunder war, wenn man nicht mal genug Platz hat um sich umzudrehen. Meine Hose hatte ich nach einiger Anstrengung ausbekommen, aber mit dem Shirt sah das schlecht aus, ohne Kolan meinen Arm ins Gesicht zu strecken.
"Halt still, so wird das nichts." erklärte Kolan und ich befolgte seiner Anweisung. Ich hatte eh keine andere Wahl. "Mach die Arme hoch:" befahl er und zog mir dann das Shirt über den Kopf.
"Danke." murmelte ich und konnte spüren wie ich rot wurde. Ich versteckte mein Gesicht unter meinen Haaren, damit er es nicht mitbekam.
"Du musst doch nicht rot werden." Er grinste mich mit seinem schiefen lächeln an. "Ich bin eh so gut wie weg. Ich hab aber nur mein Duschgel da, wenn es dir nichts ausmacht…"
Ich konnte nur nicken, den Blick immer noch nach unten gerichtet. Eigentlich gefiel mir sogar die Vorstellung, nach ihm zu riechen. Er hob mit einem Finger mein Kinn an und beugte sich zu mir.
Die Berührung unserer Lippen war so flüchtig, so sanft, dass ich mir sicher war, dass ich sie mir nur eingebildet hatte. Wieso sollte er mich auch küssen wollen?
Trotzdem stand ich noch Sekunden nachdem er die Dusche verlassen hatte reglos da und ließ das Wasser auf mich tropfen. Mein Kopf war leer, obwohl ich doch so viel hätte hinterfragen müssen. Ich konnte nur an diesen einen winzigen Augenblick denken.
Langsam kam die Bewegung zurück in meinen Körper. Wie in Trance duschte ich mich mit dem Männer-Duschgel und benutzte dann auch noch sein Shampoo, anders würde ich meine Haare im Leben nicht sauber kriegen.
Als ich das Wasser ausstellte und die Duschkabine verließ, fand ich sofort ein Handtuch und daneben die Klamotten, die ich anziehen konnte. Da ich aber keine Unterwäsche hatte und meine nass war, musste ich es wohl oder übel ohne überleben.
In das übergroße T-Shirt machte ich unten einen Knoten und die Hose krempelte ich mehrmals um.
Dann hängte ich alle nassen Handtücher und die Klamotten auf einen Wäscheständer zum trocknen und machte mich auf den weg zurück in die Küche.
Mittlerweile hatte ich mir oft und lange genug eingeredet, dass Kolan mich nicht geküsst hatte, um es auch wirklich zu glauben. Als ich ihn dann aber vor mir stehen sah, bekam ich bereits die ersten Zweifel.
Über seine linke Schulter hatte er ein Geschirrtuch hängen, die Haare immer noch tropfnass. Die Jogginghose saß locker auf seinen Hüften.
Es duftete nach den verschiedensten Leckereien. Selbst die fast verunglückten Muffins befanden sich schon im Ofen. Ich hatte wohl doch länger geduscht.
Ich widerstand dem Drang, ihm über die Schulter zu schauen und zu sehen was er machte aus mehreren Gründen. Erstens war ich immer noch viel zu verwirrt und zweitens wusste ich nicht was diesmal passieren würde, wenn wir uns zu nah kamen.
Als hätte er gemerkt, dass ich anwesend war, drehte er sich um und lächelte. "Essen ist in 15 Minuten fertig."
"Soll ich den Tisch decken?" fragte ich, ohne mich aus der Tür zu bewegen.
"Nicht nötig, das hat Mac schon gemacht."
"Ach stimmt ja, wo ist er eigentlich?"
"Seine Mum hat ihn angerufen, er muss auf seine kleine Schwester aufpassen."
Ich nahm die Antwort mit einem nicken hin, allerdings ergab das nicht sehr viel Sinn, in meinen Augen. Ich konnte aber auch nicht einfach so über ihn urteilen, dazu kannte ich ihn und seine Familie einfach zu wenig.
Ich merke selbst wie meine Gedanken wieder zu Kolan abdrifteten und schüttelte schnell meinen Kopf um das zu verhindern.
Es gelang mir leider nicht.
Um wenigstens irgendwas zu tun zu haben, flocht ich meine Haare zu einem Mozartzopf und summte dabei vor mich hin. Ich betrachtete meine Haarspitzen ausgiebig und stellte fest, dass ich sie unbedingt mal wieder schneiden müsste. Deshalb bemerkte ich auch nicht, als Kolan sich vor mich stellte und ansprach.
"Essen ist fertig."
Gemeinsam trugen wir die ganzen Töpfe und Schüsseln rüber zum Esstisch im Wohnzimmer. Und mit jedem weiteren Topf fragte ich mich mehr, wer das überhaupt alles essen sollte.
Dazu kam noch, dass es jetzt irgendwie komisch war, zwischen uns beiden. "Vielleicht haben wir doch etwas zu viel gekocht…" sprach nun Kolan auch meine Bedenken aus.
"Das gleiche habe ich mir auch grade gedacht."
Ganz der Gentleman zog er den Stuhl für mich zurück und wartete, bis ich mich gesetzt hatte. Dann nahm er selbst platz und zog den ersten Topf heran. Wir arbeiteten uns von Risotto, über Spätzle und Frikadellen bis hin zu Kaiserschmarren mit Kompott und selbstgemachtem Eis, während die Stimmung immer lockerer uns ausgelassener wurde. Mit sicherheit lag das auch an der Flasche Wein, die bereits halb leer zischen uns beiden stand.
Dass von allem noch mehr als die hälfte übrig hatten, war zu dieser Zeit mein kleinstes Problem. Ich konnte mich gar nicht wirklich entscheiden, was mir am besten geschmeckt hatte. Das absolute Highlight waren aber die Muffins.
Ich war bereits pappsatt, aber ich konnte trotzdem nicht aufhören den herrlichen Schoko-Traum auf meiner Zunge zergehen zu lassen. "Ich bin so satt!" jammerte ich und nahm mir direkt noch einen Bissen.
"Dann hör doch auf zu essen." Es klang mehr wie eine frage und ich musste lachen.
"Das geht nicht! Es schmeckt zu gut!" Ich kicherte wie ein kleines Mädchen.
Kolan beugte sich vor und streckte seinen Arm aus. "Du hast da was." Erklärte er und fuhr mit seinem Finger sachte über meine Nasenspitze. Dann hielt er mir den Finger hin und ich leckte zögerlich darüber. Ich spürte, wie ich leicht rot wurde. Zu blöd, dass meine Haare in einem Zopf steckten.
"Du bist so süß, wenn du rot wirst." sprach Kolan leise und strich dabei sanft über meine Wange. Ich glühte augenblicklich noch mehr und senkte den Blick. Langsam zog er seine Hand zurück, was eine kalte Stelle auf meiner Haut hinterließ.
Plötzlich ging das Licht aus.
Draußen donnerte es laut und der Raum wurde kurzzeitig von einem Blitz erhellt.
Ich zuckte zusammen.
Ich hasste Gewitter schon immer, warum kann ich nicht sagen. Ich schloss die Augen und zählte in Gedanken schon die Sekunden bis zum nächsten Donner.
"Warte kurz hier, ich überprüfe die Sicherungen." erklärte Kolan und ich nahm wahr, wie er seinen Stuhl zurechtrückte und sich dann fortbewegte.
Ich begann zu zittern und hoffe einfach, dass er schnell wiederkam. Ich zählte zwei Blitze und einen Donnerschlag, ehe ich weiches Hundefell an meinem Arm spürte und von einer kalten Schnauze angestupst wurde.
Nach drei weiteren Blitzen und fünf Donnerschlägen wurde ich von einer Taschenlampe angestrahlt.
"Mit der Sicherung ist alles okay, es gibt mal wieder einen Stromausfall. Ich denke es sollte aber nicht mehr allzu lange dauern bis wir wieder… Hey, du weinst ja. Komm her, Cat, es ist ja schon gut."
Ich hatte es nicht gemerkt, als mir stumm die Tränen flossen, aber er hatte recht, meine Wangen waren feucht. Widerstandslos ließ ich mich von ihm hochheben. Ich hätte nicht mal die Kraft dafür gehabt, mich zu wehren. Außerdem tat die Berührung viel zu gut.
Während wir uns durch das Haus bewegten, wurde ich langsam wieder ruhiger und die Tränen versiegten.
"Tut mir echt leid, dass ich immer heulen muss, wenn ich hier bin." flüsterte ich gegen seine Brust und musste fast ein bisschen lachen.
"Ist schon gut, ich bin doch gerne für dich da." war alles, was er daraufhin sagte. Diese wenigen Worte ließen mich schwach lächeln, noch immer musste ich zu sehr zittern um darauf etwas antworten zu können.
Er setzte mich auf dem Bett ab, hockte sich neben mich und zog mich direkt wieder in seine Arme, weil ich mich schon wieder vor einem Blitz erschrocken hatte.
"Du hast echt angst vor Gewittern, oder?" fragte er ernst.
Ich nickte. "Aber bitte lach nicht, das ist total peinlich."
Dank Kolan beruhigte ich mich nach und nach. Irgendwann klingelte mein Handy und ich fummelte es umständlich aus meiner Hosentasche, ohne mich von Kolan lösen zu müssen.
"Geht es dir gut, Riley?" hörte ich die besorgte Stimme meiner Mutter fragen.
"Ja Mum, alles ist okay. Ich bin ja nicht alleine."
"Gut. Hör zu, ich will nicht, dass ihr bei dem Unwetter nach draußen geht, wenn du die Möglichkeit hast, dann bleib die Nacht über in der Stadt. Dad meinte, sie würden nicht vor zehn Uhr losfahren, also sollte das kein Problem sein. Du solltest aber auch nicht viel später hier herkommen. Na dann, ich will euch nicht weiter stören. Bis Morgen."
Und schon hatte sie wieder aufgelegt. Manchmal verstand ich meine Mutter echt nicht.
Aber daran, dass ich bei dem Gewitter sowieso keinen Fuß vor die Tür gesetzt hätte, hatte sie anscheinend nicht gedacht.
"Sie will mich anscheinend loswerden." erklärte ich Kolan. "Kann ich hier übernachten? Sie will nicht dass ich nach draußen gehe. Was ich abgesehen davon eh nicht vorhatte."
"Klar, kannst du. Ist eh schon total spät."
"Jetzt wo du das so sagt bin ich wirklich schon total müde. Glaubst du der Strom ist wieder da?" fragte ich hoffnungsvoll.
Er schob mich sanft ein Stück von sich weg und stand auf. "Ausprobieren schadet ja nicht."
Er drückte mehrmals auf dem Lichtschalter herum, aber nichts passierte. Das hieß dann wohl nein.
"Ich werde ganz schnell die Sachen vom Tisch räumen bevor Max sie aufgefressen hat und komme dann wieder. Leg dich am besten schon mal schlafen." Ohne auf meine Antwort zu warten war er verschwunden.
Ich wollte mich zusammenreißen, aber einfach war es nicht. Ohne ihn war wieder Platz für die Angst, die Kolan durch seine Anwesenheit vertrieben hatte.
Ich zog meine Beine ganz dicht an meinen Körper und umklammerte sie mit meinen Armen. Dann schloss ich die Augen und zählte die Sekunden bis Kolan wieder da war. Bis dahin bewegte ich mich keinen Zentimeter mehr.
Es waren genau 253 Sekunden, dann wurde die Tür geöffnet und das Licht ging an.
Wir hatten also in den knapp vier Minuten wieder Strom bekommen.
Erleichtert über diese Erkenntnis seufzte ich auf und ließ mich seitlich auf das weiche Bett fallen.
Ich sah Kolan zu wie er sein Shirt auf den Stuhl warf, das Licht wieder aus machte und sich dann neben mich legte. Als ich mich zur Seite drehte, legte Kolan seinen Arm um mich. Seine Hand ruhte dabei auf meiner Hüfte und streichelte diese sanft auf und ab. Mein Herz ging immer schneller und ich hielt den Atem kurz an, weil ich nicht wusste was er jetzt vorhatte. Ich spürte seinen warmen Atem über meinen Nacken streichen, dann senkte er seine Lippen auf meine Haut.
Ich genoss seine Nähe viel zu sehr, auch wenn ich mir selbst noch nicht sicher war, wie bedeutend er für mich war.
Es war ohnehin zu spät, ich konnte es nun nicht mehr leugnen. Er war mir verdammt wichtig geworden.
Das einzige Problem war jetzt nur, dass ich Zeit brauchen würde.
Zeit, um das alles irgendwie mit mir zu vereinbaren.
Zeit, um zu wissen wie ich zu ihm stand. Zeit, um mich zu entscheiden.
Und trotzdem wusste ich, dass es dafür längst zu spät war. Und mir wurde klar, dass wir beide wussten, dass sich nun etwas verändert hatte.
Dass es kein zurück mehr gab.
Dass wir uns doch schon längst entschieden hatten.
Meine verworrenen Gedanken vermischten sich im Traum und verschwammen ganz.
"Gute Nacht, Kätzchen." wisperte er mir ins Ohr, rutschte aber kein bisschen von meiner Seite.
"Schlaf gut." flüsterte ich zurück während sich die Finger meiner Hand wie von selbst mit seinen verschränkten und ich mich enger an ihn kuschelte.
Und so schlief ich letztendlich ein, eng an Kolan geschmiegt und mit der Hoffnung, dass er mich nie wieder loslassen würde.
~Für dich Julian. Du wirst immer in unseren Herzen bleiben.~
In der Nachte wachte ich nur einmal auf. Mir war plötzlich so kalt geworden und als ich hinter mich fasste, war Kolan nicht mehr da. Ich war ehrlich ein bisschen enttäuscht. Aber was hatte ich überhaupt erwartet?
Draußen war es noch dunkel, also beschloss ich weiterzuschlafen, sobald Kolan wieder hier wäre. Bei mir.
Ich hörte es immer noch leise Tropfen, vermutlich regnete es noch, aber das Gewitter war erstmal vorüber.
Im Zimmer konnte ich ihn nirgendwo sehen, deshalb stand ich auf und machte mich auf die Suche nach ihm. So ganz wohl war mir dabei zwar nicht, aber jetzt war es ohnehin zu spät.
Auf dem Flur stand er, mit dem Rücken zu mir, am Fenster. Keinen Meter von seiner Zimmertür entfernt. In dem Licht sahen seine Haare fast schon Braun aus.
"Kole?"
"Riley? Geh wieder zurück, ich komme auch gleich nach." sagte er mit brüchiger Stimme in die Dunkelheit hinein und wirkte dabei fast schon erschrocken. Er drehte sich um und seine Hand streifte dabei wie aus versehen mein Gesicht. Kurz sah er mir in die Augen, dann wandte er sich wieder von mir ab. Abwesend starrte er weiter durch das Fenster, doch ich hatte nicht den Eindruck, als würde er überhaupt etwas wahrnehmen.
"Ist alles in Ordnung mit dir?" Ich wusste, dass meine Stimme besorgt klang.
"Ja, schon okay. Ich musste nur gerade an meinen besten Freund denken. Er ist heute vor einem Jahr an Krebs gestorben." Wie in Trance drehte er sich wieder zu mir um und dabei sah ich die Träne in seinem Augenwinkel.
Ich hatte Mitleid, obwohl ich Kolans Freund ja gar nicht kannte. Aber ich wollte ihn trösten und für ihn da sein, so wie er es für mich war.
Deshalb schlang ich meine Arme um ihn und hörte ihm geduldig zu. Im Nachhinein kann ich gar nicht sagen, wie lange wir in dieser Nacht so dastanden und redeten. Es könnten ebenso gut Stunden wie Minuten gewesen sein.
Ich erfuhr, dass Julien zwei Jahre mit dem Krebs gekämpft hatte und ihn sogar schon los war. Doch dann hatte die tödliche Krankheit zurückgeschlagen.
Ihm musste ein Bein amputiert werden und der Krebs hatte auch auf die Lunge gestreut.
Nach seiner letzten Operation ist er zwar aufgewacht, aber er hatte einfach keine Kraft mehr zum Kämpfen.
Seine Geschichte berührte mich und letztendlich standen wir beide im Flur und weinten.
Ich könnte mir nicht vorstellen jemanden nach so einem langen und harten Kampf zu verlieren, obwohl man doch alles versucht hat. Es fühlte sich fast schon so an, als hätte ich ihn selbst gekannt.
Durch einen Kuss auf die Wange wurde ich geweckt.
"Morgen, Cat!" flüsterte mir ein wacher Kolan ins Ohr. Doch anstatt wenigstens so zu tun als wollte ich aufstehen, rutschte ich noch ein Stück näher an meine lebendige Heizung.
In Kolans Nähe fühlte ich mich geborgen und beschützt, so als könnte mir nichts auf der Welt etwas anhaben. Seit letzter Nacht hatte ich das Gefühl, dass sich das Band zwischen uns noch mehr verstärkt hatte, fast so als wäre es undurchtrennbar.
Kolan nahm seinen Arm von meiner Seite und wollte aufstehen, aber ich griff hinter mich, mit der Absicht, ihn an seinem Oberteil festzuhalten.
Mein Plan schlug allerdings fehl, da er überhaupt keins anhatte und ich nur seine nackte Brust streifte. Augenblicklich färbten sich meine Wangen rot und ich wandte mich schnell wieder ab, ohne ihn anzusehen.
Du bist so ein Trottel, Riley!
"Hab ich dir schon mal gesagt, wie süß du aussiehst wenn du rot wirst?" neckte er mich und zwickte mich gleichzeitig leicht in die Seite. Sein Atem war meinem Ohr wieder nah und ich kam nicht umhin, ihn doch aus dem Augenwinkel anzuschielen.
Er sah unglaublich sexy aus, wie er da stand, leicht über mich gebeugt, mit zerwuscheltem Haar und der Andeutung eines Six-Packs.
Seine wunderschönen Augen leuchteten, auch wenn in ihnen noch immer der Schmerz und die Trauer um seinen Freund erkennbar waren.
Doch dann wich er schnell von mir zurück, fuhr sich zerstreut durch seine Haare und ging die paar Schritte bis zur Tür. Als würde ihm jetzt erst auffallen, wie merkwürdig er gerade auf mich wirkte, drehte er sich doch wieder um.
"Wenn du möchtest können wir gleich frühstücken. Es ist schon halb zehn." Als er das sagte, wirkte er abweisend und kalt.
Vom einen auf den anderen Moment hatte er sich so sehr geändert.
Völlig aus dem Konzept gebracht nickte ich, stand auf und lief an ihm vorbei ins Badezimmer.
Hab ich was falsch gemacht?
Während ich wieder meine Klamotten anzog konnte ich an nicht anderes denken als die wenigen Sekunden nachdem Kolan mich geweckt hatte.
Warum hat er mich so eisig angesehen?
Ich war verwirrt und fühlte mich gleichzeitig verletzt. Erst hatte er mich doch so liebevoll geweckt und zwei Augenblicke später…
Ich konnte nicht beschreiben wie er mich angesehen hatte. Mit kaltem Wasser wusch ich mir das Gesicht, bevor ich auch nur daran denken konnte zu weinen.
Als ich gesagt hatte, nichts auf der Welt könnte mir etwas anhaben, da lag ich falsch.
Kolan war der einzige, der mich verletzten konnte.
Mit großen, schwungvollen Bewegungen strich der Pinsel in meiner Hand über die Leinwand. Das brauchte ich gerade, um mich abzureagieren und abzulenken.
Das Frühstück bei Kolan war kurz und merkwürdig ausgefallen. Er versuchte so gut es ging mich nicht anzusehen oder mit mir reden zu müssen und ich konnte ihn stattdessen nur anstarren und mich fragen was zwischen uns passiert war, dass jetzt alles so komisch war.
Leider war er mir viel zu Wichtig, als dass es mir egal sein könnte.
Bei jeder zufälligen Berührung zuckte er vor mir zurück, als hätte er sich an mir verbrannt.
Als wären wir zu weit gegangen.
Und noch etwas verwirrte mich. Bevor wir einschliefen hatte er mir einen riesigen Knutschfleck am Hals verpasst und als ich dann wach war hatte ich das Gefühl, er wolle mich so schnell wie möglich loswerden.
Als wäre ich sein lästiger One-Night-Stand, obwohl wir uns noch nicht einmal richtig geküsst hatten.
Das konnte ich einfach nicht in meinem Kopf vereinbaren. Auch sonst war er davor ja immer freundlich und lustig zu mir. Vielleicht war ich auch gerade deshalb so wütend, weil es sich so anfühlte, als hätte er mich nur verarscht.
Weil mich die Situation an Dan erinnerte.
Kolan hatte mein Bild von ihm zerstört.
Ich hatte immer gedacht, er wäre einfühlsam.
Er wäre anders und würde verstehen, was ich schon durchgemacht hatte.
Anscheinend hatte ich mich gewaltig in ihm geirrt.
Und das war der Grund, weshalb ich jetzt in meinem Zimmer stand und malte. Nicht, weil es einen Streit gab oder weil ich mir von Kolan verarscht vorkam, sondern weil Dad vermutlich Recht hatte. Ich hatte mich wieder auf einen gutaussehenden, verlogenen Arsch eingelassen, ohne auch nur irgendwas dazuzulernen.
Jetzt musste ich meine Aggressionen an dieser armen, unschuldigen Leinwand rauslassen. Das tat ich immer wenn ich extrem glücklich, traurig oder wütend war. Im Moment lag es wahrscheinlich an einer Mischung aus letzteren.
Als ich dann jedoch bemerkte was ich malte, packte ich alle meine Malutensilien wieder weg. Am liebsten hätte ich das Bild von dem kleinen See im Wald zerstört und in den Müll befördert, aber das brachte ich dann doch nicht übers Herz.
In meinem Kopf herrschte ein einziges Chaos. Ich konnte nicht einen einzigen klaren Gedanken fassen.
Der Raum wurde mir zu eng.
Ich wollte weg, musste hier raus.
Schon wieder.
Dabei sollte doch gerade erst alles wieder gut werden.
Mit schnellen Schritten stürmte ich die Treppe runter, als mir mein Vater und mein Bruder entgegen kamen.
"Hey Schwesterchen, ist alles in Ordnung?" Andy kannte mich einfach zu gut. Er hatte mich sofort durchschaut.
"Ja, es geht schon. Habt ihr mein Fahrrad mitgebracht? Ich würde gerne ein wenig damit fahren."
"Klar. Steht schon in der Scheune." erwiderte er. Ich wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen, dafür, dass er nicht weiter nachgebohrt hatte, was los war.
"Komm bitte nicht so spät wieder, ihr müsst morgen in die Schule." Fast flehend sah mich mein Vater an, aber bevor er sich nicht entschuldigt hatte, würde ich auch nicht mehr mit ihm reden. Obwohl sich das mit Kolan jetzt wohl eh erledigt hatte.
Kaum merklich gab ich ein Nicken von mir.
Meinen Vater wieder ignorierend lief ich aus der noch offenen Haustür und holte mein altes, verdrecktes Fahrrad aus der Scheune. Nachdem ich mich in den Sattel geschwungen hatte fuhr ich die Auffahrt entlang und bog nach links ab.
Je weiter ich fuhr, desto freier wurde mein Kopf und es tat mir gut, endlich mal wieder meine Muskeln zu beanspruchen. Manchmal hatte ich echt das Bedürfnis mich zu quälen. Dann konnte ich mich auch mal zwei Stunden lang dehnen, bis ich meine Beine nicht mehr richtig spürte.
Ich bekam gar nicht richtig mit, wohin ich radelte, weil ich total in meinen nicht vorhandenen Gedanken versunken war. Es war einfach nur ein mechanisches treten und geradeaus fahren. So was nannte man wahrscheinlich 'Tunnelblick'. Aber genau das war es, was ich jetzt brauchte. Ich konnte nicht mal sagen, ob mir auf dem Weg ein Auto entgegengekommen war, oder nicht.
Als die Straße in ein Waldstück führte, riss ich mich aus meiner Tranceähnlichen Verfassung und blieb stehen. Das war der Wald, in dem Kolan und ich unser erstes Date hatten. Mit einem Schlag kamen all die schönen Erinnerungen zurück und prasselten auf mich ein.
Als wir uns kennenlernten kam es mir so vor, als würden wir uns schon Jahre kennen. Und jetzt hatte ich das Gefühl, unser Streit würde schon Wochenlang gehen. Und das, obwohl es nicht mal einen Streit gegeben hatte.
Unachtsam ließ ich das Rad ins Gras fallen und bewegte mich zur Baumgrenze hin. Die ersten paar Meter konnte ich noch die Straße sehen, als ich mich umdrehte. Doch ich lief immer tiefer in den Wald und suchte vergebens nach dem kleinen See und der Lichtung.
Es hatte keinen Sinn, ich wusste den Weg nicht mehr. Wenn ich noch weiter gelaufen wäre, hätte ich mich nur noch mehr verlaufen. Ich wanderte immerhin schon gefühlte zwei Stunden ziellos umher.
Gott sei dank herrschte in meinem Kopf immer noch leere. Das Laufen lenkte mich ab und ich konnte mich nur auf den nächsten Schritt auf dem glitschigen, feuchten Boden konzentrieren. Nur diese eine Melodie verfolgte mich, jene Melodie, die zu Kolans selbstgeschriebenem Song gehörte.
Nach einer Ewigkeit erblickte ich endlich wieder das freie Feld. Allerdings befand ich mich knapp 25 Meter weit von meinem Fahrrad entfernt. Es dämmerte bereits, also hatte ich es eilig, wieder nach hause zu kommen. Obwohl mir schon von dem Gedanken an den morgigen Tag übel wurde.
Zur Sicherheit schaltete ich das Licht der Lampe ein und fuhr los.
Ich konnte schon die Mühle an Horizont erkennen, als plötzlich so ein Arsch mit seiner Protz-Karre direkt neben mir fuhr. Die Scheiben waren verdunkelt, aber die, die mir zugewandt war, hatte der Fahrer heruntergelassen. Laute Elektromusik dröhnte mir entgegen.
Das kann doch echt nicht wahr sein!, fluchte ich in Gedanken, als der Wagen immer wieder Schlenker in meine Richtung machte. Am liebsten hätte ich angehalten und gewartet bis er weitergefahren war. Aber dann würde er vermutlich selbst anhalten und aussteigen.
Leichte Panik machte sich in mir breit und mein Herz pumpte immer schneller gegen meinen Brustkorb. Meine Hände umklammerten den Lenker, bis die Knöchel weiß hervortraten.
Die ganze Situation fand ein schnelles Ende, als der Wagen mich seitlich rammte und der Fahrer mit einem lauten Lachen davonbrauste. Dieses Lachen brannte sich sofort in mein Gehirn ein.
Ich hatte die Kontrolle und das Gleichgewicht verloren und schlitterte noch ein kleines Stück, als ich schmerzhaft auf dem Boden aufprallte.
"Fuck!" stöhnte ich und verzog vor Schmerz mein Gesicht. Ich bin keine Memme, die bei dem kleinsten Kratzer heult, aber mein Bein tat wirklich weh. Das Herz schlug mir immer noch bis zum Hals, dennoch rappelte ich mich auf und versuchte ein paar Schritte zu gehen. Es tat zwar höllisch weh, aber irgendwie musste ich ja zur Mühle kommen. Wenn so etwas passierte hatte ich nämlich grundsätzlich nicht mein Handy dabei.
Ich hob das Rad auf und humpelte, so gut es ging, zu unserer Mühle. Als ich endlich ankam, war es bereits stockdunkel. Ich ließ den lästigen Drahtesel einfach fallen und klingelte Sturm, bis mir die Tür geöffnet wurde.
"Gott Kind, was ist denn mit dir passiert?" rief meine Mutter aufgebracht und kam mir sofort entgegen, um mich zu stützen.
Gegen halb drei am Morgen kamen wir völlig fertig zu Hause an. Während Andy friedlich in seinem Bett schlummerte musste ich mit meiner Mutter ins Krankenhaus zu meinem Vater fahren. Der war nämlich der der neue Chefarzt im Bereich der Chirurgie, weshalb wir auch umziehen mussten. Die ganze Fahrt über durfte ich ihr in allen Einzelheiten berichten, was genau passiert war.
Da bei unserer Ankunft in der Notaufnahme aber alle Ärzte beschäftigt waren, und ich weder den Fußboden voll blutete, noch großartig rumheulte, durften wir dann auch erstmal geschlagene eineinhalb Stunden im Wartebereich sitzen. Irgendwann hatte meine Mutter so die Schnauze voll vom warten, dass sie darauf bestand, dass eine Krankenschwester 'nun endlich eine Röntgenaufnahme von ihrer schwerverletzten Tochter' machen sollte.
In meinen Augen übertrieb sie maßlos. Ich war gestürzt, na und? Das passierte hin und wieder jedem von uns, wenn auch nicht unter den selben Umständen wie ich.
In meinem Hirn war nur noch Matsch, zumindest fühlte es sich so an. Bis zum nächsten Morgen würde ich nicht mal mehr einen zusammenhängenden Satz zu Stande bringen und meine miese Laune verbesserte diese Situation nicht gerade. Irgendwann driftete ich weg, auch wenn meine Mum immer noch lautstark mit den Angestellten diskutierte.
Was letztendlich zur Folge hatte, das alle dachten ich wäre in Ohnmacht gefallen und mich sofort umsorgten. Nicht eine Minute später kam ein junger Arzt, der meine Schürfwunden an Händen, Arm und Gesicht behandelte, eine Röntgenbildaufnahme von meinem Bein machte und mir eine Packung Gummibärchen schenkte.
Das war aber auch der einzige Lichtblick an diesem Abend.
Eigentlich was es sogar das einzig gute, was an diesem ganzen Tag passiert war.
"Es tut mir leid das sagen zu müssen, aber Ihre Schmerzen sind nicht ganz unbegründet. Es ist zwar ein glatter Bruch in ihrem rechten Schienbein, aber der wird trotzdem dauern, bis er verheilt ist. Ihr linkes Bein ist zum Glück unversehrt. Außerdem haben Sie eine beachtliche Anzahl von Prellungen und Schürfwunden. Ich denke nicht, dass wir Sie operieren müssen, aber um einen Gips kommen Sie nicht drum rum. Es war auf jeden Fall gut, dass Sie sofort zu uns kamen."
Wie konnte dieser Mensch das mit einem lächeln im Gesicht zu mir sagen? Abwechselnd warf ich ihm und meiner Mutter Killerblicke zu und sagte kein Wort. Sollte dieser Arzt doch von mir denken was er wollte! Er versuchte sowieso jeden Moment, den meine Mum nicht schaute auszunutzen, um mit mir zu flirten.
Selbst wenn er eventuell und von einem ganz bestimmten Winkel aus betrachtet gut aussah, so was ging echt gar nicht. Mit seinen Patienten zu flirten, pff! Für was hielt der sich eigentlich? Noch dazu war er bestimmt schon über dreißig und damit viel zu alt.
Während er mein Bein eingipste, rutschte er immer näher. Der Typ war unmöglich! Mum suchte gerade meinen Vater, der endlich mit seiner Operation fertig war, deshalb war ich nun allein mit diesem Arzt. Ich war ja wirklich keine Petze, aber langsam reichte es mir. Meine Nerven waren eh schon zum zerreißen gespannt.
"Ich schwöre Ihnen, wenn Sie noch einen Zentimeter näher kommen, werde ich sie bei meinem Vater anschwärzen." zischte ich meinem Gegenüber zu.
Jetzt waren wir auch schon beim 'du' gelandet oder wie? Doch bevor ich ihm antworten konnte, kamen meine Eltern zur Tür herein. Dad trug immer noch seinen Arztkittel, obwohl er jetzt auch Feierabend hatte.
"Guten Abend Dr. Richards." höflich nickte ihm der Arzt zu, mein Vater erwiderte.
"Und Dad? Wie lief die OP?" fragte ich ihn freundlich und nahm mit einem selbstgefälligen grinsen wahr, wie dem charmanten Mr. Du-kleine-Göre-kannst-mir-gar-nichts alles aus dem Gesicht fiel.
Ein bisschen Schadenfreude und mir ging es gleich wieder ein wenig besser. Auch wenn die Tatsachen, dass ich morgen Schule hatte und ich jetzt fast sechs Wochen mit Gipsbein rumlaufen musste, nicht besonders toll waren.
Immerhin ließ er mich jetzt in Ruhe und ich war um eine Gummibärchentüte und ein Paar Krücken reicher.
Ich fühlte mich, als müsste ich sterben. Ich hatte einfach keine bequeme Position zum Schlafen gefunden und mich die halbe Nacht hin und her gedreht. Soviel dann zum Ausgeschlafensein am ersten Schultag.
Nur widerwillig war ich aufgestanden und auch das Duschen, natürlich mit Plastiktüten über den Verbänden, hatte mich nicht viel wacher gemacht. Meine Hände taten bei jeder Bewegung weh und auch die Schramme an meinem Kinn pochte schmerzhaft.
Nachdem ich Jogginghose und Oberteil an hatte, hatte ich es irgendwie geschafft mit den Krücken die Treppe runter zu kommen. Der Tag konnte ja nur beschissen werden.
Schlecht gelaunt biss ich von einem Marmeladen-Sandwich ab und wartete darauf, dass irgendwas spannendes passierte. Alle anderen schienen noch tief und fest zu schlafen. Die Glücklichen!
Dann fiel mir auf, dass ich noch keine Schulsachen zurechtgemacht hatte. Die Treppe würde ich mich jetzt aber ganz bestimmt auch nicht wieder hochquälen. Egal, dann musste Andy mir halt mein Zeugs mitnehmen. Ich meine, wozu hatte ich sonst einen Bruder?
Da ich ja sonst nichts zu tun hatte bereitete ich Andy und mir schon eine Lunchbox vor und schmierte uns Brote. Danach flocht ich meine noch nassen Haare zu zwei seitlichen Zöpfen und starrte die Küchentür an.
Endlich betrat jemand den Raum. Andy. Wurde ja auch langsam mal Zeit. Obwohl, ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, wann unser Bus fuhr.
"Morgen." grummelte er noch im Halbschlaf vor sich hin, was ich mit dem selben Elan erwiderte. Juhu. Schule.
Ich glaubte nicht, dass jetzt noch jemand aufstehen würde. Dad hatte erst heute Abend wieder Dienst und meine Mum würde auch nicht aufstehen, bevor sie etwas für einen neuen Job vorbereiten musste. Nach meinen Informationen war ihr nächstes Meeting heute Nachmittag. Das war so was von unfair!
Um 20 vor acht fuhren wir mit dem Auto zur Schule, da unsere Eltern das heute erstmal nicht brauchten. In diesem Moment schwor ich mir, dass ich nie wieder freiwillig mit meinem Bruder in ein Fahrzeug steigen würde, wenn er am Lenker saß. Er gehörte zu den Fahren, die mit 160 km/h über den Highway rasen, zwei Meter vor dem vorderen Auto abbremsen, die Fahrbahn wechseln, voll aufs Gas treten und dann direkt wieder vor dem Auto einlenken. Ich persönlich bekomme davon immer Angstzustände, aber mit meinem Gipsbein hatte ich leider keine andere Wahl.
Schon bevor wir auf dem Parkplatz vor der Schule ausstiegen, wurden wir von allen angestarrt und man tuschelte über uns. Jetzt konnte ich zum ersten Mal wirklich nachempfinden, wie schrecklich es war, die Neue zu sein. Aber solange man die Lästereien einfach ignorierte, war alles okay.
Galant öffnete Andy mir die Tür und ich stieg umständlich aus. Tollpatschig wie ich war, hätte ich mich auch beinahe hingelegt und mit dem Boden gekuschelt. Zum Glück wurde ich von Andy aufgefangen, der nur den Kopf schüttelte und grinste. "Was würdest du nur ohne mich machen?" fragte er selbstgefällig.
"Zum Beispiel keine Todesangst beim Autofahren verspüren, auch mal was von der Nutella abkriegen, weniger Wäsche waschen, dein Zimmer als begehbaren Kleiderschrank benutzen…"
"Okay, ist ja schon gut!" unterbrach er mich, grinste dabei aber immer noch.
Wir machten uns auf den Weg in das Schulgebäude, um das Sekretariat zu suchen. Als wir an einer Gruppe Jungs vorbeikamen, begannen sie zu lachen. Sie standen, teils an einen morschen Holzzaun gelehnt, im Kreis und rauchten.
Ich stoppte mitten in der Bewegung.
Der mit dem blauen Hoodie… Er lachte das selbe lachen wie der Autofahrer, wegen dem ich gestern diesen Unfall hatte. Seine Haare hatten die selbe Farbe wie die von Marco. Und dann drehte er den Kopf und sah mir direkt in die Augen. Er zwinkerte mir zu und lachte dann noch mehr. So ein Dreckskerl.
Ich war mir sicher das er es war. Plötzlich hatte ich keinen Zweifel mehr daran.
Den jungen Mann anstarrend humpelte ich an Andys Seite weiter. Der sah an mir herab und fragte: "Wie geht's dir? Du siehst ganz schön fertig aus."
Es war eine einfach Feststellung, aber ich wusste, dass mein Bruder sich wirklich Sorgen um mich machte. Außerdem war ich mir sicher, dass er die Frage nicht nur auf mein gebrochenes Bein begrenzt hatte. Vielmehr meinte er die Tatsache, weshalb ich gestern so vollkommen durch den Wind war. Aber ich konnte jetzt nicht mit ihm darüber reden. Nicht, ohne in Tränen auszubrechen. "Später, okay?" sagte ich deshalb ausweichend.
Er nickte und ich folgte ihm in das Gebäude, das für das restliche Schuljahr unsere persönliche Folterkammer sein würde.
Die Schule bestand aus einem riesigen Gebäude, das trotzdem nicht mal annähernd so groß war wie unser altes Schulhaus. Insgesamt wirkte sie sehr trist mit ihren grauen Betonwänden und dem Flachdach. Die Fensterrahmen hatten eine undefinierbare Farbe, waren vermutlich aber mal braun. Alles in allem wirkte es zwar von außen etwas baufällig, innen hatte man dafür aber renoviert und vieles modernisiert.
Wir fanden das Sekretariat sofort und uns wurde unser Stundenplan durch die ältere, mollige Dame überreicht. Diese war jedoch echt unfreundlich und wollte mir gleich eine Stunde Nachsitzen aufdrücken, weil ich in einer Jogginghose zur Schule kam. Als ob sie dazu überhaupt berechtigt wäre. Ich konnte sie aber mehr oder weniger davon überzeugen, dass ich keine andere Hose über meinen Gips bekam, was sie widerstrebend anerkannte.
Zum Glück konnte ich alle Fächer belegen, für die ich mich eingetragen hatte, was bei so einer kleinen Schule ja nicht selbstverständlich war. Andy hatte etwas weniger Glück und musste statt Deutsch am Erdkundeunterricht teilnehmen.
Ich war froh, dass wir einige Fächer zusammen hatten, wie auch die ersten beiden Stunden. Geschichte und Englisch. Beides zählte nicht unbedingt zu meinen Lieblingsfächern, aber es gab auch schlimmeres.
Eindeutig.
Zum Beispiel Erdkunde.
Als wir wieder den Flur betraten, hatte es bereits zum Unterrichtsbeginn geklingelt und die letzten Schüler waren schon längst in den Klassenräumen verschwunden. Das einzig Gute war, dass wir jetzt nicht mehr beobachtet wurden, als würden wir in Neonfarben leuchten und dabei Makarena tanzen.
Deshalb konnten wir auch niemanden nach dem Weg fragen und fanden den Raum nicht sofort, in dem wir jetzt Unterricht hatten. Wenn ich genau bin haben wir uns auch extra viel Zeit gelassen. Man muss es ja irgendwie ausnutzen, dass man neu ist, oder?
"Willst du klopfen oder soll ich?" fragte Andy und im selben Augenblick hallte das dumpfe Geräusch seiner Knöchel gegen die Metalltür durch den Gang.
"Herein." sagte eine uns bekannte Stimme die ich nicht sofort zuordnen konnte.
"Guten Tag Miss Klaus. Entschuldigen Sie, dass wir zu spät sind, aber wir haben den Raum nicht sofort gefunden." entgegnete ich meiner Lehrerin höflich, obwohl es mir egal war, was sie von mir dachte. Ich konnte sie absolut nicht ausstehen.
Der Blondhaarigen Frau fiel alles aus dem Gesicht und sie wurde etwas bleich um die Nase. Mit leicht geöffnetem Mund starrte sie uns an, bevor sie sich wieder fing und uns hereinbat.
"Das ist schon in Ordnung. Kommen Sie herein und stellen sich bitte vor, dann können Sie platz nehmen. Die anderen Schüler werden Ihnen sicher gerne ihre Aufzeichnungen der letzten Stunden vor den Ferien geben."
Miss Klaus schien nicht ganz damit klar zu kommen, uns hier wieder zu sehen. Ich meine, sie hatte extra die Schule gewechselt und war umgezogen, weil sie mit den Schülern nicht klar kam, und jetzt waren wir ihr quasi hierher gefolgt. Ganz schön arm dran, die Frau.
Ich humpelte einige Schritte in das Zimmer, Andy lief mir hinterher. Der Klassenraum war erschreckend klein. Es hatten gerade mal zwanzig Leute darin platz und die Tische standen recht eng nebeneinander. Es gab fünf Tischreihen, mit jeweils vier Stühlen. Exakt zwei davon waren noch frei, einer in der ersten und einer in der letzten Reihe. An den Wänden hingen allerlei Plakate, wahrscheinlich stammten die noch von Referaten oder so.
"Also ich bin Andy und das ist Riley." -dabei zeigte er auf mich, als ob das nicht auch so klar wäre- "Wir wohnen seit kurzem in Nevermoore und haben vorher in Dexterville gelebt. Hat noch jemand fragen?"
Jetzt erst nahm ich die neugierig blickenden Jugendlichen wahr. Fast alle aus, als würden sie die Informationen über uns nur so in sich aufsaugen wollen, um später möglichst genaue Beschreibungen weitergeben zu können.
Da waren zum Beispiel ein Rothaariger Typ mit Nerdbrille, zwei aufgetakelte, eindeutig gefärbte Blondinen, ein lächelnder Marco, Kolan, der nicht von seinem Tisch aufsah, Phil… Und die fünf Jungs, die mich genauso wie Hoodie-Boy gerade mit ihren Blicken töteten. Er gehörte also auch zu der Arschlochgang. Manchmal täuscht man sich eben doch in Menschen.
"Wie alt seid ihr?" fragte eine der Schickimicki-Blondinen in einem quietschigen Ton.
"Siebzehn." antwortete ich in der Hoffnung, sie würde jetzt bloß den Mund halten. Diesem Mädchen konnte man echt nicht beim Reden zuhören.
Glücklicherweise zog sie sich jetzt desinteressiert ihren Lippenstift nach und war dabei mit ihrem Spiegel beschäftigt.
"Seid ihr ein Paar?" fragte ein nett wirkender Afroamerikaner, der sich mit dieser Frage direkt wieder unbeliebt bei mir machte.
Ich konnte nicht vermeiden, dass mein Blick kurz zu Kolan huschte, der mich mit seinen wunderschönen Augen anfunkelte. Ich sah Schuldgefühle und Angst, aber auch Schmerz und vor allem Unsicherheit, und das alles nur in einer winzigen Sekunde. Allerdings war die Gefühle so schnell wieder von seinem Gesicht gewischt, dass ich mir nicht sicher war, es mir nicht doch nur eingebildet zu haben. Unser Blickkontakt wurde jäh unterbrochen, als Andy mir einen Kuss auf die Wange drückte und wir beide anfingen zu lachen.
Die hatten uns das mit dem Pärchen doch tatsächlich schon wieder abgekauft, obwohl wir nicht einmal 'Verliebte' gespielt hatten.
"Nein." antwortete mein Bruder daraufhin auf die verwirrten Blicke unserer Mitschüler. Von einigen wurden wir jedoch einfach weiter angestarrt.
Der rothaarige Junge fragte: "Nehmt ihr auch an einer AG teil?" Wahrscheinlich wollte er jetzt für den Schachclub oder ähnliches werben. Nichts gegen Schach, das mag ich sogar eigentlich, aber das mehrmals die Woche zu machen wären auch nicht sonderlich gute Aussichten.
Wir verneinten und uns wurden sofort die Möglichkeiten aufgezählt: Football und Cheerleading, die Theater-AG, die Schulband und die Foto-AG, Informatik, Basketball und natürlich der Schachclub.
Derweilen hoffte ich, mich endlich hinsetzten zu können, da langsam meine Hände schmerzten. Spätestens heute Abend hätte ich mir sowieso Blasen an den Händen gelaufen, wenn ich da nicht die Verbände hätte. Schon bei dem Gedanken daran verzog ich schmerzverzerrt das Gesicht.
Das schien auch Miss Klaus aufzufallen, denn sie beendete unsere 'Vorstellung' und wies uns an, platz zu nehmen. Da Andy sich schnell zwischen den Tischreihen nach hinten durchkämpfte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich in die erste Reihe zu setzten. Direkt zwischen Kolan und Marco. Sie hatten mir also tatsächlich einen Platz neben sich freigehalten. Blöd nur, das ich jetzt lieber darauf verzichtet hätte.
Die Krücken lehnte ich an die Tischplatte an, meine Jacke hängte ich über die Stuhllehne. Ich war absolut fertig und schaltete direkt ab. Eigentlich war ich eh nur in der Schule, damit ich nicht direkt am ersten Tag Fehlstunden bekam.
Die ersten beiden Stunden zogen nur so an mir vorüber, ohne dass ich zugehört hatte. Ich befand mich in einer Art Halbschlaf im Sitzen.
In der dritten Stunde hatten wir Mathe und mussten den Raum wechseln. Der Lehrer, Mr. Jenkins, war schon etwas älter. Er hatte schon grau-weißes Haar und anscheinend absolut keine Ahnung, von was er redete. Aber auch bei seinem Unterricht hatte ich nicht aufgepasst, was zum größten Teil daran lag, dass er mit monotoner Stimme und im Flüsterton redete.
Die ganze Zeit über hatte ich Kolan und Marco ignoriert, auch wenn diese mir immer wieder besorgte Blicke zuwarfen. Sie hatten mich schon öfter gefragt, was mit meinem Bein passiert wäre. Genau genommen hatte Marco gefragt und Kolan hatte nur beschämt den Kopf weggedreht. Ich hatte jedes Mal abgewinkt.
Nachdem wir auch die vierte Stunde, und damit auch Wissenschaften, hinter uns gebracht hatten, war es endlich Zeit für die Mittagspause. Andy und ich hatten es geschafft, uns in diesem Fach nebeneinander zu setzten. Es dauerte keine zwei Sekunden nach dem Gong und die gesamte Klasse hatte den Raum verlassen. Nur Kolan stand unschlüssig neben mir.
"Kann ich kurz mit dir reden?" fragte er, als auch die Lehrerin den Raum verlassen hatte.
Ich nickte Andy kurz zu und deutete ihm so, dass er schon vorgehen konnte.
Jetzt bin ich aber mal gespannt, was er mir noch zu sagen hat.
"Maurice? Bist du dir ganz sicher? Ich wusste ja schon immer, dass er ein Arsch ist, aber so etwas geht echt zu weit." Marco sah mich ungläubig an und lief nervös in dem zur Zeit leeren Klassenzimmer auf und ab.
Ich wusste genau, von was Marco redete.
Ja, Maurice war ein Arsch.
Ein tussiaufreißender Macho.
Er hatte sich auch schon mehrere Schlägereien geliefert. Allerdings hatte er noch nie jemanden einfach so verletzt. Aber je länger ich darüber nachdachte, desto mehr glaubte ich, dass er dazu fähig wäre.
"Mac, dein Bruder war heute der Einzige, der einen blauen Pulli anhatte." antwortete ich auf dessen Frage. "Riley würde sich so was doch nicht ausdenken."
"Ich versteh euch beide sowieso nicht. Warum sagst du es ihr nicht einfach? Und dann vertragt ihr euch und seid wieder fröhlich. Es ist nämlich echt anstrengend mit dir zu reden während du immer wieder abdriftest mit deinen Gedanken."
Diese Standpauke hatte ich in den letzten beiden Tagen schon mehrfach gehört. Aber ich konnte nicht und Marco wusste auch ganz genau wieso.
Überhaupt waren er und Julien die einzigen die es wussten, abgesehen von meiner Familie.
Marco war derjenige, der mich in der Schule durch Ausreden entschuldigte und andauernd irgendwelche Geschichten erfinden musste. Und ich bin ihm unglaublich dankbar dafür.
Ohne ihn wäre ich schon längst aufgeflogen.
"Aber glaubst du wirklich, dass es mein Bruder war?" fragte Mac zweifelnd.
Wir wurden durch das Klingeln unterbrochen und ich hatte keine Zeit ihm eine Antwort zu geben, da der Raum sich bereits mit Schülern füllte.
Das änderte aber nichts daran, dass ich keinen einzigen richtigen Gedanken mehr fassen, geschweige denn mich überhaupt länger als zwei Sekunden auf etwas konzentrieren konnte.
Ich musste unbedingt mit Riley reden.
"Oh Gott, Süße! Ich war doch nur zwei Wochen weg. Was ist denn passiert?" rief Mona fast schon panisch durch den Monitor meines Laptops.
Ich seufzte und konnte es nicht verhindern schwach zu lächeln, da ich endlich wieder mit ihr reden konnte. "Ich wurde gestern Abend von der Straße abgedrängt. Zum Glück ein glatter Bruch. Trotzdem darf ich jetzt erstmal 6 Wochen nichts machen." antwortete ich.
Direkt nachdem Andy und ich von der Schule kamen hatte ich eine Nachricht von Mona bekommen und wir hatten uns zu einem Skype-Chat verabredet.
Ich war zwar furchtbar müde, aber gleichzeitig musste ich unbedingt mit jemandem über alles reden, was passiert war. Damit meine ich nicht nur den Unfall, sondern vor allem Kolan.
"Und wie geht’s dir sonst? Wegen Dan und… du weißt schon." fragte sie etwas bedrückt. Ihr Blick wurde sofort einfühlsam und sie setzte sich aufmerksam vor den Bildschirm.
Ich zuckte mit den Schultern. "Ich denke ich bin drüber weg. Irgendwie ist das grade alles ziemlich kompliziert. Zwischen mir und den Männern, meine ich."
"Wer?"
Mehr brauchte es nicht und ich wusste sofort was Mona von mir wollte. Sie hatte so eine Begabung, immer genau zu wissen wenn etwas nicht stimmte oder etwas neues passiert war. Am besten bemerkte sie allerdings, wenn jemand verliebt war. Vor ihr konnte man alles soviel und sooft leugnen wie man wollte, sie wusste es einfach.
"Er heißt Kolan. Wir haben uns im Club kennengelernt." Unwillkürlich breitet sich ein grinsen auf meinem Gesicht aus. Dann muss ich jedoch wieder daran denken, wie er mich am Sonntag behandelt hat und werde traurig.
Unaufhörlich sprudelt all das aus mir heraus, was ich in den letzten Tagen niemandem anvertrauen konnte. Begleitet von mehreren Schluchzern und einer verbrauchten Packung voller Taschentücher erzähle ich Mona von uns. Kolan und mir.
Dem Konzert, dem See im Wald, unsere gemeinsame Backaktion und von dem Gewitter. Das einzige was ich ausspare ist Jaiden. Obwohl ich mir sicher bin, dass ich ihr das früher oder später sowieso noch erzählen werde.
Und Mona hört mir zu, tröstet mich und baut mich wieder auf.
Dafür liebe ich sie. Egal wie schlecht es mir geht, ich kann immer auf sie zählen und selbst wenn sie alle Hände voll zu tun hat, hat sie stets ein offenes Ohr.
Auch wenn sie mir keinen guten Rat geben kann, hilft es mir doch oft schon, einfach darüber zu reden um einen klaren Kopf zu bekommen.
Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne Mona machen würde.
"Hast du vielleicht ein Foto von ihm? Würde mich wirklich mal interessieren, wer dich so durcheinander bringt." fragte meine beste Freundin einige Zeit später, nachdem sie mich davon überzeugt hatte, dass ich sobald wie möglich noch mal mit Kolan über unseren Nicht-Streit reden musste.
Sie grinste mich an und ich suchte auf meiner Kamera ein Foto auf dem er alleine war. Es war auch eines aus dem Musikstudio.
"Und so ein Zuckerstück willst du dir entgehen lassen? Riles, ich bin echt schockiert." scherzte sie. "Aber irgendwie kommt er mir bekannt vor. Dieses Gesicht…"
"Du spinnst doch Mo. Wo sollst du ihn denn schon mal gesehen haben?" entgegnete ich ihr Augen verdrehend.
"Ich schwöre dir, dass ich ihn irgendwoher kenne. Ich komme schon noch drauf. Abgesehen davon, bei seinem Aussehen würde es mich nicht wundern, wenn er schon mal gemodelt hätte oder so was."
"Jetzt übertreibst du aber wirklich!" langsam wurde ich genervt und ich wollte es wirklich nicht an Mona auslassen, denn sie konnte nichts für meine schlechte Laune.
"Vielleicht ein bisschen. Du musst aber zugeben, er ist echt scharf."
Ich wollte nicht mit Mona streiten, vor allem weil sie irgendwie Recht hatte. Deshalb lenkte ich schnell vom eigentlichen Thema ab. "Aber jetzt erzähl erstmal, wie war eigentlich dein Urlaub?"
Kurze Zeit später beendeten wir unser Gespräch und verabredeten uns für Morgen um die selbe Zeit. Mona hatte im Urlaub viele Nächte durchgefeiert und die ein oder andere Bekanntschaft gemacht, allerdings nichts sonderlich erwähnenswertes, ihrer Meinung nach. Danach haben wir nur noch über so belangloses Zeug wie das Ferienende und meine Kurse in der Schule geredet.
Wir waren einfach unglaublich glücklich, einander wiederzuhaben. Auch wenn wir viel zu weit von einander entfernt wohnten.
Texte: Alle Rechte an Idee und Text liegen bei mir.
Bildmaterialien: Made by plurabelle. Danke dafür :)
Tag der Veröffentlichung: 05.12.2012
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