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„Kapitel meines Lebens“ (2010)

Sie spielte Chopin.
Ihr Lieblingsstück, Nocturne.
In D-Moll.





Das Lichtspiel der untergehenden Sonne zauberte Silhouetten an die gelbgrauen Wände des Zimmers. Ihre sanften Berührungen umgarnten die Tasten. Das Leben tönte aus dem Klavier. Die Frau, dessen scheu dreinschauender Blick ihm galt, dachte an Sommerabende voll Fruchtsäfte.
Jung und frisch.
Seit 20 Minuten saß sie schon dort.
Vor dem Klavier. Nach der einen oder anderen fertiggespielten Notenzeile, hörte man das Knittern einer umblätternden Zeitung. Dort saß er, las, und sie wusste, wie sehr er es mochte, wenn sie dabei spielte. Damals, so erinnert sie sich gut, hatte er sich oft neben sie gesetzt, den musikalischen Lauten Stimme verliehen. Manchmal saß er aber auch einfach nur still da und lauschte den Klaviertönen. Und wenn sie fertig gespielt hatte, blieb er eine Weile neben ihr auf seinem Platz sitzen. Wenn dieser leer war, waren es ebenso die Stücke. Gerade jetzt spielte sie verhältnismäßig leise. Der Mann schaute ein paar Mal auf. Sie merkte nichts, als wäre sie in Trance.
Er war heute ein sehr eleganter Mann.
Die gebundene Krawatte, das zur Seite gekämmte Haar und weißgewaschene Hemd.
Anspruchsvoll, dachte sie sich.
Er war 44 Jahre alt.
Heute war er schon wieder 25. Sie hingegen fühlte sich, als würden ihre Knochen von Jahr zu Jahr schwerer werden. Fast, als diene es zum Ausgleich, verlangsamte sie das Stück und verlieh dem Raum eine unergründliche Zeitlosigkeit. Das monotone Ticken der Küchenuhr schlich sich wie ein ungebetener Gast zwischen die beiden und verharrte dort minutenlange Sekunden.
Die nächste Seite wurde umgeblättert.
Das Klavier verstummte.
Fortsetzende Stille.
Die Musik hatte ihr immer viel Mut gegeben, sie geleitet, sie geprägt. Aber seit er nicht mehr zu ihren Vorführungen kam, verblasste die Freude, die Leidenschaft. Im Grunde sind beim Klavierspielen nur zwei Dinge von entscheidender Bedeutung. Die Technik. Akkorde, Noten, Stücke, bis hin zur Perfektion. Zweitens: Das Gefühl.
Es gab viele Gründe, für die sie mit dem Spielen anfing. Die meisten fielen unter die letztere Kategorie…
Sie trägt ein rotes Satinkleid, es war nicht billig. Die Haare hatte sie zu einem lockeren Zopf gebunden und angesteckt, nur noch träge strich sie auf die Klaviertasten. Sie entschied sich, sich zu dem Mann umzudrehen, der dort wie angewurzelt auf seinem Sessel hockte unw nur noch Statue war. Was ihr bemerkenswerterweise fehlte, war der liebliche Duft der Rosen, die sonst auf dem kleinen Esszimmertisch standen. Wie lange hatte er ihr keine mehr mitgebracht? Vielleicht konnte er den Geruch nicht mehr ertragen, dachte sie sich. Sie musterte ihn, als er sich das erste Mal wieder bewegte, um erneut eine Seite weiterzublättern. Als sie ihn eine Weile unauffällig betrachtete, die Hände auf dem Tisch ineinander faltete und sich von seiner Konzentration anstecken ließ, weckten sie vergangene Erinnerungen wach, die sie erst gestern Nacht wieder eingeholt hatten. In Gedanken formte sie die Gesichtszüge ihres Mannes nach, so, wie sie es vor genau 15 Jahren zum ersten Mal tat, als ein unvermittelter Besuch im nächstbesten Cafe sie zusammengeführt hatte. Der Druck in ihren gefalteten Händen stieg. Unausweichliche Gefühle tobten in ihr.
Wie komisch, dass dieselben, die ihr oft schmerzten, so einfach abrufbar waren. Vielleicht hatte sie ein Talent dafür, sich, anstatt andere, zu verletzen.
Sie würde es aufnehmen, wenn sie ein Stückchen Vergangenheit hier und jetzt wieder zurückhaben könnte.

Eine weitere Seite wurde umgeblättert.
Jetzt schon fast bedrohlich.

Es war schon fast eine Angewohnheit von ihm. Als sie damals bei Sonnenschein, der durch das Fenster beinahe zu blenden schien, einer Tasse Kaffee und sichtlicher Offenheit, an zwei verschiedenen Tischen sitzend, ins Gespräch kamen, hatte er zuvor in seiner Tageszeitung rumgeblättert.
Aber, anders.
Weniger nervös.
Weniger mechanisch.
Sie liebten sich ab da an.
Immer brachte er ihr Rosen. Und wie schön sie rochen. Jeden Morgen waren sie verfallen, durch die angehende Hitze, durch Trockenheit oder anderen Einflüssen. Und jedes Mal war es sehr traurig gewesen. Jetzt, wenn sie den Marktplatz entlanglief und rote oder weiße Rosen erblickte, trat sie abrupt den gegensätzlichen Gehweg an. Intuition, glaubt sie heute noch.
In Gedanken versunken fasste sie sich an ihre zusammengebundenen Haare, die sich leicht in ihre klebrigen Finger wiegten. Sie spitzte die Lippen, um ihre aufkommende Miene zu verbergen. Sie musterte ihn erneut und fragte sich, wie viele Seiten noch zum Umblättern zur Verfügung standen. Sie schätze, der Sonntagszeitung angerechnet, vielleicht 4-5.

Es kam ihr vor, es seien abertausende Seiten.

Die Nostalgie fing sie wieder.
Wie bei einem Kaleidoskop raschelten die Bilder in ihrem Kopf nur so an ihr vorbei. Bilder von der eigenen Terrasse, als sie noch als junges Mädchen im Hause ihrer Eltern lebte. Ein schlaksiger Junge, mit dem sie sich damals nie zugetraut hätte, ein Leben wie heute zu führen. Ihr damaliges Leben handelte von Fruchtsäften und Sommernachtspicknicken.
Die Luft bekam eine strenge Duftnote.
Hölzern.
Voll von Vergangenheit.
Trockene Rosenblätter.
Sie schauderte.
Die Uhr schlug 12. Das Ticken stoppte.
Trotzdem spürte sie, wie ihr innerer Wecker gegen ihre Schädeldecke hämmerte. Er erhob sich leicht, rümpfte die Nase, kratzte sich am Hinterkopf. In seinen Augen stand ein Unwetter. Er lebte doch noch, auf seine Weise. Ihr Aufzug schien umsonst gewesen sein, wenn man seine abwesende Mimik betrachtete.
Was er schätze, waren lediglich noch ihre schlanken Klavierfinger und die Dinge, die sie taten. Es war soweit.

Er hatte die Zeitung beiseitegelegt.
Sie hatten kein Wort miteinander gewechselt.
Auf sie wartete ein Stapel Geschirre.
Auf ihn seine Traumfrau.

Impressum

Texte: Cover: "Room in New York" 1932 Sheldon Memorial Art Gallery and Sculpture Garden, University of Nebraska
Tag der Veröffentlichung: 20.02.2011

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