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1. Kapitel

Die Sonne brennt so heiß auf meinen Kopf, dass ich im ersten Moment an eine Halluzination glaube, als der schrottreife Golf II mit einem hörbaren Ächzen neben mir anhält. Die Fenster auf der Fahrer- und Beifahrerseite sind heruntergelassen, aus dem Inneren begrüßt mich unheilvolle Stille. Die Hitze flirrt über der aschgrauen Motorhaube, die wie das verrostete Ersatzteil eines Cyborgs aussieht. Das restliche Auto ist nämlich giftgrün.

»Das ist ein Scherz.« Es muss so was wie die morbide Faszination bei einem Autounfall sein, die mich nähertreten und einen Blick in den Wagen werfen lässt. Verdammt. Ein grimmiger Blick aus einem kantigen, bartstoppeligen Gesicht. Kord, wie er leibt und lebt. »Das ist ein Scherz«, wiederhole ich dennoch, diesmal laut genug, dass er es hören muss.

Kord zeigt mir seine Zähne. Soll wohl ein Lächeln sein, obwohl jeder Pitbull neidisch gewesen wäre. »Freut mich auch, dich zu sehen. Steig ein.«

»In diese Kiste? Nie im Leben. Von was wird die zusammengehalten, Kaugummi und Fahrtwind?« Davon hat Kathi kein Wort erwähnt! Da wäre es wahrscheinlich sicherer, wenn ich trampen würde. Dann müsste ich mich auch nicht mit Kord herumschlagen.

»Schön. Dann bleib hier. Tschüss.« Er sieht allen Ernstes nach vorne, legt den Gang ein und rollt einige Zentimeter.

»Scheiße.« Ich greife ins offene Fenster, als könnte ich so den Wagen im Ernstfall aufhalten. Aber eine Handvoll Pferdestärken wird der Schrotthaufen wohl doch noch vorzuweisen haben. »Jetzt warte mal.«

»Worauf? Dieser Kürbis wird sich in keine Kutsche verwandeln.«

»Kürbis? Was für ein ... Ist das so ein beknackter Gärtnerwitz?«

Kord starrt mich an, als hätte ich mich gerade als kompletter Vollpfosten geoutet. »Hör zu, Philly.«

Unwillkürlich nehme ich die Schultern zurück, als er mich mit dem alten Spitznamen anspricht. So hat mich seit Ewigkeiten niemand mehr genannt, ist nicht mal jemand auf die Idee gekommen. Hier bin ich Philipp.

»Entweder steigst du jetzt ein oder ich fahre los. Deine Entscheidung.«

Von wegen. Wenn ich eine Wahl hätte, würde ich Berlin niemals über das lange Pfingstwochenende verlassen. Vierunddreißig Grad. Hitzerekord. Ich kann gar nicht zählen, wie viele Einladungen zum Grillen ich ausschlagen musste. Sogar einer Poolparty musste ich absagen. Ganz zu schweigen davon, dass alle besser drauf sind, wenn das Wetter mitspielt. Mehr Spaß, mehr Alkohol, mehr Sex.

Genervt trommelt Kord mit den Fingern auf das Lenkrad. »Drei.«

»Du versprichst mir, dass uns das Teil heile nach Hause bringt?«

Kord verdreht die Augen. »Zwei.«

»Ich mein’s ernst.«

»Ich auch. Eins.«

»Scheiße.« Ich reiße die hintere Tür auf, werfe meine Reisetasche in den Fußraum hinter dem Beifahrersitz und mich anschließend neben Kord in das brütend heiße Auto. Mein T-Shirt klebt an meinem Rücken, noch bevor ich mich richtig gesetzt habe. Wenigstens riecht es im Auto nicht nach Schweiß. Im Gegenteil. Es riecht nach Kord. Männlich, herb, erdig. Auf irritierende Weise anregend.

»Und? Hast du dir jetzt einen Zacken aus der Krone gebrochen?«

Ich habe wirklich keine Ahnung, wie ich die nächsten zwei Stunden, eingepfercht neben ihm in dieser Schrottkiste, überstehen soll. »Fahr los.« Ich wische mir über die Stirn, auf der sich innerhalb von Sekunden ein feiner Schweißfilm gebildet hat. »Und dreh die Klimaanlage hoch.«

Kord grunzt, was irgendwie nach einem verschluckten Lachen klingt. »Anschnallen.« Dann tritt er aufs Gaspedal, wendet auf dem Park-and-Ride-Parkplatz und fährt zurück zur Straße.

Im Auto fährt es sich, wie es von außen ausgesehen hat: holprig. Die Stoßdämpfer haben wahrscheinlich schon bessere Tage gesehen, genau wie der Motor, der ziemlich laut dröhnt, auch schon auf dem Weg zur Autobahn. Ich möchte gar nicht wissen, wie viele Kilometer der schon gelaufen ist. So durchgesessen, wie der Beifahrersitz ist, hätte das Auto locker den einen oder anderen Weltkrieg mitgemacht haben können.

Der Fahrtwind durch die geöffneten Fenster ist angenehm, aber viel zu schwül. Ich suche das Armaturenbrett nach dem Temperaturregler für die Klimaanlage ab und stelle entsetzt fest, dass es so was nicht zu geben scheint. Die Kurbeln für die Fenster habe ich schweigend zur Kenntnis genommen, aber das ...

»Warte mal.«

»Du brauchst doch nicht etwa jetzt schon eine Pinkelpause? Der Verkehr ist eh mörderisch, da will ich nicht alle zehn Minuten anhalten müssen.«

Ich taste das Armaturenbrett ab und drehe probehalber an einem Regler, von dem ich weiß, dass er zum Radio gehört. Statisches Rauschen und Gesprächsfetzen der Nachrichten dringen blechern aus den Lautsprechern.

»Hey, lass den Scheiß.« Kord schiebt meine Hand weg und schaltet das Radio wieder aus. Seine Hände sind immer noch größer als meine. Breiter. Kräftiger. In der Schule hat sie mal jemand als Schaufeln bezeichnet. Wie passend.

»Du hast doch eine Klimaanlage ...?«

»Steigst du aus, wenn ich keine habe?«

Ich reiße die Augen auf. »Du hast also wirklich keine?«

»Das Auto ist über zwanzig Jahre alt. Was erwartest du?«

»Ein Mindestmaß an Komfort?«

Kord schnaubt. »Damals haben Klimaanlagen nicht zur Standardausstattung gehört.«

»Dann wird es Zeit, dass du die Klapperkiste aufrüsten lässt, findest du nicht? Oder kauf dir gleich ein neues Auto. Selbst wenn es nur fünfzehn Jahre auf dem Buckel hat, muss dir das wie ein Sprung aus dem Mittelalter in die Moderne vorkommen.«

Kord bleckt die Zähne. »Wenn dir das Transportmittel nicht passt, kannst du gerne aussteigen, Prinzessin.«

»Oh, toll, ein Schlag unter die Gürtellinie. Sonst noch was? Wie wäre es mit Schwuchtel, Schwanzlutscher oder Arschficker?« Gespielt geschockt schnappe ich nach Luft. »Sekunde. Damit würdest du dich ja selbst beleidigen. Also hack lieber darauf rum, dass ich den Unterschied zwischen Lotion und Creme kenne.«

»Gott.« Kord wirft mir einen gereizten Seitenblick zu. »Kann man dich auch abschalten? Ich hätte zu jedem Prinzessin gesagt, wenn er sich aufführt wie die verdammte Prinzessin auf der Erbse. Ich tue meiner Schwester einen Gefallen. Wenn es nach mir ginge, hättest du sehen können, wie du nach Hause kommst.«

»Wenn Kathi mich vorgewarnt hätte, hätte ich das liebend gerne getan.«

Gelogen. Die Gelegenheit ist einfach zu günstig gewesen, um sie auszuschlagen. Im wahrsten Sinne des Wortes günstig. Trotz allem shabby chic ist Berlin ein teures Pflaster. Vor allem, wenn man seine Freizeit nicht zu neunzig Prozent mit Lernen verbringt, sondern das Leben auskostet. Nach achtzehn mehr als anstrengenden Jahren auf dem Land in meinem Heimatkaff finde ich, habe ich das verdient. Außerdem ist es nicht so, als würde ich gar nicht lernen.

Als Kathi vorgeschlagen hat, mit ihrem Bruder heimzufahren, der sie für ein paar Tage besucht hat, habe ich nicht lange gezögert. Ich habe ein überteuertes Bahnticket oder anstrengende Mitfahrgelegenheiten, die mich meistens eh nur in die Nähe meiner Eltern bringen und nicht bis vor die Haustür, gegen das bekannte Übel getauscht: Kord.

Ich werfe besagtem Übel einen Seitenblick zu. Das verwaschene, graue T-Shirt spannt über seinem breiten Brustkorb. Unter den Ärmeln lugen Hautstriche hervor, die deutlich heller sind als seine kräftigen Oberarme – muss von der vielen Arbeit im Freien stammen. Seine muskulösen Oberschenkel stecken in Jeansshorts, die jetzt im Sitzen die Knie freilassen. Ich kann mich nicht daran erinnern, Knie jemals so interessant gefunden zu haben, und reiße verärgert meinen Blick los. Alles in allem wirkt er viel zu massig für das kleine, klapprige Auto.

Worauf ich schon in der Schule neidisch gewesen bin. In meinen Augen ist Kord ein echter Mann. Ein Kerl, wie ich gerne einer gewesen wäre.

Stattdessen bin ich ... na ja. Ich. Ein Kerlchen. Inzwischen – und im Berliner Umfeld – kann ich gut damit leben. Als Teenager war es die Hölle.

»Es gibt einen Unterschied zwischen Lotion und Creme?«, fragt Kord nach einer Weile ungläubig, als hätte er den Gedanken einige Zeit im Kopf gewälzt.

»Klar. Oder warum, glaubst du, schreiben sie das auf die Produkte drauf?«

»Keine Ahnung. Marketing?«

»Es gibt zum Beispiel auch noch Salben.«

Kord schüttelt den Kopf. »Bescheuert.« Dann sieht er mich wieder kurz an. »Ich dachte, du studierst Informatik.«

Ich hebe eine Augenbraue. »Und?«

Sein Blick schweift auf eine Art und Weise über meinen Körper, die es in meinem Magen kribbeln lässt. Vielleicht auch ein Stück tiefer. »Du siehst nicht aus wie ein Nerd.«

»Sondern?«, hake ich herausfordernd nach.

Kord sieht wieder nach vorne. »Nicht wie ein Nerd.«

»Sondern?«, frage ich schärfer. Ich weiß, wie mich meine liebenswerten Mitschüler damals bezeichnet hätten.

Ruppig greift er nach links und kurbelt sein Fenster bis auf einen kleinen Spalt zu. »Wir fahren gleich auf die Autobahn.«

»Wenn ich das Fenster zumache, ersticke ich.«

Kord seufzt. »Dann lass es auf.«

Wir fahren auf die Autobahnauffahrt und fädeln uns in den zähen Verkehr ein. Klar, langes Wochenende und bombastisches Wetter. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir früher fahren können. Die eine Vorlesung am frühen Nachmittag heute hätte ich locker schwänzen können. Aber so sind wir nicht nur mitten im Reiseverkehr der Wochenendurlauber gelandet, sondern auch im Feierabendverkehr. Keine Ahnung, ob Kord das egal ist oder ob er nicht mit so viel Andrang gerechnet hat. Nach zehn Minuten, die wir uns mit maximal 70 km/h fortbewegen, kurbelt er sein Fenster wieder ganz auf.

»Scheiße, wo kommen die denn alle her?«

»Berlin hat über 3,5 Millionen Einwohner.«

»Und die müssen ausgerechnet alle jetzt Auto fahren?«

Die Frage würdige ich mit keiner Antwort, da er das zweifellos vor sich auf der Straße sieht.

»In dem Tempo brauchen wir ewig.«

»Von mir aus hätten wir früher fahren können«, kann ich mir nun doch nicht verkneifen.

Kord knurrt, sagt aber nichts dazu. Immerhin etwas, schließlich ist die späte Abreise seine Schuld.

Ich angle nach der Wasserflasche in meiner Reisetasche, versuche, es mir auf dem durchgesessenen Beifahrersitz bequem zu machen, und hole mein Handy hervor. Mehrere Nachrichten in diversen Chats, Freunde, die sich an U-Bahn-Stationen treffen oder besprechen, wer was in welcher Menge zur Grillparty mitbringt. Ich seufze neidisch. Jan hat ein Selfie geschickt, er neben einem blonden, oberkörperfreien Adonis, die mir grinsend mit einer Bierflasche zuprosten.

Du verpasst was!!!

Als ob ich das nicht wüsste. Ich könnte jetzt an Jans Stelle neben dem Blonden sitzen oder mich mit einem seiner mindestens genauso attraktiven Kumpel unterhalten. Ich habe keine Ahnung, wo Jan diese Männer immer auftreibt, aber das ist mir auch egal. Sie sind sexy, schwul und mehr als willig – was will ich mehr? Für alles andere bin ich definitiv zu jung.

Ich werfe Kord einen Blick zu, der genervt auf die Straße schaut und die Augenbrauen finster zusammenzieht.

Tja, das da ist mein Adonis für die nächsten zwei Stunden – oder mehr, dem Schneckentempo nach zu urteilen, in dem wir vorwärtskriechen.

Schwul: ja.

Sexy ... ja, doch, auf eine raue, ungehobelte Art irgendwie schon.

Willig: definitiv nicht.

Abgesehen davon kenne ich Kord mein ganzes Leben lang und genauso lange verstehe ich nicht, was in seinem Kopf vorgeht. Wie kann man als schwuler junger Mann mit achtzehn nicht gleich als Erstes sein Heimatkaff hinter sich lassen, um was von der großen, weiten und vor allem toleranten Welt zu sehen? In Berlin muss ich zumindest nicht fürchten, verprügelt zu werden, weil ich zum Feiern im Club meine Augen mit Kajal umrande, etwas Lipgloss auflege und Haarspray mit Glitzer benutze anstatt schmieriges Gel. Sicherlich kann es mir dort auch passieren, angegangen zu werden, aber nach zwei unbehelligten Jahren habe ich mehr Angst, im Dunkeln mit dem Fahrrad vom Marktplatz zum Haus meiner Eltern zu fahren.

Wieder werfe ich Kord einen Blick zu. Andererseits, wenn ich aussehen würde wie er, würden mich die Dorfidioten wahrscheinlich in Ruhe lassen.

Kord fängt meinen Blick auf. »Was?«

»Nichts.«

»Warum guckst du dann so?«

»Ich überlege, ein lustiges Selfie mit dir zu knipsen.«

»Auf gar keinen Fall.«

»Okay«, sage ich, als hätte er voller Begeisterung zugestimmt, lehne mich über die Mittelkonsole und hebe das Handy. »Lächeln!«

»Philly! Lass den Scheiß!«

Ich grinse dämlich in die Kamera, während Kord mich finster anblafft, und betätige den Auslöser – und gleich noch mal, weil’s so schön war.

»Hey. Hey! Was hast du damit vor?«

»Ganz ruhig«, sage ich, während ich Jan eins der beiden Fotos mit den Worten Mein Adonis für die nächsten paar Stunden. Und nein, du verpasst nichts. schicke. »Ist ja nicht so, als hätte ich uns beim Sex abgelichtet.« Der Gedanke ist so absurd, dass ich lachen muss.

Kord knurrt.

»Oder ist schon allein die Tatsache, mit mir zusammen auf einem Foto zu sein, unerträglich für dich?«

Noch ein Knurren.

»So ein ganzer Kerl wie du neben einer halben Portion wie mir – nicht, dass die Leute noch glauben, du hast was mit einem Twink.«

»Kannst du nicht einfach mal die Klappe halten?«

»Wieso? Weil du den tollen Song im Radio hören willst?« Ich lege eine Kunstpause ein. »Oh, warte. Wir haben das Radio ja gar nicht an. Sollen wir uns lieber anschweigen?«

»Wenn du das überhaupt kannst, hätte ich nichts dagegen.«

Ich klappe den Mund zu. So ein Arsch. Das Handy in meiner Hand vibriert.

Wow. Sicher, dass ich nichts verpasse? Der Typ ist heiß.

Ich schnaube. Heiß vielleicht, das war nie Kords Problem. Obwohl er zwei Klassen über mir war, konnte jeder auf dem Schulhof zusehen, wie sich ihm gelegentlich ein Mädel auf der Suche nach dem weichen Kern, der

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Carla Kemper
Bildmaterialien: pixabay
Tag der Veröffentlichung: 27.07.2017
ISBN: 978-3-7438-2506-2

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die auch schon mal im Hochsommer im Stau standen

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