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Hindenburgdamm

 

 

 

Fleming konnte sich an alles erinnern.

»Mach hinne!«, hatte er zu seinem Kumpel hinübergeschrien. Der hieß Rolf und stand ihm gegenüber auf der anderen Seite des Schienenstrangs.

»Ich glaub´, er kommt gleich. Wir müssen runter hier.«

Der Dritte im Bunde war Holger. Der befand sich zur gleichen Zeit zehn Kilometer entfernt in Morsum, auf Sylt. Er flanierte auf dem Bahnsteig hin und her und hatte sein Handy am Ohr.

»In fünfzehn Minuten ist er bei euch«, flüsterte er. »Also! Beeilung!«

 

Der Schienenstrang, dem die beiden Freunde gerade ihre Aufmerksamkeit widmeten, war einer von zweien, die über einen Damm die Insel mit dem Festland verbinden, über den Hindenburgdamm.

In Klanxbüll, dem ersten Bahnhof auf der Festlandseite, stand niemand, um die beiden zu warnen. Denn man hatte schlicht keinen vierten Verbündeten. Außerdem war Rolf der Überzeugung, dass die Züge aus der Gegenrichtung – von Niebüll nach Klanxbüll also – pünktlich fahren würden. Um diese Zeit kam da kein Zug.

 

»Welchen nehmen wir?«, hatte Holger mit Blick auf den Fahrplan gefragt, als sie eines Tages bei Uwe am Stammtisch versammelt waren, um ihr Vorgehen zu besprechen.

»Wir brauchen genügend Zeit zwischen zwei Ereignissen. Das ist alles«, war Rolfs Antwort.

Es gab einen zusätzlichen Kick, sich in aller Öffentlichkeit über den Plan zu verständigen. Man sprach in Rätseln. Man benutzte Worte, die keinen Verdacht aufkommen ließen und für Außenstehende keinen Sinn ergaben. Sätze, die verschlüsselt waren. Niemand bemerkte, was sich in den Köpfen der Drei zusammenbraute, die da eng beieinander hockten und bei jeder gelungenen Doppeldeutigkeit leise kicherten und an ihrem Bier nippten.

Und vor allem eins: Das alles war nur ein Scherz.

 

Fleming schaute nach Westen, dahin, wo in der Dunkelheit Sylt lag. Er versuchte, die Lichter einer sich nähernden Lok auszumachen. Es war nichts zu sehen. Auch aus der Klanxbüller Richtung kam kein Zug.

»Nun mach schon! Wir müssen hier weg.«

»Nervös? Oder was?«, rief Rolf von der anderen Seite zurück.

»Nein! Ja! Ich weiß nicht. Nun komm endlich!«

Sie hatten eben diese hammerschweren Teile über den Deich auf den Bahndamm geschleppt, halb getragen, halb gezogen, zu zweit gekeucht und geschwitzt. Rolf kannte sich ja aus. Er hatte diese Sorte Gleissperren irgendwo organisiert. Bundesbahn? AKW-Gegner? Fleming wusste es nicht und wollte es auch gar nicht wissen.

 

»Und du weißt, dass da ´ne Baustelle ist?«, hatte er Rolf gefragt. »Du weißt das genau, oder?«

Daraufhin hatte der sich zurückgelehnt und seine beiden Kumpels mit beleidigtem Blick gemustert.

»Wer hat hier die Connection? Wenn ich´s euch sage: Zwei Kilometer hinter der alten Blockstelle – fast schon auf dem Festland – muss er runter mit seiner Fahrt. Auf zwanzig Sachen etwa. Das ist amtlich.«

»Und dann?«

»Was und dann? Dann fährt der solange zwanzig, bis er im Lübke-Koog ist. Dann ist die Baustelle nämlich vorbei.«

Fleming und Holger waren es zufrieden. Rolfs Bruder war doch bei der Bahn. Und wer sollte das mit der Baustelle besser wissen als der?

Rolf war der Chef der Drei. Das glaubte er jedenfalls. Davon ging er aus. Er hatte die Freunde unter seiner Fuchtel, wie man so sagt: Das, was er vorgab, wurde gemacht. Jeder Gedankenaustausch – über welchen seiner Pläne auch immer – hatte nur die Funktion, sowas wie Demokratie vorzutäuschen. Die beiden anderen sollten glauben, dass sie gleichberechtigt an den Vorbereitungen teilnahmen.

Davon konnte keine Rede sein.

 

Kurz hinter besagter Position also, dort, wo die Baustelle zu Ende war, stand Fleming im Schotterbett und trieb Rolf an, der immer noch damit zu tun hatte, die schweren Klamotten an den Schienen zu befestigen. Links eine. Rechts eine. Fleming wusste überhaupt nicht, wie das alles im Einzelnen funktionierte. Jedenfalls würde der Zug gegen die Sperren donnern und spätestens nach hundert Metern zum Stehen kommen. Basta! Das hatte Rolf jedenfalls behauptet.

»Was soll passieren?«, hatte er gesagt. »Der Zug wird abgebremst und kommt zum Stehen. Und wir haben erreicht, was wir wollen. Basta!« So hatte er gesprochen bei Uwe, als sie den Plan gemeinsam bekakelten.

»Sollen wir abstimmen? Oder seht ihr das auch so?«

Holger und Fleming dachten über die letzten Fragen nach, die Rolf ihnen gestellt hatte. Sie wussten es ja nicht besser. Sie hatten keine Einwände.

»Ja. In Gottes Namen«, antwortete Fleming. »Hauptsache, die Bahn merkt endlich was. So kann´s ja nicht weitergehen.«

 

Endlich stemmte Rolf sich in den Stand und stakste über die Gleise hinweg auf Fleming zu.

»Jetzt kann er kommen«, triumphierte er, schlug sich den Dreck von den Händen und schaute zur Insel. »Wo bleibt der denn?« Er hielt sich, sicheren Stand suchend, an Flemings Schulter fest, nachdem er die Schienen überschritten hatte, und zog ihn mit sich nach unten über das Schotterbett in Richtung Watt. »Komm! Wird Zeit.«

 

Die Insel-Pendler hatten sich zusammengetan. Viele jedenfalls. Der Service war miserabel. Die Abteile sahen aus wie Saustall. Heizung und Toiletten funktionierten nicht. Die Züge waren nicht pünktlich. Und viel zu wenig Waggons hatten sie.

»Man muss was tun«, hatte Rolf gemeint. Da war noch kein Plan in Sicht. Da redeten alle nur. Rolf auch. Und immer vorneweg. Den Mund ordentlich weit aufgerissen. Allerdings nur vor seinen zwei Freunden. Die Öffentlichkeit war nicht sein Ding. Es genügte ihm vollauf, wenn Fleming und Holger ihm zuhörten – wie die Gemeinde ihrem Pastor.

»Man muss ein Zeichen setzen!«, hatte er gefordert. »Man muss was tun.«

Das war der Beginn der ganzen Unternehmung. Sie standen am Flipper und tranken und qualmten.

»Und ich wüsste auch schon, was« , flüsterte er geheimnisvoll.

»Erzähl!«

Dann erzählte Rolf. Und niemand kam auf die Idee, nach dem Sinn dieses Vorhabens zu fragen, als er fertig war mit seinem Vortrag. Sie verhielten sich so, wie sie es gewohnt waren: Nickten mit den Köpfen und hielten das alles für einen grandiosen Scherz.

 

Flemings Handy klingelte. Er erschrak. Wer sollte ihn spät in der Nacht sprechen wollen? Er kontrollierte ein weiteres Mal in beide Richtungen, bevor er das Telefon ans Ohr hob. Oder es war Holger. Aber was sollte der jetzt noch wollen?

»Es gibt keine Baustelle mehr«, hörte er aus dem Handy schreien, als würde Holger direkt neben ihm auf dem Damm stehen. »Wir müssen das Ganze canceln.«

Fleming wollte noch fragen, wieso. Aber dazu war keine Zeit. »Gib mir den Schlüssel!«, brüllte er, entriss Rolf das schwere Gerät und stolperte, so schnell er konnte, über den Schotter hoch aufs Gleis. Bei der Geschwindigkeit würde der Zug entgleisen. Vielleicht! Bestimmt!

Die Schrauben lösen! Das müsste doch gehen. Die Zeit müsste reichen. Er hatte ja beobachtet, wie Rolf die dicken Schrauben angezogen hatte.

Er überlegte nicht mehr. Agierte mechanisch. Hatte auch keine Zeit, sich umzusehen. Den mächtigen Dreikant über die erste Schraube. Und los! Er musste alle Kraft aufwenden, die er hatte. Sechs Stück auf jeder Schiene. Jetzt die zweite.

Noch war kein Zug zu hören. Die dritte jetzt. Ein hastiger Blick zurück. Die vierte.

 

»Wann wollen wir´s machen?« Das war die alles entscheidende Frage, die Rolf eines Tages gestellt hatte. Eines Tages bei Uwe, als sie wieder Bier tranken und lachten und quatschten.

»Wann was machen?«, fragte Fleming und machte dadurch deutlich, wie weit entfernt er davon war, Rolfs Gerede von neulich für bare Münze zu nehmen. »Das mit dem Hindenburgdamm meinst du doch nicht ernst, oder?«

»Und ob ich das ernst meine. Was hast du denn gedacht?«, erwiderte der Kollege und verlieh seiner Antwort eine Spur Entrüstung.

Das war der Zeitpunkt, an dem den beiden Vasallen allmählich aufging, dass dieser Plan, der Plan Rolfs, einen Zug auf dem Damm zum Halten zu bringen, nie als Scherz gedacht war. Fleming verschwendete einige Sekunden des Nachdenkens über sein Verhalten, das die Eröffnung Rolfs von ihm forderte. Am Ende war er mit sich im Reinen. Und wenn Rolf die Sache auf dem Damm noch abblasen sollte, würde er auch nichts dagegen haben.

 

Die andere Schiene. Er passte den Vierkant an und bemerkte Rolf unten am Dammfuß, der wie festgewurzelt an derselben Stelle stand, an der er ihm den Schlüssel aus der Hand gerissen hatte. Die folgenden Ereignisse nahm er wie in Zeitlupe wahr.

Er fühlte ein schwaches Vibrieren der Schienen, ein leichtes, rhythmisches Schlagen, das sich vom Eisen über den Schlüssel in seinen gesamten Körper ausbreitete. Kaum spürbar.

Er musste eine Hand vom Vierkantschlüssel nehmen, um sich umzuschauen. Er sah die Lichter. Der Schlüssel knirschte beim Lösen der Schrauben. Zwei noch.

Ein Schrei drang an sein Ohr. Von weit her. Rolf. Die letzte Schraube. Er sah einen Schatten, der ihm entgegenstürzte. Irgendetwas riss ihn fort. Er verlor den Halt. Sein Fuß schlug gegen eine Bahnschwelle. Und er fiel kopfüber ins Gleisbett.

Als sein Kopf hart auf den Schotter prallte, war bereits jedes Leben aus seinem Körper gewichen.

Eine undurchdringliche Schwärze durchsetzte sein Bewusstsein Eine Ewigkeit lang. Als er die Augen öffnete, sah er von hoch oben einen Zug über den Damm aufs Festland rasen.

Er konnte sich an alles erinnern.

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 25.10.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Hermann Markau Carl-Ludwig-Jessen-Straße 4 25899 Niebüll

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