KAPITEL 1
Ahnungslos betrachtete ich das Display meines Laptops. Eigentlich hatte ich keine große Lust zu chatten, aber entschied mich dann trotzdem dafür. Schließlich durfte ich meine Internetfreundinnen doch nicht vernachlässigen.
Gelangweilt öffnete ich einen Gruppenchat. Ich las nichts durch, sonders klickte mich sofort wieder raus. Ach, ging mir dieses Internet manchmal auf die Nerven. Desinteressiert klickte ich mich in einen Livestream. "goodthoughts" nannte sich die Person. Erst war der Bildschirm schwarz und ich wollte den Stream schon wieder verlassen, doch dann sagte die Person etwas, das mich innehalten ließ.
"Bleib", sagte die Stimme leise, "bitte bleib einfach kurz hier." Stirnrunzelnd betrachtete ich den Bildschirm. Die Stimme kam von einem Jungen und irgendwie… kam sie mir bekannt vor. Woher wusste ich nicht, wahrscheinlich täuschte ich mich wohl. Zweifelnd blieb ich noch ein paar Sekunden in dem Stream, dann wurde es vollends langweilig und ich schaltete mein Handy aus.
Seufzend stand ich aus meinem Bett auf. Ich musste mich fürs Tanzen umziehen, schließlich war ich schon spät dran.
Laut durchatmend setzte ich mich zu meinem Vater an den Tisch. Er saß mal wieder an einem neuen Bericht. Er war ein begeisterter Journalist. Auch ich hatte mich einmal für diesen Job begeistert, doch diese Phase hatte sich schnell wieder gelegt. Mein Vater jedoch war noch nach Jahren hellauf begeistert und saß manchmal stundenlang am PC. Folglich ignorierte er mich auch so ziemlich, aber das war ich bereits gewohnt. Meistens dachte ich in seiner Gegenwart einfach nach.
Nach einem Blick auf die Uhr sprang ich entsetzt auf und rief nach meiner Mutter.
„Jaja“, antwortete sie mir, „bin jeden Moment fertig.“
Genervt krallte ich mir meinen Rucksack und ging zum Auto. Hinter mir hörte ich ihre gehetzten Schritte schon die Treppe runterpoltern.
Kaum war ich im Auto, schaltete ich das Radio ein. Musik war ein unfassbar großer Bestandteil meines Lebens. Nicht immer gewesen, aber in letzter Zeit geworden. Ich hatte Probleme, über die ich nicht mit meinen Eltern oder meinen Freundinnen sprechen konnte. Vielleicht waren es auch nicht unbedingt Probleme, das weiß ich immer noch nicht. Auf jeden Fall wurde Musik, genauer gesagt Softrock zu meinem Anker. So kompliziert meine Lage auch war, es gab immer einen passenden Song, der mir zeigte, dass ich nicht alleine war. Durch die Musik war ich auch erst zu dem Chatten gekommen. Meine Freunde hatten mich nie verstanden, sie fanden meine Musik komisch, oder nicht modern genug. Sie haben bis heute nicht verstanden, was ich ihnen damit sagen wollte. Musik wurde lange zu meiner eigenen Welt. Irgendwann fand ich Foren, die sich über Musik unterhielten. Ich wurde Mitglied dieser Gemeinschaften. Manche Leute waren echt schräg, aber es gibt auch jetzt noch ein paar Wenige, von denen ich behaupten würde, dass sie meine Freunde sind. Oft lag ich stundenlang in meinem Bett, mit Kopfhörern, und schrieb mit ihnen. Mittlerweile hatte das etwas an Wichtigkeit verloren. Vielleicht tat das mir auch leid.
Während der Fahrt ließ ich meinen Blick in die Ferne schweifen. Der Himmel war in ein tiefes Rot getaucht, welches ich schon als kleines Kind geliebt hatte. Manchmal saß ich dann stundenlang an der Fester und ließ mich von den warmen und dunklen Farben runterbringen…
Eine Viertelstunde später kamen wir, etwa 10 Minuten zu spät an der Sporthalle an. Ich hasste es so sehr, wenn ich zu spät war. Ich hasste Blicke auf mir und ich verabscheute nichts mehr als Aufmerksamkeit. Es erinnerte mich zu sehr an die dunkelste Seite meines Lebens.
Ich verbrachte die Tanzstunde mit Sophie, einer Freundin. Zu einer bestimmten Zeit in meinem Leben wollte ich Sophie alles erzählen. Dieses „Alles“, was noch keiner von euch verstehen kann. Ich wollte ehrlich sein, so dreist ehrlich. Doch wie so oft, tat ich es nicht.
Die Stunde verging schnell. Ich war komplett durchgeschwitzt, aber mein Kopf war endlich mal leer. Ich stieß die Tür auf und trat an die frische Luft. Es war kühl geworden. Gierig sog ich die kalte Luft ein. Dieser Moment der Ruhe hielt aber nicht lange an, da ich schnell bemerkte, dass ich mein Handy zuhause vergessen hatte. Wow. Ich konnte meine Mutter also nicht erreichen. Glücklicherweise wohnten wir ziemlich in der Nähe. Seufzend lief ich also los. Es waren etwa 5 Minuten bis zur Bahn und dann nochmal etwa 10 bis nach Hause.
Ich legte meinen Kopf in den Nacken und betrachtete die Sterne. Mein Leben war auch heute noch komplett verdreht und ein heilloses Gefühlschaos, aber die Nacht lud mich jedes Mal aufs Neue mit neuer Kraft auf.
Etwas genervt kam ich endlich an der Bahn an. Desinteressiert stieg ich ein. Wie mein Glück es wollte, standen 5 stark angetrunkene Typen drin. Ich wollte aber nicht nochmal 10 Minuten in der Kälte auf die nächste Bahn warten, also stieg ich widerwillig ein. Natürlich kam einer von den Fünfen direkt auf mich zu und atmete mir seine Alkoholfahne ins Gesicht. Hustend drehte ich mich um.
10 Minuten später kamen wir endlich an meiner Haltestelle an. Mir drehte der Magen, so anwesend war der Geruch von Alkohol. Beherzt sprang ich an die frische Luft und lief die letzten Meter bis nach Hause.
Kurz nachdem ich zuhause ankam, lag ich schon mit Chips und einer Serie in meinem Bett. Ich war zwar müde, aber eine Serie ging doch immer noch. Ich versank völlig in der Geschichte und schreckte auf, als mein Handy plötzlich klingelte.
Verwirrt stand ich auf. Wer schrieb mir um diese Uhrzeit noch? Ich entsperrte mein Handy und tippte auf den Chat, der mir angezeigt wurde. goodthoughts, der Typ von eben, hatte mir geschrieben. Gott, in der Zeit, in der ich beim Tanzen gewesen war, hatte ich noch etwa 5 Nachrichten mehr von ihm bekommen. Eigentlich hielt sich niemand so lange dran. Verwirrt las ich seine Nachrichten. Es ging um nichts Konkretes und trotzdem fühlte ich mich direkt angesprochen.
Ich antwortete recht selten, aber irgendetwas zog mich hier an und hielt mich fest. In allen Nachrichten ging es nur darum, dass ich mich bitte melden solle.
In dem Moment, als ich antworten wollte, erschien noch eine weitere Nachricht. Stumm las ich sie durch. Er meinte, dass er eigentlich selten Kontakt mit anderen aufnahm, aber dass er, er wisse nicht warum, bei mir eine Ausnahme machen würde.
Es trieben sich andauernd irgendwelche durchgedrehten Leute in solchen Chats rum, also war ich recht misstrauisch. Trotzdem hoffte irgendetwas in mir, dass er echt war. Und irgendetwas in mir meinte es zu wissen…
Mehrere Male las ich seine Nachrichten durch, bis ich mich dafür entschied, ihm zu antworten. Eigentlich wollte ich keinen neuen Kontakt, meistens konnte ich ihn eh nicht lange halten, aber meine Finger antworteten wie von selbst.
(goodthoughts): Ich möchte dich nicht bedrängen, aber bitte antworte mir.
(Ich): Hey. Sorry, ich war heute unterwegs. Jetzt hab ich Zeit. Was gibt’s? :)
(goodthoughts): Wenn ich ehrlich bin... nichts Besonderes. Ich fühlte mich einfach danach dir zu schreiben und zugegebenermaßen... Ich bin sehr ungeduldig. Sorry.
(Ich): Du brauchst dich nicht entschuldigen, es ist alles okay. Wenn’ s also um nichts Bestimmtes geht, Wie geht’s dir?
Und schon war ich dabei wieder einmal Smalltalk zu führen. Ehrlich gesagt hasste ich es, genau wie diesmal auch. Also wollte ich die Standartfragen stellen und dann würde er sich wohl nicht mehr melden. Schade, aber sei’s drum.
Seine nächste Nachricht las ich tatsächlich erst 10 Minuten später und sie erstaunte mich total.
(goodthoughts): Ich möchte dich hier nicht unterbrechen, aber wir wissen beide, dass Smalltalk zu nichts führt und es obendrein noch nervt oder? Erzähl mir etwas von dir, erzähl mir Dinge, die normalerweise niemanden interessieren würden, erzähl mir irgendwas, aber bloß kein Smalltalk. BITTE.
Schmunzelt dachte ich nach. Irgendwie war das süß. So ehrlich hatte mir noch nie jemand geantwortet. Aber ob es etwas Interessantes über mich gab? Hmm, ich wusste es ja nicht.
(Ich): Wir verstehen uns xd. Puh, also, lass mich nachdenken. Ich tanze, und liebe IceCream über alles XD
Wow, war das einfallslos. Wie peinlich. Trotzdem war ich auf seine Antwort gespannt.
(goodthoughts): Heyyyy, wo ist denn da die Kreativität? ;) Also pass auf: Du erzählst mir dein peinlichstes Erlebnis und ich dir meins okay?
(Ich): Lass machen!! Also, lass mich nachdenken...
Mir war nichts Peinliches passiert, mein Leben war eigentlich viel zu trostlos für solche Fragen. Wobei... Auf einen Schlag traf mich eine Erinnerung...
(Ich): Es ist eigentlich schon 3 Jahre her, ich war 13. Ich ging mit meiner besten Freundin Marry ins Schwimmbad und der Bademeister war... also naja er sah wirklich gut aus. Wir machten uns einen Spaß daraus ihn zu beobachten und gefühlte 100 Mal an ihm vorbeizulaufen. Zugegeben, er war viel zu alt für uns, aber genau das machte es so lustig. Als wir entschieden nach Hause zu gehen und in die Eingangshalle kamen, beschloss Marry sich etwas am Automaten zu ziehen. Lautstark lachten wir über "seine unfassbar muskulösen Beine" und "diese Grübchen, die sich bis zu seinen Mundwinkeln zogen". Marry zog sich also ihr Wasser und amüsiert liefen wir um die Ecke. Wer stand etwa einen halben Meter von uns entfernt? Richtig, der Bademeister. Was hielt er in der Hand? Marry’ s ältestes Badehandtuch, voller Disneyprinzessinnen. Mit einem fetten Grinsen im Gesicht gab er Marry ihr Handtuch, welches sie auf dem Weg verloren hatte und verabschiedete sich mit den Worten, dass wir unsere muskulösen Beinchen jetzt wohl dazu benutzen könnten bis nach Hause zu laufen. ES WAR UNS SO PEINLICH OMG XD.
Fast hätte ich es nicht abgeschickt, so peinlich war das mir. Ich meine welches 13-jähriges Mädchen benutzt ein Handtuch mit Prinzessinnen? Gespannt wartete ich auf seine peinliche Story.
(goodthoughts): Das habe ich noch nie jemandem erzählt, lach mich bitte nicht aus... Wobei doch, tu es XD. Ich war vor 2 Jahren in der Basketballmannschaft. An sich ist die Tatsache schon peinlich genug, weil ich mit dem Ball nicht umgehen konnte, aber schlimmer geht immer, nicht wahr? XD Ich stand also nach einem Spiel in der Dusche und redete mit meinem Kumpel. Manchmal machten wir uns über ein paar Leute aus der Schule lustig. (Von wegen, es lästern nur Mädchen) An diesem Tag aber redete ich von meinem Schwarm. Ich machte mich lustig über sie klar, über Gefühle sprechen ging ja mal so gaaar nicht. Kindisch wie wir waren fanden wir das super lustig. Irgendwann mal hörte ich neben mir nichts mehr, aber ich ging davon aus, dass mein Kumpel sich einfach umzog, also alberte ich lachend weiter rum. Als ich aus der Dusche trat, immer noch lachend, war er weg. WEG. Aber wie gesagt, schlimmer geht immer. Ich war nicht alleine (als wäre es nicht peinlich genug, dass ich Selbstgespräche führte), sondern als ich auf den Gang trat saß direkt neben meinen Beinen das Mädchen. Es war so beschissen peinlich, sie musste jedes Wort gehört haben. Ich, als kleiner, ängstlicher Junge sah sie an und rannte bis nach Hause. Bis heute kann ich ihr nicht in die Augen schauen ohne den Scham nochmal zu fühlen. Wie gesagt, lach ruhig XDDD
Als ich seine Nachricht fertig gelesen hatte, standen mir die Lachtränen immer noch in den Augen. Bevor ich ihm antworten konnte, ploppte seine Nachricht schon auf.
(goodthoughts): HAHAHAHA!!! Unsere Geschichten sind sich so ähnlich, fast als wären wir seelenverwandt ;).
(Ich): Du machst dich ja doch lustig über mich!!
Wir benahmen uns gerade wie zwei Kleinkinder, das war mir völlig klar. In diesem Moment war es trotzdem einfach richtig so.
Als ich am nächsten Morgen wach wurde, war ich todmüde. Ich hatte noch Ewigkeiten mit dem Typen namens Tim geschrieben. Wir verstanden uns so gut. Ich glaubte ihn schon fast auswendig zu kennen, so viel wusste ich über ihn. Klar stimmte das nicht, aber durch seine verrückten Fragen an diesem Abend war er mir näher als alle anderen Internetbekanntschaften. Das Wort Bekanntschaften wählte ich bewusst, noch am Abend zuvor hatte Tim mich davon überzeugt dass es keine Freunde sind, wenn man nicht mehr kennt als das Alter, der Name und vielleicht noch das Aussehen. Mit meinen Gedanken bei ihm machte ich mich für die Schule fertig...
KAPITEL 2
In der Schule war ich heute aufmerksamer, aber irgendwie auch abwesender als sonst. Die ganze Busfahrt bis hier, hatte ich nachgedacht. Irgendwie kam mir Tim so bekannt vor, ich mochte ihn echt. Wahrscheinlich war es nur Einbildung. Oder jemand machte sich einen Spaß draus mich zu verarschen. Aber eigentlich hatte ich niemandem, nicht einmal meiner besten Freundin von diesen Foren erzählt. Ich lief also bis zum Klassenraum und kaum war ich in der Klasse, begann ich zu grinsen. Ich und meine beste Freundin erzählten uns alles, aber etwas hielt mich zurück, mit ihr über Tim zu reden. Das war unser Ding und noch hatte sie nichts damit zu tun. Außerdem hätte sie sich dann gefragt, warum ich ihr nichts von den Foren erzählt hatte. Natürlich merkte sie sofort, dass etwas anders war. Ich grinste und lachte viel, aber heute war mein Lachen... anders. Aufgeregt versuchte sie mich auszuquetschen, aber ich schob alles auf einen "verrückten Traum". Als es nach 10 Minuten gongte, und der Lehrer nach 5 weiteren Minuten eintrat, hatte ich Zeit zum Nachdenken. Das hatte ich heute eigentlich schon genug getan, aber ich war mir wieder unsicher. Ich kannte diesen Typen knapp einen Tag lang. Wer sagt, dass er der war, für den er sich ausgab? Ich hatte es zwar im Gefühl, aber man weiß es ja nie. Und ich fragte mich sowieso, warum ich überhaupt über ihn nachdachte. Er war kein Freund, genauso wenig hatte ich Gefühle für ihn. Die hatte ich nämlich für Dave... Ach Dave...
"Katyyyy?!" Irgendwann nach der Stunde schreckte ich auf.
Lauren sah mich besorgt an.
"Äh ja", antwortete ich, aus einem Tagtraum erwacht, "alles gut".
Zusammen gingen wir in die Pause. Diese Pause unterhielten wir uns, wie jede Pause zuvor, über Müll. Ich mochte die Pausen, aber heute kam sie mir so oberflächlich vor. Ich wollte mit ihr über wichtigere Dinge sprechen. Über unsere Gefühle und Gedanken, nicht über anderes. Doch auch die Pause verging relativ schnell.
4 Stunden später saß ich dann schon wieder am Rechner. Und wie erhofft, gab es mehrere Nachrichten von Tim.
(goodthoughts): "Wo bist duuuu?", "Schule?", "Ach Gott, war mein Tag langweilig", "WANN KOMMST DUUU?"
Irgendwie machte es mich glücklich, dass da jemand war, der auf mich wartete. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht antwortete ich ihm.
(Ich): Timmm! Mein Tag war auch langweilig xd. Zweimal bin im Unterricht halb weggedöst. Hat aber niemand gemerkt. =)
(goodthoughts): Girl, da bist du ja! Lass uns bisschen schreiben <3
Die nächste Stunde versank ich völlig in meiner Unterhaltung mit ihm...
KAPITEL 3
Eine weitere Woche lang unterhielten wir uns täglich, doch als ich heute von der Schule kam und seine Nachrichten las, war ich erst mal verwirrt. Drei Nachrichten handelten davon, dass ich mir die Haare kurz schneiden solle. Verwirrt über diese Aufforderung fragte ich Tim, warum ich das tun soll. Er antwortete mir schon wenige Sekunden später.
(goodthoughts): Es sieht besser aus, glaub mir! Ich weiß das und ich möchte echt gerne, dass du deine Haare schneidest. Sobald du es gemacht hast, schickst du mir ein Bild okay? :)
(Ich): Ich möchte mir die Haare aber nicht schneiden.
(Ich): Tim?
(Ich): Hey, was soll das?
Ich war nicht dazu bereit mir die Haare abzuschneiden, das war klar! Wir schickten uns häufig Bilder hin und her und konnten dann über unsere Grimassen lachen, aber warum das jetzt gut war? Ich wusste es nicht. Etwas beleidigt legte ich mich schlafen. In dieser Nacht träumte ich viel. In den wirren Träumen ging es hauptsächlich um den gutaussehenden braunhaarigen Jungen aus dem Internet. Um meinen Tim, dem Jungen mit den blauen Augen und dem verschmitzten Lächeln…
Einen Tag später hatte ich noch immer keine Antwort erhalten und schrieb ihm erneut.
(Ich): Jetzt antworte mir doch! (Ich): Mein Tag war wirklich toll. Und deiner so?
Je länger ich keine Antwort bekam, desto unsicherer wurde ich. Schlussendlich war ich so unsicher, dass ich mich dazu entschied, es einfach durchzuziehen.
(Ich): Okay. Ich mach`s.
Schon eine Minute später bekam ich eine Antwort.
(goodthoughts): Super! Ich melde mich, sobald ich das Bild bekomme!
Mehr glücklich darüber, dass er mir wieder antwortete, als ängstlich vor dem nächsten Friseurbesuch, suchte ich meine Mutter auf. So überzeugend wie möglich, versuchte ich sie dazu zu bringen, mir einen Termin zu holen. Sie verstand nicht, warum ich mein geliebtes Haar loswerden wollte, und sträubte sich gegen meine Entscheidung. Vor lauter Angst, Tim zu verlieren stiegen mir die Tränen in die Augen und ich musste sofort dagegen ankämpfen. Voller Wut riss ich meine Jacke vom Bügel und rannte an die frische Luft. Sobald ich draußen war, blies mir die kalte Abendluft ins Gesicht. Entschlossen und ängstlich zugleich machte ich mich auf dem Weg zum Friseur. Normalerweise machte ich nichts ohne die Erlaubnis meiner Mutter, aber Tim hatte mir erzählt, dass das in unserem Alter normal sei. Also nahm ich den schnellsten Weg zu dem nächsten Friseur.
Als ich eintrat, läutete eine kleine Glocke. Ich sah mich um. Eine weitere Frau saß auf einem Wartestuhl und sah mich an.
"Hallo", sagte ich erstaunlich kleinlaut.
Keine halbe Minute später stürmte eine junge Frau, ich glaube sie war etwa 25, in den Raum. Sie hatte glatte, rote Haare und machte einen sehr aufgeweckten Eindruck.
"Hallo! Wie ist dein Name? Eigentlich kannst du dich direkt hinsetzen. Meine Kollegin ist gleich da!" Schnell trug sie mich in ihrem Computer ein. Kurz nachdem ich vor einem Spiegel auf dem Stuhl Platz genommen hatte, kam eine, etwas fülligere Frau, mit langweiligen grau-braunen Haaren um die Ecke. Sie ging so langsam, dass ich dachte sie würde gleich einschlafen. Die 2 Friseurinnen waren das komplette Gegenteil voneinander.
"Was soll ich dir denn Hübsches machen?", fragte sie mich.
Mit kräftiger Stimme antwortete ich: "Ab. Bis auf 10 cm. Einfach ab." Sie sah mich zweifelnd durch den Spiegel an und ich nickte nochmal bekräftigend. Als sei es nicht genug Überwindung gewesen, kam die jüngere Friseurin um die Ecke.
"Ab?!", rief sie aufgebracht, "Mädchen, deine Haare sind wunderschön. Die willst du AB?" Ein kleines Nicken brachte ich noch zustande. Die Pummeligere sagte: "Naja, ihr Wille, ihre Haare" und schnitt schulterzuckend die erste Strähne ab.
KAPITEL 4
Mit verheulten Augen lief ich durch die Stadt. Was hatte ich gemacht? WAS HATTE ICH VERDAMMT NOCHMAL GEMACHT? Ich hatte Angst vor den Reaktionen von meinen Freunden und meinen Eltern. Jedes kleine Kind hätte von vorneherein gewusst, dass kurze Haare einfach scheiße aussehen würden. Der einzige Grund zur Freude war Tim. Ich freute mich wirklich auf seine Reaktion.
Kaum war ich zuhause, schrie meine Mutter schon. Sie konnte nicht glauben, dass ich das einfach so gemacht hatte.
Als sie merkte, dass es mir nicht gutging, versuchte sie sich zurückzuhalten. Ihre Verärgerung konnte ich dennoch erkennen.
Die Reaktion meines Vaters war nicht besser. Er wuschelte mir durch die kurzen Haare und flüsterte:
"Deine schönen Haare."
Auf einen Schlag wurde ich sauer und schlug seine Hand weg. Es war mein Leben uns nicht ihres! Empört rannte ich die Treppe hoch. Mit klopfendem Herzen schaltete ich den Rechner an und klickte auf den Chat von Tim und mir.
(Ich): Ich hab’s gemacht. Schau! *Foto
(goodthoughts): Wunderschön! Ich bin stolz auf dich echt! Lass uns etwas chatten.
Ich war enttäuscht von dieser kurzen Antwort, aber es machte mich glücklich, dass er es schön fand und wieder mit mir chatten wollte. Es wurde wieder einmal ein schöner Abend, an dem ich viel mit Tim schrieb.
Als ich am nächsten Tag wach wurde, merkte ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Und dann fiel es mir wieder ein. Meine Haare! Meine schönen Haare! Als ich vor dem Spiegel stand, schlug mir die Erkenntnis mit der Faust ins Gesicht. Mein Gesicht war so leer und mein Gesicht wirkte blass. Vor mir stand nicht mehr das Mädchen, das ich zu akzeptieren gelernt hatte. Vor mir stand eine völlig veränderte Person.
Ich hatte so unfassbare Angst. Angst vor den Reaktionen in der Schule. Und dennoch wusste ich, dass ich es, gemeinsam mit Tim, schaffen würde.
Wie erwartet starrten mich die Leute an. Nicht einmal Lauren konnte verstecken, dass es ihr nicht gefiel. Ich merkte, wie meine Mitschüler versuchten, positive Worte zu finden. Aber es tat nicht so weh, wie erwartet. Sogar Dave starrte mich heute an. Dave, ja Dave. Der Dave. Aber irgendwie bedeutete er mir nichts mehr, auch wenn ich wusste, dass das falsch war.
Nach der Schule wollte ich Halt und Trost bei Tim finden. Der Tag war alles andere als angenehm gewesen. Doch seine einzige Nachricht war:
(goodthoughts): Beleidige deine Eltern. Nimm es auf. Melde dich danach.
(Ich): Man Tim?
(Ich): Mein Tag war beschissen, hilf mir doch bitte.
(Ich): Sobald ich dir das Video geschickt habe, hörst du mir aber zu okay?
Dann ging ich zum Abendessen. Meine Eltern erwarteten mich. Lächelnd. Dieses falsche Lächeln. Es stieg eine Wut in mir auf, die ich so gar nicht kannte. Mein Handy stellte ich so auf, dass es uns filmte. Alles tat ich mit dem beruhigenden Hintergedanken an Tim.
10 Minuten später war es schon so weit. Ich schrie:
„Man, Mama ich hasse dich! Und Papa, dich genauso!"
Das Beleidigen fiel mir erstaunlich leicht. Bis zu diesem Moment kam ich selten in Streit mit meinen Eltern. Deshalb waren sie umso überraschter und wütender.
Mein Vater erwiderte:
"Katy Harrison! Du hörst mir jetzt ganz gut zu! Du gehst jetzt in dein Zimmer und bis morgen will ich keinen Ton mehr hören!"
Ich schrie ihn an: "Du Schwein, du gottverdammtes Schwein!".
In diesem Moment wurde mir bewusst, was ich hier tat. Mit Tränen in den Augen schnappte ich mein Handy, knallte die Tür zu und lief nach oben in mein Zimmer. Hier schickte ich Tim sofort das Video.
(Ich): *Video
(goodthoughts): Du bist ein Schatz! Ich mag dich echt gerne. das macht mich wirklich glücklich! :) Lass uns schreiben. Was hast du auf dem Herzen?
(Ich): Danke, dass wenigstens du mir zuhörst! Alle sind gegen mich. Obwohl ich nichts tue. Meine Eltern haben mir verboten heute noch nach draußen zu gehen und meine Freundinnen.. ach, die sind mir irgendwie nicht mal mehr wirklich wichtig.
(goodthoughts): Deine Eltern haben sie echt nicht mehr alle. Aber die Sache mit deinen Freundinnen... Wer ist dir denn noch wichtig?
Es war so süß, wie er sich Sorgen machte und meine Antwort war völlig ernstgemeint und klar.
(Ich): Du!!
Als ich am nächsten Tag morgens aufwachte, war ich zuversichtlich. Tim war da. Er war derjenige, der immer für mich da war. Mit ihm würde ich das schaffen.
Als ich aus dem Bus ausstieg und mit anderen Schülern der Straße bis zur Schule folgte, sah ich Dave an der Bushaltestelle stehen. Er sprach mit einem Mädchen und es sah danach aus, dass sie sich stritten. Es war mir fast egal. Damals war ich beinahe eifersüchtig, wenn er mit fremden Mädchen sprach. Mir erschien es so klar, dass er einfach mal auf mich zukommen und mich ansprechen sollte. Hatte er nie getan, jetzt im Nachhinein fragte ich mich auch, was ich mir dabei dachte. Er kannte mich nie, und er würde mich nie kennen. Meinerseits, sowie seinerseits, kein Bedarf.
In der Schule angekommen, fiel mir meine beste Freundin um den Hals.
"Ach Katy, DU GLAUBST ES NICHT!", schrie sie aufgebracht. "Wir haben gewonnen! Wir haben den Schülerwettbewerb doch tatsächlich gewonnen!"
Mit falscher Freude lachte ich ihr zu und hob den Daumen. "Lauren, das ist toll, ich freu mich für dich!".
Eigentlich freute ich mich nicht für sie. Eigentlich war ich nur sauer. Sie würde in 2 Wochen für 12 Tage nach Berlin fahren. Zusammen mit ihren Mitschülern von der Laborgruppe. Ich konnte nicht fassen, dass sie mich einfach alleine hier lassen wollte. Begeistert und völlig übermotiviert schmiss sie ihre Tasche vom Tisch und begann ihre Mappe auszupacken. "Ach Katy, das wird so toll. Das krasseste ist, dass wir während der Reise Mark Forster treffen können! Ich kann es gar nicht wahrhaben..."
Etwas abweisender lächelte ich ihr nochmal zu. Ich hätte mich für sie freuen sollen, ich weiß. Aber ich konnte es einfach nicht.
Etwas leiser und deutlich genervt sprach ich mit mir selbst:
"Und ich bleib dann hier alleine. Genau."
Erst als ich an unserer Haustür stand, heiterte meine Laune sich langsam wieder auf. Ich wollte unbedingt Tim davon erzählen, wie Lauren mich doch einfach wieder im Stich ließ. Die Zeit bis zum Abendessen verbrachte ich damit, mich bei Tim über Lauren aufzuregen. Und er verstand mich. Ich war so dankbar, diesen Jungen kennengelernt zu haben. Nach einer Stunde riefen mich meine Eltern und ich verabschiedete mich von Tim. Nach dem Essen wollte ich sofort wieder hochlaufen, aber meine Mutter hielt mich ab und schickte mich nach draußen unseren Hund versorgen. Den hatte ich in letzter Zeit wegen Tim wirklich vernachlässigt, aber es war doch nur ein Hund... Ich konnte gar nicht verstehen, warum ich noch vor wenigen Wochen so verrückt nach ihm war. So schnell wie möglich erledigte ich meine Arbeit hier.
Zurück in meinem Zimmer erwartete mich leider überhaupt nichts Gutes. Mein Rechner war weg.
Mein. Rechner. War. Weg.
Hysterisch rannte ich die Treppe runter und rief nach meiner Mutter. Sie saß am Küchentisch und las gerade eine ihrer geliebten Heimatlektüren. Innerlich sowie äußerlich zitternd schrie ich sie an:
"Mama, wo ist verdammt nochmal mein Rechner?"
Mir provozierend ruhiger Stimme antwortete sie mir:
"Den haben ich und Papa uns für ein paar Tage genommen. Wir sind der Meinung, dass deine Noten unter deiner Abhängigkeit leiden. Es ist langsam soweit, dass du lernen musst, dich anders zu beschäftigen."
Aggressiv stieß ich einen Schwall Luft aus.
"Mama, ich brauche den Rechner jetzt. Und zwar jetzt sofort."
So ruhig wie möglich versuchte ich ihr zu erklären, dass ich den Rechner unbedingt wieder brauchte! Sie wollte mich aber, wie schon erwartet, nicht verstehen.
Ich war so wütend, so unfassbar wütend.
Den restlichen Abend blieb ich in meinem Zimmer und schlug auf mein Kissen ein. Was fiel ihnen nur ein? Sie würden schon noch sehen, was sie davon hatten, mir den Rechner und somit Tim wegzunehmen! Leise und einsam heulte ich mich in den Schlaf.
Am nächsten Tag ging ich meinen Eltern aus dem Weg. Der Tag danach auch. Und der nächste Tag sollte wohl auch gleich aussehen. Ich ging nur runter, wenn ich Hunger bekam und ich mir ein Brot schmierte. Lernen tat ich aus Sturheit und Prinzip nicht.
Fast eine komplette Woche später stand ich morgens, wie gewöhnlich auf und fuhr mit dem Bus zur Schule. Alles war normal. Bis zu dem Moment, an dem ich an diesem verhängnisvollen Tag in meine Klasse eintrat.
19 gehässige Blicke ruhten auf mir. Nicht einmal Lauren tat etwas. Sie saß in der letzten Reihe und starre mich hasserfüllt an. Ich sah die aggressiven Strahlen aus ihren Augen blitzen. Und dann erkannte ich, dass sie heute neben Sarah saß. Lauren und ich saßen schon immer zusammen. Schon seit Ewigkeiten. Heute schien es zum ersten Mal anders zu sein. Ich schlenderte zu ihr hin und setzte meine Tasche neben sie. Sollte Sarah doch gehen. Plötzlich hörte ich sie sprechen.
"Nein.", sagte sie und stieß meine Schultasche mit dem Fuß auf Seite, "Hier sitzt Sarah."
Dann wendete sie ihren Blick schon wieder ab und lächelte Sarah an. Was war hier los?
Verletzt und völlig eingeschüchtert setzte ich mich auf den letzten freien Platz in die zweite Reihe. Selbst während dem Unterricht spürte ich die Blicke auf meinem Rücken.
In der Mittagspause machte ich Anstalten, wieder auf Lauren zuzugehen, aber sie ging mir sichtbar aus dem Weg. Es war die erste Pause, die ich alleine verbrachte. Alleine und einsam. Die ganze Zeit stellte ich mir eine Frage. Was passierte hier? Aber auch den restlichen Tag sollte ich keine Antwort darauf bekommen.
KAPITEL 5
Am nächsten Tag wurde ich relativ früh wach. Ich hatte schlecht geschlafen, in der Nacht hatten mich mehrere Alpträume geplagt. Etwa um 2 Uhr in der Nacht war ich zum wiederholten Male aufgewacht. Ich hatte Nässe an meinen Wangen gespürt, woran ich erkannte, dass ich geheult haben musste. Am ganzen Körper zitternd war ich aufgestanden und hatte das Fenster geöffnet und den Sternenhimmel beobachtet. Er hatte mir, wie schon oft zuvor, neuen Mut gemacht. Als der Wind in mein Zimmer wehte und meine immer noch genässten Wangen kühl wurden, wurde mir klar, dass nicht immer alles so war, wie es schien. Diese Erkenntnis hatte ich bis morgens dann wieder vergessen.
Während der Nacht wurde ich noch ein paar Mal wach, folglich war ich todmüde als mein Wecker klingelte. Seufzend erhob ich mich aus dem Bett.
Schon bevor ich die Tür zur Küche öffnete, kam mir der Duft von gebratenem Speck entgegen. Das sollte wohl ein Versuch meiner Mutter sein, alles wieder gut zumachen. Ich wollte dem widerstehen, konnte es aber echt nicht mehr. Langsam öffnete ich die Tür und setzte mich an den Tisch. Meine Eltern sahen mich erwartungsvoll an. Vielleicht erwarteten sie eine Entschuldigung? Die würden sie nicht bekommen, auf keinen Fall. Alles war ihre Schuld. Sie hatten mir meinen Rechner genommen. Ich hatte nichts getan.
Nachdem wir alle minutenlang geschwiegen hatten und aßen, schob ich meine Reste auf dem Teller hin und her. Ich wollte sie gerne nach dem Rechner fragen, aber mir war klar, dass es das Gegenteil bezweckten könnte. Wenn ich nicht aufpasste, würden sie ihn mir noch längere Zeit abnehmen.
Als ich mir die richtigen Worte zurechtgelegt hatte, sprach ich sie dann endlich drauf an.
„Könnt ihr mich bitte kurz aussprechen lassen? Ich weiß, ihr denkt ich sei abhängig nach Social Media. Aber ich werde das ändern! Versprochen! Ihr müsst mir nur die Chance dazu geben. Und ach… wenn ich eure Erwartungen darauf bezogen nicht erfülle, könnt ihr mir ihn wieder abnehmen, ja?“
Ich war echt nicht heiß drauf, ihnen diese Möglichkeit zu geben, aber besser ein Kompromiss, als gar nichts.
Meine Eltern sahen sich in die Augen und kurz sah ich etwas wie Zweifel in den Augen meines Vaters aufblitzen.
„Okay“, sagte er irgendwann, „heute Abend bekommst du ihn zurück. Wirst du aber nicht das machen, was wir erwarten und dich nicht mehr in unserem Familienleben beteiligen, dann hast du deinen Rechner für eine Zeit lang gesehen! Wir möchten nicht, dass du irgendwie abrutschst.“
Dankbar sprang ich auf und fiel ihnen um den Hals.
„Danke, Danke!“ rief ich aufgebracht.
Wieder bemerkte ich einen zweifelnden Blick meines Vaters, aber das war mir wirklich egal. Schon heute Abend würde ich wieder mit Tim schreiben können! Auch wenn ich erst einen Tag in der Schule aushalten musste… Aber vielleicht war ja heute ein besserer Tag und alle hatten sich beruhigt. Mit naivem Mut startete ich in den Tag.
Kaum war ich in der Schule, wurde mir klar, dass dies nicht mehr als ein Wunschdenken gewesen war. Manche, mir völlig fremde Schüler, starrten mich abfällig von der Seite an. Einige sahen mich an und tuschelten dabei hinter ihren Händen. Andere wiederum gingen mir sichtbar aus dem Weg.
In der Klasse wurde es nicht besser. Lauren saß wieder neben Sarah und heute setzte ich mich sofort alleine. Die gesamte Klasse sah mich noch gehässiger an als gestern schon. Dann kam Sarah auf mich zu. Und ich hatte Angst. Ja, ich hatte tatsächlich Angst.
Mit den Armen in die Hüften gestemmt, sah sie mich herausfordernd an.
„Katy… Die gute, anständige Katy“, lachte sie höhnisch.
„Es ist wohl unerwartet, dass jeder plötzlich Bescheid weiß, nicht wahr? Und ach… selbst, dass du Lauren nie etwas von deinem zweiten Leben im Internet erzählt hast, ist das kleinste Problem. Aber ist schon okay. Sie hat ja uns. Im Gegensatz zu dir.“
Ihr Blick traf mich ein letztes Mal. Sie drehte sich um und ging zielstrebig zurück zu Lauren.
Ich drehte mich zitternd um. Das war ein Schlag in den Bauch gewesen. Schlimmer. Woher wussten sie es? Klar, Sarah übertrieb, aber woher wussten sie von den Foren? War es etwa Tim..? Nein, niemals, dem vertraute ich. Aber wie denn dann? Wie konnten sie es wissen? Und besonders… Welches war das eigentliche Problem? Ich hatte nie etwas Schlimmes getan. Ich hatte immer nur mit den Leuten gechattet. Ich verstand Lauren. Ich verstand, dass sie sich hintergangen fühlte. Aber ich verstand nicht, weshalb sie solch einen großen Aufstand machte. Sie war nie der Mensch, der großes Drama machte. Streitereien waren mit ihr immer im Handumdrehen geklärt. Wenn es dann überhaupt mal welche gab…
Ich konnte mich während des Unterrichtes nicht konzentrieren. Dauernd fiel mir irgendetwas runter. Wenigstens die Lehrer schienen Verständnis zu haben. Keiner von ihnen nahm mich heute dran.
Während den Pausen verkroch ich mich aufs Klo. Ich hatte Lauren mehrere Nachrichten geschickt, aber sie antwortete mir nicht. Immer wieder mal brach ich in Tränen aus.
Alleine und mit leicht verheulten Augen stand ich an der Bushaltestelle. Die Schule war erst wenige Minuten vorbei und alle die Menschen, die ich mal Freunde nannte, standen ein paar Meter weiter hinter mir.
Dave stand am anderen Rand der Haltestelle. Warum fiel mir das eigentlich noch auf? Als der erste Bus kam, leerte sich der Busplatz etwas. Meine Freundinnen, ich korrigiere, meine ehemaligen Clique, stand aber noch komplett da. Jedes Mal, wenn jemand an mir vorbei lief, hatte ich Angst. Wie lange würde es dauern, bis der erste mich ansprechen würde? Und ich konnte noch nicht mal antworten, da ich absolut nicht wusste, was ich nun wirklich gemacht hatte. Wenigstens die Wenigen, die es anscheinend noch nicht mitbekommen hatten, ließen mich in Ruhe. Dave sah ein paar Mal zu mir. Eigentlich freute ich mich über diese Momente, aber heute machte ich mir nur Sorgen darüber, was er wohl von mir denken mochte. Trotz aller Angst, war sein Blick verständnisvoll. Was unmöglich war, da er mich immer noch nicht kannte. Vielleicht hatte er es auch einfach noch nicht mitbekommen. Mit einem letzten Rest Hoffnung stieg ich in meinen Bus ein.
Kaum war ich zuhause, stürmte ich hoch in mein Zimmer. Fast stieß ich einen Freudenschrei aus, als ich sah, dass der Rechner wieder an der alten Stelle stand. Endlich!!! Ich hatte mehrere Nachrichten von Tim. Er schien sauer zu sein. Vielleicht eher enttäuscht. Verständlich, ich hatte mich ohne Vorwarnung zwei Tage lang nicht gemeldet! Zwei ganze Tage! Wütend auf meine gesamte Klasse, ach was sage ich, die gesamte Welt, erzählte ich ihm jedes Detail der letzten zwei Tage. Zum ersten Mal antwortete er mir nicht nach spätestens zehn Minuten. Aber auch nach einer Stunde erhielt ich keine Antwort.
Als ich am nächsten Morgen wach wurde, hatte er sich noch immer nicht gemeldet. Ich machte mir Sorgen um ihn. Noch mehr Angst hatte ich aber vor meinem nächsten Tag in der Schule….
Den ganzen Tag über konnte ich nicht ausatmen. Überall gab es Schüler, die mich feindselig anstarrten. Viele davon kannte ich nicht einmal. Ich wurde von Stunde zu Stunde ängstlicher. Es bestand kein Zweifel, dass der ganze Hass mir galt.
Erst im Bus wurde es langsam besser. Erst dort konnte ich endlich nochmal Luft holen. Hier schien noch niemand von der Sache mitbekommen zu haben, die nicht einmal ich selbst verstand. Mit Musik in den Ohren fuhr ich nach Hause.
Es kam mir vor, als wäre meine gesamte Umgebung heute grauer als die Tage zuvor. An mir zogen Häuser, Autos und glückliche Menschen vorbei. Heute interessierte es mich nicht. Heute wollte ich nur noch zu Tim.
Als ich zuhause ankam, lief ich an meiner Mutter vorbei direkt in mein Zimmer. Entrüstet rief sie mir nach, dass eine Begrüßung doch nicht zu viel verlangt sei. Unsere Stimmung war seit mehreren Tagen mehr als schlecht. Manchmal war ich so sauer auf sie, dass ich nichts aß. Der Gedanke an ein gemeinsames Abendessen ließ mich auch jetzt erschauern. Wenn es sein musste, ging ich mitten in der Nacht eben zum Kühlschrank und machte mir etwas zu essen. Ich weiß nicht, ob meine Eltern es mitbekamen, aber falls sie es taten, ließen sie sich davon nichts anmerken.
Und wie so oft, gab meine Mutter auch heute direkt auf. Sie kam mir nicht nach. Sie blieb einfach in der Küche. Das machte mich wütend, obwohl es doch eigentlich genau das war, was ich wollte. Verzweifelt stürzte ich zu meinem Computer. Ich spürte schon beim Öffnen des Chats, dass Tim heute für mich da sein würde. Auch wenn etwas von meinem Gefühl mir sagte, dass es nicht so einfach werden würde.
Ein paar Nachrichten hatte ich von ihm bekommen, aber leider waren alle ziemlich unbedeutend. Völlig am Boden zerstört, schickte ich ihm eine Nachricht, in der ich ihm wieder erzählte, was passiert war. Nachdem ich sie abgeschickt hatte, merkte ich, dass meine Wangen feucht waren. Scheinbar schien die ganze Sache mich noch mehr fertigzumachen, als es mir sowieso schon klar war. Erschrocken über meine eigene Verletzbarkeit, öffnete ich Facebook und lud die Seite. Einen Moment später bereute ich es wieder. Ich hatte Nachrichten bekommen. Mehr als irgendwann zuvor. Ich wusste, dass ich sie besser ignorieren sollte, doch etwas zog mich automatisch zu den Nachrichten hin. Als ich die ersten gelesen hatte, füllten sich meine Augen schon wieder mit Tränen. Jede der Nachrichten bestand aus Anfeindungen und Beleidigung. Hilflos begann ich zu zittern. In meinem Herz brannte die Sehnsucht nach demjenigen, der mir helfen konnte. Als hätte das Universum mich erhört, bekam ich wenige Sekunden später eine Nachricht von ihm:
(goodthoughts): Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Vielleicht auch nur eine gute Nachricht. Eine gute Nachricht und eine Erklärung, das ist es! Was magst du zuerst hören?
Sowieso schon völlig am Boden entschied ich mich dafür, zuerst die Erklärung hören zu wollen.
(goodthoughts): Okay. Ich wurde heute Morgen gehackt. Kurzzeitig. Für ein paar Stunden. Wer auch immer das war, er hat ne Menge Scheiße angestellt! Unter anderem wurden Stücke von unseren Chats veröffentlicht. Es tut mir leid.
Augenblicklich begann sich vor mir alles zu drehen. Wer konnte mir so etwas antun? Wer konnte Tim so etwas antun?
(goodthoughts): Leider ist es unmöglich herauszufinden, wer das war. Ich glaube, dass Lauren etwas in die Hände bekommen haben muss. Irgendwie ist doch alles vernetzt.
Jetzt war ich erst recht misstrauisch. Wie konnte das an Lauren geraten? Aber er hatte Recht, wie immer. Irgendwie war doch alles vernetzt.
(Ich): Bitte hör mir auf. Ich möchte nichts mehr davon hören. Gar nichts. Was ist die gute Nachricht?
(goodthoughts): Ich bin für dich da. Naja, ich bin für dich da, sobald du mir einen Gefallen getan hast. Danach sind es wir beide. Wir beide gegen den Rest der Welt.
Erleichtert willigte ich ein. Für ihn tat ich alles. Und das liebend gerne.
(goodthoughts): Ich habe morgen ein Referat. Alles, was ich dafür noch brauche ist ein Video. Es ist mir leider verboten, mich selbst darzustellen, und da ich dir vertraue, wollte ich dich drum beten, mir zu helfen.
Klar wollte ich das! Er hatte so viel für mich getan, da würde ich ihm doch ein simples Video schicken können!
(goodthoughts): Kennst du diese Tabs für die Waschmaschine? Alles, was du tun musst, ist eins dieser Dinger zu schlucken. Das ist ein Trend in den USA und völlig ungefährlich! Das ist das Highlight meines Referats. Ich wäre dir wirklich dankbar.
Zuerst zweifelte ich. Ob das wirklich ungefährlich war? Aber Tim hatte mich noch nie angelogen, es musste einfach stimmen! Wenige Sekunden später bekam ich eine weitere Nachricht.
(goodthoughts): *Video
Lächelnd öffnete ich das Video. Da war ein Mädchen, welches eins dieser Waschtabs schluckte. Es sah wirklich lustig aus. Und vollkommen ungefährlich! Zum ersten Mal an diesem Tag schmunzelte ich. Schließlich willigte ich ein.
Leise schlich ich aus meinem Zimmer. Es war schon später am Abend, wenn ich Glück hatte, schliefen meine Eltern schon. So lautlos wie möglich lief ich zu unserem Waschraum. Darauf bedacht kein Geräusch zu machen, kramte ich in den Regalen nach einem Tab.
"AH!"
Erschrocken schrie ich auf und drehte mich um. Vor mir stand mein Vater. Ihm gegenüber stand ich mit einem Wäschetab, versteckt in meiner Hand. Hastig stammelte ich vor mich her.
"Ich brauchte etwas für... ein Schulprojekt! Jetzt hab ich es!“
Ich wollte mich an ihm vorbei drücken, aber er hielt mich im Türrahmen fest.
"Du sprichst jetzt mit mir.", sagte er bestimmt. "Ich will, dass du endlich wieder normal mit mir sprichst!"
Sein Tonfall wurde immer lauter und aggressiver. Ängstlich versuchte ich, mich aus seinem festen Griff zu winden.
Dann kam die Panik. Die Panik, nicht mehr zu Tim zu dürfen. Erschrocken rang ich nach Luft. Dann begann ich zu schreien. Ich schrie so laut wie noch nie.
Atemlos kam nach wenigen Sekunden meine Mutter angerannt. In ihrem Blick sah ich nichts außer Angst. Dann bemerkte ich überrascht, dass der Griff meines Vaters sich gelockert hatte. Ich nutzte diese Chance völlig aus, riss mich los und rannte in mein Zimmer, ohne mich nochmal umzudrehen.
Als ich endlich wieder in meinem Zimmer stand und die Tür sicher hinter mir verschlossen hatte, hielt ich triumphierend den Wäschetab in meiner Hand. Unten hörte ich meine Mutter schluchzen, doch es interessierte mich nicht. Ich hatte es geschafft! Jetzt musste ich bloß noch das Video aufnehmen und dann konnte ich mich endlich richtig mit Tim unterhalten. Zufrieden richtete ich mein Handy aus. Das Klopfen meines Vaters ignorierte ich, genau wie die verzweifelten Bitten meiner Mutter.
5 Minuten später, war alles fertig. Ich hatte das Video aufgenommen und es an Tim geschickt. Anfangs erwies es sich als schwere als erwartet, dieses Teil zu schlucken, aber irgendwann überwand ich mich. Es sah nicht so gut aus wie bei dem Mädchen, aber ich glaube genau darum ging es Tim. Es durfte nicht so perfekt aussehen. Glücklich ließ ich mich in unser Gespräch fallen. Erst zwei Stunden später entschied ich mich dafür zu schlafen.
Röchelnd rang ich nach Luft. Mein Magen schmerzte und ich merkte sofort, dass ich heulte. Scheiße, meine Eltern durften nichts mitbekommen. Plötzlich schüttelte sich mein ganzer Körper und ich übergab mich auf meinen Zimmerboden. Das Erbrochene schäumte so sehr, dass es mir Angst machte und ich leise schrie. Völlig in Panik schloss ich meine Zimmertür auf und rannte ins Bad. Doch bis da sollte ich nicht mehr kommen. Mein Körper schüttelte sich und dann fiel ich auf den Boden. Sekunden später lag ich in meinem Erbrochenen. Noch ein paar Sekunden später standen meine Eltern neben mir. Dann hörte ich meine Mutter schreien. Es war der schlimmste Schrei, den ich jemals gehört hatte. Sie hockte sich neben mich und versuchte mich aufzusetzen. Das erwies dich als schlechte Idee, denn es schoss ihr ein Schwall Erbrochenes auf den Schoß. Das ironischste an der Sache war wohl, dass es duftete.
"Warum?", schluchzte meine Mutter neben mir "Was habe ich falsch gemacht?"
Während meine Mutter sich mit lauter Stimme Vorwürfe machte und ich vor Schmerzen fast schrie, sorgte mein Vater dafür, dass der Notarzt kam. Bis dieser kam, war ich halb abgedriftet. Mit jedem Erbrechen schmerzte mein Bauch mehr. Irgendwann hatte ich keine Kraft mehr. Und dieser Moment war das erste Mal, dass mein Vertrauen in den süßen, braunhaarigen Jungen Mal einen Knick bekam.
Kapitel 6
Als ich wieder aufwachte, war alles um mich herum weiß. Ich war im Krankenhaus, ganz klar. Die Erinnerung von der letzten Nacht prasselte langsam auf mich herab. Langsam aber sicher beschleunigte sich mein Atem. Ich hätte wohl wieder panikiert, wäre mein Vater nicht direkt aufgesprungen und hätte den Arzt gerufen. Dieser kam mit einem misstrauischen Blick wenige Sekunden später ins Zimmer geeilt. Höflich bittete er meine Eltern nach draußen. Dann sah er mich an.
"Mädchen, was hast du dir dabei gedacht?", fragte er, "Wolltest du dir etwa etwas antun?"
Erschrocken über diese falsche Vermutung erwiderte ich: "Auf keinen Fall! Das Referat... Also..."
"Jaja", unterbrach er mich, "ist schon okay."
Ich sah ihm an, dass er log. Dass er dachte ich sei psychisch völlig krank. Und ich sah ihm sogar an, dass ich bald wohl in der Psychiatrie sitzen würde. Ich, zwischen lauter Verrückten.
In den folgenden Stunden hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Zu viel Zeit. Der Vertrauensbruch von Tim ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich versuchte mich abzulenken, aber der Gedanke an ihn kam immer wieder zurück. Es fühlte sich an wie Stiche mitten ins Herz. Dieser Schmerz war schlimmer als das leichte Drücken meines Magens. Dass es mir physisch besser ging, sah auch der Arzt. Schon am nächsten Morgen sollte ich entlassen werden.
Meinen Eltern passte dieser Zeitpunkt nicht. Sie waren am nächsten Morgen nicht zuhause. Der Arzt konnte aber nichts machen. Die Betten mussten für die Nächsten frei werden. So überzeugend wie möglich versuchte ich klarzumachen, dass das absolut kein Problem sei. Bis dahin würde es mir wieder perfekt gehen und ich kannte den Weg von hier bis nach Hause perfekt. Außerdem war es ja nicht weit.
Zuerst widersprachen meine Eltern mir, jedoch blieb ihnen nichts anderes übrig, als schlussendlich einzuwilligen. Es verwunderte mich, dass alles so reibungslos geklappt hatte. Die Ärzte und selbst meine Eltern gingen noch immer davon aus, dass mit mir psychisch etwas absolut nicht stimmte. Meine Mutter sprach durchgehend von einem Termin in der nächsten Woche. Ich glaube, sie versuchte mir mit langsamen Schritten klarzumachen, dass mein Weg dann wohl in die Klapse ging.
Bis zum Abend hatte ich sogar meinen Laptop im Krankenhaus. Ich hatte vorgehabt Tim zu ignorieren, aber er schien so ehrlich besorgt, dass ich ihm verriet wo ich war und wie es mir ging. Er steckte mich sogar wieder mit guter Laune an. Wie ich diesen Jungen liebte!
Am nächsten Morgen lief alles wie geplant ab. Um kurz nach 11 stand ich mit meinen letzten Taschen vor dem Krankenhaus. Ich wollte jetzt nur noch nach Hause. In mein Zimmer. Also machte ich mich auf den Weg.
Kapitel 7
"AHHHH!!"
Ich schrie so laut wie ich noch nie geschrien hatte, doch 2 Sekunden später hielt mich auch schon jemand den Mund zu.
"Halt deine Klappe verdammt!", raunte mir eine Stimme zu, "wenn uns jemand gesehen hat bist du dran!"
Die Stimme gehörte einem jüngeren Mann. Anstatt ihm zu gehorchen, schlug ich wild um mich. Ich wusste nicht, wo diese Kraft plötzlich herkam. Ich schrie so laut ich nur konnte, in der Hoffnung, dass jemand mich hörte. Mein Geschrei jedoch ging einfach in seiner Hand unter. Fluchend zog er mich immer weiter in eine kleine Straßengasse. Ich hörte nicht auf mich zu wehren. Einmal traf ich ihn wohl schmerzhaft am Schienbein, sodass er leicht einknickte. Irgendwann aber merkte ich, dass es nichts brachte. Kraftlos sackte ich zusammen. In diesem Moment gab ich völlig auf.
Das letzte was ich dann noch spürte war, dass jemand mich in einen großen Kofferraum hievte. Das letzte was ich sah, war das bekannte Gesicht eines Jungen…
Das Gesicht von Tim.
In der nächsten Sekunde wurde mir schwarz vor Augen.
Kapitel 8
Als ich langsam wieder zu mir kam, lag ich auf einem steinharten und eiskalten Boden. Um mich herum war es stockdunkel. Ich hatte keine Orientierung und lag völlig verloren da.
Als auch meine Gedanken langsam wieder aufwachten, wurde ich augenblicklich panisch. Wo war ich hier? Warum war ich hier? Und was hatte Tim mit der ganzen Sache zu tun? So viele Fragen fluteten meinen Kopf. Ich versuchte zu schreien, mich bemerkbar zu machen, aber mein Hals war staubtrocken. Aus meiner Kehle drang selbst mit enormer Anstrengung kein Ton. Verzweifelt liefen mir erste Tränen über die Wangen. Meine Hände zitterten und ich atmete immer heftiger. Ich hatte Angst. So große Angst, wie ich es noch nie erlebt hatte. Ich verharrte minutenlang in der gleichen Position. Die Zeit verstrich.
Erst nach einer ersten, unfassbar langen hysterischen Phase konnte ich wieder einen Gedanken fassen. Trotz meiner Angst stützte ich mich vorsichtig auf meine Knie. Mein ganzer Körper schmerzte, dementsprechend hatte ich wohl schon lange dort gelegen. Langsam tastete ich mich voran. Meine Augen gewöhnten sich nicht an die Dunkelheit, vielleicht lag es daran, dass es keine einzige Lichtzufuhr gab. Blind und voller Panik rutschte ich auf meinen Knien weiter. Jeder abgetastete Zentimeter gab mir Sicherheit und nahm sie gleichzeitig wieder. Jeder Zentimeter bedeutete, dass ich Platz hatte, aber gleichzeitig warf jeder zurückgelegter Zentimeter Fragen auf. Wo war das Ende? Wie groß war dieser Raum? Was erwartete mich?
Langsam entwickelte ich ein Gefühl für die Dunkelheit. Als ich das erste Mal eine Mauer berührte, zuckte ich dennoch zusammen. Entgegen meiner Angst richtete ich mich schwerfällig auf. Ich tastete mich zögerlich an der Mauer entlang, in der Hoffnung, einen Lichtschalter oder ein Fenster zu finden.
Die Suche nach dem Fenster war aussichtslos, das war mir schon schnell klar. Umso erfreuter war ich, als ich auf einen Schalter stieß. Es war so leise, dass ich mein Herz klopfen hörte. Nach einem geräuschvollen Aufatmen, welches die Stille brach, legte ich den Schalter um...
Meine Augen brauchten mehrere Sekunden um sich an die ungewohnte Helligkeit zu gewöhnen. In der gegenüberliegenden Ecke des Raumes machte ich eine Erhebung auf dem Boden aus. Selbst nachdem ich mir den Schleier aus den Augen geblinzelt hatte, erkannte ich nicht, was dort lag. Mit verwirrender Neugierde ging ich immer näher ran und erkannte irgendwann, dass es eine Decke war, die über einen Gegenstand gelegt wurde. Als ich in der Ecke ankam und die Decke mit dem Fuß auf Seite kickte, hörte ich mich verzweifelt nach Luft ringen.
Unter dem grellen Schein der Deckenlampe lag jemand. Die Hautfarbe der Person war blass, es sah aus, als wäre jedes Leben aus der Person gewichen. Das eingefallene Gesicht wirkte so erbärmlich. Die kurzen schwarzen Haare standen hart im Kontrast zu der weißen Haut und den noch helleren Augenlidern. Mit stockendem Atem sank ich auf die Knie und griff nach der Hand. Schon eine Sekunde später ließ ich sie erschrocken fallen. Die Haut war aschfahl und eiskalt. Ich umgriff meine Hand und sah sie schockiert an.
Ich hatte gerade einen Toten angefasst. Schon wieder stieg mein Puls um das Doppelte an, sofern dies überhaupt noch möglich war. Hilflos krabbelte ich einen Meter zurück. In diesem Moment war ich wieder kurz davor mein Bewusstsein zu verlieren, doch der kalte Boden hielt mich erbarmungslos in der Realität. Ich schaukelte hilflos vor und zurück und starrte diese Leiche an. Durch meine Berührung wenige Minuten zuvor, war der Unterarm des leblosen Körpers frei sichtbar. Verstört starrte ich die vielen Stiche an, die sich über den gesamten Unterarm zogen. Ich hatte eine solche irrsinnige Angst. Dass dieser, so verflucht junge Mann, enorm Abscheuliches erleben musste, war mir klar. Völlig jämmerlich kroch ich weiter zurück, wenige Sekunden später wieder nach vorne. Dieses Szenario zog sich lange unverändert fort. So lange, bis meine Knie schmerzten und ich völlig durchgefroren war...
Kapitel 9
Schlotternd saß ich an der Mauer, als ich zum ersten Mal seit Ewigkeiten Stimmen hörte. Diese Stimmen zogen mich aus meinem Bann. An dem Brennen meiner Augen konnte ich erkennen, dass ich seit Stunden nichts anderes getan hatte als diese Leiche anzustarren. Die Stimmen wühlten mich innerlich auf und je lauter sie wurden, desto nervöser wurde ich, aber trotzdem blieb ich stumm sitzen. Ich saß völlig erstarrt auf dem Boden und bewegte mich weiterhin nicht. Irgendwann waren die Stimmen an der einzigen Tür angelangt. So verstört wie ich war, wendete ich noch nicht einmal meinen Kopf, als die Männer eintraten. Es waren 2, aber ich erkannte im Augenwinkel, dass einer im Türrahmen stehen blieb. Der andere war Tim, da war ich mir plötzlich völlig sicher. An irgendeinem unwichtigen Tag, in dieser unwichtigen Stille, mitten im Nirgendwo, war Tim derjenige, der mich aus meinem Schockzustand zog. Derjenige, der mich vor dem Durchdrehen bewahrte. In diesem Moment, in dem ich realisierte, dass es wirklich er war, sprang ich mit neuer Kraft auf. Eine unerwartete Energie durchströmte meinen erschöpften Körper. Zu dem Zeitpunkt war mir absolut nicht klar, dass ich ihm hoffnungslos verfallen war. Ich vertraute ihm immer noch, nach alldem, was er mir angetan hatte.
Er empfing mich mit offenen Armen. Seine weiche Stimme jagte mir eine Gänsehaut über meinen Rücken. Ich war geborgen in seinen Armen. Ich war sicher. Mein Traum wurde endlich wahr. Ganz langsam wärmte sich mein Körper wieder auf…
"Endlich bin ich bei dir", murmelte er, "Ich werde dir alles jetzt erklären okay?"
Ich nickte zustimmend und brach schon wieder in Tränen aus. Tim nahm mich an die Hand und führte mich fürsorglich aus dem kahlen Raum. Aus diesem verdammten Raum, der wohl für immer in meiner Erinnerung festgebrannt bleiben wird...
Kapitel 10
Für jeden Außenstehenden ist es unmöglich zu begreifen, wie ich mich in dem Moment fühlte, als ich das erste Mal in seinen Armen versank. Ich hatte diesen Moment seit Monaten ersehnt. Ich hatte so viel mit Tim durch gemacht und jetzt endlich konnte ich ihn umarmen. Trotz der verstörenden Umstände genoss seine Haut an meiner, seinen Atmen an meinem Ohr und seine Stimme, die mir leise Worte zuflüsterte. Man mag denken, dass ich an nichts dachte und einfach nur den Moment geschehen ließ, aber das war nicht wahr. Ich dachte an den Anfang an unserer Freundschaft, an den Anfang unserer Liebe. Ich dachte an all das, was ich für ihn getan hatte. Diese vielen Dingen, von denen es zu viele waren um sie alle zu erwähnen. Ich dachte an das erste traurige Gedicht, dass ich ihm schreiben sollte. Ich dachte an diesen Schnitt auf meiner Haut, der unseren Zusammenhalt signalisieren sollte. Doch neben all diesen positiven Gedanken schlichen sich auch hin und wieder schlechtere. Ich konnte langsam wieder etwas klarer denken und eigentlich war mir klar, dass etwas faul war. Ich dachte an die langen, oft harten Zeiten ohne Tim. Ich dachte an die Schmerzen, die ich in der letzten Zeit erfahren habe. Ich dachte an all das, was ich für ihn aufgegeben hatte. Und währenddessen wurde mein Geist immer und immer klarer.
Was mir schon schnell auffiel war, dass ich nie mit Tim alleine war. Uns folgte immer ein Mann, der sich auch hin und wieder mit Tim unterhielt. Er beobachtete jede meiner Bewegungen. Ich wurde etwas unsicher und lief dennoch weiter stumm durch die Gegend. Anfangs liefen wir durch eine unbewohnte Gegend. Das einzige Haus, was dort stand, war das, in dessen Keller ich die letzten Stunden verbracht hatte. Desto länger wir jedoch liefen, desto öfter hörte ich ein paar Kilometer entfernt ein Auto rauschen. Zu meiner Verwunderung liefen wir immer weiter in einen dichteren Wald hinein. Mir war es nicht unrecht. Vielleicht folgte ich ihnen so widerstandslos, weil ich die Geschichte mit der Leiche hinter mir lassen wollte. Anfangs blitzte dieses blasse Gesicht jede 2 Schritte vor mir auf, aber je länger wir liefen, desto weniger wurde es und desto mehr drängte ich den Gedanken daran in die hinterste Partie meines Bewusstseins.
Hand in Hand lief ich mit Tim durch den Wald, den Mann immer in unserem Rücken. Die ganze Situation wirkt vielleicht bedrohlich, aber sie war aber das Beste, was mir in den letzten Wochen passiert war. Als meine Füße schon leicht schmerzten erreichten wir eine Hütte im Wald. Ich war nicht kritisch oder gar verängstigt, im Gegenteil, ich freute mich auf die entspannte Zeit mit Tim.
"Honey", sagte er leise, als wir an der Hütte ankamen und er kurz mit dem Mann gesprochen hatte, "Es tut mir wirklich leid, aber ich muss dich kurz alleine hier lassen. Ich muss dringend etwas besorgen und ich kann es dir nicht zumuten, den ganzen Weg noch zwei Mal zurück und wieder hin zu laufen. Drinnen gibt es etwas zu trinken und eine Decke. Ich bin in einer Stunde zurück. Schaffst du das?"
Ich funktionierte perfekt und stimmte ihm zu.
"Klar", flüsterte ich ihm zurück, "ich warte hier."
Sein Gesicht strahlte leicht auf. Er beugte sich vor und hauchte mir einen Kuss auf die Wangen. Danach drehte ich mich um und ging in die Hütte rein.
Kaum war ich drinnen, hörte ich einen Schlüssel, der sich im Schloss drehte. Ängstlich drehte ich mich um und versuchte die Tür zu öffnen. Vergeblich. Langsam sank ich auf den Boden. Das letzte was ich von Tim hörte war ein leises Lachen und die Aussage "Wir haben sie. Sie wird es tun."
Erst war ich verwirrt, aber ich ignorierte diese Worte. Sie sollten schon früh genug wieder zurückkommen...
Kapitel 11
Ich sah mich in der kleinen Hütte um. Es war wirklich relativ kühl und ich legte mir die Decke vom Boden auf die Schultern. Auf einem Tisch lag etwas Brot, aber noch war ich nicht hungrig. Ich verbrachte ungefähr eine Stunde in diesem Raum, bis mir eine weitere kleine Tür auffiel. Ich war wirklich neugierig und öffnete sie voller Interesse. Auf einer kleinen Kommode in einer Ecke des Raumes lagen mehrere Briefe. Ich ließ mich an der Wand auf den Boden sinken und öffnete sie. Voller Vorsicht. Voller Ängstlichkeit erwischt zu werden. So sauber wie möglich öffnete ich den ersten Brief. Meine Augen flogen über das Papier und ich erschrak.
Meine Trauer fällt so schwer,
unendlich wie ein weites Meer.
Der Blick in die Ferne,
der Blick in die Sterne,
und alles bringt nur Angst.
Mein Herz, schwerer als Blei,
ich wünschte es wär endlich vorbei.
Das war mein Gedicht, ganz eindeutig. Das war eines der ersten Gedichte an Tim. Was machte das hier? Was sollte das? Das war doch unsere Angelegenheit, das war doch voller Vertrauen geschrieben?
Gekränkt öffnete ich den zweiten Brief. Jedoch lange nicht mehr so vorsichtig wie kurz davor. Als ich das jedoch las, stockte mir der Atem völlig und Tränen schossen in meine Augen. In diesem Brief hatte ich ihm den dunkelsten Punkt meiner Vergangenheit erklärt.
Es fällt mir schwer darüber zu reden. Es fällt mir so schwer, diese alten Wunden wieder aufzureißen. Aber für dich möchte ich es tun. Du solltest es wissen. Ganz grob gesagt, ich habe meinen Bruder umgebracht. Ich habe ihm das angetan, was man niemandem antun sollte. Ich habe ihm sein Leben gestohlen.
Die Tränen liefen mir ungehalten über die Wangen, aber ich las weiter.
Es war am Meer. Wir haben im Wasser gespielt. Er war erst 9, genau wie ich und konnte dennoch erstaunlich gut schwimmen. Wir machten Wettrennen, wir drückten uns unters Wasser und... wir gaben auf uns Acht. Wir passten immer auf den anderen auf. Meine Mutter rief irgendwann zu uns rüber, dass es zu dunkel wurde und wir reinkommen sollten. Trotzdem überredete ich meinen Bruder dazu, noch ein Wettschwimmen zur Insel zu machen. Er war erst dagegen, da er wusste wie gefährlich das bei der Dunkelheit werden konnte, aber ich stichelte ihn so lange an, bis er schließlich einwilligte. Natürlich hängte er mich schon nach Sekunden ab. Ich schwamm so schnell ich nur konnte und kam dabei nur zum Luft holen an die Wasseroberfläche. Das ist wahrscheinlich der Grund, weshalb ich ihn nicht schreien hörte. Er ist ertrunken, wenige Meter vor mir. Vielleicht habe ich seinen leblosen Körper sogar noch berührt. Tatsache ist, dass es meine Schuld war. Ich hatte ihn überredet und ich war der Grund für seinen Tod. Hätte ich nur besser achtgegeben. Es hat mindestens ein Jahr lang gedauert, bis ich wieder alleine klarkam, doch auch nach 7 Jahren sucht diese schreckliche Erinnerung mich immer wieder auf.
Meine Tränen fielen auf das Blatt. Ich schluchzte und ich fühlte mich von Sekunde zu Sekunde schlechter. Ich brauchte viele Minuten, bis ich den nächsten Brief öffnete. In ihm stand meine Beschwerde über Lauren. Und plötzlich wurde mir alles klar. Plötzlich war mein Kopf völlig klar, meine Gedanken nicht mehr wirr. Er war es. Er war es immer gewesen. Er hatte Lauren diesen Text geschickt. Er hatte mich bewusst gefährliche Dinge tun lassen. Er hat bewusst die Erinnerung an meinen Bruder immer öfter aufblitzen lassen. Und es war auch nicht der Anfang einer romantischen Liebesgeschichte, dass ich hier saß, sondern es war das Gefährlichste, was mir je passiert war.
Er hatte mich völlig in seinen Händen, ich war seine Marionette gewesen. Bis hierher. Bis zu diesem Punkt. Bis zu diesem Moment. Für andere war ich naiv, ich war völlig bescheuert und dämlich. Mir jedoch war klar, dass ich nichts hätte tun können. Er hat mich immer alles tun lassen, mir hin und wieder sogar gedroht. Er hat mich in diese Situation gebracht. Und Liebe war nie im Spiel gewesen. Wenn man das hört, denkt man sich wohl "Endlich hat sie es verstanden. Endlich" und verspürt dabei Erleichterung. Doch so fühlte es sich nicht an und so war es auch nicht. Plötzlich war ich hilflos und voller Panik. Ich hatte niemanden mehr. Ich hatte jeden fallen lassen, alleine für Tim. Ich war völlig alleine und dem Ganzen völlig ausgeliefert.
Mir wurde immer klarer, wie einsam ich eigentlich war. Ich dachte an Lauren, die auf ihrem Ausflug war und der ich es nicht gegönnt hatte, Mark Forster zu treffen. Ich dachte an meine Eltern, denen ich das Leben zur Hölle gemacht hatte. Ich dachte an meinen Hund, an meine Klassenmitglieder und ganz besonders dachte ich an... Dave. Der Gedanke an ihn war nach so langer Zeit wieder neu. Ich möchte klarstellen, dass ich nie aufgehört hatte, ihn irgendwo zu lieben. Es war bloß Tim gewesen, der mich so manipuliert hatte, dass ich Dave vergaß. Dass ich niemanden mehr wollte außer Tim.
Ich lag zitternd auf dem Boden. Ich sah wohl aus, als sei ich völlig durchgedreht und das war ich wohl auch. Ich hatte nichts mehr. Das einzige was ich hatte, war wohl Glück... Ein unfassbares Glück.
Während ich auf dem Boden lag und den letzten Brief auf der Kommode liegen ließ, kam die ganze Geschichte mit Dave wieder hoch. Ich konnte nicht erklären warum, doch plötzlich fiel mir wieder jede besondere Situation zwischen uns ein. Jeder Blick, jedes Wort, das wir fast gewechselt hätten. Ich erinnerte mich an alles ganz genau, ich sah es klar vor mir. Mir fielen sogar diese Momente ein, als ich ihn wegen Tim eigentlich vergessen hatte. Jeder Blick, jede verzweifelte Geste. Erst in diesem Moment voller Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit verstand ich, dass da immer etwas gewesen war, selbst wenn ich es mir nie eingestehen konnte. Ich möchte das nicht beschrieben, es ist mit Worten einfach nicht möglich. Damals hatte ich immer Angst gehabt falsch zu liegen, doch ich wusste nun, wie sich falschliegen anfühlte. Es war diese Fixierung auf Lügen, auf Verschönerung und die völlige Ausblendung der Umgebung. Doch bloß der Gedanke an Dave ließ mich hingegen aufatmen. Er war mein Platz zum Luft holen, er war mein wirkliches Zuhause. In diesem Moment gab er mir jede Sicherheit, die ich brauchte.
Es war gut, dass ich diesen Menschen hatte und mir das erst jetzt bewusst wurde. Hätte es diese Sicherheit schon immer gegeben, wäre dieser Moment nichts Besonderes gewesen. Von diesem Moment wäre bloß die Kälte der Einsamkeit geblieben. Nichts wäre von dieser wärmenden Liebe zu spüren gewesen, die ich jetzt empfand. Wäre ich noch völlig bei Sinnen gewesen, hätte ich jeden Gedanken sofort logisch widerlegt und es wäre bloß die Leere übrig geblieben. Es war also ebenfalls Glück im Unglück, dass Denken nur noch eingeschränkt möglich war.
Mein größtes, bereits erwähntes Glück war jedoch viel wichtiger. Dieser Zusammenbruch hatte mich eines gelehrt: Irgendwo gab es noch Hoffnung, leise und versteckt. Nur diese Tatsache hat mich wahrscheinlich überleben lassen. Das realisierte ich, als ich den letzten Brief las. Er war von Tim. Und er bestand aus der Aufforderung mich umzubringen.
Kapitel 12
Völlig verloren flogen meine Augen über die sorgfältig geschriebenen Zeilen. Hätte ich diesen Brief auch nur 10 Minuten früher gelesen, würde ich jetzt womöglich schon nicht mehr leben. Meine Hände zitterten mit jeder gelesenen Zeile mehr und die erfolgreich verdrängten Tränen flossen heiß über meine Wangen.
Katy... Ich hätte nicht gedacht, dass diese Zeilen mir so schwerfallen würden. Ich liebe dich, ich hoffe das ist dir bewusst. Du hast mir in den letzten Monaten viel von dir erzählt und wir haben viele gemeinsame Insider. Mit dir fällt mir das Lachen so leicht. Und doch gibt es die dunkle Seite deines Lebens. Diese Seite deines Lebens, die du vor jedem versteckt hast. Erfolgreich. Ich denke das sollte ein Ende haben. Ich denke, ich habe noch einen letzten Wunsch an dich. Du hast mir bereits so viele Gefallen getan. Das hier soll der letzte sein. Steh bitte auf und iss ein Stück von dem Brot auf der Diele. Du wirst nichts spüren. Du wirst bloß vergessen können. Endlich die letzten Tage voller Ignoration und Hass hinter dir lassen können. Dieses Ende ist kein Ende. Es ist der Beginn von unserer wahren Liebe. Es ist der Beweis deiner Liebe.
Dein Tim x
Ich weinte mittlerweile nicht mehr leise. Ich schrie beinahe. Dieser Verrat war schmerzhafter als alles was ich bisher hatte erleben müssen. Mein Kopf pochte wie wild und mein gesamter Körper zitterte. In mir machte sich immer mehr Panik breit. Tim meinte nichts von dem, was er geschrieben hatte wirklich. Diese Zeilen gehörten zu seinem erbarmungslosen Plan. Mir gingen seine Worte immer wieder durch den Kopf. "Wir haben sie." Immer und immer wieder.
Die Minuten vergingen und ich wurde immer panischer. Wie sollte ich hier jemals wieder wegkommen? Manchmal kam mir für wenige Sekunden in den Kopf, dass ich dieses Brot essen sollte. Wenn es stimmte was er sagte, wäre mein Tod schmerzlos. Ich wäre endlich befreit von diesen endlosen Qualen.
Nach endlos langen Minuten stand ich langsam auf. Ich stützte mich an der rissigen Mauer ab, denn meine Kraft reichte nicht zum Gehen. Ich musste ein paar Schritte gehen, bis der Schwindel in meinem Kopf langsam aber sicher nachließ und die Kraft zurück in meinen Körper kam. Ich drehte ziellos Runden in der Wohnung. Wobei... Es war nicht bloß ziellos, es war völlig verloren. Ich wusste nicht mehr wo mir der Kopf stand. Ich hatte niemanden mehr. Meine Eltern und Freundinnen hatte ich verloren und Dave hatte ich zutiefst enttäuscht.
Das schlimmste an meiner Situation war, dass ich spürte, dass Dave mir vertraute. Dass er wusste, dass mein Verschwinden einen völlig logischen Grund hatte. Vielleicht haltet ihr mich jetzt für völlig durchgedreht. Ich verstehe euch, mein Verstand war nämlich völlig eurer Meinung. Dieses Gefühl jedoch verschwand nicht mehr. Nicht in den nächsten Sekunden und auch nicht in den nächsten Minuten. Es blieb und gab mir neue Willenskraft. Desto mehr Minuten verstrichen, desto klarer wurde mir, dass ich nicht aufgeben durfte. Vielleicht wegen Dave, vielleicht auch um Tim zu zeigen, dass er nicht gewonnen hatte.
Meine Gedanken schwirrten unsortiert umher. Ich suchte nach einer Möglichkeit hier raus zu kommen. Hier endlich zu verschwinden. Immer wieder erschien mir das Bild der Leiche im Kopf. Von diesem Mann, der eindeutig einen qualvollen Tod erlitten hatte. Hatte er sich umgebracht? Hatte er vielleicht auch versucht zu fliehen?
Dieser schreckliche Gedanke an ihn machte das Fleisch auf meinen Knochen zu Beton und meinen Willen stärker als Eisen. Ich wollte nicht sterben. Nicht freiwillig und nicht durch Folter. Ich wollte leben. Ich wollte hier raus. Verzweifelt stieß ich immer wieder mit meiner Schulter gegen die verschlossene Tür. Irgendwann schmerzte meine Schulter so sehr, dass ich aufgeben musste. Doch selbst wenn meine Schulter jetzt schmerzte, mein Wille war unerschütterlich. Ich suchte alles nach Fluchtmöglichkeiten ab, doch Tim hatte gute Arbeit geleistet. Alleine kam ich hier nicht raus. Da konnte mein Wille noch so stark sein.
Urplötzlich schwand meine Zuversicht genauso schnell wie sie gekommen war. Ich sank an der Wand auf den Boden und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. In dieser Position verharrte ich so lange, bis ich etwas an der Tür rumoren hörte. Sofort war ich auf den Beinen. Innerhalb von wenigen Sekunden war mir klar, dass das nicht Tim oder der andere Typ war. Sie hatten einen Schlüssel, diese Person nicht. Freudentränen rannen mir über die Wangen. Ich war nicht mehr alleine.
Nach diesen Momenten voller Hoffnung wurde es plötzlich still vor der Tür. Kurz kam mir der Gedanke, dass auch diese Person vielleicht aufgegeben hatte. Verärgert stieß ich gegen die Tür. In der nächsten Sekunde flog sie weit auf. Dann hörte ich Schreie. Tims Schreie. Völlig auf Adrenalin sah ich mich um. Noch etwa 60 Meter von mir entfernt hechtete Tim auf mich zu. Selbst aus dieser Entfernung erkannte ich die Wut, die seine Muskeln vorantrieb. Dann machte ich eine andere Stimme aus, schräg hinter mir. Es war die Stimme aus dem Livestream. Ich fuhr um und erkannte jemanden in einer viel zu großen Weste und einer Mütze auf dem Kopf, der mich mit wilden Gesten zu sich winkte. Sobald ich einen Schritt in seine Richtung gemacht hatte, drehte er sich um und rannte los. Ohne jegliche Zweifel hechtete ich hinterher.
Tag der Veröffentlichung: 27.09.2018
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Widmung:
out of my mind