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Der Tanz

Das Märchen von Souira Kedima und Eckernförde


von Thyra Thorn


Der Tanz


Der Weg führt am Meer von Souira Kedima entlang, trennt den weiten, gelben, leeren Strand von der modernen marokkanischen Hotelansiedlung.
Kein einfacher Weg, sondern eine breite Strandpromenade, mit geriffelten Fliesen, teuer, blank poliert zunächst. Jetzt sammelt sich in den Fugen der Flugsand, bildet in den Ecken, am Fuße des Geländers kleine Dünen, sein stumpfes Gelb bricht das Weiß der Steine.
Die Promenade erstreckt sich schon über fast zwei Kilometer, geht dann in den halbfertigen Teil über, auf dem die Fliesen erst noch verlegt werden müssen.
Sie liegen bereit, aufgestapelt an den Rändern. Jeden Tag finden ein paar mehr ihren vorbestimmten Platz.
Der Unterbau erstreckt sich noch über einen weiteren Kilometer. Aus dem Stahlbeton ragen die rostigen Stäbe des Baustahls heraus.
An ihnen entlang dringt schon das erste Wasser ins Innere. Dabei soll das Monument aus 1001 Nacht erst entstehen, ist nur angelegt in seiner künftigen Herrlichkeit. Und schon rostet der Stahl, entstehen im Beton die ersten Risse.
Zur Seeseite hin begrenzt ein weiß gestrichenes Säulengeländer den prächtigen Weg, in regelmäßigen Abständen von vorspringenden Pfeilern mit breiten Pilastern gegliedert.
Auf manche sind schon Schriftzeichen aufgemalt, japanische oder arabische und an einigen blühen die ersten Graffitis auf.

Auf einem der Pfeiler steht Ai- Ki- Do : wörtlich übersetzt: Harmonie- Kraft- Weg.
Harmonie im Einklang mit der Welt, fühlen, was der andere braucht-
Harmonie, vielleicht auch Liebe oder besser: „Musubi“- einen Knoten machen, sich auf den anderen einlassen, sich nahe kommen, um sich dann wieder zu trennen, den eigenen Weg weiter zu gehen. Auseinander. Nebeneinander. Mit Kraft und Konzentration.
Um sich dann –irgendwann – wieder zu begegnen.

Auf den anderen Pfeilern finden sich Tags, zaghaft noch. Herzchen um Initialen herum. Wer war hier?
Wann waren sie hier?
Vor ein paar Monaten vielleicht, oder eher vor einem Jahr?

Die Promenade mit dem protzigen Geländer, - man hat es im vorderen, fast fertigen Teil blau weiß angestrichen, als wäre man in Eckernförde oder in einem dieser Nordseebäder-, die Promenade ist um diese weiße, heiße Mittagszeit völlig leer.
Vergebens ragen die hohen Masten der Laternen in den dunstigen Mittagshimmel, keinem weisen sie den Weg.
Versprechen Glanz und Licht und fröhliches Treiben in den Abendstunden, aber auch dann wird keiner kommen.
Umsonst werden sie die Promenade so hell erleuchten, dass die Nachtschwärmer viele Schatten würfen in viele verschiedene Richtungen, dass nur unmittelbar am Fuße der Pfeiler Dunkelheit entstünde, in dem sich gerade einmal eine Ratte oder eine kleine dünne Katze würde verstecken können.
Aber auch in dieser Nacht wird kein Tourist kommen, Nur der feine singende Sand und ein paar Fledermäuse, kurz aufblitzend im gleißend hellen Schein der vielen Lampen.

Einzig am späten Nachmittag gehen ein paar Männer, viele in den traditionellen Djellabas, die Promenade, die nicht für sie gebaut worden ist entlang. Schlendern, unterhalten sich, lachen, streben alle in die gleiche Richtung, fast alle mit einer leeren schwarzen Plastiktüte in der Hand.
Sie sind fertig mit ihrer Arbeit, haben sich den weißen Steinstaub von den Hosen gewischt und die Betonspritzer von den rissigen Händen gewaschen.
Ihr Tagwerk ist getan, sie haben ihre Arbeit an der Promenade und in der angrenzenden, riesigen Hotelanlage beendet.
Der Beton ist gemischt, (wieder mit dem salzhaltigen Sand des weiten Strandes), gegossen und gerüttelt und soll härten.
Ein riesiger Speisesaal wird an die großzügige Lobby des zentralen Hotelkomplexes grenzen.Alles in einem orientalisch-gotischen Stil gehalten, die Eingangshalle des Hotels wird einer Kathedrale gleichen.Um die bunt gekachelten Poolanlagen werden sich die Apartmenthäuser der künftigen Touristen gruppieren. In der unweigerlich kommenden Märchenwelt der Reisenden, in der viel Geld ausgegeben wird, das sie nicht verdienen werden.
Aber jetzt ist noch alles grau und staubig, aus einem Beton, der an vielen Stellen bereits wieder abbröselt.
Das kümmert sie nicht.

Sie wissen genau, wenn sie die Anlage fertig gebaut haben, werden andere kommen.
Ihnen werden nur die schlecht bezahlten Jobs als Kellner und Reisebegleiter bleiben. Und auch nur den sprachgewandten, cleveren unter ihnen.
Die meisten werden weiterziehen und die nächsten Hotelanlagen bauen. Die marokkanische Küste mit diesem Betoneinheitsbrei voll kleistern, damit es überall so aussieht wie in Eckernförde.

Doch jetzt lachen sie und freuen sich auf den alten Hafen von Souira Kedima, auf die Fischhalle, die ihre Pforten öffnet.
Fragen sich, was die Fischer, die in den Nachmittagsstunden an ihnen vorbei tuckerten, vom Meer heimbrachten an Tintenfischen, Muränen, riesigen Krabben, Garnelen und silbrigen Fischen.
Der Sprung von der Promenade hinunter in den staubigen Sand der alten Hafenanlage ist wie der Sprung von der neuen in die alte Welt.
Eine Welt voller geschäftiger Menschen, dicht gedrängt auf einmal, lachend, rufend.

In der Fischhalle wird der Fang versteigert. Ein dichter Kreis von Männern um das glitschige, vor Fischschuppen glitzernde Betongeviert geschart. Ein Fischer wirft einen Hai auf den Boden. Er ist tot, aber von dem Schwung des Wurfes getrieben, rutscht er über den Boden. Die Worte und Gebote fliegen hin und her und der Käufer packt den großen Fisch und zieht ihn zu sich hin.
Hat Mühe, ihn aufzuheben und sein Freund fasst mit an.
Vor der Halle kauern ein paar Fischer am Boden, vor sich ausgebreitet ihre Schätze, lachsrote Fische, orange Riesenkrebse neben den gelben, bereits ausgelösten Miesmuscheln. Es wird wenig gehandelt, die Preise sind bekannt und akzeptiert. In stillem Einverständnis wechseln Geldscheine und Waren ihre Besitzer.
Der Geruch der toten Fische mischt sich mit dem der bereits gewürzten und gebratenen Fischstücke.
Alle haben Hunger, aber es ist erst fünf Uhr nachmittags und sie müssen bis zum abendlichen Rufen des Muezzins warten, bis sie essen und trinken dürfen. Es ist Ramadan.
Der Koch legt die gebratenen Fischstücke zur Seite, neben die dunkelgrüne Petersilienbunde und die rot glänzenden Tomaten. Er wird sie abends kalt servieren.

Weiter hinten reihen sich kleine Läden aneinander, bieten Autoreifen an, oder Kaugummi, Bananen und verschleierte Barbiepuppen, getrocknete Aprikosen und Coca Cola. Eine Reklame mit arabischen Schriftzeichen. Coca Cola in merkwürdigen Krakeln geschrieben, aber das Design und das Rotweiß des Schildes sind unverkennbar.
Über den Arkadengängen der Geschäfte zwei Restaurants, - eher Spelunken - für die Arbeiter und Fischer.
Für die, deren Familien nicht in der kleinen Siedlung hinter dem großen Hotelkomplex wohnen.Der Siedlung mit den unsichtbaren Frauen, den großen bunten Tüchern, die sich auf zwei Füßen durch die Straßen bewegen werden, aber erst spät abends, wenn das Abendmahl gekocht und alles wieder aufgeräumt ist.
Deren Gesichter man im Dunkeln nicht ausmachen kann, höchstens wenn sie ein paar Meter auf der erleuchteten Promenade flanieren. Aber sie verschwinden schnell wieder in den düsteren Gassen. Wie Schatten.

Der Mann mit dem Hai hat seinen Einkauf auf eine Schubkarre gelegt und zieht ihn zum Hintereingang seines Restaurants. Zusammen mit seinem Koch hievt er das schwere Tier auf den hölzernen Tisch. Mit einem langen Schnitt öffnet er den weißen Bauch des Tieres und die riesige Leber des Hais quillt hellbraun und glänzend hervor.
Er beginnt mit dem Vorbereitungen für das Abendessen.
Die anderen Männer gehen zu Fuß nachhause, schlendern mit den gefüllten Plastiktaschen über die Promenade, steigen die Stufen zu dem neuen Hauptplatz herab.

Auch der ist schon zur Hälfte mit den geriffelten Fliesen bedecket und passt in Stil und Farbgebung perfekt zur protzigen Promenade. Ein Eckernförder Marktplatz neben einer Eckernförder Promenade, bestimmt werden sie hier auch irgendetwas blau und weiß streichen.
Auf dem Platz drängen sich noch mehr Lampen und werden abends ihr vergebliches Licht werfen, viel zu hell und viel zu grell für die vorbeihuschenden Tücher mit den braunen Füßen in den hübschen Sandalen.

Am Rande des Platzes, auf einer Bank im Schatten eines Baumes, sitzt ein zerlumpter alter Mann und ruht sich aus. Die Männer werfen ihm teils spöttische, teils beunruhigte Blicke zu.
Der Mann antwortet ihnen mit einem stolzen zufriedenen Kopfnicken.
Er ist mit seiner Arbeit gut vorangekommen.

Den ganzen Tag hat er auf diesem Platz verbracht und seine Vorbereitungen getroffen.
Der Platz ist der richtige Ort, das zukünftige Zentrum einer neuen Welt, durch den prachtvollen Weg mit dem alten Hafen verbunden und in die andere Richtung mit der neuen großen Hotelanlage.
Um diesen neuen Marktplatz herum wird ein neues Souira Kedima entstehen, eines, dass man den Touristen zeigen kann, mit schmucken kleinen Lädchen, mit malerischen Cafes. Der Einheitstraum aus 1001 Nacht, der gut in ihre saubere Einheitswelt passen wird.
Weg mit dem Schmutzgürtel um den alten Hafen, mit den kleinen Felsbuchten, die bis oben hin mit Abfall gefüllt sind, wo alte Schafsschädel nicht verrotten können, weil man sie in eine dieser allgegenwärtigen schwarzen Plastiktüten gesteckt hat.
Das neue Souira wird anders sein.
Morgens, bevor noch die Touristen erwachen, werden die Männer den Schmutz wegräumen, den treibenden Plastiktüten hinterher jagen, die Kakerlaken zurück in ihre Löcher scheuchen.
Er spürt es schon, das neue Marokko.
Er hat es auf seinen Wanderungen gesehen – am schlimmsten in Agadir – da haben sie ihn gleich davongejagt.
Furcht und Abscheu in ihren Augen, aber auch mit versteckten, kleinen Gesten, die ihn für ihr Tun um Verzeihung bitten.

Er ist ihnen nicht böse. Sie sind dumm, sie müssen ihre Familien ernähren, die Wünsche der bunten Tücher erfüllen, den Kindern einen guten Weg ebnen. Da tun sie alles, was man von ihnen verlangt.

Er ist ihnen nicht böse. Es ist an ihm, klug zu sein. Ihnen den Weg zu weisen, ihnen den Weg überhaupt erst zu ermöglichen.

Deshalb ist er hier, ist am Nachmittag den geheimen Kraftlinien der Erde gefolgt und hat den Punkt gefunden, an dem sich die Linien vielfach überschneiden, einen Knoten bilden.
Hier am südlichen Rand des neuen hässlichen Platzes, hier ist es. Er hat die Stelle erfühlt, an dem die pulsierenden Energien der Erdumspannenden Kraftwege kulminieren, einander potenzieren zu einem unsichtbaren Feuerstoß.

Inmitten dieser Energiesäule steht er, dreht sich ein wenig um sich selbst, schwangt, balanciert, findet sein Gleichgewicht wieder, hebt versuchsweise den einen und dann den anderen Fuß.
Es ist gut. Er spürt es.
Und nimmt den großen knorrigen Stock, den er vom Strand mitgebracht hatte, rammt ihn genau in die Mitte der Energiesäule in den gelben Sand.
Gerade noch zu recht, im allerletzten Moment, in dem noch Rettung möglich ist. Die Kräfte wissen nun, dass er da ist.

Das gibt ihm Zeit, dem Stock seine eigene Macht zu verleihen.

Aus einem seiner zwei Säcke nimmt er ein Stück Schnur, knäult es zusammen und stopft es in seinen Mund. Speichelt die Schnur ein, kaut sie weich und zieht sie mehrmals durch die große Lücke zwischen seinen abgeschabten Schneidezähnen. Sie muss sauber sein, rein, er darf nur reine Dinge verwenden.
Sie wissen nicht, was Reinheit ist.
Sie halten ihn für schmutzig, wissen nicht, dass es die heilige Erde ist, die an seinen Beinen klebt, seine Kleider braun und fleckig macht, dass es sein Schweiß ist, in dem das Gift gebunden und eingeschlossen bleibt, das er für sie aus seinen Poren schwitzt.
Wenn sie wüßten, wer er wirklich ist, würden sie ihm das feinste Seidenbett herrichten, damit ein wenig von seinem Schweiß an dem Laken hängen bliebe und es fortan Wunder wirken könnte.
Aber er würde ihr Flehen und ihre Ehrerbietung nicht beachten.
Zu vieles muss getan werden, damit die Welt nicht auseinander bricht.

Lange werden sich die Kräfte nicht von dem schmucklosen Stab im Zaum halten lassen.

Er spürt die Kraftlinien auf dem Platz , wie sich drohend um den Stock zusammenziehen, die Kreise enger werden, das Zentrum bedroht ist.
Die Zeit drängt, er muss dem Stock seine Macht verleihen.

Er nimmt die Schnur aus seinem Mund und breitet sie auf dem Boden aus.
Arbeitet flink und behände, ohne Pause, weiß genau, wie er die Teile zusammenfügen muss, wie jedes an seinem Platz kommt, keinen Millimeter verrückt, exakt an die Stelle, die nur er kennt.
Weiß um die Bedeutung der Teile, die die alte Welt und die neue symbolisieren. Das alte Holz vom Strand, von den Gezeiten und den Wassern ausgewaschen, von der Sonne gebleicht, von der Kälte des Atlantik gehärtet.
Weiß um das Stück schwarzen Plastiks, das in die Zukunft weist, und trotzdem das Alte mit dem Alten und das Alte mit Neuen verbinden muss.
Weiß um das Geschlecht der Schnur, die das Kind mit der Mutter, die Frau mit dem Mann und die Vergangenheit mit der Zukunft verbinden wird.
Musubi – Knoten machen, sich verbinden- er schlingt die Schnur um den knorrigen Stab.
Es ist die Ordnung der Dinge, die er festzurren muss, mit der Schnur umwinden, damit die Teile nicht haltlos im Wind flattern.
Aber auch Freiheit muss es geben, auch die muss sein Stock in die Welt bringen, damit Neues entstehen kann. Damit sich das Neue von dem alten Verbrauchten lösen kann.
Damit Mann und Frau ein Stück nebeneinander gehen können, ohne sich gegenseitig zu behindern, sie in der Frauenwelt und er in der Männerwelt.
Und wenn sie einander wollen, sich wieder ineinander verschlingen.
Das ist das Schwierigste, das verstehen sie nicht. Was sie tun sollen mit der Freiheit, die sie haben. Ihr nicht trauen, nicht sehen, dass sie sich immer zwischen verschiedenen Möglichkeiten entscheiden können
Dass sie „Nein“ sagen könnten zu dem blau weißen Geländer, „Nein“ zu dem Eckernförder Strandverschnitt, „Nein“ zum Abriss ihrer Fischhalle.
Der notwendig kommen würde.

Er könnte ihnen soviel Freiheit zeigen, sein ganzes Leben ist er frei, er macht sich keine Gedanken über die nächste Mahlzeit, über seinen weichen Schlafplatz des Nachts in den Dünen.
Er schüttelt leicht den Kopf und lässt ein Stückchen Schnur lose herabbaumeln. Sie darf sich wenden, diese Schnur, wohin sie will.
So arbeitet er weiter, lässt die ganze Welt an seinem Stock erstehen, das Modell, der Welt, wie er sie erschaffen wird am nächsten Tag mit seinem Tanz.

Die Sonne ist untergegangen, der Muezzin hat gerufen und an den Tischen in der alten Siedlung sitzen die Familien und in den zwei Gaststätten am alten Hafen die allein stehenden Männer und führen – endlich – die Gabeln zum Munde
Ein kleines Mädchen –noch unverschleiert- huscht über den Platz und bringt dem alten Mann ein Stück kalten gebratenen Fisch, zwei Bananen und eine Tomate.
Weicht dem hellen Schein der Lampen aus und verschwindet schnell und wortlos wieder in den Schatten der angrenzenden alten Gassen.

Vom alten Hafen tönt Gelächter herüber, das erweckt des alten Mannes Aufmerksamkeit.
Er überquert die hell erleuchtete Promenade und muss bis weit an den Strand hinunter gehen, bis er sich außerhalb der hellen Lichtkegel bewegen und die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen können. An der Flutkante entlang geht er hinüber zu dem alten Hafen, denn sie brauchen ihn dort.

Die einzigen Touristen des Ortes, ein Ehepaar mit ihrer kleinen Tochter haben sich in eine der zwei Spelunken gewagt und wollen mit den Einheimischen essen
Den Männern dort erscheint das so ungewöhnlich, dass sie die Gäste anstarren und verlegen lachen.
Noch nie haben sich Touristen hierher gewagt.
Aber heute schon, denn die Fremden sind hungrig, auch sie haben den Ramadan geehrt.
Einer macht eine abfällige Bemerkung, die gehören nicht hierher, diese Europäer.
Es sind düstere Gestalten, kräftige Männer und ölverschmierte Fischer, die da im vom Neonlicht erleuchteten Gastraum vor dem großen laufenden Fernseher sitzen. Deren Blicke jetzt auf den Ausländern ruhen.
Und die werden allmählich unsicher, das junge Mädchen drängt sich an den Vater, sie zögern…

Der alte Mann steht verborgen im Schatten eines Hauses, beobachtet die Szene und beginnt, sich leise in den Hüften zu wiegen.
Er kann seinen Tanz genauso gut schon jetzt beginnen.

Da gibt sich einer der Kellner einen Ruck und geht auf die ungewohnten Gäste zu, lächelt und führt sie auf das Dach des Hauses, stellt ihnen drei Stühle um den alten Tisch und darauf eine Kerze.
Dort können sie essen, ohne die anderen zu belästigen und haben einen freien Blick auf das Meer und den Mond. Schickt ihnen die junge – unverschleierte- Köchin nach oben, die die Bestellung der Ausländer zwar nicht recht versteht, ihnen aber von allem, was sie gekocht hat, etwas anrichtet.
Kalten gebratenen Fisch, frittierte Kartoffeln, ein Stück gegrillten Haifisch, Couscous mit Hühnchen und einen Tomaten-Paprika-Salat. Dazu Wasser und hinterher Pfefferminztee.
Für die Kleine diese arabische Cola.
Die Ausländer beginnen, sich wohl zu fühlen, lachen und versuchen, sich mit der Köchin zu verständigen. Verstehen sich dann auch ohne Worte und die Damen tauschen viele freundschaftliche Wangenküsse aus, um sich ihrer wort- und sprachlosen Zuneigung zu versichern.
Das Essen war gut.

Der alte Mann lächelt: "So könnte es gehen...!".
Mit neuer Hoffnung im Herzen wendet er sich um, strebt seinem Schlafplatz in den Dünen zu.

Doch er ist noch nicht lange fort, da schnauft der Patron der Spelunke mühsam die Treppe zum Dach empor und überreicht den Gästen die Rechnung.
Berechnet ihnen das Dreifache, den dummen Ausländern.
Die sind hier nicht erwünscht, die will er nicht haben, diese Fremden.
Die sollen in ihren Touristenghettos bleiben.
Die Köchin ist beschämt, ihre Augen entschuldigen sich.
Seine Spelunke und die alte Fischhalle werden als erstes der neuen Hotelanlage zum Opfer fallen.
Das wird er dann gar kein Geld mehr an den Fremden verdienen.
Aber er ist ein alter Mann, der sich an sein gewohntes Leben klammert, es weiterträumen will.

Der nächste Tag ist der Tanztag.

Die Sonne steht hoch am dunstigen Mittagshimmel, direkt über dem Stock, oder besser gesagt über dem kunstvollen Gebilde, dem Mikrokosmos, den er aus dem einfachen Stock gemacht hat.
Die Verbindung zwischen Oben und Unten ist geknüpft und die Kräfte der Erde und der Sonne vereinen sich in ihm, verknüpfen sich zu einem Knäuel, kreisen umeinander. Die losen Enden der Schnur winden sich, die Plastikfetzen zerren an ihrer Verankerung, können sich nicht lösen, müssen den gemeinsamen Weg mitgehen.
Das Holz des Stockes vibriert und ächzt wie der Mast eines alten Segelschiffes.
Jede Faser ist zum Bersten angefüllt, gebläht von der eingeströmten Energie.
Der Mann nimmt den Stock, löst ihn aus seiner Verankerung im Boden, nimmt ihn an sich und die Last auf sich.
Er ist schwer der Stock, kaum kann er ihn anheben.

Aber das ist seine Aufgabe und seine Berufung.
Seine Füße setzen sich in Bewegung, schleifen am Boden, ertasten die Unebenheiten, schieben sich über kleine Mörtelstückchen und suchen ihr Gleichgewicht.
Er wird sicherer, gewinnt an Kraft.
Hebt den ersten Fuß zum ersten Tanzschritt.
Viele weitere werden folgen, den ganzen Tag lang.

Der alte Mann singt, unverständliche Worte in immer wiederkehrenden Folgen- etwas monoton, beschwörend, aber angenehm, ein Lied der alten Zeit.Den Takt schlagen die brechenden Wellen unten am Strand.

Einige Arbeiter gehen an ihm vorüber zur Arbeit und messen ihn mit verachtenden Blicken. Sind peinlich berührt, schämen sich für ihn, verstehen die Touristen nicht, die sich nicht abwenden, sondern dem Mann beim Tanzen zusehen.
Die sind merkwürdig, diese Touristen, dieselben, die abends zuvor beim Patrone gegessen haben. Und sich über´s Ohr hauen ließen.
Dumme Europäer.
Die Vorhut der anderen, die wie eine Lawine über sie hinwegrollen werden, in den nächsten Jahren.
Die werden sie auch ausnehmen.
Das haben sie fest vor.
Dass nur der alte stinkende Mann sie nicht verschrecke….
„Hau ab!“ zischt einer ihm zu, „Hau endlich ab!“, traut sich aber nicht, ihm einen Stoß zu geben und beschleunigt seinen Schritt, um die anderen auf dem Weg zur Arbeit wieder einzuholen.
Die Touristen stehen auf, der Mann legt dem unermüdlichen Tänzer einen Geldschein hin.
Sie ziehen weiter.

Der alte Mann beschleunigt seine Schritte.
Ändert seine Schrittfolgen, macht hier und dort einen kleinen Schritt zur Seite, dreht ein paar Pirouetten, verbeugt sich vor den Blicken der Frauen, die ungesehen auf ihm ruhen.
Erweist der jungen Köchin seine Ehrehrbietung, flirtet in Gedanken mit ihr.
Ein bisschen Freiheit, löst die engen Knoten um ihr Leben.
Gibt ihr ein paar Möglichkeiten und weiß, dass sie sie nutzen wird.
Schenkt ihr viele Stunden Tanz.
Schenkt ihr ein bisschen Freiheit und viel Verantwortung.

Bis zum frühen Abend zieht er nur weite Kreise um das Zentrum.
Doch dann beginnt er, auf den spiralförmigen Kraftlinien entlang zu tanzen.In immer enger werdenden konzentrischen Zirkeln bewegt er sich auf das Zentrum, auf die Achse zwischen den Welten zu.Taumelt, der Rhythmus wird schneller, die Wellen können diesen Takt nicht mehr halten.
Die sirrenden Stromleitungen sind es und dann die langen und kurzen und ultrakurzen Schallwellen, die seinen Tanz bestimmen.
Seine Bewegungen werden wild, er schüttelt sich, wirbelt.Sein Gesang wird atemlos, er keucht und röchelt.Sackt in sich zusammen, bleibt liegen.
Aber der Stock ist heil geblieben, das ist das Wichtigste.

Später am Abend rappelt er sich mühsam hoch, sucht seine Sachen zusammen und nimmt das Stück rohe Haileber an, das ihm der Patrone bringt.
Der Patrone hat sonst nichts zu tun.
Sein Gastraum ist leer.
Keiner der Arbeiter ist zum Abendessen gekommen.
Alle sind zur Baustelle gelaufen, das Unglück zu bestaunen.
Die neue Hotelhalle ist in sich zusammengestürzt, hilflos ragen die verbogenen Stahlträger in den Himmel. Die zwischen ihnen gespannten Betonwände sind in sich zusammengesunken, hinabgestürzt. Eine dichte Wolke Betonsstau hüllt die Trümmer ein und lässt das Ausmaß des Schadens nur erahnen.
Sie werden später sagen, es sei die schlechte Qualität des Stahlbetons gewesen –man hätte nicht den von Salzkristallen durchsetzten Sand der weiten Strände verwenden dürfen.

Der alte Mann lächelt, sein Werk ist getan.
Er beißt ein kräftiges Stück von der Leber ab, und schickt sich an zu gehen.
Entwirrt den Knoten –kein Musubi mehr, löst sein Schicksal von dem ihren und zieht auf seinem Weg weiter.Mit Kraft und Konzentration.Allein.
Doch er wird wiederkommen.
Er muss diese Angelegenheit im Auge behalten, verhindern, dass doch noch Eckernförde in Souira Kedima einzieht.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.12.2010

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