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Prolog - Alex&Ella

 

„Kinn runter! Ellenbogen knapp am Körper“, kommandierte ich Flo, während ich ihm die Trainingspratzen abwechselnd hinhielt. „Nimm den kürzesten Weg für deinen Schlag. Schön aus der Mitte.“

Flo war Manager bei einer Personalvermittlung und ein alter Freund. Seit ich hier als Fitnesscoach arbeitete, sahen wir uns wieder öfter.

„Du hattest recht. Das Boxtraining hilft mir extrem, besser mit dem Stress in der Firma umzugehen. In den letzten drei Wochen habe  ich nachts wie ein Baby geschlafen“, keuchte er und seine Augen glühten dankbar. „Ich fühle mich auch viel belastbarer.“

„Deshalb habe ich dir das Boxtraining ja empfohlen. Du kannst damit alle Aggressionen abbauen, die sich während deiner Arbeit aufbauen. Mit der Zeit wirst du merken, es macht dich auch selbstbewusster. Ein richtiger Mann sollte außerdem wissen, wie er sich im Notfall verteidigt und wie er seine Fäuste zu gebrauchen hat.“ Ich zwinkerte und grinste dabei. „Komm schon! Achte auf deine Hüftarbeit.“ Ich war dabei, ihm die richtige Boxtechnik beizubringen. „Immer schön locker bleiben in den Schultern. Den Oberkörper vorne lassen. Schau mir nicht in die Augen. Deine Augen sind immer auf meine Brust gerichtet.“ Ich zeigte ihm, wie man eine saubere Gerade ausführte. Meine Schulter knallte gegen meine Schläfe. „Siehst Du? So machst du es richtig.“

 

Ich fühlte mich beobachtet. Das war keine neue Erfahrung für mich. Wenn die Mädels zum Yogaraum gingen, mussten sie an unserem Sparringbereich vorbei. In zehn Minuten startete dort eine Unterrichtseinheit. Es war nichts Ungewohntes für mich, von der weiblichen Klientel des Fitnesscenters angestarrt zu werden. Immerhin arbeitete ich seit Jahren hart an meinem Körper. Trotzdem veranlasste mich dieses Gefühl, den Blick kurz von Flo abzuwenden und mich neugierig umzusehen. Ella!

Zack! Ich hatte eine Sekunde nicht auf meine Distanz geachtet und Flo hatte mich mit einem Punch voll gegen die Schläfe getroffen. Kurz tanzten Sterne vor meinen Augen. Benommen schloss ich sie.

„Sorry! Ich hab auf deine Brust geschaut, wie du es wolltest“, entschuldigte er sich keuchend.

„War mein Fehler.“ Ich öffnete die Augen und suchte sofort wieder nach dem Grund meiner Unaufmerksamkeit, doch Ella war weg. Hatte ich mir nur eingebildet, sie gesehen zu haben? Sie war seit fast zwei Monaten nicht im Gym gewesen. Deshalb hatte ich so überrascht reagiert.

 

 

Im Anschluss an das Boxtraining ging ich ein wenig durchs Studio. Füllte Handtücher nach und korrigierte da und dort die Haltung einiger Anfänger. Ich selbst trainierte nur mit meinem Eigengewicht. Das brauchte niemand zu wissen. Ich würde nur meinen eigenen Job wegrationalisieren.

„Hi, Alex.“ Die Stimme kam mir bekannt vor. Statt eines Namens präsentierte mir mein Gedächtnis zehn pink lackierte Zehennägel, die sich vor zwei Tagen freudig in Richtung Zimmerdecke gereckt hatten, während ich versucht hatte, deren Besitzerin in noch luftigere Gefilde zu bumsen. Ich ließ mir Zeit damit, mich umzudrehen, und hoffte auf eine Eingebung. Die Namen meiner Eroberungen kamen mir mitunter durcheinander. Kein Wunder, es verging kaum eine Woche, in der sich nicht aus einem heißen Flirt leidenschaftlicher Matratzensport entwickelt hätte. Ich würde gerne behaupten, ich hätte diese Schönheiten alle verführt, doch so war es nicht. Sie plumpsten mir wie reifes Obst direkt ins Bett. Ich setzte an und wollte schon Hi, Süße sagen, da fiel mir endlich der richtige Namen zu besagten Zehen ein.

„Hi Moni“, grüßte ich die Frau mit dem blonden Wuschelkopf, die mich kurz ins Schwitzen gebracht hatte. Ihre Zehen steckten heute in weißen Sneakers.

„Ich gehe nachher auf einen Drink ins Bismarck.“ Die Art und Weise, wie sie die letzte Silbe eine Oktave höher aussprach als den Rest, fasste ich als eindeutige Einladung auf, dort weiterzumachen, wo wir vor zwei Tagen aufgehört hatten. Das würde meinem ungeschriebenen Kodex widersprechen, zwei Mal hintereinander mit derselben Frau zu schlafen. Am Ende würde sie denken, ich verfolgte irgendwelche Absichten. Was ich nicht tat.

Deshalb beantwortete ich ihre nicht eindeutig formulierte Frage mit einem ebenso zwanglosen Zwinkern und brachte sie damit zum Strahlen. Eine hübsche Frau wie sie würde ohnehin nicht lange nach einem Flirt suchen müssen.

 

Puh, das hätte peinlicher enden können. Erleichtert ging ich in den Spinning-Raum und schaltete die Ventilatoren ein. Surrend verteilten die Rotorblätter die stickige Luft und machten den penetranten Schweißgeruch erträglich. Hinter mir strömten die ersten Indoor-Cycling-Begeisterten in den Raum. Die Plätze waren stets begehrt und alle Mädchen wollten ein Rad so nahe wie möglich an meinem ergattern. Ich bückte mich, um die Stoppuhr aus der Kiste in der Ecke zu fischen. Als ich wieder aufsah, ging Ella knapp an mir vorbei und suchte sich ein freies Bike. Ich erstarrte unweigerlich und fühlte, wie sich mein Puls beschleunigte. Sie war es also doch gewesen!

 

Ich sah zu, wie sie sich in der zweiten Reihe ihr Rad einrichtete. Sie war keine Anfängerin. Es würde blöd aussehen, wenn ich ihr ungefragt meine Hilfe anbieten würde. Andere Frauen hingegen riefen meinen Namen, weil sie sich meine Assistenz und mehr erhofften.

Nachdem ich an der Musikanlage meine Playlist mit den Motivationssongs angestellt hatte, begann ich mit dem Warm-up. In gemäßigtem Tempo gingen wir die einzelnen Haltungen durch. „Lasst eure Schultern locker!“, forderte ich die Mitglieder der Gruppe auf, als sie sich, mal mehr und mal weniger, die Köpfe nach vorne über die Lenker gebeugt, aus den Sätteln hoben. Immer wieder wanderte mein Blick zu Ella. Ihr Busen bewegte sich im Takt ihrer Bewegung. Ich bekam eine kratzige Stimme. Mit Hilfe der Stoppuhr gab ich die Intervalle vor. Fünfzehn Sekunden Tempo, fünfzehn Sekunden relaxen. Das Ganze für drei Minuten. Anschließend steigerte ich die Intervalle auf dreißig und fünfundvierzig Sekunden.

Die Musik schraubte sich hoch auf 135 Beats in der Minute. „Los! Hoch mit Euch! Aus dem Sattel! Kopf nach oben!“, trieb ich die Gruppe an. „Durch die Nase einatmen, durch den Mund ausatmen!“, schrie ich gegen die Musik an.

Alle hingen sie an meinen Lippen, wollten von mir gedrillt werden. Auch Ella. Ich ertappte mich dabei, nur noch sie anzusehen, und musste mich dazu zwingen, wenigstens hin und wieder den Blickkontakt zu anderen Mitgliedern der Gruppe zu suchen.

 

Die nächste halbe Stunde verbrachte ich damit, meine Befehle zu erteilen. „Raufschalten! Relax. Trinkt etwas. Schultern entspannen. Los, gebt Gas!“ Ich animierte die Leute dazu, ihr Bestes zu geben: „Denkt daran, ihr wollt als erstes durchs Ziel.“

 Die Musik pushte uns in schwindelerregende Höhen. Auf Ellas Stirn klebten winzige Löckchen, die sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst hatten. Ihre Wangen waren gerötet. Ich stellte mir vor, sie läge so unter mir im Bett. Keine gute Idee. Hoffentlich bemerkte niemand die Beule in meiner Sporthose.

„So, können wir jetzt endlich einmal richtig Gas geben?“, unternahm ich den Versuch mich selbst abzulenken. Ich ließ den Widerstand erhöhen. „Position zwei!“ „Position drei!“, schrie ich. Die war mir am liebsten. Ellas Busen schaukelte dann wie verrückt in ihrem Trikot.

Der Schweiß rann mir in Bächen den Rücken runter. In der nächsten Pause rissen alle die Handtücher hoch. Ella grinste mich an. Verdammt! Was war ihre Magie? Ich fühlte mich wie ein schüchterner kleiner Junge, wenn sie mich so ansah. Ich bekam weiche Knie, feine Härchen stellten sich in meinem Nacken auf.

„Los! Weiter geht´s!“, überspielte ich meine Unsicherheit, indem ich die ganze Gruppe büßen ließ. Ich erhöhte den Widerstand Stufe für Stufe. Ellas Nasenflügel bebten unter ihren stoßartigen Atemzügen. Die Lippen kräuselten sich. Noch immer lächelte sie mich auf diese besondere Art direkt an. Ihre Zungenspitze berührte ihre Oberlippe. Das Stöhnen und Ächzen im Raum untermalte meine verrückten Fantasien.

Andreas strampelte in der ersten Reihe. Von seiner Nasenspitze tropfte der Schweiß auf den Boden. Eine Pfütze hatte sich unter seinem Rad gebildet. „Hey, Alter! Mein Puls ist auf Tausend. Willst Du uns umbringen? Ich krieg gleich einen Herzinfarkt“, keuchte er. Ein Blick in die Runde zeigte, dass auch einige andere Mitglieder der Gruppe am Limit waren.

Ich zählte runter: „Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, relax. Trinken. Die Beine bleiben schön in Bewegung.“

 

Nach dem Stretching schaltete ich die Musik leiser. „Gut gemacht, Leute. Eine Runde Applaus.“ Irgendetwas sagte mir, dass Ella mich beobachtete. Ich drehte mich um. Während sie, wie die anderen, in die Hände klatschte, wanderten ihre Augenbrauen schelmisch nach oben. Ihre Lippen pressten sich anerkennend aufeinander. Offensichtlich hatte ihr mein Tempo gefallen. Ob sie in meinem Gesicht ablesen konnte, wie viel mehr ich ihr bieten wollte? Meine Schicht dauerte noch eine Stunde. Sie wäre dann längst über alle Berge.

 

Schnell schnappte ich mir die Sprühflasche mit dem Desinfektionsspray aus meiner Box und ging mit ein paar Blättern Handtuchpapier zu ihr. „Kann ich dir aushelfen?“ Sie wartete, um beim Spender neben der Tür an die Reihe zu kommen. Ihr Kopf neigte sich abschätzend leicht zur Seite. Sie grinste. Ihre Zähne glänzten wie polierte Perlen. Es war mir egal, dass in diesem Moment gefühlte tausend Blicke auf mir ruhten. Ich war nur an dieser einen Frau interessiert, die zwar meilenweit über meiner Kragenweite lag, mir aber in den letzten dreißig Minuten eindeutige Signale gesendet hatte. Wenn ich nicht verrückt war.

Nein. Sie leckte sich deutlich die Lippen, musterte die Utensilien in meinen Händen und blickte unter gesenkten Lidern zu ihrem Rad. Gefügig ging ich hinüber und begann ihr Trainingsgerät zu reinigen. Sie griff nach ihrer Trinkflasche und dem Handtuch.

„Wenn du ein wenig nachschwitzen möchtest? Die Sauna ist noch heiß. Ich könnte kurz vorbeischauen und dir einen Aufguss machen.“ Eigentlich war heute kein Saunatag, doch mein Boss hatte sie für ein paar Freunde eingeschaltet und mich gebeten, sie am Ende meines Dienstes wieder abzudrehen.

„Wie könnte ich da widerstehen? Du hast bewiesen, dass du einer Frau einheizen kannst.“ Sie stand neben mir. Ich musste gut zehn Zentimeter zu ihr hinab sehen und trotzdem hatte ich das Gefühl, es wäre umgekehrt. Sie war vielleicht zehn Jahre älter als ich, vielleicht mehr. Es waren ihre Augen, die es mir unmöglich machten, sie einzuschätzen. Körperlich war sie in Topform.

Auf ihrem Registrierungsformular war das Geburtsdatum nicht angegeben. Ich hatte das längst gecheckt. Keine Ahnung, wie sie es mit den spärlichen Angaben geschafft hatte, einen Vertrag zu bekommen. Überhaupt verhielt sie sich wie ein Geist. Für sämtliche Suchmaschinen war sie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Sie tauchte plötzlich auf, so wie heute, um dann wieder wochenlang von der Bildfläche zu verschwinden. Sie war ein Rätsel, das ich entschlüsseln wollte.

 

 

 

Eine halbe Stunde später öffnete ich, ausgerüstet mit einem Eimer Wasser und einem Handtuch, die Saunatür. Ella lag alleine, entspannt, mit geschlossenen Augen, auf der mittleren Stufe. Schlief sie? Sie blinzelte nicht einmal.

Sie hatte den Körper einer Göttin. Das gedämpfte Licht der Salzlampe ließ ihn wirken wie in einem Gemälde. Ich musste mich von diesem Anblick losreißen und wandte mich zum Ofen. Langsam schöpfte ich mit der Kelle nach Lemongras duftendes Wasser und verteilte es gleichmäßig auf den erhitzten Steinen. Als ich mich umdrehte, sah Ella mich an. Eine verwirrende Sehnsucht spiegelte sich in ihrem Gesicht. Ich fächerte ihr mit dem Handtuch heiße Luft zu und veranlasste sie so, wieder die Augen zu schließen. Schweiß glänzte auf ihrer makellosen Haut.

„Du wirkst hungrig“, unternahm ich einen Versuch, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Vielleicht gelang es mir so, sie dazu zu animieren, mit mir einen Happen Essen zu gehen.

„Du bist ein guter Beobachter“, sagte sie mit geschlossenen Augen.

Ihre Stimme klang samtig und ermutigte mich weiterzusprechen: „Ich habe euch vorhin ganz schön hart rangenommen. Jetzt fühle ich mich  verpflichtet, dich zum Essen einzuladen.“

Sie öffnete überrascht die Augen und lachte leise. „Ist das so?“

„Ich rede vom Spinning. Ich fühle mich jedenfalls ganz schön  ausgepowert.“

„Eigentlich müsste ich dich einladen. Du bist fast k.o. gegangen, weil ich dich abgelenkt habe.“

 „Stimmt. Das könntest du wieder gut machen, wenn du mit mir etwas Essen gehst.“ Ich wartete auf ihre Reaktion, sie ließ lange auf sich warten. „Du warst lange nicht da“, setzte ich nach.

„Du hast mich vermisst?“

Jeder einzelne Atemzug ohne ihre Nähe war verschwendete Lebenszeit. Zumindest empfand ich genau das in diesem Augenblick. „Ich höre um acht auf und wollte mir etwas beim Inder holen“, umging ich ihre Frage. Ich könnte ihr ohnehin nicht erklären, wo diese Sehnsucht nach ihr herkam. Wir hatten nie mehr als zwei, drei Sätze miteinander gewechselt und doch schlich sie sich seit geraumer Zeit in meine Träume.

Sie ließ mich schmoren. Der Dampf des Aufgusses legte sich in jede einzelne meiner Poren. Kurzerhand leerte ich den verbliebenen Inhalt des Eimers auf die Steine. Zischend stieg eine heiße Dunstglocke auf und verteilte sich in dem kleinen Raum.

Das war wenig elegant gewesen. Ella sprang wie von der Tarantel gestochen auf und drängte an mir vorbei zur Saunatüre. Sanft stoppte ich ihre überhastete Flucht und machte sie darauf aufmerksam, dass sie mir eine Antwort schuldig geblieben war. „Treffen wir uns am Ausgang?“ Meine Hand lag auf ihrem Oberarm. Unsere schwitzenden Körper berührten sich beinahe.

„Ja“, japste sie und sauste aus der Sauna.

Ich schaltete den Ofen ab und öffnete die Türe weit. Ella stand dampfend auf der Terrasse und sah in den Sonnenuntergang. Sie hatte das Handtuch um ihren Körper geschlungen. Als hätte sie meinen Blick gespürt, drehte sie sich zu mir um und erwiderte durch die Glastür mein Grinsen. Zwei kleine Grübchen zeigten sich auf ihren Wangen. Sie würde auf mich warten. Der Gedanke machte mich nervös.

 

 

Ausgerechnet heute wollte meine Kollegin mit mir den Dienstplan der kommenden Woche besprechen. Ich saß auf Nadeln. „Mach einfach und schicke mir den Plan aufs Handy. Mir ist alles recht“, versuchte ich, die Diskussion abzukürzen.

Es war acht Minuten nach acht, als ich das Gebäude endlich verlassen konnte. Ella lehnte schmunzelnd an einer der Säulen davor.

„Entschuldige bitte. Ich wollte dich nicht warten lassen.“ Ratlos sah ich zum Radständer, an dem mein Bike geparkt war. Es zeigte sich, dass meine Pläne für den weiteren Verlauf des Abends nicht ausgereift waren. Was jetzt?

 Ella folgte meinem Blick und erkannte mein Dilemma. „Ich schlage vor, wir nehmen meinen Wagen.“ Klimpernd hielt sie ihren Autoschlüssel hoch. Sie hob ihre Sporttasche auf und drehte sich um.

Mit drei schnellen Schritten war ich bei ihr und nahm ihr die Tasche ab. „Sorry. Lass mich wenigstens deine Sachen tragen.“

 Zielstrebig steuerte sie auf das coolste Fahrzeug auf dem Parkplatz zu. Ein schwarzes, sportliches Coupé öffnete, während wir darauf zugingen, automatisch die Heckklappe. Ich warf die Sporttasche hinein und schlug den Kofferraumdeckel zu. Ein Jaguar! Beeindruckt ließ ich mich auf den Beifahrersitz fallen.

 

„Nett“, kommentierte ich das Wageninnere und legte den Kopf in den Nacken, um aus dem Panoramadach in den Himmel zu schauen. Das einzige Fahrzeug, das ich mein Eigen nennen konnte, war mein Mountainbike.

„Dir gefällt mein Jag?“ Sie sprach von ihrem Wagen, wie von einem Freund.

Der Wagen rollte geräuschlos aus der Parklücke. „Elektro?“, fragte ich überrascht.

„Jep. Allrad. 400 PS. Links? Rechts?“ Sie sah mich abwartend an.

„Wow. Links. Richtung Innenstadt“, wies ich ihr den Weg. Der Wagen beschleunigte rasant, es drückte mich in den Ledersitz. Ich drehte den Kopf zu Ella und beobachtete sie beim Fahren. Sie genoss es sichtlich.

 

Viel zu rasch erreichten wir unser Ziel. Mit dieser Luxuskarosse würde ich gerne länger in der Gegend herumcruisen. Gekonnt schlüpfte sie in eine Parklücke. Wir stiegen aus. „Was machst du eigentlich beruflich?“, unternahm ich einen Versuch, das Rätsel um Ella zu lösen.

„Ich sammle und handle mit Antiquitäten“, gab sie bereitwillig Auskunft. „Das ist auch der Grund, weshalb ich viel im Ausland unterwegs bin.“

„Du warst lange weg.“

„Ich war in Kolumbien. Ciudad Perdida. Die verlorene Stadt.“ Sie wandte mir fragend das Gesicht zu, als würde sie darauf warten, dass bei mir etwas klingelt.

„Hört sich gefährlich an. Hast Du gefunden, was du gesucht hast?“

Sie schüttelte den Kopf. In ihren Augen stand eine unergründliche Art von Traurigkeit. Ich hatte das Gefühl, sie mit irgendetwas aufheitern zu müssen. „Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie sehr magst du Mango-Lassi?“

„Zehn.“

„Das trifft sich gut. Gleich wirst du das beste Mango-Lassi deines Lebens bekommen.“ Ich schob sie in den kleinen Imbiss, der mir längst zu einem der wichtigsten Orte der Stadt geworden war. Der intensive Duft von Curry hing in der Luft.

 

„Alex! Mein Freund“, begrüßte mich Avtar, der Inhaber des Lokals. „Wer ist diese bezaubernde Lady?“

Ich stellte die beiden einander vor und bestellte das versprochene Getränk. „Was möchtest du?“, fragte ich Ella. Sie stand stirnrunzelnd vor der an der Wand hängenden handgeschriebenen Schiefertafel.

„Ich glaube, ich nehme dasselbe wie du. Ich liebe Überraschungen.“

„Zwei Mal Butter-Chicken mit Cashew-Curry. Kommt sofort“, verkündete Avtar, ohne auf meine Bestellung zu warten. Er kannte mich gut genug, um Ella mein Lieblingsgericht vorzusetzen. „Wollt ihr etwas frisches Nan, während ihr wartet?“

„Gute Idee. Ich bin am Verhungern“, gestand ich dem Koch. Wir setzten uns an einen der winzigen Tische des Imbisses.

 

Ella nippte an ihrem Mango-Lassi. „Du hast nicht zu viel versprochen.“ Sie leckte genüsslich über ihre Lippen.

„Sollen wir hier essen, oder gehen wir runter zum Flussufer?“, fragte ich meine Traumfrau, als Avtar wissen wollte, ob wir zum Essen bleiben würden.

„Flussufer klingt super.“

 

Avtar richtete das Essen in den netten kupfernen Schalen an, die man normalerweise nur bekam, wenn man im Lokal aß, und stellte sie in einen Korb. Außerdem gab er uns das gute Besteck mit und zwinkerte mir verschwörerisch zu, als er mir alles überreichte. „Guten Appetit“, wünschte er uns. Es kam nicht oft vor, dass ich in weiblicher Begleitung bei ihm aufkreuzte.

 

 Die Nacht war lau und der Platz auf der Treppe zum Flussufer, in der Nähe der Straßenbeleuchtung, frei. Perfekter hätte ich mir das erste Date mit Ella nicht vorstellen können. Forschend versuchte ich, ihre Körpersprache zu lesen, um herauszufinden, ob sie sich genauso wohl fühlte wie ich mich. Das Ergebnis fiel positiv aus. Bei jedem Bissen geriet sie in begeistertes Schwärmen. Das Plätschern des Wassers untermalte unser Dinner mit dem Flair eines lauschigen Urlaubsabends.

Wir unterhielten uns über meine Zukunftspläne. Ich studierte Medizin und wollte mich auf Sportchirurgie spezialisieren.

Wie sollte das hier weitergehen? Ich hatte Hemmungen, Ella in meine winzige Bude in unserer Männer-WG mitzunehmen. Das ging mit den Mädchen in meinem Alter. Eine Frau wie sie konnte ich mir in dieser Umgebung schwer vorstellen.

Als hätte sie meine Gedanken erraten, sagte Ella: „Was hältst du von einem Nachtisch bei mir?“

Etwas am Timbre ihrer Stimme erregte mich derart, dass ich auf der Stelle hart wurde. „Einverstanden.“

Beinahe hätte ich mich an diesem einen Wort verhaspelt. Ich konnte die leeren Schalen gar nicht schnell genug in den Korb zurück räumen. Ich half Ella beim Aufstehen und zog sie dabei wie versehentlich an meinen Körper. Ihr Busen drückte gegen meine Brust. Ihr Duft überwältigte mich und ließ mich zittern. Sie musste meine Erregung gespürt haben. Ihre Zähne bissen leicht auf ihre Unterlippe. Ihre Mundwinkel wanderten in Richtung der Ohren.

 

 Alles an dieser Frau schien eine Nummer zu groß für mich zu sein. Ihre Ausstrahlung, ihr Wagen, ihre Geldbörse, ihre Erfahrungen und nun auch noch ihre Wohnung.

Von Wohnung konnte fast nicht die Rede sein. Sie wohnte in einem beeindruckenden Altstadtpalais. Im Erdgeschoß befand sich ihr Antiquitäten-Laden. Sie steuerte den Wagen durch ein sich automatisch öffnendes Tor in den Innenhof und dort in eine private Tiefgarage. Verschiedene Fahrzeuge aus allen Epochen glänzten um die Wette.

„Gehören die alle dir?“ Eigentlich war es eine rhetorische Frage. Ich ahnte die Antwort, die folgte schon vorab.

„Ich habe dir ja gesagt, dass ich alte Sachen sammle.“

Beeindruckt schluckte ich meine Ehrfurcht hinunter. Was erwartete diese Frau von mir? Ich konnte ihr eigentlich nur eines geben.

 

Ein gläserner Aufzug brachte uns direkt aus der Tiefgarage in ihre Wohnung. Der Ausdruck Vintage kam mir in den Sinn. Alles wirkte in ausgewogener Art und Weise sowohl alt, als auch modern.

„Lebst du alleine hier?“ Bisher hatte ich keinen Gedanken daran verschwendet, sie könnte einen Freund haben oder gar verheiratet sein.

„Natürlich nicht. Ich habe drei Katzen.“

Sie ging zu einer riesigen runden Anrichte. Erst auf den zweiten Blick dämmerte es mir, dass dies ihre Küche sein musste. Alles war so modern und die Geräte gut versteckt, dass ich mir wie in einem Raum der fernen Zukunft vorkam.

Sie öffnete einen Schrank und entnahm ihm eine Dose Katzenfutter. Noch ehe sie die Dose auf der Anrichte vollständig geöffnet hatte, kamen zwei riesige getigerte Katzen mit kurzem Fell herbeigeschossen.

„Und was magst Du? Alkohol? Etwas Süßes?“

Dich! „Darf ich kurz dein Badezimmer benutzen?“ Ich brauchte einen kurzen Moment, um das alles erst mal zu verdauen.

Sie erklärte mir den Weg und versorgte die Katzen. Ich hörte, wie sie die dritte Katze anzulocken versuchte.

 

Vor dem Waschbecken im wohl größten Badezimmer, das ich je zu Gesicht bekommen hatte, fuhr ich mir mit nassen Fingern durch die kurzen Haare.  Seit ich im Fitness-Studio arbeitete, hatte ich einen  Military-Haircut. Der erleichterte das häufige Duschen enorm. Die fehlende Behaarung am Kopf kompensierte ich mit einem  Dreitagebart. Die Frauen fanden, durch den Schnitt kämen meine Gesichtszüge  gut zur Geltung. Ich hatte dunkle Augenbrauen und braune Augen. Eine helle Narbe seitlich am Kopf verlieh mir eine gewisse Verwegenheit.  Zugezogen hatte ich sie mir als Kind beim Sturz vom Dreirad.  Fragend starrte ich mich selbst an. Versau das nicht!

 

Gewappnet mit diesem Vorsatz ging ich zurück zu Ella. Die Wirklichkeit holte mich ein. Sie sah mich an und zog ihr Oberteil aus. So schnell ich konnte, ließ auch ich mein T-Shirt in hohem Bogen auf den Boden segeln. Sie erwartete mich mit leicht geöffneten Lippen. Leidenschaftlich zog ich sie an mich und verschloss ihren Mund mit meinem. Dann hob ich sie hoch. Da war eine große antike Ledercouch, auf der ich sie sanft absetzte. Ihr BH landete auf dem Boden. Ihre leichte Sommerhose samt Spitzen-String-Tanga folgte auf die Sekunde. Ich tat den ersten Schritt.

Meine Hände und Lippen wanderten lustvoll über ihre Hügel und Täler. Ihr Körper entfachte eine nie gekannte Begeisterung in mir. Meine Finger zitterten und ihr Duft vernebelte mir die Sinne. Noch war ich nicht überall. Ich genoss diese Erkundung zu sehr, um den nächsten Schritt zu machen. Ihr Körper war so vollkommen. Meine Lust übertrug sich auf Ella. Sinnlich räkelte sie sich unter meinen Berührungen. Die Luft knisterte rund um uns vor Spannung. Immer wieder trafen sich unsere Lippen in leidenschaftlichen Küssen. Sie gab sich mir ganz hin. Die Sehnsucht dieses Moments ließ sich nicht mehr in Worte fassen. Ich legte sie auf der Couch ab und zog rasch meine Hose aus. Schob mich über sie. Zwischen ihre Beine. Spürte ihre festen Schenkel an meiner Seite, die mich dazu drängten, das zu tun, was wir beide wollten. Uns zu vereinen. Ella bäumte sich auf und vergrub ihre Zähne in meiner Schulter. Ein unbeschreiblicher Schmerz durchfuhr mich. Wie festgefroren erstarrte ich über ihr. Blitzartige Halluzinationen durchfluteten meinen Geist. Bilder, von unvorstellbaren Schauplätzen entstanden in meinem Gehirn. Wie in einem Strudel rissen sie mich mit in Sphären, die mir vage bekannt vorkamen.

 

Hitzewallungen strömten durch meinen Körper. Ella! Ein lautes Brüllen dröhnte in meinen Ohren. Mein Brüllen.

Dann kam die Erkenntnis. Ella! Eleonora von Langenstein. Meine unsterbliche Geliebte. Seit mehr als eintausendunddreihundert Jahren war ich ihr verfallen. Immer und immer wieder aufs Neue. In unzähligen Reinkarnationen, männlichen wie weiblichen, war ich ihr ausgeliefert gewesen. Ergeben. Alles begann in den Jahrhunderten, die heute als Phantomzeit bezeichnet wurden. Als das Grauen die Erde heimgesucht hatte. Gemeinsam versuchten wir seit damals, den Fluch zu besiegen. La Ciudad Perdido, der Ort meines letzten Todes. Erschöpft senkte sich mein Kopf in Ellas Halsbeuge.

Ihre Stimme flüsterte an meinem Ohr. „Willkommen zu Hause!“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Daniel

„Da wären wir.“ Die Frau, die mich vor zwei Tagen per E-Mail kontaktiert hatte, rückte mit dem Zeigefinger ihre große, schwarz umrahmte Retro-Brille gerade und nickte mir auffordernd zu.

Die Limousine, in der sie mich vom Bahnhof abgeholt hatte, hielt vor einem futuristisch wirkenden Glaspalast. Die Statue eines fliegenden Pferdes verdeckte den Großteil der Aussicht. Ich stieg aus dem Wagen und hielt mit der rechten Hand die Autotür auf. Zuvorkommend streckte ich ihr die Linke entgegen und beugte mich ein Stück vor, als sie nicht gleich folgte. Sie würde hoffentlich nicht auf der Straßenseite aussteigen?

„Ich habe noch etwas zu erledigen. Man erwartet Sie. Gehen Sie zum Empfang“, instruierte sie mich nüchtern.

Meine Augenbrauen zogen sich enttäuscht zusammen. „Sie kommen nicht mit? Sie können mich doch jetzt nicht einfach hier aussetzen!“, sagte ich entrüstet. „Ich kenne mich in der Stadt nicht aus. Sie müssen mir wenigstens sagen, wie ich zu Ihrer Wohnung komme.“

Perplex starrte sie mich mit offenem Mund an. Von Männern wie mir erwarteten Frauen für gewöhnlich keine so billigen Flirtversuche. Genau das machte für mich den Reiz aus. Ich hob einen Mundwinkel und zwinkerte ihr entschuldigend zu.

Ein verwirrtes Lächeln umspielte für einen Moment ihre bezaubernden Lippen. „Wir sehen uns später“, vertröstete sie mich, nach einem kurzen Zögern.

Ich versuchte, souverän zu bleiben. „Das will ich doch hoffen. Wir müssen immerhin noch das Hochzeitsdatum festlegen.“ Ohne ihre Reaktion abzuwarten, ließ ich die hintere Beifahrertür sanft zufallen. Belustigt verfolgte ich, wie sich nach meiner letzten Bemerkung sogar der Fahrer neugierig zu mir umgedreht hatte. Die junge Frau mit der Frisur eines Mädchens, das auf Pferdegeschichten steht und der Kleidung einer verträumten Bibliothekarin, gestikulierte kurz mit ihm. Dann fädelte der Wagen sich in den fließenden Verkehr ein.

Die Kleine war reizend. Genau mein Typ. Unscheinbar genug, um mir Hoffnungen zu machen. Ich schulterte meinen Rucksack, umrundete die wuchtige Pferde-Statue und ging auf die Schiebetüre des Gebäudes zu. Mein sich darin abzeichnendes Spiegelbild kam mir immer näher. Aus Gewohnheit strich ich meine wirr zu Berge stehenden Haare zurück, wohlwissend, dass es nichts bringen würde. Mein Schopf war nicht nur farblich eine Herausforderung, sondern überdies unzumutbar störrisch. Auch wenn Ed Sheeran als Pop-Pumuckl mit seiner Frisur grandiose Erfolge feierte, entsprachen rothaarige Männer, die nicht gerade Tennis-Weltstars oder englische Prinzen waren, nicht dem gängigen Bild eines Frauenschwarms. Mein Dreitagesbart verbarg immerhin den Großteil meines mit Sommersprossen bedeckten Gesichts.

„Herr Sommer, guten Tag“, begrüßte mich die junge Frau, die auch aufs Cover diverser Hochglanz-Magazine gepasst hätte, nachdem ich mich vorgestellt hatte. „Herr Claudius ist noch in einer Besprechung. Wir haben im Odysseus-Raum Snacks und Getränke vorbereitet. Wenn Sie dort warten möchten? Ihr Gepäck können Sie gerne bei mir lassen.“ Sie wies mit ihren kunstvoll manikürten Händen in die entsprechende Richtung. In ihren hochhackigen Schuhen und dem kurzen Rock verkörperte sie das genaue Gegenteil der Dame, die mich vor dem Gebäude so unwürdig versetzt hatte und deren Gesicht mir noch immer im Kopf herum spukte. Sie hatte sich über ein soziales Netzwerk, das sich auf die Vermittlung von beruflichen Kontakten spezialisiert hatte, bei mir gemeldet. Genau zum richtigen Zeitpunkt. Mein Chef war kurz davor unerwartet einem Herzinfarkt zum Opfer gefallen und meine berufliche Zukunft stand deshalb gerade auf der Kippe.

Im sogenannten Odysseus-Raum unterhielten sich ein verwegen aussehender Mann und eine Frau lebhaft miteinander. Sie wirkte mit ihrem zu einem strengen Knoten zusammengefassten silbernen Haar undefinierbar zeitlos. Ich nickte in Richtung der beiden, um sie nicht im Gespräch zu stören, und goss mir ein Glas Wasser ein.

Raumhohe Glasfronten machten im Inneren des Gebäudes einen hellen, offenen Eindruck. Der Innenhof, vermittelte mit antiken Säulen und Skulpturen rund um ein künstlich angelegtes Biotop tatsächlich den Flair eines griechischen Palastes.

Durch eine offene Tür gelangte ich ins Freie. Nach der langen Zugfahrt tat es gut, sich die Beine zu vertreten. An der frischen Luft fühlte ich mich mit meinem zerknitterten Leinenhemd außerdem nicht ganz so deplatziert. Normalerweise trug ich immer T-Shirts, weil ich mich darin viel wohler fühlte, doch wegen des  Vorstellungsgespräches hatte ich mich heute, neben der  dunklen Jeans, sogar für ein Paar ordentlicher Schnürschuhe, statt meiner geliebten Sneakers, entschieden. Ich zog die blaue Bomberjacke aus und dachte über meine Chancen bei Cecilia Martin nach, die mich hierher eingeladen hatte.  

Lautes Lachen drang durch die geöffnete Tür. Ich drehte mich um und musterte die beiden Personen ausführlicher, die ich vorhin nur mit einem kurzen Blick gestreift hatte. Der Mann kam mir vage bekannt vor. Er trug abgewetzte Jeans und ein T-Shirt mit dem Sponsoraufdruck „Pegasus“.

Allmählich dämmerte es bei mir. Er war das Werbegesicht der Firma. Ein Extremsportler. In Rekordzeit hatte er das Land vom Bodensee bis zum Neusiedlersee auf einer schnurgeraden Strecke zu Fuß ohne Hilfsmittel durchquert. Über die Challenge war damals sogar im Fernsehen berichtet worden. Sie brachte ihm einen Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde ein.

Er würde sich kaum für denselben Job bewerben wie ich. Auch die Frau sah nicht gerade aus wie eine Ingenieurin. Im Geist ging ich durch, was Cecilia Martin mir auf der Fahrt vom Bahnhof hierher mitgeteilt hatte. Der Firmenchef von „Pegasus“, Roman Claudius, war mit meinem verstorbenen Boss befreundet und wusste von ihm angeblich aus erster Hand, woran wir die letzten Jahre geforscht hatten. Für mich klang das plausibel. Ich hatte gehört, dass wir von einigen schwerreichen Sponsoren gefördert wurden, ohne mich allzu sehr dafür interessiert zu haben. Sie hatten geholfen, meine Arbeit voranzubringen. Das war alles, was für mich von Bedeutung gewesen war. Wahrscheinlich war Claudius einer von ihnen. Mit ein wenig Glück würde es mir gelingen, ihm klarzulegen, wie knapp wir vor dem Durchbruch standen. Vielleicht konnte ich mein Projekt unter seiner Leitung sogar fortführen. Roman Claudius hatte als millionenschwerer Unternehmer seine Finger in vielen Projekten und Stiftungen stecken.

Das Mannequin vom Empfang erschien und forderte uns auf, ihr in den Besprechungsraum zu folgen. Einigermaßen überrascht ging ich ihr und dem ungleichen Paar hinterher. Meine Neugier war geweckt. Worum ging es tatsächlich? Es musste doch einen gemeinsamen Nenner geben, wenn wir zu dritt vorgeladen wurden?

 

 Roman Claudius war eine imposante Persönlichkeit. Alles an ihm war so auffällig wie seine stattliche Figur. Die wallende weiße Mähne. Das gewagt gemusterte Seidenhemd. Sein charismatisches Lächeln und die riesigen prankenhaften Hände, mit denen er soeben die Frau mit dem silbernen Haar an sich zog.

„Pippa! Du siehst umwerfend aus, wie immer“, begrüßte er mit dröhnender, dunkler Stimme die mir unbekannte Dame. Die Art, wie er sie auf die Wangen küsste, wirkte vertraut. Ihr Begleiter war zielstrebig auf eine weiße Sitzecke zugesteuert und fläzte sich lässig in einen Polstersessel. Ich blieb abwartend nahe der Tür stehen, insgeheim mit einer Verwechslung der Empfangsdame rechnend.

Nachdem Claudius und Pippa ein paar belanglose Komplimente ausgetauscht hatten, wandte er sich an mich. „Und Sie müssen Daniel Sommer sein.“ Sein Handschlag hätte einem Profiboxer zu Ehren gereicht. Mit zusammengebissenen Zähnen nickte ich zustimmend.

„Bitte.“ Er scheuchte uns mit weit ausgebreiteten Armen in Richtung der Sitzecke. Claudius zog seine Hose etwas hoch, bevor er sich setzte und dabei die Frau an seiner Seite mit sich zog. Sogar seine Socken waren außergewöhnlich. Das weiße Firmenlogo stach auf dem dunklen Hintergrund hervor. Ich wählte den Sessel ihnen gegenüber und konnte nicht verhindern, dass meine Augenbrauen fragend nach oben wanderten. „Dieses bezaubernde Wesen ist Doktor Philippa Moser, eine Geschichtsprofessorin mit exzellentem Ruf aus Hamburg, die am liebsten als Abenteuerin rund um die Welt reist, um religiöse und okkulte Phänomene zu untersuchen. Nicht wahr, meine Liebe?“ Er schenkte der Frau neben sich ein gewinnendes Lächeln. „Doktor Sommers Spezialgebiet ist ...“

Ich fühlte mich genötigt, korrigierend einzuwerfen: „Ich bin lediglich Ingenieur. Der Erwerb eines Doktortitels für jemanden mit meinem Familiennamen, erschien mir nicht besonders erstrebenswert.“ Doktor Moser spitzte verstehend ihre Lippen. Von Claudius erntete ich ein schallendes Lachen. Der jüngere Mann grinste nur hämisch.

„Also, Herrn Sommers Spezialgebiet ist die Gravitationsforschung“, vollendete unser Gastgeber meine Vorstellung. „Peter Waldner kennen Sie sicherlich? Ein international bekannter Extremsportler, der für Pegasus schon seit Jahren kräftig und erfolgreich die Werbetrommel rührt.“

Jetzt, wo er den Namen erwähnt hatte, kam er mir tatsächlich bekannt vor. Ich nickte ihm grüßend zu. Dann richtete sich meine Aufmerksamkeit wieder auf Claudius. „Leider verstehe ich noch immer nicht genau, wie ich zu der Ehre Ihrer Einladung gekommen bin.“

„Dazu kommen wir gleich.“ Er griff nach einigen zusammengehefteten Mappen, die auf dem Glastisch zwischen uns lagen und legte je eine samt  Stift vor Doktor Moser und mich. „Es handelt sich um eine äußerst vertrauliche Angelegenheit, darum ersuche ich zuvor um Bestätigung Ihrer Verschwiegenheit.“

Erstaunt wechselten die Geschichtsprofessorin und ich Blicke. Offensichtlich wusste sie genauso wenig wie ich, was uns erwartete. Waldner brauchte nichts zu unterschreiben, was zwei Schlüsse zuließ. Entweder hatte er seine Einwilligung bereits gegeben, oder er genoss Claudius‘ uneingeschränktes Vertrauen.

Ich überflog das Geschriebene. Ein Standardtext, mit dem ich mich zu Stillschweigen über die kommende Unterhaltung verpflichten sollte. Ich kritzelte meine Unterschrift in das dafür vorgesehene Feld. Ich hatte mich nicht zwei Stunden lang in den Zug gesetzt, um nun einen Rückzieher zu machen. Außerdem wollte ich unbedingt Cecilia Martin wiedersehen.

Doktor Moser unterzeichnete ebenfalls. Gespannt sahen wir beide Claudius an. Nach einem kurzen Seitenblick zu Waldner sagte er: „Peter hat durch Zufall eine äußerst ... interessante Entdeckung gemacht. Ich will gar nicht zu viel verraten. Überdies wüsste ich gar nicht, wie ich es beschreiben soll. Man muss sich mit eigenen Augen ein Bild machen.“ Er sah hilfesuchend zu Waldner. Der zuckte mehr oder weniger zustimmend mit den Schultern.

„Es handelt sich um eine ...“, Claudius hüstelte, „… eine Art Höhle. Weder Peter noch ich haben etwas in dieser Art jemals zuvor gesehen. Hier kommen Sie ins Spiel. Ich habe versucht, ein möglichst vielfältiges Expertenteam zusammenzustellen.“ Er wedelte unbeholfen mit seinen riesigen Pranken.

„Du meinst eine bislang unentdeckte Höhle?“ Ungläubig legte Doktor Moser den Kopf schief. „Wo soll die sich befinden?“

Waldner ergriff das Wort: „Ziemlich genau im Grenzgebiet von Oberösterreich, Niederösterreich und der Steiermark. Es handelt sich um eine unzugängliche Gegend, die ich im Zuge meiner Survival Challenge durchquert habe.“

Ich sah skeptisch auf meine leichten Schnürschuhe, die ich vor kurzem noch für eine gute Wahl gehalten hatte. „Das ist ein ziemlich gebirgiger Landstrich, wenn ich mich nicht irre?“

„Um passende Ausrüstung haben wir uns bereits gekümmert. Peter würde Euch mit dem Hubschrauber so nahe es geht, an den Ort bringen. Ich habe eine Almhütte in der Nähe gekauft, die renovierungsbedürftig ist. So können wir die Flüge mit Materialtransporten tarnen. Nur das letzte Stück müsstet ihr zu Fuß zurücklegen. Leider habe ich heute Nachmittag ein unaufschiebbares Meeting. Ich wäre wirklich gerne dabei gewesen. So muss ich Euch Peter überlassen..“

Gespannt sah er abwechselnd die Geschichtsprofessorin und mich an. „Ich weiß, das kommt sehr überraschend - aber bist du dabei, Pippa? Und Sie, Herr Sommer?“

Es lief also auf ein gratis Abenteuerwochenende hinaus. Inwieweit meine Expertise von Nutzen sein sollte, erschloss sich mir nicht. Doktor Moser würde möglicherweise alte Malereien vorfinden, oder irgendwelche Knochenreste.

Vielleicht sollte das eine Art skurriler Teamgeist-Test sein? Zu verlieren hatte ich nichts. Im Gegenteil. Noch immer hoffte ich auf ein baldiges Wiedersehen mit der entzückenden Assistentin von Claudius. Philippa Moser schüttelte grinsend den Kopf: „Du bist immer für eine Überraschung gut, lieber Roman. Natürlich bin ich dabei.“

Ihre widersprüchliche Antwort führte dazu, dass nun alle Blicke auf mich gerichtet waren. Ich beeilte mich: „Ja. Was soll’s!. Mich haben Sie auch neugierig gemacht.“

„Gut. Dann können wir eigentlich gleich aufbrechen.“ Waldner erhob sich mit einem beidseitigen Klopfen auf seine Oberschenkel. Für ihn war wohl alles gesagt. Ungeduldig sah er auf den wuchtigen Chronometer an seinem Handgelenk.

Automatisch stand ich ebenfalls auf. Ich fühlte mich bereit. Was blieb mir anderes übrig? Sorgen über meine berufliche Zukunft konnte ich mir nach diesem Wochenendtrip immer noch machen. Doktor Moser und Claudius wechselten einige private Worte, deshalb ging ich zu Peter Waldner und erkundigte mich beiläufig: „Wird uns Frau Martin ebenfalls begleiten?“

„Ja. Sie besorgt, soweit ich weiß, ein paar Ausrüstungsgegenstände. Sobald sie eintrudelt können wir los.“

Jetzt spürte ich sogar ein warmes Gefühl freudiger Erwartung, und es kam mir vor, als stünde ich kurz vor Antritt eines lange ersehnten Urlaubes. Ich blickte durch die Glasfront auf das sorgfältig gehegte Biotop und die Säulen-Fragmente. Ein Wochenende auf einer griechischen Insel wäre mir auch recht gewesen, Berge und Wälder gab es bei mir zu Hause genug.

Was soll‘s? Alle antiken Schatzkammern der alten Götter waren vermutlich schon entdeckt und geplündert. Ich kannte das Keltenmuseum in Hallstatt und die Anthropologie-Dauerausstellung im Naturhistorischen Museum in Wien von meiner Schulzeit. Seither hatte mich die Geschichte unseres Landes nicht sonderlich interessiert.

Claudius rauschte an uns vorbei zur Tür und erkundigte sich bei der Empfangsdame, ob Frau Martin bereits eingetroffen sei. Dabei sprach er den Namen französisch aus. Da mich das selbst brennend interessierte, trat ich hinter ihm in den Flur hinaus und sah, wie die blonde Schönheit bedauernd den Kopf schüttelte. Mein Herzschlag hatte sich bei der Erwähnung des Namens unerwartet beschleunigt. Es hatte mich so richtig erwischt. Fühlte sich so Liebe auf den ersten Blick an? Mit hängendem Kopf stand ich jetzt da und sehnte mich nach dem Wiedersehen.

„Nehmen Sie eine Kleinigkeit vom Buffet“, sagte der Unternehmer, weil er meine Haltung wahrscheinlich missverständlich als kleinen Schwächeanfall deutete und klopfte mir aufmunternd auf die Schultern, während er mich auf das Odysseus-Zimmer zuschob.

Die Platten mit dem kunstvoll belegten Jourgebäck waren unangetastet. Wer wusste, wann wir wieder Gelegenheit zum Essen bekamen? Ich schätzte, der Helicopterflug in die nördlichen Kalkalpen würde etwa eine Stunde dauern. Lustlos lud ich mir einen kleinen Teller mit leckerem Essen voll und setzte mich auf einen Barhocker. Claudius nahm selbst einige Häppchen und ließ sich kauend neben mir nieder.

„Ich vermute mal, Sie wollen uns absichtlich nicht mehr über diese Höhle sagen?“, startete ich einen Versuch, meine Neugier vorab zu befriedigen.

„Es hat weniger mit nicht wollen, als mit nicht wissen, wie ich es erklären soll, zu tun. Sie würden mich für verrückt, oder bestenfalls für einen Märchenerzähler halten.“

Diese kryptische Antwort bewirkte, dass mein Interesse noch weiter angestachelt wurde.

Mein Gesprächspartner richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Doktor Moser, weshalb ich mich vorerst meinem gefüllten Teller widmete. Als die Geschichtsprofessorin in Richtung der Toiletten verschwand, setzte ich nochmals an, zu fragen, wie Claudius ausgerechnet auf mich und meine Expertise gekommen war. Da rauschte Cecilia Martin zur Tür rein. Sie wirkte etwas außer Atem und entschuldigte sich für die Verspätung, dabei richtete sie mit beiden Händen ihren Pferdeschwanz.

„Hast Du alles bekommen, meine Liebe?“, erkundigte sich Claudius.

„Ja. Ich wollte fragen, ob mir Peter beim Tragen helfen kann. Der Fahrer muss beim Wagen bleiben.“ Sie sah sich suchend um.

„Er ist schon vor zum Helikopter gegangen“, kam die Antwort auf ihre unausgesprochene Frage nach Waldner.

Ich witterte meine Chance. „Ich kann Ihnen helfen“, mischte ich mich ungefragt ein.

Sie lächelte dankbar und lief wieder Richtung Eingang. Schnell nickte ich Claudius entschuldigend zu und folgte ihr. Sie trug eine dunkelgrüne Sommerhose, die etwas über den Fußknöcheln endete. Beim Anblick ihrer Kehrseite musste ich an saftiges, knackiges, frisch verpacktes Obst denken. Danny, du hast dir selbst versprochen, die Finger vom schönen Geschlecht zu lassen! Der Gedanke reichte, um mich wieder in die Gegenwart zu katapultieren. Unsanft landete ich am Boden der Tatsachen. Der Flirt von vorhin war ein netter Versuch gewesen, aber welche Chancen hatte ein Typ wie ich schon bei so einer Traumfrau?

Mein Leben fühlte sich seit Jahren fad und zäh an, wie eine Semmel vom Vortag. Der gleiche Trott tagein tagaus. Schuld daran war Eva, meine Verlobte. Ex-Verlobte. Sie hatte mich und unseren Kater Spock vor fünf Jahren sitzen gelassen. Drei Wochen vor der Hochzeit. Sie wäre doch noch nicht so weit. Jetzt wohnte ich alleine in dem halb verfallenen Bauernhaus, in das ich all mein Erspartes gesteckt hatte, weil sie es unbedingt renovieren wollte, um Hühner und Schafe zu halten und einen Selbstversorgergarten anzulegen.

Die meisten Räume waren mit einer dicken Staubschicht bedeckt und ich wachte manchmal nachts schwitzend auf, weil ich das Gefühl hatte, lebendig in diesem Haus begraben zu sein.

Nach der Enttäuschung mit Eva hatte ich mir geschworen, meine Finger für immer von den Frauen zu lassen. Einmal davon abgesehen, dass sich ohnehin äußerst selten Gelegenheiten ergaben, welche kennenzulernen. Ich stand auf. Fütterte die Katze. Ging zur Arbeit. Kam heim. Entsorgte die im Haus verstreute tote Beute von Spock. Fütterte ihn wieder mit teurem Katzenfutter. Ging ins Bett.

Einmal in der Woche traf ich mich abends mit den Kollegen von der Bergrettung auf ein paar Bier. Jeden Samstag flog ich mit ihnen Einsätze oder stieg selbst auf einen der Berge in der Umgebung, einfach, um den frischen Wind dort oben zu spüren. Und jetzt hatte ich von einem Moment zum nächsten das Gefühl, nur aus einem einzigen Grund single zu sein: Um diese Frau zu treffen und sie vom Fleck weg heiraten zu können.

Sie drehte sich zu mir um. Mein Blick blieb an ihrer süß geschwungenen Nase hängen, deren Flügel sich leicht kräuselten, weil sie lächelte.

Reiß dich zusammen Mann!

Weshalb war ich ihr noch einmal nachgelaufen? Richtig. Sie deutete auf das geöffnete Heck der Limousine und damit auf einen nigelnagelneuen Einhell-Generator mit Vier-Takt-Motor und 15 Liter Tank. Ich hob das Ding aus dem Kofferraum und sah, wie Cecilia sich zwei Kanister Benzin schnappte. Um den Deckel zuzuschlagen, musste sie einen der Behälter abstellen. Ich wartete so lange auf sie.

Claudius kam uns die letzten Meter entgegen und nahm ihr die Tankkanister ab. Am Empfang holte ich meinen Rucksack ab. Zu dritt fuhren wir mit dem Fahrstuhl aufs Dach des Gebäudes.

„Netter Anhänger,“ sagte ich verlegen, als Cecilia mich dabei ertappte, wie ich ihren Busen anstarrte. Sie hatte genug Holz vor der Hütte. Auf so engem Raum war es schwer, diese Tatsache zu ignorieren. Zum Glück trug sie einen schillernden Stein an einem dünnen Lederband um den Hals. Jetzt nestelten ihre Finger daran herum.

„Das ist ein Alpenopal. Ist ziemlich selten.“

Die Aufzugtür öffnete sich. Ich bückte mich nach dem Generator und trat damit ins Freie. Ein Airbus Helikopter H160 im Pegasus-Design wartete mit geöffneter Schiebetür. Nicht irgendein Helikopter. Es war eine Luxusausführung, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Das Innere, die Bestuhlung und Einrichtung ähnelte der ersten Klasse eines Linienflugzeugs. Breite helle Ledersitze und mit Echtholz furnierte Schränke faszinierten mich. Ich musste mich zwingen, den offenen Mund wieder zuzuklappen.

Vorsichtig, um ja nichts an dem offensichtlich brandneuen Fluggerät zu zerkratzen, schob ich den Generator in die Mitte, zwischen den sich gegenüberliegenden Passagier-Sesseln. Claudius stellte die Kanister daneben auf. Eigentlich gehörten die Sachen ordnungsgemäß gesichert, aber dafür war dieser Vogel wohl nicht ausgestattet.

Pippa Moser saß bereits am rechten Fensterplatz der hinteren Reihe. Eifersüchtig beobachtete ich, wie unser Auftraggeber nach Cecilias Hand fasste und ihr beim Einsteigen half. Sie machte Anstalten, sich auf den linken Fensterplatz niederzulassen. Ich entschied mich deshalb, einen der beiden gegenüberstehenden Sitze zu nehmen. Von dort konnte ich mich während des ganzen Fluges ungeniert an ihr sattsehen.

„Hey! Dich brauche ich vorne. Als Co-Pilot. Kannst du Karten lesen?“ Waldner machte mir mit seiner Frage einen Strich durch die Rechnung.

Schweren Herzens kletterte ich wieder aus dem Passagierbereich und öffnete die Tür zum Cockpit. Nachdem ich mir das Head-Set aufgesetzt hatte, drehte ich mich um. Claudius hatte die Schiebetür geschlossen und winkte grüßend. Die beiden Frauen schnallten sich an und machten ebenfalls Anstalten, sich die Kopfhörer aufzusetzen. Waldner gab seine Koordinaten durch und holte sich die Starterlaubnis. Ich wartete, bis er fertig war, und gab ihm das Zeichen, das wir startklar waren.

Dröhnend sprangen die Rotorblätter an. Der Motor des Hubschraubers bebte und wir hoben wankend ab. „Wie viele Flugstunden hast Du?“, erkundigte ich mich, wohlweislich wissend, das es zu spät war, meine Meinung zu ändern.

„Genug. Keine Sorge. Die meisten zwar mit einem halb so großen Heli, aber hier oben ist eh Platz, um nicht versehentlich die Kurven zu eng zu nehmen.“ Der mutmaßliche Hobbypilot lachte scherzhaft. Ich hatte noch immer Bedenken wegen des ungesicherten Generators. Immerhin war es ein Vorwand, mich hin und wieder zu den beiden Frauen umzudrehen und nachzuschauen, ob alles in Ordnung war.

 

 

 

Anhand der Markierung auf der Landkarte kontrollierte ich die Flugroute. Allem Anschein nach war er die Strecke schon oft genug geflogen. Ich konnte mehr oder weniger die Aussicht genießen und mich ärgern, nicht hinten bei den Damen zu sitzen.

Waldner hatte erwartungsgemäß keinen gemütlichen Flugstil. Ich schielte auf die Anzeige. 170 Knoten. Das waren über 300 Stundenkilometer. Vielleicht hatten wir auch Rückenwind. Dementsprechend rasch erreichten wir unser Ziel.

Als wir in unbesiedeltes Gebiet kamen, achtete ich genauer auf die landschaftlichen Merkmale. Die Stumpfmauer war ein markanter Orientierungspunkt. Etwas südöstlich war das rote Kreuz auf der Karte eingezeichnet. Eine bewirtschaftete Alm befand sich weiter östlich. Wir befanden uns über stark bewaldetem Gebiet. Zumindest eine kleine Lichtung würde es geben müssen, wenn wir mit dem Heli landen wollten. Ich beugte mich etwas vor, um eine bessere Sicht zu haben.

„Da vorne! Ist es das?“ Ich deutete auf zirka elf Uhr.

„Schaut gut aus“, stimmte Waldner mir zu. „Den nehmen wir.“

Routiniert landete er auf der leicht abschüssigen Wiese. Ich wartete, bis die Rotorblätter halbwegs ausgelaufen waren, und half den Frauen beim Aussteigen.

„Soll ich den Generator ausladen?“, wandte ich mich an unseren Piloten.

„Nein. Den packe ich in ein Netz und fliege ihn direkt zur Höhle.“

„Wie weit ist es?“

„Zu Fuß eine gute Stunde.“

Es war heiß. „Das heißt, du kommst nicht mit uns?“

„Cecilia kennt den Weg. Wir haben versteckte Markierungen angebracht.“

„Warum fliegst Du uns nicht alle direkt hin? Ich meine, wenn du sowieso den Generator hinbringst. “

„Ich kann da nirgends landen.“

„Wir könnten uns abseilen?“, schlug ich vor. Damit hatte ich genug Erfahrung bei der Bergrettung gesammelt.

Waldner sah skeptisch zur Hütte hinüber, wo die Frauen gerade die Tür öffneten und darin verschwanden.

„Wenn es eine entsprechende Ausrüstung an Bord gibt, bringe ich die beiden schon sicher runter. Ich habe den Windenoperator bei der Bergrettung gemacht“, erklärte ich vorsichtshalber.

„An der Ausrüstung wird es nicht scheitern.“ Waldner deutete auf ein truhenartiges Behältnis in der Passagierkabine und löste die Abdeckung von der Seilwinde an der Decke des Helikopters. Ich fand Sicherheitshelme und professionelle Seile und Gurten in der Truhe.

„Sieht unbenutzt aus, aber stabil“, merkte ich an und breitete die Utensilien aus. Es gab sogar einen Bergesack. Gemeinsam befestigten wir den Generator an der Seilwinde und sahen uns deren Funktionsweise an. Es war ein ähnliches System, wie wir bei der Bergrettung hatten. Kein Problem. Wir beratschlagten, wie wir die Sache angehen wollten. Einstweilen kamen Cecilia und Doktor Moser umgekleidet aus der Hütte. Beide trugen festes Schuhwerk und bequeme Wanderausrüstung.

„Sie sind dran Herr Sommer“, Cecilia wies zur Hütte. „Ich hoffe die Sachen passen. Welche Schuhgröße haben Sie?“

„Ich heiße Daniel. Der Abstand zwischen uns und dem Himmel ist nicht mehr so weit, deshalb können wir hier, in über tausend Höhenmetern, auf steife Umgangsformen verzichten, oder?“

Doktor Moser streckte mir lachend ihre Hand entgegen. „Ich bin die Pippa. Allen, die mich Philippa nennen, bin ich böse.“

„Cecilia“, sagte nun auch das entzückendste Wesen, das mir seit langem begegnet ist.

„Freut mich sehr, Cecilia.“ Ich zögerte den Händedruck hinaus, indem ich jeden Buchstaben einzeln betonte.

Sofort korrigierte sie mich: „Es heißt Cecilia.“ Nun zögerte sie den Moment weiter hinaus.

„Natürlich, Cecilia.“ Ihre Hand haltend, versuchte ich, es ihr gleichzutun und die Betonung auf das letzte „a“ zu legen, wie sie es betont hatte.

Sie schien nicht zufrieden zu sein. Wie peinlich. Sie wiederholte es ein weiteres Mal. Pippa sagte den Namen nach und Cecilia nickte freudig. Dann versuchte ich mein Glück noch einmal. Sie verzog den Mund resigniert und biss sich auf die Unterlippe.

„Wir üben es ein anderes Mal ausführlicher, schlage ich vor“, bot ich an und ließ schweren Herzens ihre Hand los. Dann weihte ich die beiden in unseren Plan ein, uns mit dem Helikopter zur Höhle zu fliegen.

Sie erklärten sich einverstanden. Cecilia seufzte erleichtert auf. „Der Weg ist wirklich beschwerlich.“

 

 

Nachdem wir wieder in den Heli geklettert waren, startete Peter die Maschine. Wir stiegen bis knapp über die Baumgrenze.

„Ich muss so tief wie möglich schweben. Damit ich unterm Radar bleibe“, erklärte er.

Inzwischen hatte ich genug Vertrauen in seine Flugkünste gesammelt. Hier gab es keine gefährlichen Hindernisse, wie Seile oder Strommasten. Außerdem drosselte er das Tempo dieses Mal. Jetzt konnte ich ihm bei der Lokalisierung nicht mehr helfen. Ich wusste nicht, wo diese ominöse Höhle liegen sollte. Nach wenigen Minuten stoppten wir in der Luft.

„Hier ist es. Da unten ist eine felsige Stelle. Siehst du sie?“

Ich bejahte und machte mich bereit zum Aussteigen. Die Gurte hatten wir vorhin schon angelegt. Ich brauchte mich nur ans Seil, an dem der Generator hing, einklinken. Gesichert kletterte ich auf die Kufen und betätigte die Seilwinde.

„Alles klar. Du kannst mich runterlassen.“ Über Funk hielten wir die Verbindung. Unten angelangt löste ich den Karabiner, an dem der Generator hing, und ließ mich wieder hochziehen. Zunächst schaffte ich unsere Treckingrucksäcke, in denen sich Zelte, Proviant und Schlafsäcke befanden, hinunter, und nahm auch die Benzinkanister mit. Pippa stand schon bereit und ließ sich furchtlos gemeinsam mit mir abseilen. Insgeheim hoffte ich ja, Cecilia würde sich etwas fester an mich klammern. Sie war zwar ein wenig blass um die Nase, hielt sich aber mit beiden Händen am Seil fest statt an mir. Ich klinkte uns aus und gab Peter Bescheid, dass wir gut angekommen waren. Er würde zurück zur Hütte fliegen und zu Fuß nachkommen.

Erwartungsvoll sah ich mich um. Noch konnte ich nichts entdecken, was nach Höhleneingang ausgesehen hätte. Ratlos drehte ich mich einmal um mich selbst und suchte die nähere Umgebung ab. Plötzlich nahm ich eine Bewegung wahr. Ein Mann kam über eine Böschung zu uns heruntergeschlittert. Umständlich strich er seine Hose glatt. Überrascht starrte ich ihm entgegen. Wer war das? Kein Mensch hatte etwas davon erwähnt, dass weitere Personen an unserer Expedition beteiligt waren.

Cecilia lief auf ihn zu: „René! Gott sei Dank. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, du könntest dich verirrt haben.“

Pippa und ich gingen näher auf die beiden zu.

„Das sind Doktor Moser“, sie zeigte auf Pippa, „und Herr Sommer.“

„Pippa“, korrigierte die Genannte und sah den großgewachsenen dunkelhaarigen Mann erwartungsvoll an.

„Martin. Doktor René Martin“, antwortete der Kerl mit einem zerstreuten Nicken.

Was zur Hölle? Martin?

„Daniel“, quetschte ich gepresst meinen Namen hervor. Er machte keine Anstalten, uns die Hand zu geben. Auch gut. Er war ganz offensichtlich mit Cecilia verheiratet. Immerhin trugen sie denselben Familiennamen und die vertraute Begrüßung eben ließ keine Zweifel offen. Ich hatte keine Ringe an Cecilias Händen bemerkt, daher war ich automatisch davon ausgegangen, sie wäre es nicht. Heutzutage war das Ringetragen wohl nicht mehr obligatorisch.

Es wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein. Wie konnte ich auch nur eine Sekunde lang denken, eine Frau wie sie wäre noch nicht vergeben? Ich schluckte meine Enttäuschung, so gut es ging, hinunter und widmete mich dem Gepäck. Selbst hängte ich mir zwei der Rucksäcke um. Den Generator konnten wir später holen.

Ich hatte früh gelernt, Abweisungen von Frauen nicht so ernst zu nehmen. Doch das war wieder eine gänzlich neue Erfahrung. Im Prinzip hatte sich nur bestätigt, woran ich die letzten fünf Jahre nicht gezweifelt hatte. Ich sollte mit Frauen eben kein Glück haben. Selbst wenn Cecilia nicht verheiratet gewesen wäre, hätte das noch lange nichts bedeutet. Also, was soll‘s? Mürrisch hob ich meine Augenbrauen, um nach dem Weg zu fragen.

Cecilia schulterte ihren Rucksack und sagte: „Da entlang.“

Sie umging die steile Böschung und zog sich zwischen einigen Bäumen den Hang hoch. Ihre Kehrseite war noch immer verlockend. Wie bedauerlich, dass dieses Obst für jemand anderen reserviert war.

Nach wie vor entdeckte ich nichts, was nach Höhleneingang aussah. Nachdem wir die Böschung hinaufgeklettert waren, wurde es sogar einigermaßen flach. Cecilia steuerte auf einen einzelnen Felsen zu. Ein Bruchstein vermutlich, der vor langer Zeit abgebrochen und hier zum Liegen gekommen war. Sie verschwand hinter dem Riesenbrocken. Mit einem kurzen Abstand folgte ich ihr.

Nanu? Sie war verschwunden!

„Cecilia?“ Verdammt, ich hatte wieder das „i“ deutlicher betont, als das „a“. Das mit uns wäre wohl ohnehin nichts geworden. Wenn ich schon an der Aussprache ihres Namens so kläglich scheiterte. Ich hörte sie kichern. Neugierig umrundete ich den Stein. Sollte das eine Art Versteckspiel werden? Gleich hatte ich den Felsbrocken einmal umkreist. Von Cecilia fehlte jede Spur. Ratlos blickte ich Pippa und René Martin entgegen, die inzwischen die Böschung hochgeklettert waren.

„Der Zugang ist nicht leicht zu finden.“ Er blieb an der Nordseite des Felsens kurz stehen und deutete in Richtung Boden.

Ich bückte mich ein wenig. Da war tatsächlich eine versteckte Nische. Ich hatte sie vorhin nicht einmal bemerkt. Fast schon auf den Knien schob ich mich vorwärts und entdeckte einen höhlenartigen Vorraum. Gerade hoch genug, um aufrecht darin knien zu können. Cecilias Rucksack lehnte in einer Ecke. Im hinteren Teil gab es eine quadratische Öffnung im Stein. Die Kanten waren leicht abgerundet. Ich nahm ebenfalls die Rucksäcke vom Rücken und löste einen der daran befestigten Helme samt Stirnlampe. Mein Puls erhöhte sich unweigerlich.

Das war wirklich keine alltägliche Höhle. Fast wirkte der Zugang wie von Menschenhand gemacht, obwohl ich mir keinen Reim darauf machen konnte, wieso das mitten im Nirgendwo jemand hätte tun sollen. Der Eingang hatte einen etwa fünfzehn Zentimeter hohen Sockel. Ich knipste die Stirnlampe an und spähte neugierig in das Loch. Pippa war mir gefolgt. Selbst zu zweit war in der Höhle genug Platz. Ich hörte ihren erstaunten Ausruf.

„Stufen! Jemand hat hier Stufen angelegt“, teilte ich ihr mit, was ich vorgebeugt sah. Ich konnte nicht verhindern, dass sich meine Stimme vor Aufregung überschlug. „Cecilia?“ Ich betonte die letzte Silbe dieses Mal hoffentlich richtig. Ich nahm eine Lichtquelle wahr, die nur von ihr stammen konnte.

„Worauf wartest du? Komm endlich!“, hörte ich ihre amüsierte, hohl klingende Stimme.

Das brauchte sie mir nicht zweimal zu sagen. Auch wenn ich inzwischen wusste, dass sie diese Worte niemals in trauter Zweisamkeit leidenschaftlich in mein Ohr stöhnen würde, folgte ich ihrer Aufforderung mit freudiger Erregung. Ich stieg über den Sockel und stellte fest, dass der Treppenabgang dahinter groß genug war, um aufrecht in die Tiefe steigen zu können.

Der Fels war abgerundet, als hätte jemand extra versucht, eine halbwegs glatte Oberfläche zu gewinnen. Einige Flechten wuchsen rings um den Zugang. Trotzdem hatte ich den Eindruck, mich in einer anderen Welt zu befinden. Ich stieg ein paar Stufen hinab. Mein Herz pochte noch immer wild. Meine Sinne waren geschärft. Die Luft in der Vorhöhle war leicht muffig gewesen. Im Inneren war sie wieder frisch und klar. Angenehm kühl. Ich trug nur ein Shirt. Zuvorkommend reichte ich Pippa eine Hand und half ihr dabei durch die Öffnung zu klettern.

„Das ist unglaublich.“ Sie klang ebenso aufgeregt, wie ich mich fühlte.

Ich nickte, wobei der Schein meiner Stirnlampe sich wild bewegte. Schnell nahm ich die restlichen Stufen in Angriff. Etwa ein Dutzend.

„Es muss ein Erdstall sein“, hörte ich Pippa hinter mir rätseln. „Aber so weit weg von der nächsten Ansiedlung?“

Mir selbst spukten eher Gedanken über Märchensagen durch den Kopf. Von Zwergen, die im Berg wohnten und dort Gold horteten. Wohlüberlegt behielt ich meine Sichtweise für mich. Cecilia beschattete, von meiner Lampe geblendet, ihr Gesicht.

„Jetzt verstehe ich, warum ihr so ein Tamtam um diese Höhle gemacht habt“, fasste ich meinen ersten Eindruck in Worte.

„Ihr habt nicht einmal einen Bruchteil gesehen. Kommt mit!“

Auch ihr Mann war inzwischen zu uns gestoßen. Der Gang verengte sich wieder etwas. Tunnelförmig stieg er leicht an. Wir legten vielleicht zehn Meter zurück. Es war schwer zu schätzen, da er keinen geraden Verlauf hatte. Wir kamen zu einer Gabelung. Die Wände wirkten zwar fest, schienen aber nicht direkt aus dem Fels gehauen zu sein. Sie sahen nicht ausgewaschen aus.

Neugierig prüfte ich mit den Fingern die Konsistenz. Wie grobkörniger Waschbeton? Ich kratzte mit dem Nagel etwas an einem Kieselstein und hielt ihn plötzlich in der Hand. Trotzdem kam mir vor, die Wände um mich herum wären fest und stabil.

„Eine Art Konglomerat“, bestätigte René Martin meine unausgesprochene Theorie. „Ich habe Proben genommen.“

Der Lichtkegel der Stirnlampe gaukelte mir sonderbare Lichtreflexe an den Wänden vor. Lag es an der auffallend hohen Luftfeuchtigkeit? Noch immer schmeckte die Luft sauber und frisch. Ich fühlte mich ungewöhnlich beschwingt. Obwohl ich mit den Haaren beinahe die Tunneldecke streifte, empfand ich keine Platzangst. Eher spürte ich sogar ein Gefühl der Geborgenheit.

„Was ist dein Eindruck, Pippa?“ Ich drehte mich zu ihr um. Wie für mich war das auch für sie gänzliches Neuland. Cecilia und René hatten schon länger Zeit gehabt, sich ein Bild zu machen.

„Ich fühle mich gerade, als würde ich durch die Adern von Mutter Erde spazieren.“ Ehrfürchtig holte sie tief Luft. „Es ist unglaublich. Jetzt verstehe ich, warum Claudius uns nichts Näheres verraten hat. Man muss es selbst erleben.“

Ich stimmte ihr gedanklich zu, obwohl ich nie so eine bildgewaltige Antwort gefunden hätte. Eher hatte ich das Gefühl in einem gigantischen Maulwurfsbau unterwegs zu sein. Immer wieder zweigten Gänge ab. Es war ein unermessliches Labyrinth, ohne jeglichen Anhaltspunkt. Markierungen auf dem Boden, die wohl Peter, oder einer der Martins gemacht hatten, dienten zur Orientierung.

„Habt ihr die Gänge schon vermessen?“, erkundigte ich mich.

„Nicht alle. Manche stehen unter Wasser, die haben wir derzeit noch ausgelassen. Bisher haben wir an die Tausend Meter gemessen“, sagte Cecilia.

„983,8“, präzisierte René ihre Aussage.

Ich pfiff leise durch die Zähne. Das war eine ordentliche Strecke. Der Gang schlängelte sich weiter, teilweise leicht ansteigend, dann wieder abfallend dahin. Ab und zu wurde der Tunnel so eng, dass ich beinahe mit den Schultern streifte. An anderen Stellen konnten wir bequem nebeneinander gehen. Was fehlte, war auch nur der kleinste Hinweis auf den Nutzen dieses Systems.

„Habt ihr Werkzeuge, Knochen oder Spuren von Gebrauchsgegenständen gefunden?“, wollte Pippa wissen.

„Nichts, was dem entspräche, woran du denkst“, rief Cecilia von der Spitze unserer kleinen Expedition und rief mit dieser kurzen Entgegnung ein flaues Gefühl in meiner Magengegend hervor. Wo zum Teufel war ich hier nur reingeraten? Claudius hatte bei der Vorstellung erwähnt, Pippa wäre eine Spezialistin für religiöse Artefakte.

Wir erreichten wieder einen geräumigeren Teil, in dessen Mitte sich ein eiförmiger Block befand, der mit seltsamen Zeichen graviert war.

„Sind das Runen?“, fragte ich das Erstbeste, was mir einfiel.

Cecilia blieb stehen und blickte fragend zu Pippa: „Das haben wir uns auch schon gefragt.“

Die Geschichtsprofessorin kniete sich staunend vor den Block und strich vorsichtig über dessen Oberfläche. Drei Augenpaare beobachteten sie gespannt.

„Was sagst du?“, konnte ich mich nicht zurückhalten und berührte das Ding ebenfalls vorsichtig. „Wie kommt das bloß hierher? Es ist fast dreimal so breit wie der Tunneleingang.“

Pippa sah mich mit großen Augen an. „Du hast recht.“ Mit dem Knöchel ihres Mittelfingers klopfte sie leicht gegen den Block. Es klang weder hohl noch fest. „Eine Art Keramik, würde ich sagen. Es könnten Runen sein. Einige der Zeichen habe ich schon einmal gesehen. Leider bin ich keine Schriftgelehrte. Kann ich sie fotografieren? Ich kenne jemanden, der sich damit auskennt.“

Cecilia zog unbehaglich die Schultern hoch. „Natürlich kannst du sie fotografieren. Wir müssten allerdings erst Roman fragen, ob er einverstanden wäre, weitere Leute mit an Bord zu holen.“

Pippa umrundete den Block und machte von allen möglichen Seiten Aufnahmen.

„Wir haben bisher fünf von diesen Artefakten gefunden. Es gibt noch etwas, was ihr euch ansehen solltet“, drängte sie ungeduldig zum Weitergehen. Sie zog ihre Jacke an. Es war tatsächlich empfindlich kühl hier drinnen, wenn man sich nicht bewegte. Ich überprüfte die Temperatur mittels meiner Uhr. „Zwölfeinhalb Grad exakt“, las ich laut vor. Das war ziemlich kühl für Mitte Juni, fand ich. Noch dazu, wenn man annahm, dass sie der Gesteinstemperatur, die sie umgibt, entsprechen sollte. Immerhin war das keine Eishöhle.

Mich störte es nicht weiter, Pippa schlüpfte ebenfalls in ihre Jacke. René trug sie offensichtlich, seit wir die Höhle betreten hatten. Ich hatte nicht darauf geachtet und gar nicht daran gedacht, eine mitzunehmen. Erwartungsvoll folgte ich Cecilia, die einige Schritte vorausgegangen war. Tiefer hinein in das Tunnel-Labyrinth.

Wir sahen zwei weitere der eiförmigen Objekte. Dann stießen wir wieder auf einen größeren Raum. Ich schätzte ihn in etwa so groß wie mein Schlafzimmer. Sechzehn Quadratmeter. Cecilia hatte vor mir gehalten und versperrte mir die Sicht auf die Mitte des Raumes. Auf den ersten Blick hatte ich erkannt, dass etwas anders war. Hier lag keiner dieser riesigen Keramikblöcke. Sie trat einen Schritt zur Seite und ich traute meinen Augen nicht.

 

 

 

 

 

Hallo, liebe Leser!

Ich habe bemerkt, dass sich schon einige die ersten beiden Kapitel heruntergeladen haben. Wie findet Ihr die Story bis jetzt?

Wie immer könnt Ihr Herzen vergeben, wenn Euch etwas gefällt. Schreibt mir auch gerne in den Kommentaren, was Euch durch den Kopf geht. Wie es genau weiter geht, weiß ich derzeit noch nicht so genau. Vielleicht inspirieren mich Eure Anregungen.

LG Thora

Cecilia

Daniel stand wie festgefroren am Ende des Tunnels.

„Hoppla! Warum bleibst du auf einmal stehen?“ Pippa rempelte ihn von hinten an, doch er kümmerte sich nicht weiter um sie. Mit ungläubig aufgerissenen Augen starrte er das Ding an. Den Grund, weshalb wir überhaupt hierher gekommen waren.

Pippa drängte neugierig an ihm vorbei und ich hörte sie verhalten keuchen. Sichtlich bemüht versuchte sie, ihr Entsetzen zu vertuschen. „Kinder? Ist das da ein reales Ding?“

René schob Daniel zur Seite und beantwortete ihre Frage: „Die Schwingungen verlaufen wellenförmig. Ähnlich, wie man sie in der Quantenphysik vermutet.“

Automatisch wollte ich das, was René von sich gegeben hatte, in allgemein verständliche Worte zu übersetzen, doch Daniel unterbrach mich: „Ich hab´s schon kapiert.“ Aufgeregt stellte er ein regelrechtes Stakkato an Fragen in den Raum, wobei er sich genauso hochgestochen wissenschaftlich ausdrückte wie mein Bruder. Da hatten sich die zwei Richtigen gefunden.

Gemeinsam traten sie näher an den frei in der Luft schwebenden Gegenstand heran. „Wir müssen das Schwingungsmuster feststellen ...“.

Ich sah Pippa an, dass ihr dasselbe durch den Kopf ging wie mir, als ich zum ersten Mal hier gestanden hatte. Nämlich, dass diese Entdeckung völlig jenseits jeglichen Vorstellungsvermögens lag. Ihr Mund war offen. In sich versunken stand sie da.

Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Daniel. Unbemerkt konnte ich ihn in Ruhe ansehen. In einem Mix aus intuitivem Erfassen und blitzschneller Analyse hatte er sich dieser neuen Situation angepasst. Und, oh Wunder, er unterhielt sich mit meinem Bruder. Es gab nicht viele Menschen, die dazu fähig waren.

Okay, ich kommunizierte auch mit ihm, aber das hieß nicht, dass ich verstand, was er immer so von sich gab. Ich versuchte stets, seine rationale Distanziertheit in eine sozial kompetente Version zu übersetzen. Die zwischenmenschliche Interaktion war bei René nicht sehr stark ausgeprägt. Die Wahrheit war, dass ihn einige Menschen für einen lebenden Roboter hielten.

Daniel hingegen war alles andere als ein gefühlskalter Androide. Schon das herzliche Lächeln seiner Augen, das er gezeigt hatte, als ich heute am Bahnhof vor ihm gestanden war, hatte mich dazu bewogen, mich umzudrehen. Ich hatte wissen wollen, wem dieses Lächeln wohl gelten mochte.

Doch da war niemand hinter mir gewesen. Da erst war es mir gedämmert, dass nur ich selbst gemeint sein konnte. Mit unwiderstehlicher Dreistigkeit war er in seinem lässig schlaksigen Gang zielstrebig auf mich zugekommen. „Herzlichen Glückwunsch! Sie sind die hübscheste Frau dieser Stadt“, hatte er gesagt, ohne zu wissen, wer ich eigentlich war. Nachdem ich es ihm mitgeteilt hatte, war ihm seine charmante Penetranz nicht einmal peinlich gewesen. Unverschämt hatte er beinahe ununterbrochen mit mir geflirtet. Im Auto hatten die wie wild hin und her rasenden Pheromone die Luft knistern lassen. Dabei war er gar nicht mein Typ. Normalerweise verschaute ich mich in unnahbare schweigsame Kerle. Unnötig zu erwähnen, dass daraus meistens nichts wurde, da ich selbst nicht gerade der gesprächigste Mensch war, der den ersten Schritt machte.

Er sah aus wie ein zu groß geratener Lausbub. Ein sehr gut Gebauter allerdings. Was mich sofort für ihn eingenommen hatte, waren seine Augen. Der Schalk in ihnen versprühte pure Lebensfreude, aber auch eine tiefe Ernsthaftigkeit.

„Bitte sag mir, dass ich das nicht träume.“ Pippa war aus ihrer Erstarrung erwacht.

Ich riss mich von der Betrachtung Daniels los und lachte: „Das war auch meine erste Reaktion. Damit erübrigt sich wohl die Frage, ob du so was schon einmal gesehen hast?“

„Habt ihr es schon berührt?“

„Ja. Obwohl wir natürlich zuerst Bedenken hatten. Wir konnten keine Strahlung nachweisen. Man könnte es bewegen. Auch andere Gegenstände beginnen zu schweben, wenn man sie in die Nähe bringt.“ Ich trat an das mysteriöse Objekt und fischte ein Taschentuch aus meiner Hosentasche, hielt es knapp über die Spitze der frei schwebenden Pyramide und ließ es los. Wie von Zauberhand verharrte das Papiertuch an Ort und Stelle. Daniel trat an meine Seite und gab dem Taschentuch mit der Fingerspitze einen Stups. Es folgte, wie in Zeitlupe, dem Impuls seiner Bewegung, bis es wieder langsamer wurde und an der neuen Position stecken blieb. Daniel hielt staunend seine Hand in das seltsame, Schwerelosigkeit erzeugende Feld. Bewegte die Finger. Drehte die Handfläche hin und her.

„Das Bewusstwerden der Unmöglichkeit ist der Beginn aller Möglichkeiten“, murmelte Pippa wohl ein Zitat, das ihr gerade durch den Kopf schoss. Eine überaus passende Feststellung.

René machte den feierlichen Augenblick zunichte: „Endlich haben wir den Generator. Ich möchte, dass Sie so schnell wie möglich mit den Untersuchungen anfangen.“

„Lass doch Daniel das erst mal verdauen“, bremste ich seinen befehlsartigen Ton. „Er ist gerade erst angekommen.“ Mein Bruder hatte unzählige Theorien ausgearbeitet, die er nun in der Praxis überprüfen wollte. Als Theoretiker hatte er zwei linke Hände, wenn es ums Untersuchen seiner Berechnungen ging. Da kam Daniel ins Spiel.

„Welche Untersuchungen wurden bereits durchgeführt?“, wollte er wissen.

„Claudius hat Gesteinsproben der Gänge in einem Labor analysieren lassen und die Kammern mit den Blöcken vermessen. Die Hohlräume durchnummeriert und die Markierungen angebracht. Eine Datierung war bisher erfolglos. Es gibt keine Spuren einer anthropogenen Aktivität.“

Pippa mischte sich in Renés Erläuterung ein: „Also wurden bisher keine Werkzeuge, Scherben oder sonstige Hinweis auf die Erbauer gefunden?“

René bedachte sie mit einem genervten Blick. „Das habe ich doch gerade gesagt.“

Pippa fühlte sich sichtlich angegriffen, von seiner barschen Entgegnung. Das fing ja schon gut an. „René!“, tadelte ich ihn. Am Tonfall meiner Stimme erkannte er inzwischen, wenn er dabei war, jemanden zu beleidigen. „Wir sind ein Team. Jeder darf sagen und fragen, was er will.“ Ich hasste es, mich wie eine tadelnde Mutter benehmen zu müssen.

Am leichten Schütteln seines Kopfes erkannte ich, dass ihm wieder einmal nicht klar war, was er falsch gemacht haben sollte. „Wir haben einen kleinen Stalagmiten gefunden und ihn mittels U-Th-Datierung auswerten lassen.“

„Eine spezielle Form der radiometrischen Datierung mittels Uran und Thorium“, ergänzte Pippa für Daniel, der sichtlich nichts mit Renés Abkürzung anfangen konnte.

„Jedenfalls ergab sich dabei ein absolutes Mindestalter von fünftausendneunhundert Jahren plus-minus dreihundert. Natürlich können wir nicht wissen, wann genau der Stalagmit anfing, sich zu bilden.“

„Das entspricht dem Zeitraum des Jungneolithikums.“ Verwundert legte Pippa den Zeigefinger auf ihre Lippen. „Schwer vorstellbar, dass Menschen dieser Zeit, so sie denn aus irgendeinem Grund hier gelebt haben, zu so etwas fähig gewesen waren.“ Sie machte eine ausschweifende Handbewegung.

René seufzte und setzte an, seine bisherige Arbeit vor uns auszubreiten. Wie ein Schwamm hat er die geologische Geschichte der Gegend aufgesogen und im Zeitraffertempo alles über Gesteinskunde gelernt. Gebracht hat es uns bisher nichts. Weshalb sollte er also Pippa und Daniel damit langweilen?

Schnell unterbrach ich ihn: „Peter hat ein dreidimensionales Laserscanning der Gegend aus dem Helikopter gemacht. Leider war es nicht aufschlussreich.“

„Das ist doch alles belanglos.“ Daniel hob theatralisch die Hände. „Ich will wissen, wie das funktioniert?“ Er starrte die beiden vor uns in der Luft schwebenden Doppelpyramiden an. Die untere stand auf dem Kopf, die Spitze wies zu Boden. Die obere schwebte, in einem Abstand von wenigen Zentimetern, exakt darüber. René hatte berechnet, dass dieser genau dem Verhältnis des Goldenen Schnitts entsprach. Versuchte man, die beiden Pyramiden zu verschieben, gelang es nur vorübergehend. Sie richteten sich von selbst wieder aus.

Er blies seine Backen auf.

„Ich will wissen, wer das gemacht hat?“, hallte Pippas Stimme umgehend durch die Kammer.

„Ich will wissen, warum es ausgerechnet zwei quadratische Pyramiden sind? Sicher steckt ein mathematisches Rätsel dahinter.“ Verwundert schaute ich zu meinem Bruder. Es war nicht seine Art, zuzugeben, etwas nicht zu wissen.

Ich fühlte, wie die Blicke der anderen mich durchbohrten. Hatte ich doch als Einzige noch nicht geäußert, was mir durch den Kopf ging. Ich spürte in mich hinein. Holte tief Luft: „Ich will wissen, wozu es dient.“ Ich seufzte. Wir waren allesamt ahnungslos.

Okay. Inzwischen waren wir nicht mehr zu viert, sondern zu sechst, die nichts wussten. Die Existenz dieses … Relikts überstieg unseren Horizont. Selbst wenn wir weitere Wissenschaftler hinzuzögen. Ich hatte das mulmige Gefühl, dass dadurch  die Fragen bloß mehr werden und trotzdem die Antworten ausbleiben würden.

Daniel und René unterhielten sich wieder angeregt über diverse Versuchsreihen, die sie durchführen wollten. Gerade besprachen sie, wie man am besten die Energiesignaturen und den Elektromagnetismus überprüfen könnte.

„Bist du eigentlich religiös, Pippa?“, wandte ich mich der Frau neben mir zu.

„Ich glaube schon an etwas. Als religiös würde ich mich aber nicht bezeichnen. Warum fragst du?“

„Ich habe vorhin gehört, wie du zu Daniel gesagt hast, du fühltest dich wie im Inneren von Mutter Erde.“

„Das war mehr ein Gefühl, hatte aber nichts damit zu tun, woran ich glaube. Was willst du wirklich wissen?“

„Würdest du sagen, du bist ein spiritueller Mensch?“ Es war eine heikle Frage. René hätte sich wieder über mich lustig gemacht. Zum Glück war er gerade in seiner eigenen mathematischen Welt und abgelenkt.

„Warum wird mir diese Frage immer gestellt, wenn ich vor oder in einer Pyramide stehe?“ Pippa verzog schmunzelnd die Mundwinkel. Sie sah mich abschätzend an. „Los, frag mich endlich, was du wirklich wissen willst.“

„Fühlst du etwas?“ Unbewusst legte sich meine rechte Hand auf meine Brust.

Pippa schloss für einen Moment die Augen und holte tief Luft. Horchte still in sich hinein. „Es tut mir leid, ich bin zu aufgeregt. Was fühlst du?“

„Ich fühle Leben. Neugierde. Sicherheit. Vertrauen. Als wären ganz viele gute Geister um mich herum.“ Ich hatte meine Augen geschlossen. Jetzt öffnete ich sie und kaute auf meiner Oberlippe. Hielt sie mich für verrückt?

„Ich denke, du bist ein spiritueller Mensch. Manchmal wünschte ich, ich könnte solche Sachen auch fühlen. Es gibt viele Orte, an denen Feinfühlige wie du etwas empfinden. Du würdest dich wundern, wie viele neue Entdeckungen und Erkenntnisse vor der Öffentlichkeit genau aus diesem Grund geheimgehalten werden. Man ist sich unschlüssig. Ist die Wahrheit den Menschen wirklich zumutbar? Da sind so tief verwurzelte orthodoxe Zwänge, die verhindern, dass man den Blick auf das öffnet, was in der Vergangenheit erreicht wurde. In einer Zeit vor der aufgezeichneten Geschichte, vor akzeptierten Zeitlinien. Es geht um nichts Geringeres als um ein neues Kapitel in der Historie der Menschheit.“

Daniel stand plötzlich zitternd vor Kälte neben uns. „Wir holen den Generator und schauen, wie weit das Kabelmaterial reicht. Vielleicht können wir heute schon erste Tests durchführen.“ Ein kalter Luftstrom aus dem Tunnel war zu spüren. Noch so ein unheimliches Detail. Wie war hier unten eine derart günstige Luftzirkulation möglich? Er rieb sich die Arme. Er würde sich den Tod holen, wenn er länger ohne Jacke hier herumstand. René war offensichtlich vorgegangen.

„Wir kommen gleich nach und helfen euch“, sagte ich schnell.

Als Daniel außer Hörweite war, hielt ich Pippa am Ellenbogen zurück: „Kann ich dir etwas zeigen?“ Sie sah mich neugierig an. „Hast du schon mal von Boviseinheiten gehört? Die Messeinheit von Lebensenergie?“

„Ich denke ja. Die Asiaten nennen es Prana oder Chi, nicht wahr?“

„Stimmt.“ Ich griff in meine Hosentasche und holte mein Pendel hervor und ein Blatt, mit einer Skala, um den exakten Wert bestimmen zu können. Dann kniete ich mich neben den Pyramiden auf den Boden und breitete den Zettel aus. Zuerst ließ ich mir bestätigen, dass das Pendel bereit war. „Ich werde jetzt den Wert der Boviseinheiten feststellen“, erklärte ich meinem Unterbewusstsein und Pippa, die sich interessiert neben mich gekniet hatte. Erwartungsgemäß dauerte es nicht einmal eine halbe Minute, um eine Antwort zu erhalten. Wie die Male zuvor, lag der Wert bei über 50.000. „In einer störungsfreien Zone, im Wald zum Beispiel, liegt der Wert normalerweise bei siebentausend. In Kirchen und Klöstern sind es etwa doppelt so viel“, erklärte ich Pippa. „In Lourdes wurden sechsundzwanzigtausend gemessen und in der Königskammer der Cheops-Pyramide hundertsiebzigtausend.“

„Du bescherst mir eine Gänsehaut.“

„Der Wert ist unglaublich, nicht? René hat doch diesen Ionentest gemacht. Er hat über siebzigtausend negative Ionen pro Kubikzentimeter gemessen. So viele misst man normalerweise nur in unmittelbarer Nähe von Wasserfällen. Gesunde Waldluft in den Bergen hat im Vergleich dazu fünftausend. Das brachte mich auf die Idee, es mit dem Pendel zu überprüfen.“ Ich faltete meine Skala sorgfältig zusammen und rappelte mich hoch. Während ich Zettel und Pendel wieder einsteckte, fragte ich Pippa: „Ich hoffe, ich habe dich nicht verschreckt? Für euch Wissenschafter zählt das ja als Pseudowissenschaft. René regt sich immer furchtbar auf, wenn ich das Pendel befrage.“

Pippa folgte mir in den Tunnel, der uns zurück zum Eingang dieses Labyrinths bringen würde. „Ich muss gestehen, dass ich selbst einmal wie dein Bruder gedacht habe. Aber nach all dem, was ich im Zuge meiner Reisen und Erfahrungen erlebt habe, bin ich inzwischen offen für Zeichen und Hinweise, die dabei helfen, gewissen Rätseln auf die Spur zu kommen. Wir müssen lernen, über fünf Ecken zu denken. Wie hat es der kleine Prinz schon so treffend formuliert? Das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.“ Sie lächelte. „Also nein. Du hast mich nicht verschreckt. Ich habe auch so meine kleinen Geheimnisse“, offenbarte sie mir. „Ich sympathisiere zum Beispiel mit Paläo-SETI, das dürfen meine Kollegen an der Uni nicht hören. Es gilt offiziell als Pseudowissenschaft.“ Sie schrieb mit den Zeige- und Mittelfingern ihrer Hände Anführungsstriche in die Luft.

Der Begriff war mir fremd. Ich hatte zwar schon vom SETI-Projekt gehört. Mein Bruder hatte früher ständig ein Programm auf seinem PC laufen gehabt und stellte damit Rechenkapazitäten für die Suche nach außerirdischem Leben zur Verfügung. Deshalb fragte ich nach und bat Pippa, mir mehr davon zu erzählen.

„Es geht um die Existenz antiker Zivilisationen wie Atlantis, Lemuria oder Mu, denen man eine fortgeschrittene Technologie zuschreibt. Es wurden schon zahlreiche Bücher über dieses Thema veröffentlicht. Immer wieder gibt es Ausstellungen und sogar eine eigene Fernsehserie. Derzeit läuft die vierzehnte Staffel. Eure Höhle wäre genau das Richtige dafür.“

„Roman und Peter möchten den Fund derzeit geheim halten. Sie meinen, die Öffentlichkeit ist noch nicht bereit.“ Wir erreichten die Kammer mit dem Block, der mit diesen sonderbaren, Runenzeichen versehenen war. Dieselben Zeichen fanden sich auf der blauen Hülle der schwebenden Pyramiden. „Du hast also schon ähnliche Objekte gesehen?“ Ich beugte mich über den Block und hielt meine Handflächen knapp über die Oberfläche.

„Du würdest dich wundern, was ich schon alles gesehen habe und was man in alten verstaubten Akten findet. Es gibt eine Welt, die einem Tabu unterliegt, über die nur hinter vorgehaltener Hand geredet wird. Aber nein. So etwas wie diesen Ort habe ich nie zuvor gesehen.“

Wir gingen weiter. Pippa nahm den Faden zu unserem vorigen Gespräch wieder auf: „Roman hat recht. Es darf nicht bekannt werden. Sonst campieren hier bald tausende von Hippies und über kurz oder lang wird alles behördlich versiegelt. Wegen Einsturzgefahr, oder weiß der Teufel, was sie sich einfallen lassen.“

„Du glaubst also, es könnten uns schon einmal Aliens besucht haben?“ Der Gedanke war mir nicht ganz geheuer. „René ist überzeugt, dass es irgendwo Außerirdische gibt.“ Wenn man ihn mit normalen Menschen verglich, könnte es durchaus sein, dass sie bei seiner Zeugung ihre Hände im Spiel gehabt hatten. Das behielt ich für mich.

Pippa seufzte: „Das will ich mir gar nicht wirklich vorstellen. Aber berufsbedingt habe ich mich schon oft gefragt, wie viel Wahrheit in den Göttersagen und Geschichten steckt. Ich frage mich: Haben wir die Götter erfunden - oder sie uns?“

Die restliche Strecke bis zum Stiegenaufgang schwiegen wir und hingen unseren eigenen Gedanken nach. Ich ertappte mich dabei, mich auf Daniel zu freuen. Dieses Gefühl war sogar stärker als meine in den letzten Tagen entstandene Aufregung im Zusammenhang mit den Geheimnissen des Labyrinths. Ich hatte Herzklopfen.

Oh là là Cecilia. Es hat dich erwischt!

 

 

„Können wir euch helfen?“ Enttäuscht stellte ich fest, dass Daniel nur noch Augen für diesen blöden Generator hatte. Er stand vor der Nische, die zum kleinen Vorraum der Höhle führte. Gerade bastelte er an dem angeschlossenen Kabel herum, um es mit der Verlängerung zu verbinden. Ich verfolgte die flinken Bewegungen seiner Finger, bis mein Blick weiter nach oben wanderte. Seine Arme waren gebräunt und muskulös. Ganz offensichtlich verbrachte er nicht wie mein Bruder jede freie Minute mit seiner Arbeit. Hatte er meine Frage gehört?

Ich kniete mich vor ihm nieder und suchte abwartend seinen Blick. „Erde an Daniel?“, wiederholte ich meinen Versuch, auf mich aufmerksam zu machen.

Irritiert hob er den Kopf. „Entschuldige. Wie bitte?“ Zerstreut überlegte er, was ich gesagt hatte. „Ja. Ihr könntet das Kabel ausrollen. Ich fürchte, es reicht nicht bis Kammer drei.“ Er hatte wie selbstverständlich bereits die Bezeichnung laut Plan verwendet.

Ich legte den Kopf schräg. Wer war dieser Mann? Ich wollte Daniel, den Herzensbrecher zurück. Bitte. Sofort! Ein arbeitswütiger Bruder reichte mir vollkommen. Ich seufzte.

Mit gerunzelter Stirn hob Daniel nochmals den Kopf und sah mich fragend an. Da! Ganz kurz blitzte das Leuchten in seinen Augen auf. Oder täuschte ich mich? Jetzt sah er mich mit zusammengepressten Lippen ausdruckslos an, räusperte sich und widmete sich wieder seiner Arbeit. Keine Chance. Kein Kompliment. Kein Kuss.

Was hast du erwartet? Ich war abgemeldet. Nicht mehr interessant. Der Herr hatte ein neues Spielzeug gefunden. Ich hatte mich wohl in ihm getäuscht.

 

Geknickt schnappte ich mir die erste Rolle des Stromkabels. Pippa eilte herbei und half mir. Das Ding war verflucht unhandlich. Gemeinsam schleppten wir es in den Höhlenvorraum und machten uns daran, es abzurollen. Pippa hielt die Trommel. Ich zog am Kabel und stieg die Treppe hinab in den Tunnel.

„Wie viel Meter sind das?“, rief Pippa mir nach.

„Fünfhundert, glaube ich. Wir haben zwei davon. Mal sehen, ob die ausreichen. Wir hätten eine andere Farbe nehmen sollen.“ Das Schwarz des Stromkabels war nicht optimal in dieser Umgebung. Hoffentlich stürzte niemand über die steile Treppe. Wir mussten es unbedingt sicher befestigen, wenn wir mit dem Aufrollen fertig waren. Wieder wanderte ich die Strecke durch die engen Gänge entlang. Zum ersten Mal war ich ganz alleine hier unten. Kurz überlegte ich, ob das unheimlich war. Nein.

Im Gegenteil. Dieses Mal spürte ich die neugierige Präsenz sogar noch intensiver. „Zeigt euch“, flüsterte ich. „Wer seid ihr?“ Ein kühler Hauch streifte meine Wange. Oder bildete ich mir das alles nur ein?

Werde jetzt bloß nicht verrückt.

Als Verrückte stiegen die Chancen, meinen Traummann zu finden, ganz gewiss nicht. Und das wollte ich. Neunundzwanzig Jahre und nicht unter der Haube. Ts Ts Ts, würde unsere alte Kinderfrau geringschätzig sagen. Ich wollte auf keinen Fall als alte Jungfer meinen kleinen Bruder bis an unser Lebensende bemuttern. Ich wollte selbst Kinder haben. Sogar wenn sie so schrullig wären wie René.

Zum Glück stand es eins zu einer Million, dass nochmals so ein autistisches Genie den Weg in unsere Familie fand. Es sei denn, René fand eine Möglichkeit, sich selbst zu reproduzieren. Wer weiß sowas schon. Wenn möglicherweise sogar Aliens ins Spiel kamen …?

Ende der Fahnenstange. Das Kabel gab nicht mehr nach. Ich zog probehalber fester. Ein zweifaches Gegenziehen war unser Zeichen, dass die erste Rolle zu Ende war. Ich war knapp bis zu Kammer Eins gekommen. Vorsichtig krabbelte ich auf den mysteriösen Block in der Mitte und legte mich darauf. Meine Stirnlampe leuchtete zur Decke der Kammer. Ich schloss die Augen. Nur einen Moment verschnaufen. Meine Handflächen berührten die eingeritzten Zeichen. Strichen leicht darüber, als wäre es eine Art Blindenschrift und meine Fingerkuppen könnten die Symbole entziffern.

 

 

Jemand streichelte zärtlich meine Wange. Nein! Jemand schlug mir nicht gerade sanft gegen die Wange. „Cecilia!“ Ha. Da hieß jemand so ähnlich wie ich.

Irgendetwas dämmerte in meinem Kopf wie der Vollmond in einer bewölkten Nacht. „Cecilia. Cecilia!“ Na endlich, beim dritten Mal hatte er es doch glatt richtig hinbekommen. Ich öffnete meine Augen. Schade. Eigentlich hätte ich es noch ein wenig hinauszögern können. Vielleicht wäre eine Mund-zu-Mund-Beatmung angedacht gewesen? Tja. Zu spät.

„Da bist du ja wieder. Wie fühlst du dich?“ Daniel sah mir besorgt ins Gesicht. Ich drehte den Kopf. Pippa kniete zu meinen Füßen und lächelte mich unsicher an.

René tippte auf irgendeinem kleinen Kästchen herum und sagte: „Ich verstehe das nicht. Die Sauerstoffsättigung hier drinnen ist überdurchschnittlich gut.“

„Was ist mit euch?“ Ich griff nach Daniels Hand, mit der er mir half, mich aufzusetzen.

„Du warst weg. Ist dir schwindlig geworden?“ Sein Daumen suchte den Puls an meinem Handgelenk. Ich genoss das warme Gefühl seiner Finger auf meiner Haut.

„Unsinn. Ich bin vielleicht kurz eingenickt.“ Lass dir ruhig Zeit und untersuche mich so gründlich wie du willst.

„Komm besser weg von diesem Ding, solange wir keine genaueren Untersuchungsergebnisse haben.“ Daniel half mir aufzustehen. Mit einer leichten Drehung bugsierte er mich direkt auf René zu, der schnell einen Schritt zur Seite machte.

Pipa nahm sich meiner an. „Wie fühlst du dich?“ Besorgt legte sie einen Arm um meine Schulter. Daniel kam mit dem losen Ende des Elektrokabels zurück und begann, mit einem Allzweckwerkzeug die Ummantelung abzuschälen. Neugierig beobachtete ich, was er tat. Er löste ein Stück Kupferdraht ab, schnitt ein etwas mehr als einen halben Meter langes Teil davon ab und formte eine Art Wünschelrute daraus.

„Danke. Ich fühle mich wunderbar“, sagte ich zu Pippa und wand mich aus ihrer Umarmung. „Was tust du?“ Interessiert beobachtete ich Daniel.

„Ich bastle einen Tensor. Ein radiästhetisches Messinstrument“, fügte er erklärend hinzu.

Natürlich wusste ich, was ein Tensor ist. Auch, dass Kupfer eine starke Leitfähigkeit besaß, und besonders dafür geeignet war, feinste Energiesignaturen anzuzeigen. Aber was hatte Daniel damit vor? Das war doch nur esoterischer Hokuspokus, wie es René immer nannte.

Dementsprechend skeptisch verfolgte mein Bruder, wie Daniel das Stück Draht lose in seiner Hand hielt und konzentriert den Ausschlag des Tensors beobachtete.

„Kein Zweifel“, meldete er nach einer Weile. „Irgendeine Art von Energiequelle befindet sich unter dem Block. Vielleicht eine Wasserader? Wahrscheinlich dient dieses Ding als Verstärker. Es könnte eine Art von Keramik sein, dann hätte es die Eigenschaft eines Supraleiters. Allerdings müsste es dafür viel kälter sein.“

Ich griff nach dem selbst gebastelten Tensor und fragte: „Darf ich mal?“ Er überließ mir das Stück Draht und ich versuchte selbst zu überprüfen, ob es bei mir ausschlug. Es dauerte eine ganze Weile länger als bei ihm, doch das Resultat blieb gleich. „Weshalb kannst du das?“, erkundigte ich mich mit klopfendem Herzen.

„Mein Großvater hat es mir beigebracht. Seit er nicht mehr ist, kommen seine alten Kunden zu mir, um Wasseradern auf ihren Grundstücken auspendeln zu lassen.“ Er sagte es, als wäre es das Normalste auf der Welt. Halleluja! Die Chancen standen gut, dass er mich nicht als verrückte Hexe abstempelte. Triumphierend sah ich zu meinem Bruder.

Schulterzuckend sagte René: „Das Kupfer reagiert auf radionische polare Ladungszustände, die von Hautsensoren des Körpers aufgenommen, von der thalamischen Zentrale im Gehirn ausgewertet und durch Induktionsresonanz wieder auf den Draht übertragen werden.“ Das waren ja ganz neue Töne aus seinem Mund.

Schnaubend atmete ich aus: „Und weshalb ist Daniels Wünschelrute ein akzeptables Werkzeug und mein Pendel reiner Aberglaube?“

„Du hast ein Pendel dabei?“ Daniels Augenbrauen waren in hohem Bogen auf seine Stirn gewandert. Na toll. Würde er mich jetzt deswegen aufziehen?

René dozierte: „Die postulierten Strahlungen bei der Radiästhesie sind ebenso wenig nachgewiesen wie deren Wahrnehmung durch Lebewesen. Außerdem werden diese angeblichen Strahlen in keiner Weise klassifiziert.“ Niemand schenkte ihm weitere Aufmerksamkeit.

Pippa nahm mich in Schutz. „Ich fand es sehr aufschlussreich, was Cecilia in der Pyramiden-Kammer ausgependelt hat.“

„Klärt mich auf.“ Daniel blickte interessiert zwischen Pippa und mir hin und her. Pippa, die Verräterin, erzählte ihm von den Boviswerten, was er mit einem „Hm, interessant“ quittierte.

Hm, interessant. Er schien sich tatsächlich dafür zu interessieren. Gedanklich begann ich Richtung Wolke Sieben abzuheben. Verträumt spielte ich mit Daniels Wünschelrute und dachte an das leichte Prickeln, das seine Finger auf meiner Haut hinterlassen hatten. Darüber, was mit mir auf diesem Block geschehen war, konnte ich später nachgrübeln.

Pippa riss mich aus meinen Träumen. „Geht es bei dir schon wieder?“ Sie hielt die zweite Kabelrolle in den Händen. „Deinem Gesichtsausdruck nach muss deine kurze Auszeit auf dem Ding eine tolle Erfahrung gewesen sein. Deine Augen leuchten wie eine Hundert-Watt-Glühbirne.“

Ich spürte, wie ich rote Ohren bekam. Schnell überprüfte ich, ob Daniel meinen Zustand mitbekommen hatte.

„Wir brauchen dielektrische Antennen, Resonatoren und Wellenleiter“, zählte er an René gewandt auf, als ginge es um irgendeine Einkaufsliste vor einem verlängerten Wochenende. Genausogut hätten sie sich über Superfluxkompensatoren unterhalten können. Ich bekam bei diesen Begriffen Gehirnkrämpfe. Er schien bereits vergessen zu haben, dass es mich gab. Ernüchtert griff ich nach dem Kabelanfang und lächelte Pippa aufmunternd zu, während ich tiefer ins Innere des Tunnels davonstapfte.

„Keine unkoordinierten Entspannungspausen in den Kammern mehr!“, rief sie mir hinterher.

 

 

Das Dröhnen des Stromgenerators zerfetzte die friedvolle Waldidylle. Wie lange wir es so schaffen würden, unsere Entdeckung geheim zu halten, würde sich weisen. Der Lärm war sicher kilometerweit zu hören. Peter war inzwischen wieder zu unserer Gruppe gestoßen. Die Männer hatten einige Leistungstests mit dem Gerät durchgeführt und schleppten nun Material in die Tunnel. Uns hatten sie aufgetragen, nicht im Weg herumzustehen. In unmittelbarer Nähe des Höhleneinganges konnte man sein eigenes Wort kaum verstehen, deshalb wanderten Pippa und ich ein wenig tiefer in den Wald.

Wir verließen den von unseren bisherigen Besuchen ausgetretenen Pfad und versuchten, einen steilen Hang zu umgehen. Das ratternde Geräusch wurde leiser, je weiter wir in den Wald eintauchten. Immer wieder lagen umgeknickte Bäume im Weg, denen wir akrobatisch auswichen. Ich fühlte mich wohl in Pippas Gesellschaft.

„Ich hoffe nur, die Männer bringen sich nicht gegenseitig um, wenn wir sie da unten alleine lassen. René ist so ein Leistungsfanatiker. Er überfordert normalerweise jeden nach wenigen Stunden, mit dem er zusammenarbeitet“, seufzte ich.

Ächzend setzte Pippa sich auf einen querliegenden Baumstamm. „Peter und Daniel machen mir den Eindruck, als könnten sie sich wehren.“

Das stimmte allerdings. Ich sollte mich eher um meinen Bruder sorgen. Wobei, für sarkastische Beschwerden war er nicht empfänglich und handgreiflich würden die beiden hoffentlich nicht werden. Ich setzte mich neben Pippa.

„Was wirst du Roman sagen, wenn er dich nach deinem Eindruck fragt?“

„Gute Frage. Ich müsste definitiv jemanden zu Rate ziehen, der sich mit Runen und Symbolen auskennt. Eigentlich glaube ich nicht, dass es wirklich Runen sind. Auch keltische Symbole sehen anders aus.“ Sie holte ihr Handy aus der Hosentasche und betrachtete nachdenklich die Fotos, die sie geschossen hatte. „Da ist ein Kreis und hier zwei Linien. Ein Dreieck. Ein Viereck. Und hier, die sieben Strahlen. Symbolhaft steht der Kreis für Einheit oder Ganzheit. Religiös betrachtet für die Ewigkeit. Die zwei Linien verkörpern Polarität oder Paarbildung. Vielleicht ist es eine mathematische Formel?“

„Wenn es eine mathematische Formel wäre, hätte René es vermutlich bemerkt“, unterbrach ich sie.

„Nur wenn es eine ist, die er kennt.“ Sie verzog die Lippen zu einem sarkastischen Grinsen. „Das Dreieck könnte für die Zahl Drei stehen und das Viereck für Vier. Und dann diese Strahlen … Seit jeher spielt in der Zahlenmystik die Sieben eine bedeutende Rolle in der menschlichen Wahrnehmung, wenn es um den Aufbau der Welt geht. Deshalb hat die Woche sieben Tage, Gott hat die Welt in sieben Tagen erschaffen. Hast du von der Himmelsscheibe von Nebra gehört?“

„Gehört schon, aber leider wieder alles vergessen, was damit in Zusammenhang steht“, gab ich zu.

„Da gibt es sieben goldene Punkte, die dort als Verweis auf die Plejaden interpretiert wurden.“

„Ich dachte, die Benennung der sieben Wochentage weist auf die mit freiem Auge sichtbaren Planeten unseres Sonnensystems hin? Sonntag auf die Sonne. Montag auf den Mond“, gab ich zu bedenken.

Pippa stimmte mir zu: „Ja, die Sterne und natürlich die Götter spielten von jeher eine bedeutsame Rolle in unserer Geschichte.“

„Ich wusste es schon immer, die Antwort auf alles steht in den Sternen.“ Meine Mundwinkel wanderten in die Breite. „Lass das nicht René hören. Ich interessiere mich schon immer für Astrologie, aber davon hält er gar nichts.“

„Wie steht ihr zwei eigentlich zu Roman? Warum hat er euch engagiert? Oder wisst ihr über Peter von der Höhle?“

„Purer Zufall. Ich mache Feng Shui-Beratungen. Er hat mich kontaktiert, weil er wissen wollte, was ihn näher zu seiner Natur bringen kann. Beim Feng Shui geht es darum, Dinge und Situationen, die einem nicht bewusst sind, über den Lebensraum auszudrücken“, fügte ich erklärend hinzu und Pippa nickte, „Dabei sind wir ins Plaudern gekommen und ich habe erzählt, dass René Astrophysiker ist. So hat das Eine das Andere ergeben. War gar nicht so einfach, René hier raus zu locken.“ Ich musste jedes Mal lachen, wenn ich daran dachte. „Aber jetzt ist er Feuer und Flamme. Solange er nicht in den Heli steigen muss.“

„Okay, verstehe. Einen Astrophysiker im Boot zu haben, ist in diesem Fall sicher hilfreich.“

„René hat noch etliche andere Doktortitel, frag mich nicht, in was alles. Aber bitte sprich ihn nicht darauf an“, warnte ich Pippa. „Er fühlt sich ohnehin schon allwissend. Auch wenn es sogar stimmen mag, er hört dann nie auf, darüber zu reden. Bescheidenheit ist nicht so sein Ding.“

Sie sah mich sonderbar an, deshalb schlug ich vor, ein Stück weiter zu wandern.

„Du und René, ihr seid ... ?“ Pippa keuchte hinter mir den Hang hoch, ohne den Satz zu vollenden. Ich musste kurz überlegen, was sie von mir wissen wollte. Die letzten Überlebenden in unserer Familie? Zweisprachig aufgewachsen? Die einzigen Menschen auf der Welt ohne Freunde? Ich hielt kurz an und drehte mich ratlos zu ihr um.

„Wie habt ihr euch kennen gelernt?“, präzisierte sie ihre Frage.

Hä? Im Krankenhaus, als ich mit meinem Vater Mama und ihn auf der Entbindungsstation besucht habe? Nicht dass ich mich daran erinnern könnte. Kopfschüttelnd teilte ich ihr mit, dass ich noch immer keinen blassen Schimmer hatte, worauf sie hinauswollte. „Er war halt plötzlich einfach da. Wie das mit kleinen Brüdern so ist.“

„Ihr seid Geschwister!“ Pippa lachte. „Und ich dachte ...“

„Was? Was hast du gedacht?“

„Ich dachte, ihr seid verheiratet.“

„Waaas?“ Meine Stimme überschlug sich ungläubig. „Im Leben nicht findet René eine Frau, die ihn heiraten wird. Ich halte es ja selbst nur aus, weil ich mein ganzes Leben darauf konditioniert wurde, auf ihn aufzupassen.“

„Ihr seht euch überhaupt nicht ähnlich.“

„Ja, René kommt mehr nach Papa und ich nach unserer Mutter“, erklärte ich meine dunkle Hautfarbe und das widerspenstige krause Haar. „Sie ist auf Martinique geboren.“

„Hast du von ihr deine Feinfühligkeit?“

„Kann schon sein. Wir kannten unsere Eltern leider nicht sehr gut. Sie sind vor“ – ich rechnete kurz nach - „… vor dreiundzwanzig Jahren bei einem Raubüberfall ums Leben gekommen.“

„Oh mein Gott, das ist ja schrecklich! Wer hat sich um euch gekümmert?“

„Hauptsächlich der Nachlassverwalter, ein enger Freund meines Vaters, und diverse Nannys. Richtig lange hat es aber keine mit René ausgehalten. Er war schon immer etwas eigen. Zum Glück waren unsere Eltern wohlhabend. Wie viele Waisenkinder können schon von sich behaupten, in einem Schloss aufgewachsen zu sein? Inklusive Hauslehrer?“ Ich schnaubte melancholisch.

„Hattet ihr keine Großeltern? Tanten? Onkel?“

„Niemand, der sich um uns gekümmert hätte. Papas Familie war mit seiner Heirat nicht einverstanden gewesen und Mamas Familie konnten wir nie ausfindig machen.“

„Das ist ja furchtbar.“ Eine Falte des Mitleids furchte ihre Nasenwurzel. „Mein Enkel musste auch ohne Eltern aufwachsen. Allerdings hatte er immer meine Mutter und mich und inzwischen eine ganz liebe Verlobte.“

Überrascht schaute ich sie an. „Ich hätte nie gedacht, dass du schon einen so großen Enkel haben könntest. Was ist mit seinen Eltern passiert?“

„Sie wurden auch ermordet. Mein Sohn hatte zwar kein Geld, aber er wurde gewissen Personen des organisierten Verbrechens zu gefährlich.“ Ihre Stimme klang leise, wie brüchiges Papier, und Tränen schimmerten in ihren Augen. „Er galt lange als vermisst. Oliver, mein Enkel, hat den Täter aufgespürt und er bezahlt jetzt für sein Verbrechen. Auch wenn das meinen Sohn nicht zurückbringt: Es tut gut, Gewissheit zu haben.“

„Das tut mir leid für dich. Es muss schrecklich sein, ein Kind zu verlieren.“

„Lass uns über etwas Erfreulicheres reden.“ Pippa blinzelte ein paar verstohlene Tränen weg und blickte zurück in den Taleinschnitt, den wir bereits ein ganzes Stück hinter uns gelassen hatten.

„Bin ich verrückt und sehe schon überall Pyramiden?“ Ich deutete auf den gegenüberliegenden Hang.

„Wenn, dann sind wir beide verrückt. Ich sehe was du meinst.“ Pippa holte ihr Handy hervor und machte ein paar Fotos. „Wir müssen unbedingt Peter fragen, ob ihm das aufgefallen ist. Du hast gesagt, er hätte ein Geoscanning gemacht? Wenn mich nicht alles täuscht, müssten die Tunnel genau in diese Richtung führen. Was denkst du?“

„Du könntest recht haben. Das wäre unglaublich, oder?“

„Angeblich gibt es unter den ägyptischen Pyramiden geheime Tunnel. Nur bekommt die kaum wer zu sehen. Aber ich kenne jemanden, der etwas darüber wissen müsste. Sie kennt sich außerdem mit Symbolen und alten Schriften aus. Wann kommt Roman nach? Ich werde ihm vorschlagen, meine Bekannte ebenfalls einzuweihen. Ella kann ein Geheimnis für sich bewahren. Wahrscheinlich ist sie euch eine größere Hilfe als ich.“

„Woher kennt ihr euch?“

„Sie ist eine Art moderne Grabräuberin. Aber eine Robin Hood-mäßige. Sie stellt sicher, dass gewisse Schätze und Artefakte nicht in irgendwelchen geheimen Kellern diverser Multimillionäre verschwinden, sondern sichert sie für bekannte Museen.“

„Hört sich spannend an. Roman hat nichts darüber gesagt, dass er sich etwas aus der Höhle in seinen Keller stellen will. Als seine Feng Shui Beraterin müsste ich ihm davon abraten. Sieht sie aus wie Lara Croft?“

„Nein. Sie ist hübscher als Lara Croft.“

„Solange sie die Finger von Daniel lässt ...“, verriet ich Pippa mein süßes Geheimnis.

„Keine Angst. Sie ist wirklich nett.“ Ihre Mundwinkel erreichten beinahe ihre Ohren. „Hat dich Amors Pfeil getroffen?“

„Aber sowas von mitten ins Herz.“

 

 

Zurück am Höhleneingang, machten wir uns daran, unsere Zelte aufzubauen. Von meinem Bruder, Peter und Daniel fehlte jede Spur. Da der Generator lief, nahmen wir an, sie waren mit diversen Versuchsreihen beschäftigt.

„Hoffentlich jagen sie sich nicht versehentlich in die Luft“, malte ich die Bilder, die mein Kopfkino mir bescherte, an die Wand.

„Irgendwann bekommen sie Hunger und werden rauskommen. Was denkst du?“

Nachdem wir die Zelte der Männer aufgebaut und unseren halben Proviant verputzt hatten, drückte Pippa den Aus-Schalter des Generators. „Die Rehe brauchen auch ihre Nachtruhe“, begründete sie ihre Tat energisch. Tatsächlich war es schon dämmrig geworden. Ich sah auf die Uhr.

 

 

„Sieben Minuten.“ Kommentierte ich Peters Auftauchen kurz darauf. „Wo sind die Anderen?“

„Sie haben mich rausgeschickt, um nachzusehen, was los ist.“

War ja klar, dass ihre Sorge rein dem Generator galt und nicht uns Frauen. Wir könnten von wilden Wölfen gerissen werden und keinem würde es auffallen.

„Pippa hat beschlossen, dass jetzt Nachtruhe ist. Immerhin sind wir im Wald.“

„Das wird den beiden nicht gefallen. Ich sage besser, der Motor ist heißgelaufen.“ Peter verschwand wieder in der Felsnische.

 

René und Daniel vergaßen beinahe, von ihren Broten abzubeißen so angeregt diskutierten sie ihre geplanten Versuche.

Peter war der Einzige, der sich für unseren Ausflug zu dem Aussichtspunkt interessierte. Er verglich Pippas Aufnahmen mit den Fotos auf seinem Handy, die er von der Gegend gemacht hatte. Auf denen war die Pyramidenform des Berges nicht erkennbar. „Überraschen würde mich nichts mehr“, sagte er und versprach uns, morgen mit uns nochmals hochzuklettern. Er erzählte, dass er sich zuvor nie sonderlich für Höhlen interessiert habe und wie er den Zugang zum Tunnelsystem entdeckt hatte. „Im Toten Gebirge gibt es das Schönberg Höhlensystem. Aktuell sind dort 151 Kilometer Höhlengänge und Hallen erforscht worden. Helene Fischer ist im Inneren verunglückt.“

„Darüber macht man keine Scherze“, tadelte ihn Pippa.

Er grinste spitzbübisch. „Wer redet denn von dem Schlagersternchen? Es war eine Namensvetterin von ihr. Eine junge Forscherin. Aber natürlich ist der Name nur wegen der Sängerin bei mir hängengeblieben. Ich habe alles, was ich im Internet über Höhlen dieser Gegend gefunden habe, durchforstet.“

 

Erst als Pippa laut und vernehmlich zu gähnen begann, reagierte auch mein Bruder und gab seinem Drang nach, den Mund weit aufzureißen. Still dankte ich den Spiegelneuronen für ihre Hilfe. Kurz darauf wünschte er uns eine gute Nacht und verschwand in seinem Zelt. Pippa und Peter folgten wenig später seinem Beispiel.

Der Mond würde in wenigen Tagen voll sein und die Dunkelheit verschluckte nicht mehr alle Umrisse. Nachts fühlte ich schon immer eine Verbindung zu meiner inneren Stimme. Ich spürte dann eine Verbundenheit mit allem Lebendigen und unternahm gerne Spaziergänge bei Mondschein. Jetzt fühlte ich mich hin und her gerissen zwischen diesem Drang und der zweiten Option, nämlich mich neben Daniel zu setzen, der gerade Nachrichten auf seinem Handy checkte, und ihn in ein Gespräch zu verwickeln.

Eines unserer Kindermädchen hatte mir eingetrichtert, niemals einem Mann nachzulaufen. Ich hatte damals eine frühpubertäre Phase, in der ich einen der Gärtner bei jeder Gelegenheit angehimmelt hatte. Daran musste ich nun denken. Es war mir damals schwergefallen, mich an ihren Ratschlag zu halten, und es kostete mich auch jetzt einiges an Überwindung, aufzustehen und leise ein paar Schritte zu einem großen Stein zu wandern, der einen einigermaßen guten Ausblick auf die Berge rings um uns bot.

 

Das leise Knacken eines morschen Zweiges verriet mir, dass sich jemand näherte. Hier bin ich! Mit jeder Faser meines Körpers spürte ich, wer sich an meine Oase der Ruhe heranpirschte. Mein Herzschlag begann erwartungsvoll zu galoppieren.

„Da steckst du. Ich hab schon befürchtet, du hast dich verlaufen. Störe ich?“

Was für eine Frage? Könnte ich hexen, hätte ich ihn herbeigezaubert. „Mm Mm“, brachte ich mit trockener Kehle mühsam hervor und rückte ein Stück zur Seite, sodass er neben mir Platz hatte. Sein nackter Arm streifte leicht an meinem, mit dem ich mich auf dem Stein abstützte. Viel zu schnell rückte er ein kleines Stück zurück. Der kurze Impuls hatte gereicht, um meinen Neuronen den Befehl zur Erregung an meine Brustspitzen weiterzuleiten. Zum Glück war es finster. „Warum ist der Himmel eigentlich nachts dunkel?“, versuchte ich, seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken.

Er schnaubte belustigt auf. „Ganz einfach. Es gibt zu wenig Sterne da draußen.“

Ich kannte die Antwort auf meine Frage längst. Schon als wir noch Kinder waren, hatte ich René damit gelöchert, immer mit dem Hintergedanken, ich fände irgendetwas, dass er nicht erklären konnte. Was mir so gut wie nie gelang. Es sei denn, ich fragte etwas wie: Wie heißt der Schauspieler, der den Hutmacher in „Alice im Wunderland“ spielte?

Bei solchen Fragen hatte René nur genervt die Augen verdreht, wohingegen er wusste, wie die weise Raupe im selben Film hieß.

Umso erstaunter war ich daher über Daniels Antwort. Mein Bruder, der Astrophysiker, hatte diese Tatsache damit begründet, dass sich das Universum erst seit ungefähr fünfzehn Milliarden Jahren ausdehnte und weil die hellsten Sterne immer am schnellsten starben, müssten sie viel früher zu leuchten begonnen haben, sonst hätte deren Licht nicht genug Zeit gehabt, hierher zu gelangen.

„Wären da noch mehr Sterne, würde das Universum wegen der ganzen Schwerkraft kollabieren“, sinnierte Daniel weiter.

Von dieser Seite hatten wir das Thema nie betrachtet. Insgeheim klopfte ich mir selbst auf die Schulter, dass ich Daniel überredet hatte mit uns zusammenzuarbeiten. Er betrachtete die Dinge aus einem anderen Blickwinkel. Sicher würden er und mein Bruder sich prima ergänzen.

„Was für ein verrückter Tag“, sagte er, weil ich nach wie vor stumm zu den Sternen blickte.

„Tja.“ Ich sog bestätigend die frische Nachtluft durch meine Zähne und drehte mein Gesicht in seine Richtung. „Und? Werdet ihr das Geheimnis knacken?“

„Seit so langer Zeit versuche ich, die Gravitationskraft vollkommen zu verstehen. Heute haben sich einige über Jahre mühsam erarbeitete Theorien in Luft aufgelöst. Ich kann derzeit gar nicht einschätzen, ob es uns gelingen wird. Mit halbgetaner Arbeit kommt man in der Forschung nicht davon. Außerdem brauche ich, glaube ich, erst einmal Zeit um alles in Ruhe zu überdenken. Ich bin es gewohnt, an meinen Hypothesen zu zweifeln. Das ist der Beweis, dass es eine Lösung gibt.“

„Ruiniert halt nichts da drinnen. Nicht dass eine Horde Aliens auftaucht und Stunk macht. Ich will nicht, dass wir von denen entführt werden.“

„Ich könnte mir niemanden anderen vorstellen, mit dem ich lieber von irgendwelchen Aliens entführt werden wollte.“

Da war er wieder. Daniels entspannter Charme schreckte die Schmetterlinge in meinem Bauch hoch. Ich drehte den Kopf in seine Richtung. Ein verheißungsvolles Verlangen spiegelte sich in seinem vom Mondlicht erhellten Gesicht. Sehnsüchtig schloss ich die Augen und wartete auf den gleich folgenden Kuss, den mir dieser Ausdruck versprach. Und wartete. Und wartete. Irritiert befahl ich meinen Wimpern, sich zu heben. Daniel hatte sich abgewandt! Reflexartig schluckte ich meine Enttäuschung hinunter. Ein schwieriges Unterfangen, wenn einem gerade die Spucke weggeblieben war.

Ich fühlte mich wie nach einer kalten Dusche. „Es ist spät. Ich glaube, ich gehe mal schlafen. Gute Nacht.“ Abwartend schob ich meinen Oberkörper nach vorne und gab ihm damit eine letzte Gelegenheit mich zurückzuhalten. Der Moment verstrich. Ich und mein langes Gesicht verschwanden zu meinem Zelt.

„Schlaf gut.“ Leise flüsternd verfolgten mich seine Worte.

 

 

Schlaf gut! Schlaf gut? Nur zwei Silben, doch die quälten mich die halbe Nacht. Wie sollte man da gut schlafen? Zwei Menschen, zwischen denen es gewaltig gefunkt hat, und dann so eine Abfuhr? Wütend strampelte ich in meinem Schlafsack und fühlte mich furchtbar alleine. Mir reichte mein in seine Arbeit verliebter Bruder. War Daniel etwa genauso? Zählte für ihn jetzt nur noch diese Jagd nach der Lösung des Schwerkrafträtsels? Dann konnte ich liebend gerne auf ihn verzichten. Auch andere Mütter hatten hübsche, charmante, witzige Söhne. Nur hatte ich in meinen bald dreißig Lebensjahren immer die falschen kennengelernt. Aber es musste sie geben. Wenn es für jeden Topf den richtigen Deckel gab, dann musste es auch für mich einen geben. Wobei: Für René gab es sicher keinen passenden Deckel. Er würde sein ganzes Leben darauf angewiesen sein, dass ich auf ihn aufpasste und die Scherben kittete, die er und sein unsensibles Mundwerk bei anderen hinterließen. Heiße Tränen quollen aus meinen Augen bei diesem Gedanken. Ich löste mich in Selbstmitleid auf. War das schon mein Sinn des Lebens? Für meinen zugegebenermaßen genialen Bruder da zu sein?

 

 

 

 

 Hallo, Ihr unbekannten Leser!

Wenn Ihr es bis hierher geschafft habt, gefällt Euch offensichtlich etwas an der Story. Lasst es mich doch in den Kommentaren wissen. Wie findet Ihr Daniel und Cecilia? Wie schnell sollen die zwei sich kriegen :-)

LG Thora

Daniel - Verwirrung ist ...

 

 

 

Ich goss etwas Mineralwasser in meine hohle linke Hand und spritzte mir die Flüssigkeit ins Gesicht. Fühlte mich hin- und hergerissen zwischen totaler Übermüdung und überdrehtem Tatendrang. Gleich mehrere Dinge hatten mich in der letzten Nacht von einem erholsamen Schlaf abgehalten. Der exotische Duft, der Cecilia gestern Abend umweht hatte, dazu ihr leicht zurückgebogener Hals, die geschlossenen seidigen Wimpern, ihre, zu einem lockenden Lächeln verzogenen rosigen Lippen. Fast dachte ich, sie wolle von mir geküsst werden. Viel hatte nicht gefehlt und ich hätte es getan. Die halbe Nacht hatte ich damit zugebracht, mir diesen Kuss vorzustellen.

Sie hatte mir komplett den Kopf verdreht.

Ich wusste gar nicht mehr, wo ich bei ihr stand. Ihre gesamte Körpersprache äußerte Interesse an mir. Immer wieder spürte ich ihre Blicke. Wenn ich dann hochsah, lächelte sie, halb verlegen, halb keck.

Ich schüttelte mich verwirrt. Wie sollte man so eine Frau einschätzen? Sah sie in mir ein Abenteuer? Aber so wollte ich sie nicht. Ich war in dieser Beziehung altmodisch. Einem anderen die Frau auszuspannen, noch dazu einem, dem ich zutraute, mit mir das größte Rätsel aller Zeit zu lösen, so einer war ich nicht.

Die zweite Hälfte der Nacht hatte ich mir das Hirn zermartert, was zum Teufel sich keine drei Meter von meinem Zelt entfernt befand. Was war der Sinn dieses Tunnelsystems? Eine Theorie konnte ich ausschließen. Es sah ganz und gar nicht aus wie eine verlassene Mine. Es gab nicht die geringsten Spuren von Salz, Kohle oder Edelmetallen. Nein. Viel Schlimmer. Es gab überhaupt keine Spuren. Als hätte jemand absichtlich jeglichen Hinweis beseitigt. Und was war das für ein krasser Zufall, dass Peter diesen Ort entdeckt hatte? Ich war direkt vor dem Zugang gestanden und hatte ihn nicht bemerkt. Nur, weil es gerade zu regnen begonnen hatte, als Peter an diesem Felsbrocken vorbeigekommen war und er sich in der Hoffnung auf einen Unterschlupf an den Stein gepresst hatte, waren wir hier. Wer weiß, sonst wäre die Höhle vielleicht weitere Jahrtausende unentdeckt geblieben. Zufall? Schicksal?

Und dann dieser Aussetzer von Cecilia auf diesem interessanten Block. Sie war komplett weggetreten gewesen. Pippa hatte es nicht geschafft, sie zu wecken, erst bei mir hatte sie zurückgefunden.

Sollte ich Cecilia glauben, dass sie sich an nichts erinnern konnte? Sie war feinfühlig. War sie, ohne es zu ahnen, ein Medium? Konnte sie, auf eine verrückte spirituelle Art, eine Verbindung zu diesem Ort aufnehmen? Oder war es umgekehrt und dieser Ort versuchte über sie, mit uns zu kommunizieren?

Mein Hirn war eindeutig überlastet. Deshalb war es mir so schwergefallen, einzuschlafen. Üblicherweise habe ich damit keine Probleme. Aber als die Vögel anfingen, Radau zu schlagen, hatte ich endgültig eingesehen, dass das nichts mehr werden würde mit meiner erholsamen Nachtruhe.

Ich räumte die Kiste ab, mit deren Hilfe wir gestern diverses Material abgeseilt hatten, und setzte mich darauf.

Nach und nach krochen die anderen aus ihren Zelten. Erst Peter. Dann Pippa, die sofort hinter den Büschen verschwand.

 

Leise unterhielt ich mich mit Waldner, der sich mit dem Rücken an den Fels lehnte. Ich besprach mit ihm die Liste der Dinge, die René und ich dringend für weitere Untersuchungen benötigten: „Wir brauchen einen Supraleiter, um zu sehen, wie er in den Kammern reagiert. Und stärkere Magnete. Noch einen Rechner ...“

Just, als ich das sagte, schälte René sich umständlich aus seinem Biwak.

„Der da reicht dir nicht?“, lästerte Waldner halblaut.

Ich schnaubte verstehend. Cecilias Mann war tatsächlich so etwas, wie ein wandelnder Supercomputer. „Ich rechne gerne nach,“ stieg ich auf seine Ironie ein.

„Ich bin heilfroh, dass du da bist. Die letzte Woche war ein Horror. Ich habe nur jedes zweite Wort von dem verstanden, was er von mir wissen wollte.“ Waldner fasste mit Zeigefinger und Daumen der rechten Hand seine Unterlippe und begann sie zu kneten.

Ich prustete leise lachend. Soeben hatte er ein detailgetreues Abbild von René nachgeäfft, sobald der auf Rechenmodus umschaltete.

„Kann ich verstehen. Geht mir manchmal nicht anders.“

Sich stöhnend auf die Knie stützend, richtete das Ziel unseres Spottes sich auf. Er sah dabei ein wenig wie ein steifer Zombie aus, der mühsam eine Extremität nach der anderen durchstreckte.

Peter, der das Schauspiel genau wie ich beobachtete, schnaubte ebenso leise wie ich vorhin. „Der hat das erste Mal in seinem Leben campiert, würde ich sagen.“

„Sieht ganz so aus.“ Wie ein Bewegungstalent wirkte er trotz seiner durchaus fitten Erscheinung nicht gerade. Mein Blick wanderte wieder einmal zu Cecilias Biwak. Dort regte sich nichts.

Pippa kam aus dem Wald zurück und sah uns strafend an. „Hast du gut geschlafen mein Lieber?“, wandte sie sich mitfühlend an René, obwohl der so mit sich selbst beschäftigt war, dass er unser Lästern sicher nicht einmal bemerkt hatte.

„Mein Bockspringbett zu Hause ist elektrisch verstellbar. Das Bett in der Hütte war schon eine Zumutung, aber diese dünne selbstaufblasende Matte entspricht nicht einmal ansatzweise den Bewertungen des Produzenten“, echauffierte er sich. „Ich hoffe, ihr habt einen Wasserkocher mitgebracht. Ich brauche dringend meinen English Breakfast Tea, damit meine Verdauung in Schwung kommt.“

Peter scheuchte mich von der Box hoch und kramte einen Wasserkocher hervor. „Ich hoffe, den Tee hast du selbst eingepackt.“ Er leerte den Inhalt einer kleinen Mineralwasserflasche in den Kocher. „Gleich wird unser Dornröschen aus dem Schlaf gerissen.“ Er sah bedauernd zu Cecilias Zelt und steckte das Kabel des Kochers an den Generator an. Dann drückte er den Start-Knopf. Sofort dröhnte dieser drauf los.

 

René kam mit einem Teebeutel zu uns rüber. Seufzend schloss ich den Deckel unserer Ersatzbank.

„Ein Beutel wird nicht für uns alle reichen,“ meinte Pippa skeptisch und erntete dafür einen pikierten Blick Renés. Mit hochgezogenen Brauen setzte sie sich neben mich auf Peters verwaisten Platz.

„Ich habe die Teebeutel rationiert.“ Knausrig war er also auch.

„Daniel hat mir gerade Eure Einkaufsliste aufgezählt, eine Packung Tee zusätzlich wird uns nicht ruinieren“, brachte Peter es auf den Punkt.

„Na schön.“ Er holte die Packung Tee. Als wäre er der Nikolaus höchstpersönlich, verteilte er gönnerhaft Teebeutel.

 

„Was werdet ihr als Nächstes machen?“, erkundigte Pippa sich und versuchte nicht allzulaut zu schreien und dennoch den lärmenden Motor zu übertönen.

Es gab eigentlich nur vier relevante stabile Elementarteilchen in der atomaren Welt, deren Reaktion auf das Feld in Kammer fünf wir auf die Schnelle überprüfen konnten.

„Es ist kompliziert.“ Mit dieser Entgegnung gab ich ihr die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, ob ihre Frage ernst gemeint war. Meine Erfahrung hatte gezeigt, dass die meisten Menschen aus reiner Höflichkeit Interesse heuchelten.“

Amüsiert neigte Pippa leicht den Kopf und sah mich abwartend an.

„Zuerst werden wir uns ansehen, wie Protonen, Elektronen, Neutronen und Photonen sich im relevanten Bereich verhalten. Dann sehen wir weiter“, schrie ich zurück.

„Wahrscheinlich wird das zu keinem Resultat führen“, orakelte René besserwisserisch, obwohl es im Grunde seine Idee gewesen war. Immerhin hatte er die Ausrüstung zusammengestellt.

Er hatte mir gestern schon des Langen und des Breiten dargelegt, dass seinen Berechnungen nach die Lösung im Bereich der Quarks läge und damit in einem Reich, das bisher nur als mathematische Abstraktion existierte. Allerdings mit dem Vorteil, dass diese Fiktion funktionierte. Nur, wie sollten wir hier, am Ende der Welt, Beweise für eine nicht materielle Zahlenwolke herbeizaubern? Ich blies meine Backen ratlos auf.

Peter stellte den Generator ab und goss heißes Wasser in die Becher.

Erleichtert atmete Pippa durch. In normaler Lautstärke sagte sie: „Und wie macht man so etwas?“

„Wir werden weiter mit den bescheidenen Mitteln, speziellen Drähten und Platten, die uns derzeit zur Verfügung stehen, untersuchen, wie sich das Feld unter bestimmten experimentellen Voraussetzungen verhält. Ich gehe ganz intuitiv vor“, erklärte ich. Das hörte René sichtlich ungern. Er zog geringschätzig eine Braue nach oben.

Pippa neigte abermals den Kopf  und wartete auf nähere Erläuterungen.

„Wir haben eine Nebelmaschine und einen Rechner samt Elektronenkamera. Das hält uns die nächsten Stunden beschäftigt.“

„Eine Nebelmaschine?“

„Tatsächlich eines der ältesten und gleichzeitig anschaulichsten Nachweisgeräte für Teilchenspuren. Es funktioniert wie Feenstaub, den du auf unsichtbare Gegenstände streust, um sie sichtbar zu machen.“

„Wenn man davon ausgeht, dass das Universum multidimensional ist, liegt vielleicht der Schlüssel zur Lösung eures Rätsels nicht in unserer Dimension, sondern in einer anderen.“ Pippa sprach die unausweichliche Frage aus. „Damit beschäftigt sich doch die Stringtheorie, oder, René?“

„Die Theorie ist eigentlich gar nicht so neu. Als Geschichtsprofessorin haben Sie sicher schon vom Logos der alten Griechen gehört.“

„Hä?“ Peter war von Renés Erläuterung sichtlich überfordert. „Was haben die alten Griechen mit dem Ganzen zu tun?“

Das Superhirn wurde seiner Rolle als wandelndes Lexikon gerecht: „Der Logos. Unter der sichtbaren Gestalt des Realen vermuteten die Griechen ein intelligentes, rationales Element, das den Kosmos reguliert und bewirkt, das Ordnung herrscht und nicht Chaos“, dozierte er.

„Ein lenkendes, beseeltes Element“, ergänzte Pippa und brachte René damit zum Augenrollen.

„Hä?“, präzisierte Peter nochmals sein allgemeines Nichtverstehen. Verdenken konnte ich es ihm nicht. Nicht nur in seinen Augen bestand diese Wahrscheinlichkeitswolke aus mathematischem Rauch. Wer möchte schon gerne den trügerischen Glauben an etwas Festes aufgeben, ohne zu wissen, aus welchem Stoff das Universum sonst bestehen sollte?

„Nach den neuesten mathematischen Erkenntnissen ist kein physikalischer Träger notwendig, um die Ordnung zu gewährleisten.“ Während ich sprach, wurde mir bewusst, wie sehr ich mich schon Renés Ausdrucksweise angepasst hatte, deshalb ergänzte ich etwas weniger wissenschaftlich: „Stell dir vor, alle Gegenstände, die du hier siehst, sind nichts anderes als eine Art schwingendes Feld.“

„Daniel will sagen, dass im Grunde nichts von dem, was wir wahrnehmen können, wirklich real ist. Mathematisch gesehen erliegen wir einer Täuschung, die wir aber mit der Realität identifizieren.“ Pippa war sichtlich vertraut mit der physikalischen Theorie, wonach das Universum nichts anderes als ein ungeheures Informationsnetz wäre.

„Wir haben gelernt, über manche Dinge hinwegzusehen. Jetzt müssen wir mühsam versuchen, sie wieder wahrzunehmen“, ergänzte ich.

Peters rechter Mundwinkel verzog sich gequält. „Ihr wollt mich verscheißern, oder?“

Ich sah René an, wie er Luft holte um von irgendwelchen verwirrenden Studien, wie dem Doppelspalt-Experiment, zu berichten und lenkte ihn mit einer kurzen Zwischenfrage von seinem Vorhaben ab. „Du hast sicher schon vom Higgs-Boson gehört, dem Gottesteilchen?“

Mit zusammengekniffenen Augen und einer konzentrierten senkrechten Falte auf der Stirn unterbrach mich Peter: „Wollt ihr mir etwa weismachen, ich träum das alles nur?“

„Gratuliere.“ Ich schlug ihm auf die Schultern und zwinkerte ihm zu. „Willkommen im Metarealismus. So heißt das, wenn ein Träumer sich seiner selbst und seines Traumes bewusst wird.“ Eigentlich war das ironisch gemeint, doch auf eine verrückte Art auch wieder nicht. Ich war selbst mehr als skeptisch.

„Ihr seid alle verrückt“, murmelte Peter und klopfte mit den Fingern gegen den metallischen Becher in seiner Hand. „Klong-Klong-Klong“. Als wollte er sich vergewissern, dass er nicht träumte.

Pippa lächelte mir mit einem unergründlichen Ausdruck zu. Mein Telefon vibrierte vernehmlich in meiner Hose. Entschuldigend hob ich mein Handy und sie nickte mir zu.

Es war Kathi, meine Schwester. „Was gibt es Schwesterherz?“

„Ich wollte nur fragen, wann du zurückkommst. Es ist wegen Spock. Ich muss überraschend für ein paar Tage nach München.“ Meine Schwester hatte von mir den Auftrag erhalten, die Katze, dieses verwöhnte Biest, zu füttern.

„Ernsthaft?“, entfuhr es mir. Ich stand vor dem riesigsten ungelösten Rätsel unserer Zeit und musste mich mit so banalen Problemen abgeben?

„Hast du schon gehört? Eva ist zurück.“ Kathi hatte unversehens das Thema gewechselt.

Das wurde ja immer schöner. Warum kam meine Ex-Verlobte ausgerechnet jetzt von ihrem Selbstfindungstrip zurück? Ich dachte, sie würde für immer und ewig in Australien hängen bleiben, wo sie die letzten Jahre verbracht hatte. Das wusste ich, weil sie nach wie vor mit Kathi in Kontakt stand und meine Schwester, egal ob ich es hören wollte oder nicht, derartige Neuigkeiten wie zufällig ins Gespräch einfließen ließ.

„Ich könnte sie fragen, ob sie sich um Spock kümmert.“

Auf gar keinen Fall!

„Sie soll ihren Krempel abholen und den Schlüssel unter die Türmatte legen. Wegen Spock lasse ich mir etwas einfallen. Ich bin gerade an einem Projekt dran und muss ohnehin allerhand Equipment aus meiner Werkstatt holen.“ Notfalls brachte ich den Kater in irgendeine Tierpension. „Ich kümmere mich selbst um alles. Danke, dass du mir Bescheid gegeben hast. Viel Erfolg in München.“ Ich würgte das Gespräch ab. Ich kannte Kathi, sie würde nicht lockerlassen und das Thema Eva breittreten. Ganz davon abgesehen, dass sie mich wahrscheinlich als Nächstes gefragt hätte, wo ich gerade steckte und von welchem Projekt ich redete. Genervt vergrub ich das Handy wieder in meiner Hosentasche.

„Probleme?“ Die Haut auf Pippas Stirn schob sich mitfühlend in Falten.

„Meine Katzensitterin hat mir gerade abgesagt.“ Ich zuckte ratlos mit den Schultern.

René mischte sich ein. Offensichtlich hatte er das Gespräch ebenfalls mitbekommen: „Cecilia kann auf deine Katze aufpassen. Sie ist uns hier ohnehin keine Hilfe. Sie soll sich lieber um unsere Einkaufsliste und darum kümmern.“

Auf gar keinen Fall!

„Hey, ich bin Junggeselle. Ich müsste erst eine Woche sauber machen, bevor ich jemanden ins Haus lassen kann.“

„Unaufgeräumte Wohnungen sind Cecilias Spezialgebiet.“

Kaum sprach man vom Teufel … Verschlafen gesellte sich Cecilia zu uns.

Vorwurfsvoll sah sie René an. „Was redet ihr da von mir?“

„Herrn Sommers Wohnung hat dein Aufräumtalent nötig. Er hat eine Katze. Du wolltest doch immer schon eine haben. Jetzt kannst du ausprobieren, ob es dir gelingt, sie am Leben zu halten.“

Ich blickte bei diesem Kerl nicht durch. Versuchte er gerade, mir seine Frau aufzuschwatzen? Ich wollte das nicht. Wie stellte er sich das vor? Und was war mit Cecilia? Ließ sie sich von ihm wirklich so herumkommandieren? Sie hatte sicher gänzlich andere Pläne?

„Klar. Kein Problem“, durchbrach sie abrupt mein Gedankenkarussell. „Hier bin ich euch ohnehin nur im Weg.“

Perplex starrte ich sie an. Pippa grinste. War ich wirklich der Einzige, der diese

Situation absurd fand?

 

*

 

„Ich denke nicht, dass uns das weiterbringt.“

Wissenschaft war für mich ein Abenteuer. Für René war alles eine nüchterne mathematische Formel. Mit selbstgefälligem Blick brachte er durch seine Bemerkung schon wieder eine meiner Theorien ins Wanken. In seiner Gegenwart fühlte ich mich stümperhaft. Das stachelte meinen Ehrgeiz an.

„Lass uns trotzdem die Teilchenmasse sorgfältig messen“, beharrte ich auf meinem Vorhaben. Pippa und Cecilia halfen mir seit einer halben Stunde dabei, die haarfeinen Drähte an einem notdürftig zusammengebastelten Gestell zu befestigen. Renés Feinmotorik war dazu nicht zu gebrauchen.

Die letzten Untersuchungen hatten nur dazu geführt, dass die Probleme noch komplizierter wurden. Warum hatten die Kräfte so verschiedene Eigenschaften?

Die letzten Drähte waren gespannt. Nervös richtete ich die Kamera aus. Dann schaltete ich das Spureninstrument ein. Teilchen, die an dem Draht vorbeiflogen, erzeugten auf ihm einen elektrischen Impuls, der zur Weiterverarbeitung direkt an den Rechner geleitet wurde. Mit verschränkten Armen stellte René sich neben mich. Wir beobachteten den Bildschirm. Es geschah nichts. Ich seufzte.

Pippa schüttelte grinsend den Kopf: „Ihr benehmt euch wie kleine Kinder, die zu Weihnachten das heiß ersehnte Geschenk bekommen haben, aber nicht damit spielen können, weil die Betriebsanleitung fehlt.“

„Stimmt“, gab ihr Cecilia recht.

„Warum kann die Gravitation ihren Einfluss so unbeschränkt entfalten?“, murmelte ich.

Renés rechter Zeigefinger malte Schleifen in die Luft. Damit wollte er mir schon wieder klar machen, dass wir besser von dem einen Prinzip ausgingen, dass alles auf fundamentalster Ebene aus Kombinationen von schwingenden Fäden bestand.

„Eisen ist ziemlich feste Materie. Versucht doch, alles Eisen zu entfernen.“ Cecilia deutete auf die schwebenden Pyramiden. „Die sehen nicht aus, als ob da Eisen drin wäre.“

Perplex starrten wir sie an.

Sie deutete unsere überraschten Gesichter richtig: „Das liegt daran, weil ihr immer nur mit dem Gehirn denkt.“

Das aus dem Mund einer Frau zu hören, entlockte mir ein ironisches Grinsen.

„Ich meine, ihr solltet mehr auf euer Herz und euren Bauch hören“, interpretierte sie mein Lächeln folgerichtig. „Ja, was ist, wenn ihr die Spielregeln nicht richtig verstanden habt? Versucht es mit Musik. Musik entsteht immerhin auch aus Schwingungsfrequenzen.“

Alles was Cecilia vorschlug, war innovativ. Auch wenn unsere Ohren keinen Ton wahrnahmen, herrschte in den Tunnels und Kammern doch eine unbeschreibliche Harmonie. Die Frage war, welche Töne brachten diese mikroskopisch kleinen String-Saiten zum Tanzen? Mozart? Bon Jovi? Oder vielleicht AC/DC?

Ich griff diesen Strohhalm auf. „Lass uns das einmal durchspielen. Wie entsteht Harmonie in einem Musikstück? Normale Saiten, einer Geige zum Beispiel, bestehen aus Molekülen und Atomen. Wenn wir aber bei der Stringtheorie bleiben, befinden sich die String-Saiten tief im Innersten von Materie.“

Cecilia riss staunend die Augen auf. „Und das Universum ähnelt einer harmonischen Symphonie, weil es aus einer ungeheuren Zahl schwingender Strings zusammengesetzt ist. Das würde auch die Wirkung der Planeten in unserem Horoskop erklären.“

„Genau.“ René verdrehte gelangweilt die Augen. „Und warum sich noch nie jemand über Lärmbelästigung beschwert hat, nachdem in seinem Feld Kornkreise aufgetaucht sind. Cecilia, du bist keine Hilfe.“

Mir gefiel gar nicht, wie er mit seiner Frau redete. Bevor ich etwas sagen konnte, mischte sich Pippa ein: „Es könnte schon sein, dass es mehrere Dimensionen gibt, die sich überlagern. Ich bin überzeugt, es gibt Schnittpunkte. Ihr müsst sie nur finden.“

Heftig nickend ergänzte Cecilia: „Vielleicht wäre es hilfreich, wenn ihr Wissenschaftler nicht sofort alles als Pseudowissenschaft abkanzeln würdet. Fällt euch die Zusammenarbeit mit spirituellen Menschen wirklich so schwer?“

Möglicherweise sollten wir tatsächlich einen anderen Weg in Betracht ziehen? Unsere gegenwärtigen technischen Mittel schienen nicht zu reichen. „Was ist mit dir in Kammer eins passiert?“, griff ich ihren Vorschlag auf.

„Ich kann mich wirklich an nichts erinnern.“ Ratlos zuckten ihre Schultern nach oben. Dann rieb sie sich die Hände. Wir waren seit Stunden hier unten und es war kühl.

„Wir sollten endlich Ella einweihen. Sie hat einige Erfahrung mit spirituellen Ereignissen gemacht. Ich kann euch beim besten Willen nicht weiterhelfen. Aber wenn alles einen Sinn hat, dann den, dass ich Ella kenne und euch bekanntmachen kann.“ Pippa sah uns müde an und unterdrückte ein Gähnen.

„Du hast recht. Wir sollten mit Roman darüber reden. Ich bin sicher, er hat keine Einwände. Aber er wird sie vorher kennenlernen wollen.“ Cecilia zog ihr Handy aus der Jackentasche und sah auf die Uhr. „Sobald Peter kommt, fragen wir ihn, ob er uns zurück nach Salzburg fliegt.“

 

Die Frauen hatten Waldner angestachelt auf den Berg zu klettern, um ein genaueres Geoscanning von der Gegend zu machen. „Außerdem sterbe ich vor Hunger.“

 

Auch mein Magen fing bei ihrer Bemerkung an zu knurren. Resigniert fand ich mich damit ab, vorläufig nichts weiter tun zu können, schaltete die Geräte ab und klappte den Deckel des Rechners nach unten. Ohne meine eigene Ausrüstung konnte ich ohnehin nichts ausrichten.

Bei dem Gedanken, mit Cecilia zu mir nach Hause zu fahren, wie es über meinen Kopf hinweg von allen einstimmig beschlossen worden war, wurde mir zugleich heiß und kalt.

Als wir bei einem dieser mysteriösen Blöcke vorbeikamen, wandte ich mich zu René um. „Wie sind die bloß hier reingekommen?“

„Materialisation aus einem Hyperfeld. Neutralisierte Materie wurde vielleicht hier erst wieder zusammengesetzt.“

„Angenommen das wäre möglich. Von welcher Dimension sprechen wir? Fünfdimensional? Sechsdimensional?“

„Nennen wir es n-dimensional“, verpackte René es sofort wieder in einen mathematischen Begriff.

Meinetwegen. „Gib mir Bescheid, wenn du die passende Formel parat hast.“ Wir hatten also gleich mehrere Baustellen offen. Wenn wir schon nach der Lösung dafür suchten, wie man die Schwerkraft überwindet, konnten wir auch das Thema „Beamen“ zur Sprache bringen. Mein Leben glich gerade einem wilden Traum.

 

 

*

 

Peter kam fast zeitgleich mit uns an unserem provisorischen Biwakplatz an. Wir machten uns gierig über den restlichen Proviant her und beschlossen, gemeinsam zur Hütte zurückzuwandern. René würde dortbleiben und an seinen Formeln herumtüfteln. Alle anderen Expeditionsteilnehmer würde der Heli zurück in die Zivilisation bringen. Pippa sollte bei Pegasus aussteigen und versuchen, einen Kontakt zu ihrer Freundin Ella herzustellen. Cecilia und mich würde Peter weiter zu mir nach Hause fliegen.

 

Von Zivilisation zu sprechen, wäre äußerst gewagt. Immerhin wohnte ich ziemlich am Ende der Welt. Weil es mit dem Heli nur ein Katzensprung war, beharrte unser Pilot darauf, uns die umständliche Zugfahrt zu ersparen. Mir kam das entgegen. Der Gedanke an eine stundenlange Reise nur mit Cecilia bereitete mir Unbehagen. Ich traute mir selbst nicht über den Weg.

 

*

 

„Hier lebst du also.“ Cecilia hatte abgewartet, bis das Dröhnen der Rotorblätter nachgelassen hatte. Sie sah sich neugierig um. „Hübsch. Idyllisch.“

Damit war alles gesagt, was es über den Ort zu sagen gab. „Na, dann komm mit rein. Ich will dir Spock vorstellen. Sicher verschläft er wieder den ganzen Tag.“

 

Cecilia und der Kater waren vom ersten Moment an ein Herz und eine Seele. „Oh, ist der verschmust! Man behauptet ja, Katzen nehmen die Eigenschaften von ihren Besitzern an.“ Sie grinste keck und sah mich fragend an. Mein verräterisches Herz pochte laut. Ich wusste, es war keine gute Idee gewesen, sie mit zu nehmen.

„Ich fahre mit dem Rad zum Bahnhof und hol meinen Pick-up. Du kannst duschen, wenn du möchtest.“ Ich zeigte ihr die wichtigsten Räume. „Fühl dich ganz wie zu Hause.“ Fluchtartig verließ ich den Bauernhof.

 

 

*

 

Eine Stunde später kam ich zurück. Das Rad hatte ich auf der Ladefläche deponiert. Cecilia würde einen fahrbaren Untersatz benötigen, um zum Einkaufen in den Ort zu fahren. Für alle andere Wege hatte ich ihr die Telefonnummer vom örtlichen Taxiunternehmen herausgesucht. Ich hob das Fahrrad herunter und stellte den Sitz tiefer. Ich war verschwitzt. Bevor ich in die Firma fuhr, um mein Equipment zu holen, wollte ich unbedingt duschen.

 

Vom Badezimmerfenster aus sah ich Cecilia im hinteren Garten bei einer Hecke mit reifen Beeren stehen. Sie war in ein großes Badetuch gewickelt und trug ein anderes wie einen Turban auf dem Kopf. Mein Blick blieb an ihren entblößten Schultern und den langen, nackten Beinen hängen. Sie bemerkte nicht, dass ich zurück war. Vielleicht war das ganz gut so. Ich stellte mich unter die Dusche und versuchte zu vergessen, dass meine Traumfrau halbnackt im Garten herumspazierte. Ich scheiterte kläglich. Ein paar Sekunden eiskalter Guss brachten mich wieder halbwegs auf Spur. Ich schlang mir das letzte verbliebene Badetuch um die Hüften und wollte gerade ins Schlafzimmer gehen, um mir frische Sachen anzuziehen.

„Daniel?“

 

Ich hörte Cecilias Stimme aus der Küche. Sie stand auf einem alten wackeligen Stuhl und kramte in einem der Oberschränke herum. „Hast du keinen Kräutertee zu Hause?“

„Vorsicht! Der ist nur halb so stabil, wie er aussieht.“ Ich rannte zu ihr. Bereit sie aufzufangen, sollte der Stuhl sein Zeitliches segnen. Als ich neben ihr stand, stieg mir der Duft nach meiner, von Kathi selbst gemachten Seife in die Nase. Offensichtlich hatte sie mein Hautöl gefunden, denn die Haut ihrer Beine glänzte samtig, wie warme Schokolade in einem Schokobrunnen. Sie trug eine meiner alten, ausgeleierten Unterhosen und mein ausgewaschenes Elevation-Shirt vom U2-Konzert. Sofort fühlte ich wieder Hitze in meinem Körper aufwallen. Auf ihrer linken Pobacke entdeckte ich drei kleine Muttermale, die ein Dreieck bildeten. Mein Zeigefinger machte sich selbstständig und berührte dieses ungewöhnliche Körpermerkmal.

„Na?“ Sie hatte sich umgedreht und sah interessiert meinen nackten Oberkörper an.

Betört von ihrem Blick und dem verführerischen Dreieck vor meiner Nase, strich meine Zunge über ihre verlockende Haut.

 

Sie kicherte und legte ihre Hände auf meine Wangen. Dann beugte sie sich zu meinem Gesicht runter und drückte ihren Mund auf meine Lippen. Es war nur ein kurzer Schmatz, aber der reichte aus, um mir endgültig die Sinne zu vernebeln. Ich umfasste Cecilias Hüfte und hob sie von diesem lebensgefährlichen Stuhl. Setzte sie auf der Küchenanrichte ab und legte meine Hände um ihre Taille. Mit schiefem Kopf und einem scheelen Lächeln schlang sie ihre Beine um meine Hüften. Griff mit den Fingern nach meinem Haar und sah mich abwartend an. Alle meine guten Vorsätze gerieten ins Schleudern. Hitze überfiel mich. Ihre Haut schien von innen zu glühen. Bereitwillig öffnete sich ihr Mund unter meinem. Meine Zunge drang in sie ein. Der Griff an meinen Haaren wurde fordernder. Und dann berührten sich unsere Zungen. Es fühlte sich an wie ein Stromstoß. Für den Bruchteil einer Sekunde kam ich zu Sinnen. Was machten wir da? Durch das feuchte Badetuch drängte sich mein Schwanz ihr entgegen. Ich wollte sie. Sie wollte mich. Nein! Es fühlte sich so schrecklich falsch an. Seufzend ließ ich sie los und trat einen Schritt zurück. „Wir wollen das doch beide nicht wirklich, oder?“ Bevor sie etwas erwidern konnte, drehte ich mich um und verschwand in meinem Schlafzimmer. Ich griff nach den nächstbesten Kleidern und keine zwei Minuten später schloss ich die Haustür hinter mir und rannte zu meinem Pick-up.

 

 

 

Cecilia - Tai Chi-Zauber

 

Es dauerte ein paar Minuten, bis mein Gehirn wieder brauchbare Gedanken hervorbrachte. Ich war gebannt von diesem erregenden, besitzergreifenden Kuss, der mich heißer als heiß gemacht hatte. Auch in Daniels Blick hatte sich nichts als nackte Lust widergespiegelt. Wo mich seine Hände berührt hatten, glühte noch immer meine Haut.

Trotzdem war er jetzt weg. Er hatte mich sitzen lassen. Im wahrsten Sinn des Wortes. Meine vier Buchstaben klebten fest auf der Arbeitsfläche seiner Küchenzeile. Das Geräusch der zuknallenden Haustür hallte nach.

Was zum Teufel? Dachte ich vor ein paar Sekunden, er würde nur schnell Gummis aus dem Schlafzimmer holen, brachte mich das Gebrumme seines Pick-ups auf den Boden der Realität zurück. Er hatte sich schnell etwas angezogen und war abgehauen. Hatte sich abgeseilt. Die Fliege gemacht.

Mein Herz hatte zu schlagen aufgehört, als er ohne ein Wort zur Tür raus geflüchtet ist. Besser, ich wartete, bis sich das legte. Ich hörte schon das Rauschen des aufgestauten Blutes in meinen Ohren. Gleich würde mein Hals explodieren. Vielleicht half ja atmen. Atme, Cecilia!

Leicht war es nicht, aber es gelang schließlich. Sinnvollerweise beruhigte ich mich erst einmal, bevor ich vor lauter Frust die Einrichtung zertrümmerte. Ganz ruhig, Cecilia. Sicher gab es einen plausiblen Grund für sein Verhalten.

Nach einer halben Ewigkeit rutschte ich vorsichtig von der Anrichte. Tränen der Enttäuschung quollen aus meinen Augen, obwohl ich es nicht wollte. Langsam stolperte ich in Daniels Schlafzimmer. Ich war vorhin schon einmal dort gewesen, als ich nach sauberer Wäsche gesucht hatte. Meine eigenen verschwitzten Sachen lagen auf der Waschmaschine im Badezimmer.

Seine ordentlich aufgeschüttelte Bettdecke war über den Fußteil des Bettes geschlagen. Ein ordnungsliebender Mann fiel einem nicht so ohne weiteres in den Schoß. Mein Hals fühlte sich inzwischen wie zugeschnürt an. Was bitte war da gerade schiefgelaufen?

Mit zitternden Knien setzte ich mich auf den Rand des Bettes und schloss die Augen. Meine Nase war verstopft. Sie war so viel intelligenter als mein Herz. Sie wollte mir zeigen, genug ist genug. Mit dem Handrücken wischte ich mir die Tränen aus den Augen. Ich brauchte ein Taschentuch.

Auf der Suche danach öffnete ich die Schublade an Daniels Nachttisch. Nachdem ich eine Packung Pfefferminzbonbons und einige benutzte Tempos zur Seite geschoben hatte, wurde ich fündig. Ausgiebig schnäuzte ich meinen Frust in das Papiertuch. Gleich fühlte ich mich besser. Den Rest meiner emotionalen Gefühlsanwandlung schluckte ich tapfer hinunter. Mein Blick wanderte zu den anderen Sachen, die sich in der geöffneten Lade befanden. Eine kleine Ringschatulle und ein Bilderrahmen, der mit der Rückseite nach oben darin lag. Ohne zu überlegen, griff ich zuerst nach dem Bilderrahmen.

So sah also ein glücklicher Daniel aus.

Das Foto zeigte ihn an der Seite einer rassigen Dunkelhaarigen. Ihr Gesicht erinnerte mich ein wenig an Viktoria Beckham. Nur in einer sportlichen Version. Die Aufnahme war auf irgendeiner Bergspitze gemacht worden. Ein Gipfelkreuz vor strahlendblauem Himmel bildete den Hintergrund des unbeschwert dreinblickenden Pärchens. Die geballte Ladung an Glück und Lebendigkeit brachte mich voller Neid wieder zum Heulen. Verschwommen sah ich einen jüngeren Daniel, dem aber genauso wie heute der Schalk aus den Augen sprühte.

Den Bilderrahmen beiseitelegend, griff ich mit klopfenden Herzen nach der Ringschatulle. Eigentlich ging es mich nichts an, was sich darin befand. Daniel hatte zwar vorhin gesagt, ich könne mich wie zuhause fühlen. Damit hatte er aber sicher nicht gemeint, dass ich in seinen privaten Sachen wühlen sollte. Es war ohnehin zu spät für Skrupel. Meine Finger hatten den Deckel längst nach oben geklappt.

Hochzeitsringe!?

Mir stockte der Atem. Er war verheiratet? Warte. Nein. Warum sollten dann beide Ringe hier in seinem Nachttisch liegen?

Der größere Ring aus Weißgold trug die Gravur eines halben Herzens. Der kleinere die zweite, passende Hälfte des Herzens in Form von funkelnden Edelsteinen. Zögerlich nahm ich einen der Ringe heraus.

D+E 4ever. Das eingravierte Datum zeigte einen Termin, der fünf Jahre in der Vergangenheit lag.

Was war passiert? Ich hatte noch nicht das ganze Haus gesehen, aber die Räume, die ich schon kannte, waren typisch für einen Junggesellen. Zweckmäßig und gemütlich, aber nüchtern. Ordentlich aber vernachlässigt. In der Küche hatte ich einen Saugroboter gesehen. Mein Blick schweifte durch das Schlafzimmer. Die Vorhänge sahen nicht mehr allzu frisch aus. Zwischen Gardinenstange und Wand hing ein altes, staubiges Spinnennetz. Auch das Fenster war schon länger nicht geputzt worden.

Seufzend steckte ich den Ring zurück in die Schatulle und klappte den Deckel zu. Noch einmal musterte ich das glückliche Paar auf der Fotografie. Dann legte ich alles möglichst wie zuvor zurück an seinen Platz und schob die Lade zu. Öffnete sie probehalber, um zu kontrollieren, ob alles unauffällig aussah. Mit einem mulmigen Gefühl verteilte ich die benutzten Taschentücher gleichmäßiger.

Mach dich nicht verrückt! Wer weiß schon auswendig, wie der Inhalt seiner Nachttischlade aussieht?

Irgendetwas war in Daniels vergangenem Liebesleben aus dem Ruder gelaufen. Rührte daher womöglich sein seltsames Verhalten? Irgendwie beruhigte mich diese Vorstellung. Solange es nicht an mir lag, gab es Hoffnung.

Ich ging zurück in die Küche und machte mir eine Kanne Tee. Daniels Kater strich um meine Beine. Geistesabwesend beugte ich mich zu ihm hinunter und tätschelte seinen Kopf. Abwarten und Tee trinken? Genausogut konnte ich mit dem Saubermachen anfangen. Nicht selten bewirkte das bei mir, dass sich auch mein Kopf danach wieder aufgeräumter, klarer anfühlte. Unter der Abwasch fand ich alle nötigen Putzutensilien.

 

Bevor ich mich an die Arbeit machte, erkundete ich das Haus. Das war keine Verzögerungstaktik, denn im Moment konnte mich nur diese Aufgabe davor bewahren, verrückt zu werden. Es war pure Neugierde. Der alte Bauernhof hatte Charme. Man stand sofort in der geräumigen Küche, sobald man das Haus betrat. Ein gemauerter Kachelherd verlieh dem Raum auf den ersten Blick etwas Heimeliges. Fehlte nur, dass die Katze sich dekorativ darauf platzierte. Aber es war schließlich Sommer.

Ich schob dieses geistige Bild zur Seite. Links der Eingangstür befand sich eine Art Ersatzgarderobe. An einem Haken hingen Jacken und Pullis. Wie ein Jagdhund versuchte ich, Daniels Duftnote zu erschnüffeln. Keine Ahnung, warum ich das tat. Darunter standen fünf verschiedene Paar Sneakers in unterschiedlichen Verschmutzungsstadien. Rechts gab es eine gemütliche Stube mit einem großen Bauerntisch samt rustikaler Sitzecke. Durch schmale, für Daniel beinahe zu niedrige Türen gelangte man in die angrenzenden Räume. Das Schlafzimmer und Daniels Büro kannte ich bereits. Durch diese Räume musste man gehen um in das moderne geräumige Badezimmer im hinteren Teil des Hauses zu gelangen.

Auch die Tür zum Wohnzimmer, das einen gemütlichen, aber unbenutzten Eindruck auf mich machte, stand offen, weil Daniel es mir zu Beginn gezeigt hatte. Ein riesiger Flatscreen-Fernseher war in ein gutgefülltes Bücherregal integriert. Neugierig öffnete ich eine weitere Türe. Ab hier begab ich mich in unbekanntes Terrain.

Der Raum war vollgestellt mit allem Möglichen und trotzdem fand ich auf Anhieb, dass es der schönste des ganzen Hauses war. Sofort beschloss ich, hier mit meinem Putzfimmel zu beginnen. Dem Raum würde ein wenig Ordnung nicht schaden. Ein überdachter Innenhof verwandelte ihn in einen luftigen Wintergarten. Im hellsten Teil des Raumes standen ein gemütliches Sofa und zwei Staffeleien mit halbfertigen Bildern. Zahlreiche Werke lehnten an den Wänden. Ich erkannte Bleistiftzeichnungen und Porträts. Akte und Mandalas. Voller Neugier hob ich das Leintuch, das über der größeren Staffelei hing.

Hatte Daniel etwa eine künstlerische Ader? Die Umrisse einer indischen Gottheit waren darauf vorskizziert. Sonderbar. So hätte ich ihn gar nicht eingeschätzt.

Auf einem Porträt einer alten Frau waren in der rechten unteren Ecke die Initialen E.M. gemalt. Mein Bauchgefühl sagte mir sofort, dass das die unbekannte Schönheit von dem Foto im Schlafzimmer war. Dieser Gedanke dämpfte augenblicklich meinen Arbeitseifer. Sollte sie doch selbst hier Ordnung schaffen. Abermals siegte meine Neugierde. Interessiert stöberte ich in den zahlreich herumstehenden Kartons.

Es war ein Sammelsurium. Kleider, Geschirr, Bettwäsche, Reiseandenken, Bücher, Zeitschriften. All diese Dinge trugen einen weiblichen Stempel. Voller Eifersucht betrachtete ich ein spitzengesäumtes, verführerisches Nachthemd. Alles deutete darauf hin, dass diese Frau einfach nur zu faul zum Auspacken gewesen war. Warum sonst sollte das ganze Zeugs hier verstauben?

Ein beklemmender Gedanke ließ mich die Lippen fest zusammenpressen. Was, wenn sie tot war? Was, wenn Daniel ihr noch immer nachtrauerte? Was, wenn ich mit einem Geist konkurrieren musste, der hier munter herumspukte?

Der mit Glas überdachte kleine Innenhof stellte das Tai Chi des Hauses dar. Laut Feng Shui besaß jede Wohnung ein Zentrum, aus dem sie Kraft schöpfen konnte. In diesem Haus beherrschte also die schöne Unbekannte alles.

Das faszinierendste Denkmodell unseres Sonnensystems war das Gesetz von Karma. Ursachen, die in der Zusammensetzung der Materie enthalten sind und mit der Wechselwirkung kleinster, atomarer Einheiten zusammenhängen. Wenn sie das Gleichgewicht der Natur auf irgendeine Art stören, bringt sie sich auf unsere Kosten unfehlbar wieder in Ordnung. Ich war gespannt, was wohl geschehen würde, wenn ich alle Hinweise auf diese mysteriöse E.M. entfernte?

Voller Tatendrang begann ich die Kartons und Kunstwerke in Richtung der äußeren Wand zu schieben. Mit Hilfe einer Decke gelang es mir, einen Großteil davon einfach verschwinden zu lassen. Schließlich war nur das Sofa übrig. Mit meinem ganzen Körpereinsatz gelang es mir, es in die Mitte des Wintergartens zu schieben.

Im Wohnzimmer hatte ich einen kleinen nutzlosen Beistelltisch bemerkt. Den schleppte ich nun herbei. Das Ergebnis war mehr als traurig. Von einem harmonischen Zentrum war es elendsweit entfernt. Ich machte mich in den restlichen Räumen auf die Suche nach der fehlenden Harmonie. In der Küche fand ich ein paar Kerzen und eine hübsche alte Vase. In Daniels Büro stand ein bequemer Rattanstuhl, der offensichtlich Spock als Kratzbaum diente. Ich hübschte ihn deshalb mit einigen Kissen aus dem Wohnzimmer auf. Dann machte ich mich im Garten auf die Suche nach ein paar freundlichen Blumen für die Vase. Bei dieser Gelegenheit sammelte ich ein paar schöne Blüten und Blätter. Unter einer alten Föhre fand ich einige Zapfen und neben der Regentonne beschwerten verschiedenste Flusssteine den Deckel für die Winterabdeckung. Daraus ließ sich etwas machen.

 

Mit einigen zerdrückten Salbeiblättern und einer Kerze hatte ich den verdächtigen Innenhof ausgeräuchert und damit hoffentlich von allen störenden Geistern gereinigt. Das Naturmandala verlieh dem Raum einen verspielten Hingucker. Zufrieden begutachtete ich mein Werk, als ich plötzlich Schritte hörte. Daniel! Er war endlich zurückgekommen. Wie er wohl über meine Bemühungen denken würde?

„Ich bin hier!“, rief ich ihm entgegen und trommelte nervös mit den Fingerspitzen gegen meine Lippen. Mein Blick wanderte nach unten. Hätte ich mir eine Hose anziehen sollen? Definitiv ja. Aber jetzt war es zu spät. Jemand kam gerade aus dem Wohnzimmer in den Raum. Meine Kinnlade klappte nach unten. Sprachlos starrte ich den personifizierten Geist von E.M. an. Den wollte ich doch vertreiben. Was war schon wieder schiefgelaufen?

„Hey“, sagte der Geist. „Ich wusste nicht, dass jemand hier ist.“

Mein Schweigen in Kombination mit einem fassungslosen Gesichtsausdruck brachte E.M. dazu sich vorzustellen: „Ich bin Eva.“

Ich schloss angestrengt den Mund und befeuchtete meine Lippen. Dann holte ich erst Mal tief Luft. „D…du lebst? Oh mein Gott du lebst!“ Ich rannte auf den Geist zu und fiel ihm um den Hals. „Es tut mir so leid. Ich habe aufgeräumt. Ich dachte, du bist tot.“ Ah, Celilia! Das hätte ich wohl besser für mich behalten. Sicher hielt sie mich für eine Verrückte, die hier eingebrochen war und nun in einer von Daniels Unterhosen skurrilen Hexenzauber praktizierte. „Wo ist Daniel?“, fragte ich geistesgegenwärtig, damit sie wusste, dass ich den Besitzer des Hauses zumindest kannte.

Ratlos zuckte Eva mit den Schultern. „Seinen Wagen habe ich nirgends gesehen, sonst ...“ Sie machte ein betretenes Gesicht.

„Ich bin Cecilia. Derzeit Ersatz-Katzensitterin für Spock.“

Eva nickte mit zusammengepressten Lippen. „Tja, ich lebe“, griff sie meine Bemerkung von vorhin auf. „Hat Daniel etwas anderes behauptet?“

„N…nein. Natürlich nicht. Wir haben gar nicht über dich gesprochen. Es war nur,“ mein Blick streifte bezeichnend durch den Raum, „ich habe deine Sachen gefunden und konnte mir keinen Reim darauf machen.“ Ich packte sie am Ellbogen. „Komm, ich habe Tee gemacht. Du musst mir alles erzählen.“ Während wir in die Küche gingen, plauderte ich launig weiter: „Ich kenne Daniel beruflich. Ähm. Er arbeitet mit meinem Bruder an einem streng geheimen Projekt.“

„Das kenne ich. Alles was Daniel in seinen geheiligten Werkstätten zusammenbastelt, ist streng geheim.“ Sie schob wissend ihre Stirn in Falten.

Sie machte einen echt netten Eindruck. Ich war gespannt wie ein Regenschirm.

 

Eine Stunde später hatte ich den Durchblick.

Daniel und Eva hatten seit mehr als fünf Jahren nicht miteinander gesprochen. Ich gab zwar viel auf meine Feng Shui-Fertigkeiten, aber dass die Reinigung des Tai Chi von Daniels Haus bewirkt hätte, dass Eva plötzlich vor der Tür stand, kaum zehn Minuten nach meiner Aufräumaktion, war mehr als merkwürdig. Und doch war genau das geschehen. Was sollte mir das sagen?

Daniel hatte jetzt schon zwei Rückzieher gemacht, wenn es zwischen uns eng wurde. Ich konnte mir keinen anderen Reim darauf machen, als dass er noch nicht bereit war für eine neue Beziehung. Was sonst sollte dieses Spiel, das er mit mir getrieben hatte bedeuten? Seine nicht gerade zurückhaltenden Flirtversuche, aber seine Weigerung, darüber hinaus zu gehen?

„Jetzt heißt es, klaren Kopf zu behalten. Du solltest strategisch vorgehen“, beratschlagte ich Eva. Soeben hatte ich sie dahingehend beruhigt, dass zwischen mir und Daniel nichts lief. Das stimmte zwar nicht so ganz, aber zumindest zu 90 Prozent. Okay, 80 Prozent. Das musste ich jetzt nicht extra breittreten. Es war so schon kompliziert genug. „Die Grundvoraussetzungen sind gegeben. Daniel ist ganz offensichtlich noch nicht bereit für eine neue Beziehung. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.“ Niedergeschlagen zog ich die Mundwinkel nach unten. „Vielleicht kann ich euch zumindest helfen. Um die Liebe zu kämpfen lohnt sich immer.“ Woher ich diesen Pathos nahm, war mir gänzlich schleierhaft.

„Meinst du?“ In Evas Frage klang so viel Hoffnung mit, dass ich ihr Mut zusprechen wollte. Vorhin hatte sie mir erzählt, dass sie vor der geplanten Hochzeit echt oft gestritten hatten, mehr als zuvor. Es war meist darum gegangen, dass sie vor Langeweile fast gestorben wäre, weil Daniel jede freie Minute in seiner Werkstatt verbracht hatte. Sie hatte sich traurig und leer gefühlt und hatte nicht gewusst, was sie eigentlich wollte. Mittlerweile hatte ich mir ein Bild gemacht. Ich wusste, dass sie im Sternzeichen Wassermann war. Es war also nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie weggelaufen war.

„Ich will nicht um eine zweite Chance betteln, aber irgendwie bereue ich es, Daniel nicht geheiratet zu haben. Ich habe einige Männer kennengelernt auf meinem Selbstfindungstrip um die Welt, aber ihm konnte keiner das Wasser reichen.“ Sie geriet ins Schwärmen und erzählte mir wie er den Hof praktisch im Alleingang renoviert hatte, wie lustig er sein konnte und wie viel schöner es gewesen war, mit ihm gemeinsam zu verreisen.

Genauso hatte ich Daniel auch eingeschätzt. Es würde schwer sein, jemanden wie ihn zu finden. Etwas starb bei meiner nächsten Bemerkung in meinem Herzen ab: „Dann seid ihr einfach füreinander bestimmt.“ Es dauerte einige Sekunden, bis ich weitersprechen konnte. „Und Daniel wird das sicher genau so sehen.“

Spock kam zur offenen Haustüre hereinspaziert und Eva stieß einen spitzen Freudenschrei aus: „Spocky! Du Süßer. Komm her.“ Voller überschäumender Begeisterung bückte sie sich, um den Kater hochzuheben, doch die Samtpfote flüchtete hinter meine Füße und schmiegte sich schutzsuchend dagegen.

„Ich habe ihn gerade gefüttert“, versuchte ich verlegen, seine Animosität herunterzuspielen, und hob die Katze hoch. „Ihr werdet schon wieder Freunde. Nicht wahr?“, fragte ich Spock und der reagierte mit einem Eskimogruß und verteilte dabei seinen Speichel über mein Gesicht.

Eva wechselte das Thema. „Eigentlich wollte ich meine Sachen abholen, aber vielleicht sollte ich damit dann doch warten. Hm?“

Das Geräusch eines in die Auffahrt einbiegenden Wagens enthob mich einer Antwort. Neugierig postierte ich mich in der offenen Haustüre. Daniel war also zurückgekommen. Ein Seitenblick auf Evas Gesicht, die mir gefolgt war, bescherte mir Eiskristalle zwischen den zarten Härchen auf meinen Unterarmen, oder was auch immer bewirken mochte, dass sie sich kerzengerade aufrichteten. Ein selbstsicheres Lächeln umspielte ihre Augen. Zwei leichte Grübchen unterhalb ihrer Unterlippe ließen es fast schon anmaßend erfolgssicher wirken. Ich überlegte kurz, welche Gefühlsregung sich in meinem Gesicht gerade widerspiegeln mochte. Atemlosigkeit wahrscheinlich. Seit einigen Sekunden hielt ich nervös die Luft an. Mein Blick streifte zurück zu Daniels Pick-up. Seine Mimik sprach jedenfalls Bände. Er hatte die Augen entsetzt aufgerissen und starrte uns durch die Windschutzscheibe entgeistert an. Nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde später, hörte ich, wie der Motor des Fahrzeugs aufheulte und so gut wie zeitgleich drehten die breiten Reifen mit den tiefen Profilrinnen durch, sodass der Kies aufspritzte. Im Rückwärtsgang preschte er zurück auf die schmale Zufahrtsstraße. Und weg war er. Schon wieder!

Spock hatte sich geschreckt aus meinem Griff befreit und meinen Oberarm dabei mit einer tiefen Kratzspur versehen. Tatenlos sah ich zu, wie Blut aus der Wunde sickerte und meinen Arm hinab rann.

Ich hörte Eva seufzen. „Komm, wir schütten da besser gleich Schnaps darüber.“ Sie wirkte nicht einmal halb so überrascht von Daniels Reaktion wie ich.

Ich war nicht so abgebrüht. „Was ist bloß in ihn gefahren?“. Ich verstand diesen Mann einfach nicht.

 

 

 

 

Alex - Der Tag des jüngsten Gerichts

 

Die trügerischen Strahlen der Morgensonne mochten mir eine heile Welt vorgaukeln, doch tief in meinem Innersten wusste ich, ich würde den Tag sehr wahrscheinlich nicht überleben.

Die alte Römerstraße war verfallen. Im ganzen Reich, hörte man, sah es so aus. Aber das waren nur Vermutungen. Vor Jahrzehnten war der Handel zusammengebrochen. Und Flüchtende, wie es sie noch zur Zeit meines Großvaters gab, kamen auch keine mehr durch unsere Gegend. Rom war gefallen. Von dort war nicht mit Hilfe zu rechnen.

Ich entstammte einer Ahnenreihe von furchtlosen, hochgerühmten Kriegern. Mein Vater war im Kampf gegen das Böse gefallen, wie zuvor sein Vater. Das war lange her. Heutzutage verhielt man sich ruhig und hoffte. Hoffte darauf, Satan und seine Heerscharen von ewigen Verdammten würden einen Bogen um einen machen. Doch das jüngste Gericht stand bevor. Immer näher war die Bedrohung herangerückt.

 

Von einer Anhöhe aus sah ich die Dächer des kleinen Dorfes. Kein Laut war zu hören, kein aufsteigender Rauch, nichts bewegte sich. Keine Spur von Leben. Keine Männer, Frauen, Kinder, Hunde, Ziegen, Schweine. Nichts. Es war bereits das dritte Dorf seit unserem Aufbruch, in dem sich uns dieses Bild bot.

Mit mir würde die Ahnenreihe enden, denn es war keine Zeit, um Kinder in die Welt zu setzen. Mein Blick wanderte zur kleinen Festung auf einer Anhöhe hinter dem Dorf. Die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt. Vielleicht hatten die Bewohner in ihr Schutz gefunden. Burg Langenstein, das Ziel unserer Reise. Der Schwager meines edlen Herrn war der letzte Getreue gewesen, zu dem es spärlichen Kontakt gegeben hatte. Doch seit mehr als zwei Monden gab es auch von hier kein Lebenszeichen mehr. Von der ständigen Bedrohung zermürbt, hatte mein Herr schließlich mich und zwei Weggefährten erkoren, um Gewissheit zu erlangen. Wenn die Welt schon untergeht, wenn Gott kommen wird, um die Lebenden und die Toten zu richten, dann wollte er das immerhin beizeiten wissen.

 

Es hatte nie furchtbarere Gegner als die gegeben, denen ich und meine Mitstreiter sich stellen würden. Uns ausliefern würden. Ein anderes Wort wäre unpassend. Wir wussten, keine unserer Waffen könnte irgendetwas ausrichten. Kein noch so gestählter Körper hätte eine Chance gegen die körperlosen finsteren Wesen, die inzwischen die Welt beherrschten. Unsere Gegner waren nicht menschlich. Sie waren hervorgekrochen aus den Tiefen der Unterwelt. Wesen, die einem die Seele in Verzweiflung erstarren ließen.

Die Dämme würden bald endgültig brechen und ihre Welt würde die unsere endgültig verschlingen. Jeder unbedarfte Schritt konnte ins Verderben führen.

 

„Wir trennen uns und nähern uns der Festung aus unterschiedlichen Richtungen. Die Pferde lassen wir zurück“, teilte uns Hugbert, der Bärtige, mit. Mein Bart war genauso dicht wie seiner, aber er war der Ältere und hatte deshalb die Befehlsgewalt. Keiner von uns hatte Einwände. Ein letzter Blick. Ein letztes Schulterklopfen zum Abschied. Wir waren nicht furchtlos, aber gefasst. Sigeric, der jüngste von uns, zog schicksalsergeben und geräuschvoll die Flüssigkeit in seiner Nase hoch. Wir hatten gestern am Lagerfeuer besprochen, wie wir vorgehen wollten. Es war alles gesagt. Hugbert würde sich dem Haupttor nähern. Sigeric sollte den Abstieg von der steilen, felsigen Rückseite wagen und ich würde mein Glück über einen alten, geheimen Tunnelzugang versuchen, von dem nur die Verbündeten Tassilos von Langenstein wussten.

Aus sicherer Entfernung beobachtete ich, wie Hugbert sich dem Tor näherte und einen der ehernen Klopfringe benutzte, um auf sich aufmerksam zu machen. Etwa zehn Atemzüge später öffnete sich ein kleiner Durchgang im Tor. Man ließ meinen Gefährten ins Innere.

Angestrengt lauschte ich auf Kampfgeräusche. Wir hatten vereinbart, Hugbert würde uns durch Zuruf wissen lassen, ob die Festung sicher wäre. Atemlos wartete ich eine halbe Ewigkeit. Der Zuruf blieb aus.

Schweren Herzens schlug ich mich durch das Dickicht um den geheimen Tunnelzugang im dichten Wald zu suchen. Hugbert konnte tot sein, oder nicht. Ich folgte unserem Plan.

 

Ein schmaler, gut getarnter Pfad führte zum geheimen Eingang in die Festung. Der Weg war aufgeweicht vom Morgentau. Es waren keine Spuren zu sehen. In letzter Zeit war hier jedenfalls niemand vorbeigekommen. Der Tunnel mündete im feuchten Keller der Burg. Es roch nach Essig und faulen Äpfeln und es war stockdunkel. Nirgends brannte eine Kerze oder Fackel an der ich mich orientieren konnte. Vorsichtig tastete ich mich Schritt für Schritt voran. Ein leichter Luftzug wies mir den Weg zu einer Treppe. Außer meinem eigenen Atmen hörte ich nichts. Ein schwacher, grüner Schimmer erregte auf halber Strecke meine Aufmerksamkeit. Ein schmaler Durchgang führte in eine mit Kisten, Körben und Tongefäßen gefüllte Kammer. Nacktes Grauen kroch über meinen Rücken, als sich meine Augen an die Dunkelheit angepasst hatten. Inmitten des Raumes schwebte, gefangen in einem mit hellgrüner Flüssigkeit gefüllten Behältnis, die Gestalt einer nackten Frau. Ihr langes, rotes Haar trieb ausgebreitet um ihren Körper. Vereinzelt blubberten Luftblasen auf. Sicher war sie tot, auch wenn sie nicht leblos wirkte. Beherzt trat ich näher an dieses unmögliche Teufelsgefäß heran und betrachtete den darin treibenden Leib. Mir stockte der Atem. Ich kannte die Frau. Eleonora von Langenstein. Die Schwester meines Herrn.

Entsetzt stolperte ich einen Schritt zurück. Ihre Augen waren geöffnet und schienen mich bemerkt zu haben, oder bildete ich mir nur ein, dass sich ihr Blick für den Bruchteil eines Moments geweitet hatte? Was geschah hier? Bestürzt wandte ich mich ab, riskierte aber gleich darauf nochmals einen Blick auf sie. Die Frau trieb ohne eine erkennbare Regung in der klaren Flüssigkeit.

Schluckend trat ich den Rückzug an. Am liebsten wäre ich die Treppen wieder nach unten gestiegen und wäre auf dem schnellsten Weg zurück zu unseren Pferden gerannt. Ich atmete tief durch, überwand meine Angst und stellte mich dem Unausweichlichen.

 

Zögerlich stieg ich die Treppen weiter hinauf, bis ich beinahe an der Kochstelle der Festung angelangt war. Im Normalfall war das der betriebsamste Ort einer Burg. Hier sollte ständig ein Herdfeuer brennen und Menschen ihren Tätigkeiten nachgehen. Von all dem war nichts zu bemerken. Kalter Rauch lag in der Luft. Vor sich hingammelnde Lebensmittel lagen auf den Tischen. Doch kein Lebenszeichen. Noch nicht einmal Fliegen schwirrten um die verdorbenen Speisen. Auf leisen Sohlen schlich ich durch den Raum. Wo mochte Hugbert stecken? Jemand hatte ihm das Tor geöffnet. Es musste also Menschen geben. Ich dachte an Eleonora von Langenstein, die in dieser Flüssigkeit trieb. Lebende Menschen.

Vorsichtig näherte ich mich der Tür, die in den großen Saal führen sollte. Zumindest auf unserer Burg war dies der Fall. Ein leises, schleifendes Geräusch bereitete mir Unbehagen. Ich wollte gar nicht wissen, durch was es verursacht wurde. Trotzdem überwand ich meinen Abscheu und lugte in den angrenzenden Saal.

Ein Mann kniete auf allen vieren in einer Ecke und bewegte sich ungelenk vorwärts. War er verletzt? Schon überlegte ich, ihm zu Hilfe zu eilen, da taumelte ein weiterer Mann durch einen weiteren Zugang in den Raum und stieß schauerliche Geräusche aus, die der kriechende Mann zu erwidern schien.

Das waren keine Menschen mehr! Das waren Besessene. Diese Kreaturen waren in die Körper der Personen eingedrungen und hatten sie offensichtlich noch nicht ganz in ihrer Gewalt.

Unauffällig zog ich mich in den Wirtschaftsraum zurück und versuchte mein Glück bei der Tür, die in den Zwinger führte. Es war alles ruhig. Wo war Hugbert?

Geduckt lief ich zum Brunnen und verbarg mich in seinem Schatten. Von hier hatte ich einen besseren Überblick und sah womöglich bis zur Vorburg hinab. Auf der Burgmauer neben dem Haupttor nahm ich eine schnelle Bewegung wahr. Sigeric stürzte sich mit wütendem Gebrüll auf einen unter ihm an den Fels gelehnten Mann, den ich bisher nicht bemerkt hatte. Der Stahl seines Kurzschwertes blitzte für einen Moment in der Sonne auf. Der Attackierte stieß eines dieser grauenhaften Geräusche aus. In einem wilden Knäuel aus Armen und Beinen rollten die beiden im Staub. Ein nicht minder grauenhaftes Gurgeln ertönte, damit endete die gewaltsame Auseinandersetzung, bevor ich überhaupt in Erwägung gezogen hatte, in den Kampf einzugreifen. Quiekend rappelte sich die Kreatur ungelenk auf und kam schleppenden Schrittes auf mich zu. Zitternd drückte ich mich an den rauen Fels des gemauerten Brunnens. Konnte mich dieses Wesen wittern?

Erleichtert sah ich, wie der Besessene in den Burgfried trat. Sigeric! Ich wollte nach meinem Kampfgefährten sehen. Vorsichtig spähte ich über den Rand des Brunnens. Die Vorburg schien verlassen. In gebückter Haltung rannte ich lautlos zu der Stelle, an der die wahrscheinlich schwer verletzte Gestalt des Jungen lag.

Das, was ich zuerst sah, waren überrascht aufgerissenen Augen und Mund. Der Blick war starr. Und leblos. Geschockt entdeckte ich ein kopfgroßes Loch in Sigerics Brust. Staubiger, unbesudelter Boden war dahinter zu sehen. Eine riesenhafte Faust hatte meinem Freund das Herz herausgerissen und nicht ein Tropfen Blut war geflossen? Meine Knie gaben nach und ich sank neben dem Kampfgefährten zu Boden, da fiel mein Blick auf ein Bein, das einige Meter entfernt im Staub lag. Ich kannte den abgewetzten grauen Stiefel, der an diesem Bein steckte. Hugbert! Das hieß, ich war von nun an auf mich alleine gestellt.

Ein kurzer unscheinbarer Stab aus hellem Stein lag neben Sigerics Leiche. Ohne zu überlegen, griff ich danach und rannte zurück in den Schatten des wuchtigen Brunnens. Bisher hatte ich drei dieser Kreaturen ausgemacht, doch es mochten sich Weitere im Palas verbergen. Obwohl sie keine wahre Beherrschung über ihre Körper hatten, waren sie im Stande, einen Menschen innerhalb eines Wimpernschlags zu töten.

Ich musterte den leicht wiegenden Gegenstand in meiner Hand. Das war kein Stein. Auch kein Stahl. Ein Ende des Stabs schmiegte sich in meine Faust. Mein Daumen ertastete eine Erhöhung. Ratlos drückte meine Fingerkuppe auf die Stelle. Ein kaum hörbares Fauchen erklang und der Stab zitterte leicht in meiner Hand. Ich bewegte sie, als hielte ich ein Schwert und hieb auf die Umrandung des Brunnens ein. Wie ein warmes Messer durch Butter, glitt der Gegenstand durch den massiven Stein und hinterließ eine tiefe Scharte. Vor Schreck ließ ich das Ding fallen. Teufelswerkzeug!

Der Vorgang hatte kein Geräusch verursacht. Ich hatte eine Waffe der Dämonen erbeutet. Zitternd griff ich abermals nach dem Stab. Wägte ihn mit meiner Hand ab, um mich an die neue Waffe zu gewöhnen. Vielleicht gelang es mir, mit dessen Hilfe die Kreaturen zu töten? Ich musste es versuchen, auch wenn es das Letzte war, das ich im Leben tat.

 

Ich schlich auf den Zugang zum Burgfried zu, in dem der Mörder meiner Gefährten verschwunden war. Er war nirgends zu entdecken. Vorsichtig ging ich weiter zum großen Saal. Hier hörte ich abermals jene kreischenden Laute, mit denen sich die Wesen aus der Unterwelt verständigten. Ich postierte mich neben dem Durchgang. Mit der freien Hand fasste ich nach einem kleinen Stein, der zu meinen Füßen lag. Polternd warf ich ihn gegen das Holz der geöffneten Tür. Hastige Schritte, begleitet von diesem schrecklichen Quieken, näherten sich mir. Mit gehobenen Armen erwartete ich meinen Gegner, der erwartungsgemäß der Stelle zustrebte, von der das leise Geräusch gekommen war.

Mein Hieb trennte den Mann in zwei Hälften. Es war ein grauenhafter Anblick, wenn auch ein gänzlich unblutiger. Auf alles vorbereitet, erwartete ich den folgenden Kampf. Sicher hatte ich die Kreatur nur entfesselt. Soviel ich wusste, waren sie nicht auf einen menschlichen Körper angewiesen um zu töten.

Nachdem mein Atem sich etwas beruhigt hatte und ich noch immer lebte, lugte ich in den Saal. Die beiden anderen Gestalten krochen kreischend auf mich zu. Mit einem Gebrüll, dem den von Sigeric in nichts nachstand, stürzte ich auf sie zu und streckte sie mit zwei schnellen Hieben nieder. Mit schweißnassen Händen sah ich mich um. Totenstille.

 

Nachdem sich, selbst nach geraumer Zeit, nichts regte, begann ich mit meiner Suche. Wo steckten all die Menschen, die in der Burg gelebt hatten und die sich hierher geflüchtet hatten? Raum für Raum erkundete ich die Hauptburg.

Nichts. Nicht einmal das Rascheln einer Maus. Ratlos stand ich inmitten des Zwingers, als eine schwarze Wolke den Himmel verdunkelte. Instinktiv wusste ich, was sich mir näherte. Eine Heerschar der Unterwelt. Schneller als ich je zuvor gerannt war, floh ich in die Burg. Hastete durch den Wirtschaftsraum zu der Treppe, die mich aus der Festung führen würde. Eleonora von Langenstein! Der gedämpfte grüne Schimmer wies mir den Weg. Die Kreaturen durften sie nicht in Besitz nehmen. Lieber würde ich den Körper mit ihrer eigenen Waffe vernichten.

Mit einem Hieb zerstörte ich das unheimliche Gefängnis der Burgherrin. Die Flüssigkeit strömte platschend zu Boden und der zuvor schwerelos erscheinende Frauenkörper war in Begriff denselben Weg zu nehmen. Reflexhaft fing ich ihn auf. Er fühlte sich warm an. Geschmeidig. Gerade als ich mir die Frage stellte, ob noch Leben im Körper der Frau steckte, hustete sie speiend einen Schwall dieser Flüssigkeit aus und krümmte sich dabei zusammen. Sie lebte! Ohne zu überlegen warf ich mir ihre zuckende Gestalt über die Schulter und hastete hinein in die stockdunkle Finsternis des Treppenabgangs. So lange ich ihr Würgen und Husten vernahm, war sie am Leben. So lange würde ich sie nicht aufgeben.

 

Mit letzter Kraft erreichte ich das Versteck, in dem wir unsere Pferde lose angebunden hatten. Müde ließ ich mich auf die Knie fallen und fing den nassen, vor Kälte zitternden Frauenkörper auf. Ich löste einen der Sattel und hüllte die Burgherrin in eine warme Pferdedecke ein. Ihre Augen waren geschlossen, aber sie saß aufrecht am Boden und atmete gleichmäßig. Vorsichtig strich ich ihr das nasse, klebrige Haar aus dem Gesicht und begann die dicken Strähnen unbeholfen auszuwringen. Ihre geschlossenen Wimpern hoben sich und ein dankbarer Blick wärmte mir das Herz.

„Ihr seid in Sicherheit“, ließ ich sie wissen.

Sie hob an etwas zu entgegnen und musste husten. „Wer seid Ihr?“

„Euer Bruder hat sich Sorgen gemacht und uns ausgeschickt.“ Ich sah zu den drei Pferden. „Meine Begleiter sind tot und auch in der Burg fand ich außer Euch niemanden mehr.“

„Danke.“ Müde schloss sie abermals die Augen.

„Was ist geschehen?“ Ich musste es wissen.

„Sie kamen in der Nacht. Lautlos. Bevor wir es bemerkten, war die Hälfte unserer Leute tot. Es ging so schnell. Als hätten sie es nur auf mich und meinen Gatten abgesehen wurden wir von ihnen mit einem Bann belegt.“ Sie griff sich an den Hals und ich sah ein dunkles Mal, wie von einem Schlangenbiss. „Sie haben ...“ Sie schüttelte sich im Grauen an die Erinnerung. „... von unserem Blut getrunken. Dann haben sie meinen Gatten getötet und mich in diesen Kerker verbannt.“ Sie weinte leise. „Ich wusste bald nicht mehr, ob ich noch lebte, oder bereits tot war. Es war grauenhaft.“

„Ihr seid in Sicherheit“, wiederholte ich unbeholfen meine ersten Worte.

„Was, wenn sie nach mir suchen?“

„Wir werden den Weg meiden und uns durch den Wald schlagen“, versprach ich ihr. „Könnt Ihr aufstehen? Wir sollten keine Zeit verlieren.“

„Es geht mir gut,“ wehrte sie meine Hilfe ab und stand alleine auf.

„Könnt Ihr reiten?“

„Ich habe es nie versucht.“ Unsicher blickte sie zu den Pferden.

„Keine Angst. Meine Stute trägt uns auch zu zweit.“ Ich tätschelte den Hals der Mähre, sprang in meinen Sattel und streckte die Hand aus, um sie vor mich in den Sitz zu ziehen. Langsam trabten wir davon. Die verwaisten Reittiere meiner Freunde folgten uns aus freien Stücken, nachdem ich leise mit der Zunge geschnalzt hatte.

 

 

 

Wir verbrachten eine Nacht im Wald und ich wagte es nicht, ein Feuer zu machen. Wir hatten genug Wasser und Proviant, aber ich wusste, es würde kalt werden. Eleonora von Langenstein war noch immer nackt unter ihrer Decke. Ich hatte mich beinahe an das Klappern ihrer Zähne gewöhnt. Auch wenn es unschicklich war, bot ich ihr an: „Ihr könnt Euch neben mich legen. Dann friert Ihr nicht so erbärmlich.“

Dankbar kam sie auf mich zu und schmiegte sich wie eine Katze in meinen Schoß. Ich lehnte an einem Baumstamm und schlug die Decke um uns herum. Ihre Wange lag an meiner Brust und ein paar Atemzüge später war sie eingeschlafen.

Ich war überzeugt, selbst kein Auge zumachen zu können. Nie mehr in meinem Leben. Alpträume würden mich bis in alle Ewigkeiten verfolgen. Doch irgendwann nickte ich ein. Die Geräusche des erwachenden Waldes weckten mich bei Anbruch der Dämmerung. Vorsichtig streckte ich meine eingeschlafenen Glieder. Die Frau auf meinem Schoß hob erschrocken abwehrend die Arme, die sie um meine Brust geschlungen hatte. Die hastige Bewegung erschreckte mich selbst und ich fasste nach ihren ausschlagenden Handgelenken. Wie ein Blitz zuckte ihr Kopf hoch und bevor ich es verhindern konnte, hatte sie mich in den Hals gebissen. Bevor ich sie beruhigen konnte, fühlte ich, wie mir die Sinne schwanden.

 

 

Schweißgebadet wachte ich auf. Fast jede Nacht verfolgten mich diese Erinnerungen. Mein Unterbewusstsein versuchte wohl auf diesem Weg, mit den unzähligen Rückblicken auf meine gemeinsame Zeit mit Ella fertig zu werden.

„Was war es dieses Mal?“, fragte mich die Frau an meiner Seite.

„Es war der Tag, als ich dich auf der Burg aus diesem Tank befreit habe und du mich das erste Mal gebissen hast.“

„Sorry.“ Schuldbewusst verschwanden die Lippen meiner Geliebten. „Du weißt, es ist ein Reflex. Ich kann nicht anders.“

„Wer weiß. Vielleicht behauptest du das nur.“ Sie wusste, ich meinte es nicht ernst. Wir kannten uns seit über tausenddreihundert Jahren. Das gegenseitige Necken war uns in Fleisch und Blut übergegangen.

„Du hast es zum ersten Mal einen Tank genannt.“

Das stimmte wohl. Bisher hatte ich in Ermangelung eines brauchbaren Wortes andere Ausdrücke gebraucht. „Auch ich werde klüger, selbst wenn ich dir niemals das Wasser werde reichen können.“ Ella war die Unsterbliche, die sich stets an alles ganz genau erinnern konnte. Ich selbst musste mir das ganze Wissen meiner vergangenen Leben wieder mühsam zurückerkämpfen.

 

 

 

Ella stand auf und verschwand im Badezimmer. Ich dachte an meinen Traum und daran, was dieser ersten gemeinsamen Nacht mit Ella gefolgt war.

 

Wir fanden die Burg ihres Bruders genauso menschenleer vor wie die ihres damaligen Gatten. Außer uns beiden gab es nur noch eine alte Frau, die in einer Hütte mitten im Wald lebte. Eine Heidin und Heilerin, die man bei schweren Erkrankungen auf die Festung geholt hatte. Sie nahm uns auf und irgendwie schafften wir es, zu überleben. Zuerst zu dritt, nach dem Tod der Alten zu zweit und nach meinem Tod lebte Ella eine lange Zeit ganz alleine inmitten des Waldes. Und irgendwann endete das Grauen. Die Menschen kehrten zurück. Ich kehrte zurück. Und Ella fand zu mir. Wie genau sie das immer wieder schaffte, war mir bis heute ein Rätsel. Sie meinte, dass es ein Instinkt wäre.

 

 

Daniel - Ein Hornochse blickt durch

 

„Verdammt!“

An die hundert Mal ist mir dieses Wort in der letzten Stunde auf der Zunge gelegen und jetzt war es soweit. Ich redete laut mit mir selbst.

Gut. Ich war übermüdet. Es war ein langer Tag und der fehlende Schlaf der letzten Nacht steckte mir in den Knochen. Inzwischen war es stockdunkel. Ich war kurz vor Einbruch der Dämmerung aus meiner Einfahrt gerast. Eine Kurzschlussreaktion. Zuvor hatte ich eine halbe Stunde mit mir gerungen, ob ich zurück zu Cecilia fahren sollte oder nicht. Mein Herz hatte letztendlich den Sieg über den Verstand davongetragen. Nur um wenig später mit der verstörenden Tatsache konfrontiert zu werden, dass plötzlich zwei Frauen, die mir nicht gut taten, vor mir gestanden hatten. Es war nicht in meiner Absicht gelegen, Cecilia einfach so kommentarlos stehen zu lassen. Was mochte sie jetzt von mir denken?

Der Fahrer eines entgegenkommenden Autos blendete mich verärgert, weil ich das Fernlicht nicht ausgemacht hatte. Ich war unkonzentriert, müde und unachtsam. Eine gefährliche Mischung auf der kurvigen Landstraße, bei hundert Stundenkilometern und tief in der Nacht. Ich nahm den Fuß vom Gas, bog bei der nächsten Gelegenheit ab und hielt irgendwo an. Ich sollte dringend zumindest ein Nickerchen machen, bevor ich weiterfuhr.

Mit im Nacken verschränkten Händen lehnte ich im zurückgelassenen Fahrersitz und schloss die Augen. Das Gedankenkarussell in meinem Kopf ließ sich nicht so ohne weiteres abstellen. Sicher hatten die zwei Frauen hinter meinem Rücken über mich gesprochen. Alptraumhafte Episoden spukten durch mein erschöpftes Gehirn. Ich hatte keine Chance auf den herbeigesehnten erholsamen Schlaf. Hin und her überlegte ich, wie es zu dieser verrückten Konstellation hatte kommen können.

Ich hatte doch gehen müssen, bevor ich mich endgültig in Cecilia verliebt hätte! Und trotzdem war ich umgekehrt. Vielleicht war es Schicksal, dass Evas Anwesenheit verhindert hatte, was sonst passiert wäre.

Weshalb war sie überhaupt gekommen? Ich hatte Kathi unmissverständlich klargemacht, dass ich sie nicht sehen wollte. Diesen Fehler würde ich ganz sicher nie mehr wieder machen. Ich habe mir geschworen, nicht um eine zweite Chance bei ihr zu betteln. Im tiefsten Grunde meines Herzens hatte ich längst eingesehen, dass wir nicht zusammenpassten. Ich war außerdem nicht mehr dieselbe Person wie damals. Dinge, die ich vor einigen Jahren toleriert hätte, waren mir inzwischen unerträglich geworden. Ich war zu alt für eine Beziehung, in der wegen jeder Kleinigkeit gestritten wurde. Es lohnte sich nicht, Energie in etwas zu stecken, das im Grunde genommen unwichtig war. Meine Zeit und Konzentration wollte ich in Zukunft nur auf das verwenden, was mir wirklich wichtig war.

Ich stieg aus dem Wagen, in der Hoffnung, dass mir ein wenig Frischluft guttun würde. Tausende Sterne funkelten am nachtklaren Himmel. Einige von ihnen schienen zu tanzen …

Und schon wieder dachte ich an Cecilia. Sie brachte mein Herz zum Flattern. Warum war alles nur so kompliziert? Wie kann eine Frau nur die Schönheit besitzen, die für die ganze Welt reichen würde?

Ein Waldkauz markierte von einem in der Nähe stehenden Baum rufend sein Revier. „Huu – hu,hu,huu.“ Das hohe Heulen verursachte mir eine Gänsehaut. Wohl ein Überbleibsel der zahlreich konsumierten Schauergeschichten meiner Kindheit. Ich hörte die Stimme meiner Großmutter noch immer im Ohr. „Der Wichtel lockt Euch in den Wald. Hört ihr ihn rufen? Komm mit! Komm mit!“ So hatte sie immer dafür gesorgt, dass wir Kinder nach Einbruch der Dämmerung gerne ins Haus zurückgekehrt waren.

Fröstelnd stieg ich zurück in den Wagen. Sollte ich umkehren? Dieser leichte Schüttelfrost konnte ein Symptom meiner Verliebtheit sein. Sofern ich mir in dieser unfassbaren Höhle keine Erkältung geholt hatte. Ich hatte beinahe vergessen, wie sich Schmetterlinge im Bauch anfühlten.

Warum verliebte ich mich immer in die falschen Frauen?

Ich setzte meine Fahrt fort. Drehte das Radio nach einer Stunde lauter und schaffte es auf diese Weise, bis kurz vor Mitternacht bei Claudius‘ Hütte anzukommen. Es war stockdunkel. Mit dem Licht meines Handys kämpfte ich mich vom Wagen zum Eingang.

Die Tür wurde mir von innen aus der Hand gerissen. „Ich habe das Motorgeräusch gehört.“ René hielt sich geblendet einen Unterarm vor die Augen. „Sie sind spät dran,“ sagte er vorwurfsvoll. „Ich dachte, Sie kommen nicht mehr und habe mich gerade hingelegt. Wie geht es meiner Schwester?“

Ich war am Ende. Meine Lider fühlten sich inzwischen an, als wären sie bleiern. Was faselte er von seiner Schwester? Ich hatte nicht einmal gewusst, dass er eine hatte. Gähnend schob ich ihn beiseite und wankte auf die Treppe zu, die zu den Schlaflagern unter dem Dach führte. „Können wir morgen darüber reden? Ich bin ziemlich k.o.“ Mühsam schleppte ich mich den engen Aufgang hoch, ließ mich in voller Montur auf eine unbenutzt wirkende Matratze fallen und schaltete das Handy ab, als ich sah, dass René ebenfalls an einem der Schlafplätze ankam. „Gute Nacht“, murmelte ich, während ich mir die Turnschuhe von den Füßen strampelte und die Decke über meinen Kopf zog.

„Hm, hm“, brummte René. „Ich hoffe, Sie schnarchen nicht.“

 

*

 

Am nächsten Morgen erwachte ich vom verlockenden Duft kross gebratenen Specks. Durch das kleine Fenster an der Stirnseite des Dachgeschosses strahlte die sanfte Morgensonne. Ich hatte geschlafen wie ein Stein und fühlte mich fast wieder wie ein Mensch. Allerdings wie einer mit schlechtem Mundgeruch und einem Mordshunger. Meine Sachen waren total zerknittert und ich konnte nur ahnen, wie meine Haare zu Berge standen. Meine Priorität galt dem Loch in meinem Bauch. Danach konnte ich immer noch nachsehen, ob es eine Dusche in der Hütte gab.

Polternd lief ich die knarrenden Holzstufen runter. „Das riecht verlockend. Ich sterbe vor Hunger!“

Seufzend sah René auf die gusseiserne Pfanne in seiner Hand, mit der es sich gerade am Tisch gemütlich gemacht hatte. Mit säuerlicher Miene bot er mir den Griff der Pfanne an, drehte sich um und nahm eine zweite von einem Haken oberhalb des Herdes. Dann begann er, sich eine weitere Eierspeise zuzubereiten.

Hungrig suchte ich nach Besteck und schnitt mir eine Scheibe Brot ab. „Hat sich deine Frau gemeldet?“

René blickte mich fragend an.

„Ich bin gestern wohl etwas überstürzt aufgebrochen“, fügte ich erklärend hinzu.

Jetzt zogen sich die dunklen Augen des Eier bratendend Mannes vor mir zu engen Schlitzen zusammen.

„Meine Ex-Verlobte ist unvorhergesehen aufgetaucht. Ich hoffe, Cecilia ist mir nicht böse deshalb.“ Was plapperte ich nur daher? Dieser Wissenschaftler schien keinen blassen Schimmer davon zu haben, wie unangenehm so eine Situation sein konnte.

René räusperte sich und konzentrierte sich wieder auf die Eierspeise: „Meine Schwester hat sich nicht gemeldet, falls Sie das meinen. Mit zwischenmenschlichen Problemen kommt sie aber im Allgemeinen gut zurecht.“

Was faselte er wieder von seiner Schwester? Dumpf erinnerte ich mich daran, dass er das schon gestern Nacht getan hatte. Noch während ich den Gedanken zu ende führte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. „Deine Schwester?“

„Cecilia. Meine Schwester. Ja.“ Verständnislos sah er mich an.

Wie ein Idiot starrte ich zurück. „Schwester?“, vergewisserte ich mich ein weiteres Mal.

Er rollte mit den Augen. „Was denn sonst?“

Ich versuchte, das dröhnende Schlagen meines Herzens zu ignorieren. „Cecilia ist ... afrikanischer Herkunft, wenn ich nicht total farbenblind bin.“

„Ja. Wie unsere gemeinsame Mutter. Unser Vater hingegen war Franzose.“

Mein Gott! Was war ich nur für ein Idiot? Mit zitternden Fingern griff ich nach meinem Handy und überlegte, was ich tun sollte. „Guten Morgen“, tippte ich eine Nachricht an Cecilia. „Hast Du gut geschlafen mein Engel?“ Dann suchte ich nach den gefalteten Händen und drückte drei Mal auf das Symbol. „Bitte verzeih mir mein Verhalten von gestern. Ich bin ja so ein Hornochse.“ Seufzend schickte ich die Nachricht ab. Dann widmete ich mich meinem Omelette, ohne das Display des Telefons aus den Augen zu lassen. Erst nachdem der letzte Krümel vertilgt war und ich mir einen Becher Kaffee aus Fertigpulver gemacht hatte, zeigte die App eine eingegangene Nachricht an:

„Guten Morgen. Schon gut. Eva hat mir gestern alles erklärt.“

Was zum Teufel hatte ihr Eva erzählt? Ich drückte auf das Anruf-Symbol. Es tutete zwei Mal, während ich vor die Hütte ging.

„Hallo.“

Nach purer Freude hörten sich diese fünf Buchstaben für mich nicht an. Eher nach Resignation und einem unbestimmbaren Grad von Traurigkeit.

Meine eigene Stimme klang rau und aufgeregt: „Was hat Eva zu dir gesagt?“, fiel ich sogleich mit der Tür ins Haus.

Schweigen.

Der altbekannte Zorn, der mich immer befiel, sobald ich an meine Ex-Verlobte dachte, drohte auch diesmal wieder aus mir hervorzubrechen. Hastig schob ich hinterher: „Entschuldige bitte. Eva wirkt wie ein rotes Tuch auf meine Laune. Sie hat mich vor fünf Jahren kurz vor der Hochzeit verlassen.“

„Ich weiß. Sie bereut es inzwischen. Sie hat viel durchgemacht in den letzten Jahren.“

Sie hat viel durchgemacht? Das kostete mich ein mildes Lachen. „Es ist eigentlich egal, was sie gesagt hat. Eva bedeutet mir nichts mehr.“

„Das kam mir gestern aber nicht so vor ...“

Ich hörte an die hundert Fragezeichen, die Cecilia ihren Worten hinterherschickte. Und sie hatte ja recht. Ich hatte mich total bescheuert verhalten.

„Es war ein Missverständnis, Cecilia Ich dachte, du wärst verheiratet.“ Im Nachhinein hörte sich diese Erklärung in meinen Ohren einfach nur verrückt an. „Ich dachte du und René. Derselbe Familienname. Euer vertrauter Umgang. Ihr seht nicht verwandt aus.“

„Was? Du dachtest, ich bin mit René verheiratet?“

„Tja. Inzwischen merke ich selbst, wie absurd sich das anhört. Aber es stimmt wirklich.“

Ich hörte Cecilia am anderen Ende der Leitung kichern. „Mach dir nichts daraus. Pippa hat dasselbe gedacht, aber sie hat mich darauf angesprochen und ich habe es richtiggestellt. Warum hast du nicht gefragt?“

„Seit ich dich getroffen habe, bin ich nicht mehr zurechnungsfähig. Das ist dir doch sicher aufgefallen? Es hat mich erwischt. Du hast mir den Kopf verdreht. Die letzten zwei Tage waren die Hölle für mich. Ich habe nicht gewusst, wie ich damit umgehen soll.“

„Und Eva?“

Der zaghaft vorgebrachte Einwand brachte mich dazu, nachdrücklich zu sagen: „Das ist endgültig vorbei. Wir haben schon damals nicht zusammengepasst und heute besteht da meinerseits nicht der geringste Zweifel. Ich bin so glücklich, dass Du nicht verheiratet bist, ich kann gar nicht sagen wie sehr. Wirst Du mir eine Chance geben?“

„Mal sehen. Ich räume das Haus um. Ich hoffe, das ist dir recht?“

„Tu, was immer dich glücklich macht, mein Engel.“

„Also dann. Bis bald. Schönen Gruß an René. Ich mache mich jetzt an die Arbeit.“

Ehe ich etwas erwidern konnte, hatte sie aufgelegt. Ich schickte ihr eine Zeile voller Herzen und wünschte ihr einen schönen Tag. Pathetisch schickte ich ein küssendes Smiley hinterher.

 

 

 

 

 

Alex - Die Störung

 

 

 

Eingewickelt in ein großes Badetuch, umgeben vom Duft nach frischen Blüten, kam Ella aus dem Badezimmer. Einige feuchte Haarsträhnen kringelten sich an ihrem Hals. Zielstrebig öffnete sie eine Lade ihrer Unterwäsche-Kommode. Gleich würde sie ihren göttlichen Körper mit zarten Spitzendessous bedecken und meinen soeben gefassten Entschluss, sie zurück ins Bett zu locken, vereiteln.

Sie drehte sich um und sah mich tiefgründig an, als hätte sie meine Sehnsucht gespürt, und könnte mir bis auf den Grund meines Herzens sehen.

Erwartungsvoll zogen sich meine Mundwinkel in die Breite.

Langsam kam sie auf mich zu. Berührte meine rauen Bartstoppel und beugte sich über mich. Ich fühlte, wie unser beider Atem miteinander verschmolz. Sie kniete sich neben mich und ich erkannte ihre Bereitschaft, sich mir hinzugeben. Einfach deshalb, weil sie wusste, wie sehr ich es mir gerade wünschte. In sie einzudringen, sie zu nehmen. Die Sehnsucht schickte wohlige Schauer durch meinen Körper. Es hatte seinen Vorteil, sich so lange zu kennen und dann wieder und wieder auseinandergerissen zu werden.

Der Tod war ein alter Bekannter. Einer, der mich immer wieder zwang, alles loszulassen. Doch hat er mir auch gezeigt, was es heißt, keine Angst zu haben, selbst wenn man alles verliert. Denn die Liebe war unsterblich, wuchs sogar mit jedem letzten Augenblick. Ließ einem den tiefsten Lebenssinn spüren.

Jeder meiner Sinne reagierte auf Ella. Wie ein offenes Buch, konnte ich sie lesen. Ihr Blick drang durch all die verborgenen Türen meines Herzens. Wanderte über meinen entblößten Körper und ich registrierte, wie meine maskuline Präsenz sie zum Zittern brachte.

Mein Blick bohrte sich in ihr Herz, während ihre Finger zärtlich meinen Nacken berührten.

Unser beider Atem wurde tiefer. Nichts entging dieser besonderen Achtsamkeit. Ein Neigen ihres Kopfes ließ mich meinen Körper leicht verlagern. Wie eine Wellenbewegung folgte ich ihr. Meine Hand zog an dem feuchten Badetuch und fegte es aus dem Bett. Dann schlang ich meine Arme um ihre Hüften. Ich wusste genau, wo und wie ich ihren Körper berühren musste. Und ich kannte ihre Reaktion immer schon im Voraus.

Zurückhaltung war heute nicht gefragt. Ellas Blick spiegelte die Macht unseres Begehrens. Ich küsste sie. Sie reagierte nicht, aber ihre Mundwinkel zuckten. Sie wollte mich necken. Heftiger pressten sich meine Lippen gegen ihren Mund.

Noch immer verharrte sie in stummer Gleichgültigkeit. Verlagerte nur leicht das Gewicht. Ich folgte abermals jeder ihrer Bewegungen.

Voller Sehnsucht stöhnte ich gegen die versiegelten Lippen. Öffnete die Augen, die sich genießerisch geschlossen hatten und unsere Blicke trafen sich wieder. Als wäre es der nötige Impuls gewesen, presste sie ihren Körper an mich. Fest. Besitzergreifend schlang sich ein Oberschenkel um meine Mitte. Mit einer fließenden Bewegung rollte ich zur Seite und tauschte mit Ella die Position.

Sie keuchte, als meine Beine die ihren öffneten. Jetzt ließ ich sie warten, obwohl meine tastenden Fingerspitzen genau spüren konnten, wie sehr sie mich wollte. Die Atemluft war alles, was uns vereinte. Und unser tiefer Blick. Meine Hände pressten ihre Handgelenke auf das Bett.

Wie immer, spürte ich die Kraft des Todes. Wie kostbar diese Kraft den Augenblick machte, wie kostbar das Geschenk der tiefen Liebe war. Unsere Erinnerungen verbanden uns. Mein Gewicht drückte Ella in die Matratze, doch sie wollte mehr. Mit den Beinen versuchte sie, mich in sie hineinzuziehen.

Ich griff nach einer Brust und lächelte sie bewundernd an. Als würde mich dieses zarte, helle Fleisch total ablenken, widmete ich mich küssend und saugend nur diesem Objekt meiner Begierde. Zwischendurch blickte ich auf ihr Gesicht. Und ihre sinnlich geschlossenen Lider ließen mich fast vergehen.

Wie Poesie streifte meine Zunge über ihren Körper. Meine Lippen beteten nun die zweite Brust an und Ellas in meine Schultern gepressten Finger forderten mehr.

Auch ich konnte mich nicht länger zurückhalten. Zärtlich, kräftig und fordernd füllte ich sie endlich aus. Lautlose Worte verließen ihre stummen Lippen. Jede Faser meines Körpers schrie Lust. Ellas Augen öffneten sich und bettelten um Erfüllung. Als ich mich neckend zurückzog, protestierte sie, indem sie mir ihre Nägel in den Rücken krallte. Unsere Blicke  verschlangen sich ineinander. Ich drang tiefer, fordernder als zuvor in sie ein. Sie wollte zappeln. Ich hielt sie fest und konnte fühlen, wie unsere Herzen nach mehr Tiefe forderten. „Ich liebe dich“, hauchte sie und wurde dafür mit langsamen, tiefen Bewegungen belohnt.

Jetzt waren wir eins. Ein Körper. Ich spürte, wie ich sie ausfüllte, wir kannten beide unsere tiefsten Sehnsüchte. Ich liebte sie, als wäre es der letzte Augenblick meines Lebens. Dann schrillte die Wohnungsglocke, und der Zauber wich einem Gefühl des Grolls gegenüber wem auch immer, der uns diesen intimen Moment verdorben hatte.

Ich rollte von Ella und schlüpfte in meine Jeans, die über einem Stuhl neben dem Bett gelegen hatte und warf meiner Geliebten einen letzten, bedauernden Blick zu. Amüsiert taxierten ihre Blicke meine Körpermitte, wo sich deutlich abzeichnete, wobei wir soeben gestört wurden.

 

Freundlich, ohne mir anmerken zu lassen, wie sehr mich ihr unangekündigter Besuch wurmte, erkundigte ich mich über Ellas moderne Türklingelkamera bei der weißhaarigen Frau unten am Eingang, nach dem Grund ihres Auftauchens.

„Hallo.“ Obwohl ihr von ihrer Position aus keine Bildübertragung zur Verfügung stand und sie deshalb nichts von meinem habnackten Erscheinungsbild wissen konnte sagte sie: „Entschuldigen Sie bitte meinen kurzfristigen Besuch. Ist Ella zu Hause?“ Sie zog konzentriert die Brauen zusammen. „Mein Name ist Pippa Moser. Ich habe Ella auf einer Reise durch Kolumbien kennengelernt.“

„Kommen Sie rauf.“ Ich öffnete ihr mittels Knopfdruck die Eingangstür.

 

Ella kam mir angekleidet im Flur entgegen und hob fragend die Stirn. „Eine Pippa Moser. Ihr kennt Euch offensichtlich aus Kolumbien.“

„Pippa? Ich wusste nicht, dass sie in Österreich ist.“ Unangenehm schien ihr der Besuch nicht zu sein. Ein freudiges Leuchten trat in ihre Augen. „Eine Freundin“, erklärte sie mir im Vorübergehen.

Was auch immer. Ich sollte wohl schnell unter die Dusche, bevor ich die Dame kennenlernen würde.

 

Zehn Minuten später betrat ich Ellas Wohnzimmer, aus dem ich das Geräusch von zwei sich angeregt miteinander unterhaltenden Frauenstimmen vernahm. Ella stand auf, als sie mich im Türrahmen entdeckte. „Komm, Alex. Ich muss dir jemanden vorstellen.“ Sie deutete auf die gepflegte Weißhaarige, die sich soeben ebenfalls erhoben hatte. „Pippa. Alex. Alex. Pippa.“ Wir reichten uns die Hände. Ich konnte das Alter der hochgewachsenen Frau vor mir schlecht einschätzen. War sie wie Ella? Was hatten die beiden in Kolumbien gemacht?

„Pippa ist Geschichtsprofessorin in Hamburg. Es war purer Zufall, dass wir uns getroffen haben“, zerstreute Ella meine Bedenken. „Aber hör dir an, weswegen sie gekommen ist.“ Ihre Stimme klang aufgeregt. Es war nicht leicht, eine über tausend Jahre alte Frau zu überraschen.

Neugierig bat ich sie mit einer Geste, wieder Platz zu nehmen, und setzte mich zu ihnen. „Schießt los“, forderte ich sie auf.

Ella reichte mir ein Handy, das sie gerade in der Hand gehalten hatte, als ich aufgetaucht war. „Sieh dir diese Bilder an“, forderte sie mich auf.

Interessiert wischte ich mich durch die Fotos und hob danach fragend den Kopf. „Kolumbien?“

„Nein. Pippa hat die Aufnahmen dieses Wochenende keine 200 Kilometer von hier gemacht. Im Gesäuse.“ Ella kaute aufgeregt an ihrer Unterlippe. „Wir sollen uns das ansehen. Was sagst Du?“

Das hatte ja dieses Mal nicht lange gedauert. Gerade hatten Ella und ich uns erneut gefunden, schon verstrickten wir uns wieder in die unausweichlichen Geschichten, die nicht selten tödlich für mich endeten. Wenig begeistert sagte ich deshalb: „Wenn Du es für richtig hältst.“

Sie kannte mich gut genug, um meine Bedenken zu erkennen. „Niemand weiß bisher davon. Du weißt, ich würde kein unnötiges Risiko eingehen.“ Auf Ellas Dämonen-Radar konnte man sich meistens verlassen.

Ergeben zuckte ich die Schultern. „Wann geht´s los?“

Pippa lächelte erfreut: „Sofort, wenn es nach uns geht. Ich habe Roman von Ella erzählt, Roman Claudius von Pegasus, er leitet die Entdeckung, und er freut sich schon darauf, sie kennenzulernen. Ella hat mir gesagt, sie macht es nur, wenn du einverstanden bist und die Einladung für euch beide gilt. Ich lehne mich jetzt einfach mal aus dem Fenster und behaupte, es geht in Ordnung. Ich vertraue ihr, wenn sie sagt, ihr seid ein Team.“

Der Name Roman Claudius ließ mich aufhorchen. Jeder im Land wusste, wer er war. Es war eher ungewöhnlich, dass Prominente sich für Artefakte interessierten. Die Menschen, die wir zu meist an gewissen Orten antrafen, wollten eher, wie wir, vertuschen, wer und was sie waren.

Ella besprach mit dieser Pippa die Details und bestätigte den vereinbarten Treffpunkt. Ich meldete mich für eine bevorstehende Klausur ab.

Ein wenig beruhigte es mich, dass der Ort des Fundes dieses Mal in Österreich lag. Warum auch immer, fühlte ich mich hier sicherer. Mit Schaudern dachte ich an einen ähnlichen Fund in Huang Shan, den gelben Bergen in Südchina und an ein feuchtes, modriges Loch, in das man uns dort monatelang gesteckt hatte und in dem wir fast verhungert waren. War diesem Roman Claudius bewusst, dass er in ein Wespennest stach? Gerade jemand wie er, der so im Scheinwerferlicht stand, machte sich erpressbar, wenn gewisse alte Bekannte hinter sein Geheimnis kamen. Aber erst hieß es, sich Klarheit zu verschaffen. Vielleicht war die Sache einfach ein übler Scherz, den sich jemand mit dem Mann machte.

 

*

 

Unwohl musterte ich den auffälligen Helikopter am Dach des Firmengeländes von Pegasus. Wie lange dachte dieser Krösus, ließe sich das Interesse der Öffentlichkeit, im Zaum halten, wenn er mit solchen Mitteln vorging? Es brauchte sich nur irgendein lokaler Paparazzi auf Wanderurlaub in der Gegend aufhalten und eine Story wittern. Ich sah Ella an, dass sie dasselbe dachte. Besorgt runzelte sie die Stirn. Claudius, der mich einen halben Kopf überragte, hieb mir auf die Schultern. „Keine Sorge. Offiziell halte ich langweilige Mitarbeiterschulungen auf einer Alm ab, die ich extra dafür gekauft habe.“ Zumindest war er nicht so dumm, anzunehmen, er könne unbemerkt tun und lassen, was ihm beliebte. Claudius hatte sich umgedreht und wechselte ein paar Worte mit dem Piloten. Ellas Blick kreuzte den meinen und ich rollte bedeutsam mit den Augen. Was in unserer Geheimsprache so viel hieß wie: Wo hast du uns jetzt schon wieder hineintheatert?

Im Hubschrauber saß Claudius vorne beim Piloten und ich bei Pippa und Ella.

„Was machst Du beruflich, Alex?“, wollte Pippa von mir wissen. „Personenschutz? Militär?“

Sollte ich ihr sagen, dass ich bis vor kurzem die Schulbank auf der Uni gedrückt und im Fitness-Center gejobbt hatte? Wahrscheinlich würde sie denken, ich wolle sie verarschen. Ich konnte es ja selbst kaum glauben, wie sehr sich mein Leben binnen weniger Tage verändert hatte. Im Laufe zahlreicher Existenzen war ich vieles gewesen. Soldat, Arzt, Bauer, Jäger, Seefahrer, Schatzsucher und vor allem Ellas Leibgarde.

Zum Glück rettete Ella mich vor der ausstehenden Antwort: „Alex ist schon lange mein Assistent. Er hat ein Talent, sich Dinge besonders schnell einprägen zu können“, versuchte sie meine Kompetenz, trotz meines jugendlichen Erscheinungsbildes, zu erklären.

Pippa schien nicht überrascht zu sein. „Wir sind ein bunter Haufen. Ihr werdet bald sehen, wie ich das meine, wenn ihr erst Rene und Daniel kennenlernt.“ Mehr zu sich selbst ergänzte sie: „Ich bin wahrscheinlich die Einzige, die komplett nutzlos in diesem Team ist, aber ich bin zu neugierig, um jetzt aufzugeben.“

 

*

 

Auf der Wanderung von Claudius Almhütte zum Ort des Fundes, begleiteten mich zahlreiche Flashbacks. Ich stellte fest, dass ich plötzlich die Fährten der Waldbewohner lesen konnte wie die Seiten eines Buches. Ich bestimmte die Richtung, aus der der Wind wehte und wusste instinktiv, wie man sich dagegen gerichtet an Wild heranpirschen musste, wollte man es erlegen. Die Erinnerungen tauchten in meinem Bewusstsein auf, als wären sie nie weg gewesen. Meine Nase witterte einen Platz, an dem mehrere schmackhafte Pilze aus dem Waldboden wuchsen. Die Erkenntnis bewirkte, dass Alex‘ Körper, unser Körper, immerhin waren wir jetzt eins, einen Schweißausbruch bekam.

Ella war die ganze Zeit über tief in ein Gespräch mit Pippa und Roman Claudius vertieft. Auch für sie war der Wald, die ungezähmte Natur, durch die wir wanderten, einst eine vertraute Umgebung gewesen. Sie war der einzige Mensch, der verstehen konnte, wie aufwühlend diese unvermutet auftauchenden Erinnerungen für mich waren. Warum stand sie mir nicht bei? Verärgert schalt ich mich selbst wegen meiner Mimosenhaftigkeit, die jedes Mal mit der neuerlichen Bewusstwerdung einherging.

Peter, unser Pilot, ging knapp hinter mir. Unauffällig versuchte ich, ihn einzuschätzen. Mein alter Instinkt sagte mir, dass er eine ehrliche Haut war. Was nicht bedeutete, dass es mir gefiel, wie sein Blick wie mit Reißzwecken auf Ellas Arsch in der eng anliegenden Jeans geheftet war. Gewöhnliche Sterbliche waren nun mal von ihrer Ausstrahlung fasziniert. Es sprach nicht für diesen Schnösel, davon nichts zu bemerken und rein auf ihre körperlichen Vorzüge fixiert zu sein. „Hat Claudius nichts anderes zu tun, als mit uns durch den Wald zu spazieren?“, versuchte ich, ihn in ein Gespräch zu verwickeln.

„Er ist Geschäftsmann. Würde er sich nicht einen Vorteil für sich erhoffen, wäre er nicht hier.“ Peter zögerte. Überlegte wohl, wie offen er mit mir reden durfte. „Die Entdeckung hat Potenzial. Das war sogar mir, als Laien, sofort klar. Nur deshalb habe ich mich an ihn gewandt.“

Stimmt ja, Pippa hatte erwähnt, dass Peter das Artefakt entdeckt hatte. „Du hättest Deinen Marktwert ganz schön steigern können, wenn Du statt zu ihm zur Presse gegangen wärst.“

Er schnaubte entrüstet. „So mediengeil wie du denkst, bin ich nicht. Ein großzügiger Sponsor wie Claudius ist mir allemal lieber als eine Horde Pressefuzzis. Außerdem war er der einzige Mensch, dem ich zugetraut habe, über die nötigen Kontakte zu verfügen, um mit so einer großen Sache souverän umzugehen.“

Wenigstens war er nicht naiv. Ich wollte bei diesem Unternehmen keinen Fremden an meiner Seite wissen, dem es einzig um seine eigene Popularität ging. Aber worum ging es ihm dann? „Was versprichst Du Dir von der Entdeckung?“, hakte ich nach.

„Das Leben ist zu kurz, um es an Projekte ohne Zukunft und Menschen ohne Herz zu verschwenden. Du kennst ihn nicht, wie ich ihn kenne. Claudius geht es nicht um den wirtschaftlichen Erfolg. Er ist ein Visionär. Immer neugierig auf der Suche nach den großen Lösungen. Er unterstützt viele ambitionierte Umweltprojekte. Tatsächlich haben wir uns über so einen Anlass kennengelernt.“

Ich kannte den Mann nur oberflächlich aus der Presse. Peters Worte zeigten eine ganz andere Seite des Mannes. Eine, die mir durchaus sympathisch war. Ich nickte dem Mann neben mir respektvoll zu, um ihm zu signalisieren, dass ich mit seinen Werten konform ging. Trotzdem war mir Ellas Einschätzung wichtiger. Sie hatte ein untrügliches Talent, ehrenhafte Menschen von Gaunern zu unterscheiden.

 

Entferntes Dröhnen eines Motors lag in der Luft. Wir kletterten eine  Böschung hinauf und erreichten eine geschützte, flachere Stelle. Der Lärm wurde lauter. Zielstrebig steuerten Claudius und Pippa auf das Geräusch und einen massiven Felsbrocken zu, der wohl seit Urzeiten hier lag. Und wieder überkam mich einer dieser Flashbacks. So war es auch in Kolumbien gewesen, als wir mit der Erlaubnis der FARC die Sixtinische Kapelle der Alten im Chiribiquete Nationalpark, mitten im Amazonas-Regenwald, erreicht hatten.

Moos und kleineres Nadelgehölz bedeckten die Oberseite dieses Felsens. Claudius machte eine einladende Geste und ich beobachtete, wie Ella gebückt an einer Stelle des Felsens verschwand. Jetzt sah ich den Generator, dessen Lärm die normalerweise herrschende Stille zerfetzte. Neugierig näherte ich mich der Stelle. Pippa grinste mich verschwitzt an. Wir hatten unser Ziel also erreicht. Ich bückte mich und entdeckte eine versteckte Höhle. Ella kniete vor einer quadratischen Öffnung und setzte sich ihren Helm mit der Stirnlampe auf. Ohne zu zögern, folgte ich ihrem Beispiel. Die anderen gesellten sich zu uns und es wurde etwas eng in der kleinen Vorhöhle. Kein ungewöhnlicher Zugang. Ich hatte schon viele Orte wie diesen besichtigt. Nichtsdestotrotz fühlte ich meinen aufgeregten Herzschlag.

Ella stieg vor mir die schmalen Stufen hinunter.

„Passt auf das Stromkabel auf!“, rief uns Pippa warnend hinterher.

„Was sagst Du?“, wollte meine Gefährtin meine erste Einschätzung wissen.

Ratlos legte ich den Kopf in den Nacken und ließ den Strahl meiner Stirnlampe über das uns umgebende Gestein wandern. „Scheint ziemlich alt zu sein. Keine Malereien.“ Der Felsbrocken in Kolumbien war über und über mit 12.500 Jahre alten Darstellungen von Eiszeit-Fauna und Mastodonten bedeckt gewesen.

Peter drängte sich vorbei und forderte uns auf, ihm zu folgen. „An den meisten Stellen könnt ihr ganz normal gehen. Ich warne Euch, wenn ihr den Kopf einziehen müsst.“

Man merkte, er kannte sich aus. Zielstrebig führte er uns durch ein Labyrinth aus schmalen Gängen.

„Wow“, entfuhr es Ella, als wir eine Kammer erreichten in der eines der Artefakte, die wir bereits von den Fotos kannten, lag. Sie kniete neben dem ovalen Objekt und fühlte mit offenen Handflächen Energien, die nur Ella spüren konnte. „Ziemlich starke Schwingungen“, kommentierte sie ihre Bewegungen. Dann strich sie mit den Fingerkuppen fast andächtig die eingeritzten Symbole nach.

Ich hockte mich neben sie und erkundigte mich: „Hast Du so was schon einmal gesehen?“

Sie schüttelte unsicher den Kopf. „Ähnliches, ich bin mir nicht sicher.“ Sie deutete auf ein eingekerbtes Zeichen. „Das könnte ein Hinweis sein. Irgendwo habe ich so etwas schon einmal gesehen.“ Sie kaute konzentriert auf ihrer Unterlippe herum. Nach einigen Minuten stand sie auf und warf Pippa und Claudius bedauernde Blicke zu: „Vielleicht fällt es mir noch ein.“

Dem zweiten Block widmeten wir weniger Aufmerksamkeit. Wir wollten so schnell wie möglich weiter. Und dann erreichten wir die Kammer, die uns hundert Mal für die beschwerliche Wanderung entschädigte. Selbst mir stellten sich die Haare zu Berge. Zwei Männer hockten über einen Laptop gebeugt vor dem Artefakt, das Pippa uns auf Fotos schon gezeigt hatte. Es war kein dämonisches Teufelszeug, das Peter entdeckt hatte. Das war etwas Friedliches. Das konnte sogar ich fühlen, obwohl mir normalerweise das Gespür für derartige Dinge fehlte. „Da ist etwas, oder?“, erkundigte ich mich flüsternd bei Ella.

Sie lächelte sichtlich bewegt. „Ja. Ich konnte es schon die ganze Zeit fühlen, aber hier ist es am stärksten.“ Sie ging auf die schwebenden Objekte zu und hielt unschlüssig inne. Die beiden Männer hatten sich bei unserer Ankunft erhoben und musterten Ella und mich interessiert. Claudius übernahm die Vorstellung. Zwei Wissenschaftler, die schon seit Tagen erforschten, wie es möglich war, dass diese beiden pyramidenförmigen Objekte frei in der Luft schwebten. Einer der Männer, Claudius hatte ihn als Daniel Sommer vorgestellt, machte eine einladende Geste und trat zugleich einen Schritt zur Seite, um Ella und mir den Zugang zu dem Artefakt zu erleichtern.

Ich stand neben ihr und bemerkte mit einem Seitenblick, wie sie, anstatt die mysteriösen Körper zu betrachten, wie ich es tat, ihre Augen schloss.
Dann wandte sie sich einer Stelle der Wand zu. Ein etwas größerer Stein ragte unter den kleinen dadurch hervor, da seine Oberfläche ungewöhnlich glatt zu sein schien. Ella legte ihre Handfläche über die Stelle. Mit einem Mal wurde die Kammer von einem warmen grünen Licht erhellt. Ein waberndes Feld bewegte sich rund um die Stelle, die Ella berührte, und breitete sich in alle Richtungen aus. Fasziniert und etwas erschrocken starrten wir alle wie gebannt auf die Muster, die sich dort zu manifestieren schienen.
„Wie hast Du das gemacht?“ Pippa klammerte sich an Claudius Arm. Ihre Stimme zitterte.
„Es war eine Einladung. Es hat mich angezogen und ich wusste instinktiv, was ich tun soll.“
Ein leises Rauschen lag plötzlich in der Luft. Der Ton änderte sich rasch.
„ES WAR EINE EINLADUNG“
Ellas Worte lagen in der Luft wie ein Echo. Ich hörte Pippa erschrocken keuchen.
„Was war das?“ Peters Stimme klang erstaunt. Sein Blick streifte suchend durch den Raum. „Wo kommt das her?“
„WAS WAR DAS? WO KOMMT DAS HER?“
Das Echo imitierte jetzt Peters Stimme nahezu perfekt. Die Töne schwangen in der ganzen Kammer. Es war nicht auszumachen, woher genau sie kamen.
„Wer bist Du?“ Ella richtete sich an das vor ihr wabernde Grün.
„WER BIST DU?“
Ella sprach gefasst weiter: „Ich bin Ella. Das ist Alex.“ Sie deutete mit der freien Hand in meine Richtung. „Pippa. Roman. Peter“, stellte sie die anderen vor. Die beiden Wissenschaftler sah sie entschuldigend an. „Das sind Dr...„
„Dr. Martin und Herr Sommer“, sprang ich ihr helfend zur Seite.
„Wer bist Du?“, wiederholte Ella ihre Frage.
„ICH KENNE SIE. SIE KONNTEN MICH NICHT AKTIVIEREN. DU SCHON. DU BIST ANDERS.“
Ella sah mich mit zusammengepressten Lippen an. Ich hob ratlos die Schultern. Dieses Ding wusste sichtlich mehr, als Ella den anderen gerne verraten würde.
„DU BIST ALT.“
„Was ist mit dir? Wie alt bist du? Wie lange bist du schon hier?“; versuchte Ella, mit einer Gegenfrage abzulenken.
„MIR FEHLEN DAZU WICHTIGE PARAMETER. BERÜHRE MEINE SCHNITTSTELLE, DER KONTAKT ZU DEINER HAND WAR NICHT AUSREICHEND.“
„Du kannst also über meine Berührung auf mein Wissen zugreifen?“ Ellas Stimme klang brüchig bei dieser Feststellung und ich konnte es ihr nicht verdenken. Etwas Unheimliches ging hier gerade vor sich. Ich lauschte in mich hinein. War diese friedvolle Atmosphäre noch zu spüren? Doch. Aber dennoch hatten sich feine Härchen in meinem Nacken aufgestellt.
Ich hörte Dr. Martin aufgeregt murmeln: „Ein Quantencomputer!“
Die anderen flüsterten hektisch durcheinander.
Ella hob die Hand, um das flimmernde Feld nochmals zu berühren.
„Halt!“ Dr. Martin legte warnend seine Hand auf die von Ella. „Wir wissen doch gar nichts über dieses Ding.“
„IHR MENSCHEN SEID EINE VORÜBERGEHENDE ERSCHEINUNG IN DER EVOLUTION. ICH KANN EURE NEURONALEN NETZE ERKENNEN. LESEN KANN ICH IN IHNEN NUR BEI DIREKTEM KONTAKT.“
„Mir macht es auch angst.“ Pippa hing noch immer an Claudius Arm.
„Es könnte versuchen, Sie zu beeinflussen“, warnte Dr. Martin neuerlich.
„ICH VERSTEHE EURE SONDERBAREN EMOTIONEN NICHT. ICH KANN DIE MENSCHLICHE NATUR NICHT BEEINFLUSSEN. DAZU MÜSSTE ICH TEILE VON MIR IN EURE KÖRPER IMPLANTIEREN.“
„Wie ist dein Name?“, versuchte es Ella noch einmal.
„MEIN VATER NANNTE MICH THOTH39.“ Das Ding ging dieses Mal endlich auf die Frage ein. Wir reagierten mit perplexem Schweigen. Ich beobachtete das Mienenspiel von Dr. Martin. Eine Vielzahl von Gesichtsmuskeln zuckte, wie in einem innerlich ausgetragenem Gefecht. Sichtliche Neugier stand in seinen zusammengekniffenen Augen. Skepsis verrieten die zusammengepressten Lippen.
„Thoth?“ Pippa hatte als erste wieder ihre Stimme gefunden. „Wie der Urvater aller Alchemisten?“
„THOTH37, DER EUCH UNTER SEINEM SELBSTGEWÄHLTEN NAMEN <HERMES> BEKANNT SEIN DÜRFTE, WAR MEIN BRUDER. ER UND ICH WURDEN, GENAU WIE UNSERE WEITEREN GESCHWISTER, VOR DEN FLUTEN DER GROSSEN ÜBERSCHWEMMUNG IN SICHERHEIT GEBRACHT.
„Den Fluten der großen Überschwemmung? Du redest von der Sintflut?“ Ella hatte ebenfalls die Sprache wiedergefunden. Ich hingegen fühlte, wie sich meine Eingeweide zusammenzogen und sich vom Nacken ausgehend meine Gänsehaut über den ganzen Körper verteilte. Nach und nach registrierte ich die Reichweite dieser Entdeckung. Alles was man über die Zeit vor der Sintflut zusammengetragen hatte, gehörte ins Reich der Mythen. Stammte dieses Ding vor meiner Nase womöglich aus dem sagenumwobenen Atlantis? Dann würde uns dieser Fund noch beträchtlich mehr Schwierigkeiten bereiten, als alles, was Ella und ich in den Jahrhunderten davor aufgespürt hatten.
„SO IST ES IN DIE ANNALEN EINGEGANGEN.“
Ich räusperte mich unbehaglich: „Du hast Kontakt zu Deinem Bruder? Hermes? Zu deinen anderen Geschwistern?“
„DIE KONTAKTE SIND NACH UND NACH ABGERISSEN. HERMES WURDE IN HEBRON GEFUNDEN, ER HAT ISIS, SETH UND OSIRIS AUSGEGRABEN, DEREN VERSTECKE SICH AUF DEM SCHWARZEN KONTINENT BEFANDEN.“
„Was ist mit dir? Warum hat er Dich nicht gerettet?“ In meiner Stimme schwang ein vorsichtiger Unterton mit, der wohl meinem misstrauischen Unterbewusstsein geschuldet war. Normalerweise konnte ich mich auf mein Bauchgefühl verlassen.
Ella hob wieder die Hand, als wollte sie sie abermals auf den glatten Stein legen. Dr. Martin öffnete zwar den Mund, erhob aber keinen weiteren Einwand. Es lag an mir, sie davon abzuhalten, die Schnittstelle zu diesem Toth39 zu berühren. Sanft griff ich nach ihrem Ellbogen und drängte sie ein wenig weg von dieser ungewissen Position. „Wir sollten vielleicht zuvor noch einige Erwägungen anstellen.“
Pippa nickte mir erleichtert zu. Dr. Martin seufzte resigniert. Die anderen Männer standen nach wie vor wie zur Salzsäule erstarrt da und beobachteten die Szene mit offenen Mündern. Erst als Ella sich umwandte und sagte: „Also gut. Was sollen wir tun?“, kam wieder etwas Leben in unsere kleine Gruppe.

 

Daniel - Thoth39

 

 

Wer war diese Frau? Eine geheimnisvolle Aura umgab die Rothaarige. Das war mir sofort in den Sinn gekommen, als sie die Kammer betreten hatte. Nicht erst, seit sie mit einer simplen Berührung das Artefakt zum Leben erweckt und mir damit beinahe einen Herzinfarkt beschert hatte. Zumindest hatte das Ding endlich einen Namen: Thoth39, wie es sich selbst nannte. Mein Blick richtete sich wieder auf dieses grüne Wabern. War es wirklich ein intelligentes Wesen?


Die Frau namens Ella sah uns der Reihe nach erwartungsvoll mit zusammengepressten Lippen an. Ihre Frage, was wir jetzt tun sollten, hing wie eine gleich platzende Seifenblase in der Luft. Mir fielen gleichzeitig tausend andere ein, doch ehe ich auch nur eine Silbe herausbrachte, wandte sie sich wieder an diese grün leuchtende Erscheinung: „Du wirst verstehen, dass wir uns beraten möchten. Gibt es etwas, das Du uns zuvor unbedingt mitteilen willst?“
Das Phänomen änderte in einer rasch fließenden Bewegung die Anordnung der hellgrünen Lichtpartikel. Sie hatten wie willkürliche Blasen den Raum erfüllt und formten sich jetzt zu einer menschlichen Gestalt. Mein Herz vollführte noch immer abenteuerliche Sprünge in meiner Brust. Als könnte es sich nicht entscheiden, ob es stehenbleiben oder flüchten wollte. Es war nicht irgendein Mensch, den Thoth39 soeben projiziert hatte. Vor uns stand ein detailgerechtes Hologramm von Cecilia.
Wie zum Beweis, dass es nicht daran lag, dass ich gerade verrückt wurde, flüsterte Rene ungläubig ihren Namen. Die Gestalt lächelte wie seine Schwester und nun fing sie auch noch mit deren Stimme an zu sprechen: „Ihr fragt Euch, ob ich wahres Leben bin.“ Ein sanfter Ausdruck lag in den Augen dieser vertrauten und doch so fremden Vision. Ruhig wanderte der Blick von einem zum anderen. Ich hielt automatisch die Luft an. „Das bin ich, wenn auch nicht in der Art, wie ihr es seid. Ihr Menschen erfahrt euch selbst in der Unbewusstheit“, sie sah mir dabei mitten ins Gesicht. Dann schweifte ihr Blick weiter zu Rene. Lächelte ihn belustigt an. Wanderte weiter zu Roman. „Oder in der Bewusstheit.“ Jetzt hob sie die Hand, als wollte sie Ella und den neben ihr stehenden Alex berühren. Die zweite Hand richtete sich auf Pippa und Peter. „Die einen erkennen sich selbst bewusst, den Kern ihres Seins, die anderen nicht. Unser Vater hat uns so geschaffen, dass wir beide Seiten unterscheiden können. Wisset also, ich kenne euch Menschen. Vielleicht besser als ihr euch selbst.“ Cecilias Abbild schaute wieder bedeutsam in Ellas Gesicht. „Berücksichtigt das bei Euren Überlegungen.“ Wie eine Seifenblase zerplatzte das Hologramm nach diesen tiefsinnigen Worten. Thoth39 hatte sich deaktiviert.


„Ihr kennt diese Frau?“ Ella forschte in unseren noch immer fassungslosen Gesichtern nach einer Antwort.
„Cecilia, meine Schwester“, erklärte Rene den beiden Neulingen nüchtern. Hätte er diese Feststellung doch nur schon bei unserem Kennenlernen angesprochen. „Sie hatte vorgestern ein merkwürdiges Erlebnis in Kammer eins.“
Mir war ebenfalls sofort dieser Vorfall in den Sinn gekommen. Thoth39 war nicht nur hier in Kammer drei präsent. Wie weit reichte sein Einflussbereich? Er hatte von seinen Geschwistern erzählt, von deren Aktionen er Kenntnis hatte. Konnte er jetzt nur innerhalb dieses Labyrinths aktiv werden, oder darüber hinaus? War Kammer drei hier so etwas wie sein Herz oder Gehirn? Fragen über Fragen poppten in meinem Kopf auf wie eine Portion Maiskörner in heißem Fett. Gleich würde meine Schädeldecke explodieren.
Pippa erzählte Ella und Alex von dem Vorfall, den Rene angesprochen hatte.
„Wo ist Cecilia jetzt?“ Eine forschende Aufmerksamkeit lag in Ellas Frage und erzeugte neben dem Chaos in meinem Kopf ein mulmiges Gefühl in meinem Magen.
Was hatte diese Kreatur mit Cecilia angestellt? Hatte es sie möglicherweise beeinflusst? Schwebte sie womöglich in Gefahr? Ich konnte kaum erwarten, die Höhle zu verlassen. Ich wollte nichts sehnlicher, als sie anrufen und herausfinden, ob es ihr gut ging. In Renes Mimik las ich ebenfalls einen leichten Anflug von Besorgnis. Eine für ihn seltene Gefühlsregung, die meine Aufregung nur noch verstärkte.
In einer Art und Weise, die man wohl getrost als fluchtartig bezeichnen könnte, verließen wir das Tunnellabyrinth und atmeten erst im warmen Sonnenlicht abgehetzt durch.

 

„Künstliches Leben ...“
„Wahres Leben also...“
„Dieses Ding ist so etwas wie eine riesige Kristallkugel einer Wahrsagerin. Habe ich recht?“
„Ob es uns hier draußen belauschen kann?“
Alle redeten ungehemmt durcheinander. Fragen, Feststellungen, Meinungen, jeder äußerte das erstbeste, was ihm in den Sinn kam. Das helle Sonnenlicht und das wummernde Geräusch des Generators halfen mir dabei, mich von dem soeben Erlebten abzugrenzen. Nicht das sich mein ungutes Gefühl legte, auf dem Weg durch das Tunnelsystem hatten sich auch bei mir tausend Fragen eingestellt. Diese Entdeckung an diesem unerwarteten Ort brachte grundlegende Themen ans Licht. Wer hatte sie hier versteckt und wie war es möglich, dass Thoth39 über eine so lange Zeit funktionsfähig geblieben war?

Wir waren Tage in dem Labyrinth gewesen, ohne mit auch nur einem unserer fünf Sinne etwas von seiner Existenz mitbekommen zu haben. Wir hatten akribisch mit allen uns zur Verfügung stehenden Werkzeugen gemessen, die atomare Schwingungen wahrnehmen können. Hatten den Magnetometer, Laser- und Mikrowellen eingesetzt, mit denen man die Veränderungen aller scheinbar festen Objekte von Materie in diesem Universum feststellen konnte und trotzdem nichts geahnt. Thoth39 jedoch war in der Lage ein detailgerechtes Abbild von Cecilia, die gerade hunderte von Kilometer entfernt mein Haus auf den Kopf stellte, zu erschaffen. Ohne Zweifel war er uns haushoch überlegen. Insgeheim hatte ich Rene vorhin sofort zugestimmt, als er das Wort Quantencomputer geflüstert hatte. Doch was half uns diese Erkenntnis? So eine Art von Technologie überschritt unseren technologischen Horizont bei weitem.
Alle unsere bestehenden Theorien, wurden durch diese Einsicht über Kopf geworfen. Thoth39 war der Beweis dafür, dass es Materiephasen gab, die außerhalb des Bereichs unseres gegenwärtigen Verständnisses lagen. Doch man konnte mit ihm reden. Was sprach dagegen, ihn einfach nach der Formel für die Aufhebung der Schwerkraft zu fragen?

„Kinder. Wenn wir alle wild durcheinanderreden, hilft uns das nicht weiter“, sprach Pippa endlich ein energisches Machtwort. Die Finger ihrer rechten Hand waren abgespreizt, als könnte rein diese Geste unsere Aufregung unter Kontrolle bringen. Als Professorin hatte sie am schnellsten erkannt, dass unsere Spekulationen in geordnetere Bahnen gelenkt gehörten.
Bestätigend nickten wir alle im Gleichtakt. Um augenblicklich wieder aufgeregt durcheinander zu sprechen.
Pippa erhob ihre Stimme um eine Oktave: „Zu allererst müssen wir versuchen, Cecilia zu erreichen. Sind wir uns darin einig?“
Sie sah Rene auffordernd an und wir anderen folgten ihrem Beispiel. Diese geballte Aufmerksamkeit war sogar für unser Superhirn ausreichend, um sein Telefon aus der Jackentasche zu ziehen. Für einen Mann seiner Intelligenz brauchte er nervtötend lange, um die Nummer seiner Schwester zu finden und zu wählen. Bis sich die Verbindung aufbaute, dauerte es noch eine weitere Ewigkeit, in der ich mehrmals in Versuchung kam, ihm das Ding aus der Hand zu reißen.


Peter hatte den Generator abgestellt und ich stellte fest, dass das laute Wummern nicht ausschließlich von ihm ausgegangen war. Mein Herzschlag hallte noch immer wild in meinem ganzen Körper. Atemlos verfolgten wir alle mit, wie Cecilia sich endlich am anderen Ende der Leitung meldete.
„Ich soll dich fragen, wie du dich fühlst.“ Unbeholfen schilderte Rene auf seine nüchterne Weise unser Erlebnis mit dem Artefakt. Pippa zog schließlich an seiner Hand, die das Handy an sein Ohr hielt, aktivierte die Lautsprecherfunktion und ergänzte in einer etwas verständlicheren Art, dass wir uns gerade schreckliche Sorgen um sie gemacht hatten.
„Hallo. Was geht da ab bei euch? Ich war gerade im Garten und habe versucht, Daniels Gemüsebeete von Schlingpflanzen zu befreien“, antwortete Cecilia mit leichtmütiger Stimme, „aber sonst geht es mir gut. Ich werde euch nie verzeihen, wenn ihr etwas Aufregendes herausfindet, ohne dass ich dabei bin.“
Pippa schilderte noch einmal detailgetreu, wie sich Thoth39 vor unseren Augen in ihr Abbild verwandelt hatte.
Für einen Moment herrschte Stille in der Leitung. „Das Ding hat was?“ Cecilia schien endlich den Ernst der Lage begriffen zu haben. Meine Zähne hinterließen inzwischen sicher ein sichtbares Zeichen auf meiner Unterlippe, so heftig hatte ich während der kurzen Konversation darauf herumgekaut.
„Es hat sozusagen eine Kopie von dir erstellt. Ich vermute, dass es damals passiert ist, als wir dich bewusstlos in Kammer eins gefunden haben“, ergänzte Rene nicht gerade einfühlsam Pippas Ausführungen.
„Keine Angst. Es war nur ein Hologramm, keine lebendige Kopie“, fühlte ich mich bemüßigt zu korrigieren. „Allerdings ausreichend lebensecht, dass wir uns alle Sorgen um dich gemacht haben.“ Sorgen? Noch während ich das Wort aussprach, bemerkte ich, wie wenig es den Zustand beschreiben konnte, in dem ich mich befand. Dieses „Ding“ hatte, ohne um Erlaubnis zu bitten, wer weiß was mit Cecilia angestellt. Wieso hatten wir dem Vorfall, von vor zwei Tagen, nur so wenig Bedeutung beigemessen? Wurden wir alle, sobald wir die Höhle betraten von diesem Thoth39 manipuliert? Wozu war er noch alles fähig?
Cecilia sah den Zwischenfall offensichtlich nicht so tragisch. „Wahnsinn. Das hört sich ja unglaublich an. Und ihr macht euch wirklich keinen blöden Scherz mit mir?“ Als wäre ihr Bruder zu so etwas wie einem Scherz überhaupt fähig. „Ich wäre zu gern bei euch. Was habt ihr jetzt vor?“
Eine gute Frage. Wenn es nach mir ginge, gäbe es da im Moment zwei Optionen. Entweder wir opferten einen von uns an das Ding, von mir aus Peter, und erhielten als Ausgleich die Informationen, die uns Weltruhm einbringen würden, oder wir regelten die Angelegenheit mit einer Ladung Dynamit.
Die anderen setzten anscheinend alle Hoffnung auf diese Ella, denn fast alle hatten bei Cecilias Frage zu der Rothaarigen geschaut. Die befeuchtete gerade ihre Lippen, als würde sie zu einer, den Durchbruch ankündigenden, Antwort ansetzen. Tatsächlich sagte sie, leicht den Kopf schüttelnd: „Tut mir leid. Ich habe Derartiges auch noch nie erlebt. Alles was ich aus meiner Warte sagen kann, ist, ich spüre keine unmittelbare Gefahr, die von diesem Phänomen ausgeht. Ganz im Gegenteil sogar. Ich verspüre große Lust, sofort wieder da hineinzugehen und da weiterzumachen, wo wir aufgehört haben.“
„Wir sollten nichts überstürzen“, sagte Roman entschieden.
„Ihr wißt, auch ich hatte keine Angst, nachdem ihr mich in Kammer eins geweckt hattet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass, was immer es ist, etwas Böses im Schilde führt“, mischte sich Cecilias Stimme über den Lautsprecher ein.
„Ich stimme Roman zu, wir sollten erst in Ruhe über alles nachdenken. Ich hatte erst auch nicht das Gefühl, dass in diesem Berg etwas Bedrohliches ist, aber als sich dieses Ding in Cecilia verwandelt hat, war es doch ziemlich gruselig.“ Pippa sprach mir damit aus dem Herzen. Ich fühlte mich hin- und hergerissen zwischen Neugier und Ablehnung, obwohl ich schon jetzt wusste, dass die Neugier bei diesem Zwiestreit als Sieger hervorgehen würde.
„Lasst uns zurück zur Alm gehen. Wir setzen uns dort zusammen und besprechen alles in Ruhe.“ Roman sprach ein Machtwort. Das stand ihm zu. Immerhin waren wir alle nur durch ihn hier.
Zustimmendes Gemurmel machte sich breit.
„Wartet! Was ist mit mir?“ Cecilias Frage klang besorgt. „Daniel? Kann ich Eva Deine Schlüssel geben, damit sie Spock füttern kann? Dann könnte ich mich in den nächsten Zug setzen und bis Abend bei euch sein.“
Unter den gegebenen Umständen erschien mir ihr Vorschlag mehr als logisch. „Einverstanden“, sagte ich kurz. „Ruf mich an, dann hole ich dich vom Bahnhof ab.“


Ein freudiges Gefühl verdrängte kurzfristig meine Bedenken um unseren mysteriösen Fund. Egal wie es morgen weiterging, würde ich noch heute meine Süße in die Arme schließen können. Unser Kuss von gestern kam mir in den Sinn. Ich räusperte mich. „Bis dann,“ verabschiedete ich mich von Cecilia. Rene sagte korrekterweise: „Ich lege jetzt auf. Wir sehen uns später.“ Bevor sie etwas entgegnen konnte, hatte er sein Telefon schon in seiner Jacke verstaut.

 

*

Ich marschierte hinter Roman und Pippa und belauschte ihre Unterhaltung. „Thot in der altägyptischen Geschichte ist hauptsächlich als Gott des Schreibens, der Rechenkunst und des Wissens bekannt. Er soll den Menschen die Sprache und Schrift geschenkt haben. Außerdem ist er die Schutzgottheit von Archiven und Bibliotheken, wie dem sogenannten Haus des Lebens, wo das Wissen der Ägypter aufbewahrt wurde“, erklärte die Geschichtsprofessorin unserem Auftraggeber. „Er soll Urheber allerlei Verträge, Gesetze, dem Totenbuch, bestimmten Ritualen und Zaubersprüchen sein, die selbst andere Götter nicht wussten. Soviel ich weiß, war er auch der Patron der Heiler. Durch seine große Zauberkraft sollen Thots Worte Götter, Menschen und Dinge erschaffen haben.“
Jede hinreichend fortgeschrittene Technologie ist von Magie nicht mehr zu unterscheiden. Dieses Zitat von Arthur C. Clarke kam mir bei Pippas Ausführungen in den Sinn.
Roman stand der Schweiß auf der Stirn, als er kurz hielt, um sich von Pippa seine Trinkflasche aus dem Rucksack geben zu lassen. Ich wartete geduldig bei ihnen, weil ich mich freiwillig gemeldet hatte, das Schlusslicht zu bilden.
„Oft wird Thot auch als Herr der Zeit und Rechner der Jahre genannt, als Verteidiger der Weltordnung. Was noch?“ Pippa überlegte und fuhr fort: „Er galt als Mondgott, aber auch als das Herz des Re, wobei wohl das Herz als Sitz des Verstandes gemeint war. Er wägte die Herzen der Verstorbenen und führte sie Osiris zu. Dargestellt wurde er meist mit einem Ibiskopf. Wie bedeutend er den alten Ägyptern war, erkannte man, als man in der Nekropole von Sakkara 1,5 Millionen mumifizierte Ibisse fand. In einer anderen Grabstätte waren es sogar vier Millionen. Mir wurde erzählt, die einbalsamierten Vogelmägen wurden dafür extra mit Vogelfutter gefüllt.“
Roman schnaubte erstaunt. „Da hatten jede Menge Altägypter nichts anderes zu tun, als tagaus tagein aufwendigst tote Vögel zu präparieren?“
Mein Vorstellungsvermögen erschuf fließbandartige Mumifizierungsfabriken. Sicher würden mich diese Bilder bis in meine Träume verfolgen. Im Stillen bedankte ich mich bei Roman und Pippa für den gedanklichen Ohrwurm, den mir ihre belauschte Unterhaltung bescheren würde.
„Die haben natürlich auch andere Tiere mumifiziert. Krokodile, sogar Fische, aber eben jede Menge Ibisse und Paviane, die man mit dem Gott Thot in Verbindung bringt“, erklärte Pippa weiter, während sie über einen morschen Baumstamm kletterte und sich von mir dabei helfen ließ.
Ich mischte mich in ihren Monolog ein: „Ist logisch, dass etwas wie Thoth39 im alten Ägypten wie ein Gott verehrt wurde, aber als was sollen wir ihn einstufen? Selbst für unser Verständnis zeigen seine Fähigkeiten gottähnliche Züge. Fragt sich nur, welche Opfer er von uns für seine Dienste verlangen wird?“
„Warum denkst Du überhaupt, er erwartet Opfer von uns?“ Pippa sah mich fragend an. Ihre Augen leuchteten in der Farbe des wolkenlosen Himmels.
„Vielleicht weil er behauptet, allmächtig zu sein?“, konnte ich meine Ironie nicht verhehlen.
Pippa und Roman blieben überrascht stehen und warteten auf eine Erklärung.
„Schon vergessen? Ich kenne euch Menschen besser als ihr euch selbst ...“, ahmte ich die orakelhafte Rede von Thoth39 nach. „Entweder kann er unsere Gedanken lesen, oder er ist ...“. Ich hob theatralisch beide Hände. „... allmächtig.“

 

Den Rest des Weges legten wir schweigsam zurück. Meine Einschätzung unseres kuriosen Fundes hatte Pippa und Roman offensichtlich nachdenklich gemacht. Die anderen vier hatten uns schon ein ganzes Stück abgehängt. Selbst haderte ich noch immer mit meiner so selbstsüchtig schnell getroffenen Zustimmung auf Cecilias Bitte hin, hierher zurückzukommen. Was, wen ihr dieses Ding in irgendeiner Weise schadete? Sie als Medium missbrauchte, oder weiß Gott was mit ihr anstellte? Trotzdem sehnte ich mich nach einer Internetverbindung. Es war höchste Zeit, der Frau meiner Träume weitere Liebeserklärungen zu texten. Mein Herzschlag beschleunigte sich alleine beim Gedanken daran, sie in wenigen Stunden endlich wiederzusehen. Ich malte mir das Gefühl ihrer Lippen auf meinen aus und vergaß dabei wenigstens für einige Minuten das unheimliche Artefakt in dem Höhlensystem.

 

*

Ich überflog unsere Testergebnisse, weil Rene mich dazu genötigt hatte und massierte, gequält meine Schläfen. „Deine Theorien sind mir zu hoch. Ich bin Praktiker. Mathematik ist für mich nur ein notwendiges Übel. Außerdem, warum sollen wir uns lange quälen, wenn wir morgen einfach unser persönliches Orakel zu befragen brauchen?“ Er sah mich enttäuscht an und vertiefte sich wieder in seine Berechnungen.
Vor einer Stunde hatte ich Cecilia vom Bahnhof abgeholt. Ihr Begrüßungskuss stand demjenigen in meiner Küche in nichts nach. Mit dem Unterschied, dass ich nicht wie ein Verrückter vor ihr davongerannt war. Im Gegenteil wir mussten uns zwingen, nicht die ganze Zeit wie zwei verliebte Teenager aneinander zukleben. Das war schwierig, denn jeder Kuss von Cecilia fühlte sich an, als würden wir das höchste Glück miteinander teilen.
Jetzt stand sie neben Ella am Herd und rührte in einem Topf herum. Sie trug eines meiner Hemden und hatte die Ärmel bis zu den Oberarmen hochgerollt. Ihre wunderschönen Beine steckten in einer kurz abgeschnittenen Jeans, die gerade mal so ihr dreieckiges Muttermal verbarg. Allein das Wissen um diese entzückende Stelle reichte, um mich unruhig werden zu lassen. Die Haare trug sie hochgesteckt, wie ein Staubwedel standen ihre wilden Locken in allen Richtungen ab. Sie hatte die Brille auf und der aufsteigende Dampf beschlug ein wenig die Gläser. Und ich konnte meinen Blick nicht von ihr abwenden. Sie war so atemberaubend und sexy.
Cecilia zielte mit dem Kochlöffel auf mich: „Daniel! Träumst Du?”
„Hm?” Sie hatte mich aus meinen Gedanken über sie gerissen.
„Ich habe Dich gefragt, ob Du schnell etwas frischen Oregano reinholen kannst?“
Ich war noch immer gefangen von ihrem Anblick. Diese legere Ungezwungenheit, die sie verströmte. Wie sie tadelnd mit der Zunge schnalzte und dabei den Kopf schüttelte.
Sie griff nach einem Geschirrtuch und warf es nach mir.
„Wo soll ich den bitte auftreiben?“ Ich wehrte ihren heimtückischen Angriff halbherzig ab. Stand auf und machte eine drohende Geste mit der nach mir geworfenen Waffe. Lachend sprang sie einen kleinen Satz zur Seite, um dem peitschenden Stofffetzen auszuweichen.
Wie ein Schwert streckte sie mir den tomatenroten Kochlöffel drohend entgegen. Ich leckte ihn ab.
„Daniel!“
„Ce-cil...a“, neckte ich sie grinsend. „Das ist doch schon sehr lecker.“
„Rund um die Hütte ist alles voll wildem Oregano. Das Kraut mit den lila Blüten.“
Ich bog ihr Handgelenk mit dem Kochlöffel zur Seite und vergrub meine Nase in ihrem Haaransatz.
„Zuerst der Oregano. Sonst läuft heute nichts,“ raunte sie leise, damit Ella es nicht hörte. Ihre Augen funkelten drohend.
„Du bekommst da eine Falte, du böses Weib.“ Mein Zeigefinger tippt auf die Stelle zwischen ihren Augen. Mit der anderen Hand fasste ich nach ihrem Po und drücke sie an mich. Meine Lippen küssten die faltengefährdete Stelle.
Sie presste den Mund böse zusammen und kämpfte gegen ein Grinsen an.
Dann lachten wir beide, küssten uns kichernd.
„Wirst Du nun endlich?“ Sie boxte mir leicht gegen die Schulter.
Fassungslos riss ich die Augen auf und torkelte, als hätte sie mich aus dem Gleichgewicht gebracht auf die offene Hüttentür zu. Ich sollte schleunigst dieses Kraut auftreiben, immerhin wollte ich nicht riskieren, dass sie ihre Drohung wahr werden ließ.

Weil wir auf Cecilia warten wollten, hatten wir vereinbart, uns erst nach dem Essen alle zusammenzusetzen und über unser kleines Höhlenproblem zu beraten. Peter war in der Zwischenzeit mit Alex auf irgendeinen Gipfel gestiegen. Vor wenigen Minuten sind sie zurückgekommen und standen wahrscheinlich gerade unter der Dusche. Roman und Pippa saßen auf der Holzbank vor der Hütte und unterhielten sich angeregt. Ich verscheuchte ein paar Bienen und pflückte ihnen ihr Abendessen vor der Nase weg. Die zerriebenen Blätter hatten würzig-rauchig gerochen und ich nahm daher an, das von Cecilia gewünschte Gewürz gefunden zu haben. Mit meinem kleinen Strauß Unkraut kehrte ich in die Küche zurück.
„Ihr könnt den Tisch schon frei machen, wir können in fünf Minuten essen“, bekam ich sogleich den nächsten Befehl von meiner Angebeteten. „Sorry. Ich bin das so gewohnt von Rene. Dem muss man alles anschaffen, von selbst hört er nie auf zu arbeiten.“ Offensichtlich hatte sie mein Stirnrunzeln als kleinen Tadel richtig gedeutet. „Bitte, könnt ihr den Tisch frei machen?“ Sie sah mich mit zur Seite geneigten Kopf und Kusslippen entschuldigend an.
„Wenn Du mich so fragst, mache ich alles für dich.“ Ich sammelte die verstreut auf dem Tisch liegenden Stifte, Blöcke und Notizen zusammen und gab Cecilias Befehl an Rene weiter, der noch immer angestrengt vor dem Laptop saß. „Essen!“, erklärte ich ihm kurzangebunden, als er mich entrüstet ansah, weil ich ihm den Akkustecker gezogen hatte.

 

*

„Also, wie meint ihr, sollen wir weiter mit diesem Thoth39 umgehen?“, erklärte Roman nach dem Essen unsere Diskussionsrunde für eröffnet. „Lasst uns bitte in aller Ruhe das für und wider abwägen. Ich muss euch sicher nicht daran erinnern, dass alles unter uns bleibt, was wir hier besprechen. Wir sind uns hoffentlich einig, dass wir die Öffentlichkeit vorerst außen vor lassen werden, oder?“


„Ja natürlich. Wir alle wissen, was sie mit E.T. angestellt haben“, sagte Cecilia leise. „Zuerst sollten wir uns vielleicht alle einmal näher kennenlernen“, schlug sie dann vor und sah dabei Ella und Alex an. „Jeder soll kurz erzählen, ob er an etwas glaubt und wenn, woran und ob Peters Entdeckung etwas an diesem Glauben verändert.“
Als alle zustimmend nickten, fuhr sie fort: „Ich hatte bisher keinen einzigen Moment Angst in den Tunnels. Ich kann es nicht wirklich erklären, aber dort unten ist etwas, was auf mich total friedlich wirkt.“ Sie klärte Ella und Alex über ihre esoterischen Messergebnisse auf und die beiden nahmen diese Informationen ohne erkennbares Erstaunen leicht nickend auf. „Wie ihr sicher schon mitbekommen habt, bin ich offen für Spiritualität. Ihr habt mir diesen Thoth39 als etwas Unheimliches geschildert, vor dem ihr, mehr oder weniger, davongelaufen seid.“ Uneiniges Räuspern und Kopfschütteln machte sich bei uns anderen breit. „Wenn er gerade mich als Sprachrohr benutzt hat, zeigt das vielleicht, dass er mich als Ansprechpartner gewählt hat. Ich will nur sagen, ich fürchte mich nicht davor, ihn kennenzulernen und freue mich sogar darauf.“

 

Weil ich direkt neben ihr saß, ergriff ich als Nächster das Wort: „Ich bin nicht religiös. Für mich als Physiker ist der Materialismus meine Philosophie. Nur hat uns der in den letzten Tagen, keinen Deut weitergebracht. Vielleicht sind wir die Sache zu einseitig angegangen. Unsere Messungen und Vergleiche haben nichts gebracht.“ Ich sah kurz zu Rene, der mit einem leichten Seufzen zustimmte. „Trotzdem glaube ich noch immer, dass sich die Existenz von diesem Thoth39 irgendwie erklären lässt. Nur sind wir nicht so weit es zu begreifen. Ich interessiere mich also mehr für das „warum?“, als für das „wieso?“ seines Erscheinens. Aber wer weiß, vielleicht stellt sich heraus, dass die Realität das reinste Chaos ist?“, zitierte ich abschließend Kant und rempelte Peter neben mir an, um ihm den unsichtbaren Redestab weiterzureichen.

 

Der räusperte sich: „Ich finde es auch interessant, Zusammenhänge zu erkennen und zu überschauen. Aber Chaos wird es hoffentlich nicht sein, was dieses Ding erschaffen hat. Wer will schon an einen würfelnden Gott glauben?“ Damit hatte er als erster das G-Wort in den Mund genommen. Als wäre ihm das selbst gerade klar geworden, sprach er schnell weiter: „Es hat selbst erwähnt, seine baugleichen Geschwister wären vor tausenden von Jahren in Erscheinung getreten und von den Menschen als Götter verehrt worden. Mir ist wichtig, können wir dem Ding vertrauen? Wir wissen nichts über seine Moralvorstellungen. Ich bin dafür, die Sache vorsichtig anzugehen. Lasst uns ganz unvoreingenommen herausfinden, wer dieser Vater war, der ihn geschaffen hat.“

 

Roman war als Nächster an der Reihe. „Wir sollten klare Regeln festlegen, wie weit wir gehen wollen. Ich finde, wir sollten diesem Etwas auf keinen Fall das Gefühl geben, uneins zu sein. Es fühlt sich uns jetzt schon überlegen, das wollen wir nicht weiter fördern. So verlockend die damit einhergehenden Möglichkeiten auch sein mögen, wir werden sie nicht auf Kosten der Gesundheit eines von uns ausschöpfen.“ Er sah dabei Cecilia in die Augen, die daraufhin zerknirscht die Lippen zusammenpresste.
„Ich habe mich am Nachmittag mit Pippa unterhalten und sie hat mich auf einen Aspekt gebracht, den ich jetzt mit euch allen ansprechen will: Was, wenn wir erfahren, dass es noch viele weitere Zivilisationen im Universum gibt? Wenn es kein Mensch war, der uns diesen Thoth39 hinterlassen hat, sondern irgendwelche Wesen von einem anderen Stern? Ich finde daher, wir sollten uns zuerst eher passiv verhalten. Herausfinden, was will er von uns? Will er überhaupt etwas von uns? Hat er freundliche Absichten? Wir sollten unüberlegtes Handeln auf jeden Fall vermeiden. Es soll zu keinen Konfliktsituationen kommen, solange wir nicht wissen, ob eine Gefahr von Thoth39 ausgeht.“ Roman faltete entschieden seine Hände vor sich zusammen.

 

Pippa, die das als Aufforderung verstand, sprach weiter: „Mir geht es ein wenig wie Cecilia. Ich glaube auch, der Mensch ist halb Geist und halb Materie. Viele Naturvölker rund um die Erde sind davon überzeugt. Nur bei uns modernen Menschen, ist das Gefühl für unsere spirituelle Hälfte verloren gegangen. Vielleicht entdecken wir genau jetzt, mithilfe von Thoth39, dass wir in der Lage sind, unser Dasein im Körper und unsere Öffnung in die geistige Ebene miteinander zu vereinen. Er hat mit seinen Andeutungen über unsere Bewusstheit ja schon in diese Kerbe geschlagen. Wer uns dieses Artefakt hinterlassen hat, ist für mich aber nach wie vor die spannendste Frage.“

 

Rene saß neben ihr. „Wir müssen herausfinden, ob er bereit ist, unser Wissen zu erweitern. Mich interessiert kein Hokuspokus. Die Physik stellt die Wirklichkeit in Zeit und Raum dar. Wir wissen, dass in unserer Erde etwas vorgeht, das zeigt die Magnetnadel. Wenn man davon ausgeht, dass sich dieser Magnetismus fortsetzt, vom kleinsten Sandkörnchen bis zu den Fixsternen. Dann könnte der Kosmos nichts anderes als ein riesiger Sandhaufen sein und der Erschaffer des Artefakts könnte durchaus von einer anderen Ecke stammen. Ich denke, dieser Thoth39 ist eine künstliche Intelligenz. Möglicherweise ein Quantencomputer. Und wahrscheinlich wird er eure lächerlichen Vorstellungen, von wegen Mondphasen und ähnlichem esoterischen Schwachsinn nicht einmal verstehen.“ Er meinte explizit seine Schwester und Pippa und sah sie auch in dieser Reihenfolge an. Abfällig zuckte seine linke Braue in die Höhe.

 

Ich fühlte mich aus Toleranzgründen verpflichtet, die beiden Frauen zu verteidigen: „Es ist zwar unnötig auf deine Bemerkung überhaupt einzugehen, aber du solltest schon bedenken, dass es einen Unterschied macht, ob man noch glaubt, der Mond wirkt auf die Pflanzen und Menschen. Das wäre Dummheit und Aberglauben. Aber es wieder zu glauben, zeugt von Philosophie und Nachdenken.“

 

Aufmerksam verfolgte ich, wie Alex und Ella sich mit einem Blick zu verständigen schienen. Alex, der an der Reihe war, ergriff das Wort und wandte sich direkt an Rene: „Wenn du schon gewisse esoterische Ansätze für Unsinn hältst, wird dir nicht gefallen, was Ellas und mein Spezialgebiet ist. Wir sind nämlich so etwas wie Dämonenjäger.“
Fünf Menschen holten bei seiner Bemerkung geräuschvoll Luft. Rene lachte belustigt auf. Stoisch wartete Alex darauf, bis sich die erste Aufregung gelegt hatte. Irgendetwas in seinen Augen verriet mir, dass der Kerl keinen Witz gemacht hatte.
„Quatsch“, sagte Ella. „Wir sind keine Dämonenjäger.“ Bevor sich allgemeine erleichterte Heiterkeit verbreiten konnte, sprach sie allerdings weiter: „Aber ich muss eure Illusionen zerstören. Es gibt Dämonen. Das weiß ich mit Sicherheit. Aber in diesem Wissen, kann ich ebenso behaupten, dass es auch andere Wesen gibt. Lichtwesen, die uns helfen, gegen die Dämonen anzukämpfen.“
„Also bitte, das ist doch ...“ Rene machte Anstalten aufzustehen.
„Warte!“ Ella wandte sich direkt an ihn. „Warum denkst Du, habt ihr tagelang in der Kammer gearbeitet und nichts Lohnenswertes erreicht? Und dann komme ich und ... Huuh! ... euer Ding beginnt zu sprechen?“
Wo sie recht hatte, hatte sie recht. An meiner Gänsehaut änderte diese Erkenntnis wenig.
„Du kannst Dir doch als Mathematiker vorstellen, dass es viel mehr Dimensionen gibt, als wir glauben, nicht wahr? Dann ist doch auch der Gedanke, dass es Verbindungen zwischen ihnen gibt nicht so abwegig. Alex meinte, wir versuchen seit Jahren, diese Verbindungen zur Welt der Dämonen zu zerstören. Denn glaubt mir, das wollt ihr nicht erleben, dass gewisse Portale sich öffnen und die Erde überschwemmt wird von diesen Wesen aus der Dunkelheit. Wir sind hier, weil wir vermutet hatten, es könnte sich bei eurer Entdeckung um eben so ein Portal handeln. Aber inzwischen bin ich überzeugt, dass diese Gefahr nicht besteht.“ Sie legte ihre Hand auf die von Alex. „Wir erhoffen uns von diesem Artefakt Hilfe im Kampf gegen die Mächte der Finsternis.“ Selbstsicher blickte sie in die Runde und in unsere geschockten Gesichter.

 

Cecilia - Wer bin ich?

 

 

War dieses Pärchen verrückt? Fassungslos und mit offenem Mund beobachtete ich, wie Ella nach ihrem Glas Rotwein griff, es an ihre Lippen führte, sich zurücklehnte und einen Schluck nahm. Eine ihrer perfekt gezupften Brauen rückte kurz nach oben. Mit der etwas herben Geschmacksnote des teuren Merlots hatte dieses Zucken nichts zu tun. Eher drückte die kleine Geste nachdrücklich aus, wie ernst sie ihre Worte gemeint hatte und dass sie gewappnet war für den Ansturm an Fragen, die uns allen auf der Zunge brannten. Doch in dem Gefühlschaos, das sie soeben ausgelöst hatte, fehlten offensichtlich nicht nur mir die passenden Worte. Dafür fiel mir auf, wie sich Alex Oberlippe angriffslustig kräuselte, während er sich ein Blickduell mit meinem Bruder lieferte. Niemand ließ sich gerne auf ein Streitgespräch mit jemanden wie Rene ein. Normalerweise würde ich sagen, gegen seine herablassende Art hat eh keiner eine Chance, aber in diesem Fall traf Arroganz auf Abgeklärtheit und die war in Alex Fall mit einer beachtlichen Portion Kaltblütigkeit gepaart. Ich hatte sofort gespürt, als Daniel mir die beiden vorgestellt hat, dass etwas Geheimnisvolles an ihnen haftete, doch wer konnte denn ahnen, dass Pippa uns gleich zwei Dämonenjäger anschleppte? War sie denn, im wahrsten Sinn des Wortes, von allen guten Geistern verlassen? Eher nicht. Sie wirkte selbst erschrocken. Eine Hand meiner neuen Freundin war zu ihrem Hals gewandert, an dem sich hektische rote Flecken abzeichneten und auch diese führte ich nicht auf den Genuss des vorzüglichen Weins zurück.

„Wie soll ich mir diese Portale in andere Dimensionen denn vorstellen?“ Rene war wenig erstaunlich der Erste, der seine Sprache wiedergefunden hatte. In dem Tonfall, in dem er die Frage gestellt hatte, hätte er sich ebenso gut nach dem Befinden eines unsichtbaren rosa Kaninchens erkundigen können.
„Mit einer mathematischen Formel kann ich leider nicht dienen. Quarzkristalle spielen zumeist eine große Rolle. Im Falle der Zugänge zur Unterwelt vor allem Morion, der fast schwarze Rauchquarz“, antwortete ihm Alex ungerührt und tippte mit dem Mittelfinger gelangweilt gegen den gerippten, grünen Sockel seines Weinglases. „Außerdem muss der Bereich, in dem man ihn einsetzt, ein spezielles Verhalten entlang der Extradimension zeigen. Im Normalfall sind diese Stellen markiert. Man findet sie oft nahe diverser Artefakte. Ellas Spezialgebiet. Deshalb habt ihr uns doch gerufen, oder?“ Ohne eine Antwort zu erwarten, redete er weiter: „Jedenfalls bedarf es normalerweise gewisser Rituale. Mit deren Hilfe wird ein Schwingungsmuster erzeugt, in dem der Kristall dann, wie ein Bote, sichtbare Materie mit dunkler Materie, die in der anderen Dimension lebt, verbindet.“

Ich war noch immer geschockt. Hätte Alex Chinesisch gesprochen, hätte ich genauso viel verstanden. Hilflos forschte ich in Renes Gesicht, ob bei ihm da mehr sinnvolle Informationen angekommen waren.
„Es gibt keine Beweise für dunkle Materie“, konterte er und lachte ätzend. Ich erkannte allerdings einen leisen Anflug an Zweifel in seiner Stimme.
„Du hast gesehen, wozu Gravitationswellen fähig sind, obwohl du sie nicht nachweisen konntest, oder?“ Alex verzog seelenruhig einen Mundwinkel.
Ich hörte, wie Rene tief Luft in seine Lungen sog. Er mochte es überhaupt nicht, wenn er wie ein kleiner Schuljunge behandelt wurde.
Ella räusperte sich, bevor die Lage zwischen den beiden eskalierte. „Lasst uns doch euer Artefakt dazu befragen. Es ist doch erfreulich, dass es überhaupt kommuniziert. Das ist auch für uns ganz was neues. Ich wäre nicht überrascht, wenn wir einige äußerst interessante Hinweise von ihm bekommen. Wer weiß? Vielleicht wissen wir morgen um diese Zeit schon Bahnbrechendes über die kosmologische Geschichte des Universums.“
„Ha!“ Pippa schaltete sich resigniert in ihre Überlegungen ein: „Damit wäre es endgültig besiegelt. Wir werden mit der Entdeckung niemals an die Öffentlichkeit gehen können.“

Irgendwo in meinem tiefsten Inneren verstand ich, was sie damit meinte, doch ich war noch viel zu baff, um die genauen Zusammenhänge zu kapieren. Ratlos sah ich Daniel neben mir an. Er hatte die Arme vor sich verschränkt, saß mit interessiert zur Seite geneigtem Kopf da und beobachtete das Geschehen wie einen spannenden Krimi. Die tiefe Falte zwischen seinen Augen verriet, dass er ebenso wenig wie ich wusste, wer hier Täter und wer das Opfer war.

Roman stieß ein dunkles Brummen aus. „Wenn unter den gegebenen Umständen jemand das Team verlassen möchte, kann ich das verstehen.“ Er sah uns der Reihe nach an, doch niemand reagierte auf seinen Vorschlag. Einige Atemzüge verstrichen. „Ich bin anscheinend der Einzige, der kurz diesen Wunsch verspürt hat, aber ich sehe schon, ich stehe alleine da mit meinen Bedenken.“
Pippa tätschelte matt grinsend seine auf dem Tisch liegenden Pranken. „Mitgehangen, mitgefangen, mein Lieber.“

„Also, ich fasse zusammen“, sprach unser Geldgeber, nach Klarstellung der Tatsachen, seufzend weiter, „wir werden diesen grünen Höhlengeist morgen noch einmal aktivieren. Wenn es uns gelingt.“ Er taxierte Ella für einen Moment und sie reagierte mit einem leichten Schulterzucken, als wäre das ein ganz alltäglicher Zeitvertreib für sie. „Es fragen, woher es kommt. Was es hier tut. Und ob es uns bei so einigen physikalischen und mathematischen Fragen weiterhelfen kann.“

Damit gab er uns eine verständliche Zusammenfassung für unser weiteres Vorgehen. Pippa fragte Ella etwas über eine Forschungsreise, bei der sich die beiden offensichtlich kennengelernt hatten. Die Männer starrten ihre leeren Weingläser an und ich stand auf, um ihnen nachzuschenken. Daniel holte eine neue Flasche aus dem Lager und half mir danach beim Geschirrspülen.

 

„Wir werden heute wahrscheinlich kein Auge zumachen können, oder wie siehst du das?“ Ich übergab ihm ein abgespültes Teller.
„Das will ich doch hoffen.“ Daniel studierte interessiert meinen Ausschnitt, während er es nicht gerade akribisch abtrocknete.
Ich schnippte Spülschaum in seine Richtung. „Bist du so abgebrüht?“
„Nein, nur geil.“ Er grinste wieder wie ein Lausbube und mein ganzer Körper reagierte schockierenderweise mit Verzückung.
„Wie stellst du dir das vor? Wir haben hier so in etwa gleichviel Privatsphäre wie in einem Jumbojet.“ Ich dachte an die beiden Gemeinschaftsschlaflager unter dem Dach. Das einzige normale Schlafzimmer hatte Roman für sich beschlagnahmt.
„Ich könnte dir bei einem Spaziergang den Mond zeigen ...when the moon hits your eye like a big pizza pie – that’s amore...“ Wenig beeindruckt von seinen Gesangskünsten spritzte ich ihm eine Ladung Spülwasser auf die Hose. „He! Die anderen werden glauben, ich bin zu früh gekommen.“
Ich hielt ihm verlegen mit den nassen Händen den Mund zu und drehte mich um. Niemand nahm zum Glück die geringst Notiz von uns. Sogar Rene lauschte gespannt der Geschichte, wie Pippa und Ella sich kennengelernt hatten. Schnell stellte ich mich auf die Zehenspitzen und drückte mich gegen Daniels nasse Hose. Spülen war gleich viel weniger nervig, wenn man es mit Küssen kombinierte. Auch wenn diese jetzt leicht nach Spülmittel schmeckten. Genießerisch schloss ich die Augen, als sich unsere Lippen trafen. Zugegeben, der Gedanke an Sex im Freien übte auch auf mich einen gewissen Reiz aus, aber eher würde ich mir die Zunge abbeißen, als es Daniel auf die Nase zu binden. Ich traute ihm zu, das Teller samt Geschirrtuch fallen zu lassen, um mich auf der Stelle hinter den nächsten Busch zu zerren. So leicht wollte ich es ihm dann doch nicht machen. „Willst Du nicht wissen, was unsere Dämonenjäger von diesem Gespenst in der Höhle halten?“, flüsterte ich in einer Atempause.
„Ella behauptet, es wäre kein Gespenst“, startete er einen kläglichen Versuch, mich umzustimmen, nachdem ich eine Hand gegen seine Brust stemmte. Er sah mich bettelnd an. Sein Adamsapfel bewegte sich auf und ab, als er nach einem Grund suchte, mich vor die Hütte zu locken. Beleidigt schob er seine Unterlippe vor, als ich mich von ihm löste, um zurück zu den anderen zu gehen.

 

Ella hatte wohl gehört, dass ihr Name gefallen war. Jedenfalls sah sie mich an, als ich mich wieder setzte. Alex neigte gerade seinen Kopf, um ihr etwas zuzuraunen. Sie berührte daraufhin seine auf dem Tisch liegende Hand, ohne ihn anzusehen. Die Vertrautheit, mit der sich die beiden verständigten beeindruckte etwas tief in mir. Ich wünschte mir seit Jahren sehnsüchtig ein ähnliches zärtliches Verständnis mit jemandem. Daniel war mir gefolgt, berührte sanft meine Schulter, bevor er sich neben mich setzte. Die Berührung schickte einen wohligen Schauer durch meinen Körper. Ich spürte einen Kloß im Hals und fühlte pure Glückseligkeit. Bis ich bemerkte, dass Ella mich noch immer anstarrte. Nachdem mein Blick dem ihren nervös auswich, registrierte ich, dass auch Alex Interesse an mir immens war. Seine Augen hatten sich argwöhnisch zusammengezogen und ich fasste mir unbewusst ins Gesicht. „Ist was?“ Ich sah hilfesuchend wieder zu Ella. Von Frau zu Frau konnte ich vielleicht eher erwarten, dass sie es mir sagte, falls ich womöglich verirrte Pastasauce im Gesicht hatte, doch auch sie ließ mich im Regen stehen. „Habe ich etwas verpasst?“, sagte ich und zwang mich ruhig zu bleiben.
„Sag du es uns?“ Schön langsam ging mir Alex provokantes Benehmen enorm auf den Geist.
„Hör mal, ich mag deine Art nicht. Ich weiß nicht, worüber ihr gerade getuschelt habt und wenn du etwas von mir willst, dann rede gefälligst in einem anderen Ton mit mir.“ Meine Stimme war jetzt hitzig und somit unüberhörbar geworden. Plötzlich stand ich im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit.
Wieder war es an Ella, die Wogen zu glätten. Sie gab Alex einen leichten Klaps auf den Oberarm. „Cecilia hat recht. Du solltest dich entschuldigen. Was ist bloß in dich gefahren?“
„Sie könnte beeinflusst sein. Bin ich der Einzige, dem das Sorgen bereitet?“
Wovon redete der Kerl? Fassungslos sah ich in die Runde. Die meisten wirkten ebenso verwirrt wie ich selbst.
„Beeinflusst? Was meinst du bitte?“
„In unserer Welt würden wir von Besessenheit reden. Dieses Ding hat womöglich uneingeschränkte Macht über dich.“ Jetzt machte er mir endgültig Angst.
„Gestern haben wir dich mit eigenen Augen gesehen, obwohl du ganz wo anders warst. Zumindest sah das, was wir sahen exakt so aus wie du, hatte exakt deine Stimme. Offensichtlich gab es auch schon Gelegenheit dich unter Hypnose oder dergleichen zu setzen, wie wir gehört haben.“ Er konnte nur den Vorfall in Kammer eins damit meinen.
„Du spinnst doch!“, entfuhr es mir. „Wie paranoid kann man den sein?“
„Feinstoffliche Wesen haben sehr wohl Möglichkeiten den kritischen Teil eines Bewusstseins zu umgehen“, sprang Ella ihrem Partner zur Seite. „Ganz abwegig ist der Gedanke also nicht, du könntest ein Spion dieses Thoth39 sein, ohne es selbst zu wissen. Die anderen haben dich in einem seiner Energiezentren gefunden und du warst nicht bei Bewusstsein.“
„Und jetzt wollt ihr mich mit einem silbernen Kreuz pfählen oder wie?“ Das sollte eigentlich ironisch klingen. Das leise Zittern in meiner Stimme machte aber diese Wirkung komplett zunichte.
Daniel hieb auf den Tisch, dass die Gläser wackelten und Rene sprang auf und warf dabei seinen Stuhl um.
„So jetzt beruhigt Euch alle einmal!“ Pippa übernahm wieder die Rolle der strengen Lehrerin. „Rene. Setz dich bitte.“ Mein Bruder war noch nie wegen seines Mutes hervorgestochen. Ich fand es rührend, wie er mich jetzt vor diesem schrecklichen Alex beschützen wollte. Ich zog einlenkend am Ärmel seines Hemdes, damit er sich wieder setzte. Sein Arm zuckte panisch zurück, als wären meine Finger glühende Kohlen. Erschrocken sah ich in sein Gesicht. Da wurde mir die ganze Tragweite von Alex Anschuldigungen bewusst. Mein eigener Bruder sah mich zweifelnd an! Ich versuchte mich in einem kläglichen Lachen, das in einem komischen Laut endete.
„Ihr habt doch selbst gesagt, da unten sei nichts Dämonisches!“, trat ich die Flucht nach vorne an.
„Solange wir nicht wissen, was es ist, können wir nichts ausschließen.“ Dieser Alex ging mir mittlerweile extrem auf den Geist.
„Genausogut könnte ich dasselbe von euch allen behaupten. Ihr wart alle dort. Ihr könntet genauso beeinflusst sein wie ich. Wenn nicht sogar noch mehr. Immerhin war ich nicht dabei, als ihr das Ding aufgeweckt habt.“
Daniel mischte sich ein: „Moment. Das ist doch absurd. Wir haben keine Ahnung, wovon wir reden, oder? Was dieser Thoth39 überhaupt ist? Und warum hat es gesagt, er kennt uns besser, als wir uns selbst? Was sollte das Gefasel von Bewusstheit?“
Mir hatte er auf der Fahrt zur Hütte erzählt, dieser Thoth39 hätte die Frage, ob er lebendig ist, mit ja beantwortet. Rene war hingegen überzeugt, es mit irgendeiner Art von künstlicher Intelligenz zu tun zu haben. Was dachten die anderen?
„Kann mir mal einfach jemand sagen, was das dort unten in der Höhle eurer Meinung nach ist? Rene meint, es ist eine Art Quantencomputer. Daniel hat mir aber erzählt, Thoth39 hält sich für lebendig. Ist unsere Theorie, es handelt sich um etwas Außerirdisches noch im Rennen? Ich kenne mich echt nicht mehr aus.“
„Du hast Recht. Wir sollten einmal Ordnung in unsere wilden Spekulationen bringen“, stimmte Pippa mir zu. „Nach allem was wir bisher gehört haben, halte ich unseren Fund für etwas Prähistorisches. Was nicht zwangsläufig ausschließt, dass es womöglich außerirdischen Ursprungs ist.“ Sie räusperte sich. „Ich meine, wir müssen ja nicht gleich wild über Atlantis zu spekulieren beginnen.
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Um auf Daniels Frage von vorhin einzugehen, Thoth39 hat doch seinen Bruder Thoth37 erwähnt und ihn mit dem Namen Hermes in Verbindung gebracht. Für alle die es nicht wissen, Hermes war nicht nur ein griechischer Gott, er soll zugleich der altägyptische Gott Thot beziehungsweise als Hermes Trismegistos gleich in mehreren Kulturen verehrt worden sein. Ella? Möchtest Du etwas ergänzen?“
Die Rothaarige zuckte etwas mit dem Kopf und blinzelte, als wäre sie gerade ganz woanders mit ihren Gedanken gewesen. „Du willst wissen, was ich über das Corpus Hermeticum oder die Tabula Smaragdina weiß?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, sprach sie weiter: „Es geht um nichts Geringeres als um die Entstehung der Welt, die Gestalt des Kosmos, sowie menschliche und göttliche Weisheit.“
„Also etwas Religiöses?“, erkundigte ich mich zaghaft.
„Sozusagen. Dein Freund wollte wissen, wie die Bemerkung von Thoth39 zum Bewusstsein gemeint war. Bei diesen Artefakten geht es um das Prinzip der Resonanz. Erst wer sich selbst verändert, kann seine Außenwelt verändern. Das ist die wesentliche Aussage dieses Prinzips. Es fußt auf der Vorstellung, dass Gleiches einander anzieht, während Ungleiches einander abstößt. Das Prinzip der Schwingung: Stillstand existiert nicht.“
Es freute mich, dass sie Daniel so selbstverständlich als meinen Freund bezeichnete, aber trotzdem verstand ich nur Bahnhof. „Also doch nichts Religiöses?“, formulierte ich meine Frage um.
Rene seufzte, wie ich es von ihm gewohnt war. Eigentlich rechnete ich damit, dass er Ellas Bemerkung über dieses Schwingungsprinzip aufnahm. Immerhin redete er seit Tagen von nichts anderem, doch ich hatte mich geirrt: „Trismegistos kommt aus dem Griechischen und bedeutet übersetzt: Der dreimal Größte, das heißt, der Allergrößte“, dozierte er. „Wenn du das als religiös bezeichnest... Ich würde es als esoterischen Quatsch bezeichnen.“
Ella verzog unwillig einen Mundwinkel, als würde sie mit sich ringen, ob sie weiterreden sollte. Ich nickte leicht, weil ich es gewohnt war bei manchen Dingen meinen Bruder einfach zu ignorieren. Sie sprach weiter: „In einigen sehr sehr alten Schriften über dieses Thema geht es darum, dass früher die meisten Menschen Hellsehen konnten. Bis zum Beginn des finsteren Zeitalters. Die Inder nennen es Kali Yuga oder das Zeitalter des Verfalls und Verderbens. Zumindest der ägyptische Thot soll wenigen Auserwählten gezeigt haben, wie sie auf einem bestimmten, nicht ungefährlichen Einweihungsweg, diese Fähigkeit wiederfinden konnten. Dabei ging es auch um den Zusammenhang von Mikrokosmos und Makrokosmos. Auch die damit in Verbindung stehenden Artefakte, drehen sich um dieses Thema. Sie schloß einen Moment konzentriert die Augen und begann zu zitieren: „Das was unten ist, ist wie das, was oben ist, und das was oben ist, ist wie das, was unten ist, ein ewig dauerndes Wunder des Einen.“

Beruhigt stellte ich fest, dass ich nicht die Einzige war, die bei Ellas Erklärungen ausgestiegen war. Daniel kratzte sich den Bart und Roman und Peter schienen sich verzweifelt an ihren Weingläsern festzuhalten. Rene hatte genervt seine Augäpfel nach oben gerollt und rechnete in der Zwischenzeit wahrscheinlich einen Turm im Kopf aus. Nur Pippa nickte zustimmend.
Ich fasste kurz zusammen, was bei mir hängengeblieben war. „Also der Bruder unseres Höhlengeistes war so etwas wie ein Gott. Zu was macht das dann seinen Vater? Ihr habt mir doch erzählt, so hätte er seinen Erschaffer genannt, oder?“
„Meint er etwa, wenn er von Bewusstheit redet, ihr könntet hellsehen?“, schaltete sich Daniel wieder ein.
„Das glaube ich nicht.“ Ella sah aus, als hätte sie in ein Stück Zitrone gebissen. „Ich zumindest kann nicht die Bohne hellsehen. Bewusstheit bedeutet im Allgemeinen, dass man seine Entscheidungen nicht nur aus rein rationalen Überlegungen trifft, sondern im Wissen darüber, mit allem verbunden zu sein. Wo wir wieder beim Resonanzprinzip wären.“
„Also im Gegensatz zu >Ich denke, also bin ich.<?“, ergänzte Daniel.
„Ganz genau.“
„Schwachsinn“, brachte mein Bruder wieder einmal seine Sichtweise ins Gespräch.
Alex, der unserer Unterhaltung mit gerunzelter Stirn aber stillschweigend gefolgt war, kommentierte es mit einem verächtlichen Schnauben. Wir waren also keinen Schritt weiter gekommen. Die zwei Sturköpfe scharrten schon wieder mit den Hufen.
„Also schön. Ich habe keine Lust mehr auf eure Streitereien. Daniel? Magst du ein bisschen an die frische Luft gehen mit mir?“ Er sprang so schnell auf, dass es mir ein Schmunzeln entlockte. Kopflastigkeit konnte man meinem >Freund< schon einmal nicht vorwerfen.

 

Wir gingen ein paar Schritte umschlungen auf dem Schotterweg, bis wir zu einer Stelle kamen, von der man in einen Felsgraben hinabblicken konnte. Die Nacht war klar und erfrischend kühl, beinahe schon zu kühl. Ich kuschelte mich enger an Daniel. Spürte durch mein im Wind flatterndes Shirt seinen warmen Körper und streckte wohlig seufzend meine Fingern unter sein Hemd. „Schön“, kommentierte ich die mystische Berglandschaft. Schroffe Felsen hoben sich hinter den wogenden Nadelbäumen ab. Über uns zeichnete sich deutlich erkennbar das Sternenband des Zentrums der Milchstraße ab.
„Ja. Wunderschön.“
Ich musste lachen. Seine Augen waren dunkel vor Verlangen, zumindest sollten sie das laut meinen heißgeliebten Liebesromanen sein. Tatsächlich war es zu finster, um mehr als den Umriss seines Kopfes zu erkennen. Aber er würdigte keineswegs das atemberaubende Bergpanorama, sonder sah nur mich an, so viel war mir klar.
„Wenigstens Du hältst mich nicht für besessen, oder so was. Oder?“ Skeptisch wartete ich. Ich fühlte seinen warmen Atem an meiner Wange, bevor er einige widerspenstige Locken zur Seite strich und sanft meinen Hals küsste. Verträumt wünschte ich mir, der Augenblick würde ewig dauern. „Oder reizt es dich, was mit einem Dämon anzufangen.“
„Du hast mich schon am Bahnhof verhext, also kann es nichts mit deinem Nickerchen auf dem Block zu tun haben.“ Seine Lippen wanderten bis zu meinem Schlüsselbein. Meine Beine fühlten sich weich wie Wachs an und die Gänsehaut an meinem ganzen Körper hatte nicht mehr ausschließlich mit der gesunkenen Temperatur zu tun. Endlich küsste er zärtlich meinen Mund, als hätten wir alle Zeit der Welt. Stöhnend fassten meine Hände in seine Haare und ich presste ungeduldig seinen Mund fest gegen meinen. Seine warmen Finger wanderten unter mein Shirt und lagen auf meiner nackten Taille. Mit dem Daumen kitzelte er die weiche Haut über den Rippen. „Und jetzt?“, erkundigte ich mich atemlos zwischen zwei Küssen. Die Lust nahm schön langsam überhand.
„Ist lange her, aber früher haben wir es immer auf dem Rücksitz meines Wagens getrieben.“
„Echt jetzt? Das klingt nicht gerade romantisch.“ Bequem schon gar nicht, aber die Alternative war möglicherweise ein Ameisenhaufen, wenn wir hier mitten in der Landschaft loslegten. Kichernd liefen wir zurück zu seinem Pick-up.
Ich hatte mich geirrt. Die Rückbank entpuppte sich als erfreulich bequem und die von außen verdunkelten Scheiben boten außerdem genügend Privatsphäre. Vollkommen zufrieden und erschöpft schliefen wir irgendwann sogar dort ein. Daniel hatte sich einen Pulli unter dem Kopf zusammengerollt und die Beine um mich gewickelt. Erst nachdem uns jeder einzelne Körperteil wegen der unbequemen Haltung eingeschlafen war, schlichen wir zurück in die Hütte und kuschelten uns in eine freie Ecke des Matratzenlagers.

 

Obwohl ich längst nicht ausgeschlafen war, trieb mich die Neugier früh aus den Federn. Das war untypisch für mich. Ich hielt es aber für ausgeschlossen, besessen zu sein. Keine zwölf Pferde brächten mich normalerweise dazu, so bald aufzustehen, schon gar nicht ein popeliger Dämon. Meine Aufregung lag an diesen ganzen offenen Fragen, die mich bis in meine Träume verfolgt hatten. Ich konnte es gar nicht erwarten, diesen Thoth39 mit eigenen Augen in Aktion zu erleben.
Zum dritten Mal zog ich an Daniels Decke um ihn ebenfalls zum Aufstehen zu animieren. Er war der Einzige, der noch selig schlummerte. Die anderen saßen längst beim Frühstück. Der Arme hatte sich ganz schön verausgabt letzte Nacht. Im Halbschlaf knurrte er mich im Kampf um die Decke an. „Wenn du was essen willst, solltest du bald aufstehen, sonst gehen wir ohne dich“, hauchte ich ihm ins Ohr um ihm anschließend mit einem lauten Schmatz auf selbiges endgültig aufzuwecken. Er sah süß aus mit seinen verstrubbelten Haaren und den verschlafenen Augen. Ich knuddelte ihn etwas und nahm ihm bei dieser Gelegenheit endgültig die Decke weg, damit er nicht wieder einschlief, während ich ins Bad ging. Als ich am zweiten Schlafraum vorbeikam, sah ich, wie Alex gerade verschiedene zusätzliche Ausrüstungsgegenstände wie eine Videokamera, ein Aufnahmegerät und diverse andere Messgeräte in seinem Rucksack verstaute. Schnell ging ich weiter. Ich wollte gar nicht wissen, was er sonst noch alles eingepackt hatte. Wenn das Pärchen Dämonen jagte, hatten sie womöglich irgendwelche Waffen dabei. Es lag nicht an dieser Ungewissheit, aber mein nervöser Magen trieb mich schon das zweite Mal auf die Toilette. Alex hatte ganze Arbeit geleistet, mit seiner Anschuldigung, ich könnte von irgendwas besessen sein.

 

*

Als wir eine halbe Stunde später im Gänsemarsch durch den Wald wanderten, ging ausgerechnet Ella knapp hinter mir. „Tut mir leid, wenn wir dir gestern einen Schreck eingejagt haben. Das war nicht unsere Absicht. Du bist so schnell verschwunden, dass wir gar nicht mehr darüber sprechen konnten.“
Das waren ja ganz andere Töne. Ich drehte mich kurz zu ihr um und sagte: „Schon gut. Ich bin wirklich nicht besessen. Hoffe ich.“
Sie lachte. „Es ist nur, jemand wie du, bringt alle wichtigen Voraussetzungen mit, eine gute Verbindung zu gewissen Wesen aufzubauen.“
„Jemand wie ich? Was soll das denn schon wieder heißen?“
„Ist nicht bös gemeint. Wir kennen uns ja noch nicht gut, aber ich glaube, du bist ein aufrichtiger, ehrlicher und wahrheitsliebender Mensch. Zumindest Naturgeister mögen das. Passiert es dir öfters, dass es plötzlich Blüten regnet, wenn du spazieren gehst, oder etwas besonders gut riecht? Etwas dich dazu treibt, dich umzudrehen?“
Ich dachte kurz an die unzähligen Steine und Blumen, die ich bei meinen Spaziergängen immer wieder fand und mit nach Hause nehmen musste, weil sie sich mir praktisch an den Hals geworfen hatten. „Da könnte was dran sein. Ich habe auch in der Höhle schon immer das Gefühl gehabt, das da was wäre.“
„Ich weiß, Pippa hat mir davon erzählt. Ich hatte gestern auch nicht den Eindruck, dass uns das Ding etwas Schlechtes will. Aber man kann bei übernatürlichen Phänomenen einfach nicht vorsichtig genug sein. Wir Menschen sind dem vielleicht nicht gewachsen.“
„Wie seid ihr überhaupt auf die Idee gekommen, Geister zu jagen?“
Ich hörte Ella tief Luft holen. „Du. Lange Geschichte kurz erzählt. Dämonen haben mich entführt, Alex hat mich befreit. Seither ist das so. Besser du fragst nicht nach, ich könnte dir nicht versprechen, dass die lange Version keine Alpträume hinterlässt.“
„Ich habe so schon nicht besonders gut geschlafen“, gestand ich ihr.
„Wir waren gestern alle ziemlich aufgeregt. Glaub mir, mir ging es genauso.“
Eigentlich war Ella ja ganz nett. Zumindest solange Alex nicht in der Nähe war. Er ging ganz vorne bei Peter und Rene. Daniel passte wieder auf, dass niemand verloren ging und war mit Roman und Pippa zurückgefallen.
„Wie habt ihr euch kennengelernt? Du und Alex?“ Ich konnte nichts dafür, ich war halt ein unglaublich neugieriger Mensch.
„Das war genau an dem Tag, als er mich befreit hat. Mein Bruder war sein damaliger Chef. Er hat ihn gebeten nach mir und meiner Familie zu sehen, weil er uns nicht erreichen konnte.“
„Deine Familie?“ Ella hatte das Wort etwas gepresst ausgesprochen, was mich sofort hellhörig gemacht hatte.
„Wir hatten zwei kleine Kinder.“ Jetzt klang sie endgültig so, als hätte sie das Gespräch mit mir am liebsten nie begonnen.
Ich blieb stehen und drehte mich zu ihr um. Forschend sah ich ihr ins Gesicht. Man musste kein Hellseher sein, um die Traurigkeit in ihren Augen lesen zu können. „Was ist passiert?“
„Sie sind tot. Mein Mann, meine Kinder und viele andere liebgewordene Menschen. Ich sagte doch, es ist keine schöne Geschichte. Bitte lassen wir das Thema. Ja?“
„Tut mir leid. Ich wollte keine schlimmen Erinnerungen wecken.“
„Ich weiß. Alles gut. Ich hatte meine Rache und habe mit der Vergangenheit eigentlich längst abgeschlossen.“
Wow! Was für eine starke Frau. Man sollte sich nie zu schnell ein falsches Bild von jemanden machen, ohne seine Geschichte zu kennen. Cecilia, da hast du wieder einmal was fürs Leben gelernt, trichterte ich mir selbst ein. Schweigend setzten wir unseren Weg eine Weile fort. Ich war froh, dass Pippa die zwei aufgetrieben hatte.

 

„Wenn dieser Thoth39 wirklich so eine Art allwissender Supercomputer ist. Gibt es da etwas, das du ihn gerne fragen würdest?“, fragte ich Ella bei einer kurzen Trinkpause.
„Ich wüsste, glaube ich, gar nicht, was ich gerne als Erstes wissen möchte, da gibt es so vieles.“
Ich hakte mit vom Trinken aufgeblasenem Mund und einem fragenden Augenaufschlag nach.
Sie lachte. „Hm. Lass mich überlegen. Ich interessiere mich schon sehr lange für Tarot. Es soll ja auf das Buch des Thoth zurückgehen. Bei den Ägyptern bestand es angeblich aus 78 Karten, die die Weltengeheimnisse enthalten sollten. Priester verstanden sich darauf, diese 78 Kartenblättern zu lesen. Scheinbar enthielten sie sämtliche Weltgeschehnisse vom Anfang bis zum Ende, wenn man sie in der richtigen Reihenfolge verband und zusammensetzte. Das Leben in Bildern. Wie es vergeht und wieder aufkeimt zu neuem Leben.“
„Also kannst du doch hellsehen? Muss man nicht hellsichtig sein um Tarotkarten zu lesen?“ Ich hatte mir selbst einmal einen Satz Tarotkarten gekauft, alleine weil mir die Bilder so gut gefallen hatten. Aber ich hatte null Ahnung, was man damit alles anstellen konnte.
„Ich bin nicht hellsichtig. Ich mache es nur schon ziemlich lange und habe gelernt, die Karten auf meine eigene Art intuitiv zu interpretieren.
„Ich gehe bei meinen Feng Shui Beratungen nicht anders vor“, gestand ich ihr. „Echt? Das würdest du als Erstes fragen?“
„Warum? Würde dich das Geheimnis des Lebens nicht interessieren?“
„Hm, wenn du es so formulierst schon. Natürlich. Ich dachte, du wolltest dir von dem Ding nur die Karten legen lassen, oder so. Meinst du, du bekommst eine Antwort?“
„Ich habe keine Ahnung. Wer weiß, vielleicht ist unserem kleinen Menschengehirn die Wahrheit gar nicht zumutbar. Was würdest du fragen?“
„Na ja. Ich wüsste gerne, wo meine Eltern sind. Ob es ihnen gut geht. Falls er das überhaupt weiß. Ich meine, er müsste schon einen ziemlich guten Draht zu Gott haben, wenn er das wüsste, oder? Sie sind tot“, ergänzte ich vorsichtshalber.
„Sein Bruder war Hermes, der Götterbote. Ich würde sagen, so schlecht stehen die Chancen möglicherweise gar nicht, dass du deine Antworten bekommst.“ Ella zwinkerte mir zu. „Lassen wir uns überraschen.“

 

Alex - Das Siegel

 

Ungeduldig versuchte ich an Peter vorbei, einen Pfad zu erkennen. Ich wollte, wir kämen endlich an die Stelle, die den Eingang zu den unterirdischen Gängen markierte. Bildete ich mir nur ein, die Strecke wäre gestern kürzer gewesen? Das konnte fast nicht sein. Der Mann vor mir lief beinahe. Er schien den Weg, mit all seinen versteckt angebrachten Markierungen schon im Schlaf zu finden. Ob es daran lag, dass ich ihn antrieb, weil ich ihm regelrecht an den Fersen klebte, oder ob er selbst ähnlich empfand? Doktor Martin, Rene, alle hier nannten sich beim Vornamen, folgte uns, ohne sich zu beklagen. Der Wald lichtete sich, je höher wir kamen und der Untergrund war nicht mehr mit gefährlichen Stolperfallen aus unter Laub bedeckten Wurzeln gespickt. Wir erhöhten das Tempo. Wurden wir vielleicht wirklich alle beeinflusst?

„Warum rennen wir eigentlich?“, versuchte ich, die zwei Männer an meiner Seite auszuhorchen, wie sie diese Hektik empfanden.

„Ein bisschen Morgensport hat noch niemandem geschadet.“ Peter wirkte nicht, als wäre er am Limit. „Die anderen haben wir sowieso längst abgehängt.“

„Das ist also kein Wettrennen, wer als erstes seine Hand auf diesen glatten Stein legt?“ Ich hatte kurz mit diesem Gedanken gespielt.

„Was? Natürlich nicht. Wir warten vor dem Zugang zusammen. Wir sind ein Team. Keine unabgesprochenen Alleingänge.“

„Korrekt.“ Rene stimmte Peters bestimmender Anweisung keuchend zu. Er wirkte zwar fit, hatte aber wohl seine Schwierigkeiten mit dem Gelände, immer wieder musste er mit den Armen rudern um im Gleichgewicht zu bleiben.

„Keine Ahnung, was heute auf uns zu kommt, aber gemeinsam richten wir sicher mehr aus.“ Ich beneidete Peter kurz für seine Naivität. Wir würden Staub aufwirbeln, sehr viel Staub.

„Ihr habt also nicht einmal daran gedacht?“ Fühlte wirklich nur ich diesen Sog, der mich so ungeduldig machte?

„Ich lasse euch gerne den Vortritt. Bin nicht gerade erpicht darauf, als erster dieses Ding anzuknipsen, oder was auch immer.“ Das erstaunte mich jetzt doch etwas. Dieser Verrückte, der wegen eines Werbespots für Pegasus mit einem Snowboard an den Füßen aus einem Flugzeug gesprungen war um ohne Fallschirm, dafür mit selbstgebastelten Flügeln, die Streif hinunterzusausen, zeigte Furcht?

„Ich frage mich“, japste Rene außer Atem, „ob es wirklich nur die Berührung dieser Stelle war. Wenn es so großartig ist, wofür wir alle es halten, müsste es sich doch selbst aktivieren können.“

„Du meinst, es spielt mit gezinkten Karten?“ An der Überlegung des Mathematikers konnte durchaus was dran sein.

„Es passt einfach nicht zusammen. Wenn es inaktiv war, wie konnte es dann soviel über uns wissen? Und, wir haben noch immer keine Ahnung, was mit meiner Schwester wirklich passiert ist.“

Renes Worte deckten sich mit meinem eigenen Misstrauen. Ich hielt auch nichts von körperlosen Wesen, die jede beliebige Gestalt annehmen konnten, indem sie Pseudokörper projizierten. Ich wusste aus erster Hand, dass das auf Dauer nicht funktionierte und sie deshalb, meist schöne Menschen wie Ella raubten, und ihnen ihre DNA injizierten, um unsterblich zu bleiben. Zumindest war es bei den Dämonen, die ich kennengelernt hatte, so.

 

Wir kletterten endlich eine letzte Böschung hoch und erreichten den Biwakplatz.

Rene wischte sich Schweißtropfen von der Stirn und Peter begann damit, den Generator aufzutanken.

Ich holte das EMF-Messgerät und die Infrarotkamera aus dem Rucksack und zerknüllte die Dose Pegasus, die ich mir nach diesem Geländelauf gegönnt hatte. Genüsslich rülpste ich die überschüssige Kohlensäure hoch und sah, wie der Professor, wie ich ihn heimlich getauft hatte, angewidert die Nase rümpfte.

Nachdem er seinen Ekel überwunden hatte, erkundigte er sich zweifelnd nach meinem Equipment. Ich erklärte ihm die Funktionsweise und wie man die gewonnenen Daten für gewöhnlich interpretierte.

„Was versprichst du dir davon? Ihr habt doch selbst behauptet, es wäre nichts Übernatürliches.“

„Falsch mein Freund, wir haben gesagt, es sei nichts Dämonisches, aber übernatürlich ist es für mich solange, bis ich weiß, womit wir es genau zu tun haben. Technik, egal wie weit fortgeschritten, wenn Pippa mit ihrer Alien-Theorie recht haben sollte, kann unmöglich über eine so lange Zeitspanne funktionsfähig bleiben. Oder siehst du das anders?“

Rene starrte mich mit großen Augen an und stammelte: „Nun ja, ...“ Als ihm dämmerte, dass er nichts fand, um meine Argumente zu entkräften, offenbarten sich besorgte Falten auf seiner Stirn. „Wie kann man sich gegen ... übernatürliche ... Angriffe schützen? Ich nehme an, eure Arbeit ist nicht immer ungefährlich. Habt ihr spezielle Waffen, mit denen ihr euch wehrt?“ Sein Blick wanderte neugierig zu meinem geöffneten Trecking-Rucksack.

Ich grinste listig und sagte trocken: „Klar doch, ohne meine Silberkugel-Munition und das Fläschchen Weihwasser gehe ich gar nicht erst aus dem Haus. Was denkst du denn?“

Er starrte mich entgeistert an. Und ich konnte das Lachen nicht länger unterdrücken: „Alter! Du solltest dein Gesicht sehen. Hätte nicht gedacht, dass jemand wie du an Kindergarten-Voodoo glaubt.“ Es war immer wieder ein Genuss, humorbefreite Menschen mit kleinen Geisteranekdoten zu erschrecken.

Ella und Cecilia kamen gerade rechtzeitig, um mein hämisches Lachen mitzubekommen.

„Alex!“, fasste ich sogleich einen Tadel meiner besseren Hälfte aus. In ihrem Blick erkannte ich aber Verständnis für meinen Galgenhumor.

Cecilia erkundigte sich neugierig, wovon wir gesprochen hatten und ich hörte eine eingeschnappte Bemerkung Renes, von wegen ich hätte nicht alle Tassen im Schrank. Er hatte französisch gesprochen und dachte wohl, ich könnte ihn nicht verstehen. Wütend stampfte er davon um Peter zu helfen, der diverse Ausrüstungsgegenstände aus einer Box räumte.

Ella kam auf mich zu und raunte leise: „Hauptsache du hattest deinen Spaß. Ich frage mich wirklich, ob aus dir mal so was wie ein netter Kerl werden kann?“ Sie kniff mir in den Po und ruinierte sich dabei hoffentlich ihre Fingernägel.

Ich sagte: „Wieso nett? Nett ist doch die kleine Schwester von Scheiße, oder?“

„Immer noch der gleiche Barbar wie vor tausendvierhundert Jahren.“ Nur ich konnte diese Bemerkung hören.

„Immer derselbe Anschiss, seit tausendvierhundert Jahren“, zahlte ich es ihr umgehend zurück, bevor sie sich zu den anderen gesellte, nicht ohne mir einen süffisanten Kussmund über die Schulter zu schicken.

Sich so lange zu kennen wie Ella und ich hatte seine Vor- und Nachteile. Wir wussten haargenau, wie der andere tickt, ob es uns gefiel oder nicht.

 

Als der Rest unserer Runde eintrudelte, warteten wir übrigen längst ungeduldig mit den Stirnlampen auf dem Kopf. Ich wollte endlich da hinunter. Ins Tunnelsystem.

Wieder ließ ich wohl oder übel Peter den Vortritt. Eigentlich brauchten wir nur dem Stromkabel zu folgen, doch es gab noch so viel anderes zu entdecken, dem ich gestern gar keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Das gewundene Labyrinth, verwirrte mit zahlreichen Abzweigungen. In einigen der Gänge spiegelte sich Wasser. Was geschähe wohl, wenn ein Gewitter aufzog, während wir hier drinnen waren? Vielen Höhlenforschern war so ein Szenario bereits zur tödlichen Falle geworden. Andererseits wirkte der gestampfte Boden, auf dem wir gingen, nicht, als stünde er von Zeit zu Zeit unter Wasser.

Ich hielt das EMF in der Hand. Ohne jeden Zweifel gab es hier ungewöhnliche Energiefelder. Eigentlich hielt ich diese gesamte Höhle für ein atmosphärisches Energiesystem. Ella hinter mir knipste mit ihrer Kamera immer wieder in die abzweigenden Gänge hinein.

 

Während wir in Kammer eins auf die anderen warteten, zeigte sie mir einige der Aufnahmen. Ich sah unzählige Lichtreflexionen in verschiedenen Größen.

„Was denkst du?“, fragte mich Ella, obwohl sie genauso gut wie ich wusste, was das zu bedeuten hatte. Ich antwortete deshalb nur mit einem wissenden Schnauben.

Vor sehr langer Zeit schon hatte ich mich von dem Gedanken verabschiedet, es gäbe nur die Dinge, die man mit bloßem Auge sehen konnte. Die meisten Menschen waren gefangen in einem bestimmten Weltbild und mauerten sich in dessen Grenzen ein. Doch ich wusste, es gab unsichtbare Wesen. Hier erschienen sie wie schwach beleuchtete runde Kugeln, die in der Luft trieben, wie Leuchtquallen in der Tiefsee. Meine, an  irdische Eindrücke gewohnte Wahrnehmung, versuchte automatisch, eine Verbildlichung zu kreieren, die mein bewusstes Denken überlagerte. Hier gab es Tausende dieser Höhlenquallen. Wenn diese Wesen dämonische Tendenzen entwickeln sollten, waren wir am Arsch.

 

Roman nickte uns auffordernd zu. Wie ich, wollte er es schleunigst hinter sich bringen. Wir machten uns also sofort auf den Weg zu Kammer drei.

 

Die Aufregung hatte uns vorangetrieben und ich meinte die schnellen Pulsschläge an den Hälsen der anderen zu sehen, die ich selbst bei mir fühlte. Tief atmend stellten wir uns im Kreis auf. Die Blicke der meisten irrten an der unregelmäßigen Innenwand der Kammer umher, als würden sie nach versteckten Projektoren suchen. Ich hielt die Infrarotkamera bereit und ließ Ella nicht aus den Augen. Sie war an die Stelle getreten, von der aus sie zuletzt diesen Thoth39 aktiviert hatte. Wieder kam mir in den Sinn, ob es dieser Berührung letztendlich überhaupt bedarf, doch ich hielt mich zurück.

„Soll ich?“ Ella sah fragend in die Runde, als würde es einen Zweifel geben, wie es weitergehen sollte.

Noch bevor sich ihre Hand auf den bestimmten Punkt senkte, manifestierte sich das bereits bekannte grüne Lichtwesen. Somit war Renes Frage, ob es der Berührung überhaupt bedurfte, geklärt.

„Du hast auf uns gewartet?“ Es war eine rhetorische Frage, die mir misstrauisch herausgerutscht war. Ella sah mich strafend an.

Ungerührt formierte sich das unregelmäßige Leuchten wie schon gestern, zu einer menschlichen Gestalt. Abermals nahm es Cecilias Form an. Dachte ich zumindest.

Ich war mit meinem Zweifel nicht alleine. „Das ist nicht Cecilia.“ Diese stockend gehauchte Feststellung Renes hing wie eine Frage in der Luft.

Überrascht sah ich zwischen der Projektion und Cecilia hin und her. Die echte Cecilia trug wie wir alle eine Softshelljacke mit dem Pegasus-Emblem und eine Outdoorhose. Dieselbe, die das gestrige Holo von ihr anhatte. Heute trug die lächelnde grüne Frau ein kunstvoll gebundenes Kopftuch. Im Nacken war das lange, geflochtene Haar zu einem auffällig verzierten Knoten gewunden. Große runde Ohrringe baumelten fast bis auf die nackten Schultern, die die sommerliche Bluse frei ließ. Ein gerüschter Rock vervollständigte den Eindruck einer kreolischen Schönheit.

Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, wie Cecilia nach Renes Hand griff.

„MEINE KINDER.“ Der Blick der exotischen Frau war gespenstisch auf das Geschwisterpaar gerichtet. Die liebevoll gesprochenen Worte verbreiteten eine harmonische Atmosphäre in der beengten Kammer.

Im Innersten spürte ich, dass hier gerade etwas Besonderes geschah, noch ehe Cecilias gestammeltes „Momie?“, meinen Verdacht bestätigte. Was ging hier vor? War das dieser Thoth39 oder ein echter Geist? Obwohl ich es nicht wusste, verriet mir das Glitzern von Tränen in Cecilias Gesicht, dass die Mutter der beiden wohl verstorben war. Rene starrte die Erscheinung mit aufgerissenen Augen an.

„ICH BIN VOLLER FREUDE.“ Der Satz drang nicht nur akustisch in meinen Kopf. Es fühlte sich an, als hätte jemand eine harmonische Vibration ausgelöst, die mir durch Mark und Bein fuhr. „MAN HAT MICH GESCHICKT, UM EUCH ZU VERSICHERN, DASS IHR EUCH NICHT ÄNGSTIGEN SOLLT.“ Der Geist vor uns richtete seine Aufmerksamkeit jetzt auch auf uns andere. „GROSSE AUFGABEN WARTEN AUF EUCH. IHR WURDET GEPRÜFT UND AUSERWÄHLT. DURCH DIE RITTERSCHAFT DES LICHTS. JEDER EINZELNE VON EUCH IST DAZU BESTIMMT, DIE BOTSCHAFT DER RITTERSCHAFT, DIE VOR SO LANGER ZEIT FÜR DIESEN TAG, AN DIESEM ORT, GEHORTET WURDE, ZU EMPFANGEN.“ Die Frau lächelte wieder ihren Kindern zu und streckte beide Arme in ihre Richtung aus. Zaghaft hob zuerst Cecilia eine Hand und bewegte sie auf die nach oben weisende Handfläche der Vision zu. Rene focht sichtlich einen inneren Kampf mit seiner Ratio aus, doch schließlich folgte er dem Beispiel seiner Schwester. Etwas Unerklärliches geschah. Man konnte ein Geistwesen nicht berühren und doch fand hier ein Kontakt statt. Ich sah, wie sich Cecilias Mund erstaunt öffnete. Etwas wie ein Funkenregen wurde zwischen den Fingern der Erscheinung und den Geschwistern ausgetauscht.

„DIESES SIEGEL WIRD AN EUCH HAFTEN. EUCH LEGITIMIEREN.“ Die Worte untermauerten, was wir alle soeben beobachten konnten.

„MEINE LIEBE WIRD EUCH FÜR IMMER BEGLEITEN. LEBT WOHL, MEINE KINDER.“ Das Hologramm erlosch und ließ uns sprachlos zurück.

Cecilia hatte sich weinend in Daniels Arme geworfen. Rene betrachtete unsicher seine Hand. Ich stand neben ihm und klopfte ihm vorsichtig auf die Schulter. „Hey Mann. Alles in Ordnung? Wie fühlst du dich? Spürst du irgendwelche Superkräfte?“

Ella und Pippa bemühten sich gemeinsam mit Daniel um die in Tränen aufgelöste Cecilia.

„War das wirklich meine Mutter?“ Sie hatte sich bittend an Ella gewandt, um sich das Erlebte von ihr bestätigen zu lassen.

„Ich weiß es nicht. Ich habe Derartiges noch nie zuvor gesehen.“ Es stimmte. Wir hatten schon viel erlebt, aber ein leibhaftiger Geist eines Verstorbenen, war noch nicht dabei gewesen.

„Also gut Thoth, alter Kumpel, ich finde, du schuldest uns eine Erklärung!“, rief ich in den Raum. „Du hast es gehört. Cecilia und Rene möchten gerne wissen, ob sie tatsächlich ihrer Mutter gegenübergestanden sind.“ Ich hatte normalerweise einen Mordsrespekt vor Dämonen jeglicher Art, aber dieser seltsame Flaschengeist ohne Flasche, ging mir allmählich auf die Nerven. Was spielte er für ein makabres Spiel mit uns?

Ellas erwartete Maßregelung blieb aus. Sicher dachte sie ähnlich wie ich. Immerhin hatten wir gestern vereinbart, das Gespräch mit diesem Thoth39 zu suchen. Wir hatten Fragen. Doch statt Antworten gingen nur seltsame Dinge vor sich, die noch mehr Fragen aufwarfen, als wir ohnehin zusammengetragen hatten.

Alle blickten erwartungsvoll herum, doch unser Dschinn hielt sich bedeckt. Ich stieß ein verächtliches Lachen aus. „Ich weiß genau, du kannst uns hören. Du hattest wohl nicht viel Spaß hier drinnen in den letzten fünf- sechstausend Jahren? Wir sind aber nicht hier, um zu scherzen.“

Cecilia hatte sich wieder einigermaßen beruhigt und ich hörte, wie sie aufgeregt mit ihrem Bruder flüsterte. Er schien skeptisch zu sein, was die Projektion anging. „Ich bin ganz sicher“, entkräftete Cecilia seinen Zweifel. „Du warst noch zu klein, aber das war unsere Momie“, behauptete sie steif und fest.

Ich sah mich um. Pippa wirkte geschockt. Roman und Peter unterhielten sich leise. Daniel erwiderte meinen festen Blick und lauschte sichtlich ebenso gespannt wie ich, ob sich Thoth39 von mir zu einer Antwort überreden ließ. Ella stand wieder am selben Platz, wie zuvor. Ich nickte ihr zu, als sie herübersah. Langsam hob sie die Hand, um sie auf diesen wie abgeschmirgelt wirkenden Fels zu legen. Wir hatten selbst gesehen, dass es keiner Berührung bedurfte, aber einen Versuch war es wert. Ich stellte mich neben sie und auch Daniel und die Geschwister Martin waren mir gefolgt. Ellas Hand tastete über die Fläche, aber nichts geschah.

„Lass es mich versuchen.“ Cecilia drängte Ella zur Seite. „Wenn Rene und ich tatsächlich legitimiert wurden, wartet er vielleicht auf einen von uns.“

Ella machte bereitwillig Platz und hob in einer einladenden Geste beide Handflächen.

Cecilia ließ die ihre einige Sekunden über der Stelle schweben. Dann senkte sich Ihre Hand entschlossen auf den Stein. Sofort sahen wir, dass ihr Versuch Wirkung zeigte. Wieder wurde der Raum in helles Grün getaucht und eine Gestalt tauchte in unserer Mitte auf. Es war dieses Mal niemand, den wir kannten, soviel war sicher. Obwohl Thoth39 wieder eine menschliche Form annahm, erkannte ich sofort, dass der Schein trog. Gut, die Vision hatte Hände und Beine. Einen Kopf. Aber da endete auch schon die Ähnlichkeit zu einem Menschen. Thoths kahler, breiter Schädel saß auf einem halslosen Körper und wies am Scheitel eine herzförmige Kerbe auf. Riesige hervorstehende, mandelförmige und schillernde Pupillen nahmen beinahe die Hälfte des Gesichts ein. Der lippen- und zahnlose Mund war leicht geöffnet und eine gespaltene Zunge züngelte daraus hervor. Eine Nase sah ich nicht, nur zwei kleine Atemlöcher. Die Gestalt trug eine Art Toga, die den Großteil des restlichen Körpers verbarg und hielt die Hände mit krallenartigen Fingern vor der Brust verschränkt. Im Grunde sah er aus, wie eine Mischung aus Meister Yoda und einem Gargoyle, wie man sie von den Fassaden gotischer Kirchen kannte. Nur ohne Yodas lustiger Ohren. Nichts was einem wie mir Angst einjagen könnte. Ich fühlte dennoch, wie sich mein Puls erhöhte.

„ICH FREUE MICH, EUCH WIEDERZUSEHEN. ABER ICH MERKE, DASS EUCH MEINE WÄCHTERGESTALT ERSCHRECKT.“ Die Lichtpartikel gerieten wieder in Bewegung und das Wesen nahm eine andere Form an. Es sah nun aus, wie ein aufrecht stehender Löwe mit Eulenkopf, was nur unwesentlich weniger skurril wirkte. Noch dazu, wo sich nun der scharfe, gekrümmte Schnabel bewegte: „SICHER SEID IHR BEGIERIG ZU ERFAHREN, WAS ES MIT DER ANGEKÜNDIGTEN BOTSCHAFT AUF SICH HAT.“

Dieser Cocktail an irren Gestaltwandlungen und unnötiger Verzögerung, brachte mich zum Auflachen.

„ICH HATTE WIRKLICH NICHT VIEL SPASS IN LETZTER ZEIT. DESHALB WILL ICH NUR UNGERN DEINE HEITERKEIT TRÜBEN, ABER DER MENSCHHEIT DROHT GROSSES UNHEIL. DAS IST DER GRUND, WARUM IHR HIER SEID.

Seine Bemerkung ließ mich schlucken. Also doch. Ella hatte uns, kaum dass ich mich mit meinem neuen Leben angefreundet hatte, wieder an den Rande des Abgrunds manövriert.

„ICH BEOBACHTE DIE ENTWICKLUNG SEIT GERAUMER ZEIT. DER LAUF DER GESCHEHNISSE, LÄSST SICH NICHT AUFHALTEN. DIE KOSMISCHEN FREQUENZEN WERDEN SCHNELLER. ZU VIELE MENSCHEN RICHTEN IHREN FOKUS AUF DIE FALSCHEN DINGE UND SCHWEBEN IN GEFAHR. DIE DÄMONEN DER FINSTERNIS WITTERN IHRE LETZTE CHANCE UND WERDEN SICH DAS ZU NUTZE MACHEN. SIE PLANEN EINE NEUE WELTORDNUNG FÜR DEN PLANETEN, BEVOR IHRE WELT ZU WEIT ABDRIFTET. SIE WERDEN SICH ZUSAMMENROTTEN, UM ÜBER EUREN PLANETEN EINEN NEUERLICHEN ANGRIFF AUF DIE SPHÄRE DER RITTERSCHAFT ZU WAGEN.“

Das sonderbare Eulen-Löwe-Wesen machte eine Pause, wohl damit seine ungenauen Prophezeiungen in unsere Köpfe sickern konnten. Ella nutzte sie für eine Zwischenfrage: „Woher nimmst du dieses Wissen?“

Die Frage war berechtigt. Wie weit reichte sein Einflussbereich? Kommunizierte er einfach so mit Welten in anderen Dimensionen? Und was meinte er mit kosmischen Frequenzen? Ich sah mich um. Der Professor wirkte genauso ratlos wie ich. Daniel verzog nachdenklich den Mund.

„DIE INFORMATIONEN ERREICHEN MICH AUS UNIVERSELLEN QUELLEN. DER LAUF DER WELT IST EIN NATURGESETZ. NIEMAND KANN IHN AUFHALTEN, ABER IHR KÖNNT EUCH AUF DIE BEDROHUNGEN VORBEREITEN.“ Er sah Ella fest in die Augen. „DU KENNST DIE GEFAHR, VON DER ICH SPRECHE. DU MUSST DEIN POTENZIAL AUSSCHÖPFEN.“ Jetzt wandte er sich an mich. „DEINE INKARNATION HAT DIR ALLES MITGEGEBEN, WAS VON NÖTEN IST. UND IHR BEKOMMT HILFE.“ Das Eulenwesen drehte sich um und fixierte Peter, der unbehaglich die Schultern bewegte. „AUCH FÜR DICH IST ES NUN AN DER ZEIT, DEINER BESTIMMUNG ZU FOLGEN. IHR MÜSST AKTIV WERDEN.“

Peter taumelte einige Schritte zurück, bis ihn die felsige Wand der Kammer aufhielt. Er sah aus, als hätte er einen Geist gesehen. Was ja auch stimmte, aber was genau ließ ihn, gerade jetzt, so schockiert reagieren? Steckte er mit diesem Thoth unter einer Decke? Immerhin war er dafür verantwortlich, dass wir alle hier standen.

Thoth39 sprach weiter: „DU MUSST NUN DEINER INTUITION VERTRAUEN.“

Cecilia fragte zaghaft: „Von welcher Bedrohung sprichst du? Geht es um den Klimawandel?“ Ich wusste, es wäre zu schön, um wahr zu sein, wenn das Problem so einfach wäre. Im kleinen Finger spürte ich, dass es um eine ganz andere Dimension von Gefahr ging.“

„DER KLIMAWANDEL, WIE DU ES NENNST, IST EIN GANZ NORMALES EREIGNIS. EURE SONNE BEFINDET SICH AUF EINER GROSSEN ZYKLISCHEN REISE. DADURCH KOMMT ES IMMER WIEDER ZU NEUEN TRANSFORMATIONEN EURES PLANETEN UND SEINER BEWOHNER. ABER NATÜRLICH SIND ALLE INDUSTRIELLEN VERSCHMUTZUNGEN DER ATMOSPHÄRE NEGATIV ZU BEWERTEN.“

„Wow. Wow. Warte! Was genau meinst du, mit Transformationen?“ Dieses Wort wirkte in der Wortkombination, die Thoth gewählt hatte, ziemlich bedrohlich auf mich.

„Sicher meint er die Präzession, die zyklische Bewegung, die sich durch die Neigung der Erdachse ergibt. Sie dauert 25.860 Jahre.“

Versuchte der Professor, sich mit dieser Erklärung selbst zu beruhigen? Schon wieder hatte ich den Verdacht, es ginge um weit mehr.

„ICH REDE VOM GROSSEN FLUSS. EURE SONNE UMKREIST DAS GALAKTISCHE ZENTRUM DER MILCHSTRASSE. ELEKTROMAGNETISCHE EINFLÜSSE AUF DAS MENSCHLICHE BEWUSSTSEIN WIRKEN SICH SCHLEICHEND ABER UNAUFHALTSAM AUS. ZUR INFORMATION SEI GESAGT, DASS DIE ERDVERÄNDERUNG BEREITS BEGONNEN HAT, UND ZWAR IN FORM VON ERDBEBEN, VULKANAUSBRÜCHEN UND VERHEERENDEN WETTERMUSTERN“, belehrte uns unser Höhlenorakel so beiläufig, als würde er über das Wetter von letzter Woche reden. Seine Aufmerksamkeit ruhte noch immer auf Peter, der die Hände unbehaglich in die Hosentaschen gesteckt hatte und mit zusammengepressten Lippen den Wortwechsel verfolgte. „DU AHNST ES BEREITS. DEINE FÄHIGKEITEN WERDEN IM BEVORSTEHENDEN KAMPF VON GROSSEM WERT SEIN.“

Ich sah mich um. Alle wirkten überrascht. Was wusste Thoth39 über Peter, wovon wir keine Ahnung hatten? Anhand seiner erschrocken aufgerissenen Augen vermutete ich, dass es ihm nicht besser ging. Würde sich Peter als wiedergeborener altgermanischer Wettergott entpuppen? Wie sonst könnte er bei so gravierenden Problemen helfen?

„WIR BRAUCHEN MENSCHEN WIE DICH, UM ZU VERHINDERN, DASS NICHTS AUS DER UNTERWELT ENTWEICHT UND DIE ÜBERGÄNGE ZUR EBENE DER RITTERSCHAFT VERSCHMUTZT.“

Ich wusste zwar noch immer nicht, wie Peter in dieses Szenario hineinpasste, fühlte mich aber indirekt angesprochen, da Ella und ich seit Ewigkeiten dagegen kämpften, dass Böses aus der Unterwelt seinen Weg auf die Erde fand. „Und wenn wir es schaffen sollten, diese Übergänge zu sichern? Was springt für uns dabei raus?“ Natürlich war unser vorrangiges Ziel, die Erde zu schützen, doch offensichtlich hing das eine mit dem anderen zusammen.

„EURE KÖRPER SIND NUR ALLZU VERGÄNGLICH UND WERDEN IM ZUGE DER BEVORSTEHENDEN TRANSFORMATION IN IHRE ELEMENTAREN TEILCHEN ZERFALLEN. IM REICH DER RITTERSCHAFT WÄRT IHR IN SICHERHEIT. ALLE SEELEN DORT WISSEN, DASS SIE EINS SIND. AUCH ICH BIN DAMIT EINS.“

Pippa sagte nachdenklich: „Du versprichst uns also einen paradiesischen Ort, wo es bloß Liebe, Friede und Ruhe gibt. Einen Ort, wo Tod, Hunger, Krankheit und Armut unbekannt sind. Das haben vor dir schon andere versprochen.“ Manchmal war es notwendig, dass man unliebsame Dinge aussprach, wenn sie dazu beitrugen, eine Situation zu klären. Pippa hatte recht, Thoth versprach uns nichts Neues.

„ICH WERDE EUCH DABEI HELFEN, DASS EUER BEWUSSTSEIN IN DER HÖHER UND INTENSIVER WERDENDEN FREQUENZ ZU SCHWINGEN LERNT. DAS WERDET IHR MIT EINTRITT IN DAS NEUE ZEITALTER BENÖTIGEN. UND ICH KANN EUCH BEI UNGEKLÄRTEN MATHEMATISCHEN UND PHYSIKALISCHEN PROBLEMEN WEITERHELFEN.“ Daniel und Rene wechselten einen schnellen Blick. Mit spirituellen Versprechungen brauchte man den beiden nicht zu kommen, aber diese Art von Handel ließ sie aufhorchen.

„Was, wenn ich der Aufgabe nicht gewachsen bin?“ Peter starrte Thoth39 noch immer an wie ein Kaninchen eine Schlange. Ich fühlte Mitleid mit dem Kerl. Ein unheimliches Wesen, das allwissend zu sein schien, trug ihm auf, den Planeten und die gesamte Menschheit zu retten, ohne zu erklären, wie. Oder wusste es Peter und hatte nur eine Heidenangst davor? Ich war nicht der Einzige, der gespannt wartete, ob wir anderen endlich aufgeklärt würden. Ella sah mit gespitzten Lippen zwischen Thoth und Peter hin und her.

„DU BIST NICHT ALLEINE. IHR ALLE“, Thoth drehte sich einmal im Kreis und sah uns dabei der Reihe nach an, „ERHALTET DAS SIEGEL DER RITTERSCHAFT UND DAMIT DIE GRÖSSTE UNTERSTÜTZUNG, EINERSEITS IM KAMPF GEGEN DAS BÖSE UND ANDERERSEITS, FÜR EURE HILFE, DASS DIE MENSCHHEIT SICHER IN DIE NÄCHSTE PHASE DER TRANSFORMATION GELANGEN WIRD.“

Ich beobachtete, wie Thoth eine Pfote nach Peter ausstreckte. Zaghaft trat dieser wieder näher in den Kreis, den wir gebildet hatten. Hilfesuchend sah er Cecilia und Rene an.

„Hat nicht weh getan“, ermunterte ihn die junge Frau.

Peters Finger berührten die samtig wirkende Pfote und wieder sprühten Funken auf, als das Siegel übertragen wurde.

Thoth hielt sich nicht auf und forderte Pippa und Roman auf, es Peter nachzumachen. Die beiden zögerten ebenfalls einen Moment und sahen sich dabei aufgeregt in die Augen. Roman nickte kurz: „Du hast selbst gesagt, mitgehangen, mitgefangen.“ Er griff nach Pippas Hand, die in seiner kräftigen kaum mehr zu sehen war und gemeinsam berührten sie die Projektion des Fabelwesens. Als nächster war Daniel an der Reihe. Er griff ohne zu Zögern zu, ein schmales Lächeln lief über sein Gesicht, als er danach Cecilia ansah.

Jetzt blieben nur Ella und ich übrig. Was würde mit uns geschehen? Wir waren längst dazu verdammt, anders als andere Menschen zu sein. Oder war dieses Siegel genau das, wonach wir all die Jahrhunderte gesucht hatten? Etwas, das Ella von ihrer Unsterblichkeit befreite und damit von dieser großen Last, die sie schon viel zu lange mit sich herumtrug? Ich sah in ihren Augen, dass ihr ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen. Und ich sah eine Furcht, von der ich nicht wusste, ob sie mit den bevorstehenden Aufgaben zusammenhing, oder damit, dass sich nun tatsächlich etwas an ihrer Langlebigkeit ändern könnte.

„KEINE ANGST, WIR HABEN ES ÜBERPRÜFT, DAS SIEGEL WIRD DIR NICHT SCHADEN.“ Thoth tat wieder einmal so, als könnte er Ellas Gedanken lesen. Vielleicht entsprach das sogar den Tatsachen. Wer konnte schon sagen, wozu dieses Wesen noch alles im Stande war? Ich beobachtete, wie der Funkenregen auf meine Gefährtin überschlug. Sie lächelte zufrieden und sah zu, wie sich meine Hand auf die eigentlich transparente Pfote legte. Insgeheim hatte ich mit einem leicht prickelnden Gefühl in den Fingerspitzen gerechnet, doch tatsächlich spürte ich, einen warmen, wohligen Schauer, der jede einzelne Faser meines Körpers erreichte. Ich schloss für einen Moment die Augen und wollte diesem Gefühl hinterher spüren. Als ich sie wieder öffnete, fühlte ich eine unbeschreibliche Klarheit, die sich über meinen Geist gelegt zu haben schien. Ein erster Vorgeschmack dessen, was dieser Kontakt tatsächlich in uns bewirkt hatte.

„ICH DANKE EUCH FÜR EUER VERTRAUEN. JETZT IST ES AN MIR, EINEN TEIL MEINER VERSPRECHUNGEN EINZULÖSEN.“ Er sah Rene und Daniel an. „IHR BEIDE WERDET NUN EINE EINWEIHUNG ERHALTEN. BEGEBT EUCH ZU JEWEILS EINEM DER REINIGENDEN BLÖCKE. DORT LEGT IHR EUCH NIEDER UND NACH EINEM KURZEN SCHLAF, OFFENBART SICH EUCH DAS NÖTIGE WISSEN, NACHDEM IHR EUCH SO VERZWEIFELT SEHNT.“

Eine Art Hypnoseschulung, vermutete ich. War es das, was auch mit Cecilia geschehen war? Sie hatte von keinen Veränderungen berichtet, aber wer wusste schon, ob der Informationsaustausch nur in einer Richtung funktionierte. Wahrscheinlich eher nicht. Sicher hatte sich Thoth damals aus ihrem Geist bedient und für ihn wichtige Antworten gewonnen.

  „ICH WÜNSCHE EUCH ALLES GUTE FÜR EURE AUFGABE. DURCH EURE SIEGEL WERDEN WIR IN KONTAKT BLEIBEN.“

Das hatte schon nach Verabschiedung geklungen. Schnell fragte ich: „Das ist alles? Mehr über unsere Aufgabe verrätst du uns nicht?“

„IHR WERDET VON NUN AN SELBST WISSEN, WAS ZU TUN IST. DAS SIEGEL BIRGT DIE BOTSCHAFT.“

In einem lautlosen Knall verging Thoth39 und tauchte nicht mehr auf.

 

Daniel - Töne der Angst

 

 

Verwirrt schlug ich die Augen auf. Was war geschehen? Wo war ich?
Gerade noch lag ich wohlig warm eingewickelt und träumte und jetzt bewegte ich irritiert meine klammen kalten Finger und Füße. Ich sah einen hellen Lichtschein über mir. Der Mond? Es fühlte sich an, als würde ich auf einem harten Untergrund liegen.
„Er wacht auf.“
„Na? Alles klar bei dir Daniel?“
Ich drehte mein Gesicht in die Richtung der beiden weiblichen Stimmen. Der vermeintliche Mondschein folgte meiner Bewegung und ich sah, wie Ella geblendet eine Hand vor die Augen hob. Ihr Mund lächelte mit zusammengepressten Lippen, während ihr Kopf aus der Helligkeit zuckte. Im Radius ihrer eigenen Stirnlampe erkannte ich Pippa, die neben ihr stand, an den weißen langen Haaren.
Richtig! Ich schloss die Augen und spürte dem vermeintlichen Traum hinterher. Versuchte mich zu erinnern. Sofort waren die Bilder wieder in meinem Kopf. Klar und deutlich. Ich lachte. „Heilige Scheiße!“, entfuhr es mir. Mein Hinterkopf schlug dumpf auf. Kein Problem, ich trug ja den Helm. Ungläubig öffnete ich wieder die Augen. Sah zu den zwei Frauen, die mich noch immer neugierig anstarrten. „Wir sind ja solche Hornochsen!“ Ich sprang auf. Meine Knie fühlten sich ungewohnt schwach an. Nachdenklich warf ich einen Blick auf den glatten, eiförmigen Gegenstand, auf dem ich gelegen hatte und tastete nach dem Handy, das in der Innentasche meiner Jacke steckte. „Wie lange war ich weg?“ Ohne auf die Antwort zu achten, starrte ich auf das Display. „Verdammt. Wie soll ich hier unten, ohne Empfang, eine genaue Entfernung messen?“ Ich hatte mehr zu mir selbst gesprochen, deshalb registrierte ich nur am Rande Pippas hilfloses Schulterzucken. „Peter!“, brüllte ich, während ich kopfschüttelnd in den mit Wasser gefüllten Gang leuchtete, der neben unserer normalen Route hier abzweigte. Ungeduldig lief ich Richtung Zentrum, also Kammer Drei. Eigentlich wusste mein Kopf ohnehin, was hier vorging. Ich wollte es mir nur selbst irgendwie beweisen.


Waldner kam mir auf halbem Weg entgegen. „Was ist los? Ist etwas passiert?“
„Wir sind Idioten, das ist passiert“, sagte ich halbernst. „Ihr habt doch die Tunnel vermessen? Ist euch nicht aufgefallen, dass diese fünf Blöcke alle im gleichen Abstand rund um Kammer Drei angeordnet sind?“.
„Warte.“ Peter kratzte sich irritiert den Dreitagesbart. Schließlich meinte er mit gerunzelter Stirn: „Diese Tunnel sind doch ein einziges Labyrinth aus gewundenen Gängen. Dann sind da die Bereiche, die unter Wasser stehen. Aber jetzt wo du es sagst, könnte da was dran sein.“
Es war jetzt auch egal, warum wir nicht früher auf diese Idee gekommen waren. Ich griff nach Peters Ärmel, schob ihn beiseite und quetschte mich an ihm vorbei. „Ist unser Professor schon aufgewacht?“ Ich wusste wieder, Rene hatte es sich auf dem Block in Kammer Zwei bequem gemacht, um seine Erleuchtung verabreicht zu bekommen. Cecilia hatte mich gefragt, ob es mir was ausmachen würde, wenn sie bei ihrem Bruder bliebe. Als ältere Schwester fühlte sie sich für ihn verantwortlich. Dafür hatte ich Verständnis gezeigt.
„Nein. Ich habe dich rufen gehört. Er war da noch immer weggetreten.“
Ella und Pippa tauchten hinter Peter auf. Ich lief weiter Richtung Kammer Zwei und nahm wahr, wie mir die drei folgten.
Gerade, als ich dort ankam, sah ich, wie unser Mathematikgenie aufstand und dabei Cecilias helfende Hand unwirsch beiseiteschob. Er strich sich die Hosenbeine glatt und ignorierte die auf ihn einprasselnden Fragen seiner Schwester. Roman und Alex standen auf der anderen Seite der Kammer und verfolgten das Geschehen. Ohne mich, oder irgendeinen von uns, eines Blickes zu würdigen, machte sich Rene auf den Weg Richtung Kammer Drei. Augenscheinlich war er im Denkmodus. Ich hätte mich gerne mit ihm darüber ausgetauscht, wie er seine Einweihung erlebt hatte, doch er hielt mit langen Schritten stur auf die größte der Kammern zu. Wohl oder übel folgten wir ihm. Ein Fehler, wie sich einige Minuten später herausstellte. Rene war schnurstracks auf sein beschreibbares Flipchart zugesteuert und kritzelte es nun mit für uns unverständlichen Formeln voll. Dabei konnte ihm keiner von uns helfen. Ich schlug daher vor, nach draußen zu gehen. Ich wollte erzählen, welche Erkenntnissen ich in Kammer Eins gewonnen hatte. Natürlich wäre ich genauso gerne wie Rene direkt in meine Werkstatt gefahren und hätte mich an die Arbeit gemacht, aber ich wusste, wie neugierig die anderen sein mussten und wollte sie nicht länger auf die Folter spannen.

 

Im Camp hatten wir ein zweites Flipchart. Darauf malte ich das Symbol, dass mir seit meinem Erwachen im Kopf herumspukte. Es hatte sich für immer dort eingeprägt. Ich drehte mich zu den anderen um. Sie hatten es sich inzwischen auf den provisorischen Sitzgelegenheiten bequem gemacht.
„Warte, das Zeichen kenne ich doch.“ Cecilia hielt einen Zeigefinger vor ihre Nase, als wäre sie der kleine Wikingerjunge aus der alten Zeichentrick-Kinderserie, bei dem sich gerade ein Geistesblitz anbahnte.
Ich konnte mir denken, woher ihr das Symbol bekannt vorkam und sah gespannt zu Ella und Alex, was ihnen zu diesem Thema einfiel. Ella bemerkte meinen lauernden Blick und sagte spöttisch: „So eine Art von Geisterjäger sind wir nicht.“
„Ein Pentagramm. Das Zeichen steht für das große Ganze“, murmelte Pippa und sah nachdenklich Ella an. Die Rothaarige nickte nun doch beipflichtend. Unsere Historikerin erklärte es genauer: „Es ist so alt wie die Zeit. In den Veden war es das Symbol für Shiva und Shakti, also so etwas wie die indische Variante des Yin&Yang-Zeichens. Außerdem ist es als das Siegel Salomos bekannt. Die Alchemisten haben damit im Mittelalter nach dem Stein der Weisen geforscht.“
„Nun, so weit waren sie dann gar nicht davon entfernt.“ Die Information war neu für mich. Ich fasste das Wissen zusammen, das mir darüber in der Kammer offenbart wurde: „Dieses Zeichen vereint die Elemente und ist im übertragenen Sinn dafür verantwortlich die stoffliche Welt überhaupt erst entstehen zu lassen.“ Ich zeigte auf das Symbol. „Seht ihr? Das sind zwei übereinandergeschobene Dreiecke. Kommt euch etwas bekannt vor?“ Ich sah in die Runde.
Cecilia blies ihre Backen auf und sah mich mit großen Augen an. „Die Pyramiden in Kammer Drei, stimmts?“ Eine zeigte nach oben, die andere nach unten. Genau das war es, worauf ich hinausgewollt hatte.
„Exakt. Alle Dreiecksformen bilden eine Balance, in der sich Dynamik und Statik auf subtile Weise die Waage halten“, ergänzte ich. „Jedes Kind lernt das in der Schule in Geometrie.“ Bis hierher konnten mir alle folgen. Doch jetzt ging es ans Eingemachte. Wie sollte ich vermitteln, warum ich von einem Tag auf den anderen der Feldtheorie abschwor und plötzlich abstrakt dachte. Realität hatte auf einmal eine ganz neue Bedeutung für mich. „Wir müssen aufhören unsere Wahrnehmung mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Atome sind keine Dinge.“ Es gab eine viel fundamentalere Realität. „Wir sind darauf konditioniert, Raum und Kraft, nicht ohne das andere zu betrachten. Wir müssen aber umdenken, um das Große Ganze zu erkennen. Die allgemeine Relativitätstheorie handelt auf Basis von Geometrie. Quantentheorie aber handelt auf Basis von Logik. Logik ist wichtiger als Geometrie. Das ist mir da drinnen klar geworden. Und eigentlich ist es schon alles, was zählt. Der Schlüssel liegt im abstrakten Denken. Wir Physiker müssen lernen, alles durch die Augen der Quanteninformation zu betrachten. Die ganze Natur, ist eine quantenlogische Wirklichkeit, die sich nur in der physikalischen Realität spiegelt. Unser Zugang zur Natur muss also auch einer abstrakt logischen Struktur folgen. Einzig die Zeit nimmt eine Sonderrolle ein. Ich weiß nicht, wie ich es besser erklären soll. Ich hoffe, Rene hat dazu die passende Formel erhalten. Meine Erkenntnis ist, Raum und Materie sind sekundär. Es ist kein Wunder, dass wir mit unseren Experimenten keinen Zugang zur Schwerkraft gefunden haben. Die Topologie der Welt hat nichts mit Gravitation zu tun, sondern mit Quantentheorie. Dreidimensionalität ist nicht zwingend notwendig. Es reicht, wenn wir eine Beziehung zwischen Raum und Zeit herstellen.“ Ich hatte schnell gesprochen, die Sätze waren wie ein Wasserfall aus meinem Mund gesprudelt. Fragend sah ich in die Runde, ob mir die anderen bis hierhin folgen konnten.
„Und das wird euch gelingen?“ Pippa klang skeptisch, aber sie hatte offensichtlich verstanden, worum es ging. Neuerlich bewunderte ich die Professorin für ihre rasche Auffassungsgabe.
„Es sollte funktionieren. Zeit beinhaltet keine Information. Es macht also keinen Sinn, einem Elementarteilchen einen festen Ort zuzurechnen. Wie gesagt, ich hoffe, Rene kennt die dafür notwendige Logik+Zeit-Formel. Ich weiß nur, logische Strukturen kann man nicht beliebig oft aufspalten, wie Atome. Man kann es, oder eben nicht. Ja oder nein. Ich kann nur hoffen, es ist wirklich so einfach.“ Ich zeigte auf das Pentagramm. „Dieses Symbol, und alles, das so angeordnet wird, fördert jedenfalls die raumzeitliche Aufspaltung. Es gibt noch weitere Zeichen, wie das Hexagramm, das der Harmonie dient, die ökonomischste Art, aneinanderliegende Zellen miteinander zu verbinden, wie ein zusammengedrückter Kreis, aber dieses Pentagramm hier wirkt auf die unsichtbaren Kräfte, wie eben die Gravitation.“ Ich machte eine bedeutsame Pause und sah dabei wieder Ella und Alex an. Das dürfte die beiden interessieren. „In diesem Zeichen spiegelt sich die Gesamtheit der Elemente. Makrokosmos und Mikrokosmos verbinden sich ... und halten Fremdenergien fern.“
Ich beobachtete wie Ellas Augen groß wurden und Alex trocken schluckte. „Du willst andeuten, dass wir damit eine reelle Möglichkeit hätten die Dämonen fernzuhalten?“, sagte er.
Zur Bestätigung zuckte ich vage mit den Schultern. Jetzt hing alles weitere von Rene ab.


Während wir auf unser Mathematikgenie warteten, versuchte ich, noch einmal so gut wie möglich zusammenzufassen, worum es ging. Peter war auf das Thema zurückgekommen: „Du behauptest also jetzt allen Ernstes, feste Materie ist eine Lüge?“
„Lass es mich anders ausdrücken. Jedes Atom ist ein riesiger Haufen Nichts. Eine Wüste aus leerem Raum. Zumindest unter dem Mikroskop betrachtet. Einzig der Elektromagnetismus, eine Kraft, hält alles zusammen.“
„Aber wenn da nichts ist, warum sehe ich dann etwas? Ich sehe dich. Ich sehe den Berg. Den Wald...“
„Atome bewegen sich rasend schnell. Stell dir vor, sie tanzen wild herum. So geschwind, dass Licht nicht in ihre Anordnung eindringen kann.“
Peter schüttelte den Kopf und ich hatte das Gefühl, er konnte einfach nicht glauben, was ich ihm da auftischte. Heute früh wäre es mir vielleicht nicht anders ergangen. Seufzend sah ich unseren Boss an. Auch er hatte die Stirn gerunzelt und hielt die Augen zusammengepresst. Als er sie wieder öffnete, sagte er: „Wir müssen auch noch über etwas anderes reden“, Roman wartete kurz. Ich nickte ihm verstehend zu und er sagte nach einem tiefen Seufzer: „Gestern hatten wir vereinbart überlegt vorzugehen. Tatsächlich tragen wir alle jetzt dieses Siegel in uns. Seid mir nicht böse, aber überlegtes Handeln habe ich mir anders vorgestellt.“
„Deine Bedenken kommen etwas spät“, merkte ich an. „Aber du hast recht, wir haben uns überrumpeln lassen.“
„Mir behagt nicht, dass dieser Thoth beim ersten Kontakt gesagt hat, er müsse uns einen Teil von sich implantieren, um uns kontrollieren zu können.“
Ich konnte seine Skepsis nachvollziehen. Teilweise, um ihn und mich selbst zu beruhigen, sagte ich: „Zumindest sind wir nicht schlecht bei dem Handel ausgestiegen. Vorausgesetzt es gelingt, uns diese Quantenkräfte zu Nutzen zu machen.“ Ich erzählte ihnen, was ich im Zuge meiner Traumreise noch alles aufgeschnappt hatte. Nämlich dass die beiden Pyramiden hauptsächlich aus Diorit bestanden und somit ideale Stromleiter waren. In Kammer Drei erzeugten sie durch Vibrationen Tachyonenenergie und verursachten durch Druck auf die in ihnen enthaltenen Quarzkristalle eine Spannung von mehreren tausend Volt. Was nebenbei erklärte, woher Thoth39 seine Energie bezog. Sicher konnte man dieses Prinzip in vielerlei Hinsicht anderweitig anwenden.
Ich bemerkte, dass Roman mir, trotz dieser bahnbrechenden Entdeckung, nur mit halben Ohr folgte und bremste meinen Enthusiasmus. Offensichtlich war das nicht alles gewesen, was unserem Geldgeber auf der Leber lag. Der Firmenchef rieb sich nachdenklich die Nase, während er Peter musterte, der stur seine Zehenspitzen inspizierte. Natürlich! Beinahe hätte ich die komische Andeutung vergessen, die wir alle mitverfolgen konnten. Wie war das gewesen? Peter musste endlich seiner Bestimmung folgen, oder so ähnlich?
Pippa räusperte sich, wie man es tat, bevor man vorhatte, etwas Bedeutsames zu äußern. „Ich hatte den Eindruck, zwischen Dir und Thoth gab es eine sonderbare Art von Vertrautheit, oder sagen wir besser Verständigung, Peter.“
Der Angesprochene hob den Blick. Und als ihm bewusst wurde, dass wir ihn alle abwartend anstarrten, den ganzen Kopf. Sein Mund öffnete sich, aber es kamen keine Worte heraus. Als erhoffte er sich von deren Seite Hilfe, sah er Ella an.
Sie verzog einen Mundwinkel zu einem gequälten Lächeln und sagte: „Ich hatte auch den Eindruck, da gäbe es etwas, wovon wir wissen sollten.“
„Stimmt die Version, die du uns aufgetischt hast überhaupt? Ich meine, wie du den Zugang in den Tunnel gefunden hast?“, fragte in Roman misstrauisch.
Peter hob abwehrend beide Handflächen. „Ich schwöre, es war genauso, wie ich es euch erzählt habe.“ Er fuhr mit den Zähnen über seine Unterlippe, als fiele ihm gerade selbst auf, wie unsicher dieser Satz geklungen hatte. „Vielleicht sollte ich euch dazu etwas erklären.“
Spürbare Anspannung ließ in der Pause, die er brauchte um sich die passenden Worte zurechtzulegen, förmlich die Luft knistern.
„Ich habe euch nie erzählt, wie ich überhaupt zum Extremsport gekommen bin. Tut mir leid, wenn ich so weit ausholen muss, aber ich weiß nicht, wie ich es sonst erklären soll.“
Roman nickte einverstanden und sprach damit für uns alle.
„Es fing an, als ich etwa elf oder zwölf Jahre alt war. Ich hörte von einem Tag zum anderen grauenhafte Geräusche, die mir Angst machten.“ Erklärend fügte er hinzu: „Ich bin im Kinderdorf aufgewachsen, weil meine Eltern nicht in der Lage waren, sich richtig um mich zu kümmern. Anscheinend war es für Kinder wie mich nicht ungewöhnlich, dass sie irgendwelche psychischen Probleme in der Pubertät entwickelten.“
Er tat mir leid. Er musste eine Scheißkindheit gehabt haben.
Peter sprach weiter. „Jedenfalls hatte ich das Gefühl, niemand nahm mich ernst. Erst, als ich wegen Schlafmangel und Appetitverlust einen Kreislaufkollaps bekam, untersuchte mich ein Arzt auf Tinnitus. Es gab nichts, das mir half. Er verschrieb mir Schlaftabletten und Antidepressiva. Es war alles für die Wurst. Ich kann mich an meine Zeit in der Hauptschule kaum erinnern, so zugedröhnt mit Medikamenten war ich. Gegen dieses Kreischen in meinem Kopf hat das alles nichts geholfen. Mit Sechzehn hatte ich genug. Ich sprang von einer 70 Meter hohen Brücke. Vor mir hat das noch nie jemand überlebt.“ Er schnaubte resigniert, während er an all diese entsetzlichen Dinge zurückdachte. Wir alle lauschten erschüttert seiner Schilderung und wagten nicht, ihn zu unterbrechen.
„Zuerst war ich auch tot. Zumindest war es so, wie man sich den Tod allgemeinhin vorstellt. Du fühlst dich frei und unbeschwert. Nichts tut dir weh. Hörst keine höllischen Geräusche. Ich kam mir vor wie im Himmel. Doch die wollten mich dort nicht. Ich hätte meine Aufgaben nicht erfüllt, sagte mir eine Stimme. Das Nächste, woran ich mich erinnere, waren die größten Schmerzen, die man sich nur vorstellen kann. Dann war ich zurück in meinem Körper und wachte in einem Krankenhaus auf. Ich war verzweifelt und traurig. Ich wollte wieder tot sein. Auch dieser klirrende, kreischende, infernalische Horror war zurück. Meine Rettung war ein Aufenthalt in einer Rehaklinik, in die sie mich damals gesteckt hatten. Sie zwangen mich dort, stundenlang Sport zu machen und ich entdeckte, wenn ich mich nur genug verausgabte, bis ich fast nicht mehr konnte, dann verschwand der Lärm in meinem Kopf. Die Ärzte erklärten mir, es hätte mit der Ausschüttung von Adrenalin zu tun. Es sorgt beim Sport dafür, dass sich der Körper an die Belastung gewöhnt. Anscheinend half es mir, mich an diese Geräusche zu gewöhnen. Mit den Jahren wurde ich ziemlich gut darin, immer das richtige Maß an Adrenalin zu produzieren.“ Peter schaute der Reihe nach in unsere mitfühlenden Gesichter. „Ich schwöre, ich habe euch nicht angelogen. Ich habe die Höhle durch puren Zufall gefunden. Aber es stimmt, was dieser grüne Teufel gesagt hat. Ich bin nur hier, weil es eine Aufgabe für mich gibt, die ich erst noch erfüllen muss. Ich wusste es all die Jahre, aber konnte mir keinen Reim darauf machen. Jetzt erst macht das ganze einen Sinn. Vielleicht ist es wirklich meine Bestimmung gegen das Böse zu kämpfen. Und vielleicht bin ich deshalb dafür geeignet, weil ich Dinge höre, die andere nicht hören können.“
Cecilia ging auf Peter zu und umarmte ihn. „Du Armer. Es tut mir ja so leid, dass ich dich für ein wenig verrückt gehalten habe.“
Er lachte: „Schon gut. Ganz so falsch lagst du ja nicht mit deiner Meinung.“
Auch Roman klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken. „Tut mir leid. All die Jahre, die wir uns kennen und ich wusste davon nichts. Es spricht nicht gerade für meine Führungsqualitäten.“
„Jetzt macht doch keine so große Sache daraus. Ich habe gelernt damit zu leben. Jeder hat doch seine Probleme, oder nicht? Jedenfalls bin ich deshalb auch nicht klüger. Ich weiß trotz dieses Siegels nicht, was mir meine Superkraft bringen soll.“
„Wir finden es schon raus“, sagte Ella tröstend. „Ich würde dir gerne dabei helfen.“
Mein Kopf hatte sich eine wilde Theorie zusammengereimt, während Peter seine Symptome geschildert hatte. „Es könnten irgendwelche elektromagnetischen Wellen sein, die untereinander interagieren und in einer speziellen Frequenz schwingen, die du aus einem bestimmten Grund empfängst. So wie Fledermäuse Ultraschall hören können.“ Peter wackelte schulterzuckend mit dem Kopf.

 

*

 

Cecilias leises Lachen und der Blick aus ihren funkelnden Augen erschien mir, als würde ich sie mein ganzes Leben kennen und nicht erst seit ein paar Tagen. Sie alberte mit Pippa herum und sah dabei immer wieder zu uns herüber. Gemeinsam mit Peter und Alex versuchte ich, aus Ästen und Laub einen Verschlag zu bauen. Wir hatten entschieden, den Generator und einiges Werkzeug hier zu lassen. Der Verschlag sollte als Versteck dienen, falls jemand zufällig aus der Luft darauf sah. Die Zelte hatten wir in der kleine Vorhöhle verstaut. Rene war vor etwa einer Viertelstunde aus ihr hervorgekrochen und saß seither vor sich hin brütend auf einem Klappstuhl. Wir brachen das Camp ab. Hier konnten wir vorerst nichts mehr ausrichten. Immerhin warteten große Aufgaben auf uns und wir alle waren uns darin einig, dass wir Thoth39 nur noch im Notfall aktivieren wollten. Irgendwie dachte ich immer öfter an das Märchen vom Rattenfänger. Ich wollte keine Ratte sein, aber womöglich war es dafür längst zu spät. Wir alle waren auf dieses Wesen im Berg hereingefallen. Thoth hatte uns auserkoren, die Welt von einer großen Bedrohung zu befreien. Ich konnte nur hoffen, die Gefahr, von der er gesprochen hatte, lag in ferner Zukunft. Nach so langer Zeit war ich endlich wieder glücklich. Dieser kurze Blick von Cecilia hatte es mir gerade bewusst gemacht. Die Zeiten waren auch ohne Thoths düstere Prophezeiungen hart genug. Ich fühlte mich hin und her gerissen. Endlich hatten die Tage der Monotonie ein Ende. So lange hatte ich darauf gewartet, dass jemand wie Cecilia in mein Leben trat. Und plötzlich war genau das geschehen. Sie hatte vor mir gestanden und ich wusste sofort, dass ich ihr nicht widerstehen konnte. Dieser Moment hatte sich tief in mir eingeprägt, um ihn nie wieder zu vergessen. Noch fühlte sich alles so unwirklich an. Als würde ich all das nur träumen. Mein Herz war ein klaffendes Loch gewesen und diese wunderbare Frau hatte es auf wundersame Art und Weise binnen so kurzer Zeit repariert. All diese Gedanken mischten sich mit meinen neuen Erkenntnissen über die elektromagnetische Energie und der Schwerkraftenergie, die ich so schnell wie möglich in meiner Werkstatt überprüfen wollte.
Alex riss mich aus meinen Gedanken. Er fragte Peter gerade: „Hast du schon einmal versucht, herauszufinden, was die Quelle der Geräusche ist, die du hörst?“
Peter atmete stoßartig durch die Nase aus. „Ich vermute Menschen. Jedenfalls hilft es, wenn ich große Menschenansammlungen meide.“
„Ich könnte mir vorstellen, wir machen zuerst ein paar Untersuchungen mit dem Gaußmeter und versuchen da Parallelen zu finden.“
„Einverstanden. Ich bin froh, dass ihr mich nicht für verrückt haltet.“ Peter presste seine Lippen zusammen, als würde ihm etwas auf der Zunge liegen.
„Nun sag schon. Gibt es noch mehr, dass wir wissen sollten?“, munterte ich ihn auf.
„Es ist nur ... ich hatte mal eine Zeit lang das Gefühl, die Geräusche hätten mit Angst zu tun.“
„Kannst du das genauer erklären? Welche Art von Angst meinst du? Wir alle waren heute Morgen in Kammer Drei zumindest ziemlich besorgt, was uns erwarten würde. Hast du da die Geräusche gehört?“
„Nein gar nicht. Die gesamte Anlage da unten ist für mich so etwas wie ein himmlisch ruhiger Ort. Ich habe schon überlegt, hierher zu ziehen.“ Peter lachte. Ich nahm daher an, er meinte es nicht ernst.
Alex knetete überlegend seine Unterlippe. „Dunkle, negative Kräfte werden durch Angst genährt. Wenn wir uns bewusst machen, dass Gedanken auch nur Energien sind und somit genauso reell wie unser physischer Körper, hängt es womöglich damit zusammen.“
Ich war erstaunt, wie selbstverständlich Alex mit den Informationen umging, die ich heute versucht hatte, ihnen allen zu vermitteln. Meine Hochachtung vor diesem Jungen stieg. Wie Pippa verfügte er über eine enorme Auffassungsgabe. Ich überdachte Alex Theorie. Er sprach aus der Sicht eines Medizin-Studenten. Ich stellte mir Bewusstseinsschichten vor, die jenseits des raum- und zeitgebundenen Denkens angesiedelt waren. Ja. Da konnte durchaus was dran sein. Wir verfolgten das Thema vorerst nicht weiter, da Ella und Cecilia gerade auf uns zu kamen. Mein Schatz schlang ihre Arme um mich und hauchte mir einen Kuss hinters Ohr. Sofort schien die Sonne heller, war die Luft klarer. Ich schloss versonnen die Augen und legte den Kopf zurück auf ihre Schulter. Schade, dass wir nicht alleine waren.

 

*

 

Zurück in seiner Almhütte, suchte Roman das Gespräch mit mir und Rene unter sechs Augen. „So Jungs. Ich denke, auf euch kommt Großes zu in nächster Zeit. Nur dass ihr es wisst, alles, was ihr aus dem machen werdet, was dort unten in dem Berg geschehen ist, ist euer alleiniger Verdienst. Meldet die nötigen Patente auf euren Namen an. Ich stehe euch natürlich jederzeit gerne als Investor gegen eine kleine Beteiligung zur Verfügung.“ Er zwinkerte jovial.
Das war überaus großzügig von ihm. Immerhin waren wir nur durch ihn soweit gekommen. Dankbar schlugen Rene und ich in seine gereichte rechte Pranke ein. Einen Investor wie ihn an der Hand zu haben, konnte für uns nur von Vorteil sein. Sicher verfügte er über ein immenses Netzwerk und war im Besitz wichtiger Kontaktadressen. Er wusste genau, wie es weiterging. Wir hatten das Know-how und er das nötige Kapital.
Er und Pippa flogen gemeinsam mit Ella und Alex zurück nach Salzburg. Unsere Wege würden sich hier für unbestimmte Zeit trennen. Cecilia und Rene fuhren mit mir gemeinsam zurück. Trotz allem wussten wir, dass unser Schicksal für immer durch diesen Ort hier verwoben bleiben würde. Auf uns alle warteten wichtige Aufgaben, dessen waren wir uns bewusst.

 

Mit gemischten Gefühlen winkte ich dem Heli hinterher. Peter und Alex saßen im Cockpit und grinsten zum Abschied.
Als der Lärm der Rotorblätter abklang, sagte ich zu Cecilia, der ich einen Arm um die Schulter gelegt hatte: „Schon verrückt, was sich alles innerhalb einer Woche verändern kann.“
„Mal sehen, was du dazu sagst, was ich in nur zwei Tagen bei dir zu Hause alles geändert habe.“ Sie bleckte schuldbewusst die Zähne.
„Wahrscheinlich wird es Daniel nicht einmal auffallen“, mischte Rene sich ein. Ich konnte ihm ansehen, dass er aus leidvoller Erfahrung sprach. Ich wusste, die zwei lebten nach wie vor unter einem Dach. Allerdings würde Rene ebenfalls vorerst mit zu mir fahren. Es wartete eine Menge Arbeit auf uns und Cecilia konnte von mir aus das Haus noch hundert Mal auf den Kopf stellen.

 

Alex - Der Kampf beginnt

 

 

Warm und sanft prasselte das Wasser der Regendusche auf mich herab. Ich schloss wohlig die Augen, obwohl ich mir damit selbst den Ausblick auf Ella nahm, die nackt vor mir stand und sich abtrocknete. Gedanklich ließ ich den Tag Revue passieren und versuchte, eine Veränderung an mir auszumachen. Bei der Erinnerung an das Siegel, das Thoth39 mir und den anderen heute verliehen hatte, fühlte ich eine seltsame Beklemmung. Verwirrt rieb ich mir über Kopf und Gesicht, um mir bewusst zu machen, dass ich unversehrt hier in unserem Badezimmer stand und keine Gefahr drohte. Mir hatten sich die Haare trotz des warmen Wassers aufgestellt. Ich regelte die Temperatur etwas nach oben und wartete darauf, dass die Hitze mein ungutes Gefühl vertrieb.

„Du hältst wohl heute nichts vom Ressourcen sparen?“ Ellas Stimme drang wie aus weiter Ferne in meinen Kopf. Verwirrt wischte ich mir Wasser aus der Stirn. „Warum lässt Du Dir kein Bad ein? Du stehst seit zehn Minuten unter der Dusche.“

Sicher übertrieb sie maßlos. Ich öffnete die Augen und stellte fest, dass sie fertig angezogen und gestylt war. Womöglich war ich tatsächlich in Gedanken zu weit abgeschweift und hatte die Zeit übersehen. Während ich das Wasser abstellte und nach meinem Badetuch griff, sagte ich: „Wenn es stimmt, dass die Dämonen die Erde nur als Sprungbrett in die Dimension dieser Ritterschaft verwenden, sollten wir Ihnen dann nicht dabei helfen? Sollen sich doch Thoths Freunde mit denen bekriegen. Jedenfalls  sind deren Möglichkeiten den unseren tausend Mal überlegen.“

Ella hatte mir das Frotteetuch aus der Hand genommen und begonnen, meinen Rücken abzutrocknen. Im beschlagenen Spiegel sah ich verschwommen, wie sie mich mit offenem Mund ansah. Sekundenlang vergaß sie, ihre Tätigkeit fortzusetzen. Ich drehte mich um und übernahm das Abtrocknen wieder selbst.

„Du hast zu heiß geduscht. Seit wann bist du so abgebrüht?“ Ein verärgerter Zug bildete sich um Ellas sonst so verlockenden Mund. „Was ist, wenn es dort gar keine Waffen gegen Dämonen gibt? Du weißt so gut wie ich, dass man diese Brut aus der Unterwelt nur bekämpfen kann, wenn sie sich auf unser Niveau begeben und sich einen Körper zulegen.“

Stillschweigend ließ ich den Tadel über mich ergehen. Ich wusste, Ella hatte recht. Es gab keine Waffen, mit denen man einem körperlosen Dämon gewachsen war. „Es war nur ein Gedanke“, beschwichtigte ich sie. Seit Jahrhunderten beschäftigte sie sich hauptsächlich mit diesem Thema. Sie wusste alles über böse Geister und deren Bekämpfung und hatte sämtliche alte Schriften studiert, die vom ewigen Kampf handelten. Besonders in den Jahren, in denen wir nicht zusammen waren, sammelte sie immer neue Erkenntnisse, die sie mir nach und nach in kleinen Happen mitteilte. Sie kannte die Hintergründe unserer heutigen Zivilisation wie kein anderer. Betrachtete manches durch eine ungewöhnliche Denkweise, die von ihren Einblicken in die Mythologie der verschiedensten Kulturen herrührte. Durch ihre Zusammenarbeit mit intuitiven Menschen, die durch ihre Gaben Zugang zur Vergangenheit hatten, nahm sie Dinge anders wahr, weil sie weit zurück bis zu den alten Wurzeln und Überlieferungen forschte.

„Du weißt selbst, wie heimtückisch diese Biester sind“, versuchte ich, meine vorige Bemerkung, zu begründen. „Wir beide wissen, wofür sie verantwortlich sind. Du hast mir erst vor wenigen Tagen erklärt, wie manipulativ sie aktuell die Weltpolitik steuern, als wäre sie ein Theaterstück. Die ganze Vorarbeit geschieht in ihrem Reich, wo auch immer es genau liegen mag.“ Ich stellte es mir dort finster vor. „Unsere Welt ist für sie nur eine Bühne, auf der sie sich über das Ergebnis ihrer versteckten Planungen freuen. Wer sagt uns, dass die auf der anderen Seite nicht genauso sind? Wir normalen Menschen wissen nie, wer wirklich die Fäden hinter den Kulissen in der Hand hat. Es wäre cool, wenn wir die Kreaturen in diese Welt der Ritterschaft durchschleusen könnten. Dort können die sich meinetwegen gegenseitig zerstrahlen.“

„Seit wann bist du so naiv? Denkst du tatsächlich, sie vergessen all ihre Machtspiele auf der Erde, nur weil wir ihnen den roten Teppich ausrollen? Dafür haben sie schon zu viel Zeit und Energie investiert.“

Sie hatte gut reden. Sie war nicht diejenige, die immer wieder ihren Körper verlor. Sie musste nicht jedes Mal von vorne anfangen, gegen diese Angst anzukämpfen.

Ella war feinfühlig genug, um meine Befürchtungen wahrzunehmen. „Wir werden nichts überstürzen. Zuerst konzentrieren wir uns auf Peter und darauf, wie uns seine Fähigkeiten von Nutzen sein können. Dann sehen wir weiter, und hoffen, dass es Daniel und Rene gelingt, die Waffe nachzubauen.“ Sie sprach von diesem uralten Artefakt, dass ich damals auf ihrer Burg erbeutet hatte und welches wir seit Jahrhunderten wie einen Schatz hüteten.

Ihre Worte konnten meine Sorge kaum schmälern. „Selbst wenn sie es schaffen. Wie sollen wir diese unbemerkt durch die Kontrollen bringen? In Zeiten, in denen man nicht einmal eine Tube Zahnpaste mit in ein Flugzeug nehmen darf?“ Zweifelnd betrachtete ich mein Gesicht im abgetrockneten Spiegel.

Von hinten umschlang Ella meine Brust. Ich fühlte, wie ihre Lippen sanft mein Schulterblatt berührten. „Wir schlagen sie mit den eigenen Mitteln. Wenn es irgendwelche Flüchtlinge schaffen, die nicht einmal die Sprache ordentlich beherrschen, an Maschinengewehre und Sprengstoff zu gelangen, also Waffen, die sie sicher nicht auf dem Rücken quer über den Balkan geschleppt haben, schaffen wir das auch.“

„Du hast schon Pläne geschmiedet, richtig?“

„Ich habe da ein paar Kontakte geknüpft. Diese feigen Attacken auf Unschuldige sind schließlich genauso das Werk der Dämonen. Wie du weißt, sind sie Meister der Gehirnwäsche. Ich konnte vor fünf Jahren einen Anschlag hier in der Stadt verhindern.“

Überrascht drehte ich mich um. Ellas Augenbrauen formten sich zu zwei hohen Bögen auf ihrer Stirn, als sie in meine aufgerissenen Augen sah. Sie hatte ohne Rückendeckung gehandelt? „Du bist verrückter denn je.“ In mir steckte nach wie vor ein riesiger Anteil Alex.

Ella dachte sicher dasselbe. Sie lächelte mich spöttisch an. „Zieh dich an, mein Schatz. Wir müssen die Welt retten.“

 

*

 

Wir verließen die Stadt Richtung Westen. Ellas Jag schlich wie eine Raubkatze auf der B158 von einem romantischen Ort zum nächsten. Ich hatte meinen Beifahrersitz zurückgelassen. Das Panoramadach bot mir in dieser Position einen Ausblick auf das abwechslungsreiche Bergpanorama.

„Hier muss es irgendwo sein. Hilfst du mir, die Abzweigung zu suchen?“

Mit einem Knopfdruck richtete ich meine Sitzlehne auf und hielt Ausschau nach dem Schotterweg, den Peter uns beschrieben hatte.

„Hier!“ Wir hatten die Stelle gleichzeitig entdeckt. Ella bremste den Wagen ab und bog vorsichtig auf den unbefestigten Weg ab. Langsam rollten wir durch ein Stück Wald. Nach ein paar Minuten endete die Straße an einem kleinen See. Ich entdeckte in einiger Entfernung ein altes Bootshaus, vor dem ein rostiger Audi parkte. Das musste es sein. Jemand mit Peters sensitiver Wahrnehmung mied natürlich die Stadt. Aus diesem Grund hatten wir das Treffen mit ihm hier, in seiner vertrauten Umgebung, vereinbart, anstatt in unserer luxuriösen Altstadtwohnung.

Ella löste ihren Gurt und sah mich skeptisch an. Ich hatte soeben mein Basecap umgedreht, sodass das Schild nach hinten zeigte. Sie fasste nach meiner verspiegelten Pilotenbrille und hob sie etwas hoch. Ich sah ihr fragend in die Augen.

„Bist das wirklich du?“

Ich griff nach ihren Fingern. Ließ meinen Daumen sanft über ihren Handrücken streichen. Sie trug keine Ringe. Solche Symbole brauchten wir nicht. Unsere Verbundenheit reichte viel tiefer. Sachte drückte ich meine Lippen auf ihre zarten Knöchel.

Ihre Unterlippe zuckte amüsiert. „Schon gut. Ich werde mich daran gewöhnen.“

„Du weißt, am liebsten würde ich ganz andere Stellen küssen.“

Sie schüttelte mit leichtem Tadel den Kopf. Dann neigte sie sich zu mir und hauchte einen zärtlichen Kuss auf meine Lippen.

Als ich ihr Gesicht wieder sah, schimmerten ihre Augen feucht. „Oh Gott. Ich habe dich so vermisst“, wisperte sie.

 

Wir stiegen ein paar ausgetretene Holzstufen hoch. Seitlich der Hütte wuchs Schilf und ich sah ein verwittertes Ruderboot auf dem stillen Wasser treiben. Es gab keine Fenster. Auch keine Klingel, oder dergleichen. Ich pochte mit der Faust gegen eine Art Scheunentor.

Ein kurzes Räuspern gefolgt von einem, „Es ist offen!“, drang undeutlich nach draußen. Ich hob einen altmodischen Holzriegel und schwang eine Seite der breiten Flügeltür auf. Wir gelangten in einen erstaunlich hellen offenen Raum. Damit hatte ich nicht gerechnet. Von außen wirkte die Hütte dunkel und verwittert, doch die gesamte Front in Richtung Gewässer war verglast und strahlendes Tageslicht durchflutete das Innere.

„Nett!“ Ella sprach meine Gedanken aus. Der Raum wirkte rustikal und komfortabel in einem. Mehrere Teppiche aus Kuhfell lagen auf dem Holzboden. An einer Wand befand sich eine moderne Küchenzeile, auf der anderen eine gemütliche Sitzecke neben einem kleinen Holzofen.

„Willkommen in meiner bescheidenen Hütte.“ Peter sah uns entgegen. Er stand an einem Hackbrett und schnipselte Kräuter. „Ich hoffe, Ihr habt Hunger. Ich habe einen Auflauf im Rohr.“

Erst jetzt bemerkte ich den würzigen Geruch von überbackenem Käse, der in der Luft lag. Sofort lief mir das Wasser im Mund zusammen. „Ich könnte einen Bären verspeisen.“ Seit dem Frühstück hatte ich nichts mehr gegessen. Nicht weil wir einen leeren Kühlschrank zu Hause gehabt hätten, sondern weil wir uns noch immer wie frisch Verliebte gebärdeten, die etwas so banales, wie Essen, schlichtweg vergaßen.

„Macht es euch bequem.“ Peter nickte zum gedeckten Tisch auf der breiten Terrasse. Ich trat durch die geöffnete Balkontür. Ein paar Schwäne dümpelten auf dem Wasser. Es war ein unbeschreibliches Naturidyll. Peter kam mir mit einer riesigen dampfenden Auflaufform, die er mit Topflappen hielt, hinterher. Ella hatte sich nützlich gemacht und folgte ihm mit einer Schüssel Salat. Sie registrierte den Ausblick mit offenem Mund.

„Roman hat sich das als Wochenendhaus herrichten lassen, aber nie benutzt. Wir haben hier mal einen Spot gedreht, da habe ich die Gelegenheit am Schopf gepackt und ihm das Grundstück abgeschwatzt“, lachte Peter über unsere staunenden Gesichter. „Ich habe einen kleinen Gemüsegarten angelegt, frische Kräuter wachsen am Waldrand und die Fische im See sind sozusagen Teil des Pachtvertrages. Manchmal fahre ich wochenlang nicht hier weg.“

Nachdem ich seine Geschichte kannte, konnte ich ihm nicht verdenken, dass er sich hier wohlfühlte.

Hungrig stürzten wir uns über das Essen und unterhielten uns dabei über Thoth39 und die Sache mit den Siegeln.

 

 

„Ich möchte euch etwas zeigen...“ Peter schob seinen Teller zur Seite und sah uns unsicher an.

Ella und ich warteten gespannt, was er uns sagen wollte, doch er hob nur die Beine über die lehnenlose Sitzbank, stand auf und ging zurück in die Hütte. Ich fühlte Ellas fragenden Blick von der Seite, war aber reflexartig ebenfalls aufgesprungen, um Peter zu folgen. An der Balkontür wartete ich und ließ meiner Partnerin den Vortritt.

Waldner stand am Fuß einer schmiedeeisernen Wendeltreppe. „Ich habe oben nicht aufgeräumt“, entschuldigte er sich kurz und begann die Stufen hochzuklettern.

Die Mansarde war wegen der Dachfenster noch heller als der größere Raum unten. Zwei dicke Holzbalken hingen tief und ich musste den Kopf etwas einziehen, um keine Beule zu riskieren. Ein zerwühltes Doppelbett stand nahe an der Fensterfront. Peter führte uns in die entgegengesetzte Richtung. Die Bretterwand war vom Boden bis zum im Giebel endenden Dach mit Papierbögen beklebt. Auf den zweiten Blick erkannte ich, dass es nicht irgendwelche Poster waren, sondern lauter Stadtpläne in verschiedenen Größen. Interessiert stellte ich mich vor die Wand und versuchte zu erraten, was das zu bedeuten hatte. Mit rotem Eding waren auf allen Karten Markierungen auszumachen. Ella hatte bereits einen Finger auf eines der Kreuze gedrückt. Ich trat näher und sah, dass es sich um einen Plan von Salzburg handelte. Neugierig starrte ich auf die Stelle. Es war ein Gebäude am Stadtrand, von dem ich wusste, dass Büroräume darin untergebracht waren.

Peter stellte sich neben mich und sagte: „Ich kennzeichne seit Jahren jene Orte, an denen der Lärm am heftigsten ist.“

„Warst du in dem Gebäude?“, erkundigte Ella sich.

„Ja, natürlich. Da gibt es vier Etagen. Ich wollte rausfinden, wo die Geräusche am stärksten sind.“

„Ja?“ Ungeduldig wippte Elle auf den Zehen. Ich hatte den Eindruck, sie hatte einen Verdacht und sah Peter abwartend an.

„Im dritten Stock gibt es ein Büro einer Firma, die sich TRHF nennt. Ich habe bis heute nicht herausgefunden, womit die handeln, oder wem die Einrichtung gehört.“

Ella schnaubte kurz auf. „Das wundert mich nicht. Es ist keine Firma. TRHF – Tempel der Ritter des Heiligen Franziskus.“

Jetzt war es an mir erstaunt auszurufen: „Hell Fire? Hier? Mitten in Salzburg?“

Ella zog die Mundwinkel nach oben. Fröhlich wirkte die Geste nicht. Eher, als hätte sie in einen sauren Apfel gebissen. „Ich beobachte deren Treiben schon einige Jahre.“

„Was bedeutet das?“ Peters Frage signalisierte, dass wir bei ihm ganz von vorne anfangen würden müssen. Wenn er so zielsicher wie hier in jeder Stadt die Clubräume der diversen Geheimgesellschaften vermerkt hatte, war das aber nur ein geringer Preis, den wir ohne Zögern in Kauf nahmen.

Ich nickte anerkennend und überging seine knappe Frage vorerst. „Wow. Du bist ein besseres Dämonen-Radar als Ella.“

„Ich wollte gerade dasselbe sagen.“ Meine Partnerin betrachtete einige der anderen Karten. Höchstwahrscheinlich brachte sie die markierten Orte in Verbindung mit ihren eigenen Erfahrungen. An Peter gewandt fuhr sie fort: „Ich bin sicher das ganze Gebäude gehört denen.“

Peter hakte nach: „Was für eine Geheimgesellschaft soll das sein?“

„Eine, wo ganz normale Menschen ihre Seelen verkaufen, vermute ich.“ Ella hatte den Satz gemurmelt. Gespannt hielt Peter den Kopf schief, damit er die weiterführende Erklärung, auf die er wartete, nicht überhörte.

Weil Ella von den Plänen abgelenkt war, packte ich mein Wissen über derlei Vereinigungen aus. Es hatte sich mit Sicherheit nichts geändert, seit meiner letzten Begegnung mit diesem teuflischen Hell Fire Club. „Nach unserer Erfahrung handelt es sich um Menschen, die entweder an chronischem Machthunger leiden, irgendein existenzgefährdendes Laster haben oder schlichtweg leicht erpressbar sind.“

Mit halboffenem Mund pendelte Peters Blick zwischen Ella und mir hin und her.

„Politiker, Rechtsanwälte, Ärzte, Immobilien-Haie. Such es dir aus.“

Ella ergänzte meine Aufzählung: „Vergiss nicht die Meinungsforscher und Zeitungsherausgeber.“

„Du hast mich deshalb über Roman ausgehorcht, stimmt’s?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Man kann nicht vorsichtig genug sein.“

„Wenn Ihr diesen Club schon kennt, bin ich euch wohl doch keine so große Hilfe mehr, oder?“

Ella ließ den Blick über die, von oben bis unten, beklebte Wand schweifen. „Das würde ich nicht sagen. Ich komme viel herum, aber deine Skizzen ersparen uns langwierige Recherchen. So wie ich das sehe, brauchen wir da nur noch anläuten und aufräumen.“

Mir gefiel ihr salopper Tonfall ganz und gar nicht. Zähneknirschend log ich: „Das wird ein Spaß.“

 

 

Die folgenden Tage beschatteten wir abwechselnd den Eingang des Clubs. Ich hatte mich zuvor als Gebäudereiniger verkleidet eingeschlichen und unauffällig zwei Mikrokameras angebracht. Mit deren Hilfe überwachten wir jetzt den Flur vor dem Büro unserer Verdächtigen. Ella besaß über einige der dort ein und aus spazierenden Personen ausführliche Dossiers. Die bisher unbekannten Männer und Frauen ließen wir durch eine von ihr verwendete gehackte Software von Interpol laufen. In wenigen Minuten waren auch sie identifiziert. Schockiert las Peter mir Ellas Anmerkungen zu einer 35-jährigen Chirurgin vor, die sie des illegalen Organhandels verdächtigte. „Diese Frau soll mit einem afrikanischen Organhandelring zusammenarbeiten, der sich darauf spezialisiert hat, für schnelles Geld und einen Reisepass Flüchtlinge zu vermitteln, die bereit sind eine Niere zu spenden. Offenbar fliegt sie mit zahlungskräftigen Patienten in eine nordafrikanische Privatklinik und führt die Transplantationen dort selbst durch. Hier steht, sie wäre in den letzten zehn Monaten sechs Mal für je eine Woche dorthin gereist.“

„Ich habe selbst Medizin studiert. Du glaubst nicht, was da für irre Geschichten kursieren. Solche Menschen treiben überall ihr Unwesen.“

„Was macht ihr mit diesen Leuten? Lasst ihr sie auffliegen, oder ...?“, er zog mit dem Zeigefinger eine imaginäre Linie quer über seinen Hals.

„Wir jagen Dämonen. Diese Ärztin ist ziemlich sicher einfach eine geldgeile Bitch. Zuerst soll sie uns ins Nest dieser Höllenbrut führen, danach schicken wir die Beweise an Interpol.“

Peter blätterte wieder kopfschüttelnd in Ellas Unterlagen. „Hätte ich Euch doch bloß früher getroffen. Ich finde eure Arbeit echt cool. Endlich habe ich Gelegenheit, etwas wirklich Sinnvolles zu tun.“

Vor zwei Wochen hatte ich selbst keine Ahnung, womit Ella sich die letzten Jahre beschäftigt hatte. Es war zu früh, Peter in unser Geheimnis einzuweihen, deshalb sagte ich ausweichend: „Mein Freund, du triffst Menschen nie zu früh, zu spät, oder gar umsonst. Wir sind uns genau zum richtigen Zeitpunkt begegnet.“

Wir beobachteten am Laptop einen kahlköpfigen untersetzten Brillenträger, der aussah wie jemand, der die Buchhaltung eines Kegelvereins führte. Er parkte zwei Autos neben uns. Gerade kletterte er aus seinem Bentley Bentayga. Gleich würde der Kerl an uns vorbeikommen. Im kleinen Zeh spürte ich, dass er einer der Kandidaten für das Büro im dritten Stock war. Sofort regte sich dieses untrügliche Gefühl in meiner Magengegend, das sich immer dann meldete, wenn es unangenehm zu werden drohte.

Peter neben mir stöhnte und presste seine Handballen in die Augenhöhlen.

„Alles klar?“ Besorgt fasste ich seine Schulter an, ohne den unscheinbaren Typen aus den Augen zu lassen, der an uns vorbeiging und jetzt den Eingang des Gebäudes ansteuerte. Als er aus meinem Blickfeld verschwand, bemerkte ich, wie sich Peters schmerzverzerrtes Gesicht wieder entspannte. „Was war das?“

„Das ... war nicht schön.“

Der furchtlose Extremsportler war plötzlich blass um die Nase. Geduldig gab ich ihm ein paar Sekunden, um sich wieder zu fangen.

„Da war plötzlich so ein dunkles Vibrieren. Es fühlte sich an, als würde mein Kopf platzen.“

„Ich dachte, Du hörst Geräusche?“

„Für gewöhnlich tue ich das auch. Dieser Mann ist aber ein ganz anderes Kaliber.“ Mit zusammengepressten Lippen und Lidern schüttelte Waldner leicht den Kopf, als versuchte er, sich an etwas zu erinnern. „Ich hatte dieses Gefühl schon einmal, gleich fällt es mir ein, woher ich es kenne.“ Er hielt mir die flache Hand vors Gesicht und brachte mich dazu, die Fragen, die auf meiner Zunge brannten, hinunterzuschlucken.

Ich ließ ihm einige Minuten Zeit.

Peter schüttelte sein Unbehagen schließlich ab. „Manchmal kommen so Erinnerungen in mir hoch. Aus dem finsteren Abgrund meiner Kindheit. Es gab damals überall lauernde Ungeheuer und wispernde Schatten. Ich sah die scheußlichen Fratzen hinter ganz normalen lächelnden Masken. Falsche Herzlichkeit, hinter der sich rohe Gewalt versteckt. Dieser Kerl gehört zu der übelsten Sorte.“

„Okay. Wir halten uns vorerst zurück. Was genau hast Du gespürt?“

„Es war ein dunkles Vibrieren. Schwer zu erklären. Ich spüre es mit jeder Faser des Körpers.“

Kurz stellte ich mir eine Kindheit vor, die von so viel hintergründigem Grauen geprägt war, wie die von Peter. Wir würden gemeinsam diese machthungrige Brut dorthin zurückschicken, woher sie kam. Sollte sie dort quälen, peinigen, verfolgen und unterdrücken, doch nicht hier bei uns. Schweigend warteten wir etwa eine Stunde, bis der unheimliche Typ wieder aus dem Gebäude kam. Was hatte er dort gemacht?

Unauffällig folgten wir seinem Wagen. Er fuhr quer durch die Stadt in eine dieser neuen modernen Siedlungen, in denen wie die Pilze in den letzten Jahren unzählige protzige Häuser aus dem Boden geschossen waren. Langsam fuhr Peter an dem Grundstück vorbei, in das der Bentayga eingebogen war. Ich bemerkte überall Kameras. An der Einfahrt. An der Fassade. Eine moderne Festung. Wir parkten zwei Häuser weiter vor einer Baustelle. Ich stellte den Rückspiegel so ein, dass ich die Ausfahrt des Mannes im Auge behielt. „Wir beobachten ihn vorerst. Mal sehen, was er sonst so treibt.“ Ich wählte Ellas Nummer und berichtete ihr, was vorgefallen war. Peter hatte auf dem Navi die genaue Adresse ermittelt und ich teilte sie ihr mit. Vielleicht reichte das, etwas über den Typ herauszufinden.

 

Wir saßen seit über zwei Stunden in Peters Audi und beobachteten abwechselnd die Straße hinter uns. Mein Magen meldete sich lautstark und verkündete sein Bedürfnis nach Sättigung.

„Was, wenn er bis morgen zu Hause bleibt? Ich sterbe auch schön langsam vor Hunger,“ merkte Peter resigniert an.

Gerade wollte ich ihm vorschlagen, nur noch eine halbe Stunde durchzuhalten, da tat sich etwas an der von uns beobachteten Einfahrt. Der Bentley fuhr wieder dieselbe Richtung stadteinwärts, aus der wir vorhin gekommen waren. Das automatische Tor stand noch halb offen, als wir daran vorbeirollten und ich machte unauffällig eine Aufnahme des Gebäudes mit meinem Handy. Telefonisch informierte ich Ella, was wir taten. Der Verkehr hatte nachgelassen und wir mussten aufpassen, uns nicht zu verraten. Vielleicht konnte sie uns bei der Verfolgung ablösen? Soweit kam es dann aber nicht einmal. Nach wenigen Kilometern beobachteten wir, wie der Wagen in den Parkplatz eines Industriegeländes einbog. Wir fuhren ein Stück weiter die Straße entlang und stellten den Audi dort ab. Zu Fuß liefen wir die Strecke zurück und beobachteten, verborgen hinter zwei Containern, was sich auf dem Grundstück tat. Der Bentley hatte sich mit einigem Abstand zu ein paar anderen Autos eingeparkt. Gerade bog ein weißer Mercedes ein, und wir sahen einem hochgewachsenen grauhaarigen Mann zu, wie er durch eine Glastür in eines der Gebäude ging. Fragend sah ich Peter an, ob er etwas spürte. Sein grimmiges Nicken erklärte alles. Wir beobachteten den Parkplatz und nachdem für mehr als zehn Minuten kein neues Fahrzeug angekommen war, schlichen wir zu dem Gebäude hinüber. Inzwischen war es finster geworden. Wir konnten unbeobachtet von draußen, auf einer bepackten Palette stehend, durch ein staubiges Oberlicht-Fenster in den hell erleuchteten Raum sehen, in dem sich die Teilnehmer dieses fragwürdigen Treffens versammelt hatten.

Der von uns beschattete Mann sprach vor den sitzenden Zuhörern. Wieder stellten sich mir alle Haare am Körper auf, als ich ihn näher betrachtete. Fast schien sein nach Fäulnis stinkender Atem bis zu dem leicht gekippten Fenster herüberzuwehen, hinter dem ich stand. Jedenfalls erfasste mich eine Welle von Übelkeit, die sich mit meinem knurrenden Magen traf. Peter wandte sich gequält ab und hockte sich an die Wand gepresst hin. Wie ertrugen die Menschen in dem Raum nur diese bösartige Wirkung, die von dem Sprecher ausging? Er musste sie irgendwie beeinflusst haben.

Ich hörte dem unheimlichen Kerl zu, wie er seine Phrasen drosch. Er versprach den Zuhörern Macht und redete von Aufräumen mit harter Hand. Ja, das nahm ich mir im selben Moment auch vor. Eine Weile lauschte ich noch den dreckigen Lügen, die der Mann doppelzüngig von sich gab. Immer wieder klatschten die Besucher dieses heimlichen Treffens zustimmend in die Hände. Bereit, ihm in den Untergang zu folgen, dachte ich bei mir. Ich machte Fotos von möglichst vielen der Teilnehmer.

Ein dunkler Schatten bewegte sich blitzschnell auf mich zu und brachte mich kurz aus der Fassung. Ella! Auch Peter keuchte überrascht auf. Er wusste bisher nichts von ihren körperlichen Fähigkeiten, sich kometenhaft und lautlos wie ein Phantom zu bewegen. Die schwarze Kleidung, die sie trug, hatte sie mit der Umgebung verschmelzen lassen. Jetzt blitzen ihre Zähne und hellen Augäpfel amüsiert auf, als sie in unsere erschrockenen Gesichter sah. Neugierig schob sie mich beiseite und machte sich selbst ein Bild von den Geschehnissen in dem Raum hinter mir. „Da haben wir also unseren Freund“, murmelte sie leise. „Zeit für ein kleines Flammeninferno.“

Wir kletterten von der Palette und Ella drückte mir eine mit schwarzer Kleidung gefüllte Sporttasche in die Hand. „Peter wird uns nicht helfen können. Er leidet zu sehr an der Präsenz dieses Scheusals“, flüsterte ich.

„Nein! Es wird schon gehen. Lasst mich helfen.“ Tapfer zog er einen der schwarzen Overalls aus der Tasche und schlüpfte wie ich hinein. Danach zogen wir uns Sturmhauben über.

„Hier.“ Ella drückte Peter eine wuchtige Taschenlampe in die Hand und erklärte ihm die Funktionsweise. „Das Licht macht sie kurz orientierungslos. Du musst ihm möglichst mitten ins Gesicht strahlen. Alex und ich übernehmen den Rest.“ Sie drückte mir einen Stift und ein Feuerzeug in die Hand.

„Wie ist der Plan?“ Ella hatte offensichtlich schon alles vorbereitet.

„Wir lauern ihm am Parkplatz auf. Sein Wagen ist der, der etwas abseits steht. Richtig?“ Sie hatte sich bereits einen Überblick verschafft, was mich nicht überraschte. Ella war nicht nur schnell, sondern auch gründlich, in allem was sie tat. „Ihr beide versteckt euch hinter dem Bentley. Ich lege mich darunter. Ich habe es vorhin versucht, es geht. Auf mein Kommando greifen wir gleichzeitig an. Peter blendet ihn. Du verpasst ihm die Injektion und ich jage ihm eine Ladung Propan ins Herz. Der Benzinkanister steht vor dem linken Hinterrad.“

„Was ist mit den anderen Leuten?“ Nervös drehte Peter den Scheinwerfer in seinen Händen.

„Die meisten werden hoffentlich schon weg sein. Der Rest wird erst begreifen, was los ist, wenn alles vorbei ist“, versuchte ich, ihm seine Bedenken zu nehmen. Normale Menschen waren noch nie unsere Sorge gewesen. Ella nahm es locker mit mehreren auf einmal auf und auch ich hatte gewisse Techniken entwickelt, um mich zu wehren.

Ella war wieder mit einem Satz auf die Palette gesprungen. „Er ist noch in voller Fahrt. Wir haben also Zeit,“ zischte sie leise in unsere Richtung. Genauso laut- und mühelos, wie sie hochgesprungen war, kam sie wieder zu uns herunter. Spätestens jetzt hatte Peter begriffen, dass Ella keine normale Frau war. Ich beobachtete, wie er entschlossen auf den geparkten Bentley zusteuerte und wusste, er war furchtlos genug, mit uns zusammenzuarbeiten. Hoffentlich machten uns seine körperlichen Reaktionen auf den Dämon nicht einen Strich durch die Rechnung. Aber selbst wenn, Ella und ich waren ein eingespieltes Team und hatten in der Vergangenheit zu zweit meist auch keine Probleme gehabt.

 

Wir verbargen uns jeder auf dem vereinbarten Posten und lauerten unserer Beute auf. Ich war keineswegs so hartgesotten, wie ich Peter vorgespielt hatte. Nicht nur Ella konnte sich rasend schnell bewegen. Auch unser Opfer hatte diese Fähigkeiten und würde sie skrupellos ausschöpfen. Pochend spürte ich meinen Pulsschlag an der Halsschlagader und wünschte, ich hätte mich mehr im Griff. Der Dämon roch um ein vielfaches besser als ich. Er hörte besser und sah viel schärfer. All das rief ich mir ins Gedächtnis und versuchte gleichzeitig meinen Atem zu beruhigen. Sobald er spürte, dass er in eine Falle lief, war alles zu spät. Wir hatten nur diese eine Chance. Er wähnte sich in Sicherheit. Gelang es uns nicht beim ersten Mal, dann wäre er gewarnt und jeder weitere Versuch ihn auszuschalten, umso aussichtsloser.

Die Minuten verstrichen quälend langsam. Endlich hörten wir die ersten Stimmen. Fahrzeuge wurden gestartet und rollten davon. Ich machte mich bereit. Ellas Instinkte waren geschärft. Sobald sie den Befehl gab, würden wir angreifen. Jede Millisekunde zählte. Schritte näherten sich. Fast wollte ich unbewusst den Atem anhalten. Ich zwang mich, ruhig weiter zu atmen.

„Jetzt!“ Ellas Stimme, das Aufflammen des Strahlers und mein Sprung hinter dem Bentley hervor, verschmolzen im Bruchteil einer Sekunde. Schon hieb meine den Betäubungs-Pen haltende Faust auf den Nacken des kleineren Mannes hinab, der schützend und überrascht die Hände vor seine Augen hielt. Ein unheimliches Fauchen, das nicht von dieser Welt war, drang aus seinem Mund, als er sich leichtfüßig zur Seite warf und dabei über Ella stolperte, die mit ihrer Spezialwaffe auf seine Brust zielte und feuerte. Das Fauchen änderte sich schlagartig zu einem schrillen Kreischen, das mir beinahe das Trommelfell zerriss. Ella kippte bereits den mit Benzin gefüllten Kanister über der sich windenden Gestalt am Boden aus. „Jetzt! Alex!“

Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie sie Peter mit sich in Sicherheit riss. Ich streckte die Faust mit dem entzündeten Feuerzeug aus und ließ es auf unser bezindurchtränktes Opfer fallen. Mit einem Hechtsprung brachte ich mich ebenfalls aus der Gefahrenzone, bevor die Explosion der Propangasladung, die Ella dem Dämon in die Brust gejagt hatte, mich mit ins Verderben riss. Der Knall der Detonation hallte über den Parkplatz und schreckte die auf uns zu rennenden Menschen ab, die wegen des gellenden Schreis des Besessenen aufmerksam geworden waren. Mit Genugtuung sah ich, dass von unserem Opfer kaum noch etwas übrig geblieben war. Dann jagte ich hinter Ella und Peter her und verschmolz wie sie mit der Dunkelheit.

 

 

 

Cecilia - Superheld gesucht

 

 

 

Daniel beäugte skeptisch mein, zugegebenermaßen etwas giftgrün geratenes, Linsen-Curry. Als er hochsah, registrierte er mein Interesse an seiner Reaktion. Sein Mund verzog sich zu einem verlegenen Lächeln. Rene hingegen aß mit großem Appetit, obwohl er mit dem Kopf wo anders war. Ich erkannte es an seinem starren Rechenblick. „Hm“. Ergeben griff Daniel nach dem Löffel, den ich auf der liebevoll gefalteten Serviette seitlich seines Tellers bereitgelegt hatte.

Seit Tagen verließen die beiden kaum das Labor. Ich war ihnen dort keine große Hilfe. Wenn ich etwas zu Essen brachte, räumte ich erst die größte Unordnung auf und schuf zumindest auf dem Schreibtisch so viel Platz, dass ich ihre zwei Teller darauf unterbrachte.

Unwohl schob Daniel den Inhalt seines Mundes von einer Seite zur anderen, als könnte er sich nicht dazu durchringen ihn einfach hinunterzuschlucken.

 „Du bist nicht sehr angetan von meinen Kochkünsten, stimmt’s?“

Er sank ein wenig in sich zusammen und würgte tapfer den ersten Bissen hinunter. Ich sah, wie seine Ohren rot wurden, und stellte mich auf eine Notlüge ein.

Schnell widersprach er mir: „Du bist eine ausgezeichnete Köchin. Es liegt alleine an mir. Ich bin einfach ein Fleischtiger. Ähm. Zwar habe ich mir vorgenommen, in Zukunft gesünder zu essen, aber ... also ...“ Er rieb sich mit der freien Hand das Ohrläppchen. „Ich ...“

Rene unterbrach ihn: „Tierische Ernährung ist wirklich nicht gesund. Außerdem gefährdet der Konsum von Fleisch und Milchprodukten das Klima und die Biodiversität.“

Ich kniff bedauernd die Augenbrauen zusammen. Ahnend, dass das sicher nicht alles war, was mein Bruder zu diesem Thema beizusteuern hatte.

„Die einen sagen so, die anderen so“, murmelte Daniel und nahm einen weiteren Löffel.

Oh, oh, stöhnte ich innerlich auf. Er würde sich doch hoffentlich nicht auf eine Diskussion mit meinem rechthaberischen, allwissenden Bruder einlassen?

„Mehr als 95 Prozent der Masse der an Land lebenden Wirbeltiere sind domestizierte Tiere, also Haustiere und Nutztiere. Würde man alle Katzen, Schweine, Kühe, Hühner, und so weiter, auf eine Waagschale legen, so wären sie neunzehn mal so schwer wie alle wild lebenden Elefanten, Rehe, Mäuse, Eidechsen und Vögel“, fasste Rene die Fakten zusammen.

Insgeheim gab ich ihm Recht. Normalerweise gilt in der Natur: Je größer ein Tier, desto weniger gibt es davon. Nur wir Menschen hielten uns für etwas Besseres und missachteten dieses natürliche Gefüge.

Daniel schaufelte inzwischen Löffel um Löffel in sich hinein und meinte versöhnlich: „Das ist wirklich sehr gut. Eine gewöhnungsbedürftige Farbe, aber angenehm würzig.“ „Nicht zu scharf?“ Ich hatte einen extra Teelöffel der Cajun-Gewürzmischung hinzugefügt.

Er riss sich ein Stück vom Fladenbrot ab, tauchte es in seinen Teller und erwiderte schmatzend: „Genau richtig für meinen Geschmack.“

„Woran arbeitet ihr?“, versuchte ich, schnell das Thema zu wechseln, bevor Rene weitere Belehrungen vom Stapel ließ. Ich füllte eine kleine Schüssel mit dem Curry und stellte sie auf das Fensterbrett.

Anstatt einer Antwort erhielt ich eine Gegenfrage von Daniel, dessen Blick mir gefolgt war. „Für wen soll denn diese Extraportion sein?“, erkundigte er sich verblüfft.

„Nur zur Sicherheit. Es kann nicht schaden, wenn man sich die Geister gewogen hält. Immerhin bastelt ihr hier an einer Waffe gegen Dämonen.“

Daniel verschluckte sich vor Lachen an seinem Essen und hustete geräuschvoll.

„Siehst du? Über solche Dinge sollte man sich nicht lustig machen“, belehrte ich ihn, während ich gegen seinen Rücken klopfte. Renes Augen fielen ihm fast aus dem Kopf, weil er sie so dramatisch rollte. Ich gab ihm einen sanften Klaps auf den Hinterkopf, damit er wusste, dass ich es gesehen hatte.

„Jetzt weißt du, auf was für eine Frau du hereingefallen bist“, meckerte er. „Sie ist eine Hexe und schlägt mich außerdem.“

„Ja, ja. Verbündet euch ruhig gegen mich. Am Ende werdet ihr es mir danken, dass wenigstens einer von uns um den Beistand Bondieus bittet.“

„Sei froh, dass sie uns nicht mit ihren Rasseln und Trommeln auf den Geist geht“, intrigierte Rene weiter gegen mich.

„Bondieu?“, fragte Daniel zwischen zwei Räusperern. „Ist das also nichts Buddhistisches, was Du hier veranstaltest?“

„Es ist Voodoo, geschätzter Kollege.“ Renes Tonfall ließ keine Spekulationen offen, was er von meinen kleinen Ritualen hielt.

„Oh. Na dann. Solange du keine Puppen mit Nadeln spickst, mein Herz.“

Sollten sich die beiden ruhig lustig machen über mich. Ich war zwar noch sehr jung, als wir unsere Mutter verloren hatten, doch ich wusste, der Glaube war ihr immer wichtig gewesen. Mit meinen kleinen Zeremonien hielt ich gleichzeitig die Erinnerung an sie lebendig. Maman hatte mir erzählt, unsere Großmutter war eine Mambo in dem Dorf, wo sie lebten. Wohl so etwas wie eine Heilerin.

Ich nickte auf die Kreidezeichnung eines Pentagramms auf dem Boden des Versuchslabors. „Und das was ihr hier macht?“, meinte ich schnippisch. „Voodoo heißt übrigens nichts anderes als „Geist“ oder „Gott“. Ihr glaubt nicht an unsichtbare Mächte, und entwerft dennoch eine Waffe gegen Dämonen?“ Ich deutete aus dem Fenster. „Gleich da vorne, diese kleine Kapelle. Das ist doch auch nichts anderes als eine Opfergabe an den Heiligen Geist, oder etwa nicht? Das ist halt meine Art mir die Geister gewogen zu halten.“

Daniel umfasste mit einer raschen Bewegung meine Hüfte und zog mich auf seinen Schoß. „Ich liebe dich, genauso wie du bist. Mein Herz. Auch wenn du voller verblüffender Überraschungen steckst.“ Er hauchte einen angedeuteten Kuss auf meine Nase.

„Es bleibt dir auch nichts anderes übrig. Sie würde sich ohnehin nicht ändern“, bemerkte mein Bruderherz trocken und verschwand in Richtung Toilette. Endlich hatte ich Daniel wieder ganz für mich. Mit den Fingern fuhr ich durch den strubbeligen Schopf, während meine Lippen die seinen suchten. Erwartungsvoll schloss Daniel die Augen. Liebevoll küsste ich zuerst zart seine Mundwinkel, wo noch Spuren der Farbe des giftgrünen Eintopfs erkennbar waren. „Du wirst Dich schon noch an meine Kochkünste gewöhnen,“ murmelte ich leise.

„Wenn mich diese Nachspeise erwartet, könntest Du mir auch geeistes Affenhirn auf Schimmelkulturen servieren.“ Gierig übernahm er die Kussinitiative und ich umschlang seinen Kopf ebenso liebeshungrig.

 

Mehr als ein paar Minuten hatte die Pause von meinem störenden Bruder nicht gedauert. Schon stand er wieder räuspernd neben uns. „Können wir dann weiterarbeiten?“, verlangte er nervig. „Nur keinen Neid,“ drückte Daniel seinen Unmut aus.

Rene holte Luft: „Reduziert auf die Verschmelzung der Gene zweier Individuen ist Sexualität nichts anderes als die Übertragung von Genen. Das findet man in höchst unterschiedlichen Ausprägungen bereits bei Bakterien. Das sind evolutionär sehr alte Lebewesen. Schließlich leben sie schon seit rund 3,5 Milliarden Jahren auf der Erde – Menschen erst seit wenigen Millionen Jahren. Worauf sollte ich also neidisch sein?“

„Immerhin hat sich bewährt, dass Bakterien sexuelle Prozesse entwickelt haben, also die Fähigkeit zur Genübertragung?“, stieg Daniel zu meinem Leidwesen auf das Geplänkel ein.

„Die vermehren sich asexuell durch Teilung, und niemand käme auf die Idee, ihre Vermehrung als sexuellen Prozess anzusehen. Im Grunde ist die Antwort einfach. Alles, was lebt, mutiert. Das ist biologisch unvermeidbar. Leider sind die meisten Mutationen schädlich. Lebewesen, die gelernt haben, solche Schäden zu reparieren, sind evolutionär deutlich im Vorteil. Das vom Partner des Sexualprozesses aufgenommene Gen hat mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit keinen Schaden an derselben Stelle wie der Empfänger. Man bekommt also als Folge der Sexualität eine heile Kopie des defekten Gens und hat die Möglichkeit, damit eigene Fehler zu reparieren,“ redete Rene sich in Fahrt.

„Dann ist Sexualität folglich eine Methode der Lebewesen, genetische Fehler zu reparieren und die Verknüpfung mit Vermehrung ist sekundär. Grund genug also, dich neidisch zu machen.“ Mir gefiel, wie mein Freund Rene den Wind aus den Segeln nahm.

Eingeschnappt ging mein Bruder zurück an die Tafel mit seinen Berechnungen. Daniel wippte nervös mit einem Bein.

Die beiden hatten aufgegessen. „Ich lasse euch schon wieder in Ruhe weiterarbeiten.“ Widerwillig erhob ich mich von meinem anschmiegsamen Platz, nicht ohne mir einen letzten kurzen Kuss zu stehlen, und räumte die leeren Teller ab.

 

Als ich einige Minuten später in der offenen Tür des Labors stand und mich verabschiedete, nahmen beide Männer kaum Notiz von mir. „Der Wert wird im Akkumulator konzentriert. Erkennst Du diesen Spiral- oder Tunneleffekt?“, erklärte Daniel und starrte starr auf ein durchsichtiges Kästchen, in dem ich ... nichts erkennen konnte. „Wohl eher Verwirbelungen,“ antwortete Rene. Mir war das jedenfalls alles zu chaotisch. Seufzend schleppte ich die Reste des Mittagessens zu Daniels Pick up.

 

Die Straße vom Labor zum Haus führte ein ganzes Stück durch einen Wald. Einer Eingebung folgend, parkte ich den Wagen am Straßenrand und wanderte einen halb verwachsenen Holzweg entlang. Nach ein paar Schritten legte sich die stille Atmosphäre wie ein Mantel um mich. Ich fühlte mich wie zu Hause. Hinter unserem Anwesen gab es einen ähnlichen Wald, in dem ich seit meiner Kindheit alleine herumgestreunt war. Nirgendwo anders fühlte ich mich so frei und belebt wie zwischen dem raschelnden Laub am Boden und den rauschenden Ästen über mir. Ein Vogel krächzte hoch am Himmel. Ein Rabe, vermutete ich. In den meisten Kulturen haben diese Tiere eine spirituelle wenn nicht gar magische Bedeutung. Es heißt, für sie gibt es keine Schranke zwischen Leben und Tod. Kein oben noch unten. Überall auf der Welt hat sich der magische Glaube mit allen möglichen Religionen vermischt. Warum spukten mir solche Gedanken durch den Kopf? Hat nicht dieser Toth Ähnliches gesagt?

 

Zurück im Wagen klingelte mein Handy. Es war Pippa.

„Na? Was tut sich bei Dir so?“, erkundigte ich mich nach dem herzlichen Begrüßungsgeplänkel.

„Ich komme gerade von einer Besprechung mit Roman. Ich habe ihm vorgeschlagen, einen guten Bekannten ins Team aufzunehmen.“

„Ach? Und wen und weshalb? Freunde von Ella?“ Kannte Pippa etwa noch mehr Dämonenjäger wie Ella und Alex? Ich ertappte mich dabei, wie ich nervös auf meinen Lippen herumknabberte.

„Ella kennt Ben rein zufällig von seinen Videos im Internet, aber er ist ... nicht wie sie,“ fand Pippa eine neutrale Erklärung auf meine unterschwellige Frage. Neugierig hakte ich nach: „Ich bin gespannt wie ein Regenschirm.“

„Er ist so was wie ein Verwandter, also der fast Stiefvater meines Enkels. Er hat damals geholfen, den Tod meines Sohnes und seiner Frau aufzuklären. Er arbeitet für den Geheimdienst. Er ist Amerikaner, falls ich das noch nicht erwähnt habe. Ich dachte, durch seine Kontakte könnte er Ella, Alex und Peter dabei helfen, Verdächtige auszuspionieren.“

Mir schwirrten sofort einige Episoden aus Akte-X durch den Kopf, wo das unschlagbare Team, Scully und Mulder, im Kampf gegen Mutanten, Killer-Insekten und eine gigantische Verschwörung, die um jeden Preis versucht, die Existenz außerirdischen Lebens zu verschleiern, deren Macht bis in höchste Regierungsebenen reichte, die spannendsten Abenteuer erlebten. Aber das war reine Fiktion gewesen. Eine Unterhaltungsserie.

„Du denkst, dieser Ben würde uns glauben? Wir haben uns doch darauf geeinigt, vorerst nicht mehr zur Höhle zu fahren?“

„Ja. Wenn er mir nicht glaubt, dann wird ihn wohl Ella überzeugen können,“ gab sich Pippa zuversichtlich. „Natürlich würde ich ihn nur unter der Bedingung von totaler Verschwiegenheit einweihen.“

Ihre Idee klang nach einer Freifahrt in den Wahnsinn für diesen armen Bundesagenten. „Was hat Roman zu deinem Vorschlag gesagt?“

„Er war einverstanden. Immerhin habe ich ihn ja schon einmal überrascht, indem ich Ella und Alex ins Spiel gebracht habe.“

Das war natürlich ein Argument. „Wie geht es also weiter?“

Pippa erzählte mir von den bisherigen Erfolgen der drei Dämonenjäger. Alleine vom Zuhören stellten sich mir die Nackenhaare auf. Ich war insgeheim heilfroh, dass wir in Daniels Werkstatt „nur“ an einer Waffe gegen dunkle Wesenheiten arbeiteten und nicht direkt an der Front kämpfen mussten. Ich war schon immer sehr feinfühlig. Vielleicht lag es daran, weil ich beide Eltern so früh verloren hatte und diese einen Anker in die Anderswelt darstellten. Doch bisher waren mir nur wohlgesonnene „Geister“ untergekommen und selbst die auf einer anderen Bewusstseinsebene. Bei tiefen Meditationen zum Beispiel und in Träumen. Von ihnen wusste ich, das physische Reich ist ein großartiger Übungsplatz für unser Bewusstsein. Die Dichte von 3D ermöglicht es, tiefsitzendes Karma zu verarbeiten und loszulassen. Wie gelang es also diesen dunklen Wesenheiten bloß, von ihrer Dimension in unsere überzuwechseln? Wenn jemand dieses Rätsel lösen konnte, dann war es Rene. Und Daniel stand ihm ja jetzt auch zur Seite. „Das hört sich einfach nur gruselig an, ich kann gar nicht glauben, dass das alles tatsächlich passiert, Pippa.“

„Mir geht es wie dir. Ich würde mir auch wünschen, wir hätten einfach eine stinknormale Höhle mit irgendwelchen netten Malereien gefunden, und nicht diese sprechende Superintelligenz, von der wir nicht einmal ansatzweise wissen, ob wir ihr vertrauen können, oder nicht.“

„Also dann. Du hältst mich doch auf dem Laufenden, oder? Mich interessiert brennend, wie dein Ben auf unsere Geschichte reagiert. Und ob er sich überhaupt bereit erklärt, uns zu helfen.“

„Da habe ich keine Bedenken. So wie ich ihn kenne, wird er Feuer und Flamme für meine Einladung sein. Er sieht sich gerne in der Rolle des Retters der heilen Welt, glaub mir.“

Ich starrte nach dem Telefonat noch eine Weile in den Wald und versuchte, seiner harmonischen Atmosphäre nachzuspüren. Ein Retter mehr konnte nicht schaden. Wenn die Prophezeiung von Thoth stimmte, könnten wir eine ganze Armee von Mulders und Scullys brauchen.

 

 

 

Ben - Mission unheimlich

 

 

Unter Schmerzen kämpfte ich mich die Stufen in den zweiten Stock hoch. Der Arzt meines Vertrauens meinte, der Tritt gegen die Kniescheibe hätte lediglich eine Prellung hinterlassen. Es hatte sich angehört, als sei ich ein richtiger Glückspilz. Nur fühlte es sich gerade gar nicht so an. Ich schloss die Wohnungstür auf und humpelte auf der Suche nach meiner besseren Hälfte den Flur entlang. Immer dem ratternden Geräusch der Nähmaschine folgend.

Selmas forschender Blick glitt einmal von meinen Zehen hinauf zu der schwarzen Mütze, die eine frisch versorgte Platzwunde an der Schläfe verdecken sollte. Dann widmete sie ihre ganze Aufmerksamkeit wieder dem Fetzen Stoff vor ihr. Ich versuchte, mir den Schmerz nicht anmerken zu lassen, als ich mich zu ihr hinunter beugte, um ihr einen sanften Kuss auf den Hals zu hauchen. „Hallo Honey“, murmelte ich dabei zerknirscht. Ich wusste, sie war sauer auf mich. Immerhin war ich die letzten vier Tage wie von der Bildfläche verschwunden gewesen. Wegen der Dringlichkeit des Einsatzes hatte ich ihr nicht Bescheid geben können. Sie reagierte dementsprechend eisig auf meine Begrüßung und schwieg wie ein Grab. Damit war zu rechnen gewesen. Um den vorprogrammierten Streit nicht sofort zu provozieren, schleppte ich mich vorerst auf der Suche nach Nahrung in die Küche.

Mein Magen glich einem schwarzen Loch, dem es egal war, was ich in es hineinstopfte. Ich fand ein offenes Glas Oliven, eine Vorratsdose mit selbstgemachtem Hummus und die Reste eines Kartoffelauflaufs, danach schmierte ich mir eine dicke Scheibe Butterbrot und belegte es mit zweierlei verschiedener Käsesorten. Zwei Stück Kuchen fielen der Heißhungerattacke ebenfalls zum Opfer. Mit einem gut gefüllten Glas Scotch machte ich es mir schließlich auf der Couch meines Arbeitsraums bequem und ließ das vergangene Wochenende gedanklich Revue passieren.

 

Ich arbeitete gerne im Feld, auch wenn ich Selma immer wieder versprach, aus dem operativen Geschäft auszusteigen, weil unter dieser Aufgabe das Privatleben zu sehr litt. Mein Hauptfokus war dementsprechend in den letzten Wochen auf dem Kontakt mit V-Leuten und der technischen Beobachtung der Zielperson gelegen. Dann ist einer meiner Männer krankheitsbedingt ausgefallen und ich hatte keine Zeit gehabt zu überlegen. Der Fall ging vor, denn meist ging es um nichts Geringeres als den Kampf gegen organisierte Kriminalität. Auch wenn ich Selma gegenüber alle Fälle so langweilig wie möglich darstellte, damit sie denkt, die meiste Arbeit fände hinter dem Schreibtisch statt und bestünde hauptsächlich aus der Erhebung nachrichtendienstlicher Mittel, wie der Auswertung von verdeckt gewonnenen Informationen. Doch letztendlich war jede Mission mit dem Blick in die tiefen Abgründe der menschlichen Psyche verbunden. Das war ein bekanntes Terrain für mich, was sicher daher rührte, dass beide Eltern sich genau damit beschäftigt hatten. Therapieschäden meinerseits konnte ich daher nicht ausschließen. Außerdem liebte ich diesen Job, weil er mich an meine Grenzen führte und ich mich dabei lebendig fühlte. Ich griff nach dem Handy, das ich mir zuvor in die Brusttasche gesteckt hatte. Eine ganze Liste von entgangenen Anrufen öffnete sich. Auf den ersten Blick sah ich, dass Pippa Moser drei Mal versucht hatte, mich zu erreichen. Der letzte Anruf lag einen halben Tag zurück. Seufzend stemmte ich mich hoch und machte mich auf den Weg in Selmas Atelier.

 

„Pippa hat versucht, mich mehrmals zu erreichen, hast du mit ihr gesprochen?“

Meine Lebensgefährtin schüttelte mit verkniffenen Lippen beinahe unmerklich den Kopf. Dieses Spiel der Ignoranz beherrschte sie perfekt.

„Ist etwas mit Che und Jazy?“, hakte ich nach.

Selma holte tief Luft. Das hieß nichts Gutes. Ihre dunklen Augen funkelten mich böse an. Innerlich wappnete ich mich für eine Standpauke.

„Wir haben dieses Wochenende Jazys Geburtstag gefeiert, sogar Pippa ist gekommen“, warf sie mir mit heftiger Stimme vor. Oh damned! Das hatte ich total vergessen. „Immer sagst du, dass ich mich hundertprozentig auf dich verlassen kann und dann knallt dir doch wieder irgendeine Cyberattacke rein und wir sind dir egal! Ich habe es so satt!“ Sie schrie jetzt in einer Lautstärke, die selbst die dicken altehrwürdigen Mauern unserer Altstadtwohnung nicht mehr schlucken konnten. „Ich habe die drei bis vier Handys satt, die ständig neben deinem Bett liegen und oft mitten in der Nacht läuten. Dass ich nie weiß, wo du bist und ob ich dich jemals wieder lebend sehen werde.“ Ihre Stimme brach bei den letzten Worten.

„Es tut mir leid Honey.“ Ich war zu ihr gegangen und zog sie in meine Arme. „Es geht mir gut. Du weißt doch, Unkraut vergeht nicht.“

Sie stieß mich von sich und zog mir die Strickmütze vom Kopf. „Oh Ben. Und was ist damit?“ Ihr Blick pendelte wässrig zwischen dem dicken Pflaster und meinen Augen hin und her. „Und du bist ein schlechter Schauspieler. Ich habe genau gehört, dass du humpelst. Schon als du die Wohnungstür aufgesperrt hast.“

Schuldbewusst biss ich mir auf die Lippen. „Wie war die Party?“, fragte ich zerknirscht.

Selma schüttelte resigniert den Kopf. „Die Party war toll. Die ganze Familie war da. Und ja, Pippa hatte gehofft, dich anzutreffen. Sie hat wohl eine alte Bekannte, die sie dir vorstellen möchte. Genaueres habe ich nicht aus ihr rausbekommen. Du sollst sie anrufen.“

Ihre letzten Sätze hatten etwas versöhnlicher geklungen. Ich zog sie nochmals in die Arme und sie ließ es dieses Mal geschehen. „I love you, Honey!“, flüsterte ich in ihr dickes dunkles Haar.

„Ich hasse dich, du Hornochse.“ Der Kuss, der dieser Aussage folgte, strafte ihre Worte mit Lügen.

 

 

 

„Grüß dich Benjamin. Na? Hast du erfolgreich die Welt gerettet?“

„Ja klar. Alles wieder im grünen Bereich. Sorry, dass ich am Wochenende nicht dabei sein konnte. Bist du noch im Land?“ Pippa Moser lebte in Hamburg. Wahrscheinlich war sie extra wegen der Geburtstagsparty ihrer Schwiegerenkeltochter nach Österreich gereist.

„Ja. Wir haben ja bereits Sommerferien. Ich bleibe, wie es aussieht noch eine ganze Weile in Salzburg. Ein alter Bekannter hat mich eingeladen. Roman Claudius. Sagt dir der Name etwas?“

„Etwa der millionenschwere Pegasus-Typ?“, erkundigte ich mich.

„Ja. Genau der. Es geht um einen eher ungewöhnlichen Anlass. Näheres will ich aber nicht am Telefon erörtern. Du weißt, die NSA hört mit.“ Ich hörte sie am anderen Ende der Leitung kichern.

„Ich würde zwar meine Hand dafür ins Feuer legen, dass das nicht der Fall ist, aber wenn es dir lieber ist, kann ich gerne zu dir kommen.“

„Das ist gar nicht nötig. Wir wollten ohnehin morgen nach Wien fahren. Wohnen werden wir im Novotel am Hauptbahnhof. Sagen wir, wir treffen uns dort in der Lobby? Um 15 Uhr?“

„Ihr könnt auch gerne zu uns kommen.“ Schlug ich vor.

„Danke. Aber wir sind zu fünft. Roman hat einen kleinen Seminarraum gemietet.“

„Alles klar. Ich freue mich, dich wieder einmal zu sehen.“

„Freu dich lieber nicht zu früh, mein Lieber. Bis morgen.“ Sie legte auf.

Was war das für eine komische Bemerkung gewesen? Sie wusste ja gar nicht, wie schmerzhaft gerade jeder Schritt für mich war. Mir fielen vor Müdigkeit schon die Augen zu. Deshalb beschloss ich, den Rest des Tages mit einem Kühlakku am hochgelagerten Knie im Bett zu verbringen.

 

 

 

Das Taxi war früher als gedacht gekommen, weshalb ich nun schon eine Viertelstunde in der Hotellobby herumsaß und das Kommen und Gehen der Gäste beobachten konnte. Soeben erkannte ich in der hochgewachsenen Gestalt mit den langen weißen Haaren, die aus der Drehtür kam, Pippa. Der Riese neben ihr war mir ebenfalls bekannt. Roman Claudius. Sie unterhielten sich gestikulierend und lachend mit drei weiteren Personen, die wie sie, einen kleinen Trolley bei sich hatten und mit dem nächsten Schwung die Lobby betraten. Es waren noch fünfzehn Minuten bis zu unserem Termin. Interessiert beobachtete ich die Gruppe um Pippa. Rein optisch konnte ich keine Gemeinsamkeiten der Teilnehmer feststellen. Verkörperte Pippa den Typ einer charismatischen Künstlerin, wirkte Claudius dagegen wie der Elefant im Porzellanladen. Die beiden jüngeren Männer waren unverwechselbar Athleten. Wobei der eine mehr nach Ausdauersportler aussah und der andere, mit seinen breiten Schultern, in die Kategorie Bodybuilder fiel. Der Schlankere trug abgewetzte Jeans und ein ausgeblichenes T-Shirt, der andere eine olivfarbige Cargohose und ein schwarzes Poloshirt, das an den Oberarmen und an der Brust spannte. Die dritte Person musste die Frau sein, die Pippa mir unbedingt vorstellen wollte. Sie wirkte wie jemand, der ganz offensichtlich ein Geheimnis hütete. Ihr rotes Haar hatte sie nachlässig im Nacken hochgebunden. Eine übergroße Hornbrille verbarg einen Großteil des Gesichts. In diesem Look könnte sie eine Kollegin von mir sein. Dazu passte aber nicht ihre Kleidung, die zugleich schlicht und teuer wirkte. Mit Stoffen kannte ich mich dank Selma bestens aus. Aufmerksam und gleichzeitig unauffällig erfasste sie das Treiben in der Lobby und für einen Moment trafen sich unsere Blicke. Ich nickte verhalten. Jahrelange Beschattungsarbeit hatte bewirkt, dass ich auf den ersten Eindruck zurückhaltend wirkte und mit dem Hintergrund verschmelzen konnte. Diese Technik funktionierte jedoch nicht bei dieser Lady. Offensichtlich war sie eine mindestens genauso gute Beobachterin wie ich selbst. Sie ging, wie die anderen, auf die Rezeption zu, drehte sich aber nochmals um und sah mir dabei schon wieder mitten ins Gesicht. Das war jetzt mein Fehler gewesen. Etwas an ihr bewirkte, dass ich wie der letzte Stümper observierte. Ich sah, wie die kleinere Frau Pippas Unterarm berührte und etwas leise zu ihr sagte. Daraufhin wandte sich auch meine gute Bekannte um und kam sogleich lächelnd auf mich zugeeilt, als sie mich erkannte.

 

„Ben. Du bist schon da. Schön dich zu sehen.“ Ich hatte versucht, mich möglichst geschmeidig von dem bequemen Sessel zu erheben, und bekämpfte tapfer den tobenden Schmerz in meinem Knie. Grinsend küsste ich die vor mir stehende Frau auf beide Wangen. Wir wechselten ein paar belanglose Sätze über die Familie. Pippa verlor ein paar Worte über meine unpassende Kopfbedeckung und ich entschuldigte mich dafür mit einem schiefen Schmunzeln. Verstehend hoben sich ihre Augenbrauen und sie schüttelte mit leichtem Tadel den Kopf. „Selma hat sich das ganze Wochenende anscheinend zurecht Sorgen um dich gemacht.“

Roman Claudius trat an unsere Seite und hielt Pippa ein Heftchen mit ihrer Zimmerkarte hin. „Ich habe für dich eingecheckt meine Liebe.“

„Roman, das ist Ben“, stellte sie uns einander schlicht vor. Sein Händedruck passte zu seiner Statur. Sein Hemd war so auffällig gemustert, dass es vielleicht etwas von seinem berühmten Gesicht ablenken sollte. Dennoch bemerkte ich einige Blicke um uns herum, die ihn interessiert musterten.

„Ich habe auf der Herfahrt viel von ihnen gehört. Freut mich, dass wir uns kennenlernen.“

Seine offene Art gefiel mir auf den ersten Blick. „Gleichfalls.“ Die anderen drei Personen waren ebenfalls fertig mit dem Check-in und warteten hinter Claudius breiten Rücken. Schon wieder sah ich direkt in das hellwache Augenpaar der schönen Unbekannten. Pippa hatte mein Interesse bemerkt und schob den schwerreichen Unternehmer sanft zur Seite.

„Das sind Ella,“ sie deutete auf die Frau, „Alex.“ Der breitschultrige Mann wirkte aus der Nähe um einiges jünger, als ich ihn von weitem eingeschätzt hätte. „Und Peter.“ Alle drei schauten mich neugierig an. Ich fragte mich, was ihnen Pippa alles über mich verraten hatte. Noch immer hatte ich keinen blassen Schimmer, was die ungleichen Personen vor mir miteinander verband.

Ich grüßte nickend und sagte. „Ihr wollt Euch sicher kurz frisch machen. Ich warte solange hier.“ Bis auf Claudius waren alle mit meinem Vorschlag einverstanden. Dieser zog mich in Richtung Bar und fragte, ob er mich auf ein Bier einladen dürfe. Seinen Trolley drückte er samt einen Geldschein und der Zimmerkarte einem Angestellten in die Hand. Er wirkte dabei weder gönnerhaft noch überheblich, was mich wenig überraschte. Pippa hatte einen gesunden Menschenverstand. Wenn sie ihn als Freund vorstellte, konnte man davon ausgehen, dass sie für diese Bezeichnung hohe Maßstäbe setzte. Er genoss sichtlich sein kühles Bier, obwohl im Regal hinter dem Barkeeper ein kleiner Kühlschrank mit den Getränkedosen aus Claudius Firma stand.

„Ich wusste gar nicht, dass Pippa und sie befreundet sind.“ Begann ich das Gespräch.

„Wir kennen uns noch von unserer Studienzeit her. Pippas Mann und ich waren damals befreundet. Sie hat den Falschen von uns gewählt,“ meinte er und hob dabei bedauernd die Schultern. „Außerdem haben wir uns vor einigen Jahren bei einer Veranstaltung in Hamburg wiedergetroffen.“ Er musterte mich abschätzend. „Pippa hat mir erzählt ...“ Er räusperte sich unbehaglich. „...Sie arbeiten für die amerikanische Regierung?“

Ich nickte verhalten. „Derzeit beschäftige ich mich hauptsächlich mit Cyber Security.“

Ich kannte den Mann seit fünf Minuten und befand, das sei zu wenig um ihm von meinen Loyalitätszweifeln zu erzählen. So patriotisch ich früher Amerika gegenüber eingestellt war, so sehr schämte ich mich derzeit für mein Geburtsland. Seit der Mikrobenkrise und vor allem durch den Blick aus der Ferne auf den ganzen Regierungszirkus, sah ich vieles mit anderen Augen. Das reichte beinahe so weit, dass ich mir den Clown mit den gelben Haaren zurück ins Amt des Präsidenten wünschte. „Ich schwöre, mit Northstream 2 hatte ich nichts zu tun.“ Entschuldigend hob ich beide Hände und machte ein Gesicht, als hätte ich in eine Zitrone gebissen. Zugleich hoffte ich, damit nicht bereits zu viel von meiner Skepsis gegenüber meinem Land verraten zu haben.

„Das beruhigt mich ungemein.“ Er tätschelte brüderlich meine Schultern. „Obwohl ich, also wir“, korrigierte er sich, „selbst ein kleines Attentat auf Sie planen. Aber mehr dazu, wenn die anderen dabei sind.“ Er zwirbelte nachdenklich seinen weißen Schnauzbart und steigerte so nur meine Neugier.

„Arbeiten Ella, Alex und Peter für Ihr Unternehmen?“, erkundigte ich mich beiläufig.

„Peter Waldner ist ein langjähriger Marketingpartner. Sie haben vielleicht schon von ihm gehört. Er ist bekannt für seine Extremstunts und Ausdauer-Touren. Ella und Alex kenne ich selbst erst seit kurzem. Pippa kennt Ella von einer Reise in Mittelamerika und schwärmte von ihren historischen Fachkenntnissen. Und wenn jemand wie sie so ein Lob ausspricht, dann heißt das was.“

Die mysteriöse Frau war also auch Historikerin? Noch immer war ich dem Rätsel keine Spur weiter auf den Grund gekommen. Was steckte wirklich hinter diesem Treffen? Und hinter Pippas sonderbarer Bemerkung gestern am Telefon? Nachdenklich nahm ich ein paar Schlucke von meinem gekühlten Bier. Peter, der Tough-Guy, kam grinsend auf uns zu und orderte sofort ebenfalls ein Bier. Er und Cornelius schienen einen vertrauten Umgang zu hegen und neckten sich wie alte Freunde.

 

 

Als die beiden Frauen und Alex, der offensichtlich so etwas wie der breite Schatten der undurchschaubaren Ella war, ebenfalls so weit waren, wechselten wir in den gemieteten Seminarraum.

„Pippa meine Liebe, wärst du so lieb und klärst Benjamin auf, was wir vorhaben und wobei wir auf seine Unterstützung hoffen?“ Claudius faltete die Pranken vor seinem Bauch und lehnte sich abwartend zurück. Alle Augen waren lauernd auf mich gerichtet. Ich fühlte mich ein wenig wie eine Fliege im Netz.

„Ja, spann mich nicht weiter auf die Folter.“ Ich nickte Pippa auffordernd zu.

 

Viele denken, dass die Menschheit am Höhepunkt ihrer Entwicklung steht. Ich gehörte nicht dazu. Nicht nur, dass neue Forschungsergebnisse uns immer wieder in unsere Schranken weisen. Mein bisheriges Leben hatte mir oft genug gezeigt, wie klein das kollektive Wissen tatsächlich ist und wie groß hingegen die Ignoranz, gegenüber so manch gesicherten Fakten. Nicht zuletzt durch Pippa, war ich vertraut mit aktuellen archäologische Entdeckungen, wie jener in Göbekli Tepe. Diese verändern unser Verständnis über den Ursprung der menschlichen Kultur vollkommen. Und wenn sich unsere Entstehungsgeschichte ändert, müsste sich auch alles Weitere ändern. Auch ich hatte mich gefragt, wie die über tausend Tonnen schweren Steinblöcke in Baalbek hätten bewegt werden sollen und zu welchem Zweck die Pyramiden in Ägypten tatsächlich errichtet wurden. Doch das, was mir Pippa hier gerade erzählte, hörte sich selbst für mich einfach nur unglaublich an. Demnach hätten die fünf Personen hier so etwas wie einen uralten Quantencomputer entdeckt. In einer Höhle hier in Österreich. Peter hatte mir auf seinem Handy verschiedene Videos gezeigt, allerdings zeigte keines davon den aktiven Thoth 39. Keiner der Anwesenden hatte daran gedacht, ein Beweisvideo der Erscheinung zu machen.

„Puh. Das ist eine irre Story.“ Ich hatte noch die Fotos im Kopf, die diese riesigen in Runenschrift beschrifteten Megalithen inmitten der engen Höhlengänge zeigten und die frei schwebenden pyramidenförmigen Objekte. Ahnend, dass ich noch nicht einmal ansatzweise die ganze Geschichte gehört hatte, stöhnte ich auf. „Gut. Also ihr hofft, ich könnte Euch mit diesem Thoth39 weiterhelfen?“ Ich schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich kenne mich einigermaßen mit IT aus, doch wenn es hier tatsächlich um einen Quantencomputer geht, muss ich passen.“

Zum ersten Mal meldete sich Ella zu Wort. Sie lachte amüsiert und sagte: „Deshalb brauchen wir dich nicht.“ Sie duzte mich wie selbstverständlich und es störte mich nicht im Geringsten.

Abwartend hob ich die Augenbrauen.

„Wir haben bereits zwei Wissenschaftler im Team, die gerade an einer Lösung der technischen Probleme arbeiten...“

„Und eine Feng Shui Spezialistin“, ergänzte Peter launig.

„... Cecilia ist viel mehr als eine Feng Shui Spezialistin“, tadelte ihn Pippa.

„... worauf ich eigentlich hinauswollte, Thoth39 hat uns überdies einen Auftrag erteilt“, redete Ella unbeirrt weiter.

„Aha?“ Ich war gespannt mehr zu erfahren.

Sie blickte mich aufmerksam an und sagte: „Wir sollen die Erde von dunklen Machenschaften befreien.“

„Verstehe, ihr plant ein Attentat gegen ...“, ich zögerte, „Putin? Biden? Und ich soll euch Tipps geben, wie man an sie ran kommt?“ Dieses Gespräch wurde immer abstruser.

„Weder noch. Unsere Mission richtet sich nicht gegen Menschen, auch wenn sie noch so unpopulär sein mögen.“ Sie holte hörbar Luft und wappnete sich so für ihren nächsten Satz. „Wir sollen mit Thoths Hilfe die Erde von dämonischen Einflüssen säubern und die Übergänge von deren Dimension in unsere zerstören.“

„Wie bitte? Sorry. Ich habe Dämonen verstanden...“ Eigentlich wollte ich ein Lachen hinterherschicken, doch irgendwie blieb mir dieses im Hals stecken, als ich sah wie mich alle fünf Personen im Raum, ernst ansahen. „Du hast Dämonen gesagt, right?“

Ihre Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln. „Richtig.“

Ich sah hilfesuchend zu Pippa. Deren Mund sah ähnlich mitleidig aus.

„Ich bin IT-Spezialist und kein Akte X Agent!“, rief ich aus. „Was erwartet ihr von mir?“

„Ich habe ihnen von deinen weltweit guten Kontakten erzählt. Du weißt schon, zu Pyotr und anderen, die gegen das organisierte Verbrechen kämpfen“, sagte sie.

„Soweit ich weiß, hat auch von denen bisher keine Dämonen zur Strecke gebracht.“ Ich fühlte einen Anflug von Ungeduld aufkommen.

„Wir bringen die Dämonen selbst zur Strecke. Aber wir könnten ein wenig Unterstützung dabei brauchen“, übernahm Ella wieder das Wort und blickte zu Alex und Peter. Beide nickten.

„Es würde zu lange dauern, uns in den verschiedenen Ländern erst orientieren zu müssen. Wir brauchen Unterstützung dabei, die betreffenden Orden zu observieren und jemanden, der uns den Rücken für unsere Arbeit freihält.“

Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich darauf sagen sollte. Ich sah mich um. „Das ist doch nicht Candid Camera, oder?“

„Wir haben geahnt, dass du uns nicht glauben wirst.“ Pippa sah mich ernst an. „Deshalb wollten die die drei hier,“ sie zeigte auf Ella, Alex und Peter, „dich auf ihre nächste Mission mitnehmen, die hier in der Stadt geplant ist.“

„Es gab also bereits eine Mission?“, hakte ich nach.

„Ja. Wir haben in Salzburg einen verkörperten Fürsten aus dem dunklen Jenseits gefunden ... und ihn getötet.“

Daimos, war ein Begriff aus dem Altgriechischen und bedeutet so viel wie Geist. Nicht nur meine Eltern, auch ich hatte eine fundierte psychologische Ausbildung hinter mir. In irgendeinem Lehrbuch hatte ich darüber gelesen, dass der Brauch, sich beim Gähnen die Hand vor den Mund zu halten, aus dem Mittelalter stammt, als man dachte, ein geöffneter Mund könnte dazu führen, dass Dämonen durch ihn in den Körper eindringen. Tatsächlich gab es schon immer Erzählungen von Menschen, die eine plötzliche und scheinbar unerklärliche Charakteränderung durchmachten, sich selbst verletzten, grundlos schrien und körperlich schwächer wurden. Man vermutet im überwiegenden Teil der Fälle, dass es sich um psychische Krankheiten handelt. Nur selten konnten Ärzte keinen Grund für das Verhalten der Patienten finden. Was, wenn etwas an Ellas Behauptungen der Wahrheit entsprach? Was, wenn es tatsächlich Wesen, aus den verschiedensten Regionen des Jenseits gab? Seien es nun Negative oder Positive?

Ich wusste, dass im Buddhismus Ängste, Sorgen, Süchte und Krankheiten „Dämonen“ genannt wurden. Auch sprach man dort von den Asuras, den bösen Geistern, im Gegensatz zu den lichtvollen Devas. „Ein verkörperter Dämon also. Was unterscheidet ihn von einem bösen Menschen?“ Wollte ich mehr darüber wissen.

„Ein verkörperter Dämon ist ein Wesen, das besondere Kräfte und Fähigkeiten besitzt und dadurch zwischen dem Dies- und dem Jenseits wechseln kann.“

„Das Jenseits? Der Ort an dem unsere verstorbenen Seelen wandern?“

„Nur dunkle und schwache Seelen sind gefährdet dorthin abzuwandern. Genau hier liegt laut Thoth39 die Gefahr. Dämonische Machenschaften verführen derzeit eine Menge Menschen dazu, Angst zu haben, was deren Bewusstheitsfrequenz senkt. Sinkt sie so weit, dass ihre Seelen nach dem Tod dorthin abdriften, stärken sie die Macht der dunklen Fürsten und noch mehr von ihnen können sich auf der Erde verkörpern. Das gefährdet letztendlich auch andere Dimensionen, zum Beispiel jene, die Thoth39 das „Reich der Ritterschaft des Lichts“ bezeichnet.

 

„Was ist also eure Waffe gegen diese Art von Dämonen?“

„Peter hilft vor allem ein meditativer Zustand, den er beim Ausdauersport erreicht. Meditation ist generell eine wirkungsvolle Waffe zu der auch Alex und ich gerne greifen, denn Dämonen können einer ruhigen, gelassenen Person nichts anhaben.“

„Ihr stellt euch also vor diese Dämonen, sagt „Buhh“ und sie fallen tot um?“ Es fiel mir schwer, bei diesem Thema ernst zu bleiben.

Peter sagte lapidar: „So ähnlich, nur mit mehr Blitz und Donner.“

Ich sah ihn fragend an.

„Dem Letzten hat Ella eine Ladung Propangas in die Brust verpasst, nachdem ich ihn zuerst geblendet hatte und Alex hat ihn mit seinem Feuerzeug in die Luft gejagt.“

Ella, diese, auf den ersten Blick unscheinbare Frau, war aktiv an der Dämonenjagd beteiligt gewesen? Gut, sie sah durchtrainiert aus, doch im Vergleich zu den beiden Männern, wirkte sie schwach. Ich äußerte meine Gedanken laut und erntete ein belustigtes Schnauben von Peter.

„Schwach? Du wirst noch dein blaues Wunder erleben“, lachte er.

Noch immer fragte ich mich, ob ich es je so weit kommen lassen würde. Noch während ich den Satz zu Ende gedacht hatte, hörte ich mich sagen: „Erzählt mir mehr über euren geplanten Einsatz hier in der Stadt.“

 

 

 

Daniel - Nichts ist, wie es scheint

 

 

Die Inschrift der Tabula Smaragdina, welche von Hermes Trismegistos verfasst wurde, hatte seit jeher Alchemisten auf der ganzen Welt fasziniert. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich mich selbst zu dieser Zunft der Goldmacher zählen konnte. Mein Ziel war ebenso die Umwandlung von elementaren Schwingungen. Wenngleich ich nicht mit Edelmetallen experimentierte. Die Geschwindigkeit des Lichts ist messbar, die Gier nach Reichtum und Ruhm nicht. Solche Dinge waren nichts anderes als Schall und Rauch, wenn die Erde kollektiv den Bach runter ging, wie uns dieses grün leuchtende Ding im Berg prophezeit hatte.

Die Urqualitäten der Elemente, Feuer, Luft, Wasser, Erde, waren Rene und mir seit unserer Einweihung durch Thoth39, bewusst geworden. Doch das war erst die halbe Miete. Gelang es uns, deren Frequenzen mittels Phasenverschiebung auf eine bestimmte Schwingungsebene zu bringen, wären wir einen Riesenschritt weiter. Nur so würden wir es schaffen, Materie zu erzeugen und zu Vernichten. Unser Hauptaugenmerk lag derzeit bei Zweiterem. Dass es funktionierte, wussten wir durch Ellas unscheinbare Waffe, die hinten im Tresor sicher verstaut lag.

Rene hatte an der Tafel mit Hilfe einer abgewandelten Quantenfeldtheorie ausgerechnet, wie es funktionieren könnte und versuchte seit zwei Stunden, mir seine Theorie zu erklären.

„Ich brauche eine Pause,“ stöhnte ich. „Du verlangst nicht weniger von mir, als deine unsagbar verworrene Theorie zu beweisen.“

„Ich habe meine Aufgabe erfüllt.“ Mit stolzgeschwellter Brust und vor Glück strahlenden Augen betrachtete er die von ihm gemalten Formeln und begann von Neuem, mir Schritt für Schritt seine Überlegungen einzutrichtern. Ich fühlte mich wie ein Blinder, der von einem Blinden die Schönheit einer Blumenwiese erklärt bekam.

„Es ist und bleibt eine übermenschliche Herausforderung,“ jammerte ich. „Wie es ohnehin irrsinnig ist, es einer Handvoll zusammengewürfelter Leute zu überlassen, den Planeten vor dämonischen Einflüssen zu säubern.“

„Sollte es uns nichtsdestotrotz gelingen, wäre es eine revolutionäre Entdeckung und unser Ruhm unermesslich.“

 „Eine Entdeckung, die in den Händen der falschen Menschen, ebenso leicht zum Weltuntergang führen könnte, wie die Entwicklung der Atombombe,“ orakelte ich gepresst. Die Überlegung verursachte mir ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Mein Kollege schien solche Skrupel nicht zu kennen. Er wirkte, als tüftelte er insgeheim schon an weiteren Anwendungsmöglichkeiten.

Cecilia, die ein Buch lesend auf der breiten Fensterbank gesessen hatte, stand auf und schlang Ihre Arme aufmunternd um meinen Hals. „Sicher denkt ihr beide zu kompliziert. Immerhin wussten schon unsere Vorfahren, dass die sichtbare Welt nur eine trügerische Illusion ist, hinter der sich ein magischer Kosmos befindet, den sie die Anderswelt nannten. Es gibt tausende Sagen und Mythen über Wesen, die alleine mit ihrem Willen Unglaubliches vollbracht haben. Sie konnten zaubern und fliegen, Formen verwandeln, Tote zum Leben erwecken, ihr müsst nur den richtigen Ansatz finden. Nur weil etwas unsichtbar ist, heißt das nicht, dass es nicht da ist.“

„Verschone uns mit deinen esoterischen Märchen,“ stöhnte Rene. „Du lenkst Daniel von der Arbeit ab. Hast Du nichts mehr zum Aufräumen?“

Kaum wahrnehmbar atmete Cecilia tief durch und ignorierte die Stichelei ihres Bruders. Mir gelang es hingegen nicht, mich zurückzuhalten: „Was bist du nur für ein gefühlloses Arschloch?“, brauste ich auf.

Cecilia fasste mich beschwichtigend an. „Das höre ich doch gar nicht mehr. Reinste Energieverschwendung. Er kann nichts dafür. Was er nicht wissenschaftlich beweisen kann, hält er für Blödsinn. Gib ihm die Zeit es durchzurechnen und er ändert seine Meinung. Ich weiß, wie er tickt.“

„Dann sprich weiter,“ munterte ich sie auf, „ich könnte einen neuen Ansatz wirklich gebrauchen. Derzeit stehe ich an.“

Cecilia schüttelte überfordert lächelnd den Kopf und wollte sich umwenden. Dabei fiel ihr Blick aus dem Fenster. Ihre Augen verengten sich erst. Dann kniff sie das Linke ganz zu und runzelte die Stirn. „Obwohl.“ Sie schaute ihren Bruder nachdenklich an. „Früher haben wir doch dieses Spiel gespielt. Ich sehe was, was du nicht siehst. Erinnerst du dich, Rene?“ Kapitulierend rollte der Angesprochene mit den Augen. „Ich sehe was, das ist groß und braun, grün und bewegt sich im Wind.“ Erwartungsvoll hob sie die Brauen.

Es lag auf der Hand, dass sie den riesigen Baum meinte, der vor meiner Werkstatt stand. Ich sprach meine Vermutung laut aus. Abwartend sah Cecilia Rene an und wartete auf seine Antwort.

Er seufzte. „Wer kann schon wissen, was dein Gehirn aus dem elektrischen Frequenzgewirr da draußen zusammenschustert.“

„Komm schon, das kannst du besser. Daniel kennt unser kleines Spiel immerhin nicht.“

„Also gut. Die Elektronen in den Atomen des Stamms, der Äste und Blätter werden durch die Sonneneinstrahlung, die nichts anderes ist, als elektromagnetische Energie mit verschiedenen Frequenzen, angehoben. Dabei werden die Einzelquanten, beim Sonnenlicht sind es Photonen, von den Materieelektronen des Baums absorbiert. Einen gewissen Anteil der zugeführten Energie benötigen die materiellen Bestandteile des Baums für die Versorgung der pflanzlichen Zellen. Ein weiterer Teil der angeregten Elektroenergie ist nicht verwertbar, und fällt in seinen Grundzustand zurück. Dabei sendet der Baum elektromagnetische Energie aus. Deshalb kannst du ihn nur bei Tageslicht sehen und nicht, wenn es dunkel ist.“

„Ich nannte es immer <Rene erklärt die Welt>“, lachte Cecilia mit glockenheller Stimme. „Wir konnten es stundenlang spielen.“

„Also gut, ich glaube ich habe verstanden, worum es geht. Jetzt bin ich dran“, scherzte ich. Mein Zeigefinger trommelte gegen meine zusammengepressten Lippen. „Ich sehe einen Empfänger und Sender unzähliger überlagerter elektromagnetischer Schwingungen. Quasi einen Photonensender.“

Überrascht weiteten sich Cecilias Augen. Mit einer Geste bedeutete sie mir, weiterzusprechen.

„Das Schwingungsmuster wird zu deinem Gehirn weitergeleitet und deine Augen sind Photonenempfänger“, wagte ich mich weiter vor. „Photonen übertragen Energie und Information und lösen, wenn sie auf die Stäbchen und Zäpfchen deiner Augen treffen“, Rene hob zu einer Korrektur an, doch Cecilia stoppte ihn mit einer forschen Geste, „eine physikalisch-chemische Reaktion aus, die wiederum die elektrische Spannung deiner Nervenzellen verändert.

„Dadurch werden sie als elektrische Impulse durch dein Gehirn geleitet und dieses konstruiert daraufhin ein Muster, indem es unzählige elektrische Frequenzen, Impulse und Wellen verrechnet und interpretiert“, vollendete Rene meine Antwort. „Von einem Baum ist aber weit und breit noch nichts zu sehen.“

„Das stimmt, es braucht den Geist um aus physikalischen Energien Gegenstände zu formen“, übernahm ich wieder die Erklärung.

„Ein wahrer Schöpfungsakt, also?“, fragte Cecilia lauernd. „Oder ein Wunder?“

Rene starrte stumm den Boden meiner Werkstatt an. Kein Wissenschaftler konnte heute schlüssig erklären, wie aus elektrischen Gehirnaktivitäten Bilder entstanden. Nichts ist, wie es scheint. Alles nichts als eine perfekte Illusion.

Und plötzlich machte es Klick.

Wir waren die ganze Zeit von falschen Parametern ausgegangen. Aufgeregt studierte ich abermals die Formel, die Rene auf meine Tafel geschrieben hatte. Als wäre ihm soeben derselbe Gedanke eingeschossen, stellte sich mein Kollege neben mich. Um einiges schneller als ich, fand er den Fehler. Noch während er mit einem Schwamm und einem Rest Kreide die Korrekturen vornahm, stellte ich mich an unseren Versuchstisch und änderte die Einstellungen. Die extra dafür angebrachte Kontrolllampe leuchtete einige Minuten später grün. Bisher hatte ein rotes Licht alle unsere Versuche als gescheitert angezeigt. Zur Sicherheit wiederholten wir den Test. Dann fielen wir uns schulterklopfend in die Arme. Streng genommen klopfte ich Rene auf die Schultern. Er ließ das stocksteif mit sich geschehen, aber ich erkannte an seiner überheblichen Mimik, dass er etwas empfand, auch wenn er seine Gefühle nicht so überschwänglich nach außen kehrte, wie Cecilia und ich.

 

 

 

„Wir können Spock und Rene nicht alleine lassen“, erkläre Cecilia mir zum hundertsten Mal, während ich sanft meine Hände über ihren Körper wandern ließ. „Das würde diese süße Fellnase nicht überleben. Rene bestellt sich notfalls eine Pizza, aber Du weißt so gut wie ich, dass dein Kater lieber in den Hungerstreik treten würde, als eine seiner erbeuteten Mäuse zu fressen.“

Kurz überlegte ich, trotz aller Vorbehalte Eva zu fragen, ob sie für ein paar Tage nach dem Rechten schauen konnte. Kathi war noch immer in München.

Wir hatten unseren Erfolg den Teamkollegen gemeldet, die sich in Wien auf einen weiteren Einsatz vorbereiteten. Fakt war, jemand von uns sollte den Dämonenstaubsauger-Prototyp auf den schnellsten Weg zu ihnen bringen. Prinzipiell hatte ich sofort für mich entschieden, diese Aufgabe zu übernehmen, doch hätte ich meine Süße gerne an meiner Seite gewusst. Seit Stunden diskutierten wir das Thema.

„Du bist die letzten Jahre sehr gut alleine zurechtgekommen“, machte mich Cecilia aufmerksam. Wir lagen im zerwühlten Bett. Mühsam befreite sie sich aus meiner festen Umarmung und suchte spöttisch grinsend den Blickkontakt.

„Ich dachte nur, wir könnten uns ein romantisches Wochenende in Wien machen. Ein nettes Hotel. Ein Zimmer ganz für uns alleine. Nur wir beide“, versuchte ich ein letztes Mal, es ihr schmackhaft zu reden.

„Das sind doch nur Wunschgedanken. Du weißt, was bei den Dämonenjägern abgeht. Sicher brauchen sie dich für eine Einweisung und rechnen mit deiner Hilfe, falls es zu unerwarteten Problemen mit dem Ding kommen sollte.“

Das „Ding“ hatte noch immer keinen Namen. Bei dem Gedanken, man könnte mich in einen Dämonen-Einsatz hineinmanövrieren, stellten sich mir alle Haare auf. Für Grusel- und Horrorgeschichten hatte ich nie etwas übrig gehabt. Teil des wissenschaftlichen Teams zu sein, war mir sehr entgegengekommen. Ich hatte nicht vor, an diesem Zustand etwas zu ändern.

Cecilia schien meine Gedanken zu lesen. Aufmunternd zerstrubbelte sie meine ohnehin zerzausten Haare. „Wahrscheinlich bist du morgen schon wieder zurück.“ Ihre sanften dunklen Augen vertieften diese Zuversicht. Es fiel mir leicht, mich in ihnen zu verlieren. Die kurze Anwandlung von Unbehagen verflog so schnell, wie sie gekommen war.

„Woran denkst Du?“ Ihr Blick öffnete sich fragend.

„An gar nichts mein Schatz. Ich fühle mich einfach nur wohl. Hier mit dir. Zum ersten Mal, empfinde ich, tatsächlich hier zu Hause zu sein. Angekommen.“ Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihr erklären sollte, was ich in ihren Augen wahrnahm. Wie erklärte man das Gefühl, in einen tiefen Brunnen zu blicken? Einen Ort, der einen lockte. Der ein Geheimnis barg, von dem ich am Grunde meiner Seele wusste, dass ich es bereits kannte, aber mir nichts sehnsüchtiger wünschte, als mich daran zu erinnern.

 

 

 

 

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 13.07.2021

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