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Che

 

 

Ein süßer Duft lag im Raum und verriet mir, dass Jazy schon auf war und wie jeden Morgen, frische Orangen ausgepresst hatte. Mit dem fahrigen Blick eines Psychos suchte ich die geräumige Wohnküche nach ihr ab. Enttäuscht nahm ich mir ein Glas aus dem Schrank über der Spüle. Ich hatte sie verpasst! Mit der Hand fühlte ich kurz die Temperatur des Wasserstrahls. Er wurde schnell kühl und ich füllte das Glas randvoll. Trank es, ohne abzusetzen, in einem Zug leer. Es war seit frühester Kindheit mein Ritual am Morgen, um munter zu werden. Andere brauchten dafür Kaffee, doch schon meine Urli hatte mir immer eingetrichtert: „Das ist köstliches Hochquellwasser aus den östlichen Kalkalpen! Was Besseres gibt es nicht auf nüchternen Magen, Bub!“

Dann ging ich zum Mixer, um mich um mein Frühstück zu kümmern. Ein Glas stand daneben und war mit einem Notizzettel abgedeckt. „Für Che!“ Dümmlich grinste ich den Smiley an, den Jazy für mich unter diese zwei Wörter gemalt hatte. Ich hob den Zettel und kippte das halbe Glas Orangensaft in den Mixer. Dann schälte ich eine Banane, zerteilte sie grob und gab sie dazu. Im Kühlschrank fand ich noch eine halbe Avocado. Großzügig würzte ich das Ganze mit der Chai-Tea-Mischung und schaltete das Gerät ein.

„Immer dieser Krach in aller Herrgottsfrüh!“, jammerte Julian und hielt sich theatralisch die Ohren zu. Er hatte anscheinend wieder eine durchzechte Nacht hinter sich. „Warum kannst du nicht einen Toast essen, oder Müsli, wie wir anderen?“

Seine Espresso-Maschine machte genauso viel Lärm wie der Mixer. Das hatte ich ihm schon unzählige Male gesagt, aber auf diesem Ohr war er taub. Ich leerte meine Frühstücksmischung in mein Glas und setzte mich neben ihn an den großen Esstisch. Er hielt sich jetzt an seinem überdimensionalen Kaffeebecher fest. Sein Handy hatte er beiseitegelegt.

„Spät geworden gestern?“, versuchte ich halbherzig mit ihm ins Gespräch zu kommen.

Er gähnte herzhaft. „Wo lebst Du eigentlich? Glaubst Du wirklich, ich geh derzeit noch aus? Da waren zigtausend Wiener beim Karneval in Venedig! Dagegen ist Ischgl ein Lercherlschas!“, entrüstete Julian sich. „Ich habe für die Klausur gelernt“, ergänzte er nach einer kurzen Pause.

Tom war gerade aus dem Bad gekommen und hatte den letzten Satz noch mitbekommen: „Was? Du lernst noch? Gestern in der Pressekonferenz haben sie bekannt gegeben, dass Kinos und Theater zusperren müssen und es keine Veranstaltungen in geschlossenen Räumen ab 100 Personen mehr geben darf! Wirst sehen, als Nächstes sperren die bei uns auch die Unis zu, wie in Italien! Ich tu mir die Streberei nicht mehr an!“

 Schon wieder dieses nervige Thema. Alles drehte sich seit Tagen, Wochen, nur noch um diese Pandemie! Ich konnte es nicht mehr hören. Schnell flüchtete ich ins freigewordene Badezimmer, bevor Julian mir zuvorkam.

Während ich unter der Dusche stand, machte ich mir trotzdem auch so meine Gedanken über diesen Virus. Der tat im Grunde auch nur das, was wir Menschen tun. Er steigt ins Flugzeug ein, oder in die Bahn, steigt um, trifft Freunde und hinterlässt Chaos. Er spiegelt damit das destruktive Verhalten der Menschheit auf der Erde. Wir sollten ihn ehren! Nationalität ist ihm fremd. Chinesen sind ihm genauso recht wie Italiener, Norweger und Österreicher. Die Erde ist rund, wie der Virus. Der lässt sich nicht davon aufhalten, dass neuerdings keine Flugzeuge aus China mehr bei uns landen durften.

Normalerweise dachte ich an angenehmere Dinge, wenn ich unter der Dusche stand. Jazy, wie sie am Morgen nach dem Aufstehen aussah. Jazy, wie sie in ihren Sportklamotten aussah. Jazy, wie sie am Abend aussah, wenn sie sich zum Ausgehen hergerichtet hatte. Ich bin kein Stalker, oder so. Hoffe ich zumindest. Ist man ein Stalker, wenn man sich das Profilfoto einer Person zehn Mal am Tag ansieht?

Was blieb mir anderes übrig? Meine Traumfrau wohnt zwar mit mir unter einem Dach, doch sobald sie mir nahe kommt, spielen meine Gedanken verrückt und ich kann ihr nicht mehr ins Gesicht sehen! Nicht dass ich ihr auf den Busen starre, oder den Arsch. Nein, meistens schaue ich einfach auf meine eigenen Zehenspitzen. Sicher hielt sie mich für einen verklemmten Spinner! Ich stellte die Dusche ab und trat vor den Badezimmerspiegel. Seufzend fuhr ich mir durch die nassen Haare. Ich war ein verklemmter Spinner! Mein Vater war ein großer bärtiger Österreicher gewesen, meine Mutter eine wunderschöne kleine Malaysierin. Das wusste ich, weil ihr Hochzeitsfoto auf meinem Nachttisch stand. Warum konnte ich nicht ein wunderschöner großer bärtiger exotischer Mann sein? Irgendwie hatten sich die Chromosome bei mir einen tollkühnen Spaß erlaubt. Ich war nur durchschnittlich groß, versuchte seit Jahren, endlich einen Dreitagesbart zu bekommen, hatte blaue Augen, dunkle Haut, Sommersprossen und das feine glatte schwarze Haar meiner Mutter. Es war mir ganz recht, dass der Spiegel sofort angelaufen war, als ich die Duschkabine verlassen hatte. Meinen zarten Flaum über der Oberlippe, hatte ich erst am Montag gestutzt, es würde also erst in einem Monat wieder etwas in meinem Gesicht zu tun geben.

 

Ich kann nicht behaupten, dass ich es beunruhigend fand, dass die Bim pünktlich kam und fast leer war, dass die Mitmenschen verschämt in ihre Armbeugen niesten, dass sich niemand genau gegenüber von mir hinsetzte. Jetzt herrschte plötzlich eine ganz neue Aufmerksamkeit. Es war unwichtig, ob man irgendwie ausländisch aussah. Leute, die sonst aufs Handy starrten, schauten sich jetzt um - wer sitzt da? Ist der gesund? Ich fand es nie okay, dass man Arbeiten oder zur Uni ging, wenn man krank war. Schon auf dem Weg steckten sie einen mit Husten an. In den Supermärkten niesten sie auf Lebensmittel. Es war lange fällig, dass da ein Umdenken passierte. Kranke Menschen sollten zu Hause bleiben und auf ihren Körper hören! Das Leben ist viel zu kurz, um sich keine Sorgen darüber zu machen, hatte meine Urli immer gesagt. Vielleicht sollte ich schön langsam mein Fahrrad aus seinem Winterquartier im Keller holen. Die Sonne strahlte fröhlich, als ob nichts wäre, vom wolkenlosen Himmel und ich hatte die Winterjacke heute gar nicht erst mitgenommen.

Am FH Campus war alles wie gewohnt. Die Leute standen dicht beisammen und machten Scherze.

„Hey, Oliver!“, begrüßte mich Toni, mein Studienkollege und Freund seit unserer gemeinsamen Zeit auf der HTL. Mit ihm hatte ich gerade ein Projekt laufen. Wir kreierten unser eigenes Computerspiel. „Land of Dragons“ war der Name, auf den wir uns nach einigem hin und her geeinigt hatten. Unser Team bestand aus zwei "Game Directors". Das waren er und ich. Er wog über 100 Kilo und war somit für die Locations und das Setting zuständig. Ich für die Nahkampfszenen. Natürlich ging es um Martial Arts. Nachdem ich im Kindergarten das erste Mal von anderen Jungs vermöbelt wurde, hatte mich meine Urli in einer Kung Fu Schule angemeldet. Inzwischen unterrichtete ich dort selbst Kinder. Es war für mich also quasi logisch gewesen, diese Richtung einzuschlagen. Toni war es egal. Er war nicht nur im echten Leben ein miserabler Kämpfer. Am liebsten hätte er irgendein Strategiespiel entwickelt. Da konnte ihm so schnell niemand das Wasser reichen. Die meisten der anderen Teams würden wohl wieder auf Ego-Shooter-Varianten setzen. Vielleicht konnten wir uns so von denen abheben. In unserem Spiel wurde nur mit Schwert, Speer, Nunchaku und Flammenwerfer gekämpft. Der Flammenwerfer diente hauptsächlich dem spektakulären Effekt.

Jedes Jahr gab es einen Wettbewerb am Spielesektor. Das Siegerteam bekam einen lukrativen Sponsorvertrag. Letztes Jahr waren wir als blutige Anfänger mit Pauken und Trompeten untergegangen, obwohl wir uns jede freie Minute dem Projekt gewidmet hatten. Hunderte Stunden Arbeit für umsonst. Dieses Jahr hatten wir unser gesamtes Erspartes in die neueste Software für diesen Markt investiert. Unser Konzept stand, das Storyboard hatten wir fertig. Jetzt ging es an die Feinheiten.

„Ich finde, die Wellen auf dem See sehen noch nicht echt genug aus!“, konfrontierte ich Toni auch sogleich mit meiner Kritik an seiner gestrigen Arbeit. Wir hatten ein sauteures Photoshop-Programm, um auf Fotos die Illusion von Bewegung zu erzeugen. Toni hatte das noch nicht so richtig im Griff. Unser Ziel war es, den User glauben zu machen, die von uns kreierte Welt würde tatsächlich existieren.

„An der Atmosphäre muss ich noch feilen. Vielleicht sollte ich den Mond doch etwas kleiner gestalten.“

„Alter! Die Wellen! Sie bewegen sich noch nicht echt genug!“, versuchte ich, es ihm noch einmal klar zu machen.

„Wir könnten ihn violett leuchten lassen, was denkst du?“

Ich trat einen Schritt zurück und nahm meine Brille ab. Putzte sie mit dem Zipfel meines Shirts. Toni hatte eine furchtbar feuchte Aussprache. In Zeiten wie diesen sollte ich wohl besser sogar zu ihm einen gewissen Abstand einhalten.

„Kannst du bitte einmal kurz den Mond vergessen? Lass uns über den See reden!“

„Vielleicht wäre türkis mal was Neues?“

Das war so typisch für Toni. Er quälte mich ständig mit seiner Unkonzentriertheit. Meine Kritik landete bei ihm in einer Art Bermudadreieck. Er antwortete zwar, aber meist hatten seine Antworten nichts mit dem zu tun, was ich zu ihm gesagt hatte. Andererseits war er ein Genie, was die Inszenierung anging. Also gab ich nach: „Die Größe des Mondes finde ich vollkommen okay. Violett halte ich für besser als türkis.“

Er versuchte, den Abstand zu mir wieder zu verringern. Schnell wich ich einen weiteren Schritt zurück. „Wir müssen zur Vorlesung!“ Ich nickte zum Eingang in den Hörsaal. Wir waren schon unter den Letzten, die noch am Gang herumstanden. „Lass uns nach dem Seminar chatten!“

Selbst die Professoren waren heute unkonzentriert. Skeptisch ließen sie die Blicke über die dichtbesetzten Reihen der Vorlesungsrsäle streifen. Ich dachte an eine Meldung, die ich heute im Internet gelesen hatte. Mittlerweile wurde auch vor Weihwasser gewarnt! Zum Glück gab’s bei aller Dramatik immer noch was zu lachen. Ein Mitarbeiter von Bolsonaro war bei Trump gewesen und kam Corona positiv zurück. Corona hilf!

Die letzte Vorlesung entfiel dann auch prompt. Am Heimweg hörte ich Nachrichten über meine Kopfhörer. Irgend so eine Superkoryphäe der Medizin schob Panik wegen Corona. Dann kündigte der Sprecher eine neuerliche Pressekonferenz der Regierung an.

Ich wechselte auf meine Lieblingsplaylist. Es gab überhaupt keinen Grund, die Menschen durch statistische Horrorszenarien in Panik zu versetzen, aber genau das passierte gerade. Auch im Internet. Die Informationen kamen kreuz und quer daher und waren doch meistens reine Spekulationen. Die Leute schienen dennoch beunruhigt zu sein. Während in den Medien vermummte Menschen in Italien gezeigt wurden, Wahlhelfer Mundschutz und Handschuhe trugen, fuhren bei uns die Familien mit ihren Kindern quietschfidel und null vermummt zum Schilaufen in die Berge, belagern dort die Hütten. Alles in bester Laune. Es war verrückt.

Ich nahm den Bus. Man durfte nicht mehr vorne einsteigen! Nur noch hinten. Da standen die Leute dann aber genauso dichtgedrängt wie immer. Ich stieg zwei Stationen früher aus und lief das letzte Stück zu Fuß.

Daheim angekommen setzte ich mich sofort an den PC und widmete mich unserem Projekt.

Kurz vor 16.45 Uhr zeigte der Newsticker an, dass gleich die angekündigte Pressekonferenz starten würde. Gestern hatten sie die Bevölkerung gebeten, das soziale Leben für einige Wochen zu reduzieren, um die Ansteckungsgefahr für ältere Menschen zu verringern. Mal sehen, was ihnen heute so einfiel. Ich wechselte zu den Nachrichten.

Es ist schwer zu beschreiben, wie ich mich fühlte, als der Unterrichtsminister die Präsenzlehre an allen österreichischen Universitäten, Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen abgesagt hatte. Man werde möglichst in all diesen Instituten das Unterrichten durch distance learning ersetzen. Auch alle Schulen und Kindergärten sollten geschlossen werden. Die Kinder sollten in den kommenden Wochen ihre Aufgaben von den Lehrkräften per E-Mail oder über eine Lernplattform erhalten. Ausnahmen gab es nur für Kinder, deren Eltern in ihrem Beruf unabkömmlich waren. Dazu zählten Ärzte, Krankenschwestern, Supermarktangestellte, Apothekerinnen und Polizisten. Irgendjemand musste diese Verordnungen immerhin auch kontrollieren. Die Maßnahmen sollten bis Ostern gelten. Mein erster Gedanke galt unserem Projekt. Jetzt würden wir noch mehr Zeit dafür haben, freute ich mich kurz. Ganz wohl war mir aber bei dem Ganzen trotzdem nicht. Ich sah auf den Kalender. Bis Ostern! Das waren vier Wochen! Wie sollten wir dieses Semester abschließen, wenn uns doch diese Zeit fehlen würde? Das mit dem distance learning hörte sich gut an, ob es sich allerdings auch umsetzen ließ, würde sich erst weisen müssen. Ich zog mir meine Sportsachen an und ging eine Runde laufen. Sonst fuhr ich immer eine Station mit der U-Bahn bis zur Donauinsel. Heute lief ich direkt von der Haustüre weg.

Als ich zurückkam, hatten sich meine drei Mitbewohner in der Wohnküche versammelt.

„Che! Gut dass du kommst! Wir diskutieren gerade wegen der nächsten Wochen!“, überfiel Tom mich, sobald er mich bemerkt hatte.

„Ich muss duschen!“, verkündigte ich das Offensichtliche. Ich würde mich sicher nicht verschwitzt und stinkend neben Jazy setzen! Irgendwie fehlte mir auch die Lust, mich schon wieder mit diesem leidigen Thema zu beschäftigen.

Im Prinzip war ich gar nicht der Typ für eine WG. Als Einzelkind war ich diese ständigen Diskussionen auch gar nicht gewohnt. Meine Eltern hatten sich bei einem Greenpeace Einsatz in Malaysia kennengelernt. Als mich meine Mutter gerade abgestillt hatte, wurde ich von ihnen bereits in die Obhut meiner Uroma gegeben, in deren Wohnung wir alle gemeinsam wohnten. Meine Eltern hatten sich für einen Einsatz auf der Altair gemeldet. Dieses Greenpeace Schiff sollte die Versenkung der Brent Spar Ölplattform nördlich von Großbritannien verhindern. Sie waren bei den Aktivisten dabei gewesen, die diese Plattform besetzten. Sie wollten gegen die Versenkung derselben im Meer kämpfen, mitsamt den giftigen Ölrückständen darauf. Die Besetzung traf damals auf große mediale Aufmerksamkeit. Es gab Boykottaufrufe, die großes Echo in den Medien und der Bevölkerung fanden. Viele Firmen ließen ihre Autos nicht mehr bei Shell tanken. Daraufhin sanken die Umsätze der deutschen Shell-Tankstellen um bis zu 50 %. Meine Eltern kamen von dieser Reise nie wieder zurück. Sie galten seither als vermisst. Meine Großmutter wohnt in Hamburg. Ich wuchs deshalb bei meiner Urgroßmutter auf. Ich hatte meine Urli heiß geliebt. Sie war alles, was ich hatte! Nur in den Sommerferien war ich manchmal ein bis zwei Wochen bei Großmutter. Meistens kam aber sie zu uns nach Wien. Als ich größer wurde, hat sie mich jedes Jahr auf eine ihrer Studienreisen mitgenommen. Da waren auch immer nur alte Leute mit. Meine Großmutter ist eine geschiedene Geschichtsprofessorin. Mein einziges männliches Vorbild war mein Shaolin Kung Fu Lehrer Ming. Er hatte in China versehentlich einen Mann im Wettkampf getötet und war zur Buße ins Exil gegangen. Hier lehrte er dementsprechend die gewaltlose Selbstdisziplin des Kung Fu. Von ihm hatte ich auch gelernt, mit meinen Problemen selbst klar zu kommen. Diskussionen waren sowohl ihm, als auch meiner Großmutter und Urgroßmutter, ergo auch mir, ein Gräuel.

Als ich aus dem Badezimmer kam, blickten mir drei Augenpaare entgegen. Nur eines davon war für mich von Relevanz. Jazy war eine natürliche Schönheit. Ihre dichten Brauen bildeten einen perfekten Bogen um ihre warmherzigen, dunkelbraunen Augen. Immer wenn sie mich mit ihnen anlächelte, ging die Sonne in meinem Herzen auf. Sie schien glücklich zu sein und ich war glücklich, wenn sie glücklich war. In diesem Zustand innerer Harmonie setzte ich mich zu ihnen an den Tisch.

„Wir haben gerade überlegt, ob wir uns testen lassen sollten!“ Julians Äußerung machte sogleich einen Großteil dieser Harmonie wieder zunichte.

„Ach hör doch mit deinen Tests auf!“ Tom schnaubte genervt in die Runde. „Niemand von uns, außer dir, denkt daran sich testen zu lassen!“

Dieser Gedanke wäre mir auch im Traum nicht in den Sinn gekommen. Wozu? Wenn einer von uns sich irgendwo angesteckt hatte, würde sich das in den nächsten Tagen zeigen. Bis dahin sollten sich ohnehin alle an den Sicherheitsabstand zu anderen Menschen halten und sich regelmäßig die Hände waschen. Händeschütteln war seit einigen Tagen in Verruf geraten. Man grüßte sich jetzt mit dem Ellbogen, in den man zuvor hineingeniest hatte, oder mit den Schuhen, an denen noch weit bedenklichere Keime hafteten. Ich hatte noch nie allzu viel vom Händeschütteln gehalten. Wenn man bedachte, wie viele Menschen sich nach der Toilette nicht die Hände wuschen, hätte diese Maßnahme eigentlich schon viel früher kommen müssen.

„Die Jungs wollen heimfahren bis nach Ostern!“ Jazy fasste kurz und prägnant zusammen, worum es wirklich ging.

So etwas hatte ich mir schon gedacht. Wenn die Unis zu hatten und man am Abend keine Partys besuchen sollte, würde es den beiden schnell langweilig werden. Insgeheim hatte ich ja den Verdacht, sie wären ohnehin nur nach Wien gekommen, um Mädchen aufzureißen. Das Studium diente wohl eher als Vorwand. Julian war Salzburger. Tom Tiroler. Doch auch Jazy kam aus der Provinz. Alarmiert suchte ich in ihrem Gesicht nach einem Hinweis, dass sie dasselbe vorhatte. Warte! Sie hatte gesagt, die Jungs wollten heimfahren! Nicht wir!

„Ja. Kann ich verstehen!“, äußerte ich mich erwartungsgemäß. Sicher wollten sie wissen, ob sie für die nächsten Wochen trotzdem Miete bezahlen mussten. Ich überlegte kurz. Die Anschaffungen für unser Projekt hatten mein Konto überdurchschnittlich belastet, doch ich hatte noch genügend Reserven auf diversen Sparkonten. Großzügig bot ich ihnen daher an: „Wir können die Miete bis nach Ostern aussetzen.“ Ich wollte nicht riskieren, dass sie den Mietvertrag auflösten. Lieber verzichtete ich auf einen Monat, als mich an neue Leute zu gewöhnen. Außerdem schien mir die Vorstellung, für eine so lange Zeit mit ihnen in der Wohnung zusammenzuhocken, nicht erstrebenswert. Wir gingen uns auch so schon manchmal mächtig auf die Nerven.

„Bist ein feiner Kerl, Che!“ Tom hieb mir anerkennend auf den Rücken.

„Ja! Da hast du eindeutig etwas gut bei uns!“, äußerte sich auch Julian erfreut.

Jazy hüpfte mit strahlenden Augen auf ihren Stuhl und riss die Arme hoch. „Lasst uns das doch mit einer Pizza-Party feiern! Was sagt Ihr?“

Wenn sie so überschwänglich reagierte, konnte keiner von uns ihr den Wunsch abschlagen. Noch dazu, wo sie uns den Rest der Woche mit ihren Currys und Aufläufen verwöhnte. Jazy war ein Pizza-Junky. Normalerweise stand sie auf gesundes Essen, aber mindestens einmal pro Woche bestand sie darauf, sich etwas vom Italiener kommen zu lassen, der eigentlich Türke war. Der hatte sich schon damit abgefunden, die Family-Pizza nach unseren Vorlieben zu belegen. Jazy mochte nur Käse, Oliven und Sardellen, Julian Salami, Tom eine Pizza-Hawaii und ich nahm immer eine Tonno. Ihr Vorschlag fand wie immer unsere Zustimmung. Wir spielten eine Runde Karten, bis der Pizza-Bote läutete. Ich war froh, dass das Thema Corona fürs erste vom Tisch war.

Julian war zum Kühlschrank gegangen und hielt jetzt triumphierend ein Six-Pack Corona Extra hoch. „Was haltet ihr von einer Schluckimpfung? War gar nicht so einfach, die zu bekommen! Ich war in drei verschiedenen Supermärkten. Auf der Tankstelle hatten sie dann noch was.“

Normalerweise machte ich mir nicht viel aus Bier, oder Alkohol im Allgemeinen, doch bei gegebenem Anlass sah ich großzügig über diese Tatsache hinweg. Noch dazu, wo sich Julian derart ins Zeug gelegt hatte.

Wir aßen die Pizza mit unseren Fingern direkt aus dem Karton. Genüsslich leckte Jazy ihre nach dem letzten Bissen ab. Bei früheren Gelegenheiten musste ich dabei immer an andere Dinge denken. Jetzt war meine Hauptsorge, wann sie zuletzt ihre Hände gewaschen hatte. Mit Müh und Not konnte ich verhindern, meine Bedenken laut auszusprechen. Womöglich würden sie mich ohne viel Federlesens in die nächste Klapse einweisen lassen. Die Gehirnwäsche griff. Meine Wahrnehmung befand sich in einem besorgniserregenden Zustand der Umprogrammierung. Ich stand auf und holte mir ein Blatt Küchenrolle, mit dem ich meine eigenen Finger säuberte.

Als wir später das unterbrochene Kartenspiel fortsetzten, ekelte es mich vor den dunklen Pünktchen auf den Spielkarten. Die verbreiteten sich dort seit Monaten munter und würden diversen Virentests wahrscheinlich das Fürchten lehren. Ich spielte mit Julian zusammen. Wir hatten gezogen, wer mit wem spielen musste. Niemand würde freiwillig mit Julian spielen! Er war ein Hasardeur und darüber hinaus ein Pechvogel. Ohnehin war es eine Zumutung, welch abstruse Regeln im Wilden Westen Österreichs beim Bauernschnapsen herrschten. Doch da hatte ich mich längst der Mehrheit meiner Mitbewohner gebeugt. Wir kassierten schon wieder ein Bummerl!

„Im Leben geht es nicht darum, gute Karten zu haben, sondern auch mit einem schlechten Blatt gut zu spielen!“, warf ich ihm den Lieblingsspruch meiner Urli vor.

„Ich kann nichts dafür! Die Fetzenschädeln haben einfach mehr Glück!“

„Seid froh, dass wir nicht Strip-Poker spielen“, meinte Jazy schmunzelnd.

Sie verstand sich darauf, mich immer wieder auf andere Gedanken zu bringen.

 

Nachdem Julian irgendwann auch noch die letzten beiden Flaschen Corona Extra vernichtet hatte und unser Rückstand uneinholbar geworden war, donnerte er wütend die Karten auf den Tisch: „Ich geh jetzt packen! Ich möchte morgen so früh wie möglich abhauen! Bevor alle anderen auf dieselbe Idee kommen.“

Tom meinte, das wäre eine gute Idee und verzog sich ebenfalls auf sein Zimmer. Mein Herz pochte wie verrückt. Das geschah jedes Mal, wenn ich mit Jazy alleine im Raum war. Sie stand auf und räumte den Tisch ab.

„Magst du noch irgendwas?“, fragte sie, während sie die leeren Flaschen in den Karton zurückstellte.

Da fielen mir auf Anhieb tausend Sachen ein. Ich schüttelte stumm den Kopf.

Du Idiot! Auf solche Fragen sollte ich mich wirklich besser vorbereiten. Ich saß vor dem PC. Der Abend hätte nicht so enden müssen. Wie gerne wäre ich so wie mein Avatar in unserem Computerspiel. Mutig, willensstark und voller Selbstvertrauen. Geleitet einzig von dem Ziel, die Drachenbraut zu erobern. Frustriert pumpte ich den Oberkörper der Figur auf, bis er dem Hulk ähnelte und der Kopf im Vergleich die Größe eines Stecknadelkopfes hatte. „Speichern oder abbrechen?“, fragte mich das Programm. Ich entschied mich seufzend für „abbrechen“. Wenn man nur alles so leicht ungeschehen machen könnte! Mir fehlte die Motivation zum Weiterarbeiten. Ich fuhr den PC runter und ging in mein Schlafzimmer. Angezogen legte ich mich auf den Futon und schloss die Augen.

Ich träumte davon, dass Jazy zu mir ins Zimmer kam. Das Licht ausschaltete und auf mich zu kam. In meinem Traum lief langsame, weiche Musik. Marvin Gaye oder so etwas. Stunden um Stunden hatte ich bereits mit dieser Phantasie zugebracht. Obwohl es nur ein Gefühl war, machte es mich total an. Ich war der Mann, den sie wollte.

Die Realität sah anders aus. Ich wusste, auf welchen Typ Mann Jazy stand. Sie brachte selten jemanden mit in die Wohnung, aber wenn, dann waren das so Chuck Norris Typen. Kerle, die Bienen kauten, statt Honig zu essen. Vielleicht nicht ganz so alt, aber doch mindestens zehn Jahre älter als ich. Keine Ahnung, wo sie die aufgabelte. Vermutlich Tinder, oder so etwas. Jazy ging nicht oft aus. Diese Männer blieben nie lange, ein paar Tage, das längste war eine Woche gewesen. Was konnte ich da schon dagegenhalten. Ich hatte bisher noch nicht einmal ein Mädchen geküsst!

 

Der nächste Morgen war hektisch. Julian und Tom blockierten das Badezimmer, weil sie noch einen Vormittagszug kriegen wollten. Wir hatten zwar ein zweites Badezimmer, aber das lag genau zwischen Jazys beiden Räumen und ich hatte sie heute noch nicht gesehen. Ohne ihre Erlaubnis würde ich das nicht benutzen.

Mit Ach und Krach erreichte ich noch meine Straßenbahn. Nur um am Campus festzustellen, dass ohnehin alle Vorlesungen abgesagt worden waren. Ich war nicht der Einzige, an dem diese Info vorbeigegangen war. Von Toni war auch keine Spur zu sehen. Ich entschied, wo ich schon einmal hier war, mich in der Uni-Bibliothek mit Lesestoff für die nächsten Wochen einzudecken. Erstaunlicherweise war wenig los, ich hätte mit dem Gegenteil gerechnet. Ich verbrachte fast den ganzen Vormittag dort. Das Mädchen an der Registrierung sah großzügig darüber hinweg, dass ich mehr Bücher auslieh, als normalerweise erlaubt war. Ich nahm so viele mit, wie ich schleppen konnte. Von den meisten erhoffte ich mir, nützliche Hinweise für unser privates Projekt zu finden.

Beim Schließen der Haustür fiel mir eines der schweren Bücher polternd hinunter und rief Frau Sedlacek, unsere Hausmeisterin, auf den Plan. Sie wohnte im Erdgeschoß und war die gute Seele des Hauses. Als meine Urli vor zwei Jahren nicht mehr aus ihrem Mittagsschläfchen erwacht war, hatte sie sich um mich und alle nötigen Schritte gekümmert. Sie hatte meine Großmutter verständigt und mir Essen gebracht. Sie war es auch gewesen, die mir vor einem Jahr nahegelegt hatte, mir Mitbewohner zu suchen. „Du solltest schön langsam versuchen, mit Menschen in deinem Alter zusammenzukommen!“, hatte sie mir geraten. Nachdem ich mich nach reiflicher Überlegung mit dieser Idee angefreundet hatte, war sie es gewesen, die den Kontakt zu unserem Nachbarn aus der Wohnung über meiner hergestellt hatte. Sie hatte gewusst, dass der nach einer geeigneten Studentenwohnung für Jazy gesucht hatte. Ich wusste damals nicht viel von diesen Nachbarn. Sie lebten erst seit einigen Jahren hier. Jazy und ihre Geschwister hatte ich nur selten an den Wochenenden im Stiegenhaus getroffen. Es war eine dieser Patchwork-Familien. Sie war mir aber schon damals aufgefallen. Der Freund von Jazys Mutter war kein Mann, der lange herumfackelte. Er hatte sich meine Wohnung angesehen und bestimmt, welche Räume er mieten wollte. Zuvor hatte er mich wie einen Schwerverbrecher verhört. Anscheinend hatte er mich für vertrauenswürdig gehalten. Er hatte den Mietvertrag sofort unterschrieben und nicht einmal gewartet, bis das neue Semester anfing. Das waren immerhin drei Monatsmieten, die er sich hätte ersparen können. Geld spielte für ihn offensichtlich keine Rolle. Die Vermietung der beiden Zimmer für Julian und Tom hatte ich dann über einen Aushang an der FH organisiert.

„Oliver! Gut dass ich dich sehe! Warte! Ich habe Gulasch gemacht. Ich gebe dir was mit!“, rief mir Frau Sedlacek zu. Sie verschwand in ihrer Wohnung und kam wenig später mit einem kleinen Kochtopf zurück und einer kleinen Packung Alufolie. „Ist noch heiß, wenn du dich beeilst! Das sind Fleischreste für Filou!“ Sie hob das Päckchen Alufolie hoch. Jetzt sah sie, dass ich gar keine Hand mehr frei hatte. „Oder komm gleich zu mir rein zum Essen!“, schlug sie vor.

„Lieber nicht! Frau Sedlacek, Sie haben doch sicher von den Verordnungen gehört? Für ältere Leute kann dieser Virus ganz schön gefährlich sein! Ich wollte Ihnen eh schon anbieten, in der nächsten Zeit Ihre Einkäufe und Besorgungen zu übernehmen. Bis dieser Zirkus vorbei ist.“

„Das ist aber lieb von dir, dass du dir über mich hochbetagtes, runzeliges Weib solche Sorgen machst! Warte, ich hole dir eine Tasche für die ganzen Bücher. Dann kannst du das Essen zu dir mit rauf nehmen.“ Sie kam mit zwei großen Plastiktaschen zurück. Ich verstaute die Bücher. „Hier hast du noch fünf Semmeln! Die werden bei mir sonst eh nur hart!“

Ich bedankte mich und vereinbarte mit ihr, mich am nächsten Tag wegen des Einkaufszettels bei ihr zu melden.

 

In der Wohnung stellte ich den Kochtopf auf den Herd und brachte die Bücher in mein Arbeitszimmer. Als ich zurückkam, erwischte ich Jazy, wie sie neugierig den Deckel vom Topf hob und hineinschnupperte.

„Mhmm Gulasch!“

„Reicht sicher für uns beide, wie ich Frau Sedlacek kenne“, sagte ich.

„Perfekt! Ich habe eh noch nichts gegessen!“

Mein Herz machte vor Freude einen Sprung. Ich rief nach Filou, meinem Kater, und gab die Fleischbrocken aus der Alufolie in seinen Napf.

Die Türglocke läutete. Gleichzeitig klopfte es an der Wohnungstür. Ich rechnete mit Frau Sedlacek, die vielleicht noch eine Nachspeise vorbeibrachte, doch als ich die Tür öffnete, stand da Jazys Mutter.

„Hallo Oliver!“, begrüßte sie mich. „Ist Jasmin da?“

Hatte ich mich zu früh gefreut und würde sie jetzt Jazy zum Essen in ihre Wohnung holen?

„Tag! Ja, soll ich sie holen?“ Ohne abzuwarten rief ich in die Wohnung: „Deine Mum ist da!“ Ich wandte mich wieder der Frau vor mir zu. „Wollen Sie reinkommen?“ Überraschenderweise nickte sie. Jazy tauchte hinter mir auf.

„Mama!“ Jazy klang erstaunt. Es kam nicht allzu oft vor, dass ihre Mutter zu uns in die Wohnung kam.

Ich folgte den beiden Frauen. Jazys Mutter war Modedesignerin. Sie war ein ganzes Stück kleiner als ihre Tochter. Die fehlenden Zentimeter glich sie allerdings mit ihren High Heels aus. Ohne diese Dinger hatte ich sie noch nie gesehen. Sie trug eine dunkelgraue elegante Hose und eine silberne Bluse. Ihr Haar war etwas kürzer. Von hinten wirkten die beiden wie Schwestern.

In der Küche konfrontierte uns Jazys Mutter umgehend mit dem wahren Grund ihres Auftauchens. „Habt Ihr die Pressekonferenz gesehen?“ Sie wartete unsere Antwort erst gar nicht ab. Unsere ratlosen Gesichter reichten ihr, um weiterzusprechen: „Ab Montag müssen alle Geschäfte zusperren! Ausgenommen Lebensmittelgeschäfte, Apotheken und Trafiken. Das heißt, ich muss auch das Studio schließen.“ Sie seufzte. „Wir haben gerade beschlossen, bis Ostern nach Hause zu fahren. Kommst du mit? Die Unis bleiben bis dahin ja auch geschlossen.“

Jetzt würde also Jazy auch abhauen! Enttäuscht zupfte ich an meinem Oberlippenbart und warf ihr einen abwartenden Blick zu. Im Geiste sah ich mich schon, wie zuletzt in den Weihnachtsferien, alleine herumhocken. Das einzige Highlight war damals der Heilige Abend gewesen. Frau Sedlacek hatte mich auf Bratwürstel mit Sauerkraut eingeladen. Dann haben wir die Kerzen am Adventkranz angezündet und ihr vorsintflutliches Radio hatte „Stille Nacht“ gekracht. Den Rest des Abends hatten Filou und ich mit einem riesigen Teller Kekse vor dem Bildschirm verbracht und zum wahrscheinlich zehnten Mal „Kevin allein zu Hause“ geschaut.

„Was wirklich? Ist ja krass! Alle Geschäfte?“ Jazy hatte ihre Stimme wieder gefunden.

„Auch alle Friseure, Fitnessstudios, Schilifte,  ... Tanzstudios!“, ergänzte Jazys Mutter.

„Puh!“ Jazy sah mich mit großen Augen an. Dann kniff sie die Augenbrauen zusammen. „Ich weiß nicht!“

Bestand vielleicht doch noch die Hoffnung, sie könnte bleiben? Ein unergründliches Lächeln umspielte ihren Mund.

„Ich glaube, ich bleibe hier bei Che!“

Ich senkte schnell meinen Blick. Ich hatte Angst, sie könnte meine Freude bemerken.

„Bist du sicher Schatz?“, hakte ihre Mutter nach.

„Ja. Ja, ich bin sicher!“

„Aber pass bitte gut auf dich auf! Geh an die frische Luft und denk daran, was Gesundes zu essen!“

„Mach dir keine Sorgen! Schöne Grüße an Papa!“

Jazys Mutter umarmte ihre Tochter kurz und berührte mit ihrer Wange die von Jazy. Wahrscheinlich eher aus Sorge um ihre sorgfältig geschminkten Lippen, als aus Angst vor irgendwelchen Viren.

„Na, dann macht’s gut ihr zwei!“

Jazy brachte sie zur Tür. Als sie zurück in die Küche kam, gab sie mir einen Klaps auf den Hintern.

„Los! Worauf wartest du? Wärm das Gulasch auf!“, befahl sie mir dreist.

Vor lauter Nervosität fiel mir der Kochlöffel zweimal aus der Hand.

 

 

Jazy

 

 

„Du wirkst durcheinander!“

„Ich bin nur überrascht, dass du geblieben bist.“

„Ist es dir nicht recht? Ich kann meiner Mutter noch immer Bescheid geben?“

„Nein! Bleib. Bitte.“

Vorhin, als ich überlegt hatte, ob ich mit nach Hause fahren sollte, war da ein Ausdruck in seinen Augen. Er wirkte wie der einsamste Mensch auf der ganzen Welt. Da hatte ich von einem Augenblick zum nächsten aus tiefstem Herzen gewusst, ich würde bleiben. Mit meiner Yogamatte und dem Laptop hatte ich immerhin alles, was ich brauchte. Egal wo ich war.

Der herzhafte, würzige Geruch nach Gulasch, der in der Luft hing, ließ mir das Wasser im Mund zusammenrinnen. Ich war dabei den Tisch zu decken. „Was glaubst du, wird dieses Social Distancing mit uns machen?“

Che drehte sich etwas zu mir um. Dann nickte er zu Filou hin, der gierig die Fleischbrocken verschlang. „Frag ihn! Er ist Experte in Social Distancing!“

Ich musste grinsen. Ja, ein Schmusekater war Filou wirklich nicht. Hin und wieder ließ er sich großzügig neben einem nieder, wenn man ruhig auf der Couch saß, doch kaum bewegte man sich, war er auch schon wieder weg.

Mit Che alleine zu sein, fühlte sich komisch an. Wie oft hatte er fluchtartig den Raum verlassen, nur damit es nicht zu dieser Situation kam? Ich wurde einfach nicht schlau aus ihm. Er war irgendwie smooth. Auf eine etwas verrückte Art. Aber ich mochte das. Und er war definitiv kein Checker! Julian und Tom hatten keine Woche gebraucht um herauszufinden, ob bei mir was ging. Che hatte es bis heute nicht getan. Vielleicht war er wirklich schwul, wie die beiden anderen Jungs behaupteten. Ich hatte gehört, wie sie sich über seinen Oberlippenbart lustig gemacht hatten. Nur Schwule würden sich so ein Ding wachsen lassen. Tja. Es sah wirklich ein wenig sonderbar aus, aber irgendwie auch süß. Manchmal verhielt er sich wie ein großer Bruder. Wenn Julian und Tom irgendwelche blöden Bemerkungen gemacht hatten, war er ganz selbstverständlich dazwischen gegangen.

Che kam mit dem aufgewärmten Topf Gulasch und setzt sich mir gegenüber. Ich sog hungrig den Atem durch die Nase ein. Als wäre es das Natürlichste auf der Welt, nahm er zuerst meinen Teller, um ihn zu füllen. Er hatte voll schöne Hände. Groß, aber nicht zu groß. Lange Finger, gepflegte Nägel. Überhaupt wirkte er immer sehr ordentlich. Einige meiner besten Freunde an der Uni waren schwul, was machte ich mir also Sorgen? Vielleicht, weil ich mir insgeheim wünschte, er wäre es nicht?

„Was hast du heute noch vor?“, versuchte ich, ein Gespräch ins Laufen zu bringen.

„Ich arbeite da gerade mit einem Freund an einem Projekt. Ein Computerspiel! Wahrscheinlich werde ich daran weiter tüfteln.“

„Cool. Zeigst du es mir einmal?“

Er warf mir einen erstaunten Blick zu.

„Klar. Wenn´s dich interessiert.“

Eigentlich sagte er mir nichts Neues. Er lümmelte stundenlang an seinem Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer. Meist hatte er die Tür einen Spalt offen, wegen der Katze. Drei riesige Bildschirme vor sich. Das große Che Guevara Banner an der Wand. Daher rührte auch sein Spitzname. Nicht weil er irgendwie exotisch asiatisch aussah. Offensichtlich war er ein Fan. Zu Halloween hatten Julian und Tom eine Party geschmissen und Oliver hatte sich als Che Guevara verkleidet. Seither nannten wir ihn so. Er schien nichts dagegen zu haben und der Name passte viel besser zu ihm, als Oliver. Er hatte, wie Che Guevara, diesen Blick, der einem sagte, dieser Mensch weiß ganz genau, wofür er lebt.

Jemand läutete schon wieder an der Wohnungstür. Ich stand auf. Vielleicht hatte meine Mutter etwas vergessen.

So war es dann auch. Sie trug ein Sakko und hatte bereits ihre Handtasche umgehängt. Offensichtlich war sie gerade am Aufbrechen. In einer Hand brachte sie von ihr designte Masken als Mundschutz. Für mich hatte sie welche mit dem Om-Zeichen, für Che im Military-Look.

„Der Hausmeisterin bringe ich auch welche vorbei“, informierte sie mich und zeigte mir Masken im selben Muster wie die Kleiderschürzen von Frau Sedlacek.

Ich nickte lachend.

Dann überreichte sie mir einen kleinen Karton, den sie unter dem anderen Arm getragen hatte. Ich hob neugierig den Deckel an.

„Deine Räucherschale?“

„Ja. Und eine Beifuß-Räuchermischung. Von Sonja. Sie schwört darauf, dass es gegen Viren hilft!“

Papas Freundin kannte sich mit Kräutern und deren Wirkung aus. Diese Feststellung schien mir aber dann doch etwas weit hergeholt. Trotzdem sagte ich: „Da kann uns ja nichts mehr passieren. Ich werde die Bude so richtig einnebeln. Kommt gut heim! Und lasst euch im Zug nicht anstecken!“

„Wir nehmen einen Mietwagen!“ Meine Mutter war schon wieder im Treppenhaus verschwunden. Das Klacken ihrer hohen Absätze hallte durch den Flur. Sie war nicht der Typ für überschwängliche Abschiedsrituale.

Che bestaunte die Masken mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich setzte meine probehalber auf. „Schön langsam fühle ich mich wie kurz vor der Apokalypse“, sagte er.

„Ja. Bloß ohne Zombies!“, gab ich ihm recht.

„Und das?“ Er deutete auf den Karton.

„Wir sollen die Wohnung damit ausräuchern. Beifuß. Das ist ein Kraut.“

„Weiß ich!“

Ich hob interessiert die Brauen.

Er grinste hintergründig. „Sagt dir Megingiard etwas?“

„Hört sich nach irgendeiner grauslichen Krankheit an. Fußpilz?“

Er schüttelte lachend den Kopf. „Das muss ich meinem Freund schreiben!“

Aha! Seinem Freund?

Die Frage stand mir wohl auf die Stirn gemalt. „Er ist Marvel-Experte. Also, der Megingiard ist der Gürtel, der Thor seine unerschöpfliche Kraft verleiht! Und jetzt kommt´s, er besteht aus Beifuß!“

Das war eine erstaunliche Information, aber ich lenkte das Thema auf etwas, was mich im Moment noch mehr beschäftigte: „Du nimmst nie Freunde hierher mit!“

„Ach, Toni geht nicht so gern außer Haus. Gerade mal zu den Vorlesungen.“

Verdammt! So kam ich nicht weiter!

„Ich kann euch nachher vorstellen, wenn du willst. Er ist mein Partner bei dem Computerspiel. Wir können eine Video-Konferenz machen.“

Das könnte vielleicht aufschlussreich sein. Ich neigte interessiert den Kopf zur Seite.

„Magst Du noch einen Schöpfer?“

Er war so aufmerksam! Ich lehnte dankend ab. Er gönnte sich noch einen Nachschlag.

„Was ist eigentlich dein Lieblingsessen?“ Wir hatten darüber noch nie gesprochen.

Er atmete geräuschvoll ein und aus und ich ärgerte mich plötzlich nachgefragt zu haben. Offensichtlich hatte ich einen wunden Punkt erwischt. Er blinzelte ein paar Mal schnell hintereinander. Ich biss mir betreten auf die Lippen.

„Hm!“ Er hatte sich gleich wieder gefangen. „Hühnerschnitzel mit Erdapfelsalat! Meine Uroma konnte aus einer Hühnerbrust, so ein riesiges Schnitzel zaubern!“ Er formte mit seinen Händen die Größe einer Pizza nach. „Da können nicht einmal die Schnitzel von Frau Sedlacek mithalten.“

„Können wir ja nächste Woche einmal probieren, was sagst du?“

Er grinste wie ein kleiner Junge. „Deines ist Pizza! Stimmt´s?“

„Nein! Ich meine, Pizza ist ganz OK, aber meine Lieblingsspeise ist die Lasagne, die mein Papa macht!“

Schön langsam fühlte sich das hier an wie ein Date! Ich fegte mit der Hand Brösel vom Tisch und fing sie mit meinem leeren Teller auf. Che tunkte mit dem letzten Bissen seiner Semmel das restliche Gulasch auf. Zufrieden lehnte er sich im Stuhl zurück und klopfte auf seinen rausgestreckten Bauch.

„Soll ich dir noch ein Bier bringen Schatz?“ Ich war aufgestanden um die Teller abzuräumen. Wir mussten beide gleichzeitig draufloskichern.

Auf dem Tisch stand meine durchsichtige orangene Trinkflasche. Ein Sonnenstrahl fiel gerade im richtigen Winkel durchs Fenster, um sie wie eine kleine Sonne zum Strahlen zu bringen.

„Wow! Siehst du das?“ Ich war nicht sicher, ob es aus seiner Perspektive genauso cool aussah.

Er folgte meinem Blick und studierte fasziniert die Flasche. „Das bringt mich auf eine Idee!“ Er stand auf und verschwand in seinem Arbeitszimmer. Die Tür ließ er offen.

Ich räumte die Teller in den Geschirrspüler und folgte ihm zögerlich. Womöglich hatte er ja sein Angebot von vorhin schon wieder vergessen. Ich betrat sein Reich zum ersten Mal. Neugierig sah ich mich um. Der Raum war beinahe leer. Es gab nur den Schreibtisch und an der Wand daneben ein Bücherregal bis auf Fensterhöhe. Das Fensterbrett war ebenfalls mit Büchern vollgeräumt. Keine Vorhänge, nur die Jalousien. Der Rest des Zimmers war mit dicken blauen Matten ausgelegt, wie wir sie früher im Turnunterricht in der Schule hatten. Auch die beiden leeren Wände waren mit den Matten gepolstert. Ein seltsames Gestell stand in einer der Ecken. Ich trat hinter ihn an den Schreibtisch. Sah ihm über die Schultern. Seine Maus flitzte in einem sagenhaften Tempo über den Bildschirm. Öffnete dabei mehrere unterschiedliche Programme. Auf einem der Bildschirme erschien eine märchenhafte Fantasielandschaft.

„Das sieht toll aus!“, kommentierte ich wenig professionell, was ich sah.

„Warte!“ Er markierte einen Bereich der Landschaft. „Siehst du die Flasche hier?“ Er zeigte auf eine kleine Phiole, die am Ast eines knorrigen Baumes baumelte. „Das ist eine Art Zaubertrank! Du weißt schon, so etwas wie die Pilze bei Super Mario!“

Ich nickte, ohne zu wissen, wovon er sprach.

„Was hältst du davon?“ Mit einem Mausklick brachte er die Phiole zum Glühen. Er stützte seinen Ellbogen lässig auf die Lehne des Bürostuhls und sah mich an.

Ich verstand, was er meinte. Doch irgendetwas störte mich an dem Bild. Im Hintergrund versank eine rotglühende Sonne am Horizont. Über der Szene schwebte noch ein anderer riesiger violetter Planet, der sich in den leichten Wellen eines Sees spiegelte.

„Du solltest vielleicht auch den Sonnenstrahl, der das Glühen auslöst, sichtbar machen! Kennst du diese magische Stimmung im Wald kurz vor Sonnenuntergang? Wenn die letzten Strahlen durchs Blätterdach dringen? Dann würde es noch stimmungsvoller aussehen.“ Ich malte mit den Fingern imaginäre Sonnenstrahlen vor die Szene.

Er richtete sich auf. Seine Maus flitzte wieder hektisch von einem Bildschirm zum Nächsten. Nach wenigen Minuten hatte er die Strahlen programmiert, aber noch zu hell. Er sah es selbst und korrigierte etwas nach.

„Jetzt ist es perfekt! Du bist wirklich gut!“

Er ließ die Spielfigur losmarschieren. Zielstrebig nähere sie sich dem Zaubertrank. Fischte ihn mit einer beiläufigen Bewegung vom Baum und setzte ihn an die Lippen. Kaum hatte die Figur die Flasche geleert, konnte man eine strahlende Aura um seinen Kopf erkennen.

„Willkommen in unserem Team! Wir müssen uns noch einen Titel für deine Beraterarbeit überlegen, aber in den Nachspann hast du es schon geschafft!“

Er aktivierte ein weiteres Programm und eine Videoübertragung öffnete sich. Ich sah in ein rundes bärtiges Gesicht mit einer Hornbrille.

„Erde an Toni!“, sagte Che und warf den Kopf leicht zurück. Eine Haarsträhne war ihm über die Augen gefallen.

In einem kleineren Feld sah ich Che´s Gesicht und meinen Bauch. Ich bückte mich, bis mein Gesicht ganz nahe an seinem war und die Kamera auch mich zeigte.

„Oha!“ Der Bärtige starrte neugierig auf seinen Bildschirm. „Du hast Besuch?“

„Darf ich vorstellen? Unser neuestes Teammitglied – Jazy!“

„Sitzt sie auf deinem Schoß, oder so? Sieht nämlich so aus. Ich hoffe, ihr verhütet!“

Ich musste lachen. „Hi Toni!“ Ich grinste in die Kamera. „Keine Angst, ich arbeite nur ehrenamtlich!“ Dass ich auch die Pille nahm, erwähnte ich nicht extra.

„Freut mich trotzdem dich kennenzulernen, Jazy!“

Che erzählte ihm von der leuchtenden Phiole und den Strahlen und schickte ihm das letzte Update. Toni gefiel es offensichtlich. Die Beiden fachsimpelten ein wenig hin und her. Dann beendete Che den Videoanruf. Ich hatte es mir auf einem großen Gymnastikball, den ich unter dem Schreibtisch entdeckt hatte bequem gemacht.

„Sag mal, was tust du hier drinnen?“ Ich nickte zu den blauen Matten.

„Das ist meine Blue-Box! Soll ich dir zeigen, wofür ich die brauche?“

Ich nickte.

Er bückte sich und zog aus einer Box neben dem Schreibtisch verschiedene Utensilien hervor. Verdrahtete Handschuhe und Socken. Knie- und Ellenbogenschoner. Eine ärmellose Taucherjacke, die ebenfalls verkabelt war. „Zieh das an!“ Während ich der Aufforderung nachkam, nahm er aus einer Schachtel eine Folie, auf der farbige Punkte aufgebracht waren. Er klebte mir zwei davon auf die Stirn und zwei weitere auf die Wangen. „So jetzt such dir eine Puppe aus!“ Er machte ein Programm auf, das zur Erstellung eines Avatars diente. Ich entschied mich für ein Äffchen. Dann schickte er mich auf die Matten und richtete eine Kamera auf mich. „Mach was! Hüpf oder tanz, was du willst!“

Ich machte verschiedenste Verrenkungen. Dann tanzte ich ein paar Schritte aus einer Choreo, die ich vor kurzem einstudiert hatte.

„Ok. Das reicht! Komm her!“

Ich setzte mich wieder auf den Ball und hüpfte aufgeregt darauf herum. Auf dem mittleren Bildschirm erschien mein Äffchen ... und es machte genau die Bewegungen nach, die ich gerade vorgeturnt und getanzt hatte. Sogar die Mimik war gut erkennbar.

„Genial!“

„Ja.“

Ich zog die Sachen aus und hielt ihm mein Gesicht hin, um die Punkte wieder abzuziehen.

„Kann man die öfters verwenden?“

„Solange sie kleben schon.“

„Ich habe Wimpernkleber, wenn du was brauchst“, bot ich ihm an. „Das macht Spaß! Kannst Du vielleicht einmal ein Video für meinen Blog machen?“

„Wenn du mir dafür weiter so gute Ideen für unser Projekt lieferst ...“

„Schaut aus, als hätten wir in den nächsten vier Wochen genug Zeit!“

Ich schaukelte unschlüssig auf dem Ball hin und her. Eigentlich wäre jetzt der richtige Moment aufzustehen und zu gehen. Ich weiß auch nicht genau, was mich davon abhielt. Che hatte inzwischen die Utensilien wieder in der Box verstaut.

„Ist dir jetzt schon langweilig?“, erkundigte er sich, als er mir bei meinen Turnbewegungen zusah.

„Irgendwie schon“, entgegnete ich. „Ist noch Zeit, bis meine Fernsehsendung losgeht.“

„Ich wusste gar nicht, dass du einen Fernseher hast.“

„Habe ich auch nicht. Ich schaue auf dem Laptop.“

„Ich habe einen Fernseher!“

Skeptisch die Stirn runzelnd sah ich ihn an.

„Steht im Keller“, klärte er mich auf. „Gehörte meiner Uroma. Sie hat immer Musikantenstadl und andere schreckliche Dinge geschaut. Soll ich ihn raufholen?“

„Wie viel Zoll hat er denn? Wenn er eine bessere Auflösung als mein Schleppdepp hat?“

„50 Zoll, Smart-TV ... mit 3D-Funktion, die haben wir genau ein Mal ausprobiert.“ Er schloss die Augen und driftete versonnen gedanklich ab.

Ich sprang auf und kickte ihm den Ball in die Knie. „Worauf wartest du? Wieso hast du ihn überhaupt in den Keller gebracht?“

„War im Weg, als ich die Wohnung renoviert habe. Bisher ist mir der nicht abgegangen.“

Wie ein junger Hund lief ich zur Tür und wartete darauf, dass er mir endlich nachkam.

 

Che sperrte den Kellerraum auf. Er hatte sich nicht sonderlich viel Mühe gegeben alles ordentlich zu sortieren. Um überhaupt in den Raum zu gelangen, musste er erst sein Fahrrad in den Gang rollen. Es roch muffig.

„Was ist das alles für Zeugs?“ Der Raum war bis unter die Decke angeräumt.

„Ich muss das einmal aussortieren! Meine Uroma hat sämtliche Sachen von meinen Eltern hier gehortet.

„Was ist eigentlich mit deinen Eltern?“, erkundigte ich mich vorsichtig.

„Sie gelten als vermisst. Seit 22 Jahren!“ Er hob Kartons hoch und suchte weiter nach der Schachtel mit dem Fernseher.

Ich öffnete den Deckel einer hübschen kleinen verzierten Holztruhe. Alte Fotos und Erinnerungsstücke befanden sich darin. Außerdem ein dickes Notizbuch. Ich schlug es auf. Die Schriftzeichen waren mir unbekannt. „Kannst du das lesen?“ Ich hielt Che das Notizbuch unter die Nase.

„Nein. Das ist sicher Malaysisch. Muss von meiner Mutter sein.“

„Das sieht wie ein Tagebuch aus. Vielleicht hat sie etwas über dich reingeschrieben? Es gibt sicher ein Übersetzungsprogramm dafür.“

„Und wenn es nur Kochrezepte sind?“ Che hatte den Fernseher gefunden und wartete darauf, dass ich ihm mit der großen Schachtel half. Ich klappte die Truhe zu und klemmte das Notizbuch unter meinen Arm.

„Dann gibt es in den nächsten vier Wochen leckeres asiatisches Essen! Hast du eigentlich Kontakt zu den Verwandten deiner Mutter?“

„Nein.“

Seine kurzangebundene Art signalisierte mir, dass er das Thema nicht weiter verfolgen wollte. Gemeinsam trugen wir den Fernseher hinauf in den ersten Stock.

Unschlüssig blieben wir in der Wohnküche stehen. Wir überlegten, wohin wir ihn stellen sollten. Che entschied dann, ihn in meinem Wohnzimmer aufzustellen. Er befürchtete, dass die Jungs im Wohnraum sonst exzessiv Fußball schauen würden. Mich hätte das ja nicht gestört. Ganz im Gegenteil. Ich vermisste die Fußball-Fernsehabende mit meinem Papa.

Nachdem wir alles angeschlossen hatten und der Senderdurchlauf abgeschlossen war, fragte Che: „Welchen Film schaust du dir an?“

„Keinen Film! Es läuft doch gerade diese Tanzshow, mit den Promis!“

Er sah mich ratlos an.

„Die müssen jede Woche neue Tänze lernen und dann gegeneinander antreten“, informierte ich ihn. Ich sah auf die Uhr. Es war noch Zeit bis zum Beginn der Sendung. Ich schlug vor, noch eine Kleinigkeit zu essen. Das Notizbuch aus dem Keller lag auf dem Esstisch. Während wir den Kühlschrank durchforsteten, sprach ich das Thema nochmals an. Che erzählte mir nach meinen neugierigen Fragen schließlich alles, was er über das Verschwinden seiner Eltern wusste, was nicht viel war. Es war eine unglaubliche Geschichte. Ich würde verrückt werden, wenn ich nicht wüsste, was mit meinen Eltern geschehen wäre! Andererseits war er mit dieser Unwissenheit aufgewachsen und sie war Teil seiner Realität.

Che ging nach dem Essen mit mir in mein Wohnzimmer, um sich zu vergewissern, dass der Fernseher nach dem automatischen Senderdurchlauf richtig eingestellt war. Ich machte es mir mit meiner Kuscheldecke auf der Couch gemütlich. „Komm, setz dich!“, forderte ich ihn auf, indem ich mit der flachen Hand auf den Platz neben mir klopfte. „Zu zweit macht Fernsehen viel mehr Spaß!“ Er sah unschlüssig zwischen Fernseher und Couch hin und her. „Kannst ja jederzeit flüchten, wenn dir die Show nicht gefällt!“, versuchte ich ihn zu ködern. Er ließ sich tatsächlich neben mir nieder. Wenige Minuten später kam Filou zur offenen Tür hereinspaziert und machte es sich auf seinem Schoß bequem. Erstaunt sah ich Che an.

„Das hat er bei meiner Uroma auch immer gemacht. Sobald der Fernseher lief, ist er zum Dösen gekommen!“ Er kraulte dem laut schnurrenden Kater das Fell.

Die Show am großen Fernsehbildschirm zu sehen, war geil. Ich kommentierte alle Tanzleistungen mit. Regte mich auf, wenn die Juroren meiner Meinung nach ungerecht bewerteten. Die vergaßen wohl vollkommen, dass das keine Profis waren! Che saß neben mir und sagte kein Wort. In den Werbepausen nutzte ich die Rückspulfunktion der Fernbedienung und sah mir meine Lieblingsszenen noch einmal an. Bei einer spektakulären Hebefigur, die ich mir zum dritten Mal ansah und mit dem Handy abfilmte, fragte er mich schließlich: „Willst du das etwa nachmachen?“

„Ja. Sieht doch cool aus, findest du nicht? Ich muss das mit meinem Tanzpartner demnächst einmal ausprobieren!“

„Wo willst du denn proben, wenn alle Tanzschulen geschlossen sind?“

„Nichts und niemand wird mich je vom Tanzen abhalten!“ Kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, stellte ich erschrocken fest, dass ich mir darüber noch gar keine Gedanken gemacht hatte. Es würde sich sicher eine Lösung finden. Vielleicht durfte man ja im Freien trainieren? Che hatte mich aber etwas verunsichert, mit seiner Feststellung. Ich wählte Daniels Nummer am Handy. Er war mein Tanzpartner und Studienkollege. Nach dem dritten Klingeln hob er ab. Ich konfrontierte ihn mit meinen Sorgen.

Er räusperte sich am anderen Ende der Leitung: „Jazy! Ich muss dir was sagen. Ich bin nicht mehr in Wien! Es wurde doch alles abgesagt!“

Mir fiel fast das Handy aus der Hand. „Was!? Was ist mit unserem Training für die Meisterschaft?“

„Ich dachte, du wärst längst selbst nach Hause gefahren. Alle aus unserer Gruppe sind abgehauen!“

Ich schluckte. Hörte kaum noch, was er zu mir sagte. Wie betäubt hauchte ich ein kraftloses „Ciau“ in die Leitung. Dann starrte ich ungläubig auf mein Handy. „Er ist abgehauen! Ist das zu fassen? Weg! Ohne mit mir darüber zu reden!“

Che musterte mich von der Seite. „Dein Freund?“

„Mein Tanzpartner!“ Einen Freund konnte man ersetzen. Einen Tanzpartner nicht! Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Wir hatten so hart an unserer Choreo gearbeitet. Alles umsonst?

„He!“ Che hatte meine Hand genommen. „Das wird schon wieder, wenn dieser verdammte Virus sich wieder vertschüßt!“, versuchte er mich zu trösten. „Sobald es wärmer wird, wird ihn die Hitze auflösen! War doch auch bei der Vogelgrippe so.“

Ich spulte den Fernseher wieder nach vor. Die Show interessierte mich plötzlich nicht mehr so brennend wie zuvor. Was sollte ich wirklich in den nächsten Wochen hier tun? Ich konnte doch nicht 12 Stunden am Tag Yogaübungen machen. War es ein Fehler gewesen hierzubleiben?

Am Ende der Show drehte ich den Fernseher ab. Che und Filou waren während der letzten Werbepause eingenickt. Ich ließ sie schlafen und ging ins Bad. Seufzend stand ich vor dem Spiegel. Der Tag war eigentlich ganz schön gewesen. Warum hatte mir das Telefonat mit Daniel nur so einen Dämpfer versetzt? Ich stellte die Dusche an und wartete, bis die Temperatur stimmte. Dann kletterte ich in die Wanne und zog den Duschvorhang zu. Das warme Wasser und die angenehme Massage der Tropfen auf meinen Schultern vertrieben meine bedrückte Stimmung nach einigen Sekunden. Mit geschlossenen Augen träumte ich davon, dass Che zur Tür reinkam, den Vorhang zur Seite schob, zu mir in die Dusche kam und mich auf gänzlich andere Gedanken brachte. Ob Daniel mein Freund war, wollte er wissen. Dabei war Daniel noch kein einziges Mal mit hierher in die Wohnung gekommen! Da könnte man ja noch eher vermuten, ich hätte etwas mit Bens „Freunden“ gehabt, die von Zeit zu Zeit auf meiner Couch übernachteten, weil er nicht wollte, dass meine Mutter etwas von seinen dubiosen Geschäften mitbekam. Ich konnte es ihm schwer abschlagen, immerhin zahlte er meine Miete. Obwohl, mit einem von denen hatte ich tatsächlich Sex. Aber da waren keine Gefühle im Spiel gewesen. Er hatte einen geilen Arsch und hätte das Stunt-Double von Idris Elba spielen können. Ich war hungrig nach Aufmerksamkeit gewesen. Für meine ausschweifende Fantasie wirkte die Erinnerung an diesen Typ wie Zunder, mit dem man ein Feuer schürt.

Nachdem ich meine Beine und Bikinizone nachrasiert hatte, kletterte ich aus der Dusche. Meine Fantasievorstellung hatte sich leider nicht erfüllt. Im Bademantel ging ich zurück ins Wohnzimmer und kitzelte Che wach. Erschrocken sah er sich um. Als er sich wieder auskannte, drückte er Filou an die Brust und verschwand mit einem verschämten „Gute Nacht!“, in sein eigenes Reich. Nicht einmal das tiefe Dekolleté meines Bademantels hatte ihn dazu inspiriert, in seine von mir zugedachte Rolle zu schlüpfen. Lag es an mir, oder an ihm? Durch den Vorhang meines Schlafzimmerfensters drang etwas Licht von der Straße. Ich konnte nicht einschlafen. Um auf andere Gedanken zu kommen, schickte ich meine Finger auf Reisen.

Ich hatte bisher einen einzigen festen Freund gehabt. Das war noch während meiner Zeit am Gymnasium. Er war Fußballer. Ich spielte ebenfalls in der Damenmannschaft unseres Ortes. Nachdem wir erfolgreicher waren als seine Mannschaft, wurde er zickig. Er war ein guter Küsser gewesen, aber der Rest lief nicht so optimal. Mein erster Kuss war ein traumatisches Erlebnis. Es war schleimig und ich ekelte mich so, dass ich Jahre gebraucht hatte, es wieder zu versuchen. Deshalb war es für mich so wichtig, dass ein Mann gut küsste.

 

Am nächsten Morgen stand ich erst spät auf. Ich war zwar zur gewohnten Zeit wach, aber mir fehlte die Motivation aus dem Bett zu klettern. Che hatte einen Zettel auf dem Esstisch deponiert: „Bin einkaufen! Ruf an, wenn Du was brauchst!“ Ich war noch immer nicht motiviert. In dieser Stimmung versuchte ich noch nicht einmal, mir Gedanken darüber zu machen, ob ich etwas brauchte. Ich presste mir zwei Orangen aus und tauchte eine Banane immer wieder ins Nutella-Glas. Gähnend ließ ich meinen Blick durchs Zimmer streifen. Unsere Wohnküche war riesig. Der Parkettboden wäre ideal! Ich zog den Esstisch samt Teppich, auf dem er stand in eine Ecke. Bis auf zwei, türmte ich alle Sessel übereinander und schleppte sie mit den Loungekissen in Julians Zimmer. Jetzt war da nur noch dieser riesige Klavierflügel mit den abgesägten Beinen, der uns als Wohnzimmertisch diente. Ich stand davor und überlegte, ob ich ihn verschieben konnte, ohne den Boden zu zerkratzen. Ich hörte die Wohnungstür. Che kam mit einer vollen Einkaufstasche herein und sah sich überrascht um.

„Willst du ausmalen?“ Er stellte die Tasche ab und hielt ein Netz Orangen und Bananen hoch.

Ich lächelte ihm dankbar zu. „Ich brauche Platz zum Tanzen! Stört es dich, wenn ich ein bisschen umstelle? Ich werde sonst wahnsinnig!“

„Logbuch von Che. Tag eins der nationalen Quarantäne. Jazy hat Angst wahnsinnig zu werden!“, mimte er die unpersönliche Computerstimme eines Raumschiffes nach. Er verstaute die Einkäufe. „Wir können den Tisch auch ganz wegräumen. Ich kann an meinem Schreibtisch essen.“

Das wollte ich dann auch nicht. Ich überlegte laut: „Stellen wir ihn zu mir ins Wohnzimmer, das sollte sich ausgehen. Dann essen wir halt bis Ostern dort. Der Fernseher steht ja auch schon da.“

Che zuckte zustimmend mit den Schultern. Er schloss die Kühlschranktür, ging zum Esstisch und warf mir einen auffordernden Blick zu. Schnell öffnete ich die Tür in mein Wohnzimmer und ging zu ihm. Der Tisch war riesig! Wir mussten ihn seitlich aufstellen und so vorsichtig durch die Tür schieben. Ich rollte meine Yogamatte auf und räumte eine Ecke frei. Es war jetzt eng im Zimmer, aber dafür war draußen noch mehr Platz! Che half mir den Flügel ganz in die Ecke zu schieben. Ich sah mich um. Das war zumindest ein Anfang! Auch wenn ich ohne Tanzpartner dastand, konnte ich wenigstens alleine weiterüben. Glücklich drehte ich ein paar Pirouetten.

„Es ist schon wieder total schön draußen“, erzählte Che, während er mir zusah. „Ich glaube, ich gehe dann eine Runde laufen! Das ist zumindest noch erlaubt! Du glaubst nie, wie leer die Supermarktregale waren! Die Leute flippen gerade total aus. Es gibt keine Nudeln, kein Klopapier, kein Mehl! Unglaublich! Dabei bleiben doch die Supermärkte ohnehin offen. Da stehen Security-Leute und passen auf, dass niemand wegen der letzten Packung irgendwas zum Raufen beginnt. Alle sind vermummt. Verkäuferinnen. Reinigungsdienst. Die sterilisieren jedes einzelne Einkaufswagerl! Jeder muss sich die Hände desinfizieren. Es ist kein schöner Anblick, sag ich dir!“

Ich unterbrach seine deprimierende Schilderung der Außenwelt: „Nimmst du mich mit zum Laufen? Ich muss schauen, dass ich den Kopf wieder frei bekomme.“

„Sicher. Donauinsel, oder? Da ist es schön sonnig.“ Er verschwand in seinem Zimmer.

Ich wählte meine pinke Adidas-Trainingshose und ein weißes Tank-Top. Jetzt war Schluss mit dem Trübsalblasen! In ein paar Tagen begann der Frühling und dieser Virus würde mich nicht unterkriegen! Für alle Fälle band ich mir ein leichtes Kapuzenshirt um die Hüften.

Che wartete bereits in der Küche auf mich und hielt mir den Mundschutz entgegen.

„Zum Laufen?“

„Nur für die U-Bahn!“, beruhigte er mich.

Ich stopfte das Ding genervt in meine Hosentasche.

 

Es war ein beklemmendes Gefühl, in der U-Bahnstation und dann im Abteil von lauter Menschen mit Mundschutz umgeben zu sein. Manche trugen sogar Latexhandschuhe. Ich spürte meinen Herzschlag, ungewohnt laut und anklagend. Mein Blick fixierte eine Werbeanzeige, nur um diesen Anblick nicht weiter ertragen zu müssen. Das laute Pochen meines Herzens verschwand deshalb trotzdem nicht.

Sobald wir die U-Bahn-Station wieder verlassen hatten, rissen wir uns beide den Mundschutz vom Gesicht, als wären wir Chirurgen nach einer mehrstündigen, schlecht verlaufenen Operation. Che zog ein kleines Fläschchen Desinfektionsmittel aus seiner Jogginghose. Mit dem Zerstäuber besprühte er seine Handflächen und forderte mich wortlos auf, ihm auch meine Hände hinzustrecken. Unglaublich, woran er alles dachte! Danach verstaute er es wieder in seiner Hose. Heute trug er keine Brille. Die Pupillen seiner blauen Augen hatten sich im strahlenden Sonnenlicht zusammengezogen und leuchteten auf eine faszinierende Weise. Während er sich die Deckhaare zusammen band, verlor ich mich in diesem Leuchten. Er fühlte sich sichtlich unwohl, so von mir taxiert zu werden. Stirnrunzelnd sah er mich an. „Geht´s los?“ Mit einem in die Länge gezogenen Blinzeln, zeigte ich mein Einverständnis. Er schien genau zu wissen, wohin er wollte. Langsam trabten wir los. Das Wetter war herrlich! Wir waren beinahe die einzigen Menschen, die sich hierher verirrt hatten.

Nach ein paar Minuten, zweigte er auf einen Kiesweg ab. Ich erhöhte das Tempo. Es tat gut, Dampf abzulassen. Ich genoss es, die Kontrolle über meinen Herzschlag zu übernehmen. Wie zur Strafe trieb ich meinen Puls mit einem Sprint locker über 200 Schläge pro Minute. Che hielt mit, erkundigte sich aber keuchend, ob ich ihn umbringen wollte. „Wer als Erster bei der Parkbank ist!“, schnaufte ich zurück und holte noch einmal alles aus mir raus. Ich vermisste diese Sprints, seit ich nicht mehr regelmäßig zum Fußballtraining ging. An der Parkbank bremste ich ab. Ich hatte ihn abgehängt und grinste ihm nun außer Atem entgegen. „Sorry! Das habe ich gebraucht!“

Er legte sich mit geschlossenen Augen und bebenden Nasenflügel auf die Bank und stellte die Füße auf. „Ein Sauerstoffzelt bitte!“, japste er. Ich machte ein paar Dehnungsübungen, bis er wieder auf die Beine kam. Danach liefen wir in einem angenehmen Tempo weiter. Ich fühlte mich schon viel besser als am Morgen.

Am Rückweg zur U-Bahn-Station, kamen wir an einem sonst sehr beliebten Kinderspielplatz vorbei. Mehrere orangegekleidete Männer von der MA28 brachten gerade eine Absperrung aus Baustellengittern an und eine zusätzliche Hinweistafel „Anlage gesperrt!“. Das war zuviel! Das ging zu weit! Dass dieser Lockdown mein Leben durcheinander brachte, war schlimm genug. Aber wenn nicht einmal mehr kleine Kinder auf den Spielplatz durften!

Ich war wie angewurzelt stehengeblieben. Ohnmächtig beobachtete ich die Magistratsangestellten bei ihrem Tun. Meine Gesichtsmuskeln zuckten unkontrolliert. Gleich würde ich hier in aller Öffentlichkeit anfangen zu heulen.

Che kam langsam zu mir zurück und versuchte mich zu beruhigen: „Das sind doch nur Vorsichtsmaßnahmen!“ Offensichtlich hatte er mein Gefühlstohuwabohu bemerkt. „Die Kinder haben hier doch genug Grünfläche zum Spielen!“

Ich wusste, er hatte recht. Ich zitterte trotzdem am ganzen Körper. „Wenn es mir schon so mies geht, wie wirkt sich das dann erst auf Kinder aus?“

Er zog mich zu einer kleinen Mauer und setzte sich. „Fragen wir sie doch einfach! Komm setz dich zu mir!“ Er hielt plötzlich sein Handy in der Hand.

Neugierig geworden lehnte ich mich neben ihm an die Mauer. Er machte einen Videoanruf. Ein Jungengesicht mit Zahnlücke poppte auf. „Amituofo!“, hörte ich ihn rufen. Er hielt das Handy viel zu nahe an sein Gesicht, um mehr von ihm, außer der Zahnlücke, erkennen zu können. Dann erschienen noch zwei weitere Gesichter. Auch sie benutzten dieselbe Grußformel. Che hielt seine rechte Hand senkrecht vor seiner Brust und sagte ebenfalls: „Amituofo! Ich wollte mich nur einmal bei euch melden! Wie geht´s euch so?“ Die Kinder redeten aufgeregt und wild durcheinander. Man verstand fast nichts. Nach und nach kristallisierten sich einzelne Sätze heraus. Niedergeschlagene Kinder hörten sich anders an. Einer der Jungs erzählte, dass er gerade im Wiener Wald mit seinen Eltern wandern war. Ein anderer berichtete, dass der Osterhase ausnahmsweise schon etwas früher sein neues Fahrrad versteckt hatte. Che sagte: „Ich hoffe, ihr übt brav zu Hause die Übungen, die wir letztes Mal gelernt haben!“ Wieder redeten die Kinder durcheinander. Lachend versprach Che ihnen ein Übungsvideo zu schicken und beendete den Anruf. „Siehst Du! Alles OK!“

„Wer sind diese Kinder?“

„Die sind aus meiner Kung Fu-Panda-Gruppe!“

Dass er eine Kung Fu-Gruppe hatte, war mir neu. Ich fragte ihn aus und vergaß darüber tatsächlich, das Erlebnis am Spielplatz. Sein Ablenkungsmanöver hatte funktioniert!

„Jetzt musst du ihnen aber noch das versprochene Video schicken!“, erinnerte ich ihn. „Mach doch hier gleich! Ich kann dich filmen!“

Er versuchte sich erst zu drücken, doch ich drängte ihn hartnäckig solange, bis er nachgab. Ich hatte noch keine Lust zurück zur U-Bahn zu gehen. Wir gingen auf eine Wiese. Im Hintergrund plätscherte die Donau. Ich zeigte ihm einen Daumen nach oben, sobald ich die Kamera richtig eingestellt hatte. Che machte wieder diese Armbewegung. Die rechte Hand vor der Brust, die linke waagrecht darunter und sagte „Amituofo! Bitte macht vor diesen Übungen, die Aufwärmübungen, die ihr alle kennt! Ich verlasse mich darauf! Beginnen wir mit Übung 1 und 2. Den Affen verjagen und das Knie streifen!“ Er schlug eine Faust gegen die andere offene Handfläche. Dann zeigte er einen extrem langsamen fließenden Bewegungsablauf und kommentierte diesen professionell. Die Bewegung hatte etwas von einem Raubtier, das sich an Beute anschleicht. Zuletzt wiederholte er dieselben Bewegungen, nur zehnmal so schnell und explosiv. „Definitiv nicht schwul!“, skandierte mein Unterbewusstsein. Abschließend sagte er wieder „Amituofo!“ Es hörte sich wie eine Kriegserklärung an, war aber offensichtlich eine gängige Grußformel. Er nickte mir zu und ich beendete die Aufnahme.

„Sieht toll aus! Aber ganz schön kompliziert! Ist das wie Schattenboxen?“

„Ja. Taijiquan. Der Schwerpunkt dieser Technik, liegt darin, die Bewegungen bewusst durchzuführen. Wie du es beim Yoga machst. So tun sich die Kinder leichter beim Lernen. Nur sind es hier Abläufe, bei denen es einen imaginären Angreifer gibt, gegen den man sich verteidigt.“

„Ich habe einen Selbstverteidigungskurs gemacht. Glaubst Du, ich hätte eine Chance gegen dich? Vielleicht kann ich ja noch was dazulernen?“ Ich hob abwehrend meine Fäuste vor die Brust und grinste ihn an. Che sah zweifelnd zurück. „Los! Komm schon!“, stachelte ich ihn an und winkte mit den Fingern, wie ein Straßenboxer.

Che griff nach meinen Fäusten. Damit hatte ich gerechnet und die passende Abwehrbewegung parat. Zurückweichen und gegen die Handgelenke schlagen. Normalerweise hätte ich mich aus dem Griff eines Angreifers so befreien können. Doch Che war gut. Er sah meine Reaktion kommen und drehte sich selbst rechtzeitig weg und nahm mich dabei in den Schwitzkasten. Auch dagegen konnte ich mich normalerweise wehren, indem ich versuchte wegzutauchen und ihn in die Kniekehle trat. Wieder gelang mir die Befreiung nicht. Wir landeten aber immerhin beide am Boden. Ich versuchte sofort eine Beinschere und fasste nach seinem Unterarm. Wieder rollte er so schnell zur Seite, dass ich ins Leere griff.

„Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für dich wegzulaufen!“, schlug er amüsiert vor.

Ich sah ein, dass er recht hatte. „Ok. Ich gebe mich geschlagen.“

Er streckte mir seine Hand entgegen, um mir aufzuhelfen. Ich versuchte ein letztes Mal ihn zu attackieren, indem ich ihm beide Füße in die Hüfte rammte um ihn auszuhebeln. Er hielt meine Hand gegriffen und zog mich mit einem Ruck mit. Rollte über meinen Kopf hinweg und drehte sich gleichzeitig. Einen Lidschlag später saß er auf meinen Hüften. Eine äußerst ungünstige Position. Ich hob lachend die Handflächen.

„Versprich, dass du mich nicht trittst, wenn ich aufstehe!“ Ich hatte sein Vertrauen verspielt. Wir hatten beide Gras und Dreck auf unserer Kleidung.

„Ok. Ok. Ich schwöre!“, sagte ich lachend.

„Wenn du dich daran hältst, zeige ich dir bei Gelegenheit ein paar Tricks!“

Er saß noch immer auf mir. Ich streckte alle Viere von mir. Schnell sprang er hoch und machte einen Schritt weg von mir.

„Angsthase!“, schrie ich ihm nach und rappelte mich hoch.

Er schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen.

 

  Fortsetzung folgt ...

 

MChe - King of Pop

 

 

Jazy brachte mich noch um den Verstand! Gestern Abend, als sie plötzlich im Bademantel vor mir gestanden war und ich beinahe bis zu ihrem Bauchnabel hatte sehen können, hatte sie mich derart verlockend angesehen, dass ich, ohne es zu wollen, annahm, ich würde die Szene nur träumen. Minuten später, in meinem Bett, wiederholte mein Kopfkino diesen Augenblick immer und immer wieder. Ich hatte meinen Kopf gegen das Kopfkissen geschlagen und mir die Haare gerauft. Wie blöd konnte man überhaupt sein?
Und jetzt, wie sie mich mit ihrem kehligen Lachen einen Angsthasen schimpfte. Sie hatte so recht damit! Sie hatte unter mir gelegen und mich schon wieder so herausfordernd angesehen. Und was tat ich? Ich war wie von der Tarantel gestochen aufgesprungen, statt sie zu küssen. Durfte man in Zeiten von MeToo überhaupt eine Frau ungefragt küssen?

Nun gut, diese Frau hätte sich mit einem gezielten Tritt in meine Weichteile gewehrt, wenn sie es nicht gewollt hätte, so viel war sicher. Doch nicht die Angst vor diesem eventuellen Schmerz hatte mich abgehalten. Es war mehr die Angst, es zu vermasseln. Lieber würde ich sie noch Jahre lang aus der Ferne anhimmeln, als einmal von ihr abgewiesen zu werden. Das Wichtigste für mich war, dass sie immer bei mir blieb. Wenn auch nur in meinen Träumen. Ich wollte keinen Flirt. Ich wollte ihr Herz!

Um mich von meinen trübsinnigen Gedanken abzulenken, betrachtete ich die Menschen in der U-Bahn genauer. Ich stellte fest, dass die Mehrheit der Fahrgäste zur kolportierten Risikogruppe zu rechnen war. Jetzt, da die Schulen und Unis geschlossen waren und auch viele der beruflichen Pendler wegfielen, sah man sie vermehrt. Die Spuren der überalterten Gesellschaft des Landes. Jeder vierte Bürger war über 60 Jahre alt, das waren in Österreich rund 2,2 Millionen Menschen. Auch wenn die Lebenserwartung in der Stadt nicht ganz so hoch war wie am Land. Zählte man noch Risikopatienten, Menschen mit Diabetes, Herz-Kreislauf-Kranke und jene, die einfach viel zu dick waren, dazu, kam man schnell auf 40 Prozent der Gesamtbevölkerung, die ernsthaft von diesem Virus bedroht wurden. Unbekümmert lüpften die Senioren nebeneinandersitzend beim Plaudern ihren Mundschutz. Sicher war das notwendig. Saß das dritte Gebiss schlecht und kam dann noch die Altersschwerhörigkeit hinzu, verhallten die Worte sonst in unverständlichem Konsonanten-Kauderwelsch. Warum der Mann zwei Reihen vor uns allerdings zum Niesen seinen Mundschutz hinunterschob, entzog sich meinem Verständnis. Überhaupt schienen sich die Männer mit den Anweisungen schwerer zu tun. Sie gaben sich die Hände und klopfen sich auf die Schulter, als hätten sie in den letzten Wochen keine Nachrichten gehört.Zumindest Jazy schien wieder gut gelaunt zu sein. Ihre Augen waren zu Schlitzen zusammengezogen, während sie Dehnungsübungen an der Haltestange machte. Sie zog, nur an den Händen baumelnd, die Beine zum Bauch. Ihr weißes Trikot sah aus, als wäre eine Horde Rinder darüber gelaufen. Ich zupfte zum dritten Mal einen vertrockneten Grashalm von ihrer Schulter.

Mein Blick schweifte zurück zu den todgeweihten Risikopersonen. Viele könnten ihr Leben wahrscheinlich leicht retten, wenn sie nur bereit wären, ihre Lebensgewohnheiten zu ändern. Solange jeder sofort zu den massenhaft verfügbaren Medikamenten auf Rezept der Krankenkasse griff und sich wegen jedem Zipperlein unters Messer legte, sah ich da aber wenig Licht am Horizont. Hieß ja auch Krankenschein und nicht Gesundenschein.

Wir verließen die U-Bahn und gingen zurück zur Wohnung. Jazy hielt ihr Gesicht in die Sonne und ich passte auf, dass sie nicht gegen irgendwelche Hindernisse lief. Zumindest Autos waren derzeit nicht einmal halb so viele unterwegs als sonst um diese Zeit. Auch der eingeschränkte Flugverkehr machte sich bemerkbar. Der Himmel war makellos blau.

„Manche meiner Freunde sagen, Corona sei nicht gefährlicher als die Grippe.“ Jazy ließ den Satz mit einem halben Fragezeichen in der Luft schweben.

Ich wollte eigentlich nicht darüber diskutieren, noch nicht einmal mit Jazy. Ich war immer schon der Meinung, dass Neutralität eine super Sache sei. „Ja, habe ich auch schon gehört“, sagte ich ausweichend.

„Wer kümmert sich jetzt um die ganzen arbeitslos gewordenen Kellner und Künstler? Es wurden ja alle Veranstaltungen bis Ostern abgesagt.“

„Na hoffentlich nicht dieselben, die sich um die Flüchtlinge in Griechenland kümmern“, konnte ich mir nicht verkneifen zu erwidern.
„Darf uns die Regierung wirklich vorschreiben, das Haus nicht zu verlassen?“
Ich hatte mir selbst schon Gedanken über diese zunehmend autoritären Maßnahmen gemacht. „Ich glaube, sie nehmen einfach die Gefahr ernst. Hast du nicht die Videos aus Italien gesehen? Dort werden Särge mit Militär-LKWs abtransportiert. Irgendwie ist das schon besorgniserregend. Ich kann nicht glauben, dass das Fake-News sein sollen.“

„Die Italiener verhalten sich heldenhaft, findest du nicht auch? Sie machen Musik am Balkon. So romantisch! Ob wir das hier auch so locker hinbekommen würden?“

„Bei uns scheißen sich ja jetzt schon alle bis übers Kreuz an, wenn man der Klopapiernachfrage trauen kann. Bezeichnenderweise sind in Italien die Weinregale leer und bei uns das Klopapier.“ Wir kamen an der Haustür angelangt. Während ich aufsperrte, sagte ich mit bedeutungsschwerem Blick auf das Nachbarhaus. „Bei uns kann‘s eher sein, dass jemand die Polizei ruft wegen des Lärms.“

Wir hatten bisher genau eine etwas lautere Party gefeiert und irgendwer aus der Nachbarschaft hatte uns der Ruhestörung bezichtigt. Dabei hatten wir nicht einmal einen Balkon. „Die Klopapierfabrikanten werden jedenfalls stinkreich! Toni hat gesagt, dass Corona sicher eine Verschwörung der Klopapierindustrie sei!“ Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen. „Sie werden noch die ganzen Fußballvereine aufkaufen. Wirst sehen! Stell dir vor: FC Hakle Bayern und Cosy Rapid, wie hört sich das an?“

Jazy bekam einen Lachanfall und krümmte sich ums Stiegengeländer.

In der Wohnung führte mich mein erster Weg ins Badezimmer. Es tat gut, sich die Hände zu waschen, weil sie dreckig waren - und nicht wegen dieses Virus. Nach dem Duschen setzte ich mich an den PC. Durch den Türspalt bekam ich mit, dass Jazy die Yogamatte in ihr neues Tanzstudio geschleppt hatte und dort Übungen machte. Ich beschloss, mir ein Glas Wasser zu holen, um daraufhin die Tür weiter offen stehen lassen zu können. Im Moment sah ich nur ihre Fußknöchel. Das war vielleicht im Mittelalter erotisch gewesen, ich würde gerne etwas mehr von ihr sehen. Sie schaute mir zu, wie ich mein Glas füllte, und praktizierte währenddessen eine Art Wechselatmung. Abwechselnd hielt sie sich das linke und das rechte Nasenloch zu.

„Ich will ja nicht der Papagei der ganzen Virologen und Politiker sein, aber hast du dir eh gründlich die Hände gewaschen?“, fragte ich sie im Vorübergehen.

Zustimmend schloss sie für eine Sekunde die Augen. Ich ließ die Tür weit genug offen, hatte aber nicht bedacht, dass jetzt auch sie mich beobachten konnte und nicht nur umgekehrt. Hin und wieder riskiere ich trotzdem einen Blick.

Nach einiger Zeit hörte ich sie laut seufzen.

„Alles in Ordnung bei dir?“, rief ich in ihre Richtung.

Sie lag wie eine Tote ausgestreckt auf ihrer Matte. „Jaha! War nur ein kleiner Yogasmus!“

„Verstehe!“, sagte ich in ihre Richtung. „Nichts ist entspannender, als das anzunehmen, was kommt.“

„Ganz genau! Ist das von dir?“

Ich schüttelte den Kopf. „Vom Dalai Lama, glaube ich.“

Sie stöhnte noch einmal. Jetzt wollte sie mich damit provozieren. Dieses Biest! Sicher war ihr nicht bewusst, dass ich die ganze Kraft des Lautes in meinem Lendenbereich zu spüren bekam. Meister Ming wäre enttäuscht von mir. Disziplin und Selbstbeherrschung waren das Um und Auf für ihn. Er war ein vehementer Verfechter des Keuschheitsgebotes.

Mein Handy klingelte. Es war meine Oma.

„Hallo, Oma!“, begrüßte ich sie.

„Oliver, mein Schatz! Wie geht es Dir? Ich habe gerade von den scharfen Maßnahmen bei euch gehört, wegen Corona.“

„Ja. Schule ist vorerst abgesagt, also geschlossen. Die wollen das jetzt online machen. Mal schauen, wie das wird.“

„Du warst immer sehr gut, was das Lernen angeht. Du wirst das schon packen!“

„Trotzdem, das kam halt ganz schön überraschend, aber anscheinend ist es notwendig. Ist ja auch wirtschaftlich gesehen eine große Sache. Das hat sich die schwarze Regierung sicher genau überlegt. Man hört bereits jetzt, dass viele Firmen Probleme mit Zulieferungen aus China haben und die Produktion runterfahren müssen. Und dann noch der Schaden für den Tourismus! Hätte nicht gedacht, dass so etwas bei uns passieren könnte.“

„Ich sag ja immer, es gibt nichts, was nicht schon irgendwie so ähnlich einmal da gewesen ist. Vor 100 Jahren war es die spanische Grippe. Davor die Pest. Wir haben offensichtlich noch nicht genug dazugelernt und werden regelmäßig auf die Probe gestellt.“

Meine Oma sah immer alles aus der Sicht einer Geschichtsprofessorin. „Bei Euch ist es noch nicht so krass, oder?“, fragte ich sie.

„Die werden sich auch hier schön langsam beeilen müssen, damit das nicht aus dem Ruder läuft. Passen deine Mitbewohner eh gut auf? Nicht, dass ihr zur Risikogruppe zählt, aber man muss es ja nicht herausfordern.“

„Julian und Tom sind gestern nach Hause gefahren. Ich bin jetzt mit Jazy alleine in der Wohnung.“ Ich weiß nicht, ob sie an diesem Satz erkennen konnte, was das in mir auslöste. Eigentlich fragte sie mich jedes Mal, wenn wir telefonierten, ob ich nicht endlich ein Mädchen kennengelernt hätte. Ich hoffte, sie machte jetzt keine Bemerkung wegen Jazy. Immerhin konnte die nebenan alles mithören, was ich hier sagte.

„Die Nachrichten aus Italien sind besorgniserregend“, sagte sie zum Glück.

„Ja. Anscheinend haben sich viele Österreicher beim Schifahren dort angesteckt! Du passt hoffentlich auch auf dich auf?“

„Du weißt, ich gehe sowieso nicht allzu viel raus. Desinfektionsmittel habe ich mir schon besorgt.“ Sie wechselte abrupt das Thema. Wie geht´s euch mit eurem Projekt?“

„Wir hängen uns voll rein. Ich hoffe, heuer haben wir mehr Erfolg“ Ich verschonte sie mit Details. Von Videospielen hatte sie ohnehin keine Ahnung. „Habt ihr auch so schönes Wetter? Bei uns ist es richtig frühlingshaft. Wir waren heute schon kurzärmelig laufen.“

„Natürlich nicht! Du weißt doch, hier ist es immer kalt und ungemütlich Warte, ich schau aufs Thermometer.“ Ich hörte, dass sie herumging. „Acht Grad.“

„Das ist nicht viel. Übrigens, Oma, besorg dir rechtzeitig Klopapier und Nudeln! Bei uns gehen die Leute hamsterkaufen und beides ist derzeit ausverkauft“, riet ich ihr.

Sie lachte. „Werde ich beherzigen. Dann bis nächste Woche! Pass auf dich auf!“ Sie rief mich jedes Wochenende an.

„Du auch. Servus!“

Jazy stand in der Tür. „Hast du irgendwelche Pläne in Bezug auf Essen?“, erkundigte sie sich.

„Pft!“ Ich schaute sie ratlos an. „Schön langsam krieg ich schon Hunger.“ Ich spielte den Ball an sie zurück.

„Du hast Erdäpfel gekauft. Hast du damit was Bestimmtes geplant?“

„Nein.“

„Wenn du mir ein paar abgibst, könnte ich uns Erdäpfelpuffer machen.“

„Mmh! Hatte ich schon ewig nicht! Klingt gut!“ Ich stand auf, um ihr zu helfen.

Die Puffer waren köstlich geworden. Goldbraun und knusprig. Besser hätte das meine Urli auch nicht hinbekommen. Jazy hatte noch einen Joghurt-Knoblauch-Dip dazu gemacht. Küssen hatte sie demnach heute nicht mehr geplant. Seit gestern Nacht konnte ich fast an nichts anderes mehr denken.

Wir aßen in Jazys Wohnzimmer. Das Notizbuch meiner Mutter lag am Ende des Tisches. Immer wieder wanderte mein Blick dort hin.

„Hast du schon ein Übersetzungsprogramm gesucht?“, fragte Jazy. Sie musste mich beobachtet haben.

Ich schüttelte den Kopf. Wollte ich tatsächlich nach all den Jahren in den Aufzeichnungen meiner Mutter schnüffeln? Außer dem Foto meiner Eltern auf meinem Nachttisch hatte ich nie wirklich eine Bindung zu ihnen verspürt. Im Gegenteil. Insgeheim hatte ich es ihnen wohl nie verziehen, dass sie mich verlassen hatten.

Das war kindisch. Ich war erwachsen. Möglicherweise war es jetzt an der Zeit, mich mit dieser dunklen Seite meines Lebens zu befassen. Bei meiner Urli war das etwas anderes. Mit ihr verband ich so viele schöne Erinnerungen. Mit meinen Eltern verband mich nichts. Wahrscheinlich aus Rücksicht auf mich hatten meine Oma und Uroma nie viel von ihnen geredet. Vielleicht hatten sie es auch nur hinter meinem Rücken getan. Vielleicht hatte es sie aber selbst zu sehr geschmerzt.

„Schauen wir uns einen Film auf Amazon prime an?“, schlug Jazy vor, als sie meine grüblerische Stimmung bemerkte.

Im Stillen beglückwünschte ich mich, dass ich an den Fernseher gedacht hatte. Dankbar für die Ablenkung stimmte ich ihrem Vorschlag zu. Jazy scrollte durch die Filmvorschläge und schlug schließlich „Rocketman“ vor. Mir war alles recht und so übel war die Musik von Elton John ja auch nicht.

Am Ende hatte man direkt ein wenig Mitleid mit dem armen Mann. Reichtum war eben auch nicht alles! Im Vergleich zu ihm war meine Kindheit geradezu paradiesisch. Besser gar keine Eltern als solche wie er hatte. Filou hatte sich heute, wie ein tugendhafter Wächter, zwischen Jazy und mich gelegt.

Als der Film zu Ende war, schauten wir noch etwas die aktuellen Nachrichten. Ein Sprecher verkündete, man hätte bereits sechstausend Personen auf Corona getestet, davon waren 432 erkrankt. Eigentlich klang das wie ein Witz. Wegen 432 Erkrankten das ganze Land unter Quarantäne zu stellen! Immer wieder liefen Werbespots der Bundesregierung. Alte Menschen sagten: „Schau auf dich, schau auf mich!“ in die Kamera.

 

Jazys Handy klingelte und ich stellte den Ton aus. Stand auf und räumte den Tisch ab. „Hallo Papa“, hörte ich sie sagen. Ich konnte nicht hören, was er sagte, aber sie alberten vergnügt herum. Machten sich über die Hamsterkäufe und anderes lustig. „Hi, Hi, Hi!“ Sie kicherte ausgelassen. Offensichtlich hatten die Beiden ein gutes Verhältnis. Mein Blick blieb an dem alten Notizbuch hängen. Ich sah zu Jazy hinüber. Sie war ganz vertieft in ihr Telefonat. Warum musste sie in meiner Vergangenheit herumstochern? Warum hatte sie dieses verdammt Buch aus dem Keller raufgeschleppt? Ich atmete aus. Überlegte in der Pause bis zum nächsten Einatmen mit geschlossenen Augen, was ich wollte. Dann griff ich nach dem alten Notizbuch und nahm es an mich.

 

Ich fuhr den PC hoch. Öffnete das Notizbuch wahllos und übertrug einen Satz in das Google-Übersetzungsprogramm. Die Schrift war teilweise schwierig zu entziffern. Ich versuchte, ein Schema zu entdecken, doch keines der Wörter, die ich zur Übersetzung eintrug, wurde vom Programm erkannt. War es vielleicht doch kein malaysisch, das meine Mutter hier verwendet hatte? Ich versuchte es anders. Googelte einzelne kurze Sätze und sah nach, ob ich so auf des Rätsels Lösung stieß. Das war noch verwirrender, da ich auf den gefundenen Seiten gar nichts lesen konnte, aber wenigstens gab es eine Spur. Wie ein Detektiv versuchte ich zu entschlüsseln, was meine Mutter niedergeschrieben hatte. Die Zeit verflog. Als mir vor Müdigkeit schon beinahe die Augen zufielen, stieß ich auf einen malaysischen Dialekt, mit dem einzelne Wörter, die ich mir herausgeschrieben hatte, übersetzt wurden. Natürlich kannte der Google Übersetzer diesen Dialekt nicht. Mühsam versuchte ich, ihn zuerst ins Malaysische und dann weiter ins Deutsche zu übersetzen. Es war schon weit nach Mitternacht, als ich den ersten Satz übersetzt hatte. Er lautete „Nicht vorstellbar der Gedanke, ohne dich zu sein.“ Während ich den Satz immer wieder las, breitete sich Gänsehaut über meinem Körper aus. Ich musste schlucken und Tränen zurückhalten, die mir in die Augen schießen wollten. Der erste persönliche Satz meiner Mutter! Ich wusste natürlich nicht, wem er gegolten hatte. Meinem Vater? Mir? Morgen. Morgen würde ich versuchen, hinter dieses Geheimnis zu kommen.

 

Ich lag im Bett. Es war Sonntag. Der erste Sonntag im Lockdown. Würde das etwas ändern? An Sonntagen hatten ohnehin nie Geschäfte offen. Der einzige Tag der Woche also, der einem ein Gefühl von Normalität vermittelte. Obwohl, andere Menschen trafen sich an Sonntagen mit der Familie. Besuchten Eltern, Großeltern.

Seufzend verwarf ich mein hoffnungsvoll aufgebautes Konstrukt einer heilen Welt wieder. Ich hatte mir keinen Wecker gestellt und es gab auch keine Termine. Also für mich ein Sonntag wie jeder andere.

Halt! Schlagartig wurde mir bewusst, dass es der erste Sonntag war, den ich mit Jazy alleine in der Wohnung verbrachte. Sonst war sie entweder übers Wochenende zu ihrer Familie heimgefahren, oder Julian und Tom waren auch da gewesen. Ein leichtes Flattern in der Magengegend machte sich breit. Ich war nervös! Es gab nur uns beide. Sicher, wir könnten jeder für sich den Tag in unseren Zimmern verbringen, doch seit sich gezeigt hatte, dass Jazy die leichte Tendenz hatte, in eine Art Lagerkoller zu verfallen, hielt ich es für angebracht, besser Pläne zu schmieden, wie ich sie unterhalten konnte.

Mir fiel das Notizbuch meiner Mutter ein. Es würde sie sicher interessieren, dass ich den ersten Satz entschlüsselt hatte. Motiviert schlug ich die Bettdecke zurück und schwang mich aus dem Bett. Ich zog eine knielange Jogginghose und ein T-Shirt an und ging in die Küche.

„Morgen, du Schlafmütze!“ Jazy lag mit nach oben gestreckten Beinen auf ihrer Yogamatte. Leise Entspannungsmusik lief im Hintergrund.

„Schlafmütze? Wieso? Wie spät ist es leicht?“ Ich hatte noch gar keinen Plan.

„Fast elf! Ich habe mit dem Frühstück auf dich gewartet. Inzwischen bin ich halb verhungert.“

„Oh!“ So lange schlief ich normalerweise wirklich nicht. Da fiel mir der Grund dafür ein: „Ich habe versucht, das Notizbuch meiner Mutter zu übersetzen. Ist ganz schön spät geworden.“

„Und? Erzähl! Was hast du rausgefunden?“ Jazy stand auf und holte ihr Handy. „Warte! Ich suche noch schnell eine passende Musik.“ Sie scrollte ihre Playlist durch. Sie ging zur Stereoanlage und drehte die Lautstärke hoch. Ich sah auf den ersten Blick, dass es viel zu laut sein würde.

„Da da da da da da da ... da da da da da da da!“

Der Perfect Surround Sound Subwoofer schickte den Bass dröhnend einmal rundherum durch alle Boxen. Die Scheiben der alten Holzfenster vibrierten. Jazy stand mit verzückt hochgestreckten Zeigefingern in der Mitte des Raumes. Okay! Breakthru von Queen war dann schon sehr optimistisch gewählt.

„Ich habe erst einen Satz entschlüsselt!“, schrie ich gegen Freddy Mercury an und trank ein Glas Leitungswasser.

Jazy tanzte inzwischen verrückt durch den Raum. Die Musik war wirklich mitreißend, sie steckte mich mit ihrer guten Laune an. Den Weg von der Spüle bis zur Badezimmertüre legte ich im Moonwalk zurück. Ich war etwas aus der Übung und barfuß obendrein.

Sie erkannte meine Bemühungen, denn sie starrte mich mit großen Augen an und schrie: „What?“

Ich schloss fast im selben Moment die Badezimmertüre und hatte bereits, wie der unsterbliche King of Pop, meine Hand im Schritt, nur innerhalb der Hose, als Jazy von draußen die Türe wieder aufriss. Perplex starrte ich sie an.

„Du kannst den Backslide?“, konfrontierte sie mich mit dem Grund ihres überraschenden Überfalls.

„Ähm. Ja? Darf ich jetzt vielleicht in Ruhe ludeln?“

„Sorry.“ Sie rollte mit den Augen, hob entschuldigend beide Hände hoch und schloss betont vorsichtig die Tür.

Verrücktes Huhn! Ich musste grinsen.

 

Kaum öffnete ich die Badezimmertüre wieder, bestürmte mich Jazy: „Zeig noch einmal! Bitte!“

Ich tat ihr den Gefallen. Dieses Mal funktionierte es schon etwas besser.

„Woher kannst du das?“ Ihre Stimme drückte maßloses Erstaunen aus.

Ich griff nach einer DVD-Hülle unter der Stereoanlage und zeigte ihr den Titel.

„The Michael Jackson Experience“, las Jazy.

„Habe ich früher bis zur völligen Erschöpfung gespielt. Können wir uns ja heute einmal ansehen. Willst Du?“

„Das ist ein Spiel?“

„Ja. Ein altes Wii-Spiel. Man muss die ganze Choreo zu seinen Songs nachtanzen. Ich hab die Konsole aufgehoben. Wegen diesem Spiel, war ich wahrscheinlich der größte Michael Jackson-Fan Wiens!“
Sie machte begeistert ein paar unverkennbare Jackson-Posen nach und strahlte über das ganze Gesicht. „Aber zuerst muss ich was essen! Wir könnten brunchen. Mit Spiegelei und Frühstücksspeck? Julian hat fast eine ganze Packung Toastbrot hiergelassen.“

 

So hielten wir es dann auch. Während des Frühstücks erzählte ich ihr, wie ich es geschafft hatte, diesen Satz aus dem Notizbuch zu übersetzen. Jazy war beinahe so gerührt wie ich gestern, als ich ihr den Satz vorlas.

Später schleppten wir den riesigen Fernseher aus Jazys Wohnzimmer in die leergeräumte Küche und ich schloss die Wii-Konsole an. Währenddessen hatte Jazy sich die anderen Wii-Spiele im Regal durchgesehen. Sie hielt das Kung Fu-Workout hoch. „Kann ich damit so gut Kung Fu lernen wie du den Moonwalk?“, fragte sie.

„Nein. Das ist eher enttäuschend. Damit lernst du bestenfalls das richtige Timing und ein paar einfache Grundübungen. Ich habe auch nicht alle Schritte aus dem Spiel gelernt. Viel habe ich mir aus seinen Videos abgeschaut.“ Ich ging in mein Zimmer, um frische Batterien für die Wii-Fernbedienungen zu holen und mir Socken anzuziehen.

„Tanz einfach die Bewegungen auf dem Bildschirm nach“, erklärte ich ihr. „Du kannst entweder die Moves der Crew mitmachen, oder die von Jackson. Wer die meisten Sterne sammelt, hat gewonnen. Es gibt Gold Moves, die zählen extra. Fangen wir mit Heal the World an“, schlug ich vor. „Das ist eine von den einfacheren Choreos. Da tanzt nur Michael. Am linken Rand siehst du immer, welcher Move als Nächstes kommt.“

Ich musste grinsen, als im Intro Michael Jacksons Funken sprühende Beine zu sehen waren. Schon fühlte ich dieses Kribbeln in den Beinen, das ich immer bekam, sobald ich die DVD einlegte.

Jazy brauchte den Song drei Mal. Dann war sie besser als ich. Ich war etwas frustriert. Jahrelanges intensives Üben - und dann so etwas.

„Ich tanze nun mal für mein Leben gerne“, versuchte sie mich zu trösten, als ich sie kopfschüttelnd anblickte. „Und das seit mehr als fünf Jahren unter der Anleitung der besten Tanzlehrerin, die man sich vorstellen kann. Sie hat mit J.Lo auf der Bühne gestanden.“

„Mmm“, ließ ich verlauten, und wählte als nächsten Song „The way you make me feel“. Vielleicht würde sie die Anspielung erkennen. Das konnte man auch als Duett tanzen.

Es war das erste Mal, dass ich mit einer echten Partnerin tanzte. Die trug zwar nicht dieses extrem kurze heiße Minikleid wie die Frau am Bildschirm. Dafür kam ich in den Genuss eines echten heißen Pos, der sich bei den Hüftschwüngen direkt unter meinen Augen aufreizend bewegte.

Die Choreo war schon etwas aufwendiger. Jazy wurde nicht müde, sie immer und immer wieder zu proben. Nach unzähligen Durchgängen hatten wir beide die Moves ziemlich perfekt drauf und sahen uns beim Tanzen in die Augen, statt auf unsere Spiegelbilder.

„So geil!“ Sie fiel mir vor Begeisterung um den Hals.

Ich hatte ihrem Ausruf nichts hinzuzufügen. Wir waren beide schweißgebadet, aber glücklich.

„Wir müssen das beim nächsten Mal filmen! Ich will sehen, wie es aussieht. Aber jetzt brauche ich erst einmal frische Luft!“ Sie ging zum bereits offenen Fenster und setzte sich gefährlich auf das Fensterbrett. Mit dem Rücken lehnte sie am Fensterstock. Die Sonne strahlte auf ihr Gesicht. Mit geschlossenen Augen genoss sie das schöne Wetter. „Schade, dass wir keinen Balkon haben“, seufzte sie.

„Wir haben so was ähnliches wie einen Balkon“, antwortete ich geheimnisvoll.

Sie wandte mir den Kopf zu und zog fragend die Brauen in die Höhe.

Es war an der Zeit, ihr Filous geheimen Fluchtweg zu zeigen. Ich ging zu meiner Zimmertür und nickte ihr auffordernd zu. Langsam glitt sie vom Fensterbrett und kam auf mich zu. Fast vergaß ich bei diesem Anblick, was ich ihr eigentlich zeigen wollte. Als sie abwartend vor mir stehenblieb, fiel es mir zum Glück wieder ein. Ich griff nach ihrem Handgelenk und zog sie mit auf mein Schlafzimmer zu. Interessiert sah sie sich darin um. Ihr Blick blieb an dem zerwühlten Futon hängen. Mir wurde ganz flau, als ich registrierte, dass soeben meine Traumfrau in meinem Schlafzimmer stand.

Reiß dich zusammen! Ich ging zum Fenster und öffnete es. Dann setzte ich mich auf das Fensterbrett, wie Jazy es vorhin in der Wohnküche getan hatte. Schwang meine Beine hinaus und sprang. Ich vernahm einen erstickten Aufschrei. Jazys Kopf tauchte über mir im offenen Fenster auf. Ich grinste zu ihr hoch. Direkt unter meinem Schlafzimmerfenster befand sich das Flachdach eines direkt an das Gebäude angebauten Lokals. Das Dach war mit groben Kieselsteinen bedeckt. Ich streckte ihr auffordernd die Hand entgegen. Sie sprang direkt in meine Arme.

„Wie kommen wir da wieder hoch?“ Skeptisch schaute sie zum Fenstersims. Es befand sich zirka auf Höhe ihrer Stirn.

„Ich springe immer rauf. Aber du kannst auch Filous Fluchtweg benutzen.“ Ich deutete zu einem Baum, dessen Äste bis ans Dach heranreichten. Sie versetzte mir einen tadelnden Stoß. Ich setzte mich und lehnte den Rücken an die von der Sonne gewärmte Hausmauer. „Ist doch besser als ein Balkon, oder?“

„Ist das denn überhaupt erlaubt?“

„Von der Straße aus sieht man uns hier nicht“, wich ich einer direkten Antwort aus. Dass meine Urli immer geschimpft hatte, wenn ich hier draußen herumgeturnt war, verschwieg ich geflissentlich. „In der Hausordnung steht zumindest nicht, dass es verboten ist.“

Es hatte etwas Magisches, hier mit Jazy zu sitzen. Ich fühlte mich glücklich wie selten zuvor. Vielleicht wie nie zuvor.

„Du bist ein echt guter Tänzer. Ich sollte dich ab jetzt MChe nennen,“

Ich grinste sie an, ich fühlte mich geschmeichelt.

„Kannst du, außer den Moves von Michael Jackson, auch noch andere Sachen tanzen?“

„Ein bisschen Break Dance vielleicht.“

„Walzer? Samba? Cha Cha Cha?“

„Ich habe jedes Jahr zu Silvester um Mitternacht mit meiner Uroma Walzer getanzt. Solange, wie die Pummerin geläutet hat.“

Sie verdrehte bedeutungsschwer die Augen. „Ich bringe dir Walzertanzen bei und du zeigst mir ein paar deiner Kung Fu-Tricks!“

„Und du findest, das ist eine angemessene Gegenleistung?“ Ich würde alles tun, was sie von mir verlangte, aber das musste ich ihr ja nicht jetzt schon auf die

Nase binden.


„Ich bin froh, hiergeblieben zu sein“, sagte sie versonnen. „Du steckst voller Überraschungen.“

„Ich bin auch froh, dass du hiergeblieben bist.“ Ich liebe dich nämlich! Alles in mir schrie diese Worte. Ich riskierte einen schnellen Blick zu ihr. Sie starrte in die bald hinter dem Nachbarhaus verschwindende Sonne. Die Sonnenstrahlen ließen ihr Haar und ihre Haut glänzen. Wie gerne würde ich ihr das jetzt sagen. Ich fühlte mich ihr näher als jemals zuvor, aber noch immer fehlte mir der letzte Mut, ihr meine Liebe zu gestehen.

Ich musste mehr über sie herausfinden. Waren Gefühle für sie überhaupt wichtig? Vielleicht wollte sie einfach ihr freies unbekümmertes Studentenleben genießen und sehnte sich nicht wie ich nach einer festen Beziehung.

Ich wandte mich ebenfalls wieder der verschwindenden Sonne zu. Als sie nicht mehr zu sehen war, zog ich mich am Fensterrahmen hoch und kletterte zurück in mein Schlafzimmer. Anschließend streckte ich Jazy meine Hände entgegen und half ihr hoch.

 

Toni hatte mir schon fünf Nachrichten hinterlassen, ob bei mir alles in Ordnung wäre. „Sorry! Hab den halben Tag mit Jazy Wii gespielt!“, schrieb ich zurück.

„Lass mich nicht im Stich, Alter! Frauen sind schuld daran, dass wichtige Dinge den Bach runter gehen! Nimm Cäsar und Cleopatra, die Beatles ... “

„Den Rest des Tages werde ich nur noch programmieren. Versprochen.“ Mein Blick wanderte zu dem aufgeschlagenen Notizbuch neben meiner Tastatur. Da machten sich andere Menschen Sorgen, ihnen würde die Decke zu Hause auf den Kopf fallen und für mich verging die Zeit wie im Flug, und zwar in einem Flug gegen die Zeitzonen. Mir fehlten vier Stunden, die ich auf Wolke Sieben verbracht hatte.

Jazy beschäftigte sich schon wieder mit der Wii und sah sich die verschiedenen Songs durch. Ich ertappte mich dabei, wie ich die Melodien mit den Fingern auf dem Schreibtisch mittrommelte. Dabei sollten sie sich doch ausschließlich auf der Tastatur befinden.

Irgendwie schaffte ich es dann doch, an unserem Projekt weiterzuarbeiten. Jazy servierte zwischendurch einen Schinken-Käse-Toast an den Schreibtisch. Sie war neugierig und wollte sehen, woran ich arbeitete.

„Super Arbeit“, lobte sie mich. „Weitermachen!“ Sie klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Ich sah ihr verblüfft nach, als sie mit dem leeren Teller Richtung Küche ging. Von mir aus konnte dieser Lockdown für immer dauern.

Als ich zufrieden mit dem heutigen Tagespensum war, sah ich auf die Uhr. Es war zehn Uhr abends. Ich befand, dass ich vor dem Schlafengehen noch einige Seiten aus dem Notizbuch übersetzen konnte.

 

„Ich bin seit zwei Wochen hier im WWF-Camp. Es liegt am Hang des 4000 Meter hohen Kinabulus, im Norden Borneos. Hier kommen fast zehn Prozent aller an Land lebenden Pflanzen und Tierarten vor. Königstiger und Waldelefanten streifen durch den Dschungelwald. Orang-Utans hangeln sich von Baum zu Baum. Es ist wie im Paradies.

Da ist ein sehr hübscher Mann aus Europa in meiner Projektgruppe. Er heißt Karl und schreibt an einem Bericht für Greenpeace. Sie wollen eine Petition veröffentlichen, damit die Europäer kein illegal geschlagenes Holz von Borneo kaufen. Ich glaube, ich gefalle ihm. Er trägt lustige Kleidung und einen Hut. Ich habe ihm erzählt, 90 Prozent des Holzes von hier würden illegal geschlagen werden und wie das abläuft. Das hat ihn sehr interessiert. Ich sagte, dass die Holzfirmen bei der Regierung Konzessionen erwerben, um hier das Holz zu fällen und in die ganze Welt zu verkaufen. Aber sie entnehmen weit mehr, als laut diesen Konzessionen zulässig ist und ruinieren hier alles. Geklautes Holz ist billiger als gekauftes Holz! Das macht ihn genauso wütend wie mich.

Er gefällt mir auch. Er ist groß. Alles an ihm ist groß, seine Nase, seine Hände, seine Füße, sein Herz. Die Regierung dürfte das Land gar nicht verkaufen. Es sei laut Verfassung geschütztes Gebiet, meinte er. Ich sagte, es sei ihnen sogar egal, wenn tausende Menschen von ihrem Land vertrieben werden.

Ich erzählte ihm, wie das hier abläuft. Der Urwald wird abgeholzt und dann legen sie Palmölplantagen an. Damit die Plantagen schnell wachsen, verwenden sie starke Düngemittel und Pestizide, die das Trinkwasser verseuchen. Die Böden werden ausgelaugt und es kommt zu Erosion.

Ich bin glücklich, dass jemand endlich etwas unternimmt. Auch wenn es nur eine Non-Profit-Organisation ist.

Es existieren kaum Schutzgebiete, und die sind auch noch viel zu klein. Sogar in den Schutzgebieten gibt es illegalen Holzschlag Wir haben gestern erst wieder eine Anzeige bei der Polizei eingebracht, aber die Kerle haben nichts unternommen. Sie sagen, die Bevölkerung hier heißt die Rodungen gut. Sie mögen keine Wildtiere in der Nähe ihrer Dörfer. Die Leute wollen auf den Palmölplantagen Arbeit finden.

Ein Klimaexperte war heute mit uns unterwegs. Er meinte, der ganze Wald würde vernichtet werden, weil er austrocknet. Hier wäre alles voll Torf und der verbrenne. Riesige Mengen CO2 würden entweichen und in unsere Atmosphäre gelangen.

Heute haben wir gemeinsam mit einigen Einheimischen protestiert gegen die Zerstörung und die Goldminen. Das Militär hat uns vertrieben. Ich hatte große Angst, aber Karl war dabei und hat seinen Pass hergezeigt. Deshalb haben sie uns nichts getan.“

 

So hatten sich also meine Eltern kennengelernt! Ich zweifelte keinen Moment daran, dass dieser Karl, den meine Mutter in ihrem Notizbuch erwähnt hatte, mein Vater gewesen war. Mit jeder Seite daraus wuchs in mir die Gewissheit, dass es sich um eine Art Tagebuch handelte.

Es war schon wieder nach Mitternacht. Ich fuhr den PC runter und legte mich ins Bett. In der Nacht verfolgten mich wilde Szenen aus dem Dschungel Borneos bis in meine Träume.

 

Am nächsten Tag zeigte sich, wie überfordert unsere Professoren mit den Vorstellungen des Bildungsministeriums waren. Von drei Online-Stunden, entfielen zwei. Und das in einem Informatik-Lehrgang! Offensichtlich hatte man sich nicht einigen können, mit welchem Programm gearbeitet werden sollte.

Ich erstellte mit Jazy eine Einkaufsliste. Bei ihr funktionierte das E-Learning auch nicht besser. Erschwerend kam bei ihrem Studium dazu, dass sie hauptsächlich praktische Kurse hatte.

Ich ging zu Frau Sedlacek und holte mir deren Einkaufsliste ab. Ich nahm das Fahrrad, meinen größten Rucksack und zwei große Taschen. Vor dem Einkauf läutete ich bei Meister Ming an. Wir unterhielten uns in seinem Flur. Ich hatte vorsichtshalber meinen Mundschutz aufgesetzt. Er war die Ruhe in Person. Wie immer.

„Was halten Sie von dieser ganzen Sache?“, fragte ich ihn.

Nach einem Augenblick des Nachdenkens sagte er: „Nur wenn etwas in seiner ursprünglichen Form zerstört wird, ist ein Wandel möglich. Manchmal braucht es einen großen Leidensdruck, bis die meisten Menschen zur Wandlung bereit sind und eine alte, ausgediente Hülle abstreifen.“

Ich wusste, er sprach von einem Bewusstseinswandel, der von vielen spirituellen Führern schon lange prophezeit wurde. Ich bot an, auch für ihn einkaufen zu gehen, doch er schlug mein Angebot aus.

„Ich blauche nicht viel und das Wenige besolge ich in diesem chinesischen Laden in del Leopoldstadt“, sagte er mit seinem lispelnden Akzent.

Vielleicht sollte ich auch einmal dorthin fahren zum Einkaufen? Ich wusste, Jazy stand auf exotische Gerichte. Meistens kochte sie zwar türkische und indische Rezepte, aber vielleicht konnte ich sie auch für Chinesisch begeistern. Ich verabschiedete mich von Meister Ming und sagte, er solle mich anrufen, wenn er Hilfe brauchen würde.

 

Die Kassiererin beim Billa saß jetzt hinter einer Plexiglas-Wand. Es wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, man solle bargeldlos bezahlen, was ich ohnehin schon seit Jahren tat. Außer bei ganz kleinen Beträgen. Ich hatte alles von den Einkaufszetteln bekommen und fragte mich, wo die Menschen einkaufen gingen, die im Internet Fotos von leeren Regalen posteten.

Frau Sedlacek unterhielt sich von ihrem Küchenfenster aus mit einer Frau, die mit ihrem Hund Gassi ging. Im Vorbeifahren winkte ich ihr zu. Ihre Einkäufe hingen rechts und links an meiner Lenkradstange. Sicher würde sie mich gleich mit dem neuesten Klatsch aus der Straße versorgen. Ich war neugierig, ob es bei uns in der Nachbarschaft vielleicht Fälle von Corona gab.

Sie wusste von keinem. Aber trotzdem machte sie einen aufgeregten Eindruck auf mich. Sie erzählte, stündlich die Nachrichten im Radio zu verfolgen. Ich wusste nicht, ob ich das gutheißen sollte. Offensichtlich machte sie sich selbst verrückt damit. Aber was sollte eine alte Frau, die alleine in ihrer Wohnung eingesperrt war, den ganzen Tag lang machen?

 

Jazy überfiel mich schon an der Wohnungstür und begrüßte mich überschwänglich, als wäre ich gerade unversehrt aus dem Krieg heimgekehrt. Sie wollte haargenau wissen, wie es draußen zuging. Ich sagte ihr, dass wir noch weit von der Apokalypse entfernt wären und alles wie immer sei, nur mit Mundschutz und Desinfektionsmittel.

Sie half mir, die Einkäufe zu verstauen, und hockte sich dann auf ihre Yogamatte. Sie hatte Pläne geschmiedet und mich gleich darin einbezogen. Sie trug eine hautenge Leggins mit Blumen- und Libellenmuster an der Hüfte und den Beinen und ein bauchfreies Sport-Top. Die Haare hatte sie zu einem Pferdeschweif zusammengebunden. Sie schwangen bei ihren Gestikulationen wild im Takt hin und her. Sie war voll im Michael Jackson-Fieber und hatte sich in den Kopf gesetzt, ein Tanzvideo zu „Dangerous“ mit mir zu drehen. Das wollte sie dann in ihrem Blog veröffentlichen.

„Und dazu brauchst du unbedingt auch mich?“, wollte ich skeptisch wissen.

„Ja. Ich habe mir schon eine Choreo für zwei Personen ausgedacht. Es geht um einen Verbrecher und einen Polizisten. Ich wäre gerne der Verbrecher. Du darfst mich verhaften.“

„Hört sich ja spektakulär an. Wer soll denn filmen, wenn wir beide tanzen?“, fragte ich, um so dieses Unheil vielleicht doch noch irgendwie abwenden zu können. „Sieht sicher viel besser aus, wenn du alleine tanzt.“

Sie ließ sich nicht beirren. „Das Wichtigste bei einem richtig guten Tanzvideo ist, eine Geschichte zu erzählen. Nur so erreicht man das Publikum. Und die Geschichte dieses Songs braucht zwei Personen. Bitte! Ich brauche dieses Video. Unbedingt!“ Sie sah mich an, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.

„Also gut. Wir können es ja versuchen“, gab ich nach. „Wofür brauchst du dieses Video denn so dringend?“

„Als Tänzerin wird man heutzutage im Netz entdeckt und engagiert. Die ganzen Stars, die jemanden für ihre Videos suchen, sehen sich online um. Die Musicalproduzenten auch. Ich will nicht für immer hier in Wien versauern, verstehst Du? Ich muss hinaus in die Welt!“

Sie wollte also nicht hier in Wien versauern! Dieser Satz zog mir fast den Boden unter den Beinen weg. Und sie wollte, dass ausgerechnet ich ihr dabei helfen sollte? Was für eine von satirischer Bitterkeit gespickte Ironie.

 

 

 

 

Dangerous Jazy

 

 

 

Che war nicht gerade begeistert von meiner Idee einer eigenen Choreo zu „Dangerous“, das war ganz offensichtlich. Irgendwie brachte ich ihn dann doch dazu einzulenken. Aber dann kippte alles wieder. Ich hatte ihm doch nur von meinen Plänen erzählt!

Jetzt stand er mit nach unten gesackten Schultern vor mir und machte den Eindruck eines geprügelten Hundes. Ich hatte doch nur geplappert! Verzweifelt versuchte ich mich daran zu erinnern, was genau es gewesen sein könnte, das seiner Laune so einen Dämpfer versetzt hatte?

Vergebens. Ich konnte mir einfach keinen Reim auf seinen plötzlichen Stimmungswechsel machen.

Ich stand auf und sah ihn ratlos an. „Wenn du es nicht willst, dann lassen wir es eben sein.“ Meine Stimme triefte vor Resignation und ich ließ meinen Blick zu Boden wandern. Eigentlich war meine Schwester die Schauspielerin in der Familie, aber vielleicht funktionierte ja dieser kleine Trick ausnahmsweise auch bei mir. Nur in äußersten Notfällen ließ ich mich dazu hinreißen, mich in so eine manipulative Rolle zu begeben.

Es klappte! Er griff mit einer Hand nach meinem Oberarm, mit den Fingern der anderen Hand hob er meinen Kopf an und zwang mich, ihn anzusehen.

„Hey, tu das nicht! Ich will nicht, dass du deine Träume aufgibst!“ Er schüttelte den Kopf und schickte einen Blick an die Decke des Zimmers. „Ich bin dabei. Lass hören, was du dir ausgedacht hast.“

Ich fiel ihm um den Hals. „Das wird so geil!“

Es wäre wohl übertrieben, zu behaupten, dass Che sich von meiner Begeisterung mitreißen ließ. Aber immerhin lächelte er mich mit zusammengepressten Lippen an.

„Das heißt, wir können loslegen?“

Er zuckte zustimmend mit den Schultern.

Ich stellte mich in eine aufreizende Pose. „Du kommst im Intro von dort drüben und machst eine Miene, wie „Oh nicht schon wieder die!“, dann stellst du dich hinter mich, wie um mich abzutasten.“

Er leckte sich über die Lippen: „Hört sich gut an, erzähl weiter.“

Wie um mich abzutasten! Du musst schon ordentlich zuhören!“ Ich kicherte. „Du sollst mich nicht wirklich abtasten, sondern nur so tun. Verstehst Du?“ Ich drückte auf „Play“ und die Musik setzte ein.

„An der Stelle, wo Michael ihre Lines abcheckt, machst du dieses Abtasten.“ Ich untermalte meine Erklärungen mit den entsprechenden Gesten. Er nickte.

„Die Musik geht los.“ Ich machte einige schnelle Pirouetten. „Ich laufe vor dir davon und du mir nach.“ Ich zeigte ihm, wie ich mir das vorgestellt hatte. Er hatte die Moves, die ich mir zurechtgelegt hatte, schnell drauf.

„Ich dachte, wir könnten ein paar von deinen Kung Fu-Übungen einbauen? Fällt dir etwas ein, das zur Musik passen würde?“ Wir hörten uns den Song noch einmal an. Es gab mehrere Stellen, die geradezu nach Kampfszenen schrien. Beim zweiten Mal stand er auf und machte im Rhythmus der Musik ein paar passende Bewegungen. Ich jubelte. Es sah noch cooler aus, als ich es mir erhofft hatte.

Eine Stunde später zeigte er mir, wie ich mich gegen seine simulierten Angriffe verteidigen und wie ich zum Gegenangriff übergehen konnte. Jetzt mussten wir das Ganze nur noch in meine spielerische Tanzchoreo einplanen. Es sollte so aussehen, als würde ich ihm immer wieder entwischen und als müsste ich ihm nachlaufen. Anschließend stellte ich ihm eine Falle und er musste sich daraus befreien. Irgendwann würden die Handschellen zuschnappen und wir wären aneinander gekettet. Auch dafür hatte ich mir schon die passenden Schritte überlegt.

„Hast du überhaupt eine Ahnung von Locking und Popping?“, fragte ich ihn.

Er verzog gequält das Gesicht. „Einsperren und ...?“

„Immer schön bei der Sache bleiben. Es geht noch immer ums Tanzen. Ok?“ Ich grinste.

Er bekam rote Ohren und schüttelte den Kopf. Nichts anderes hatte ich vermutet. Also musste ich ihm erst noch eine Grundlektion an Hip Hop Moves lehren. Was aber kein Problem darstellte. Das Tanzen lag ihm im Blut. Und er kannte den Song in- und auswendig.

„Übrigens, wenn du am Boden liegst und dich vor Schmerzen windest, mache ich ein Solo“, eröffnete ich ihm, als er sich gerade ziemlich außer Atem auf meine Yogamatte legte. Er schnaufte zustimmend.

Nachdem wir uns beratschlagt hatten, wie wir die Schlussszene gestalten wollten, die in einer Explosion endete, versuchten wir einen Probedurchlauf. Es lief gar nicht mal so schlecht fürs erste Mal und Che fing Feuer. Es machte ihm Spaß und er zeigte Ehrgeiz.

Sein Handy läutete und riss uns aus unserer Konzentration. Es war Toni, der ihn am Telefon wohl ziemlich zur Schnecke machte. Che zeigte sich geknickt und entschuldigte sich hunderte Male bei seinem Freund, weil er die Zeit übersehen hatte.

„Wir machen morgen weiter. Ich kümmere mich ums Essen“, entließ ich ihn gnädig fürs Erste. Ich war ohnehin geschlaucht und spürte meine Muskeln von den für mich ungewohnten Kung Fu-Bewegungen. Während dem Kochen kreisten meine Gedanken ständig um die Choreo. Ich war aufgeputscht und voller Euphorie wie nie zuvor.

 

Das Wetter blieb schön. Che legte mir nach dem Training für die Choreographie immer eine seiner dicken Turnmatten auf das Vordach und ich sonnte mich, während er an seinem PC saß. Ich hörte Musik und Podcasts.

Wir gingen dazu über, den Vormittag dem Tanzen zu widmen. Am Nachmittag arbeitete Che mit Toni an dem gemeinsamen Projekt. Abends, wenn ich gemütlich vor dem Fernseher hockte, widmete er sich meist dem Notizbuch seiner Mutter. Die Übersetzungen las er mir dann beim Frühstück vor. Seine Eltern hatten viel gemeinsam erlebt. Ich freute mich für ihn, dass er jetzt zum ersten Mal etwas über sie erfuhr und durch das Tagebuch seiner Mutter ein wenig Anteil an deren Leben nehmen konnte. Manchmal entdeckte er Eigenschaften an ihnen, die er auch bei sich feststellen konnte.

Die Nachrichten waren niederschmetternd. Uns hier in Österreich hatte die Krise durch die Fälle in Tirol relativ früh erwischt, doch nach und nach gingen die Zahlen an Erkrankten auch in den anderen Ländern nach oben. Manche Sender malten Horrorszenarien an die Wand. Aufrufe, wie „Bleibt Zuhause! Es wird Krankheit, Leid und Tod für viele geben!“, „Verhalten Sie sich richtig!“, und „Bleiben Sie gesund!“, waren an der Tagesordnung. Ich hatte nicht einmal mehr Lust zum Joggen rauszugehen. Nur Che ging alle zwei Tage einkaufen. Er kümmerte sich auch um die alte Hausmeisterin. Trotzdem fragte er mich immer wieder, ob er nicht mehr tun könne. Er hatte gehört, dass einige Vereine zu ehrenamtlicher Hilfe aufgerufen hatten.

„Man soll doch Kontakte vermeiden!“, hielt ich ihm dann immer vor. „Du könntest Frau Sedlacek gefährden, wenn du von irgendwoher den Virus daherschleppst!“ Ich wollte nicht, dass er mich alleine in der Wohnung zurückließ.

Die nationale Krise wurde rasch zu einer globalen. Fernsehmoderatoren sendeten ihre Shows und Beiträge aus deren Privatwohnungen. Es war skurril. Dann hörte man von immer mehr prominenten Positiven. Oliver Pocher erkrankte, zum Glück nicht schwer. Die Welt, wie wir sie gekannt hatten, löste sich auf. Ich hatte das Gefühl, als wäre sie dabei, sich neu zu erschaffen. Alles machte man nur noch online. Freunde treffen. Studium. Einkaufen. Wir waren dabei, online eine neue Welt zu formen. Manche Sachen funktionierten relativ gut, andere weniger. Alle Prüfungstermine wurden auf Mai und Juni verschoben. Also gab es nicht einmal etwas zu lernen.

Ich saß jeden Tag an meinem Blog. Einmal schrieb ich etwas über ganzheitliches Tanztraining. Wie man damit etwas für Geist, Körper und Seele tun konnte. Dann schrieb ich über Meditation, Ernährung, geistige Gesundheit und darüber, wie man seine kreativen Fähigkeiten entdecken konnte.

Manchmal sah ich aus lauter Langeweile Che beim Programmieren zu. Das machte ihn aber immer nervös, weil ich natürlich überhaupt keine Ahnung hatte. Einmal wollte er mir die 3D-Software erklären, mit der er seine Stills erschuf, doch ich wusste ja nicht einmal, worin der Unterschied zwischen 2,5D und 3D lag. Oder was Blurred Lines waren.

„Was ist so klasse an diesen Videospielen?“, fragte ich ihn.

Er schaute mich entgeistert an. „Na, man kann alles besser als im echten Leben! Höher springen, härter zuschlagen. Und wenn es hart auf hart kommt und man stirbt, kann man von vorne beginnen.“

Wenn ich ihn zu sehr von der Arbeit ablenkte, gab er mir kleinere Aufgaben zu erledigen. Ich sollte mir Gedanken über eine passende Musik zum Spiel machen. Das bereitete mir richtig Spaß. Ein anderes Mal beratschlagte er sich mit mir über die visuelle Charakterisierung der Figuren und die Auswahl der Kostüme. Che erschuf Skulpturen, die er anschließend animierte. Toni fertigte die dazugehörigen Effekte. Feuer, Wasser, Schatten, Gegenstände, Rauch, Tiere. Die beiden ließen die Kamera in die Szenen rein- und rausfahren.

Sie unterhielten sich mitunter im Videochat über Steve Jobs. Ich wusste, dass der etwas mit Apple zu tun hatte, doch anscheinend war er auch ein Vorreiter für Computeranimationen gewesen. Che erzählte mir, dass Jobs die Pixar-Studios gegründet hatte. Was mich wiederum auf die Idee brachte, ihm vorzuschlagen, doch ein Maskottchen ins Spiel aufzunehmen. So als kleinen Sidekick. Die Jungs fanden meinen Vorschlag witzig und so erschufen wir gemeinsam „Power Pupsi“. Einen süßen kleinen Drachen mit einem Einhorn auf der Stirn und riesigen Augen. Che verpasste Pupsi eine übertrieben ausgeprägte Mimik. Ich schlüpfte in die Verkabelungsausrüstung und tanzte kleine lustige Auftritte ein. Pupsi gab der Spielfigur, wenn sie nicht weiterwusste, gegen Punkteaustausch lustig umschriebene Hinweise oder nervte sie gelegentlich so, wie ich Che gelegentlich nervte.

So brachten wir die erste Woche im Lockdown hinter uns. Wir waren vielleicht aus unserem Alltagstrott geworfen worden, aber wir ließen uns davon nicht unterkriegen.

 

Unsere Choreo  zu „Dangerous“ wurde indes immer perfekter. Wir waren schon dazu übergegangen, uns beim Tanzen zu filmen, um alles besser analysieren zu können.

Che und ich waren inzwischen ein eingespieltes Team. Er brauchte seine gewissen Routinen, so viel wusste ich bereits über ihn. Mich brachte das aber manchmal fast zum Durchdrehen. Hatte ich den richtigen Zeitpunkt verpasst, an dem wir etwas anderes hätten werden können als bloß Tanzpartner und WG-Mitbewohner?

Als wir angefangen hatten zu tanzen, war mit jeder Berührung meine Gewissheit gewachsen, dass ich mich nach mehr davon sehnte. Er verfolgte mich bis in meine Träume. Seine Hände nur beim Tanzen auf mir zu spüren war mir zu wenig. Wir waren richtig gute Freunde geworden, doch jetzt war der Punkt erreicht. Freundschaft alleine reichte mir nicht mehr. Ich wollte mehr. Ich brauchte mehr! Ich hatte mir einen Virus eingefangen und der hieß Che! Ich war süchtig nach seinem Lächeln.

Che stellte eine Palme und einen Gummibaum auf das Vordach. „Das ist für die nächste Zeit unser Garten Eden“, sagte er, „wenn wir schon keinen richtigen Balkon haben!“

Wieder einmal lag ich in der Sonne, hatte meinen knappsten Bikini angezogen und träumte davon, dass Che mich am ganzen Körper mit Sonnenöl einrieb. Verdammt! Irgendwie musste es mir doch gelingen, diesen Kerl zu verführen? Ich griff zu meinem Handy und schickte Che eine Nachricht: „Kannst du bitte kommen und mir den Rücken eincremen?“

Ich wusste, er hatte das Handy neben sich liegen, da ich ja ohne seine Hilfe nicht zurück in die Wohnung kam. Trotzdem dauerte es fünf Minuten, bis er endlich, wie eine Raubkatze, aus seinem Schlafzimmerfenster zu mir aufs Dach sprang. Er landete geschmeidig auf allen vieren und trug nur eine kurze Sporthose.

„Du kommst wie gerufen!“ Ich griff zu meinem Fläschchen mit dem Sonnenöl, das eigentlich ganz normales Körperöl war, und hielt es ihm entgegen. „Die Sonne wird von Tag zu Tag stärker.“ Er sah so heiß aus, mit nacktem Oberkörper!

„Du hast mich gerufen. Schon vergessen?“ Er kniete sich neben mich und öffnete das Fläschchen. „Ähm? Darf ich dir zum Eincremen den Bikinioberteil aufmachen?“

„Mhm.“ Im Stillen beglückwünschte ich mich zu meiner Idee.

Er öffnete den Verschluss meines Oberteils und ich grinste in meine Armbeugen, in denen ich mein Gesicht versteckte. Er schob gewissenhaft meinen Zopf zur Seite, um ihn nicht anzutropfen, als er das Öl auf meinem Rücken verteilte. Dann spürte ich endlich seine Hände auf meiner Haut. Die Berührung jagte wohlige Schauer durch meinen Körper. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht laut zu seufzen. Immerhin wollte ich ihn verführen und nicht verschrecken. Er massierte das Öl richtig tief in meine Haut und knetete sie dabei etwas.

„Das ist angenehm.“ Vielleicht würde er es als Aufforderung sehen, um mich noch länger zu massieren.

Als er mit dem Rücken und meinen Oberarmen fertig war, fragte er, ob er mir auch die Beine eincremen sollte.

„Mhm, du machst das so gut!“

Ich spürte, wie er seine Position änderte und sich mit einem Bein zwischen meine Waden kniete. Ich glaube, ich drehe gleich durch! Was machst du nur mit mir?

Er begann meine Oberschenkel zu massieren. Ich konnte fühlen, wie seine Daumen knapp an den Rand meines Bikinihöschens entlangstrichen. Da bemühte er sich so, das Höschen nicht zu beschmutzen und dabei versaute ich es durch meine heftige Reaktion auf seine Berührung ohnehin bereits selbst. Als seine Hände auf meinem Po lagen, richtete ich mich etwas auf um nach meinem Handy zu greifen. Dabei streckte ich ihm meinen Hintern absichtlich entgegen. Mit Genugtuung hörte ich ihn nach Luft schnappen. Mein Busen baumelte ohne das Bikinioberteil in der Luft. Grinsend biss ich mir auf die Lippen. Als ich mich wieder hingelegt hatte und er sich etwas gefasst hatte, ölte er noch meine Waden ein und widmete sich dann noch einmal meinen Oberschenkeln. Ich stütze mich auf die Ellbogen und sah ihn über meinen Rücken hinweg an.

„Die hast du eigentlich schon eingeölt“, sagte ich und meinte aus dem Augenwinkel, eine Wölbung in seiner Hose auszumachen.

„Oh Mann, Jazy! Du bringst mich ganz durcheinander!“ Er schraubte den Verschluss auf das Fläschchen und stellte es zur Seite. Dann ließ er sich neben mir auf den Bauch fallen. Ob das ratsam war in seinem Zustand?

Jetzt verbarg er sein Gesicht in den Armbeugen. Ich stützte mich auf einen Ellbogen, wohlwissend, dass ich kein Bikinioberteil trug.

„Endlich gönnst du dir auch einmal eine Pause. Es ist Wochenende. Zeit zum Chillen.“

Er drehte den Kopf und sah mir in die Augen. Mit Genugtuung stellte ich fest, dass sein Blick immer wieder zu meinem Busen wanderte. Als sich unsere Blicke das nächste Mal trafen, zog ich leicht eine Braue hoch.

Er stöhnte: „Kannst du bitte deinem Busen sagen, er soll mich nicht so anstarren?“

Grinsend hakte ich den Verschluss hinter meinem Rücken wieder zusammen.

„Also? Was machen wir heute noch?“, erkundigte ich mich unschuldig.

„Du hast doch sicher, wie ich dich kenne, schon Pläne geschmiedet“, sagte er mit rauer Stimme.

„Eigentlich nicht. Bis vorhin hatte ich nur geplant, mich später in die Badewanne zu legen ...“

Er schloss die Augen und seufzte sehnsüchtig.

„Was? Wovon träumst du gerade?“, sprudelte es aus mir heraus.

„Von einem Schaumbad, bis meine Zehen und Finger verschrumpelt sind. Ist schon fast ein Jahr her, seit ich das zuletzt gemacht habe.“

„Warum? Was hält dich davon ab?“

Er sah mir wieder in die Augen. „Meine Badewanne gehört jetzt dir.“

„Oh!“ Das war mir nicht bewusst gewesen. Doch jetzt witterte ich meine Chance. Alles oder nichts! „Du bekommst nachher dein Bad!“, sagte ich und bemühte mich möglichst unschuldig zu lächeln. „Das hast du dir diese Woche wirklich verdient!“

Wir lagen noch eine Weile nebeneinander und genossen jeder für sich die warmen Sonnenstrahlen. Immer wieder wanderte mein Blick zu Che hinüber, der neben mir friedlich dahindöste. Heute lass ich dich nicht so ohne Weiteres davonkommen!

 

Die Welt war gerade voll schräg drauf. Wenn das Verrückte Normalität wurde, dann war das, was ich jetzt vorhatte, also ganz normal. Ich ließ meine Badewanne volllaufen und kippte eine extra Verschlusskappe von dem Orangenblütenöl in die Wanne. Mit der Hand prüfte ich die Wassertemperatur.

„Che!“, rief ich so laut ich konnte.

„Jazy?“, hörte ich ihn im Wohnzimmer fragen.

„Hier im Badezimmer!“.

Er stand in der Tür und musterte mein kleines Badezimmer. Ich saß im Bikini auf dem Rand der Wanne. Am Waschbeckenrand hatte ich ein entspannendes Räucherstäbchen angezündet und ein Teelicht aufgestellt. Ich plantschte mit der Hand einladend ins heiße Wasser. „Schaumbad habe ich leider nicht, aber ich habe dir eine Handvoll Rosenblüten ins Wasser gestreut.“

„Für mich?“ Er tat, als hätte er unser kleines Gespräch von vorhin schon wieder vergessen.

„Schnell, bevor es auskühlt!“, trieb ich ihn an.

Er trat an die Wanne und blieb unschlüssig stehen. Fragend blickte er mich an.

„Komm schon! Sei nicht so schüchtern. Ich hab einen jüngeren Bruder und weiß wie ein nackter Mann aussieht.“

Er zog sein Shirt aus und hängte es auf den Heizkörper. Dann wandte er mir verschämt den Rücken zu und schlüpfte aus seiner Short. Beim Anblick seiner knackigen Rückenansicht biss ich mir freudig auf die Lippen. Er stieg in die Wanne und streckte sich sofort genüsslich aus.

„Ohh. Das ist gut!“ Er sah mich an und versank langsam zur Gänze im Wasser, bis nur noch seine Knie herausragten. Durch das Wasser sah ich seine verschwommenen Sommersprossen und die langen dunklen Wimpern.

Jetzt oder nie Jazy! All in!

Als er wieder auftauchte, hatte ich meinen Bikini ausgezogen und saß nackt mit offenen Haaren am Badewannenrand. Ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf. Etwas zwischen seinen Beinen stellte sich auf wie eine Rakete.

Ich legte den Kopf schräg und fragte: „Hast du noch Platz da drin für mich?“

Reflexartig zog er stumm die Beine an. Ich schwang meine ins Wasser und kniete mich ans freie Ende der Wanne. Dabei behielt ich den beträchtlich gestiegenen Wasserpegel im Auge. Die Zeit schien still zu stehen. Che schaute mich mit großen Augen an. Das Wasser gluckste im Überlauf. Nach und nach glitt ich tiefer in die Wanne. Verhakte schließlich meine Beine mit seinen. Als ich mich zurücklehnen wollte, spürte ich die Armatur unangenehm im Nacken. „Autsch!“, entfuhr es mir.

Ich kniete mich wieder auf und beugte mich über den Rand der Wanne, um nach einem Handtuch zu greifen, das ich mir hinter den Kopf stopfen wollte. Ich hing halb in, halb außerhalb der Wanne und streckte mich. Plötzlich spürte ich Ches Hände an meiner Hüfte, die mich zu ihm rüber zogen. Ich vergaß für einen Moment weiterzuatmen. Erst, als ich seine Brust an meiner Schulter spürte, seine Hände an meinem Bauch und seine Erregung gegen meinen Rücken drückte, holte ich vorsichtig wieder Luft. So vorsichtig, als hätte sich ein Schmetterling auf meiner Nase niedergelassen, den ich nicht vertreiben wollte. Langsam ließ ich meinen Kopf an seine Schulter zurücksinken. Meine Hände hielten sich am Wannenrand fest, was würde als Nächstes passieren? Ich glaube, ich war noch nie zuvor in meinem Leben so aufgeregt gewesen.

Che kraulte meinen Bauch, wie er es sonst beim Fernsehen bei Filou machte. Das Badeöl machte meine Haut glatt und samtig. Genussvoll streichelte er an meiner Seite entlang zu meinen Oberschenkeln. Umfasste sie von außen und knetete meinen Po. Dann arbeiteten sich seine Finger langsam nach vorne und hoch und erreichten meinen Busen. Sofort reagierten meine Brustwarzen und wurden steif. Vorsichtig, als hätte er es mit etwas Zerbrechlichem zu tun, kraulte er meine Brust. Meine Spitzen drängten gegen seine Handflächen und ich drückte meinen Rücken durch, um sie fester zu spüren. Mutiger geworden, nahm Che meine Warzen mit Daumen und Zeigefinger und zog leicht daran. Diese Empfindung war komplett neu für mich und elektrisierte mich. Ich stöhnte erregt auf.

Mit einer Hand schob er mir die Haare über die linke Schulter und legte meine rechte frei. Ich spürte seinen Atem, wie er von der Schulter weiter nach oben wanderte und wie seine Lippen die weiche Haut meines Halses berührten. Im Zeitlupentempo bewegten sie sich weiter hinauf, viel zu langsam. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Fasste mit meinen Händen nach hinten und ergriff seinen Kopf. Gleichzeitig wandte ich meinen Mund gierig nach seinem um. Das Wasser in der Wanne schwappte gefährlich gegen den Rand, als wir beide immer tiefer darin versanken. Endlich lagen unsere Lippen aufeinander. Meine Zunge machte sich sofort auf die Suche nach seiner und ich fühlte, wie er in meinen Mund seufzte. Worte können nicht beschreiben, was ich in diesem Augenblick empfand. Vorsichtig stupste ich meine Zunge gegen seine. Dann saugte ich leicht daran und ich fühlte, wie sich Ches Körper aufbäumte.

Er keuchte: „Jazy! Du bringst mich zum Explodieren!“

Jetzt verstand ich erst, was geschehen war. Das Verständnis brachte mich dazu, den Kuss noch einmal zu intensivieren. Es war ein Augenblick voller Genuss, als würde sich meine Seele an seine schmiegen wollen und seine erwartete sie mit offenen Armen.

Nachdem wir eine Weile heftig geknutscht hatten, spürte ich, wie seine Hände neugierig meinen Körper erkundeten. Ich drehte mich wieder um und lehnte mich gegen seine Brust. Ich führte seine Hand an jene Stelle, nach der er so neugierig gesucht hatte. Die andere knetete währenddessen meinen Busen. Bereitwillig öffnete ich die Schenkel. Flüssigkeit von weichspülerartiger Konsistenz strömte aus meinem Schoß. Ich ahnte, wie geil sich das für ihn anfühlen musste. Genussvoll erkundete er jeden Millimeter dieser intimen Zone.

Was er da trieb, ...! Gänsehaut überzog plötzlich meinen gesamten Körper. Ich dreh gleich durch! Stöhnend wölbte ich meinen Körper gegen seine Hand. Das ließ ihn noch mutiger werden und wieder fand er die Stelle, die so heftig auf seine kreisende Berührung reagierte. Sofort legte sich meine Hand auf seine, um zu verhindern, dass sie diesen Punkt verlor. Ich wollte mich ganz in dieser Ekstase verlieren. Es fühlte sich an, als wäre mein Körper ein Instrument und Che war der Virtuose, der dieses Instrument bis zur Perfektion beherrschte. Heftig zuckend und stöhnend kam ich zum Höhepunkt der Sonate.

Mein Mund suchte wieder den seinen und fand ihn in einem Kuss voller grenzenlosem, schmerzhaftem Verlangen. „Lass uns ins Schlafzimmer gehen“, raunte ich ihm heiser ins Ohr.

 

Dort blieben wir dann auch fast das ganze Wochenende. Wir verließen das Bett nur zum Duschen und Pinkeln oder um uns schnell etwas aus der Küche zu holen.

Ich war ihm ausgeliefert und ich wollte es so. Che steckte auch beim Sex in jede Bewegung dieselbe Energie, die ich von seinem Kung Fu her kannte. Unser gegenseitiges Verlangen war grenzenlos. Unsere Seelen waren nackt und sprühten Funken, sobald wir uns berührten. Das war also dieser berühmte Zauber, der jedem Anfang inne wohnt.

Wir spielten einander unsere Lieblingssongs vor und küssten uns, bis unsere Lippen schmerzten. Es war uns egal, was die Schlagzeilen nach dem Aufwachen wohl wieder berichten würden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Che - Der ungebetene Gast

 

 

Mir kam es nach diesem Wochenende vor, als würde ich Jazy bereits mein ganzes Leben lieben. Dabei kannte ich erst seit sieben Monaten ihren Namen. Wenn es, wie manche Menschen gerne behaupteten, einen Sinn im Leben gab, dann war ich mir sicher, ihn mit ihr gefunden zu haben.

Es war so schön, ihr beim Schlafen zuzusehen. Eine der wenigen Gelegenheiten, bei der sie nicht tanzend wie ein Schmetterling hierhin und dorthin flatterte. Jetzt taten das nur hin und wieder ihre Augenlider. Ihr Anblick verzauberte mich jedes Mal von neuem.

Ich hatte sie in der letzten Woche besser kennen gelernt als in den ganzen Monaten davor. In Jazys Leben ging es immer darum, Spaß zu haben. Sie genoss den Moment. Sie war nicht wie ich, der sich jetzt schon Sorgen darüber machte, ob sie sich wohl in zehn Jahren noch an meinen Namen würde erinnern können. Ich wusste, ich wollte mein Leben mit ihr verbringen und es war mir klar, wenn sie mich eines Tages verlassen würde, wäre ich für den Rest meines Lebens ein gebrochener Mann. Wie schaffte dieser schlafende Engel an meiner Seite es nur, so eine Sorgenlawine in meinem Kopf in Gang zu setzen?

Mit einem stummen Seufzen griff ich nach meinem Handy und scrollte durch die Schlagzeilen des Nachrichten-Feeds. Ich hasste diese neue zwanghafte Angewohnheit. Das hatte ich doch früher auch nicht getan! Ich wollte eigentlich nicht, dass mich die Krise so veränderte.

Italien meldete 475 Tote an nur einem Tag. Das waren mehr, als je in China gezählt worden waren. Unser Nachbarland war jetzt das Land mit den meisten offiziell gemeldeten Toten weltweit. Berlusconi spendete freiwillig zehn Millionen Euro für die Einrichtung neuer Intensivstationen in Mailand, was meine Meinung über ihn nur unwesentlich besserte. Der Bürgermeister von Bergamo appellierte an alle EU-Amtskollegen: „Sorgt dafür, dass sich die Leute nicht mehr treffen, sondern auf Abstand gehen. Nutzt die Zeit gut, die ihr noch zur Verfügung habt."

Währenddessen hatte unsere Regierung in den letzten Tagen bekannt gegeben, dass Grundwehrdiener und Zivildiener ihren Dienst verlängern mussten, dass Milizsoldaten eingezogen und Ärzte aus der Pension geholt wurden. Ungarn hatte seine Grenzen zugesperrt und damit ein Chaos ausgelöst. Die ganzen Balkan-Heimreisenden, die diese Route gewählt hatten, saßen fest. Die Außenministerien starteten Rückholaktionen für im Ausland gestrandete Flugreisende ...

Sogar die Deutschen hatten inzwischen mitbekommen, wie dünn das Eis war, auf dem sie sich bewegten. Die Stadt Halle hatte den Katastrophenfall ausgerufen. Die für den Sommer 2020 geplante Fußball-Europameisterschaft wurde um ein Jahr verschoben. Das würde Jazy ganz schön auf die Palme bringen!

Als hätte mein Gedanke sie geweckt, kam ein schläfriges: „Was tust Du?" von ihrer Seite des Bettes.

„Ich checke nur die aktuellen Nachrichten."

„Und? Gibt's was Neues?"

„Stell dir vor, ein süßes Zauberwesen hat mein Herz erobert!"

„Ach? Ist das so? Vielleicht habe ich da etwas dagegen."

„Sorry! Du kannst absolut nichts tun."

Sie rollte auf mich und rieb sich aufreizend an meinem Körper.

„Egal was ich mit dir mache?" Sie warf mir einen verheißungsvollen Blick zu, bevor sie unter der Bettdecke verschwand.

Irgendwann gewann der Hunger die Oberhand und wir wälzten uns aus dem Bett. Meine Sachen lagen, völlig untypisch für mich, wild am Boden verstreut. Ich fühlte mich verwegen, als ich Jazy einen Klaps auf den nackten Hintern gab, während sie provozierend knapp an mir vorbei ins Bad stolzierte. Ihre Haare sahen aus, als hätte es uns übers Wochenende zurück in die Steinzeit katapultiert und es gäbe noch keine Kämme.

Eine halbe Stunde später schob ich mein Fahrrad durch die Haustüre. Man hörte tatsächlich die Vögel zwitschern! Der Verkehr hatte derart abgenommen, dass man sich sogar als Radfahrer halbwegs sicher fühlen konnte auf Wiens Straßen. Ich war wieder einmal unterwegs, um ein paar Besorgungen zu machen. Selbst diese kurze Trennung von Jazy war kaum auszuhalten. Wenn ich die Augen schloss, dann sah ich immer nur sie. Meine Sehnsucht nach ihr kannte keine Grenzen. Nachdem wir in den letzten zweieinhalb Tagen nie länger als ein paar Minuten voneinander getrennt waren und sogar im Schlaf unsere Beine und Finger miteinander verschlungen hatten, war dieser erzwungene Abstand kaum auszuhalten.

Ich brachte Frau Sedlacek wieder einmal die Sachen von ihrer Einkaufsliste vorbei. Wie immer, wenn ich das tat, informierte sie mich über die aktuell veröffentlichten Zahlen der Erkrankten. Ich wusste, sie hatte ihr Wissen aus der Krone, die am Vorabend gedruckt worden war, und hörte deshalb nur mit halbem Ohr zu. Aus Frau Sedlaceks Wohnung drang das glucksende Geräusch ihrer Filterkaffeemaschine.

Sorgenvoll berichtete sie mir, dass alle Maßnahmen bis 13. April verlängert worden waren. Sie war blass. Ein Knopf an ihrer Kleiderschürze fehlte. Um sie etwas aufzumuntern, erzählte ich ihr von dem Vogelgezwitscher draußen. „Apropos! Da fällt mir ein, haben sie schon von der neuesten Eskapade des US-Präsidenten gehört?" Ich wusste, den schätzte sie genauso wenig wie ich. Sie wählte seit Kreisky nur noch die SPÖ und konnte diese eigenartige sozialistische Apokalypse, die er in Amerika vorantrieb, nicht verstehen. Sie spitzte die Ohren.

„Der twittert ja regelmäßig was im Internet. Das meiste hört sich auch so an, als hätte er sich vorher so richtig einen angezwitschert." Ich überlegte kurz, ob sie mit dem Begriff twitter überhaupt etwas anfangen konnte und nahm mein Handy zur Hilfe. „Vorgestern hat er geschrieben: Corona ist ein sehr ansteckendes Virus. Es ist unglaublich. Aber wir haben eine enorme Kontrolle darüber! Gestern schrieb er: Nein! Das Virus ist für keinen Ort auf der Welt unter Kontrolle und heute: Ich habe immer gewusst, dass es eine echte Pandemie ist ... Ich hatte das Gefühl, dass es eine Pandemie war, lange bevor sie als Pandemie bezeichnet wurde."

Sie schüttelte den Kopf. „Wann begreifen die Amerikaner, dass dieser Trump in eine Klapsmühle gehört und nicht ins Weiße Haus?"

„Na zum Glück haben wenigstens die Kalifornier früher reagiert. Aber eins muss man sagen, dieser Virus hat geschafft, was bisher keine Umweltaktion hinbekommen hat. Die Luft ist sauber! Der Verkehr ist total zurückgegangen. Und es gibt keine Kondensstreifen mehr am Himmel."

Ich zeigte ihr, wie zum Beweis, ein Youtube-Video von jemandem, der die menschenleere Mariahilferstrasse gefilmt hatte.

„So leer sind die Straßen?", fragte Frau Sedlacek erstaunt. „Was machen die ganzen Leute?"

Ich erzählte ihr, was ich im Supermarkt beobachtet hatte: „Wenn ich es danach beurteilen müsste, was die Menschen in ihre Einkaufswagen gepackt haben, würde ich tippen, die veranstalten Fressorgien! Da kann einem das Lachen ganz schön vergehen. Chips Cola in Zwei-Liter-Plastikflaschen. Kiloweise Naschereien. Und bei den Unmengen an Putzmitteln, die gerade eingekauft werden, habe ich den Eindruck, die Leute wollen das alles vom Fußboden essen."

Frau Sedlacek erzählte von ihrem Bruder, der in einem Altenheim wohnte. Altenheime sind schon ohne Lockdown Orte des Schreckens. Die Bewohner mussten sich wie in einer Art Todestrakt fühlen. Da kam keiner mehr lebend raus. Natürlich machte sie sich große Sorgen um ihn.

„Es ist grauenhaft. Wenn ihm etwas geschieht, kann ich nicht einmal zu ihm fahren und seine Hand halten! Wer steht einem denn noch bei, wenn man nicht einmal mehr jemanden hat, der einen besuchen darf?"

Ich versuchte sie ein wenig zu beruhigen und erzählte ihr von den vielen hilfsbereiten Menschen, die sich in der Krise von ihrer besten Seite zeigten. „Es hat auch sein Gutes, vielleicht lernen wir ja endlich, dass wir nicht immer permanent alles zur Verfügung haben müssen. Gehen Sie raus, Frau Sedlacek, einfach spazieren, in den Park zum Beispiel. Das schöne Wetter wird Ihnen gut tun."

„Ach du liebe Güte! Mit meinen morschen Knochen?"

„Sie haben ja den Rollator von meiner Urli, da können Sie sich zum Verschnaufen ja jederzeit hinsetzen. Hat sie doch auch so gemacht. Sonnenstrahlen fördern die Bildung von Vitamin D und vermindern die Anfälligkeit gegen Infekte", versuchte ich, es ihr wie ein Reklamesprecher, schmackhaft zu machen.

Sie versprach mir es auszuprobieren.

Am Nachmittag machten wir einen Ausflug auf den Kahlenberg. Jazy wollte unbedingt wieder einmal raus und einen Waldspaziergang machen. Der Bus war fast leer und stank nach Desinfektionsmittel.

Als eine junge Frau mit ganz offensichtlich falschem Busen ausstieg, meinte Jazy trocken: „Lass uns eine Schweigeminute einlegen, für alle Frauen, die sich für zweitausend Euro die Lippen haben aufspritzen lassen und jetzt einen Mundschutz um fünfzig Cent tragen müssen."

Wir hatten den Ausflug unter anderem geplant, um fehlende Bewegungsabläufe für mein Projekt aufzunehmen. Dafür hatten wir die Videokamera mitgenommen und die Ausrüstung, die wir für die Berechnung der entsprechenden Algorithmen brauchten. Wir fanden einen kleinen Wasserfall, den wir filmten. Jazy jagte mich auf mehrere Bäume und nahm mich dabei auf, wie ich mich an Ästen hochschwang. Ich ließ sie über Felsbrocken klettern und in einem Bach von Stein zu Stein hüpfen. Am Rückweg pflückte sie Schneerosen und sammelte knorrige Zweige.

Noch nie zuvor hatte ich die Natur so intensiv wahrgenommen. Sie fühlte sich an wie der Puls des Lebens. Die Farben waren kräftiger, der Duft harziger. Der Wald bestand plötzlich aus einzelnen Bäumen. Jazy kannte jede Baumart mit Namen. Wenn ihr einer besonders gut gefiel, konnte es leicht passieren, dass sie ihn innig umarmte. Es sah dann aus, als wolle sie mit ihm tanzen. Auf einer Wiese ließ sie ihre Umhängetasche fallen und schlug ausgelassen Räder. Ich zeigte ihr, dass das Radschlagen auch ohne Hände ging. Sie drängte mich sofort, auch das mit der Ausrüstung festzuhalten.

Nachdem keine Gasthäuser offen waren, mussten wir uns zum Pinkeln hinter Büsche verziehen. Jazy, die sonst nicht schüchtern war, marschierte ewig weit in den Wald hinein. Ich wartete auf einem gefällten Baumstamm und sah mir unsere Videoaufnahmen durch. Ich war ganz vertieft darin. Plötzlich fühlte ich einen harten Gegenstand in meinem Rücken.

„Hände hoch, oder ich huste!" Jazy hatte sich von hinten angeschlichen und drückte mir einen der gesammelten Äste ins Kreuz.

„Tu mir nichts! Ich habe eine Katze!" Ich versuchte, sie mit einer schnellen Bewegung zu überwältigen, doch sie konnte sich inzwischen schon richtig gut wegducken. Ich hielt die Kamera in der einen Hand. Letztlich hatte sie ein Einsehen und kam von selbst, um sich auf meinem Schoß niederzulassen.

„Los! Film uns beim Knutschen!"

Mein Schwerpunkt bei der folgenden Aktion lag bei Letzterem.

„Wir müssen zum Bus!", erinnerte ich sie nach einer Weile. Ich konnte mir für den Moment nichts Schöneres vorstellen, als mit ihr hier im Wald zu schmusen, aber es wurde allmählich kalt. Wir mussten zurück in die Stadt.

Zurück in der Wohnung meldete ich mich bei Toni. Das hatte ich ihm versprechen müssen, nachdem ich das ganze Wochenende praktisch nicht erreichbar gewesen war.

Jazy war Duschen gegangen und ich konnte frei sprechen.

„Was läuft da bei dir?", wollte er wissen.

Ich erzählte ihm, wie es angefangen hatte. Von der Choreo zu Dangerous. „Sie hat mich gezwungen ihre Kurven zu checken und da dachte ich schon: Alter! Die macht mich fertig! Aber das war noch gar nichts! Ich musste ihren Rücken und Hintern mit Sonnenöl eincremen. Als Nächstes ist sie dann zu mir in die Badewanne gestiegen ...!"

„Alter! Du Glückspilz! Seid ihr jetzt fix zusammen?"

„Puh! Frag mich bitte was Leichteres! Im Moment schon. Aber wie das nach dem Lockdown weitergeht ...? Jazy ist nicht der Typ Mensch, der so weit voraus plant." Ich dachte wieder an die Typen, die sie jeweils nur für ein paar Tage mit in ihr Zimmer genommen hatte.

Ich erzählte ihm noch von den Aufnahmen, die wir heute im Wald gemacht hatten und dass ich vorhatte sie morgen zu bearbeiten.

„Mach dir keinen Stress. Genieß deine Süße", meinte Toni gönnerhaft.

Die Intensität, mit der wir beide uns unseren E-Learning-Dokumenten gewidmet hatten, könnte man bestenfalls halbherzig nennen. Seit zwei Tagen feilten wir jetzt schon am letzten Schliff unserer „Dangerous"-Choreo. Jazy machte im Solo ihr Ding. Ich lag am Boden und schaute ihr dabei zu.

„Du sollst auf den Boden hauen, nicht mir zusehen!", schimpfte sie.

„Im Auf-den-Boden-hauen bin ich perfekt. Das brauche ich nicht mehr extra üben!"

Sie warf sich auf mich und fing an, mich zu kitzeln. Inzwischen kannte sie meine empfindlichen Stellen. Ich tat ihr den Gefallen und hieb auf den Boden, wie sie es mir gezeigt hatte.

Wenig später fiel ihr ein, ich könnte sie von hinten an den Haaren umreißen und dann mit der Ferse, bevor ihr Kopf gegen den Boden knallte, lässig auffangen. Angeblich war das eine gängige Samba-Figur. Wohlgemerkt sollte ich ihr beim Auffangen den Rücken zuwenden.

„Ich hoffe, du kriegst das hin." Daran, wie sie das letzte Wort eine Oktave höher ausgesprochen hatte, erkannte ich ihre Skepsis an ihrem eigenen Vorschlag. Das war ungewöhnlich.

„Du wirst dir sämtliche Knochen brechen!", prophezeite ich.

„Jetzt sei doch nicht immer so pessimistisch!"

„Ich geh besser meinen Fahrradhelm holen."

Wir übten solange auf den Turnmatten und mit Helm, bis wir die Figur im Griff hatten.

Am Ende des Songs zwang sie mich, durch den Raum zu fliegen und irgendwie cool auf dem Boden zu landen. Gerade, als wir so weit waren, die Szene auf Video aufzunehmen, klingelte es an der Haustür. Außer Atem und überrascht sahen wir uns an.

„Hast du was bestellt?" Ich dachte an den Paketdienst oder den Postler.

Jazy drehte mit gerunzelter Stirn die Augen nach oben, als fände sich dort die Antwort. Ich ging zur Gegensprechanlage. „Ja?"

„IstJazy da?" Eine Stimme

, die mir vage bekannt vorkam, drang gepresst durch den Lautsprecher. Ich drückte den Türöffner und hörte über die Anlage, wie jemand vernehmlich die Tür aufstieß.

„Was ist?", fragte Jazy.

„Jemand für dich." Ich öffnete die Wohnungstür und trat in den Flur. Wir wohnten im ersten Stock, also würde sich das Rätsel in wenigen Sekunden auflösen. Als wir nach einer Minute noch immer keine Schritte im Stiegenhaus hörten, ging ich nachsehen. Jazy folgte mir und hüpfte von hinten auf meinen Rücken. Der Steinboden war kalt, wir waren beide barfuß.

Ich musste bis zum Halbstock runtergehen, um bis zum Eingangsbereich sehen zu können. Ein dunkler Schatten kniete am Stiegenanfang und hielt sich mit einem Arm am schmiedeeisernen Geländer fest. Mit der Geschwindigkeit einer typischen Stürmerin glitt Jazy von meinem Rücken und überholte mich flink. Diese Dynamik war vielleicht beim Fußball angebracht, in so einer Situation hielt ich es eher für bedenklich. Deutlich vorsichtiger folgte ich ihr. Wer war das? Und was war der Grund für seine gebeugte Haltung?

Jazy kniete bereits neben der Person. „Ice?" Ihre Stimme klang überrascht und alarmiert in einem. Der Mann hob leicht den Kopf und ich erkannte sein Gesicht, obwohl es eine makabre Tendenz zeigte, dem Namen seines Besitzers Ehre zu machen. Das ehemals ebenholzfarbige Antlitz war aschfahl. Die Augen schimmerten eisig. Ich hörte, wie er ein schwaches „Please, help me!", flüsterte. Jetzt sah ich, dass er eine Hand halb versteckt unter seiner Lederjacke gegen die Seite gepresst hielt. Dunkle Flüssigkeit sickerte zwischen den Fingern hervor. Obwohl der Kontrast zu seiner schwarzen Haut die Einsicht erschwerte, dass es sich um Blut handelte, war ich mir jetzt sicher, das sah nicht nach einer ansteckenden Krankheit aus! Schnell eilte ich Jazy zu Hilfe. Gemeinsam versuchten wir, Ice aufzustützen. Er wirkte, als würde er jeden Moment das Bewusstsein verlieren.

„Ich hole lieber mein Handy", sagte ich. „Wir müssen die Rettung rufen." Schon wollte ich seinen Arm wieder loslassen.

„Keine Rettung! No way!" Irgendwie fand Ice die Kraft, mich am Shirt aufzuhalten.

Ich versuchte, mich zu befreien. „Was ist passiert?", verlangte ich von ihm zu erfahren, doch er war bereits wieder in sich zusammen gesunken. Ich sah Jazy an.

„Los! Wir bringen ihn nach oben!", befahl sie mir knapp.

Das würde kein einfaches Unterfangen werden. Er war mindestens einen Kopf größer als ich und wog gewiss mehr als 100 Kilo.

Irgendwie schafften wir es, ihn in den ersten Stock zu schleppen. Vor unserer Wohnungstür brach er endgültig zusammen. Im Bergegriff zog ich ihn in die Wohnung.

„Wir legen ihn auf mein Sofa." Jazy schnappte seine Füße und half, so gut es ging. Mit vereinten Kräften hievten wir ihn auf das Sofa.

Jazy flitzte ins Badezimmer und kam mit einem Handtuch zurück, das sie auf die stark blutende Wunde ihres Ex-Freundes presste.

„Wir müssen die Rettung anrufen!", versuchte ich es noch einmal.

„Nein! Du hast gehört, dass das nicht geht."

„Was heißt hier, nicht geht?"

War sie komplett übergeschnappt? Der Typ kollabierte hier in meiner Wohnung. Verblutete womöglich! Ich ging in die Küche, wo mein Handy lag. Jazy lief mir nach und riss es mir aus der Hand.

„Glaub mir, wir dürfen die Rettung nicht rufen. Es geht nicht! Haben wir wo einen Erste-Hilfe-Kasten?"

Ich starrte sie einen Moment perplex an, dann ging ich in mein Badezimmer, wo ich so ein Ding hatte.

„Kannst du versuchen die Blutung zu stillen? Ich muss telefonieren." Ihr Tonfall klang mehr nach Befehl als nach Frage.

Während ich umständlich dem Typ auf Jazys Couch die Jacke auszog, um besser an seine Verletzung zu gelangen, hörte ich sie telefonieren.

„Verdammt! Heb ab!" Sie fluchte. Versuchte es noch einmal.

Ich schob das schwarze T-Shirt von Ice hoch und sah die Verletzung jetzt zum ersten Mal. Nicht dass ich so etwas schon jemals zuvor in echt gesehen hätte, aber man kannte das ja nur aus den Actionfilmen. Das war eine Schussverletzung!

Ich hörte Jazy reden. „Mama? Ich brauche Ben! Dringend! Er hebt nicht ab! Bist du bei ihm?" Sie lauschte einer Antwort. „Mama! Absolut dringend! Es geht um Leben oder Tod!" Wieder vergingen ein paar Sekunden. Dann hörte ich sie sagen: „Ben! Isak hat's erwischt! Er sagte, wir dürfen keine Rettung anrufen. Er verblutet gerade auf meiner Couch. Verdammt! Was soll ich tun?"

Was zum Teufel sollte der Freund ihrer Mutter ausrichten können? Meines Wissens hielt er sich mindestens zwei Stunden entfernt von uns auf. Ich kippte etwas Wunddesinfektionsmittel über das Einschussloch. Nach Verbluten sah es aus der Nähe betrachtet nicht aus. Es blutete, ja, aber wenigstens sprudelte das Blut nicht hervor. Es schien keine Arterie erwischt zu haben. Ich presste Mull darauf und klebte ein Pflaster über das Ganze. Jedenfalls gehörte der Mann behandelt, er konnte eine innere Verletzung haben. Die Patrone steckte sicher noch in seinem Körper. Es gab keine Austrittswunde.

Jazy hatte bis jetzt geschwiegen. Nun hörte ich sie sagen: „Okay. Bis dann."

Ich sah sie vorwurfsvoll an, als sie zurückkehrte. Sie biss sich auf die Lippen.

„Warum, um alles in der Welt, dürfen wir ihn nicht ins Krankenhaus bringen?"

„Er ist illegal hier. Gleich kommt ein Arzt vorbei, der sich um ihn kümmert."

„Illegal? Ist er ein Flüchtling?" Hatten deshalb alle ihre Ex-Freunde einen starken Akzent gehabt?

„Nein. Che, ich kann dir das jetzt nicht erklären. Ben kommt und kümmert sich um alles." Ich setzte an, um ihr zu sagen, dass ich das als Antwort nicht akzeptieren könnte, doch sie kam mir zuvor: „Bitte, frag nicht." Sie sah mir flehend in die Augen.

Ich ging ins Bad, um mir das fremde Blut von den Händen zu waschen und das angeblutete Handtuch in den Wäschekorb zu schmeißen. Mir war alles andere als wohl bei dieser Sache. Was verheimlichte Jazy mir? Ich hoffte, ich machte mich nicht gerade strafbar. Was wenn Jazy einem Verbrechersyndikat angehörte? Oder gar mit Terroristen zu tun hatte?

Als ich zurück in ihr Wohnzimmer kam, suchte sie meinen Blick. Ich versuchte ihm auszuweichen. Sie hatte kein Recht, mir die Wahrheit vorzuenthalten.

Offenbar hatte sie meine Gedanken erraten. „Ice ist kein Verbrecher", sagte sie.

Ich zog die Augenbrauen nach oben und sah sie abwartend an.

„Er ist so eine Art Superheld. Ich weiß nicht, wie der genaue Berufstitel ist, aber er arbeitet für die CIA oder CSA, das ist die Cybersicherheitsagentur der CIA. Ben ist verantwortlich für den deutschsprachigen Raum."

Mein Nachbar ein amerikanischer Geheimagent? Na ja, er hatte schon einen dezenten amerikanischen Akzent, genauso wie Jazys „Freunde".

„Dann ist Ice gar nicht dein Ex-Freund?" Irgendetwas in mir wollte sich gerade an diesen Strohhalm klammern.

Jazy räusperte sich. „Also. Nein. Er ist nicht gerade mein Ex-Freund." Es hörte sich nicht sehr überzeugend an. „Eigentlich sollte er nur auf meiner Couch übernachten ..."

Ich nickte mit grimmiger Miene. Ich hatte verstanden.

Es klingelte.

„Das ist sicher der Arzt." Jazy verließ fluchtartig das Zimmer. Ich ging zum Fenster und lehnte mich gegen das Fensterbrett. Von dort sah ich zu dem bewusstlosen Mann auf dem Sofa. Wenn er so ein Superheld war, warum lag er dann halb tot in meiner Wohnung?

Etwas war nicht, wie es sein sollte.

Ich fühlte es mehr, als es zu denken. Jazy war kein leiser Typ. Sie ging selten lautlos durch die Wohnung und flüsterte so gut wie nie. Wahrscheinlich war es diese Tatsache, die mich stutzig machte. So, wie ich sie kannte, würde sie den Arzt erleichtert, aber lautstark begrüßen und dann vor ihm zurückgelaufen kommen. Es war aber beinahe totenstill in der Wohnung. Ice atmete schwach. Mein Herz pochte geradezu unanständig laut, als wolle es diese Stille zerfetzen.

Ich sah zur geöffneten Tür, die in die Küche führte. Die den Blick dorthin blockierte. Leise näherten sich Schritte. Instinktiv trat ich einen Schritt hinter die offene Tür. Jazy kam langsam zurück in den Raum. Viel zu langsam. Und sie kam mit dem Rücken voran herein.

Ich hielt den Atem an. Ein Revolver, keinen halben Meter von ihrer Stirn entfernt, dirigierte sie in Richtung Sofa. Gleich würde mich derjenige, der die Waffe hielt, entdecken. Ich suchte Jazys Blick und als er schließlich angstvoll zu mir wanderte, blickte ich kurz zu Boden. Sie kannte diesen Befehl aus unserem Training. Mir blieb keine Zeit, mich zu sorgen, sie könnte sich zu langsam wegducken. Ich musste in genau diesem Moment handeln, als sie zu mir schaute, denn dieser kurze Schwenk blieb dem Mann, der ihr den Revolver vor die Nase hielt, sicher nicht verborgen und würde ihm meine Anwesenheit verraten. Ich führte einen gezielten fliegenden Tritt auf die waffenhaltende Hand aus. Einen für sämtliche Knochen tödlichen Tritt. Dementsprechend hoch war der Bogen, der die Waffe ans andere Ende des Raumes beförderte. Der Überraschungseffekt gelang, es löste sich nicht einmal ein Schuss. Der einzig zu hörende Knall stammte von meiner Fußkante auf dem Handgelenk des Fremden.

Ich ging sofort in Abwehrhaltung und blickte dem Eindringling das erste Mal in die Augen. Er war überrascht, doch der Schmerz seiner gebrochenen Hand war noch nicht in seinem Kopf angekommen. Er trat mit gehobenen Fäusten auf mich zu. Mit einem schnellen Handkantenschlag versuchte ich, auch seine zweite Hand außer Gefecht zu setzen. Nach einer Drehbewegung setzte ich noch einen Tritt gegen seine Brust nach, der ihn mit einem dumpfen Laut an den Türstock schleuderte und dann langsam daran zu Boden schickte.

Jazy hatte den Revolver gefunden und zielte auf den am Boden liegenden Typen. Erst jetzt nahm ich mir die Zeit, ihn genauer anzusehen. Er wirkte wie ein Bodyguard. Dicke, tätowierte Oberarme und ein kahlgeschorener Schädel. Im Match Kraft gegen Schnelligkeit hätte er schon rein wegen seiner Masse keine Chance gegen mich gehabt.

„Wer sind Sie? Was haben Sie in meiner Wohnung verloren?", fauchte ich ihn an. Adrenalin schoss durch meine Adern.

Der Mann am Boden wand sich vor Schmerzen und bekam noch nicht genug Luft, um antworten zu können. Ich wartete, bis er sich gefangen hatte und realisierte, was passiert war.

„Ich wollte zurückholen, was mir gehört", stieß er wütend hervor und sah anklagend auf den bewusstlosen Ice.

Jazy ging langsam zum Sofa, ohne den Revolver zu senken. Mit der freien Hand tastete sie nach der Jacke ihres Ex-Lovers, die über der Lehne hing. Sie fand, was sie gesucht hatte, und warf mir ein Paar Handschellen zu.

Vorsichtig trat ich auf den verletzten Eindringling zu. Man konnte nie wissen, wie zäh diese Typen waren. Womöglich trug er weitere Waffen bei sich. Ich fesselte seine geschwollenen Handgelenke hinter seinem Rücken an ein Bein des Esszimmertisches. Der Mann verzog schmerzverzerrt das Gesicht.

„Durchsuch ihn! Diese Typen haben immer mehrere Handschellen-Schlüssel eingesteckt", befahl mir Jazy.

Woher wusste sie solche Dinge? Ich tat, was sie mir sagte, und zog dem Glatzkopf, weil sie es so wollte, die Schuhe und Socken aus.

Schon wieder läutete es an der Tür. Dieses Mal ließ ich Jazy nicht alleine gehen. Sie hielt noch immer die Waffe in der Hand.

„Ja?", fragte ich über die Gegensprechanlage.

„Dr. Kunze. Benjamin Adler schickt mich."

Ich drückte auf den Türöffner.

Dieses Mal war es der richtige Doktor. Er trug zwar einen Jogginganzug, hatte aber einen Arztkoffer bei sich und blickte nervös auf die Waffe in Jazys Hand.

„Sie sollten sich um die Blutflecken vor ihrem Haus kümmern", riet er uns und fragte: „Wo ist er?"

Wir brachten ihn in Jazys Wohnzimmer, das mit fünf Personen, dem Fernseher und dem Esszimmertisch hoffnungslos überfüllt war. Beiläufig registrierte ich, dass keiner von uns einen Mund- und Nasenschutz trug. Der Doktor machte einen vorsichtigen Bogen um den gefesselten Bodyguard und ging auf Ice zu. Sofort begann er mit der Überprüfung des Blutdrucks.

„Scheint stabil zu sein", sagte er, ohne sich uns zuzuwenden.

„Ich kümmere mich um die Blutflecken", Jazy tat so, als wäre sie nicht vor wenigen Minuten mit einer Waffe bedroht worden.

„Du gehst da sicher nicht alleine runter!" Ich hatte noch immer weiche Knie, aber mein Beschützerinstinkt ließ es nicht zu, sie noch einmal aus den Augen zu lassen.

Widerwillig zeigte sich der Arzt einverstanden, dass wir ihn mit Ice und dem Gefesselten alleine ließen. Mit einem Putzeimer und einem Lappen betraten wir den Flur. Jazy schloss die Wohnungstür, als könnte sie mit dieser Geste das, was gerade passiert war, einfach hinter sich lassen. Zerknirscht sah sie mich an.

„Bist du okay?" Ich stellte den Eimer ab und nahm sie in den Arm.

Sie schmiegte ihr Gesicht in meine Halsbeuge. „Es tut mir leid. Ich war wie paralysiert. Ben hat tausend Mal mit mir geübt, was ich tun sollte, wenn mich jemand mit einer Waffe bedroht, doch als es darauf ankam, war ich starr vor Schreck."

„Gott sei Dank! Es hätte alles Mögliche passieren können. Der Typ sieht aus wie der kleine Bruder vom Hulk. Ich bin froh, dass du nicht selbst versucht hast, ihn zu entwaffnen."

Jazys Fingernägel krallten sich in mein Shirt. Der Schreck saß ihr noch immer in den Knochen. Je mehr mir das bewusst wurde, desto schneller beruhigte ich mich selbst wieder. „Ok. Lass uns die Sauerei aufwischen." Vorsichtig befreite ich mich aus ihrer Umklammerung.

Kein Wunder, dass uns der Kerl so schnell aufgespürt hatte. Ice hatte eine deutliche Blutspur im Stiegenhaus und vor der Haustür hinterlassen. Auch die Tür seines Wagens, der im Halteverbot vor dem Haus stand, war blutverschmiert. Paranoid scannte ich ständig die Straße, ob aus irgendeiner Richtung weitere Gefahr drohte. Zum Glück war es gerade die Zeit, in der Frau Sedlacek ihren Mittagsschlaf hielt. Die alte Frau hätte der Schlag treffen können!

Zurück in der Wohnung machte sich der Arzt gerade daran, die Patrone aus dem Körper von Ice zu entfernen. „Ich könnte hier ein wenig Hilfe benötigen. Kann leicht sein, dass es stark blutet, wenn ich das Ding raushole. Ich brauche jemanden, der auf die Wunde drückt, wenn das passiert!"

„Ist er noch immer bewusstlos?" Jazy legte besorgt eine Hand auf die Wange von Ice.

„Ich habe ihm etwas gegeben. Je ruhiger er ist, umso leichter haben wir es."

Sollte Jazy ruhig die Krankenschwester spielen. Immerhin war sie dafür verantwortlich, dass dieser angebliche Superheld sich hierher geflüchtet hatte.

Ich behielt vom Fenster aus die Straße im Auge. Wer konnte schon sagen, wie viele Komplizen der Typ hatte? Ich ging zu dem wütenden Verletzten, zog sein Handy aus der Jackentasche und zerlegte es. Die Einzelteile legte ich auf den Tisch. Wenigstens konnte ihn nun niemand mehr orten.

Ich fühlte mich abgebrüht. Als hätte der regelmäßige Konsum diverser Tatort-Folgen in meiner Jugend einen Kriminalexperten aus mir gemacht.

Jazy machte dem Arzt einen Tee und flößte auch Ice, der inzwischen wieder bei Bewusstsein war, kleine Schlucke davon ein. Es klopfte laut an der Wohnungstür. Endlich! Ich ging zur Tür.

„Ich bin's, Jazy!" Das war die Stimme meines Nachbarn. Ich öffnete.

Meinen vorwurfsvollen Blick ignorierend, schob er sich an mir vorbei. Ich folgte ihm langsam. Sollte er selbst sehen, ob er die anderen fand.

„Ben! Endlich!" Jazys Stimme verriet ihm, wohin wir seinen Kollegen gebracht hatten.

Er stolperte beinahe über die Beine des an den Tisch Gefesselten. „Damn! Wer ist das?"

Er ging zum Sofa und streichelte Jazy wie einem Kind über den Kopf. Ich registrierte seine scheinheilige Geste wütend. Er hatte sie für seine Machenschaften ausgenutzt und tat jetzt, als würde nichts ihm mehr am Herzen liegen als ihr Wohlergehen. Erst dann wandte er sich an den Arzt, der hinter dem Sofa stand. „Danke für Ihre Hilfe." Letztlich fragte er Ice: Wie geht es dir?"

„Der Doc hat die Patrone rausgeholt." Ice stöhnte .

„Ich habe ihm zwar etwas gegen die Schmerzen gegeben, aber eigentlich bräuchte er eine Infusion!"

„Ein Rezept für Nachschub muss reichen." Sonderlich viel Mitgefühl mit seinem Kollegen zeigte mein Nachbar nicht. Er flüsterte auf Englisch mit Ice. Wahrscheinlich wollte er wissen, was geschehen war. Das hätte mich auch brennend interessiert, aber die Beiden sprachen derart schnell, undeutlich und leise, dass ich nichts verstand.

Es klingelte erneut. Alarmiert stand dieser Ben auf und hielt plötzlich eine Waffe in der Hand. Schon wieder schob er mich wie eine Schachfigur beiseite und stürmte zur Tür. Als wäre es seine Wohnung, betätigte er die Gegensprechanlage, ohne etwas zu sagen.

„Jasmin? Mäuschen?" Ben fluchte leise und drückte den Knopf, der die Haustür entriegelte. Er ging ohne ein Wort zu sagen zurück zu den anderen. Ich blieb unschlüssig stehen und öffnete die Wohnungstür, als kurz darauf jemand ungestüm dagegen klopfte.

Jazys Vater. Wo kam der jetzt wieder her?

„Hallo." Er nickte mir zu und wartete ab, bis ich ihn mit einer Bewegung aufforderte reinzukommen.

„Kommen Sie." Ich ging voran. Er war noch nie in der Wohnung gewesen und hätte ohnehin nicht gewusst, wo Jazys Zimmer lagen.

„Papa!" Jazy schaute erschrocken auf, als wir in der Wohnzimmertüre auftauchten.

„Verdammt! Was ist hier los?" Er musterte der Reihe nach jeden in dem überfüllten Raum. Ich zählte währenddessen nach. Jetzt waren es schon sieben Personen. Das überschritt die gestattete Anzahl der laut Verordnung erlaubten haushaltsfremden Personen bei weitem. Geschweige denn, dass ein einziger Babyelefant Platz in dem Raum gefunden hätte.

Wütend ging Jazys Vater auf Ben zu und tat, was ich mich selbst nicht getraut hatte. Er stieß ihm unwirsch gegen die Brust. Ich fand es mutig von ihm. Der andere überragte ihn um einen halben Kopf und war auch um einiges breiter gebaut. „Ich bring dich um, Ben! Was soll das bedeuten?" Er nickte auf den verletzten Ice und den ans Tischbein Gefesselten.

Der hob nur beschwichtigend die Hände. „Krieg dich wieder ein, Cem! Du siehst doch, Jasmin geht es gut."

„Das klang aber nicht danach, als sie ihre Mutter angerufen hat! Selma war total aufgelöst und hat gesagt, es ginge um Leben oder Tod. Ich habe es satt, dass Du meine Familie ständig in Gefahr bringst."

Jazy stand auf und zupfte ihren Vater am Ärmel. „Mir geht es wirklich gut, Papa. Ich hatte mir nur Sorgen um Ice gemacht. Er ist ein Freund von Ben."

„Freund! Das ich nicht lache! Das sieht ja ein Blinder, dass die aus dem gleichen Holz geschnitzt sind."

Der Mann hatte eine beachtliche Auffassungsgabe. Das, was er als Nächstes sagte, ließ mir aber das Blut in den Adern stocken.

„Los, Jasmin! Pack deine Sachen! Du fährst auf der Stelle mit mir nach Hause!"

„Was?" Jazy starrte ihn ungläubig an. „Nein! Ich will doch gar nicht nach Hause fahren!"

„Ich habe es deiner Mutter versprochen. Du weißt selbst, dass diese Art von Geschehnissen immer ein Nachspiel haben."

Jazy blieb wie angewurzelt und mit offenem Mund stehen.

„Los, beeil dich! Ich will weg sein, bevor hier alles hochgeht!"

Wovon redete der Mann jetzt schon wieder? Außer mir war er zwar der einzige im Raum, dem ich Jazy anvertrauen würde, aber mein Bauch zog sich bei dem Gedanken auf Erbsengröße zusammen.

„Ich gehe nicht ohne Che weg!", sagte mein Engel.

„Dann soll er meinetwegen mitkommen." Jazys Vater nickte mir bestimmend zu. Fast hätte ich mich umgedreht und meine Sachen gepackt. Halt! Was geschah hier?

„Ähm! Ich kann doch nicht einfach weg." Ich sah Jazy in die schimmernden Augen. „Meine Wohnung? Meine Arbeit? Frau Sedlacek? Filou!?

„Siehst Du, Papa? Wir können nicht einfach hier weg!"

Ichmusste da etwas richtig stellen: „Ich kann hier nicht weg! Jazy, ichfinde, du solltest auf deinen Vater hören! Wenn er sich sorgt, dass das hierein Nachspiel hat, wäre mir auch wohler, du wärst

wärst wo anders."

Sie sah mich an, wie vermutlich Cäsar Brutus angeschaut hatte, als er von 23 Dolchstößen durchbohrt in seinem Blut gelegen hatte. Ich ging auf sie zu und fasste nach ihren Händen. „Ist ja nur vorübergehend." Ich wusste selbst nicht genau, wen ich mit diesen Worten mehr beruhigen wollte. „Wir können skypen ..."

„Ich kann nicht. Bitte verlang das nicht von mir!" Sie klammerte sich wie eine Ertrinkende an mich. Ihr Vater trat hinter sie und legte ihr die Hand auf die Schulter, dabei sah er mich zerknirscht an. Mit einem Seufzer schloss ich die Augen. Es war ihm Ernst.

„Komm schon. Du hast heute schon genug riskiert." Ich löste schweren Herzens ihre Hände von meinem Körper und zog sie ins Schlafzimmer. Ihre Handtasche hing an einem Haken an der Tür. Ich hielt sie ihr hin. „Was brauchst du alles? Du wirst ja nicht allzu lange fortbleiben?", versuchte ich, sie zum Packen zu ermutigen. Endlich bewegte sie sich. Sie nahm ein T-Shirt von mir, das ich über ihren Hocker geworfen hatte, und stopfte es in die Handtasche. Dann griff sie nach der Packung ihrer Pille und schob auch die hinein. Ihr Handy lag im Wohnzimmer und ihr Laptop stand in der Küche. Als sie alles zusammengerafft hatte, begleitete ich sie und ihren Vater hinunter. Mit einiger Erleichterung registrierte ich, dass sie keinen Blick mehr an Ice verschwendet hatte.

Das Auto Ihres Vaters stand abenteuerlich geparkt mit einem Reifen auf dem Gehsteig. Wenn man bedachte, wie schnell er hier aufgetaucht war, entsprach das wahrscheinlich auch seinem Fahrstil auf dem Weg hierher. Jetzt saß er am Steuer und wartete, mit den Fingern aufs Lenkrad trommelnd, bis wir uns verabschiedet hatten.

Jazys Lippen flüsterten ein unhörbares Lebewohl durch die geschlossene Beifahrerscheibe.

Heute früh, in dem Moment des Aufwachens, hatte ich noch Angst gehabt, alles sei nur ein Traum, viel zu schön, um wahr zu sein. Jetzt stand ich frierend auf der Straße und fragte mich, ob das alles nur ein schlimmer Alptraum wäre und ich nur endlich aufwachen musste?

Ich hob den Blick. Der Winter meldete sich noch einmal zurück. Eine dunkle Gewitterfront baute sich auf. Ich hatte keine Angst, es könnte mich erwischen. Ich befand mich ja schon mittendrin. Schlimmer konnte es nicht mehr kommen.

 

Jazy - Zuhause

 

Ich sah aus dem Beifahrerfenster und nahm dennoch nichts von dem wahr, was da draußen an uns vorüberzog. Ches traurige Blicke aus wunderschönen blauen Augen hatten sich in mein Gehirn eingebrannt. Ich war doch volljährig! Wieso behandelten mich meine Eltern noch immer wie ein Kind? Wieso ließ ich es zu, dass sie das taten?

Ok. Es hatte brenzlige Situationen in unserer Vergangenheit gegeben, aber wir waren zäh! Das hatten wir doch immer bewiesen. Was hätte mir schon passieren können, mit Ben und jetzt auch noch mit Che an meiner Seite? Er hatte diesen Typen schneller als ich bis drei zählen konnte erledigt!

Ich seufzte aus tiefstem Herzen.

Mein Vater musterte mich mit seinen braungrün gesprenkelten Augen  von der Seite. Bis vor kurzem hatte es keinen anderen Mann außer ihm gegeben, der meiner Idealvorstellung eines Märchenprinzen nahekam.

Das Auhof Center lag rechts von uns. Die Einser-Bundesstraße ging in die A1 über. Wir waren im Begriff, Wien hinter uns zu lassen. Vor uns lag der Wienerwald. Keine Umkehrmöglichkeit für die nächsten 140 Kilometer, außer, man fuhr von der Autobahn ab.

„Wie war das bei dir und Sonja? Wann wusstest du, dass sie deine Traumfrau ist?“

Sicher war es meinem Papa peinlich, meine Frage zu beantworten. Er klopfte nervös mit dem Zeigefinger gegen das Lenkrad. Sein Blick war starr auf den kaum vorhandenen Verkehr gerichtet.

„Es hat lange gedauert, mir einzugestehen, dass Sonja meine Traumfrau ist. Obwohl sich das jetzt blöd anhört, denn vom ersten Tag an habe ich ständig nur noch von ihr geträumt. Schon unser erster Kuss! Gänsehaut pur.“

Er schluckte. Wurde nachdenklich.

„Sie hat mich umgehauen! Ich konnte mein Handy fast nicht mehr aus der Hand legen, nach dem ich ihr geschrieben hatte und sie um ein Wiedersehen gebeten hatte. Ich war nervös wie ein Schulbub. Aber da war auch sehr viel schlechtes Gewissen. Euch und eurer Mutter gegenüber.“

„Aber weil du gewusst hast, sie ist die Richtige, hast du sie wiedergesehen?“

„Es war wie eine Sucht. Man weiß, dass es falsch ist, und trotzdem kommt man nicht davon los.“

Ich hatte ihn noch nie so private Dinge gefragt, aber jetzt gerade brachte es mich auf andere Gedanken.

„Und bei ihr?“

Er lachte kurz. „Bei unserem ersten Date hätte ich es vor lauter Aufregung fast so was von verschissen! Innerlich haben meine Knie geschlottert. Nach außen habe ich Depp ihr einen Obermacho vorgespielt. Sie wäre fast vor mir davongelaufen.“

Er lachte versonnen. „Natürlich hat sie mich durchschaut. Zum Glück! Wenn wir zusammen waren, haben wir den Rest der Welt komplett ausgeschaltet. Anders hätte es auch gar nicht funktioniert. Warum fragst Du?“

Blöde Frage! Er musste doch gesehen haben, wie Che und ich uns geküsst hatten? Ich rollte die Augen, obwohl er das gar nicht sehen konnte und atmete bedeutungsschwer.

„Ich mache nur Spaß, Mäuschen! Sieht doch ein Blinder, dass ihr zwei total verliebt seid! Du und dieser ...?“

„Che! Also, er heißt Oliver. Oliver Moser!“ Ich sprach seinen richtigen Namen das erste Mal aus, seit wir zusammen waren. Wehmütige Sehnsucht überkam mich, während ich die wenigen Silben aussprach. „Ich glaube, du solltest dir den Namen merken, Papa.“

Er fasste zu mir rüber und packte meine Hand. Drückte sie in einer Geste der Zuneigung. Ich fühlte mich für einen kurzen Moment glücklich. Bis mir wieder einfiel, dass er meinen Liebsten und mich gerade auseinandergerissen hatte. Es hatte begonnen zu regnen, die Tropfen trommelten gegen das Autodach.

„Was weißt du über die Brent Spar? Eine Greenpeace-Aktion gegen die Versenkung einer Ölplattform.“

„Hm. Ich habe den Namen schon einmal gehört, aber im Moment kann ich ihn nicht eindeutig zuordnen. Warum fragst du?“

„Ches Eltern waren auf Seiten von Greenpeace beteiligt. Seither gelten sie als vermisst.“

„Ffff!“ Mein Vater atmete langsam und geräuschvoll aus. „Das ist ein starkes Stück. Wann war das?“

„Ende der Neunziger-Jahre. Er war ein Baby. Ich bin da noch mit den Mücken geflogen. Ich bin so froh, dass ich euch habe!“ Ich bekam schon wieder einen Kloß im Hals, wenn ich nur daran dachte, meinen Eltern könnte etwas passieren. Wir schwiegen eine Zeit lang. Der Scheibenwischer lief hochtourig und trotzdem sah ich alles verschwommen.

Als der Starkregen etwas nachgelassen hatte, fragte ich ihn: „Und, Papa? Was sagst du zu dieser ganzen Corona-Sache?“ Mein Vater war Forstökonom und Klimaexperte und arbeitete im Nationalpark Kalkalpen.

„Schau dir nur einmal den Verkehr heute an. Ein Traum, oder? Die Leute bleiben zu Hause, arbeiten von zu Hause. Alles hat sich innerhalb von wenigen Tagen radikal verändert. Es ist als wären die Träume von uns Klimaschützern von einem Tag auf den anderen in Erfüllung gegangen. Ein kleiner Virus hat das geschafft, woran wir jahrzehntelang vergeblich gearbeitet haben.“

Als ich nichts dazu sagte, redete er einfach weiter: „Das wirkt sich drastisch auf den Energieverbrauch aus. Der größte Rückgang seit siebzig Jahren. Die Luftqualität ist top! Und das in einer Zeit, wo wir normalerweise die höchsten Feinstaubwerte im ganzen Jahr haben. Und schau in den Himmel! Ok, heute nicht, aber so blau habe ich den schon ewig nicht mehr erlebt. Und es ist so leise geworden. Selbst im Wald merkt man den Unterschied. Wir haben uns schon so an den ständigen Hintergrundlärm gewöhnt. Jetzt merkt man, was wirkliche Stille ist. Ich genieße die Zeit. Mal sehen, wie lange das anhält und ob etwas davon bleibt.“

„Du hast recht! Ich war vor ein paar Tagen mit Che im Wald. Da ist mir das auch aufgefallen. Meinst du, es könnte etwas bleiben?“

„Vielleicht gewöhnen sich die Leute ans Homeoffice. Wer weiß? Ist zumindest ein Schritt in die richtige Richtung, um den Verkehr etwas einzudämmen. Wenn Sonjas Theorie aufgeht, könnte sich noch viel mehr ändern.“

.„Warum? Was ist Sonjas Meinung?“ Die Freundin meines Vaters war Mikrobiologin und kannte sich mit den meisten Krankheiten ziemlich gut aus. Sie leitete eine Privatklinik.

Er schnaubte belustigt. „Sie hat schon direkt darauf gewartet, dass so etwas passiert. Stand schon lange in den Sternen, behauptet sie. Du kennst ja Sonja.

“Papa nannte seine Freundin öfters spaßhalber meine kleine Hexe. Sie hatte rote Haare und sammelte ständig irgendwelche Kräuter. „Corona weckt das Gespenst der Angst, sagt sie. Die ganzen Horrormeldungen setzen viele Menschen unter Stress und sollen sie so in gewisser Weise aufwecken. Bewusstseinsmäßig! Du weißt ja selbst, wie wichtig ihr Achtsamkeit ist. Sonja hat hohe Erwartungen an die nächste Zeit. Sie sagt, es ist möglich, dass viel weiter geht, im Hinblick auf Umweltbewusstsein und achtsamen Konsum.“

Im Hintergrund lief das Radio. Gerade wurde eine Comedy des letzten Regierungsstatements zur Corona-Lage wiederholt. Wir mussten beide lachen. Witze über die Regierung lagen gerade im Trend.

Nach dem nächsten Song wurde ein Aufruf der Bundesregierung gesendet. Genervt holte ich mein Handy hervor und koppelte meine Playlist mit dem Autoradio. Ich hatte einige Songs heruntergeladen, die ich in den letzten Tagen mit Che gemeinsam gehört hatte. Ich lehnte mich entspannt in den Sitz und starrte durch die Windschutzscheibe. Nur wir und die fast leere Autobahn.

 

Als mein Vater das Auto vor unserem Haus einparkte, hielt er mich kurz zurück: „Du erzählst deiner Mutter besser eine entschärfte Version, von dem, was passiert ist.“

Ich war einigermaßen überrascht. Wir hatten noch gar nicht über den Vorfall gesprochen. Aber er hatte den bewusstlosen Ice gesehen, der vom Arzt versorgt worden war, und den mit Handschellen am Boden gefesselten Typen. Und das alles in der Wohnung, in der ich wohnte.

„Schon klar. Ich erzähle ihr nur, dass plötzlich ein Freund von Ben bei mir geklingelt hatte, der angeschossen wurde!“

Er presste die Lippen zusammen. Eine Sorgenfalte bildete sich an seiner Nasenwurzel.

„Papa, mach dir keine Gedanken. Es war nicht so gefährlich. Che hatte den Typen in drei Sekunden außer Gefecht gesetzt. Er kann Kung Fu.“ Ich entschied, ihm nichts von der Waffe zu erzählen, die der Glatzkopf mir vor die Nase gehalten hatte.

 

Meine Mutter stand bereits in der Haustüre, als wir die Treppen hochkamen. Sie wirkte erleichtert, als sie meinen Oberarm ergriff und mir einen Kuss auf die Wange hauchte.

„Danke“, sagte sie zu meinem Vater, der sie kontaktlos begrüßte. Er kam wie selbstverständlich mit ins Haus, obwohl er immer zu Sonja zog, wenn meine Mutter da war. Mit hochgezogenen Brauen sah er sich um.

Obwohl meine Mutter seit nicht einmal vierzehn Tagen hier war, trug das Haus eindeutig ihren Stempel. Die Vorhänge dufteten nach Weichspüler. Die Fenster waren streifenfrei geputzt. Sicher waren sogar die Küchenschränke frisch gewischt und ordentlich eingeräumt. Meine Mutter gehörte zu diesen sonderbaren Menschen, die gerne Hausarbeit erledigten. Diese Eigenschaft hatte sich in keinem von uns Kindern weitervererbt.

Ich stellte meine Tasche im Flur ab. Mein Bruder Sami kam mit vier Sprüngen die Treppe runtergehüpft und drückte mir fast die Luft aus dem Leib, als er mich hochhob. Als hätte ich gerade ein spielentscheidendes Tor geschossen.

„Bist du schon wieder gewachsen?“ Mein kleiner Bruder war jetzt schon so groß wie mein Vater, registrierte ich, als die beiden ihre Fäuste gegeneinander boxten.

„Yep! Endlich habe ich wieder jemanden zum Kicken!“ Er sah meinen Vater vorwurfsvoll an.

„Nicht alle können von zu Hause aus arbeiten“, entschuldigte sich dieser mit gehobenen Schultern.

Meine Schwester Dilara tauchte auf. Sie hatte theatralisch einen Mundwinkel und eine Braue nach oben gezogen. „Hab schon gehört. Du hast Mist gebaut. Wenn ich jetzt wegen dir nicht in Wien studieren darf, kannst du dir was anhören!“ Meine Schwester maturierte gerade.

„Vielleicht kannst du eh erst nächstes Jahr Matura machen?“, neckte ich sie.

Sie rollte genervt die Augen. „Geht nicht. Ich habe mich schon für September beim EFD angemeldet und eine Zusage bekommen.“

„Echt? Wohin gehst Du?“ Sie hatte schon lange geplant, nach der Schule ein Jahr mit Freiwilligen-Arbeit zu verbringen. Insgeheim hatte ich aber immer den Verdacht gehabt, sie würde es nicht wirklich durchziehen. Sie machte sich nicht gerne dreckig und ich bezweifelte, dass der Europäische Freiwilligendienst eine Stelle vermittelte, wo man das ausschließen konnte.

„Peru! Ich gehe in ein Camp im Regenwald. Dort beobachten wir Tiere- und Pflanzen. Sicher werde ich mit einem Affen und einem Papagei zurückkommen.“

„Du wirst dort Pfade- und Hängebrücken instand setzen“, mischte sich mein Vater schmunzelnd ein.

Sami und ich stimmten ihm lachend zu. Nur meine Mutter half zu Dilara und schüttelte beruhigend den Kopf. So war es bei uns schon immer gewesen. Sami und ich waren Team Papa und meine Schwester Team Mama.

Wir gingen ins Wohnzimmer. Sami fläzte sich auf die Couch.

„Ich brauche was zu trinken! Magst Du auch ein Wasser, Papa?“ Er nickte knapp.

„In der Küche steht ein Krug“, informierte mich meine Mutter, während sie sich auf die Sofalehne setzte.

„Nimm mir auch eines mit!“, rief Sami mir nach.

„Wie heißt das Wort mit den zwei „t‘s“?“, schrie ich zurück.

„Flott!“

Nichts anderes hatte ich erwartet zu hören. Grinsend nahm ich die Gläser aus dem Schrank. Sogar die waren der Größe nach sortiert. Meine Mutter hatte in den letzten zwei Wochen ganze Arbeit geleistet. Bald würden die Schreiduelle wieder losgehen, wenn wir ihren peniblen Ordnungswahn nicht alle befolgten.

Meine Mutter war wunderschön und eine geniale Modedesignerin, aber sie war auch eine überaus zwanghafte Persönlichkeit. Sie benahm sich mitunter wie eine Diva, wenn nicht alles nach ihrem Kopf ging. Ben war der einzige Mensch, der ihre ständige Streitlust auf Dauer aushielt. Selbst ihre engsten Mitarbeiter fürchteten sich vor ihren Launen. Er nannte sie gerne seine kleine Domina. Andererseits wusste er genau, wie er ihr den Wind aus den Segeln nehmen konnte. Insgeheim hatte ich den Verdacht, er wandte eine illegale Art von Gehirnwäsche bei ihr an. Wenn er drohend den Zeigefinger hob und sie mit zusammengekniffenen Augen ansah, schien er einen Schalter in ihrem Kopf umlegen zu können. Sie beruhigte sich dann von einer Sekunde auf die andere.

Zurück im Wohnzimmer gab ich eine harmlose Variante der Ereignisse zum Besten.

„Warum hat dieser Ice gewusst, dass du in der Wohnung unter unserer wohnst?“

Mit dieser Frage erwischte mich meine Mutter kalt. Ich druckste ein wenig herum. „Er hat einmal bei mir auf der Couch übernachtet, weil Ben nirgendwo sonst ein Zimmer für ihn auftreiben konnte.“ Dass es nicht nur eine Nacht war und auch kein Einzelfall, behielt ich für mich.

„Was? Dieser Scheißkerl! Ich habe ihm gesagt, wenn er seinen Beruf nicht von unserem Privatleben trennt, kann er mich vergessen.“

Scheiße! Das begann etwas aus dem Ruder zu laufen. Ich hatte natürlich von dieser Abmachung gewusst. Nur deshalb steckte ich heimlich mit Ben unter einer Decke. Und jetzt hatte ich unser Geheimnis einfach so ausgeplaudert.

„War ja nur für eine Nacht, oder?“, sprang mir Sami zur Hilfe, der meine Not offensichtlich bemerkt hatte. Schon immer hatte er Ben wie einen Superhelden verehrt und gedeckt. Wir beide hatten als Kinder gerne Spy-Kids gespielt und heimlich Lektionen in Selbstverteidigung beim Freund meiner Mutter genommen. Sogar das hatten wir vor ihr verschweigen müssen.

Ich hob zustimmend die offenen Hände. Gleichzeitig wünschte ich mir, ich könnte mein Hirn kurz runterfahren und neu starten. So fiel mir nichts Besseres ein, als: „Ich fand auch gar nichts dabei, Mama. Hätte er auf der Straße schlafen sollen?“

„Sag du doch auch etwas!“, herrschte meine Mutter meinen Vater an. Er lehnte am Fensterbrett. Ich sah ihm an, dass er jetzt am Liebsten an einem anderen Ort gewesen wäre.

„Ich kann die Sorgen eurer Mutter verstehen.“ Er bediente sich also seiner altbewährten Taktik. Aus Gründen der Harmonie ergriff er ihre Partei. Natürlich machte auch er sich Sorgen um uns, aber ich wusste, er teilte selbst einige Geheimnisse mit Ben, von denen meine Mutter besser nichts ahnte.

Meine Schwester saß im Schneidersitz auf dem Fernsehhocker, sah Löcher in die Luft und grinste. Dieses Biest! Eiskalt, wie immer. Dabei wusste sie genau, wie ernst die Lage war. Wenn Ben unsere Mutter nicht unter Kontrolle hielt, dann litten wir alle unter ihren Launen. Einen Beziehungsstreit zwischen den beiden wünschte sich keiner von uns.

Ein Handy läutete in der Küche. Niemand reagierte. Ratlos sahen Papa und ich in die Runde.

„Mama! Dein Handy, oder?“, sagte Sami.

Sie stand auf und ging in die Küche. Das Läuten verstummte. Sie kam zurück. Ohne ihr Telefon.

Na toll! Sicher war es Ben gewesen! Sie ließ ihn schmoren.

„Mama, Du bist kindisch.“ Okay. Das war wenig diplomatisch von mir, aber ich hatte einen harten Tag hinter mir. Eigentlich wollte ich ins Bett und mit Che telefonieren.

 

 

 

 

 

Che - Allein zu Hause

 

 

Die Türklinke wurde mir mitsamt dem Schlüsselbund, den ich soeben im Schloss versenkt hatte, aus der Hand gerissen. Doktor Kunze drückte meinen Oberarm. „Ich habe Ihnen eine Visitenkarte da gelassen, wenn etwas sein sollte.“

Na toll! Jetzt waren also nur noch diese drei Schränke in meiner Wohnung.

Während ich die paar Meter von der Wohnungstür in die Küche zurücklegte, drang eine eindringliche Stimme aus Jazys Wohnzimmer. Der Freund von Jazys Mutter hockte vor dem Gangster, starrte ihm ins Gesicht und befahl ihm, seine Fragen zu beantworten. Ich dachte, ja sicher, so funktioniert eine Befragung beim Geheimdienst. Man starrt den anderen einfach nieder und der sagt daraufhin nichts als die reine Wahrheit.

Schon wollte ich mich abwenden und in mein Zimmer gehen. Dieser Kerl war schuld daran, dass mein Engel weg war.

Irgendetwas in der Stimme des verletzten Glatzkopfes ließ mich innehalten. Er verriet bereitwillig Namen und Aufenthaltsorte seiner Komplizen. Ben stellte ihm noch ein paar weitere Fragen zu Ereignissen der letzten Wochen. Auch diese beantwortete der Fremde, ohne zu zögern.

Das fand ich interessant. Hatte ihm der Doc ein Wahrheitsserum, sofern es so etwas im echten Leben überhaupt gab, gespritzt? Ich trat an die Wohnzimmertür. Das wollte ich mir aus der Nähe ansehen.

Sobald mein Kommen bemerkt wurde, knallte Ben mir die Tür vor der Nase zu. Ich durfte den Typ ausschalten, aber beim Verhör war ich unerwünscht! Wütend starrte ich die Tür an.

Ich ging zu meinem PC, ließ mich in den Schreibtischsessel fallen. Es würde alles nichts ändern. Jazy war weg! Ich starrte den schwarzen Bildschirm an. Es kostete einiges an Überwindung, mich zu bücken und den Computer einzuschalten. Ich funkte Toni an.

„Na? Hast du dich wieder einmal losreißen können?“, begrüßte er mich. Saß der Kerl eigentlich den ganzen Tag vor dem Kasten?

„Hi! Machst du eigentlich nie eine PC-Pause?“, konfrontierte ich meinen Freund mit meinem letzten Gedanken.

„Was geht mich die Raumzeit-Welt da draußen an?“

„Hm!“ Ich imitierte so gut es ging ein elendes Lachen.

„Was ist los? Du klingst sonderbar. Ist was mit Dir und Jazy?“ Er konnte  nicht ahnen, was sich hier gerade abgespielt hatte. Dass ich einen Kampf auf Leben und Tod mit einem Verbrecher hinter mir hatte, also musste er es an meiner Miene erkannt haben.

„Sie ist weg. Ihr Vater war gerade da und hat sie abgeholt.“ Ich verschwieg wohl besser, was genau vorgefallen war.

„Scheiße! Diese Türken! Schickt er sie in die Heimat und verheiratet sie mit einem Cousin dritten Grades?“

„Ha. Nein, das war nicht der Grund. Der  ist ganz okay.“ Was sollte ich ihm für eine Begründung liefern?

„Sollen wir eine Runde zocken?“ Toni hatte meine verzweifelte Mimik offensichtlich so gedeutet, dass ich nicht darüber reden wollte. Das war mir recht.

„Klar. Mir wär nach einer Runde Destiny 2.“

„Alles klar. Dir ist nach einem Gemetzel! Ich hoffe, du gibst mir deine Supersphären ab, sonst wird das ein kurzes Vergnügen.“

Ich setzte meinen Kopfhörer auf. „Wir sehen uns auf Titan!“

 

Die nächste halbe Stunde verbrachte ich, mit einem starren Tunnelblick so viele Gegner wie möglich niedermetzelnd. Bis eine Faust neben meiner Tastatur einschlug und der ganze Schreibtisch wackelte.

Oliver AFK, informierte ich kurz meinen Freund, bevor ich mir genervt die Kopfhörer runter zog.

„Was?“ Ich versuchte nicht mehr länger, meine Feindseligkeit zu verbergen.

Mein Nachbar hatte den Fremden beim Ellenbogen gepackt. „Ich kümmere mich um unseren Freund hier. Wäre nett, wenn du das mit den Kopfhörern sein lassen könntest, solange Isak außer Gefecht ist.“

„Sein rechtes Handgelenk ist wahrscheinlich gebrochen. Vielleicht auch ein paar Rippen.“ Ich nickte zu dem noch immer mit Handschellen Gefesselten, der wieder seine Schuhe trug.

„Ich übergebe ihn jetzt ohnehin der Polizei, die werden sich darum kümmern.“

Ich hob die Hände. „Und ich sag, er wollte bei mir einbrechen, wenn die mich fragen, oder was?“

„Es wird keiner nachfragen.“

„Wann schaffen Sie mir Ice vom Hals?“

„Der Doktor sagte, er darf sich die nächsten achtundvierzig Stunden möglichst nicht bewegen. Ich bringe später noch Medikamente gegen die Schmerzen vorbei!“

„Ich will ihn nicht hier in meiner Wohnung haben.“

„Er ist in meiner Wohnung. Schon vergessen? Ich bin hier Untermieter!“ Damit war für ihn offensichtlich alles gesagt, denn er drehte sich um und bugsierte unsanft den Fremden vor sich her.

Als die Wohnungstür vernehmlich zugedrückt wurde, wandte ich mich wieder meinem Spiel zu. Mir war die Lust vergangen. Ich informierte Toni, dessen Leben ohnehin nur noch an einem seidenen Faden hing.

 

Lustlos machte ich mir ein Brot und brachte auch Ice eines.

Er war noch immer mehr grau als schwarz im Gesicht, doch er zeigte schon wieder ein Lächeln, als hätte er einen Werbevertrag bei Dr. Best unterschrieben. Wie gerne würde ich ihm jeden einzelnen Zahn ausschlagen. Er war schuld, dass mein Engel weg war. Warum hatte er sich ausgerechnet hierher geflüchtet?

„Kannst du mein Handy aufladen? Kannst du mir die Fernbedienung bringen? Ich müsste pinkeln, kannst du mir einen Eimer bringen?“ Da streckte man ihm einen Finger hin und er riss einem gleich den ganzen Arm aus. Typisch Superheld.

Er sah mich noch immer grinsend an. „Hey! Danke, dass ihr mir geholfen habt. Der Kerl war mir knapp auf den Fersen. Ohne euch hätte ich es nicht geschafft.“

Mein Groll auf ihn ließ etwas nach. Er hatte recht. Es war um sein Leben gegangen. Meine harten Gedanken ihm gegenüber waren ungerecht. Ich lehnte mich, an meinem Brot kauend, gegen den Esszimmertisch.

„Wegen dir und dem ganzen blutigen Durcheinander sitze ich in der nächsten Zeit alleine hier herum“, erklärte ich ihm meine miese Laune.

„Du meinst wegen Jazy? Ihr habt was am Laufen?“

Das konnte nicht einmal ihm entgangen sein. Auch wenn er die meiste Zeit bewusstlos gewesen war. Ich fasste seine Fragen als rein rhetorisch auf.

Ice redete ohnehin schon weiter: „Der Kerl ist mit allem rausgerückt. Auch wie du ihn fertig gemacht hast. Respekt!“

„Warum war er hinter dir her?“, startete ich einen Versuch, etwas Licht in diese Geschichte zu bringen.

Ice kämpfte sichtlich mit sich, ob er mir was erzählen sollte, oder nicht. Dann überwog seine Dankbarkeit. „Du weißt, für wen wir arbeiten?“

„Jazy hat da so was angedeutet.“

„Ich hatte auf eigene Faust eine Spur verfolgt. Ein Programm, das ich mir selbst gerade vornehmen wollte, wurde geknackt. Also bin ich der Sache nachgegangen. Ich wollte nachsehen, ob sie die Daten schon weiterverkauft hatten. Kam gerade noch rechtzeitig. Die waren bei der Übergabe des Sticks. Ich musste zuschlagen, ohne Rückendeckung. Hätte es besser wissen müssen.“

„Du bist also Hacker?“

Er nickte. „Aber für die gute Seite, wohlgemerkt.“

Ich ließ das so dahingestellt.

„Und dieser Glatzkopf? Was hatte der damit zu tun? Sah mir nicht nach einem aus, der eine Tastatur bedienen kann.“

„Ein bezahlter Bodyguard. Wahrscheinlich hat er gar nicht gecheckt, worum es wirklich ging.“ Ice zuckte mit den Schultern. „Er sollte für seinen Auftraggeber den Stick zurückholen.“

„Den dein Boss jetzt zur Polizei bringt? Wie habt ihr die Daten darauf hier kopieren können?“

Ice sah mich überrascht an.

„Auch wenn er mich wie einen Dummkopf behandelt, kann ich doch eins und eins zusammenzählen. Ihr wolltet die Daten doch für euch selbst haben.“

„Mein Boss hält dich nicht für einen Dummkopf. Er bekommt nur ziemlichen Ärger zu Hause wegen dieser Geschichte und war deshalb angepisst! Den Stick habe ich auf der Fahrt hierher kopiert. Hatte die Ausrüstung dafür im Wagen.“

Eine Frage brannte mir noch auf der Zunge. „Wie hat dieser Ben ihn so schnell zum Reden gebracht? Habt ihr ihm etwas gespritzt?“

„Du siehst zu viel fern, Bruder! Nein. Der Boss hat ihn hypnotisiert.“

„Und das soll ich jetzt glauben?“

„Ja. Ist eine schräge Nummer, aber er hat das echt drauf. Glaub mir, der bringt sogar Darth Vader zum Weinen.“

Wenn er das sagte.

„Schrei, wenn du noch was brauchst!“ Ich stieß mich vom Tisch ab und ging zurück in mein Arbeitszimmer.

 

Ich saß am Schreibtisch und hielt meine Stirn mit allen Fingern gestützt, als mein Handy vibrierte.

„Hallo, mein Engel!“

„Geht´s dir gut? Ich musste erst meine Mum beruhigen. Sie ist komplett ausgezuckt. Ich muss mir den Mund fusselig reden, um Ben den Arsch zu retten.“

Warum wollte sie diesem Arsch überhaupt den Arsch retten? Ich entschied mich für eine etwas diplomatischere Antwort: „Mir geht´s gut. Ice bleibt noch ein paar Tage hier. Er darf sich noch nicht bewegen. Er meinte, die Sache wäre wohl erledigt. Der Freund deiner Mutter hat den Typ zur Polizei gebracht.“ Ich hatte die leise Hoffnung, sie würde nach dieser Information den nächsten Zug nehmen und zu mir zurückkommen.

„Ich muss sicher noch ein paar Tage hierbleiben, bis sich alle wieder beruhigt haben.“ Ihre Stimme klang weinerlich.

Was sollte ich ihr sagen? „Fühlt sich merkwürdig an hier, ohne dich.“

Ich hörte sie atmen. „Ich kann sicher nicht einschlafen heute, ohne dich. Ich vermisse dich jetzt schon. Wenigstens kann ich dein T-Shirt anziehen.“

Ich vermisste sie, seit sie in dieses verdammte Auto gestiegen war und einschlafen wollte ich auch nicht ohne sie. Nicht einmal, wenn ich von ihr träumen würde. Ich hatte lange genug nur von ihr geträumt. Verdammt!

„Wirst du in meinem Bett schlafen?“

„Nein. Was soll ich da ohne dich? Mit einem schnarchenden Ice gleich nebenan?“

„Es tut mir leid, dass wir dich da mit reingezogen haben.“

„Ich weiß. Schon gut. Sicher werde ich wieder die ganze Choreo vergessen, bis du wieder kommst.“

„Wehe!“

Ob ich ihr jetzt sagen sollte, wie sehr ich sie liebte? Am Telefon? Im Hintergrund hörte ich jemanden nach ihr rufen.

„Ich muss zum Abendessen. Schick dir noch Küsschen vor dem Schlafengehen! Gute Nacht, mein Schatz!“

„Schlaf gut, mein Engel!“ Ich liebe dich!

Minutenlang starrte ich das Handy an, als könnte ich ihre Stimme so wieder heraufbeschwören.

 

Die Tage vergingen. Ich hatte mir geschworen, sie nicht zu zählen. Jeder Einzelne davon fühlte sich verschwendet an. Wieso hatte ich erwartet, dass sie schneller zurückkam? Sie schickte mir Selfies. Mit ihrer Familie. In der Badewanne. Im Bett. Doch ich konnte ihr keine zurücksenden. Inzwischen sah ich aus wie ein Zombie und bewegte mich auch so. Ferngesteuert holte ich mir etwas zu Essen und Trinken und versorgte Ice gleich mit. Kümmerte mich um Frau Sedlacek und Filou. Ich trug noch dieselben Sachen wie vor zwei Tagen.

Gerade hatten wir aufgehört zu telefonieren.

Während des Telefonates war es dunkel geworden im Raum, nur das grüne Licht auf meiner Zahlentastatur leuchtete. Der Bildschirm hatte sich längst ausgeschaltet. Ich war alleine, auch in der Küche brannte kein Licht. Ice war vor ein paar Stunden abgeholt worden.

Meine Welt hatte sich verändert. Ich könnte jetzt einen Freund brauchen, doch es war schon nach zehn. Toni schlief sicher schon. Also schloss ich wieder meine Augen und lauschte der Stimme meines Herzens, die verzweifelt in meinem Kopf herumbrüllte. Die Dunkelheit war besser zu ertragen, wenn ich die Augen schloss, doch die Stimme war dann noch lauter. Mir war sterbenselend zumute. Niemanden würde ich jemals mehr lieben als Jazy. Das Schlafen ohne ihre fehlende Berührung fiel mir schwer, deshalb zog es mich nicht ins Bett.

Obwohl wir gerade stundenlang telefoniert hatten, schickte ich ihr eine Nachricht und stellte mir vor, wie sie ihr Handy an ihr Herz drückte.

 

Beim Telefonieren versuchte ich mich zusammenzureißen. Wie sich jetzt zeigte, war für den Moment zu leben, wie es Jazy zelebrierte, auch nicht immer so vorteilhaft. Sie heulte jedes Mal, wenn wir uns verabschiedeten. Ich sah deshalb keinen Sinn darin, ihr zu sagen wie sehr ich selbst unter der Diskontinuität unserer Beziehung litt und versuchte für uns beide stark zu sein. Sie musste nicht wissen, dass mir dabei die aufgestauten, nicht vergossenen Tränen fast den Kopf sprengten. Zum Programmieren war ich nach diesen Telefonaten viel zu unkonzentriert. Es kostete mich jedes Mal Stunden, um wieder klar denken zu können. Eine willkommene Ablenkung war die Beschäftigung mit dem Notizbuch meiner Mutter.

 

Ich zupfte an meinem Oberlippenbart über dem linken Mundwinkel, während ich die Übersetzung des Tagebucheintrages las.

„Karl sendet regelmäßig Berichte an seine Organisation. Greenpeace setzt sich seither gleichermaßen für den Schutz des Waldes und der Menschen hier in Borneo ein. Immer mehr Anhänger aus aller Welt haben sich unserer kleinen Gruppe von Protestierenden angeschlossen. Auch internationale Medien sind auf uns aufmerksam geworden. Ich bin voller Hoffnung auf eine Veränderung.

Jetzt muss Karl zurück nach Europa. Wien! Für mich ist das nicht nur ein fremder Kontinent, sondern eine gänzlich fremde Welt. Er möchte, dass ich mit ihm komme. Ich will aber hier für mein Land kämpfen! Die Korruption zerstört immer mehr Natur. Das muss aufhören!

Weil ich mich heute vor einen Bulldozer gestellt habe, um den Regenwald zu schützen, hatte ich Streit mit Karl. Ich habe ihm gesagt, es müsse sein, sonst würden, wenn unser Kind zur Welt käme, hier keine Tiere mehr wohnen können. Ich wollte es ihm eigentlich nicht im Streit mitteilen, doch jetzt weiß er, dass ich schwanger bin.

Karl sagte heute, er bewundere meinen Mut, aber er möchte, dass ich eine Pause mache. Ich weiß jetzt sicher, dass die Abholzungsbefehle von höchster Stelle kommen. Der Gouverneur bereichert sich an den Rodungen hier. Er erteilt der Holzmafia gesetzeswidrige Exportgenehmigungen. Rauschgift wird vielleicht in kleinen Mengen geschmuggelt, die kaum auffallen, aber wenn Abertausende Tonnen Holz verschwinden und gehandelt werden, fällt es niemandem auf?

Ich muss herausfinden, wo diese Gelder versteckt werden. Es müssen Milliarden sein, die hier jedes Jahr verschleiert verdient werden. Dazu brauchen wir Kontakte zu jemandem, der Zugang zu den edlen Büros dieser Verbrecher hat. Wer sind diese korrupten Funktionäre?

Allein im vergangenen Jahr ist der Flächenanteil an Ölpalmenplantagen explodiert- Palmöl ist in Europa ein begehrter Rohstoff. Sie brauchen es für die Erzeugung von Waschmittel und Kosmetikartikel. Die Frauen in Wien tragen Lippenstift aus Palmöl und essen Margarine aus Palmöl. Karl hat mich trotzdem überredet, mit ihm dorthin zu fliegen. Er möchte mich heiraten und unser Baby soll dort zur Welt kommen. Dafür wird er mir helfen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Er hat es mir versprochen.“

Meine Mutter hatte sich gefürchtet vor der Reise nach Europa, in eine ihr fremde Welt. Was würde sie von mir halten? Einem Stadtkind. Aufgewachsen in dieser ihr so verhassten Umgebung? Ich schämte mich dafür, nicht schon viel früher nachgeforscht zu haben, wer meine Mutter gewesen war.

 

Die Menschen hier in Wien zucken nur mit den Achseln, wenn ich ihnen vom Dschungel und den Tieren auf Borneo erzähle. Hauptsache, sie haben die neueste Handtasche und jeder ein Handy!“

„Sanftmut und Nüchternheit sind in Österreich selten. Die Straßenbeleuchtung in der Nacht hier leuchtet heller als die Sonne.“

Die Eintragungen wurden immer zynischer. Es folgten nach meiner Geburt einige Notizen, die auf die eigentlich ungeplante Reise zur Ölplattform hinwiesen. Ein Kollege meines Vaters war krank geworden und er sollte kurzfristig einspringen. Meine Mutter wollte nicht alleine in Wien bleiben, weil sie fast kein Deutsch verstand. Sie wollte mich mitnehmen, doch Greenpeace hatte es verboten. Dort wusste man offensichtlich, wie gefährlich der Einsatz sein würde. Hier endete ihr Tagebuch. Alles was folgte, blieb ein ungelöstes Rätsel.

 

Ich saß vor meinem Computer und löste Sudokus. Das hatte etwas Beruhigendes. Da war diese Gewissheit, dass es stets eine Lösung für diese auf den ersten Blick undurchschaubaren Rätsel gab. Die Beruhigung war nur leider nicht dauerhaft. Was war meinen Eltern wirklich passiert?

Innerlich fluchend machte ich mich schließlich auf den Weg in den Keller. Was erhoffte ich mir in diesen alten Kisten und Kartons zu finden? Nach so langer Zeit? Schachtel um Schachtel schleppte ich in die Wohnung hoch und sah den Inhalt durch.

Da war eine originalverschlossene Schnapsflasche. Die könnte ich vielleicht bald auf dem Schwarzmarkt verkaufen, zum Händedesinfizieren.

Die Kleidung brachte ich zum Caritas-Container. Es war schon finster, ich hatte den ganzen Tag im Keller verbracht. Die Straße war menschenleer. Man sollte ja in der Nacht gar nicht ausgehen. Der Container stand in der Nähe der U-Bahn-Station. Außer mir liefen nur ein paar andere Verrückte herum. Leute, die mit sich selbst redeten.

 

Am nächsten Tag sah ich in Ruhe die restlichen Kartons durch. Außer der Kleidung und der kleinen Truhe, in der Jazy das Notizbuch gefunden hatte, fand ich nichts mehr, das meiner Mutter zu gehören schien. Sie war offensichtlich eine bescheidene und genügsame Frau gewesen. Ich sah mich in meinen vier Wänden um. Auch in meinem Leben spielten Souvenirs und Andenken keine große Rolle.

Es gab einige Schachteln mit Ordnern und Manuskripten meines Vaters. In einem dieser Kartons fand ich ein abgegriffenes Ultraschallbild von mir. Ich sah es blinzelnd an. Er hatte es als Lesezeichen in einem ebenso abgegriffenen Buch verwendet. Es ging ums Fotografieren. Ein Hobby von ihm, wie ich aus dem Tagebuch meiner Mutter wusste. Ich fotografierte nur mit meinem Handy, sonst hatte ich von der Materie keine Ahnung.

Eher beiläufig blätterte ich deshalb durch die Seiten. Plötzlich fiel eine Visitenkarte heraus und flatterte zu Boden. Ich bückte mich danach und las den Namen darauf: Dr. Gerd Schumann, Rechtsanwalt. Die Schrift war in goldenen Lettern gedruckt. Ratlos starrte ich das kleine Stück Karton an. Schon wollte ich es zurück ins Buch stecken, da fiel mir eine Einkerbung auf. Ich drehte die Visitenkarte um und entdeckte eine Notiz, die mit dem Kugelschreiber gemacht hatte.

  1. Juni, 10:30 Uhr. Das war interessant! Von meinen Recherchen über die Greenpeace-Aktion wusste ich, dass meine Eltern im Mai auf der Ölplattform gewesen waren. War die Visitenkarte aus demselben Jahr? Dann hatte mein Vater den Termin wahrscheinlich nicht einhalten können. Ob es diesen Rechtsanwalt noch gab? Wenn er jung gewesen war, bestand eine Chance. Die kleine Karte hatte auf einmal ein spürbares Gewicht. Ich schob das Foto und die Visitenkarte in meine hintere Jeanstasche.

In der Truhe meiner Mutter fand ich ein Foto. Es zeigte meinen Vater, wie er an einem Campingtisch an einem altmodischen Notebook saß. Meine Mutter umarmte ihn lachend von hinten und küsste seine Wange. Minutenlang betrachtete ich diese herzliche Szene. Bevor ich das Foto aus der Hand legte, bemerkte ich ganz weit rechts auf dem Foto im Schatten eine Frau, die ein Baby hielt. Aus irgendeinem Grund machte mich diese Frau neugierig. Meine Eltern beherrschten das Foto, aber die Schattenfrau hielt vielleicht mich im Arm - und ich wusste nicht einmal, wer sie war? Sie hatte kurzes, strubbeliges Haar. Ich machte mit dem Handy ein Foto und schickte es meiner Oma. „Bin das im Schatten ich? Kennst Du die Frau?“, schrieb ich unter die Bilddatei.

 

Mein Handy klingelte. „Hallo, Oma!“

„Hallo, mein Schatz! Du hast dir die Sachen aus dem Keller durchgesehen?“

„Ja. Hab ja gerade nicht viel zu tun ..., Jazy ist auch nicht mehr da. Bin ich das auf dem Foto? Kennst du die Frau?“

„Ja. Das war bei Erika. Ihre Eltern hatten einen Schrebergarten. Wahrscheinlich haben ihre Eltern das Foto gemacht.“

„Erika ist die Frau im Schatten?“

„Ja. Sie war eine Freundin deines Vaters. Eigentlich war sie seine beste Freundin. Ihre Eltern hatten die Wohnung im dritten Stock gemietet. Die beiden kannten sich seit dem Kindergarten, oder noch früher und waren unzertrennlich. Durch sie ist er überhaupt erst zu Greenpeace gekommen. Sie war damals auch dabei auf der Brent Spar.“

Seine Freundin? Irgendwie verwirrte mich diese Information. Welche Art von Freundin war sie gewesen? Ich fragte meine Oma.

„Du willst wissen, ob die beiden ein Liebespaar waren?“

„Es muss überraschend für sie gewesen sein, als er mit meiner Mutter aus Borneo zurückkam.“

„Ich glaube nicht, dass sie jemals etwas miteinander hatten. Erika war ein verrücktes Huhn. Ihre Eltern hatten sie antiautoritär erzogen. Sie hatte nicht viel Schamgefühl. Ich glaube nicht, dass deinem Vater diese Seite an ihr gefallen hat. Sie war ihm zu freizügig, auch in sexueller Hinsicht. Aber ich habe nie mit ihm darüber gesprochen.“

„Und sie waren zusammen auf der Brent Spar, sagst du?“

„Ja. Deine Eltern sind aber früher von dort abgereist. Wegen dir, vermute ich. Erika ist erst drei Wochen nach dem Verschwinden deiner Eltern von dort zurückgekommen. Mama hat gesagt, sie war da fast jeden Tag bei euch und hat mit euch auf ein Lebenszeichen von den beiden gewartet. Es hat sie auch schwer getroffen.“ Die Stimme meiner Oma klang traurig. „Ich habe lange nicht an Erika gedacht. Willst Du mit ihr reden?“

„Wieso kenne ich sie nicht?“

„Sie ist viel in der Welt herumgereist. Sie hat auch längere Zeit in London gelebt. Dann sind ihre Eltern umgezogen. Ich habe die Telefonnummer ihrer Mutter, wenn sie noch stimmt. Wir waren früher alle befreundet. Ich kann versuchen sie zu erreichen und sie nach Erika fragen. Soll ich? Ich glaube, sie würde sich freuen, von dir zu hören.“

Ich war neugierig auf diese Frau. „Ja, Oma. Vielleicht kann ich mit ihr skypen. Es würde mich interessieren, was damals passiert ist.“

„Sie wird dir nicht viel mehr sagen können als wir. Alles, was die Polizei damals herausgefunden hat, war, dass Karl und Jaya offiziell aus Norwegen ausgereist sind. Danach hat sich ihre Spur verloren. Es gab damals noch nicht so guten Handyempfang, wie heute. Kein Whats App, keine Videoüberwachungen auf Bahnhöfen.“

„Ich würde sie trotzdem gerne kennenlernen.“

„Gut mein Schatz. Ich schreib dir, wenn ich etwas über sie herausfinde.“

„Danke, Oma. Hab dich lieb!“

 

 Eine Stunde später schickte sie mir eine Nachricht: „Erika wohnt wieder in Wien.“

Die Adresse und eine Handynummer standen dabei. Sollte ich sie anrufen? Besuche waren ohnehin verboten!

Mit klopfendem Herz wählte ich die Nummer und lauschte dem Freizeichen.

„Jaaa?“ Die Stimme klang irgendwie schleppend. Vielleicht hatte ich sie gerade geweckt?

„Grüß Gott! Mein Name ist Oliver Moser. Ich glaube, Sie kannten meine Eltern.“ Ich wartete auf eine Reaktion.

Die Überraschung war förmlich spürbar. Es klang, als ob ihr das Handy aus der Hand gefallen war. Ich hörte einen ausgestoßenen Fluch. Dann war die Stimme wieder da: „Oliver?“

„Ja?“

„Mein Gott! Wie alt bist du?“

„Ich werde heuer 24.“

Atemloses Schweigen am anderen Ende der Leitung.

„Ich habe ein Foto gefunden. Auf dem halten Sie mich im Arm. Meine Oma hat mir gesagt, wer Sie sind.“

„Lebst du noch bei deiner Uroma?“

„Sie ist vor zwei Jahren gestorben.“

„Tut mir leid“

„Können Sie mir etwas über meine Eltern erzählen? Sie sind eine der Letzten, die sie gesehen hat?“

„Wohnst du in Wien?“

„Ja!“

„Komm vorbei!“ Sie nannte ihre Adresse.

„Besuche sind aber gerade nicht erlaubt.“

„Du hörst dich an wie dein Vater! Komm vorbei!“

„Wann?“

Sie lachte. „Ist ja nicht so, dass ich einfach in einen Laden spazieren und eine neue Jeans kaufen kann! Das heißt, ohne das Risiko, eines langsamen Todes zu sterben. Ich bin zu Hause. Wo sonst? Aus Angst davor, in einem Krankenhausbett mit einem Beatmungsschlauch im Hals zu sterben, sehe ich mich dazu genötigt. Ich bin nicht krank. Wenn ich mich komisch anhöre, liegt es vielleicht daran, dass ich ein bisschen zu viel trinke. Aus bloßer, unbezwingbarer Langeweile.“

„Alles klar!“ Mein Blick wanderte zu der im Keller gefundenen Schnapsflasche. „Ich komme vorbei.“

 

Erika wohnte in einem heruntergekommenen vierstöckigen Mehrparteienhaus in Floridsdorf. Ich stellte mein Fahrrad am Ständer vor der Eingangstür ab und versperrte es. In einem Stoffbeutel hatte ich die Schnapsflasche mitgenommen.

Ich suchte ihren Namen auf der Leiste mit den Klingeln. Ich musste in den dritten Stock.

Erika hatte Farbflecken auf ihrem T-Shirt. Als sie mich neugierig ansah, fühlte ich mich gleich zu ihr hingezogen.

„Komm rein! Und nimm diese depperte Maske runter.“ Sie trat einladend einen Schritt zur Seite.

Die Freundin meines Vaters war alt, oder was jemand in meinem Alter schon als alt empfand. Sie hatte weiße Strähnen im schulterlangen, dunklen Haar und kleine Fältchen um Augen und Mund. Das fand ich irgendwie komisch. Meine Eltern kannte ich nur von Fotos, auf denen sie zeitlos jung geblieben waren.

Ihre Wohnung war spartanisch eingerichtet. Die meisten Möbel wirkten selbst zusammengezimmert oder wie vom Sperrmüll gerettet. Es roch intensiv nach Zigarettenrauch. Der Aschenbecher quoll über. Sie hatte eine laute, raue Stimme und ein herzliches Lachen.

„Magst einen Kaffee?“

„Nein danke. Vielleicht ein Glas Wasser. Ich bin mit dem Fahrrad gekommen.“ Ich hielt ihr die Schnapsflasche entgegen.

Sie lachte. „Den hatte ich schon fast vergessen! Dein Vater hat die Sorte immer dabeigehabt, wenn er ins Ausland fuhr. Als Vorbeuge gegen Viren.“

Ich setzte mich in einen altmodischen federnden Sofastuhl mit Holzlehne. Sie brachte mir das Glas Wasser.

 

„Mir ist bewusst, dass das nach so langer Zeit nicht wirklich viel Sinn macht, aber ich würde gerne wissen, was mit meinen Eltern geschehen ist.“

Sie ging und hantierte an einer Kaffeemaschine herum. „Witzig, dass du gerade jetzt auftauchst. Da hört man ständig irgendwelche Politiker und Spezialisten im Radio sagen: „Das wissen wir nicht …“, „wir vermuten …“, „wir müssen jetzt …“. Damals, als ich vom Verschwinden deiner Eltern erfahren habe, war es genauso. Die Polizei hat dasselbe gesagt. Es war Stochern im Dunkeln.“

Sie ließ sich auf ein Sofa fallen. „Wir waren nicht darauf vorbereitet. Heute nicht und damals auch nicht. Es ist wie in einem Horrorfilm.“ Sie wuzelte sich eine Zigarette. „Gerade habe ich gelesen, New York hat mehr Infizierte als Deutschland insgesamt. Spanien schließt alle nicht lebensnotwendigen Unternehmen. Ich wette, bald gibt es auf der ganzen Welt Proteste gegen Corona. Fragt sich nur, gibt es dann Vermummungsverbot oder Vermummungspflicht? Blickst du da noch durch, was abgeht?“

„Nein.“ Ich musste grinsen. Erika redete mit Händen und Füssen.

Sie sah mich skeptisch an und meinte trocken: „Ich bin für Mundschutzpflicht für Dauergrinser. Du erinnerst mich an deinen Vater.“

Ich zupfte verlegen an meinem Oberlippenbart.

„Da! Schon wieder! Der Charly hat das auch immer gemacht.“

„Sie haben keinen Fernseher?“ Ich sah mich im Wohnzimmer um. Weil sie mit den aktuellen Nachrichten angefangen hatte.

„Nein. Mein Motto ist: Diskutiere nie mit jemanden, dessen Fernseher größer ist als sein Bücherregal.“

„Dann bin ich ja beruhigt. Mein Bücherregal ist um einiges größer als der Fernseher.“ Ich wechselte das Thema. „Meine Oma hat erzählt, Sie hätten in London gelebt?“

Sie schnaubte verächtlich. „Da denkt man jahrelang, man lebt in der einzig wahren Stadt der Städte und dann kommt der Brexit! Die Londoner Politiker sind noch viel schlimmer als die hierzulande. Die taten erst einmal gar nichts! 600.000 Menschen in Großbritannien mussten erst eine Online-Petition für die Schließung der Schulen unterzeichnen, bevor die etwas unternahmen! Als Nächstes sperrte der Londoner Bürgermeister 40 Tube-Stations. Erst danach verkündete dieser Trump-Klon Johnson in einer Fernsehansprache eine allgemeine Ausgangsbeschränkung. Es ist kein Maß von Gesundheit einer zu tiefst krankhaften Gesellschaft angepasst zu sein! Zuvor war sein Plan, alle Menschen über siebzig sollen einfach vier Monate zu Hause bleiben. Meiner Ansicht nach hat er eine Chance gewittert, das marode britische Gesundheitssystem von den alten Leuten zu befreien.“ Erika stieß wütend eine gewaltige Rauchwolke aus. „Was die geflüchteten Menschen nicht fertiggebracht haben - Corona schafft es. Es treibt uns die Tränen in die Augen, macht Panik. Wenn‘s um die eigene Haut geht, werden wir auf einmal sensibel!“

Ich lehnte mich entspannt zurück und und hörte zu. Ich wollte ihren Monolog nicht unterbrechen. Als sie innehielt, stellte ich mein Wasserglas ab und sagte: „Ich weiß. Es ist absurd. Der befürchtete Mangel an Klopapier erzeugt heftigere Gefühle als das Schicksal der gefangenen Kinder auf Lesbos.“

„Oh, Wahnsinn! Du bist wirklich wie dein Vater! Er war auch so ein Weltverbesserer.“

„War das der Grund, warum er und meine Mutter verschwunden sind? Hatte er sich irgendwelche Feinde gemacht? Dort auf der Ölplattform?“

Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht. „Glaub mir, niemand von uns hätte die ungeschoren davonkommen lassen, wenn es auch nur den leisesten Verdacht darauf gegeben hätte! Ich habe mit jedem Einzelnen, der an unserer Aktion beteiligt gewesen war gesprochen. Es gab keine einzige Drohung. Es wäre auch verrückt gewesen. Wir hatten die Presse hinter uns. Charly war auch nie in den Vordergrund getreten. Er sollte nur einen Bericht schreiben. Er war ein kleines Rädchen.“

„Was ist dann passiert?“ Für mich war die Zeit gekommen, diese Tragödie zu erschließen. „Wenn sie einen Unfall gehabt hätten, wären doch irgendwann ihre Leichen aufgetaucht, oder?“

Erika schaute mich mitleidig an.

„Ich habe diese Visitenkarte bei den Sachen meines Vaters gefunden.“ Ich zog das Kärtchen mit den goldenen Lettern aus meiner Hosentasche und hielt es ihr unter die Nase. „Sagt Ihnen das etwas?“

„Sag nicht „Sie“ zu mir. Ich bin die Erika.“ Sie stand auf und ging in die Küche. Mit einer roten Lesebrille auf der Nase kam sie zurück und nahm das Kärtchen in die Hand.

„Ja, stimmt. Wegen eines Gesprächs mit diesem Rechtsanwalt Schumann wollte Charly so schnell wie möglich zurück nach Wien. Es war Jaya sehr wichtig. Ich glaube, es ging um ihr Projekt in Borneo.“

Ich erzählte Erika von den Notizbucheinträgen meiner Mutter. Von den illegalen Waldrodungen und der Umweltzerstörung dort.

„Jaya hat immer nur davon gesprochen. Auch auf der Brent Spar hat sie versucht, möglichst viele Menschen für ihr Projekt, so hat sie es genannt, zu gewinnen. Sie wollte so schnell wie möglich dorthin zurück. Ich glaube, sie hatten sogar schon Flüge für Euch drei gebucht.“

„Was wollten sie von diesem Rechtsanwalt?“

Erika nahm sich noch ein Zigarettenpapier und legte etwas Tabak darauf. Sie schüttelte den Kopf. „Ich muss dir etwas gestehen. Ich war sehr eifersüchtig auf deine Mutter.“ Sie rückte unruhig auf ihrem Platz hin und her.

Also doch! Ich musste schlucken.

Sie sah mir in die Augen. „Jaya war ein Engel. Sie war ... unbeschreiblich.“ Erika kam kaum wahrnehmbar ins Stocken. „Sie war so naiv. Sie hatte gedacht, sie alleine könnte diesen Dschungel retten. Dein Papa hat sie wahnsinnig geliebt. Er hat sie in allem unterstützt, was dieses Projekt betroffen hat. Den Rechtsanwalt haben sie sich wegen einer Klage gegen illegalen Tropenholzhandel gesucht. Schon alleine, weil es das Projekt deiner Mutter war, habe ich mich nicht dafür interessiert. Immer, wenn die beiden davon gesprochen haben, habe ich mein Gehirn auf Durchzug gestellt. Alles nur wegen meiner kindischen Eifersucht.“ Sie hatte plötzlich nasse Augen und zuckte ihre Unterlippe hoch. „Ich wusste nicht einmal den Namen des Anwalts. Ich habe der Polizei damals davon erzählt, aber weil ich keinen Anhaltspunkt hatte, konnte die der Sache nie nachgehen. Deine Oma und deine Uroma wussten es auch nicht. Hätten wir doch damals diese Visitenkarte gefunden.... Wir haben alles danach durchsucht.“

„Ich habe sie als Lesezeichen in einem Buch gefunden.“

„Warst du schon bei diesem Schumann?“

„Nein.“

Wir saßen stumm nebeneinander und starrten auf die glimmende Zigarette in Erikas Hand.

„Hast du Kontakt zu Jayas Familie?“

„Nein. Ich habe nichts bei ihren Sachen gefunden.“

„Deine Oma müsste eine Adresse haben. Wir hatten damals Kontakt aufgenommen. Wir mussten ihnen doch erzählen, was geschehen ist. Es war aber schwierig. Jayas Eltern konnten kein Englisch, ihr Bruder nur ein wenig.“

Ich nahm mir vor, meine Oma danach zu fragen. Ich stand auf. Mir fiel nichts mehr ein, was ich von Erika noch hätte erfahren können. Sie begleitete mich zur Tür.

„Deine Eltern wären wahnsinnig glücklich, wenn sie dich heute sehen könnten.“ Sie hatte Tränen in den Augen. „Besuch mich doch wieder einmal.“

Ich nickte. „Servus.“

„Baba, Oliver!“ Da lag eine gewisse Wärme in ihrer Stimme, die mich an meine Uroma erinnerte.

Ich war schon fast an der Treppe. Da kam sie mir nachgelaufen und zog mich in ihre Arme. Sie roch nach Tabak und Kaffee. Ich spürte wie dünn und knochig sie unter dem schlabbrigen T-Shirt war.

 

Irgendwie fühlte ich mich nach dem Besuch bei Erika nicht mehr ganz so einsam. Es kam mir fast so vor, als hätte ich plötzlich wieder eine Familie hier in der Stadt. Auch wenn es nur eine schrullige, alte Tante war. Noch bevor ich das Fahrradschloss aufsperrte, schickte ich Oma eine SMS und fragte, ob sie die Adresse von Mamas Familie in Malaysia hätte. Ich war auf den Geschmack gekommen. Jetzt wollte ich endlich wissen, ob da noch jemand war, mit dem ich mich verbunden fühlen konnte.

 

Zurück in der Wohnung fühlte ich mich voll Energie. Das erste Mal, seit Jazy weg war. Ich holte meinen Kung Fu-Dummy aus dem Arbeitszimmer und stellte ihn in die von Jazy freigeräumte Wohnküche. Ich startete ein schweißtreibendes Programm und übte ausgiebig alle mir bekannten Trainingsbeispiele. Abschließend machte ich auf Jazys Yogamatte einen Kopfstand und versuchte in dieser Haltung zu meditieren. Die meisten unruhigen Gedanken hatte schon mein konzentriertes Training vertrieben. Gerade als ich dachte, komplett losgelassen zu haben, hörte ich einen Schlüssel in der Wohnungstür. Jazy? Ich war wie gelähmt. Meine auf dem Kopf stehenden Augen fixierten die Tür in den Flur.

Mein Nachbar kam ins Zimmer. Wieso konnte der nicht anläuten? Wie ein Schrank stand er mitten im Raum. Ich stemmte mich vom Kopfstand in den Handstand und hielt ihn noch ein paar Sekunden. Er sollte ruhig wissen, dass ich mich von ihm nicht einschüchtern lassen würde.

„Tag!“, sagte ich dann provozierend. Normalerweise grüßte derjenige, der den Raum betritt zuerst!

„Beeindruckend! Schön langsam glaube ich, der Glatzkopf neulich hat die Wahrheit gesagt." Er nickte zu meinem Kung Fu-Dummy. „Bist du wirklich so gut, wie er behauptet hat?“

„Was hat er denn behauptet?“

„Er sagte, du hättest dich wie ein Ninja auf ihn gestürzt.“

„Ha. Der Mann hat keine Ahnung! Das war Kung Fu.“

„Wasauchimmer... Jasmin schickt mich. Ich fahre für zwei Tage zu ihrer Mutter. Ich soll dich fragen, ob du mitkommen willst?“

„Sie redet also wieder mit Ihnen?“ Jazy hatte zuletzt am Telefon gemeint, das ihre Mutter nicht einmal ans Handy ging, wenn er bei ihr anrief.

Er sah mich aus verengten Augen an, als wollte er einschätzen, ob mich das etwas anginge. „Nein. Tut sie nicht. Deshalb fahre ich auch hin, um es persönlich zu regeln.“

Ich sah auf die Uhr. Es war schon dunkel draußen. Sicher würde er erst morgen fahren. „Wann fahren Sie?“

„In einer halben Stunde.“

„Verstehe. Sie glauben, so herzlos ist sie nicht, dass sie Sie in der Nacht vor ihrer Tür stehen lässt?“

„Du kennst meine Frau nicht!“ Er grinste verwegen. „Das würde ihr sogar Spaß machen! Jazy lässt uns heimlich ins Haus, wenn sie schon im Bett liegt. Den Rest erledigen meine Freunde hier.“ Er zog zwei Paar Handschellen aus seiner Jackentasche.

Ich runzelte die Stirn. Dass der Typ nicht ganz dicht war, kam wenig überraschend für mich. Aber wie schräg musste Jazys Mutter drauf sein, wenn sie mit ihm zusammengezogen war? Egal. Ich wollte Jazy endlich wieder im Arm halten und ihr von Erika erzählen. „Ich bin in einer halben Stunde unten“, sagte ich.

 

Ich duschte und suchte schnell ein paar Sachen zusammen. Anschließend richtete ich Filous Fressen her und stellte zwei extra Schälchen Trockenfutter daneben. Im Erdgeschoß schob ich einen Zettel durch den Briefschlitz von Frau Sedlaceks Wohnungstür. Sicher lag sie schon im Bett.

Der Freund von Jazys Mutter wartete bereits mit einem weißen Tesla vor dem Haus. Die Beifahrer-Flügeltüre schwang elegant wie von Geisterhand nach oben. „Wow!“

„Carsharing. Eine tolle Sache. Willst Du fahren?“

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte zwar beim Bundesheer den Führerschein gemacht, aber weil ich kaum Fahrpraxis hatte, fühlte ich mich am Beifahrersitz wohler.

„Dürfen wir eigentlich um diese Zeit noch quer durchs Land fahren?“

„Lass das meine Sorge sein. Ich habe genug Bekannte bei der Polizei.“

Ich sog genervt die Luft durch die Nase. Was für ein Angeber!

 

Auf der Autobahn beobachtete ich meinen Nachbarn, wie er über das Lenkrad einen Telefonanruf machte. Man hörte das Freizeichen. Dann kam eine Ansage, dass der Gesprächspartner nicht erreichbar sei.

Er seufzte: „Ich weiß auch nicht, wieso ich dieser Frau immer wieder nachrenne. Im Fitnessstudio stehen weit jüngere Frauen Schlange für ein Date mit mir. Die wären mit Sicherheit nicht halb so kompliziert.“

Ich lächelte schwach. Was er natürlich nicht sehen konnte. Mein Mitgefühl hielt sich in Grenzen.

„Wenn Sie so tolle Freunde bei der Polizei haben, könnten Sie dann für mich in einem Cold Case nachhaken?“ Die Idee war mir gerade eben gekommen.

Ich spürte seinen Blick von der Seite. „Worum geht es?“

„Um eine Vermissten-Akte.“

„Deine Eltern? Jasmin hat mir davon erzählt.“

„Ja.“

„Sicher! Du hast noch was gut, wegen der Sache neulich. Erzähl mir, um was es geht.“

Ich informierte ihn über die Greenpeace-Aktion und was Erika mir darüber erzählt hatte. Dann nannte ich ihm den Namen des Anwalts von der Visitenkarte. Er machte sich Sprachnotizen in seinem Handy. Obwohl es schon mitten in der Nacht war, rief er einen Bekannten an und erzählte ihm, um was es ging. Der Mann am anderen Ende der Leitung klang erfreut, trotz der nächtlichen Störung, und versprach, sich zu melden. Mein Groll gegen den Typen neben mir legte sich etwas. Er hörte eine Playlist mit klassischer Musik beim Fahren. Der Tesla sauste lautlos mit uns durch die Nacht. Nur das leise Rauschen der Reifen auf dem Asphalt neben der Musik war zu hören. Ich begann mich zu entspannen.

 

Nachdem wir von der Autobahn abgefahren waren, wurde es stockdunkel auf der Straße. Hin und wieder kamen wir durch kleine Dörfer, in denen die Kirche beleuchtet war und die Fußgängerübergänge. Es wurde immer hügeliger. Hier war ich in meinem ganzen Leben noch nie gewesen. Meine Neugierde auf Jazys Dorf wurde immer größer. Seit ich wusste, wie naturverbunden meine Mutter gewesen war und auch Jazy war, fragte ich mich, ob diese Liebe auch tief in mir verborgen existierte.

Wir bogen langsam in die Einfahrt eines einstöckigen Hauses mit Garten. Wie in einem Krimi fuhren wir die letzten Meter ohne Licht. Im Haus war alles finster.

„Schreib Jasmin, dass wir jetzt da sind“, wurde mir von der Seite befohlen. Ich hatte ihr schon von unterwegs geschrieben, dass wir auf dem Weg waren.

„Ok, komme!“, bekam ich sofort als Antwort. Ich gab es an meinen Beifahrer weiter.

Wir stiegen leise aus dem Wagen. Bei diesem Tesla hörte man nicht einmal die Wagentüren knallen. Ein paar Stufen führten zur Haustüre hoch, die gerade von innen geöffnet wurde. Mein Engel flog mir stürmisch um den Hals.

„Pst!“, warnte sie mich leise.

Ich nickte lautlos in ihre Halsbeuge. Jazy nahm mich an der Hand und zog mich durch das stockfinstere Haus in einen kleinen Raum. Sie knipste eine Stehlampe an. Es sah aus wie in einem Bügelzimmer. Überall hingen Kleidungsstücke herum. Auf einer schmalen Couch lag Bettwäsche.

„Ich teile mir das Zimmer mit meiner Schwester, deshalb habe ich dich hier einquartiert.“

Sicher würden wir heute Nacht nicht viel zum Schlafen kommen. Mir war alles recht.

„Was ist mit dem Freund deiner Mutter?“, fragte ich leise.

„Das muss er jetzt selber hinbekommen. Da kann ich ihm nicht mehr helfen.“ Sie zog an meinem Longshirt und ich streckte die Arme nach oben.

„Er hat Handschellen dabei“, informierte ich sie.

„Scht! Bist du verrückt? Ich will rein gar nichts über das Sexleben meiner Mutter wissen.“

„Nur, falls du sie gleich schreien hörst!“

„Sie steht auf diesen Typen. Wenn sie schreit, wird das wahrscheinlich andere Gründe haben.“

Ich hatte mich inzwischen bemüht, Jazy von ihren Sachen zu befreien und schälte mich jetzt aus meiner Hose. Im Haus blieb es still. Endlich spürte und schmeckte ich meinen Engel wieder! Ich war glücklich und vergaß schnell alles andere um uns herum. Jazys Haar fiel über mein Gesicht.

Jazy & Tsche

 

Es war eng gewesen, zu zweit auf dem Sofa. Gestört hatte uns das aber nicht. Ganz im Gegenteil. Uns konnte es gar nicht schmal genug sein. Wir hatten uns die letzten Tage so vermisst! Was das bedeutete, war mir nach und nach bewusst geworden. Das zwischen Che und mir war mehr als eine Sucht. Mehr als ein Strohfeuer. Mehr als bloße körperliche Leidenschaft. Noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich so einen Liebeskummer empfunden. Und noch nie zuvor war ich so glücklich gewesen wie in den letzten Stunden. Che war ein guter Liebhaber, aber daran alleine hatte es nicht gelegen, dass ich vor lauter Glück immer wieder in Tränen ausgebrochen war.

Vor unserer Trennung hatte ich gedacht, dass ich noch nie zuvor in jemanden so derartig verliebt gewesen war wie in ihn. Heute Nacht hatte es diesen einen Moment gegeben, in dem unsere Herzen im Gleichklang geschlagen hatten und Che mir ganz zärtlich und leise ins Ohr geflüstert hatte, dass er mich liebte.

Es war nicht kitschig gewesen und schon gar nicht komisch. Es war einfach nur Harmonie in Vollkommenheit. Und seither wusste ich, dass es einen Unterschied machte, ob man in einen Menschen verliebt war oder ihn liebte. Sein Bekenntnis hatte ich mit einem innigen Kuss beantwortet.

Aus der Küche hörte ich die ersten Klappergeräusche. Ich lag halb auf Che. Mein Kinn lag auf seiner Schulter. Seine Hand auf meinem Po. Mein angewinkelter Oberschenkel über seinem Bauch. Die Finger meiner rechten Hand waren mit seinen verschlungen. Vorsichtig hob ich meinen Kopf und sah in sein Gesicht. Es hatte einen versonnenen Ausdruck. So friedlich er gerade schlief, ich musste mich bewegen! Mein linker Arm war eingeschlafen. Ich startete einen Versuch, mich möglichst sanft über ihn hinweg aufs andere Ende des Sofas zu zubewegen, um von dort einen Fuß auf den Boden setzen zu können. Es gelang mir nicht. Auf halber Strecke umschlangen mich seine Arme und hielten mich liebevoll fest. Seine Augen waren noch immer geschlossen. Ich rieb meine Nase leicht und neckend über seine.

„Was hast Du nur gemacht, die letzten Tage, ohne mich?“

„Du hast mir doch das Video geschickt ...“, er grinste verklärt.

„Das in der Badewanne? Wie ich Superlonely höre?“

Sein Grinsen wurde breiter, er öffnete die Augen. Er hatte längst keine Angst mehr, mich direkt anzuschauen. Mein geliebter Spinner! Er hatte mir gestanden, dass er immer gedacht hatte, ein Mädchen wie ich könnte sich nie in einen Nerd wie ihn verlieben.

„Ich liebe dich“, ließ ich ihn wissen. Und weil wir uns jetzt, während ich es das erste Mal aussprach, tief in die Augen sahen, war es mindestens so besonders wie sein Liebesschwur letzte Nacht.

„Du willst jetzt trotzdem aufstehen, oder?“, fragte er seufzend und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Eigentlich nicht. Ich bin nur neugierig, ob es bei Ben und Mama auch so gut gelaufen ist. Außerdem habe ich Hunger. Und es soll heute endlich wieder warm werden. Ich muss Dir alle meine Lieblingsplätze zeigen.“

 

Ben stand am Herd und briet Spiegeleier mit Speck und Röstkartoffel. Ein gutes Zeichen. Ich stellte mich neben ihn und kontrollierte, ob die Portionen groß genug für meinen Appetit waren.

„Und?“ Ich zog neugierig die Stirn hoch.

Er zwinkerte mit einem Auge. Also war unser kleiner Plan aufgegangen.

Ich füllte den Wasserkocher und durchstöberte unseren Kühlschrank. Alles Brauchbare daraus räumte ich auf den Tisch. Das sollte ein Familienbrunch wie früher werden.

Che kam aus dem Badezimmer. „Morgen!“

„Na? Auch schon wach?“ Ben setzte sein wissendes Grinsegesicht auf.

Ich zeigte ihm, wo er sich ein Wasserglas nehmen konnte, und goss kochendes Wasser in die Teekanne.

Meine Mutter kam im Morgenmantel herein. Als sie Che bemerkte, überlegte sie sichtlich, ob sie noch einmal nach oben gehen sollte. Ben hatte sie ebenfalls bemerkt und sagte: „Good Morning, Honey! You look amazing!“

Dieser Schleimscheißer! Sie sah ohnehin immer gut aus.

„Morgen!“ Verlegen lächelte Che meine Mutter an. Sicher würde der Duft nach gebratenem Speck auch gleich meine Geschwister auftauchen lassen.

Meine Mutter begann Obst kleinzuschneiden.

„Magst du einen Smoothie?“, wandte ich mich an Che.

„Nein, danke. Gibt ja genug andere Sachen.“

Ich zeigte ihm, wo er sich hinsetzen sollte. Ben stellte die heißen Pfannen auf die vorbereiteten Bretter und setzte sich neben ihn.

Wir schmiedeten Pläne für den Tag. Ben und meine Mutter wollten etwas auf ihrer Homepage machen. Sami tauchte endlich auf und starrte verblüfft in die Runde. Erfreut klopfte er Ben auf die Schulter. „Hey!“, grüßte er Che.

Ich stellte die Beiden einander vor. Soweit ich wusste, kannten sie sich nur vom Sehen. „Was ist das für ein Name, Che?“, wollte mein Bruder wissen, nachdem er sich gesetzt hatte.

„Den hat Jazy sich für mich ausgedacht. Musst du sie fragen!“ Che grinste mich an.

„Äh!“ Alle schauten jetzt mich an. „Na, wie Che Guevara eben.“

„Wieso? War der nicht Argentinier?“, hakte mein Bruder nach.

„Er sieht doch aus wie jemand der Che heißt, oder nicht?“ Für mich hatte der Name eindeutig einen exotischen Klang.

„Eigentlich bedeutet es Freund oder Kumpel“, erklärte Che. „Habe es mal gegoogelt.“

„Was? Wirklich?“ Die Information war neu für mich. „Soll ich dich lieber Oliver nennen?“

„Wieso? Ich bin ja jetzt dein Freund! Außerdem passen unsere Namen doch gut zueinander. Tsche und Tschesi.“ Er betonte unsere Namen so, wie wir sie immer aussprachen.

„Fast schon kitschig!“ Lara war gerade heruntergekommen und hatte die letzten Sätze mitgehört. „Hallo!“, sagte sie zu Che und Ben. „Wo kommt ihr denn auf einmal her?“ Sie ließ sich in ihren Sessel fallen und warf Sami einen vernichtenden Blick zu, weil der sich gerade das letzte Spiegelei auf den Teller geladen hatte.

„Soll ich dir noch ein Ei machen, Schatz?“, fragte meine Mutter.

„Nein, danke. Nicht nötig.“ Sie schaufelte sich die restlichen Röstkartoffeln auf ihr Teller und quetschte Mayonnaise darüber. „Da ist auch Ei drinnen. Hoffe ich.“

„Ja. Und jede Menge Fett!“, tadelte meine Mutter.

Nicht, weil meine Schwester Figurprobleme hatte. Lara war superskinny. Aber Mama achtete peinlich genau darauf, dass wir uns gesund ernährten. Das war nicht immer so gewesen. Vor einigen Jahren hatten wir alle einen Riesenschock erlebt, weil bei meiner Mutter Magenkrebs diagnostiziert worden war. Seither hatte sie ihre Ernährung komplett umgestellt. Sie hatte in der Klinik von Papas Freundin eine Therapie gemacht und dort auch Ben kennengelernt.

„Sami? Ich will Che heute ein wenig die Gegend zeigen. Können wir uns deinen Gatschhupfer ausborgen?“ Mein Bruder nannte sein Geländemoped so.

„Von mir aus.“ Er wandte sich an Ben. „Bist du wieder mit dem Tesla da?“

Ben nickte.

„Gibst du mir wieder Fahrstunden für den Führerschein?“

„Du weißt aber schon, dass du bei der Prüfung ein Auto mit Gangschaltung bekommst?“, erinnerte ihn Lara.

„Ich kann sowieso längst Autofahren. Hat mir Papa schon beigebracht. Aber Teslafahren ist cooler.“

Ben versprach es ihm. Ich beobachtete Che. Seine Augen leuchteten. Amüsiert blickte er in die Runde. Für ihn musste es eine komplett neue Erfahrung sein, mit so einer großen Familie an einem Tisch zu sitzen. Er würde erst staunen, wenn wir wirklich alle zusammen wären. Zu besonderen Anlässen waren Papa und Sonja und oft deren Schwester und ihr Freund dabei. Im Sommer trafen wir auf Grillpartys noch die Schwester von meinem Papa mit ihrer Familie. Das würde ihn erst so richtig umhauen.

Ich stand auf, ging zu ihm hinüber und setzte mich auf seinen Schoß. Ich musste ihn zwischendurch einfach küssen.

„Mah! Nehmt euch ein Zimmer!“, maulte Lara.

„Nur keinen Neid kleine Schwester!“ Es sollten ruhig alle hier wissen, wie es um mich und Che stand.

 

Nachdem ich Mama geholfen hatte die Küche wieder aufzuräumen, schmusten Che und ich noch etwas auf dem Sofa im Nähzimmer.

„Was willst du heute machen?“, fragte ich ihn.

„Du hast ja eh schon Pläne gemacht, oder?“

„Nicht so richtig. Kommt darauf an, was dir lieber ist: Willst du die Stadt sehen, oder sollen wir auf den Berg fahren?“

„Stadt?“ Eine seiner Augenbrauen rutschte skeptisch nach oben.

„Ich meine nicht unseren Ort! Da gibt es nicht viel zum Sehen. Kirche, Gasthaus, Café, Kaufhaus, Fußballplatz, fertig. Ach ja: Seit neuestem haben wir auch einen Basketballplatz.“

„Zeig mir lieber was von der Landschaft.“

Meine Mundwinkel gingen in die Breite. „Hast du Sportsachen mit? Wir könnten zu meiner  Lieblingslaufstrecke fahren?“

„Nur das hier.“ Er deutete auf seine bequeme schneeweiße Jogginghose, die er trug.

„Passt doch, oder? Ich kann sie danach in die Maschine schmeißen.“

„Sie wird schmutzig werden, oder?“

Er kannte mich inzwischen schon recht gut. Ich wiegte den Kopf etwas hin und her und grinste.

 

Draußen war es noch etwas kühl. Der Nebel begann sich aber bereits zu lichten. Zum Mopedfahren brauchten wir warme Sachen. Ich gab Che Samis Motorradjacke und zog mir selbst meine Schihandschuhe über. Auf verzweigten Güterwegen schraubten wir uns den Berg nach oben, bis wir die Nebeldecke durchbrachen.

„Wow!“, hörte ich Che hinter mir rufen. Mir war der Anblick des Nebelmeeres in den Tälern vertraut, doch er schien das noch nicht oft gesehen zu haben. Hier oben strahlte die Sonne schon warm und kräftig vom tiefblauen Himmel. Ich stellte das Motorrad ab, zog den Helm vom Kopf und befreite mich von der Jacke.

„Was machen wir mit dem Gewand?“, erkundigte sich Che, der es mir gleichtat.

„Hierlassen, was sonst?“

„Wird die Sachen denn niemand klauen?“

„Hier hat jeder selbst einen Helm. Wir sind am Land, da wird nicht gestohlen. Es sperren ja die meisten noch nicht einmal ihre Häuser und Autos ab.“

Che stand immer noch staunend da und bewunderte die Aussicht. Man sah die Spitze des Traunsteins aus dem Nebelmeer ragen, das Tote Gebirge und bis weit hinein ins Gesäuse. Die Berggipfel waren schneebedeckt. Die Wiesen leuchteten bereits gelb vom blühenden Löwenzahn.

„Mein Vater war Fotograf“, sagte Che. „Das hatte ich bis vor wenigen Tagen nicht gewusst. Diesen Ausblick hätte er sicher gerne festgehalten.“

Ich nahm mein Handy zur Hand. „Komm! Lass uns ihm zu Ehren ein Selfie machen.“

Ich habe übrigens gestern eine Freundin meines Vaters besucht. Sie heißt Erika.“

„Man soll doch derzeit keine Fremden besuchen! Oder kanntest du diese Erika bereits?“

„Nein. Ich habe sie auf einem alten Foto entdeckt und meine Oma nach ihr gefragt. Ich mag sie!“

Nach drei Fehlversuchen hatten wir ein perfektes Resultat, auf dem keiner von uns schielte oder die Augen zu hatte. Che schickte es an jene drei Menschen, die außer mir in seinem Leben eine Rolle spielten: an seine Oma, an Toni und an Erika. Frau Sedlacek und sein Kung Fu-Lehrer besaßen kein Handy.

Ich sah ihm mit brennenden Augen dabei zu und wandte mich anschließend um. Von hier zweigte eine Forststraße ab, die sich rund um die gesamte Bergspitze zog. Ich wartete, bis Che sein Telefon verstaut hatte, dann trabten wir los. Die meiste Zeit liefen wir im Wald dahin. Wahrscheinlich wegen Corona begegneten wir kaum Menschen.

„Wie weit bist du mit dem Tagebuch deiner Mutter?“, erkundigte ich mich, während wir liefen.

„Ich konnte fast alles übersetzen. Ein paar Wörter habe ich im Übersetzungsprogramm nicht gefunden und ein paar andere konnte ich nicht entziffern.“ Er redete nach einer kurzen Pause weiter: „Die letzten Tage habe ich die Kartons vom Keller durchgesehen! Da war eine  Kiste voller Fotos aus Borneo mit dabei. Mein Vater war immerhin ein ganzes Jahr dort. Er wollte einen Bildband veröffentlichen. Es sind traumhafte Aufnahmen. Tiere, Pflanzen, Insekten. Messerscharfe Felsformationen. Borneo ist reinste Paradies, wenn man nach den Fotos geht.“ Er lachte. „Wenn man das Notizbuch meiner Mutter dazu liest, würde man kaum glauben, dass die beiden auf derselben Insel waren.“

„Wieso?“

„Auf den Fotos meines Vaters gibt es nichts als Sonnenschein und heile Welt. Meine Mutter hingegen beschwerte sich in ihren Eintragungen andauernd über den Regen. Dass ihnen der Proviant unterm Hintern weggeschimmelt ist. Von dem Ungeziefer überall. Ratten, die sich durch die Reis-Plastiksäcke gefressen haben. Tausendfüßler in ihren Schuhen. Wildschweine, die in der Nacht alle von ihr angelegten Gemüse- und Blumenbeete plattgemacht haben. Sie hatte das Baby eines entführten Sillberhaubenlanguren, das ist eine dort vorkommende Affenart, gerettet. Die werden gewildert, um sie an Versuchslabore zu verkaufen. Ich habe Fotos von dem Affenbaby gefunden. Wirklich süß! Es hatte ein total orangenes Fell. Wie so ein Plüschaffe! Und dann hat es eines Tages eine Python erwischt und schon halb verschlungen gehabt, bis sie es gefunden hatte.“

„Oh!“

„Nach dem, was meine Mutter geschrieben hat, war mein Vater mehr als die Hälfte seiner Zeit auf Borneo krank. Er war ja auch nur ein Stadtkind wie ich und besaß wahrscheinlich nicht genug Abwehrkräfte, gegen diese ganzen Dschungelbakterien.“

„Klingt, als wäre deine Mutter eine ganz schöne Pessimistin gewesen.“

„Ich glaube, das musste sie sein, um sich so für den Naturschutz einsetzen zu können, wie sie es getan hat. Das meiste, was sie schrieb, war ziemlich zynisch. 140 Millionen Jahre ist dieser Regenwald geworden. Schade, dass das jetzt endet! 3000 verschiedene Baum und Orchideenarten sind im Begriff, vernichtet zu werden! Ihr Notizbuch ist voll mit solchen Anmerkungen."

Wir waren bei meiner Bank angekommen, wie ich sie im Geiste immer nannte. Etwas mehr als die Hälfte der Strecke hatten wir somit geschafft. Von hier aus hatten wir einen traumhaften Ausblick.

„Sollen wir ein bisschen rasten?“

Che erkannte meine Suggestivfrage als solche und ließ sich auf die Bank fallen. „In Wien musste jemand fünfhundert Euro Strafe fürs Parkbanksitzen zahlen! Hoffentlich kommt hier keiner vorbei zum Kontrollieren.“

Che stand wieder auf und ging ein paar Schritte in den Wald, um zu pinkeln.

„Wo führt dieser Weg hin?“, erkundigte er sich jetzt.

„Zum Gipfelkreuz.“ Ich grinste wegen seines fragenden Blickes. „Lach nicht! Über achthundert Meter. Fast so hoch wie der höchste Berg im Burgenland! In zehn Minuten wären wir oben?“

„Das will ich sehen!“

Natürlich war der Gipfel nicht spektakulär. Eigentlich war es nur eine Almwiese, an deren höchsten Punkt jemand ein Kreuz und einen Rastplatz errichtet hatte. Che gefiel es trotzdem und er machte wieder ein Selfie von uns beiden. Dieses Mal wollte ich meinen neuen Beziehungsstatus dokumentieren. Der Holztisch war schon im Sonnenschein aufgetrocknet und wir setzten uns darauf.

Che wirkte gedankenverloren.

„Was denkst du gerade?“, wollte ich wissen.

„Ich würde hier gerne ein bisschen meditieren.“

Es war unglaublich, wie er mich immer wieder überraschte. Ich verspürte hier oben immer denselben Wunsch. Nie hätte ich jedoch angenommen, dass er auch so naturverbunden war. Ich umarmte ihn als Dank dafür, dass er so war, wie er war. Dann setzten wir uns im Schneidersitz Rücken an Rücken auf die Tischplatte und genossen die Stille um uns herum.

Che hielt die reglose Sitzposition länger aus als ich. Ich begann unterdessen Sonnengrüße zu üben. Irgendwie konnte ich mich in Bewegung immer noch besser entspannen.

Nach einer Weile kam Che zu mir und legte von hinten die Hände leicht an meinen Oberkörper. Ich erkannte in der Geste den Anfang unserer Dangerous-Choreo und spielte mit. Es hatte etwas Magisches, wie wir in absoluter Stille diesen lautlosen Tanz aufführten.

Seine Sorge, die Choreo vergessen zu haben, erwies sich als unbegründet. An der Stelle, an der er sich auf den Boden werfen sollte, brachte er mich zum Lachen. Ich erkannte die Überwindung, die ihn dieser Part kostete. Sicher hatte er bedenken, wegen der Hose.

Atemlos lagen wir beide in der feuchten Wiese. „Wir könnten nachher meine Geschwister fragen, ob sie uns filmen? Du bist so weit.“

„Für dich mein Engel, mache ich mich gerne zum Affen.“

„Du weißt wirklich nicht, wie genial du tanzt, oder?“

Er sah noch immer skeptisch drein.

Wir machten uns an den Abstieg und nahmen dazu eine Abkürzung. Zwanzig Minuten später waren wir zurück, dort, wo wir das Motorrad abgestellt hatten.

 

Beim Mittagessen drehte sich alles um die neue Bademodenkollektion meiner Mutter. Wir wickelten alle an unserer vegetarischen Variante von Spaghetti-Bolognese.

Meine Schwester meinte: „Am besten bietest du gleich einen Mundschutz passend zum Bikini mit an.“

Mir war bis zu diesem Zeitpunkt gänzlich entgangen, dass meine Mutter Bademoden entworfen hatte. Bisher hatte immer dagegen gesprochen, dass sie nur recycelte Textilien verwenden wollte und diese nicht dafür geeignet waren.

„Was für Material verwendest du?“, hakte ich deshalb sofort nach. Früher hatte mein Vater immer dafür gesorgt, dass wir so umweltbewusst wie möglich lebten. Jetzt war das meistens mein Aufgabenbereich.

„Recyceltes Nylon.“

„Aha.“ Ich schaute fragend in die Runde. Niemand reagierte. „Und aus was genau wird das recycelt?“

Sami meldete mit vollem Mund: „Aus alten Plastiksackerln.“

Ich sah ihn mit verdrehten Augen an. „Ach ja? Bald gibt es aber keine Plastiksackerl mehr.“

„Sie stellen es aus aufbereitetem Kunststoffmüll her!“, informierte mich meine Mutter. „Teilweise aus Plastikmüll, den sie aus dem Meer gefischt haben.“

„Oh! Na, dann klingt´s cool!“ Mein Lieblingssportmode-Label hatte auch schon verlautbaren lassen, seine Sportkleidung bald nur noch aus recycelten Fasern produzieren zu wollen.

„Falls sich heuer überhaupt jemand für Bademode interessiert“, warf Mama kleinlaut hinterher.

Tja. Wer Gründe zur Verzweiflung suchte, musste bloß einen Blick in die aktuellen Nachrichten werfen. Keiner konnte derzeit sagen, ob wir bis Sommer wieder unser normales Leben zurückhaben würden. Die ständigen negativen Nachrichten vermittelten eher das Gegenteil. Und man konnte nichts dagegen tun. Genauso wenig wie gegen Kriege, Naturkatastrophen und durchgeknallte Politiker.

Meine Strategie lag normalerweise im Ausblenden des ganzen Medienwahnsinns. Ches Meinung ging eher in die andere Richtung „Das Reden über Probleme schafft Probleme. Das Reden über Lösungen schafft Lösungen.“ Er übte sich in Akzeptanz. Verwendete immer brav seine Maske und erinnerte mich so oft wie möglich an freudigere Ereignisse, wenn ich mich wieder einmal beklagte.

„Che und ich besuchen am Abend Papa und Sonja. Sonja hat uns eingeladen.“ Sie war neugierig auf meinen Schatz. Sie hatte unser Selfie gesehen. „Kann uns jemand fahren?“

„Ich muss mit ihr  noch was besprechen“, ließ uns Ben wissen.

Ich nickte und wechselte das Thema: „Wir haben einen Tanz einstudiert. Habt ihr beiden nachher Zeit, uns zu filmen?“, wandte ich mich an meine Geschwister.

Lara würde uns gekonnt in Szene setzen. Seit Jahren beherrschte sie den Umgang mit der Handykamera perfekt. Auch wenn meist sie selbst den Hauptdarsteller ihrer Filmchen gab, machte ich mir da keine Sorgen.

„Wo sollen wir denn drehen?“

„Ich dachte an den Bahnhof.“ Ich sah zu Che. „Was meinst Du?“

„Sicher! Eine U-Bahn-Station werdet ihr wahrscheinlich keine in der Nähe haben ...“ Davon hatten wir in Wien schon einmal geredet. - „Sami?“

„Okay, bin mir dabei. Was sollte ich schon sonst tun?“

Meinem Bruder fiel offensichtlich auch schön langsam die Decke auf den Kopf. Blieb nur noch unser Stylingproblem. „Sami? Hast du vielleicht für Che ein cooles Muscle-Shirt, das du uns leihen kannst?“

Er schien nachzudenken.

„Ben? Kannst du uns bitte Handschellen leihen? Mama? Ich brauche ein sexy Outfit, in dem ich aber auch tanzen kann, also vielleicht was mit Stretch. Und man muss meine Bewegungen gut sehen können! Hast du eine kurze Hose?“

Nachdem ich das Stylingthema delegiert hatte, brauchte ich mich nach dem Essen nur noch um mein Make-up kümmern.

Ich trug eine wadenlange schicke graue Haremshose, die in der Taille geknotet wurde. Meine Mutter hatte sie für eine ihrer früheren Kollektionen entworfen. Dazu ein bauchfreies schwarzes Tanktop und eine schwarze Baskenmütze. Meine derben schwarzen Boots und ein knallroter Lippenstift meiner Mutter vervollständigten mein Kostüm einer gefährlichen Gangsterin. Ein schwarzes Nietenarmband hatte ich mit Müh und Not um meinen Oberarm gewickelt. Che, in seiner blütenweißen Jogginghose und einem weißen Muskelshirt war mein perfekter Gegenspieler.

Mit zwei Bluetooth-Boxen brachen wir endlich zu unserem Tanzdreh auf. Ich war aufgeregt, Che die Gelassenheit in Person. Dass unser Bahnhof ziemlich heruntergekommen war, kam mir heute das erste Mal gelegen. Schnell hatten wir mit Laras Hilfe die passende Szenerie gefunden. Am menschenleeren Bahnsteig mussten wir die Choreo fünf Mal durchtanzen, bis meine Schwester mit den Einstellungen restlos zufrieden war. Das Resultat war aber so gelungen, dass ich ihr letztendlich dankbar um den Hals fiel.

„Wow! Du solltest das professionell machen!“, sagte auch Che begeistert. Endlich hatte er den Videobeweis, wie toll er tanzen konnte.

„Mal schauen. Vielleicht nach meiner Karriere als Filmstar.“

Bescheidenheit war nicht gerade eine hervorstechende Tugend meiner Schwester.

Ich schickte das Video meiner Tanzlehrerin. Sie rief zurück und wollte wissen, wer der tolle Tänzer sei? Was, wenn alle nur auf Che schauten? Eigentlich wollte ich mit dem Auftritt ja Werbung für meine Tanzkünste machen?

 

Am nächsten Tag fand ich das erste Mal etwas, das Che nicht perfekt konnte. Sami und ich wollten  auf der großen Wiese hinter unserem Haus etwas kicken.

Che war zu hundert Prozent nutzlos.

Man konnte ihm keinen Pass zuspielen. Er hielt im Tor keinen einzigen Ball. Und selbst als Schiedsrichter war er nicht geeignet. Offensichtlich hatte er sich mit dem Thema Fußball noch nie ernsthaft auseinandergesetzt. Wie er so in Sport durchgekommen war, erschien mir schleierhaft. Noch nicht einmal als Zuschauer taugte er. Jedes Mal, wenn ich nach einem gelungenen Dribbel-Trick jubelnd zu ihm sah, war er mit seinem Handy beschäftigt.

„Du bist eine miserable Spieler-Bitch!“, neckte ich ihn nach dem Spiel. Sami indes hatte sich entwickelt. Wir hatten uns auf ein Unentschieden geeinigt.

„Du siehst hüftekreisend auch irgendwie sexyer aus.“ Er zog mich eng an sich und machte eine entsprechende Bewegung mit seinem Becken.

„OK! Ich verzeihe dir. Verdammt! Ich wäre jetzt wirklich gerne in unserer Wohnung. Dann würde ich dich zur Entschädigung zwingen, mit mir unter die Dusche zu gehen.“

„Das wäre mir eine Freude, Mylady.“

„Oh, ich mag das, wenn du nicht immer nur Engel zu mir sagst ...!“ Ich biss ihm spielerisch in den Hals. „Rroarr!“ Ich fletschte meine Zähne.

Er räusperte sich. „Werde ich Handschellen brauchen, um dich zu zähmen?“ Er wirkte ein wenig überfordert und ich bekam einen Lachanfall.

„Lass uns den nächsten Zug nach Wien nehmen, was sagst Du? Wir können zu Ostern wieder herkommen. Sonja will sicher Osternester für uns verstecken.“

„Filou würde sich auch freuen, wenn seine Dosenöffner endlich wieder da wären. Du willst wahrscheinlich noch duschen, bevor wir fahren. Ich checke inzwischen den Fahrplan.“

„Wozu duschen? Müssen eh alle einen Mund- und Nasenschutz tragen im Zug. Und Abstand halten.“ Ich konnte ihm beim Überlegen zusehen, ob ich das tatsächlich in Erwägung ziehen würde. „Spaß!“, half ich ihm aus seinem Gedankenkarussell. „Aber ich brauche nur drei Minuten.“

 

Alles zusammen genommen, duschen, abtrocknen, anziehen, waren nicht mehr als zehn Minuten vergangen. Ich suchte nach Che. Keine Spur.

Ich suchte im Nähzimmer. Im Wohnzimmer, wo Sami und Lara eine Serie schauten. In der Küche, wo meine Mutter das Haltbarkeitsdatum der Sachen im Vorratsschrank kontrollierte. Wo steckte der Kerl?

Ich sah ratlos zum Küchenfenster hinaus – und entdeckte Che gemeinsam mit Ben im Carport. Die beiden schienen sich angeregt zu unterhalten. Leise zu unterhalten. Ihre Köpfe steckten nahe beieinander. Ben zückte sein Telefon und tippte darauf herum. Che machte es ihm nach. Was zum Teufel heckten sie aus?

Ich packte meine Tasche und Mama gab mir noch eine Einkaufstasche voller Lebensmittel mit, die knapp vor dem Ablaufen waren. Ich war selbst schuld, dass sie mir dieses ganze Zeug anhängte. Schließlich wies ich sie jedes Mal darauf hin, dass es ja Mindesthaltbarkeitsdatum hieß und nicht Maximalhaltbarkeitsdatum. Gratis Essen war trotzdem nicht zu verschmähen, auch wenn man das dadurch ersparte Taschengeld derzeit nicht in diversen Kaffeehäusern oder Bars ausgeben konnte.

„Hat Che sich schon von euch verabschiedet?“, erkundigte ich mich vorsichtshalber. Sein Rucksack stand zwar noch auf dem abgezogenen Sofa, aber man konnte ja nie wissen. Meine Mutter schüttelte zerstreut den Kopf. Sie inspizierte jetzt auch noch den Kühlschrank.

Ich sah aus dem Fenster. Die Männer unterhielten sich noch immer. Ich klopfte gegen die Scheibe und deutete auf meine imaginäre Uhr am Handgelenk. Che winkte und kam auf die Haustüre zu, während Ben die Steckdose von seinem Mietwagen entfernte. Er hatte zugesagt uns zum Bahnhof zu bringen.

„Was hattet ihr denn da zu tuscheln?“, erkundigte ich mich neugierig.

„Nichts Wichtiges.“ Che zupfte an seinem Oberlippenbart herum.

Eine glatte Lüge also. Na, ich würde ihn mir während der Zugfahrt schon noch vorknöpfen. Wir verabschiedeten uns und gingen zu Ben, der am Auto wartete.

Vor dem Aussteigen am Bahnhof steckte Ben Che verstohlen einen kleinen Zettel zu. Sicher glaubte er, ich würde das nicht sehen.

„Was habt ihr beide für Geheimnisse?“, löcherte ich ihn, sobald der Tesla lautlos davongerollt war.

Che druckste ein wenig herum und versuchte mich vom Thema abzulenken.

Ich stellte mich verärgert knapp vor seine Nase und starrte ihn anklagend an. „Versuchst du, mir etwas zu verheimlichen?“

Unwohl kratzte er sich den Nacken. „Ich habe Ben versprochen nicht mit dir darüber zu reden.“

Ich zog einen Mundwinkel nach außen und meine Augenbrauen zusammen.

Ches Adamsapfel bewegte sich angestrengt. „Verdammt, Jazy! Sieh mich nicht so an!“

Unser Zug wurde angekündigt. Ich gewährte ihm noch die paar Minuten Frieden. So lange, bis wir im Abteil saßen. Dann zwang ich ihn mit einem weiteren bösen Blick, mit der Sprache rauszurücken.

 

Che - Die Akte

 

 

Jazy ließ sich im Zug mir gegenüber in den Sitz fallen. Obwohl sie eine Maske trug, meinte ich zu erkennen, dass sie böse schaute und Grimassen schnitt. Das ließ sie wie eine tickende Bombe, kurz vor dem Losgehen, wirken. Ich entschied mich, vorerst nicht zu reagieren. Sie nahm mir die Entscheidung ohnehin ab.

„Lass mich raten: Ben hat dir versprochen, sich wegen deiner Eltern zu erkundigen. Im Gegenzug musst du irgendein dubioses Päckchen aus einer windigen Wohnung abholen.“

Ich starrte sie  an und bemühte mich, mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen. „Was?“, fragte ich, um Zeit zu gewinnen. Sie war der Sache schon recht nahe gekommen. Aber wie kam sie bloß darauf, ich würde für Ben irgendwelche Botengänge erledigen?

Unvermutet stürzte sie sich auf mich und schob unsere Masken unters Kinn. Nachdem wir die einzigen Gäste im Abteil waren, würde davon schon nicht die Welt untergehen. Ich zog sie näher an mich ran, während sie eine bequeme Position auf meinem Schoß suchte. Gerade als ich sie küssen wollte, riss sie sich wieder aus meiner Umarmung und setzte sich zurück auf ihren Platz. In der rechten Hand hielt sie ein kleines weißes Blatt Papier, mit dem sie nun herumfuchtelte.

Wieder starrte ich sie überrascht an, völlig verblüfft von ihrer Fingerfertigkeit.

Sie sah sich den Zettel aus der Nähe an. „Was ist das für eine Telefonnummer?“

Ich seufzte.

Sie nahm ihr Handy aus der Tasche und begann die Nummer einzutippen. Ich versuchte, ihr den Zettel wegzunehmen, doch sie drehte sich schnell weg.

„Jazy! Hör auf damit!“

Sie verengte ihre Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Eine steile Falte teilte ihre Stirn über der Nasenwurzel. Als ich keine Anstalten machte, ihr zu verraten, was sie wissen wollte, tippte sie weiter die Ziffern von dem Zettel ab. Bevor sie die Verbindung herstellen konnte, nahm ich ihr das Telefon aus der Hand. Sie hatte meine Attacke nicht kommen sehen und schrie wütend auf. Jetzt zerknüllte sie den Zettel in ihrer Hand und stopfte ihn sich in den Mund.

„Ich schluck ihn runter!“, drohte sie undeutlich.

Die Sache geriet außer Kontrolle. Sie sah göttlich aus. Wie eine Rachegöttin zwar, aber dennoch unbesiegbar. Also gab ich mich geschlagen.

„Na schön, du hast recht. Ben hat mir eine Kopie jener Polizeiakte besorgt, die zum Vermisstenfall meiner Eltern angelegt wurde. Er hat sie mir in einer Datei geschickt. Diese Nummer gehört jemandem von der Archivstelle, der davon weiß. Falls ich irgendwelche Rückfragen haben sollte. Und Ben tat es gänzlich, ohne dass ich ihm einen Gefallen dafür schulde.“ Zumindest hatte ich es so verstanden. Ich hoffte, ich würde mich durch die Annahme seines Dienstes nicht in eine wie auch immer geartete Abhängigkeit zu diesem Kerl begeben.

Langsam fischte Jazy den in Mitleidenschaft gezogenen Zettel aus ihrem Mund und glättete ihn. Sie überprüfte, ob die Ziffern noch lesbar waren, und reichte ihn mir dann zurück.

„Und warum nicht gleich?“ Sie kreiste mit rollenden Augen leicht den Kopf.

„Ben sagte, dass niemand davon erfahren dürfe. So etwas ist illegal. Jemand könnte dafür ganz schön eine auf den Deckel bekommen.“

„Mann!“ Sie ließ genervt die Schultern sinken. „Damit hat er doch sicher nicht mich gemeint.“

Eigentlich war es zwar genauso gewesen. Ben hatte extra gesagt, ich sollte es keinem Menschen verraten, schon gar nicht Jazy, aber er hatte ja auch nicht ahnen können, wie sehr sie mich deswegen unter Druck setzen würde.

Im nächsten Bahnhof stiegen zwei Jugendliche ein und wir setzten unsere Masken wieder ordentlich auf. Ich sah Jazy an, dass ihr mehrere Fragen auf der Zunge brannten, doch sie hielt sich zurück. Nach einigen Minuten holte sie ihre Ohrstöpsel aus der Handtasche und setzte sie auf.

Ich scrollte ein wenig durch die aktuellen News. Nach Italien hatte nun auch Spanien den nationalen Notstand ausgerufen. Immer mehr Sanitäter steckten sich dort an. Eine spanische Krankenschwester berichtete davon, wie schlimm es war, die schwerkranken Menschen nicht mehr anlächeln zu können und wie belastend die Arbeit für sie war. Sie trug zwei Masken übereinander, um die untere länger zu schonen.

Auch im Iran stiegen die Zahlen. Die Regierung des Gottesstaates hatte das Internet sperren lassen. Das bedeutete Social Distancing in noch verschärfterem Ausmaß! Waren die Mullahs total verrückt geworden?

Vergeblich suchte ich nach irgendwelchen positiven Nachrichten. Genervt steckte ich mein Telefon weg und sah Jazy beim Musikhören zu. Sie bemerkte offensichtlich meine gedrückte Stimmung und setzte sich neben mich, lehnte ihren Kopf an meine Schulter und gab mir einen ihrer Ohrstöpsel. Wir verschränkten unsere Finger miteinander und ich fühlte, wie Jazy im Takt der Musik meine Hand drückte. Entspannt schloss ich meine Augen und genoss die rollenden, einschläfernden Bewegungen des Zuges.

 

Jazy rüttelte mich wach. „Wir müssen umsteigen!“

Ich sah aus dem Fenster. Der Zug wurde bereits langsamer. Verstehend nickte ich ihr zu und gab ihr den Ohrstöpsel zurück.

Am Bahnsteig standen zwei verkleidete Kinder mit einem Affen. Ich musste sofort an meine Mutter denken. Jazy ging zu den Kleinen hin. Offensichtlich gehörten sie zu einem Zirkus, der hier in der Gegend gastierte. Die beiden sammelten Spenden, um damit Tierfutter zu kaufen. Jazy kippte ihre Geldbörse aus, doch mehr als ein paar mickrige Münzen fanden sich darin nicht. Ich hielt ihr eine Zehn-Euro-Note hin.

Unser Anschluss wurde angekündigt. Jazy durfte dem Affen mit einer Erdnuss füttern.

Zu Hause würde ich Jazy die Fotos meines Vaters zeigen. Es gab eines, auf dem das Babyäffchen auf den Schultern meiner Mutter saß und ihr das Haar zerzauste.

Mir fiel ein, dass ich mir eigentlich die aktuelle Greenpeace-Homepage hatte ansehen wollen. Im Railjet googelte ich die Adresse. Noch immer gab es von dieser Organisation Protestaktionen gegen Ölplattformen. Neben der Klimakrise richtete sich der Aktivismus derzeit weiters gegen drohende Ölunfälle und Gaslecks.

Ich las mir die entsprechenden Beiträge durch. Erika war felsenfest davon überzeugt gewesen, dass das Verschwinden meiner Eltern nicht im Zusammenhang mit ihrer Greenpeace-Aktion gestanden hatte. Als ich mir weitere Beiträge durchlas, stieß ich unter anderem auf einen Artikel über Palmöl.

Jazy hörte mit geschlossenen Augen Musik. Ich stupste sie an. „Hör dir das an“, verlangte ich.

Nachdem sie den mir zugewandten Stöpsel aus dem Ohr gezogen hatte, las ich ihr vor: „RSPO - das ist das vom WWF ins Leben gerufene Palmöl-Zertifikat - ist nicht imstande, die Zerstörung wertvoller Regenwälder für Palmölplantagen zu stoppen. Etliche Greenpeace-Studien haben ergeben, dass es sich dabei nur um Greenwashing der Hersteller handle, die auch gleichzeitig die Begründer der Zertifizierung sind. Am Ende siegt immer das Profitstreben über die Selbstverpflichtung.“

Jazy verzog missmutig den Mund.

Mein Ärger wuchs immer weiter an. „Meine Mutter hat sich vor über vierundzwanzig Jahren für die Rettung des Regenwaldes eingesetzt und versucht, etwas gegen die vielen illegalen Palmölplantagen zu unternehmen. Das ist doch einfach nur unglaublich! Seither hat sich null getan!“

Der Artikel beschränkte sich nicht nur auf das Palmöl-Gütesiegel. Bei anderen Biosiegel, wie zum Beispiel „MSC“ für Fischfang, sah es nicht viel besser aus.

Ich schloss die aufgerufene Internetseite. Diese Informationen musste ich erst einmal verdauen. Natürlich hatte ich immer versucht, so umweltbewusst wie möglich zu leben, doch wirklich auseinandergesetzt hatte ich mich mit dem Thema noch nie.

Erika hatte gesagt, meine Eltern würden sicherlich stolz auf mich sein. Jetzt zweifelte ich diese Einschätzung an.

Beim Gedanken an meine Eltern übermannte mich ein Gefühl von Ohnmacht. Ich zog meine Oberlippe nach innen und biss mit den Zähnen dagegen, damit ich nicht auf der Stelle hier, mitten im Zug, vor all den fremden Menschen, in Tränen ausbrach. Mein angestrengter Atem saugte den Mundschutz abwechselnd gegen meine Nase und blies ihn dann wieder davon weg. Ich schwor mir in diesem Moment, alles in meiner Macht stehende zu unternehmen, um mein Leben zu ändern. Ich wollte, dass meine Eltern allen Grund dazu hatten, auf mich stolz zu sein.

Jazy streichelte mit dem Daumen über meinen Handrücken und sah mich besorgt an. Mein Engel! Wenn da dieser blöde Mundschutz nicht wäre …Wie gerne würde ich sie jetzt küssen!

 

Zurück in der Wohnung schaltete Jazy sofort die Musikanlage ein. „Golden“ von Harry Styles verbreitete ein Gefühl von heiler Welt. Sie ließ ihre Tasche fallen und verhakte ihre Finger mit meinen. Endlich zu Hause! Verträumt lächelnd sah sie mir ins Gesicht. Es war ihr momentanes Lieblingslied. Sie wiegte sich im Takt der Musik und ich drehte sie einmal herum, sodass sie mir, gefesselt durch ihre eigenen Arme, den Rücken zuwandte. Ich schmiegte mein Gesicht in ihre Halsbeuge und presste meine Hüfte gegen ihren Po. In dieser Stimmung waren wir nur einen Schritt vom Schlafzimmer entfernt. Dort brauchten wir zum Tanzen keine Musik.

 

Filou schob mit seinem Körper die Schlafzimmertüre auf und sprang zu uns aufs Bett. Es war wohl seine Art uns mitzuteilen, dass wir gefälligst seinen Futternapf auffüllen sollten.

Während wir uns über die Lunchpakete von Jazys Mutter hermachten, rief ich Toni an. Ich erzählte ihm von meinem Wochenende. Er berichtete von den Neuheiten am Game-Sektor. Weil ich auch gerade mit Jazy über das Thema gesprochen hatte, verriet ich ihm meine Bedenken wegen meiner Konsumgewohnheiten. „Wir kaufen doch alle noch viel zu unreflektiert, in Hinsicht auf Ressourcenverbrauch, ein. Keiner denkt beim Kochen an die Schäden für die Gesellschaft oder die Umwelt.“

„Ich weiß, was du meinst. Wir werden einfach von den Medien zu stark beeinflusst! Lass es uns machen wie in MATRIX. Wie Neo. Wir können aussteigen und in unserer eigenen Wahrheit existieren.“

Mein bester Freund lebte meist ohnehin in seiner ganz eigenen Realität. Dennoch fühlte ich mich von ihm verstanden. Es würde mir schwerfallen, ihm nichts von der Polizeiakte zu erzählen, die ich von Ben erhalten hatte. Ich versprach ihm, mich morgen wieder unserem Projekt zu widmen und ihm ein Update zu schicken.

 

Ich sah zu Jazy, die in der Küche, nur in Unterwäsche, Vorräte verstaute und den Geschirrspüler einräumte. Eigentlich hatte ich warten wollen, bis sie mit ihren Yoga- oder Tanzübungen beschäftigt war, doch ich konnte nicht anders. Neugierig öffnete ich meinen Mailordner. Die Datei, die mir Ben weitergeleitet hatte, war angekommen. Und sie war umfangreich.

Im ersten Moment wusste ich nicht, wo ich anfangen sollte. Es war wohl das Beste, chronologisch vorzugehen. Das exakte Datum und sogar die Uhrzeit der Vermisstenanzeige, die meine Uroma eingebracht hatte, war vermerkt. Mein Vater hatte sich demnach während der Reise täglich bei ihr gemeldet. Nachgefragt, ob es mir gut ging. Es hatte ein Satellitentelefon an Bord der Altair gegeben. Sein letzter Anruf kam allerdings von seinem Handy.

Er hatte Uroma gesagt, dass er und Mama in spätestens zwei Tagen zurück in Wien wären. Sämtliche Telefonprotokolle in diesem Zusammenhang waren aufgelistet. Nach der Abgängigkeitsanzeige meiner Urgroßmutter hatte die Polizei bei Greenpeace nachgefragt, ob man dort einen Kontakt zu den Aktivisten auf der Brent Spar herstellen konnte. Die Namen und Rufnummern aller Befragten waren vermerkt. Es gab offensichtlich nur dieses einzige Satellitentelefon, mit dem man das Greenpeace-Schiff erreichen konnte.

Tobias Brem, der Koordinator der Aktion, hatte ausgesagt, dass meine Eltern nie direkt auf der Plattform gewesen waren. Sie hatten lediglich an Bord geholfen, die zahlreichen Reporter und Journalisten auf dem Schiff zu betreuen, von denen fast alle seekrank waren. Ein Telefonat mit Erika war ebenfalls protokolliert. Sie wusste, wann genau meine Eltern die Altair verlassen hatten und wann sie zu Hause hätten ankommen sollen.

Ein gewisser Toby McCann, Kapitän des Lotsenkutters „Altair“, hatte zu Protokoll gegeben, dass er meine Eltern und eine Gruppe von Reportern sicher am 8. Juni um 11:30 Uhr in Stavanger abgesetzt hatte. Die Aussage eines deutschen Journalisten, den man ausfindig gemacht hatte, bestätigte das.

Im Hafen hätten sich ihre Wege getrennt. Der Reporter hatte einen Rückflug gebucht und ein Taxi zum Flughafen genommen. Er konnte lediglich bestätigen, dass sie mit ihm an Land gegangen waren.

Ein Computerausdruck einer Fährgesellschaft bestätigte den Check-in meiner Eltern auf einer Fähre, die Richtung Dänemark abgelegt hatte. Das war am 9. Juni gewesen.

Ich hatte das Gefühl zu frieren. Allerdings nicht auf der Haut, sondern in meinen Eingeweiden. Es fühlte sich an, als läge ein schwerer kalter Felsbrocken in meiner Magengegend.

Mir tränten die Augen vom konzentrierten Lesen der teilweise verschwommenen Kopien. Mit beiden Handflächen massierte ich mein Gesicht, als Jazy zu mir ins Arbeitszimmer kam. Sie begann sanft meine Schultern zu kneten.

Sie erfasste sofort, was ich tat und flüsterte: „Kommst du gut voran? Kann ich dir helfen?“

„Ein wenig Ablenkung würde mir, glaube ich, im Moment ganz gut tun.“

Sie warf einen nachdenklichen Blick auf meine Schlafzimmertüre. „Wir hatten noch nie Sex in deinem Bett ...“

Ihres war größer und lag näher am Badezimmer. Doch wo sie recht hatte, hatte sie recht. Ich stand auf und schnappte sie an der Taille. Sie quiekte auf, als ich sie hochhob und über meine Schulter warf.

 

Jazy schlief wie ein Engel in meinem Arm. Vorsichtig strich ich ihr eine Strähne ihres dicken gewellten Haares aus dem Gesicht. Ich war so unendlich glücklich. Und doch war da auch zur selben Zeit dieses Gefühl, in einem dunklen Sumpf zu versinken, das mich nicht mehr losließ. Es lag nicht nur am deprimierenden Weltgeschehen. Das Leben, wie ich es noch vor wenigen Wochen geführt hatte, erschien mir rückwirkend schal und verschwommen. Ich wollte um keinen Preis der Welt tauschen. Aber warum nur fühlte mein Leben sich gerade jetzt, in seinen glücklichen Momenten, so unbeständig an? Lag es an diesem Lebensdurst, der mich mit Jazy einfach überrollt hatte? Ich fühlte mich wie auf einer Achterbahn.

Meister Ming hatte mich neben Kung Fu auch die Tugenden des Achtfachen Pfades gelehrt und die vier Edlen Wahrheiten. Im Prinzip war ich aber nicht religiös. Zwar hatte mich mein Vater taufen lassen, weil man das halt in Österreich so machte. Meine Urli hatte im Stephansdom öfters eine Kerze angezündet, wenn wir dort vorbeigekommen waren, sonst konnte ich mich nicht erinnern, außerhalb der Schulzeiten jemals einen Gottesdienst besucht zu haben.

Der Buddhismus war mir von klein auf vertraut. Nicht nur wegen Meister Ming. Auch meine Großmutter hatte sich dafür interessiert und wir hatten oft asiatische Länder bereist. Ich hatte mich aber schon immer geweigert, das Leben als etwas zu betrachten, das nicht erstrebenswert war. Es hieße, allem Irdischen zu entsagen. Meister Ming war so ein Asket. Ich persönlich war eher eine Frohnatur und blieb lieber ans Rad der Wiedergeburt gebunden.

Ich war nicht wie Buddha, der das Leben als unendlich leidvoll angesehen hatte und es deshalb hatte überwinden wollen.

Im Gegenteil. Jazy war meine Eva. Das Paradies auf Erden lag für mich in ihren Armen. Verlangte so viel Glück einen Ausgleich? Quälte mich deshalb das Schicksal meiner Eltern gerade jetzt so sehr? Bisher war es mir gelungen, diesen Aspekt meines Lebens einfach auszublenden, doch mit dem Wissen, das ich inzwischen hatte, ging das nicht mehr. Das Notizbuch, das sie einfach aus dem Keller mitgenommen hatte, war unser Apfel. Das Paradies drohte über mir einzustürzen.

Meine Urli hätte mich sicher mit einem ihrer Lieblingssätze getröstet: „Manchmal ruckelt es ein bisschen, wenn das Leben in den nächsten Gang schaltet.“

Mit eisernem Willen hatte meine Mutter an ihren Idealen festgehalten. Und mein Vater hatte sie dabei unterstützt. Was, wenn ihr Verschwinden mit dem Projekt meiner Mutter zu tun gehabt hatte? Immer wieder war mir in den letzten Tagen dieser Gedanke gekommen. Jetzt hinderte er mich daran, einzuschlafen.

Verdammt! Vorsichtig zog ich meinen Arm unter Jazys Kopf hervor und ersetzte ihn durch ein Kissen. Der Futon war härter als ihr Bett und das Sofa bei ihren Eltern, doch es hatte sich nicht unangenehm angefühlt, sie darauf zu lieben. Was hatten wir doch für ein Glück, so bequeme Betten zu haben, in denen wir es tun konnten.

Schmunzelnd musste ich an die Stellen in den Aufzeichnungen meiner Mutter denken, wo sie beschrieben hatte, wie sehr mein Vater ihre Hängematte verflucht hatte, wenn er ihr hatte näherkommen wollen. Nicht selten hatten seine Bemühungen mit blauen Flecken geendet. Meine Mutter hatte es dennoch romantisch empfunden, sich mit ihm eine Hängematte zu teilen. Sie schrieb, sich dabei gefühlt zu haben, wie ein Schmetterling in seinem Kokon. Irgendwann wollte ich das mit Jazy auch ausprobieren.

Ich schlich leise in mein Arbeitszimmer und beendete den Energiesparmodus meines PCs. Sofort richtete sich meine Aufmerksamkeit auf das Protokoll, das nach wie vor geöffnet auf dem Bildschirm prangte und das mich veranlasst hatte, aus dem Bett zu kriechen. Wie magisch fühlte ich mich in die Geschichte hineingezogen, die hier so nüchtern und emotionslos dargestellt wurde.

Das letzte Telefonat meines Vaters mit meiner Uroma war minutiös erfasst worden. Danach hatte er einen Walter Gursch angerufen. Zwischen den Gesprächen lagen nur wenige Minuten.

Die Notizen zu diesem Anruf sagten aus, dass es sich um einen Mitarbeiter des Verlages gehandelt hatte, bei dem mein Vater den Bildband drucken lassen wollte. Der Mann hatte das Telefonat bestätigt und auch, dass er meinen Vater persönlich gekannt hatte. Sie hatten vereinbart, sich nach seiner Rückkehr zur Besprechung der letzten Formalitäten zu treffen. Dazu war es wohl nicht mehr gekommen. Das war der letzte ausgehende Anruf vom Handy meines Vaters gewesen.

Danach folgten noch zwei eingehende Anrufe einer österreichischen Mobilnummer. Diese war zuvor noch nie in den Telefonkontakten meines Vaters aufgeschienen. Sofort erregte dieser knappe Vermerk meine Aufmerksamkeit. Ich klickte auf das entsprechende Dokument, das sich im Anhang befand. Das Gerät, von dem die zwei Anrufe kamen, war als Firmenhandy einer Reinigungsfirma gemeldet gewesen.

Nanu? Meine Uroma hatte bis ins hohe Alter immer selbst ihre Wohnung geputzt. Meine Eltern hatten bei ihr gewohnt.

Das Protokoll ergab, dass das Handy zum fraglichen Zeitpunkt im Besitz einer Amina Begic gewesen war. Man hatte die Frau zu den beiden Anrufen befragt, doch es hatte sich herausgestellt, die Dame war nachweislich zum fraglichen Datum im Ausland gewesen. Auf Besuch bei ihren Großeltern in Bosnien. Sie hatte Busfahrkarten vorweisen können und Stempel in ihrem Reisepass, die das bestätigten.

Amina Begic war zweimal von der Polizei befragt worden. Beim ersten Mal hatte sie angegeben, sich nicht erklären zu können, wer in ihrer Abwesenheit mit dem Diensthandy telefoniert haben könnte. Bei der zweiten Befragung legte sie die oben erwähnten Beweismittel vor und sagte aus, das Telefon habe sich im Handschuhfach ihres Firmenwagens befunden, obwohl sie noch im ersten Protokoll angegeben hatte, es hätte in ihrer Wohnung gelegen.

Sie hätte sich erst im Nachhinein daran erinnert, und war zu aufgeregt gewesen, um den Fehler bei ihrer ersten Aussage zu bemerken. Nachweislich wurden daraufhin der Vorgesetzte der Frau und zwei Kolleginnen befragt. Alle drei hatten ausgesagt, weder das fragliche Fahrzeug noch das entsprechende Telefon benutzt zu haben.

Zwei Wochen nach diesen Befragungen hatte die Polizei Amina Begic noch einmal aufgesucht und sich erkundigt, ob ihr noch etwas zu den Telefonaten eingefallen wäre. Wieder hatte sie bedauert, sich die Anrufe selbst nicht erklären zu können.

Meine Finger verkrampften sich um meinen Trackball. Da stimmte doch ganz eindeutig etwas nicht! Verwirrt suchte ich nach weiteren Protokollen, die sich mit den beiden mysteriösen Anrufen befassten. Vergeblich.

Ich begann mir die Aufzeichnungen noch einmal von vorne durchzusehen. Der erste Anruf war am 8. Juni um 17:26 Uhr Ortszeit vom norwegischen Mobilfunknetz registriert worden und hatte fünf Minuten gedauert. Ein Versehen in der Rufnummer war deshalb auszuschließen. Der zweite Anruf war kürzer gewesen. Nicht ganz drei Minuten. Er kam am 10. Juni um 08:19 Uhr und wurde von einem deutschen Mobilfunknetz weitergeleitet. Den genauen Standort hatte man nicht rekonstruieren können. Der Anbieter hatte sich korrekt an die Datenschutzbedingungen gehalten.

Wer und weshalb hatte meine Eltern von diesem Handy aus kontaktiert? Es gab keine weiterführenden Ergebnisse.

Ich kreiste meine verspannten Schultern. Selbst nach stundenlangem Programmieren fühlte ich mich nie so steif. Ich ließ meinen Blick zur Uhrzeitangabe am rechten unteren Rand meines Bildschirms wandern. 02:16 Uhr. Himmelherrschaftszeiten noch einmal!

Ich fühlte mich total aufgekratzt. Wie sollte ich so nur ans Schlafengehen denken? Ich ging in die Küche und leerte eine Tasse Wasser in den Wasserkocher. Vielleicht hatte Jazy irgendeinen beruhigenden Kräutertee in ihrer Sammlung. Planlos stöberte ich durch die zahlreich gebunkerten Gläser im Vorratsschrank. Es war ein buntes Durcheinander an alten Marmeladengläsern in allen Größen. Die meisten Gläser waren mit selbst gesammelten Kräutern befüllt und unbeschriftet. Ich schnupperte an einigen, konnte allerdings die meisten nicht zuordnen. Endlich fand ich einen vertrauten Geruch. Kamille! Den hatte ich von meiner Urli bekommen, wenn ich krank gewesen war. Ob der beruhigend wirkte oder nicht - ich gab einen Löffel davon in einen Becher und füllte ihn mit dem kochenden Wasser auf. Dann ging ich ans Fenster und öffnete es. Vielleicht würde mir etwas Frischluft guttun.

Kalte Luft strömte mir entgegen. Der Himmel war stockdunkel. Nicht einmal den Mond konnte man sehen. Jazy hatte mir von dem klaren Sternenhimmel erzählt, den man bei ihr zu Hause sehen konnte, besonders, wenn man nachts auf den Berg fuhr. Die Sterne hier in Wien so klar zu sehen, war fast nicht möglich.

Straßenbeleuchtung verdrängte die Dunkelheit die ganze Nacht hindurch. Licht gab ein Gefühl von Sicherheit. Der Preis dafür war die Lichtverschmutzung. Ich dachte an einen Ausflug in die ägyptische Wüste, den ich als Kind einmal mit meiner Oma gemacht hatte. Die Sterne waren zum Greifen nahe gewesen und durch ein Fernrohr hatten wir sogar den Andromeda-Nebel beobachten können. Meine Oma hatte damals zu mir gesagt, dass meine Eltern dort oben bei den Sternen seien.

Wann hatte sie sich mit dem Gedanken abgefunden, dass ihr einziger Sohn nie mehr zurückkommen würde? Ich musste blinzeln und ein paar dicke Tränen kullerten dabei über meine Wangen.

Eigentlich gab es gar nicht einmal so viele Vermisste, wie man annehmen würde. Als ich noch zur Schule gegangen war, hatte ich das einmal gegoogelt. Die meisten tauchten innerhalb eines Tages, einer Woche oder zumindest eines Jahres wieder auf.

Spektakulär waren natürlich die 50.000 Vermissten, die 2004 der Tsunami im Indischen Ozean gefordert hatte. Fast alle diese Menschen waren inzwischen für tot erklärt worden. Genauso wie die 239 Vermissten auf dem Malaysia Airlines Flug MH370, der 2014 einfach von der Bildfläche verschwunden war, ohne einen Hinweis auf eine Absturzstelle oder -ursache.

Hier in Österreich blieb man für 30 Jahre in der Vermisstendatei. Da man aber nicht genau wusste, wo sich meine Eltern zuletzt aufgehalten hatten, wurde nach ihnen auch in Norwegen, Dänemark und Deutschland gesucht.

Fröstelnd schloss ich das Fenster und seihte meinen Tee ab. Goss ihn ein paar Mal von einem Becher in einen anderen, um ihn schneller abzukühlen, und verwöhnte dann Filou, der gekommen war, um nachzusehen, wer da mitten in der Nacht in der Wohnung herumgeisterte, mit Leckerlis.

 

Noch immer nicht wirklich müde kroch ich vorsichtig zurück ins Bett. Jazy regte sich ein wenig.

„Hab dich schon vermisst!“, murmelte sie schlaftrunken.

Ich kuschelte mich an sie.

„Du bist ganz kalt!“

Mich fröstelte es auch noch immer. Innerlich.

„Hoffentlich wirst du nicht krank!“

„Nein. Ich bin einfach nur aufgekratzt. Schlaf weiter.“

Ich hatte nicht viel Erfahrung mit Frauen, aber ich hatte schon davon gehört, dass sie immer gerne das Gegenteil davon taten, was man ihnen befahl. So reagierte auch Jazy. Sie griff zur Leselampe über meinem Bett und knipste sie an.

Ich schüttelte tadelnd den Kopf.

„Lass uns reden.“

„Das können wir auch morgen noch.“

„Du kannst aber jetzt nicht schlafen.“

Da hatte sie auch wieder recht. Sie stützte sich auf einen Ellbogen und sah mich forschend an.

Ich seufzte. „Ich hatte mich eigentlich längst damit abgefunden, dass meinen Eltern etwas Schlimmes zugestoßen sein muss. Ein Raubüberfall war zwar unwahrscheinlich, sie waren beide Studenten und hatten kaum Bargeld bei sich Ein tragischer Unfall vielleicht.“ Ich musste nachdenken. Wie sollte ich ihr nur erklären, was in all den Jahren in mir vorgegangen war? „Wenn du mit so einer Geschichte aufwächst, akzeptierst du irgendwann, was dir gesagt wird und dass du ohnehin nichts mehr ändern kannst.“ Ich musste krampfhaft die wieder hochkriechenden Gefühle hinunterschlucken.

Jazy streichelte sanft mit der Rückseite ihrer Finger über meine Schläfe.

„Es gibt Ungereimtheiten.“ Ich erzählte ihr von den beiden mysteriösen Anrufen.

„Kein Wunder, dass du so aufgekratzt bist! Hat die Polizei bei dieser Frau eine Hausdurchsuchung gemacht?“
„Nein. Davon stand nichts im Protokoll. So einfach ist das auch nicht. Es muss zumindest ein Verdacht bestehen. Und es gibt immerhin offiziell keine Opfer. Außerdem war diese Frau nicht einmal im Land, als die Anrufe gemacht wurden.“

„Aber vielleicht hat sie etwas verschwiegen?“

Ich starrte mutlos die Decke an. „Das ist jetzt zweiundzwanzig Jahre her.“

„Wenn diese Frau in irgendeiner Art und Weise etwas mit dem Verschwinden deiner Eltern zu tun hatte, dann hat sie es nicht vergessen. So etwas vergisst man nicht.“ Jazy fasste meine Wange an und zwang mich, ihr in die Augen zu sehen. „Wir könnten doch diese Nummer anrufen, die du von Ben bekommen hast. Vielleicht kann Bens Kontaktmann bei der Archivstelle der Polizei uns sagen, wo diese Frau jetzt wohnt oder uns ihre Handynummer verraten?“

Ich spitzte zustimmend die Lippen. „Einen Versuch wäre es wert.“ Das Gespräch tat mir gut und nahm mir ein wenig die Anspannung. „Wir sollten jetzt schlafen“ Ich vergrub mein Gesicht in Jazys Halsbeuge und langte mit einer Hand zum Lichtschalter.

 

 

Jazy - Das verdächtige Opfer

 

 

Ungewohnte Helligkeit weckte mich, bevor mein Handywecker gedachte, seiner Aufgabe nachzukommen. Meine Lungen gierten nach einem tiefen Atemzug und meine Kiefermuskeln wollten einfach nur ausgiebig gähnen. Wir hatten vergessen, die Jalousien in Ches Schlafzimmer zu schließen. Er schlief tief und fest, obwohl sein Gesicht dem Fenster zugewandt war. Hinter ihm stand eine aufgestellte schwarz lackierte Holzkiste, die er als Nachttisch verwendete. Auf einem eingezogenen Brett lag ein Buch. „Know yourself – Die Geheimnisse meines Erfolges“ von Bruce Lee. Es wirkte neu.

Mein Blick wanderte weiter, zu dem Hochzeitsfoto von Ches Eltern, das in einem goldenen Rahmen auf der Kiste stand. Sie sahen nett aus. Schade, dass ich sie nie kennenlernen würde. Schade, dass Che sie nie richtig kennengelernt hatte.

Ches Vater trug einen sommerlichen blauen Anzug mit dunkelblauer Fliege. Er war blond und man konnte am Foto erkennen, dass er sein Haar normalerweise nicht so ordentlich zurückgegelt trug. Dafür wirkte es zu widerspenstig. Auch sein Dreitagesbart ließ ihn als eher legeren Typ erscheinen. Zwischen seinen Schneidezähnen befand sich eine kleine Lücke. Wie bei einem Suchbild versuchte ich, eine Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem schlafenden Sohn auszumachen. Eigentlich verband sie nur die Farbe der Augen. Und der Schalk, der darin aufblitzte. Vielleicht noch die Sommersprossen, die sich bei seinem Vater aber dezent im gesamten Gesicht verteilten. Ich liebte diese Sommersprossen an Che.

Als Kind hatte ich es geliebt, Bilder zu malen, die erst sichtbar wurden, wenn man Punkte mit Linien verband. Die Reihenfolge ergab sich aus Zahlen, die daneben standen. Wunderschöne Geschichten entstanden dabei aus einem scheinbaren Wirrwarr vieler Tupfen. Jetzt versuchte ich zu erraten, was die Pünktchen darstellen sollten. Sie verteilten sich unregelmäßig über Ches flache, breite Nase. Er hatte sie eindeutig von seiner Mutter geerbt. Sie zogen sich über die Oberseite seiner kantigen Wangen bis zu den äußeren Augenwinkeln. Ein paar verstreute Sprenkel fanden sich zwischen den Augenbrauen und am Kinn. Auch inmitten seines mickrigen Oberlippenbartes und den sinnlich geschwungenen Lippen blitzten ein paar von den dunklen Klecksen hervor.

Ches Mutter trug ein weißes sommerliches Umstandsbrautkleid im Hippie-Style. Meine Mutter würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Aber die junge Frau auf dem Foto hielt einen bunten Blumenstrauß und lächelte glücklich in die Kamera. Eine Hand ihres Bräutigams lag gemeinsam mit ihren auf dem dicken Bauch. Ihr Scheitel, den auf dem Foto ein süßer Spitzenschleier zierte, endete in Höhe der Schultern von Ches Vater.

Wahrscheinlich würde gleich einer unserer Wecker losgehen. Wir hatten heute beide Online-Kurse im Terminkalender vermerkt. Schade eigentlich. Obwohl Che zu scheu gewesen war, den Anfang in unserer Beziehung zu machen, harmonierten wir auf körperlicher Ebene perfekt miteinander. Er war empfänglich für alle meine phantasievollen Anregungen und ich bekam alles von ihm, was ich mir wünschte. Und ich konnte einfach nicht genug von ihm bekommen!

Eine ernste Linie zog sich senkrecht über seine Nasenwurzel. Sicher ließ ihn die Anspannung, wegen der Nachforschungen nach seinen Eltern, nicht einmal im Schlaf los. Der Arme!

Es war so weit. Mein Alarm ging los. Dezentes Meeresrauschen und leises Krächzen von Möwen breiteten sich im Raum aus. Ich gähnte noch einmal ausgiebig und begann mich zu strecken. Dann drehte ich mich um und wollte den Alarm abstellen. Zwei starke Arme umfingen meine Hüfte und hielten mich zurück.

„Che! Wir haben heute Kurse!“

Er antwortete nichts. Vielleicht war er noch gar nicht richtig wach? Ich drehte mich wieder zu ihm um. Seine Augen waren noch immer geschlossen, aber an einem kleinen Grübchen an der Seite seines Mundes erkannte ich, dass er mich neckte.

„Ich weiß, dass du wach bist!“

Er seufzte ertappt auf und öffnete die Augen. Schelmisch blitzten sie mich an.

„Oh, wie soll ich da widerstehen, wenn du mich so ansiehst?“ Ich rollte mich über ihn und drückte mich gegen seinen Körper. Das Meeresrauschen wurde schön langsam zu einem Meeresgetöse. Seine Hände kneteten sanft meinen Po. Die Möwen schrien anklagend.

„Die setzen mich ganz schön unter Druck!“ Er sprach von den Möwen. Dass er unter Druck stand, konnte ich auch so fühlen. Wir hatten bisher noch nie einen Quickie gehabt, doch offensichtlich war es genau das, woran wir beide gerade dachten.

„Wir müssen schnell machen!“

„Mhm.“

„Irgendeinen Plan?“ Ich sah in sein Gesicht.

Er leckte kurz über seine Lippen. „So wie auf der Turnmatte ...?“ Mit den Augen bedeutete er mir, von ihm runter zurollen und der Klaps, der mein Gesäß kurz durchschüttelte, unterstrich diese Aufforderung.

Oh ja! Ich wusste sofort, wovon er redete.

 

Gestern hatte Che kurz bei Frau Sedlacek geläutet und Bescheid gegeben, dass wir zurück waren. Freudig hatte sie angeboten, heute Mittag Erdäpfelnudeln mit Rahm zu kochen. Eine seiner Lieblingsspeisen.

Vor ein paar Minuten hatte sie an der Wohnungstür geklopft und mir schnaufend zwei Schüsseln in die Hand gedrückt. Che saß noch an einem Webinar. Ich hatte ihr angesehen, dass sie sich gerne unterhalten würde, wo sie sich schon einen ganzen Stockwerk zu uns heraufgekämpft hatte.

„Schöne Grüße von meiner Mama soll ich Ihnen ausrichten!“ Ich sprach extra laut und nach der Schrift, wie ich es bei Che beobachtet hatte, musste den Satz aber trotzdem wiederholen, weil sie mich ansah, als hätte ich chinesisch gesprochen. Sie starrte auf meinen Mund, als würde sie Lippenlesen beherrschen. Ohne den kleinsten Hinweis, ob meine Botschaft angekommen war, begann sie zu erzählen, dass sie und die anderen älteren Nachbarn inzwischen alle legalen Möglichkeiten ausschöpften, sich zum Tratschen auf der Straße zu treffen. Heimlich kam jetzt auch wieder regelmäßig der 90-jährige Herr Hubert aus dem Nachbarhaus zu ihr, um mit ihr Karten zu spielen. „Er sagt, er hat seit Mitte März nicht mehr gehustet! Und seine Katzen schauen ihn schon so vorwurfsvoll an, weil er dauernd in der Wohnung herumtigert. Ich will eh keine Patiencen mehr legen! Irgendwann reicht die Geduld halt doch nicht mehr. Mensch ärgere Dich nicht will der Hubert jetzt ständig spielen! Ich habe erst den Staub vom Karton abwischen müssen. Er hat sich neue Regeln ausgedacht. Wegen Corona darf man den Gegner nicht mehr schmeißen, es gilt ja der Mindestabstand. Jeder muss sich freiwillig auf schnellstem Weg in die Quarantäne befördern und mindestens ein Feld muss zwischen den Spielsteinen frei bleiben. Sonst steckt man sich an und dann heißt es natürlich auch zurück zum Start“, erklärte sie mir die neuen Spielregeln. „Wir alten Leute, sterben ja noch an Verzweiflung, wenn wir nicht mehr raus dürfen. Da könnt ich ja gleich ins Heim gehen! Wo soll denn in so einer Situation der Lebenswille herkommen?“ Frau Sedlacek schüttelte bedauernd den Kopf. „Ihr Jungen habt es gut! Ihr habt ja euer Leben noch vor euch! So. Jetzt lasst es euch schmecken, bevor es kalt wird.“

Na, ob Mensch ärgere Dich nicht das richtige Spiel für zwei schwermütige, unausgelastete Senioren war? Ich nickte der alten Frau noch einmal dankend zu und hob die beiden warmen Schüsseln hoch. Mit der Ferse schloss ich die Wohnungstür. Che konnte viel besser mit der alten Frau umgehen. Mit ihm plauderte sie oft eine Stunde.

Che war endlich fertig mit seinem Online-Seminar. Wir setzten uns in meinem Wohnzimmer an den Esstisch. Wir hatten seit dem Aufstehen noch nicht viel miteinander geredet.

„Hast du schon diesen Archivar angerufen?“

„Noch nicht.“ Seine Stimme wirkte unsicher, als ob er plötzlich Zweifel an unserer Idee von letzter Nacht hatte.

„Soll ich?“

„Nein. Wenn, dann rufe ich dort an und wecke selbst allfällige schlafende Hunde.“ Ches Stirn kräuselte sich in alle Richtungen.

„Hast du heute noch Termine?“, wechselte ich das Thema.

„Nein. Du?“

Ich schüttelte den Kopf. Eigentlich hatte mich die Aufregung gepackt. Ich konnte es fast nicht erwarten, dass Che sich nach dieser bosnischen Putzfrau erkundigte.

Das Essen schmeckte hervorragend, doch ich hatte den Verdacht, Che konnte es gerade genauso wenig wie ich  genießen.

Ich schob ihm auffordernd mein Handy hinüber. Er richtete den Blick darauf, dann schaute er mich an.

„Ist die Nummer noch abgespeichert?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Müsste im Protokoll stehen.“

Er legte langsam das Besteck zur Seite. Ich rutschte auf meinem Sessel nach vorne. Noch langsamer griff er nach meinem Telefon. Ich rutschte wieder nach hinten. Den Blick, den er mir nun zuwarf, konnte ich nur so interpretieren: Wissen wir, worauf wir uns einlassen? Ich rutschte zustimmend wieder nach vorne. Seine Augenbrauen bildeten ein strenges V. Aus halb gesenkten Lidern sah er mich ein letztes Mal fragend an. Ich nickte einmal mit zusammengepressten Lippen. Sah ihm dabei zu, wie er endlich nach der Nummer suchte, die ich im Zug von dem Notizzettel abgetippt hatte, bevor er mir das Handy aus der Hand gerissen hatte. Vor Spannung atmete ich nur flach. Meine Lippen waren noch immer zusammengepresst. Er hielt sich das Ding ans Ohr und lauschte. Dabei starrte er seinen halbvollen Teller an.

Er hob den Kopf. Sah mich an, als würde er mit mir sprechen.
„Grüß Gott, mein Name ist Oliver Moser. Ich habe Ihre Nummer von Herrn Adler.“

Ich konnte nicht hören, was am anderen Ende der Leitung gesprochen wurde. Verdammt! Er hätte auf Lautsprecher stellen sollen!

„Ja. Danke. Ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht noch mehr über diese Frau Begic herausgefunden haben? Wohnt sie noch in Wien? Haben Sie eventuell eine aktuelle Nummer oder Adresse von ihr?“

Er machte das gar nicht so schlecht. Er lauschte wieder.

„Okay. Danke! Wiedersehen.“

Was? Warum legte er auf? Ich starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Er legte das Handy zur Seite und griff wieder nach seinem Besteck.

„Er ruft zurück“, sagte Che.

Ach so. Schweigend widmeten wir uns wieder Frau Sedlaceks Kochkünsten und ließen dabei das Mobiltelefon auf dem Tisch nicht aus den Augen.

 

Der Rückruf ließ auf sich warten. Ich hatte die leeren Teller und die Schüsseln in den Geschirrspüler geräumt. Che kniete vor einem Karton, den er neben dem Klavierflügel abgestellt hatte.

„Was hast du da?“

„Das sind die Fotos meines Vaters.“

Er hatte mir davon erzählt. Neugierig hockte ich mich neben ihn. Er schien etwas zu suchen. Ich griff ebenfalls nach einem Packen Fotos.

„Da! Das wollte ich dir zeigen!“ Er hielt mir ein Bild von seiner Mutter mit einem winzigen Äffchen auf der Schulter hin.

„Ohh! Du hättest mir nicht sagen dürfen, was mit ihm passiert ist!“

„Hm.“ Seine Mundwinkel zeigten bedauernd nach unten. „War aber süß, oder?“

„Voll! Du solltest es vergrößern und irgendwo aufhängen.“
Ich gab es ihm zurück und sah mir die Fotos in meiner Hand weiter an. „Schau einmal! Was ist das?“

Er griff nach der Aufnahme, die ich ihm hinhielt. „Wow! Das ist mir noch gar nicht aufgefallen. Das muss einer der fliegenden Drachen sein, von denen meine Mutter in ihrem Tagebuch geschrieben hat.“

„Ja. Aber was ist das?“

„Es gibt riesige Höhlen auf Borneo, in denen massenhaft Fledermäuse leben. Mutter hat einmal darüber geschrieben, dass sie mit Vater dort gewesen sei. Sie heißen glaube ich Bulldog-Fledermäuse oder so ähnlich. Kurz vor Dämmerung verlassen sie die Höhlen. Millionen von ihnen schwirren in Schwärmen davon. Sie fliegen so dicht, dass es aussieht wie eine fliegende, sich schlängelnde Schlange!“

„Schau, es gibt noch mehr Aufnahmen davon. Geil. Hoffentlich gehen bald wieder Flüge nach Asien. Das möchte ich gerne einmal live sehen.“ Ich hob den Kopf. „Che? Willst du nicht vielleicht doch versuchen deine Großeltern in Malaysia kennenzulernen? Die würden sich doch sicher freuen, etwas von dir zu hören.“

Er besah schweigend die Fotos in seinen Händen. Nachdenklich stimmte er mir zu: „Vielleicht hast du recht.“

Ich fuhr ihm mit der Hand aufmunternd den Rücken runter. „Toll! Dann können wir bei ihnen wohnen, wenn wir uns das Land ansehen?“

„Dir geht es ja nur um dich. Nicht um sie. Du willst Geld sparen!“, neckte er mich und gab mir einen Schmatz. „Die wohnen aber nicht auf Borneo. Das wird ein Abenteuer-Urlaub. Da müssen wir in Hängematten schlafen!“ Er schaute geheimnisvoll.

„Das macht mir keine Angst.“

„Sex in Hängematten soll aber nicht ganz ungefährlich sein.“

„Oh, das meinst du! Lass das nur meine Sorge sein. Wir Yoginis können uns notfalls ganz schön verbiegen.“ Ich hob bedeutungsschwer die Brauen und brachte ihn damit zum Lachen.

Weil der ersehnte Anruf noch immer auf sich warten ließ, sahen wir weitere Fotos an. „Dein Vater hat wirklich traumhafte Aufnahmen gemacht.“

„Meine Mutter hat sich eh dauernd beschwert, weil er immer so viel schwere Fotoausrüstung mit sich herumgeschleppt hat.“

„Na, dafür hat er sicher ein Mega-Teleskop gebraucht.“ Ich zeigte ihm ein Foto mit dem furchteinflößenden Gebiss eines Krokodils in Nahaufnahme.

„Ach, das! Sicher ein Siamkrokodil. Die sind nicht aggressiv.“

Woher wollte er das schon wieder wissen? „Ja? Dann wissen wir schon einmal, wer von uns dort drüben vorausgehen wird.“

Mein Telefon spielte Dance Monkey. Das war mein aktueller Klingelton. Erwartungsvoll sahen wir uns an.

„Los! Ist sicher für dich“, jagte ich ihn hoch. Ich folgte ihm auf den Fuß.

Er warf einen Blick auf die Nummer. Dann meldete er sich. „Moser?“

Ich bedeutete ihm, den Lautsprecher einzuschalten.

„Moment!“ Er kam meiner Bitte nach.

Ich setzte mich vor ihn auf den Tisch und lauschte der männlichen Stimme, die aus dem Lautsprecher kam.

„Ich habe den Namen noch einmal durch den Computer laufen lassen. Von Frau Begic gibt es wirklich eine weitere Akte.“ Che zupfte aufgeregt an seinem Bart. Ich verknotete meine Finger, da ich nichts fand, woran ich zupfen konnte. „Sie wurde das Opfer eines Gewalttäters. Das war aber 2003. Also etliche Jahre nach dem Vorfall mit Ihren Eltern.“

Ches Stimme klang rau. „Soll das heißen, sie ist tot?“

„Nein, nein! Es kam zwar zu einer Verurteilung wegen versuchten Mordes, aber Frau Begic hat den Angriff überlebt.“

„Das heißt, Sie haben Ihre Adresse?“

„Ich habe eine Telefonnummer, aber keine Ahnung, ob die noch stimmt. Wollen Sie mitschreiben?“ Ich flitzte zu unserer Bestecklade, in der sich immer ein paar Kulis fanden.

„Ja bitte“, hörte ich Che sagen.

Der Mann gab die Nummer durch. „Ich kann Ihnen, wenn Sie möchten, die Kopie dieses Aktes schicken.“

„Wirklich? Ja bitte!“

„Keine Ursache! Sie haben ein gutes Recht darauf, die Akte einzusehen. Wir verkürzen nur das ganze bürokratische Drumherum ein wenig.“

Che gab seine Mailadresse durch. „Darf ich mich noch einmal melden, falls ich auf etwas stoße?“, fragte er vorsichtig.

„Solange es alte archivierte Fälle betrifft, kann ich helfen. Sonst leider nicht. Aber da können Sie sich ja wieder an Herrn Adler wenden.“

Ich wusste, Bens Name hatte schon bei ganz anderen Problemen geholfen. Deshalb war ich wenig erstaunt, ihn das sagen zu hören.

„Danke noch einmal“, sagte Che. „Wiedersehen.“

„Wiederhören!“, verbesserte ich ihn grinsend, nachdem er aufgelegt hatte.

Er kratzte sich verwirrt den Kopf und sah mich verständnislos an. „Na, du hast den Typ ja noch nie gesehen.“

Er war mit den Gedanken schon an seinem PC. Das konnte ich ihm ansehen. Ich folgte ihm in sein Arbeitszimmer, wo er den Computer anwarf. Die Kopie der Polizeiakte befand sich im Anhang der letzten Mail.

„Ah!“ Ich verzog betroffen den Mund, als Che das erste PDF öffnete. Es zeigte Fotos einer schwer misshandelten Frau. Lippe und eine Augenbraue waren aufgeplatzt. Ein Auge komplett zugeschwollen. Zwei weitere Fotos zeigten einen bereits verarzteten Messerstich in der Rippengegend und stark zerschnittene verarztete Handflächen, die sie sich wohl durch Abwehr der Waffe zugezogen hatte. Die Frau selbst hatte langes braunes Haar. Das eine Auge, das offen war, war blau.

Ich setzte mich auf Ches Schoß, um den folgenden Bericht gleichzeitig mit ihm durchzulesen.

Zeugenaussage von A. Begic zum Vorfall vom 18.12.2003, Einsatz Bürgergasse 4/3 um 21.30 Uhr:

Die Zeugin gibt an, von ihrem Lebensgefährten und Vater der gemeinsamen Tochter im Zuge eines Streites heftig geschlagen worden zu sein. Der Täter, Rolf Maurer, hatte zuvor eine größere Menge Alkohol konsumiert. Bevor es zu einer Vergewaltigung vor den Augen des Kleinkindes gekommen wäre, hat das Opfer versucht, sich mit einem Küchenmesser zur Wehr zu setzen. Dieses hat ihr der Täter entwendet und gegen sie eingesetzt. Der Täter hat daraufhin den Notruf der Rettung gewählt. Eine Erste-Hilfe-Leistung hat er unterlassen. Nach besagtem Anruf hat er die gemeinsame Wohnung verlassen und ist seither untergetaucht. Frau Begic hat im Krankenhaus eine Strafanzeige wegen Körperverletzung unterschrieben, diese jedoch zurückgezogen, als ihr gesagt wurde, dass dem Täter ein versuchtes Tötungsdelikt, mit einem Strafrahmen von 5 – 10 Jahren, vorgeworfen wird.

Es folgten Schilderungen der alarmierten Polizeibeamten, die Frau Begic erstversorgt hatten, und des behandelnden Notarztes. Der Arzt bezeichnete die Verletzung als lebensbedrohlich, da ein Teil der Lunge bei dem Messerstich verletzt worden war.

„Das ist unglaublich! Der Kerl bringt sie fast um und sie nimmt die Anzeige zurück!“ Che ignorierte meine Worte und zeigte auf den nächsten Anhang.
„Schau! Da kommt noch was!“

Es folgte ein weiterer Bericht. Er besagte, dass Frau Begic nach einem Beratungsgespräch mit der Interventionsstelle im Krankenhaus angeboten wurde, mit ihrer Tochter in ein Frauenhaus zu ziehen, bis der Täter gefasst sei. Sie hatte daraufhin die Anzeige auf schwere Körperverletzung doch unterschrieben. Dieser Rolf Maurer wurde eine Woche später verhaftet, als er versuchte, die versiegelte Wohnung zu betreten. Nachbarn hatten die Polizei informiert.

„Gibt es noch mehr?“

Che schüttelte den Kopf. „Das war alles.“

„Das bringt uns nicht weiter, oder?“ Ich schlug enttäuscht meine geballten Fäuste auf meine Oberschenkel. „Warte! Steht irgendwo das Alter des Kindes?“

Che öffnete noch einmal den Teil, wo die Gewalt-Interventionsstelle für die Unterbringung von Frau Begic in dem Frauenhaus gesorgt hatte.

„Hier! Da steht, dass die Tochter vier Jahre war.“

„Also muss sie 1999 geboren sein“, sagten wir gleichzeitig und sahen uns an. Ches Eltern waren ein Jahr zuvor verschwunden.

„Sie war womöglich damals schon mit diesem Rolf Maurer zusammen“, sprach ich aus, was uns wahrscheinlich beiden gerade durch den Kopf ging. In dem Bericht über seine Eltern hatte Amina Begic angegeben, alleine zu wohnen.

„Frag noch einmal nach, ob es über diesen Rolf Maurer weitere Informationen gibt!“

Che antwortete mit fahrigen Bewegungen auf das E-Mail aus dem Polizeiarchiv. Ich gab ihm einen Kuss auf die Schläfe. Wahrscheinlich war ich aber selbst zu aufgeregt, um ihn damit zu beruhigen.

Die Antwort ließ auf sich warten. Nach einer Weile schlug ich vor, Amina Begic im Wiener Telefonbuch zu googeln. Wir fanden keinen Eintrag. Vielleicht war sie weggezogen, oder hatte geheiratet und hieß jetzt anders. Wir hatten noch die alte Nummer aus der Polizeiakte. Che zögerte aber sie anzurufen.

„Lass uns warten, bis wir eine Antwort wegen dieses Rolf Maurer erhalten. Ich weiß ja gar nicht, was ich sie sonst fragen soll.“

„Du könntest sie fragen, ob er mit ihrem Telefon deinen Vater angerufen hat.“
Er sah mich an. Ich konnte in seinen Augen lesen, dass er das gleiche dachte wie ich.

„Worauf wartest du?“

„Jazy. Lass uns nichts überstürzen! Vielleicht sollten wir erst der Polizei unseren Verdacht mitteilen und die sollen sie noch einmal dazu befragen.“ Er schubste mich von seinem Schoß stand auf, und holte sich ein Glas aus der Küche. „Diese Frau Begic wird ihn doch nach dem, was er ihr angetan hat, doch nie und nimmer länger decken, oder?“

Ich eilte ihm nach.

„Das ist jetzt so lange her. Ob wir sie heute oder morgen anrufen, macht doch keinen Unterschied!“

„Doch. Wenn du nicht willst, dass ich verrückt werde!“

Er verzog die Mundwinkel zu einem schwachen Lächeln. „Ich glaube, du machst zu wenig Yoga. Das soll sich doch ausgleichend auf Körper und Geist auswirken.“

„Wir könnten zu dieser Adresse fahren! Vielleich wohnt sie noch dort?“

„Wir haben Lockdown. Was, wenn uns jemand fragt, was wir dort tun?“

„Spazierengehen?“

„Wenn sie dort wohnt, läutest du gleich bei ihr an. Ich kenn dich doch.“

„Na und?“

Er ging zurück zu dem Karton mit den Fotos.

„Wie kannst du nur so ruhig bleiben?“

„Ich versuche mich auch nur abzulenken, bis eine Antwort auf mein letztes Mail kommt. Du bist da keine Hilfe.“

Ich kniete mich hinter ihn und vergrub mein Gesicht in seiner Halsbeuge. „Sorry.“ Ich dachte laut nach: „Wir könnten eine Runde Laufen gehen?“

Che legte ein Foto mit einer exotischen Pflanze zur Seite. „Okay! Aber nicht in den Zehnten.“

Mist! Er erriet immer sofort, was ich vorhatte.

„Kein Wunder, dass sich deine Eltern ständig Sorgen um dich machen. Du bist wirklich viel zu impulsiv.“ Er drehte sich um, packte mich und schubste mich spielerisch nieder. „Ich sollte dich wo festbinden.“ Er drückte meine Handgelenke auf den Boden. „Haben wir noch irgendwo die Handschellen herumliegen?“

„Ich würd´ das ganze Haus zusammenschreien. Sogar Frau Sedlacek würde mich hören!“

„Aber nicht, wenn ich das mache.“ Er küsste mich. Nach einer Weile ließ er meine Handgelenke los.

 

Che hatte meinen Vorschlag laufen zu gehen aufgegriffen und wir waren eine Stunde an der frischen Luft gewesen. Es hatte geholfen. Die körperliche Bewegung hatte mich etwas heruntergeholt. Ich ging sogar seelenruhig duschen, na ja, während Che seine E-Mails checkte. Kaum abgetrocknet hockte ich ihm wieder auf der Pelle.
„Und?,“ fragte ich.

„Er hat wegen Mordversuch fünf Jahre im Gefängnis gesessen.“

„Nur fünf Jahre?“

„Es konnte ihm kein Vorsatz nachgewiesen werden. Es wäre sogar noch weniger gewesen, wenn er nicht das Opfer ohne Hilfeleistung zurückgelassen hätte.“

„Und weiter? Gibt es eine Adresse? Hat er sonst noch etwas verbrochen?“

„Im Archiv haben sie nichts mehr gefunden.“

Ich holte mein Handy.

„Was machst du?“ Che sah mich skeptisch an.

„Ich schreibe Ben. Vielleicht kann er etwas über diesen Rolf Maurer herausfinden.“
Er hielt mich nicht auf. Als ich das Telefon zurück in die Küche bringen wollte, fiel mir etwas ein.

„Wie heißt die Tochter von der Begic?“

„Sofia. Warum?“„Vielleicht ist die auf Insta? Oder Facebook? Dann würden wir wenigstens wissen, ob sie noch in Wien leben.“ Ich durchforstete das Internet. Nichts. „Vielleicht verwendet sie einen anderen Namen.“

„Ich rufe jetzt diese Frau Begic unter ihrer alten Nummer an“, sagte Che überraschenderweise.

Das kam unerwartet.

„Du gibst ja vorher eh keine Ruh´.“ Er klang gequält. Die steile Falte stand wieder auf seiner Stirn.

Ich beobachtete ihn, wie er die Nummer aus der E-Mail abtippte und bekam mit einem Mal ein ganz schlechtes Gefühl in der Sache. Was hatte ich getan? Ich hatte das Tagebuch seiner Mutter ungefragt aus dem Keller mitgenommen. Er hatte mit der Sache längst abgeschlossen gehabt. Er hatte sich geändert, seit er sich mit diesem alten Fall beschäftigte. Er wirkte nervös. Konnte nicht schlafen. Was hatte ich da bloß angestellt? Schon wollte ich zu ihm hingehen und ihm das Telefon aus der Hand nehmen, da hörte ich eine weibliche Stimme. Er hatte das Handy auf laut gestellt.

„Ja? Hallo?“

„Guten Tag. Bin ich richtig? Frau Begic?“

„Ja. Wer spricht da?“

Er sah mich kurz fragend an, entschloss sich aber, umgehend zu antworten. „Mein Name ist Oliver Moser. Ich habe Ihre Nummer aus einem alten Polizeibericht. Meine Eltern sind vor zweiundzwanzig Jahren verschwunden. Vielleicht erinnern Sie sich? Die Polizei hat Sie damals mehrmals vernommen.“

Stille.

Che wartete einen Moment ab. „Frau Begic?“

Wieder kam keine Antwort.

„Hallo? Frau Begic?“ Er sah auf das Display. „Aufgelegt!“ Er klang erstaunt.

„Vielleicht ist ihr das Handy aus der Hand gefallen. Probier es noch einmal.“

Che kaute an seiner Unterlippe. Dann tippte er noch einmal, um die Verbindung erneut aufzubauen. Wir hörten das Besetztzeichen.

„Sie hat mich weggedrückt!“ Staunend sah er mich an. Die überraschende Erkenntnis spiegelte sich auf seinem Gesicht. Meine innere Unruhe verstärkte sich. Während ich mir noch dachte: ‚Jazy, jetzt hältst du besser deinen Mund‘, hörte ich mich schon sagen: „Soll ich von meinem Handy aus anrufen?“

Was tat ich da? Die Frau hatte ganz offensichtlich etwas zu verbergen. Warum sonst sollte sie so  reagieren?

Che zuckte mit den Schultern. Sicher war er zur selben Einsicht gekommen wie ich. Er war doch immer der Vernünftigere von uns beiden. Warum zuckte er da nur mit den Schultern? Ich wartete ein paar Sekunden, doch er sah mich bloß neugierig an.

Trotz meiner verwirrenden Vorahnung griff ich zu meinem Handy und ging zu seinem Bildschirm, auf dem ich die Nummer ablesen konnte. Vielleicht war ihr Akku aus? Ich tippte die Nummer ein.

„Ja?“ Die Stimme klang unwirsch. Wütend.

Ich hielt mich nicht mit irgendwelchen Floskeln auf und antwortete im selben Tonfall: „Hören Sie, wir können auch mit der Polizei zu Ihnen kommen. Wäre Ihnen das lieber? Mein Freund will Ihnen nur ein paar Fragen stellen.“

„Rufen Sie mich nicht mehr an! Sonst zeige ich Sie an!“

Wieder erklang das Besetztzeichen. Was? Sie wollte uns anzeigen?

„Ist die Alte jetzt komplett durchgedreht?“ Meine Gedanken spielten verrückt.

„Du warst nicht gerade freundlich“, warf mir Che vor.

„Die hat sich ja sicher denken können, dass wir das noch einmal sind. Nur mit einer anderen Nummer.“

„Na, jetzt brauchen wir es zumindest nicht noch einmal probieren.“ Che sah mich mit gespitzten Lippen an.

„Und wenn wir doch hinfahren?“

„So, wie die drauf ist, zeigt die uns wirklich bei der Polizei an.“ Er schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Wir müssen uns was anderes einfallen lassen.“

Ich ging zu ihm. Irgendwie war ich erleichtert, dass es jetzt vorbei war. Ich legte ihm die Arme um den Hals. „Es war eine bescheuerte Idee. Das Alles! Es tut mir leid.“

Er sagte nichts. Ich spürte aber an seiner Haltung, dass er angespannt war.

„Verdammt!“, fluchte ich - und meinte es mit jeder Faser meines Herzens.

 

 

 

Che - Kommt Zeit, kommt Rat

 

 

 

Was hätte es für einen Sinn gemacht, noch länger drum herum zu eiern? Ich hatte den Weg mitten durch gewählt - und das Problem war auf einmal größer als zuvor. Genaugenommen war es ein Desaster. Ich verlor mich in Jazys rehbraunen Augen. Sie musste nichts sagen. Ihr verschwommener Blick sprach direkt zu meinem Herzen. Ich nahm einen Zipfel meines T-Shirts, um ihr die Tränen von den Wangen zu wischen.

„Ja. Ist halt jetzt so. Noch einmal brauchen wir jedenfalls nicht anrufen“, sagte ich. Die Nachforschungen zum Schicksal meiner Eltern waren ohnehin zu einer zwanghaften Besessenheit geworden. Eine Pause tat uns beiden sicher gut. „Komm! Heute gönnen wir uns einmal etwas.“

Ich erntete einen verständnislosen Blick.

„Ich gehe einkaufen und dann machen wir uns was richtig Gutes zu essen.“

„Lasagne?“

„Okay. Vielleicht noch ein Tiramisu?“

Sie hüpfte an mir hoch und schlang ihre Beine um meine Hüften. Dann drückte sie ihre Arme so fest um meinen Hals, dass ich fast keine Luft mehr bekam. „Tiramisu mit Bananen und Nutella!“, jauchzte sie.“

„Also eine Bananenschnitte. Auch gut.“

 

Mich anderen gegenüber zu öffnen, fiel mir außerordentlich schwer. Aber ich hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Jemandem, der nicht so impulsiv und draufgängerisch war wie Jazy. Ich klopfte an Meister Mings Türe.

„Oliver.“ Er war nie überrascht. Nicht einmal, wenn ich unangemeldet bei ihm auftauchte.

„Hätten Sie vielleicht Lust auf einen kleinen Spaziergang?“

„Ich ziehe mir schnell Schuhe an. Du kannst draußen auf mich warten!“

Da war ein kleiner Park eine Straße weiter. Auf den steuerten wir mit einem Babyelefantenabstand zwischen uns zu.

Hatte ich gehofft, mein Kung Fu-Lehrer würde von selbst auf die Idee kommen zu fragen, was ich auf dem Herz hatte, so belehrte er mich eines Besseren. Er redete über das Wetter, über ein Buch, das er gelesen hatte und über seine Kakteen, wie er sie zum Blühen brachte. Ich hörte ihm geduldig, aber mit wachsender Verzweiflung zu.

Dann wechselte Meister Ming abrupt das Thema: „Dunkle Gedanken können wie eine Seuche sein, die dein Leben vergiften. Du musst lernen, sie zu beherrschen.“

Endlich kamen wir zum Kern der Sache. Er hatte mich absichtlich zappeln lassen.

„Sie wissen, ich bin normalerweise ein positiv denkender Mensch“, erinnerte ich ihn, „es liegt nicht an der Flut an negativen Meldungen. Das habe ich im Griff.“ Ich blieb stehen. „Sie wissen vom Schicksal meiner Eltern, oder?“ Ich forschte in seinem Gesicht nach einer Antwort, weil er nichts sagte. Seine Augen gaben mir zu verstehen, dass es so war. Ich sprach weiter und erzählte ihm eine Kurzversion davon, warum mich die Sache mit meinen Eltern in ein Ungleichgewicht gestürzt hatte.

„Ich liege nachts wach und zermartere mir den Kopf. Es wird immer schlimmer. Ich habe jetzt eine Freundin. Ich will nicht, dass die Sache unsere Beziehung beeinträchtigt!“

„Es ist gut, dass du dich deinen Wurzeln widmest. Aber es ist für niemanden gerade eine leichte Zeit. Sicher hast du in den Nachrichten gesehen, wie sich die Virologen und Politiker permanent widersprechen und in die Haare geraten? Seriöse Ärzte und Wissenschaftler werden plötzlich als Verschwörungstheoretiker beschimpft. Da geht es genauso wie bei deinem Problem nur um eines. Was ist wahr und was nicht?“

Ich hatte nicht gedacht, dass er die aktuellen News so gut im Auge hatte.

„Ich will es wissen!“, brach es aus mir heraus. „Ich muss es wissen!“

„Das wirst Du. Du möchtest meinen Ratschlag? Nur du alleine weißt, wo du hinwillst. Dein Herz wird dir den Weg weisen. Das Herz ist das erste Organ, das nach der Zeugung gebaut wird. Solange es in deiner Brust schlägt, kannst du immer darauf vertrauen.“

Das war jetzt nicht hilfreich! Er bemerkte offensichtlich meine Resignation.

„Diese Frau Beric hat sich nicht fair benommen. Sicher hat sie ihre Gründe. Lasse dich nie vom Verhalten anderer in deiner inneren Ruhe stören. Wir können nicht in die Köpfe anderer sehen. Lass dir Zeit. Denk in Ruhe über alles nach.“

„Kommt Zeit, kommt Rat?“ Ich lächelte säuerlich.

„Du bist nicht alleine. Du hast mir erzählt, dass du schon Kontakt zur Polizei hattest. Da gibt es Menschen, die wissen, wie man solche Probleme angeht. Mit Gewalt kann man keine Probleme lösen, vergiss das nicht.“

Für ihn war das Thema damit erledigt. Er wandte sein Gesicht der Sonne zu und lächelte zufrieden. Ich wusste nicht, was ich mir von ihm erhofft hatte? Dass er zu der Frau ging und die Wahrheit aus ihr rausprügelte? Sicher nicht. Dafür brauchte ich ihn längst nicht mehr. Er hatte mir nur die Bestätigung geliefert, die Sache nicht mit Gewalt anzugehen.

Während ich zum Supermarkt fuhr, dachte ich über unser Gespräch nach. Meine innerliche Unruhe hatte sich nicht gelegt, aber er hatte mich wieder daran erinnert, was er mir seit frühester Kindheit beigebracht hatte: mich in Geduld zu üben.

 

Ich stand vor dem Regal mit den Schokoaufstrich-Gläsern. Jazy liebte Nutella. Mit meinem Gewissen war der Kauf dieses Produktes eigentlich nicht mehr kompatibel. Mir schwirrten Begriffe wie Palmölskandal, fragwürdige Geschäftspraktiken und Kinderarbeit durch den Kopf. Mit meinen Recherchen der letzten Zeit hatte ich mich komplett verrückt gemacht.

Irgendwo hatte ich gelesen, dass der Durchschnittsverbrauch an Schokoaufstrich bei uns bei 1,5 Kilo pro Jahr und Person lag. Keine Frage, da futtert Jazy meine 1,5 Kilo schon einmal mit. Bei solchen Mengen konnte es schon richtungsweisend sein, das ökologisch nachhaltigste Produkt zu kaufen. Es gab einige Gläser mit dem Fair Trade Siegel. Ich wusste, Jazy war Umweltbewusstsein sehr wichtig. Alles was sie normalerweise kaufte, war bio und, wenn möglich, unverpackt. Warum griff sie also ausgerechnet zu Nutella? Sicher nicht wegen der toxischen Fettsäuren, die bei der industriellen Verarbeitung von Palmöl entstanden und die bei den Inhaltsangaben vermerkt wurden. Sie sollte wissen, dass die nicht gesund waren. Und das neben der Riesenmenge Zucker! Große Teile des Regenwaldes wurden wegen Palmöl zerstört. Nutella sollte außerdem auch Schweineblut enthalten.

Im nächsten Regal räumte eine Verkäuferin Lebensmittel nach. Sollte ich sie fragen, welches der Fair Trade Produkte sie mir anstelle von Nutella empfehlen könnte? Sie sah allerdings aus, als würde sie sich ausschließlich von ungesunden Sachen ernähren. Also verwarf ich diesen Plan.

Ich konnte mir noch ewig lang den Kopf darüber zerbrechen und würde auf keinen grünen Zweig kommen, also nahm ich ein großes Glas Nutella und stellte es in meinen desinfizierten Einkaufswagen.

An der Kassa hielt sich wieder einmal die kaufkräftige Gruppe der Best Ager am wenigsten an die Abstandsregeln. Die hatten sich auch keine Gedanken darüber gemacht, was sie da alles aufs Förderband legten. Jedes Teil Obst und Gemüse hatten sie in einem extra Plastiksackerl abgewogen. Die Süßigkeiten unter ihren Einkäufen, bestanden zu 75% aus Verpackungsmaterial. Wenigstens konnte die Frau vor mir nicht sehen, wie ich den Mund missbilligend verzog. Ich zupfte meine Maske zurecht.

 

„Jazy und ich machen heute Lasagne und Bananenschnitten“, informierte ich unsere Hausmeisterin, als ich ihr ihren Einkauf übergab. „Ich bringe Ihnen was fürs Abendessen runter.“

„Das ist lieb von dir. Aber wir noch nicht vollständig verfallenen Leute sollen ja am Abend nichts Schweres mehr essen.“

„Einmal Sündigen wird ja nicht verboten sein?“, neckte ich sie.

„Ach, ich wette, wenn du in meinem Alter bist, machst du über so was keine Scherze mehr. Aber was rede ich da? Wenn du in meinem Alter bist, werde ich schon lange, lange tot sein.“

 

Ich kümmerte mich um die Lasagne und Jazy kümmerte sich um die Bananenschnitten. Das meiste naschte sie allerdings schon während der Zubereitung aus den Schüsseln. Sie hatte Schokocreme auf der Wange. Gerade, als ich die Lasagne ins Rohr stellte, ging mein Telefon los. Meine Oma! Nanu? Es war doch noch gar nicht Samstag? Vielleicht rief sie an, weil wir letztes Wochenende, als ich bei Jazy zu Hause war, nur ganz kurz gesprochen hatten.

„Hallo Oma!“

„Grüß dich, mein Schatz. Hast du meinen Brief schon bekommen?“

Ich wusste nicht, wovon sie sprach. „Nein?“

„Oh! Weil du ja letztens von Erika und dem Notizbuch von Jaya ... von deiner Mutter, erzählt hast, habe ich dir einen Stick geschickt mit alten Fotos und Videoaufnahmen. Ich habe sie vor ein paar Jahren digitalisieren lassen, als mein Videorekorder den Geist aufgegeben hat.“

Wovon sprach sie? „Was für Aufnahmen meinst du?“

Sie räusperte sich. „Wir hatten ein Fotoalbum und Videokassetten. Von dir als Baby. Deine ersten Gehversuche. Dein erster Geburtstag.“ Sie sprach nach einer kurzen Pause weiter. „Ich dachte, du bist jetzt so weit, sie dir anzusehen.“

Ich fühlte mich wie in einem Film und jemand hatte auf die Pause-Taste gedrückt. Es gab Videos von mir? Von mir und meinen Eltern? Warum wusste ich das nicht?

„Warum hast du mir nie von diesen Videos erzählt?“

„Mama und ich haben sie uns früher oft angesehen. Als du noch ganz klein warst. Immer, wenn du dabei gewesen bist, hast du zu weinen begonnen. Deshalb haben wir damit aufgehört. Du warst noch zu klein. Daran kannst du dich sicher nicht erinnern.“

Ich schwieg betroffen.

„Wir haben es noch einmal versucht, als du in die Schule gekommen bist, aber du hast Alpträume bekommen.“ Meine Oma weinte am Telefon. Ich hatte sie überhaupt noch nie zuvor weinen gesehen oder gehört.

„Oma.“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Jazy saß auf der Küchenanrichte und leckte die Quirle des Mixers sorgfältig ab. Ich hatte den Lautsprecher nicht eingeschaltet. Sie wusste nicht, worüber wir redeten. Ich sah sie hilflos an. Sie zog besorgt die Augenbrauen nach oben.

„Mach dir deswegen doch keine Vorwürfe!“, versuchte ich meine Großmutter zu beruhigen. „Ihr habt sicher nur getan, was damals das Richtige war.“

„Ich würde so gerne zu dir kommen“, sagte meine Oma jetzt. Eigentlich hatte sie vorgehabt, mich in den Osterferien zu besuchen, aber wegen des Lockdowns ging das ja nicht.

„Wir verschieben das auf die Sommerferien, ja?“, sagte ich. „Ich habe jetzt eine Freundin.“ Vielleicht konnte ich so ihre Gemütsverfassung aufhellen. „Wir kochen gerade zusammen.“

„Ich habe mir schon so was gedacht. Du warst so kurz angebunden letzten Samstag. Dann habe ich dein Foto bekommen. Sie ist hübsch! Ist das Jazy? Deine Zimmerkollegin?“

„Ja. Genau.“ Ich grinste von einem Ohr zum anderen, obwohl sie das gar nicht sehen konnte. „Und weißt du was? Ich war bei Erika. Sie ist nett.“

Ich erzählte ihr von meinem Besuch bei der ehemaligen Freundin meines Vaters, und weil ich gerade dabei war, erwähnte ich auch noch den Polizeibericht, den ich bekommen hatte. Meine Oma war ganz still geworden am anderen Ende der Leitung.

„Bist noch da?“

„Ja.“ Ihre Stimme zitterte. Sie klang schon wieder ganz aufgelöst. Ich hätte das vielleicht lieber nicht erwähnen sollen. „Oliver, mein Schatz, versprich mir bitte, nichts ohne Polizeiunterstützung zu unternehmen.“

Verdammt! Ich hätte wirklich nicht davon anfangen sollen. Jetzt hatte ich sie mit meiner Unruhe angesteckt. Gut, dass ich wenigstens die Telefonate mit Frau Begic nicht erwähnt hatte.

„Versprich es mir.“ Weil ich nicht sofort geantwortet hatte, drängte sie jetzt nachdrücklich auf eine Antwort. Ich schluckte.

„Du hast doch noch nichts unternommen?“ Ihre Stimme klang alarmiert.

„Bitte mach dir keine Sorgen. Ich bin kein kleines Kind mehr. Ich kann auf mich aufpassen.“

Sie schluchzte plötzlich wieder am Telefon. „Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas zustößt, hörst du?“

Jazy war inzwischen zu mir gekommen und stand vor mir. Meine Oma hatte so laut gesprochen, dass sie ihre letzten Worte sicher verstanden hatte. Betroffen biss sich Jazy auf die Lippen.

„Ich werde auf mich aufpassen, ich verspreche es dir. Bitte mach dir keine Sorgen. Außerdem fahren wir über die Osterfeiertage eh wieder zu Jazys Eltern.“ Vielleicht würde sie das beruhigen. „Ich schicke dir ganz viele Fotos, versprochen.“

Als wir uns verabschiedet hatten und ich das Handy weggelegt hatte, war mir noch ganz flau im Magen von dem Gespräch. Um mich abzulenken, erzählte ich Jazy von dem Stick, der per Brief zu uns unterwegs war. Sie kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich jetzt eine Ablenkung gebrauchen konnte.

„Wo wir gerade von dem Stick sprechen.“ Sie sah bedeutungsschwer auf meine Körpermitte. „Ich hätte da noch einen freien Anschluss ... mein Master!“

Vor kurzem hatte ich ihr erklärt, dass man in der IT-Sprache einen Stick als Master und den passenden Anschluss dazu als Slave bezeichnete. Sicher spielte sie darauf an.

„Du bist also meine Sklavin? Ich kann anschaffen, was passiert?“, überzeugte ich mich von der Richtigkeit meines Gedankengangs.

Sie grinste verrucht. Wir verlagerten das Spiel auf die Couch in ihrem Wohnzimmer. Ich ließ mich rücklings darauf fallen. Sie setzte sich auf mich. Mein Stick und ihr Anschluss bauten eine Verbindung auf. Unsere Körper hatten uneingeschränkten Zugriff aufeinander. Erst, als die Küchenuhr lospiepste, weil die Lasagne fertig war, fanden wir wieder zurück in die analoge Welt.

 

„Die schmeckt fast so gut wie die von Papa“, lobte Jazy meine Kochkünste.

„Ich werde schon noch hinter sein Geheimnis kommen.“

„Jedenfalls brauchen wir, bis wir wieder zu mir nach Hause fahren, nichts mehr kochen.“ Jazy hatte schon eine Portion für Frau Sedlacek auf ein extra Teller gelegt  und schaute mit aufgeblasenen Wangen die Auflaufform an, die noch halb voll war. Die von der Bananenschnitte sogar noch voller. „Wir müssen wieder mehr tanzen“, stöhnte sie, „oder ich muss den Mundschutz jetzt auch in der Wohnung tragen. Ich weiß nicht, ob ich meine Jeans überhaupt noch zu bekomme. Ist gefährlich, wenn man tagein tagaus nur mit der Leggins oder einer Yogahose herumläuft!“

Ich machte mir bei Jazy keine Sorgen ums Gewicht. Sie verbrachte einen Großteil des Tages ohnehin auf ihrer Yogamatte. Gerade machte sie es sich wieder darauf bequem. Sie hatte sämtliche bunte Folienstifte in der Wohnung zusammengesucht und fing an, auf dem Bauch liegend, sorgfältig das eingeprägte Muster einer Rolle unseres Klopapiers auszumalen. Ihre Zungenspitze ragte konzentriert zwischen ihren Lippen hervor. Auch eine Art Beschäftigungstherapie, obwohl: Kalorien verbrauchte sie dabei sicher nicht allzu viele.

„Das färbt hoffentlich nicht ab?“, kommentierte ich ihre Bastelarbeit mit einem Lächeln auf den Lippen. „Ich dachte, du willst Eier mit den Stiften anmalen?“

„Die Idee ist mir gerade gekommen. Das kann ich dann auf meinem Blog als Quarantäne-Beschäftigung empfehlen. Mandalas malen. Aber trotzdem gute Idee! Ich könnte eine Rolle mit meinen Glitzerstiften bemalen, sieht sicher lustig aus am Popo!“

Sowas konnte auch nur Jazy einfallen. „Ja, aber bitte nicht meinen Popo danach ins Internet stellen!“, warnte ich sie schon einmal vor. Ich brachte Frau Sedlacek das Essen und erzählte ihr von Jazys verrückten Einfällen.

„Ich habe auch schon überlegt, ob ich meine Handarbeitssachen heraussuchen soll und Hauben für die Klopapierrollen häkeln soll. Das war schon einmal modern. Die könnte man dann ja zu Ostern verstecken, statt der Eier.“

„Klasse Idee! Übrigens werden wir über das Osterwochenende wieder zu Jazys Eltern fahren. Wenn ein Brief von meiner Oma kommen sollte, können Sie den bitte für mich entgegennehmen?“ Ich wusste zwar nicht, ob meine Oma ihn eingeschrieben geschickt hatte, aber dann brauchte ich mir deswegen zumindest keine Gedanken zu machen.

„Na ihr traut euch aber was! Fahrt ihr wieder mit dem Zug?“

„Wir sind jetzt schon so lange isoliert. Ich glaube nicht, dass die Ansteckungsgefahr noch sehr hoch ist.“

„Ich gehöre ja zur Hochrisikogruppe. Nicht nur wegen meines Alters, sondern auch, weil ich eine unverbesserliche Pessimistin bin.“

 

Zurück in der Wohnung setzte ich mich an meinen Schreibtisch. Versonnen kratzte ich mich im Nacken. Mein Blick fiel auf die Visitenkarte des Anwalts an der Pinwand, die ich in dem Buch gefunden hatte. Sollte ich?

Ich begann eine E-Mail aufzusetzen.

Sehr geehrter Herr Dr. Schumann,

ich melde mich wegen eines privaten Anliegens bei Ihnen. Meine Eltern gelten als vermisst. Ihr Verschwinden ist schon geraume Zeit her. Ich war noch ein Baby. Deshalb melde ich mich erst heute.

Vor Kurzem habe ich herausgefunden, dass mein Vater einen Termin mit Ihnen vereinbart hatte. Er wäre am 15. Juni 1997 um 10.30 Uhr gewesen. Ich gehe davon aus, dass er diesen Termin nicht eingehalten hat, da ihn meine Urgroßmutter schon vorher als abgängig gemeldet hat. Der Name meines Vaters ist Karl Moser. Falls Ihre Unterlagen so lange aufgehoben werden, würde mich der Grund des Termins interessieren. Vielleicht gibt es einen Zusammenhang mit dem Verschwinden meiner Eltern. Ich bitte Sie deshalb um Ihre kurze Rückmeldung, ob Sie mir weiterhelfen können.

Hochachtungsvoll

Wieder juckte mich etwas im Nacken und ich kratzte mich dort. Meine andere Hand trommelte gegen die Tasten. Leicht genug, um keinen Anschlag auszulösen. Unruhig sah ich zur geöffneten Türe. Ich sah Jazys Füße, die fröhlich hin und her wippten. Sie malte offensichtlich noch immer an ihrer Klopapierrolle. Nicht ahnend, was ich hier im Begriff war zu tun.

Das Telefonat mit meiner Oma kam mir in den Sinn, ihre Tränen. Und der Rat von Meister Ming. Dein Herz wird dir den Weg weisen.

Ich holte tief Luft, schloss die Augen, hörte auf mein Herz. Mit einem Klick markierte ich die Nachricht und drückte die Delete-Taste. Ich war zu aufgewühlt, da gab es nichts zu beschönigen. Dann baute ich eine Verbindung zu Toni auf und besprach mit ihm, was wir noch alles für unser Projekt zu tun hatten.

 

Amina

 

 

Sofia chattete mit einer ihrer Freundinnen. Jedenfalls bewegten sich ihre Daumen abwechselnd flink über die Displaytastatur ihres Telefons, um dann wieder zu verharren. Während sie die Antwort las, formten sich ihre Lippen zu einem Lächeln. Vielleicht war es auch ein Junge. Eigentlich hatte ich ihr verboten, am Tisch das Handy zu benutzen. Aber wie ließ sich diese Forderung in Zeiten wie diesen schon umsetzen?

Sie war ein braves Kind. Hatte immer gute Noten nach Hause gebracht. Nur eine feste Stelle hatte sie bis jetzt leider nicht gefunden. Sie hatte halt ihre Illusionen. Doch besser machte die Pandemie die Chancen, bald in ihrem Traumberuf arbeiten zu können, nicht.

Seufzend stellte ich meinen Kaffeebecher in den Geschirrspüler. Wenigstens mein Beruf war krisensicher. Egal wie schlecht die Zeiten waren: Staub und Schmutz ließen sich von einem Virus nicht unterkriegen. Schon gar nicht im Krankenhaus, wo ich seit einigen Jahren putzte.

Spaß machte es unter diesen Umständen natürlich nicht. Den ganzen Tag mit diesem Mundschutz herumzulaufen, bescherte mir jeden Tag am Abend heftige Kopfschmerzen. Vielleicht lag es auch an den Unmengen an Desinfektionsmitteldämpfen. Fast beneidete ich die Kolleginnen, die sich zum Rauchen im Freien das Ding wenigstens für kurze Zeit absetzen konnten. Man durfte sich nicht mehr zum Tratsch treffen. Alleine eine Kaffeepause zu machen, war nicht besonders unterhaltsam. Vom andauernden Nachfüllen der Spender für Desinfektionsmittel wurde ich kaum mit meiner üblichen Arbeit fertig.

„Tschüss, mein Schatz!“ Ich gab Sofia seit Ausbruch der Pandemie keinen Kuss mehr. Immerhin war ich jeden Tag mit potenziell kranken Menschen zusammen. Die Wohnungstür öffnete ich beim Heimkommen nur mehr mit einem Taschentuch und stellte ich mich sofort unter die Dusche.

Im Stiegenhaus schaltete ich mein Telefon ein. Gespannt wartete ich, bis alle Funktionen hochgefahren waren. Keine Anrufe. Gott sei Dank! Ich hatte gestern einen ganz schönen Schreck bekommen.

Als ich das Haus verließ, blickte ich dennoch nervös die Straße rauf und runter. Die Anruferin hatte erwähnt, zur Polizei zu gehen. Sicher hatte ich es mit meiner Reaktion nicht besser gemacht, aber ich war so überrumpelt gewesen. Jahrzehnte war der Vorfall her. Irgendwann hatte ich damit abgeschlossen und nicht mehr daran gedacht. Und jetzt das!

Rolf war schon vor einer Stunde aus dem Haus gegangen. Er arbeitete seit einigen Jahren bei der MA48. Hatte dort einen gut bezahlten Arbeitsplatz. Deshalb war es nicht schlimm, dass Sofia uns auf der Tasche lag. Es war keine Frage des Geldes. Aber was, wenn er seine Stelle verlor? Natürlich hatte ich die Anrufe von gestern mit keinem Wort erwähnt. Nicht auszudenken, wenn die alten Probleme wieder hochkämen.

Er war ein netter und aufgeschlossener Mensch. Im privaten Umgang brauchte er viel Liebe, fast wie ein Kind. Er war sehr weich für einen Mann. Niemand würde das vermuten, der ihn zum ersten Mal sah. Bei mir war das, als wir uns kennengelernt hatten nicht anders gewesen. Er hatte sich benommen und gekleidet wie ein Gangmitglied. War tätowiert und hörte Gangsterrap. Ich konnte damals zu wenig Österreichisch, um zu bemerken, dass er den geistigen Horizont eines Kindes hatte.

Ich hatte mich in sein Aussehen und die Rolle, die er spielte, verliebt, ohne zu durchschauen, wer er wirklich war. Dann wurde ich schwanger und die Probleme begannen. Vater zu werden, Verantwortung zu übernehmen, hatte eine tiefe Angst in ihm ausgelöst. Ließen ihn an sich und seinen Möglichkeiten zweifeln. Ich hatte angefangen zu begreifen, dass etwas mit ihm nicht stimmte.

Ich wollte mich von ihm trennen. Durch meine Zurückweisung fühlte er sich persönlich verletzt. Er wurde unberechenbar und eigenwillig. Man konnte nicht mehr mit ihm sprechen. Ich hatte oft Angst vor ihm gehabt. Womit er sein Geld verdiente, hatte er mir nie genau mitgeteilt. Er wäre Detektiv, hatte er einmal geheimnisvoll zu mir gesagt. Würde Menschen beschatten und Geld für seinen Cousin eintreiben. Sein Cousin war für ihn das Maß aller Dinge. Er hatte nie begriffen, wie herablassend dieser Anzug tragende Wichtigtuer ihn in Wahrheit behandelte. Er vergötterte ihn. Wehe, wenn ich etwas über ihn gesagt hatte.

Dabei wusste ich, dass sein Cousin ein durch und durch schlechter Mensch war. Rolf hatte mir einmal nach einem Alptraum weinend erzählt, dass er als Kind im Auftrag seines Cousins die Katze einer Nachbarin töten hatte müssen. Als eine Art Bewährungsprobe.

Ich saß in der Straßenbahn und schloss die Augen, als ich mich an die schlimmste Zeit meines Lebens erinnerte. Ich war fremd in der Stadt gewesen. Eine Ausländerin. Gerade dabei, die Sprache zu lernen. Geflohen vor einem Krieg. Alles, was ich mit der Flucht gewonnen hatte, war eine Beziehung, vor der ich mich noch mehr fürchtete als vor Bomben und ethnischen Säuberungen.

Es wurde immer klarer, dass Rolf Probleme hatte. Wenn ich mit ihm darüber sprechen wollte, war er sofort ausgerastet und hatte mich angeschrien. Auch nachts war er oft schreiend aufgewacht. Konnte erst wieder einschlafen, wenn ich ihm tausend Mal versichert hatte ihn zu lieben. Er fing an zu stottern und bekam Sehprobleme. Ich wollte, dass er auszieht. Sein Kontrollwahn und sein launenhaftes Verhalten waren mir zu viel geworden. Er war unberechenbar. Und das alles hatte mit diesen ominösen Telefonaten angefangen. Eines Tages hatte die Polizei bei mir geläutet und mich zu Anrufen verhört, die ich von meinem Handy aus gemacht haben sollte.

Rolf war da gerade erst aus meiner Wohnung ausgezogen. Ich war zu meinen Großeltern gefahren, um ihm zu entkommen. Ich war schwanger von einem Mann, der selbst noch ein Kind war.

Natürlich hatte ich der Polizei nichts von ihm erzählt. Vielleicht aus Mitleid. Vielleicht aus Scham. Vielleicht aus Angst. Ich war in einem Ausnahmezustand. Meine Hormone spielten verrückt und ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte.

Irgendwann war er wieder vor meiner Tür gestanden und hatte mich angefleht, es wieder mit ihm zu versuchen. Er war psychisch labil, weinte die ganze Zeit. Da habe ich nachgegeben. Er war immerhin der Vater meines gerade geborenen Babys.

Was auch immer in dieser Zeit mit ihm geschehen war - ich hatte es nie herausgefunden. Aber es muss etwas Schlimmes gewesen sein. Denn die wahren Probleme fingen danach erst an. Er begann zu trinken. Seine Alpträume wurden häufiger. Dann wurde er aggressiv. Zuerst nur zu mir. Als Sofia ihn immer wieder fragte, was mit ihm nicht stimmte, schlug er eines Tages auch sie. Ich war so wütend. Wollte endlich wissen, was damals geschehen war, das ihn so aus der Spur geworfen hatte, und fragte ihn nach den Telefonaten. Da hatte er versucht mich umzubringen.

 

Ich zog mich im Umkleideraum um. Setzte den Mundschutz auf und schlüpfte in die Handschuhe. Als Reinigungskraft war ich für andere unsichtbar. Zumindest fühlte ich mich so.

Ich putzte hier seit knapp 5 Jahren. Angestellt war ich über eine Serviceagentur. Die Arbeit war anstrengend, aber ich verdiente gut. Sofia und ich lassen uns seit einigen Jahren die Wimpern verlängern und die Nägel machen. Auch die Kleidung und Handys verschlingen Unsummen. Internet, Netflix, Spotify. Ohne meinen Verdienst könnten wir uns das alles nicht leisten. Immerhin bekam ich 30 Urlaubstage im Jahr.

Ich arbeitete 30 Stunden unter der Woche plus zwei Schichten im Monat am Wochenende. Die Reinigungskräfte, die direkt über das Krankenhaus angestellt waren, bekamen mehr als ich. Der größte Unterschied war aber der zeitliche Druck: Sechs Stunden haben die Klinikangestellten Zeit für eine Station, für zehn Zimmer plus Badezimmer und Nebenräume. Dazu zählen das Medikamentenzimmer, die Küche und der Raum, in dem sich Pflegerinnen und Pfleger treffen. Ich musste in derselben Zeit 18 Zimmer plus 18 Nebenräume schaffen! Pro Zimmer plus Nebenraum hatte ich gerade einmal 15 bis 20 Minuten.

Natürlich wird im Krankenhaus erwartet, dass alles besonders sauber sein soll, und das ist mir auch bewusst. Ich könnte ja immerhin selbst einmal hier landen, oder Sofia. Wenn ich ehrlich war, konnte ich nicht sagen, wie sauber es wirklich war. Ich gab mein Bestes, aber die Zeit war einfach zu knapp. Darum musste ich mir immer überlegen: Wo konnte ich ein paar Minuten einsparen? Das machte ich meistens bei den Nebenräumen oder bei den WCs für die Besucher. Die Patientenzimmer versuchte ich, möglichst gründlich zu reinigen. Aber wenn ich selbst als Patientin in einem der Zimmer liegen würde, ich würde mich ekeln. Ich würde mich mit unseren Hygienestandards absolut nicht wohlfühlen. Und am liebsten würde ich dann darum bitten, dass das ganze Zimmer noch einmal gesäubert wird.

Jetzt war da noch dazu die Angst, mich selbst anzustecken.

Seit Beginn der Pandemie war die Station, in der ich vor allem arbeitete, die wichtigste Abteilung des Krankenhauses: die zentrale Notaufnahme. Darum arbeiteten wir inzwischen immer zu zweit dort. Wir hatten Urlaubssperre, aber viele Mitglieder des Reinigungspersonals meldeten sich im Moment krank. Weil sie Angst hatten, sich mit dem Virus anzustecken. Denn in die Notaufnahme kamen alle Patienten. Auch die mit Kopfschmerzen, mit Atem- oder Herzbeschwerden, mit Fieber. Also möglicherweise auch an Corona Erkrankte. Sie wurden hier für eine Nacht überwacht. Wenn es ihnen danach gut ging, wurden sie entlassen. Wenn nicht, wurden sie auf eine andere Station verlegt. Darum erfuhren wir meist nur, bei wem der Verdacht auf Corona bestand, aber nicht, ob er sich bestätigt hat.

Auf anderen Stationen hatte ich aber schon die Zimmer von Corona-Patientinnen gereinigt. Dabei war mir stets ganz schön mulmig zumute gewesen. Trotz des Ganzkörperoveralls, Haube, Schutzbrille, FFP-Maske und der strengen Auflagen.

Bei einer gründlichen Reinigung eines infektiösen Zimmers, musste ich die Wände abwischen, bis hoch zur Decke, alles nass säubern: Infusionsständer, Waschbecken, Stühle, Nachttische, Bettgestell, Lampen, Mülleimer. Die Mengen an Putzutensilien, die wir derzeit verbrauchten, waren enorm: Allein für die Wände brauchte ich manchmal zwei Aufsätze für meinen Wischmop, fürs WC ebenfalls zwei und für den Boden vier Stück. Je nachdem, wie blutig oder schmierig das Zimmer war, waren es auch manchmal mehr. Danach kamen die Aufsätze und Wischlappen in die Wäsche. 

In den Krankenzimmern versuchte ich immer, zwei Meter Abstand zu den Patienten zu halten. Die Menschen blieben im Bett und ich reinigte schnell um sie herum. Anfangs hatten wir für jedes infektiöse Zimmer eine neue FFP3-Maske bekommen. Inzwischen waren sie limitiert. Wir bekamen nur noch einen normalen Mundschutz pro Tag. Den trugen wir im Moment während der gesamten Arbeitszeit. Ich trug immer meine dünne Maske und zog erst in den Zimmer mit Infizierten die FFP3-Maske an. Nach der Reinigung zog ich das Band nach unten, behielt sie um den Hals und setzte den dünnen Mundschutz wieder auf. Hygienisch war das nicht, aber es ging nicht anders.

Im Internet sah man gerade lauter Videos, wo man für die Krankenschwestern und Ärzte klatschte und sie in den Himmel lobte. Man müsste sich einmal vorstellen, wie ein Krankenhaus ohne uns Reinigungskräfte aussähen würde. Der Gesundheitsminister erwähnt uns mit keinem Wort. Die Ärzte und die meisten Schwestern kennen nicht einmal meinen Namen. Eine Kollegin von mir hatte letzte Woche Husten. Sie wollte sich testen lassen. Es wurde ihr aber gesagt, sie solle zu Hause bleiben. Getestet wurde sie nicht.

 

Außerhalb des Krankenhauses versuchte ich, gar nichts anzufassen, ob in der Straßenbahn oder im Supermarkt, ich war da jetzt immer sehr vorsichtig. Inzwischen war ich richtig gut darin, mir nicht ins Gesicht zu fassen.

 

 

Jazy - Der Undercover-Plan

 

 

 

Anfangs hatte es immer geheißen, der Lockdown ginge bis Ostern. Tatsächlich dauerte er aber plötzlich bis nach Ostern! Bis zum 13. April, um genau zu sein. Und es sah nicht danach aus, als würde das Leben ab da wieder in gewohnten Bahnen verlaufen. Die Uni machte jedenfalls mit Distance Learning weiter und auch die Schulen blieben zumindest bis Mitte Mai geschlossen. Das Tanzen konnte ich mir weiterhin abschminken. Wenigstens hatte ich Che überreden können, am Wochenende wieder zu mir nach Hause zu fahren. Es tat so gut, ein wenig raus in die Natur zu kommen. In der Großstadt fiel mir manchmal die Decke auf den Kopf. Er sah ein, dass es am Land viel einfacher war, anderen Menschen aus dem Weg zu gehen. Außerdem war niemand in meiner Familie krank geworden. Wir waren alle seit drei Wochen abgeschottet, naja, mehr oder weniger. Ich dachte kurz an die unerfreuliche Situation mit Ice.

Für eine frische Beziehung war dieser Lockdown so etwas wie eine Bewährungsprobe. Che und ich hatten überhaupt keine Probleme. Bei Mama und Ben sah es da sicher anders aus. Wahrscheinlich strickte sie ihm schon Schals in Form eines Galgenstricks.

Ich saß auf meinem Yogakissen und versuchte wieder einmal zu meditieren. Tausende Gedanken geisterten mir durch den Kopf, ohne dass ich es abstellen konnte. Sonja hat mir viele Tipps geschickt, wie man richtig entschleunigte. Etwas nur für sich machte.

Es half alles nichts. Und da war es auch schon wieder...

Es war unmöglich, nicht ständig daran zu denken. Es war, als hätte man mich in einen leeren Raum eingesperrt, in dem es nur mich und einen roten Knopf gibt. Und das Letzte, was jemand zu mir gesagt hatte, wäre: „Egal was passiert, drücke nie den roten Knopf Jazy!“ Dieses Telefonat mit der Frau aus dem Polizeibericht war gerade mein roter Knopf.

Jazy! Jetzt reiß dich doch einmal zusammen! Ich zwang mich dazu, an etwas anderes zu denken. Im Grunde genommen war ich ja gechillt. Die Pandemie war für mich noch immer total surreal. Hörte man zufällig einmal die Nachrichten, kam man sich vor wie in einem Endzeit-Horror-Film. Nur dass es die Realität war.

In einem Jahr werden wir mit einem Corona-Bier in der Hand an diese verrückte Zeit zurückdenken, beruhigte ich mich. Das wird sein wie bei 9/11. Jeder wird sich genau erinnern können, wie es für ihn persönlich gewesen war.

Wie viel wird dann wirklich anders sein als vor der Krise? Wie viele Menschen nutzten tatsächlich die einmalige Möglichkeit, aus dem Karussell auszusteigen und die alten Gewohnheiten zu überdenken? Utopie war schon immer mein Ding. In meiner Fantasie konnte die Welt endlich einmal aufatmen, weil die Menschheit einen Gang runterschalten musste. Ja, diese Zeit hatte etwas Entschleunigendes. Auch, wenn ich mich wie in einer Nussschale fühlte, die auf einem stürmischen Ozean dahin trieb. Gut, dass ich nicht gerne Pläne schmiedete. Die Krise machte sowieso alle gleich wieder zunichte.

„Einatmen – ausatmen!“, befahl ich mir noch einmal. Im Hintergrund spielte meine Meditations-Playlist ein Mantra. Vielleicht sollte ich eines von den Weihrauch-Räucherstäbchen anzünden, um endlich entspannen zu können?

Ich öffnete die Augen und rappelte mich hoch. In meinem Schlafzimmer kramte ich nach den Räucherstäbchen. Ich fand das Päckchen, aber es war leer. Mist! In der Küche stand noch der Karton mit Mamas Räucherschale. So würde es auch gehen. Ich ging zum Küchenschrank und inspizierte meine Kräutermischungen. „Yippie!“ Ich hielt meinen lange gesuchten Lieblingshaargummi hoch. Er hatte sich irgendwie zwischen die Gläser dort verirrt.

„Na, mein Engel?“ Che hatte sich von seiner Arbeit losgerissen und stand auf einmal hinter mir.

Triumphierend hielt ich ihm mein Fundstück vor die Nase. Sicher hundert Mal hatte ich ihn in den letzten Tagen danach gefragt.

„Mir kommt vor, du machst zu viel Yoga“, sagte er. „Um dich herum herrscht schon Schwerelosigkeit. Wie im Weltall. Einen anderen Grund kann ich mir einfach nicht vorstellen, warum du ständig Sachen verlierst und an den absonderlichsten Orten dann wiederfindest.“ Er drückte seine Nase in meinen Nacken. „Ich habe Hunger. Machen wir uns die Lasagne warm?“

Ich nickte und ging zum Herd, um das Backrohr aufzuwärmen. Was hatte ich eigentlich gerade in der Küche gewollt? Egal. Mein Magen knurrte plötzlich wie wild.

 

„Ich habe da so eine Idee.“

Che sah mich über seinen Teller hinweg mit gerunzelter Stirn an.

„Weil ja unser „Dangerous“-Video so gut ankam ...“

Sein Stirnrunzeln wirkte eine Spur gequälter. Dabei hatten die meisten positiven Kommentare alle ihm gegolten. Immer musste man ihn dazu zwingen, etwas Spaß zu haben. Er hatte offensichtlich meine Gedanken gelesen, denn jetzt seufzte er resigniert.

„Jetzt sei doch nicht immer so ein Spielverderber. Ich finde ja, man darf in den eigenen vier Wänden das Beste aus der Situation machen. Ist ja nicht gerade so, als würde die Erde einem Feuerball gleich auf das Verderben zurasen.“

Einige Künstler veröffentlichten aus der Quarantäne schräge Songs zum Thema. Quarantänement nannten sie es. Ein Symptom von Corona war ja der Verlust von Geschmacksgefühl. Das musste ja nicht zwangsläufig auch auf den Musikgeschmack zutreffen. Ich löschte viele von den Videos, die mir Freundinnen zuschickten, meistens nach den ersten Takten. Zumindest das neue Album von Dua Lipa ließ mich die deprimierende Lage etwas vergessen. Ich spielte ihm den Song vor, den ich in Betracht gezogen hatte. Puh! Er wippte mit dem Kopf. Ein gutes Zeichen!

„Du behauptest ja immer, das Geheimnis eines guten Kung Fu-Kämpfers ist der Kreis ...“

„Das behaupte ich nicht, das ist eine Tatsache.“

„Ja. Jedenfalls, ich habe mir überlegt, das in einen Tanz einzubauen. Hör dir einmal dieses Intro an.“ Ich spielte ihm die Musik auf meinem Handy vor.

„Deine Lasagne wird wieder kalt“, lamentierte mein potenzieller Tanzpartner.

Ich ließ ihn jammern. „Hörst du, hier stehen wir uns nahe gegenüber. Jeder von uns hält sein Handy hinter dem Rücken des anderen und schaut drauf. Weil wir daneben alles Mögliche machen, müssen wir uns irgendwie kompliziert durchschlängeln, wie in deinen Übungen. Du kniest dich mit einem Bein hin. Ich mache einen Rückwärtsspagat, so dass ich auf deine Schultern klettern kann, dann lasse ich mich nach hinten plumpsen.“ Ich wedelte mit der Hand. Seine Mundwinkel zuckten amüsiert.

„Dann müsstest du einen Rückwärtssalto aus der Umarmung machen. Meinst du, wir schaffen einen synchronen Flic-Flac?“

„Handstandüberschlag ohne Hände?“

„Nein. Das käme dann später, ohne Handys in der Hand. Oder warte! Ich mache einen Spagat und du schlägst ein halbes Rad über mich drüber und in der Mitte machst du einen Salto daraus.“

„Ich finde ja, die Krankenhäuser haben gerade genug mit den ganzen Corona-Patienten zu tun ...“

Ich sah in bettelnd an und machte ganz traurige Augen.

„Was spiele ich auch immer den Mahner? Du hörst ja doch nie auf mich. Mir bleibt eh nichts anderes übrig, als dir wie einer wilden Horde Affen nachzurennen und das Ärgste auszubügeln.“

 

Mit der Choreo war ich während der nächsten Tage beschäftigt. Diese Pandemie als das Schlimmste zu beschreiben, was einem je passiert ist, traf bei mir nicht zu. Ich hatte Che. Der beste Freund und gleichzeitig beste Tanzpartner, den ich mir nur in meinen Träumen hätte ausmalen können. Unser neuer Tanz war wie ein Kampf. Noch mehr als bei Dangerous. Er zeigte mir Kampf-Bewegungsabläufe, die perfekt zur Choreo passten und die mir fast unmögliche Balancekünste abverlangten.

„Das Geheimnis jeder Kampfkunst ist der Kreis. Schlag mich! Egal, wohin du willst. Der Kreis bewegt sich immer mit.“ Che zeigte mir wohl zum hundertsten Mal, was ich machen sollte.

„Du musst den Kreis fühlen! Du musst selbst zum Kreis werden!“

Ich stöhnte – und hatte einen Gedanken. „Mach mit deinen Händen einen Kreis“, forderte ich Che auf. „Jetzt bewege den Kreis, wie du es gerade gemacht hast.“ Ich wand mich tänzerisch durch den Kreis. „Das ist spitze! Lass es uns vor dem Spiegel machen!“

 

Zwei Tage später band ich ihm ein schmales Tuch um die Stirn, was ihn in seinen schwarzen Sachen wie einen Ninja aussehen ließ. Wir waren so weit. Jetzt konnten wir die Kamera mitlaufen lassen. Ich zeigte Che noch einmal die Schlusspose. Immer wollte er mir in die Augen sehen! Ich erklärte ihm: „Liebe ist nicht nur sich in die Augen zu schauen, sondern auch gemeinsam in One Direction!“ Er kannte mein Faible für diese Band und nickte mir verstehend zu. Wir waren beide mehr als zufrieden mit der Leistung des jeweils anderen. Che mit meinem Kung Fu und ich mit seinen Tanzbewegungen. Lara und Sami konnten uns am Wochenende wieder filmen. Ich konnte es kaum erwarten.

 

Im Zug waren dieses Mal beträchtlich mehr Personen unterwegs als das letzte Mal. Sicher lag es an Ostern. Wir waren sichtlich nicht die Einzigen, die sich über die strenge Ausgangsbeschränkung hinwegsetzten. Che hatte in der Apotheke die sicherste Art der Mund-Nasen-Masken besorgt und passte auf, dass ich nichts anfasste, was er vorher nicht desinfiziert hatte. Der Schaffner schmiss eine Frau aus dem Zug, die sich geweigert hatte, den Mundschutz aufzubehalten. Sie hatte als Ausrede eine Dose Cola in der Hand gehalten. Als sie das Abteil verließ, applaudierten alle Fahrgäste.

Wir hatten vereinbart, uns dieses Mal bei Sonja zu treffen, und konnten deshalb zu Fuß von der Haltestelle zu ihr gehen. Die Klinik war noch im Lockdown. Sonja hatte uns versprochen, eines der Zimmer für uns herzurichten. Vor der Haustür stand auf einem kleinen Tisch ein Spender mit Desinfektionsmittel. Obwohl ich seit dem Bahnsteig nichts außer Che berührt hatte, verrieb ich das Mittel mit den Händen. Es duftete nach Orangenblüten.

Alle anderen saßen bereits dichtgedrängt um den großen Esstisch in der Küche. Auch Sonjas Schwester Anjali und ihr Freund Pyotr waren da. Ich stellte ihnen Che vor und registrierte seine Überraschung. Ich hatte ihm im Zug von ihnen erzählt und dass Pyotr für den SWR arbeitete. Sicher hatte er nicht erwartet, Ben und Pyotr scherzend wie alte Kumpels nebeneinandersitzen zu sehen. Immerhin einen kleinen Vorgeschmack auf unsere komplizierten Familienverhältnisse hatte er ja vor kurzem schon hautnah erfahren. Der Tisch war vollgestopft mit allen möglichen Köstlichkeiten, bunt durcheinandergewürfelt. Es waren ja auch fünf verschiedene Nationalitäten vertreten. Wir hatten am Naschmarkt gefüllte Oliven und Baklava gekauft, um etwas beitragen zu können. Che und ich saßen eingekeilt zwischen meinen Geschwistern.

„Bleibt die Hoffnung, dass wir alle aus dieser Krise etwas lernen, das uns in unserem Leben weiterhilft“, hörte ich Sonja zu meiner Mutter sagen.

„Zum Glück gibt es mehr Hilfsbereitschaft als Leute, die andere böswillig anspucken.“ Ich musste kurz an die Frau aus dem Zug denken. Kurz hatte ich vorhin auch befürchtet, sie könnte den Schaffner anspucken. Wie blöd konnten denn manche Menschen wirklich sein?

Nach der langen Trennung war es schön, endlich wieder einmal intensivere Zeit mit der Familie zu verbringen. Das neue Normal! Sami und Lara informierten mich, welche Serien ich mir unbedingt ansehen musste. Ich bemerkte, wie meine Schwester heimlich unterm Tisch immer wieder auf ihr Handy schaute. Eigentlich durften wir beim Essen kein Telefon verwenden.

„Fuck!“, stieß sie plötzlich leise hervor.

Ich gab ihr einen tadelnden Boxer mit dem Ellbogen.

„Moni ist in Quarantäne!“, flüsterte sie mir zischend zu.

„Ja und? Sind wir ja alle.“

„Nein! So richtig in Quarantäne! Ihr Bruder hat diesen gemeinen Drecksvirus.“

Ich wusste, dass der Bruder von Laras Freundin gerade als Zivildiener beim Roten Kreuz arbeitete. Da konnte so etwas schon einmal passieren. Ich kannte Moni und ihren Bruder. Sie waren nicht so naiv und bedenkenlos, eine Infektion herauszufordern wie so manch anderer Jugendliche.

Laras Fassungslosigkeit brachte meine ursprüngliche Ignoranz ins Wanken. „Du hast doch hoffentlich nur mit ihr telefoniert?“, erkundigte ich mich vorsichtig.

„Wir haben uns am Mittwoch zum Wandern getroffen!“ Meine Schwester wurde bleich.

„Verdammt! Du brauchtest nichts anderes zu tun, als vom Sofa aus abzuwarten, bis das alles wieder vorüber ist“, warf ich ihr flüsternd wie ein Moralapostel vor. „Du wusstest doch, dass diese Quarantäne kein Spaß ist! Man muss das ernst nehmen. Es ist ein Ausnahmezustand und keine super Zeit in der man vierundzwanzig Stunden am Tag Netflix schauen kann.“

„Du hast gut reden. Um nicht auszuflippen hast du sogar Klopapier angemalt. Wir waren wenigstens an der frischen Luft!“

Es wurde immer ruhiger um uns. Ich sah in die Runde und bemerkte, wie uns die meisten Erwachsenen neugierig ansahen. Tuscheln war immer noch die verlässlichste Art, um Neugier zu erwecken.

Lara und ich wechselten einen Blick wie ertappte Sünder. Es gab keine Worte, die genau genug beschreiben konnten, was mir gerade alles durch den Kopf ging. Jetzt zeigte uns der Virus plötzlich allen den Stinkefinger. Statistiken waren eine feine Sache. Aber wie wichtig ist eine Statistik, wenn du intubiert auf der Intensivstation liegst? Und eine kaputte Lunge hast?

„Los! Sag es ihnen!“, zischte ich Lara an.

Als sie allen am Tisch mitgeteilt hatte, was sie mir zuvor heimlich zugeflüstert hatte, brach kurzfristig Chaos aus. Mein Vater beschuldigte Ben, nicht besser auf Lara aufgepasst zu haben. Der wies die Schuld von sich und reichte die Anschuldigung an meine Mutter weiter. Ich konnte ihr ansehen, dass bis zum Ausrasten nicht mehr viel fehlte.

„So. Bevor alle endgültig die Nerven verlieren, machen wir einen Bluttest. Komm mit, Lara“, mischte sich Sonja in den Streit ein.

Ein neuer Bluttest machte es möglich, dass auch Virusträger ohne Symptome identifiziert werden konnten. Sonja hatte sich solche Tests schon einmal vorsorglich von einem in New York arbeitenden österreichischen Virologen besorgt. Sie klärte uns auf, dass sich damit nachvollziehen lasse, wie verbreitet das Virus in der Bevölkerung war und wer schon immun dagegen war. Ich hörte nur noch mit halbem Ohr zu, als sie erklärte wie genau das funktionierte. Irgendwelche Proteine saßen an der Oberfläche der SARS-CoV-2-Partikel, mit denen das Virus in die menschlichen Zellen eindrang. Genau an dieser Struktur auf der Außenhülle orientierte sich auch das körpereigene Immunsystem, beim Erkennen der neuen Viren.

Sonja und meine Schwester verschwanden und ließen uns in unserem Elend zurück. Che war, als der Streit zwischen meinen Eltern ausgebrochen war, auf die Terrasse geflüchtet. Ich folgte ihm. Er hockte vor Sonjas rotgetigertem Kater Shiva und kraulte ihm den Bauch. Ich erzählte ihm, während ich einen großen Abstand zu ihm hielt, dass Sonja einen Bluttest und zur Absicherung einen PCR-Test mit Lara machte.

„Keine Angst, ich habe sie nicht angefasst“, meinte ich scherzend.

„Schon einmal von Aerosolen gehört? Deshalb sollen wir doch alle immer den Mundschutz verwenden. Es reicht, wenn sie dich angeatmet hat.“

„Ach, ich glaube nicht, dass sie uns angesteckt hat. Genauso gut hätten wir im Zug etwas abbekommen können. Da waren genug mit einem einfachen Mundschutz. Die sollen doch so gut wie gar nichts helfen.“

„Natürlich kann ein Mundschutz nicht den Virus verscheuchen. Sie sollen hauptsächlich helfen, dass das Gesundheitssystem nicht total überlastet wird“, belehrte Che mich.

„Willst du nicht wieder reingehen? Die futtern uns noch die ganzen guten Sachen weg!“

Er erhob sich ächzend. „Ich habe mich eh schon überfressen, glaube ich.“ Während er es sagte, ging er vor mir zurück in die Küche.

„Am Land ist es viel schöner, spazieren zu gehen. Da muss man nicht anderen Leuten wie auf einen Spießrutenlauf ausweichen, hast du gesagt“, warf er mir vor, als er mir die Terrassentür aufhielt. Seine Augen blitzten mich an. Er machte also Spaß. Gut, dass wenigstens einer von uns die Nerven behielt.

 

Wir vertrieben uns, so gut es ging, die Zeit, bis Laras Testergebnisse vorlagen.

„Ich fühle mich bei unserer Regierung eigentlich in guten Händen. Sie verhalten sich sehr verantwortungsbewusst“, meinte meine Mutter zu Anjali.

„Ja, zumindest pflegen sie konsequent ihre heroischen Ideale“, gab ihr diese recht.

Che unterhielt sich mit Sami: „Ich bin vor dem Lockdown nicht oft in Restaurants gegangen, aber jetzt, mit Jazy, könnte ich mir das gut vorstellen. So ein romantisches Candlelight-Dinner in einer Pizzeria, oder einen Ausflug aufs Land machen und dort in ein gemütliches Wirtshaus einkehren - das wäre schon schön“, sagte er gerade zu meinem Bruder.

Er war so süß! Fast hätte ich ihm einen Kuss gegeben, da fiel mir ein, dass ich besser Laras Testergebnisse abwarten sollte, bevor ich ihn berührte.

„Bei uns spielt sich alles in, um, vor, hinter und an den Tankstellen ab“, erzählte ihm mein Bruder.

„Ja, ist in Wien nicht anders. Wenn die Maßnahmen strenger werden, werden die Umgehungen halt kreativer.“

„Die Strategie der Regierungen ähnelt dem Weg eines Betrunkenen nach einem Saufgelage“, mischte sich Pyotr in das Gespräch ein. Als Russe kannte er sich mit Saufgelagen wohl am besten von uns allen aus. Dann redete er mit Ben weiter über Cyberwar.

„Wettbewerbe, die früher auf dem Schlachtfeld ausgetragen wurden, haben sich in letzter Zeit massiv in den Bereich Internet und Cyberspace verlagert“, bestätigte ihm der Freund meiner Mutter.

Ich sah Che an, dass ihn das Thema interessierte. Er hatte den Oberkörper leicht vorgebeugt, um nur ja nichts zu verpassen. Dabei schaute er immer wieder zu den zwei Männern hinüber. Er und Ben hatten keinen guten Start gehabt, aber so IT-verrückt, wie beide waren, würde sich der raue Wind sicher bald legen.

„Wir sind gerade dabei, die ganze Welt zu digitalisieren“, erklärte Ben, „das ändert alles, die gesamten digitalen Strukturen, nicht nur Firmennetzwerke, sondern auch Wohnungen werden  gehackt.“

Erst neulich hatte ich mit Che über die Anschaffung einer „Alexa“ diskutiert. Er hatte ähnliche Bedenken geäußert.

 

Sonja und Lara kehrten zwei Stunden später zurück. Die ganze Aufregung war also voll umsonst gewesen. Meine Schwester zeigte mit beiden Händen das Victory-Zeichen. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Endlich konnte ich ihr von unserer neuen Tanz-Choreo erzählen. Wegen des quälend miesen Wetters, planten wir, den Dreh in einen von Sonjas Yoga-Räumen zu machen. Ich führte Che herum und wollte seine Meinung dazu hören.

„Lass das doch Lara entscheiden. Sie kennt sich mit den Lichtverhältnissen am besten aus“, riet er mir. Meine Schwester hob synchron ihre Augenbrauen und Hände.

Sie verlangte vorab eine Darbietung. Che wehrte sich vehement. Er hätte viel zu viel gegessen und prophezeite, mir vor die Füße zu kotzen, wenn ich ihn zwingen würde, jetzt zu tanzen. Ich dachte kurz daran, was alles von den Köstlichkeiten übriggeblieben war. Wahrscheinlich aßen wir die nächsten zwei Tage genauso viel.

„Wir sollten morgen vor dem Frühstück tanzen“, schlug ich vor. Lara tippte sich gegen die Stirn. Okay, ich hatte vergessen, dass sie keine Frühaufsteherin war.

„Also dann vor dem Mittagessen.“ Che und Lara seufzten.

 

Als wir zwei Tage später mit dem Tesla auf der Autobahn Richtung Wien unterwegs waren, seufzten Mutter und Ben gleichermaßen. Warum mussten alle Leute so theatralisch sein? Ich bearbeitete die beiden schon seit einer halben Stunde. Was war so schwer zu verstehen? Ich hatte ihnen klar gemacht, dass wir bei dieser Amina Begic alleine nicht weiterkämen und wir Bens Hilfe benötigten. Che saß schweigend und mit unergründlicher Miene neben mir. Ich hatte Ben vorgeschlagen, mich undercover als Putzfrau in dem Krankenhaus einzuschleusen, in dem sie arbeitete.

Er weigerte sich. „Es geht nicht. Ich habe es deiner Mutter versprochen.“, sagte er zum wiederholten Male. Seine Stimme nahm einen endgültigen Tonfall an.

Eigentlich hatte er mit dem Thema angefangen. Er hatte Che erzählt, Nachforschungen über diesen Rechtsanwalt angestellt zu haben. Dabei war rausgekommen, dass er und dieser Rolf Maurer verwandt waren. Er hatte zu jener Zeit, als Ches Eltern verschwunden sind, nur eine kleine und unbedeutende Kanzlei besessen. Kurz darauf hatte sich das aber geändert. Er war in ein modernes Bürogebäude umgezogen und hatte sich ein Penthouse in einer angesagten Gegend gekauft.

„Was hast du alles über diese Putzfrau rausgefunden?“, wollte meine Mutter von Ben wissen. Ich erzählte ihr von den schrecklichen Bildern in der Polizeiakte und dass die Begic selbst ein Opfer gewesen war.

„Wir haben bei ihr angerufen.“ Che hatte das erste Mal etwas zu dem Thema gesagt. Ich sah vorwurfsvoll in seine Richtung. Das hätte ich jetzt nicht extra erwähnt. Meine Mutter drehte sich erstaunt zu ihm um.

„Ich habe es zwei Mal versucht. Sie hat sofort aufgelegt und nicht mehr abgehoben. Dann hat es Jazy versucht und sie hat gedroht, uns anzuzeigen.“ Na toll! Jetzt konnten wir meinen Plan endgültig vergessen. Ich kannte meine Mutter. Sie sah mich böse an.

Als sie sich wieder nach vorne umgewandt hatte, schüttelte ich verständnislos meinen Kopf und sah Che dabei an. Er legte seine Hand auf mein Knie.

Nach etwa zehn Minuten wandte sich meine Mutter noch einmal an Ben. „Was sagst du dazu? Du hast nicht auf meine Frage von vorhin geantwortet.“

Ich sah, wie sich die Kiefermuskeln in Bens Gesicht angestrengt bewegten. „Ich halte die Frau für nicht gefährlich. Die ist da irgendwie reingezogen worden.“

Ich saß mit offenem Mund da und wartete, was als Nächstes geschah.

Nach einer mir endlos erschienenen Zeit sagte meine Mutter: „Also gut. Ich stimme Jazys Idee mit dieser Undercover-Aktion zu.“

Ich traute meinen Ohren kaum.

„Unter einer Bedingung.“

Ich hielt den Atem an.

„Ich mache es.“ Überrascht sahen wir alle drei sie an.

„Ich bin in ihrem Alter. Habe selbst Kinder. Und verstehe was vom Putzen.“

Okay. Alle drei Argumente klangen stichhaltig.

Ben räusperte sich. „Ich könnte sicher jemanden anderen dafür auftreiben ...“

„Traust du mir nicht zu, den Lockvogel zu spielen?“ Meine Mutter sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Was er nicht sehen konnte.

„Doch. Natürlich. Ich wollte es nur erwähnt haben.“ Puh, Ben. Das war knapp gewesen.

„Außerdem steht die Schneiderei ohnehin noch die nächsten Wochen still“, fügte meine Mutter hinzu.

„Du könntest dich im Krankenhaus infizieren. Nur fürs Protokoll.“

„Ich passe sicher besser auf als Jazy.“

Ich sah, wie Ches Zunge zustimmend gegen seine geschlossene Unterlippe drückte.

 

 

Ben

 

 

Ich war nie jemand gewesen, der seinem Glück hinterherjagte. Eher das Gegenteil. Herausforderungen zogen mich magisch an. Besonders, wenn sie gefährlich waren. Vorbelastet durch meine Mutter, einer anerkannten Psychologin, und meinen Vater, der philosophische Reflexion griechischer Mythologien betrieb, würde ich es vielleicht eine anerzogene charakteristische Verhaltensstörung nennen. Freud hätte es wahrscheinlich als Neurose bezeichnet. Die Übergänge waren da fließend. Die Erfahrung hatte mich aber gelehrt, ein Wespennest zu erkennen, ohne erst darin herumstochern zu müssen. Und bei dieser Geschichte wurde die Angriffslust der ersten Wespe bereits dokumentiert. Diese Amina Begic war bereits gereizt worden. Reizbarkeit war bei Frauen nichts Ungewöhnliches. Aber war es klug, ausgerechnet meine Frau, der sicher einmal ein Denkmal für besondere Reizbarkeit gesetzt werden würde, auf eine so heikle Mission zu schicken?

In den letzten Tagen hatte ich Stunden damit zugebracht, diesen Fall zu recherchieren. Wahrscheinlich hätte ich es auch getan, wenn dieser Junge nicht gerade in Begriff gewesen wäre, ein potentieller Schwiegersohn zu werden. Ich mochte den Kerl. Schon lange. Lange bevor Jasmin angefangen hatte, sich für ihn zu interessieren. Damals, als ich den Mietvertrag mit ihm abgeschlossen hatte, war mir aufgefallen, dass er clever war. Eine eigene Meinung hatte und sich nicht über den Tisch ziehen ließ. Die alte Frau im Erdgeschoß kannte ihn sein ganzes Leben und wusste alles über ihn. Da ich ein guter Zuhörer war, traf das auch auf mich zu.

Obwohl ich gut darin war, alles was ich wissen wollte irgendwie herauszufinden, gab es Grenzen. Bei diesem Rechtsanwalt, dessen Visitenkarte mir Che aufs Handy geschickt hatte, war definitiv etwas faul. Das spürte ich im kleinen Finger. Ich wusste nur noch nicht, was es war.

Sein Netzwerk war überaus gut gesichert und Isak, mein bester Mann im Ausspionieren von Firmensoftware, war noch im Krankenstand. Sicher würde er abheben, wenn ich ihn anrief. Aber das hier war kein offizieller Auftrag. Das war eine Privatangelegenheit. Bestenfalls ein Fall für Interpol, aber nicht für die CSA.

Ich wählte die Nummer meines Verbindungsmannes bei der Wega. Natürlich war er nicht gerade begeistert, von mir zu hören. Meist bewegten wir uns außerhalb des legalen Rahmens, wenn wir uns gegenseitig Gefallen leisteten. Längst hatte ich mich an den grantigen Tonfall gewöhnt, der hier in Wien zum Kulturgut gehörte.

„Besteht eine Möglichkeit, jemanden als Reinigungskraft im AKH einzuschleusen?“, fiel ich gleich mit der Tür ins Haus.

„Sie sind ein Spaßvogel!“ Der Mann räusperte sich. „Meinen Sie das ernst?“

„Wir müssten dort eine Reinigungskraft beschatten. Also ja.“

„Hm. Wahrscheinlich könnte man da gerade zwanzig Leute unterbringen, ohne dass jemand Verdacht schöpft.“ Der Mann klang nachdenklich. „Wenn Sie wen finden, der das zurzeit freiwillig macht?“

„Das habe ich schon alles gecheckt. Also: Wie sieht es aus?“

„Ja. Kein Problem. Ich melde mich, wenn ich einen Ansprechpartner für Sie habe. Wie heißt denn die Zielperson?“

„Amina Begic.“

„Also gut. War´s das?“

Ich überlegte kurz. „Gab es jemals Bedenken, oder Ermittlungen gegen einen gewissen Dr. Gerd Schumann? Er leitet eine Rechtsanwaltskanzlei im Zehnten. Sagt Ihnen der Name etwas?“

„Ich hör mich um.“

„Danke.“ Ich beendete das Gespräch. Das war vergleichsweise leicht gegangen. Die Probleme würden früher auf mich zukommen, als mir lieb war. Ich hatte da so eine Ahnung.

Ich erhob mich und verließ mein Arbeitszimmer. Selma stand an ihrem Arbeitstisch und sortierte Schnittmuster. Sie drehte sich zu mir und blickte mich fragend an. In ihren High Heels, dem Hosenanzug und der Satinbluse sah sie nicht gerade wie jemand aus, der seit Wochen im Lockdown lebte. Vielleicht trug sie etwas weniger Make-up als früher?

Dass unsere Beziehung nun schon seit einigen Jahren funktionierte, grenzte an ein Wunder. Im Prinzip waren wir beide selbständige und unabhängige Persönlichkeiten - und doch ergänzten wir uns auf eine besondere Weise. Sie gab meinem Leben eine Struktur. Ich verkörperte für sie den puren Nervenkitzel. Kein Wunder also, dass sie mich sofort fragte: „Was ist jetzt schon wieder passiert?“ Es kam nicht so oft vor, dass ich in ihr Atelier kam.

„Bist du wirklich sicher, dass du das machen willst, Honey?“

„Putzen? Was soll daran schon kompliziert sein?“

„Du hast das noch nie gemacht.“

Sie lachte laut.

„Ich meine, jemanden auf den Zahn fühlen.“

„Traust du es mir nicht zu? Wofür hast du mir in all den Jahren immer wieder gezeigt, wie man scharf schießt und sich selbst verteidigt?“

„Vor ein paar Tagen wolltest du mich nicht mehr in dein Haus lassen. Schon vergessen, Mrs. Smith?“

„Da ging es auch um Jasmin! Das ist was anderes. Ich kann auf mich aufpassen. Sie ist noch ein Kind. Ich meine ... du kennst Jasmin.“

„Mir ist es auch lieber, du machst es.“

Während sie weiter ihren Arbeitstisch aufräumte, erklärte ich ihr, so gut ich konnte, alles über Verhörtipps. Immer wieder standen wir uns in dem vollgeräumten Atelier im Weg.

„Glaubst du, Jasmin und Oliver passen zueinander?“, unterbrach sie meinen Vortrag. „Sie sind so unterschiedlich.“

Ich bewegte verständnislos den Kopf. „Gerade das macht doch den Reiz in einer Beziehung aus, oder nicht?“ Die beiden waren nicht unterschiedlicher als wir. Wollte sie mir etwas anderes mitteilen? Ich sollte besser nicht zu viel in ihre Frage hineininterpretieren. Sicher machte sie sich nur Sorgen, Jasmin könnte eine Enttäuschung erleben. „Ich mag den Jungen.“

„Genau deshalb habe ich gefragt. Jasmin ist so flatterhaft.“

Sie machte sich also mehr Sorgen um ihn als um ihre Tochter? Ich erzählte ihr alles, was ich über Che wusste. Es schien sie etwas zu beruhigen.

„Der arme Kerl.“ Sie war ehrlich betroffen.

„Wieso? Er hat gelernt, auf sich selbst aufzupassen. Nicht gerade ein Nachteil, würde ich sagen.“

„Ja. Ich meine, dass er immer nur alte Menschen um sich hatte.“

„Ich finde nicht, dass ihm das geschadet hat. Jasmin bringt ohnehin genug Wirbel für zwei mit. Durch ihn erfährt sie jetzt, dass das Leben nicht immer und für alle ständig die Butterseite bereithält.“

Selma lächelte gezwungen. Ich zog sie in meine Arme und meinte grinsend: „Ich weiß, das macht dich verrückt. Du hast keine Kontrolle darüber. So ist das Leben, mein kleiner Kontrollfreak.“

Sie stemmte ihre Hände halbherzig gegen meine Brust. Eigentlich sollte sie inzwischen gelernt haben, dass sie mich damit nicht unter Kontrolle halten konnte. Dieser Frau musste man hin und wieder die Zügel aus der Hand reißen. Ich zog ihr die Bluse aus der Hose und ließ meine Hände darunter wandern. Kein BH! Noch so ein Zugeständnis an diesen Shutdown? Ich zog ihr den Blazer aus und knöpfte langsam ihre Bluse auf. Ihre Festung begann zu bröckeln, als sie die Augen schloss.

 

Als ich das nächste Mal meine Mails abrief, fand ich darunter ein Dossier über diesen Rechtsanwalt.

Einiges war aufschlussreich. Er kam aus einer gutbürgerlichen Familie. Die Großeltern, Sudetendeutsche, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach Österreich geflohen waren, hatten beide unterrichtet. Der Großvater war Schuldirektor in einem kleinen Waldviertler Ort gewesen. Der Vater Tierarzt und Universitätsdozent. Die Mutter arbeitete als seine Assistentin. Gerd Schumann war in diesem Waldviertler Ort aufgewachsen, genau wie sein Cousin. Der ledige Sohn der Schwester seiner Mutter. Das hatte ich bereits selbst herausgefunden. Zum Jus-Studium kam er nach Wien, und arbeitete nach seinem Abschluss mehrere Jahre in einer Wirtschaftstreuhandkanzlei, um sich 1997 selbständig zu machen. Zuerst mit einem kleinen Einmannbüro, zwei Jahre später gründete er diese Luxuskanzlei.

Auf seiner Homepage posierte er in einem wuchtigen Bürostuhl an einem gläsernen Schreibtisch mit dem Firmenemblem, seinen Initialen „GS“, auf einem Bronzestich an der Wand hinter ihm. Die Kanzlei beschäftigte inzwischen drei weitere Anwälte mit insgesamt zwanzig Mitarbeitern. Gerd Schumann war klein und eher schmächtig gebaut, schütteres Haar, modische Brille, mit einem verschlagenen Ausdruck in den Augen. Offensichtlich hatte sich die Kanzlei auf internationale Patentstreitfälle und ausländisches Steuerrecht spezialisiert. Sie vertrat hauptsächlich Unternehmen. Außergerichtlich genauso wie vor Gericht. Meist ging es um rechtliche und steuerrechtliche Angelegenheiten.

Wahrscheinlich wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, dass ich über diesen Mann gestolpert wäre. Die Informationen reichten, um zum Hörer zu greifen und Isak zu bitten, sich in die Firmensoftware der Kanzlei zu hacken. Ich setzte ihn vor allem auf Hinweise auf Holzimporte aus Asien an und bat ihn, möglichst alle Fälle aus den Anfangsjahren der Kanzlei und davor zu überprüfen.

Danach rief ich meinen Mann bei der Wega nochmals an, bedankte mich für das Dossier und erkundigte mich, wie es mit der Undercover-Aktion aussah.

Ich hätte ihm besser eine Mail schicken sollen, denn er erging sich in einem nicht enden wollenden Monolog über die Pandemie-Maßnahmen. Spitzfindig versuchte er, mit mir darüber zu diskutieren, ob alte Menschen „an“ oder „mit“ Covid gestorben seien. Ich persönlich hatte zu keinem Zeitpunkt das Gefühl gehabt, dass der Tod von Menschen jenseits des 75. Lebensjahres von der Regierung billigend in Kauf genommen wurde. Ich fand sogar, sie vertraten klar die Linie, dass der Wert einer Gemeinschaft davon abhing, ob sie imstande war, ihre schwächsten Mitglieder zu schützen. Die Regierung leistete in dieser Hinsicht erstaunlich gute Arbeit. Wobei ich eigentlich für noch weit strengere Regelungen und Kontrollen gewesen wäre. Wahrscheinlich kam hier mein militärischer Hintergrund durch. Wie es hingegen in den Staaten aussah, daran wollte ich keinen Gedanken verschwenden. Ich hatte mir geschworen, mich allen politischen Diskussionen zu entziehen, solange der Clown mit den orangen Haaren im Weißen Haus saß.

Die Wut des Beamten, angesichts der Maßnahmen, die mir vergleichsweise moderat erschienen, verstand ich nicht. Lange war ich der Auffassung gewesen, in Österreich und Deutschland müssten Disziplin und Gehorsam in hohem Maße vorhanden sein. Seit Beginn des Lockdowns wurde mir immer klarer, das die Menschen hier in Wahrheit Anarchisten waren. Als würden sie überkompensieren, dass sie in der Nazizeit zu leichtfertig Anordnungen und Regeln befolgt hatten.

Ich würgte bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit entschuldigend das Telefonat ab. Immerhin musste ich mir den Kerl ja auch warm halten.

Danach reagierte ich mich mit einem schweißtreibenden Fitnessprogramm, wie ich es von der Army kannte, ab. Ich war gerade bei den Mountain-Climbers, als mein Telefon läutete. Laut atmend meldete ich mich.

„Ähm, Chef? Haben Sie noch jemanden auf das Knacken der Firewall dieser Anwaltskanzlei angesetzt?“

„Natürlich nicht“, blaffte ich harsch und atemlos in mein Telefon. Was wollte mir Isak damit sagen? „Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?“

„Da ist schon jemand von außerhalb im System und verhält sich wie der Elefant im Porzellanladen. Übrigens sucht er in denselben Dateien, die ich mir gerade vornehmen wollte. Könnte sein, dass das nicht unbemerkt bleibt. Soll ich trotzdem weitermachen?“

Verdammt! Ich hatte da eine Ahnung. „Ich kümmere mich darum. Natürlich sollen Sie weitermachen.“

Ich steckte das Telefon in meine Trainingshose und stürmte aus der Wohnung.

Ohne vorher anzuklopfen, schloss ich die Wohnungstür unter meiner auf. Wenn sich mein Verdacht bestätigte, würde ich ohnehin nicht in eine intime Situation platzen. Jasmin saß mit ihrem Laptop am Schoss auf dem Küchenboden und sah mich mit offenem Mund an. Ich lief an ihr vorbei und stieß die Tür zu Olivers Zimmer auf.

Er hatte seine randlose Brille auf und wirkte wie ein harmloser Student bei seiner Hausaufgabe. Mit drei Schritten war ich hinter ihm und starrte auf den Bildschirm.

„Was zum Teufel machst du da?“, schrie ich ihn an. Stieß ihn zur Seite und schloss, möglichst keine Spuren hinterlassend, die aufgebaute Verbindung zum Netzwerk der Anwaltskanzlei. Schweißperlen tropften von meiner Stirn auf die Tastatur.

„Wie ...?“ Der Junge saß zusammengesunken in seinem Schreibtischstuhl.

„Ben?“ Jasmin stand in der offenen Tür und hatte die Augen aufgerissen.

Ich vergewisserte mich, dass ich möglichst alle Spuren des dilettantischen Zugriffs verwischt hatte, und widmete mich dem mir sprachlos zusehenden Jungen. „Das solltest du wirklich einem Profi überlassen!“, schimpfte ich. „So, wie du die Sache angehst, kann ein guter SAPler deinen Zugriff zurückverfolgen!“

Oliver rieb sich unbehaglich den Nacken. „Überwachst du etwa meinen PC?“ Seine Stimme klang gefährlich ruhig.

Ich kannte ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er diese Ruhe nur spielte. „Bisher nicht, aber wenn du noch weitere solche Aktionen lieferst, müsste ich es mir überlegen.“

„Che? Was soll das bedeuten?“ Jasmin stellte sich neben mich und sah uns beide gespannt an.

„Dein Freund hat gerader Hacker gespielt! Isak, der sich mit solchen Sachen besser auskennt, hat es bemerkt. Ich hoffe rechtzeitig.“ Ich sah, wie Oliver betreten schluckte. „Nächstes Mal frag lieber vorher, wie man so etwas unauffällig macht.“ Ich wischte mir mit meinem Shirt den Schweiß von der Stirn.

„Che? Was hast du gemacht?“ Jasmins Stimme klang vorwurfsvoll.

„Ich wollte etwas über diesen Anwalt rausfinden“, erklärte er ihr.

„Du lässt schön die Finger von der Sache, hörst du? Ich sage dir dann, was Isak rausgefunden hat.“ Grußlos ließ ich die beiden jungen Leute zurück und ging wieder einen Stock höher.

 

Das Sichten der Dateien, die Isak mir geschickt hatte, würde Tage, wenn nicht gar Wochen in Anspruch nehmen. Ich öffnete einen verdächtigen Akt aus dem Jahr, in dem Olivers Eltern verschwunden waren. Es ging um eine Firma, die Steuern und Abgaben auf importiertes Tropenholz nicht gezahlt hatte. Gerd Schumann hatte sie verteidigt. Die Firma hatte sowohl Verkauf, als auch Weiterverarbeitung des Holzes falsch deklariert, um zu vertuschen, dass es sich um geschützte Baumarten gehandelt hatte.

Bingo! Das sah nach einem vielversprechenden Zufallstreffer aus. Ich suchte nach weiteren Fällen, in die dieselbe Firma verwickelt gewesen war.

Fehlanzeige.

Nun, ich war kein Anfänger. Ich suchte nach Namen und Adressen, sogar nach Telefonnummern. Rasch erzielte ich mehrere Treffer. Es war nicht neu für mich, dass Verbrechersyndikate ständig Firmen umbenannten, oder die Adressen änderten. Aus Bequemlichkeit benutzten sie aber gerne für Nachfolgeunternehmen die alten Firmensitze und umgekehrt. Ich arbeitete einige der Treffer oberflächlich durch. Meist hatten die von Gerd Schumann vertretenen Firmen die Gerichtsverfahren verloren und waren zu horrenden Strafzahlungen verdonnert worden. Sah man sich aber die Summen an, die der Anklage zu Grunde gelegen hatten, waren diese Strafen nicht mehr als ein Betrag aus der Portokasse.

Ich hatte fürs Erste genug gesehen. Ich machte mich daran, zu recherchieren, welche Abteilung bei Interpol ich in dieser Sache um Hilfe bitten konnte.

In den frei zugänglichen Informations-Notizen von Interpol fand ich Hinweise, dass fünfzig bis neunzig Prozent des weltweit gehandelten Tropenholzes als illegal geschlägert eingestuft wurden. Nicht nur Tropenholz war betroffen. Betrachtete man den weltweiten Holzhandel, ging man noch immer von fünfzehn bis dreißig Prozent aus, die auf illegalem Wege in die EU importiert wurden.

Holz, Papier und Zellstoffe, waren wertvolle Ressourcen. Bis 2004 erfolgte ein Großteil des illegalen Handels für den deutschen und österreichischen Markt über die Ukraine und Polen. Wegen des Beitritts Polens in die EU hatte er sich jetzt in Balkanländer verlagert.

Ich las mich ein wenig in die Materie ein. Gesetzesverstöße konnten praktisch an jedem Punkt der Lieferkette auftreten. Von der Ernte über den Transport bis hin zur Verarbeitung und zum Verkauf. Häufig gab es Zusammenhänge mit anderen illegalen Aktivitäten, wie Dokumentenbetrug, Korruption und Geldwäsche. Transportpapiere konnten leicht gefälscht werden. Kontrollorgane leicht bestochen werden. Nicht selten waren schon die Schlägerungsgenehmigungen durch undurchsichtige Ausschreibungen zustande gekommen. In den meisten großen Sägebetrieben kam es zu undurchschaubaren Durchmischungen von legalem und illegalem Holz. Zolldeklarationen waren oft nicht das Papier wert, auf dem sie gedruckt waren.

Es war ein Sumpf! Wie ich es bereits vermutet hatte. In den Dokumenten fand ich einige Namen, die ich durch meine Datenbank laufen ließ. Nicht, dass ich noch versehentlich einen bestechlichen Inspektor bei Interpol aufscheuchte. Ich entschied mich für einen Kommissar, der schon seit Jahrzehnten immer wieder lokale Beamte und sogar Militärs überführt hatte, an illegalen Machenschaften im Forstsektor beteiligt gewesen zu sein. Er hatte mehrere strategische Kriminalitätsanalysen zu diesem Thema veröffentlicht. Das alleine sagte schon einiges über den Mann aus. Sein Name war Theo Bartuschek. Ich wählte auf gut Glück seine Nummer.

„Kriminalhauptkommissar Bartuschek“, meldete er sich.

„Chief Resident Adler, ich arbeite für die US-Botschaft in Wien.“ Ich musste ja nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen und mich als CIA-Agent zu erkennen geben.

Schweigen am anderen Ende der Leitung. Entweder war er überrascht, weil er meinen Dienstgrad dem Geheimdienst zugeordnet hatte, oder er wartete einfach darauf, dass ich weiterredete. „Ich bin gerade mit einem Fall beschäftigt, der Ihr Spezialgebiet betrifft. Sagt Ihnen der Firmenname APP etwas?“

„Ein multinationaler Konzern mit Sitz in Singapur. Zählt zu den größten Zellstoff- und Papierherstellern der Welt. Er liefert auch nach Europa und ist uns bereits mehrfach wegen drastischer Umweltverstöße aufgefallen. Liege ich richtig?“

Der Name war bei neueren Dateien, die mir Isak geschickt hatte, mehrfach aufgeschienen. Ich hatte ihn ins Blaue hinein gewählt. Aufgefallen waren mir Überweisungen hoher Beträge von Schweizer und englischen Bankkonten.

„Richtig. Es geht um illegalen Holzschmuggel auf dem Seeweg zwischen Malaysia und Indonesien“, gab ich die Informationen weiter, die ich aus einer illegal gehackten Datei einer Anwaltskanzlei gewonnen hatte. Das musste der kriminalpolizeiliche Vollzugsdienst des Bundes ja nicht erfahren.

„Verstehe. Was wollen Sie von mir?“

„Wir sind hier in Wien auf eine Anwaltskanzlei gestoßen, die seit Jahrzehnten alle möglichen Fälle verteidigt, in denen es um illegalen Holzhandel geht. Ich wollte um Ihre Zusammenarbeit bitten.“ Ich hatte das nicht mit meiner Zentrale besprochen, auch das musste der Beamte im Öffentlichen Dienst nicht wissen. Er hatte einen sicheren Job und geregelte Arbeitszeiten. Wahrscheinlich hatte er Volkswirtschaftslehre studiert und hätte nie damit gerechnet, jemals in einem so spannenden Beruf zu landen. „Die Kanzlei gehört einem gewissen Doktor Gerd Schumann. Sagt Ihnen der Name vielleicht etwas?“

Menschen mit guten Fähigkeiten für Analysen und Strukturen hatten meist auch ein gutes Namensgedächtnis.

„Noch nicht.“ Die Stimme am Telefon klang jetzt misstrauisch.

„Vor einigen Jahren bekannte sich APP im Sinne der Anklage schuldig und erklärte sich zur Zahlung einer Geldstrafe in Höhe von dreizehn Millionen US-Dollar bereit. Das Verfahren wurde über diese Kanzlei abgewickelt.“

„Worauf wollen Sie hinaus?“ Ich überlegte, ob sein Tonfall pflichtbewusst, rationell oder zurückhaltend klang. Wahrscheinlich von allem ein wenig. Letztlich war es aber unbedeutend. Der Mann war Analyst.

„Eigentlich hatte ich gehofft, Sie wären bereits vor uns auf diese Kanzlei aufmerksam geworden. Es fällt nicht unbedingt in unser Aufgabenresort. Also wollte ich Ihnen nur einen Wink geben, sich dort einmal unauffällig umzusehen.“

„Insgesamt summieren sich die Importmengen an illegalem und verdächtigem Holz aus den vier kritischen Regionen, Osteuropa inkl. Russland, Südostasien inkl. China, Lateinamerika und Afrika, in die EU auf eine Gesamtmenge zwischen sechsundzwanzigkommafünf und einunddreißig Millionen Kubikmeter. Wir reden von Zellstoff für Klopapier“, er betonte das Wort genüsslich, „Holzkohle, Schnittholz, Sperrholz, fertige Holzprodukte, Profilholz. Ganz zu schweigen von den Unmengen an Holz, die durch Importe aus China direkt in die einzelnen Haushalte geliefert werden. Warum denken Sie, dass wir uns noch zusätzliche Arbeit von Ihnen aufhalsen lassen? Gibt es niemanden in Österreich, der sich in der Materie auskennt?“

Diese Frage überraschte mich dann doch. Hatte ich den Mann gänzlich falsch eingeschätzt? Dass man hier in Europa um jeden Gefallen betteln musste, hatte ich inzwischen auch gelernt.

„Kennen Sie etwa jemanden hier in Österreich, den ich fragen könnte?“

Keine Antwort.

„Es ist eine persönliche Sache.“ Ich versuchte es  mit ein wenig Ehrlichkeit. Oft kam man damit immer noch am weitesten.

„Hm. Schicken Sie mir den Namen dieser Anwaltskanzlei per E-Mail. Wenn ich etwas für Sie habe, kann ich Sie auf diesem Weg zurückkontaktieren.“

Das war zumindest ein Anfang. Ich notierte mir seine E-Mail-Adresse und verabschiedete mich höflich.

 

Selma war nervös. Kein Wunder. Sie spielte zum ersten Mal den Lockvogel.

Wir saßen beim Frühstück. Im Radio wurde soeben von Menschen berichtet, die heimlich eine Party gefeiert hatten. „Das kann doch nicht sein! Die Polizei müsste etwas dagegen tun!“, wetterte sie empört.

„Calm down, Honey. Wir kennen eh keine Leute, die bei so etwas mitmachen würden.“

„Du gehst ja gleich nicht stundenlang ins Krankenhaus putzen!“, warf sie mir vor. „Meinst du, dort hängen sich diese Typen ein Schild um den Hals, wo drauf steht ‚War gestern auf einer Party‘?“

Die einen fühlten sich als Opfer dieser pandemischen Bedrohung und feierten zum Trotz, die anderen riefen nach der Polizei, die doch rigider vorgehen sollte.

„Schon Robert F. Kennedy hatte diesen passenden chinesischen Fluch zitiert „Mögest du in interessanten Zeiten leben.“ Ich griff zu meinem Telefon, nippte von meinem Frühstückstee und entzog mich so einer Antwort. Dass ich dafür von giftigen Blicken durchbohrt wurde, ignorierte ich.

Selma trug bequeme sportliche Kleidung. Eine Leggins und ein atmungsaktives T-Shirt. Turnschuhe. Die Haare hatte sie zusammengebunden. Ich hätte es lieber gesehen, wenn sie zum Sport ginge und nicht auf diese Undercover-Mission.

Ich wollte, dass sie eine Spezialbrille trug. Mit integrierter Kamera und Mikro. Doch sie weigerte sich. „Hast Du schon einmal Brille und Mund-Nasen-Schutz gleichzeitig aufgehabt?“, fragte sie mich genervt.

Ich sah sie fragend an.

„Die Brille beschlägt und ich sehe nichts mehr. Außerdem würde sie mich beim Putzen behindern. Da muss ich mich doch ständig bücken und schwitzen werde ich sicher auch.“

Ich überlegte, ob ich ihr sagen sollte, mit welchen Widrigkeiten wir damals in Afghanistan zu kämpfen hatten. Da hatten wir meistens mindestens dreißig Kilo Kampfausrüstung mit uns herumgeschleppt. Den obligatorischen Knopf im Ohr hatte sie ebenfalls abgelehnt.

„Du hast gesagt, fürs erste reicht es, wenn ich Vertrauen aufbaue. Das schaffe ich, ohne dass mir jemand ständig ins Ohr quatscht.“

Normalerweise blieb ich nicht auf halbem Weg stehen, wenn ich mir etwas vorgenommen hatte. Koste es, was es wolle. „Vielleicht war es eine blöde Idee, Honey. Wir sollten das Ganze abblasen.“

„Nein!“ Sie sah mich an, wie es meine Mutter getan hatte, solange ich ein Kind gewesen war. Ich verengte meine Augen und sah streng zurück. Jeder andere hätte Angst bekommen, wäre meinem Blick ausgewichen und hätte akzeptiert, dass ich die Situation beherrschte. Doch Selma war nicht wie andere. Wie ein Kind fühlte ich mich nicht in der Lage, mich zu behaupten. Wie damals war da dieses Gefühl von Bitterkeit. Es gefiel mir gar nicht, mich unterzuordnen. Und ich hatte wirklich kein gutes Gefühl bei der Sache.

„Jetzt sieh mich nicht so an!“, herrschte sie mich an. „Da werde ich nur noch nervöser.“

*

„Ich bin fix und foxy!“ Meine Frau ließ die Turnschuhe nachlässig im Flur stehen und warf sich auf das Sofa in der Wohnküche.

„Soll ich dir was zu essen machen?“, bot ich an.

„Nein. Ich bin sogar zum Essen zu fertig. Lass mich einfach nur hier liegen.“

Ich machte ihr trotzdem etwas von dem Auflauf warm, der von gestern übrig war. Als ich ihr den Teller brachte, beschwerte sie sich: „Ich dachte, ich weiß alles übers Putzen. Aber im Krankenhaus gelten andere Regeln.“

„Na freu dich doch! Jetzt hast du die Chance, diese fehlende Erfahrung nachzuholen.“

Sie starrte mich böse an. Ich setzte mich ans Fußende des Sofas und knetete ihre Füße. Sie balancierte den Teller auf ihrem Bauch.

„Konntest Du mit ihr reden?“

„Ja. Ich wurde ihr zugeteilt und habe den ganzen Tag mit ihr gemeinsam geputzt. Sie war glücklich, dass ich ihr geholfen habe, obwohl sie mir alles erst zeigen musste. Wegen meiner Hilfe war sie heute eine halbe Stunde früher fertig als sonst.“ Selma lachte schnaubend. „Das sagt wohl alles aus über meine Putzkompetenz.“

„Was hattest du für einen Eindruck?“

„Sie ist nett. Ziemlich verschlossen zwar, aber vielleicht wird das noch in den nächsten Tagen. Weißt du, was sie mir als Erstes gesagt hat? Noch bevor wir überhaupt angefangen haben zu putzen? „Mit einem Kübel und einem Putzlappen in der Hand sieht dich hier keiner.“ Ist das nicht unglaublich? Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass sie ihre Arbeit gern macht. Sie wirkte nicht mürrisch oder so.“

„Hast du schon etwas über ihr Privatleben herausgefunden?“

„Nur, dass sie eine Tochter hat. Wir haben in der Pause über unsere Kinder gesprochen. Sie macht sich Sorgen, dass die Tochter ihr Leben im Moment nicht richtig genießen kann, wegen des Lockdowns. Ich meine, die sitzt zu Hause und tut nichts. Während Amina sich für sie den Arsch aufreißt.“

Ich musste grinsen. Sie hatte selbst nicht gewollt, dass Jasmin während des Studiums irgendeinen Job annimmt, um selbst etwas zum Unterhalt beizutragen.

„Lässt du mir ein Bad ein? Ich kann mich sonst morgen sicher nicht mehr rühren wegen des Muskelkaters.“ Sie stellte den Teller zur Seite.

„Sicher, Honey. Ich bin stolz auf dich!“ Ich gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze und ging ins Bad. Während ich wartete, dass die Wanne volllief, schaute ich durch die geöffneten Jalousien zum Fenster hinaus. Die Wolkenwelt hatte sich verändert. Die Wolken türmten sich hoch und breit auf. Kein Flugzeug riss sie auseinander oder löste sie auf. Ich sah keine Kondensstreifen. Die Luft wirkte rein. Trotz dieses beruhigenden Ausblicks fühlte ich ein leichtes Unbehagen. Es wartete noch viel Arbeit auf mich. Ich hatte bei den Daten, die Isak mir zukommen ließ, erst an der Oberfläche gekratzt. Ich musste herausfinden, welche Rolle dieser Rolf Mauerer in der ganzen Sache spielte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Amina - Der Streit

 

„Wer war das, Bärli?“

Rolf steckte das Handy ein und nahm das Besteck wieder auf. Ich sah wie Messer und Gabel in seinen Händen zitterten. In meinem Gehirn ratterte es wie in einem Computer. Blitzschnell zog es seine Schlussfolgerungen. Erst vor ein paar Tagen war es mir ähnlich ergangen. Das Handy hatte geläutet und seither war es vorbei mit meiner Ruhe. Hatten diese Leute jetzt irgendwie seine Nummer rausbekommen?

Aber das war gänzlich unmöglich. Ich hatte der Polizei damals nie etwas von Rolf erzählt! Machte ich mich gerade selbst verrückt? Ich bekam keine Antwort auf meine Frage. Als hätte er mich nicht gehört.

Nach dem Essen griff er zu der Packung Zigaretten auf dem Tisch und ging auf den Balkon.

„Kannst du den Tisch abräumen, Schatzi?“, wandte ich mich an Sofia und folgte ihm.

Es war spät und bereits kühl. Vorhin am Telefon hatte er sich, nachdem er nachgesehen hatte, welche Nummer anrief, mit einem kleinlauten „Ja?“ gemeldet. Es war sicher keiner seiner Kumpels von der Arbeit gewesen. Das Telefonat war nicht aufschlussreich gewesen. Außer „Ja“ und „Okay“, hatte Rolf nichts gesagt. Jetzt klebte eine Zigarette in seinem Mund. Mit beiden Händen massierte er seinen Nacken. Sein Blick irrte unruhig in die Ferne.

„Ist wieder wer krank geworden und du musst noch eine Schicht übernehmen?“, versuchte ich, dem Telefonat nachzugehen.

Verständnislos sah er mich an.

„Der Anruf eben“, half ich ihm weiter. „Wer war das?“

„Das war Gerd. Ja, Gerd.“

Mir wurde kalt. Sein Cousin? Dieser schmierige Anwalt? Seit einer Ewigkeit hatte er sich nicht mehr bei Rolf gemeldet. Bei den seltenen Familientreffen waren wir ihm immer aus dem Weg gegangen. Rolf war ihm immer aus dem Weg gegangen. „Was will denn der auf einmal wieder von dir?“

Ich war mir ganz sicher, der Kerl hatte etwas mit Rolfs Problemen zu tun. Meine Frage schien ihn zu verunsichern. Er drückte die halb gerauchte Zigarette auf der Betonfassung der Blumenkiste aus und zündete sich sofort eine neue an.

„Ich soll morgen nach der Arbeit zu ihm kommen. Er will, dass ich zu ihm komme. Gerd hat angerufen. Er will, dass ich morgen zu ihm komme.“ Er klang nervös und wiederholte seine Worte, wie er es immer tat, wenn er sich unwohl fühlte.

„Kannst du nicht sagen, dass das nicht geht? Wegen des Virus? Immerhin arbeite ich im Krankenhaus! Du könntest ihm sagen, wir dürfen niemanden treffen.“

Er sah mich fast erleichtert an. „K...kannst du ihm das sagen? Ich ... Ich will eh nicht!“ Er streckte mir sein Handy entgegen. „Ruf ihn an! Sag ihm, i...ich kann nicht kommen. Wegen dem Krankenhaus. Ich kann nicht kommen!“

Er tat mir leid. So verwirrt und aufgeregt war er schon lange nicht gewesen. Oder war er verängstigt? Ich nahm das Smartphone und ging auf die Anrufliste. Wählte den letzten eingegangenen Anruf aus und rief zurück.

„Rolfi! Was ist?“, meldete sich der Mann sofort.

„Da ist die Amina. Rolf kann morgen nicht kommen.“

„Was heißt?“

„Ich arbeite jetzt im Krankenhaus. Das ist ganz streng. Wir dürfen privat keine Leute treffen!“

„Geh, Pupperl! Gib mir noch einmal den Rolfi.“

Fieberhaft überlegte ich mir, wie ich ihn davon überzeugen könnte, mir zu glauben. „Er muss außerdem eine Schicht für einen kranken Kollegen übernehmen.“ Ich schaute entschuldigend zu Rolf hinüber, der mich irritiert ansah. Mit Notlügen hatte er so seine Probleme.

„Ja, passt schon. Und jetzt gib mir den Rolf!“

Ich überlegte, einfach aufzulegen. Dann würde er ihn so lange anrufen, bis ich nicht in der Nähe war. Ich drückte auf die Lautsprechertaste und hielt Rolf das Handy hin. „Er will noch einmal mit dir sprechen.“

Fast widerwillig nahm mein Mann das Telefon entgegen. „Ja?“

„Was mischt sich deine Alte in unsere Angelegenheiten ein? Hä? Was bist denn du für ein Mann? Du kommst morgen zu mir, egal wann. Sonst kannst was erleben! Dann sehn´ wir uns auf der Blutwiesen! Verstehst mich?“

Was sollte diese Drohung?

„Was meint der, Bärli? Wieso sagt der: „… sonst kannst was erleben“?, verlangte ich eine Antwort, als Rolf das Handy wieder weggesteckt hatte.

Er schmiss die Zigarette, ohne sie vorher auszudämpfen, über das Balkongeländer und schubste mich zur Seite, um zurück ins Wohnzimmer zu gelangen. Ich folgte ihm und griff besänftigend nach seinem Ellbogen. „Bärli! Du kannst mir alles sagen! Ich kann dir nur helfen, wenn ich weiß, was los ist?“

„Du b...brauchst dich gar nicht einzumischen. Genau! I...ich bin der Mann! Nur, dass du‘s weißt.“ Dieses Mal stieß er mich unsanft von sich.

Sofia lachte schnippisch. Ich sah sie böse an. Es war gerade kein guter Zeitpunkt für irgendwelche Machtspielchen. Auch wenn sie sich ihrem Vater geistig überlegen fühlte, körperlich hätten wir nicht einmal zu zweit eine Chance gegen ihn. Solange sie in der Pubertät gewesen war, hatte ich sie in Schutz nehmen können, weil ich Rolf gesagt hatte, sie wäre noch ein Kind und wisse es nicht besser, doch jetzt war sie erwachsen. Auch Rolf war sich dessen bewusst. Drohend machte er ein paar Schritte auf Sofia zu. Baute sich vor ihr auf. „Lach noch einmal und ich schmeiß dich raus!“

Es eskalierte. Hinter Rolfs Rücken machte ich beschwichtigende Gesten und hoffte, Sofia würde sie verstehen. Sie kannte die rabiate Seite ihres Vaters nicht. Seit er aus dem Gefängnis zurück war, seit er trocken war, war er nie gewalttätig geworden. Und an die Zeit vorher hatte unsere Tochter keine Erinnerungen mehr. Zum Glück! Wieder griff ich vorsichtig nach Rolfs Ellbogen. „Bärli, beruhig dich!“

Er schüttelte unwirsch meine Hand ab. „Ich lasse mich von euch Weibern nicht verarschen!“, brüllte er. „Ich bin der Mann! Ich! Ich bin der Mann!“

Sofia sah ihn groß an. „Bitte halt jetzt deinen Mund, mein Schatz“, betete ich insgeheim.

Sie sah meine Bemühungen, aber begriff gar nichts. „Du kannst mich mal!“ Sie machte eine Affenbewegung und äffte ihn nach: „Ich bin der Mann!“ Sie wandte sich ab, als wollte sie aus dem Raum gehen. Rolf erwischte sie an den Haaren. Brutal riss er sie zurück. Sofia schrie. Ich schlug meine Hände vor dem Gesicht zusammen. Bitte nicht!

Rolf schlug Sofia mit dem Handrücken ins Gesicht. Ihre Lippe blutete. Wie betäubt taumelte sie durch den Raum. Dann verengten sich ihre Augen: „Dafür gehst du wieder ins Häfn, du Affe!“

Er stürzte sich wie von Sinnen auf sie. Ich hängte mich an seinen Rücken. Versuchte ihn zu umklammern, doch er erwischte mich mit dem Ellbogen und ich bekam einen Moment keine Luft mehr. „Aufhören!“, schluchzte ich. „Du tust ihr weh! Sie blutet! Bitte Rolf, bitte hör auf!“ Er drückte sie gegen den Kühlschrank. Eine seiner Pranken lag an ihrem Hals. Mit beiden Händen versuchte sie sich zu befreien. Ihre Augen waren jetzt voller Angst. Sie bekam sichtlich keine Luft mehr. Ich klammerte mich ebenfalls an die Hand, die ihr die Kehle zudrückte, bohrte meine Fingernägel tief in seine Haut. Wütend ließ er Sofia los und schlug mir ins Gesicht. Ich fiel zu Boden. „Sofia! Bitte lauf weg!“, versuchte ich noch einmal, meine Tochter vom Ernst der Lage zu überzeugen. Endlich hatte sie begriffen. Sie rannte ins Badezimmer und ich hörte, wie sie den Schlüssel umdrehte. Rolf lief ihr hinterher und drosch auf die verschlossene Türe ein. Ich hatte Angst, er würde sie einschlagen. Er war rasend vor Wut. Ich hätte mich gerne im Schlafzimmer eingesperrt, aber er versperrte mir den Weg dorthin. Auch die Wohnungstür war unerreichbar. Schnell flüchtete ich auf den Balkon und kauerte mich in einen Winkel. Tränen strömten über mein Gesicht. Ich wischte sie ab. Meine Finger waren rot. Erst jetzt spürte ich das warme Blut aus meiner Nase sickern. Ich legte den Kopf in den Nacken. Eisengeschmack breitete sich in meiner Kehle und meinem Gaumen aus. Ich schluckte die zähflüssige Substanz angeekelt hinunter. Der Steinboden und die kalte Mauer gaben mir das Gefühl, in einem Eisschrank zu sitzen.

Rolf kam nach einiger Zeit auf den Balkon. Er nahm mich gar nicht wahr. Schlug immer wieder auf das Balkongeländer ein. Erst als meine Zähne laut und erbärmlich aufeinander klapperten, drehte er sich zu mir um. Er machte einen Schritt auf mich zu und ich steckte den Kopf zwischen meine Arme. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf, zählte ich in Gedanken. Als nichts geschah, hob ich das Gesicht und sah zu ihm auf. Er weinte lautlos und raufte sich die Haare. Als ich zögerlich meine Hand ausstreckte, half er mir nicht hoch, sondern ließ sich neben mir nieder. Er legte seinen Kopf auf meine Schulter und schluchzte herzzerreißend. Ich legte den Arm um ihn und tröstete ihn wie ein kleines Kind. „Sch, Sch, Sch!“ Ich sagte es immer und immer wieder.

Erst hatte sein warmer Körper mich etwas aufgewärmt, doch mit der Zeit kühlte auch er aus.

„Lass uns wieder reingehen. Komm!“ Mir taten alle Knochen weh. Mühsam rappelte ich mich hoch und zerrte an seinem Arm. Es funktionierte. Er kam hoch und trottete wie ein dressierter Bär hinter mir zurück in die Wohnung. „Du musst dich bei Sofia entschuldigen. Du hast ihr wehgetan und ihr Angst gemacht“, sagte ich leise. Er nickte traurig und schniefte. Langsam zog ich ihn auf die Badezimmertüre zu und klopfte. „Sofia, Schatz! Bist du noch da drin?“

„Ja. Ist er weg?“

Ich gab Rolf ein Zeichen.

„Mausi. E...es tut mir l...leid. B...bitte ruf nicht die Kiwarei.“ Er hatte die Stirn an die Badezimmertüre gelegt und redete mit unserer Tochter.

„Geh weg!“

Ich zog ihn zurück ins Wohnzimmer und sagte laut, so dass Sofia mich hören konnte: „Komm! Wir gehen Fernsehen.“ Ich nahm die Fernbedienung zur Hand und suchte irgendeine Sendung. Dann drückte ich ihn aufs Sofa und setzte mich neben ihn. „Das wird schon wieder!“, versuchte ich, ihn weiter zu beruhigen.

Wir sahen beide auf den Schirm, ohne wirklich zu begreifen, worum es ging. Ich hörte, wie Sofia aus dem Badezimmer kam und sofort in ihrem Zimmer verschwand. Ich wäre gerne aufgestanden, um mit ihr zu reden, aber dann hätte ich Rolf alleine lassen müssen. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass etwas Schlimmes passiert war. Sie hatte nie einen Krieg oder sonst etwas Fürchterliches miterlebt. Diese ganze Lockdown-Sache war für sie nicht leicht. Nie zuvor hatte sie erlebt, dass sie etwas machen musste, was irgendwelche Politiker einfach bestimmten.

Dass wir uns seit Wochen hier in der Wohnung nicht aus dem Weg gehen konnten, war für uns alle belastend. Ich hatte schon Schlimmeres erlebt, doch ich verstand die Gereiztheit meiner Tochter.

Irgendwann kreisten meine Gedanken einzig und alleine um die eine Frage. Wie hatte das nur passieren können? Ständig musste ich an die Anrufe auf meinem Handy denken. Konnte das alles ein Zufall sein? Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. Schaltete den Fernseher auf stumm und griff nach Rolfs Hand. „Warum bist du so ausgerastet?“ Ich drückte beruhigend seine Finger.

„Ich weiß es nimmer. Es ist mir alles zu viel geworden.“

„Hat es was mit Gerd zu tun?“, fragte ich vorsichtig.

Er sah mich an und ich glaubte, Angst in seinen Augen lesen zu können.

„Du brauchst dir von ihm nichts mehr gefallen zu lassen. Du hast jetzt eine gute Arbeit. Und uns. Der Gerd kann dir doch wurscht sein.“

Alleine an seiner Reaktion erkannte ich, dass ich den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Als ich Gerds Namen erwähnt hatte, war er zusammengezuckt und hatte sich mit seinen geballten Fäusten auf die Oberschenkel geschlagen. Ich musste mit mir selber kämpfen. Am liebsten hätte ich ihn auf die Anrufe angesprochen, doch was das letzte Mal passierte, als ich das tat, durfte sich auf keinen Fall wiederholen.

„Hast du wegen irgendwas Angst vorm Gerd?“, fragte ich bedacht.

Er sah regungslos auf den stummgeschalteten Fernseher. Stritt es nicht ab.

„Aber du kannst es mir nicht sagen? Und sonst auch niemand?“

Keine Antwort war auch eine Antwort.

„Ich würde dir so gerne helfen. Vielleicht hilft es dir ja, wenn du dem Gerd damit drohst, dass du mir alles sagst. Vielleicht lässt er dich dann in Ruhe?“

Er saß noch immer unbewegt da. Ich stand auf und ging ins Badezimmer. Getrocknetes Blut hatte sich in meinen Falten festgesetzt. Ich wusch es mit einem Waschlappen ab. Der Tränensack unter meinem rechten Auge war geschwollen. Seufzend trug ich etwas kühlende Creme auf. Hoffentlich ging das bis morgen wieder weg.

 

Trotz der ganzen Aufregung schlief ich erstaunlich gut. Mein Gehirn war nicht geschaffen für komplizierte Denkprozesse und hatte irgendwann das Grübeln aufgegeben. Außerdem wusste ich nicht einmal, ob ich die Wahrheit überhaupt wissen wollte.

Beim Frühstück hatte ich mich so weit unter Kontrolle, dass ich so tun konnte, als wäre alles in Ordnung. Mein Tränensack hatte sich blau verfärbt und Sofia sah mich mit einer geschwollenen Lippe vorwurfsvoll an. Sie war blass und nicht gekämmt. Rolf war schon aus dem Haus.

„Der Papa hat irgendwelche Probleme. Er sagt mir nicht, was es ist, aber du darfst ihn nicht noch zusätzlich reizen“, sagte ich.

Sofia stellte ihren Kaffeebecher unsanft auf dem Küchentisch ab. Die hellbraune Flüssigkeit schwappte über. „Wenn er das noch einmal macht, zeige ich ihn wegen häuslicher Gewalt an!“

Ich versuchte sie zu beruhigen: „So was darfst du nicht sagen! Wir brauchen den Papa, oder willst du putzen gehen wie ich?“

Sie schaute mich verdrießlich an.

„Mein Geld alleine reicht nicht für das alles. Ich nickte vage in den Raum. Nur zu gut konnte ich mich an die Zeit erinnern, in der ich alleine für uns beide hatte sorgen müssen. „Brauchst du das noch?“ Ich deutete auf den gedeckten Tisch. Sie schüttelte den Kopf und ich räumte Butter, Schinken und Käse zurück in den Kühlschrank.

Bevor ich die Wohnung verließ, versuchte ich, den Bluterguss zu verbergen. Mit dem Abdeckstift ging es einigermaßen und als ich probehalber die Maske ganz nach oben schob, sah man gar nichts mehr davon.

 

„Guten Morgen, Amina.“

Ich drehte mich erstaunt um. Ach ja! Da war wieder diese neue Kollegin. Selma. Ich hatte heute noch gar nicht an sie gedacht.

„Guten Morgen“, grüßte ich zurück und schob schnell meinen Mund-Nase-Schutz wieder etwas höher. Der Gummi war schon locker. Sie sah mich komisch an. Hatte sie den blauen Fleck gesehen? Hoffentlich fragte sie nicht nach. Irgendwie war mir diese Kollegin rätselhaft. Sie sprach perfektes Deutsch, deshalb habe ich sie gestern gefragt, wie lange sie schon in Österreich ist. Sie sagte, sie sei hier geboren. Sicher könnte sie in einem anderen Beruf viel mehr verdienen? Vielleicht sollte ich sie bei Gelegenheit einmal danach fragen. Im Moment war ich nur froh, dass sie da war. Mein Schrittzähler am Handy hatte gestern 5.000 Schritte weniger angezeigt als an den Tagen davor.

Wir gingen schweigend nebeneinander zum Umkleideraum. Andere Neulinge beschwerten sich am zweiten Tag meistens über Muskelkater, oder kamen gleich gar nicht mehr.

 

Die Schwestern auf der Notfallstation, die wir als erste putzten, waren unruhig. Sicher hatten sie noch immer Angst sich anzustecken, so schnell gewöhnte man sich nicht an diesen Ausnahmezustand. Ich war froh, dass ich die Patienten wenigstens nicht angreifen musste.

Eine alte, demente Frau in einem der Zimmer hatte sich vor mir gefürchtet und nach der Schwester geschrien. Als die auch mit Maske reinkam, hatte sie zu weinen angefangen. Die anderen Patienten im Zimmer sahen mich vorwurfsvoll an. So schnell ich nur konnte, erledigte ich meine Arbeit. Ich rollte den Putzwagen im Flur zum nächsten Zimmer.

Die Schwester kam hinter mir ebenfalls heraus. Der fesche, große Oberarzt mit den grauen Schläfen tauchte aus dem Schwesternzimmer auf und fuhr sie grob an: „Ich habe keine Handschuhe mehr!“

So ein Volltrottel! Konnte er sich die nicht selbst aus dem Lagerraum holen? Die Schwester dachte sich wahrscheinlich dasselbe, sagte aber: „Ich habe gerade keine Zeit“ Schon wollte sie ins nächste Zimmer, an dem die rote Lampe leuchtete.

Er hielt sie am Ellbogen zurück. „Holen sie mir auf der Stelle Handschuhe!“

„Lassen Sie mich los, ich habe zu tun. Ich muss auf Zimmer Drei.“ Sie nickte in Richtung des Alarms und machte sich los. Ziemlich deutlich, wie ich fand.

Er schrie sie nieder.

Sie schrie zurück: „Ich kriege nichts hin, wenn Sie mich ständig aufhalten! Immer brauchen Sie etwas, ich bin nicht Ihre Privatschwester!“

Selma kam aus dem gegenüberliegenden Zimmer und beobachtete die Szene, dann schaute sie mich mit gerunzelter Stirn an.

„Die haben nicht genug Personal Die arbeiten zwölf bis vierzehn Stunden“, flüsterte ich ihr zu.

Ein alter Mann wurde im Rollstuhl von einem Sanitäter reingerollt. Der Sanitäter trug eine Gasmaske mit Filter und sah beängstigend aus. Er ließ den Rollstuhl im Gang stehen und ging zur Anmeldung. Der alte Mann atmete schwer. Als Selma an ihm vorbeikam, wollte er ihr etwas sagen. Ich hielt einen großen Abstand und hoffte, sie würde auch einfach weiter gehen. Doch sie hatte anscheinend Mitleid mit dem Mann und fragte, wie es ihm ginge.

„Meine Enkelin heiratet im Sommer. Da muss ich wieder fit sein“, hörte ich ihn sagen, bevor ich den nächsten Raum betrat. Selma antwortete: „Sie schaffen das!“ Ich musste schlucken. Inzwischen wusste ich, dass die Chancen gering waren, wenn die Leute hier mit Atemnot eingeliefert wurden. Meist mussten sie wenige Stunden später intubiert werden und kamen auf die Intensivstation. Ich drehte mich noch einmal um und sah, wie er Selma ein Foto auf dem Handy hinhielt. Sie tat, als könne sie es gut sehen. Wenigstens hielt sie genug Abstand.

Ich musste an einen anderen Patienten denken, in einem infektiösen Zimmer, das ich letzte Woche gemacht hatte. Er hatte in seinem Bett gesessen und sich die Beatmungsmaske aufs Gesicht gedrückt. Die waren heiß und feucht und drückten. Als ihm die Schwester eine Tablette gegeben hat, habe ich gesehen, dass er an einer Stelle über der Nase schon ganz wund war. Mit der anderen Hand hatte er versucht, eine SMS an seine Familie zu schreiben. Er hatte nicht gewusst, wie man die abschickte. Die Schwester war schon wieder weg. Ich hatte ihm geholfen und danach sofort neue Handschuhe angezogen. Am nächsten Tag war er nicht mehr da und ich habe mich gefragt, was wohl aus ihm geworden ist.

Besser ging es mir, wenn ich die ganzen Krankengeschichten nicht so nahe an mich rankommen ließ. Ich nahm mir vor, Selma in der Pause von meinen Erfahrungen zu erzählen.

 

Ein Arzt humpelte auf Krücken durch den Gang. Unter normalen Umständen wäre er selbst in Krankenstand geschickt worden.

Es war Zeit für unsere Pause. Ich suchte Selma, um es ihr zu sagen. Bei der Gelegenheit überprüfte ich ihre Arbeit. Sie hatte an alles gedacht und war geschickt. Wir würden heute noch schneller fertig werden als gestern.

Ich nahm einen Schluck aus meiner eineinhalb Liter Cola-Flasche. Die Maske hatte ich mir unters Kinn geschoben. Selma nagte an ihrer Unterlippe und sah mich irgendwie betreten an. Ich hatte den Bluterguss ganz vergessen! Sicher bezog sich ihr fragender Blick darauf. Eigentlich hatte ich in den letzten Stunden nicht einmal mehr an den gestrigen Abend gedacht. Mit einem Mal kamen die Gefühle in geballter Ladung hoch. Schnell zog ich mir die Maske wieder hoch über die Nase und wischte mir die feuchten Augen.

„Du willst nicht darüber reden, oder?“, fragte sie vorsichtig.

Ich überlegte, ob es etwas bringen würde, über meine ganzen Sorgen mit einer fast Fremden zu sprechen. Langsam zog ich die Maske wieder runter. Das war jetzt auch schon egal.

Weil sie merkte, dass ich darüber nachdachte, redete sie weiter: „Der Stress hier in der Arbeit ist hart genug. Es muss schlimm sein, wenn das zu Hause weitergeht. Wenn es dir hilft, kannst du gerne mit mir darüber reden. Ich lebe von meinem Mann getrennt. Vielleicht kann ich dir Tipps geben?“

„Der Rolf, mein Mann, ist eigentlich ein Lieber. Meistens ist er wie ein riesiger Teddybär, einfach nur zum Knuddeln. Aber gestern sind ihm die Sicherungen durchgebrannt“, versuchte ich die Sache hinunterzuspielen.

„Du hast gesagt, er ist eigentlich ein Lieber. Also war es nicht das erste Mal, das so was passiert ist?“

Sie hörte sich an wie eine Psychologin. Ganz sicher war sie für die Arbeit hier überqualifiziert. Dann würde sie nicht lange bleiben, also konnte ich ihr auch gleich alles erzählen. „Ich habe ihn einmal angezeigt. Das ist aber schon lange her. Er war fünf Jahre im Gefängnis deswegen. Danach war er weg vom Alkohol und es hat wieder alles gepasst.“

Sie unterbrach mich: „Fünf Jahre? Mein Gott! Hat er versucht, dich umzubringen?“

Davon hatte ich ihr eigentlich nicht erzählen wollen. Ich fühlte mich ertappt. Vor lauter Scham bemerkte ich, wie mein Gesicht rot anlief. An ihrem verstehenden Blick erkannte ich, dass sie das als Zustimmung wertete. Was tat ich da? Das ging niemanden etwas an.

„Und du bist trotzdem noch mit ihm zusammen?“

„Du kennst ihn nicht. Man kann Rolf nicht lange böse sein. Er ist kein schlechter Mensch“, verteidigte ich den Vater meiner Tochter. Dass er in Wirklichkeit ein zu groß geratenes Kind war, wollte ich gegenüber dieser Frau nicht zugeben. Es war mir peinlich und es ging sie nichts an. „Er ist damals mit miesen Leuten zusammen gewesen.“

„Damals? Und was ist jetzt? Warum hat er dich gestern geschlagen?“, hakte sie nach.

„Sofia, unsere Tochter, hat ihn gestern geärgert. Deswegen ist er so ausgerastet.“

„Hat er sie auch geschlagen?“ Ihre Finger lagen bestürzt auf ihren Lippen. Zum Glück hatten wir uns vor wenigen Minuten die Hände ausgiebig desinfiziert. Sie benahm sich wirklich wie eine verdammte Seelsorgerin.

„Ich weiß auch nicht, wie das auf einmal passiert ist.“ Ich wusste es sehr wohl, aber ich wollte nicht weiter darauf eingehen. Am Ende verriet ich ihr noch, welches Geheimnis ich seit über zwanzig Jahren mit mir herumschleppte. „Wir sollten wieder weitermachen“, sagte ich und zog mir frische Handschuhe an.

 

Che - Der Drohbrief

 

 

Ein Blick reichte aus, um zu sehen, dass Toni richtig sauer war.

„Alter, wir haben in zwei Wochen den Termin!“, fuhr er mich an. Wir hatten bisher nur gechattet, doch jetzt schaltete er die Videocam zu.

Gerade hatte ich ihm geschrieben, dass er mich nicht nerven soll. Dabei wollte er lediglich, dass wir endlich unser Projekt zum Abschluss brachten.

Ich aktivierte ebenfalls meine Kamera. „Sorry“, stieß ich geknickt hervor. Ich holte tief Luft. Auch wenn meine Gedanken verrückt spielten, durfte ich mich nicht dazu verleiten lassen, meine schlechte Laune an meinem besten, meinem einzigen Freund auszulassen. Meine Gereiztheit hatte noch immer mit dem Dämpfer zu tun, den Ben mir verpasst hatte, als er mich als grottenschlechten Hacker entlarvt hatte. Toni wusste noch immer nichts von all den Ereignissen rund um meine Eltern.

„Ich glaube, der Shutdown breitet sich schön langsam auf mein Gehirn aus.“

„Ich habe es gleich gewusst. Kaum kommt eine Frau ins Spiel, wird´s kompliziert.“

Ich sah durch den Türspalt in die Küche. Jazy bereitete eine Mahlzeit zu und summte dabei fröhlich vor sich hin. Automatisch wanderten meine Mundwinkel in Richtung Ohren.

„Was grinst du so? Ich weiß, dass ich recht habe.“

„Du weißt gar nichts, mein Freund. Jazy ist ein Engel. Sie hat unsichtbare Flügel, sag ich dir. Zumindest fühlt es sich an, als könnten wir gemeinsam abheben.“

„Oje. Es ist ja noch schlimmer, als ich befürchtet habe. Du verlierst unsere Ziele völlig aus den Augen.“

„Hör einmal! Ich bin heute schon zwei Stunden am Rechner gesessen und habe deine Liste durchgeackert“, verteidigte ich mich. „Es geht gar nicht um unser Projekt. Ich habe vor ein paar Tagen Kontakt mit meinem Onkel in Malaysia aufgenommen. Heute wollte sich ein Cousin von mir über Skype melden, deshalb bin ich mit meinen Gedanken gerade nicht ganz bei der Sache.“

„Warum das auf einmal?“

„Das war Jazys Idee. Sie hat im Keller ein Tagebuch von meiner Mum gefunden. Das hat mich einfach neugierig gemacht. Ich habe mich auch schon mit einer Freundin von meinem Dad getroffen. Zeit genug haben wir immerhin.“

„Ja, schon. Aber kannst du damit nicht warten, bis wir unser Game eingereicht haben?“

Er hatte ja sowas von keine Ahnung! „Das ganze Herumstochern in der Vergangenheit geht mir ganz schön an die Nieren“, gestand ich ihm. „Du weißt ja, dass ich bisher fast nichts über meine Eltern wusste. Und jetzt auf einmal bricht das alles über mich herein.“

„Verstehe.“ Toni rückte seine Brille zurecht. „Du sagst mir ja auch nichts mehr. Woher sollte ich denn wissen, was dich zur Zeit beschäftigt?“

„Das willst du gar nicht alles wissen.“

„Du wirkst müde. Ich dachte, deine Freundin laugt dich so aus.“

„Das tut sie.“ Ich musste lachen.

„Jaja. Kann ich mir lebhaft vorstellen. Erspar mir bitte die Details. So. Ich mache dann einmal bei den Feinabstimmungen weiter. Lass mich nicht hängen!“

„Ich lass dich nicht hängen. Versprochen! Ich brauche das Geld. Ich glaube nicht, dass meine beiden Untermieter dieses Semester noch einmal auftauchen.“ Noch hatten Tom und Julian sich nicht gemeldet, aber so wie es aussah, blieb es an der Uni vorerst beim Distance Learning. „Ich sollte mich schön langsam nach einem Ferialjob umsehen.“

„Habe ich auch schon getan. Ich schicke dir ein paar Ausschreibungen. Programmierer werden sowieso ständig gesucht, deswegen brauchst du dir sicher keine Gedanken machen.“

„Danke. Also Servus!“

„Live long and prosper!“ Toni machte den Vulkaniergruss und verschwand von meinem Bildschirm.

Das war noch einmal gut gegangen. Toni war mir wichtig. Auch wenn er mich oft nervte. Wir waren ein Team, daran war nicht zu rütteln. Mir war es nie wichtig gewesen, viele Freunde zu haben. Ein wahrer Freund reichte mir vollkommen.

Trotzdem wäre es mir peinlich gewesen, mit ihm über den gestrigen Abend zu reden. Der Brief mit dem USB-Stick von meiner Oma war gekommen und Jazy und ich hatten uns die Fotos und Videos darauf gemeinsam auf dem Fernseher angesehen.

Es war schrecklich! Hätte Jazy nicht die ganze Zeit meine Hände gehalten und mir gut zugeredet, hätte ich es nicht durchgestanden. Kaum war das erste Video angelaufen, hatte ich sofort per Fernbedienung wieder auf Stop gedrückt. Ich hatte mich hundeelend gefühlt. Mir war übel geworden und ich hatte das Gefühl zu ersticken. Kein Wunder, dass meine Oma mir die Videos so lange verheimlicht hatte. Wenn ich als Kind auch so heftig reagiert hatte, war es mehr als verständlich.

Jazy hat mir die Fernbedienung aus den zitternden Händen genommen und mich beruhigt. „Es ist doch etwas Schönes“, dabei hat sie meine bebenden Schultern massiert und mich liebevoll angesehen. „Da ist nur Schönes auf den Fotos und den Videos. Nichts, wovor du dich fürchten müsstest.“ Ich hatte genickt und dennoch meinen Herzschlag bis zum Hals hoch spüren können.

Verdammt! Ich hatte keine Ahnung, warum ich derart heftig reagierte. Es musste aus meinem Unterbewusstsein kommen. Rational war das nicht erklärbar. Jazy hatte unter ihren Räuchermischungen etwas Beruhigendes herausgesucht und das Wohnzimmer damit eingenebelt. Als dichte Rauchschwaden die Sicht zum Fernseher abmilderten und wir schon husten mussten wegen der dicken Luft, versuchten wir es noch einmal. Es war noch immer schrecklich, diese glücklichen Menschen am Bildschirm zu sehen. Zu wissen, dass ich dieses Baby war, um das sich alles zu drehen schien. Tränen strömten mir unaufhörlich aus den Augen, was auch Jazy zum Heulen brachte. Sie holte ein Rolle Küchenpapier und stellte sie vor uns auf den Boden. Der war danach übersät mit zusammengeknäulten Papierbällen, aber irgendwie hatte ich es geschafft, mir alle Fotos und Videos durchzusehen. Ich weiß immer noch nicht, ob ich mir das jemals wieder in meinem Leben antun wollte. Ohne meinen Engel an meiner Seite hätte ich es nie geschafft.

„Essen!“, schrie Jazy von der Küche aus.

Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach Mittag. Schnell rechnete ich nach, wie spät es in Malaysia war. Neunzehn Uhr. Ich stand auf und holte meinen Teller, auf dem  zwei überbackenen Baguettes lagen,  in der Küche ab, um dann weiter ins Wohnzimmer zu gehen.

„Hoffentlich kommt der Anruf nicht gerade jetzt“, sagte ich zu Jazy und setzte mich an den Esstisch.

„Stand eine Uhrzeit im Mail, wann sie anrufen wollten?“

„Am Abend. Keine Ahnung, was man in Malaysia so unter Abend versteht. Es ist dort jetzt sieben Uhr.“ Nervös ließ ich einen viel zu großen Batzen Ketchup aus der Glasflasche flutschen. Jazy tauchte kopfschüttelnd ihr Baguette ein. Eigentlich hatte sie gesagt, sie brauche keines. Schweigend aßen wir und hingen unseren Gedanken nach.

Meine Oma hatte mir die E-Mail-Adresse meines Onkels herausgesucht. Es hatte ein paar Tage gedauert, bis eine Antwort gekommen war. Kurz hatte ich Angst, er hätte eine neue Adresse oder dass meine Nachricht im Junk-Ordner verschwunden wäre. Vielleicht checkte er seine Mails nur unregelmäßig.

Er hatte mir einen sehr netten Brief in gebrochenem Englisch zurückgeschrieben. Meine malaysische Familie fragte sich demnach auch noch immer, was mit meiner Mutter geschehen war. Auch sie hatten nie abschließen können, solange keine Gewissheit herrschte. Von meiner Oma in Hamburg wusste ich bereits, dass es zermürbend war, nicht trauern zu können.

Er schrieb, dass meine Großeltern Angst hatten, nie mehr einen Schlussstrich ziehen zu können. „Gäbe es eine Gewissheit, dann wäre es für sie leichter zu ertragen“, hatte er geschrieben. Meine Urli hatte sie bis zu ihrem Tod ertragen müssen, diese Ungewissheit. All diese Gedanken bestärkten mich immer weiter. Ich wollte Klarheit darüber, wer oder was für das Verschwinden meiner Eltern verantwortlich war. Sie einfach so für tot erklären zu lassen, würde sich inzwischen auch für mich wie Verrat anfühlen.

„Was hat Ben gesagt? Hat Mama schon etwas aus der Begic rausbekommen?“

Das war es also, was Jazy durch den Kopf ging. Ich war am Vormittag zu Ben hochgegangen, weil es mir keine Ruhe ließ, was genau ich falsch gemacht hatte, als ich mir das Netzwerk dieser Anwaltskanzlei vorgenommen hatte.

„Nein, nicht wirklich. Aber er hört ihr Handy ab. Da hat sich aber bisher nichts Verdächtiges getan. Ihre Tochter hat ein paar Mal angerufen, aber nur Belangloses wissen wollen. Seit Deinem Anruf gab es sonst keine ein- und ausgehenden Anrufe. Er hat Belege gefunden, dass dieser Rolf Maurer als Fahrer für Schumann gearbeitet hat. Außerdem hat er die Nummer von dem im Speicher von dem überwachten Handy gefunden. Vorhin war er gerade dabei auch diese Nummer anzuzapfen. Die Handynummer von dem Rechtsanwalt überwacht er seit heute früh ebenfalls.“

„Diesen Rolf Maurer würde ich an deiner Stelle anrufen und fragen, was er über die zwei Anrufe von damals weiß.“

Das würde mich zwar auch brennend interessieren, laut antwortete ich ihr jedoch: „Ich hoffe, du baust keinen Scheiß und legst dich nicht schon wieder mit einem potenziellen Auftragskiller an.“

Meinen bedeutsam kreisenden Blick quittierte sie mit zusammengekniffenen Augen. „Du holst aber auch schon mächtig auf, mit Scheiß bauen.“ Sie spielte auf meine kümmerlichen Hackerqualitäten an. Nach dieser Meldung warf sie mir zwei schmatzende Luftküsse zu.

Kurz vor eins klingelte ein eingehender Videoanruf auf meinem PC.

„Kann ich mithören?“ Jazy war mir aufgeregt nachgelaufen.

„Freilich. Ich bin eh nicht sicher, ob mein Englisch reicht.“ Ich schob ihr den Gymnastikball zu, damit sie sich neben mich setzen konnte. Meine Hände waren feucht und mein Herz klopfte wie verrückt. Gleich würde ich meine Großeltern kennenlernen. Ich stellte die Verbindung her. Auf dem Bildschirm sahen wir vier Personen auf einem Sofa sitzen. Die Beleuchtung war nicht optimal, sie waren alle bleich und sahen deshalb ungesund aus. Ein junger Mann in meinem Alter saß in der Mitte. Rechts von ihm, das mussten meine Großeltern sein. Sie hielten sich an den fleckigen Händen. Sie sahen alt aus, hatten beide komplett weiße Haare. Links von ihm saß ein Mann in einem Uniformhemd. Sicher war das mein Onkel.

„Hallo“, sagte ich mit belegter Stimme. „I am Oliver. This is my girlfriend Jasmin.“ Jazy winkte strahlend in die Kamera. Die vier Personen redeten aufgeregt durcheinander. Ich verstand zunächst kein Wort. Dann übernahm mein Onkel das Gespräch. Er sagte, sein Sohn hätte in Singapur studiert und würde besser englisch reden als er. Er stellte uns meinen Cousin vor. Er hieß Bayu.

Langsam erklärte ich ihnen, dass wir es Jazy zu verdanken hatten, uns jetzt endlich kennenzulernen. Ich erzählte von dem Tagebuch und den Fotos, die wir erst vor kurzem im Keller ausgegraben hatten. Meine Oma fragte etwas und Bayu übersetzte: „Sie will wissen, ob bei euch auch die Geschäfte und Restaurants geschlossen sind wegen der Pandemie?“

Ich nickte. Die Corona-Lage war mir inzwischen egal geworden. Es erschien mir im Moment unwichtig, darüber zu reden.  Ich hatte mich immer so alleine gefühlt. Jetzt saßen da diese ganzen Menschen. Ich begann zu erzählen, dass ich Nachforschungen angestellt hatte. Dass ich wissen wollte, was mit meinen Eltern geschehen war. Dass ich etwas machen und nicht länger tatenlos herumsitzen wollte.

Ich erzählte von dieser quälenden Ungewissheit. War es ein Verbrechen gewesen? Oder ein Unfall? Immer häufiger tendierte ich zu Ersterem.

Mein Onkel hieß Arshad. Er sagte mir in seinem schwer verständlichen Englisch, dass meine Mutter bedroht worden war. Das war neu. Hatte mein Vater davon gewusst? Arshad konnte es mir nicht sagen. Genauso wenig, wer sie bedroht hatte. Es waren wohl Anrufe gewesen.

Wie und warum war jemand zu so etwas fähig? Eine junge Frau und Mutter zu bedrohen? Wieder schnürte mir diese quälende Ungewissheit den Hals zu.

Ich erzählte von meinen Recherchen und dass sie langsam Licht ins Dunkel brachten. Ich wollte es nicht nur für mich klären. Auch für meine Oma und jetzt für sie dort in Malaysia, wollte ich endlich Gewissheit finden.

Meine Oma redete. Tränen glitzerten in ihren Augen. Sie machte eine Bewegung mit den Armen, als wolle sie mich umarmen. Mein Cousin übersetzte. „Deine Mutter hat noch eine jüngere Schwester, die mit ihrer Familie in Kuala Lumpur lebt. Oma sagt, sie ist froh, dass es dir gut geht und sie wünscht sich sehr, dass du uns einmal besuchen kommst.   Obwohl sie hier drei Enkelkinder hat, hat  ihr immer ein wichtiger Teil gefehlt. Du. Sie hat dich nie vergessen. Sie sagt, sie hat dich immer in ihrem Herzen getragen und dass sie dich liebt. Dass sie dich endlich in die Arme schließen will.“

Jazy neben mir wischte sich gerührt die Tränen aus dem Gesicht. Ich versprach meinen Großeltern, sie bald einmal besuchen zu kommen. Nur jetzt im Moment ginge das halt nicht. Auch Malaysia hatte alle Grenzen dicht gemacht.

Nachdem wir den Anruf beendet hatten, setzte Jazy sich auf meinen Schoß und umarmte mich. „Das war doch schön, oder?“

Ich spürte einen Kloß im Hals. „Ja. Danke, dass du dich einfach so in mein Leben eingemischt hast. Ich wusste nicht, was mir gefehlt hat. Bis heute.“

Ich telefonierte mit Erika und erzählte ihr von dem Anruf aus Malaysia. Sie freute sich mit mir, weil ich endlich Kontakt mit meiner Familie dort aufgenommen hatte.

„Ich wollte dich eigentlich was fragen, Erika: Mein Onkel hat erwähnt, dass meine Mum von irgendjemanden bedroht wurde. Wusstest du davon?“

„Was?“ Sie klang komplett überrascht. „Nein. Das höre ich zum ersten Mal. Ich bin sicher, der Charly hat das auch nicht gewusst. Der hätte mir das erzählt. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander.“

„In ihrem Tagebuch habe ich darüber auch nichts gelesen.“ Ich wechselte das Thema. „Und, was treibst du immer so?“

„Nichts natürlich! Mich zipfen diese bescheuerten Maßnahmen ordentlich an. Ich weiß auch nicht, schön langsam halte ich das Virus für reine Fiktion. Ich kenne keinen Menschen, der es hat. Und trotzdem zaubert die Regierung bei jeder Pressekonferenz ein neues Kaninchen aus dem Hut. Ich sehe da keine Spur von Kompetenz mehr. Nicht beim Klimanotstand, beim Brexit-Notstand und schon gar nicht bei diesem Pandemienotstand. Die schränken nur meine Lebensmöglichkeiten ein und verletzten meine persönliche Freiheit. Wenn das so weiter geht, werde ich mich dagegen wehren. In Deutschland gibt es ja schon die ersten Protest-Demos. Auf der anderen Seite, von Freunden aus England höre ich, dass es bei denen noch viel schlimmer ist. Na gut, da war das Gesundheitssystem schon marod, bevor Corona auftauchte.“

„Ich habe von den Demos gehört. Die Leute sind aber doch auch verrückt, oder? Wenn die dicht an dicht ohne Masken durch die Straßen ziehen.“

„Ja, das irritiert mich auch an der ganzen Sache. Ich bin noch nicht so weit, mich grundsätzlich von der Vernunft abzukoppeln. Früher galt eine Pandemie als Strafe Gottes. Sogar in den Achtzigern bei Aids war das noch so. Ich will mich da nicht so einfach mit diesen rechten Corona-Leugnern in ein Bett legen. Zwar misstraue ich prinzipiell allen Medien und Politikern, aber auf die göttliche Vorsehung verlasse ich mich dann doch lieber nicht.“

„Da bin ich aber froh.“

„Früher hat mich dein Vater von den ganz verrückten Sachen abgehalten. Ich vermisse ihn sehr, jetzt, wo ich in Wien bin. Na ja, vielleicht ändert sich das eine oder andere durch die Maßnahmen im Positiven“, lenkte sie ein. „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Sie lachte in ihrer unverwechselbar rauchigen Art.

„Das einzige, was im Leben konstant ist, ist die Veränderung. Hat meine Urli immer gesagt.“

„Das weiß ich auch noch. Das war eine ganz liebe Frau …“

Ich versprach ihr, bald einmal mit Jazy bei ihr vorbeizuschauen.

Pflichtbewusst widmete ich mich am Nachmittag unserem Projekt. Die folgenden Stunden bestanden aus binärer Methodik. Als ich anfing mein aufkommendes Durstgefühl in Bytes umzuwandeln, fand ich, dass es höchste Zeit für eine Pause war. Die Anzeige auf meinem Handy sagte mir, dass es draußen nur noch 13 Grad hatte. Nicht sehr einladend, um noch eine Runde laufen zu gehen.

„Was tust du?“, rief Jazy mir aus dem Wohnzimmer zu.

„Was trinken. Ich habe versucht, mir etwas zu programmieren, aber hat nicht funktioniert.“

„Du hast versucht, dir was zu trinken zu programmieren?“ Jazy kam zu mir in die Küche. Sie krabbelte auf meinen Rücken und würgte mich dabei. Angestrengt versuchte ich, von meinem Glas Wasser zu trinken, ohne mich anzuschütten.

„Na ja. Die Info ist über die Neurotransmitter in Form eines elektrischen Impulses von einer Nervenzelle über meine Synapsen zur nächsten Zelle geschickt worden und hat sich so in meinem gesamten Netzwerk verbreitet, also in meinem Gehirn. Das hat mich jetzt zum Kühlschrank gesteuert.“

„Scherzkeks. Ich versteh´ kein Wort.“

„Wenigstens gehörst du nicht zu den Leuten, die meinen, das Internet wird sich sowieso nicht durchsetzen“, alberte ich weiter.„Echt? So Leute gibt es? Die würden dann aber wahrscheinlich dasselbe über die Elektrizität behaupten.“

„Wahrscheinlich.“

„Wenn du fertig mit Arbeiten bist, könnten wir doch rauf zu Mama gehen. Sie müsste zurück vom Krankenhaus sein.“

„Ja. Okay. Ich bin gespannt, was sie zu berichten hat.“

Wir waren gerade im Stiegenhaus, um einen Stock höher zu gehen, als uns Ben entgegenkam.

„Was macht ihr da?“ Er klang ungewöhnlich angespannt.

„Zu euch raufgehen?“ Jazy starrte in verwirrt an. „Ist Mama schon zurück?“

Er sah nervös auf sein Handy. „Du gehst rauf und bleibst da! Verstanden?“, sagte er zu Jazy. Mich nahm er fest beim Oberarm und zog mich zurück Richtung  Wohnung. „Du kommst mit mir!“

„Okay?“ Ich musterte ihn misstrauisch. „Was ist los?“ Ich sperrte die Wohnung auf und Ben drängte sofort zur Tür rein. Eine Waffe steckte am Rücken in seinem Hosenbund. Ich ging ihm nach. Er stand am Küchenfenster und schaute vorsichtig auf die Straße hinunter.

„Verflucht noch einmal. Sag endlich, was los ist!“ Er machte mich unruhig mit seinem Gehabe.

„Der Maurer! Ich habe sein Handy angezapft und überwacht. Ich sehe genau, wo er ist. Vorhin war er noch bei diesem Anwalt, aber jetzt kommt er schnurstracks auf unser Haus zu.“

Es klingelte. Erschrocken sah ich Ben an. „Ist er das etwa schon?“

Ben warf  noch einmal einen Blick auf sein Handy. „Ja. Sieht ganz danach aus.“

„Was jetzt? Will der mich umbringen, oder was?“

„Ich vermute, dieser Anwalt hat spitzgekriegt, dass du in seinem Server herumgeschnüffelt hast. Isak hat gesagt, er hat heute eine neue Firewall installiert.“

Es klingelte nochmals.

„Warte noch ein paar Sekunden.  Frag, wer da ist. Den Kerl hol ich mir.“ Wir gingen zur Wohnungstür.

Ben rannte mit gezogener Waffe durch den Flur. Als ich annahm, er wäre im Erdgeschoß,  drückte ich auf die Gegensprechanlage und brachte ein krächzendes „Ja?“, hervor.

„P…post!“, klang eine männliche Stimme aus dem Lautsprecher.

Mit zitternden Fingern  betätigte ich den Türsummer.

Kalte Angst kroch mir über den Rücken hoch zum Nacken. Was, wenn dieser Kerl auch eine Waffe hatte. Wenn die sich da unten an der Haustür gegenseitig abknallten?

Mir gingen Bilder aus diversen Mafiafilmen durch den Kopf. Diese Auftragskiller schossen immer, bevor jemand einen Ton sagen konnte. Ich sah Ben im Geiste bereits, mit einem Einschussloch in der Stirn in einer Blutlache im Flur liegen. Angestrengt lauschte ich, und machte mich auf das Schlimmste gefasst.

Ich hörte Schritte. Ben dirigierte einen Mann in orangener Magistratsuniform durch das Stiegenhaus. Er hatte ihm einen Arm verdreht und drückte ihm seine Waffe in den Nacken.

 

Der Mann hatte die Hände gehoben. In einer hielt er einen Brief. Mit schweißnassen Fingern schloss  ich die Wohnungstür hinter ihnen.  Das sollte der Mann sein,  der vielleicht meine Eltern auf dem Gewissen hatte? Ich fühlte, wie meine Angst plötzlich verschwand und sich Wut breitmachte.

„W…was wollen Sie von mir. B…bitte tun Sie mir nichts.“ Der Mann schien mit den Nerven am Ende zu sein. „I...ich wollte nur einen Brief einwerfen. Für O...Oliver Moser“, stotterte der Mann und streckte Ben die Hand entgegen, in der sich ein Brief befand.

Ben zielte jetzt auf die Brust des Fremden. „Seit wann trägt die Post orange Uniformen? Wer sind sie? Wer schickt  Sie?“, hakte er nach.

   

„I...Ich weiß nichts. Ich soll wirklich nur das abgeben.“ Er schaute jetzt mich flehend an und streckte mir  den Brief nachdrücklich entgegen, den Ben nicht annahm.

„Sie sind nicht von der Post, oder?“, erkundigte ich mich, um Zeit zu gewinnen.

„Nein. I...Ich tu nur einem F...Freund einen Gefallen“, stammelte der Mann.

„Kommen Sie rein!“, befahl ich ihm mit kalter Stimme und ging voraus Richtung Küche. Ich hatte keine Angst mehr vor diesem Menschen. Meine Stimme klang hart und mein Kopfnicken war unmissverständlich. Der Mann rührte sich keinen Millimeter. „Was ist?“, schnauzte Ben ihn an. „Beweg dich!“

 Die beiden folgten mir endlich. Wir standen im leergeräumten Wohnzimmer.

„Vielleicht will ihr Freund ja eine Antwort?“ Ich nahm ihm den Brief aus der Hand. Der Mann griff in seine Jackentasche und Ben entsicherte nervös seine Waffe und hielt sie dem Fremden vor die Stirn, auf der sich Schweißperlen abzeichneten. Auch ich hatte die Luft angehalten, weil ich dachte er hätte dort einen Revolver versteckt. Aber der Idiot hatte bloß Angst, er würde sich anstecken. Er fischte eine Maske hervor und setzte sie umständlich auf. Sofort hob er wieder die Hände.

„Sieh nach, ob er eine Waffe hat!“, wies Ben mich an.

Ich tastete den Maskierten ab.

„I.. ich hab keine Waffe! B...b...bitte tun Sie mir nichts!“, heulte der Mann, der fast so groß wie Ben war.

„Er ist sauber“, sagte ich, nachdem ich den Kerl von oben bis unten betatscht hatte.

„Los! Mach den Brief auf!“, befahl Ben mir. Zu dem Mann sagte er: „Wer ist dein Freund, hä? Wer hat dich geschickt?“

Der Angesprochene wimmerte wie ein kleines Kind. Ich riss mit fahrigen Fingern den Umschlag auf und zog ein Blatt Papier heraus. Es war ein simpler Computerausdruck. „Steck deine Nase nicht in Sachen, die dich nichts angehen, sonst endest du wie deine Eltern!“ Mehr stand da nicht.

Wütend baute ich mich vor dem flennenden Typen auf. „Du hast meine Eltern umgebracht!“, schrie ich ihn an.

„N...nein. N...nein. I...Ich hab niemanden umgebracht. Ich schwöre! Ich habe niemanden umgebracht!“

Ben schickte mich ins Wohnzimmer um einen Stuhl zu holen. Dann dirigierte er den Mann zu dem Stuhl.

„Los setzen!“, befahl er ihm und drückte ihm die Waffe wieder  an den Hals.

Anstandslos setzte der Orangegekleidete sich und sah Ben furchtsam an. Der zog ein Paar Handschellen aus der Hosentasche und streckte sie mir hin. „Fessle ihn an den Stuhl.“

Ich machte, was er wollte. Bog dem Mann die Hände hinter der Lehne zusammen und ließ die Handschellen zuschnappen.

„Rede!“ Ben steckte die Waffe weg und zog dem Mann den Mundschutz vom Gesicht. Er baute sich vor dem Gefesselten auf und drohte ihm mit der Faust.

„I...Ich soll nur den Brief abgeben! Bitte!“

„Rede!“ Ben boxte dem Mann mit einem Knall gegen den Kiefer. Der schrie und flehte um sein Leben.

„Tu nicht so scheinheilig!“, herrschte Ben ihn an. „Ich weiß, du hast gestern deine Frau und deine Tochter geschlagen! Wer austeilen kann, muss auch einstecken.“

Ich sah Ben überrascht an. Woher wusste er das jetzt wieder? Es schien zu stimmen, denn der Mann senkte schuldbewusst den Kopf.

„Willst du auch einmal?“, fragte Ben mich und nickte zu unserem Gefangenem.
Tatsächlich fühlte ich unbändige Wut.  Aber einen Menschen schlagen, der sich nicht wehren konnte? Soweit ging mein Blutrausch dann doch nicht.

„Was wissen Sie von meinen Eltern?“ Ich hielt mein Gesicht nahe an seines und starrte ihm in die Augen.

Er weinte. „S...Sie s…sind tot.“

„Wie sind sie gestorben? Warum?“, knurrte ich ihn an und griff nach seiner Jacke. Meine Stimme klang kalt.  Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Ben mich beobachtete. Ich hielt  den Fremden am Kragen.  Er musste jetzt meinen Atem im Gesicht spüren. Kurz überlegte ich, ob ich ihn anhusten sollte. Der Mann war ein Weichei. Wahrscheinlich würde er sich vor Angst anpinkeln.

Er hatte die Augen geschlossen. „I...Ich habe es nicht gewusst. Ich habe es doch nicht gewusst! Ich habe es nicht gewusst.“

Ich war kurz davor ihm ebenfalls ins Gesicht zu boxen. „Was hast du nicht gewusst?“

„Dass er sie umbringt“, flüsterte der Mann. „Ich habe sie zu ihm gebracht ... und dann ... waren sie tot. Ich wollte das nicht. Bitte glauben Sie mir! Das wollte ich nicht.“ Flehend sah er abwechselnd mich und Ben an.

„Wohin haben sie meine Eltern damals gebracht?“ Ich packte ihn noch fester am Kragen.

„N...nach Schönfeld.“ Ich sah Ben an. Wir wussten beide aus den Polizeiakten, dass sowohl dieser Maurer und auch sein Cousin, der Anwalt, von dort stammten.

Ben gab mir einen Wink, mit ihm in mein Arbeitszimmer zu kommen. Er flüsterte: „Ich habe das alles mit dem Handy aufgenommen, aber wir brauchen noch den Beweis, in wessen Auftrag er gehandelt hat.“

Wir wussten beide, für wen dieser Mann damals gearbeitet hatte. Bei meinem stümperhaften Hackerangriff hatte ich Belege gefunden, dass Rolf Maurer als „Fahrer“ bei Gerd Schumann angestellt gewesen war.

Ice hatte das sicher auch geschafft. Fragend sah ich Ben an. Ich verließ mich auf ihn. Er hatte Erfahrung mit Kriminellen.

„Wir lassen ihn laufen. Er soll glauben, er ist uns entwischt. Dabei folgen wir ihm unauffällig und sehen, was er tut.“

Ich nickte verstehend. Wir gingen zurück in die Küche. Ängstlich starrte uns Rolf Maurer entgegen. Ben schloss seine Handschellen auf und zog ihn auf die Beine.

„Komm mit, Freundchen. Wir gehen jetzt zur Polizei. Du warst an einem Mord beteiligt, das wird die sicher interessieren.“ Bei diesen Worten stieß er ihn zurück in das Vorzimmer. Ich griff nach meiner Jacke und tat, als wollte ich sie anziehen. Der Mann sah, dass ich die Hände nicht frei hatte und dass Ben keine Waffe auf ihn richtete. Er schnappte nach mir und stieß mich gegen Ben. Gleichzeitig schoss er zur Wohnungstür und hastete hinaus. Ben und ich traten sofort die Verfolgung an, ihm dicht auf den Fersen.

Ben deutete mir langsamer zu werden. Auf der Straße hetzten wir noch eine Weile hinter ihm her. Er lief zur U-Bahn-Station. Dort ließen wir ihn entkommen.

Keuchend sah ich Ben an. „Was jetzt?“

Er zog wieder sein Handy hervor und wischte darauf herum. „Mal sehen, was er macht.“

Wir gingen zurück zur Wohnung. Jazy und ihre Mutter erwarteten uns an der Haustür. „Was ist passiert?“, fragte sie mit zitternder Stimme.

Ihre Mutter sah uns ebenfalls vorwurfsvoll an.

„Das war Rolf Maurer. Wir haben ihn entwischen lassen.  Er war es nicht. Aber er wird uns zum wahren Täter führen.“

Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich nun endlich Klarheit hatte. Meine Eltern waren tot. Ermordet! Unser Verdacht hatte sich als richtig herausgestellt.

„Zum richtigen Täter?“ flüsterte Jazys Mutter. Fragend sah sie uns an.

Ich musste schlucken. Ben antwortete: „Er hat zugegeben, dass sie umgebracht wurden und dass er dabei war.“

Jazy flog auf mich zu und umarmte mich.

„Ist schon gut.“ Ich fühlte mich komplett ruhig. Ich strich ihr über den Rücken. „Wir hatten es ja ohnehin schon geahnt. Jetzt habe ich zumindest Sicherheit.“

„Oh, Che! Es tut mir so leid.“

Sie erdrückte mich fast vor lauter Liebe. Stumm stand ich mit ihr im Stiegenhaus.

„Lasst uns raufgehen“, schlug Jazys Mutter vor.

„Ja. Mal schauen, was der Typ macht.“ Ben ließ das Display seines Telefons nicht aus den Augen.

Jazy löcherte mich, ihr alles ganz genau zu erzählen, was vorhin in unserer Wohnung passiert war. Als sie keine weiteren Fragen mehr stellte, konnte ich endlich ihre Mutter fragen, was sie im Krankenhaus erfahren hatte.

„Ich bin sicher, Amina hatte nichts mit alldem zu tun. Sie hatte ein blaues Auge heute. Mit Müh und Not hat sie mir gestanden, dass ihr Mann sie und ihre Tochter gestern geschlagen hat, aber nicht weshalb. Dabei hat sie ihn sogar noch in Schutz genommen. Sie hat gesagt, ihre Tochter hat ihn gereizt, nur deshalb sind ihm die Sicherungen durchgebrannt. Aus irgendeinem Grund nimmt sie ihn immer noch in Schutz. Sie behauptet doch tatsächlich, er sei normalerweise so lieb wie ein Teddybär.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann diese Frau nicht verstehen. Sonst habe ich leider nichts in Erfahrung gebracht.“

„Er hat ein ziemlich schlichtes Gemüt, hatte ich das Gefühl. Er hatte gebettelt und geflennt wie ein Kind. Wäre er ein richtiger Halunke, hätte er sich nicht so benommen“, sagte ich zu ihr.  „Vielleicht ist er privat tatsächlich nicht so kaltblütig, wie wir dachten.“

„Trotzdem hat er zwei Frauen verprügelt. Und damals hat er sogar versucht, Amina umzubringen. Diesen Kerl kannst du mir nicht mehr schönreden.“

Jazy nickte zustimmend. Wir hatten uns in Bens Arbeitszimmer versammelt und starrten zusammen auf den Bildschirm seines Laptops. Laut Handysignal fuhr Rolf Maurer Richtung zehnten Bezirk. Wahrscheinlich wollte er nach Hause. Das bewies nur noch einmal, dass er nicht der Cleverste war. Eigentlich müsste er damit rechnen, dass dort bereits die von uns verständigte Polizei warten würde. Oder dachte er, wir wüssten nicht, wer er war?

„Er telefoniert“, informierte uns Ben. Er klickte auf ein Lautsprechersymbol und wir konnten ein Freizeichen hören.

„Wen ruft er an?“, erkundigte ich mich. „Sieht man das?“

„Das ist die Nummer von Gerd Schumann.“

Ein zweites Signal leuchtete auf dem Stadtplan auf. Ben zeigte darauf. „Er ist in seiner Kanzlei.“

„Was ist? Hast du den Brief abgegeben?“ Zum ersten Mal hörte ich die Stimme des Anwalts. Statt ihn zu begrüßen, fuhr er seinen Boten sofort unfreundlich an.

„D...Du musst mir helfen! D...Die haben mich geschnappt! Die wollten mich zur Polizei bringen, da bin ich getürmt. Was soll ich jetzt tun?“

Ich sah Jazy bedeutsam an. Jetzt konnte sie sich selbst ein Urteil über dieses Weichei bilden. Rolf Maurer hatte mit weinerlicher Stimme gesprochen.

„Was heißt, die haben dich geschnappt? War außer dem Jungen noch jemand in der Wohnung?“

„Die waren zu zweit. Ich glaube, der eine war ein Detektiv. Der hatte eine Knarre. Und Handschellen. Was soll ich jetzt tun?“

Er wiederholte sich. Wir sahen uns kopfschüttelnd an.

„Komm zu mir in die Kanzlei. Zuerst geb ich dir den versprochenen Tausender und dann sehen wir weiter. Wir treffen uns in der Tiefgarage, in einer Viertelstunde, okay?“ Die Stimme des Anwalts klang emotionslos. Ich wunderte mich, dass er sich nicht mehr über das Versagen seines Cousins aufregte.

„Ja. Bitte hilf mir. Ich will nicht wieder ins Gefängnis.“

Schuhmann hatte das Gespräch schon beendet.

„Sollen wir die Polizei dorthin schicken? Jetzt haben wir doch den Beweis, dass er im Auftrag von diesem Anwalt hier war.“ Jazys Mutter hatte laut ausgesprochen, was mir auf der Zunge gelegen hatte.

Ben überlegte. „Wir wissen noch zu wenig. Der Kerl ist Anwalt. Sicher ist ihm bewusst, dass wir nicht genug gegen ihn in der Hand haben. Wir haben einen Drohbrief. Aber ohne Absender. Den könnte jeder ausgedruckt haben. Wir können ihm nicht nachweisen, dass er Olivers Eltern umgebracht hat. Falls er es selbst getan hat und nicht jemand anders. Wir wissen zu wenig.“ Er schüttelte enttäuscht den Kopf.

Anhand des Handysignals konnten wir sehen, dass Rolf Maurer die Richtung geändert hatte und er tatsächlich auf dem Weg zur Kanzlei war.

„Das schaffen wir nicht mehr rechtzeitig.  Auch wenn sie sich in der Tiefgarage treffen.“
Ich musste Ben recht geben. Nicht einmal, wenn wir ein Auto vor dem Haus stehen hätten, wäre es sich ausgegangen.

„Und wenn wir zu Amina fahren und ihr alles erzählen und dort auf ihren Mann warten?“, fragte Jazys Mutter.

„Falls er dorthin fährt. Vielleicht redet ihm der Anwalt das ja aus?“, antwortete ihre Tochter.

„Wir warten ab“, entschied Ben. „Jetzt, wo wir die Handys am Schirm haben, können wir immer genau kontrollieren, was sie tun.“

Ich stimmte ihm zu.

„Dann muss ich morgen noch einmal putzen gehen?“ Jazys Mutter hörte sich nicht gerade begeistert an.

„Mama! Du liebst putzen!“ Ich erkannte an ihrem Tonfall, dass sie es nicht ernst meinte.

„Nur, wenn ich es zu Hause mache. Da ist es entspannend. Im Krankenhaus ist es stressig.“ Selma hatte Jazys Sarkasmus überhört und gähnte. „Und ermüdend. Ich will nur noch was essen, dann bin ich bettreif.“

Sie und Jazy gingen in die Küche.

Ich verfolgte mit Ben weiter den blinkenden Punkt auf dem Stadtplan. Bald würde Maurer an der Kanzlei ankommen.


Als es endlich so weit war, sahen wir, dass die beiden Signale einander berührten.
„Schade, dass wir nicht hören, was die beiden zu besprechen haben.“

„Ja. Wäre das ein offizieller Fall, hätten wir überall Kameras und Abhörgeräte versteckt“, seufzte Ben. „Die von Interpol haben sich leider noch nicht gemeldet.“

Ich wusste, dass er dort nachgefragt hatte.

„Was ist jetzt?“ Ben starrte ratlos auf den Bildschirm. Eines der Signale war plötzlich verschwunden.

„Welches ist es?“, fragte ich.

„Das von Maurer.“

„Ausgeschaltet?“

Ben schüttelte den Kopf. „Nein, das Signal sendet auch bei ausgeschaltetem Telefon. Solange sich die SIM-Karte und der Akku noch darin befinden.“ Er tippte nervös auf dem Laptop herum.

„Also hat er eines von beiden rausgenommen? Um nicht gefunden zu werden?“

„Möglich. Oder er hat es zerstört.“

Mir gefiel nicht, wie er bei diesen Worten seine Nasenwurzel massierte.

„Das heißt, wir sehen nicht, ob Maurer erneut hier auftaucht?“

Der Gedanke behagte mir ganz und gar nicht. Ich fürchtete mich zwar nicht vor diesem Mann, aber nicht zu wissen, ob er etwas im Schilde führte, fühlte sich nicht gut an.

„Ihr schlaft am besten heute bei uns in der Wohnung. Sicher haben unsere Gegner keine Ahnung, dass wir uns kennen.“

Es sollte wohl ein Vorschlag sein, doch in meinen Ohren klang es nach einem Befehl, gegen den ich keine Argumente vorzubringen hatte - und auch nicht wollte. Ich hatte nicht so sehr Angst um mich, aber Jazy würde sicher nicht alleine hier oben schlafen.

 

 

 

Jazy - Der Fehler

 

Ich rief Che und Ben zum Essen. „Na? Hat sich etwas getan?“

Che berührte mit einer Hand mein Gesicht. Ich fühlte Fingerspitzen   an meiner Schläfe, sein Daumen streichelte leicht mein Kinn. Mit der anderen Hand umfasste er meine Hüfte. Immer von neuem spürte ich diese Schmetterlinge, wenn er mich berührte.

„Es ist was passiert!“, behauptete ich.

Er brachte mich mit einem Kuss zum Schweigen. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und schmiegte mich an ihn.

„Ben meint, wir sollen heute hier schlafen.“

Es hörte sich für mich nicht danach an, dass an dieser Entscheidung noch zu rütteln wäre. Ich nickte zur Bestätigung.

 

Beim Essen informierte Ben uns über seine letzten Erkenntnisse. Er überwachte weiterhin das Handy des Anwalts.

„Schumann hat Ronny Lang angerufen. Lang ist ein bekannter Wiener Unterweltboss. Typen wie der besorgen einem für Geld alles. Vom Joint bis zum Profi-Killer. Angeblich sei Schumann ein Malheur passiert. Er braucht einen … Reinigungstrupp.“ Er schüttelte den Kopf. „Mir schwant nichts Gutes. Noch dazu, wo wir den Kontakt zum Handy von Maurer verloren haben.“

„Wo ist der Anwalt jetzt?“, erkundigte ich mich neugierig.

Ben hatte den Mund voll, darum antwortete Che: „Ist jetzt in seiner Villa.“

„Glaubst du, er hat Aminas Mann etwas angetan?“, meine Mutter redete von dieser Frau schon wie von einer Freundin.

„Möglich wäre es.“ Ben sah betreten drein. Vielleicht machte er sich Vorwürfe, weil er den Mann hatte laufen lassen.

„Soll ich Amina anrufen und fragen, ob er heimgekommen ist oder sich gemeldet hat?“ Sie sah Ben fragend an.

Mit gerunzelter Stirn antwortete der: „Ich wollte dich schon fragen, ob wir zu ihr fahren können. Alleine würde sie mich bestimmt nicht in die Wohnung lassen, aber wenn du sie vorher anrufst? Falls ihrem Mann was passiert ist, schweben sie und ihre Tochter in Gefahr, wenn sie etwas wissen.“

Meine Mutter griff bereits nach ihrem Handy. Es läutete nur kurz, dann hörten wir mit, wie Amina Begic sich meldete. „Hallo Amina, hier ist Selma.“

„Ach. Du bist es.“ Ihre Stimme klang enttäuscht.

„Störe ich dich gerade? Du klingst, als hättest du jemand anders erwartet?“

„Was? Nein, du störst gar nicht. Ich bin nur überrascht. Mein Mann ist noch nicht heimgekommen, deshalb dachte ich, er ruft an.“

„Deswegen habe ich gerade an dich gedacht. Meinst du, er hat ein schlechtes Gewissen. Du weißt schon, wegen dem, was du mir erzählt hast. Was bei euch gestern Abend vorgefallen ist.“

Meine Mutter machte das gar nicht schlecht, fand ich.

„Daran habe ich auch schon gedacht. Er hatte heute Nachmittag einen Termin, aber warum er sich nicht meldet, dass er später kommt, verstehe ich nicht.“

„Ich dachte, ich könnte bei dir vorbeischauen. So als Schutzpolster. Wenn dein Mann nach Hause kommt und es ist jemand zu Besuch, hält er sich sicher zurück. Meinst du nicht?“

Amina Begic überlegte kurz. Wahrscheinlich hatte sie sich umgesehen, ob ihre Wohnung präsentabel war. Ich machte das immer so. „Ja, gerne. Das würde mich freuen.“ Sicher war die Wohnung einer professionellen Reinigungskraft stets vorzeigbar.

„Gib mir bitte deine Adresse.“ Meine Mutter stellte sich dumm.

Amina antwortete und Mama sagte: „Ich bin in einer halben Stunde bei dir. Bis gleich.“

„Ja. Freue mich.“

Meine Mutter legte auf.

„Warum hast du nicht gesagt, dass ich mit komme?“ Ben sah sie vorwurfsvoll an.

„Dann hätte sie sicher nicht zugesagt. Wir stellen sie vor vollendete Tatsachen. Immerhin kann ich behaupten, du hast mich gefahren. Müssen wir ihr ja nicht sagen, dass wir ein Taxi nehmen.“

Meine Mum war echt eine geborene Agentin. Ben fand das offensichtlich auch, denn er küsste sie wie James Bond eine seiner Frauen küssen würde. Dann wählte er ebenfalls eine Nummer auf seinem Handy. „Pyotr, mein liebster Feind! Was machst du gerade?“ Er lauschte der für uns nicht verständlichen Antwort. Er hatte den Lautsprecher nicht angemacht.

„Ich stecke in der Klemme“, fuhr Ben fort. „Hier tut sich gerade gewaltig was. Wir haben wegen Olivers Eltern in ein Wespennest gestochen. Ich schaffe das nicht mehr alleine.“ Wieder ließ er seinem Gesprächspartner Zeit, etwas zu sagen. „Wie schnell kannst du hier sein?“ Er sah uns erleichtert an. „Okay. Sonja soll dir den Wohnungsschlüssel geben. Ich bin mit Selma unterwegs. Jasmin und Oliver schlafen dann wahrscheinlich schon. Ich will nur, dass jemand in der Wohnung ist, falls etwas passiert.“

Vorsichtig schielte ich zu Che. Seine Stirn war gerunzelt. Sicher fühlte er sich erneut von Ben übergangen.

 

Nachdem Mama und Ben weg waren, zappten wir durch das Fernsehprogramm, es liefen aber nur lauter öde Serien. Mein Handy-Akku war schon halb leer, deshalb wollte ich damit nichts mehr streamen. Ben würde uns wahrscheinlich umbringen, wenn wir seinen Laptop anfassten.

Ich hatte versprochen, das Telefon im Auge zu behalten, falls sie uns anriefen. Wir gingen ins Gästezimmer und machten die Ausziehcouch fertig für die Nacht. „Sonderlich bequem liegt man darauf nicht. Ich spreche aus Erfahrung“, warnte ich Che vor. Ich warf ihm einen Polster zu und traf ihn versehentlich im Gesicht. Seine Brille verrutschte. „Sorry! Ich habe deine Reaktionsfähigkeit überschätzt.“ Er war mit seinen Gedanken irgendwo. Die Steppdecke samt Bettwäsche für seine Seite drückte ich ihm vorsichtshalber direkt in die Hände. Wir teilten uns die Arbeit immer auf. Noch ein Grund, warum ich ihn so liebte. Ohne zu murren half er mir, das Bett fertig zu machen.

Übermütig catchte ich mich, als wir fertig waren, darauf. Etwas zurückhaltender legte sich Che neben mir auf den Rücken. Ich sah ihn an. Sein Blick schweifte ziellos über den Plafond. Es hatte zu regnen begonnen. Leise hörte man vereinzelte Tropfen auf dem Fensterbrett abprallen. Ich rollte mich über ihn und zog sein T-Shirt nach oben. Zärtlich gab ich ihm im Takt der Regentropfen sanfte Küsse auf den flachen Bauch. So gewann ich seine Aufmerksamkeit. Er suchte lächelnd meinen Blick. Liebevoll massierten seine Hände meine Hüften. Ein leiser Schauer schickte wellenartige Impulse zu meiner Körpermitte.

Ich ließ meine Küsse weiter nach oben wandern und reizte seine Brustwarzen mit den Lippen. Che hatte den Saum meines Tops gegriffen und zog es mir langsam über den Kopf. Mein Sport-BH kam als nächstes dran. Seine Fingerkuppen strichen wie kleine zarte Rinnsale über meinen Rücken. Der Regen wurde stärker und trommelte vom Wind gepeitscht gegen das Fenster. Ich griff nach Ches Brille und legte sie fürsorglich zur Seite. Meine Brüste baumelten nahe genug an seinem Gesicht, die würde er auch ohne Sehhilfe finden. Wie zur Bestätigung benetzte er seine Lippen. Ich rutschte erwartungsvoll höher. Warm und feucht umfang sein Mund eine Brustwarze. Genussvoll stöhnte ich auf. Sofort widmete er sich auch der zweiten Seite. Ich spürte seine Hände unter meine Yogahose wandern. Darunter trug ich nur einen Stringtanga, kräftig massierte er meine Pobacken. Er wusste, das machte mich heiß. Und nass. Mein Mund suchte seinen. Unsere Zungen berührten sich. Warm und spielerisch ließen wir sie mitsammen tanzen. Meine Finger hielten sich an seinen Haaren fest. Er stöhnte in meinen Mund. Ich spürte seine Fingerspitzen, wie sie tastend die Konturen meines Strings entlangstrichen. Sich einen Weg suchten. Fordernd das winzige Stück Stoff zur Seite schoben. Ich musste etwas tun. Wollte seine Finger ohne störende Hindernisse überall an und in meinem Körper fühlen. Ohne meinen Mund von dem seinen zu lösen, zog ich mich akrobatisch ganz aus und gab mich seiner sacht kreisenden Hand hin. Vom intensiven Küssen waren wir beide atemlos. Luft schnappend löste ich meine Lippen. Seine Pupillen waren weit und ich verlor mich in seinen mitternachtsblauen Augen. Sehnsucht nach mehr spiegelte sich in diesem tiefen Blick. Ich legte den Kopf etwas schief und einen Herzschlag später lag ich unten und Che zog hastig seine Hose aus.

 

Sanftes Rauschen drang in meinen Kopf. Es passte nicht zu dem prasselnden Geräusch, das der Regen verursachte. Eher hörte es sich an, als würde eine hohe Welle brechen und gegen einen warmen Sandstrand schlagen. Mein Wecker!

Vorsichtig befreite ich meine unter Che vergrabenen Glieder und robbte in die Richtung, aus der das Rauschen kam. Es war zehn Uhr. Um diese Zeit nahm ich immer meine Antibabypille. So oft und heftig, wie wir uns vorhin geliebt hatten, wäre es keine gute Idee, gerade heute eine Ausnahme zu machen. Che hatte sich zur Seite gedreht und schlummerte friedlich weiter.

Was sollte ich tun? Ein ganzes Stockwerk trennte mich von der kleinen Packung. Ich bekam Schweißausbrüche bei dem Gedanken, was passieren könnte, wenn ich eine Ausnahme machen würde. Meine Mutter war zwar nicht viel älter als ich gewesen, als sie mit mir schwanger geworden war, doch ich fühlte mich zu diesem Schritt absolut noch nicht bereit. Ich suchte nach meiner Hose und dem Top. Leise schlüpfte ich in die Kleidung. Nachdenklich sah ich Che an. Sollte ich ihn wecken? Vielleicht waren Mama und Ben schon zurück? Vielleicht war Pyotr inzwischen gekommen.

Lautlos schlich ich aus dem Zimmer. Die Wohnung lag im Dunkeln. Außer uns war niemand da. Ich ging zurück und kniete mich neben Che aufs Bett. An seinem gleichmäßigen Atem erkannte ich, dass er tief und fest schlief. Mit dem Wissen, dass ihm das in letzter Zeit schwergefallen war, wollte ich ihn nicht wecken. Ich würde ja in drei Minuten zurück sein. Schlaf weiter, Liebster! Ich hauchte ihm einen Kuss auf die nackte Schulter.

Mein Wohnungsschlüssel hing am Schlüsselbrett neben der Eingangstür. Ich hatte kein Licht gemacht. Tastend suchte ich nach dem Schlüsselloch. Steckte der Schlüssel im Loch, konnte man die Türe lautlos schließen. Sonst würde das Geräusch durchs ganze Stiegenhaus hallen. Ich war barfuß und verursachte kein Geräusch, als ich im Dunkeln zur Treppe lief. Angespannt blieb ich dort stehen und lauschte, ob ich irgendetwas hörte.

Nichts.

Schnell huschte ich über den kalten Boden einen Stock tiefer. Meine nackten Füße fühlten sich eiskalt an. Und nass? Vielleicht war jemand von den anderen Wohnungen unterwegs gewesen, um Luft zu schnappen, und ein tropfender Schirm war schuld an der Lacke? Abermals blieb ich lauschend stehen. Mein Herz klopfte wild.

Sei nicht so ein Angsthase, Jazy!

 Ich schluckte das ungute Gefühl hinunter und schlich zu unserer Wohnungstür. Wieder suchte ich tastend nach dem Schlüsselloch. Als ich es gefunden hatte, schlüpfte ich so schnell ich konnte hinein und tapste blind durch die Wohnung. Von der Straße drang genug Licht durch die Fenster. Ich ging in mein Schlafzimmer. Mit einem erleichterten Seufzer drückte ich die kleine Pille aus der Aluverpackung und schluckte sie.

Die Tür zum Badezimmer schwang mit einem leisen Geräusch auf. Ich bekam fast einen Herzinfarkt. Die Bettwäsche raschelte leicht. Es war Filou, der nachsehen kam, was los war. Erleichtert kraulte ich ihm den Kopf. Wo ich schon hier war, konnte ich ihm auch schnell sein Fressen geben. Ich lockte ihn in die Küche und öffnete eines seiner Schälchen. Genauso lautlos, wie ich es schon oben gemacht hatte, schloss ich abermals unsere Wohnungstüre von außen mit dem Schlüssel. Gleich würde ich wieder neben Che im Bett liegen.

Als ich mich umdrehen wollte, fühlte ich, dass etwas nicht stimmte. Ein Laut? Eine Bewegung? Du nimmst jetzt besser deine Füße in die Hände! Sollte ich auf den rot glimmenden Lichtschalter drücken? Noch ehe ich den Gedanken zu Ende denken konnte, presste sich eine harte Hand auf meinen Mund.

Lass dich fallen! Ich täuschte vor, umzukippen, doch eine zweite Hand drückte mich an einen feuchten, festen Körper. Ich änderte meine Strategie und versuchte wild um mich zu schlagen und in die Hand auf meinem Mund zu beißen. Ich erzielte einen Treffer gegen das Schienbein des Mannes. Er ächzte wütend. Zu blöd, dass ich barfuß war. Eindeutig ein Nachteil. Er würde es nicht einmal spüren, wenn ich ihm auf die Zehen trat. Plötzlich war da noch jemand.

„Das ist ein Mädchen! Was sollen wir tun?“, hörte ich eine dunkle Stimme flüstern. War das dieser Rolf Maurer? Der Kerl stotterte aber gar nicht.

„Wir nehmen sie mit. Soll der Boss entscheiden, was wir mit ihr tun. Die schreit sonst das ganze Haus zusammen.“

Darauf konnten sie sich verlassen! Ich wehrte mich wie wild, doch der zweite Mann ergriff meine Beine, ich bekam sie nicht mehr frei. Fest grub ich meine Fingernägel in die Hand, die auf meinem Mund lag.

Hätte ich doch nur die langen Nägel meiner Mutter! Mit meinen kurz geschnittenen hatte ich keinen Erfolg. Obwohl die Hand noch immer fest auf meinen Mund drückte, versuchte ich zu schreien. Es war zwar nur ein ersticktes Geräusch zu hören, aber immerhin. Vielleicht würde es jemand im Haus hören. Ich gab nicht auf und kämpfte um mein Leben, während die Männer mich durch das Stiegenhaus schleppten. Als der Mann, der mir den Mund zuhielt, die Haustüre öffnete, gelang es mir kurzfristig, mich freizukämpfen.

Ich schrie so laut ich konnte um Hilfe, doch noch ehe ich das Wort fertig geschrien hatte, hielt er mir wieder den Mund zu. Gleichzeitig verdrehte er schmerzhaft eines meiner Handgelenke. Ich bekam Panik, er würde mir die Hand brechen.

Ich gab meine Gegenwehr auf. Spürte kühle Luft. Da ich nur durch die Nase atmen konnte, roch ich die regennasse Straße. Sie stießen mich in einen Kofferraum und schlugen sofort den Deckel über mir zu. Wieder schrie ich, so laut, dass es in meinen eigenen Ohren schmerzte, obwohl ich wusste, dass um diese Zeit kaum jemand auf der Straße sein würde.

Der Wagen setzte sich in Bewegung. Mir wurde schlecht. Zu meiner Angst kam jetzt noch das beklemmende Gefühl, ersticken zu müssen. Ich konnte ein Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Mein Arm tat weh. Was würden diese Männer mit mir tun?

Ich erinnerte mich an die Überraschung des Mannes, der mich gefangen hatte. Er hatte nicht mit mir gerechnet, mit einem Mädchen. Die beiden wussten nicht, wer ich war.

Überleg, Jazy! Sicher waren die Beiden hinter Che her gewesen. Vielleicht wussten sie nicht, dass ich seine Freundin war. Ich musste sie davon überzeugen, dass ich mir nur die Wohnung mit ihm teilte. Vielleicht ließen sie mich dann gehen.

Der Regen prasselte stärker gegen den Kofferraumdeckel. Selbst wenn ich mir die Seele aus dem Leib schreien würde - niemand würde mich hören. Ich tastete den Kofferraum ab, ob sich etwas darin befand, das sich als Waffe verwenden ließ. Sollte nicht in jedem Kofferraum ein Wagenheber oder zumindest ein Drehmomentschlüssel herumliegen?

Fehlanzeige. Nicht einmal ein Verbandspaket fand ich. Jetzt, wo ich selbst still lag, hörte ich die zwei Männer im Wagen dumpf miteinander streiten. Offensichtlich hatten sie unterschiedliche Vorstellungen davon, wohin sie mich bringen sollten.

Einer telefonierte. Im Geiste legte ich mir Antworten zurecht, wie ich sie überzeugen könnte, dass sie die Falsche erwischt hatten. Wenn sie mir überhaupt die Gelegenheit geben würden, etwas zu sagen.

Hatten Ches Eltern damals dasselbe durchgemacht? Ich war fast froh darüber, dass sie mich alleine geschnappt hatten. So konnte ich wenigstens hoffen, dass Che mich finden und befreien würde.

Das Auto hielt an. Ich schrie und trommelte solange mit den Knien gegen den Kofferraumdeckel, bis er sich öffnete. Es war stockfinster, es regnete noch immer. Ich blickte in die Mündung eines Revolvers.

Einer der Männer drohte mir: „Noch einen Mucks und ich knall dich sofort ab!“ Ich konnte ihn nicht sehen. Seine Stimme klang dumpf. Vermutlich trug er eine Maske. Der Wink mit der Waffe ließ mich verstummen. Er war nur ein schwarzer Schatten vor dunklem Hintergrund. Es gab keine Straßenbeleuchtung oder sonstige Lichtquellen. Beim Kampf im Stiegenhaus hatte ich einem der Männer eine Kapuze vom Kopf gerissen, aber trotzdem kein Gesicht gesehen. Es war zu finster gewesen.

Wer waren diese Männer? Ich musste sie sicher irgendwann einmal der Polizei beschreiben. Daran, dass ich nicht befreit werden würde, wollte ich keinen Gedanken verschwenden.

Der zweite Typ kam näher. Auch sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Er trug eine Haube, die er tief in die Stirn gezogen hatte, und ebenfalls eine schwarze Maske. Er hatte Klebeband in der Hand.

Die Mündung des Revolvers zielte jetzt  auf meine Brust. Ich wehrte mich nicht, als er ein Stück Band über meinen Mund klebte. Anschließend band er meine Handgelenke mit einem Kabelbinder hinter dem Rücken zusammen. Ich stöhnte in das Klebeband, als er meinen schmerzenden Arm brutal nach hinten bog. Als nächstes verschnürte er meine Fußgelenke. Der scharfe Plastikrand schnitt mir bei jeder Bewegung ins Fleisch. Doch damit nicht genug, zog er mir noch einen schwarzen großen Müllsack über den Oberkörper. Ich fühlte, wie er ihn mit einem  Klebeband um meine Brust zuschnürte.

Ich bekam Panik und fing an zu hyperventilieren. Die Angst zu ersticken war größer als die Angst vor der Waffe, die ich nicht mehr sehen konnte. Ich versuchte, trotz Klebeband zu schreien und gegen die Fesseln anzukämpfen.

„So erstickt sie. Das ist dir klar, oder?“, hörte ich einen der Männer sagen.

Ja! Ich ersticke, ihr Idioten! Warum habt ihr mich nicht gleich erschossen? Kurz bevor ich ohnmächtig wurde, ritzte jemand einen Luftschlitz in den Müllsack. Gierig sog ich das bisschen Sauerstoff durch die Nase ein. Ich zwang mich, ruhiger zu atmen. Dachte an meine Nadi Shodhana Übungen, bei denen ich jeweils nur durch ein Nasenloch ein- und ausatmete. Das half mir, mich zu beruhigen. Er ritzte noch einen zweiten Luftschlitz. Dann schlug der Kofferraumdeckel wieder zu. Wenn ich ersticken würde, dann wohl, weil der Sauerstoff im Kofferraum nicht ausreichte. Türen schlugen zu und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Dieses Mal dauerte die Fahrt nicht so lange. Nach etwa fünf Minuten hielten wir wieder an. Durch den Sack hörte ich beinahe nichts anderes mehr, als meinen eigenen Atem. Undeutlich meinte ich, eine neue Stimme auszumachen, die mit den zwei Männern redete.

Ich will hier raus! Bitte! Ihr habt die Falsche! Mein Flehen wurde nicht erhört. Ich hörte, wie die Männer einen Gegenstand auf die Rückbank warfen. Dann startete der Motor wieder. Dieses Mal dauerte die Fahrt eine Ewigkeit. Mir war so kalt.

 

Ich wusste nicht, ob ich vor Erschöpfung eingeschlafen war, oder wegen des Sauerstoffmangels ohnmächtig wurde. Ich kam erst wieder zu mir, als der Wagen über eine holprige Schotterstraße rollte. Irgendwann hielten wir an. Ich hörte, wie die hintere Wagentüre geöffnet und wieder zugeschlagen wurde.

Sie bringen mich um und vergraben mich irgendwo im Wald! Mein Herz fing sofort wieder an zu rasen. Papa! Mama! Bitte! Ich bin hier! Ich bin hier! Tränen stiegen mir in die Augen und gleichzeitig schwoll meine Nase zu. Nicht weinen, Jazy! Sonst erstickst du! Ich biss mir fest auf die Lippen, um mich abzulenken. Was geschah da draußen? Jemand fluchte. Schaufelten die da mein Grab? Es hörte sich so an. Kalter Angstschweiß trat mir aus allen Poren und brachte mich zum Zittern. Ich wollte nur noch eines. Weiterleben! Einfach nur nach Hause!

Etwa eine halbe Stunde später stiegen die Männer wieder in den Wagen. Wir fuhren weiter. Ich begann zu weinen. Dieses Mal, weil ich so erleichtert war.

Nach einigen Minuten hielten wir schon wieder. Jemand zerrte mich aus dem Kofferraum. Meine nackten Füße schleiften über eine nasse Wiese. Dann über ein paar Stufen hoch. Eine Tür wurde aufgesperrt. Wo hatten sie mich hingebracht? Es war kalt und roch muffig. Sie drückten mich auf einen Stuhl. Ich konnte fühlen, wie mich jemand anstarrte. Ich zitterte.

„Also schön! Wer bist du?“ Der Mann redete mit Wiener Dialekt.

Du hast mir den Mund zugeklebt, du Trottel! Es kamen nur unverständliche Laute aus meiner Kehle.

„Wir haben sie geknebelt.“

Danke auch!

„Worauf wartet ihr? Ich will mit ihr reden.“

Durch einen der Atemschlitze, tastete eine Hand nach meinem Mund und zog an dem Klebeband. Es tat weh, doch endlich konnte ich wieder richtig Luft holen. Jemand drückte mir einen harten Gegenstand in den Rücken. „Du redest nur, wenn du gefragt wirst, verstanden? Hier hört dich sowieso niemand, wenn du schreist.“

Durch den Atemschlitz drang schwaches Licht, wie von einer Taschenlampe. Hier gab es vielleicht gar keinen Strom.

„Also, noch einmal: Wer bist du?“

„Ich heiße Jasmin Egin. Was wollen sie von mir? Meine Eltern haben Geld!“

„Was hast du in dieser Wohnung gemacht?“

„Ich wohne da. Ich habe die Katze gefüttert. Meine Mitbewohner sind alle verreist.“

„Die Katze gefüttert? Mitten in der Nacht? Du bist da im Dunkeln herumgeschlichen!“

„Ich war bei meiner Mutter in der Wohnung, einen Stock höher. Ich wollte niemanden wecken. Die Haushälterin im Erdgeschoß hat einen leichten Schlaf. Man hört es im ganzen Haus, wenn man das Flurlicht einschaltet. Was wollen Sie von mir? Darf ich meine Eltern anrufen? Bitte!“

„Wann sind deine Mitbewohner verreist?“

„Zwei von ihnen schon Mitte März. Einer erst gestern.“ Etwas raschelte in einer Ecke. Sicher wimmelte es hier vor Ungeziefer und Mäusen. „Mir ist kalt!“ Ich trug nur mein kurzärmeliges Top und die Yogahose. Der Müllsack wärmte etwas meinen Oberkörper, aber meine Füße fühlten sich an wie Eisklumpen.

„Schau nach, ob es da drinnen eine Decke gibt!“, hörte ich den Mann zu einem der anderen sagen. Eine Tür wurde geöffnet.

„Oliver Moser? Sagt dir der Name etwas?“

„Das ist mein Vermieter. Schuldet er Ihnen Geld? Lassen Sie mich telefonieren. Ich besorge alles, was sie möchten.“ Schritte kamen zurück und eine stinkende kalte Decke landete auf meinen Beinen.

„Diesen kleinen Ausflug hast du deinem Vermieter zu verdanken. Ich hoffe, ihm liegt was an dir. Wenn er sich uns stellt, dann lassen wir dich laufen!“

„Bitte! Lassen Sie mich telefonieren!“

„Später. Es ist mitten in der Nacht.“

„Meine Mutter wird ausflippen, wenn sie von der Arbeit heimkommt und ich nicht da bin!“ Wahrscheinlich war das längst geschehen. Oh, mein Gott! Che! Was wenn er etwas Unüberlegtes tat? Ich wusste, sie alle würden mich suchen, Che, Ben, Pyotr. Aber wie sollten sie mich finden? Wir waren eine Ewigkeit gefahren. Ich hatte kein Handy dabei, ich war hier mitten im Nirgendwo.

Der Mann gab einem der Kidnapper den Befehl, auf mich aufzupassen. Ich hörte, wie sich eine Tür schloss. Waren die anderen weg?

„Bitte! Meine Eltern zahlen Ihnen sicher mehr als dieser Mann, wenn Sie mich gehen lassen“, versuchte ich meinen Aufpasser in ein Gespräch zu verwickeln.

Ich bekam keine Antwort.

„Bitte! Ich habe schrecklichen Durst!“ Meine Kehle fühlte sich wie ausgetrocknet an. Ich hörte, wie der Mann den Raum verließ. Sollte ich versuchen zu flüchten? Ich hatte keine Ahnung, wo ich war, wohin ich rennen sollte? Der Gedanke war lächerlich. Meine Beine waren noch immer zusammengebunden.

Ich versuchte es in meiner Verzweiflung mit Telepathie. Abwechselnd dachte ich an Che und Ben. Ich bin hier! Hier bin ich! Als könnte ich sie herbeihexen.

Der Mann kam zurück. Durch den Luftschlitz hielt er mir eine Plastikflasche an den Mund. Es war Cola und schmeckte ekelhaft süß. Trotzdem trank ich gierig. Nie mehr wieder in meinem Leben würde ich dieses Gesöff anrühren.

Ich malte mir aus, wie Ben und Pyotr hier alles kurz und klein schießen würden. Wie Che die Männer krankenhausreif schlug, dafür, dass sie mir hier nichts als Cola zu trinken gaben. Ich fing an zu lachen wie eine Verrückte. Sicher wäre ich bald wieder daheim.

„Was lachst du so blöd?“, fuhr mich der Mann an.

Dieser Trottel kapierte gar nichts. „Sie könnten reich werden, wenn Sie mich frei lassen. Aber sie tun es nicht. Das finde ich urwitzig.“

Er ging nicht auf meine Worte ein. Als ich schon dachte, er würde gar nichts sagen, hörte ich: „Da wo ich herkomme, haben wir einen Ehrenkodex. Wer sich nicht daran hält, hat sein Leben verspielt.“

„Gratuliere. Toller Ehrenkodex. Mitten in der Nacht ein Mädchen zu entführen, sie fast zu ersticken und zu zwingen, Cola zu trinken.“

Er braucht wieder eine Ewigkeit, um zu antworten: „Ich hab dich nicht gezwungen, Cola zu trinken. Du hattest Durst. Was passt dir nicht an Cola?“

„Nichts. Damit kann man super WC´s putzen“, sagte ich sarkastisch. „Was haben Sie mit mir vor?“

Er verfiel wieder in sein Schweigen.

„Gibt es hier keine Heizung? Mir ist noch immer kalt.“ Die Decke reichte nicht bis zu meinen Zehen. Ich versuchte sie von meinem Schoß rutschen zu lassen, um die Füße darauf stellen zu können.

Waren Ches Eltern in diesem Loch gestorben? Werden die mich auch umbringen und irgendwo im Wald vergraben? Ich konzentrierte mich wieder auf mein Hexenmantra: Ben! Ich bin hier! Ben! Ich bin hier! Ben! Ich bin hier!

 

 

 

 

 

Ben - Die Suche

 

„Das Taxi ist da.“ Selma verließ ihren Aussichtsposten am Fenster, nahm Jacke und Handtasche, die sie auf dem Tisch bereitgelegt hatte, und ging in den Vorraum.
Während ich meine Glock 22 hinten in meinen Hosenbund steckte und den Pullover darüber zog, schärfte ich Jasmin noch einmal ein, das Handy im Auge zu behalten. Anschließend verließen wir die Wohnung.

 

„Ich wollte schon fast aufhören für heute. Nach sieben Uhr machen wir jetzt eh kein Geschäft mehr“, plauderte der Fahrer mit starkem Akzent über die Trennscheibe aus Plastik hinweg. Die Botschaft war deutlich: Er zählte auf ein ordentliches Trinkgeld, wenn schon sonst der ganze Umsatz wegbrach.

Selma griff nach meiner Hand. Es war dunkel im Fond des Taxis und wir hatten unsere Masken auf. Ich konnte ihre Mimik nicht lesen, aber wenn sie von sich aus den Körperkontakt suchte, bedeutete es, dass sie nervös war.

Ihre Finger lagen kalt in meiner Hand. Ich drückte ermutigend zu. Vielleicht hätten wir uns doch ein Car-Sharing-Auto nehmen sollen? Es war unklar, wie der Abend weiter verlaufen würde. Ich zählte aber darauf, dass Pyotr wie versprochen kam. Dann hätten wir auch ein Fahrzeug, um gegebenenfalls die Villa dieses Anwalts zu beschatten.

Ich zahlte mit Kreditkarte. Der Fahrer dankte für das großzügige Trinkgeld und überreichte mir seine Visitenkarte. Selma stand schon am Hauseingang. Sie zeigte auf das Namensschild. Die Wohnung lag demnach im zweiten Stock. Ich nickte. Sie drückte den Knopf. Wenige Sekunden später hörten wir das Vibrieren des Türöffners. Immerhin hatte Selma ihren Besuch angekündigt. Ich hielt etwas Abstand. Selma sollte dieser Amina erst schonend beibringen, dass sie nicht alleine kam.

 

„Hallo!“, sagte eine weibliche Stimme. „Du hast dich aber schick gemacht.“
Selma trug wie üblich ihre High-Heels. Die Frau konnte nicht wissen, dass sie gar keine anderen Schuhe besaß.

„Hallo Amina. Mein Freund hat mich hergefahren.“

Ich trat einen Schritt näher, jetzt konnte ich die Frau sehen und sie mich. Sie sah mich überrascht an.

„Ben, das ist Amina. Amina, Ben“, stellte sie uns vor. „Ich hoffe, wir überrumpeln dich nicht zu sehr, aber man bekommt kaum noch Taxis um diese Zeit. Ihre Entschuldigung klang für mich plausibel. Ich hatte allerdings noch die Worte unseres Taxifahrers im Ohr. Forschend versuchte ich im Gesicht von Amina zu lesen, was sie von der Erklärung hielt. Sie schien überrascht.

„Hallo, Ben. Du bist aber kein Türke, oder?“ Sie klang neugierig. Offensichtlich war es ihr nicht unangenehm, mich zu sehen.

„Nein. Amerikaner. Freut mich, dich kennenzulernen. Ich kann auch im Wagen warten, falls ihr unter euch bleiben möchtet?“

„Ach, Blödsinn! Kommt rein!“ Amina winkte uns in die modern eingerichtete, blitzblanke Wohnung. Sie zeigte uns die Garderobe und bestand darauf, dass wir unsere Schuhe anließen. „Ich habe heute noch nicht gesaugt. Sofia, meine Tochter, ist in ihrem Zimmer“, fügte sie entschuldigend hinzu, weil aus einem der Räume Musik drang.

Wir folgten ihr in die Küche, die mit dem Esszimmer und Wohnzimmer eine Einheit bildete. „Soll ich einen Wein aufmachen?“

„Nur, wenn du einen trinken möchtest. Wegen uns brauchst du dir keine Umstände machen.“

  Amina zog aus einem kleinen Weinregal eine Flasche Rotwein. „Der wird sonst noch schlecht. Wer weiß, wann wir das nächste Mal Besuch bekommen.“

Ich nahm ihr die Flasche aus der Hand und bot an, sie zu öffnen.

„Hat sich dein Mann schon gemeldet?“ Selma fragte es beiläufig. Ich konnte aber einen angespannten Unterton wahrnehmen. Sie wollte möglichst schnell zur Sache kommen.

„Nein. Er hebt auch nicht ab. Sein Handy ist nicht erreichbar. Schön langsam mache ich mir Sorgen.“ Sie stellte drei Gläser auf den Esszimmertisch und wir nahmen Platz. Ich kostete den Wein und schenkte uns allen ein halbvolles Glas ein. Klirrend prosteten wir uns zu. Selmas Rechte lag angestrengt geballt auf dem Tisch. Ich legte meine Hand darüber, damit nicht auffiel, wie nervös sie war.

Wir hatten vereinbart, nicht mit der Tür ins Haus zu fallen. Ich wollte erst versuchen, die Frau richtig einzuschätzen und Vertrauen aufzubauen, bevor Selma mit der Wahrheit herausrückte.

Sie hatte Amina getäuscht. Es war nicht absehbar, wie diese darauf reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass wir sie ausspioniert hatten. Möglich, dass sie uns auf der Stelle aus ihrer Wohnung schmiss. Das wäre ungünstig. Ich hatte vor, mir ein unvoreingenommenes Bild von ihr zu machen.

 

Wir plauderten ein wenig darüber, wie Amina nach Österreich gekommen war. Sie hatte ihre Eltern im Krieg verloren. Erst wollte sie ihre Großeltern nicht alleine zurücklassen, doch es gab dort für junge Menschen wenig Perspektiven. Von hier konnte sie sie finanziell unterstützen.

Sie klang aufrichtig und bescheiden. Es war mutig von ihr gewesen, als junges Mädchen, alleine in ein fremdes Land zu gehen.

Wir brachten sie dazu, uns zu erzählen, wie sie ihren Mann kennengelernt hatte. Vorsichtig lenkten wir das Thema auf den gestrigen Vorfall. Ich hatte genug psychologische Erfahrung gesammelt, um zu erkennen, dass sich die Frau schämte. Ich konnte Selmas Einschätzung, Amina sei eine feinfühlige, sympathische Person, nur zustimmen. Doch genau diese Eigenschaften konnten genauso schnell zu Selbstbetrug führen.

Menschen, die sich selbst belogen, versuchten, an ihren Überzeugungen festzuhalten. Sie übersahen dabei gern gegenteilige Beweise und beschwichtigen sich mit Ausreden. Genau auf diese Art und Weise versuchte Amina, den gestrigen Vorfall zu beschönigen. Ihr Blick irrte dabei nervös durch den Raum. Als ich versuchte, ihr in die Augen zu schauen, wich sie meinem Blick immer wieder aus. Unsicher zwinkerte sie viel häufiger, als es Menschen normalerweise taten.

Zwischendurch warf ich immer wieder einen kurzen Blick auf mein Handy, das mir die Position von Gerd Schumanns Telefon anzeigte. Ich hatte mich bei Amina entschuldigt, dass ich auf einen dringenden geschäftlichen Anruf aus den USA wartete.

Das zweite Handy-Signal fehlte nach wie vor. Ich hatte inzwischen wenig Hoffnung, dass sich daran etwas änderte. Trotzdem fragte ich: „Willst du deinen Mann anrufen? Lass dich von uns nicht stören.“

Selma nickte zustimmend. „Ja, wir sehen doch, dass du dir Gedanken machst.“

Natürlich bekam sie wieder keine Verbindung.

„Machst du dir Sorgen, er könnte sich etwas angetan haben?“, fragte Selma.

Erstaunt sah Amina sie an. „Nein. Daran habe ich nicht gedacht. Dazu ist Rolf nicht der Typ“, versicherte sie uns glaubhaft.

„Wohin wollte dein Mann nach der Arbeit eigentlich? Es hat doch alles zu?“, mischte ich mich ein.

„Zu seinem Cousin. Er wollte da eh nicht hin, aber dieser Kerl ist so ... so …“ Offensichtlich fehlten ihr die Worte, um Gerd Schumann treffend zu beschreiben.

„Hast du diesen Cousin schon mal angerufen?“, erkundigte Selma sich.

„Nein.“ Amina sah sie überrumpelt an. „Ich mag ihn nicht besonders“, fügte sie erklärend hinzu. Sie überlegte. „Vielleicht mach ich das schnell. Stört es Euch?“

Wir schüttelten synchron den Kopf. Ganz im Gegenteil.

Sie suchte in einer Lade nach ihrem Adressbuch. Ich entschuldigte mich und redete mich darauf hinaus, dass der Anruf, auf den ich wartete, soeben eintraf. Ich fragte, ob ich auf den Balkon gehen dürfe, zum Telefonieren. Dort wollte ich das Gespräch über meine Abhörschaltung verfolgen.

Ich sah, wie Amina ihr Telefon zur Hand nahm. Kurz darauf bekam ich das Signal, dass auf Gerd Schumanns Handy ein Anruf einging.

„Schumann“, meldete er sich, kurz angebunden.

„Gerd? Da ist die Amina. Ist der Rolf noch bei dir? Er geht nicht ans Telefon.“

„Nein. Mit dem habe ich ein Hühnchen zu rupfen. Der hat sich heute nicht bei mir blicken lassen, obwohl ich es mit ihm ausgemacht hatte.“

Eine glatte Lüge, wie ich sehrwohl wusste, aber sie kam ihm überzeugend über die Lippen.

„Er war gar nicht bei dir?“ Aminas Stimme klang unsicher.

„Nein! Bist du taub? Was habe ich dir gerade gesagt?“, schrie er regelrecht in den Hörer. Ein typischer Choleriker. Er beendete den Anruf, ohne sich verabschiedet zu haben.

 Ich ging zurück in die Wohnung.

„Na?“ Neugierig tat ich, als wüsste ich von nichts.

„Er sagt, Rolf war gar nicht bei ihm.“ Amina schien jetzt hochgradig alarmiert zu sein.

Ich fand, es war an der Zeit, ihr reinen Wein einzuschenken. Ich trat neben sie und ließ sie einen Blick auf mein Handy-Display werfen. Sie sah mich verwirrt an. „Dieser Punkt ist der Anschluss von Gerd Schumann. Ich überwache seit heute früh sein Telefon.“

Amina wirkte jetzt panisch. Ich legte ihr meine Hand auf die Schulter. „Beruhige dich erst einmal. Dann erklären wir dir alles.“

Ängstlich wanderte ihr Blick zwischen Selma und mir hin und her. Sie durfte sich auf keinen Fall abwertend behandelt fühlen. Ich wollte, dass sie uns die Dinge erzählte, die sie vor uns verheimlichte.

„Wer seid ihr? Seid ihr von der Polizei?“

„Ich bin eher so etwas wie ein Privatdetektiv. Du hast letzte Woche zwei Anrufe erhalten. Kannst du dich erinnern?“ Sie schluckte merklich und sah aus, als wäre ihr plötzlich heiß geworden. Ihre Wangen färbten sich rot.

„Das waren meine Tochter und ihr Freund“, erklärte Selma und griff nach Aminas Hand. „Wir wollen dir wirklich keine Angst machen. Wir wollen nur wissen, warum du damals der Polizei nicht die Wahrheit gesagt hast?“

Die Frau entzog Selma die Hand, stützte resignierend die Ellbogen auf den Tisch und versteckte ihren Kopf dazwischen. „Ich hatte mein Leben damals nicht im Griff“, flüsterte sie. „Ich war schwanger und da waren die Probleme mit Rolf ...“ Sie sprach nicht weiter.

Ich setzte mich wieder an den Tisch. „Ich habe Rolf heute Nachmittag gesehen“, sagte ich vorsichtig. Ihr Kopf schnellte nach oben. Mit geweiteten Augen sah sie mich an.

„Es ging ihm gut, als ich ihn das letzte Mal sah“, fügte ich schnell hinzu. „Er kam direkt von Gerd Schumann, dass weiß ich mit Sicherheit. Hier lügt nur einer. Und zwar ist das Doktor Schumann. Die Frage ist nur, warum er das tut?“

Aminas Schultern fielen nach vorne. Sie gab jeden Widerstand auf. „Gerd hat Rolf immer schon manipuliert. Er ist egoistisch. Es ist ihm nie schwergefallen, sich als etwas Besseres aufzuspielen. Er hat auch nie ein schlechtes Gewissen nach seinen Wutausbrüchen. Er ist rücksichtslos und beutet alle Menschen in seinem Umkreis aus. Zerstört deren Leben. Einen gemeinsamen Freund hat er vor vielen Jahren kaltlächelnd finanziell ruiniert. Einem anderen Bekannten hat er die Freundin ausgespannt, nur um sie kurz darauf fallen zu lassen und sie als Hure zu beschimpfen.“

Sie schilderte die Charaktereigenschaften eines größenwahnsinnigen Psychopathen. Die Frage war: Warum hatte Amina Gerd Schumann indirekt gedeckt? Sie hatte doch gewusst, dass damals etwas Schreckliches passiert war?

„Du weißt, was vor zweiundwanzig Jahren passiert ist, oder?“ Selma suchte Aminas Blick. „Zwei Menschen sind verschwunden, junge Eltern, und die letzten beiden Anrufe kamen von deinem Telefon.“

Amina fing an zu weinen.

„Hast du mit deinem Mann über das, was damals passiert ist, gesprochen?“, hakte Selma nach.

Amina schilderte Gerd als extrem aufbrausenden Menschen. „Er ist wegen nichts von einer Sekunde zur anderen wütend geworden. Sogar Rolf hat sich vor ihm gefürchtet, obwohl er doch viel größer und kräftiger ist als er. Ich hatte Angst, in etwas Kriminelles hineingezogen zu werden.“ Sie schaute mich tränenüberströmt an. „Hat Rolf diese Menschen umgebracht?“ Demnach wusste sie wirklich nicht genau, was damals geschehen war.

„Nein. Nach allem, was ich in Erfahrung gebracht habe, war er in die Entführung verwickelt, aber er hat sie nicht getötet.“

Amina schluchzte erleichtert auf. „Ich konnte mit Rolf nicht darüber sprechen. Einmal habe ich es versucht, da hätte er mich fast erstochen.“ Das war uns bekannt. So war es also zu diesem Vorfall gekommen. Sie schien erleichtert, alles loswerden zu können. All die Jahre hatte sie eine immense Last mit sich herumgeschleppt und sich deshalb schlecht gefühlt.

„Ich habe immer gewusst, dass es nicht ausgestanden ist. Als letzte Woche die Anrufe kamen, dachte ich, es geht wieder alles von vorne los. Dann hat Gerd angerufen, mit dem wir schon ewig keinen Kontakt mehr hatten - und das ist passiert.“ Sie zeigte auf den blauen Fleck in ihrem Gesicht.

Ich sah auf die Uhr. Es war knapp nach zehn. „Ich rufe Jasmin kurz an, ob Pyotr schon da ist“, sagte ich und wählte die Nummer. „Es wird Zeit, diesem Doktor Schumann einen Besuch abzustatten.“

Ich wollte mich gerade aufregen, weil Jasmin nicht ans Telefon ging, da meldete sich Oliver mit verschlafener Stimme.

„Entschuldige, habt ihr geschlafen? Ich wollte fragen, ob Pyotr schon bei euch ist?“

„Ben? Ich muss eingeschlafen sein.“ Ich hörte, wie er nach Jasmin rief. „Warte, ich ziehe mir schnell meine Hose an. Jazy!“ Wieder rief er in die Wohnung. An seiner Atmung konnte ich erkennen, dass er herumlief.

„Sie ist nicht da! Pyotr auch nicht. Ihr Schlüssel ist weg!“ Er lief weiter herum. Plötzlich schrie er markerschütternd: „Jazy!“  

Ich hörte einen dumpfen Laut, als würde er gegen ein Fenster schlagen. Das Telefon musste ihm aus der Hand gefallen sein, denn ich nahm ein Poltern wahr. Die Verbindung riss ab.

Meine Finger zerquetschten beinahe mein iPhone. Ich wählte die Nummer sofort noch einmal. Was war gerade passiert?

Selma sah mich bleich an. Sie musste Olivers Schrei auch ohne den verstärkenden Lautsprecher vernommen haben. Ich bekam keine Verbindung mehr.

„Wir rufen die Polizei an.“ Selma nahm ihr eigenes Telefon in die Hand, ihre Finger huschten fahrig über das Display.

Ich musste daran denken, dass ein unkoordinierter Polizeieinsatz nicht immer gut ausging. Mein Vater war im Zuge eines solchen ums Leben gekommen. Ich wog das Risiko ab. Wand Selma das Telefon aus der Hand.

Sie schrie mich an, schimpfte, weinte, verfluchte mich. Es dauerte eine Weile, bis sie sich auf mein Zureden hin wieder fing.  

„Hast du ein Auto, Amina?“

Die sah mich verständnislos an, nickte aber wortlos. Sie dachte ja, wir wären mit einem eigenen Auto gekommen.

„Wir haben uns ein Taxi hierher genommen. Dein Mann hat vielleicht gerade Selmas Tochter entführt.“

Sie schlug eine Hand vor den Mund. Ich drängte sie zur Eile. Selma war bereits in den Flur gerannt und hatte unsere Jacken geholt. Amina schlüpfte in ein Paar Slippers und griff nach einem Schlüsselbund. Dann rannte sie zu der angelehnten Tür, hinter der ihre Tochter Musik hörte. Kurz und knapp teilte sie ihr mit, dass sie mit uns wegfuhr.

Ich versuchte währenddessen nochmals, Jasmin zu erreichen. Dann Oliver. Beide meldeten sich nicht. Schließlich rief ich Pyotr an. Er war sofort dran.

„Wo bist du?“, rief ich, während wir bereits die Treppen nach unten hasteten.

„Wir kommen gerade zum Knoten Steinhäusl. Ist etwas passiert? Du klingst außer Atem.“

„Damn! Ich weiß es nicht. Jasmin und Oliver gehen nicht mehr ans Telefon.“ Ich hörte eine weitere Stimme im Hintergrund. „Wer ist bei dir?“

„Cem. Er war bei Sonja, als ich um den Wohnungsschlüssel bat. Wir sind mit seinem Wagen unterwegs. Er ließ sich nicht davon abbringen. Du hast gesagt, du brauchst Verstärkung. Er will wissen, was passiert ist.“

„Ich befürchte, Jasmin wurde gekidnappt, aber sicher weiß ich es nicht. Wir sind unterwegs zur Wohnung. Ich rufe Euch von dort wieder an. Pyotr? Ich hoffe, du bist angeschnallt? Pass auf, dass Cem euch nicht umbringt mit seiner Raserei.“ Zu meinem Leidwesen hatte ich schon einmal neben Cem gesessen, als er zu einem Tatort gerast war und wusste, wovon ich sprach.

 

Amina hatte einen Fiat500X. Ein typisches Frauenauto. Wenigstens stand es mit einem Parkberechtigungsschein beinahe vor ihrer Haustüre.

„Lass mich fahren! Bitte.“

Sie gab mir ohne Widerrede den Schlüssel und öffnete die Tür hinter dem Fahrersitz. Selma war bereits zur Beifahrerseite gerannt.

Corona war zu diesem Zeitpunkt ein wahrer Segen. Es waren kaum Fahrzeuge auf der Straße. Sofern ich niemanden gefährdete, überfuhr ich schon mal ein paar rote Ampeln. Selma sagte kein Wort. Amina keuchte hinter mir einige Male erschrocken auf. Das Taxi hatte zwanzig Minuten gebraucht. Wir schafften es in zwölf. Ich fuhr direkt ins Halteverbot vor unserer Haustüre, sprang aus dem Wagen und zog meine Waffe.

„Ihr wartet beim Wagen!“ Selma ignorierte meinen Befehl und folgte mir trotz Stöckelschuhen auf den Fuß. Sie hatte den Schlüssel schon parat. Ich stürmte nach oben. Die Wohnungstür stand offen. Langsam ging ich mit erhobener Waffe hinein. In fast allen Zimmern brannte Licht. Und trotzdem fand ich die Wohnung verlassen vor.

Jasmins Handy lag am Boden vor dem Küchenfenster. Selma hob es auf. Im Flur standen sowohl Jasmins Crocs mit dem Regenbogenmuster als auch Olivers Skechers. Wo steckte der Kerl?

Wir rannten nach unten in seine Wohnung. Ich kramte nach dem Schlüssel. Dort war alles finster. Hatten sie jetzt Oliver auch noch geschnappt? Ich hatte wirklich gedacht, er könnte auf Jasmin und sich aufpassen.

Es gab keinerlei Einbruchsspuren. Was war hier abgelaufen?

Wir rannten zurück ins Erdgeschloß. Selma lehnte sich gegen die Wand neben den Postfächern und sah mich verzweifelt an. Ich rieb mir die Stirn. „Wir fahren zu diesem Gerd Schumann“, entschied ich und öffnete die Haustür. Während ich  wieder in Aminas Auto stieg, wählte ich die Nummer jenes Bekannten, der bei der Wega arbeitete.

Er hatte zum Glück Dienst und war in der Kaserne. Knapp schilderte ich ihm, was vorgefallen war. Im Groben wusste er, worum es ging, er hatte mir ja die Akte besorgt. Er versprach, sofort ein Sonderkommando zur Adresse von Schumanns Villa zu schicken. Laut Handysignal befand er sich noch immer dort. Damn! Wir mussten entweder durch die halbe Stadt fahren, oder durch die Randbezirke, wo ich mich null auskannte.

Ich fragte Selma und Amina, ob sie den kürzesten Weg wüssten, doch auch sie waren überfragt. Ich wählte die schnellste Route durch die Stadt. Das Navi veranschlagte eine Viertelstunde für die Strecke. Die Rossauer Kaserne, von wo aus das Einsatzkommando starten würde, lag noch weiter weg. Vielleicht schaffte es Cem, schneller dort hinzukommen. Ich bat Selma, Pyotr anzurufen und ihnen die Adresse durchzugeben.

 

Wir rasten durch die Nacht. Ich überschlug in Gedanken den Vorsprung, den die Entführer hatten. Ich hatte Oliver um kurz nach zehn Uhr angerufen. Jetzt war es dreiviertel elf. Sie waren uns eine gute halbe Stunde voraus. In dieser Zeit konnte viel passieren.

Ich machte mir Vorwürfe, die Polizei nicht früher informiert zu haben. An einer Kreuzung übersah ich beinahe ein querendes Auto. Unser Wagen kam bei der Vollbremsung auf der regennassen Straße ins Schleudern. Der Fahrer des anderen Autos blieb stehen und gestikulierte wild in meine Richtung, dabei blockierte er die Kreuzung.

„Piss off, asshole!“ Ich gab Gas und hielt drohend auf das stehende Auto zu. Er musste meinen grimmigen Gesichtsausdruck richtig deuten, denn endlich bewegte er sein Fahrzeug aus dem Weg.

Amina meldete sich von der Rückbank. „Vorne rechts.“ Offensichtlich war ihr der Weg bekannt. Wir bogen in eine ruhige Siedlungsstraße ein. Es parkten kaum Autos entlang des Weges. Laut GPS waren es vierhundert Meter. Ich gab nochmals Gas, bis ich eine Hand auf meiner Schulter spürte. „Da vorne ist es. Bei dem Tor!“

Es war ein automatisches Schiebetor. Dahinter lag eine kurze Auffahrt.

„Ihr bleibt im Wagen. Beide.“ Ich stellte den Motor ab und stieg aus. Das Haus lag im Dunkeln. Ich konnte keine Fahrzeuge oder beleuchtete Fenster ausmachen. Ein ungutes Gefühl beschlich mich. Von meiner Überwachungs-App kam noch immer die eindeutige Standortrückmeldung. Gerade, als ich vorhatte, über das Tor zu springen, kam Cem in seinem Kombi angerast. Er stoppte abrupt und geräuschvoll hinter Aminas Fiat.

Pyotr verlor keine Zeit. Er hielt seine Waffe in der Hand, während er auf mich zu rannte.

„Wie ist die Lage?“

„Laut Ortung müsste er hier sein. Allerdings ist alles dunkel.“ Ich setzte über das Tor. Pyotr folgte mir ohne zu zögern. Wir liefen auf die elegante Villa zu. Eine automatische Beleuchtung flammte auf und ich sah, dass die Rollos an den Fenstern geöffnet waren. Man hätte erkennen müssen, wenn im Gebäude irgendwo Licht brennen würde.

Ich fluchte. „Er hat das Handy absichtlich hiergelassen, um uns an der Nase herumzuführen!“ Trotzdem wollte ich einmal um das Gebäude rennen.

Ich sah, wie Pyotr an der Haustür klingelte. Einen Versuch war es wert. Das Haus hatte moderne Fensterfronten in den meisten Räumen. An der Südseite befand sich eine große Terrasse mit anschließendem Swimmingpool. Nirgends war auch nur der geringste Lichtfleck auszumachen.

Kaum hatte ich die Villa umrundet, trafen die Einsatzfahrzeuge der WEGA mit Blaulicht ein. Vor dem Tor standen Selma und Cem. Er hatte seinen Arm beruhigend um sie gelegt und sah nervös in unsere Richtung. Pyotr und ich steckten unsere Waffen ein, bevor ein schießwütiger Polizist uns für die Entführer halten konnte. Ich ging ihnen entgegen.

Auf der Innenseite des Tores befand sich ein Not-Schalter zum Öffnen. Langsam glitt es zur Seite, sodass die Polizeieinsatzkräfte bis zum Eingang hinauf fahren konnten.

„Ich habe Sie angerufen“, erklärte ich dem Einsatzkommandanten und zeigte ihm meinen CIA-Ausweis. „Meine Stieftochter wurde knapp nach zehn Uhr entführt. Ich habe das Handy des Verdächtigten geortet. Das Signal kommt eindeutig von hier.“

 Während ich mit ihm sprach, beobachtete ich das automatisierte Vorgehen der Sondereinheit. „Meine Mutmaßung hat sich offensichtlich als falsch herausgestellt“, gab ich zerknirscht zu. „Haben Sie Wärmebildkameras mit dabei?“, erkundigte ich mich dennoch.

In dieser Situation hieß es notgedrungen, nach jedem Strohhalm zu greifen. Die Beamten des Zugriffsteams trugen Schutzausrüstung und leuchteten indessen mit starken Strahlern ins Gebäude. Auch sie fanden nichts Verdächtiges. Mit einer Ramme wurde eine Tür seitlich der Garage aufgebrochen. Polizisten sicherten den Zugang.

Als sie grünes Licht gaben, machte ich mir selbst ein Bild. Ein abgedecktes Sportcabrio, zwei Fahrräder und ein kleiner Rasenmähertraktor standen in der Garage. Der Hauptstellplatz direkt vor dem Tor war verlassen und der Zugang zur Villa abgeschlossen.

„Wir können ohne Durchsuchungsbefehl nicht aufbrechen. Offensichtlich befindet sich niemand im Gebäude in akuter Not. Die Wärmebildkamera hat gezeigt, dass niemand hier ist.“ Der Kommandant hob entschuldigend die Schultern.

Ich hieb frustriert gegen die Tür, die ins Innere der Villa führte.

„Tut mir leid. Ich kann zur Sicherheit einen Streifenwagen hier lassen. Haben Sie noch einen Verdacht, wohin die Kleine verschleppt worden sein könnte?“

Ich zerbrach mir schon die ganze Zeit den Kopf über dieser Frage. Hatten sie nur Jasmin oder auch Oliver? Das Adrenalin kochte noch immer in meinem Körper. Die letzte Stunde hatte es mich angetrieben und geputscht. Jetzt zwang ich mich, ruhiger zu atmen. In diesem Zustand war es schwer, sich zu konzentrieren.

Uns lief die Zeit davon. Wir mussten die beiden finden! Ich rief mir unser Verhör in Olivers Wohnung heute am Nachmittag in Erinnerung. Obwohl ich diesen Rolf Maurer fast den Kiefer gebrochen hatte, war der uns die wichtigen Antworten schuldig geblieben.

Ich hatte doch mein Diktiergerät mitlaufen lassen. Mit zitternden Fingern scrollte ich nach der Aufnahme und suchte mir einen ruhigen Winkel, um sie mir anzuhören.

Pyotr kam zu mir und sagte: „Ich hoffe, du hast einen Plan B, mein Freund.“

Als er sah, dass ich mich auf die Aufnahme konzentrierte, beugte er sich interessiert vor, um ebenfalls zu lauschen.

„N...nach Schönfeld“, hatte Maurer gestottert.

War dieser Satz der Strohhalm, nach dem ich so verzweifelt gesucht hatte? Ich wiederholte noch einmal diesen Abschnitt der Aufzeichnung und sah Pyotr an.

„Denkst du dasselbe wie ich?“

Er zog die Lippen abschätzend zusammen: „Täter kehren häufig an ihre vorherigen Tatorte zurück! Ich bezweifle nur, dass die Beamten hier viel Freude daran haben, uns auf einen reinen Verdacht hin durch das halbe Land zu folgen.“

Ich musste es versuchen. Der Einsatzkommandant war freundlich. Nichtsdestotrotz wies er mich darauf hin, dass das nicht mehr sein Zuständigkeitsgebiet sei. „Ich werde alles veranlassen, um Ihnen zu helfen, und die zuständige Behörde informieren. Halten Sie den Kontakt mit mir.“ Ich dankte ihm. Mehr konnte ich nicht erwarten.

 

Selma und Cem richteten ihre leeren Blicke auf mich, als wir zu ihnen zurückkehrten. Schonend versuchte ich ihnen beizubringen, dass wir die Spur zu Jasmins Entführer verloren hatten. „Oliver und ich haben heute Nachmittag Aminas Mann verhört. Er hat damals Olivers Eltern nach Schönfeld gebracht.“ Ich suchte Pyotrs Unterstützung. „Wir vermuten, sie könnten die beiden dorthin bringen.“

„Ich weiß, wohin sie gefahren sind.“ Mit diesen Worten trat Amina, die hinter Selma und Cem gestanden hatte, einen Schritt vor. Wir starrten  sie überrascht und hoffnungsvoll an.

„Gerds Familie besitzt nahe Schönfeld eine versteckte Jagdhütte im Wald. Wir sind, als wir jung waren, ein paar Mal dort zum Feiern gewesen. Es gab Unmengen von Alkohol und Drogen.“ Sie schluckte. „Einmal habe ich erwähnt, dass wir mit Sofia ein Wochenende hinfahren könnten. Ich dachte, wir können mit ihr im Wald spazieren gehen und vielleicht ein paar Rehe sehen. Das war noch, bevor Rolf ins Gefängnis kam. Er ist damals weiß wie eine Wand geworden, als ich es vorgeschlagen habe und hat von mir verlangt, nie wieder danach zu fragen. Er sagte, die Hütte gäbe es nicht mehr. Das kam mir komisch vor, aber irgendwann habe ich seine Reaktion wieder vergessen. Aber wenn sie nach Schönfeld sind, dann können sie eigentlich nur dort hingefahren sein.“

Ich sah auf die Uhr. Wir hatten schon wieder eine halbe Stunde verloren. „Uns läuft die Zeit davon! Du kommst doch mit, Amina? Du bist die Einzige, die weiß, wo diese Jagdhütte ist.“ Sicher sorgte sie sich genauso um ihren Mann, wie wir uns um die Kinder.

Sie biss sich auf die Lippen. „Das ist Jahrzehnte her! Ich bin nicht sicher, ob ich alleine hinfinde.“

„Bitte, versuche es wenigstens. Ohne dich haben wir keine Chance“, redete ich auf sie ein.

Sie nickte zögernd, aber doch.

„Wir bekommen dort auch polizeiliche Unterstützung.“ Ich sah Selma und Cem an. „Wollt Ihr zwei in der Wohnung warten?“

„Nein!“ Die Schärfe in Selmas Stimme, klang endgültig. Ich konnte es durchaus verstehen. Auch ich wusste sie lieber in meiner Nähe, selbst wenn es gefährlich werden sollte.

 

Im Rückspiegel sah ich kaum noch die Scheinwerfer von Cems Wagen, so knapp klebte er mir an der Stoßstange. Dabei holte ich das Letzte aus Aminas Fiat heraus. Es war kaum Verkehr auf den Straßen, doch ich musste dem Wetter angepasst fahren. Es war niemandem geholfen, wenn wir auf der regennassen Fahrbahn aus der Kurve schlitterten und an einem Baum endeten.

Der WEGA-Kommandant hatte sich gemeldet. Die Polizei vor Ort war informiert und wartete auf meinen Anruf. Wir sollten uns dort melden, sobald wir angekommen waren.

Noch konnte ich Ihnen unser Ziel nicht nennen. Amina wurde mit jedem Kilometer, den wir uns Schönfeld näherten, unsicherer.

„Ich weiß es nicht mehr. Ich bin nie selbst gefahren. Es ist zu lange her“, jammerte sie auf der Rückbank.

„Willst du mit mir Platz tauschen?“, bot ihr Selma an.

Amina schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht.“


„Woran erinnerst du dich? Wie weit außerhalb des Dorfs war die Abzweigung? In welche Richtung ging es, nach links oder nach rechts?“, löcherte ich sie. „Gibt es hier jemanden, der es wissen könnte?“

„Aber natürlich!“ Amina schnaufte erleichtert auf. „Rolfs Mutter wohnt im Ort. Sie weiß es ganz sicher. Zu ihrer Wohnung finde ich. Ich rufe sie an.“

Ich sah auf die Uhr. Es war mitten in der Nacht. Ich hoffte, die Frau hatte keinen allzu tiefen Schlaf. Notfalls mussten wir sie vor Ort aus dem Haus trommeln.

Amina lotste mich, während sie versuchte sie anzurufen. „Sie geht nicht ans Handy.“

 

Ich stoppte den Wagen vor einem großen Mehrfamilienhaus. Natürlich war alles finster.

„Dann versuchen wir es mit der Klingel oder trommeln gegen das Fenster.“

Das durfte doch alles nicht wahr sein! Ich würde notfalls die Tür eintreten und die Frau aus dem Bett zerren. Amina war aus dem Auto gesprungen und zur Haustüre gelaufen. Ich folgte ihr. Selma hatte Cem angerufen und ihm gesagt, was wir hier wollten. Die drei blieben sitzen.

Amina klingelte Sturm. Der Lärm war bis nach draußen zu hören, der sollte sogar Tote wecken. So war es auch. Nach kurzer Zeit flammten mehrere Lichter im Haus auf.

Amina rief: „Marietta! Ich bin´s, Amina! Bitte mach auf!“

Die Haustüre öffnete sich. Eine blasse Frau in einem Schlafrock stand in der Tür. Ich hielt mich im Dunkeln, um sie nicht zu erschrecken. Verwirrt sah sie Amina an.

„Ja, sag einmal! Was macht ihr denn hier? Um diese Zeit?“ Offensichtlich hielt sie mich für ihren Sohn.

„Hallo, Mama. Du musst uns helfen! Bitte! Der Rolf macht vielleicht gerade irgendeinen Blödsinn. Wir müssen zur Jagdhütte fahren, aber ich finde den Weg alleine nicht.“

Die Frau reagierte überraschend schnell. „Rolf ist nicht bei dir?“ Sie sah zu mir herüber.

„Ich bin mit Freunden hier. Sie helfen mir, Rolf zu finden, aber jetzt weiß ich nicht mehr weiter.“ Die pure Verzweiflung war Aminas Worten anzuhören. „Er ist mit Gerd unterwegs. Ich glaube, Gerd zwingt Rolf, etwas Schlimmes zu tun.“

„Ich ziehe mir schnell was an.“ Im Gegensatz zu ihrem Sohn schien Frau Maurer eine rasche Auffassungsgabe zu haben. Erleichtert ging ich zurück zum Wagen und gab der Polizei unsere Position durch.

Gerade, als Amina mit ihrer Schwiegermutter im Schlepptau zum Auto kam, sah ich im Rückspiegel einen Streifenwagen hinter uns halten. Ich stieg aus und ging hin, um die Beamten zu begrüßen. Ich zeigte auch ihnen meinen CIA-Ausweis. Nachdem ich sie gebeten hatte, uns zu folgen, setzte ich mich wieder ans Steuer. Selma hatte den Beifahrersitz geräumt und saß hinten bei Amina. Ich gab der Frau die Hand. „Polizei? Ist das wirklich nötig?“, frage sie mit zittriger Stimme.

„Mama, Rolf hat wahrscheinlich die Tochter von meiner Freundin Selma hier entführt. Vielleicht auch ihren Freund.“

„Warum glaubt ihr, sie könnten in der Jagdhütte sein? Da war seit vielen Jahren kein Mensch mehr. Vielleicht ist sie inzwischen verfallen.“

Ich mischte mich ein. „Ich habe heute Nachmittag mit Ihrem Sohn gesprochen. Er hat gestanden, dass dort vor langer Zeit ein Verbrechen geschehen ist, das mit der Entführung meiner Stieftochter zu tun hat.“

„Ja. Es muss dort etwas Schreckliches passiert sein“, murmelte die Frau und sah Amina traurig an. „Von einem Tag zum anderen war der Rolf nicht mehr derselbe Mensch. Er kommt seit damals nicht mehr zu mir auf Besuch. Nicht mehr nach Schönfeld.“

Ich startete den Wagen. „Wohin müssen wir?“

Wir hätten den Weg ohne Aminas Schwiegermutter nie gefunden. Sie dirigierte mich über schmale Güterstraßen. In einem Waldstück ließ sie mich auf eine Forststraße abbiegen. Ich konnte nur in Schritttempo fahren, so desolat war der Zustand des Weges.

Ich schaltete das Fernlicht ein. Auf dem teils schlammigen Weg waren frische Reifenspuren zu sehen.

„Ist es noch weit?“, erkundigte ich mich nervös. Ich wollte beizeiten das Licht ausmachen, um unser Eintreffen nicht vorschnell zu verraten.

„Schon noch ein Stück.“

„Ich will nicht, dass sie unser Kommen bemerken. Wer weiß, was passiert, wenn sich Rolf und sein Cousin in die Enge getrieben fühlen.“

Die Frau neben mir nickte.  „Ich sage es Ihnen rechtzeitig.“

Inzwischen war ich ganz sicher, auf der richtigen Spur zu sein. Teilweise erleichterte mich die Erkenntnis, mein Adrenalinpegel stieg indessen wieder auf seinen Höchstwert an.

„Jetzt ist es nicht mehr weit.“

Ich blieb stehen und schaltete das Licht aus. Cem hinter mir machte dasselbe. Kurz darauf war auch vom Streifenwagen nichts mehr zu sehen.

Langsam rollte ich weiter. Mit jedem Meter fiel es mir leichter, mich im Dunkeln zu orientieren.

Die Straße war stark abschüssig.

 „Unter dem Hügel kommt eine scharfe Rechtskurve“, sagte Aminas Schwiegermutter. „Dann sind wir fast an der Hütte!“

Der Wald lichtete sich ein wenig. Die Umrisse der Hütte waren zu erkennen.

„Da ist alles finster. Was bedeutet das?“, fragte Selma von der Rückbank.

„Da steht ein Auto.“ Ich stellte den Motor ab. „Jemand muss also hier sein.“

„Hier gibt es keinen Strom. Wir hatten damals immer Kerzen mit. Das ist jedenfalls nicht das Auto von Gerd. Ich habe es einmal gesehen. Da hatte er einen großen Geländewagen.“ Amina sah ebenso angestrengt zur Hütte, wie wir alle.

„Wir müssen leise sein. Frau Maurer, bitte bleiben Sie mit Amina und meiner Frau im Auto sitzen.“ Ich öffnete die Tür und stieg aus.

 

Pyotr und Cem schlossen zu mir auf. Auch Cem hielt eine Pistole in der Hand. Die musste er von Pyotr haben. Er besaß selbst keine Waffen.

Ich hörte, wie sich auch die Polizeibeamten näherten. Ich flüsterte: „Wir müssen die Hütte umstellen. Sie dürfen uns nicht entkommen.“ Wir sprachen uns kurz ab. Pyotr, Cem und einer der Polizisten sollten die Rückseite und Seiten der Hütte sichern. Ich würde mit dem zweiten Beamten zum Vordereingang gehen.

Die Polizisten hatten schusshemmende Westen übergezogen. Es waren noch etwa hundert Meter bis zur Hütte. Vorsichtig näherten wir uns. Hatte man unsere Autos gehört?

Es nieselte noch immer etwas und der Regen verursachte ein leichtes Rauschen des Waldes. Das kam unserem Überraschungsangriff zu Gute. Ich spähte durch eines der blinden Fenster in die Hütte. Im Inneren war es stockfinster. Vielleicht hatten sich die Entführer hingelegt, weil sie sich in Sicherheit wähnten.

Ich gab dem Polizisten neben mir ein Zeichen, dass ich die Tür eintreten würde und er mich decken sollte. Seine Waffe hatte ein Suchlicht. Ich bedeutete ihm, es jetzt einzuschalten.

Ich holte Luft. Mit einem gezielten Tritt flog die morsche Tür beinahe aus den Angeln.

„Polizei! Keine Bewegung!“

Das Suchlicht des Beamten flitzte durch einen heruntergekommenen Raum. Es roch muffig. Der Scheinwerfer blieb an einem Mann hängen, der auf einer Bank lag. Bei unserem Eindringen richtete er sich auf. Er hielt seine Hände über den Kopf, offensichtlich war er unbewaffnet.

In der Mitte des Raumes stand ein Sessel, auf der eine weitere Person saß. Sonst schien sich niemand in der Hütte zu befinden.

Ich zwang den Mann unsanft zu Boden, um ihm Handschellen anzulegen. Er leistete keinen Widerstand. Es war nicht Rolf Maurer, auch nicht dieser Anwalt.

„Ben?“

Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich Jasmins Stimme hörte.

„Ja, Mäuschen! Ich bin gleich bei dir. Alles ist gut.“

Der Polizist durchsuchte inzwischen die anderen Räume. Die Hütte war nicht groß. Schnell war sicher, dass keine Gefahr drohte.

Ich rief nach Cem und Pyotr.

„Papa!“ Jasmin weinte erleichtert, als sie registrierte, dass ich nicht alleine gekommen war. Ich war bei ihr und befreite sie von dem Plastiksack, in den sie die Schweine gesteckt hatten. Der Beamte half mir, mit einem Messer das Klebeband und die Kabelbinder zu durchtrennen.

Cem stürzte in die Hütte und untersuchte Jasmin. „Bist du verletzt, Schatz?“

Sie klammerte sich erleichtert wie ein Äffchen an ihren Vater. „Papa! Nein. Es geht mir gut. Mir ist nur so kalt!“

Cem rieb ihre nackten Arme und den Rücken. Ich hatte bereits meinen Pullover ausgezogen und half ihr hineinzuschlüpfen. „Im Auto ist es schön warm. Mama wartet auf dich. Und ich habe eine Decke im Kofferraum.“

Cem sah sich um. "Wo ist der Junge?"

„Che?“ Jasmin hob erschrocken den Kopf. „Ist er nicht bei euch?“

Cem sah mich an.

 „Wir finden ihn“, sagte ich. „Versprochen.“

 

Che - 700.000 Dollar

 

 

Ein Mann, den wohl sein Hund bei diesem Wetter zu einem Spaziergang gezwungen hatte, starrte mir nach. Es musste aussehen, als liefe ein Verrückter planlos in der Gegend herum. Das war mir egal. Obwohl ich mein Ziel nicht mehr vor Augen hatte, rannte ich, so schnell ich konnte. Barfuß. Bei strömendem Regen. Mitten in der Nacht. Alles was ich an hatte, war meine Jeans, die mir längst wie eine zweite Haut am Leib klebte.

Meine Lungen versuchten, dem Körper den nötigen Sauerstoff zuzuführen und pumpten wie verrückt. Tatsächlich fühlte ich mich wie ein Jäger, der das Ziel aus den Augen verloren hatte. Als ich vorhin aus dem Haus gerannt gekommen war, hatte ich nur noch die Rücklichter des Wagens gesehen, in dem sie Jazy wegbrachten. Zumindest vermutete ich, dass es der richtige Wagen gewesen war. Es war der Einzige, weit und breit gewesen.

Ich hatte im Stiegenhaus ganze Absätze mit einem Sprung genommen, und doch war ich nicht mehr rechtzeitig nach unten gekommen, um irgendetwas gegen Jazys Entführung zu unternehmen. Ich war, ohne zu überlegen, diesen Rücklichtern nachgerannt. Hatte versucht, dem Wagen den Weg abzuschneiden, und es fast geschafft. Ohne mit der Wimper zu zucken, hätte ich mich ihm, so wie ich war, mitten auf der Straße entgegengestellt. Doch die Treppe, die ich gerade hinaufgesprintet war, hatte mich kostbare Sekunden gekostet.

Schon wieder sah ich nur die Rücklichter. Wenigstens hatte ich im Schein einer Fußgängerübergangbeleuchtung erkennen können, was es für ein Auto war. Ein dunkler Mercedes.

Er bog auf eine breitere Straße ab, die stadtauswärts führte, und erhöhte das Tempo. Wo fuhren die hin? Mein Hirn fühlte sich an wie ein Browser, in dem 12 Tabs offen waren, aber keines davon reagierte. Mein Instinkt sagte mir, dass ich den Wagen nicht mehr einholen würde.

Ich brach unter der Laterne zusammen. Legte mich einfach auf den nassen, kalten Boden. Mein Kopf war leer und drückte doch schwer auf den Asphalt. Ich schloss die Augen. Ich musste runterkommen, zwang meinen Atem, sich zu verlangsamen. Tränen der Verzweiflung brannten in meinen Augen. Mein Herz zerriss es vor lauter Schmerz. Jazy!

Als mein Gehirn wieder genug Sauerstoff getankt hatte, rappelte ich mich hoch. Meine Fußsohlen schmerzten. Ich stand in einer Lacke und fühlte mich, wie ich mich einmal als kleines Kind am Strand gefühlt hatte. Das Wasser hatte um meine Füße geleckt. Mit jeder Welle waren sie mehrere Zentimeter in den weichen Grund eingesunken und ich hatte gedacht, der Boden würde sich auftun, um mich zu verschlingen, wenn ich mich nicht bewegte.

Also rannte ich weiter. Der Wagen war stadtauswärts gefahren. Ich dachte an das Handysignal, das Bens Überwachungsapp zuletzt gesendet hatte. Das Haus dieses Anwalts lag in diese Richtung. Ich schätzte die Entfernung auf maximal 15 Kilometer. Das könnte ich vielleicht in einer  Stunde schaffen. Doch ich kannte diese Gegend nicht besonders gut und wer konnte schon sagen, ob ich die Adresse sofort finden würde? Also eher etwas mehr.

Ich hatte nichts dabei. Kein Handy. Kein GPS. Nicht einmal einen Haustürschlüssel, um wieder in die Wohnung zu kommen. Den ganzen Weg zurücklaufen. Frau Sedlacek aus dem Schlaf läuten, auf die Polizei oder Ben warten, würde auch so lange dauern.

Meine Beine hatten die Entscheidung längst gefällt. In einem etwas gemäßigterem Tempo hielten sie auf den Schwarzenbergpark zu. Ich unterdrückte den Schmerz der kleinen Kieselsteine und Äste, die sich in meine Sohlen bohrten.

Ben hatte doch mitbekommen, dass Jazy entführt wurde, oder? Warum hatte ich das Handy nur verloren? Würde er auch zu dieser Adresse fahren? Sicher würde er vorher zu unserer Wohnung kommen, um sich zu vergewissern. Aber dann?

Mit etwas Glück würden wir uns dort treffen. Wir mussten Jazy retten. Der Kerl wollte doch eigentlich mich. Sicherlich plante er nur, sie als Druckmittel einzusetzen.

Hatte Ben die Polizei verständigt? Wäre das klug, oder nicht? Normalerweise drohten Entführer damit, den Geiseln etwas anzutun, wenn man die Polizei einschaltete. Doch diese Kidnapper hatten sicher noch keine Zeit gehabt, Forderungen zu stellen. Wer waren die Männer überhaupt?

Ich hatte nur Umrisse gesehen, als sie Jazy mit vereinten Kräften in den Kofferraum gesteckt hatten. Doch Rolf Maurer schien nicht darunter gewesen zu sein. Außer, er hatte am Steuer gesessen.

Meine Gedanken fuhren Achterbahn, während ich durch die Dunkelheit rannte.

 

Verdammt nochmal! Ich hatte nicht den leisesten Schimmer, wo ich war. Ich zweigte an der nächsten Kreuzung nach links ab, obwohl ich wusste, dass die Richtung falsch war. Aber ich sah wenigstens orange Straßenbeleuchtung. Eine Hauptstraße, die mir bekannt vorkommen könnte.

Ich musste meine Position bestimmen, sonst war ich den ganzen Weg umsonst gerannt. Vielleicht fand ich eine Bushaltestelle mit einem Stadtplan? Jazy hatte einmal zu mir gesagt, ich sähe wie jemand aus, der genau wusste, was er wollte.

Doch war ich wirklich so? Im Moment haderte ich mit mir selbst. Es war dumm gewesen, diesem Auto nachzulaufen. Ich wäre verpflichtet gewesen, sofort die Polizei zu rufen. Jetzt hatte ich den Schlamassel. Wenn Jazy etwas geschah, würde ich mir das mein ganzes Leben nicht verzeihen.

Ich erreichte die beleuchtete Straße – und sah ein Gasthaus, das mir bekannt vorkam. Erleichtert atmete ich auf. Ich wusste wieder, wo ich war. Ich holte noch einmal alle Kraftreserven aus mir heraus und lief auf die nächste Abzweigung zu. Dahinter musste die Siedlung sein, in der Schumann wohnte.

Ich bog um die Ecke. Die Grundstücke hatten hohe lebende Zäune, deshalb hatte ich das Blaulicht nicht gesehen. Im letzten Moment sprang ich zur Seite. Ein Streifenwagen und ein Polizeikleinbus kamen um die Kurve geschossen. Wo wollten die hin? Wenn Ben sie gerufen hatte, fuhren die doch in die falsche Richtung! Sie waren stadteinwärts unterwegs.

Ich sah ihnen überrumpelt nach. Oder war die gesamte Aktion bereits gelaufen? Hatten sie Jazy befreit? Ich spähte die Straße entlang, in der ich die Villa des Anwalts vermutete. Ich entdeckte ein einzelnes Fahrzeug. Ich hörte auf zu rennen, mein Atem beruhigte sich nach und nach. Je näher ich kam, desto mehr konnte ich erkennen. Ich hatte ja nicht einmal meine Brille auf.

Es war ein Streifenwagen. Die Scheinwerfer waren aus. Die Umrisse von zwei Personen zeichneten sich undeutlich ab. Wie würden die reagieren, wenn sie mich sahen? Halbnackt? Verschwitzt? Ich blieb vor dem Auto stehen. Die beiden starrten auf ihre Handys. Ich klopfte gegen eine Scheibe. Überrascht schauten mich die Beamten an. Sie trugen Mund-Nasen-Schutz. Das Fenster wurde runtergelassen.

„Entschuldigen Sie. Ich habe das Blaulicht gesehen. Was ist passiert?“, tat ich, als wäre ich ein neugieriger Anrainer.

„Nichts. Gehen Sie wieder nach Hause. Hier gibt es nichts mehr zu sehen.“ Der Mann musterte meine legere Kleidung. „Sonst holen Sie sich noch den Tod.“

„Wurde beim Schumann eingebrochen?“ Ich nickte zu der Villa hinauf, vor der der Streifenwagen parkte. Das Tor stand offen.

Zynisch murmelte einer der Polizisten kaum verständlich zu seinem Kollegen: „Ja, aber das waren wir selbst“. Der nahm sich offensichtlich etwas wichtiger und erklärte mir stolz: „Nein, kein Einbruch. Wir sind wegen einer Personenfahndung hergeschickt worden. War aber ein Fehlalarm.“

In meinem Kopf ratterte es. Fehlalarm? Demnach hatten sie Jazy nicht gefunden? Wo zum Teufel steckte Ben? Sollte ich mich zu erkennen geben? Dass ich der Freund des entführten Mädchens war? Sicher würden die mich auf die nächste Polizeidienststelle bringen und die ganze Nacht verhören.

Wollte ich das? Aber was sollte ich sonst tun? Hier am Stadtrand?

Ich wollte mich umsehen. Der eine Beamte hatte erwähnt, die Polizei hätte  sich Zugang zu Schumanns Haus verschafft. Vielleicht gelang es mir, irgendwie ins Haus des Anwalts zu kommen und nach Beweisen zu suchen. An die Streifenpolizisten konnte ich mich später immer noch wenden. Es sah aus, als würden sie die ganze Nacht hier ausharren.

Ich war alleine auf mich gestellt.  Wie Macaulay Culkin in „Kevin allein zu Haus.“

Besser, du bist ein Löwe für einen Tag, als ein Schaf für ein ganzes Leben! Wer hatte das noch einmal gesagt?

„Danke.“ Ich senkte grüßend den Kopf und schlenderte betont langsam auf das Nachbarhaus zu. Als ich mich umwandte, sah ich, dass die beiden wieder mit ihren Handys beschäftigt waren. Schnell huschte ich in die Auffahrt zu Schumanns Villa. Im Schatten einiger Hecken schlich ich Richtung Gebäude. Am Haupteingang gab es keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens. Ich bewegte mich vorsichtig weiter. Vielleicht fand ich, von der Garage aus, eine Möglichkeit, ins Haus zu gelangen. Neben dem Garagentor war der Rasen von zahlreichen Stiefeln zertrampelt. Meine nackten Füße fühlten, wie Schlamm zwischen meinen Zehen flutschte. Ich ging weiter.

Vor einer schief in den Angeln hängenden Tür war Absperrband befestigt. Ich drückte dagegen. Von hier gelangte ich in die Garage. Vorsichtig duckte ich mich an der Absperrung vorbei. Sofort ging ein automatisches Licht an. Ich hielt die Luft an. Konnte man das von außerhalb sehen? Wohl nicht, das Garagentor war geschlossen und es gab nach vorne hin keine Fenster.

Ich sah mich um. Auf der gegenüberliegenden Seite der Garage befand sich eine weitere Türe. Sicher gelangte man von dort ins Haus. Ich ging darauf zu. Versperrt! Das hätte ich mich denken können.

Ich sah mich um. Vielleicht fand ich Werkzeug, mit dem ich das Schloss aufbrechen konnte? Alles war penibel aufgeräumt. Ein abgedeckter Sportwagen, ein Rasenmäher. An einer Wand waren zwei Räder befestigt. Ein Mountainbike und ein Citybike. Unmittelbar daneben hingen an einem Garderobenhaken ein Fahrradhelm und eine Windjacke. Kein Werkzeugkasten.

Ich sah mich genauer um. Vielleicht lag irgendwo versteckt ein Reservehaustürschlüssel? Ich griff alle Nischen ab und hob eine Schmutzmatte. Sogar in ein paar Gartenschlapfen tastete ich nach einem Schlüsselversteck. Nichts.

Probehalber schlüpfte ich in die Plastiktreter. Sie passten. Zumindest war ich jetzt nicht mehr dem kalten Boden ausgesetzt. Dann konnte ich auch gleich die Windjacke stehlen. Es ekelte mich, als ich daran dachte, wessen Sachen ich da trug, aber ich musste es pragmatisch sehen. Irgendwie musste ich zurück in die Stadt. Die Streifenpolizisten wollte ich nicht noch einmal ansprechen.

Ich hob das Citybike vom Haken. Die Frage war, wie ich an ihnen vorbei mit dem Fahrrad vom Grundstück kommen sollte? Als ich den Zippverschluss zuzog, spürte ich in der Brusttasche einen Gegenstand. Es fühlte sich an wie eine Kreditkarte. Neugierig sah ich nach. Es war zwar eine Chipkarte, aber keine von einer Bank. Ich drehte sie in meinen Händen. Auf der Rückseite war ein schmaler Klebestreifen. Büro, stand verwaschen und verschmiert drauf.

War das eine Keycard für Schumanns Kanzlei? Mein Herz klopfte auf einmal wieder bis zu meinem Hals hoch. Es musste so sein.

Ob die Polizei auch die Kanzlei überwachte? Mein Entschluss war gefasst. Ich bugsierte das Rad durch die Absperrung und schob es zur Rückseite des Hauses. Nach einigem Suchen fand ich eine Gartentür. Sie war abgeschlossen, aber sie führte auf eine Wiese am Waldrand. Ich hob das Rad darüber und sprang ohne Probleme nach. Von dort gelangte ich problemlos ans Ende der Siedlung. Ich umrundete einige Altstoffsammelcontainer und schon befand ich mich wieder auf der Straße. Ich schlug die entgegengesetzte Richtung ein, damit ich nicht an dem Streifenwagen vorbei musste. Immerhin war es fast Mitternacht, es herrschte Ausgangssperre. Sollte mich auf dem Weg zurück in die Innenstadt jemand anhalten, konnte ich sagen, ich wäre auf dem Heimweg von einer Nachtschicht.

Ich war kein Ausdauersportler. Meine Muskeln fingen an zu krampfen, deshalb drosselte ich das Tempo. So mussten sich Triathleten und Marathonläufer auf den letzten Metern fühlen. Bei mir kam die nervliche Anspannung dazu. Würde ich mich jetzt irgendwo auf einer Parkbank ausruhen, käme ich mit Sicherheit nicht mehr hoch. Eigentlich war ich am Ende. Der pure Wille hielt meinen Körper in Bewegung.

 

Nach einer Ewigkeit sah ich das Gebäude, in dem die Kanzlei untergebracht war, vor mir liegen. Keine Polizeistreife. War ich schon wieder zu spät?

Bei der Abfahrt zur Tiefgarage stoppte ich. Probehalber hielt ich die Keycard an den Sensor. Tatsächlich! Das Gitter bewegte sich ratternd nach oben. Nervös sah ich mich um. Hoffentlich machte ich nicht zu viel Krach. Nicht, dass noch jemand wegen mir die Polizei rief.

In dieser Tiefgarage hatten sich Rolf Maurer und Doktor Schumann getroffen. Sie war leer, bis auf ein staubiges Auto, das aussah, als stünde es nicht erst seit gestern hier. Neugierig sah ich mich um. An den Wänden befestigte Tafeln wiesen auf reservierte Stellplätze hin. Ich ließ den Blick umherschweifen. Rolf Maurer und Schumann hatten sich an diesem Ort verabredet. Von hier aus war das letzte Signal von Maurers Handy gekommen.

Vor einer der Parkbuchten sah ich einen hellen Fleck. An der Wand, unweit davon, hing ein Papierkorb. Ich ging hin und spähte hinein. Es war zu dunkel. Ich entnahm den Müllsack und ging damit zu einer beleuchteten Stelle. Schüttelte den Inhalt aus. Allzu viel befand sich nicht in dem Plastiksack.

Ich fasste hinein - und hielt ein Smartphone in der Hand. Die Abdeckung fehlte. Kurzerhand kippte ich den gesamten Inhalt auf den Boden und suchte nach dem Akku und der Chipkarte. Mit zitternden Fingern setzte ich die Einzelteile zusammen.

Es ließ sich sogar einschalten, verlangte aber umgehend die Eingabe einer PIN. Ich versuchte es mit 1-2-3-4. Falsch. Das wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein. 0-0-0-0 funktionierte auch nicht. Nur noch ein Versuch! Jazy hatte mir doch das Geburtsdatum seiner Tochter vorgelesen. Ich versuchte es. 1-5-0-2. Ja! Ich schickte einen Dankesgruß in den Himmel.

Wen sollte ich anrufen? Ich ging in die Anrufliste. Ich könnte Gerd Schumann kontaktieren, seine Nummer stand ganz oben. Diese Möglichkeit behielt ich vorerst in der Hinterhand. Etwas weiter unten die von Amina. Das wäre eine Möglichkeit, um festzustellen, ob Ben noch bei ihr war.

Es gab nicht viele Telefonnummern, die ich auswendig wusste. Jazys kannte ich klarerweise, aber ihr Handy lag in der Wohnung ihrer Mutter. Ob da jemand abheben würde? Ich wählte die Nummer auf gut Glück. Bekam ein Freizeichen. Meine Hand umklammerte nervös das Telefon. Es meldete sich natürlich niemand. Fast wollte ich es aufgeben.

„Hallo?“ Eine weibliche Stimme hob flüsternd ab. Es war jedenfalls nicht Jazy.

„Ich bin´s, Oliver“, sagte ich nervös.

„Gott sei Dank! Wo bist du? Hier ist Selma.“

„Ich habe Rolf Maurers Handy gefunden. Ich bin in der Tiefgarage der Kanzlei Schumann. Wo seid ihr?“

„Wir haben euch gesucht.“ Sie korrigierte sich: „Wir haben Jazy gesucht. Wir sind im Waldviertel bei einer Jagdhütte, die Schumann gehört. Amina hat uns geholfen, sie zu finden. Jazy ist womöglich da drin. Ben, Cem, Pyotr und die Polizei umstellen gerade die Hütte. Geht es dir gut?“

„Mir geht es erst wieder gut, wenn ich weiß, dass Jazy in Sicherheit ist“, krächzte ich ins Telefon.

„Warte! Ben hat die Tür eingetreten.“ Ich hörte sie zitternd atmen. „Sie sind drinnen!“

Die Zeit schien still zu stehen.

„Cem rennt jetzt auch hinein“, sagte Selma atemlos.

Wieder diese Ungewissheit!

„Sie kommen raus. Es ist Jazy! Cem trägt sie. Aber ich glaube, es geht ihr gut.“ Selma schluchzte erleichtert. „Oliver? Warte. Ich steig aus.“

Ich hörte sekundenlanges Rascheln. Dann Stimmen, die durcheinander sprachen. Selma sagte: „Es ist Oliver, mein Schatz!“

„Che?“ Es war die Stimme meines Engels.

„Jazy! Geht´s dir gut?“

„Ja. Ich bin in Sicherheit. Ich hatte solche Angst. Wo bist du?“ Ihre Stimme klang ganz zittrig.

„Ich bin dem Auto nachgerannt. Ich habe gerade noch gesehen, wie sie dich in den Kofferraum gesperrt haben, aber ich war zu langsam. Jetzt bin ich bei der Anwaltskanzlei von diesem Schumann.“

„Warte. Ben will mit dir reden.“

„Wo bist du, Junge?“ Es war Ben.

Ich erzählte es ihm.

„Bist du alleine?“

„Ja. Hier ist alles ruhig.“

„Wie bist du da hin gekommen?“

„Mit einem Rad.“ Jetzt war nicht der geeignete Moment, ihm die ganze Geschichte zu erzählen.

„So lange wir nicht wissen, wo Schumann und Rolf Maurer sind, ist es dort nicht sicher. Nach Hause fährst du jetzt aber besser auch nicht. Wer weiß, was Schuman als nächstes vorhat. Am besten wäre, du fährst zur nächsten Polizeidienststelle und wartest auf uns.“

Ich mochte nicht, wie er mich immer wie ein kleines Kind behandelte und mir vorschrieb, was ich tun und lassen sollte. Trotzdem sagte ich: „Ja. Okay.“

„Bis dann.“

Ich dachte schon, er hätte aufgelegt da hörte ich noch einmal Jazy: „Che?“

„Ja, mein Engel?“

„Ich liebe dich! Es tut mir leid. Es war meine Schuld.“

„Mach dir keine Vorwürfe. Ich bin zwar fast gestorben vor lauter Sorge um dich, aber jetzt bist du ja in Sicherheit. Das ist alles, was zählt. Ich liebe dich. Bis später!“

 

Ich hielt das Handy in der Hand. Mir war ein ganzer Felsbrocken vom Herzen gefallen. Vor lauter Aufregung stiegen mir erneut Tränen in die Augen. Ich wischte mir mit einer Hand übers Gesicht.

Was jetzt? Ich war nahe der Kanzlei dieses Verbrechers. Wir hatten den Beweis, dass er hinter der ganzen Sache steckte. Immerhin hatte er Jazy in seine Jagdhütte entführt, auch wenn er selbst nicht gefunden worden war. Hier schien er nicht zu sein. Sonst hätte ich ein Auto gesehen.

Was, wenn er, bevor die Polizei einen Durchsuchungsbefehl erwirken konnte, alle Beweise verschwinden ließ, die mit dem Tod meiner Eltern zusammenhingen?

Ich drehte die Keycard in meiner Hand hin und her. Ich hatte Blut geleckt. Ungerechtigkeiten konnte ich nicht ausstehen. Und hier geschah seit einem viertel Jahrhundert großes Unrecht. Wann, wenn nicht jetzt würde sich eine bessere Gelegenheit bieten, nach Beweisen zu suchen?

Mein Entschluss war längst gefasst. Ich schaltete das Handy auf stumm. Ben würde sicher ausrasten, wenn er mitbekam, dass ich seinem Befehl nicht nachkam. Das musste er mir nicht auch noch telefonisch mitteilen.

Ich versteckte also das Fahrrad, die Pantoffeln und die Jacke in der Nische unter dem Treppenaufgang. Sollte jemand kommen, waren die Sachen dort nicht auszumachen.

Die Sorge um Jazy war in den letzten zwei Stunden ein schwerer Ballast gewesen. Jetzt, wo ich sie in Sicherheit wusste, fühlte ich mich leichter, kräftiger und ruhiger. Über die Treppe erreichte ich das Erdgeschoss. Besuchern, die wie ich aus der Tiefgarage kamen, zeigte ein Schild an der Tür den richtigen Weg an. Rechtsanwalt Dr. Gerd Schumann. Ich drückte gegen die Tür. Verschlossen. Ich sah keinen Schlitz, in den ich die Keycard hätte stecken können. War meine Mission damit schon wieder zu Ende? Irgendwie musste man doch da rein kommen!

Immerhin hatte ich einen Schlüssel. Die Tür wies kein herkömmliches Türschloss auf. Ich rüttelte noch einmal am Türgriff. Tja. Die war zu. Mein Blick fiel wieder auf die Klingel. Es war ein vielleicht fünfzehn Zentimeter quadratisches Edelstahlfeld. Eingraviert stand hier nochmals der Name der Kanzlei. Darunter der Knopf zum Klingeln. Links unten die Initialen GS, rechts unten waren drei kleinere quadratische Löcher, wahrscheinlich für die Gegensprechfunktion. Es gab nichts, wo ich die Schlüsselkarte reinschieben konnte. Wütend hielt ich das kleine Stück Plastik über den Klingelknopf. Natürlich tat sich nichts. Ich ließ den Bereich, in dem der Chip steckte, über die Lautsprecherlöcher streichen. Wieder nichts!

Mehr aus Trotz versuchte ich es mit den aufgedruckten Initialen. Mit einem leisen Klacken sprang die Tür auf. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Der Sensor hatte sich tatsächlich hinter diesen unscheinbaren zwei Buchstaben verborgen.

Ich drückte die Tür auf. Es ging schon einmal kein Alarm los. Sehr gut. Bis vor wenigen Minuten war der ganze Sinn meines Lebens gewesen, Jazy zu retten. Und der Mensch ist nun mal ein sinnsuchendes Wesen, hatte ich im Philosophie-Unterricht am Gymnasium gelernt.

Jazy war in Sicherheit. Kaum war diese wichtige Mission erfüllt, fühlte ich wieder diese Entschlossenheit, die mich seit Tagen und Wochen antrieb. Ich würde den Tod meiner Eltern rächen. Ich musste diesen in den letzten Wochen gestarteten Trauerprozess abschließen. Anders war an eine Rückkehr in mein altes Leben nicht zu denken. Ich wollte mir wieder neue Ziele setzen können. Wollte mein Projekt mit Tony abschließen und gemeinsame Pläne mit Jazy schmieden.

Natürlich war es dunkel im Büro – und es  gab es keine Bewegungsmelder. Zum Glück. Ich überlegte, ob es auffällig wäre, wenn mitten in der Nacht hellerleuchtete Büroräume von der Straße aus zu sehen  wären. Wahrscheinlich nicht. Sicher machten auch Rechtsanwälte Überstunden, aber ich wollte kein Risiko eingehen.

Ich suchte auf dem mir fremden Handy die Taschenlampen-Funktion. Rolf Maurer hatte sie, warum auch immer, nicht auf seiner Startseite gespeichert. Endlich wurde ich fündig. Mein Mund war so trocken, dass die Zunge beinahe am Gaumen kleben blieb. Erst jetzt bemerkte ich auch den dumpfen Kopfschmerz.

Ich war dehydriert. Kein Wunder. Zuerst die Rennerei, dann die lange Fahrt mit dem Rad. Ich musste dringend Flüssigkeit zu mir nehmen.

Mit dem Telefon leuchtete ich den Flur aus. Neben dem Haupteingang, von dem man von der Straße das Gebäude betrat, befand sich eine Art Rezeption. Ich leuchtete in den Flur auf meiner linken Seite. Da waren zwei Türen. „Konferenzraum 1“ und „Konferenzraum 2“ war von gläsernen Schildern abzulesen. Auf der rechten Seite befanden sich Toiletten und eine Art Aufenthaltsraum mit Küche.

Ich machte mir nicht die Mühe nach Gläsern zu suchen, sondern trank gleich gierig aus meinen Händen, die ich unter den Wasserstrahl der Spüle hielt. Erleichtert atmete ich durch, nachdem ich meinen Durst gestillt hatte.

Ein leiser Zweifel machte sich in meinem Kopf breit. Tat ich das Richtige? Immerhin hatte ich mir unerlaubt Zugang verschafft.

Ich schob den Gedanken beiseite. Was wog schon ein kleiner Einbruch gegen Mord und Entführung? Außerdem war es kein richtiger Einbruch, ich hatte einen Schlüssel verwendet. Ich trat zurück in den Flur. Die Büroräume mussten einen Stock höher liegen. Mit neuem Elan rannte ich die Stufen hoch. Oberhalb des Treppenabsatzes befand sich ein offenes Büro. Wahrscheinlich saßen hier die Sekretärinnen. Direkt dahinter war eine mit dickem Leder bespannte, schallgeschützte Tür.

Auch ohne ein Hinweisschild war mir sofort klar, dass das Schumanns Büro sein musste. Wenn ich irgendwelche Beweise finden wollte, dann würden sie sich hinter dieser Tür verstecken.

Ich ging um den Schreibtisch der Vorzimmerdame und öffnete die wuchtige Tür. Der Lichtschein des Handys zeigte mir auf den ersten Blick, dass ich mich wohl getäuscht hatte. Zwar sah es aus wie das Büro des Chefs, doch es gab keine Stauräume.

Da war eine Glasfront zur Straße. An einer Wand hing ein Messingstich, davor stand ein riesiger gläserner Schreibtisch mit protzigem Chefsessel. An der Wand gegenüber hing ein modernes Gemälde. In einem Bücherregal neben der Tür standen Gesetzbücher und andere branchenspezifische Werke.

Was jetzt? Hatten die hier schon alle Akten digitalisiert? Oder gab es spezielle Archivräume? Ich suchte weiter. Da waren zwei weitere protzige Büroräume auf derselben Etage. Ob diese Anwälte wussten, was für ein Mensch ihr Chef war?

Ich öffnete eine Tür nach der anderen. Ich fand einen riesigen Kopierer und Laminiermaschinen. Den Hauptserver, von wo aus wahrscheinlich mein Spionageversuch rückverfolgt worden war. Nüchterne kahle Büroräume. Keine Aktenschränke.

Also noch einen Stock höher. Am Ende der Treppe fand ich ein weiteres Vorzimmer, eine Kopie des Raumes im unteren Geschoss.

Fast hätte ich resigniert, doch dann öffnete ich eine der anderen Türen. Endlich! Die Räume waren von oben bis unten mit verzinkten Steckregalen vollgestellt. Sie standen an den Wänden und als Raumteiler, wie in einem Archiv, und nutzten den vorhandenen Platz optimal aus.

Sofort sah ich mir eines der Regale näher an. Die Ordner waren allesamt penibel beschriftet. Zuoberst stand der Name der vertretenen Partei, dann ein Hinweis auf den Fall und zuletzt eine Jahreszahl. Schnell fand ich heraus, dass hier die neueren Fälle abgelegt waren. Was ich zu finden hoffte, befand sich sicher in den hinteren Räumen. Ich ging an einer der Türen vorbei und öffnete gleich jene am Ende des Flures. Hier fanden sich Ordner aus den Jahren ab 2010. Es hieß also weitersuchen.

Am anderen Ende des Flures wurde ich fündig. Die Ordner in diesem Raum wirkten stärker mitgenommen und waren nicht ganz so exakt beschriftet. Zudem gab es mehrere Regale mit Hängeregistern. Nach wenigen Minuten war ich sicher: Diese Akten stammten aus einer Zeit, als Schumann noch nicht in diesem modernen Gebäude gearbeitet hatte.

Der Raum hatte keine Fenster. Ich entschied, das Licht einzuschalten. Einen Moment schloss ich geblendet die Augen. Das erste, was ich bemerkte, waren meine verdreckten Füße. Verdammt! Sicher hatte ich eine erkennbare Spur mit meinen nassen schmutzigen Fußabdrücken hinterlassen. Darum würde ich mich später kümmern.

Ich warf einen Blick auf das Handy und checkte die Uhrzeit. Ein Uhr dreißig. Ich hatte die ganze Nacht Zeit, um eine Spur zu finden, die im Zusammenhang mit meinen Eltern stand. Eigentlich brauchte ich nur chronologisch vorzugehen. Ich schritt die Regale ab und suchte nach dem Jahr, in dem meine Eltern verschwunden waren.

Es gab keine Akten auf den Namen Moser. Damit hatte ich auch kaum gerechnet. Dieser Mann war kein Idiot. Ich sah einige der Ordner durch. Vom angestrengten Schauen meldete sich mein Kopfschmerz zurück. Ich wusste, Schuhmann war da draußen unterwegs und vielleicht war er geradewegs auf dem Weg hierher, um diese Akten zu entsorgen. Jeden Moment konnte er mich  überraschen.

Die meisten Fälle betrafen österreichische Firmen, die Konzessionen im Ausland hatten beantragen wollen. Bei den Hängeregistern fand ich drei Ordner, die lediglich mit MM und der Jahreszahl beschriftet waren.

Ich nahm den ersten zur Hand. Er roch alt und staubig. Das Papier war gelb, einige Faxausdrucke kaum noch zu lesen. Was mir sofort ins Auge stach, war die Tatsache, dass der Schriftverkehr ausschließlich auf Englisch stattgefunden hatte. Manche Dokumente waren in brüchigen Klarsichtfolien abgelegt worden. Beim Durchblättern stach mir ein handgeschriebener Brief sofort ins Auge. Etwas an der schnörkeligen Art, wie die Buchstaben aneinandergereiht waren, kam mir bekannt vor. Ich trat mit dem Register in der Hand unter eine der Neonlampen.

Es war die Schrift meiner Mutter! Nicht auf Malaysisch, sondern auf Englisch, aber eindeutig. Ich nahm den Brief aus der Folie und drehte ihn um. „Kindest regards Jaya Moser“. Die Grußformel bestätigte meine Entdeckung. Ich hatte tatsächlich den ersten Hinweis gefunden! Meine Beine fühlten sich weich an. Ich setzte mich an Ort und Stelle zitternd auf den Boden. Wie einen unermesslich kostbaren Schatz hielt ich das Blatt Papier in meinen Händen und begann zu lesen.

Meine Mutter hatte kurz und prägnant, wie es ihr Stil war, zusammengefasst, was ihre Recherche ergeben hatte. Sie hatte penibel aufgelistet, welche Konzessionen ein gewisser Abdul bin Samad, offensichtlich ein  hochrangiger Politiker, offiziell genehmigt hat und das mit den tatsächlich abgeholzten Gebieten verglichen. Zum Beweis, dass der Mann von den Abweichungen gewusst hatte, hatte sie ihrem Schreiben Dokumente beigelegt, die bestätigten, dass er und seine Familie mehrere Urlaubsreisen mit einem Porsche der involvierten Firma unternommen hatten. Weitere Auszahlungen liefen über diverse Briefkastenfirmen. Meine Mutter hatte Schumann beauftragt, diesen Abdul bin Samad wegen Verdachts der Untreue, Geschenkannahme und Bestechung anzuzeigen.

In einer weiteren Folie fand ich einen Schriftverkehr von Schumann mit dem Beschuldigten. Darin hatte er ihn über die Anschuldigungen meiner Mutter informiert und ihm einen Handel angeboten. Für einen Einmalbetrag von 700.000 Dollar bot Schumann dem Mann an, die Anklage aus Rechtsgründen fallen zu lassen.

Skrupellosigkeit zählte für diesen psychopathischen Anwalt anscheinend zum Standardrepertoire. 700.000 Dollar im Gegenzug für zwei Menschenleben. Natürlich fanden sich keine Hinweise darauf, wie Schumann es bewerkstelligt hatte, dass die Anklage nicht zustande kam. Ob der malaysische Politiker gewusst hatte, dass zwei Menschen dafür sterben mussten?

Ich breitete die Dokumente vor mir auf dem Boden aus und fotografierte mit Maurers Handy die gefundenen erdrückenden Beweise. Es war zwei Uhr dreißig.

Jasmin hatte zwei Mal versucht, mich anzurufen. Jemand anderer drei Mal. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass das Ben war. Ich würde noch meine Spuren beseitigen und dann wie versprochen zur Polizei gehen.

Ich sah mich in dem Archivraum um. Hier hatte ich alles so hinterlassen, wie ich es vorgefunden hatte. Im Schein der Taschenlampe schlich ich zurück ins Erdgeschoß und suchte nach Küchenrolle, die ich befeuchten und damit meine Fußabdrücke aufwischen wollte. Gerade als ich den Wasserhahn abstellte, hörte ich ein Geräusch. Reflexartig schaltete ich meine Taschenlampe aus und hielt die Luft an.

Im Flur ging das Licht an. Ein wenig Helligkeit fiel durch den Türspalt in den Raum. Gehetzt sah ich mich nach einem Versteck um. Es gab keines. Ich konnte mich nur hinter der Tür verstecken und hoffen.

Ich hörte Stimmen. Wussten die, dass ich hier war? Fieberhaft überlegte ich, ob mich die offene Tür verriet. Hatte sie offen gestanden, als ich herkam?

„Ich muss zu meinem Tresor. Er ist im ersten Stock“, hörte ich einen Mann sagen.

War das Schumann?

Schritte bewegten sich über die Treppen nach oben. Aha. Er wollte wohl seinen Safe ausräumen und abhauen. Ob ihm bewusst war, dass derzeit keine Flieger in die Karibik abhoben? Das Land war abgeriegelt, alle Hotels geschlossen. Wo also wollte er hin?  Mir war klar, mit genug Geld konnte man alles kaufen. Ich war der einzige, der ihn daran hindern konnte!  Noch hatte Schumann nicht bemerkt, dass ich eingebrochen hatte. Womöglich hatte er eine Waffe. Ich musste eben schneller sein, als er ziehen konnte.

Ich hörte die Stimmen jetzt aus dem ersten Stock kommen. Vorsichtig spähte ich durch den Türspalt. Ich konnte mich an der Wand nahe zum Treppenaufgang verbergen. Und sobald die beiden Männer herunterkamen, von der Seite her angreifen.

Bruce Lee hatte gesagt: Wahre Kraft liegt darin, dich zurückzulehnen und die Dinge mit Logik und Ruhe zu betrachten. Was ich hier im Begriff zu tun war, hatte weder mit Logik noch mit Ruhe zu tun.

Meister Ming hat gesagt: Hör auf dein Herz! Mein Herz wollte sich nicht zurücklehnen und die Dinge mit Ruhe betrachten. Es wollte nicht, dass ich hier wie ein Feigling in meinem Versteck ausharrte. Es wollte nur eines: den Mörder meiner Eltern zur Strecke bringen. Besser aufrecht sterben, als kniend leben. Leise schlich ich zur Treppe.

Jede Faser meines Körpers war angespannt. Bereit zum Kampf. Jetzt musste ich mich auf mein Gehör verlassen und auf den richtigen Moment warten. Ich hörte die Stimmen im Vorzimmer des ersten Stockes, ohne zu verstehen, worüber die beiden Männer redeten. Offensichtlich suchten sie etwas. Schubladen wurden aufgezogen und wieder geschlossen. Anschließend gingen sie noch einmal in Schumanns Büro.

Die Sekunden zogen sich schier endlos in die Länge. Im Geist ging ich meine Angriffsstrategie durch. Mein Vorteil war, dass die Männer keine Ahnung hatten, was gleich passieren würde. Im Kung Fu stürzte man sich nie unvorbereitet in die Schlacht.

Eine Tür wurde geschlossen. Schritte näherten sich. Waren jetzt auf der Treppe. Ich nahm eine stabile Haltung ein. Ich spürte das Chi durch meinen Körper strömen. Mein Atem war entspannt. Ich war im Zen. Ich war bereit. Der Mann hatte den Treppenabsatz erreicht. Es war ein Fremder. Weder Rolf Maurer noch Gerd Schumann. Breiter Schädel, Doppelkinn, kleine und engstehende Augen mit verwaschenen Pupillen. Eine Visage, die wohl die wenigsten auf Anhieb mögen würden.

Ich zog seine Aufmerksamkeit auf mich, sodass er die Arme abwehrend hob. Jetzt konnte ich eine Brücke aufbauen. Testen, wie viel Kraft in ihm steckte. Es war fast zu einfach, seine Hände zur Seite zu schieben und so eine Öffnung für meinen Angriff zu schaffen. Mit meinem Gewicht blieb ich hinten, immer bereit, bei einer Überraschung zurückzuziehen. Meine rechte Faust knallte auf die Kehle des Mannes. Mit dem linken Fuß verpasste ich ihm noch einen gezielten Sidekick in die Brust. Ohne abzuwarten, bis er zu Boden ging, wandte ich mich der zweiten Person zu. Gerd Schumann.

Der Feigling versuchte zu entkommen! Schon war er einige Stufen nach oben gehastet. Ich stieß einen wütenden Schrei aus. Er drehte sich zu mir um. Während ich nach vor schnellte und auf ihn zu hechtete, warf er eine schwere Tasche nach mir. Deren Abwehr kostete mich eine kostbare Sekunde. Eine Sekunde, in der Schumann seine Waffe gezogen hatte. Er blickte mich hasserfüllt an. Der Lauf der Pistole zielte auf meine Brust. Noch ehe ich mich zur Seite werfen konnte, zerriss ein lauter Knall die Luft. Als hätte ich einen Tritt ins Brustbein kassiert, stürzte ich rücklings die Treppe nach unten. Der Aufprall raubte mir einen Moment den Atem. Ich hatte Schumann nicht aus den Augen gelassen und sah, wie er noch einmal auf mich zielte. Schnell rollte ich zur Seite. Ein weiterer Schuss zerriss die Luft. Knapp neben mir splitterte der Boden. Ich rollte weiter. Hörte hinter mir etwas zerbrechen. Verdammt! War da noch jemand?

Ich war aus Schumanns Schussfeld gerollt und bekam kaum Luft. Schloss einen Moment meine Augen. Als ich sie wieder aufmachte, war der Raum voller Menschen. Waren das Polizisten? Sie trugen Helme und waren maskiert. Tja, ich hatte leider keine Maske dabei! Noch immer bekam ich kaum Luft. Durch die Nase sog ich verzweifelt Sauerstoff ein. Trotz meines Bemühens wurde mir schwindelig. Ich musste schlucken. Da war auf einmal so viel Flüssigkeit in meinem Mund. Es fühlte sich an, als müsste ich erbrechen. Ich bekam keine Luft! Panik machte sich breit. Gleich würde ich ohnmächtig werden. Ich hustete, und das ohne Maske!

Etwas Warmes sprudelte aus meinem Mund. Ein letztes Mal versuchte ich einzuatmen. Es gelang einfach nicht. Ich spürte einen Sog. Als würde mich eine starke Strömung erfassen und durch die Zeit saugen. Die Angst zu ersticken war verpufft. Da war Schumann, der mit seiner Waffe auf meine Brust zielte. Jazy, die ihre Hände nach mir ausstreckte. Jazy! Ich liebe dich! Unendlich! Bis in alle Zeiten!

Tausend Eindrücke prasselten auf mich ein. Ich wollte das alles nicht sehen, doch ich hatte keine Kontrolle mehr. Wie ein göttlicher Funke trieb ich schwerelos dahin. Konnte die Bilder nicht vertreiben. Ich wollte nach Hause!

Kaum hatte ich diesen Gedanken gefasst, wurde alles rings um mich ruhig und still, friedvoll, als wäre die Zeit stehengeblieben. Zwei Menschen kamen langsam auf mich zu. Viel zu langsam. Ich sehnte mich danach, sie würden schneller gehen. Etwas Warmes, Strahlendes, ging von ihnen aus. Als sie endlich heran waren, erkannte ich ihre Gesichter. Es waren meine Eltern. Ich war glücklich und voller Liebe. Warum schauten sie bloß so traurig?

 

 

 

 

 

 

 

 

Ben - Der Schock

 

„Ja. Okay.“

Das Schlimme an diesen beiden Worten war, dass ich sofort den Trotz in ihnen erkannte, ihn aber nicht wahrhaben wollte.

Ich war zu abgelenkt. Von Schumann und Maurer fehlte nach wie vor jede Spur. Den ganzen Tag schon waren meine Nerven bis zum Zerreißen angespannt gewesen, von Stunde zu Stunde hatte die Anspannung zugenommen. Zuerst der Drohbrief. Dann das Verschwinden von Rolf Maurer. Mein Unbehagen deshalb. Amina und ihre Schwiegermutter in großer Sorge. Schließlich die Suche nach Jasmin und Oliver.

Zu sehen, dass Jasmin in Sicherheit war und sich auch der Junge gemeldet hatte und uns zumindest wissen ließ, wo er steckte, hatte mich glauben lassen, dass das Schlimmste hinter uns lag. Laut Jasmins Aussage war Gerd Schumann mit zur Jagdhütte gefahren. Sie hatte ihn zwar nicht gesehen, aber ihre Schilderung der Ankunft dort ließ eindeutig darauf schließen, dass er und noch ein weiterer Mann dort gewesen waren. Ob es Aminas Mann war, blieb ungewiss. Vermutlich eher nicht.

 

Der überwältigte Kidnapper saß inzwischen im Polizeiwagen. Ich hatte ihn eigenhändig dorthin geschafft. Pyotr versuchte mit einem Wink meine Aufmerksamkeit auf dessen dunklen Mercedes zu lenken.

„Was gibt´s?“ Ich ging zu Pyotr. Cem hatte seinen Wagen ebenfalls bis an die Hütte herangefahren und sich mit Jasmin im Arm auf seine Rückbank gesetzt. Die Türen waren geschlossen. Der Motor lief, sicherlich auch die Heizung. Jasmin war total unterkühlt gewesen. Ich ging an Cems Kombi vorbei. Selma saß bei ihnen und sah mir fragend nach.

Pyotr hatte eine der hinteren Türen der dunklen Limousine geöffnet und deutete hinein. „Schau dir das an!“

Ein dreckiger Spaten und eine Spitzhacke lagen zwischen Vorder- und Hintersitz. Obwohl es stockdunkel in der Jagdhütte gewesen war, waren mir die dreckverkrusteten Sportschuhe des verhafteten Kidnappers aufgefallen. Ich fasste probehalber nach einem Erdklumpen, der an dem Spaten heften geblieben war. „Fühlt sich frisch an. Was denkst Du?“

„Wir müssen Jazy fragen.“ Pyotr presste die Lippen zusammen.

Ich stimmte ihm grimmig nickend zu. Wir gingen zurück zu Cems Wagen und setzten uns auf die freien Vordersitze.

„Wie geht es dir, Kleines?“ Ich forschte im dunklen Wagen nach Jasmins Reaktion.

„Ich wusste, du würdest mich finden“, antwortete sie tapfer.

Ohne Amina wäre uns das nicht gelungen, doch weshalb sollte ich sie nachträglich beunruhigen? „Was genau ist passiert? Warum hat Oliver nicht gewusst, wo du warst?“

Sie erzählte stockend ihre Geschichte nochmals. „Ich war so dumm!“, endete sie mit einem Selbstvorwurf.

„Du hast einen Fehler gemacht, aber zum Glück hattest du einen Schutzengel, der dir die Hand gehalten hat. Wenn sich jemand vorwerfen kann, einen Fehler gemacht zu haben, dann bin das ich. Es hätte überhaupt nicht soweit kommen dürfen. Den Maurer aus den Augen zu lassen - das war eine Riesendummheit. Du sagst, ihr hättet drei Mal angehalten, während du im Kofferraum eingesperrt warst?“

„Ja. Das erste Mal war auf einer dunklen Straße. Dort haben sie mich gefesselt und mich in den Plastiksack gesteckt. Ich dachte, ich ersticke.“ Selma reichte ihr ein frisches Taschentuch, weil Jazy bei der Schilderung wieder zu weinen begonnen hatte.

„Dann haben meine Entführer sich mit jemandem getroffen. Es muss in Wien gewesen sein. Weil wir sind nicht so lange gefahren. Wegen des Plastiksacks habe ich nicht mehr verstanden, was sie geredet haben. Das dritte Mal war kurz bevor wir hier ankamen. Es hat gerumpelt und wir sind ganz langsam gefahren. Ich wusste, wir mussten auf einer Schotterstraße sein. Ich dachte, die wollen mich umbringen und irgendwo im Wald verscharren.“ Jazy schluchzte und zitterte.

„Wie lange hat dieser dritte Stopp gedauert?“, fragte ich nach.

„Ewig. Ich habe sie fluchen gehört. Sie haben im Freien irgendetwas gemacht.“

Ich sah zu Pyotr. Wir dachten dasselbe. Ich konnte es in seinem Gesicht lesen.

Es klopfte an der Scheibe. Einer der Polizisten stand vor dem Wagen. Ich stieg aus.

„Sie kommen erst einmal mit uns zur Dienststelle. Wir müssen ein Protokoll aufnehmen“, meinte der Beamte.

„Das können Sie vergessen!“ Ich nickte in Jasmins Richtung. „Wir müssen die Kleine nach Hause bringen.“ Außerdem mussten wir Gerd Schumann finden, aber dabei konnte uns dieser Landsheriff ohnehin nicht helfen.

„Hören Sie.“ Ich las seinen Namen von der Uniformjacke ab. „Inspektor Wimmer. Ich weiß, ich habe hier in Österreich keine Befugnisse, aber Sie müssen die Kriminalpolizei hierher holen und ein Team der Spurensicherung. Spürhunde. Das ganze Programm. Das Mädchen hat gesagt, ihre Entführer hätten im Wald angehalten. Wir haben dreckiges Gartenwerkzeug im Wagen der Kidnapper entdeckt. Die haben irgendetwas vergraben.“

„Haben wir schon angefordert“, unterbrach mich der Polizist. „Bis auf die Spürhunde.“ Er nahm seine Mütze ab und kratzte sich am Kopf.

„Den Gefangenen müssen Sie so rasch wie möglich nach Wien überführen. Immerhin hat die Entführung dort stattgefunden.“ Ich nannte ihm den Namen des Einsatzleiters bei der Wega. „Wenn Sie irgendwas von uns brauchen, können Sie mich über ihn erreichen.“

Der Beamte war sichtlich nicht begeistert. So spannende Einsätze gab es hier in der Gegend nicht allzu oft. Er fühlte sich um seine Lorbeeren betrogen.

„Der Mann, der hinter dieser Entführung steckt“ - ich sah Wimmer eindringlich in die Augen -, „hat vor zweiundzwanzig Jahren ein junges Ehepaar ermordet.“ Jetzt hatte ich seine vollste Aufmerksamkeit. Es half immer, die Leute auf einer tieferen Ebene anzusprechen. Ihren Ehrgeiz anzuspornen. „Die Leichen wurden nie gefunden. Deshalb ist es so wichtig, die Gegend rund um die Jagdhütte genauestens abzusuchen. Verstehen Sie?“ Er schürzte die Lippen und nickte. „Ich verlasse mich auf Sie! Notfalls muss hier jeder Quadratmeter umgegraben werden.“

Er hatte meinen CIA-Ausweis gesehen. Das schindete hier in Europa meist mächtig Eindruck.  „Wir müssen los! Den Drahtzieher finden, bevor er sich absetzen kann.“

Der Beamte versprach mir, sich um alles zu kümmern.

Kurz überlegte ich, den festgenommenen Kidnapper zu verhören. Nein. In einem späteren Verfahren könnte das von Nachteil sein.

 

Ich setzte mich wieder ans Steuer von Aminas Wagen. Sie saß mit tränennassem Gesicht neben mir. „Können Sie mir bitte noch einmal den Weg ansagen?“, wandte ich mich an Frau Maurer, die auf der Rückbank saß.

„Wohin fahren wir?“, erkundigte sich die ältere Dame.

„Ich bringe Sie nach Hause. Anschließend müssen wir nach Ihrem Sohn und Ihrem Neffen suchen.“

„Ich will dabei sein! Nehmen Sie mich bitte mit!“ Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie eine Hand beruhigend auf Aminas Schulter legte. Diese wandte den Kopf nach hinten und sagte: „Danke, Mama.“

„Gerd und Rolf waren früher fast so etwas wie Brüder gewesen. Beide Einzelkinder.“ Ich wusste nicht, ob sie es mir erzählte, oder nur ihre Gedanken laut aussprach, deshalb schwieg ich. „Ich war mit Ralf alleine und musste arbeiten gehen. Daher war er oft bei meiner Schwester und Gerd gewesen. Er ist dem Gerd überall hin nachgelaufen, wie so ein kleiner anhänglicher Hund. Er hat ihn immer bewundert. Wie einen großen Bruder.“

Ahnte diese Frau, was mir gerade durch den Kopf ging? Wollte sie mir beweisen, dass Schumann ihrem Sohn nie etwas antun würde? Denn das war es, was ich insgeheim befürchtete. Rolf Maurer hatte seinem Cousin gestanden, dass er geredet hatte, und musste aus diesem Grund verschwinden. Warum sonst hätte Schumann ein Putzkommando anfordern sollen? Warum sonst hätte er dessen Handy in einem Mülleimer entsorgen sollen?

Juristen waren mir schon immer suspekt gewesen. Man musste nicht  Boccaccio gelesen haben. Es gab genügend Fernsehserien über Anwälte und Notare, die Böses aus reinem Vergnügen taten und in denen alle Sünden und Verbrechen in einer Person zusammenflossen. Niemand tat sich leichter, auf Verlangen falsches Zeugnis abzulegen, als ein Rechtsanwalt. Niemand scherte sich weniger um Meineide, wenn sich damit unrechtmäßig ein Prozess gewinnen ließ.

„Wie kam es dazu, dass Ihr Neffe auf die schiefe Bahn geriet? Er stammt aus einer tadellosen Familie, hatte ein intaktes Elternhaus, oder täusche ich mich da?“

„Sein Vater hatte zu hohe Ansprüche an ihn gehabt. Meine Schwester hatte das nie erkannt. Beide haben ihn immer gelobt, wenn er mit was Neuem dahergekommen war. Es war ihnen egal, woher er das Geld dafür hatte. Leichtes Geld, schnelles Geld. Das war alles, was für Gerd zählte. Davon hat sich auch mein Sohn beeindrucken lassen.“ Ich bemerkte, wie Amina neben mir zustimmend nickte.

 

Schumann konnte noch nicht zurück in Wien sein. Womöglich waren wir ihm bei der Hinfahrt begegnet. Eigentlich war das sogar sehr wahrscheinlich. Der Gedanke ließ mich auf das Lenkrad einschlagen. Er war uns immer noch einen Schritt voraus. Ich fühlte leichtes Unbehagen und wählte Maurers Nummer. Es war nicht erreichbar. Jasmin und Selma saßen noch immer in Cems Auto, das Pyotr jetzt fuhr.

Ich wählte Selmas Nummer. „Selma, bitte frag Jasmin, ob sie Oliver noch einmal anrufen kann. Ich will wissen, wo er ist. Bei mir hebt er nicht ab.“

Eine Minute später rief sie zurück. „Er hebt nicht ab.“ Ich hörte, wie im Hintergrund Cem versuchte, Jasmin zu beruhigen: „Vielleicht ist er bei der Polizei und ruft gleich zurück.“

Mein Instinkt sagte mir etwas anderes. Nachdem Selma aufgelegt hatte, stellte ich eine Verbindung zu Oberleutnant Schneider her, dem Wega-Kommandanten, der den Einsatz an Schumanns Villa geleitet hatte.

„Wir haben das Mädchen gefunden und sind auf dem Rückweg nach Wien. Sie müssen sofort eine verstärkte Fahndung nach Schumann und Maurer einleiten. Er ist uns entwischt. Vielleicht ist er schon wieder auf dem Weg zurück nach Wien. Sie sollten die Überwachung seiner Wohnung verschärfen und auch eine Einheit zu seiner Kanzlei im zehnten Bezirk schicken. Vor etwa zwanzig Minuten hat uns der Freund von Jasmin, Oliver Moser, von dort aus angerufen. Ich hoffe, der Junge bringt sich nicht in Schwierigkeiten. Im Moment können wir ihn nicht erreichen.“

Mein Herz pochte sorgenvoll. Die feuchte Dunkelheit da draußen verstärkte meine Bedrückung. Das Fernlicht war an und trotzdem war da nur diese bleierne, schwarze Nacht.

In einer scharfen Linkskurve war ich etwas zu schnell dran. Ich kam mit zwei Rädern auf das Bankett. Amina neben mir sog erschrocken die Luft ein und hielt sich an der Beifahrertüre fest. Ich registrierte, wie Frau Maurer hinter mir  ihre Finger in meine Kopfstütze krallte. „Ich melde mich später noch einmal.“

Ich war selbst erschrocken und zwang mich dazu, wieder gleichmäßig zu atmen. Dazu galt es, die Angst, die von meinem Bauchgefühl herrührte, zu überwinden. Ich fühlte mich verantwortlich für Oliver. Verdammt! Warum meldete er sich nicht?

Ich wählte noch einmal die Nummer, von der aus er zuletzt angerufen hatte. Selbstvorwürfe geisterten durch meinen Kopf. Ich hatte mich ihm gegenüber mehrmals wie ein Arschloch verhalten. Hob er deshalb nicht ab? Ich hätte ihm längst sagen müssen, was für ein toller Junge er war. Es war nicht nötig, dass er sich in eine unüberlegte Gefahrensituation brachte, um sich zu beweisen.

Was hatte er dort an der Kanzlei zu suchen? Mach bloß keinen Blödsinn, Junge!

Es gab da dieses Sprichwort: Was man lernen muss, um es zu tun, das lernt man, indem man es tut. Mein Vater hat das früher zu uns Kindern gesagt. Was für ein Blödsinn! Mich hatte diese Belehrung weiß Gott schon viel zu oft in brenzlige Situationen gebracht.

Ich wartete endlos erscheinende zwanzig Minuten. Meine Augen brannten und ich hatte Durst. Dann rief ich noch einmal Schneider an. Die Wega-Einheit war in unmittelbarer Nähe von Schumanns Kanzlei. „Ich erreiche Oliver Moser nicht. Er ist möglicherweise noch immer dort. Bitte seien Sie vorsichtig! Wir sind fast an der Stadtgrenze. Ich fahre sofort zur Kanzlei. Wir treffen uns dort.“

„In Ordnung. Wir werden unauffällig vorgehen.“

Ich war etwas beruhigt. Wenn die Wega mit Sirene und Blaulicht Schumanns Villa und Kanzlei belagerte, würden wir den Kerl nicht schnappen.

 

Es gab in der Stadt um diese Uhrzeit kaum Verkehr, deshalb nahm ich es mit der geforderten Geschwindigkeitsbegrenzung nicht so genau. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte mir, dass ich Pyotr abgehängt hatte. Er kannte sich nicht sonderlich gut aus in der Stadt. Selma würde ihm schon sagen, wie er fahren musste. Zum hundertsten Mal las ich die Uhrzeit auf Aminas Autoradio-Display ab. Fand diese zermürbende Nacht denn gar kein Ende?

Noch bevor ich die ersten Streifenwagen sah, hatte ich die beunruhigenden Lichtspiele mehrerer Einsatzfahrzeuge bemerkt. Es war also so weit. Die Wega hatte Schumann geschnappt!

Ein Polizist hielt mir einen durch LED-Lampen beleuchteten Anhaltestab entgegen. Ich öffnete das Seitenfenster. „Oberleutnant Schneider weiß, dass ich komme“, rief ich dem Beamten zu, bevor er etwas sagen konnte. „Wo finde ich ihn?“

„Schneider? Von der Wega? Ich bin mir nicht sicher. Wir wurden von Interpol angefordert. Der Einsatzleiter war eben noch beim Überwachungswagen.“

Interpol? Was zur Hölle sollte das bedeuten? Ich stellte den Wagen am Gehsteig ab, um die Straße freizuhalten, und stieg aus. „Bitte wartet hier. Amina? Alles klar?“ Sie nickte. „Ich sehe erst mal nach.“

Suchend sah ich mich nach dem Überwachungswagen um. Da war ein unauffälliger weißer Kleinbus. Der könnte es sein. Zielstrebig ging ich darauf zu. Im selben Moment rollte er einige Meter zurück und gab den Blick auf die Straße frei. Erst jetzt sah ich, dass das Blaulicht von einem Rettungsfahrzeug stammte. Gerade fuhr es an die Stelle, an der soeben noch der weiße Kleinbus gestanden hatte und hielt an.

Meine Beine entwickelten ein Eigenleben. Ich rannte, ohne zu wissen warum, auf den Wagen zu. Der Sanitäter, der die Ambulanz gefahren hatte, lief zum Heck des Wagens und öffnete die Türen. Blitzschnell zog er eine Bahre hervor und hastete damit ins Gebäude, ich eilte hinter ihm her.

Eine Person lag auf dem Steinboden. Ich sah erst nur die Beine und nackte Füße. Sanitäter und Polizisten knieten rund um den Verletzten. Nein!

„Oliver!“ Ich wollte mich zu ihm durchdrängen, als mich eine Hand am Ellenbogen zurückhielt.

„Es tut mir leid.“ Wie aus weiter Ferne drang Schneiders Stimme zu mir durch. „Sie können im Moment nichts für ihn tun. Die Rettungskräfte versuchen ihr Bestes.“ Er zog mich einen Schritt zur Seite.

Ich konnte den Blick nicht abwenden. Oliver lag leblos auf dem nackten Boden. Die Arme über dem Kopf. Seine Brust und der Oberbauch bewegten sich in regelmäßigen Abständen unnatürlich. Jedes Mal, wenn ein Sanitäter eine Art Blasebalg bewegte und damit Luft durch einen Plastikschlauch, der zwischen den blau verfärbten Lippen steckte, in seinen Körper pumpte.

Mit der anderen Hand hielt der junge Mann ein Display, das mit der Manschette um Olivers Oberarm und einem Pulsoximeter verbunden war. Der steckte auf einem der blauen Fingernägel und dokumentierte immer wieder Bio-Werte.

Ich konnte die Mimik des Sanitäters nicht erkennen. Wie alle anderen Personen im Raum trug er einen Mund-Nasen-Schutz. Seine Augen zwinkerten aber angestrengt. Ich konnte nur Olivers Gesicht sehen. Es war blutverschmiert.

Ich biss fest auf meine Oberlippe. Das konnte nur ein böser Traum sein! In seiner Nase steckten zwei kleine Schläuche, die zu einer Sauerstoffbrille gehörten. Der Notarzt sprang auf und wechselte die Seite.

Erst jetzt sah ich die Wunde in der Brust des Jungen. Sie sah unversorgt aus. Ein kleiner Rinnsal aus Blut war über seinen Bauch geflossen. Ein fingerdicker Schlauch ragte aus Olivers Seite und endete in einen blutgefüllten Kasten. Ein anderer Sanitäter befestigte ihn soeben notdürftig mit einer Art Klebeband. Auf dem hellen Steinboden bildete sich eine Pfütze aus Blut. Die dunkle Flüssigkeit vermengte sich mit orangefarbenen Wunddesinfektionsmittel.

„Ich setze jetzt auf der linken Seite vorsichtshalber noch eine Thoraxdrainage“, sagte der Notarzt seinem Kollegen. Seine Latexhandschuhe waren blutrot gefärbt. Ich sah, wie er ein Skalpell auf der zweiten Brustseite ansetzte und einen tiefen Schnitt ausführte. Sein Mundschutz bewegte sich durch seine angestrengte Atmung heftig. Deutlich sah ich dunkles Blut aus dem Schnitt hervorquellen. War der Mann verrückt? Das hier war kein Operationssaal! Warum brachten sie Oliver nicht ins Krankenhaus?

Ich musste meine Gedanken gemurmelt haben, denn wie durch Watte hörte ich Schneider sagen: „Er hatte einen traumatischen Kreislaufstillstand. Der Arzt macht eine Entlastungspunktion. Der Schuss ist vom Brustbein in die Lunge abgeprallt. Der Junge hatte schon Atemstillstand. Bei so einer schweren Verletzung sterben sechzig Prozent aller Opfer auf dem Weg ins Krankenhaus.“ Wollte er mir damit schonend beibringen, dass der Junge so gut wie tot war?

Der Notarzt schob eine Schere in den von ihm gesetzten Schnitt eine Handbreit unterhalb von Olivers Achsel und steckte einen Finger ins offene Fleisch. Ein Sanitäter packte einen weiteren Plastikschlauch aus und reichte ihm diesen.

Der Notarzt schüttelte den Kopf. „Ich bin noch nicht durch.“ Seine Stimme klang hektisch. „Ich bin kein Chirurg. Ich mache so etwas zum ersten Mal.“ Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Er stieß die Schere tiefer zwischen Olivers Rippen. Der Junge hatte einen trainierten Oberkörper, sicher war da einiges an Muskelgewebe im Weg.

„Geschafft!“ Wieder steckte der Notarzt tastend einen Finger in die Wunde. Anschließend nahm er den Plastikschlauch und schob ihn hinterher. „Fertig! Wir beginnen mit dem Transport.“ Er sah zu uns auf. „Können Sie helfen? Wir müssen ihn auf die Bahre heben.“ Er zeigte auf Olivers Beine. Schneider zog mich mit sich. Ich wusste nicht, ob ich es aus eigener Kraft geschafft hätte, mich vom Fleck zu bewegen. Wie im Traum hockte ich mich neben einen Notfallrucksack und griff nach Olivers nackten Fußgelenken.

„Auf drei! Eins. Zwei. Drei!“ Schon waren die Rettungssanitäter mit der Bahre zum Ambulanzfahrzeug unterwegs. Ich blieb wie betäubt auf dem Boden hocken und starrte auf die dunkelroten Pfützen. Ein Defibrillator stand vergessen neben einem Paar blutverschmierter Latexhandschuhe, dem Skalpell und der Schere. Der gellende Lärm des Martinshorns übertönte das Geräusch der zuschlagenden Heckklappen. Ich bedeckte meine Ohren mit den Händen und zog das Kinn Richtung Brust, als könnte ich so meinen Kopf in trostloser Trauer verbergen und einfach ausblenden, was soeben passiert war.

Ich dachte an all die Nächte, in denen ich den Verlust meines Vaters immer wieder von neuem durchlebt hatte. Statt Erleichterung zu empfinden, aus diesen Albträumen zu erwachen, hatte mich immer wieder diese schreckliche Gewissheit überkommen, dass es kein Traum war, sondern die bittere Realität. Und jetzt Oliver. Eine Woge voller Hilflosigkeit überrollte mich.

„Herr Adler?“

Ich hörte meinen Namen. Nur fehlte mir die Kraft, den Kopf zu heben.

„Herr Adler?“

Ich öffnete meine Augen einen Spalt und sah auf ein Paar sauber gepflegte Herren-Lederschuhe. Eine Hand streckte sich mir hilfreich entgegen, nur um sofort wieder zurückzuzucken. Die Schuhe bewegten sich einen Meter von mir weg.

 „Mein Name ist Theo Bartuschek. Interpol. Wir haben telefoniert.“ Endlich gelang es mir, den Kopf zu heben. Der Mann trug eine Mund-Nasen-Schutz-Maske. „Sie hätten uns von Anfang an sagen müssen, dass es um einen Mordfall geht. Wir waren nicht darauf vorbereitet. Normalerweise werden Anwälte, die in einen Finanzbetrug verwickelt sind, nicht gewalttätig.“

Ich starrte den Mann müde an. „Wo kommen Sie so plötzlich her?“ Mühsam richtete ich mich auf und zog erst jetzt meine Maske aus der Hosentasche. Umständlich setzte ich sie auf.

„Wir hatten schon lange einen Mann im Visier. Ein hohes Tier bei der UNO, das bereits in Singapur und davor in Malaysia durch schmutzige Lobbyarbeit zu einem Vermögen gekommen war. Ich hatte Anrufe zurückverfolgt. Es geht um Verdacht auf Betrug zu Manipulation von Investmentfonds. Ihr Anruf hat mir die entscheidenden Beweise in Aussicht gestellt.“

Was quasselte der Mann da von Betrugsfällen? Hier ging es um Mord!

„Wir haben die Kanzlei seit heute früh observiert, weil wir uns diesem Doktor Schumann nähern wollten. Plötzlich kamen mitten in der Nacht zuerst Schumann und ihm dicht auf den Fersen ein ganzes Sonderkommando der Wiener Polizei an. Sie können sich meine Überraschung vorstellen. Wir hatten kaum Zeit, uns abzusprechen, da haben sich die Ereignisse überschlagen.“

Ich folgte Bartuschek vor das Gebäude. Erst jetzt sah ich Schumann. Er saß auf dem Rücksitz eines Streifenwagens und starrte wütend geradeaus.

„Das Schwein ist unverletzt?“

„Ja. Er ergab sich, als das Sonderkommando das Gebäude stürmte.“ Er nickte zu einem weiteren Ambulanzwagen. „Schumanns Begleiter musste verarztet werden. Nichts Schlimmes. Nur ein paar Prellungen.“

Ich sah in die vorgegebene Richtung. Ein Mann in Handschellen saß auf einem Behandlungsstuhl. Es war nicht Rolf Maurer. „War noch jemand dabei?“

„Nur die beiden. Was wissen Sie, was wir nicht wissen?“

Ich setzte mich erschöpft auf den Rand der Gehsteigkante. Ich hatte noch immer das Bild von Olivers leblosen Körper vor mir. „Nichts“, sagte ich.

Die Türen des zweiten Rettungswagens schlugen zu.

„Ben!“ Pyotr kam besorgt auf mich zu gerannt. „Was ist passiert?“

Ich schüttelte mit zusammengepressten Lippen den Kopf.

„Wo ist Che?“

Ich schluckte. Schaute auf den Boden, als würde mich das von einer Antwort entbinden. Er packte mich am Oberarm und zerrte mich hoch.

„Verdammt! Reiß dich zusammen, Alter! Ich will nicht, dass dich Jazy so sieht. Sie hat heute Nacht schon genug durchgemacht.“

Jasmin kam tatsächlich gerade hinter dem Überwachungswagen hervor. Barfuß in ihrer Yogahose und in meinem viel zu großen Pullover stand sie da und blickte dem abfahrenden Rettungswagen ängstlich hinterher. Dann rief sie laut nach Che. Unsere Blicke trafen sich. Ich versuchte, meine eigenen Emotionen hinunterzuschlucken, was mir offensichtlich nicht gelang.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ich wandte mich ab. Weinende Frauen setzten mir mehr zu als ein verlorener Kampf. Mein Blick wanderte wieder zum Streifenwagen mit Schumann. Er sah mich unvermittelt an. Meine Kiefermuskeln verhärteten, ich ballte meine Hände zu Fäusten. Ich machte einen drohenden Schritt in seine Richtung. Wenn Blicke töten könnten, wäre der Mann auf der Stelle zu Staub zerfallen. So begegnete er meiner heftigen, hasserfüllten Reaktion mit unberührtem Mienenspiel. Psychopathen hatten keine Angst. Ihre Emotionen sind auf Standby geschaltet.

Oberleutnant Schneider tauchte neben mir auf und hielt mir sein Telefon entgegen. „Die Kripo. Es gibt Neuigkeiten aus Schönfeld.“

Das Handy fiel mir beinahe aus der Hand. Hoffentlich bemerkten die anderen mein Zittern nicht. Ich hielt mich immer für abgebrüht, aber die vergangenen Minuten hatten etwas in mir ausgelöst, das ich mir noch nicht erklären konnte.

„Ja?“ Meine Stimme hörte sich schwach, trocken und krächzend an. Ich räusperte mich und versuchte es noch einmal. „Ja?“

„Wimmer hier. Sie hatten recht. Wir haben im Wald eine Leiche gefunden. Die Spuren waren nicht zu übersehen. Die haben sich nicht einmal bemüht, ihre Fußabdrücke zu verwischen.“

Auf einmal wurde ich mir der Kälte der Nachtstunden bewusst. Mein Zittern verstärkte sich. Ich trug nur mein kurzärmeliges Poloshirt. „Gibt es schon ein Foto?“, erkundigte ich mich tonlos.

„Ich schalte auf die Videokamera.“ Kurz sah ich Wimmers Gesicht. Dann wechselte die Einstellung. Auf einer hellen Plane lag eine massige Gestalt. Jemand beleuchtete die Stelle mit einem starken Strahler. Trotz der Dreckspuren wusste ich auf Anhieb, wer die Person war. Die orange Kleidung mit den reflektierenden Bändern verriet es mir.

„Maurer“, flüsterte ich und dachte kurz daran, dass ich nach Jasmin nun auch noch Amina und ihre Schwiegermutter zum Weinen bringen würde. „Kann man schon was zur Todesursache sagen?“, zwang ich mich zu einem professionellen Verhalten.

„Genickschuss. Keine weiteren Hinweise auf Gewalteinwirkung.“

Mein Blick wanderte wieder zu Schumann in seinem Streifenwagen. Wann brachten sie ihn endlich weg von hier? Ich konnte seinen Anblick nicht mehr ertragen. Frau Maurers Worte, dass die beiden wie Brüder aufgewachsen waren, hallten in meinem Kopf nach.

„Sein Name ist Rolf Maurer“, informierte ich den Beamten. „Sie suchen weiter? Ja?“ Meine Emotionen überwältigten mich. Die Umgebung verschwamm vor meinen Augen. Wir mussten Olivers Eltern finden. Das war ich ihm schuldig. „Ich muss Schluss machen. Die anderen Entführer wurden soeben verhaftet.“

„Ja. Habe ich schon gehört. Na, dann. Auf Wiederhören.“

„Danke.“ Ich beendete das Gespräch und gab Schneider das Handy zurück.

Der tat, als bemerkte er meinen Gefühlsaufruhr nicht. „Rolf Maurer also.“ Der Wega-Kommandant hakte wohl einen weiteren Punkt auf seiner To-Do-Liste ab.

Ich seufzte. „Ich sage es seiner Frau. Sie wartet im Wagen.“ Mein Kopf nickte vage in die Richtung, aus der wir gekommen waren.

Schneider presste die Lippen verstehend aufeinander. „Sicher fahren Sie dann ins Krankenhaus?“ Er wartete nicht auf eine Antwort. „Melden Sie sich, wenn sie die Protokolle von den Verhören interessieren.“ Er drehte sich um und verschwand hinter dem Überwachungswagen.

Erst jetzt bemerkte ich, dass Pyotr, Cem und Jasmin noch immer in meiner Nähe standen. Jasmin hatte sich erneut an Cem geklammert. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, warteten sie gespannt auf meine Erklärungen. Ich ging zu ihnen und berichtete mit knappen Worten, was passiert war. Jamins Schluchzen tat mir im Herzen weh. Cem würde sich um die Kleine kümmern. Als nächstes musste ich Amina die Wahrheit sagen.

 

Pyotr brachte uns bis vor die Notaufnahme. Danach wollte er Selma bei Amina abholen. Sie hatte die beiden trauernden Frauen nach Hause gefahren. Ich war ihr dankbar dafür. In dieser gedrückten, mutlosen Stimmung, hätte ich Amina und ihre Schwiegermutter nicht gerne allein zurückgelassen.

Ich fühlte mich schuldig am Tod von Rolf Maurer. Warum hatte ich ihn nicht sofort zur Polizei geschleppt? Dann würde er jetzt noch leben.

Wir läuteten an der Klingel im Ambulanzbereich. Ich wusste, dass Krankenhausbesuche in Zeiten der Pandemie ein heikles Thema waren. Umso überraschter war ich, dass uns eine Assistenzärztin, als wir ihr den Grund unseres Kommen erklärten, sofort durch das halbe Krankenhaus lotste. Um diese Zeit gab es keine anderen akuten Notfälle. Endlose verlassene Gänge, in denen das Licht aufflammte, als wir sie betraten, führten uns zu einem Wartebereich.

„Bleiben Sie hier“, sagte die Ärztin und ließ uns in dem halbdunklen Raum zurück. Die Stühle waren mit Abstand aufgestellt. Cem schob zwei zusammen und Jasmin zog ihre Beine an, nachdem sie sich gesetzt hatte. Sie hatte die Decke aus Cems Auto mitgenommen und kuschelte sich hinein. Trotzdem schüttelte sich ihr ganzer Körper. Sie stand unter Schock. Cem setzte sich ebenfalls und legte seinen Arm um ihre Schultern.

„Wir hätten sie um ein Beruhigungsmittel für Jasmin bitten sollen“, sagte ich, als sich unsere Blicke trafen.

Er nickte. Ob er auch gerade dieses Déjà-vu Empfinden hatte? Fast dieselbe Szene hatten wir beide schon einmal durchgemacht. Vor sechs Jahren. Nur war es Sonja gewesen, die sich damals schutzsuchend in seinen Armen verkrochen hatte.

Warum enden die Menschen, die mir viel bedeuten, mit einer Kugel in der Brust? Damals war es mein Vater gewesen, um dessen Leben die Ärzte gekämpft hatten. Die Kugel hatte mir gegolten. Er hatte mich mit seinem Körper geschützt. Obwohl wir uns so viele Jahre nicht gesehen hatten, hatte er aus einem Instinkt heraus reagiert und sein Leben für meines geopfert. Er hatte getan, wozu Eltern bereit waren, wenn ihr Kind in Gefahr war. Mir selbst zu Verzeihen fiel mir schwer. Eigentlich gelang es mir gar nicht.

Olivers Vater hätte dasselbe für ihn getan. Hätte er noch gelebt. Was passiert war, fühlte sich so falsch an. Oliver hatte sein Leben für seinen Vater geopfert, obwohl das keinen Sinn ergab. Ich hätte da sein müssen. Ich hätte die Chance nutzen müssen, das zu tun, was mein Vater für mich getan hatte. Ich hätte diesen Jungen besser schützen müssen. Wie sollte ich mit diesem Schuldgefühl weiterleben?

Wenn ich eines über mich wusste, dann das: Ich konnte nicht vergessen. Die Erinnerungen begleiteten mich für alle Zeiten. Folterten mich für alle Zeiten. Nachts suchten sie mich auf und quälten mich.

Die Assistenzärztin kam zurück. Sie hatte ein Paar Einwegschuhe dabei und reichte sie Jasmin. „Besser als nichts“, sagte sie und legte der Kleinen eine Blutdruckmanschette an. Nachdem sie das Ergebnis abgelesen hatte, ging sie zu einem Wasserspender und kam mit einem Becher zurück. „Hier. Die wird dir guttun!“ Sie hielt ihr eine Tablette hin.

Ich sah Jasmins Widerwillen. Dann schluckte sie das Medikament doch. Sicher eine gute Entscheidung. Die junge Frau sah uns an. Sie zog ein Handy aus ihrer Manteltasche. „Das hatte der Patient bei sich.“ Sie hielt es unschlüssig hoch. Rolf Maurers Handy. Ich stand auf und griff danach.

„Danke. Kann man schon was sagen?“

„Die Kollegen tun, was sie können. Ich muss dann wieder.“

Ich nickte. Setzte mich und blickte unschlüssig auf das Telefon in meiner Hand. Ein leichter Druck auf die Einschalttaste zeigte, dass es an war. Warum hatte Oliver nicht auf meine Anrufe reagiert? Im Verlauf standen keine unbeantworteten Gespräche. Er hatte es also gewusst!

Ein bitteres Gefühl überkam mich. Ich scrollte zu den offenen Programmen. Er hatte Fotos gemacht. Das waren Beweise, die Schumann eindeutig mit dem Verschwinden von Olivers Eltern in Verbindung brachten. Das Verfahren konnte jetzt endlich, mit 22 Jahren Verspätung, eingeleitet werden. Ich suchte die Nummer von Theo Bartuschek aus meinem iPhone und leitete die Beweisfotos weiter.

Cem und ich saßen lange Zeit aufrecht und unbewegt und starrten vor uns hin. Inzwischen war es draußen hell geworden. Der Morgen war gekommen. Regsame Betriebsamkeit stellte sich ein und verwischte für einen Moment die in der Luft hängende Hoffnungslosigkeit. Viel zu lange saßen wir schon hier und bangten, während ein paar Türen weiter die Ärzte um Olivers Leben kämpften. Ich wusste nicht, ob es ein gutes Zeichen war oder ein schlechtes, dass es so lange dauerte.

Jasmin lag in einem Dämmerschlaf. Sicher trug das Beruhigungsmittel dazu bei. Zwischendurch wachte sie wieder auf und sah sich mit verwirrtem Blick um. Die Erinnerungen an dieses Unglück waren in ihrem Gesicht abzulesen. Sie fuhr sich mit der flachen Hand über die Augen, als wolle sie einen verhassten Traum verwischen. In ihren Augen glitzerten Tränen.

Die Schuldgefühle fraßen mich innerlich auf, fraßen meine Seele auf. Was hatte ich ihr angetan? Ich hätte sie und Oliver in so einer heiklen Phase niemals alleine lassen dürfen.

Der Sonnenaufgang kam wie jeden Tag unaufgefordert. Normalerweise bestaunte ich dieses Schauspiel ehrfürchtig. Heute betrachtete ich ihn mit Wehmut. Ich stand auf und schaute aus dem Fenster. Fast wäre mir entgangen, dass sich die Tür in den Flur vor den Operationsräumen öffnete. Jasmin sprang auf, ihr Sessel schrammte über den Boden.

Ein junger Arzt mit verschwitzten Haaren und müden Augen stand in seiner hellblauen Chirurgen-Uniform vor uns. Sein Blick sagte mehr als tausend Worte. Überbringer einer positiven Nachricht sahen anders aus. Ich sah zu Cem. Er dachte das Gleiche wie ich. Schon zog er Jasmin in seine Arme. Wie betäubt stand ich da und lauschte den Worten des Arztes.

 

An die Heimfahrt im Taxi hatte ich kaum noch Erinnerungen. Jasmin bestand darauf, in Olivers Wohnung zu schlafen. Cem blieb bei ihr. Pyotr lag angezogen auf unserer Couch und schnarchte. Selma hatte die blickdichten Jalousien heruntergelassen. In unserem Schlafzimmer war es stockdunkel.

Ich sollte mich ebenfalls hinlegen. Mich in Morpheus‘ vergebende Arme flüchten. Doch ich konnte es nicht. Nicht mit dieser Hölle im Kopf.

Ich ging in mein Arbeitszimmer. Die Glock steckte noch immer in meinem Hosenbund. Ich legte sie neben dem Festnetztelefon auf den Schreibtisch. Dann setzte ich mich. Wie viel Schuld und Schmerz passten in einen Menschen? Ich würde noch etwas warten und dann bei der alten Frau im Erdgeschoß klingeln und sie nach der Telefonnummer von Olivers Großmutter fragen.

Unbewusst griff ich nach dem Telefonhörer und wählte eine Nummer. Das Freizeichen hallte laut in meinem Ohr.

„Ben?“

Sonjas Stimme klang belegt. Natürlich hatte sie mein Anruf aus dem Tiefschlaf gerissen. Immerhin war die Klinik wegen des Lockdowns noch immer geschlossen und ich wusste, dass sie keine Frühaufsteherin war.

„Großer Gott! Ist etwas mit Cem?“ Ich hatte noch mit den Worten gerungen, die ich sagen wollte, deshalb hatte sie sofort das Schlimmstmögliche angenommen.

„Cem geht es gut.“ Ich hörte sie laut aufatmen. „Jasmin, Selma und Pyotr auch“, fügte ich deshalb hinzu.

„Ben! Was ist passiert?“ Mir waren wieder die Worte ausgegangen, daher hakte Sonja vorsichtig nach.

„Es ist der Junge.“

„Der Junge? Jasmins Freund? Oliver?“

Ich nickte sinnloserweise. „Er hat versucht, den Mörder seiner Eltern zu stellen.“

„Nein.“ Sonjas Reaktion klang traurig.

„Du hast mir nie gesagt, ob du mir die Schuld an Dads Tod gibst oder nicht.“

„Wie bitte? Was redest du da?“ Ihre Stimme geriet ins Stocken. „Natürlich hast du keine Schuld an Julius Tod. Es war Rimmer!“

Ihre Antwort konnte mir meine Reue nicht nehmen. Warum konnte ich nicht wie andere sein? Die die Schuld immer anderen in die Schuhe schoben.

„Er würde noch leben, wenn ich nicht dort gewesen wäre.“

„Oder wir wären jetzt beide tot. Julius und ich.“

„Sag mir, habe ich das falsche Handwerk? Wenn es darum geht, den besseren Weg zu suchen, treffe ich letztlich immer die falsche Entscheidung. Ich glaube, es ist an der Zeit, aufzuhören ...“

Sonja unterbrach mich: „Hast du getrunken?“

Nein, hatte ich nicht. „Das hat schon einmal nicht gewirkt.“ Hätte ich damals Selma nicht gehabt, wäre ich wahrscheinlich dem Suff verfallen. Wie kann man so weiterleben? Mein Revolver lag nur eine Handbreit neben dem Telefon.

„Du hast nichts falsch gemacht! Ich kenne dich nur als jemanden, der immer nach dem besseren Weg sucht.“

„Ich bin zu unvorsichtig. Warum gibt es keinen Weg zurück?“ Ich fühlte mich zu alt, zu müde, um aus Misserfolgen zu lernen. War jetzt die richtige Zeit abzutreten?

„Ben?“ Meine rechte Hand lag auf dem Griff der Glock. „Ben?“ Sonjas Stimme klang besorgt. „Du hast alles richtig gemacht. Auch damals! Du hast Julius‘ Lebenswerk mit der Veröffentlichung gekrönt. Niemand sonst sammelt eindeutigere Beweise gegen die Verbrecher dieser Welt als du. Du bist es, der mit diesen Videos die Öffentlichkeit aufgeklärt hat. Du hast dafür gesorgt, dass diese Menschen ihre gerechte Strafe erhalten haben! Dass die Wahrheit ans Licht kam. Ich weiß, ich sage es dir zu selten, aber glaub mir: Dein Vater wäre stolz auf dich. Ich sag es nicht gerne, aber vielleicht solltest du wieder einmal deinen alten Freund Jack Daniels zu Rate ziehen und dich dann so richtig ausschlafen. Ben? Sag doch bitte was!“

„Es tut mir leid.“

 

 

 

 

Jazy - Der Abschied

 

Meine Familie hatte mich in den letzten zweieinhalb Wochen beschützt und festgehalten, wo sie nur konnte. Ohne meinen Papa, der sich extra Urlaub genommen hatte, um Tag und Nacht bei mir sein zu können, wäre ich in absoluter Verzweiflung versunken. Alle hatten mich für meine innere Stärke bewundert, ohne dass ich selbst etwas davon gespürt hätte.

Es war der härteste Kampf, den ich in meinem Leben bisher zu bestehen gehabt hatte. Trotzdem, es gab tatsächlich keinen einzigen Moment, an dem ich mich komplett schwach gefühlt hätte. Ich habe Ches Liebe immer bei mir getragen. Sie war alles, was mir in den schweren Stunden geblieben war. Das Einzige, was zählte. Dieses Gefühl, das ich nie mehr vergessen werde.

Die Sonne strahlte durch das grüne Dach der alten Bäume. Die Blätter seufzten eine beruhigende Melodie und ließen mich kurz die Entfernung zu meinem Liebsten vergessen. Der Wind wehte mir immer wieder eine Haarsträhne ins Gesicht und es fühlte sich an, als würde jemand meine Wange liebkosen.

„Man muss nie verzweifeln, wenn etwas verloren geht. Was zu uns gehört, bleibt bei uns. Das ist ein Gesetz. Auch wenn es über unsere Einsicht hinausgeht. Besonders wenn so junge Menschen von uns gehen“, sagte der Geistliche, der die Trauerrede am Rande des Grabes hielt. Es gab keinen Gottesdienst. Einerseits wegen der strengen Auflagen, andererseits, weil Ches Familie nicht übermäßig religiös gewesen war.

Ich sah mich um. Wir waren eine Handvoll Menschen. Philippa Moser, Ches Oma, stand mir gegenüber. Tränen flossen über ihre Wangen. Sie hatte sich bei Erika eingehängt, die eine große, altmodische Sonnenbrille trug, so dass sich die beiden gegenseitig stützen konnten.

Endlich hatte ich sie kennen gelernt. Zuerst war ich überrascht gewesen, wie jung Ches Oma wirkte. Erst, wenn man genau hinsah, bemerkte man die feinen Linien um Mund und Augen. Nach allem, was ich über sie erfahren hatte, hatte ich mir eine typische, etwas altbackene und blasse, Halstuch tragende Geschichtsprofessorin vorgestellt. Dieses Klischee erfüllte sie so gar nicht.

Pippa, wie sie genannt werden wollte, war groß und trotz des Lockdowns braun gebrannt. Sie wirkte sportlich, als würde sie in Kalifornien Surf-Unterricht geben und nicht im kalten Norddeutschland Geschichte lehren. Tatsächlich liebte sie Strandspaziergänge und hielt sogar ihre Online-Seminare ab, während sie in den Dünen der Ostsee herumlief. Außerdem hatte sie dieselbe kleine Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen wie Ches Papa auf dem Hochzeitsfoto.

Sie trug eine große, modische Hornbrille. Als ich sie das erste Mal gesehen hatte, hatte sie Blue Jeans und ein schwarzes T-Shirt im Ethno-Design angehabt, das ich mir wohl selbst gekauft hätte, wenn ich es zufällig in einem Shop entdeckt hätte. Ihr langes weißblondes Haar hatte sie zu einem legeren Messy-Dutt hochgesteckt. Heute fiel es lose und leicht gewellt bis weit über ihre Schultern.

Ches Großmutter hatte dieselben blauen Augen wie er. Jetzt waren sie gerötet und drückten ihren tiefen Schmerz aus. Neben Erika saß Frau Sedlacek auf einem Klappstuhl, den man für die alte Frau bereitgestellt hat. Alle drei hielten, wie ich, eine Narzisse in der Hand, die wir im Anschluss an die Trauerrede als Beigabe ins Grab werfen wollten. Die Frau in der Gärtnerei des Zentralfriedhofs hatte uns diese Blume neben einigen anderen vorgeschlagen, weil sie für Wiedergeburt und die Kraft stand, die Dunkelheit und den Tod zu überwinden. Der Stiel meiner Pflanze war schon ganz zerdrückt. Um sich daran festzuhalten, taugte sie nichts.

„Die Zeit verlässt uns manchmal, während wir sie am meisten brauchen. Wir dürfen nie vergessen: Man liebt, solange man lebt und man lebt, solange man kann. Die Liebe ist ein Fluss, kein Tropfen geht verloren. Stille füllt vielleicht den Raum, doch der Platz in unseren Herzen bleibt immer erfüllt mit ihren Klängen. Wir alle müssen uns eines Tages auf diesen Weg begeben. Er wird uns alle eines Tages nach Hause führen.“

Die Worte sollten Mut machen, doch es fiel mir schwer, mich darauf zu konzentrieren. Mein Blick schweifte zu meiner Schwester ab, die die Trauerzeremonie für Ches malaysische Familie auf Video festhielt. Ches Großeltern hatten einen wunderschönen, farbenfreudigen Kranz aus exotischen Pflanzen bestellt. Jetzt lag er neben dem Geistlichen im Gras. Gleich neben dem Grabstein von Ches Uroma. Felizitas Grubauer 1930 - 2018.

So etwas hatte dieser riesige Friedhof sicher noch nicht oft zu sehen bekommen. Orange-bunte Strilizien und dunkelrote Alpinia brachten ein wenig Wärme und Sonne in unsere Herzen. Für einen Moment schloss ich die Augen und bemerkte das laute Gezwitscher um uns. Im Baum über uns musste eine ganze Vogelfamilie wohnen. Ich legte meinen Kopf in den Nacken, um nach ihr Ausschau zu halten. Dabei beobachtete ich ein Eichkätzchen, das munter von Ast zu Ast hüpfte. Unvermutet entlockte mir dieser Anblick ein kurzes Lächeln. Was für ein friedlicher, schöner Platz. Der Wiener Zentralfriedhof war nicht umsonst weltberühmt und ein beliebtes Ausflugsziel, auch wenn ich es selbst bisher nie hierher geschafft hatte.

Pippa hatte ihr Tablet dabei. Sie hatte es mitgenommen, weil Ches malaysische Familie eine Grußbotschaft geschickt hatte. Gerade spielte sie die Aufnahme ab.

Sie waren in einem Garten zusammengekommen. Alle trugen bunte Sarongs und traditionelle Kopfbedeckungen. Der Reihe nach sagte jedes Familienmitglied ein paar Worte auf Malaysisch, die wir nicht verstanden. Dann ertönte eine Melodie aus einer Mischung aus Panflöten, Trommeln und heller Klangschalenmusik. Offenbar ein fixer Bestandteil ihrer festlichen Zeremonien. Ich schloss die Augen und konnte beinahe die Atmosphäre eines Dschungels fühlen, in dem Orang-Utans, Tapire und bunte Vögel zu Hause waren. Und das hier. Mitten in Wien.

Der Mann, der die Trauerrede hielt, setzte zu den letzten Worten an: „Oft werden wir uns verloren fühlen, aber dann denken wir an die schönen Zeiten, die uns keiner mehr nehmen kann.“ Ich fühlte die Tränen über mein Gesicht rinnen. „Auch wenn man etwas verliert, das man nicht ersetzen kann, dürfen wir den Teil von uns nicht vergessen, der niemals sterben wird.“

Ich biss mir auf die Lippen um nicht laut loszuschluchzen. Sonjas Notfalltropfen hatten bis jetzt geholfen, aber wie würde es gleich sein, wenn wir der Reihe nach am Rande des Grabes Abschied nehmen mussten? Am liebsten wäre ich weggelaufen.

 

Wenn das in so kurzer Zeit überhaupt möglich war, dann war ich in den letzten zweieinhalb Wochen ein anderer Mensch geworden. Ich hatte gelernt, was Demut bedeutet. Nicht nur an mich selbst zu denken. Ich hatte erkannt, dass man Liebe sehen kann. Es gab so viele Menschen um mich herum, die mich gern hatten und mir beistanden. Menschen, die ich zuvor nicht einmal gekannt hatte. Ich musste keine Rolle spielen, um mich an die Situation anzupassen. Ich durfte einfach nur ich sein. Dadurch waren manche Dinge für mich unwichtig geworden, über die ich mir früher Gedanken gemacht habe. Meine Social-Media-Routine war mir egal geworden. Ich wollte nichts davon wissen, dass für andere Menschen das Leben normal weiterlief. Die einzige Ausnahme waren die stundenlangen Chats mit Toni gewesen, die uns beiden geholfen hatten, nicht komplett verrückt zu werden.

Lange Gespräche mit Ches Oma und Erika, hatten dazu geführt, dass ich mich selbst mit anderen Augen sah. Ich hatte mich für einigermaßen klug und gut ausgebildet gehalten. Ich wollte doch Tänzerin werden, da hielt ich diese Dinge für nicht so wichtig. Durch die beiden hat sich mein Blick auf andere Aspekte des Lebens gerichtet.

Inzwischen überlegte ich, ob Tänzerin zu werden, wirklich das war, was ich wollte. Kurze Momente im Rampenlicht, um dann doch sofort wieder vergessen zu werden? Ich hatte angefangen, mich selbst und meine Gedanken zu beobachten. Che hatte seine Mutter so dafür bewundert, wie sehr sie sich für ihren Dschungel eingesetzt hatte. Selbstlos hatten seine Eltern sich für Natur und Umwelt engagiert. Hatten sich dadurch sogar in Gefahr gebracht, obwohl es ganz und gar keine ruhmreiche Tätigkeit war. Erika hatte ihr ganzes Leben damit verbracht, aus dem Schatten heraus Atomkraftwerke und die Ablagerung von radioaktivem Müll zu bekämpfen. Sie hatte unzähligen unschuldigen Walen und anderen Tieren das Leben gerettet und für eine lebenswerte Umwelt, auch für nachfolgende Generationen, gekämpft. Selbst meine so von mir verehrte Tanzlehrerin hatte nicht so viele spannende Geschichten zu erzählen, obwohl sie sehr erfolgreich gewesen war.

Das Leben als Tänzerin hatte ein Ablaufdatum. Klar, man konnte nach der sportlichen Karriere unterrichten, aber die wirklich großen Träume waren dann Geschichten von gestern.

Ich mochte Erikas trockenen, schwarzen Humor und bewunderte sie für ihre Intelligenz. Ches Oma wusste praktisch alles über Geschichte, doch brennen schien sie für Orte und Schätze, die noch nicht entdeckt worden waren. Ich hatte erfahren, dass sie einen Großteil des Jahres damit verbrachte, in alle Ecken und Enden der Erde zu reisen, um ihren Träumen nachzuforschen. Auch Erika hatte noch so viel vor in ihrem Leben. Große Dinge. Wichtige Dinge. Durch die zwei Frauen hatte ich eine Idee davon erhalten, dass all das, was ich bisher war, nicht so fest war, wie ich gedacht hatte. Es war nicht zu spät, meinen Weg zu ändern. Es war meine Entscheidung.

 

Wir schlenderten wegen Frau Sedlacek besonders langsam zurück zum Friedhofstor. Die alte Dame hatte sich rechts und links bei Pippa und Erika eingehakt. Die Männer waren voraus gegangen, um die geparkten Autos zu holen.

„Wie geht es Ben?“, erkundigte sich Sonja bei meiner Mutter. „Ich bin direkt erschrocken, als ich ihn heute gesehen habe. Er sieht nicht gut aus.“

Ben wirkte seit jener Nacht völlig erschöpft. Er war blass, hatte Schatten unter den Augen und Muskelmasse abgebaut. Sogar mir war das aufgefallen, obwohl ich selbst wie ein Zombie herumgelaufen war.

„Er will nicht mit mir darüber sprechen. Er sitzt den ganzen Tag in seinem Büro und tut nichts. Wenn ich ihn frage, was er hat, sagt er meist gar nichts oder er ist reizbar und reagiert aggressiv. Es ist ihm egal, was ich koche und einkaufe. Oft wechselt er tagelang nicht einmal seine Kleidung. Ich musste ihn drei Mal daran erinnern, das Auto für heute zu reservieren.“

„Schläft er in der Nacht?“

„Das ist ja das Schlimme. Er schläft total unruhig. Stöhnt im Schlaf und wacht immer wieder schweißgebadet auf.“

„Das klingt, als hätte er Flashbacks. War er schon beim Arzt deswegen?“

„Natürlich nicht. Du kennst doch Ben.“

„Er hatte mich in jener Nacht angerufen, als sie aus dem Krankenhaus gekommen sind.“ Sonja schaute unsicher zu mir. Sie wusste, ich hörte, was sie redeten. „Ich fürchte, die Ereignisse dieser Nacht haben ein unverarbeitetes Trauma bei ihm ausgelöst. Ich hatte nach unserem Telefonat sogar Angst, er könnte sich was antun. Er hat sich die Schuld an allem gegeben. Er fühlte sich auch verantwortlich für Julius‘ Tod. Überlebensschuld ist eine innerpsychische Dynamik. Ich habe einmal was darüber gelesen. Ich bin keine Ärztin, aber ich fürchte, er leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Das muss er unbedingt behandeln lassen. Sonst kann das chronisch werden. Sicher gäbe es hier in Wien Therapeuten, die sich auf derartige Fälle spezialisiert haben, aber ehrlich gesagt, glaube ich, es würde ihm gut tun, wenn ihr für einige Zeit zu uns in die Klinik zieht. Dimitri könnte ihn in einer vertrauten Umgebung behandeln. Julius‘ Arbeitszimmer sieht noch genauso aus wie damals. Es würde Ben vielleicht helfen, dort anzusetzen, wo alles begann aus dem Ruder zu laufen. Immerhin konnte er sich nie richtig von Julius verabschieden. Er und Cem mussten damals während der Beerdigung Hals über Kopf davon. Danach kam der ganze Rummel um das Patent. Ben konnte nie wirklich trauern. Gerade bei so gravierenden Verlusten ist das aber wichtig. Man muss sich von der Person innerlich lösen.“

Meine Mutter nickte bedrückt. „Ich hätte mich schon längst darum kümmern müssen. Ich dachte, das gibt sich mit der Zeit von selbst wieder.“

„Menschen mit seiner Vergangenheit sind wohl besonders gefährdet. Auch wenn Ben gerne den coolen Obermacho spielt, ist er nicht dagegen gefeit, dass ihn irgendwann, ausgelöst durch Schlüsselreize, die ganzen schrecklichen Erlebnisse, an denen er beteiligt war, einholen. Immerhin hat er, glaube ich, schon als Kind sehr darunter gelitten, dass er von seinem Vater getrennt wurde.“

„Ich weiß, er war lange ziemlich schlecht auf seine Mutter zu sprechen.“ Mama zögerte etwas, dann sprach sie weiter: „Du hast recht. Nach Julius Tod hat er die Trauer um seinen Vater total eingekapselt. Er hat nie wieder darüber gesprochen. Es klingt irgendwie blöd, aber er hat, glaube ich, unbewusste Erwartungen in Oliver gesetzt. In der kurzen Zeit da sie sich kannten, haben die beiden eine ganz besondere Bindung aufgebaut. Wenn du gehört hättest, wie sie miteinander geredet haben – oder, besser gesagt, gestritten haben. Fast wie Vater und Sohn.“

Ich musste schmunzeln. Das stimmte.

„Das würde erklären, warum er so verzögert eine Reaktion auf das Ereignis mit Julius zeigt. Ein Trauma kann wie ein Gespenst im Unterbewusstsein verankert bleiben. Die Geschichte mit Oliver war nur der Auslöser. Ein Trigger. Zeuge eines so schrecklichen Ereignisses zu sein, kann einen schon einmal in chaotische innere Zustände stürzen. Es ist praktisch eine psychische Notfallreaktion. Wichtig ist jetzt, dass sich das nicht festsetzt. Er muss das alles in Ruhe seelisch verdauen.“

Wir kamen an der Bushaltestelle an. Erika ging zu der Anschlagtafel und studierte den Fahrplan.

„Soll ich dir ein Taxi rufen, Liebes? Ich lade dich ein“, bot Pippa ihr an. Natürlich war ihr nicht entgangen, dass Erika chronisch knapp bei Kasse war.

„Ach was! Setze ich mir halt den Spuckschutzfetzen auf und fertig.“

„Sei nicht so stur! Ich mache das gerne. Du könntest dich anstecken.“

„Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben. Schau, da kommt schon mein Bus!“ Schnell umarmte sie Pippa. „Wir sehen uns doch noch, bevor du zurück nach Hamburg fährst, oder?“

„Ich rufe dich morgen an, wenn ich weiß, wann ich einen Termin beim Notar bekomme.“

Erika drückte mich fest und sagte: „Wir sehen uns hoffentlich bald wieder. Ruf mich an!“ Der Bus fuhr in die Parkbucht, sie winkte zum Abschied kollektiv in die Runde. „Kommt gut heim!“

Hinter dem Bus fuhren schon Ben und Papa mit ihren Autos in die Haltestelle

„Oh, du wirst mir so fehlen, meine Süße! Ich rufe am Samstag an!“ Pippa drückte mich herzlich und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Schon jetzt hatte ich zu ihr eine genauso enge Verbindung wie zu meinen leiblichen Großeltern. Ben und Mama nahmen sie und Frau Sedlacek mit zur Wohnung. Sie würde noch einige Tage in Wien bleiben, um die nötigen Formalitäten zu erledigen. „In den Sommerferien machen wir etwas zusammen, egal, was dieses Virus davon hält!“.

„Ja.“ Ich nickte und konnte gar nichts weiter sagen, ohne befürchten zu müssen, mich in Tränen aufzulösen.

Mama half Frau Sedlacek, sich auf den Beifahrersitz zu setzen. Ich gab ihr zum Abschied die Hand. Mama und Pippa stiegen hinten ein. Alle drei winkten uns noch einmal zu, während Ben losfuhr.

Freiwillig hatte sich Sami auf den ungeliebten Platz in der Mitte der Rückbank von Papas Kombi gesetzt. Während ich als Letzte in den Wagen stieg und mich neben ihn setzte, hieb ich ihm leicht auf den Oberschenkel.

„Aua!“, sagte er. „Warum schlägst du mich, wenn ich dir schon den besten Platz freihalte?“

„Ich schlage dich doch nicht! Das war ein Lovetouch, Bruderherz!“

Er griff nach meiner Hand und ließ sie eine ganze Weile nicht mehr los. Es war schon lange her, seit er das das letzte Mal getan hatte. Ich versuchte, meine Rührung zu verbergen, und schaute mit verschwommenem Blick zum Fenster hinaus.

 

Wir setzten meine Geschwister zu Hause ab und fuhren weiter zu Sonja. Langsam ging ich hinauf in dasselbe Zimmer, in dem Che und ich über Ostern gewohnt hatten. Shiva streifte um meine Beine und verlangte nach Aufmerksamkeit. „Warte wenigstens, bis ich die schwarzen Sachen ausgezogen habe, du Fellmonster!“, tadelte ich ihn. Ich öffnete die Zimmertür. Filou lag auf dem Bett. Mitten auf Ches T-Shirt, das ich zum Schlafen trug.

„Pffch!“, fuhr er Sonjas roten Kater an, sobald er diesen bemerkt hatte.

„Filou! Benimm dich ein bisschen. Niemand tut dir etwas, du alter Griesgram.“ Shiva sah ganz erstaunt zu dem älteren Kater auf dem Bett. Ich schlüpfte aus den Schuhen, hängte den Blazer sorgfältig in den Schrank und entledigte mich noch der anderen schwarzen Kleidung. Es hatte schon fast sommerliche Temperaturen. Ich schlüpfte in eine Short und mein Lieblingsshirt. Dann trat ich an das geöffnete Fenster und sah hinaus. „Lass uns raus gehen, Shiva.“ Ich hob ihn hoch und zeigte in den Garten. „Ich weiß auch schon ganz genau, wo wir es uns gemütlich machen werden. Kannst du es sehen?“ Ich holte aus dem Badezimmer ein Glas Wasser und ging barfuß mit dem Kater im Arm und gleichzeitig das Wasserglas balancierend hinunter.

 

Zwischen zwei größeren Apfelbäumen wartete eine bequeme Hängematte darauf, dass wir es uns gemütlich machten. Vorsichtig setzte ich Shiva ab und kletterte hinterher. Es schaukelte etwas, aber die Schwingungen ließen mich wohlig grinsen. Schließlich kuschelte ich mich in den weichen Stoff. Nicht nur ich schaltete emotional ganz intuitiv auf Entspannung um. Auch Shiva begann, lautstark zu schnurren. Es war so viel mehr als ein Stück Stoff, das zwischen zwei Bäumen gespannt war. Die gut gewebte Hängematte passte sich perfekt an meinen Körper an. Sofort fühlte ich mich geborgen, wie in einem Kokon. Ich griff in die Gesäßtasche meiner Shorts und fischte das Handy hervor.

„Willst du sehen, was Lara heute gefilmt hat?“ Ich suchte die Stelle mit der Grußbotschaft aus Malaysia. „Das ist meine Lieblingsstelle. Es war so berührend. Wie schade, dass du nicht dabei sein konntest.“

„Du weißt, ich hatte genug Zeit, mich zu verabschieden.“

„Ja schon, aber es war so ein schöner Tag. Der Platz war so idyllisch. Die Vögel haben gezwitschert und ich habe sogar ein Eichkätzchen gesehen. Es gibt, glaube ich, keinen schöneren Ort, wo man begraben sein möchte. Wenn ich einmal sterbe, möchte ich genau dort begraben werden.“

„Das ist aber ein Familiengrab, das weißt du schon? Wenn du da begraben werden willst, musst du mich heiraten.“

„War das gerade so etwas wie ein Heiratsantrag?“ Forschend suchte ich in den Augen direkt vor meinem Gesicht, in denen sich der strahlende Himmel spiegelte, nach einer Antwort.

„Tja, Mama hat gemeint, ich soll dich fragen.“

„Hm. Du weißt schon, dass sich der Mann dann eigentlich vor die Frau hinknien muss und ihr einen Ring an den Finger stecken sollte?“

Ich beobachtete, wie sich zwei Wangen hilflos aufbliesen. „Wenn du mir aufhilfst, kann ich es versuchen ...“

„Schon gut. Ich will nicht so kleinlich sein. Immerhin hast du zehn Tage im Koma gelegen. Wie bist du überhaupt hier raus gekommen?“

„Anjali und Pyotr haben mir geholfen.“ Eine warme Hand griff nach meiner. Der Hauch eines Kusses prickelte auf meinem Handrücken. „Also? Wie lautet deine Antwort?“

„Hast du denn, außer einem Platz auf dem Wiener Zentralfriedhof, sonst noch was zu bieten?“

„Du weißt, du bist meine Lieblingskrankenschwester.“

„Ach ja?“

„Ja. Und ich liebe dich unendlich. Mein Engel.“

„Das ist schon einmal ein gutes Argument.“

„Und?“

„Ja. Ja ich will“, flüsterte ich zärtlich in Ches Ohr.

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Thora Simon
Bildmaterialien: Pixabay Claudio Scott
Cover: Pixabay Claudio Scott
Lektorat: nicht lektoriert
Tag der Veröffentlichung: 09.11.2020

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Gitti

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