Seit ich denken kann, war der Himmel nie so schön wie in den letzten Monaten. Ganz selten sah man die störenden weißen Streifen der gefährlich dröhnenden Riesenvögel im Tiefblau.
Die Tage wurden jetzt wieder kürzer. Morgens und abends zogen Nebelfelder übers Wasser. Das sah schön aus, machte mich aber auch ein wenig bedrückt.
Pele, mein bester Freund, ist anders als ich. Das stört mich normalerweise nicht. Im Gegenteil. Ich bewundere seine stattliche Figur, die langen Beine. Sein weißes Gefieder an der Stirn mit den schwarzen Augenstreifen. Drei lange Schopffedern bilden einen schönen Federbusch, der meist chic an seinem Kopf anliegt. Ich beneide ihn für seinen langen gelben Pinzettenschnabel und die drei eleganten Vorderzehen. Auf der Brust hat er Puderfedern, die sein Gefieder mit dem wasserabweisenden Öl versorgen, das ich mir selbst wenig elegant aus der Bürzeldrüse an meinem Hintern hervorholen muss.
Weil ich ein Mädchen bin, habe ich kein Prachtkleid. Meine Federn sind graubraun und unscheinbar. An den Füßen habe ich Schwimmhäute. Damit kann man leider nur ungeschickt watscheln. Mein Schnabel ist breit und hat Lamellen am Rand, um besser die Kleinstlebewesen aus dem Wasser fischen zu können, von denen ich mich hauptsächlich ernähre.
Pele hat schwarze Schwingen. Meine Flügel sind kurz, aber kräftig!
Pele springt zwei, drei Mal, dann hebt er schon ab. Ich muss dafür einige Meter übers Wasser laufen.
Übrigens, ich bin Tina.
Meine Mutter hat mir beigebracht, es ist ganz egal, wie jemand aussieht. Ob groß oder klein, fett oder dünn. Wenn er nett zu dir ist, dann sei auch nett zu ihm. Ganz einfach!
Und Pele ist nun Mal der netteste Freund, den man sich nur wünschen kann. Oft sitzen wir nebeneinander auf einem, von der Sonne aufgewärmten Stein, und quaken miteinander. Also, ich quake, Pele chräikt.
Jetzt waren Peles Artgenossen aufgeregt. Der nächste Neumond näherte sich und das bedeutet, der große Aufbruch steht bevor. Jedes Jahr um diese Zeit hebt Peles Schwarm dann ab und reist in den Süden. Im Frühjahr kommt er dann zurück und erzählt mir die wunderbarsten Geschichten.
„Wie gern würde ich selbst einmal mit ihnen fliegen!“, quakte ich meine Mutter sehnsüchtig an.
„Dann tu es doch!“ Sie ölte dabei unbeteiligt weiter ihr Gefieder.
„Was? Du meinst, ich könnte einfach so mit ihnen fliegen?“
„Geliebte Tochter! Spürst du nicht die Energie, die gerade herrscht? Alles ist so turbulent, warum also nicht auch einmal etwas Neues wagen? Freiheit beginnt immer mit Mut. Sei mutig! Das bedeutet nicht, dass man keine Angst haben darf, es bedeutet, einen Sprung ins Abenteuer zu wagen. Wir sind früher auch nach Süden geflogen, doch weil es in den letzten Jahren immer wärmer hier im Winter wurde, hat sich das geändert. Finde den Mut für die Veränderung die du dir wünscht!“
„Du bist die beste Mama der Welt!“, quakte ich glücklich und hüpfte ins Wasser um mich auf die Suche nach Pele zu machen. Ich musste ihm sofort von meinem Plan erzählen!
Natürlich war er hellauf begeistert und sogleich planten wir alles ganz genau. Weil ich nicht so schnell fliegen kann wie er, würde er mich in seinen Windschatten nehmen. Sein Flügelschlag sorgt dann für Aufwind und hilft mir mithalten zu können. Dann planten wir, uns eine Windautobahn zu suchen, auf der uns der Rückenwind antreiben würde. Energiesparen ist auch bei uns Vögeln das Zauberwort!
„Wo genau werden wir hinfliegen?“, fragte ich träumerisch.
„Mal sehen, wohin der Wind uns treibt. Wo es uns gefällt bleiben wir. Wir werden uns nach Flüssen und Gebirgen orientieren. Nach der Sonne und dem Mond. Und wenn wir uns alles dort unten angesehen haben, kommen wir wieder zurück zu unserem Stausee hier.“
„Ich mache die Flatter!“, quakte ich glücklich und erzählte es jedem, der es hören wollte und den anderen auch.
Texte: Thora Simon
Bildmaterialien: Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 19.09.2020
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