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1. Pompeji

„Das kleinste Übel wird zum größten, wenn man es vernachlässigt.“
(Graffiti, gefunden in Pompeji)


Pompeji, im 7. Regierungsjahr unter Kaiser Nero

 

„Gratia, ich flehe Dich an! Tu es nicht! Ausonia hätte das nicht gewollt!“ Kyra stand händeringend vor ihrer Herrin.
„Ich weiß was Du meinst. Ein Leben mehr oder weniger bedeutet ihnen nichts. Verbrechen werden als Gesetz getarnt und ein Mensch ist schnell getötet.“ Die Priesterin trat während der Worte näher an das Totenbett ihrer treuen Freundin. Ihre Augen nahmen das Bild auf, aber ihr Verstand weigerte sich standhaft zu begreifen, was geschehen war. Ein stummer Kampf, der in Wirklichkeit schon verloren war.

Die Erde wird beben und Chaos in unbeschreiblichem Ausmaß wird Pompeji vernichten. Waren diese warnenden Worte der Grund, weshalb Gratia jetzt auf die tote Virgo Maxima, die Oberpriesterin des Vesta-Ordens, starrte? Würde sie das nächste Opfer sein?

„Ausonia war solange ich denken kann wie eine Mutter und Schwester zugleich für mich.“ Gratias Stimme klang gepresst vor Schmerz, Trauer und Zorn. Die in ihr tobenden Gefühle schnürten ihr die Luft ab und machten ihr damit jeden Atemzug zur Qual. Sie musste sich zwingen weiterzusprechen. „Nach dem Tod der Oberpriesterin bin ich nunmehr die letzte, einzige Vestalin Pompejis. Nun liegt es an mir, die Aufgaben des Ordens fortzuführen und dazu gehört es auch, die Warnung zu verbreiten, um dadurch wertvolles Leben zu beschützen. Verstehtst Du das nicht?“
Durch einen Tränenschleier hinweg wurde sie sich dessen immer mehr bewusst:
„Die Menschen dieser Stadt haben das Recht auf einen lebenswerten Alltag. Besonders in Zeiten wie diesen. Auch wenn man nun mir als Nächstes den Todesstempel aufdrücken wird.“

Gratia wachte schon seit Stunden an der Seite der Freundin. Die Stille, die seit dem Eintreffen der Toten in der Villa der Vestalinnen herrschte, schürte ihre bedrückenden Gefühle nur noch mehr. Immer wieder fuhren ihre Hände zum Nacken, als könnte sie dadurch die Angst, die sich dort einnisten wollte, verscheuchen. Wehmütig sah sie sich in dem karg eingerichteten Gemach um. „Sieh es Dir an Kyra. In diesen beiden Truhen bewahrte Ausonia ihre gesamten Habseligkeiten auf. Sie hatte nie etwas für sich gewollt, immer das Wohl der Anderen vorangestellt.“ Kyra nahm sie in den Arm.
„Hier seid ihr beiden oft gesessen, habt geredet, oder einander vorgelesen. Vergiss nicht die schönen Momente, Gratia.“ Dann wandte sie sich um. Ein Klopfen hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt. Der Raum öffnete sich zum Peristyl. Dazwischen umsäumte ein Säulengang den Garten. Durch diesen entfernte sie sich jetzt und ließ Gratia alleine in ihrem Elend zurück.

Im Hof wogten die Zweige der mächtigen Steineiche im Wind. Ihre dunklen, flatternden Schatten fielen zwischen den Säulen hindurch in den Raum und ließen scheinbar die mystischen Mosaike am Boden zu Leben erwachen. Gratia betrachtete das verwirrende Lichtspiel einen Moment und fröstelte bei dem Anblick, obwohl draußen die Nachmittagssonne noch hoch am Himmel stand. Oft hatte sie mit Ausonia gerätselt, was sich der Erschaffer dieses Kunstwerkes bei den seltsamen Gestalten, die er im Mosaik dargestellt hatte, wohl gedacht hatte?
Dann schweifte ihr Blick zurück zur toten Gefährtin. Sie schluckte, versuchte damit die Beklemmung abzuschütteln und wusste im selben Augenblick, wie kläglich ihr Versuch scheitern würde.
Die Diener hatten über Ausonias niedriges Lectus, ihr einfaches Bett, ein schönes, bis zum Boden reichendes, goldenes Tuch gelegt. Zuvor war die Leiche gewaschen und beweint worden. Die toten Augen waren geschlossen. In Gratias Erinnerung lächelten sie immer noch voller Liebe. Es war, als hätte Ausonia diese Liebe wie Luft eingeatmet. Sie verlor niemals die Geduld. Es war ihre Gabe, mit jedem tiefen Atemzug ruhiger zu werden und im richtigen Moment versprühte sie dann Liebe mit Blicken, Worten und Taten. Und in diesen Fußstapfen sollte Gratia nun weitergehen? Unmöglich.

Vor zwei Wochen erst war Ausonia zur Virgo Maxima geweiht worden. Sie war nur wenige Jahre älter als Gratia gewesen. Dieser Umstand hatte sie jetzt das Leben gekostet. Denn zuvor ereilte schon ihre ursprüngliche alte Oberpriesterin, Melina, ein ebenso tragischer, unerwarteter Tod, wie gestern ihre Freundin und Vertraute. Was gab es damals für wilde Gerüchte! Nicht nur in der Villa der Vestalinnen, auch die, ihr Beileid bezeugenden, Menschen, die in Scharen Abschied nahmen, konnten sich den plötzlichen Tod der Priesterin nicht erklären. Melina war betagt gewesen, aber von bester Gesundheit! Für einen Zufall konnte man Ausonias Tod nun nicht mehr halten.

„Herrin?“ Leise war Kyra wieder hinter sie getreten.
Gratia nickte stumm. Sie kämpfte mit den Tränen und traute ihrer Stimme in diesem Moment nicht.
„Der Liktor ist eingetroffen und erwartet Dich im Tablinum.“
Erleichtert atmete Gratia auf. Der Moment währte aber nur kurz. Neue, beunruhigende Gedanken gesellten sich plötzlich zu ihren alles beherrschenden Sorgen.
„Der Magistrat hat überraschend schnell einen Leibwächter geschickt. Meinst Du nicht auch? Selbst bei festlichen Anlässen mussten wir oft darauf verzichten, auch wenn große Menschenmengen erwartet wurden.“ Sie zwang sich, nicht vollends in Unruhe zu verfallen.

Mit dem Ärmelsaum ihrer Toga wischte sie sich die Tränen von den Wangen. „Niemals werde ich Dich vergessen, meine Liebste!“ Sie verabschiedete sich mit einem Kuss auf Ausonias Stirn von der toten Vestalin. Kyra würde die Totenwache fortsetzen.

Während der wenigen Schritte zum an das Atrium angrenzenden Empfangsraum, rang sie darum, ihre Fassung wiederzufinden. Ihr Körper fühlte sich ungewöhnlich schwer an vor Trauer. Sie hob den Kopf und zwang sich, den letzten Schritt über die Schwelle zu treten.

„Salve, Silvan“, begrüßte Gratia den wartenden Liktor mit belegter Stimme. Insgeheim hatte sie gehofft, er würde kommen. Sie kannte den jungen Mann schon lange. Wem aber letztendlich seine Loyalität gehörte, mochte in den Sternen stehen.
„Mein aufrichtiges Beileid!“ Der großgewachsene Leibwächter neigte den Kopf.
Gratia hatte das Gefühl, als wolle Silvan noch mehr sagen und wartete, ob er weitersprechen würde, doch sie hatte sich wohl geirrt.
„Ausonia ist gestern mitten auf dem Marktplatz, ohne ersichtlichen Grund, einfach zusammengebrochen. Keinem der befragten Augenzeugen ist etwas Verdächtiges aufgefallen!“ Gratia rang beim bloßen Gedanken daran in purer Verzweiflung die Hände. „Zuvor soll es ein großes Gedränge gegeben haben. Für die Anwesenden sah es aus, als hätte der Tod sie aus heiterem Himmel aus dem Leben gerissen. Weißt Du etwas darüber?“
Silvan schüttelte bedauernd den Kopf.
„Irgendetwas stimmt da nicht“, sprach sie deshalb mit heiserer Stimme weiter. „Zuerst Melina und nun Ausonia! Sie handelten im Auftrag der Vesta, als sie die Bürger Pompejis warnten. Ich bin jetzt ihre letzte Dienerin und werde mich ebenso dieser Aufgabe stellen.“ Mit zunehmender Heftigkeit in ihren Worten bewegte sie sich einen Schritt auf Silvan zu. Sie hatte nicht vor ihm ihre Unsicherheit zu zeigen. Möglichst undurchdringlich sah sie ihm in die Augen. „Auch wenn mir der Magistrat nach dem Leben trachtet.“
„Du siehst mich an, als würde ich Dir hier und jetzt den Garaus machen wollen.“ Er sagte es ironisch, aber doch ungemein höflich. „Ich bin zu deinem Schutz hier – bitte vertraue mir.“
Gratia zuckte fatalistisch mit den Schultern. Die Geste brachte ihre Zweifel an seinen Worten durchaus deutlich zum Ausdruck.
„Es will mir scheinen etwas anderes steht mir nicht zur Wahl. Ich bin eine Priesterin, kein Soldat. Jeder, der mir nach dem Leben trachtet, hätte ein leichtes Spiel mit mir.“
Sie senkte den Kopf und schloss einen Moment die Augen, in der Hoffnung, daraufhin wieder etwas klarer denken zu können. Was würden Ausonia und Melina an ihrer Stelle unternehmen?

Nach einer kurzen Pause wandte sie sich zum Aufbruch. „Es wird Zeit. Wir sollten uns auf den Weg zum Tempel machen.“

 

***

 

Silvan beobachtete Gratia dabei, wie sie alles für die Feuerzeremonie vorbereitete. Sie wirkte konzentriert. Verloren, aber doch gefasst. Einen Moment bewunderte er ihre Stärke. Eine junge Frau, deren Leben nicht mehr wert war als seines. Priesterin hin oder her. Wenn er sie nicht töten würde, wäre das sein eigener Tod.
Er hatte sein halbes Leben darum gekämpft, ein freier römischer Bürger zu werden, und doch fühlte er sich jetzt um nichts besser als zu seinen Zeiten als Gladiator. Hörte das nie auf, diese Unzufriedenheit mit jedem neuen Tag, der begann? Töten, nur um nicht selbst getötet zu werden?

„Kann ich dir helfen?“ Noch während er die Worte aussprach, ahnte er ihre Antwort.

„Ich muss mich auf die Zeremonie vorbereiten. Ich möchte, dass du mich dabei alleine lässt.“
Gratia hatte genug Holz in die Kupferpyramide geschichtet. Was immer die Priesterin jetzt noch zu tun hatte, es war wohl nicht für seine Augen und Ohren bestimmt. Sie würde in Kontakt mit dem von ihr behüteten Heiligtum treten. Welches Instrument auch immer sie dafür benutzte, es war Teil seines Befehles es dem Magistrat zu beschaffen. Dieser erhoffte sich dadurch einen weiteren Zuwachs an Macht. Zuerst aber sollte er die letzte, der, dem Magistrat lästig gewordenen, Priesterinnen, beseitigen. Er wusste es nicht mit Sicherheit, aber seine Ahnung sagte ihm, dass die Tode der beiden Oberpriesterinnen ebenso befohlen waren.
Silvan trat aus dem inneren Tempel in die offene Säulenhalle und schritt die kurze Freitreppe hinab in den Hof, wo sich die ersten Menschen einfanden.
Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Sobald die Dunkelheit komplett hereingebrochen war, war es Zeit für das Ritual. Ein paar geschäftstüchtige Händler boten kleine Rindenstücke zum Verkauf an. Die Besucher der Zeremonie kerbten darin ihre Bitten und Wünsche ein, um sie danach dem Feuer zu übergeben. Einige Bekannte nickten ihm grüßend zu. Er war schon lange nicht hier gewesen, aber als er noch ein Junge war, hatte er die Zeremonien geliebt. Das Feuer übte seit jeher eine große Faszination auf die Menschen aus, er war da keine Ausnahme. So vieles hatte sich seither geändert, doch jetzt erkannte er wieder einige der alten Gesichter, die sich schon damals still und in sich gekehrt innerlich auf das Ritual vorbereitet hatten. Mit geschlossenen Augen saßen mehrere von ihnen an den Sockel des Tempels gelehnt und versuchten sich trotz der aufkommenden allgemeinen Hektik zu besinnen.

Ein Gong ertönte aus dem Tempel. Es war die Einladung an alle Besucher, ihn jetzt zu betreten. Silvan erkannte in der Menge einen der beiden Quästoren Pompejis. Unauffällig reihte er sich so ein, dass er direkt hinter diesem die Vortreppe des Tempels bestieg.
„Ave Diomedes. Gladiatoren kannst Du keine suchen, jetzt wo der Kaiser die Spiele im Zirkus verboten hat. Was machst Du hier?“
Der von hinten Angesprochene verhielt seinen Schritt und ließ sein kahles Haupt in den Nacken sinken. Dann drehte er sich langsam zu Silvan um.
„Der heilige Zweck heiligt unheilige Mittel, hast Du das noch immer nicht erkannt?“, raunte ihm das Magistratsmitglied verschwörerisch zu.
„Deshalb wurde doch ich bereits gesandt, oder kümmert sich der Magistrat jetzt selbst um diese Angelegenheit?“
„Ich bin nur hier um diese, Angelegenheit, nicht eskalieren zu lassen. Alles soll nach Plan ablaufen. Wir wollen doch keine Märtyrer schaffen. Nicht wahr?“
„Das habe ich schon verstanden. Dann wünsche ich Dir viel Glück für die Erfüllung Deiner Bitte an die Feuergöttin.“ Mit diesen sarkastisch gezischten Worten brachte Silvan wieder mehr Abstand zwischen sich und dem hochrangigen Politiker. Wie er diesen Menschen hasste!

Die Teilnehmer der Zeremonie bildeten einen Halbkreis um die Feuerstelle. Gratia war währenddessen damit beschäftigt den Raum mit Weihrauch und Kräutern auszuräuchern. Schließlich schritt sie den gebildeten Halbkreis von außen ab und versiegelte damit die Gemeinschaft der Anwesenden. Sie streute die Reste der Kräuter auf das aufgeschichtete Holz und entzündete mit der Kerze das Feuer, das wie durch Zauberei sofort lebhaft aufloderte. Die Priesterin sprach währenddessen die rituellen Worte, mit denen sie die Macht der Sonne beschwor und um ihre Anwesenheit bat. Dabei griff sie mit bloßen Händen in die Flammen, wie um daraus Kraft zu schöpfen. Stießen diese sie zurück, so wäre die Anrufung misslungen. Doch dreimal fasste Gratia mit beiden Händen ins lodernde Feuer und führte sie anschließend an ihren Körper, zum Herzen und an ihre Stirn. Dann bat sie die Feuergeister hinzu. Die Augen aller Anwesenden waren schimmernd auf das Spektakel gerichtet.
Manchmal sprach das Feuer durch Zeichen und Bilder. Die Feuerenergie konnte sehr kraftvoll transformieren. Silvan spürte förmlich, wie der Raum durch die Macht des Feuers zu schwingen begann, sich mit Energie auflud. Alle warteten gebannt, ob sich das Tor durch göttliche Hand öffnen würde. Nicht immer geschah dies. Dann luden die Anwesenden ihre Seele durch die große positive Energie des Feuers auf. Konnten so ihren persönlichen seelischen Abfall verbrennen. Wie das Holz zu Asche wird, kannst Du auf dem dadurch verbrannten Boden wieder Platz für Neues schaffen. Als Kind hatte er den Sinn dieser Wörter noch nicht verstanden. Jetzt geisterten sie plötzlich in seinem Kopf herum und stimmten ihn nachdenklich.
Silvan war nicht überrascht, wie schnell sich die Flammen in heiliges Feuer verwandelten. Ganz Pompeji sprach von nichts anderem mehr als von diesen Zeichen. Sie nun hautnah selbst zu erleben, jagte ihm trotz der Hitze im Raum einen kalten Schauer über den Rücken. Die Bilder waren klar und unmissverständlich. Mächtige Tempelsäulen stürzten wie von Geisterhand um. Stadthäuser fielen, Menschen unter sich begrabend, in sich zusammen. Die Tribüne der Arena riss das Publikum mit sich. Tod und Zerstörung, wohin man auch blickte. Die im Tempel Anwesenden wurden immer unruhiger, keuchten bei einigen Bildern erschrocken auf. Manche schluchzten leise, wenn sie meinten, ein ihnen bekanntes Gesicht in den Projektionen zu erkennen. Ein Funkenregen stieg von der Feuerstelle auf und schien die Stadt mit Bränden zu übersähen.
„Die Götter wollen den Menschen helfen ihre Unreife zu überwinden und aufzuwachen. Diese Welt ist für die Menschen zu dem Zweck entworfen worden, Moral zu lernen. Entscheidungen über Gut und Böse zu treffen um so zu reifen.“ Gratias Stimme hatte alle Anwesenden in ihren Bann gezogen. Allmählich verblassten die Bilder. Die Priesterin gab den Teilnehmern ein Zeichen und forderte sie damit auf, ihre Bitten und Gebete den Flammen zu übergeben. Sie trat dazu an das Feuer und verneigte sich mit geschlossenen Händen davor. Der Reihe nach traten alle Teilnehmer heran und taten es ihr nach. Schließlich löschte Gratia mit einem Krug Wasser die Flammen. Der beißende Rauch wies die Menschen unter Zischen und Funkenregen auf das Ende der Zeremonie hin.
Bereits im Verlassen des inneren Tempels zeigte sich, welche Wirkung die göttlichen Bilder bei den Besuchern hinterlassen hatten. Einige stürmten regelrecht davon, um ihre Ängste in der ganzen Stadt zu verbreiten. Andere unterhielten sich aufgeregt miteinander und deuteten die Zeichen auf ihre Art und Weise. Am Ende waren nur noch Silvan und Gratia im Tempel.
„Das wird dem Magistrat nicht gefallen!“ Silvan hatte das Bedürfnis über die Bilder und Gratias Worte zu sprechen.
Gratia tupfte sich mit einem Zipfel ihres Ärmels die Augenwinkel.
„Der Rauch ..“ murmelte sie, als sie Silvans forschenden Blick bemerkte.
Wollte sie ihm etwas vormachen? Sie hatte Angst, nur ein Idiot hätte nach dem soeben Erlebten keine. Er hielt ihren Blick mit seinem gefangen, ohne zu wissen, was er sich davon erwartete. Eine Flut an Gefühlen strömte auf ihn ein. Furcht, Fragen, Zweifel, Wut. Fast schien es, ihre Augen spiegelten seine eigenen Empfindungen wider. Dann war der Bann gebrochen, beinahe gleichzeitig wischten sie, was gerade zwischen ihnen gestanden hatte, mit einem verzweifelten Lächeln beiseite.
„Erkläre es mir!“, forderte Silvan.
„Du verkennst meine Rolle. Ich bin nur ein Werkzeug in der Hand der Göttin. Genauso gut könntest du eine Schere fragen, warum sie einen Faden entzweischneidet.“
Ihre Antwort kostete ihn ein verächtliches Schnauben. „Verdammt Frau! Im Moment bin ich die Schere und dein Leben hängt an diesem Faden.
Also gut. Fangen wir damit an: Wie konntest Du diese Bilder zum Leben erwecken?“
Gratia biss nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. Nach einigem Schweigen trat sie an die Feuerstelle und fasste, indem sie Ihre Hand mit einem Stück Stoff Ihres Gewandes schützte, in die Reste der Glut. Als sie diese wieder daraus hervorzog, hielt sie Silvan auf ihrer Handfläche ein münzgroßes Medaillon entgegen.
„Du kannst es anfassen. Es ist warm, aber nicht heiß.“
Vorsichtig griff er nach dem vermeintlichen Schmuckstück. Es war schwerer als gedacht. Die Wärme, die er fühlte, schien direkt aus dem Ding zu strömen. Es war smaragdfarben und Silvan hatte den Eindruck, als wäre ein Muster in die Struktur des Steins geprägt. Eingefasst wurde es durch ein Metall, wie er es zuvor noch nie gesehen hatte.
„Was für ein Stein ist das?“
„Es ist kein Stein. Die Götter sagen dazu ultimus Materia. Wirf es in die Luft!“
Silvan musterte das Ding in seiner Hand noch immer staunend. Schließlich folgte er Gratias Aufforderung.
„Es ist der Grundstoff, aus dem alle Dinge dieser Welt bestehen.“ Gratia war an seine Seite getreten. Gemeinsam beobachteten sie, wie der mysteriöse Gegenstand im Herabfallen unvermutet auf Augenhöhe abbremste und nun direkt vor ihren Gesichtern schwebte. Silvan hob verblüfft die Brauen und suchte ihren Blick.
„Erzähle weiter!“
„Was soll ich Dir erklären? Das geistige Licht der himmlischen Göttin? Das Licht vor und nach dem Licht aller Sonnen?“ Gratia schüttelte neben ihm verständnislos den Kopf. „Als ob ich selbst irgendetwas davon begreifen könnte.“

Plötzlich meinte Silvan, ein ungewöhnliches Geräusch vernommen zu haben. Lautlos legte er den Zeigefinger an seine Lippen. Mit der anderen Hand fischte er den noch immer schwebenden Stein aus der Luft. Schnell überflog sein Blick den Raum. Weit und breit war kein Versteck auszumachen. Das Licht der wenigen Fackeln erleuchtete das Innere des Tempels nur spärlich. Er zog Gratia hinter eine der dorischen Säulen. In deren Schatten würde man sie vom Eingang aus nicht sofort erkennen. Reglos lauschten sie in die Dunkelheit. Schritte näherten sich und verstummten.
„Hier ist keiner mehr. Lucius, du Dummkopf! Sicher gibt es einen zweiten Ausgang. Bleib draußen und pass auf!“
Die Schritte näherten sich ihrem Versteck. Silvan presste Gratia eng an sich und umrundete vorsichtig mit ihr die Säule, immer darauf bedacht sich nicht zu verraten. Ihr heftiges Herzklopfen verriet ihm ihre Furcht. Der Eindringling durchquerte den Raum einige Male, kam ihnen dabei immer näher. Silvan, auf eine Entdeckung gefasst, spannte seinen Körper und machte sich bereit zum Kampf. Beide hielten sie ihren Atem an, jedes verdächtige Geräusch vermeidend. Das spärliche Fackellicht würde sie nicht verraten. Endlich, stieß der Mann, der sie hier so eindringlich suchte, eine deftige Verwünschung aus und verließ den Tempel wieder.
Reglos und flach atmend harrten sie noch einige Momente, in die Nacht hineinlauschend, aus. Silvan knackte mit den Fingerknochen und lockerte seine Muskeln. Die langjährige Kampferfahrung kam ihm dabei zugute. Immer wieder öffnete und schloss er die Finger zu einer Faust, wippte auf den Zehen und bewegte die Schultern. Eine Zeitlang beobachtete Gratia sein Tun. Schließlich hob sie in einer stummen Frage die Augenbrauen.
„Das war Diomedes“, raunte Silvan ihr zu, „seine Anwesenheit bei der Zeremonie kam mir gleich verdächtig vor. Er ist kein Mensch der gerne teilt, wenn es nicht sein muss. Als Gegner dürfen wir ihn nicht unterschätzen. Vor Jahren war er mein härtester Lehrmeister. Es gibt nicht zufällig wirklich einen zweiten Ausgang?“, griff er die vorhin geäußerte Vermutung ihres Verfolgers auf.
Gratia schüttelte stumm den Kopf. Ihre Mundwinkel zogen bedauernd nach außen.
„Warte hier!“ Silvan schlich leise in Richtung Ausgang. Er trug seine Waffe, das Fascis, auf dem Rücken. Ein kurzes Schwert war zudem am Hüftgurt befestigt. Er überlegte kurz, eine der beiden Waffen zu ziehen, entschied sich aber dann dagegen. Wenn ihm Diomedes oder einer seiner Schergen vor dem Tempel auflauern sollte, wollte er die Arme frei haben, um angemessen auf einen etwaigen Angriff reagieren zu können. Lautlos und vorsichtig spähte er in den offenen Vorraum des Tempels. Seine Augen hatten sich der Dunkelheit angepasst. Er nahm vom Sternenlicht verursachte Umrisse aus. Außer dem Zirpen der Grillen vermochte er keine Geräusche wahrzunehmen. Offensichtlich hatten sie Diomedes erfolgreich ihr Verschwinden vorgetäuscht. Der Rückweg zur Villa der Vestalinnen kam somit nicht mehr in Frage. Sicher würde er ihnen dort auflauern.

 

***

 

Gratia sah wie der Liktor aus der Cella, dem Tempelhaus, verschwand. Gleichzeitig begann ihr Körper unkontrolliert zu zittern. Dieser soeben erlebte Vorfall bestärkte sie in ihren bisher nur hintergründig vermuteten Befürchtungen. Sie war ihres Lebens nicht mehr sicher. Silvans Rolle in diesem Spiel konnte sie nicht einschätzen. Gerade noch hatte sie sich an seiner Seite beschützt gefühlt. Da war eine Verbindung zwischen ihnen gewesen. Oder hatte ihr die ungewohnte körperliche Nähe eines anderen Menschen dieses Gefühl nur vorgegaukelt? War es ein Fehler, dass sie ihm das Heiligtum gezeigt hatte? Bestürzt wurde ihr bewusst, dass er es noch immer bei sich trug. Das Geräusch der Stille schien sich mit einem Mal zu verdichten, das leise Knacken der Fackeln an den Wänden sich zu vertausendfältigen. Er hatte, was er wollte, er würde nicht mehr zurückkommen! Wie einem Häufchen Elend knickten ihr die Beine unter dem Körper weg und Tränen flossen unaufhörlich über ihre Wangen.

So fand Silvan sie am Boden kauernd vor, als er wenige Minuten später zurückkehrte.
„Du bist zurückgekommen?“ Verständnislos nahm Gratia ihn verschwommen wahr.
„Für einen Dieb hältst Du mich also auch? Zuerst für einen Mörder und jetzt das.“ Silvan griff in seinen am Gürtel befestigten Beutel und streckte ihr das Medaillon entgegen. Erleichtert nahm Gratia es wieder an sich, drückte es einen stillen Moment an ihre Brust. Dann stand sie mit Silvans Hilfe auf.
„Ich kann es Dir nicht verdenken“, er schnaubte verächtlich. „Aber, nicht immer gilt: Der Magistrat hat gesprochen, der Fall wird erledigt! Nicht mehr! Für mich nie mehr. Ich bin von jetzt an auf Deiner Seite. Ja, es stimmt. Mein Auftrag war, das Heiligtum zu beschaffen und Dich unschädlich zu machen. Wenn es eine Hölle gibt, dann steht über dem Eingang „Hier regiert der Magistrat Pompejis“. Was sage ich? Pompeji – Rom. Die Hölle ist bereits allgegenwärtig, im gesamten Imperium herrscht Korruption, Machthunger, Niedertracht.“
„So schlimm steht es?“ Gratia hatte Silvans Worten bestürzt gelauscht.
„Nein, keine Sorge – es ist noch viel schlimmer! Wenn sich das Übel beschleunigt, steht die Endzeit bevor. Das ist es doch, was uns das Heiligtum sagen wollte, oder?“
„Es sagt hier in Pompeji ist es nicht mehr sicher.“
„Warum sorgen die Götter dann nicht dafür, es wieder sicher zu machen?“
„Sie glauben an das Prinzip der Nichteinmischung.“
„Ist das vielleicht Nichteinmischung? Eine ganze Stadt in Panik zu versetzen, mit diesen Bildern?“
„Es ist ihre persönliche Freiheit uns ihre Sicht der Dinge mitzuteilen, aber es ist unser freier Wille, wie wir damit umgehen“, antwortete Gratia geduldig.
„Mir scheint eher, die Götter haben das Wohl der Menschen nicht vorgesehen. Ich habe gehört, dass auch die Säule der Isis merkwürdige Orakel ausgesprochen hat. Wir sollten auch die Isispriester warnen. Bestimmt wird der Magistrat auch deren Weissagungen nicht dulden.“
Gratia zog mit zittrigen Fingern ihren Umhang über den Schultern zusammen.
„Pompejis Isispriester sind allesamt betagte Männer!
Glaubst Du jemand kann diesen frommen, immer barfuß gehenden Menschen ein Leid zufügen? Sie predigen Gewaltlosigkeit, nicht einmal Fleisch essen sie deshalb.“
„Ich fürchte, solange sie nicht davor zurückschrecken, Priesterinnen umzubringen, hält sie das auch nicht davon ab, den Dienern der Isis etwas anzutun.“
„Beim Zeus! Lass uns keine Zeit verlieren“, drängte sie ihn.

Der Vesta-Tempel lag am Westrand des Tempelbezirkes. Um zum Tempel der Isis zu gelangen, mussten sie das große Theater umrunden.
Silvan überprüfte, bevor sie die Cella verließen, noch einmal, ob die Luft rein war. Er bedeutete Gratia zu schweigen. Dann kletterten sie lautlos, die Schatten des Tempels nutzend, die hohen Steinquader hinab. Die Stufen erschienen Silvan zu unsicher, wurden sie doch vom Mondschein hell beleuchtet. Im Schutze der Bäume und Sträucher, die das dreieckige Forum hinter dem Vesta-Tempel säumten, schlichen sie in Richtung der Samnitischen Palästra. Dahinter befand sich auf der Rückseite des großen Theaters liegend der Tempel der Isis. Sie liefen entlang der mächtigen Theatermauer. Abrupt blieb Silvan stehen, Gratia fest am Handgelenk gepackt.
„Was?“, flüsterte sie keuchend.
„Etwas stimmt hier nicht“ wisperte Silvan zurück und lauschte in die Nacht.
Hinter den Palästra leuchtete es hell. Gratia schnupperte und stieß hervor: „Feuer! Es riecht nach Feuer!“ Schon wollte sie weiterlaufen.
„Warte hier! Ich sehe nach.“
Trotz der Dunkelheit sah er ihren ängstlichen Blick und ihr trotziges Kopfschütteln.
„Dann bleibe wenigstens hinter mir!“, wies er sie an.
Sie näherten sich dem Tempel. Der beißende Rauch war nun bereits deutlich wahrzunehmen. Je näher sie kamen, behinderte er auch ihre Sicht.
„Wir kommen zu spät.“ Silvan blieb erneut stehen. Man hörte schon eindeutige Kampfgeräusche und markerschütternde Schreie.
„Nein!“ Fassungslos rüttelte Gratia an ihm um ihn zum Weiterlaufen zu bewegen.
Silvan zog seine Waffe. „Du wirst hier warten. Hast Du verstanden?“
Sie fasste mit ihren Händen an ihren Hals, nickte aber zustimmend. „Mögen die Götter Dir beistehen!“
„Wie war das mit dem Prinzip der Nichteinmischung?“, knurrte er, dann lief er auf den Tempel zu.

 

***

 

Silvan lief in gedeckter Haltung in die Richtung, die ihm die Kampfgeräusche wiesen. Er roch regelrecht die Gefahr. Die Wolle und das Leder verschwitzter Soldatenuniformen. Er hörte das unheilvolle Knirschen ihrer genagelten Schuhe auf den Steinstufen und sah darin seine Befürchtungen bestätigt. Legionäre - die nicht einmal vor Gräueltaten an alten Priestern zurückschreckten, verhießen nichts Gutes. Das Fascis in der Linken und den Knauf seines Kurzschwertes in der rechten Hand, versuchte er, sich einen Überblick zu verschaffen.
Er sah einen brennenden, wild um sich schlagenden Soldaten der sich am Fuße der Podiumstreppe im Staub wälzte um so die Flammen, die seine Kleider erfasst hatten, zu löschen. Einige junge Männer, wahrscheinlich Diener der Isis-Priester, kämpften oben in der weiten Vorhalle mit einer Übermacht an Uniformierten. Sie schwangen mutig Fackeln in beiden Händen und versuchten so ein Vordringen der Soldaten zu verhindern. Andere hatten sich mit Feuerhaken und Eisenstangen bewaffnet. Gegen eine Horde gut ausgebildeter Männer war dieser Versuch in den nächsten Minuten zum Scheitern verurteilt. Mehr als die Hälfte aller Steuereinnahmen gab Rom dafür aus, ihre Legionäre in Topform zu halten und die Militärmaschinerie zu drillen. Funktionierte der Nachschub an täglichen Essensrationen und Besoldung nicht, verhielten sich römische Soldaten wie wilde Tiere und nahmen jeden noch so zwielichtigen Söldnerauftrag an.
Erleichtert stellte Silvan fest, dass zumindest kein Helmbusch eines Zenturios zu sehen war. Ohne einen Befehlshaber fehlte wenigstens das gefürchtete geordnete Vorgehen und die Legionäre waren nichts anderes als Wölfe auf Beutezug.
Silvan griff die ersten Soldaten von hinten an. Eine kurze Bewegung mit dem Fascis genügte und die Männer wurden von seiner machtvollen Waffe gefällt. Zwei Stufen gleichzeitig nehmend stürmte er die Treppe zum Tempel hinauf. Die Verteidiger der Priester wichen angstvoll vor ihm und seiner unheimlichen Waffe zurück. Sie hatten noch nicht begriffen, dass er auf ihrer Seite kämpfte.
Ein in Flammen stehender Vorhang fiel wenige Meter vor ihm zu Boden. Das leichte Material wurde von einem Windstoß erfasst und brennende Stofffetzen schwebten unkontrolliert in der Luft.
„Wo sind die Priester?“, schrie er einen der Diener an.
Eine scharfkantige Klinge zerschnitt die Luft an der Stelle, an der er gerade noch gestanden hatte. Einer der Soldaten hatte sich unbemerkt genähert und Silvan war nur instinktiv rechtzeitig ausgewichen. Schon näherte sich die Klinge ein weiteres Mal. Er parierte den Hieb mit seinem Kurzschwert und riss gleichzeitig dem Gegner mit Hilfe der Axt am Fascis die Waffe aus den Händen. Mit einem gezielten Fußtritt beförderte er den Angreifer zum Fuße der Treppe hinab, wohin dieser gleich mehrere nachstürmende Männer mitriss.
Aus den Augenwinkeln nahm er eine dunkle Gestalt wahr, die sich von der anderen Seite der Treppe einen Weg nach oben gebahnt hatte. Wie ein Sarazene kämpfte der Mann mit drei Soldaten gleichzeitig. Hob er die Arme mit seinem Langschwert über den Kopf, konnte nichts dem folgenden Hieb standhalten. Zugleich entging er durch flinke Bewegungen den tödlichen Stößen ihrer zweischneidigen Kurzschwerter.
Silvan betäubte weitere herannahende Soldaten mit dem Fascis, ohne sie dabei zu töten. Es war eine mächtige Waffe. Von den Göttern erschaffen, um Kaiser und Heiligtümer zu schützen. Sie brachte in Sekunden den Tod, oder betäubte Menschen für einige Zeit, je nachdem wie man diese Waffe handhabte. Bei richtiger Anwendung prallten Angreifer wie an einer unsichtbaren Barriere ab, oder es drängte sie zurück, wie ein mit Nägeln gespicktes Schild. Niemals zuvor hatte Silvan sie in einem reellen Kampf benutzt, nur zu Übungszwecken kämpften die Liktoren untereinander um ihre Handhabung zu verinnerlichen. Niemand käme auf die Idee, einen von ihnen anzugreifen!
Er näherte sich dem schwarz gekleideten Kämpfer. Er kannte diesen Mann, einen Augur. Er hatte ihn in letzter Zeit öfters am Comitium, der offenen Aula für Versammlungen des Volkes, am Forum, gesehen. Auguren waren respekteinflößende Erscheinungen, dass sie auch gute Kämpfer sind, hatte Silvan bisher nicht gewusst. Es erklärte warum manche Senatoren ein Zusammentreffen mit einem Auguren für gewöhnlich vermieden. Man sah in ihnen das Auge der Götter.
„Wo sind die Priester?“, wandte er sich ein weiteres Mal an den jungen Mann, der sich inzwischen in einer Seitennische hinter der Statue des Anubis verkrochen hatte.
„Sie haben sich ins Purgatorium, dem hinteren Altarraum, zurückgezogen“, teilte der verängstigte Junge mit.
„Ist dieser Raum versperrbar?“, erkundigte Silvan sich weiter.
„Ja, es ist der einzige Raum mit einer massiven Verriegelung.“
„Ein, oder zwei Tore?“
„Der Raum hat einen zweiten Zugang an der Rückseite!“

Silvan dachte kurz nach. Etwa die Hälfte der Angreifer war unschädlich gemacht. Lange konnten sie die Soldaten, die in der Überzahl waren, nicht mehr abwehren. Auch seine Waffe war nicht unbegrenzt lang einsatzfähig.
„Du musst die Priester von hier wegbringen! Wir können den Tempel nicht mehr lange verteidigen. Die Soldaten können wir nur noch kurz in Schach halten. Diese Zeit müsst Ihr nutzen! Die Priester sind hier nicht mehr sicher. Legt notfalls noch mehr Feuer und flieht, den Schutz des Rauches nutzend, über die Tempelseite. Sofort!“
Der Junge rannte, so schnell er konnte, um seinen Befehl auszuführen.
Wieder puffte das Feuer eines herabfallenden Vorhanges auf. Silvans Fascis vibrierte in seiner Hand. Ein erstes Zeichen, das es überlastet war. Auch die Schlagkraft des Auguren ließ nach. Schweißgebadet hielt er aber dem Ansturm noch stand. Durch die dichten Rauchwolken zeichneten sich die Schatten der fliehenden Priester ab. Die Soldaten durften diese nicht bemerken. Mit vereinten Kräften wüteten Silvan und der Augur, um von deren Flucht abzulenken. Sie kämpften nun Rücken an Rücken.
„Ich locke sie ins Purgatorium, Du verriegelst das Tor hinter uns!“, besprach Silvan sich keuchend in einem kurzen, heimlichen Moment mit dem Schwarzgekleideten.
Durch die Hölle aus brennenden Überresten und umgestoßenen Bänken, ließ Silvan sich absichtlich weiter ins Tempelinnere zurückdrängen. Sie mussten den Soldaten eine Falle stellen, sonst waren sie verloren. Rundum rasten immer mehr Angreifer heran. Er hätte sie töten sollen! Wahrscheinlich war die Betäubung zu schwach gewesen. Nun war es zu spät für Reue. Der Augur parierte unablässig seine Angreifer.
„Sie dürfen nicht ins Purgatorium vordringen!“ rief Silvan ihm deutlich hörbar zu.
Sage ihnen, was sie nicht dürfen und du erreichst das Gegenteil! Diese Taktik funktionierte so gut wie immer. Er hoffte, die Soldaten dachten nicht daran, den Tempel von außen einzukesseln. Dann waren sie verloren. Bald würden sie das Tempelinnere erreichen. Gut so. Die Soldaten nahmen eine Kampfformation ein um im Pulk mehr Kampfkraft zu bündeln. Gut so, folgt mir – dachte er.
Sie erreichten das massive Eisentor zum Purgatorium. Silvan stürmte in den Raum, umrundete das Wasserbecken um sich hinter den Altären zu verstecken und die zweite Türe zu suchen. Die Soldaten waren ihm dicht auf den Fersen. Schon vernahm er das dumpfe Geräusch eines zuschlagenden Tores. Von beiden Seiten näherten sich die Angreifer seiner Position. Hektisch suchte er weiter nach dem zweiten Ausgang. Der dichte Rauch erschwerte ihm die Sicht.
„Hierher!“, rief der Augur plötzlich hinter ihm. Er hatte den Zugang von außen gefunden! Silvan stürmte in die Richtung, aus der die Stimme kam. Mit einem Hechtsprung rettete er sich aus dem Raum. Sein Helfer stemmte sich mit vollem Gewicht gegen ein massives Eichentor. Schnell war Silvan wieder auf den Beinen und half ihm den Riegel vorzuschieben.
„Die Priester sind in Sicherheit! Lass uns von hier verschwinden, bevor den Legionären jemand zu Hilfe kommt!“, riet Silvan. Sicher waren noch vereinzelte Soldaten im Tempel, die die Eingeschlossenen bald befreiten. Er rannte voran, nicht den direkten Weg zu Gratias Versteck einschlagend, um etwaige Verfolger abzuschütteln.
Als sie endlich die Stelle an der Theatermauer erreichten, war von der Priesterin keine Spur zu entdecken. In Gedanken malte Silvan sich bereits geeignete möglichst schmerzhafte Arten aus, wie er Gratia umbringen würde, sollte er sie jemals wiedersehen. Was war so schwer zu kapieren gewesen an der Anweisung hier auf ihn zu warten? Leise vor sich her fluchend suchten seine vom Rauch und Schweiß tränenden Augen die Umgebung ab. Als er beinahe die Hoffnung aufgegeben hatte die Vestalin noch hier anzutreffen, löste sich ein schmaler Schatten aus einer der Mauernischen.
„Warum versteckst Du Dich vor mir?“, herrschte er sie unfreundlich an.
„Ich habe Dich nicht gleich erkannt. Wer ist das?“, wies sie mit einer Kopfbewegung auf seinen Kampfgefährten.
„Deine Bitte an die Götter hat funktioniert, den hier haben sie mir zur Unterstützung geschickt!“ Er fasste sie unsanft am Arm und drängte sie so, ihm zu folgen.
„Wohin willst Du jetzt? Das ist nicht der Weg zur Villa.“
„Frau, vergiss die Villa. Vergiss am besten gleich wer Du bist.“ Er blickte sich um, nur um festzustellen, dass der Augur ihnen folgte. Aus Gratias Richtung konnte er regelrecht unsichtbare Giftpfeile spüren. Er war wohl gerade ein wenig heftig gewesen. Erklärend versuchte er zu beschwichtigen:
„Ein Kampf pro Tag reicht mir. Vor der Villa der Vestalinnen warten sicher noch mehr wild gewordene Legionäre auf uns.“

Die belebte Via del Tempio d´Iside nahmen sie besser nicht. Man würde am ehesten dort nach ihnen suchen. Es gab nur einen Ort, der im Moment Sicherheit versprach.
„Wir gehen zu meiner Schwester“, sagte Silvan bestimmt. „Solange bis wir die Stadt verlassen.“
„Pompeji verlassen? Was redest Du da?“ Eine spürbare Spannung lag in Gratias Worten.
„Ist es nicht der Wille der Götter die Stadt zu verlassen? Ich habe die Warnung jedenfalls so verstanden.“
Sie waren an der Ecke eines Häuserblocks angekommen. Die mit Leuchtfarbe bestrichenen Gehsteigkanten schimmerten unübersehbar hell im Mondlicht. Zuvorkommend half er Gratia den hohen Absatz hinauf.
„Es herrscht Unruhe, die Menschen fürchten sich. Der Stadt wurde das Todesurteil ausgesprochen. Wie kannst Du nur daran denken ich würde sie gerade jetzt im Stich lassen?“
„Also, Du willst dich lieber deinem Schicksal unterwerfen? Damit ist niemandem gedient! Diese Menschen, dieses verdorbene Pack, verdienen es nicht, dass du dein Leben für sie riskierst.“
„Kann ich vielleicht vermitteln in eurem kleinen Zwist?“ Der Augur hatte sich ihnen unbemerkt genähert. Seine Stimme troff vor feiner Ironie. „Denn wenn wir nicht bald von hier verschwinden, erübrigt sich diese Diskussion von selbst.“
Gratias Körper spannte sich bei diesen Worten. Bevor er Zeit fand, sich über die Reaktion der Priesterin zu wundern, bemerkte auch er die kleine Gruppe Soldaten, denen sie fast in die Arme gelaufen wären. Schnell bugsierte er Gratia in eine andere Richtung. Die Straße, für die er sich entschieden hatte, war bei Nachtschwärmern wegen ihrer zahlreichen Tavernen beliebt. Hier würden sie noch am wenigsten Aufmerksamkeit erregen. Trotzdem drückten sie sich in einen Hauseingang und beobachteten, wohin die Gruppe Soldaten sich wandte. Nachdem die Straße wieder frei war, eilten sie raschen Schrittes in jene Gasse, von der man über eine Hintertüre ins Domus Menandri, dem Haushalt des Patrones seiner Schwester, gelangte.
„Wir reden später weiter“, ließ er Gratia wissen, dass die zuvor geführte Diskussion für ihn noch lange nicht geklärt war.
Mit dem Fuß klopfte er an: einmal lang, zweimal kurz, einmal lang.
Kurz darauf hörten sie, wie jemand von innen einen Riegel hochhob. Das kleine Holztor öffnete sich. Es war der Eingang der Diener. Silvan war hier bekannt, er war in diesem Hause aufgewachsen, genau wie seine Schwester. Kurz erklärte er dem alten Sklaven, der ihnen geöffnet hatte, eine vereinfachte Version ihrer Flucht. Dann wurden sie ins Haus gewunken.
Gratia stieß ihn in die Seite und flüsterte ungläubig: „Du willst ihn mitnehmen?“
Ein kurzes Nicken in die Richtung, in der ihr dunkler Begleiter wartete, unterstrich ihre Frage.
„Natürlich, wir können sehen, ob er uns helfen kann.“
„Ich will seine Hilfe nicht. Sie würde mich sogar noch mehr aufregen!“
Asellina, seine Schwester, kam in diesem Moment an die Türe.
„Silvan, du hast es schon gehört?“ Asellinas Augen waren rot, ihr Gesicht wirkte verquollen.
„Schwester! Was ist geschehen?“ Er schob die Vestalin vor sich in den Hausflur.
„Das ist Gratia.“ Asellina nickte, sie hatte die Priesterin bereits erkannt.
„Kommt herein.“ Mit einer einladenden Geste bat sie auch den Auguren ins Haus.
Sie verriegelte das Tor und ging an ihnen vorbei in Richtung des Atriums. Schweigend folgten ihr die drei.
Unzählige Kerzenflammen tauchten den Raum in ein sanft bewegtes Flackern.
Durch die Öffnung im Dach leuchtete das Mondlicht direkt vom Himmel auf das Antlitz des Patrons. Eine Münze klemmte zwischen seinen Lippen. Man hatte seinen Leichnam im Zentrum des Atriums aufgebahrt.

 

 

 

2. Der Jäger

„Wer Tag für Tag die Wohlgerüche des Waldes einatmet,
der sollte groß und aufrecht, rein und gut werden.“
(Alte keltische Dichtung)

 

Hemans ganze Aufmerksamkeit war auf das Wild vor ihm gerichtet. Er verfolgte den Hirsch seit einigen Tagen und genoss die Jagd nach wie vor. Es war ein prachtvolles Wesen, alleine es zu beobachten war für Heman eine Freude. Leichtfüßig setzte er dem Tier nach, sprang über quer im Weg liegende Bäume hinweg, oder schwang mit Hilfe von in greifweite hängenden Ästen über Hindernisse. Es war eine sternenklare Nacht. Vereinzelt zogen durchscheinende Wolken am fast vollen Mond vorüber und zauberten ein immer wechselndes Muster in den Himmel.
Jetzt nach der Schneeschmelze streifte das Wild sein Geweih ab, weil es nun nicht mehr zum Freilegen des unter der Schneedecke liegenden Grünfutters benötigt wurde. Der imposante Zehnender vor ihm, würde es, wenn er Glück hatte, noch diese Nacht abfegen. Auf einer Seite hatte es sich an den Rosen schon leicht abgelöst.
Der Hirsch lauschte in die Nacht. An seinen menschlichen Verfolger schien er sich nicht zu stören. Heman würde aus dem Horn Speerspitzen, Angelhaken, Nadeln und Ziergegenstände schnitzen. Der Abfall eignete sich geraspelt zur Herstellung von Hirschhornsalz. In Gedanken war er wohl schon zu sehr bei der Verarbeitung seiner Beute. Beinahe hätte er übersehen wohin sich das edle Tier gewandt hatte. Schnell nahm er wieder die Verfolgung auf.
Am Rande einer Böschung entlang laufend, gab plötzlich der Boden unter ihm nach. Heman stürzte einige Mann tief einen steilen Hang hinunter. Hart schlug er auf einem Felsen auf. Noch das Geräusch des brechenden Knochens im Ohr, fühlte er schnell, wie warmes Blut aus seinem Bein floss.
Sein gellender, zorniger Schrei hallte durch den Wald. Wie das Horn eines Geweihs ragte der kaputte Knochen ein Stück aus der Haut heraus. Bei diesem Anblick schrie er noch einmal laut seinen Unmut hinaus, die Spur des Hirsches konnte er jedenfalls vergessen und damit die begehrte Tauschware.
Er stöhnte, als er versuchte, seinen verdrehten Körper zu bewegen. Vorsichtig stellte er fest, dass er keine weiteren Verletzungen davongetragen hatte.
Bis auf einige Abschürfungen schien sonst alles in Ordnung zu sein. Sogar sein neuer Bogen hatte den Absturz heil überstanden.
Er löste das feste Lederband, das ihm als Armschutz bei der Jagd diente, ab. Fest schnürte er damit die stark blutende Wunde ab. Danach häufte er das Laub in seiner Reichweite über sich und versuchte ein wenig zu schlafen. Das ganze Ausmaß der Verletzung konnte er erst bei Tageslicht in Augenschein nehmen und weiterversorgen. Kurz schlichen sich Bedenken ein, wie er sich aus dieser misslichen Lage mitten im unwegsamen Waldgebiet befreien sollte. Eine fast beruhigende Müdigkeit bemächtigte sich seiner Sinne. Er würde am Morgen die Lage überdenken, sein Körper forderte im Moment nach Ruhe. Fast unmittelbar fiel er in einen tiefen Schlaf.

Der Lärm der Vögel weckte Heman bei Tagesanbruch. Es war kalt geworden. Eine dünne Schicht Schnee, bedeckte sein Laublager. Von Kälte und Schmerz malträtiert zitterte sein Körper. Mit der Helligkeit einher kamen die ersten Zweifel. Sein Bein war angeschwollen und blau. Wäre er ein Tier, das er so im Wald gefunden hätte, würde er es von dessen Elend befreien.
Er schätzte seine Lage als ziemlich hoffnungslos ein. Auf einem Bein oder robbend würde er es nicht in besiedeltes Gebiet schaffen. Abgesehen davon, wusste er selbst nicht einmal genau, wo er war, aber dass ihn hier jemand finden könnte, hielt er für eher unwahrscheinlich. Geschweige denn man würde überhaupt nach ihm suchen. Seine Schwester erwartete er frühestens in ein paar Tagen. Vorher vermisste ihn niemand. Er hatte ihr versprechen müssen, sich regelmäßig bei ihr zu melden.
Von der Sippe hatte er sich schon vor einigen Jahren losgesagt. Seine Freiheit war ihm wichtiger gewesen. Das engstirnige Wesen der Dorfältesten hatte ihn geärgert. Sie hatten seinen Platz in der Dorfgemeinschaft schon fix geplant gehabt, über jede Stunde, die er die Sippe verließ, musste er ihnen Rechenschaft ablegen. Ein Zusammenleben unter diesen Umständen hätte er nicht ausgehalten. Ordnung, Stabilität, Tradition, das war nicht sein Weg.
Sein Weg? Gab es ihn überhaupt noch, oder war er angekommen. Er bereute nichts. Wenn es aus war, war es aus. Kein Bedauern.
Ein wenig würde er bedauern seine Schwester zurückzulassen. Der einzige Mensch, der ihm etwas bedeutete. Doch die Sippe kümmerte sich schon um sie. Tränen stiegen ihm bei diesem Gedanken in die Augen. Er erinnerte sich nicht daran, wann dies das letzte Mal passiert war.
Dann verfiel er endgültig der Reflexion. Schade um den Sommer, der kommen würde. Den er oft im Winter herbeigesehnt hatte. Die wärmende Sonne, die er vielleicht nie wieder zu spüren bekam. Er bedauerte, den neuen Bogen nicht mehr benutzt zu haben. Viele Stunden hatte er an seiner Herstellung verbracht. Vergebliche Mühe? Je länger er den Gedanken nachhing, umso mehr Gründe fielen ihm ein, warum er nicht sterben wollte.
Die Gedanken hielten ihn wach. Er begann zu kämpfen. Er massierte seinen Körper, um ihn warm zu halten, und versuchte die Wunde mit dem klaren Wasser aus dem Trinkschlauch zu säubern. Solange er Wasser hatte würde er überleben! Gegen die Wölfe könnte er sich wehren, wenigstens wäre sein Bogen ihm dann eine Hilfe.

So vergingen zwei Tage. Dann geschah ein Wunder.
Zuerst traute er seinen Sinnen nicht, als die Frau auf ihn zukam. Er hielt sie für einen Geist aus der Anderswelt, der ihn in Empfang nehmen würde. Diesen Moment hatte er sich anders vorgestellt.
Zielstrebig kam die Erscheinung auf ihn zu und begann zu reden:
„Ich habe Deinen Schrei gehört. Deine Gedanken können einen ganz schönen Lärm veranstalten.“
Sie sah müde aus. Was hatte sie gesagt?
„Du hast meinen Schrei gehört? Wieso kommst Du dann erst jetzt? Ich habe schon fast Wurzeln geschlagen hier.“ Er wollte eigentlich nicht so vorwurfsvoll klingen, aber er war verwirrt und am Ende der Kräfte. Noch immer hatte er Bedenken, ob ihm nicht sein Verstand einen Streich spielte. Wie konnte diese Frau behaupten, seinen Schrei gehört zu haben?
Sie musterte ihn mit leicht zur Seite geneigtem Kopf. Ein Lächeln stahl sich in ihre Mundwinkel und brachte zwei kleine Grübchen zum Vorschein.
„Du hast viel geschlafen, da habe ich dich immer wieder verloren.“
Sie hatte schöne Augen. Man konnte sich darin verlieren. Auch wenn jetzt ein leichter Schatten unter ihnen lag. Dunkle Locken umspielten ihr Gesicht. Er hatte sie nie zuvor gesehen.
„Wo kommst Du wirklich her?“ Er traute seinen Sinnen noch immer nicht. So gütig konnte doch kein lebendiges Wesen aussehen.
„Ich lebe da unten im Tal. Wo die beiden Bäche zusammenfließen.“
Ja. Er kannte diesen Ort. Da war eine kleine Ansiedlung.
Die Frau kniete neben ihm nieder und legte die Wunde frei. Sie bewegte ihre Hände über dem verletzten Bein langsam auf und ab. Erst glitten beide Handflächen in die gleiche Richtung, dann bewegte sich die eine von oben nach unten und die andere von unten nach oben. Er wusste, sie versuchte so, den Knochen an seine ursprüngliche Form zu erinnern. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Geist weilte in der Anderswelt. Stumm dankte Heman der Göttin, dass sie ihm eine Heilkundige geschickt hatte.
„Du musst Dein Bein hier am Knie stabil und fest halten!“, wies ihn die Frau an. Mit einem Ruck, so schnell, dass er es kaum ahnen konnte, zog sie kräftig an seinem Fußgelenk. Er hätte den Moment fast nicht bemerkt, aber ein dumpfes schmerzhaftes Pochen zeigte ihm, der Knochen war an die Stelle zurückgeglitten, aus der er ausgebrochen war. Heman schöpfte neuerlich Hoffnung.
Die Frau sah sich nach geeigneten Kräutern um, die sie auf die Wunde legen konnte.
Danach wickelte sie das Lederband, mit dem er die Blutung gestillt hatte, fest um die Wunde.
„Du darfst das Bein nicht belasten, sonst wirst Du dein Leben lang humpeln“, mahnte sie ihn streng. Sie suchte ihm einen geeigneten dicken Ast, auf den er sich stützen konnte. Dann half sie ihm von der anderen Seite, indem sie sich seinen Arm um die Schultern legte. „Das wird so gehen, langsam, aber es wird gehen. Du darfst auf keinen Fall dein Bein belasten!“ Immer wieder betete sie die Worte herunter und machte ihm damit Mut.
„Ich heiße Bricta. Was hast Du hier im Wald gemacht?“
„Mein Name ist Heman. Hab einen Zehnender verfolgt. Er war gerade dabei sein Gestänge abzufegen.“
Jeder wusste, Geweihe waren eine beliebte Handelsware. Das Horn hatte gegenüber normalen Knochen eine doppelt so hohe Dämpfung und eignet sich daher für Gegenstände, die Druck und Schlag aushalten mussten. Diese Beute hatte eine große Bedeutung für ihn gehabt.
„Heman, der Jäger also. Ich werde die Tage nochmals hier raufkommen und nachsehen, ob ich es wo finden kann“, versprach ihm die Frau.
Schritt für Schritt kämpften sie sich durch das unebene Gelände. Beide waren schweißgebadet durch die enorme Anstrengung. Sie würden es unmöglich vor Einbruch der Dunkelheit schaffen ins Tal zu gelangen, obwohl sie nach einiger Zeit einen Pfad erreichten.
„Ich danke Dir. Du hast mein Leben gerettet. Es tut mir leid, was Du für eine Mühe wegen mir auf dich nehmen musst.“ Sie kauten ein paar Bärlauchblätter, um wieder zu Kräften zu kommen. „Wenigstens riechen wir beide gleich streng aus dem Mund“, konnte er bereits wieder scherzen.
„Scherzbolde sind nicht die schlimmste Art von Menschen“, stelle sie lachend fest.
„Verrätst du mir nun endlich wie du mich gefunden hast?“ Über all die Mühe und den Schmerz wollte ihm diese Frage einfach nicht aus dem Kopf gehen.
„Nur wenige erkennen noch die Einheit ihres Seelen-Selbst mit dem universalen Seelen-Selbst.“ Als sie seinen verständnislosen Blick bemerkte, fügte sie hinzu: „Anscheinend stehst du unter dem Schutz übernatürlicher Mächte.“ Diese Erklärung war so gut wie jede andere.
„Ihr alles sehenden Götter, ich danke euch!“
Bricta bereitete ihnen ein provisorisches Lager für die Nacht. Die Bäume rauschten nun schon weniger bedrohlich als die beiden Nächte zuvor.

 

 

3. Die Flucht

"Requiescat in pace"
(R.I.P. Ruhe in Frieden)

 

Silvan kniete am Fußende des aufgebahrten Patrons. Leise ließ Gratia sich an seiner Seite auf den harten Terrakottaboden sinken. Sein Gesicht war in stummer Ohmacht in den Sternenhimmel gerichtet. Die Augen waren geschlossen. Sie konnte seinen Schmerz beinahe körperlich fühlen. Es war die Trauer - als vereinte sie ihre beiden Seelen.
Für den Liktor war der tote Patron wie ein Vater gewesen. Auch Ausonias Verlust hatte in ihr diese unbeschreibliche Leere hervorgerufen. Silvans folgende Worte könnten auch direkt aus ihrem eigenen Herzen stammen:
„Da ist dieses Nichts.“ Er öffnete die Augen und blickte in den Sternenhimmel. Gratias Blick folgte dem seinen.
„Und dann ist da die Unendlichkeit“, kam es ihr leise von den Lippen, „dazwischen leben wir Menschen.“ Heiße Tränen ließen den Sternenhimmel plötzlich tanzen. Beides war unmöglich zu Begreifen. Nicht das Nichts und nicht die Unendlichkeit. Und wie die Sterne ineinander verschwammen, taten es auch diese beiden Begriffe.

Die folgende Nacht schien ihr die längste ihres bisherigen Lebens gewesen zu sein. Obwohl Gratias Körper hätte erschöpft sein müssen, hatte sich ihr Bewusstsein hartnäckig geweigert dem erholsamen Schlaf zu weichen. Sie war froh gewesen, als sie endlich die ersten Laute im Haus vernommen hatte und die ihr zugewiesene Schlafstelle verlassen konnte.

Prompt war sie als erstes dem einzigen Menschen in diesem Haus in die Arme gelaufen, den sie am wenigsten sehen wollte.
„Welches Verhängnis hat dich zum Übermaß meines Unglücks schon wieder in meine Nähe geführt?“, herrschte sie den Mann an.
Ohne eine Antwort abzuwarten, oder einen Blick in die sie bedauernd ansehenden dunklen Augen zu riskieren, schob sie sich an dem Auguren vorbei ins Lararium, wo sich die Herdstelle des Domus Menandri befand.
„Bitte nehmt Euch um den verstorbenen Patron an!“, betete sie leise zu den aufgestellten Schutzgeistern und dem Genius der Familie Menandri.
Danach half sie, um sich abzulenken, Asellina bei der Arbeit.

Gratia nahm einen der Tonbecher zur Hand und begann damit aus einem Teig kleine Küchlein auszustechen. Asellinas fünfjähriger Sohn kam schüchtern um den Tisch auf Gratia zu.
„Will auch ausstechen“, murmelte er vor sich hin.
„Das kannst Du machen, wenn Smyrina es macht“, wollte ihn seine Mutter davon abhalten Gratia zu vereinnahmen.
„Schon gut. Komm her! Hier – ich zeige es dir.“ Sie schob dem Jungen ein Dreibein zum Tisch und der Kleine kletterte daran hoch und patschte sogleich mit einem Händchen in den weichen Teig.
„Du nimmst den Becher …“, versuchte sie, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen.
Er fasste ungeschickt nach dem Tongefäß.
„Das gibt Scherben!“, kommentierte Asellina vom Herd her.
„Nein, da passen wir schon auf. So du nimmst den Becher in beide Hände. Siehst Du?“ Gratia hielt mit ihren großen Händen seine kleinen Händchen und führte sie zum Teig. Die Kinderarme pendelten unkontrolliert über der Tischplatte hin und her.
„Gar nicht so einfach, nicht wahr“, sie musste schmunzeln. Bis sie sich auf eine Ecke des Teiges geeinigt hatten, war der Rest schon so zerdrückt, dass daraus keine brauchbaren Küchlein mehr gewonnen werden konnten. Sie knetete den Teig noch einmal durch und platzierte ihn wieder vor dem Kind. Angestrengt verzog der Kleine sein Gesicht und konzentrierte sich auf sein Ziel. Ein weiteres Mal kreiste er tollpatschig über dem weichen Fladen, Gratia half ihm, so gut sie konnte.
„Schau Mama“, verlangte der Kleine nach jedem Küchlein stolz nach der Aufmerksamkeit der Mutter. Wie sein Gesicht und seine Kleider nach so kurzer Zeit so viele Mehlspuren aufweisen konnten, schien rätselhaft.
Als der Junge keine Lust mehr hatte zu helfen, versuchte Gratia, die ärgsten Spuren seiner Hilfe zu tilgen. Versonnen schaute sie dem Kind nach, als es die Aufmerksamkeit den Katzenbabys der Hauskatze widmete und ihnen in den Garten folgte. Ihr Blick streifte danach Durius, den Auguren, und Silvan, die sich am anderen Ende des großen Tisches leise miteinander unterhielten.

 

***

 

Silvan fand es schön, zu sehen, wie Gratia durch das Auftauchen seines Neffen Zerstreuung gefunden hatte. Auch für ihn bedeutete der Anblick des Knaben einen Hoffnungsschimmer. Alleine für die Zukunft des Kindes lohnte sich sein Kampf gegen die Unterdrückung und menschenverachtende Politik des Magistrats. Dazu hatte er sich während der letzten, schlaflosen Nacht, entschlossen.
Er wandte sich wieder Durius, seinem nächtlichen Kampfgefährten, zu, um mit ihm einen Plan über ihr weiteres Vorgehen zu besprechen. Der Mann war wie gerufen gekommen, als hätten ihn tatsächlich die Götter geschickt. Noch konnte er ihn nicht genau einschätzen, aber er hatte das Gefühl ihm vertrauen zu können.

 

 

….. Fortsetzung folgt ….

 

 

Mila

 

Dringe vor zum Kern der Dinge, und du bekommst Augen, um das Unsichtbare zu sehen

und Ohren, um das Unhörbare zu hören!

 

Mila erwachte vom vertrauten Lärm, den ihr Nachbar jeden Morgen beim Brennholzspalten verursachte. Es war kalt in Ihrer Grubenhütte. Sie konnte es an ihrer Nasenspitze fühlen, der Rest ihres Körpers war gut in den wärmenden Fellen vergraben. Ein paar Minuten in dieser wohligen Wärme würde sie sich noch gönnen. Sie zog die Decke über ihren Kopf und genoss die dumpfe Stille. Bis sich ihr Atem nach frischer Luft zu sehnen begann. Schließlich war sie bereit und schlug die schwere Felldecke zurück. Es war tatsächlich kalt, sie würde sich als erstes um das Feuer kümmern müssen. Schwaches Licht drang durch die mit Darmhäuten verhängten Fenster neben der verriegelten Holztür. Verschlafen tapste sie am Kamin vorbei und um die geschwärzten Holzbalken, die das Dachgebälk stützten, herum und griff sich den Wassereimer. Sie öffnete die beiden Holzriegel und stemmte sich gegen die schwere Tür. Sie würde Heman heute bitten, sich die Tür anzusehen. Ein Scharnier musste sich gelöst haben, weil sie gar so schwer zu öffnen war.
„Schönen guten Morgen, Mila“ rief ihr Egan, der Nachbar, zu.
„Danke schön, Dir auch einen schönen guten Morgen“ antwortete sie. Sie machte sich auf den Weg zur etwas abseits gelegenen Latrine und wusch sich anschließend Hände und Gesicht mit dem eisig klaren Wasser des kleinen Baches. Dann füllte sie den Eimer. Am Holzhaus griff sie sich ein Bündel Reisig. Zurück in ihrer Hütte schichtete sie es inmitten des Kamins auf. Dann ging sie mit einem großen Korb nochmals zum Holzhaus und holte sich das nötige Brennholz. An der Feuerstelle schaufelte sie etwas glühende Kohle in ihre Räucherschale. Langsam wurde das Dorf lebendig. Überall knarrten Türen und Rauch stieg aus den Kaminen. Ein Hund bellte und ein Baby schrie hungrig.
Wieder in ihrer Hütte goss sie etwas Wasser in den Kessel über der Feuerstelle und entzündete mit der Kohle das Herdfeuer. Sie setzte sich ans Feuer und hüllte sich in eine warme Decke, während sie die züngelnden Flammen beobachtete. Sie dachte an ihre Mutter, die ihr diese früher immer fürsorglich um die Schultern gelegt hatte wenn sie ihr bei der Arbeit zugesehen hatte. Ihre Eltern waren hoch geschätzte Mitglieder der Dorfgemeinschaft gewesen. Ihr Vater war Händler und hatte von seinen weiten Reisen immer viele begehrte Schätze und Geschichten mitgebracht, bis er eines Tages nicht mehr zurückkehrte. Damals war sie noch ein Kind. Ihr Bruder übernahm die Pflicht für die Familie zu Sorgen. Er war ein guter Jäger. Ihre Mutter hatte der Vater auf einer seiner Reisen kennen und lieben gelernt. Sie hatte ihren Kindern immer von den Werten und Bräuchen ihrer eigenen Leute erzählt und ihnen beigebracht wie sie im Alltag, die Ruhe bewahren konnten. Sie war stark wie ein Felsen gewesen. Niemals hatte etwas sie in Rage versetzen können. Vor dem knisternden Feuer sitzend erinnerte sich Mila an den Glauben der Mutter sich mit der Erde und dem Himmel gleichsam verbinden zu können und Kraft daraus zu schöpfen. Oft hatte sie sich vor den anderen Kindern geschämt, weil die ihre Mutter sonderbar ansahen, wenn sie ihre Rituale durchführte. Doch je älter sie wurde, umso mehr konnte sie verstehen, was sie gemeint hatte. Seit sie viel Zeit alleine in ihrer Hütte verbrachte, fühlte sie am eigenen Leib die Energie der Erde und der Sterne. So wie jetzt. Sie schloss ihre Augen und spürte die Erde unter sich, die unsichtbaren Wurzeln, die sie mit ihr verbanden. Fühlte sich ihr zugehörig. Sie lauschte den Geräuschen, die von draußen zu ihr durchdrangen, ohne ihnen allzuviel Bedeutung zu geben. Spürte, wie sich ein tiefes Gefühl des Friedens in ihrem Körper verströmte. Eine einzelne Träne der Trauer um ihre Mutter bahnte sich ihren Weg über ihre Wange. Ja, sie fühlte sich einsam, aber nicht hoffnungslos.
Das Wasser im Kessel fing an zu kochen. Sie bereitete zwei große Becher mit Kräuteraufguss zu und machte sich auf den Weg zur alten Kattie, die wie sie ganz alleine in einer kleinen Hütte in der Nähe wohnte.
„Guten Morgen, mein Schatz“, begrüßte die Alte sie. Sie war fast blind und tat sich auch beim Gehen schon schwer, aber sie hatte ein Herz aus Gold. Mila kümmerte sich gerne um sie.
„Guten Morgen Kattie, ich mache dir gleich ein warmes Feuer, dann haben wir es gleich viel gemütlicher, gell“. „Was täte ich nur ohne Dich, meine Kleine“. Mila musste schmunzeln. Sie war bei weitem die größte Frau im ganzen Dorf, sogar größer als die meisten Männer, doch Kattie nannte sie noch immer ihre Kleine. Durch ein feines Netz seihte sie den Tee ab. „Heute werde ich wieder zu Heman wandern, ich bleibe deshalb nur kurz bei dir, deine Dorfgeschichten musst du dir bis zum Abend aufheben.“ Sie holte der Alten noch frisches Wasser und leerte ihren Nachttopf aus.
„Warte Kind! Ich mache dir noch einen schönen Zopf, sicher bist du wieder ganz zerzaust.“
„Ja, da könntest du recht haben.“ Mila nippte Schluck für Schluck an ihrem Aufguss und genoss es, wie Kattie ihr die Haare zuerst kämmte und dann einen ordentlichen festen Zopf flocht. Mit einer innigen Umarmung verabschiedete sie sich von der Nachbarin.

Heman hatte sich am Berg eine eigene kleine Grubenhütte gebaut. Jetzt im Winter, wenn die Bäume kein Laub trugen, konnte man von dort bis weit ins Land blicken. Mila freute sich darauf, ihren Bruder wiederzusehen. Am liebsten wäre sie mit ihm gegangen, er hatte es ihr aber erfolgreich ausgeredet. Es sei für sie nicht sicher genug, so abseits zu leben, wo er doch selbst viel unterwegs war. Der Dorfrat sah es nicht gerne, dass er sich so weit von der Dorfgemeinschaft abgesetzt hatte, sein Jagdgut war ihnen aber immer noch recht willkommen. Heman war mit ihren Vorschriften oft in Konflikt geraten, wenn er Mila jetzt hin und wieder im Dorf besuchen kam, ließen ihn manche spüren, dass er nicht mehr dazu gehörte. Heman sah sich darin nur in der Entscheidung, ihnen den Rücken zugewendet zu haben, bestärkt. In seinen Augen war der Dorfrat ein sturer Haufen an selbstsüchtigen Großköpfen, gefangen in ihrer Tradition und Ablehnung jeglicher Veränderung.
Mila war schon ein ganzes Stück bergauf gewandert. Der Weg wurde jetzt immer steiler und rutschiger. Sie verschnaufte kurz und ließ den Blick ins Tal wandern, bevor sie das letzte Stück durch einen natürlichen Graben in Angriff nehmen wollte. Ihr Atem beruhigte sich allmählich, sie lauschte der Stille des Waldes. Tau tropfte von den Ästen der Bäume, die Luft roch und schmeckte schon nach Frühling. Sie entdeckte ein paar Schneeblumen und pflückte für Hemans Hütte einen kleinen Strauß. Das letzte Stück des Weges war nicht mehr so steil. Plötzlich sah sie einen Haufen Rossäpfel auf dem Weg liegen. Heman hatte kein Pferd, auch sonst verirrte sich nie jemand so weit den Berg hinauf. Wachsam und möglichst lautlos wanderte sie weiter auf die Hütte zu. Schon sah sie Rauch aus dem Kamin aufsteigen. In einiger Entfernung vernahm sie jetzt das Schnauben eines Pferdes, es musste ihren Geruch gewittert haben. Sie warf die Blumen weg und zog ihren Dolch aus ihrem Gürtel. Irgendetwas stimmte hier doch nicht. Sie wartete ab, ob Heman nach ihr rief, er wusste doch, dass sie heute kam. Sie verließ den Weg und ging einen großen Bogen um die Hütte machend in der Deckung des Waldes weiter. Jetzt war sie etwas oberhalb angelangt und konnte fast den ganzen Bereich rundum einsehen. Da war tatsächlich ein Pferd neben der Hütte angebunden. Es war eine robuste edle Sorte, kein Arbeitspferd wie man es im Dorf zur Holzarbeit verwendete. Wieder stieß es ein unruhiges Schnauben aus. Die Hüttentüre öffnete sich und ein Fremder kam ins Freie. Lauschte kurz und ging zu seinem Pferd, um es zu beruhigen. Lauernd blickte er um sich. Mila hielt gebannt den Atem an und blieb hinter einem breiten Baum in Deckung. Noch immer gab es keinen Hinweis darauf, dass Heman da war. Sie spürte ihr Herz klopfen und die Angst beflügelte ihren Mut. Vorsichtig spähte sie wieder zu dem Fremden hinunter. Er sah nicht aus wie die Männer, die sie kannte, hatte kurzes Haar und war rasiert. Auch seine Kleidung war fremdartig. Schwarze Hose, schwarzes Wams, gehalten von einem breiten schwarzen Gürtel, eigentlich war alles an ihm schwarz und furchteinflößend. Sein Haar, seine Augen, sein Bartschatten, sogar sein Pferd. Jetzt wandte er sich wieder der Hütte zu, ging zum Hackstock und begann mit der Axt Feuerholz zu schlagen. Mila überlegte, was sie tun sollte. Sie musste herausfinden, was mit Heman war. Hatte der Fremde ihm etwas angetan? Sie war stark, nicht so stark wie ihr Bruder, aber doch stärker als jede andere Frau, die sie kannte. Der Fremde war ganz und gar mit seiner lärmenden Tätigkeit beschäftigt. In Zeitlupentempo näherte sie sich ihm von hinten. Den Dolch hielt sie fest umklammert. Jetzt war sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt, das Pferd stampfte etwas mit den Hufen, wieder hielt sie den Atem an, er hatte eine Axt, sie nur ihren Dolch. Er war groß, sogar größer als sie selbst. Noch schien er nichts von der drohenden Gefahr zu bemerken. Sie musste jetzt schnell sein, ihr Vater und Heman hatten ihr beigebracht, sich zu verteidigen, nicht jedoch einen Mann hinterrücks anzufallen. Jetzt griff er zum nächsten Holzstück, bevor er sich wieder aufrichtete, war sie hinter ihm und hielt ihm ihre kalte scharfe Klinge an die Kehle. „Wer bist du Fremder?“, zischte sie ihm ins Ohr.
„Ist das die Art wie man hier Gäste behandelt?“, langsam hob er beide Arme ein Stück, die Axt hielt er noch immer fest. Mila verstand, was er sagte, ihre Eltern hatten ihr die Sprache beigebracht, sie hatte sie allerdings lange nicht gesprochen.
„Du kein Gast, niemand dich eingeladen!“, kramte sie ihre Sprachkünste zusammen. „Los – fallenlassen!“, sie stieß nach dem Arm, der die Axt hielt, drückte dabei die Klinge etwas stärker ins Fleisch.
„Schon gut“ antwortete der Fremde. Im gleichen Moment umklammerte seine linke Hand ihr Handgelenk und drückte sie weg von seinem Hals, zugleich traf der Stiel der Axt sie hart in die Rippen. Verzweifelt klammerten sich ihre Finger um den Schaft ihres Dolches, doch sein Griff wurde härter und härter, sie wollte sich durch eine rasche Drehung befreien, doch er hatte die Bewegung wohl vorausgeahnt. Er war ein guter Kämpfer. Die Lage hat sich zu ihren Ungunsten verschoben. Jetzt würgte er ihr mit dem Stiel der Axt die Luft ab und zwang sie zugleich ihren Dolch loszulassen. Wie eine Raubkatze versuchte sie, sich aus seiner Umklammerung zu befreien.
„Die Frauen in dieser Gegen scheinen nicht viel davon zu wissen, wie man einen Mann glücklich macht“ stöhnte er nach einem unsanften Stoß ihres Ellenbogens in seine Rippen.
„Lass mich los, du Ungeheuer!“
„Aber, aber, merkst du nicht auch, zwischen uns hat etwas ganz Spezielles angefangen?“
„Wer bist Du, was willst Du?“
„Das Selbe könnte ich dich fragen.“
„Das unsere Hütte, was du hast mit meinem Bruder gemacht?“
„Ich bin seit fünf Tagen hier, weder dich noch deinen Bruder habe ich seitdem gesehen, ich habe hier gewartet.“
„Du lügst!“, sie schrie ihm ihren Hass und die Verzweiflung ins Gesicht. „Mein Bruder weiß, dass ich heute komme, er muss sein hier.“
„Liebes.“ Sein Griff lockerte sich etwas. „Lass uns doch in Ruhe darüber reden. Wollte ich dir etwas tun, hätte ich es bereits längst erledigt.“ Er schob sie eine Armlänge von sich. Der belustigte Blick mit dem er sie jetzt von oben bis unten musterte, verriet ihr, dass sie anscheinend im Moment wirklich nichts von ihm zu befürchten hatte.
Stöhnend rieb sie sich das von ihm so unsanft behandelte Handgelenk.
„Entschuldige wenn ich dir weggetan habe, aber mein Hals ist mir heilig, ich habe mich nur gewehrt. Komm, lass uns nach drinnen gehen, du zitterst ja.“
Tatsächlich schlotterte sie als Ganzes. Sie war mit den Nerven am Ende. Der Kampf, die Sorge um Heman, dieser Fremde, sie gab sich geschlagen. Trottete folgsam durch die von ihm für sie aufgehaltene Tür ins Innere der Hütte. Es war warm. Sie schaute sich um. Nichts deutete darauf hin, dass ein Kampf stattgefunden hatte. Tränen schossen in ihre Augen.
„Setz dich Liebes, ich mache dir einen Becher Aufguss. Dann erzählst du mir alles in Ruhe.“
Was sollte sie ihm erzählen, wenn es stimmte was er sagte und Heman seit fünf Tagen nicht hier gewesen war, musste etwas Schreckliches passiert sein.

 

 

Fortsetzung folgt ...

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Tag der Veröffentlichung: 14.07.2013

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Widmung:
Copyright Titelbild: Renate Kern

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