Unweit der Französisch-Deutschen Grenze wo die Rheinebene in den Pfälzerwald übergeht, liegt die Gemeinde Wissembourg. Die Straße von Wissembourg im Elsass nach Schweigen-Rechtenbach auf deutscher Seite führt über die Lauter. Knapp vor der Brücke erhob sich die blau-weiß-rote Zollschranke und daneben das Stationsgebäude des Bahnhofs, ein imposantes altes Gebäude im Fachwerkstil, in dem auch die Zollstation untergebracht war.
Henri Malon, der Vorstand dieser Zollstation, musste seit drei Monaten mit diesem ziemlich aussichtslosen Posten vorlieb nehmen, der überdies gerade soviel Gehalt abwarf, dass man notdürftig davon leben konnte. Einer jener vielen jungen Männer, die studiert und ihre Prüfungen mit gutem Erfolg abgelegt hatten, denen es aber gänzlich an jeder Protektion mangelte. Am Schreibtisch in der ebenerdig gelegenen Amtsstube prüfte er nun Zollrechnungen und visierte Pässe.
Es war ein warmer Sommerabend. Henri unternahm nach seinem Dienst einen ausgedehnten Ausritt durch den Wald, was nach der Hitze des Tages ein erholsamer Ausgleich war. Entlang der Lauter schlängelten sich schmale Wildwechsel und Forstwege dahin. Im letzten Krieg, als das Elsass von Frankreich annektiert wurde, waren hier die sogenannten Weißenburger Linien angelegt worden, im Zickzack verlaufende, geschmeidig dem Terrain angepasste Brustwehren und Gräben, die sich entlang der Lauter bis Lauterburg erstreckten und das Elsaß vor einem Angriff von Norden her schützen sollten. Allerdings verfielen diese Wehranlagen seit der französischen Revolution zusehends. Plötzlich kam ihm ein reiterloses Pferd in schnellem Trab entgegen. Ein kleiner Hund umkreiste es kläffend.
Henri reagierte instinktiv und stellte sich mit seinem Pferd dem Duo entgegen. Das andere Pferd scheute kurz, war aber augenscheinlich von dem steten Lärm, den der Hund verursachte, schon so weit verunsichert, dass es sich dem neuen Hindernis gerne ergab. Er griff nach dem lose herabhängenden Zügel und blickte in die Richtung aus der die beiden Tiere gekommen waren. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Er schwang sich aus dem Sattel und inspizierte das fremde Pferd. Sofort sah er, dass der Sattelgurt gerissen war. „Du bist mir ja eine schön treue Seele,“ redete er auf die braune Stute ein, „haust bei der kleinsten Gelegenheit sofort ab und lässt deinen Herrn im Stich.“ Das Hündchen hatte sich inzwischen beruhigt und sprang an seinen Beinen hoch. „Und du bist mir auch ein schöner Aufpasser! Findest du wenigstens wieder zurück zu deinem Herrchen?“ Noch immer war weit und breit niemand zu entdecken. Henri saß wieder auf und führte die entlaufene Stute am Zügel mit sich. „Lauf!“ befahl er dem kleinen Hund, der mehr ein Schoßhündchen zu sein schien, ohne allzu große Hoffnung darin zu sehen, dass dieser den Weg zurück finden würde. Doch wider Erwarten schien das kleine Tier zu verstehen was von ihm verlangt wurde und lief schwanzwedelnd vorneweg. Nach einigen Minuten kam ihnen eine humpelnde Gestalt entgegen. Als Henri sich ihr näherte musste er überrascht schmunzeln. Der Reiter des ausgebüchsten Pferdes war offensichtlich genau in eine Schlammpfütze gestürzt. Über und über verdreckt stand ein böse auf deutsch auf ihre Tiere schimpfendes Mädchen vor ihm. „Simona, du blöde Zicke – es war nur eine Pfütze und nicht die Hölle, in die du ohnehin früh genug geholt werden wirst“. Henri stieg ab und nickte der zeternden Gestalt zu. Er verstand so viel deutsch, dass er begriff was das Mädchen zu ihrem Pferd sagte. Als er ihr aber den gerissenen Sattelgurt zeigen wollte bemerkte er, dass er lange nicht alle Ausdrücke in dieser Sprache kannte. „Entschuldigen Sie bitte, Mademoiselle, mein Deutsch ist noch nicht sehr gut.“
„Schon gut, ich verstehe Sie auch wenn Sie in Ihrer Sprache sprechen. Vielen Dank übrigens. Das Biest scheut vor jeder Lacke, aber normalerweise schafft sie es nicht mich abzuwerfen. Oh, der Gurt ist gerissen!“
„Ja. Das wollte ich Ihnen gerade erklären. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“
„Ja, danke. Helfen Sie mir bitte auf Ihr Pferd!“
Henri sah sie wohl etwas entgeistert an.
„Na los! Helfen Sie mir auf Ihr Pferd. Ich kann doch meinen Steigbügel nicht mehr verwenden.“
Soviel Logik hatte Henri nichts entgegenzusetzen. Er hielt sein Pferd am Zaum und sah stirnrunzelnd dabei zu, wie sich das verschmutzte Wesen auf seinen schönen sauberen Sattel hochzog. So hatte er sich das mit seiner Hilfe doch nicht vorgestellt.
„So, und nun halten Sie bitte auch dieses Teufelspferd fest, bitte!“ Das „Bitte“ nahm dem Befehlston nur ein wenig die Schärfe. Schön langsam amüsierte sich Henri über diese Situation in die er so unverhofft geraten war. Er war gespannt was wohl als nächstes passieren würde. Das Mädchen kletterte gewandt vom Rücken seines Pferdes in ihren eigenen Sattel.
„Mademoiselle, Ihr Sattel hängt nur lose. Ich denke, das ist wohl zu gefährlich für Sie.“
„Danke, aber denken kann ich schon alleine. Es wird schon gehen. Merci und Aurevoir.“
Sie gab ihrer Stute den Befehl loszumarschieren.
„Ich werde Sie besser begleiten, bevor noch einmal etwas passiert“ schlug Henri vor. Das Mädchen reizte ihn irgendwie und er war auch ein wenig neugierig was sich unter der Schicht Schlamm versteckte.
Energisch warf das Mädchen ihren verkrusteten Zopf über die Schulter. „Ich halte das für keine gute Idee. Falls sie es noch nicht bemerkt haben, ich bin Deutsche. Sie sind offenbar kein Deutscher. Voila!“
„Nun, auch wir Franzosen besitzen so etwas wie Anstand und geleiten in Not geratene junge Damen nach Hause.“
„Ha! In Not geraten. Sehr witzig.“
„Sie sind gehumpelt!“
Nun musste sie über seine Hartnäckigkeit doch grinsen. „Also gut, Sie Kavalier. Mein Name ist übrigens Maria.“
„Henri Malon. Ich bin der Zöllner in Wissembourg.“
„Oh. Also kann ich mich noch auf eine Predigt über unerlaubte Grenzüberschreitung gefasst machen?“
„Ich glaube ich kann ein Auge zudrücken. Genau genommen wüsste ich auch nicht gerade, ob ich nicht selbst schon zu weit vom Weg abgekommen bin“ gab er zu.
Sie kamen zu einer Furt. Maria überlegte kurz. „Ich könnte mich ein wenig frisch machen. Wären Sie so nett, Henri?“
„Einverstanden.“ Er saß ab und wollte ihr gerade behilflich sein, doch das Mädchen war schon von alleine vom Pferd gesprungen und drückte ihm nur die Zügel in die Hand.
„Vorsichtig! Sie haßt Wasser. Bis jetzt hat sie es anscheinend noch nicht bemerkt. Aber das kann sich ändern.“
Maria kniete sich ans Ufer und schöpfte mit bloßen Händen Wasser in ihr Gesicht. Vorübergehend konnte man sogar etwas von ihrem hübschen Aussehen erkennen. Doch das Wasser löste nur weitere schlammige Bäche aus ihrem ebenfalls verschmutzten Haar und sie bemerkte die Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens. Mit einem kurzen Seufzer stürzte sie sich als Ganzes in das etwa knietiefe Wasser und tauchte unter.
Was danach aus den Fluten auftauchte raubte Henri dann fast den Atem. Maria lächelte ihn ironisch an. „Na, hat sich Ihr Einsatz gelohnt?“ Offensichtlich hatte sie noch nicht bemerkt wie eng ihre Kleider nun an ihrem Leib klebten. Ihre Brüste waren unschwer zu übersehen und sogar die Brustwarzen drückten sich durch ihr nasses Oberteil.
„Ich kann nicht klagen“ erwiderte Henri mit rauer Stimme und reichte ihr seine trockene Jacke zum überziehen. „Wir sollten dann aufbrechen. Es wird bald dunkel und Sie werden sich noch den Tod holen.“
„Es ist nicht mehr weit. Mein Vater meint es wird bald Krieg geben“ wechselte sie abrupt das Thema. „Wir sind gerade am Packen. Wir werden für einige Zeit nach Heidelberg in unser Stadthaus ziehen.
Henri hatte von den Spannungen zwischen Napoleon und Bismarck gehört. Beide spielten mit der Kandidatur um das Amt des spanischen Thronfolgers, seit Königin Isabella von ihrem eigenen Parlament abgesetzt worden war. Um Spanien alleine schien es ihnen dabei nicht zu gehen, viel mehr wollte jeder die jeweils andere Seite auch provozieren und ihr eine diplomatische Niederlage beibringen. Bismarck war unter allen Umständen bestrebt, den französischen Einfluss auf Süddeutschland zu verringern, um zugleich die Stellung Preußens in Deutschland und in Europa zu stärken. Beide Seiten wussten, dass sie mit der Kriegsgefahr spielten.
„Warum denkt Ihr Vater das?“ erkundigte er sich nun doch nach den näheren Umständen.
„Haben Sie es noch nicht gehört? Ihr Außenminister, Gramont, hetzt doch schon seit einiger Zeit mit seinen antipreußischen Erklärungen Ihre Volksleute auf. Sein letzter Schachzug war, dass er gestern eine von Kaiser Napoléon gutgeheißene und von Ihrer Regierung einstimmig gebilligte Erklärung vorlas, wonach Frankreich eine Kandidatur des Prinzen von Hohenzollern oder sonst irgendeines preußischen Prinzen auf den spanischen Thron ausschließe. Sollte es doch dazu kommen, würde Frankreich seine Pflicht tun, was einer kaum verschleierten Kriegsdrohung gleichkommt, oder?“
„Davon habe ich tatsächlich noch nichts gehört“ musste Henri zugeben. „Ich hoffe soweit wird es nicht kommen, ich würde Sie gerne wiedersehen.“
Sie hatten die Grundgrenze von Marias Zuhause erreicht. Man konnte das stattliche Landhaus bereits erkennen.
„Passen Sie auf sich auf Henri und danke nochmals für Ihre Hilfe“ verabschiedete sich Maria von ihm. Er sah ihr noch nach bis sie die Stallungen erreichte und von einem Mann bereits erwartet wurde der ihr beim Absitzen behilflich war. Sie warf ihm einen letzten kurzen Blick über die Schulter zu und er machte sich auf den Rückweg.
Bei Einbruch der Dämmerung erreichte er die alleinstehende Zollstation. Der alte Mautner tat seinen Dienst auf dem Beobachtungsposten. Er hatte soeben die Fackeln neben dem Stalltor entzündet.
„Du weißt, mein Junge, dass unsere Lage hier an der Grenze des Landes eine vollständig andere ist wie im Rest des Landes und in Paris“ setzte er zu einer seiner ausschweifenden Belehrungen an.
Mit größter Ruhe und Teilnahmslosigkeit begann Henri das dampfende Pferd mit Stroh abzureiben. Also wusste sein älterer Kollege bereits ebenfalls von der drohenden Gefahr.
„Was ist passiert?“ erkundigte er sich beiläufig.
Sein Kollege berichtete ihm, was durchreisende Kaufleute ihm berichtet hatten. Dass der französische Botschafter, Benedetti, König Wilhelm, der sich zur Kur in Bad Ems aufhielt, nachgereist wäre. Außenminister Gramont hätte ihn beauftragt, von König Wilhelm zu verlangen, dass er die Rücknahme der Kandidatur ausdrücklich billige und dass er auch einschreiten würde, falls die Hohenzollern doch wieder auf die Kandidatur zurückkämen.
„Ein Ultimatum! Mein Gott, das ist doch normalerweise in der Diplomatie der letzte Schritt, nachdem alle anderen friedlichen Mittel versagt haben, wie kann Napoleon diesen Schritt gleich am Anfang machen?“ Henri spürte Unruhe in sich aufsteigen.
In den nächsten Tagen überschlugen sich die Ereignisse. Ein auffällig unauffälliger Herr, der die Grenze eilig passierte, erzählte Henri während der langwierigen Zollkontrolle einiges. Der Mann hatte einen langen Ritt hinter sich und außer seinem Pferd keinen Gesprächspartner gehabt. „Das Ultimatum, das Frankreich König Wilhelm gestellt hat, hatte Folgen: Zusammen mit Protesten gegenüber dem König, der nun im Sinne seiner Überzeugung Einfluss auf die Familie Hohenzollern-Sigmaringen nimmt, und mit weiteren direkten Interventionen europäischer Regierungshäuser bei dieser Familie, entstand so viel Druck, dass Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen am 12. Juli im Namen seines Sohnes den Verzicht auf die spanische Königswürde erklärte. Einen Tag darauf veröffentlichte die Norddeutsche Allgemeine Zeitung bereits einen Artikel, in dem sie ein praktisch regierungsinternes Telegramm an Otto von Bismarck veröffentlichten, in dem dieser über die Vorgänge in Bad Ems unterrichtet wurde. Diese Veröffentlichung nimmt jetzt unserer Regierung die Möglichkeit, ihren diplomatischen Misserfolg vor der Öffentlichkeit zu verbergen.“
Später erfuhr Henri noch mehr. Der Inhalt der Depesche diente Bismarck als Grundlage für eine weitere Pressemitteilung, die noch am selben Tag veröffentlicht wurde. Die französische Übersetzung erschien tags darauf, am französischen Nationalfeiertag. Die französische Öffentlichkeit reagierte, wie von Bismarck vorhergesehen, mit nationaler Empörung. Angesichts der ohnehin angespannten Lage kam Frankreich nicht umhin die Vorgänge in Bad Ems als Provokation und Kriegsgrund aufzufassen.
In der Folge beugte sich Napoleon III dem Druck der Öffentlichkeit sowie nationaler Kreise und erklärte am 19. Juli 1870 dem Königreich Preußen den Krieg. Damit erfüllte die Depesche den von Bismarck beabsichtigten Zweck: Frankreich stand als Aggressor da, denn in den Augen der Weltöffentlichkeit war der Kriegsanlass nichtig.
Henri wurde in dieser Zeit von den überschlagenden Ereignissen mitgerissen. Alles drohte ihm über den Kopf zu wachsen. Er war froh, kein Soldat zu sein, doch wie in einem Sog wurde er in diesen Krieg hineingerissen.
Eines Tages wurde neben der Zollstation eine lange Reihe von Zelten aufgeschlagen, seine Kanzlei wurde in ein Wachzimmer verwandelt. Soldaten gingen auf und nieder, wuschen in der Lauter ihre Wäsche. An der Grenze hatte sich ein Infanterieposten aufgebaut. Handel und Verkehr stockten, keine schwer mit Gütern beladenen Frachtwagen und Züge passierten mehr die Landesgrenze. Natürlich ließ sich auch kein Reisender mehr sehen, der irgendwelche Informationen oder Gerüchte wusste, widersprechendste Nachrichten verbreiteten sich mit Blitzesschnelle.
Nun war der Kommandant der französischen Armee, Mac Mahon, an die Grenze gereist um sich ein Bild über die Lage zu verschaffen. Unter Henri´s Augen und Ohren unterrichtete er seine Offiziere: „Der Aufmarsch der deutschen Truppenteile erfolgt in sehr hohem Tempo. Deren Generalstab hat das doch schon lange detailliert geplant. Sie nutzen ihr gut ausgebautes Schienennetz um ihre Truppen aufmarschieren zu lassen. Die Truppen haben sie schon längst auf volle Stärke gebracht und bereits geschlossen mitsamt Ausrüstung an unsere Grenze verlegt. Unsere Späher berichten von an die 320.000 Soldaten in deren Grenztruppen. In vierundzwanzig Stunden können die hier einrücken und auf ihre Weise Ordnung machen. Dann sind wir zu Grunde gerichtet und schlimm dran. Wir laufen ihnen geradewegs ins offene Messer.“
Mit klopfenden Herzen verfolgte Henri die Anweisungen Mac Mahons. Keiner schien sich der Anwesenheit des Zollbeamten mitten unter ihnen bewusst zu sein.
In der Nacht setzte ein hartnäckiger Nieselregen ein. Henri konnte keine Minute die Augen schließen. Die Nerven aller Soldaten schienen blank zu liegen. Die installierten Telegraphen standen im Dauereinsatz.
In den Vormittagsstunden des nächsten Tages begann der Kampf. Der Lärm eines Artilleriefeuers drang bis zu ihnen. Die im Wald lagernden algerischen Tirailleure befanden sich offensichtlich unter Beschuß. Der Bahnhof mit der Zollstation befand sich außerhalb der Stadt. Die hier stationierte Abteilung des 74. Infanterie-Regiments kam den unter Beschuß Liegenden zu Hilfe und griff die Deutschen an. Doch auch sie wurden durch heftiges Gewehrfeuer empfangen und man drängte sie Richtung Bahnhof zurück.
Als noch zwei weitere deutsche Bataillone den Angriff unterstützten, wurde der Bahnhof gegen 11 Uhr gestürmt. Henri und sein Kollege samt dessen Familie hatten sich in die privaten Räumlichkeiten in den oberen Stockwerken zurückgezogen. Als die Deutschen das Gebäude stürmten gab es kaum noch Gegenwehr. Viele der Soldaten, die die letzten Tage hier verbracht und ausgeharrt hatten, hatten ihr Leben verloren. Henri ließ sich ohne Gegenwehr von den deutschen Soldaten festnehmen. Er trug seine Uniform die ihn als Zollbeamten ausweisen sollte und hoffte, die aufgeregten jungen deutschen Soldaten erkannten diese auch als solche an. Die Gefangenen wurden durch den noch immer andauernden Nieselregen über die Grenze auf deutschen Boden verfrachtet. Überrascht bemerkte Henri, dass man sie geradewegs in das Landhaus von Marias Familie brachte. Das Haus war wohl von der deutschen Armee beschlagnahmt worden.
Maria beobachtete das Eintreffen der Gefangenen von ihrem Fenster im 2. Stock aus. Sie hatten nicht wie geplant nach Heidelberg flüchten können, alle Straßen waren damals schon für die Truppenbewegungen gesperrt gewesen. Sie erkannte Henri auf den ersten Blick. Der Zollbeamte stand hochaufgerichtet einem deutschen Offizier gegenüber. Er hatte seine Dienstmütze abgenommen und der Regen hatte sein kurz geschnittenes dunkles Haar durchnässt. Kleine Wasserbäche rannen ihm über Wangen und Hals. Unerschrockenheit sprach aus seinem Blick und seine männliche, kraftvolle Erscheinung verfehlte ihren Eindruck auf sie nicht. Sie musste trotz der beängstigenden Umstände des Wiedersehens ein wenig schmunzeln. Damals war sie so tropfnaß vor ihm gestanden, nun war es umgekehrt. Die Gefangenen wurden in eine Scheune gebracht und diese wurde von zwei bewaffneten Soldaten bewacht.
In den letzten Tagen hatte sie oft mit Bangen an Henri gedacht. Sie hatten den Aufmarsch der Truppen beobachtet und gesehen, mit welcher Stärke sie sich auf den Angriff vorbereiteten. Vorerst konnte sie also aufatmen, da sie ihn in ihrer Scheune in relativer Sicherheit wusste.
Am nächsten Tag schien wieder die Sonne. Einige Soldaten hatten ihre Uniformen im Freien aufgehängt um sie trocknen zu lassen. In einem unbeobachteten Moment gelang es ihr eine der Uniformen an sich zu bringen. Sie war noch etwas feucht, aber für ihre Pläne durfte das keine Rolle spielen. Sie versteckte ihre Beute in ihrem Zimmer. So einfach hatte sie gar nicht gerechnet, daß es sein könnte.
Sie war hier aufgewachsen und kannte den Hof in und auswendig wie ihre Westentasche. Sie würde den richtigen Moment abwarten und versuchen so unauffällig wie möglich in den Hühnerstall zu gelangen. Sie hoffte, man würde sie für ein Dienstmädchen halten, das Eier sucht. Sie hatte sich extra unauffällige alte Kleider angezogen. Außerdem musste sie im Korb auch die Uniform verstecken. Die Tatsache, dass niemand damit rechnete sie könnte einen Gefangenen befreien, machte ihr Mut.
Am späten Nachmittag fanden die Offiziersgespräche statt. Außer den Wachsoldaten würden alle beschäftigt sein. Sie nutzte diese Gelegenheit um ihr Vorhaben umzusetzen. Im Hühnerstall gab es ein loses Brett, schon öfters waren dadurch ein paar besonders neugierige Hühner in die Scheune entschlüpft. Vorsichtig blickte sie durch das blinde Fenster im Hühnerstall, ob sie auch keiner beobachtete. Dann suchte sie das lose Brett und spähte in die angrenzende Scheune. Die Gefangenen hatten es sich so bequem wie möglich zwischen den eingelagerten Strohballen eingerichtet. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sich keine Wache in der Scheune befand, versuchte sie, mit leisen Geräuschen auf sich aufmerksam zu machen. Ihre Bemühungen wurden ignoriert. Sie traute sich nicht lauter zu sein, auf keinen Fall durften die Wachen etwas mitbekommen. Nervös blickte sie sich im Hühnerstall um und hoffte auf eine Eingebung. Sie entdeckte in einer Ecke einige Eier. Sie griff nach einem und rollte es mit Schwung durch den Spalt im Holz. Schlingernd landete es direkt vor den Füßen eines älteren Herrn. Überrascht hob dieser es auf. Alle Blicke richteten sich nun in ihre Richtung. Sie versuchte es nochmals mit leisem Rufen: „Psst – Henri!“
Die Gefangenen begannen zu tuscheln. Maria bekam schon Angst sie würden zu laut werden. Plötzlich sah sie Henri´s Gesicht vor sich. Er hatte sich auf der anderen Seite der losen Diele hingekniet.
„Hallo! – Soll ich Dich befreien?“
„Mon Dieu! Marie. Was machst Du hier? Du solltest in Heidelberg sein.“
„Kleine Planänderung. Hier!“ sie schob die deutsche Uniform durch die Öffnung.
„Was soll ich damit? Mein Deutsch ist nicht sehr gut, das weißt Du.“
„Wir warten bis es dunkel ist. Falls uns dann jemand zu zweit aus dem Hühnerstall kommen sieht, schöpfen sie vielleicht keinen Verdacht“.
„Und dann? Hier wimmelt es vor deutschen Soldaten. Sie werden mich erschießen, wenn ich mit einer deutschen Uniform davonlaufe. Das macht man mit Deserteuren.“
Daran hatte Maria nicht gedacht.
„Es sind nur ein paar Kilometer bis Karlsruhe. Ich kenne einen Trampelpfad durch den Wald. Vorher tauscht Du noch die Uniform gegen Arbeitskleider von meinem Vater.“
„Marie. Mein Deutsch ist wirklich nicht gut genug. Jeder mit französischem Akzent wird sich sofort verdächtig machen.“ Die Aussicht die nächsten Jahre in einem Gefangenenlager zu verbringen waren nicht gerade verlockend, aber er musste auch das mit einer Flucht verbundene Risiko berücksichtigen.
„Ich komme mit Dir. Wir gehen zusammen weg von hier. Weit weg von dieser Grenze. Ich habe eine Tante in Wien. Wir werden es bis dorthin schaffen. Los jetzt. Beeil Dich.“
Henri ertappte sich dabei wie er schon dabei war seine Kleider gegen die deutsche Uniform auszutauschen. Diese Frau machte aus ihm ein folgsames Schoßhündchen. Aber was war die Alternative? Nach dem Krieg würde er wieder an irgendeinem Schreibtisch versauern. Maria würde das niemals zulassen.
Sein Kollege, der alte Mautner, half ihm dabei die Diele ganz loszulösen, sodaß er sich mit Müh und Not hindurchzwängen konnte.
„Paß auf Dich auf! Mach Dir keine Sorgen um uns. Uns alte Leute werden sie nicht lange festhalten. Bonne chance mon ami!“ verabschiedete sich sein Amtskollege von ihm.
Marie schloß ihn in die Arme. Er spürte ihren Atem an seinem Hals. In diesem Moment wusste Henri, es gab kein Zurück.
Bildmaterialien: Monirapunzel
Tag der Veröffentlichung: 17.02.2013
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