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Die ganze schweizerische Bevölkerung be-schäftigt sich heute ferngesteuert mit der HIV-Ansteckung eines achtzigjährigen Man-nes, wie man unschwer den Aushängeschil-dern der Gratiszeitungen entnehmen kann. Schon gestern Abend wurde das Drama in der Tagesschau angekündigt. Und heute berichten alle namhaften Radiostationen und die versammelte Presse noch einmal davon. Inklusive Hintergrundinformationen.
Mir gegenüber sitzt ein alter grauhaariger Mann, der soeben diese Nachricht liest. Ob er sich wohl auch, wie der Rest der Schweiz, über die Unsicherheit unseres medizinischen Systems empört? Ob er wohl Angst hat, sich bei einer Operation im Spital zu infizie-ren? Die Angst fährt jetzt auch im Zug mit. Nirgends ist man mehr sicher vor dem HIV, überall kann es sich verstecken und auf den Unvorsichtigen und Ahnungslosen lauern. Die Identifikation der Massen mit einem einzigen Opfer ist angesagt. Man könnte es ja selbst sein, besonders, wenn diese medi-zinischen Einrichtungen plötzlich nicht mehr funktionieren wollen. Schlimme Zustände herrschen jetzt auch in der Schweiz. Böse Zeiten stehen uns bevor. Skandal über Skandal.
Dabei wollte ich bloss kurz nach Luzern fahren und mir dort die Lokalitäten anschau-en, von denen René in seinen Aufzeichnun-gen geschrieben hat. Und schon wird man bis in den Kopf hinein mit dem HIV infiziert und darf nicht einmal lachen, da man ja sonst dem Opfer, mit dem sich heute die ganze Schweiz solidarisiert, nicht gerecht würde. Zudem würde man als gar schlechter Mensch dastehen. Ja ja, soweit sind wir schon gekommen, dass es böse Menschen gibt, die alte Leute auslachen, weil sie krank sind. Schämen sollten die sich! Wie kann man sich über so etwas Ernstes wie alte Männer und HIV überhaupt lustig machen! Doch Renés Manuskript, das ich bei mir ha-be und in dem ich noch einmal das Kapitel über Luzern durchlese, nimmt mich wieder gefangen, so dass alle HIV-Infizierten, seien es Alte oder Junge, Schwule oder Fixer, He-tero-, Bisexuelle oder Operierte, mir egal sein können.
Das Deck des Schiffs beim Bahnhof in Luzern, wo ich eine Rundfahrt auf dem Vierwaldstättersee zu machen gedenke, empfängt mich auf seine lautere Luzerner Schiffsrundfahrt-Art. Dennoch habe ich ge-mischte Gefühle. Es ist ein Sommertag, heiss, gerade Mittag. Viele Schulreisen und Touristen sind unterwegs, so dass ich die Rundfahrt bei der ersten Station, dem Lido des Verkehrshauses, abbreche. Doch auch dort erwarten mich Schulklassen. Offenbar absolvieren alle Schulen ihre Schulreisen noch kurz vor den Sommerferien. Ich setze mich im Schatten auf eine Bank und versu-che zu lesen. Doch ich bin zu nervös, offen-bar ist etwas in der Luft von all den Dingen, die ich im Kopf habe und die ich hier in Lu-zern aufzuspüren erhoffe.
Darauf gehe ich zurück in die Stadt und über die Kapellbrücke. Doch von René und seinen Stimmen aus einer andern Zeit weit und breit keine Spur. Bloss Touristen aus Japan, die sich hierher verirrt haben, obwohl sie genau ihrem Plan gefolgt sind. Vorbei an all den Cafés der Reuss entlang, mit den vielen lauten Amerikanern an den Tischen. Japaner, Chinesen, Italiener, Touristen aus allen möglichen Ländern, mit dicken Bäu-chen, auf denen Kameras baumeln und über die sich Hosenträger spannen; viele ge-langweilte Gesichter mit herabhängenden Mundwinkeln; auch mal eine junge Frau, keck in die Luft schauend, mit kurzen rot gefärbten Haaren und dicker schwarzer Brille – das muss eine Schweizerin sein.
An der Reuss ein paar Jugendliche. Vö-gel zwitschern in der Luft. Der Himmel ist bläulichweiss, heiss das Wetter, die Sonne scheint hin, wo sie Platz findet. Stolze Schwäne auf der Reuss. Die alten Fassaden der Häuser und die Kirchen machen auch heute Luzern wieder zu dem, was Luzern ist: Zur berühmten Touristenstadt, mit der Ka-pellbrücke und dem Wasserturm, aus dem René die Stimmen gehört haben will, als er auf der Brücke gestanden hat. Ich gehe über die Brücke, höre aber nichts von seinen Stimmen. Stimmen zwar schon, aber nur die der Touristen. Stimmen aus der ganzen Welt, die wohl alle die Brücke rühmen und die schöne Aussicht auf Luzern. Aber sonst ist da nichts Mystisches. Die Tauben sind überall und fressen, was sie finden können, und scheissen dorthin, wo sie gerade ste-hen. Das Wetter macht durstig, die Geträn-keverkäufer freut es.
Ich bin mir gar noch nicht sicher, ob mein Projekt gelingen wird, ob die Fahrt nach Lu-zern etwas Licht in das Dunkel von Renés Aufzeichnungen bringt. Luzern, wie es blüht und schönt, alles fein gebüschelt, alles nied-lich herausgeputzt, fast nett die Leute, zwar mit leisem Groll und Misstrauen im Hinter-grund, sobald man ein nettes Wort zuviel sagt, mehr als die erwartete Floskel bringt. Vielleicht sollte man dennoch oder erst recht ein Witzchen machen und die schön ange-strichene Fassade ein bisschen beschmut-zen oder sie sogar zu durchbrechen versu-chen.


„Beine nicht auf das Polster, nicht hinauf-steigen, nicht die Schuhe ausziehen, nein, nicht hier, fass das nicht an, das ist schmut-zig!“ sagt die Mutter, und der Vater sagt: „Schaut doch endlich zum Fenster hinaus, die Landschaft ist so schön!“ Doch die Kin-der wollen lieber auf den Sitzen des Zugab-teils herumkrabbeln, Comics lesen, Compu-terspiele machen. So passiert es, dass der Vater die Landschaft nicht mehr geniesst, die Mutter mit ihren Erziehungsmethoden nicht mehr durchkommt, die Kinder die Co-mics nicht mehr konzentriert lesen können und mir die ganze Familie auf die Nerven geht.
So geht es zu und her im Zug. Bei Bad Ragaz bin ich ausgestiegen und habe das Postauto genommen. Und jetzt bin ich in Vättis. In diesem Tal war ich noch nie und die Busfahrt war schön. Hier gibt es bunte Wiesen mit richtigen Wiesenblumen, wie es sie früher bei uns unten auch noch gegeben hat.
Vorher, da war ein nicht mehr ganz jun-ges Paar im Zug. Sie wollte ihn mit einer Fahrt ins Blaue überraschen. Doch hat er mit der Zeit irgendwie geahnt, wohin die Reise geht, schliesslich haben die beiden ununterbrochen darüber gesprochen. Er hat immer wieder neue Thesen gewagt, alle möglichen Ortschaften heruntergeleiert, um dann plötzlich mit einem Anflug von Gewiss-heit auszurufen: „Es geht nach St. Moritz!“ Und sie konterte geheimnisvoll: „Vielleicht aber geht’s ja nach Zermatt!“ Und ich wusste zu diesem Zeitpunkt selber noch nicht, wohin meine Reise führt.
Einfach so bin ich auf den Bahnhof ge-gangen und bin eingestiegen, wo ich gerade Lust hatte. So viele Möglichkeiten gibt es ja auch wieder nicht in Zürich. Entweder man steigt in den Zug nach Bern oder nimmt den Zug nach St. Gallen, oder nach Chur, oder Richtung Basel, Lugano, Luzern oder Olten. In Ziegelbrücke wollte ich aussteigen, habe es dann aber bleiben lassen, weil dort so viele Leute am Aussteigen waren. Eine Völ-kerwanderung mit Kind und Kegel, mit di-cken Socken, sauberen Wanderschuhen, Skistöcken zum Wandern und prall gefüllten Rucksäcken! So bin ich weiter nach Bad Ragaz gefahren und weil dort fast niemand ausgestiegen ist, habe ich die Gelegenheit erkannt und bin ausgestiegen. Und weil ge-rade ein Postauto bereit stand, habe ich es genommen.
Und jetzt bin ich eben in Vättis in einem Wäldchen und gehe einer Gondelbahn ent-gegen, die mich auf einen Berg bringen soll, aber auf welchen weiss ich nicht.
Diese Leute im Zug! Wie sie immer alles, was sie sehen, kommentieren müssen! „Schau, jetzt sind wir in Wädenswil“, sagen sie, wenn da „Wädenswil“ steht. Und wenn steht: „Abfahrt 14.43 Uhr“ und der Zug fährt erst um 14.45 Uhr ab, dann sagen sie: „Du, jetzt haben wir schon wieder zwei Minuten Verspätung.“ Und dann ist die Welt gar nicht mehr in Ordnung. Sie identifizieren sich mit der Verspätung und bekommen ein schlech-tes Gewissen, als wären sie die Lokomotive, die zu wenig schnell gefahren ist, und der ganze Tag wäre im Eimer, wenn es da nicht gleich wieder eine Gelegenheit zu einem neuen Kommentar gäbe. Denn bald schon können sie wieder sagen: „Du, schau mal hier steht ‚Ziegelbrücke‘, jetzt sind wir in Ziegelbrücke.“
Jetzt komme ich zur Gondelbahn. Es ge-be aber kein Restaurant dort oben, nur eine Alp. Leider habe ich keinen prall gefüllten Rucksack bei mir, also gehe ich wieder zu-rück und nehme das nächste Postauto, das mich zur grossen Staumauer fährt. Wir ken-nen sie alle vom Fernsehen her. Ein Wage-mutiger springt mit einem Seil am Fuss in die Tiefe und dazu erscheint das Signet von SF DRS auf dem Bildschirm.
Dann geht’s zu Fuss auf Wanderwegen zurück nach Vättis. Ein schöner Spaziergang durch Wald und über Stock und Stein. In Vättis noch einen Kaffee in einem Garten-restaurant und ab zurück nach Bad Ragaz und in den Zug nach Zürich.
Mir gegenüber sitzt eine, ich weiss nicht, ob das eine ehemalige ausrangierte Emanze ist oder was, schlecht sieht sie zwar nicht aus. So 40 oder 45 wird sie sein und sitzt in einem Viererabteil, wie ich auch. Mit dem kleinen Unterschied allerdings, dass sie ei-nen Platz direkt am Gang eingenommen hat, während ich am Fenster sitze. Zudem ist sie barfuss und hat die Füsse mit den Haaren auf den langen Zehen auf den Sitz ihr schräg gegenüber gelegt, also auf den Fenstersitz, sodass sie gleich drei Sitze einnimmt: Den, auf dem sie sitzt, den, auf den sie die nackten Füsse mit den behaarten langen Zehen gelegt hat und den leeren Sitz neben sich am Fenster, den sie durch die Beine gegen den Gang hin abgesperrt hat. Somit gibt es noch einen Sitz ihr direkt gegenüber, von dem aus man ihr genau zwischen die Beine schauen könnte. Zu sagen ist noch: Der Zug ist übervoll. Vielleicht hat sie einfach ein übertriebenes oder ein auf-gesetztes Selbstbewusstein. Oder sie hat die Bibel „Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin“ gelesen und es so verstanden, wie die Autorin es gemeint hat.
Rücksichtslosigkeit und Rechtsstaat. Es gibt viele Reisende mit dem Motto: „Der Zug gehört mir. Das Abteil ist mein Stübchen. Im Zug mache ich, was ich will. Ich kiffe, ich lege mich hin und schlafe, obwohl es viele Reisende hat. Ich lege meine Füsse auf das Polster, mit oder ohne Schuhe, was soll’s, ich habe bezahlt. Ich habe das Recht, mich so zu benehmen, wie ich will. Ich habe das Recht zu verschmutzen, ich habe das Recht, den Leuten auf die Nerven zu gehen, ich habe das Recht beim Telefonieren so laut zu sprechen, wie ich will, schliesslich bin ich liberal und aufgeschlossen, habe vor nie-mandem Geheimnisse und benütze mein Handy, wo und wie immer ich will. Ich habe das Recht, den Walkman so laut einzustel-len, dass man die Geräusche sogar noch am Ende des Wagens wahrnimmt. Ich habe jegliches Recht, schliesslich leben wir in ei-nem Rechtsstaat, der die uneingeschränkten Freiheitsrechte des Individuums garantiert. Sollte jemand reklamieren – was sich aber niemand getraut, da die Schweizer selber wissen, dass man in einem Rechtsstaat nicht reklamieren darf –, sollte sich aber dennoch jemand erfrechen zu reklamieren, so reagiere ich gar nicht erst, oder reagiere aggressiv oder drohe gleich mit einer Klage! Denn ich habe das Recht!“
Gleiche Post im überfüllten Postauto. Dort plappern alle Leute lautstark durchein-ander, wie auf einer Hühnerfarm, plappern den grössten Schwachsinn zusammen, und die andern müssen sich das anhören. Zu-dem mischen sie sich überall rein, auch in die Fahrweise des Chauffeurs, alles wird argwöhnisch beäugt und negativ kommen-tiert. Denn sie haben eben das Recht dazu.
Plötzlich sitzt man wieder mitten drin in diesem ganzen Stumpfsinn, wird mit all den Themen konfrontiert, die einem von den Medien und den Mitreisenden vorgekaut werden. Tote und Verletzte, Sport, Helikopter und Krieg, Attentate und Palästinenser, Juden und George W. Bush. Die ganze Pa-lette vorgekauter Auseinandersetzungen, wohin man immer geht, überall Expertisen und Tipps. Da müssen die Leute ja unan-ständig werden. Oder wahnsinnig. Ich wun-dere mich, dass hier bei uns nicht mehr pas-siert. Schiessereien und Vergewaltigungen, Selbstmordattentate und Terror am Arbeits-platz, auf offener Strasse oder auch im Zug.


Jetzt habe ich mich entschieden: Morgen werde ich ein Birchermüsli zum Frühstück essen. Das ist gewissermassen ein Ent-scheid, unumstösslich, ausser ich würde heute noch Brot kaufen gehen. Aber da ich eine anstrengende Fahrt vom Tessin nach Zürich hinter mir habe, vier Stunden im Zug, haufenweise Jugendliche, die kifften und groteske Gespräche führten, z. B. ... na ja, lassen wir das, vielleicht später ... Also des-wegen esse ich morgen nicht wie üblich Brot mit Margarine und Konfitüre, sondern eben Birchermüsli. Da die Leute aber mehr von einem Schriftsteller erwarten, als bloss die Information, für welches Frühstück er sich entschieden hat, muss ich mich wohl bemü-hen und meine Erinnerung oder auch meine Fantasie zu Hilfe nehmen oder besser, bei-des miteinander verweben.
Geschichten hören, das ist es doch, was die Leute hören wollen. Sie wollen Ge-schichten mit klarem Anfang, logischem Aufbau, einer gewissen Spannung und ei-nem richtigen Ende, einem Happyend, wenn möglich. Einige mögen auch einen tragi-schen Schluss, das kommt auf den Ge-schmack an. Aber eine Geschichte mit Sinn und klarem Ablauf sollte es schon sein. Schreibt man einfach so chaotisch, wie ei-nem das Leben manchmal vorkommt, also in Fragmenten, dann ist die Leserschaft nicht zufrieden. Das wollen die Leute nicht, das empfinden sie als sinnloses und unzu-sammenhängendes, von einem Spinner aufgeschriebenes Gefasel. Doch das Leben ist trotzdem eine Anhäufung kleiner Dinge, die passieren, ohne dass sie so recht zuein-ander passen wollen. Ausser man setzt die Dinge selber zusammen und dann passen sie. Dennoch ist der Mensch darauf ge-trimmt, die Dinge von andern Menschen auf Sinn und Spannung hin zusammenfügen zu lassen und lässt sich nicht einfach so mit einem Birchermüsli ohne Pariserbrot und Butter abspeisen. So werde ich mir also Mü-he geben, um aus all diesen Fetzen der Er-innerung, von Angelesenem und wirklich Geschehenem, ein sinnvolles Ganzes zu komponieren, damit der Trieb der Sinnigkeit über die Sinnlosigkeit triumphieren kann.
Vielleicht aber doch noch kurz etwas zu diesen Gesprächen im Zug. Ich sass also in einem Abteil, hatte meine Jacke absichtlich auf dem Nebensitz liegen, damit die Hemm-schwelle, sich hinzuzusetzen für Zugestie-gene grösser werde. Ja, so asozial bin auch ich. Ziemlich lange konnte ich mein Territori-um verteidigen, bis es dann nicht mehr ging. Ein Jugendlicher hatte sich schon bei der letzten Station mir gegenüber hingesetzt, als bei der nächsten eine junge Frau mit blon-den Haaren einstieg und ganz keck, ohne ein Wort zu sagen, mit ihrem Kinn auf meine Jacke deutete. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als auch ganz keck und wortlos zu nicken und die Jacke wegzuräumen. Im letz-ten Moment konnte ich noch den Plastiksack mit meinen paar persönlichen Utensilien wegziehen, auf den sich die Achtlose fast gesetzt hätte.
Ganz spontan begannen nun die beiden Jugendlichen, die sich offenbar noch nie vorher gesehen hatten, ein lautes Gespräch. Zuerst ging es um die Identifikation mit dem Antischweizer. Der junge Mann hatte es da gebührend einfacher als die junge Frau, als er in schmissigstem Zürichdeutsch sagte, er sei ein Franzosendeutscher. Sie musste daraufhin eingestehen, eine reine Deutsch-schweizerin zu sein, rettete sich aber vor dem Abgrund des Schweizerseins, indem sie beifügte: „Aber nicht eine von diesen stieren und langweiligen Schweizerinnen.“ Daran schloss er nahtlos an, dass die Love Parade in Berlin viel geiler sei als die Street Parade in Zürich, wo alle nur so typisch schweizerisch verträumt in ihrer eigenen kleinen Welt verharren würden, während in Berlin ganze Horden von Menschen einen ansprechen würden.
Plötzlich outete er sich als medizinischer Masseur. Seine Freundin sei deswegen ei-fersüchtig, obwohl sie keine Schweizerin, sondern Ausländerin sei. Nein, nicht die von vorher, von der er auch schon gesprochen habe, also nicht die, mit der er in Berlin an der Love Parade gewesen sei, sondern sei-ne deutsche Freundin in der Schweiz, wegen der er nicht nach Berlin ziehen könne, obwohl es ihm dort besser gefalle. Aber die wolle nicht mehr zurück nach Deutschland, der gefalle es besser in der Schweiz, wäh-rend vorher, als er in Bern gewohnt habe, seine damalige Freundin, die auch keine Schweizerin sei und in Berlin gewohnt habe, ihn immer in Bern besuchen gekommen sei. Das sei eine supergute Beziehung gewesen. Die Wochenenden mal hier in der Schweiz, dann wieder dort in Berlin. Die telefoniere ihm immer noch aus Berlin.
Die könne wohl nicht loslassen, meinte darauf die Blonde ganz keck, ja, wiederum ganz keck.
Angefangen hatten sie ihr Gespräch da-mit, dass sie von ihm eine Barkley erbettelte, obwohl sie selber auch Zigaretten hatte, die sie aber nicht mochte. Marlboros seien es, sie habe sie zwar in Deutschland gekauft, wo die Marlboros ein bisschen besser seien als in der Schweiz. So sind sie auf Deutsch-land und das Ausland gekommen, wo es eben besser sei als in der Schweiz. Aber nach Frankreich wolle er nicht, obwohl er von seinem Vater dort ein Haus geerbt habe, das er jetzt aber verkaufen wolle, denn er sei sich nicht sicher, ob seine jetzige Freundin ihn nur wegen seines Besitzes liebe oder wirklich ihn selber. Aber nach Frankreich wolle er nicht, dann lieber nach Deutschland.
So ging das hin und her. Die beiden ver-standen sich gut und rauchten dazu eine Zigarette nach der andern. Und im gegenü-berliegenden Abteil, das auch voll besetzt war, wurde gekifft. Im Kanton Aargau seien die Kondukteure Faschisten, hörte ich von dort, weil sie das Kiffen im Zug ahnden wür-den, aber die meisten Kondukteure in der Schweiz seien ganz cool, würden nichts sa-gen, weil sie ja ohnehin nichts ausrichten könnten. Ordinäres Kichern.
Inzwischen hatten auch meine beiden Nachbarn das Gespräch wieder aufgenom-men. Das sei schon stier, dass seine Freun-din eifersüchtig sei, weil er Masseur sei. „Das ist sicher eine Schweizerin“, meinte die Schweizerin darauf mit einer weiteren erbet-telten Barkley zwischen ihren Fingern. „Nein, eben nicht, das ist eben die Deutsche, die hier in der Schweiz wohnt“, antwortete ihr Visavis und sog auch an seinem Glimmstengel. Und ohne ersichtlichen äus-seren Grund fing er plötzlich über seine Ausstrahlung und seinen Charakter zu reden an. Seine Ausstrahlung und seine Augen seien ziemlich warm, werde ihm immer wieder gesagt, dabei sei er ausgesprochen kalt, ja gleichgültig gegenüber der Welt, nichts würde ihm nahe kommen. Doch die Frau neben mir reagierte nicht.
Von weiter hinten drangen Gesprächsfet-zen an mein Ohr. Von einem Stau am Gott-hard wurde dort gesprochen, wie eben am Radio gemeldet worden sei. Brav bespra-chen jene Zuggäste für ein paar Minuten die Problematik des Staus und forderten drin-gend neue Röhren durch die Berge. Kurz darauf gestand man sich gegenseitig die geheimsten Wünsche, zum Beispiel, wie toll das wäre, einen Ferrari zu besitzen. Man wäre aber auch schon mit einem BMW zu-frieden. Aber im Grossen und Ganzen sei man tolerant, die Schwulen seien niedlich und die Rassisten böse. Und hoffentlich gehe es mit der Wirtschaft noch eine zeitlang aufwärts, schliesslich habe man investiert. Doch doch, sie habe einen guten Job, hörte ich darauf die Stimme einer andern jungen Frau, der Chef sei zwar ein Arschloch, der Lohn aber gut und die Mandate interessant. Auf das richtige Mar-keting komme es an, da lerne man auch in-teressante Leute kennen, die meisten seien zwar Arschlöcher, dafür aber habe sie so mehr Einfluss.
„Wann kommt denn endlich Zürich“, frag-te ich mich und fing zu überlegen an, ob ich morgen zum Frühstück Birchermüsli oder Pariserbrot mit Konfitüre und Margarine es-sen sollte.


Jetzt fahre ich mit dem Zug nach Bern, wo ich vielleicht sitzen bleiben und bis nach Genf weiterfahren werde. Geschieht etwas Interessantes im Zug, bleibe ich, wenn nicht, steige ich aus. Sicher kann man sich da nie sein. Soeben passieren wir Olten, das im bewölkten Sommeralltag aussieht wie Olten an einem bewölkten Sommertag. „Olten: der Verkehrsknotenpunkt“, haben wir früher ge-lernt. Olten wurde immer als etwas ganz Spezielles dargestellt, weil die SBB früher in der Schule fast schon ein bisschen einen privilegierten Stand hatten. Mit der SBB ist man auch auf die Schulreise gefahren, spä-ter dann ins Militär und die SBB ist auch et-was Ähnliches wie Wilhelm Tell und die freie, gut organisierte Schweiz, in der alles sauber ist und dafür hat früher in der Schule eben Olten gestanden. Aber davon habe ich jetzt nichts gemerkt.
Der Kondukteur hat sich soeben ins Ab-teil gegenüber gesetzt und ein Mineralwasser vor sich hingestellt. Das wäre früher – zur Zeit, da Olten noch ein wichtiger Kno-tenpunkt im schweizerischen Schulwesen gewesen ist, wie Wilhelm Tell und die Schlacht am Morgarten – auch nicht vorge-kommen, dass sich der Kondukteur mit ei-nem Mineralwasser vor aller Augen in ein Abteil gesetzt hätte, nur weil die Billets schon alle kontrolliert waren.
Später die Mutter mit ihrem kleinen Jun-gen, der durch den ganzen Zug stolpert und offensichtlich nicht ihre Freude, sondern ihr pädagogisches Rechtsempfinden erregt. Schliesslich hat dieser Sohn das Recht im Zug herumzustolpern, auch wenn er andere dabei stört. Aber als junger Schweizer hat er das Recht, diese Urschweiz-SBB alias Wil-helm Tell nicht nur kennen zu lernen, sondern auch aktiv an ihr teilzuhaben. Wie auch viele Mütter heute immer grössere Kinderwagen mit immer grösseren Rädern haben und sich ein immer grösseres Recht herausnehmen, mit diesen immer grösseren Kinderwagen nicht nur in Wilhelm Tells Morgarten-SBB einzusteigen, sondern auch in Trams, Einkaufszentren und Supermärkten den andern Leuten den Weg zu versperren. Aber die Frau ist schliesslich Mutter, hat ein Recht gehabt auf ihr Kind. Ein moralisches Recht auf ein Kind heisst gleichzeitig, ein juristisch-militantes Recht auf mehr Platz im Zug oder im Tram zu haben. Ein Recht auf riesige sperrige Kinderwagen mit monströsen Rä-dern, damit sie auch besser in die immer grösseren Familienautos verstaut werden können. Sollte einmal gar nichts mehr gehen, gibt es immer noch das Faustrecht, ein Grundrecht sozusagen, das allem andern Recht zu Grunde liegt. Aber das Recht der Frauen mit Kindern geht vor. Je grösser der Kinderwagen, desto grösser das Recht. Es kommt mir manchmal so vor, als würden viele Mütter ihr Kind und den Kinderwagen als Waffe gegenüber der Aussenwelt missbrauchen. Andererseits habe ich auf all meinen Reisen durch Asien, Zentralamerika und Afrika praktisch keine Frauen mit Kinderwagen gesehen, obwohl die dort doch mehr Kinder zeugen als wir hier im Westen. Aber lassen wir das, sonst fange ich gleich auch noch über die Velofahrer auf den Trottoirs zu wettern an, die ebenfalls glauben, weil sie keine Luft verschmutzen, zu den moralisch besseren Verkehrsteilnehmern zu gehören und sich das Recht nehmen, mit überhöhtem Tempo den Fussgängern in die Quere zu kommen. Auch hier wird die vermeintliche Moral für die eigene Macht und Rücksichtslosigkeit benutzt.
Inzwischen fahren wir wieder über Land. Die Kornfelder stehen genau abgezirkelt in der sauberen Sommerlandschaft. Die Rän-der der blitzblanken Strassen sind scharf gezogen, kein Grashalm auf der Seite des Belages, kein Krümelchen Asphalt im Gras. Die Kühe sitzen adrett im grünen, blumenlo-sen Grasteppich und kauen die Gräser wie-der. Die Kühe sind so sauber wie ihre ganze Umgebung. Ab und zu steht eine kleine Fab-rik oder ein Haus in der Landschaft, von ein paar Bäumen gesäumt, die in genau glei-chen Abständen zueinander stehen. Die Hügelzüge in der Ferne zeigen das züchtige Ende der Schweizer Landschaft an. Auch der Wald grenzt sich in eindeutiger Weise von den Feldern ab. Hier der Wald, dort das Feld, fein säuberlich durch eine klare Linie geschieden. Kein Bäumchen, kein Baum würde über seine Grenze hinaus in das Feld wachsen, geradeso, als hätten die Bäume die Gesetze der Abgrenzung gleichsam ver-innerlicht. Es scheint, dass der Schweizer Baum sich selber in seine Schranken zu weisen weiss, und dass es ihm nie in den Sinn käme, auch nur einen Ast über die Grenze ins Grasland hinüberwedeln zu las-sen. Auch das Grün der Wiesen ist gleich-mässig. Da ist nichts Gelbes drin. Auch gibt es keinen Unterschied zwischen dem Grün dieses und dem Grün jenes Feldes. Jedes Grün ist gleichsam ein sattes, fettes, dunk-les Grün, gut genährt von all dem Regen.
Ein paar gelbe Blumen säumen das Bord zum Eisenbahntrasse. Doch sie sind bloss geduldet in diesem Streifen Niemandsland. Als Mahnung stehen sie dafür, wie es einem gehen kann in der Schweiz, wenn man ein-fach so mir nichts dir nichts aufblüht, gerade wo es einem gefällt. Dann landet man im Niemandsland und ist den Winden der Vor-beisausenden ausgesetzt und vor allem der Willkür des Rasenmähers der SBB, der nach einem festen Plan, an einem lange zum Voraus bestimmten Tag, dahergemäht kommt und die Blumen und das Blühen ge-wissenhaft zurechtstutzt, damit die wieder blumenleeren Borde besser zu den klaren Linien der Felder, den Grenzen der Wälder und den genau eingesetzten Häusern und Pflanzen passen. Hat ein Feld mal ein biss-chen Farbe, so ist sie bestimmt geplant. Entweder gelb oder grün. Entweder eine sattgrüne Wiese oder ein sattgelbes Raps-feld oder ein Heer von Sonnenblumen. Ent-weder oder. Aber nicht bunt gesprenkelt, wie vom Künstler hingestreut. Entweder richtig oder gar nicht.
Alles kündigt sich mit Rechtecken oder mit Dreiecken an. Jeder Baum ist nach ge-ometrischen Gesetzen gepflanzt. Und diese geometrischen Gesetze bedeuten die Gren-ze. Die Grenze zum Nachbarn, die Grenze zum Bach, die Grenze zum nächsten Feld. Steht ein Baum mal ganz alleine, so ist es bestimmt der exakte geometrische Mittel-punkt eines Hügels oder eines Hausgartens, der dort symbolisch die Exaktheit der Schweiz markiert und Nüsse tragen darf. Die kleinen Wäldchen in der Landschaft scheinen bloss dem ungeübten Auge unwillkürlich dahingewachsen, und ihre Formen gleichen nur zufällig den Wolken mit ihren unregel-mässigen Rundungen. In Wirklichkeit aber sind diese Formen unausgefeilte, geplante Rechtecke.
Die Bäume stehen wie Silos in klarem, wohlüberlegtem Abstand neben den Bau-ernhäusern. Alles ist wohlgeordnet und aus-geklügelt. Die Überlandmasten stehen genau so wenig quer in der Landschaft wie die Kühe, obwohl sie beide die Landschaft durchqueren, aber nach einem bestimmten Plan. Schweizer Kühe fressen sich systema-tisch durch die Wiesen, lassen kein Bü-schelchen ungefressen, obwohl es fettes Gras zum versauen hat.
In Bern nieselt es leicht und ist bewölkt. Auf der Suche nach Renés Schauplätzen komme ich zum Bundeshausplatz. Ein paar Jugoslawen oder Türken stehen unter einem Baum am Weisenhausplatz gegenüber dem Café Fédéral. Gleich daneben spielen ein paar alte Männer Schach auf dem Boden. Auf dem Bärenplatz verkaufen Marktfahrer Gemüse, Blumen und Früchte. Gelangweilt schleichen einige Kunden um die Stände. Ein Automobilist sucht einen Parkplatz vor dem Bundeshaus und zieht langsam seine Runden. Ein Tourist aus Deutschland steht im Lederkombi mit seinem schweren Motor-rad vor dem Bundeshaus und schaut es sich an. Ich beobachte die ganze Szenerie und spüre nichts, was auf Renés Aufzeichnungen hindeuten könnte.
Vorher bei der Nydeggbrücke sind ein paar Leute unter dem Schutzdach der Bus-haltestelle gestanden und haben auf den 12er gewartet. Der ist auch bald gekommen und hat mich hierher zum Bundeshausplatz gebracht. Ein kleines Mädchen im Bus hat seinen Vater gefragt, wie viel eins und eins mache, wie viel zwei und zwei, vier und vier, acht und acht und so weiter bis sie über tau-send gekommen sind, und der Vater hat immer korrekt gerechnet gehabt, und das Kind hat gestaunt und ist stolz auf seinen intelligenten Vater gewesen. Dann bin ich ausgestiegen und über den Platz zum Bun-deshaus geschlendert. Da bin ich nun. Aber weder Bundespräsident Leuenberger noch einer seiner Minister ist zu sehen. Alle sind hinter den Fenstern im Gebäude versteckt. Keiner schaut heraus und winkt oder ruft mich herein, um mich in die Kellergewölbe zu geleiten. Keiner der Bundesräte führt mich auf die Spur, wo Geld und Gold einen in andere Sphären locken.


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Tag der Veröffentlichung: 08.08.2010

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