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1

Das kurze aber heftige Hagelgewitter hatte ganze Arbeit geleistet. Massen von noch grünen Kastanienfrüchten, zerfetzten Blättern und kleine zersplitterte Äste lagen der langen Seepromenade entlang versprengt. Kommissar Meier wartete in seinem Auto. Er stieg noch nicht aus. Durch den Regen sah er die beiden Streifenpolizisten unter dem schützenden Dach des Einganges zur Badeanstalt am See stehen. Nicht weit von ihnen entfernt kauerte eine Frau in jämmerlicher Verfassung. Sehr wahrscheinlich eine Zeugin, dachte Meier. Bald hörte auch der Regen, der auf den Hagel gefolgt war, wieder auf. Meier schob seinen dicken Wanst mit einem ächzenden Laut am Lenkrad vorbei, stieg aus dem Auto und watete durch die zum Teil Eier grossen Hagelkörner hinüber zu der Gruppe von Leuten. Die klare Luft, die das heftige Gewitter zurückgelassen hatte, behagte Meier. Es freute ihn, dass die Natur sich wieder einmal mit aller Macht bemerkbar gemacht und den Menschen präsentiert hatte, wer Herr und Meister ist.
Es war eines jener überstarken Gewitter gewesen, wie sie in letzter Zeit immer häufiger auftraten. Aus buchstäblich heiterem Himmel, vom Wetterdienst im Radio unscheinbar angekündigt, war es über die Wirklichkeit des Stadtlebens von Zürich hereingebrochen.
„Gut, hat die Natur wieder einmal ihre Kraft gezeigt, vielleicht werden die Menschen so doch noch einmal vernünftig“, murmelte Meier vor sich hin. „Nichts“, antwortete er etwas zu laut und zu rau auf das „Wie bitte?“ des geflissentlich fragenden Polizisten, der schon gemeint hatte, er habe eine wichtige Frage oder gar einen Befehl nicht verstanden. „Hab bloss mit mir selber gesprochen. – Dieses Sauwetter wieder heute“, fügte Meier noch mit einer versöhnlichen Stimme hinzu und fragte gleich: „Und, haben Sie schon etwas Handfestes ausser der Leiche dort?“ Danach reden wieder alle ganz betroffen von den Millionenschäden, die das Gewitter verursacht hat und rechnen sich insgeheim doch nur aus, was sie bei der Versicherung herausschlagen können. Auch die Naturschäden sind zu einem Produkt der Wirtschaftlichkeit verkommen, ein PR-Gag der Versicherungen sozusagen, dachte er noch, bevor er zur Leiche schritt:.
Es schüttelte ihn wohlig und er reckte sein Gesicht der frischen Luft entgegen. Er atmete tief ein. Fast hätte er ob der angenehm gereinigten Sommerluft vergessen, warum er hier war. Doch die trockene Polizistenstimme der anwesenden Streife sog ihn gleich wieder in die Wirklichkeit zurück: „Wir haben noch nichts angerührt. Die Leiche lag so wie sie jetzt da liegt unter dem Baum.“
Seine Kollegin nickte dazu ganz aufmerksam, als wäre sie bei einer Diskussion dabei und zeigte mit der Hand auf den weissen nackten Körper, der mit Hagelkörnern und zerschlagenen Blättern halb bedeckt war. Dann wies sie auf die anwesende Frau und sagte: „Diese junge Frau hat uns auf der Strasse angehalten, als wir hier vorbeifuhren. Sie hat die Leiche entdeckt.“
Die Zeugin sass zusammengekrümmt und verstört auf einer nahen Bank und schien gar nicht richtig anwesend zu sein.
„Gut“, sagte Meier, „ich werde mich später um sie kümmern und sie befragen. Schauen wir uns erst mal das Baby hier aus der Nähe an.“
Grosse Regentropfen fielen vom Baum herunter direkt auf Meiers Glatze und rannen ihm von dort übers Gesicht und in den Kragen hinein, als er sich zur Leiche hinunter bückte. Sie rochen gut, diese frischen grossen Regentropfen. Meier genoss es. Er wischte sich das Gesicht.

Der Anfang war mir eigentlich ganz gut gelungen. So muss ein guter Krimi daherkommen. Der auf Spannung getrimmte Konsument verlangt das vom Erzähler. Ein schneller Anfang, eine kurze Charakterisierung der Hauptperson, am besten gleich in Aktion, so dass der Leser begierig darauf ist, zu wissen, wie es weitergeht. Ein spannender Krimi als Ersatz für die eigene Leere und Langeweile im Alltag gewissermassen.
Doch dann kam ich einfach nicht mehr weiter. Die Frage, die mich immer wieder beschäftigte: Wie kann ich ein anspruchsvolles Buch schreiben, das einerseits meinem geistigen Bedürfnis und andererseits der auf Spannung getrimmten Leserschaft genüge tut? Wie soll der Krimi weitergehen?
Denn es sollte um mehr gehen, als um die platte Aufdeckung eines alltäglichen Mordes, um mehr als ein Beziehungsdelikt, auch um mehr als um ein Familiendrama oder einen Mord im Drogen- oder Rotlichtmilieu und dessen skandalöse Verstrickungen in der Gesellschaft. Trotzdem aber sollte es ein spannender Krimi werden, wo es gleich zu Beginn eine Leiche gibt, der Kommissar und die Kriminalfotografen auf den Plan treten, die Leiche vom Polizeiarzt obduziert wird und aus der Obduktion erste Schlüsse bezüglich Zeit und Tatwaffe gezogen werden können. Es sollte ein richtig klassischer Krimi mit einer logischen Folge von Szenen werden, die es mir als Autor leicht machen würden, die Geschichte weiterzutreiben und weiterzuspannen, bis sie in einem spektakulären Ende aufgelöst würde.
Ich hatte zuerst vor, den Mörder, respektive dessen Hintermänner, in den internationalen Verflechtungen von Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und organisiertem Verbrechen, ja, dem Rechtsstaat und seinen Organen selbst, der Polizei und den Gerichten anzusiedeln. Damit wollte ich zeigen, dass die Verantwortlichen und die wirklichen Verbrecher diejenigen in den weissen Westen sind, die vor laufender Kamera lauter schöngeistiges und politisch korrektes Zeug zusammenplappern und im Hintergrund die Fäden zu ihrer Macht und Geldgier ziehen. Ich glaubte in meinem missionarischen Eifer, ich müsste die Gesellschaft auf Gefahren hinweisen und als autonomer Schriftsteller durch die Aufzeichnung der Wahrheit ein Minimum an politischem Einfluss ausserhalb der parlamentarischen und kulturellen Kreise geltend machen.
Nach und nach aber wurde mir bewusst, dass dieses Krimi-Schema längst abgedroschen, dass dieses Drama in jeweils etwas abgeänderter Form schon x-mal abgespult und neu aufgelegt und verfilmt worden und den Leuten zum Frass hin in die Bücherläden, ins Kino und in den Fernseher geworfen worden war. In jedem Kriminalroman, der heute etwas auf sich hält, sind doch die grauen Männer in den weissen Westen die Bösen, die sogar noch im Dunkeln einen Schatten werfen.
Die Verstrickungen der internationalen Politik, der Wirtschaft und Wissenschaft, der Mafia, der Banken, der religiösen und andern diffusen Organisationen sind in der Realität sogar schlimmer als in jedem inszenierten Krimi. Trotzdem ist es langweilig geworden, da dieses Muster in den Büchern und Filmen längst Allgemeingut geworden ist. Es gehört heutzutage zum guten Ton, die weltweiten Netze anzuprangern, auch wenn die Leute, die Kultur produzieren, längst selbst Bestandteil dieses Filzes sind. Eigentlich ist das ganze furchtbare Ausmass der Korruption dem Hintersten und Letzten auf der Welt bekannt, so dass es schon wieder langweilig wird, sich damit überhaupt noch zu befassen.
Ich entschloss mich deshalb, dieses Projekt fallen zu lassen und wollte, Mut beweisend, eines der letzten grossen Tabus anpacken.
In diesem Sinne plante ich einen Roman, der in der Zukunft spielen sollte. Und zwar wollte ich Parallelen der Vereinigten Staaten von Amerika zum Römischen Reich aufzeigen. Dabei entwarf ich einen Plot, in dem in naher Zukunft die amerikanische Demokratie von undemokratischen Kräften, durch einen Staatsstreich abgeschafft werden würde. In den Vereinigten Staaten von Amerika entstünde eine Diktatur. In Zusammenarbeit mit dem israelischen Geheimdienst und den Strukturen des Weltjudentums und der UNO sollte eine Weltdiktatur errichtet werden.
Die Schweiz sollte wie in den guten alten Zeiten des Zweiten Weltkrieges als Drehscheibe ausländischer Geheimdienste und verdeckter internationaler Zusammenkünfte im ruhigen Auge des Wirbelsturmes stehen. Die Leiche, die im ersten Kapitel meines Romans in Zürich gefunden worden war, könnte in diesem Zusammenhang ein internationaler Terrorist sein, der vom CIA ermordet worden war. Mit meinem Politthriller wollte ich aufzeigen, dass die Allianz zwischen den USA und Israel einer globalen Verschwörung gleichkommt. Sogar Massenvernichtungen sollten wieder möglich werden. Diesmal aber nicht an einem bestimmten Volk, sondern an der weltweit überflüssigen Bevölkerung überhaupt.
Den Roman wollte ich irgendwann in der Zukunft, ungefähr im Jahre 2030 ansetzen. Die wirtschaftliche Entwicklung wäre zu dieser Zeit schon so weit fortgeschritten, dass fast alle Arbeitsplätze wegrationalisiert worden wären. Somit gäbe es viel zu viele Menschen, die nichts mehr zu tun hätten. Breite Unzufriedenheit und grosse Unruhen entstünden. Die elitären Kreise der amerikanisch-jüdischen Weltregierung müssten sich etwas zur Entschärfung der Krise einfallen lassen. Anfangs würde noch nach halbwegs vernünftigen Lösungen gesucht. Zuerst würde man das Freizeitangebot erhöhen. Filmvorführungen und Shows aller Art würden in grossen Massenveranstaltungen organisiert werden. Alles gratis selbstverständlich. Dann würde man damit beginnen, Handys, Stereoanlagen und allerlei digitalen Krimskrams an die Bevölkerung abzugeben. In der letzten Phase würden sogar Drogen und Bordellbesuche auf Staatskosten zugänglich gemacht werden.
Das funktionierte jedoch nicht. Die Menschen wollten befriedigende manuelle Arbeit und damit einen Sinn im Leben zurückhaben. Sie liessen sich nicht mehr so einfach mit brutalen Actionfilmen, geilen Pornos, Tittenbars und viel Lärm um nichts abspeisen. Der global um sich greifenden Unzufriedenheit wäre mit diesen Mitteln nicht mehr beizukommen. Unruhen würden entstehen. Als die Unruhen immer grösser und gewalttätiger werden würden, setzten sich die bösen Buben der Weltdiktatur definitiv durch. Die Schrauben würden immer stärker angezogen. Konzentrationslager würden gebaut werden. Gesetze, die es den Machthabern erlaubten, die Menschen willkürlich zu verhaften und in Lager zu stecken, würden erlassen werden. Doch das Chaos und die Gewalt würden dadurch noch grösser werden. Die Menschen hätten einfach genug und würden sich das alles nicht mehr gefallen lassen. Aufruhr und Meuterei wären angesagt.
Die amerikanische Diktatur reagierte prompt. Unter der Federführung der CIA würde ein Geheimstab zusammengestellt werden, welcher Pläne zur Vernichtung aufständischer und überflüssiger Menschen auszuarbeiten hätte. Ein Virus sollte kreiert werden, das über das elektromagnetische Feld in einer bestimmten Frequenz ausgestrahlt werden sollte und welches nur jene Menschen befiele, in deren Gehirn die Gleichschaltung der Gesinnungsideologie nicht vollzogen worden wäre. Das Virus sollte also auf eine bestimmte Konstellation im Gehirn, auf klar definierte Menschen angesetzt werden, deren Träger innerhalb ein paar Sekunden tot zusammenbrechen würden.
Je länger ich mich jedoch mit diesem Konzept befasste, desto mehr kam mir die Idee absolut lächerlich vor. Vielleicht aber verliess mich bloss der Mut, oder ich liess mich von der offiziellen proamerikanischen und prosemitischen Propaganda in den dominanten Medien und der offiziellen Geschichtsschreibung des Westens einschüchtern. Ich bekam es sogar mit der Angst zu tun, dass ich, falls dieser Roman zustande käme, selbst verfolgt und zu einem Opfer des amerikanischen oder israelischen Geheimdienstes werden könnte. Trotz der viel gepriesenen Meinungs- und Pressefreiheit und obwohl ich in der Schweiz und nicht in Russland oder in Südamerika wohnte, machte mich meine Paranoia selber zum ersten Opfer meiner fiktiven Verschwörungstheorie. Der geistige Virus meines Krimis hatte mich dermassen angesteckt, dass ich das Vorhaben wieder aufgab.
Aus diesem Grunde musste ich mich neu orientieren. Ein neuer Plot musste her.


2

Als Mischler mich anrief und mir ganz aufgeregt mitteilte, einer seiner früheren Freunde habe sich in den italienischen Alpen in seiner Hütte erhängt, war ich gerade wieder einmal verzweifelt dabei, am zweiten Kapitel meines Krimis herum zu studieren.
Die Polizei aus dem Tessin habe ihn angerufen und ihn von Renés Tod benachrichtigt. Er war ziemlich nervös und sprach in einem hastigen Stakkato: „Zuerst bin ich nicht richtig schlau daraus geworden, wer sich umgebracht hat und was ich damit zu tun haben sollte. Ich habe mir gedacht, die Polizei sei falsch verbunden oder jemand erlaube sich einen makaberen Scherz. Doch allmählich hat es mir gedämmert.“
Die Polizei habe seinen Namen und seine Telefonnummer auf dem Abschiedsbrief gefunden, der neben dem Toten gelegen habe. In diesem Brief habe René darum gebeten, ihn, Mischler, von seinem Ableben zu benachrichtigen.
„Das hat mich stutzig gemacht. Schliesslich habe ich seit Jahren keinen Kontakt mehr zu René gehabt und auch nichts mehr von ihm gehört.“
Und plötzlich rufe aus heiterem Himmel die Polizei an und teile ihm mit, René habe in seinem Abschiedsbrief gebeten ihn zu benachrichtigen. Es sei ihm peinlich gewesen, denn er habe mit dieser Information nichts anzufangen gewusst, auch nicht, was man nun von ihm erwarten würde. Aber da die Polizei nichts weiter von ihm wollte, habe er den Fall zwar als mysteriös, aber als ohne weitere Konsequenzen für sich abgetan.
Ich hatte Mischler noch nie so aufgeregt gehört. Er machte mir den Eindruck, als ob er sich vor etwas fürchten würde.
Als er etwas später seinen Briefkasten geleert habe, habe er dort ein an ihn adressiertes prallgefülltes A4 Couvert vorgefunden. Was das wohl wieder sei, habe er sich gefragt. Sehr wahrscheinlich jemand, der ihm einen Kurs oder sonst etwas andrehen wolle. Er habe sich nicht weiter darum gekümmert und die übrige Post aufgemacht. Während des Arbeitens habe er sich jedoch auf einmal wieder an den Briefumschlag erinnert. Der Umschlag sei von Hand angeschrieben gewesen, mit einer charakteristischen Schrift, die ihm irgendwie bekannt vorgekommen sei. Seine Neugier sei darauf geweckt gewesen, so dass er wieder ins Büro gegangen sei, um den Umschlag zu öffnen. Als er die Unterschrift gesehen habe, sei er gänzlich erschrocken. Die Post sei von René gewesen. René habe geschrieben, dass er sich bedroht fühle. Er habe Angst, dass man ihn ermorden wolle und deswegen schicke er Mischler sein Manuskript, das er bei ihm in Sicherheit wisse, denn seine Feinde hätten es darauf abgesehen. „Da habe ich es mit der Angst zu tun bekommen. Seit Jahren habe ich nichts mehr von René gehört und nun gleich zwei Mal an einem Morgen. Und unter diesen Umständen!“
Da war auch ich hellhörig geworden und ich fragte Mischler, was denn nun genau in dem Umschlag gewesen sei.
„Eben, ein Manuskript von René“, sagte er wiederum ganz hastig, „kaum leserlich, alles in winzigen Buchstaben von Hand geschrieben.“
Er habe es gar noch nicht richtig angeschaut, ihm graue davor, er habe nur ein bisschen darin geblättert. Es sei offensichtlich wirres Zeug, das da stehe und es interessiere ihn nicht im Geringsten. Er wolle damit gar nichts zu tun haben.
Ich sagte ihm, dass mich das interessierte und dass ich nächstens bei ihm vorbeischauen würde.
Am andern Tag ging ich zu ihm in die Werkstatt. Ich war neugierig und ich muss zugeben, versessen darauf, das Manuskript zu sehen. So ein interessanter Fund war genau das, was ich brauchte, um ich mich etwas von meinem Krimi-Projekt abzulenken.
Mischler hatte seine Werkstatt in einem Loft eingerichtet, wo er allerlei Arbeiten ausführte. Mal fertigte er einen Ausstellungsstand an, dann baute er irgendwo eine Küche ein oder machte kleinere Umbauten. Seine grosse Leidenschaft aber galt dem Design. Er kreierte Möbel und brütete ständig über neuen Designerlampen. Er hoffte schon lange, eines Tages einen kommerziellen Hit zu landen, damit er seine ständigen Geldsorgen los sein würde.
Unterdessen hatte Mischler noch einmal bei der Polizei in Locarno angerufen und gefragt, ob denn sonst nichts weiter in dem Abschiedsbrief gestanden habe, was ihn betreffe, und was denn nun mit René passiere. Die Polizei teilte ihm mit, in dem Abschiedsbrief habe nur gestanden, dass man ihn benachrichtigen solle. Im Übrigen habe man die Schwester von René ausfindig machen können, die sich um das Begräbnis kümmere. Man könne ihm ihre Telefonnummer angeben.
Darauf habe er Renés Schwester angerufen und die habe ihm mitgeteilt, dass die Kremation für übermorgen in Locarno angesetzt sei. Sie wäre froh, wenn er als ehemaliger Freund dabei sein könnte. Soviel sie wisse, würde sonst niemand kommen. Ihre Eltern seien tot und wie es aussehe, habe René keine Freunde gehabt und habe ganz alleine dort oben in der Hütte gehaust. Er, Mischler, solle doch bitte kommen, wenn er könne.
„Und, gehst du?“ fragte ich ihn.
„Vielleicht“, gab er zögernd zur Antwort. Ob ich ihn denn nicht begleiten könne, dann würde er gehen. Also sagte ich zu.
„Was ist denn das nun für ein Manuskript und was hat es mit den Morddrohungen auf sich, von denen René berichtete?“
„Warte“, sagte er und brachte mir den dicken Umschlag und den Brief. Ich überflog den kurzen Brief und entnahm ihm, dass René grosse Angst gehabt hatte, umgebracht zu werden. Darauf schaute ich mir das Manuskript an. Es waren etwa 100 A4 Seiten voll gekritzeltes Schreibmaschinenpapier. Das Geschriebene machte auch mir auf den ersten Blick einen wirren Eindruck. Auch war es voller grammatikalischer und orthografischer Fehler und zudem stimmte die Syntax nicht.
„Darf ich es mir ausleihen?“ fragte ich Mischler.
„Ja, sicher“, meinte er erleichtert. Ich solle es ruhig mitnehmen und von ihm aus auch behalten. Er habe kein Interesse daran.
Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er sogar froh war, das Manuskript los zu werden. Also nahm ich das Manuskript unter den Arm und ging schnurstracks nach Hause damit, mit dem Vorgefühl, eine interessante Beute gemacht zu haben. Das Manuskript entpuppte sich denn in der Folge auch als ein wahrer Schicksalsschlag für mich.
Zu Hause zog ich mich damit sogleich in die Küche zurück und fing zu lesen an. Es fesselte mich von Anfang an. Instinktiv merkte ich, dass sich aus Renés Aufzeichnungen nicht nur ein interessantes Buch schreiben liesse, sondern sich daraus auch eine spannende Geschichte für mich persönlich entwickeln würde, die mich für den Krimi mit der globalen Weltverschwörung mehr als nur entschädigen würde. Was in dem Manuskript geschrieben stand, war zugleich verwirrend wie interessant aber so spannend für mich, dass ich die 100 Seiten Gekritzel in einer einzigen Nacht verschlang.
Ich musste wohl schon von Anfang an gefühlsmässig an Renés Selbstmord gezweifelt haben und hatte deshalb plötzlich eine Idee: Ich beabsichtigte in der ganzen Schweiz herumzufahren und alle Schauplätze, die in Renés Manuskript vorkommen, zu besuchen. Schon sah ich mich selber als Kommissar in meinem eigenen realen Krimi. Diese Vorstellung stachelte mein Fieber zusätzlich an.
Zwei Tage später fuhren Mischler und ich gemeinsam mit seinem Auto nach Locarno. Renés Schwester, eine etwa 40-jährige grosse, hagere Frau, erwartete uns vor dem Krematorium. Sie kam sofort auf mich zu, schüttelte mir die Hand und bedankte sich, dass wir gekommen waren. Mischler gab sie nur schnell und sehr kühl die Hand, was mich einigermassen erstaunte. Gleich darauf drängte sie uns, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ins Krematorium. Es war schon alles bereit. Der Krematoriumsangestellte und der Mann vom Beerdigungsinstitut waren die einzigen, die sich im Vorraum befanden. Der Sarg ruhte auf dem blanken Steinboden, ein paar Blumen standen verloren in einer Ecke des karg eingerichteten Raumes. Offensichtlich alles vom Beerdigungsinstitut arrangiert. Der Betreuer des Instituts fragte uns beide, ob er den Sargdeckel noch einmal abnehmen solle, damit wir den Toten sehen könnten. Mischler wollte nicht. Ich aber liess mir die Gelegenheit nicht entgehen.
René war wie seine Schwester ebenfalls sehr lang und hager. Wenige blonde Haare umsäumten ein abgemagertes und eingefallenes Gesicht. Die Haut schien gräulich. Sonst fiel mir nichts weiter auf. Um den Hals hatte man ihm ein weisses Halstuch gebunden, das die Druckstellen des Seils, mit dem er sich erhängt haben soll, verdeckte.
Da René in seinem Abschiedsbrief ausdrücklich verlangt hatte, keine Priester und keine religiösen Zeremonien zuzulassen, fragte der Angestellte, ob wir bereit seien. Auf unser Nicken machte er den Sargdeckel zusammen mit dem Betreuer des Instituts wieder zu, schob den Sarg in den Ofen und drehte den Gashahn auf. Sofort schossen unzählige blaue Flammen empor und bald fing der Sarg zu brennen an. Mischler schaute einen Moment lang fasziniert durch die kleine runde Glasöffnung zu, wandte sich aber bald wie ertappt wieder ab. Als die Kremation beendet war, musste Gerda noch unterschreiben.
„Was passiert mit der Urne?“ fragte ich sie. Sie werde die Asche in den Bergen verstreuen, wie René es gewünscht habe.
Danach gingen wir zusammen in ein Café, wo sie uns ein Stück Torte, einen Kaffee und Schnaps offerierte. Eine peinliche Stille herrschte. Was hätten wir uns auch sagen sollen? Plötzlich hatte ich eine Idee und fragte Gerda: „Hast du gewusst, dass René um sein Leben gefürchtet und Angst davor gehabt hat, ermordet zu werden?“
Gerda lachte kurz auf und winkte ab. René habe schon immer solches Zeug zusammengeschwafelt. Schon seit Jahren. Bei jedem Telefon, das sie mit ihm geführt habe, selten genug zum Glück, habe er mit seinen paranoiden Geschichten angefangen. Fast sei sie froh, dass es so ein Ende mit ihm genommen habe. Jetzt habe er endlich Ruhe vor seinen Stimmen.
Und sie hat Ruhe vor ihm, ging es mir reflexartig durch den Kopf.
Darauf verabschiedeten wir uns voneinander. Kurz bevor wir abfuhren, fragte sie uns noch, ob wir nicht nach Italien mitkommen wollten, um bei der Verstreuung der Asche dabei zu sein. Ich wäre eigentlich gerne mitgegangen, es hätte mich interessiert, wo und wie René gehaust hat. Doch Mischler winkte ab, als wollte er so schnell wie möglich die ganze Angelegenheit hinter sich bringen. Auch auf meine Einwände hin liess er sich nicht umstimmen.
Im Auto erzählte ich ihm vom Manuskript und von meinen Reiseplänen durch die Schweiz. Er reagierte nüchtern und distanziert darauf: „Du bist wohl auch schon halb hinüber und hast dich von Renés irrem Geist anstecken lassen.“ Er kenne René gut genug von früher. Der habe immer schon wirres Zeug gelabert. Als er ihn das letzte Mal, ungefähr vor zwei Jahren, in seiner Hütte in Italien besucht habe, habe man kaum mehr richtig mit ihm sprechen können, so sehr sei er auf seine wirren Einbildungen fixiert gewesen. René habe immer schon abstruse esoterische Bücher gelesen und immerzu von Reinkarnation und dem alten Ägypten gefaselt, wo er auch schon gelebt haben wollte.
Nach einer kurzen Pause fügte er noch abschätzig hinzu: „Zudem hat er den ganzen Tag über unzählige Joints geraucht. Da wundert es einem ja nicht, wenn einer zuletzt seinen Einbildungen erliegt und sich selber umbringt.“ Als wollte er seine Verachtung René gegenüber etwas abschwächen, sagte er mit einer entschuldigenden Stimme: „René hat mir bei diesem letzten Besuch zwar leid getan, doch habe ich nichts mehr mit ihm anfangen können. Da er sich auch nicht helfen lassen wollte, habe ich den Kontakt zu ihm abgebrochen.“ Für einen kurzen Moment sagte Mischler nichts mehr, nahm aber den Faden bald wieder auf: „Die letzte Begegnung oben in seiner Hütte ist mir dermassen peinlich gewesen, dass ich nach ein paar Stunden wieder gegangen bin. Man muss sich das einmal vorstellen: Da faselt einer stundenlang irres Zeug zusammen, kommt vom Hundertsten ins Tausendste, lässt sich nicht unterbrechen, das hält doch kein Schwein aus. Meiner Meinung nach ist dieser René einfach ein Kranker gewesen, ein tragischer Fall. Du solltest diese Aufzeichnungen nicht so ernst nehmen. Am besten wäre es, du würdest sie wegschmeissen. Beinahe tut es mir leid, dass ich sie dir überhaupt gegeben und dich in diese Geschichte hineingezogen habe.“
Als ich jedoch nicht auf seine Bedenken einging, sondern nur sagte, er habe wohl Angst vor dem Irrationalen, gab er resigniert auf. Er sagte nur noch mit einem unsicheren Grinsen, er habe mich gewarnt und wolle dann nicht Schuld sein, falls ich auch noch überschnappen sollte. Aber damit er in Zukunft nicht in meiner Schuld stehen würde, werde er mich ein einziges Mal auf meiner Tour begleiten. Am liebsten nach Basel, die Stadt gefalle ihm sehr.
So kam es, dass wir am nächsten Tag zusammen nach Basel fuhren.


3

In Basel gibt es einen Brunnen, diesen Kunstbrunnen, den Tinguely-Brunnen. Dort sprudelt und dreht sich scheinbar alles sinnlos um Kunst. Es ist Kunst, die dort spult, immerzu sich dreht und spritzt dazu. René schrieb in seinen Aufzeichnungen, dass er, als er diesen Brunnen besuchen ging, eine Erscheinung gehabt habe.

Es passierte an einem Nachmittag im Winter. Einige Leute standen um den Brunnen und besichtigten die Tinguely-Monstren, als plötzlich aus dem Rachen eines der Kunstwerke zwei streitende Männer zum Vorschein kamen.

Ich schaute vom Manuskript auf, machte eine kurze Pause und schaute ins Wasser.
„Und, was haben die Herren im Kunstbrunnen denn verkündet?“ fragte mich Mischler mit einem sarkastischen Unterton. Ich konzentrierte mich wieder auf das Manuskript in meiner Hand und rapportierte weiter.
Es stellte sich heraus, dass der eine der beiden ein Pfahlbauer aus der Vergangenheit und der andere ein Historiker unserer Tage war. Der Pfahlbauer warf dem Historiker vor, dass viele der Annahmen und Interpretationen der Historikerzunft über die Pfahlbauerzeit falsch und willkürlich zustande gekommen seien. Darauf bot er dem Historiker an, ihn über den wirklichen Sachverhalt jener Zeit aufzuklären.
„Ich muss schon bitten!“, wandte sich der Historiker aus dem Tinguely-Brunnen heraus empört an die Leute, die das Kunstwerk besichtigten: „Dieser Unbekannte hier“, und er zeigte angewidert auf den angeblichen Pfahlbauer, „ein Scharlatan offensichtlich, will mir weismachen, er sei aus einer andern Zeit hierher nach Basel gekommen. Er sei eigentlich ein Pfahlbauer und könne mir viel von den Pfahlbauern berichten und einige Missverständnisse über die Geschichte jener Zeit zu korrigieren helfen. Ausgerechnet mir, einem renommierten Historiker der Universität Basel, einem Experten der Bronzezeit, erzählt dieser Betrüger diesen Blödsinn! Da ist er aber an den Falschen geraten. Man muss sich das einmal bildlich vorstellen: Ein Pfahlbauer, eines jener primitiven Wesen aus der grauen Vorzeit will mir im dritten Jahrtausend unserer aufgeklärten europäischen Kultur weismachen, er könne über die Zeit springen. Das ist doch purer Irrsinn.“
Dabei lachte er hysterisch auf und nahm seinen eigenen Schrei als Signal, um mit der Tirade erst recht zu beginnen. Er stand mitten im Wasser auf den Zehenspitzen während der feine Wasserstaub einer Fontäne auf ihn niederrieselte.
„Dieser Blender hier“, fuhr er fort und fuchtelte dazu wild mit seinen Händen in der Luft herum, „wagt es in meiner Gegenwart, aufgeklärte Wissenschaftler zu belehren, gar noch über sie zu spotten. Das wäre ja noch schöner, wenn da jeder ohne akademischen Titel daherkommen könnte und die Geschichte der Menschheit interpretieren wollte, gerade wie es ihm gefällt. Jene Geschichte, die wir, die Historiker, in Zusammenarbeit mit den Archäologen, aus zerbrochenen Tongefässen, aus Höhlenzeichnungen, aus Ausgrabungen von Schmuck und Münzen mit viel Mühe akribisch rekonstruiert haben! Wir sind heute sogar in der Lage, das Alter von ausgegrabenen Wagenrädern dank neuesten technisch-wissenschaftlichen Methoden genauestens zu datieren!“ rief er stolz in die Runde. „Da kommt also einer und schwatz mir nichts dir nichts irgend etwas drauf los. Ein Lügner ist das. Solchen Dilettanten muss man das Handwerk legen. Sie sind eine Gefahr für die ganze Gesellschaft!“ Darauf hörte er auf zu fuchteln, atmete ein paar Mal tief durch, beruhigte sich etwas und fuhr selbstbewusst fort: „Als Mitglied der internationalen Forschervereinigung protestiere ich in aller Form gegen solche Anfeindungen und verwahre mich im Namen aller Mitglieder gegen solch gefährliche Aussenseiter, die nur eines im Sinne haben: die Ordnung der Welt auf den Kopf stellen und ein Chaos etablieren.“

Mischler unterbrach mich mit einem geringschätzigen Gekicher: „Das ist ja allerhand, was René für Fantasien im Kopf hat.“ Worauf ich ihn skeptisch anschaute und fragte, ob er sicher sei, dass das bloss Fantasien eines Irren seien? Als Mischler nichts darauf entgegnete, las ich weiter aus dem Manuskript vor.

Nachdem der Historiker sich vor den Zuschauern verneigt hatte, löste sich der Pfahlbauer aus dem Schatten eines der Kunstwerke. Als wäre er ein Schauspieler in einer Theaterinszenierung, winkte er dem Magister zutraulich zu, schmunzelte dazu leicht und rief mit lauter heller Stimme: „Hallo, Herr Historiker, ich bin noch da, der Pfahlbauer, der sogenannte Scharlatan.“ Darauf machte er ein hilfsbereites Gesicht, als sorgte er sich um die geistige Gesundheit des Historikers und rief ihm zu: „Ich bin noch immer bereit, Sie von gewissen Irrtümern der offiziellen Geschichtsschreibung zu befreien. Nehmen Sie diese einmalige Gelegenheit wahr, nutzen Sie die Chance, einer jener Menschen aus der sogenannten prähistorischen Zeit der europäischen Kultur persönlich anzutreffen!“

Mischler unterbrach mich aufs Neue. Er hatte Durst und wollte noch ein Mineralwasser bestellen. Wir sassen im Gartenrestaurant bei eben diesem Tinguely-Brunnen in Basel. Es war ein lauer Sommerabend. Die Gaststätte war bis auf den letzten Platz mit jungen, schicken Leuten besetzt, die sich an diesem beschaulichen Ort einen netten Abend machen wollten. Mischler und ich, wir waren hierher gekommen, um die reale Kulisse aus Renés Manuskript um uns zu haben.
Der jugoslawische Kellner servierte eine neue Runde am Tisch hinter uns. Stangen für die jungen Männer, Gespritzten für die jungen Frauen. Eine Gelegenheit, eine weitere Bestellung aufzugeben. Eine Frau am Nebentisch machte ihrem Freund unterdessen den Vorwurf, dass er nie richtig mit ihr spreche, während am Tisch gegenüber ein junger Schönling gross angab, wie er es seinem Chef heute Nachmittag aber gesagt habe. Mischler nahm lebhaft Notiz von dem, was um uns herum geschah. Er kümmerte sich nur widerwillig um das fantastische Drama, das sich laut René hier abgespielt haben soll. Als die Bedienung die beiden Getränke hingestellt hatte, drängte ich Mischler, mir weiter zuzuhören. Im Gegensatz zu ihm, fand ich es spannend, mir die Szene, wie sie sich an diesem Platz zugetragen haben soll, vorzustellen.

Inzwischen hatte sich der Historiker wieder gefasst und das Feuer der Empörung hatte erneut von ihm Besitz ergriffen. Vor Wut lief er tief rot an und schrie den Pfahlbauer an: „Was, du wagst es noch, mich direkt anzusprechen. Ich bin nicht nur Historiker an der Universität Basel, sondern auch noch Gastprofessor an der Harvard University in den Vereinigten Staaten von Amerika, und die sind in allen Bereichen führend!"
Doch der Pfahlbauer liess sich nicht abhalten, geriet nun seinerseits etwas in Wallung und rief dem Historiker auf der andern Seite der Wasserfontäne zu: „Ja, die Amerikaner sind in allen Bereichen führend, weil sie ignorante Imperialisten und zudem aggressive Militaristen sind. Sie sind tonangebend, weil sie durch die Vormachtstellung in den internationalen Institutionen ihre sogenannten Forschungen und ihr Weltbild als sakrosankt verbreiten können. Würden sie nicht mit ihrem Militärstaat die ganze Welt einschüchtern, hätte sich längst eine andere Weltanschauung einschliesslich einer anderen globalen Ordnung durchsetzen können.“
Der Historiker konterte schnell: „Was faselst du denn da für einen Blödsinn zusammen.“ Er musste festgestellt haben, dass er nicht nur in seinem Fach als Historiker angegriffen worden war, sondern dass es hier und jetzt vor allem darum ging, wer in den Augen des Publikums den Sieg davon tragen würde. „Esoterischer Schwindler!“, zischte er nun aggressiv, „Dilettant im Delirium!“ Nach einem kurzen Moment des Überlegens fügte er noch kämpferisch hinzu, er werde ihn im Namen der internationalen Forschervereinigung wegen Betrugs verklagen.
Er sei weder ein Betrüger noch ein Esoteriker, konterte der Pfahlbauer, dem die Drohung mit dem Rechtsstaat keinen Eindruck zu machen, sondern eher zu belustigen schien. Er sei durch den Äther ins Gehirn und in die Wahrnehmung des Historikers und aller Zuschauer am Brunnen gekommen, durch ein sogenanntes Wurmloch. Ja, durch eines jener Wurmlöcher, durch das man Zeitsprünge machen könne; eines jener Wurmlöcher, welche selbst einige Wissenschaftler für die Zukunft propagiert hätten. Nur brauche er nicht auf die Zukunft zu warten, bis irgendwelche Physiker mit einer neuen Formel die Wurmlöcher als absolut bewiesene Tatsache hinlochten, dabei auf den Nobelpreis schielten und die Wurmlöcher womöglich noch patentieren lassen wollten. Er könne das, was die Wissenschaft in die Zukunft projiziere, schon jetzt, weil er im Gegensatz zu vielen Akademikern begriffen habe, dass das Leben weder in der Zukunft noch in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart stattfinde. Somit sei die Fähigkeit, zwischen den verschiedenen Zeiten und Universen hin und her zu pendeln, für ihn als Pfahlbauer schon immer möglich gewesen.
Der Historiker hatte inzwischen einsehen müssen, dass das Gespräch eine neue Richtung eingeschlagen hatte und dass der Pfahlbauer beim anwesenden Publikum offenbar Sympathien erzeugte. Deshalb nahm er nun die Vernunft zu Hilfe und gab dem Pfahlbauer den Ratschlag, er solle doch bitte sehr zu den Kollegen der philosophischen Akademie gehen, dort gebe es noch mehr solcher Spinner. Er selber aber gehöre zu den Forschern, welche gründliche historische Wissenschaft betrieben und sich nicht in fiktiven Spekulationen wie die Philosophen oder einige irre Physiker ergingen.
Der Pfahlbauer nahm nun seine momentane Überlegenheit wahr: „Der Spinner, der sind Sie, mein lieber Historiker. Sie sind es doch, der irgendwo ein Stück eines alten Tonkruges aus dem Dreck zieht und daraus, einem Kaffeesatzleser nicht unähnlich, Zusammenhänge von Sprachen, ganzen Kulturkreisen und weltweiter Machtpolitik zusammenspinnt. Sie referieren doch in grossspuriger Weise über Ursprünge und Verhaltensweisen, über Zeremonien und Rituale vergangener Zeiten, über historische Zeitabschnitte und Orte, wo Sie selber nie gewesen sind. Jedes noch so kleine Ding, welches Historiker finden, reihen sie ein in ihre fiktiven und toten Systeme. Im Grunde genommen seid ihr alle blosse Grabschänder. Das einzige, was man aus den Scherben eines alten Tonkruges wirklich schliessen kann, ist die Tatsache, dass wir auch damals schon mit Wasser gekocht haben!“

Ich legte das Manuskript auf den Tisch und schwieg. Viele der Gäste im Restaurant waren inzwischen wieder nach Hause gegangen. Es war zwar noch nicht sehr spät, doch da es Mitte Woche war, mussten die Leute am andern Tag wohl wieder in die Büros in der Stadt und die Labors der chemischen Industrie arbeiten gehen. Nur noch vereinzelt sassen Gäste an den Tischen. Viele langweilten sich, da wieder einmal nichts passiert war am Kunstbrunnen zu Basel. Müdigkeit und Apathie beherrschte die Szene. Der Widerschein des Lichts der Brunnenbeleuchtung, der zu Beginn des Abends noch prickelndes Versprechen ausgestrahlt hatte, hatte sich in der Wahrnehmung der Gäste inzwischen zu ausladender Bedeutungslosigkeit verwandelt. Ich hingegen sah unsere Umgebung nur noch durch eine Art Trübung. Mischler trank noch einen Schluck vom Mineralwasser und fragte mich hoffnungsvoll, ob das alles sei, ob die Geschichte hier zu Ende sei? Nur langsam kam ich zurück in die Wirklichkeit. „Nein, nein“, sagte ich darauf etwas verwirrt, das sei noch nicht alles, der Streit sei noch nicht zu Ende. Ich nahm das Manuskript wieder zur Hand, um weiter zu berichten.

Der Pfahlbauer fuhr, als der Historiker nichts darauf antwortete, ruhig weiter. Sein Volk sei ein friedliebendes Volk gewesen. Die aufgefundenen Pfeile und Bogen hätten sie zum Jagen und nicht zum Töten benutzt. Sie hätten bescheiden gelebt, wie das die Landbevölkerung in Europa und auf der ganzen Welt auch heute immer noch tue. Tun möchte, aber von Leuten wie er einer sei daran gehindert werde. So wie sich die alten Kulturvölker den imperialen Machthabern und dem Christentum hätten unterwerfen müssen, so müssten sich heute die Menschen dem Diktat der Wirtschaftsimperien, der Konzerne, dem Shareholder Value, der politischen Korrektheit und einem korrupten Rechtsstaat unterwerfen. Sie müssten, statt ihr bodenständiges Leben zu leben, in die Schule gehen, wo die offizielle Propaganda als Bildung verkauft werde und die Menschen wie Hunde abgerichtet würden. Im Gegensatz zu den imperialen Machthaber hätten die alten Völker kein Interesse daran gehabt, sich gegenseitig abzuschlachten, da es viel Platz gegeben habe und das Leben auch ohne Krieg schon hart genug gewesen sei. Das sei die Pax naturalis gewesen. Das sei Europa während Jahrtausenden gewesen, bis das Römische Reich eingegriffen habe. Dann sei Schluss gewesen mit den guten alten Zeiten und dem Land, wo man überall und jederzeit genug zu essen fand. Die nachfolgende Pax romana sei nichts anderes als ein erzwungener, auf Unterdrückung basierender Friede gewesen. Und die Pax americana heute basiere auf den gleichen Machenschaften.
Der Historiker hatte sich unter der Flut dieser eindrücklichen Rede resigniert auf den Rand des Brunnens gesetzt. Nicht etwa, weil er von dem, was er zu hören bekommen hatte, überzeugt worden wäre, sondern weil er gespürt hatte, dass er das Duell in den Augen der Zuschauer verloren hatte, die nun ganz spontan, dem Verteidiger der primitiven Völker der Vorzeit applaudierten.

Inzwischen sassen Mischler und ich alleine im Gartenrestaurant. Die letzten Leute waren nach Hause gegangen. Der Kellner hatte abgeräumt, auch unseren Tisch. Er hatte die Stühle mit den Tischen mit einem Stahlseil zusammengebunden und mit einem Vorhängeschloss abgeschlossen. Offensichtlich hatte er Feierabend und wollte nach Hause. Freundlicherweise gestattete er uns aber sitzen zu bleiben.
Wir waren nun auf einmal die einzigen Menschen weit und breit. Nur noch die Strassenbeleuchtung spendete etwas Licht, so dass der Brunnen mit den Kunstmaschinen gespenstisch in seinem eigenen Schatten stand, als wäre er selbst aus einer andern Welt. Nun war es ein Leichtes, sich die beiden Streitenden vorzustellen, die sich hier inmitten des Kunstbrunnens duelliert haben sollen. Mischler hatte sich in der Zwischenzeit damit abgefunden, dass es so lange dauerte. Anscheinend amüsierte er sich doch. Ob über das, was er zu hören bekam oder einfach wegen der lauen Sommernacht und der Tinguelys Kunstwerken, wurde mir nicht klar. Ich nahm das Manuskript wieder zur Hand und las uns den Rest vor.
Der Pfahlbauer war jetzt in seinem Element und fuhr fort, ob der Historiker wirklich gemeint habe, sie seien untergegangen, seien besiegt worden und hätten dem darwinistischen Gesetz der Auslese weichen müssen. Der Geist und die Kultur des alten Europas lebten noch immer im heutigen Europa. Wie die Pfahlbauer gelebt und gedacht hätten, so lebten und dächten die meisten Menschen auch heute noch. Das wahre Bewusstsein der europäischen Zivilisation sei die bodenständige Kultur der Höhlenbewohner und der Pfahlbauer. Die Streusiedler und die Heiden von damals seien in den Köpfen der Menschen von heute noch immer präsent. Die hätten kein Interesse daran, sich von den Akademikern auf die Müllhalden der Geschichte kippen zu lassen, nur damit die Historiker etwas zum Ausgraben und zum Forschen hätten. Die ausgegrabenen Tontafeln, die Scherben von Krügen und der Schmuck seien Zeugnisse für ihre Kultur der Friedfertigkeit und der Freude am Schaffen.
Der Historiker machte sich darauf davon. Er schüttelte verständnislos den Kopf und murmelte dazu, auf so viel Ungebildetheit könne er gar nicht eingehen, das sei ihm zu blöd. Abgesehen davon habe er keine Zeit mehr zum vertrödeln, denn eine wichtige Sitzung einer Historikerkommission, der er angehöre, würde nächste Woche in New York tagen und darauf müsse er sich noch vorbereiten.

Damit endete die Szene mit dem Historiker und dem Pfahlbauer. Mischler und ich blieben noch sitzen, bis der Morgen dämmerte. Ich stellte mir vor, dass in Tingeulys Kunstwerken das Bewusstsein von Menschen aus anderen Zeiten immer noch lebendig war, obwohl die Maschinen längst abgestellt worden waren. Dann verabschiedeten wir uns. Mischler ging zu seinem Auto und ich auf den Bahnhof, wo schon die ersten Züge ein und ausfuhren.
Im Zug zurück nach Zürich schlief ich ein und träumte allerlei wirres Zeug. In einem klareren Traumfetzen stand ich auf dem Bahnhofplatz in Zürich. Irgend etwas war aber anders als sonst. Die Statue von Alfred Escher, der auf dem Brunnen stand und in die Bahnhofstrasse hineinschaute, das war gar nicht mehr Escher. An seiner Stelle stand jemand anderes auf dem Brunnen, und ich hatte das Gefühl, dass er sich bewegte. Als ich genauer hinschaute, wandte sich der Kopf der Statue mir zu, und auf einmal schaute Aristoteles tadelnd auf mich herab und ich hörte ihn sagen:
„Ich bin Aristoteles. Ich bin der geistige Übervater der Gilde der offiziellen Wissenschaftler und Philosophen der letzten zweieinhalbtausend Jahre. Sogar die Theologen sind letztlich nicht um mich herumgekommen. So viele Denker und Wissenschaftler können gar nicht irren. Also hüte dich vor gewissen Abtrünnigen, die etwas anderes behaupten als die vernünftigen Leute, die hinter und vor mir stehen. Die Wahrheit, die vernünftige Lehre, ja, das Recht selbst ist auf unserer Seite und wir werden es mit allen Mitteln und in alle Zukunft zu verteidigen wissen. Und wer etwas anderes behauptet, gehört zu den Barbaren und ist nichts anderes als ungebildetes Pack!“ rief er am Schluss noch ganz empört aus und verfiel wieder in seine steinerne Starre.
Ich war im Traum ziemlich verwirrt gewesen. Nicht etwa, weil Aristoteles höchstpersönlich vor mir gestanden hatte, sondern, weil sich der grosse Aristoteles so empören konnte. Ich war enttäuscht, dass auch er bloss ein eitler Bock war, der Angst um seinen Ruhm und seine Ehre hatte.
Ein Türke, der den Zug zu reinigen hatte, rüttelte mich wach. Noch ganz schlaftrunken ging ich mitten im Strom der Morgenpendler durch die Bahnhofshalle dem Ausgang zu. Auf dem Bahnhofplatz wagte ich zuerst nicht, auf die Statue auf dem Sockel zu blicken, sondern ging mit gesenktem Kopf an ihr vorbei. Als ich mich dann doch noch umdrehte, stand wie immer der stolze Alfred Escher auf dem Brunnen und wies mir den Weg zum See. Langsam schlenderte ich den Schaufenstern entlang. Neben mir strömten und hetzten die Menschenmassen vorbei in die Büros und Geschäfte.
Da liess ich Aristoteles Aristoteles bleiben und mich von seiner Autorität weder weiter beirren noch einschüchtern, sondern ging zielstrebig über die Brücke zum Bellevue. Dort ging ich ins Café Odéon und bestellte einen Kaffee.
Mittlerweile war es etwa neun Uhr morgens geworden. Die anwesenden Gäste vergruben ihre Köpfe in den Zeitungen und rauchten Zigaretten. Es war mir, als ob sich die Schlagzeilen des Tages mit dem Rauch verbinden und durch den Raum ziehen würden. Da kein Fenster offen war, schien es mir, als könnten sich die Schwaden aller politischen Querelen und Intrigen, der Unglücksfälle und Verbrechen, der Firmenfusionen und der Arbeitslosen nicht davon machen, sondern schlängelten sich über den Köpfen durch den Raum, bis sie sich mit dem Rauch zusammen in ihre Bestandteile aufgelöst und sich in den Kleidern und Taschen, den Haaren und auf der Haut der Anwesenden festgekrallt hatten, so dass alle Gäste noch den ganzen Tag über nach diesen Nachrichten stinken mussten.
Da Mischler mich nicht weiter auf meiner Tour de Suisse begleiten wollte, kaufte ich mir noch am gleichen Tag ein Generalabonnement, um all die Stätten von Renés Aufzeichnungen zu besuchen und selbst ein Tagebuch darüber führen zu können.


4
Zürich, am 29. Juni 2001
Gestern habe ich mein neues Generalabonnement eingeweiht und bin nach Zug gefahren. Dort habe ich mich auf eine Bank gesetzt. Ich schaute auf den See hinaus und er war so gewöhnlich. Die Menschen, die in der Sonne zu Mittag assen, waren Büromenschen, die kurz mal Ausgang hatten. Die Geranien vor den Fenstern, die Blumenbeete im Park und auf den Verkehrsinseln blühten. Alles war unbedeutend und ziemlich langweilig.
Dann las ich einen Teil von Renés Manuskript. Damit verzauberte sich die Welt auf einen Schlag. Die Landschaft und mein eigenes Sein wurden zu lyrischer Mystik. Die leichten Wellen des Sees wurden zu bedeutenden magischen Wesen und sprachen zu mir in einer unbekannten Sprache, die ich aber gut verstand und trotzdem nicht übersetzen kann. Die ganze Szenerie, einen Augenblick vorher noch profan und zerhackt, wurde auf einen Schlag mit Bedeutung gefüllt. Die jungen Frauen vor mir, auf dem Boden der Seepromenade im Kreis sitzend, steckten die Köpfe zusammen und hatten sich engelsgleich wichtige Dinge ihrer Universen mitzuteilen. Das Mädchen mit den roten Haaren, das im Halbschatten im Schneidersitz unter einer Kastanie sass, ass mit konzentriertem Blick auf ihre Hände eine frische Karotte und genoss sie langsam kauend und tief in sich gekehrt. Mein Blick ging über den See zum anderen Ufer, nahm dort die fernen grünen Hügel wahr, die zu mir herüberschauten und seit langer Zeit meine Bekannten zu sein schienen. Ich legte das Manuskript beiseite und genoss die behagliche Zeit um mich herum.
Doch allmählich verblasste der Zauber wieder. Die Dinge der Welt wurden abermals flach und gewöhnlich. Ich vermochte die fremde Sprache, Schwingungen jener andern Welt, die mich vorher noch gefesselt hatte, nicht hinüber in den Alltag zu retten. Der Moment ist so schnell wie die Gedanken, wie der Wind und rauscht rastlos wieder auf und davon. Auch das Gemäuer eines Gebäudes aus dem Mittelalter, an dem ich wenig später vorbeistrich, war ohne Lyrik sprachlos geworden und verschloss das Echo der Stimmen aus seiner fernen Zeit hinter dicken Quadern und wollte sein Geheimnis nicht preisgeben. Das schmucke alte Bürgerhaus daneben vermochte nichts von seiner grossen Vergangenheit in die Gegenwart hinüber strahlen zu lassen, zu sehr war es herausgeputzt, zu rot blühten die Geranien auf den Fenstersimsen.
Doch Mystik könnte die Wahrnehmung der Welt verändern.
Zurück zu Hause machte ich Spaghetti mit Tomatensauce zum Abendessen, trank dazu ein Glas Wein. Der Tag war reich gefüllt, der Kopf mit Wein, zwei Glas zuviel. Die Suche hinter den Dingen, die Suche nach Sinn und Lyrik, die Suche nach dem Kitt, der alles zusammenhält, auch das, was immer schon war.
Im Kopf sind wieder die jungen Frauen vom Zugersee, mit ihrer zur Schau getragenen nackten Haut, die Begehrlichkeiten weckt, die angeschaut werden will, gestreichelt werden möchte, von Händen, von Augen. Noch einmal sehe ich sie am Boden sitzend vor mir, ihre farbige Unterwäsche ist über den Jeans am nackten Rücken und am Bauch zu sehen, erneute Begehrlichkeiten; man kann noch das Logo der Marke sehen, den Rest muss man sich vorstellen. Die feine Wäsche, die den jungen Körper und die zarte Haut einhüllt, das frische Geschlecht umhüllt, eingepackt in Seide; darüber die feste satte Verpackung der Jeans. In den Werbemagazinen sind sie halb ausgepackt, die feste Hülle der Jeans schon weggepackt; ausgepackte Hintern und Schenkel, pralles Fleisch und Leben reizt auf Hochglanzpapier dem Betrachter entgegen, auch wenn das Model bloss für Parfum oder ein Motorrad wirbt, auf dem es sitzt, halb ausgepackt, halb eingepackt.
Dort unten am See und in den Hügeln dahinter muss es passiert sein, dort müssen sie gewesen sein, unsere Vorfahren. Von dort her und über den See und aus den Hügeln heraus könnten unsere Ahnen aus dem Mittelalter zu uns sprechen. Was sie wohl zu sagen haben? Ich stelle es mir vor, während ich die jungen Frauen vor mir auf dem geteerten Boden im Schneidersitz schweben sehe, miteinander Karte spielend und von der Schule plaudernd. Die Wortfetzen, die ich von den Gesprächen durch den Wind aufschnappe, verbinden sich nahtlos mit den Stimmen aus dem Mittelalter, die über den See kommen.
Später zieht der kurze Spaziergang durch das herausgeputzte und vor Blumentöpfen strotzende Zug noch einmal durch meine Gedanken; an altem Gemäuer aus dem Mittelalter streiche ich vorbei, dessen Geist jedoch längst verbannt, ausgetrieben und durch herausgeputzte Blumentopf- und Museumsmanier ersetzt worden ist. Aus dem Stadthaus strömt gerade ein jung vermähltes Paar, Jugoslawen, die von ihren nächsten Verwandten begrüsst werden. Man geht jetzt wohl in ein Restaurant. Und die aus den alten Mauern vertriebenen Geister des Mittelalters schweben und binden sich jetzt in der freien Natur, schwingen sich über die Bäume zum andern Ufer des Sees, kommen mit den Wellen wieder zurück und huschen in die Unterwäsche der jungen Frauen. Die eingepackten Hintern werden vom Wind angepackt und ausgepackt, als gehörten sie zur berühmt gewordenen Jugend der makellosen Models in den Zeitschriften, die ihre nackte Haut nebst dem Logo auf der Unterwäsche zeigen dürfen. Die Stimmen der Geister sprechen aus dem Mund am Unterleib zu den Schwänen am Ufer, die ihre langen Hälse den Mädchen entgegenrecken. Die jungvermählten Jugoslawen sitzen im Schiff auf dem Zugersee und die Wellen schaukeln sie ins Glück und die einheimischen Models sind inzwischen doch nicht berühmt geworden, dafür aber schon wieder geschieden. Der konzentrierte Blick des jungen Mädchens mit den roten Haaren auf die Karotte in ihrer Hand zeugt von Ahnungslosigkeit.


5

Mittlerweile glaubte ich, Renés Wesen ziemlich gut zu kennen. Ich machte mir klare Vorstellungen von seiner Gesinnung und versuchte herauszufinden, was die Gründe gewesen sein könnten, warum er seine Fantasien gerade an diesen oder jenen Ort hin gesponnen hatte. Ich arbeitete sogar kurz wieder an meinem Krimi, da die Idee aufkam, daraus, zusammen mit dem Manuskript, einen authentischen Kriminalroman zu schreiben. Ich stellte mir vor, dass es Verstrickungen zwischen meinen eigenen Vorstellungen und denen Renés geben könnte. Ich stellte mir sogar vor, dass mir Dinge wiederfahren würden, die mich selbst zu einem Teil des Romans werden liessen. Ich wusste damals in meinen Spielereien natürlich noch nicht, wie recht ich haben sollte, wie sehr ich mich wirklich auf das Glatteis des Lebens hinauswagte und wie sehr das Schicksal mich in eine Sache hineinzog, die immer riskantere Züge für mich annehmen sollte.
Dann fragte ich mich, was Mischler eigentlich mit dieser ganzen Angelegenheit zu tun hatte. Schliesslich war René nicht mein, sondern sein Freund gewesen. Was spielte Mischler überhaupt für eine Rolle? War da etwa mehr dahinter, als ich ahnte?
Um etwas über diese Hintergründe zu erfahren, besuchte ich ihn jeweils vor oder nach meinen Tagesausflügen. Ich wollte seine Reaktion auf die Schilderungen meiner Ausflüge beobachten. Doch da Mischler ein wortkarger Mann ist, war nicht viel aus ihm herauszuholen. Ich musste mich sehr anstrengen, um seinen spärlichen Äusserungen noch einen Zusammenhang mit meiner Geschichte abringen zu können. Trotzdem, da musste ein dunkler Fleck in Mischlers Schicksal sein.
Mischler und ich, wir kannten uns noch nicht allzu lange. Ich habe ihn jedoch immer gerne in seiner Werkstatt besucht. Manchmal stand ich ihm auch als Handlanger zur Seite. Dies gab mir jeweils Gelegenheit, über meine neuesten literarischen Projekte zu sprechen. Da Mischler selbst kaum etwas von sich und seinen Plänen erzählte – im Gegenteil, er riegelte sich nach aussen durch eine Art Barriere ab –, war unser Verhältnis ziemlich einseitig. Mischler war ein Workaholic und Bastler. Ein Erfinder und Eigenbrötler.
Als ich am Tag nach dem Rundgang durch Zug zu ihm in die Werkstatt kam, stand er gerade versonnen mit einem Stück Aluminium in der Hand in der Mitte seiner Werkstatt. Sofort legte er das Teil auf die Werkbank. Es war ihm offensichtlich peinlich, dass ich ihn beim Grübeln ertappt hatte.
Da ich aus Erfahrung wusste, dass Mischler lieber zuhörte als sprach, fing ich gleich zu philosophieren an: „Mischler, manchmal habe ich das Gefühl, alle nützlichen Dinge, die der Mensch erfunden und entwickelt hat, sind nicht mehr Gebrauchsartikel, sondern sind zu Zwangsartikeln verkommen. Ein Auto, so nützlich es sein kann, ist zu einem Prestigeobjekt geworden, mit dem man sinnlos herumfahren muss. Das Autofahren macht wegen des hohen Verkehrsaufkommens nicht nur keinen Spass mehr, sondern ist mühsam geworden. Im Stau stehen, keinen Parkplatz finden, ständige Konzentration auf den Verkehrsfluss, die anderen Verkehrsteilnehmer und die Fussgänger. Bei allem Neuen, das auf den Markt kommt, geht es in der gleichen Richtung weiter. Ein Handy, so nützlich es sein könnte, fördert das sinn- und nutzlose Kommunizieren. Die Konsumenten, wie die Menschen heute sinnigerweise genannt werden, telefonieren damit in der Weltgeschichte herum und erzählen sich gegenseitig dummes Zeug, dass es für einen unbeteiligten Dritten, der sich das alles anhören muss, kaum auszuhalten ist. Das gleiche gilt für das Radio, den Fernseher und die allgegenwärtige Information. Ständig wird man in Form gesetzt. Die Leute werden mit Gewalt in eine fixe Form, ähnlich einer Eisernen Jungfrau, gezwängt.
Zwar darf man durchaus seine eigene Meinung haben, darf für oder gegen etwas sein, aber nur, wenn man sich zuerst von dieser Eisernen Jungfrau, die in Form der neuesten Nachrichten daherkommt, bezwingen lässt.
Wer entscheidet eigentlich, was in den Nachrichten kommt? Wer entscheidet, wie die Form auszusehen hat, die wir übergestülpt bekommen? Jemand entscheidet doch! Irgendwo sitzen Leute in Redaktionen und entscheiden das. Wer sitzt dort zuoberst in der Hierarchie? Wer ist letztlich verantwortlich für diese ganze Gehirnwäsche? Hast du dir das schon einmal überlegt? Aus diesen ständigen Informationen heraus, unterstützt durch die Werbung, entstehen die Zwänge. Der Zwang zum Autofahren, obwohl man am Ziel meistens nichts zu tun hat und sich fragt, was man dort überhaupt verloren hat und sogleich weiterfährt oder wieder zurückkehrt. Oder der Zwang, beim Telefonieren Schwachsinn zu erzählen; der Zwang, so und so zu denken und so und so zu handeln. Es ist auch ein Zwang über jeden Scheiss, den man in den Nachrichten serviert bekommt, ein Urteil abzugeben und eine Meinung vertreten zu müssen, obwohl man damit meistens gar nichts zu tun hat. Da steckt doch jemand dahinter!“
Mischler kratzte sich am Hinterkopf, schaute mich kurz an, ging zum anderen Werktisch hinüber, suchte irgendetwas, nahm sich nach einem Augenblick einen kleinen Schraubenzieher, kam damit zurück zu seiner angefangenen Arbeit und schraubte langsam eine kleine Schraube in die Fassung der Lampe, die er gerade in Arbeit hatte.
„Abgesehen davon lassen sich die meisten noch freiwillig das Gehirn waschen“, fuhr ich eifrig fort. „Die Menschen sind süchtig danach. Nachrichten- und mediensüchtig. Schon am Morgen beim Aufstehen stellen sie das Radio oder den Fernseher ein, um sich diesen globalen Schwachsinn überzustülpen. Masochistische Nachrichtenfixer!“
Im Nebenraum wurde umgebaut. Presslufthämmer waren während meines Monologs zu hören gewesen, so dass ich etwas lauter sprechen musste und mich mehr als notwendig in Rage geredet hatte. Mischler hatte inzwischen die Fenster geschlossen.
„In letzter Zeit hört dieser Lärm kaum mehr auf“, war nach einer langen Pause seine typische Antwort. „Überall im Quartier wird umgebaut, alte Fabriken werden abgerissen, dann wird wieder die Strasse aufgerissen, Leitungen zum Gebäude werden neu verlegt. Im anderen Loft schräg gegenüber wird wie wahnsinnig malocht. Den ganzen Tag über hört man lärmende Geräusche von Bohrern und Presslufthämmern, wüste Flüche, Stahlrohre klappern, Geräte aller Art surren und sägen, hämmern und stampfen, pfeifen und rattern. Nie hat man seine Ruhe! Der einzige Trost, der mir noch bleibt, ist, selber an diesem Konzert der Nervensägen teilnehmen zu können“. Damit hatte er die für ihn lange Rede abgeschlossen, stülpte sich die Gehörschoner über, ging wie aus Trotz zum Industriestaubsauger, schaltete ihn ein und sammelte mit ohrenbetäubendem Dröhnen all die kleinen Staub- und Metallpartikel auf dem Boden ein, als wolle er damit gleichsam das, was ich gesagt hatte, übertönen, es im alles fressenden Bauch des Staubsaugers entsorgen.


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Tag der Veröffentlichung: 08.08.2010

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