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INHALT

COSTA RICA
Auf der Flucht 7
Platon war ein Scharlatan 11
Das Meer macht blau 11
Die Nebelwälder der Amerikaner 11
Das Klima ist kaum auszuhalten 11
Titten, Zahnpasta und Versicherungen 11
In La Fortuna spuckt es 11

NICARAGUA
Das himmlische Kind 11
Granada und die Contras 11
Diebe, Sado-Maso und Zigarren 11
Ein Vulkan und andere Katastrophen 11
Das kommt mir etwas spanisch vor 11
Marktspektakel 11

EL SALVADOR UND GUATEMALA
Abfall, Pistolen und rasierte Achselhöhlen 11
Der schwarze Jesus 11
Boat People 11
Militarismus und Terror 11
Menschenopfer im Dschungel 11
Reisebekanntschaften 11

MEXIKO
Tortillas, Tacos, Tequila und Bikinis 11
Grosse Fische, kleine Fische 11
Grosser Geist, Hexen und Dämonen 11
Psychosmog 11
Filet Mignon und Cabernet Sauvignon 11

SCHWEIZ
Die Gespenster der Schweiz 11

»Ich weiss, dass ich nicht weiss.«
Sokrates

»Ich weiss zudem, dass all die andern
auch nicht wissen.«
Thomas Moser


Auf der Flucht

Der Flug von Zürich über Madrid nach San José in Costa Rica war ein Horror wie jeder andere Langstreckenflug auch. Ich muss es gestehen: Ich leide unter Flugangst. Jedes unregelmässige Dröhnen und Aufheulen der Maschinen, jedes Schwanken bei Manövern, jedes Rütteln und Schütteln des Rumpfes bei Turbulenzen treibt mir Angstschweiss aus den Poren und lässt mein Herz in Panik schneller schlagen, während ich mich bemühe, meine Gesichtsmuskeln unter Kontrolle zu halten, um möglichst unerschrocken in die Welt zu gucken. Das Essen an Bord, der Service überhaupt, liessen auch zu wünschen übrig. Zudem hatte ich wenig Platz und konnte mich kaum bewegen. Aber was will man. Das Fliegen war noch nie so billig wie heute.
Es war ein halbherziger Entschluss gewesen, nach Zentralamerika zu gehen. Richtig überzeugt davon war ich nie. Man sucht zwar immer das Optimale, doch durch jede Wahl für ein Land entscheidet man sich gleichzeitig gegen all die andern, die auch eine Reise wert gewesen wären.
Im Flugzeug befand ich mich denn auch im Wechselbad der Gefühle, und ich grübelte an meinem Entscheid: »Wäre es nicht vielleicht besser gewesen nach Brasilien oder nach Australien, nein, endlich einmal in die Südsee oder vielleicht gar in die USA zu fliegen?« Ständig kreisten mir diese Gedanken im Kopf herum.
Ein grün bewaldeter Berg, der plötzlich aus der geschlossenen Wolkendecke ragte, riss mich aus meinen Träumen und Zweifeln. Das phantastische Bild liess augenblicklich die Angst vor dem Fliegen in den Hintergrund treten. Ein mystischer Glanz ging von den umwölkten Bergkuppen aus, die von ihrem Rumpf getrennt zu sein schienen und wie eine andere, bedeutungsvollere Welt, einem Luftschloss ähnlich, erhaben im freien Raum schwebten.
Jäh auftauchende einzelne Löcher in der Wolkendecke erlaubten aber auch schnelle Blicke in ebenso grüne Täler, die mir vom Blau des Himmels herunter versprachen, an den tiefgründigen Schichten der Natur für einen kurzen Moment teilzuhaben.
»Auf diese Berge will ich rauf, dort ist es schön, dort gefällt es mir, dort finde ich Ruhe und Erholung, um schreiben zu können.« So dachte ich und war total aufgestellt. Doch es sollte anders kommen.
Um fünf Uhr nachmittags landeten wir. Es war noch heller Tag, und ich entschloss mich, nach der Erledigung der Grenzformalitäten statt in die nahegelegene Provinzstadt Alajuela in die etwas weiter entfernte Hauptstadt zu fahren.
Der junge Taxichauffeur schien schon auf mich gewartet zu haben:
»Taxi! Do you like a taxi to San José?« Ein Taxi nach der Stadt wollte ich allerdings. Aber ich habe auf all meinen Reisen gelernt, dass man besser fährt, wenn man den ersten Ansturm all derjenigen, die einem ein Taxi, ein Hotel, eine Tour oder was auch immer aufdrängen wollen, am besten ignoriert. Andererseits habe ich aber auch gelernt, dass es, wenn man wirklich etwas braucht, keinen grossen Unterschied macht, für wen und für was man sich entscheidet. Die Hauptsache war es erst einmal, vom Flughafen wegzukommen.
»O. k.«, sagte ich. Ich müsse aber zuerst noch Geld wechseln.
Er begleitete mich zum Geldwechselschalter. Dort gab es eine kleine Menschenschlange, und es ging nicht so schnell vorwärts, wie mir lieb gewesen wäre. Schon war ich nicht mehr überzeugt, in einem effizient funktionierenden Staat gelandet zu sein.
Eine Deutsche, die in der Nähe von San José ein kleines Touristenhotel unterhält, nutzte die unfreiwillige Wartezeit der Leute aus und verteilte ihr Flugblatt und bot auch mir ein Zimmer an. Der Preis war jedoch für mein Budget etwas teuer. Trotzdem zögerte ich, da mir ihre Worte »auf dem Land und trotzdem in der Nähe der Stadt« für eine gewisse Zeit in den Ohren lagen. Als ich dann aber auf meinen Taxifahrer blickte, stand der ganz nervös an einer Säule gelehnt und bangte um sein Geschäft. Da er mir schon etwas leid tat, entschied ich mich für ihn und für die City. Obwohl mir die Deutsche, als sie mein Zögern wahrnahm, sagte, die Stadt sei absoluter Horror. Alle, die einmal dort gewesen seien, würden nie mehr zurückkehren. Hingegen zu ihr aufs Land, da kämen viele wieder hin.
»Bringen wir’s hinter uns«, dachte ich und sagte zum Taxi- chauffeur: »Let’s go!«
Als wollte sich das Schicksal für meine zynischen Bemerkungen in meinem letzten Reisebuch AfrikaFieber rächen, schickte es mir gleich zu Beginn dieser Reise ein Taxi nach afrikanischem Muster: Ein altes, zerbeultes und vor Rost zerlöchertes Wrack. Als noch der Schlüssel im verbogenen Türschloss stecken blieb und mein Chauffeur die Türe auch mit Murks nicht aufbrachte, kam ich mir schon etwas sonderbar vor. Die andern Autos auf dem Parkplatz waren zwar nicht gerade fabrikneu, doch so schlimm wie dasjenige, welches das Schicksal für mich bereit hielt, war keines. Mein Chauffeur entschuldigte sich, ging kurz weg, um Hilfe zu holen. Dann ging’s los.
In der Zwischenzeit war es schnell dunkelste Nacht geworden, so dass ich leider, als wir in die Stadt fuhren, ausser Lichtern nichts von der Gegend mitbekam. Dafür roch ich die Abgase. Zuerst dachte ich, man müsse bloss die Fenster schliessen und dann sei die Welt wieder in Ordnung. Aber die liessen sich nicht mehr schliessen, die waren blockiert und sorgten nun für Dauerluft. Genutzt hätte es eh nichts, denn ich merkte plötzlich, woher die Abgase kamen. Das Auto hatte im Boden ein riesengrosses Rostloch. Von dort kamen die duselig machenden Benzingase, direkt vom löcherigen Auspuff. Wenigstens rochen wir unseren eigenen Dreck.
Plötzlich befanden wir uns auf einer unbeleuchteten Nebenstrasse. Müll- und Steinhaufen lagen herum. Links und rechts begrenzten Mauern die Sicht. Ein düsterer Hinterhalt, irgendwo an der Peripherie der Stadt. Ein Gitterzaun, eine stillgelegte Eisenbahnschiene und vor uns ein Auto, das die Strasse blockierte. Als dann noch ein Wagen hinter uns auffuhr, war ich mir sicher, in eine Falle gelockt worden zu sein, und erwartete gleich ausgeraubt zu werden.
Statt dessen sagte der junge Mann: »We are here!« Er stieg aus, packte mein Gepäck und ging schnurstracks auf ein Gittertor zu, das für mich gar nicht wie der Eingang zu einem Hotel aussah. Doch tatsächlich, nach ein paar Hallo-Rufen erschien eine mollige Frau hinter dem Gitterzaun, die weder Spanisch noch richtig Englisch sprach. Wir waren beim Casa Theo angekommen.
Die Frau war eine Deutsche, stellte sich bald heraus. Sie hatte das Haus mit ihrer ebenfalls sehr fülligigen Freundin zusammen vor ein paar Monaten von einer andern Deutschen in Pacht übernommen. Jetzt profitierten sie vom guten Ruf, den das Hotel in Traveller-Kreisen dank Lonely Planet hat, ohne aber Erfahrung in diesem Geschäft mitzubringen und ohne ein angenehmes Ambiente bieten zu können. Beide kamen mir total fehl am Platz oder zumindest ziemlich verloren vor.
Als sie mich auch gleich mit vielsagenden Mienen warnten, wie kriminell es hier sei, dass alles, was nicht niet- und nagelfest sei, geklaut werde, und dass die Bösewichte auch nicht zurückschrecken würden, Gürtel und Tragtaschenriemen zu durchschneiden, da löschte es mir total ab: »So empfängt man doch keinen Gast, nicht mit solch sicherlich übertriebenen Horrorgeschichten! Da bekommt man es ja mit der Angst zu tun.«
Mangels Einzelzimmer musste ich in einem dieser Backpackerschlafsäle mit Kajütenbetten schlafen. Der Raum war von einer Horde amerikanischer Teenager belegt. Sogar Räucherstäbchen haben die abbrennen lassen! Als ich dann schon um neun Uhr, vom langen Flug müde und ohne ein Wort an meine Zimmergenossen gerichtet zu haben, zu Bett ging, verliessen die Jugendlichen aber artig den Raum oder flüsterten nur noch miteinander.
Kurz bevor ich einschlief, schwor ich mir, am andern Tag gleich wieder von hier zu verschwinden, um den befremdlichen Geistern, die mir in San José aufgelauert hatten, wieder entfliehen zu können.

Das Elend des Menschen kommt daher, dass er nicht brav zu Hause bleibt und seine Arbeit macht.
So oder ähnlich hat einer dieser berühmten Männer – sein Name fällt mir gerade nicht ein – seine philosophischen Spuren auf einem Zuckersäckchen hinterlassen, welches ich einmal am Zürihorn beim Kiosk zu einem Kaffee bekommen habe.
Jetzt wissen wir also, warum es uns und der Welt so mies geht: weil dauernd alle unterwegs sind; weil jeder das Paradies anderswo als bei sich zu Hause sucht; weil viele überzeugt sind, an einem andern Ort mehr Glück zu haben, und meinen, in der Fremde das zu bekommen, was sie missen und suchen, und das, was sie zu einem besseren Leben brauchen, und weil kaum jemand zufrieden ist mit dem, was er hat.
So gesehen erscheint der Versuch unserer helvetischen Vorfahren, nach Gallien, dem vermeintlich gelobten Land auszuwandern, in einem anderen Licht. Die hatten eigentlich noch Glück, von Cäsar dabei gestoppt worden zu sein. Schon damals also wurden wir von einem mächtigen Imperium in unsere Schranken gewiesen, und es musste uns unser heimisches Glück von aussen und mit Gewalt aufgezwungen werden.
Gäbe es für die Schweizer heute vielleicht die Möglichkeit, dafür zu plädieren, dass Frankreich, wären sie nicht von den Römern an der Immigration gehindert worden, eigentlich den Schweizern gehörte? Könnten wir Schweizer nicht die heutigen Italiener für die Unverschämtheit und Brutalität der Römer verantwortlich machen und sie vor ein internationales Gericht zerren und Schadenersatzforderungen in Milliardenhöhe for-dern?
Ganz unglücklich müssten andererseits die Römer gewesen sein, die nicht zu Hause blieben, sondern sich in arrogantem Gehabe aufmachten, die Welt mit Krieg und Terror zu erobern und ihr ihren imperialen, römischen Stempel aufzudrücken, oder wie die historisch Gebildeten sagen würden, »die in schicksalhafter Mission aufbrachen, die Welt zu zivilisieren.«
Das wiederum zeugt von einem andern Problem. Nicht genug, dass man in die Fremde zieht, nein, man will das exotische Land oder die barbarischen Menschen auch noch beeinflussen, ihnen im harmloseren Falle eine andere Sicht der Dinge vermitteln, im schlimmeren, ihnen ein neues Weltbild aufdrängen, sie zivilisieren, sie dadurch unterwerfen und beherrschen.
Die Welt ist aus den Fugen und fast niemand mehr dort, wo er herkommt und nach der Meinung des zitierten Mannes hingehört. Die einen, denen es wirtschaftlich nicht so gut geht, suchen in fremden Ländern nach einem besseren Job, die andern, denen es wirtschaftlich gut geht, reisen zum reinen Vergnügen oder auch aus Frustration. Einige werden aus ihrem Land vertrieben, und viele vertreiben sich einfach nur die Zeit.

Noch keine 24 Stunden in Costa Rica, und schon bin ich am Meer und habe den Jet Lag. Der Pazifik ist hier gleich um die Ecke. Es ist erst morgens um zehn Uhr und schon 30 Grad am Schatten.
Sich abschleppen lassen und sich vom Schicksal treiben lassen, das ist das eine. Das andere aber ist die Flucht. Sich abschleppen lassen und flüchten, diese zwei Dinge sollten zu ständigen Begleitern meiner dreimonatigen Reise werden. Vergisst man zu flüchten, gerät man unweigerlich in das Gestrüpp desjenigen, von dem man sich abschleppen, beeinflussen und hereinnehmen lässt.
Rosi, eine Costaricanerin, hat mich heute nachmittag am Busbahnhof abgefangen und mich zu sich nach Hause, einer kleinen Privatpension, geschleppt, wo ich ein nettes Zimmer mit Bad für zwölf Dollar am Tag bezogen habe.
Und meine Nase tropft. Kein Wunder, nach all den Reisestrapazen, den Flughafen- und Flugzeug-Airconditions und einem Taxifenster, das sich nicht schliessen liess. Dazu kam noch die sechsstündige Busfahrt von San José nach Playa del Coco, die ich in der allerletzten Reihe verbringen musste. Die Fenster waren während der ganzen Fahrt offen gewesen. Hinten zog und windete es fürchterlich. Jetzt habe ich einen schlimmen Schnupfen.
Rosi sei nicht die Besitzerin des Hauses, klärte mich Jürgen, ein Tauchlehrer, der hier schon seit drei Jahren ein Zimmer bewohnt, auf. Rosi sei die Frau des Hauseigentümers, seines Freundes, und der sei Österreicher.
»Aha«, sagte ich.
Sein Freund sei zurzeit total verzweifelt, weil er in Österreich einer Arbeit nachgehe – jemand müsse ja Geld verdienen, schliesslich hätten die beiden zwei Kinder zusammen –, während seine Frau hier mit Touristen fremdgehe.
»Soso«, sagte ich.
Mir aber hatte sie gesagt, dass sie nur ein Kind habe, nämlich das kleine, blonde Mädchen, das sich den ganzen Tag mit Plastikspielzeug beschäftigt.
Das grössere Mädchen sei jetzt mit seinem Vater in Österreich und besuche dort die Grundschule, klärte mich Jürgen weiter auf. Er sei hier auch ein bisschen als Aufpasser tätig, das sei er seinem Freund schuldig. Obwohl er gegen ihre andauernden Affären nichts machen könne. Dass sie keine Heilige sei, das wisse sein Freund auch. Dass sie es aber derart arg treibe, hätte er selber nicht für möglich gehalten. Er müsse das alles mitansehen, habe aber keine Lust mehr dazu. Er wolle so schnell wie möglich aus dieser Situation raus und sich etwas anderes zum Wohnen suchen.
Im weiteren gibt es hier einen Bekannten von Rosi, ein etwa 40jähriger, deutschstämmiger, blonder Peruaner, der tagsüber oft und manchmal auch abends zu Gast ist. Heute morgen hat er mir seine Geschichte erzählt:
Pedro ist mit einer Frau in Caracas verheiratet, mit der er drei Kinder hat. Die älteste ist 15, ein anderes Mädchen 13, und dann hat er noch einen 14jährigen Jungen. Von dieser Familie ist er seit über zehn Jahren getrennt, hat absolut keinen Kontakt zu ihnen gehabt, hat nichts von ihnen gehört und sich auch nicht um sie gekümmert. In der Zwischenzeit ist er mit einer anderen Frau zusammengezogen, mit der er auch noch zwei kleine Kinder hat. Doch seit kurzem wohnen die drei Sprösslinge aus der venezolanischen Ehe auch in Costa Rica bei seiner neuen Familie.
Das kam so: Ein alter Bekannter von ihm hatte ihn von Venezuela aus angerufen und ihm mitgeteilt, dass seine 15jährige Tochter von einem Strassenganoven mit Narben im Gesicht schwanger sei. Zudem sei die Mutter der drei Kinder drogensüchtig und schon seit längerem verschwunden und habe ihre Kinder der Strasse überlassen.
Darauf liess Pedro die drei Strassenkinder von seinem Freund einsammeln und in ein Flugzeug nach San José setzen. Seither wohnen sie bei ihm und seiner Freundin. Das heisst, die älteste, die mit dem Kindchen unter ihrem Herzen, hat er in eine katholische Privatschule zu Nonnen gebracht. Vielleicht deswegen, damit wenigstens der jüngste Spross der Familie unter wohlanständigen Umständen heranreifen und es einmal zu einem moralisch hochstehenden Mitglied der Gesellschaft bringen kann.
Seine gegenwärtige Frau akzeptiert aber diese neue Situation und die aus heiterem Himmel dazugekommene Kinderschar nicht. Pedro lässt sich durch ihre Opposition aber nicht aus dem Konzept bringen und meisterte die schwierige Situation folgendermassen: Er will seine derzeitige Frau mit einem Einfachticket nach Peru zurückschicken, wo sie dann tun und lassen kann, was sie will und wie es ihr gefällt!

Zwei Spastiker treffen sich. Der eine sagt zum andern: »Du, wie ich gehört habe, hast du gestern bei einem Wettbewerb den ersten Preis in break dance gewonnen.«
»Ja«, sagt der andere. »Komisch, dabei wollte ich doch nur mal schnell an die Bar gehen und eine Cola bestellen.«
Diesen Witz hätte ich mich nicht getraut, drucken zu lassen, wäre er mir nicht in einer Bar von einem Gehbehinderten bei einem Bier erzählt worden. Dadurch jedoch wurde der Witz um so lustiger, wie es immer ist, wenn Leute über sich selber noch Witze machen können, wenn sie sich selber und ihr Schicksal nicht so tierisch ernst nehmen, wenigstens in Worten und in der Öffentlichkeit nicht, und sich nicht von moralisch und politisch korrekten Aposteln der Neuzeit den Mund verbieten lassen.
Joachim ist ein Deutscher, der schon seit sieben Jahren in Costa Rica wohnt. Er führt ein kleines, preiswertes Touristenrestaurant draussen unter einem Wellblechdach neben der Strasse zum Strand. Er serviert typisch zentralamerikansiche Spezialitäten, wo sich alles um Reis und Bohnen dreht. Zudem unterrichtet er Spanisch und Deutsch, denn von Haus aus ist er Lehrer. Er hatte hier eine Frau mit Schuss geheiratet. Darunter versteht er eine spanischstämmige Frau mit einem Schuss indianischem Blut. Seine Frau brachte zwei Kinder mit in die Ehe. Dann haben sie zusammen noch zwei dazu gemacht. Bald will er mit der ganzen Familie nach Deutschland zurückkehren, um dort ebenfalls als Lehrer zu arbeiten.
»Nur schon wegen der Kinder, damit die in Deutschland zur Schule gehen können.«
Wieso wollen eigentlich immer alle, dass ihre Kinder im Westen zur Schule gehen? Sieht man nur ein bisschen fern und liest die Zeitung, so weiss man doch, dass es keine undisziplinierteren und gefährlicheren Schulen als die im Westen gibt. Ist es nicht schade, dass jemand, der in der Fremde eine Existenz aufgebaut hat und dabei nicht scheiterte, der trivialen Bildung, der perversen Pädagogik, der vermeintlich grösseren Effizienz und der sogenannt besseren sozialen Verhältnisse wegen alles wieder verlassen will? Denn vielleicht ist er ja genau wegen dieser aggressiv und depressiv machenden Werte aus Europa geflüchtet.


Platon war ein Scharlatan

Noch immer bin ich in Playa del Coco. Es gäbe unzählige Gründe anzuführen, warum ich nicht mehr hier sein sollte. Es gibt aber auch einige, warum ich noch hier bin. Erstens ist meine Erkältung noch nicht auskuriert. Ich fühle mich darum nur als halber Mensch und bin noch nicht reisefreudig. Zweitens gefällt es mir auch ein bisschen hier. Zumindest habe ich mich an meine Umgebung gewöhnt und finde es bequem und angenehm hier. Tagsüber bin ich meistens alleine und ungestört im Haus. Der Tauchlehrer ist beim Tauchen, und Rosi ist am Rumschwanzen. Der wichtigste Grund aber, der mich am weiterreisen hindert, ist das dicke Buch, das ich mit mir rumschleppe, die Bibel des modernen Reisenden, der Lonely Planet.
Dieses Buch gibt umfangreich Auskunft über die verschiedenen Klimazonen und die Geschichte eines Landes, über die Menschen dort, ihre Gewohnheiten und Rituale, über ihre Religionen und Zaubersprüche, ihre Trachten und Traditionen, über ihre Wirtschaft und die Öffnungszeiten von Bank und Post sowie über allerlei kulturelle Veranstaltungen, Feiertage und Wechselkurse, zudem orientiert er über Flora und Fauna, über Staat, Politik, Ökonomie, Ökologie und Umwelt, über die Sprache und das Bildungswesen, über die Gesellschaft schlechthin und nicht zuletzt über viele nützliche Verhaltensregeln und über Krankheitserreger und kriminelle Stadtviertel. Dieser Schinken orientiert uns dermassen gründlich über jede Einzelheit der fremden Länder, dass sich eine Reise wegen der langen Lese- und Vorbereitungszeiten eigentlich nur erübrigen kann.
Wenn man also nicht unbedingt einen überfüllten Bus besteigen will, nicht in Schlafsälen schlafen möchte, wo geschnarcht, gefurzt, geschwitzt, vom unverschämt Öffentlichem-Liebemachen gestöhnt wird, wenn man nicht mit Kakerlaken zusammen das Bad und das Bett nicht mit Bettwanzen teilen will, wenn man nicht von Sandflöhen und Moskitos zerstochen werden möchte, sich keine Ma-gendarmverstimmung und keinen Durchfall, ja nicht einmal einen harmlosen Schnupfen holen will, wenn man keine Lust auf fremde Verhaltensweisen hat und trotzdem auf eine Reise durch die kunterbunte Welt unseres einsamen Planeten nicht verzichten möchte, dann gibt es nur eines: Man kaufe sich die Gesamtausgabe von Lonely Planet, das ist zwar nicht ganz billig, erstehe sich zudem eine Hängematte oder setze sich in einen bequemen Sessel oder lege sich aufs Bett, und dann fange man an zu lesen. Reisespass und Abenteuer pur, garantiert!
Ist nicht das schönste am Leben, und auch am Reisen, das Träumen und die Vorfreude, die Vorbereitungszeit und das seriös sich damit Auseinandersetzen?
Wehe aber dem, der auf eine wirkliche Reise geht und der bei einer konkreten Situation in seiner Reisebibel nachschlägt, was zu tun sei oder wie er sich zu verhalten habe. Zum Beispiel wenn er – vor allem aber auch sie – in einem Busbahnhof Schlange steht und währenddessen den Reiseführer konsultiert, um nachzulesen, wie genau er oder sie auf das Gepäck aufzupassen habe, damit nichts Schlimmes passiere.
Achtung, in dieser Zeit der Konzentration auf das Geschriebene wird ihm oder ihr bestimmt wegen der Unaufmerksamkeit gegen aussen das gesamte Gepäck oder doch zumindest der wertvollere Teil davon geklaut. Zum Beispiel eine kleine Tasche mit Fotoapparat, Pass und Traveller Checks. Oder wer allzulange im Restaurant durch die Buchseiten blättert, um in richtiger Sprache sein Chicken mit Pommes und eine Coca-Cola dazu zu bestellen, der riskiert, vom kurz angebundenen Kellner übersehen zu werden. Dann aber wartet man lange!
Noch Schlimmeres kann passieren, wenn man direkt vor einem kleinen Laden steht, der günstige Früchte verkauft, man aber partout in dem Laden, den das Buch als den besten in der ganzen Stadt angibt, Früchte kaufen möchte, diesen Laden aber nicht findet und dann den Verkäufer des Ladens, vor dem man steht, nach dem besagten anderen Laden fragt. Das sind dann die wirklich komplizierten Situationen.
Oder man steigt aus einem Bus aus und befindet sich vor einem reizenden und preiswerten Hotel. Aber die gut gelegene Herberge ist nicht die, welche im Reiseführer als der absolute Hit und Treffpunkt für Rucksackreisende angegeben wird, und man bekommt einen kleinen hysterischen Anfall, weil man am falschen Ort ausgestiegen ist und fängt an, den Busfahrer und die ganze fremde Kultur zu verfluchen und abgrundtief zu hassen.
Besser bedient wird man zu Hause in der Hängematte, wo man alles durchlesen und zumindest in der Vorstellung genau richtig machen kann, um ja nichts Wichtiges zu verpassen, und eine der vortrefflichsten Reisen seines Lebens unternehmen kann.
Es ist, wie wenn man die Ideen Platons studiert und zu ernst nimmt. Auch da erübrigt sich ein Leben in der Wirklichkeit, von der man, versuchte man sie nach der Theorie zu leben, eh nur bitter enttäuscht sein würde.
Ich hänge also vor Rosis Haus und lese mich durch die Welt des Lonely Planet. Ich besteige im Geiste Vulkane und Pyramiden, sonne mich an weissen Stränden, wandere durch Urwälder, schnelle mit Kanus durch wilde Ströme, wo mir der gefährlichen Piranhas wegen aufputschendes Adrenalin durch den Körper schiesst; ich segle in Windeseile durch den Stillen Ozean, schlendere an romantischen Uferpromenaden unter beleuchteten Kulturstätten vorbei, reite auf Pferdes Rücken durch Berg und Tal, diskutiere mit ebenso pfiffigen Abenteurern, wie ich selbst einer bin, über Gott und die Welt, kämpfe mit leidgeprüften Indianern für ihre Rechte, rette Wale und Schildkröten vor der Mordlust und der Habgier der Men-schen, kurz: Ich plane meine Reise bis ins Detail durch, während meine Nase tropft und tropft. Im Prinzip könnte ich hier ein Reiseabenteuer beschreiben, ohne je irgendwo gewesen zu sein.
Wenn wir schon einmal bei den Rucksackreisenden sind: Was die wohl alles mit sich in diesen riesengrossen Schläuchen am Rücken herumschleppen, damit während der Rush Hour in Lokalbusse einsteigen und den Einheimischen und dem Busfahrer auf die Nerven gehen? Ich meine jetzt nicht die Sachen, die aus¬sen angehängt und für alle sichtbar sind. Also nicht die Schlafsäcke und Wanderschuhe, nicht die Trommeln und Gitarren, auch nicht das Campingkochgeschirr und nicht die Schnorchel¬ausrüstung, nein, ich meine jene Sachen, die man nicht sieht und die man auch nie zu sehen bekommt, da sie entweder nie ausgepackt werden oder aber so geheimnisvoll sein müssen, dass sie nie aus den meist fensterlosen Schlafsälen herauskommen.
Kleider können es nicht sein, denn der typische Backpacker hat immer die gleichen, zusehends nach Schweiss riechenden und verschmutzten Kleider an. Aber was kann es denn sonst sein? Das ist eine echte Quizfrage und wird wohl ein für allemal unbeantwortet bleiben, es sei denn, man kauft sich einen Lonely Planet und schaut nach unter: Was soll ich mitnehmen?
Oder steckt etwa doch mehr dahinter? Vielleicht sind es ge-dörrte Pflanzen aus Urwäldern, welche die Reisenden durchwandert, Sand von Stränden, wo sie gekifft, Kristalle von Höhlen, die sie erforscht haben. Oder es sind gar Wasser, abgefüllt in kleinen Fläschchen, von Wasserfällen, unter denen sie nackt geduscht, oder Lavagestein von Vulkanen, die sie in locker zusammengestellten Gruppentours zu überhöhten Preisen bestiegen haben, und deren feuerspeiende und rauchende Gipfel an diesem Tag gerade unsichtbar hinter Wol-ken versteckt blieben, so dass nur ein leises, böses Grollen zu hören war.

Sieht man all diese Menschen mit den Nasen in den Büchern und mit herabhängenden Mundwinkeln, verursacht durch die vielen Enttäuschungen, die das wirkliche Leben im Konflikt mit dem Angelesenen mit sich bringt, und sieht man ferner, wie sie verbissen und mit übertriebener Ernsthaftigkeit an ihrem Irrtum festhalten und wie sie mit gedämpftem Bewusstsein von Fehlzündung zu Fehlzündung marschieren und die gewöhnlichsten Erledigungen des Alltags mit versteinerten Mienen verrichten, als gehe es um das Bestehen eines Examens; sieht man all dies, so weiss man instinktiv, dass diese Menschen alle in der Vorstellung und der Welt der Ideen leben, und man kann nur noch resigniert fragen: Hat sich Platon geirrt?
Ist unser ganzes platonisches Kultur- und Weltbild ein grosses Missverständnis, eine gigantische Lebenslüge sozusagen, ein gemeiner Betrug gar, dem wir seit Jahrtausenden aufliegen? Der Irrtum nämlich, an die Verwirklichung der abstrakten Ideen und Theorien zu glauben?

Man stelle sich vor: Platon, ein Schüler Sokrates’, kann es einfach nicht ertragen, dass sein Lehrer Lebensweisheiten zum besten gibt, ohne sie aber aufzuschreiben. Trotzdem bleibt Sokrates immer der Star der Szene. Weiss er nicht mehr weiter, so schliesst er sein philosophisches Palaver einfach mit einer wegwerfenden Handbewegung und den Worten Ich weiss, dass ich nicht weiss ab, überlässt das Wissen den Göttern und stolziert locker von dannen. Den Rest des Tages verpennt er irgendwo am Meer oder im Wald oder hängt rum, vielleicht in einem Teehaus oder einer Weintaverne, um noch nicht nach Hause gehen zu müssen.
Frustriert und beleidigt fängt Platon zu schreiben an. Er will den Göttern das Wissen entreissen. Er stellt Theorien auf und setzt Ideen in die Welt, damit er die Phänomene des Universums intellektuell begreifen kann. Platon fängt an zu wissen.
Denn er will seinen Lehrer überflügeln. Er will beweisen, dass Sokrates mit seiner Nicht-Wissen-These ein Hinterwäldler ist. Platons Ideen entspringen letztendlich einem Minderwertigkeits-komplex Sokrates gegenüber. Das aber ist verheerend.
Denn fortan werden alle, die nach oben wollen, alle, die karrieregeil sind und nach Ruhm und Ehre streben, alle die Rang und Namen haben, und alle, die sich wichtig und unentbehrlich vorkommen, um Planton nicht mehr herumkommen.
Von Aristoteles über Augustinus bis hin in unsere Tage zu Einstein und Bill Gates haben alle Platons Ideen in irgendeiner Form übernommen und bauen auf dem Fundament seiner Philosophie ihre neuen Theorien auf und zementieren damit ihre Macht und ihren Einfluss nachhaltig aus.
Will heute ein Bildungsbürger etwas gelten, zitiert er einfach Platon oder einen seiner gescheiten Nachfolger oder Opponenten, oder er bringt für die Durchsetzung seines Willens zur Macht einfach ein passendes Bibelzitat, und schon wird er begeistert beklatscht und in den Reigen der hervorragenden und intelligenten Geister aufgenommen.
So gesehen ist das ganze wissenschaftliche Brimborium nichts anderes als eine inzestiöse Gehirnwäsche und zudem ein riesengrosses Theater. Was diese Studierten nämlich wirklich machen, ist, den ganzen Tag in Archiven rumzuhängen, dort irgendwelche alten Schinken zu wälzen oder vor dem Computer zu sitzen, wo sie im Internet rumstöbern oder ihre farbigen Bauklötze der Wissenschaft wie Legosteine aufeinanderstapeln.
Doch im Hintergrund lauern die Götter, die sich ob so viel arroganter Unverschämtheit der Menschen ärgern und auf ihre Chance warten, sich an ihnen zu rächen.
Abschreiben, das ist des Mächtigen und Einflussreichen Lö-sung. Wer es nicht tut, ist selber schuld. Denn wer nicht abschreibt, wer etwas komplett Neues entwickeln will, der wird im harmlosesten Fall ignoriert oder ausgelacht, im schlimmeren ausgestossen und verleumdet und im schlimmsten verbannt, eingesperrt oder ermordet.
Diese ganze Kulturtragödie kommt daher, weil Platon damals von der Lockerheit und Nonchalance seines Lehrers frustriert war.
Wie sähe die Geschichte der Menschheit aus, wenn Platon damals als eifersüchtiger Spinner belacht und dann vergessen worden wäre? Jeder karrieregeile Wissenschaftler und jeder Theoretiker, jeder Politiker und Industrielle müsste sich im Herumhängen, im So-wenig-wie-möglich-Tun, im So-wenig-wie-möglich-präzise-Sein behaupten und müsste versuchen, den andern dabei noch zu übertreffen. Jeder, der in der Gesellschaft dazu gehören möchte, müsste richtig abschalten können, müsste der Sonne und dem Mond ihre Bahnen einfach sein lassen können. Vielleicht würde man wie Sokrates, statt zu schreiben und zu lesen, lieber in einem Garten sitzen oder einer Hängematte liegen und mit Freunden palavern. Immer wenn jemand haarsträubende Theorien zum besten geben wollte, würde man auflachen und die Lösung den Göttern überlassen, und der Geist wäre wieder so hell wie die Sonne, so klar wie der See oder so düster wie die schwarzen Regenwolken.
Nun, alles ist ganz anders gekommen und deswegen stehen wir heute wieder einmal vor dem Chaos. Gerade weil die Behörden, die Industrie und die Banken funktionieren und gerade weil alles analysiert wird, wähnt man sich heute in einer aufgeklärten Sicherheit. Niemand will oder kann mehr sehen, dass unsere Zivilisation vor dem totalen Abgrund steht.
Denn findet der Mensch in der Realität nicht das, was er gelesen hat, nicht das, was er sich vorstellt und woran er glaubt, so will er die Realität nach seiner Vorstellung ummodeln. Wenn es nicht anders geht – und es geht nicht anders –, dann eben mit Gewalt. Tintenrabenschwarz sehe ich.
Eigentlich sollten die Dilettanten anstelle der Experten an der Macht sein. Denn der Dilettant weiss instinktiv über die Improvisation der Götter und des Universums Bescheid und ahmt sie nach. Der Dilettant improvisiert. Der Dilettant ist ein Künstler.
Am Anfang, noch vor der Macht der Politiker und der Akademiker, noch vor dem Wissen der Physiker und der Psychologen, steht immer die Kunst. Kunst ist nichts anderes, als das zu denken, zu sagen, zu schreiben, zu malen, zu komponieren, zu kreieren und vor allem das zu tun, was einem einfach so in den Sinn springt, ohne es beweisen zu wollen oder es auf eine anerkannte Theorie zurückführen zu müssen, um legitim zu sein. Der Künstler schafft sich seine Welt aus der Luft.

Auch das Leben der Backpackers sähe ganz anders aus, würden sie sich sokratisch und spontan verhalten. Stünde man dann nämlich vor irgendeinem Hotel in einer idyllischen Gegend und würde nicht den Reiseführer konsultieren, so wäre man am richtigen Platz und ginge hinein und erlebte eine gute Zeit. Das gleiche gilt für die Früchte, die man dort kaufte, wo man gerade steht. Dann wäre man auf den toten Buchstaben und die Illusion des Gedruckten gar nicht mehr angewiesen.
Aber eben, es ist anders gekommen. Und ich sehe schwarz. Tintenrabenschwarz.

Eine der wenigen wirklich funktionierenden Varianten, das Leben zu meistern, ohne mit der Wirklichkeit in Konflikt zu geraten und ohne scheitern zu müssen, ist das Träumen.
Giovanni aus Genua war mir schon am ersten Tag aufgefallen. Seit Monaten hing er hier am Strand rum. Trank er nicht Kaffee oder machte er sich nicht gerade etwas zu essen, so ging er, oder besser, schritt er, abgehoben, mit verträumt melancholischem Blick den Strand entlang und war in seiner eigenen Welt.
Er komme schon seit Jahren hierher. Immer im Winter. Im Sommer arbeite er in Genua als Strandwart. Er habe vor, eines Tages auszuwandern, eines Tages für immer in Costa Rica zu bleiben.
Plötzlich hatte er eine Eingebung und verlangte kurz meinen Reiseführer, obwohl er kein Deutsch verstand. Mit der Schnellig-keit eines Reiseführer-Experten war er jedoch rasch bei der Ortschaft angelangt, die er suchte. Beim Stichwort Klima fragte er mich, ob ich übersetzen könne.
Gerne half ich ihm weiter: Von Januar bis April Trockenzeit und warm, von Juni bis September Regenzeit und heiss. Bedeu-tungsvoll nickte er in sich hinein.
Giovanni träumte von seinem Surfshop. Er wolle Land kaufen an diesem einsamen und noch unerschlossenen Strand. Da dort noch kein Tourismus herrsche, sei das Land spottbillig zu haben. Doch eines Tages, er nehme an so etwa in zehn Jahren, dessen sei er sich sicher, wenn dann also in ein paar Jahren dort unten die Hölle los sei respektive der Tourismus auf Hochtouren floriere, dann sei er der erste, der dort einen Surfshop unterhalte. Somit wäre er dann ein gemachter Mann. Blitzartig klappte er den Reiseführer wieder zu, nahm einen weiteren, genüsslichen Schluck von seinem Kaffee und stolzierte siegesgewiss zum Strand hinunter, um in seinen bordeauxroten, enganliegenden Shorts und mit seinem braungebrannten und sehr behaarten Körper eine weitere Runde zu drehen.
Hoffen wir, dass Giovanni noch viele Saisons nach Costa Rica kommen kann, um vor sich hin zu träumen, ohne dass es soweit kommen muss, dass er den ersten Schritt macht und Land kauft. Ob er überhaupt schon einmal auf einem Surfboard gestanden hat, ist in diesem Zusammenhang zweitrangig. Trotzdem aber wage ich es zu bezweifeln, denn Giovanni ist kein Surfer, sondern ein Strandläufer.


Das Meer macht blau

Vor mir liegt tiefes Blau. Das Meer macht blau. Mit jeder Welle wird der Geist mehr Meer. Jede Welle schwemmt den soeben gefassten Gedanken weg, macht einem neuen Platz, der, bevor noch zu Ende gedacht, auch schon wieder mit dem Schaum im Sand versickert. Die Gedanken nagen an mir wie der Stille Ozean am Kontinent. Mit der Flut bringt das Meer die Erinnerungen, die sogleich mit den Wogen wieder im Meer entschwinden.
Das Meer macht süchtig. Es ist die Sucht, ständig mit sich selbst auslöschenden Erinnerungen überflutet und davon befreit zu werden. Es ist das Begehren der Seele, von den Wellen verzehrt zu werden, bis nichts mehr in den Hirnzellen ist als die Wellen selbst, als das sanft wilde Meer, bis die Transmitter selbst nur noch Wellen senden, sonst nichts.
Die Brandung macht unermüdlich weiter. Das Meer schläft nie. Es ist ewig, wie das Universum, weit und ewig.
Eigenartig, als ich heute in Samaran, eine halbe Tagesreise südlich von Playa del Coco, ankam, dachte ich: »Hier bleibst du nicht lange. Von hier gehst du morgen wieder weg. Was willst du hier? Alles ist so geschleckt, so langweilig und paradiesisch schön. Das lenkt mich nur von den eigentlichen Zielen ab. Ich will doch reisen, so viel wie möglich sehen und so viele Eindrücke wie möglich sammeln.«
Das Meer war mir zu weit, der Strand zu weiss, zu grün die Kokospalmen, zu gelb die Sonne, zu blau der Himmel, zu oberflächlich die Menschen, zu seicht die Musik aus den Lautsprechern des Restaurants beim Mittagessen. Später aber, beim Spaziergang das Meer entlang, sah ich um mich, sah die paar Leute, die, wie mir schien, auch nichts Gescheiteres taten als ich selbst; ich sah die Kinder beim Spielen, spürte das Meer und hörte die Brandung, hörte, dass das Meer und die untergehende Sonne mir nichts zu sagen hatten. Es gab nichts zu sagen.
Auf einmal störte mich nichts mehr. Nichts mehr ging mir auf die Nerven. Da dachte ich, hier könnte ich doch noch für einen Tag bleiben, nur noch für einen Tag dem Meer zusehen, es geniessen, es Meer sein lassen. Nur noch einen Tag.
Noch einen Tag, das kann man am Meer jeden Tag sagen, da jeder wie der andere ist. Noch einen Tag. Dann weiss man auf einmal nicht mehr, wie lange man schon da ist.

Eines Abends, ein einfaches Nachtessen am Strand im Restaurant Bohemia, luxuriös einsam unter freiem Himmel und unter Palmen. Kerzen im Sand versetzten mich irgendwohin an einen gemütlichen Ort, den ich von unbekannter Ferne her schon kannte. Ein Ort, der immer wieder aus meinem Leben zu entgleiten droht, um plötzlich irgendwo durch ein Ereignis unangemeldet wieder aufzutauchen, kurz nur an die Oberfläche des Lebens geschwemmt wird und – ein weiterer Joint.
Das Pärchen aus Kanada machte es möglich. Sie war etwa Mitte zwanzig, eine hübsche Frau, keck, neckisch und sexy. Er war um die dreissig, besonnen, sehr ernst und in sich gekehrt.
Alles verkauft hätten sie zu Hause. Die Brücken hätten sie hinter sich abgebrochen, um sich Schritt für Schritt den Luxus zu leisten, unbeschwert ihre eigene Philosophie leben zu können. Es passieren lassen. Das Leben so sein lassen, wie es ist. Das wichtigste für sie sei, ganz im Einklang mit der Natur zu leben.
Seit sie vor einem halben Jahr die Chance bekommen hätten, hier dieses kleine Hotel zu pachten, gelinge ihnen das auch. Geld hätten sie dadurch auch genug. Geld sei sowieso nicht wichtig. Das sei nur Papier, das den Besitzer wechsle und allen Beteiligten das Leben einfacher und angenehmer mache. Jetzt gelte es, mit allem zu brechen – mit der Technik, mit dem modernen Leben überhaupt.
Als ich ihm sagte, dass ich einen Computer dabei hätte und daher auf Strom angewiesen sei, um schreiben zu können, wollte er das nicht richtig gelten lassen. Er schreibe nur von Hand. Das sei erstens viel natürlicher, und zweitens sei man so nicht vom System abhängig, und man könne überall und jederzeit schreiben.
Lebten uns die beiden nicht genau das vor, was viele möchten, eine Art kollektiver Traum? Einfach so. Doch irgendein dunkler Punkt blieb, etwas, das mir nicht geheuer war, etwas, das mich misstrauisch werden liess.
Warum aber immer so misstrauisch und so pessimistisch? Vielleicht habe ich mich ja geirrt wegen Platon und so. Vielleicht sehe ich tatsächlich etwas zu schwarz. Gibt es denn nicht auch die Möglichkeit, etwas blauer zu sehen?
Man braucht nur den positiven Teil einer Idee oder eines Buches zu nehmen, etwas, an das man glauben kann, und verinnerliche diesen lebensbejahenden Aspekt. Dann fahre man irgendwohin und wende dort diese Überzeugung an. Man muss bloss seine neue Denkweise wie ein Klischee auf die Realität legen, sprühe ein bisschen mit der Farbe des Lebens darüber, und schwuppdiwupp wird dieses Klischee zur eignen lebendigen Wirklichkeit. Es ist gar nicht schwer und genauso rosig wie in der Werbung.
Nach diesem eindrücklichen Abend mit Philipp und seiner Freundin hatte ich die Absicht, in sein kleines Hotel umzuziehen, da ich bei Valeria – so hiess die Unterkunft, wo ich die beiden letzten Nächte verbrachte – nur ein kleines Zimmer bekommen hatte, für 15 Dollar pro Tag, inklusive Frühstück und mit eigener Dusche. Das wäre, so gesehen, ganz optimal gewesen. Aber das Zimmer war nicht nur sehr klein, sondern auch richtig mufflig und düster, hatte kein Fenster und grenzte direkt an die Küche, die nach oben zu meinem Zimmer offen war und von allen benutzt wurde, so dass ich alle Gespräche, allen Lärm und zudem allerlei Gerüche mitbekam.
Zuerst machte Philipp mit mir einen Rundgang durch sein kleines Hotel Bohemia. Die fünf aus Holz gefertigten Zimmer waren spartanisch eingerichtet, was mich sehr ansprach. Dann zeigte er mir ganz stolz die vollautomatische Waschmaschine mit Tumbler. »Der einzige Tumbler im ganzen Ort«.
Wie war das nun schon wieder mit der Freiheit und der Technik, ging es mir kurz durch den Kopf? Wieder hatte ich das Gefühl, in eine Falle getappt zu sein.
Ich würde hier am Meer nur von Hand waschen, und die heisse Sonne trockne die Wäsche hier im nu, erwiderte ich ihm.
Die beiden boten keinen Service. Frühstück, Essen überhaupt und sogar Getränke wurden nur serviert, wenn es ihnen gerade passte. Es gab weder ein Badetuch noch Seife, und die Dusche war mitten auf dem Hof. Duschen als Schauspiel, ohne dass ein Vorhang einen beim Waschen vor voyeuristischen Augen geschützt hätte. Auf meinen argwöhnischen Einwand hin teilte mir Philipp etwas herablassend mit, nackt duschen sei hier kein Problem, die Nachbarn seien ganz o. k.
Er selber aber hatte für sich und seine Freundin ein schönes, kleines Badezimmer, vor neugierigen Augen versteckt, hinter Schloss und Riegel, eingerichtet.
Die beiden wollten gar nicht wirklich ein Hotel führen oder Gäste bedienen, sondern ganz einfach zusammen am Meer eine schöne Zeit verbringen, sich den lieben langen Tag gegenseitig streicheln und umarmen. Das wäre ja in Ordnung so. Aber wieso sollte ich bei diesem Theater zugegen sein, als Zuschauer ihr Budget ausgleichen und dazu auch noch klatschen?
Merkwürdig, dabei hatte ich gestern abend noch ein so gutes Gefühl gehabt. Ich hatte schon gedacht, mich bessern zu müssen, nicht immer so zynisch und sarkastisch zu sein, nicht immer alle und alles ins Lächerliche zu ziehen, sondern wieder an die Menschen zu glauben, die einem mit gutem Beispiel vorangehen und einem zeigen, wie ein echtes und sinnvolles Leben zu gestalten sei. Aber eben, das war gestern abend gewesen, mit Joint und romantisierenden Kerzen am Strand und gefälligen, philosophischen Gesprächen.
Ich rächte mich am nächsten Tag, indem ich Philipp mitteilte, das Zimmer sei viel zu teuer und ausserdem hätte es Moskitos und kein Moskitonetz. Da musste er ein paar Mal leer schlucken, lief dabei rot an, willigte aber zerknirscht ein und gab mir das Zimmer für elf statt für 13 Dollar. Das vertrieb mir aber noch keine Moskitos. So kaufte ich eine Dose Baygon, ein Insektenvernichtungsgas.
Das wiederum gefiel Philipp nicht: »Bitte, kein starkes Gift!« Ich machte mich schon darauf gefasst, dass er mit einem Plakat mit der Aufschrift Rettet die Moskitos anmarschiert käme. Moskitospiralen empfahl er mir statt dessen. Sehr wahrscheinlich damit die lebenslustigen Insekten zu duselig machendem Lockstoff tanzen konnten, bevor sie mir ganz trunken das Blut abzapfen würden, statt ins Jenseits befördert zu werden. Eine Stunde zuvor hatte er mir noch sein Zimmer gezeigt: Ein weit aufgespanntes Moskitonetz spannte sich luftig über dem Doppelbett.
Richtig stark aber kam es am nächsten Nachmittag. Ich lag gerade in der Hängematte, die Philipp fachgerecht aufgehängt hatte, und machte ein Verdauungsnickerchen, als plötzlich dröhnender Techno in meinen Ohren schmerzte. Die überlaute Musik, die sogar die brausenden Wogen der Flut übertönte, kam nicht etwa aus des Nachbarn Haus oder aus einer entfernten Bar und auch nicht von der andern Seite des tobenden Ozeans, nein, sie kam aus der Bar der naturverbundenen Moskitoschutztruppe, welche sich als ein von Steckdosen abhängiges Technofreakpärchen entpuppte.
Dabei würden doch die Wellen des Meeres den Takt angeben und der Wind für uns Strandleute in den Palmenblättern singen.
Das war aber noch nicht alles. Die Story hatte eben erst ange-fangen. Inzwischen waren noch andere Gäste eingetroffen. Ein kanadisches Paar, Bekannte von den beiden Aussteigern, und noch ein Kanadier, der gleich am ersten Tag seines Urlaubes von 11.00 bis 14.00 Uhr schnorcheln ging, ohne seine käsige Haut mit UV-Schutz einzusalben. Die nächsten Tage verbrachte er deshalb frei schwebend im Schatten.
Ein paar Tage später, ich sass gerade bei Philipp an der Bar und trank einen Kaffee, den er mir gönnerhaft offeriert hatte, kamen drei Einheimische, zwei finster dreinschauende Männer und eine Frau, um mit ihm zu sprechen. Sogar von weit her konnte man sehen, dass es nichts Nettes war, was die beiden Männer mit Philipp zu besprechen hatten. Später fragte ich ihn, was denn los gewesen sei.
Oh, es wäre grade gut gewesen, dass die Leute gekommen seien, gab er mir mit traurig verkifftem und trotzigem Gesichtsausdruck zur Antwort.
Es ging um den Abfall. Nun muss hier noch eine weitere Cha-raktereigenschaft von Philipp aufgeführt werden. Den ganzen Tag tat er nämlich nichts anderes, als einerseits Joints zu rauchen und seine Freundin in die Arme zu nehmen und andererseits – wohl als physischer oder psychischer Ausgleich – all die Tische und Stühle, die zu seinem Territorium gehörten, von einem Ort zum andern zu tragen, den Platz zu wischen, Hängematten aufzuhängen, sie beim geringsten Wetterumschlag, bei ein paar Regentropfen, ängstlich wieder abzuhängen, damit sie ja nicht nass würden. Sogar vor den Sachen seiner Gäste machte er nicht Halt. Hängte man sein Frottiertuch oder seine Wäsche hierhin, so hängte er sie dorthin. Wenn man seine Strandschuhe unten neben die Treppe legte, so reihte er alsbald all die Strandschuhe seiner Gäste nebeneinander. Er war also nicht nur ein sehr pingeliger Typ, sondern offensichtlich auch noch paranoid und hatte ständig Angst, die Kontrolle über sein gepachtetes Grundstück zu ver-lieren.
Sein Eifer ging nun aber noch weiter. Er versuchte nämlich weit über sein Territorium hinaus, Ordnung zu halten, und seine Visionen und sein Weltbild zu kommunizieren. Den Vogel abgeschossen hat er damit – weswegen er auch Besuch vom Eigentümer des Bohemia bekommen hatte –, indem er eigenmächtig, und ohne jemanden von seiner Absicht zu informieren, in das örtliche Abfallwesen eingegriffen hatte. Er hatte den Müll des Nachbarrestaurants, das waren einige Säcke und ein kleiner Container, einfach auf die andere Seite der Strasse, direkt neben den Eingang und vor das Gehege der örtlichen Schule, auf den grünen Grasstreifen gestellt. Der Kehricht stand vorher nicht etwa vor seinem eigenen Grundstück, sondern weit entfernt davon, auf dem Gelände des Restaurants. Die stellten ihren Müll bestimmt schon seit ewigen Zeiten dorthin.
Das sei aber kein guter Platz für den Abfall, klärte mich Philipp auf. Denn dort scheine die Sonne drauf, und bei der Schule wäre Schatten. Die hätten nichts begriffen, meinte er empört, die hätten keine Ahnung, wie man das Abfallwesen richtig anzugehen habe, und eines Tages würden sie ob all ihrem Müll ersticken!
Etwas später hatte ich mich bei einem Spaziergang davon überzeugen können, dass sowohl die Sonne wie auch der Schatten wandern. Es war fast so toll wie in der Schweiz in einer durchschnittlichen Nachbarschaft.
Am Tag bevor ich weiterreiste, braute sich im Hotel noch das ganz grosse Finale zusammen. Die Gäste begannen schon am Nachmittag Banana-Shakes mit Ruhm zu trinken, welche die Hausmeisterin grosszügig und eigenhändig zubereitete und den Gästen im Hot-Pants-Look servierte. Am Abend wollten alle zusammen an einem Feuer am Strand ein Fischbarbecue machen. Zu der Zeit waren aber alle dermassen besoffen und bekifft, dass das Grillieren nur schief gehen konnte. Ich machte mich aus dem Staub, da ich keine Lust auf ein verkohltes oder rohes Thunfischsteak hatte.
Am nächsten Morgen war es noch ganz still in unserem Hotel, als ich aufstand und auf den Bus ging.
Zurück blieben eine verkaterte Bande und eine Frau aus Oslo, eine dreissigjährige Studentin, die seit Wochen in Samaran rumhing und sof und sof, dabei viel plapperte und lachte, und die ein paar Tage nach ihrer Rückkehr nach Norwegen Zwischenprüfungen in Ökonomie zu absolvieren hatte.
Na dann, ein Prost auf die norwegische Wirtschaft!


Die Nebelwälder der Amerikaner

In Puntarenas, ein paar Stunden südlich von Samaran, hatte ich in einem Restaurant an der Strandpromenade noch ein Chicken gegessen, nachdem ich mich entschieden hatte, nicht noch eine Nacht zu bleiben, wie ich kurz vorher noch beabsichtigt hatte. Darauf stieg ich ganz verschwitzt in den Bus ein, der nach Monteverde fuhr.
Puntarenas liegt auch am Stillen Ozean und ist ein Ferien- und Wochenendort für die Ticos, wie sich die Costaricaner nennen. Am Wochenende strömen jeweils Tausende vom zentralen Hochland hierher, um sich zu amüsieren. Tagsüber ist Sol y Playa angesagt, und abends geht das Trara so richtig los: Fressbuden, Zirkuszelte, Warenstände, Berg- und Tal- und Geisterbahnen reihen sich dichtgedrängt aneinander.
Gestern abend hatte ich es noch genossen, von der anonymen Masse die Strandpromenade entlang gedrängt zu werden. Heute jedoch langweilte mich dieser Rummel schon wieder, da ich keinen wirklichen Zugang zu den Menschen und ihrer Kultur hatte.
Reist man in der Weltgeschichte herum, schaut dabei dem Leben der Einheimischen zu und hat selbst keinen wirklichen Bezug zu ihrem Alltagsleben, kommt man leicht ins Schwärmen und ins Idealisieren oder aber ins Motzen und Nörgeln. Leicht stellt man die andern Menschen und die fremde Kultur als die bessere oder die schlechtere hin. Man wird automatisch zu ei-nem Kritiker.
Ein Tourist sitzt meistens nur da, beobachtet die fremden Menschen und gibt dann sein Urteil je nach Lust und Laune ab. Entweder findet er die Leute interessant und tiefgründig oder stumpf und oberflächlich; auf einmal findet er sie geistvoll und kultiviert, dann wieder flau und ungehobelt. Ein paar Tage später sind sie seiner Meinung nach humorvoll und voller mystischer Ausstrahlung, wieder später einfallslos und ohne tieferen Sinn. Heute findet er sie hübsch und attraktiv, morgen hässlich und abstossend.
Die Touristen und Reisenden sind genauso Zaungäste des wirklichen Lebens wie die Journalisten und Kritiker. Sie sind keine Macher. Sie sind zum Zuschauen und zum Kritisieren degradiert, während das gelebte Leben an ihnen vorbeifliesst.
Jeder weiss heute über alles Bescheid, da er darüber im Internet, in Zeitschriften oder in Zeitungen gelesen oder es im Fernsehen gesehen hat. Jeder kennt sich überall aus. Jeder ist zu einem kleinen Universalgenie und Experten geworden, da man alles nachschlagen, nachlesen und nachsehen kann und fälschlicherweise annimmt, das sei die eigene Erfahrung und man habe den totalen Durchblick.
Jeder weiss über die Krise am Golf und über die Kriege auf dem Balkan genauso gut Bescheid wie über die Krise im Nahen Osten oder die Krise bei den Koalitionsgesprächen der politischen Parteien. Über die Strukturkrise einzelner Industrien ist man genauso orientiert wie über die Konjunkturkrise der Wirtschaft oder über die Krise in Italien wegen der Mafia. Die bedrohten Schildkröten in Indien gehen uns ebenso viel an wie die Probleme der Indianer in Mexiko. Über die Situation der Häftlinge in Tibet ist man ebenso gut informiert wie über den Eisprung eines Rhinozerosses im Zoo von Kapstadt oder über die Kapazität einer Hard Disc in einem Personal-Computer in Moskau. Alles wird öffentlich diskutiert, ausdiskutiert, kritisiert und von allen Winkeln aus paranoid beobachtet.
Das Leben wird nur noch beim Dasitzen als Zuschauer erlebt. Wie hypnotisiert gucken wir auf die Bühne, die Leinwand, auf den Bildschirm oder in die Zeitungen und Zeitschriften und versuchen dabei ganz kultiviert, den Befehlen aus diesen Zentralen nachzueifern.
Doch für diese Medienkultur bezahlen wir einen hohen Preis: Wir prellen uns selber um unser eigenes Leben. Wir sind zu Klone der Propaganda verkommen. Denn das richtige Leben findet weder auf der Bühne noch im Zuschauerraum statt, sondern ganz banal zu Hause, auf der gewöhnlichen Strasse oder dort, wo man gerade ist.
Die Menschen in den ärmeren Regionen der Welt sind tatsächlich noch reicher an eigenem Leben. Die inszenieren sich nicht ständig. Bei denen ist nicht alles bloss eine Show. Die haben noch echte Impulse und Instinkte. Diese Leute reagieren konkret auf konkrete Situationen in einer klar bestimmten kulturellen Bandbreite und tun nicht ständig so als ob. Diese Menschen sind, was sie sind.

Der Bus holperte und stolperte über Stein und Stein und schüttelte mich wieder einmal so richtig durch. Doch das musste so sein, denn eine Landschaft wird um so schöner, je näher man dran ist und je mehr Strapazen man erleiden muss.
Plötzlich fand ich mich in den grünen Bergen wieder, die ich vom Landeanflug auf San José in Erinnerung hatte. Auch das mystische Glücksgefühl stellte sich wieder ein. Der Wechsel des Klimas hatte dabei auch einen Einfluss, denn Monteverde liegt auf etwa 1500 m über Meer. Hier stehen die berühmten feuchten Nebelwälder und tropfen vor sich hin. Ein Muss für jeden Costa-Rica-Touristen.
Es wehte ein recht kühler Wind, als ich im Hauptort, in Santa Elena, ausstieg. Sogleich wurde mir von einem Jungen ein Hotel im Ort gezeigt. Dort aber waren dermassen viele amerikanische Neohippies einquartiert, dass ich mich gleich wieder davonmachte. Der ganze Ort war vollgepackt mit Jugendlichen. Zusätzlich wurde die Idylle des ruhigen Bergortes durch laute Musik aus den 60er Jahren gestört, die überall aus den Hoteleingängen dröhnte.
Lieber liess ich mich auf einen Mann ein, der mich von seinem Jeep aus zu sich winkte. Er bot mir ein Zimmer in seiner kleinen Pension an, die ein paar Kilometer ausserhalb des Ortes lag. Für zehn Dollar die Nacht bekam ich einen Raum, wo die Kleiderhacken exakt über dem Bett und dem Nachttischchen in geringer Höhe an der Wand angebracht waren, so dass es fast unmöglich war, etwas aufzuhängen.

Am andern Tag benahm ich mich wie ein richtiger Öko-Tourist. Für US$ 8.50 Eintritt durfte ich à discretion im Naturschutzgebiet in den Nebelwäldern von Monteverde wandern. Den ganzen Tag lang, bis nachmittags um vier Uhr.
Geschlafen hatte ich ziemlich gut, obwohl es gegen morgen im Zimmer empfindlich kühl geworden war und ich schon Angst hatte, wieder eine Erkältung eingefangen zu haben. Doch das Positive daran war, dass mich die Kälte aus dem Bett trieb und unternehmungslustig machte. Mehr oder weniger freiwillig erinnerte ich mich denn auch der Weisheit: Das Glück des Tages entscheidet sich am Morgen.
Kaum trat ich aus dem Haus, traf ich auf den Eigentümer, der mir geschäftsmässig freundlich einen Lift auf seinem Motorrad anbot. Er fuhr in die Käserei und lud mich, nachdem ich einen Blick in das Innere des Betriebes geworfen hatte, vor einer Bäckerei ab, wo man, wie er sagte, gut frühstücken könne. Bei ihm in der Pension gab es heute trotz des Schildes Bed and Breakfast kein Frühstück, da Sonntag war. Als guter Katholik ging er mit seiner ganzen Familie in die Kirche, und seine Frau hatte Wichtigeres zu tun, als hungrige Touristenmäuler zu stopfen.
Ich setzte mich in das Restaurant der Bäckerei. Über ein Dut-zend verschiedene Kuchen und Torten erwartete die Touristen. Ich bestellte ein Stück Karottenkuchen und einen Kaffee dazu.
Alles war amerikanisch. Der dünne Kaffee, die dicke Bäckerin sowie die Horde Touristen, diesmal ältere Semester, welche Kuchen und Eier und Speck und Pancakes und Toasts in sich hineinstopften und dabei laut in ihrer Mickymaussprache über die Lewinsky-Affäre diskutierten und all die Pro- und Kontra-Argumente, die man in jeder Form vom TV und von den Medien her kannte, mit den Frühstückseiern, dem Speck, den Toasts und dem Pancake zusammen wieder-käuten.
»Das Glück des Tages entscheidet sich am Morgen«, murmelte ich, zahlte und ging zum Eingangstor dem Dschungel zu.
Als ich das Ticket bezahlt und mir die Frau an der Pforte einen Plan des Naturschutzgebietes in die Hand gedrückt hatte, in dem alle Wanderpfade eingezeichnet waren, versuchte ich es noch mit einem Witzchen: »Wenn ich bis vier Uhr am Nachmittag nicht zurück bin, sendet bitte einen Rettungshelikopter.«
Der Witz kam aber bei den jungen amerikanischen Regenwaldwärterinnen nicht an. Schliesslich macht man keine Witze, wenn man gerade im Begriff ist, ein Heiligtum, dessen Hüterinnen sie waren, betreten zu dürfen. Vielleicht war der Witz aber auch gar nicht so lustig.
Endlich betrat ich den Wald und wanderte über gefällig angelegte Pfade, über niedliche Brücken, steinerne Treppen und abgesägte, flache Baumstrünke und musste mir keine Sorgen machen, mit meinen Schuhen in den Morast zu treten oder meinen Pullover zu beschmutzen. Es war nett, kühl, feucht und sehr windig.
Es war wie auf Wanderwegen durch die Alpen zu wandern. Auch dort ist man sicher aufgehoben, durch Wegweiser vor dem Verlaufen und Verschwinden gesichert und durch Pfade und Einschläge in die Felsen vor gefährlichen Hindernissen geschützt. Dadurch, dass ich noch Eintritt bezahlt hatte, bekam das Ganze eine noch viel grössere Bedeutung. Heilig und erhaben, wie die Bilder in einem Museum, schaute das undurchdringliche grüne Dickicht auf mich herab. Hätten mich die jungen Amerikanerinnen, die hier freiwillig ihre Arbeit leisten, gesehen, wie ich an einen Baum pinkelte, sie wären empört gewesen, dass ein niedriger Mensch mit seinem Urin in das Biotop des jungfräulichen Waldes eingriff und das Ökosystem nicht nur verunreinigte, sondern es auch noch durcheinanderbrachte.
Grün ist der Regenwald. Er wächst aus und auf dem braunen Morast. Diese beiden Farben sind in der Natur direkt aufeinander bezogen. Ist das auch in der Politik so, ging es mir durch den Kopf? Auch dort wollen doch die Grünen und die Braunen etwas Ähnliches: die einen eine reine und geschützte Natur, die andern eine reine und vor fremden Einflüssen geschützte Rasse und Kultur. Beide sehen sich gerne als Hüter und Wächter des Reinen und Ursprünglichen, das sie in seiner Urform belassen und vor den bösen Einflüssen der Evolution und der Menschen schützen wollen. Vielleicht sollten die beiden Parteien fusionieren und an gemeinsamer Front gegen die roten und gelben Blüten und gegen das unwissende Schwarz des dunkeln Universums kämpfen.
Später, als ich eine Pause machte und mich dazu auf eine Bank setzte und den Ausblick auf die Wälder genoss, die panora¬misch vor mir lagen, da geschah es: Düstere Nebelschwaden, die den Wäldern ihren Namen gegeben hatten, zogen auf. Schnell ziehende Wolken, wie im Fernsehen nach der Tagesschau im Meteo, wenn uns Alex Rubli eine Wetterlage erklärt, und dazu Bilder einer Wolkenstaffel im Zeitraffer über den Bildschirm hasten. Ein grosses Ereignis, dabei sein zu dürfen, obwohl das hier ständig so sei, wie ich mir später von Einheimischen versichern liess.
Hätte ich nichts von allem gewusst, wäre der Name Nebelwald nie deklariert worden, so hätte ich auf der Bank einfach nur gedacht: »Aha, Wolken, Nebel, es windet und es ist kalt.«
Vielleicht hätte ich mich sogar, ohne mir viel dabei zu denken, von der Mystik des Ereignisses einlullen lassen und hätte mich wohl gefühlt dort draussen in dieser düsteren Natur, einfach so. Aber da nun alles schon deklariert und in Reiseführern abgehandelt worden war, kam ich mir irgendwie zum profanen Zuschauer zurückgestuft vor, und auf der Bühne standen die heiligen Akteure, der Wald und der Nebel, und forderten Beifall.
Der Beifall war ihnen aber sicher. Denn bald darauf stapfte eine Gruppe amerikanischer Touristen durch die Regenwälder, ausgerüstet mit einem Flora- und Faunaführer und dem Bewusstsein, aktiv etwas für die von uns schlecht behandelte Natur zu tun. Immer wenn sie Pflanzen oder gar Vögel sahen, die im Buch abgebildet waren, gaben sie dies mit einem »Oh« oder einem »Ah« lautstark bekannt.
Oh, ich kenne diese Pflanze, wollten sie damit sagen, wenn sie neben dem Bild im Buch einen komplizierten, lateinischen Namen abgedruckt fanden. Ah, ich weiss, was diese Pflanze bedeutet. Einen Augenblick zuvor jedoch waren sie noch nichtsahnend an den gleichen Pflanzen vorbeigegangen, hatten sie einfach mit ihrer Unwissenheit ignoriert, so dass die armen Pflanzen unbekannt, schlimmer noch, unbedeutend bleiben mussten und mit keinem »Ah« und keinem »Oh« beklatscht wurden. Ökotourismus nennt sich das.

Der Beginn des Sektierertums ist die Deklaration. Diesen Einfall hatte ich plötzlich in diesem Zusammenhang.
Sei es nun die Deklaration des Inhaltes auf einem Joghurtbe-cher, oder seien es die genauen Angaben über die Ingredienzen einer Wurst oder die lateinische Bezeichnung von Flora und Fauna; sei es die Auflistung der chemischen Zusammenstellung eines Medikamentes oder die der Luftschadstoffe bis hin zu den Angaben über Ozonbelastung oder gar über Elektrosmog bei Handys und weiss der Teufel was noch.
Bei jeder Deklaration wird dem Konsumenten oder dem kritischen Zeitgenossen suggeriert, er wisse jetzt, womit er es zu tun habe, er wisse jetzt, was er esse oder trinke, was er atme oder was um ihn herum passiere, ob etwas gesund oder schlecht für ihn sei.
Auch bei einer Sekte folgt der Gläubige dem, was geboten wird. Vorschreiben und gehorchen. Auch die Wissenschaft, die sich gerne vernünftig und neutral gibt, ist letztlich nur eine Sekte. Auch sie suggeriert dem Lesenden, dem Lernenden, dem Gläubigen des Systems, er wisse jetzt, wie es um die Zusammenhänge des Lebens und der Welt stünde. Aufklärung nennt sich das.
Als ich dem Ausgang zuging, kam mir eine weitere Amerikanerin entgegen und fragte mich ganz aufgeregt und in geheimbündlerischer Urwaldverschworenheit, ob ich Affen gesehen hätte. Nach meiner Antwort: »Nein, ausser mir habe ich keinen gesehen«, war es aus mit der Solidarität der Gleichgesinnten, und ich war ihr nicht mehr geheuer. Schnell wanderte sie weiter, ohne auf meinen Witz eingegangen zu sein – auf der Suche nach ihrem eigenen Affen.


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Tag der Veröffentlichung: 08.08.2010

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