Mir wurde schwarz vor Augen. Tiefschwarz.
Nach ungewisser Zeit wurde es wieder hell. Sehr hell. Tiefgrelle Lichter, erfüllten mein Augen und ich kniff sie zusammen. Blinzelnd blickte ich mich um. Farbige Schatten huschten vorbei. Weiß. Grelles Weiß. Stimmen drangen an mein Ohr. Ein Gewirr aus verschiedenen Tonlagen. Langsam aber stetig gelang es mir die Augen zu öffnen. Ich erkannte einen Raum, ohne genau zu wissen, wo ich war. Die Wände waren steril-weiß. Der Untergrund fühlte sich weich an. Ich konnte einen bitteren Geschmack im Mund fühlen. „Bleiben Sie liegen!“ rief eine mir unbekannte Stimme. Ich war nicht Herr meiner Sinne, wusste nicht einmal, dass ich versuchte mich aufzurichten. Allmählich sortierte ich meine Gedanken. Ich erkannte ein Krankenzimmer und die Realität wurde mir obgleich bewusst. Schon seit Längerem wurde ich immer wieder bewusstlos. Woher das rührte wusste ich nicht, zum Arzt gehen wollte ich nicht mehr. Der glaubte mir sowieso nicht. Immer wieder hatte er mich nach Hause geschickt und meine Probleme leichtfertig abgetan. Und nun konnte ich mal wieder sehen, was ich davon hatte. Ich befand mich im Krankenhaus. Akribisch versuchte ich mich daran zu erinnern, was ich vor meiner Ohnmacht getan hatte. Meine Gedanken rotierten, doch eben in diesem Moment, zerrte eine Schwester an meinem Arm und stach mir eine Kanüle in diesen. Ich schrie kurz auf und unter Gemurmel versuchte sie mich zu beruhigen. Ich fuhr sie an, dass sie mich hätte vorwarnen können; sie verdrehte nur die Augen und säuselte etwas, dass ich nicht verstand. Mir war es, als verstünde ich meine eigene Sprache nicht mehr und mich überkam das Gefühl, als würde ich erneut ohnmächtig.
Später war das Zimmer leer. Die Ärzte und Schwestern waren gegangen. Ein Tropf befand sich an meinem rechten Arm. Eine klare Flüssigkeit lief hindurch. Ich wusste nicht was es war, was mich auch nicht sonderlich störte. Hauptsache mir wurde geholfen. Seitdem ich ständig bewusstlos wurde, war mein Leben beeinträchtigt. Ich konnte meiner Arbeit nicht mehr nachgehen und lebte mit der ständigen Angst, dass es bald wieder soweit war. Ich war nun 25 und hatte immer wieder dieses Gefühl in mir, dass mein Leben ein jähes Ende finden würde. Es war meine Angst vor dem Leben.
Ich blickte mich im Zimmer um. Es war so kahl, wie ich es das erste Mal erblickt hatte. Ich stellte mein Kopfteil höher. Nun sah ich eine weitere Person in diesem kargen Zimmer. Eine Frau, wesentlich älter, als ich, schlafend, wie es mir schien, ihr blondes Haar zu einem Zopf gebunden. Um die 50 musste sie sein. Ich dachte nicht weiter darüber nach. Plötzlich öffnete sich die Tür und eine junge Krankenschwester betrat das Zimmer. Sie trug zwei Tabletts. „Endlich etwas zu essen“
, dachte ich bei mir und erst jetzt bemerkte ich das Gefühl des Hungers in mir aufsteigen. „Wann hatte ich denn zum letzten Mal etwas gegessen?“
, dachte ich und wusste, dass mir niemand eine Antwort hätte geben können. Sie stellte die Tabletts ab. Ich beobachtete die Schwester. Sie blieb an dem Bett meiner Zimmergenossin stehen. „Mrs Crowning, ich habe ihnen ihr Abendessen gebracht.“ Sagte sie freundlich und schüttelte die Patientin. Diese gab weder einen Laut von sich, noch regte sie sich und ich befürchtete das Schlimmste. Sie eilte aus dem Zimmer und kam bald darauf mit einem Arzt zurück. „Sie hat es nicht geschafft.“ Hörte ich die Schwester sagen. Der Arzt bestätigte die Aussage und veranlasste, dass sie entlassen würde. „Entlassen? Wohl ein anderes Wort, für beerdigen“
, dachte ich mir. Der Arzt kam nun zu mir. Seinen Kittel hatte er hochgekrempelt und ich erkannte eine Tätowierung an seinem Unterarm. „Sehr individuell“
, kam es mir in den Sinn, als ich das Wort R-E-L-E-A-S-E
lesen konnte. „Entlassen also, eigentlich kein Grund für einen Arzt sich so zu freuen, dass man sich dieses Wort auf den Unterarm stechen lässt“
, dachte ich und lächelte in mich hinein. Ich erklärte ihm, dass ich das Tattoo bewundere, ich traute mich so etwas nicht. Er lächelte gütig. „Ms Paulsin, wenn sie möchten dürfen sie aufstehen. Sie sollten es aber nicht übertreiben.“ Ich dankte ihm und verabschiedete den älteren Arzt. Anschließend fiel mein Blick zu Mrs Crowning herüber, die leblos in ihrem Krankenbett lag. Ein Unbehagen stieg in mir auf. Ich lag mit einer Toten in einem Raum, dieser Gedanke ließ mich zittern. Ich beschloss dennoch aufzustehen und zu ihrem Bett herüberzugehen. Vorsichtig und mit langsamen Schritten ging ich auf das Bett zu. Dann erreichte ich dieses. Ich ging an die rechte Seite, blickte sie an. Warum ich das machte, weiß ich nicht, vielleicht war es einfach die Neugier, weil ich zuvor nie einen toten Menschen gesehen hatte. Sie lag dort mit weit aufgerissenen Augen. Einen Moment lang blickte ich sie an, schämte mich innerlich dafür, dass ich so neugierig war. Ich verurteilte schaulustige Menschen und musste feststellen, dass ich selbst einer war. Für eine Minute sah ich sie an, wartete vielleicht darauf, dass sie irgendeine Reaktion zeigen würde. Plötzlich war es so, als hätte ich sie prusten gehört. Ich rieb mir die Augen, dachte daran, dass ich wieder ohnmächtig werden würde. Doch ich war bei Verstand. Im nächsten Moment blinzelte sie. Ich erschrak, wich zurück. Sie rang nach Luft, stöhnte und ich bekam es mit der Angst zu tun. Sie bewegte sich immer noch nicht. Hastig drückte ich auf den Schwesternknopf. Immer und immer wieder. Die Schwester von eben, kam herein und ich schilderte ihr die Situation. „Gut, dass sie mich geholt haben, ich gebe ihr ein Medikament.“ Erklärte sie, zog die Spritze auf und gab sie der Patientin, die sich mit Gemurmel dagegen zu wehren schien. Dann wurde es wieder ruhig. Ich hielt einen Moment inne, bevor ich mich wieder in mein Bett begab. Immer wieder blickte ich zu Mrs Crowning, als die Schwester das Zimmer verlassen hatte.
Während ich das Abendessen verspeiste, kam der Arzt und schob Mrs Crowning, samt ihres Bettes aus dem Zimmer heraus. Diese Gegebenheit beruhigte mich. Immer noch war ich sehr aufgebracht, durcheinander, dass sie die Augen bewegt und versucht hatte zu sprechen. Es war unheimlich und ein flaues Gefühl, breitete sich in mir aus.
Am Abend holte mich meine Sucht ein. Schon häufig wurde mir geraten, das Rauchen aufzugeben, doch es war nicht einfach. Ich bat also die Schwester darum mir meinen bereits geleerten Tropf abzunehmen, was sie auch. Stillschweigend akzeptierte ich, zog meine Strickjacke drüber, die Schuhe an und machte mich auf den Weg zum Fahrstuhl. Erst jetzt erkannte ich, dass ich mich im siebten Stock des hiesigen Krankenhauses befand.
Im Fahrstuhl selbst hörte ich das Quietschen und Klappern der Maschinerie. Unheimlich, besonders wenn man bedachte, dass es bereits nach Mitternacht war und ich mich in Kürze im äußeren Eingangsbereich des Krankenhauses befinden würde. Der Fahrstuhl hielt, die Türen öffneten sich und ich war heilfroh angekommen zu sein. Noch einen Schritt durch die Schiebetüren und ich befand mich im Freien.
Ein kühler Wind wehte, ein heimatloses Blatt wurde durch die Luft getragen und kam raschelnd auf dem Grund des Gehweges wieder auf. Ich zitterte, weniger durch die Kälte, sondern mehr durch die Angst, die in mir hochkroch, als ich Schritte zu vernehmen schien. Tack,tack,tack. Ich spürte wieder dieses dumpfe Gefühl in mir, wie es immer der Fall war, wenn ich einer Ohnmacht bevorstand. Ich sog die Luft tief ein, blickte zurück zur Ambulanz wo gerade niemand war. Ich war allein. Völlig allein, wie ich vor dem Krankenhaus in der Kälte stand, zitternd an meiner Zigarette zog und de Schritte immer näher kommen hörte. Angsterfüllt drehte ich mich hastig um. Dann wurde es schwarz. Tiefschwarz.
Nach ungewisser Zeit erkannte ich ein immer wieder aufblitzendes Licht. Es durchfuhr meine Augen, wie es nur Blitze konnten. Ein intervallartiges Klacken war zu hören. Der Raum in dem ich war, wurde nur von dem Aufflackern einer defekten Lampe erhellt. Die Ecken waren in tiefe Dunkelheit getaucht. Der Untergrund war hart und kalt. Mein Herz schlug schnell und bis zu meinem Hals. Es roch ungewöhnlich. Welcher Geruch es war und wozu er gehörte, vermochte ich nicht zu wissen. Mein Blick kreiste durch den Raum. Dunkelheit. So schwarz, dass man nicht die eigene Hand vor Augen sah. Nur durch das aufflackernde Licht, konnte ich schemenhaft erkennen, dass es ein verlassenes Krankenzimmer sein musste. Es ähnelte dem Zimmer, in dem ich gelegen hatte. Mein Kopf fiel auf die Seite und ich stieß einen hellen Schrei aus, als ich in die toten Augen von Mrs Crowning blickte. Ich atmete durch den Mund, meine Atmung schien auszusetzen, ich fürchtete die Ohnmacht. „Ms Paulsin, sind wir auch wach?“ fragte eine Stimme, die ich an diesem Tag schon einmal gehört hatte. Im aufflackernden Licht der defekten Lampe, erkannte ich den älteren Arzt, der mir an diesem Tag helfend zur Seite stand. Ich erkannte das Tattoo. Er hielt eine Spritze in der Hand. Der Stich war das Letzte, das ich fühlte.
Tag der Veröffentlichung: 31.01.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für die Menschen, die an andere glauben, so wie es die Menschen für mich tun. Dafür gebührt ihnen tiefe Dankbarkeit.