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Es geschah an einem äusserst warmen Novembertag. Einem Samstag um genau zu sein. Für die Einen war Weihnachten noch weit entfernt, für die Anderen stand sie bereits auf der Fussmatte. Manager und Banker irrten durch die vollen Gassen. Ihre Jacketten lose über den Ärmel geworfen. Aktenkoffer glänzten um die Wette und Visitenkärtchen wurden eifrig ausgetauscht. Jeder wollte sich am besten präsentieren. Nur keine falschen Hemmungen zeigen. Nicht in diesen Krisenzeiten.
Die Supermärkte hatten wie jedes Jahr ihre Weihnachtsdekorationen hervorgeholt und die Schaufenster geschmückt. Es roch nach dem bekannten vorweihnachtlichen Geruch. Tannenbäume wurden geschnitten und zum Verkauf angeboten. Schnee lag noch keiner. Heute war es schlicht zu warm dafür.
Robert Flieder stand vor einem dieser Bäume. Er liebte Weihnachten und hätte sie am liebsten schon heute gefeiert. Konservatismus prägte sein Leben. Traditionen durften nicht gebrochen werden. Keinesfalls. Doch dieses Jahr würde speziell anders werden. Das wusste er. Diese kleine Prinzessin würde ihm das Fest vermiesen. Im Mittelpunkt stehen und ihn als Aussenseiter hinstellen. Seine Gedanken drehten sich um die kleine Shana. Paulas und seiner Adoptivtochter aus Westafrika. Monrovia. Der Hauptstadt Liberias. Klar tat sie ihm leid. Ihre Eltern starben an Aids. Einer unheilbaren Krankheit die das Immunsystem zerstören. Ausgerechnet kurz vor Weihnachten, dem Fest der Liebe. Andererseits waren ihm Traditionen wichtiger. Er war ein Geizkragen. Ein Egoist. Teilen hasste er, wie kaum etwas anderes auf dieser Welt. Aufgewachsen als Einzelkind, war er sich solcher Anstandsregeln nicht bewusst und hatte sie auch nicht gelernt zu respektieren. Was ihm gehörte gab er nicht so schnell weiter. Eher liess er sie vernichten. Warf sie in den Mülleimer. Nicht einmal den Müllmännern gönnte er was. Der Müllsack wurde von ihm höchstpersönlich in den Wagen geworfen. Die Gefahr, dass sich ein anderer an seinen Sachen erfreute, war zu gross. Seine Frau Paula kannte diese Schwachstellen, aber die Liebe zu Robert war derart stark, dass sie über solche Schwächen hinwegsah.
Noch immer stand er vor den Weihnachtsbäumen. In Gedanken versunken. Ein buschiger, weiss melierter Schnurrbart zierte seine Oberlippe. Seine rundliche Figur erzählte von seiner bevorzugten Tätigkeit in seinem Leben. Essen. Essen war das wichtigste für ihn. Gutes Essen und dazu ein genüsslicher Tropfen Wein. Fein und fruchtig, das schmeckte ihm am besten. Sein braunes Perret bedeckte die Glatze und an beiden Seiten seines Schädels waren Haare zu erkennen, die hervor lugten. Auch sie waren schneeweiss. Seine Nase glich einer Gurke. Sie sah nicht nur so aus, sondern triefte auch wie eine. Er griff in die Hosentasche und zog ein Taschentuch heraus um sich zu schnäuzen.
„Ein Prachtexemplar“, staunte er nachdem sein Tuch in seiner Hosentasche verschwunden war. Der Christbaum den er nun bewunderte, hatte die perfekte Grösse. Nicht zu klein. Kleine Bäume mochte er nicht. Sie waren halbpatzig, anormal und es fehlte ihnen an Ausdruckskraft. Robert liebte grosse Bäume. Stattliche Bäume, mit robusten Zweigen. Sein Baumschmuck brachte schliesslich ein gewisses Gewicht auf die Waage, die ein Ast aushalten musste. Und wehe er krachte zusammen, dann war mit ihm nicht mehr gut Kirschessen.
Der Himmel war stahlblau und die Sonne beschien seine Kopfbedeckung. Nachdem er den Verkäufer bezahlt hatte, packte er den Baum am Stamm und schleifte ihn hinter sich her. Glücklicherweise hatte er sein Auto in der Rathausgarage geparkt. Diese war nicht weit entfernt und zu Fuss innert fünf Minuten erreichbar.
Sein blauer Ford Geländewagen hielt vor seinem Haus. Einem schicken Bau mit fünf Zimmern und einem kleinen Garten. Fehlte nur noch der Hund, der an das Gartentor gerannt kam. Nein, es gab keinen. Robert wollte nicht teilen, also hielten sie keine Haustiere. Er teilte sein Haus schon mit seiner Frau und ihrem gemeinsamen Sohn. Es grenzte an ein Wunder, dass überhaupt noch ein weiteres Familienmitglied dazu stossen durfte. Diese Entscheidung kostete den Geizkragen mehrere schlaflose Nächte.
Nun war er daran sein Prachtstück durch die Tür ins Entree zu hieven. Nicht ganz einfach für eine solch schwere Tanne. Michael, sein Sohn, rannte aufgeregt die Treppe hinunter in den Eingang und begrüsste seinen Vater.
„Hilf mir mal schnell“, befahl ihm dieser in einem forschen Ton. Michael packte zu und zusammen brachten sie den Baum ins Wohnzimmer. Michael war ähnlich gut gebaut wie Robert. Nur dass er keinen Schnurrbart trug, was für einen fünfzehnjährigen Jungen unüblich gewesen wäre. Sein Gesicht war allgemein ziemlich kindlich. Die meerblauen Augen fixierten den Baum.
„Der ist wirklich schön“, murmelte er. Robert stemmte die Hände in die Hüften und setzte ein breites Grinsen auf. Stolz auf sich selbst. Er war der Beste.
Paula und Shana sind ebenfalls aus der Küche her ins Wohnzimmer gewatschelt um den mächtigen Kauf zu bewundern. Zum Schmücken war es noch zu früh. Dazu müssten sie bis Mitte Dezember warten. Michael machte es zwar nicht viel aus, aber Roberts Grinsen war mit einem Male verschwunden und eine düstere Mine machte sich auf seinem Gesicht breit. Am liebsten läge er wohl jetzt auf dem Fussboden und würde mit den geballten Fäusten auf das Parket klopfen vor Wut. Der Adventskalender hing an der Wand im Flur. Bereit um die Tore zu öffnen. Robert musste warten. Und er hasste es zu warten. Der Tag würde bald kommen, an dem er das erste Törchen öffnen durfte. Aber erst in vierundzwanzig Tagen wäre Heiligabend und einen Tag später die Bescherung. Das dauert noch eine halbe Ewigkeit.
Bei anderen Familien freuten sich die Kinder über Weihnachten und Adventskalender. In dieser Familie freute sich vor allem Robert darüber. Michael fand Weihnachten nicht unbedingt die aufregendste Zeit im Jahr. Klar war es etwas besonderes, aber gleich ein derartiger Aufstand wie sein Vater zu machen, das war nicht gerade erstrebenswert. Michael schmunzelte beim Anblick seines Vaters. Ein unglaublicher Typ.
Shana, ein kleines Mädchen im Alter von zarten zwölf Jahren mit einer rötlich schimmernden Haut und einer kleinen Spitznase, stand neben Roberts Frau Paula. Sie mochte ihren Vater nicht. Seine Wutausbrüche liess er oft an ihr aus. Wer es nicht besser wusste, dachte an eine Sklavin. Eine billige Haushaltskraft. Ein trauriger Anblick in dieser wunderbaren Zeit.
Michael mochte sie trotzdem. Er wünschte sich schon immer Geschwister und nun hatte er zumindest jemanden zum Spielen.

Es war Mitte Dezember als Robert seine vollgepackten Kisten aus dem Keller holte. Pfeiffend und singend stolperte er durch die Wohnung und stellte den schweren Karton auf den Fussboden. Rote und weisse Kugeln, Sterne, Kerzen, Engel und andere Schmuckstücke lagen darin. Gefüllt bis an den Rand. Den Baum zu verzieren war sein Ding. Niemand durfte ihm helfen. Nicht einmal zusehen. Der Kalender zeigte den sechzehnten Tag des Monats an. Schon bald war Heiligabend. Für seine Frau und seinen Sohn kaufte er bereits Geschenke. Wie jedes Jahr.
Er setzte den silbernen Weihnachtsstern auf die Krone des Baumes. Die Kugeln baumelten an den Zweigen, Engel, Rentiere und weisse Kerzen wurden daran befestigt. Darunter lag ein weisses Stofftuch, das die Nadeln auffing, die der Baum fallen liess. Ein toller Anblick.
Draussen lag Schnee. Klirrende Kälte. Eiskristalle haben sich an den Fensterscheiben gebildet. Eiszäpfen hingen von der Balkondecke herunter. Schneemänner standen im Feld, gebaut von den Schulkindern. Mit Karottennasen, Hüten und Schälen. Der Winter hatte die Gegend voll im Griff.

Wir schreiben den zweiundzwanzigsten Tag des Monates Dezember und Robert öffnete gerade sein drittletztes Törchen am Kalender. Er freute sich über ein Bild mit einem Engel drauf. Das Licht im Flur brannte. Die Wohnstube war fantastisch eingerichtet. Ein Adventskranz schmückte das Fernsehmöbel und mehrere Säcke mit Backwaren lagen unter dem Nadelbaum. Shana betrachtete das grüne Bäumchen, das nur knapp in der Wohnung Platz fand, ohne die Decke zu berühren. „Lass bloss die Finger davon, das gehört mir“, befahl ihr Robert mit ernster Stimme. Sein Ego fühlte sich angekratzt. Er hasste es, wenn andere seine Sachen anstarrten. Er brachte Shana mit seiner lauten Stimme zum Verschwinden. Sie verkroch sich in ihrem Zimmer. Einem kleinen Raum mit zwei, drei Spielsachen. Nichts aussergewöhnlichem. Andere Kinder hätten sich die Augen gerieben, wenn sie das gesehen hätten. Es glich einem Alptraum.
In dieser Nacht geschah etwas merkwürdiges. Robert schnarchte vor sich hin und träumte vom Weihnachtsmann. Ein flüchtiges Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Paula lag neben ihm. Ohne ein Geräusch von sich zu geben. Draussen wurde es heller. Ein grelles, weisses Licht umrahmte das Fenster. Es schien als würde ein Scheinwerferlicht auf die Rollläden zünden. Robert grunzte laut auf und blinzelte ins grelle Licht. „Was ist los?“, fragte er mit müder Stimme. Kaum verständlich. „Ich bin Engel Wilfried. Dein Beschützer. Ich kenne dich gut Robert. Schon als du noch ein kleiner Junge warst, habe ich dich vor allen möglichen Gefahren geschützt. Einmal bist du nur knapp einem Autounfall entkommen. Ein anderes Mal hatte dein Kinderzimmer gebrannt und du wurdest in letzter Sekunde von einem Feuerwehrmann gerettet, weiss du noch?“, der Engel redete mit einer sanften Stimme auf ihn ein. Ohne auf eine Antwort zu warten, sprach er weiter. „Seit drei Monaten nun ist ein kleines, hilfloses Mädchen bei euch in der Familie. Du hast dich nur schweren Herzens dafür entschieden, das weiss ich. Trotzdem sucht sie nach Liebe und Geborgenheit. Nun stelle ich dir ein Ultimatum. Ich hoffe du denkst an diesen Denkzettel, den ich dir jetzt verpasse“, er legte eine kurze Pause ein, damit er sicher war, dass Robert ihm auch zuhörte. Dessen Stirn sich nun in Falten legte. „Du musst diesem Kind Zuneigung zeigen und ihm zu Weihnachten ein tolles Geschenk überreichen. Wenn du dich meiner Forderung widersetzt, wirst du alles verlieren. Du wirst ein einsamer Mann werden“ Der Engel blickte ihm tief in die Augen. Seine weissen Zähne blitzten auf. „Nun geh ich wieder fort. Vergiss meine Forderung nicht, mein Freund.“ So schnell wie das grelle Licht aufgetaucht war, so schnell war es auch wieder verschwunden. Irgendwo im nirgendwo. Seine Frau hatte nichts davon bemerkt.
Robert war noch immer verstört. Er wusste nicht, ob es nur ein böser Traum war, oder doch Realität. Er stand mitten in einem Spielzeugladen. Vor den Puppen. Als einziger Mann in diesem Abteil, schämte er sich ein wenig. Rund um ihn herum standen Mädchen oder junge Mütter, die etwas passendes suchten. Er griff zur erstbesten Ausgabe und machte sich auf den Weg zur Kasse.

Endlich war es soweit. Es ist Weihnachten.
„Bescherung“, rief Robert durch das ganze Haus. Das Abendessen hatte allen ausgezeichnet geschmeckt. Hackbraten und Kartoffelgratin. Köstlich. Dazu durfte auch ein Glas Wein nicht fehlen.
Robert sass bereits auf der Couch und langsam setzten sich die restlichen Familienmitglieder um ihn herum. Sie verschoben das Singen von Weihnachtsliedern auf später. Robert rieb sich die Hände und wartete darauf, dass ihm jemand ein Geschenk überreichte. Doch niemand rührte sich. Alle sassen sie da und bewunderten den Baum.
„Na, was ist los?“, fragte er verblüfft in die Runde.
„Also gut, dann fange ich eben an.“ Paula lächelte, während sich Robert mühselig erhob.
„Das ist für dich, mein Schatz.“ Er überreichte seiner Frau ein eckiges Päckchen mit roter Schleife darauf. Behutsam öffnete sie das rote Band und zog an beiden Seiten den Klebestreifen weg. Sie mochte es, alles langsam zu öffnen. Die Vorfreude war die schönste Freude. Ein Buch kam zum Vorschein. Bestseller des Jahres. Von ihrem Lieblingsautor. Sie strahlte über das ganze Gesicht. „Ach…Liebling“, flüsterte sie verliebt.
Weitere Geschenke wurden ausgetauscht. Bis Robert zum letzten Paket langte und es seiner Adoptivtochter Shana überreichte. Seine Frau und sein Sohn rissen beide überrascht die Augen auf. Ein Wunder war geschehen. Als Shana das andere Ende des Paketes in die Hände nahm, fing es an zu leuchten. Wieder im gleichen, grellen Licht, wie Robert der Engel erschienen war. Alle schreckten auf, doch in diesem Moment war das Licht wieder verschwunden. Alles schien gleich zu sein wie noch vor zehn Sekunden und doch hat sich einiges verändert.
Robert verlor seine grösste Schwachstelle. Der Geizkragen in ihm war gestorben und Michaels Vater war ein neuer Mensch. Schlussendlich war das, das tollste Weihnachten, das die Familie bisher je erlebt hatte.

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Tag der Veröffentlichung: 07.12.2009

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