Prolog
Dieser Samstagnachmittag ging in die Geschichte ein. Der kleine Louis schloss die Tür seines Zimmers ab. Sein Gesäss setzte sich auf die harte Bettkante. Diesen Vorgang wiederholte er nun zum siebenten Mal heute. Gleich nach dem Frühstück hatte es angefangen. Wie ein seltsames Ritual. Verzweifelte Versuche etwas bestimmtes zu erreichen. Erfolglos. Etwas musste geschehen, noch vor Sonnenuntergang. Die Frage war aber nicht was, sondern vielmehr wie. Das Fenster konnte nicht mehr weiter geöffnet werden, als es im Moment der Fall war. Eine leichte Brise erfrischte den kleinen, hellen Raum. Draussen schien die Sonne, die Atmosphäre des Himmels schimmerte blau und die Luft war für die herrschende Jahreszeit relativ warm. Louis schlug sich die Hände vor das zarte, junge Gesicht und fing lautlos an zu weinen. Es war mehr ein schüchternes Schluchzen, ohne sich dabei verraten zu wollen. Als empfände er Scham oder Peinlichkeit. Tränen kullerten ihm über Wangen und Kinn. Die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Das Ende wird bald kommen, das spürte er. Es war nahe. Sehr nahe. Eine weitere Nacht würde es für ihn gewiss nicht mehr geben. Lange konnte es nicht mehr dauern, die letzte Stunde hatte bereits geschlagen. Irgendwo da draussen in dieser gottlosen Stadt, gebaut aus Eisen und Stahl. In einigen Augenblicken würde er das Paradies erreichen. Wäre bei seiner Familie. Seinen Freunden aus harten, alten Zeiten. Die wirren Gedanken in seinem Kopf wollten nicht zur Ruhe kommen. Drehten sich weiter und weiter, bis sie wieder am Ausgangspunkt vorbeischossen. Erinnerungen spielten sich, wie ein Kurzfilm, vor seinem geistigen Auge ab. Schöne Erinnerungen waren es bei getrost nicht. Es waren Erinnerungen die anderen das Blut in den Adern gefrieren liesse. Erinnerungen, die andere dazu veranlassen würde, sich das Leben zu nehmen. Horrorfilme waren kein Vergleich. Unbeantwortbare Fragen plagten ihn, wie Wespen im Schwimmbad, beim Genuss eines Eises. Wie sollte er es anstellen? Wie konnte er seinen Plan vollziehen, ohne dass die Mitbewohner etwas davon erfuhren? Er war sich im unklaren. Von seinen Gefühlen hin und her gerissen. Seine Hände lösten sich von den feuchten Backen und er liess den Blick langsam durch sein Zimmer schweifen. Vorbei an der Tür, vorbei am Kleiderschrank, vorbei an seinen Spielsachen, mit denen er nichts anzufangen wusste. Seine Iris ruhte nun auf dem offenen Fenster und seine Pupillen zogen sich eng zusammen. Die Sonne blendete ihn. Es schien, als gäbe es nur eine einzige Möglichkeit, seine Seele zu befreien. Die brutalste von allen. Noch einmal dachte er zurück an die schreckliche Zeit, die er im letzten Jahr durchmachte. Es war die schlimmste seines Lebens. Die Hölle auf Erden. Da war ein Sprung aus dem Fenster nur noch so brutal, wie eine leichte Brise im Vergleich zu einem Wirbelsturm. Warum gerade er? Warum nicht ein anderer? Fragen über Fragen, die er nicht zu beantworten vermochte. Trotzdem verwarf er sie nicht sogleich und liess sie erneut durch die Laufbahn seiner Gedanken kreisen. Seine Hand glitt in die Innenseite seiner Jackentasche. Ins warme Fell seines Pelzmantels. Beim herausziehen, umklammerte sie ein Buch. Ein kleines, dickes Taschenbuch. Die Ecken waren durch die häufige Benutzung nach unten geklappt. Die Aufschrift auf dem Deckel verriet, dass es sich um die Bibel handelte. Das Werk, das er immer und überall auf sich trug. Mein Retter in der Not, dachte er und lächelte gequält. Angst hatte er. Angst, nicht aufgenommen zu werden. Angst, dass die Himmelspforte sich schloss, bevor er eingetreten wäre. Angst, von seiner Familie ausgeschlossen zu werden, was ihn nicht im Geringsten erstaunt hätte. Obwohl er beim Volk als Erlöser galt, sah er sich selbst als Verräter. Der indirekte Täter des Verbrechens. Als Judas in der Zeit Jesus Christus von Nazareth. Vor dem Tod selbst fürchtete er sich nicht. Er suchte die Erlösung. Die Erlösung seiner Erinnerungen und Erlebnissen. Von Resurrektionen hielt er nicht viel und wollte auch keine erleben. Er könnte keine Überleben. Den Aufprall auf dem harten Asphalt würde seinen Körper in nicht identifizierbare Teile zerreissen. Seine Kleider würde es ihm bereits im Flug vom Leibe reissen. Er befand sich im fünfzigsten Stockwerk eines Wolkenkratzers mitten im Herzen Manhattans. Einer Stadt weit entfernt von seiner Heimat. Furchteinflössend und impulsiv. Ruhelos an allen Ecken und Enden. Für ihn unvorstellbar hier ein schönes Leben zu führen, obwohl viele andere das Gegenteil behaupteten. Ein letztes Mal schlug er die Heilige Schrift auf. Irgendwo in der Mitte. Das Thema war ihm nicht bekannt, Bilder gab es keine. Lesen konnte und wollte er nicht. Nicht im Geringsten. Wozu auch, es war ihm egal, was dort stand. Es würde ihm sowieso nicht mehr helfen. Das ganze Leben war ihm momentan völlig egal. Es ist alles aus den Fugen geraten. Das letzte Jahr gab ihm den Rest. Nichts konnte ihn jetzt noch von seinem längst geplanten Vorhaben abhalten. Bald würde er es tun. Bald würde er den nächsten Level erreichen, eine neue Ebene des Spiels das er nicht erfand und deren Regeln er nicht kannte. Noch nicht. Ein unbekannter Ort, der nur seine Seele allein erreichen würde. Die Teile seines Körpers, die Hülle seines Geistes liesse er zurück auf der Strasse. Bis er zu Staub und Asche zerfallen wäre. Die Zeit wurde knapp. Knapper denn je. Jetzt oder nie. Sein Körper erhob sich langsam aber zielbewusst. Als wüsste sein Gehirn wohin seine Beine ihn tragen werden. Schweren Schrittes bewegte er sich auf das Fenster zu. Seine rechte Hand umklammerte noch immer die Bibel. Sie zitterte leicht vor Anspannung, wie sein ganzer Körper es ihr gleich tat. Er sah aus wie Jesus kurz vor dessen Besteigung des Hügels Golgota. Es fehlte nur noch das Kreuz als Last auf seiner Schulter und der Dornenkranz, der sein Haupt schmückte. Seine Lasten waren seine Gedanken. Mit beiden Füssen stellte er sich auf die Fensterbank. Sein selbstgeschriebenes Urteil war gesprochen. Sein letzter Wille würde geschehen.
Mulmig war ihm, als er einen kurzen Blick in die Tiefe warf. Runter auf die Strasse. Runter auf den, mit Menschen gefüllten, Bordstein. Direkt in die Augen des Todes. Er atmete noch einmal tief durch. Der letzte Sauerstoff, der sich in seinen Lungenflügeln ausbreitete. Die letzten Schläge seines stechendschmerzenden Herzens, bevor es für immer schweigen würde.
„Unser täglich Brot gib uns heute…“, schrie er mit tränenunterlaufenen Augen lauthals in die Skyline von New York. Er kannte das Gebet in- und auswendig. Jeden Abend hatte er es aufgesagt. In der Hoffnung, einen Wink Gottes zu erhalten. Wärme und Geborgenheit. Schutz und Beachtung. Loyalität und Respekt. Vergebens. Sein Leben war verdammt bis zum heutigen Tag. Mit „…Amen“, beendete er die Anrufung Gottes.
In diesem Moment klopfte jemand gegen seine Zimmertür. Louis erschrak, Adrenalin schoss durch seinen Körper, er schloss die Augen, und ohne eine weitere Sekunde zu zögern, liess er sich sanft, wie eine Feder, in die Tiefe fallen.
Kapitel 4
Eine Marmortreppe führte zum Haupteingang des Hauses. Miller parkte den Wagen direkt vor der Stiege und bat David auszusteigen.
„Warte hier. Ich stelle die Karosse in die Einstellhalle und öffne dir anschliessend die Haustüre“, dirigierte er ihn, ohne dabei seinen anfangs gewählten Unterton zu verlieren. Das Haus schien Antik. Es ähnelte stark dem des Weissen Hauses in Washington. Dem Präsidentenpalast. Die Wände waren weiss verputzt und erst gerade neu renoviert worden. Rechts und links erstreckten sich weisse Säulen bis unter den Dachvorsprung. Ein schwarzer GT-Streifen zog sich über die Mitte der Eingangstreppe. Eine von Millers glorreichen Ideen der Hausgestaltung. Die Türe selbst war aus Mahagoniholz geschnitzt und mit einem goldenen Handknauf versehen. Eine goldene Zahl zierte die Haustür. Die Nummer drei.
Die Tür war ebenfalls elektronisch gesteuert und konnte nicht manuell von aussen her geöffnet werden. Einbruchsicher. An der Wand rechterhand, zeigte sich ein schmaler Spalt, in den eine Karte eingeführt werden konnte. In diesem Moment klickte es, über dem Spalt blinkte ein grünes Leuchtiod auf und die Tür öffnete sich langsam gegen innen. Sie legte eine riesige Eingangshalle frei, in der ein roter Teppich ausgebreitet lag. Miller selbst stand an der Tür und bat David in sein Reich einzutreten. An der rechten Wand, neben der Tür zum Foyer, hängten Ge-mälde von Picasso und Monnet, allesamt in Originalausgabe. Goldene, massive Rähmen umrahmten sie. Ein gigantischer, goldener Kronleuchter mit über hundert Leuchten hing in etwa fünf Metern Höhe über ihren Köpfen und erhellte das Entree. Am Ende des Flurs zeigte sich eine marmorne Wendeltreppe, die in die oberen zwei Etagen führte. Auf beiden Seiten des Ge-länders stand je eine Säule. Auf ihnen wurde eine Statue befes-tigt, wie es aus fürstlichen Hotels bekannt war. Die gläserne Decke glich der einer Kuppel. Sie sah aus, wie die vom Peters-dom in Rom, der Hauptstadt Italiens. Durch die hohen, kir-chenähnlichen Fenstern, flutete helles Sonnenlicht hinein. Ein Aquarium wurde an der linken Wand eingebaut. Verschieden-artige Fische schwammen darin umher. David befreite sich aus seinem Jackett und setzte sich in seinem weissen Hemd an die Bar im Foyer. Sie schien modern. Mehrere verschiedenfarbige Leuchtioden beleuchteten diese. Dahinter stand Miller und schenkte ihm einen Cocktail aus. Er selbst griff zum Scotch und trank einen mächtigen Schluck daraus, als wäre es stilles Wasser. David musterte ihn unauffällig. Es war ihm bekannt, dass er ab und an etwas gar tief ins Glas schaute. Aber reiner Scotch direkt aus der Flasche, das war ihm neu. Es passte ganz und gar nicht zu seinem edlen Stil. Zu dieser äusserst eleganten Klasse. Das Haus war sauber und rein. Kein Staub der sich an den Möbeln angesammelt hätte. Keine unnötigen Gegenstände die im Raum herumlagen. Nichts. Alles hatte seinen Platz. Sechzehn Zimmer befanden sich auf drei Etagen verteilt in diesem prächtigen Anwesen. Vom kleinen Putzschrank bis zur brillanten Suite, mit Jacuzzi und schönem Ausblick über den Vorort Beverly Hills. Fast jedes dieser Zimmer hatte eine eigene Toilette mit Dusche oder Bad. Ein Tennisplatz im Untergeschoss und ein Heimkino in der hintersten Kammer des Parterres waren weitere Supplements, die der Hausherr einbauen liess.
„Gib mir mal den Koffer“, forderte Miller in höchster Monotonie. Die Buddel Scotch war nun wieder verschlossen und von ihm in den Schrank hinter der Bar zurückgestellt worden.
David griff nach dem massiven Henkel und knallte das Gepäck mit einem lauten Krachen auf den Tisch.
„Sachte, sachte…da drin befinden sich höchst sensible Daten“, beteuerte Miller ohne seine Monotonie zu verlieren. Er schob nun eine Kreditkarte zwischen die Öffnung des Koffers um die-sen sorgfältig aufzubekommen. Das Innenleben des Kastens war, als würde man in die Zukunft eintauchen. Ein weisser Laptop aus Karbon Fiber, der sich von alleine aufklappte und sich selbst einschaltete. Eine weibliche Stimme begrüsste sie und wartete auf einen Informationsinput des Bedienenden. Sie benötigte das Zugangspasswort. Zum ersten Mal seit sich die beiden getroffen hatten, konnte David ein flüchtiges Grinsen auf dessen Gesicht erkennen. Nur ganz kurz. Miller freute sich an diesem Anblick als wäre er in seine Kindheit zurückgefallen. Wie ein kleiner Junge, der zum ersten Mal vor seiner Spiel-zeugeisenbahn sass und die Lok bestaunte, die ihre Runden durchs Kinderzimmer drehte. Unter dem Computer befanden sich Manuskripte. Oliver legte ihm eine Kopie vor und sagte ihm, dass er alles auf dem Rechner gespeichert hätte, so könne er seine gegebenen Antworten direkt im Dokument vervoll-ständigen.
David war aufgefallen, dass sich weder ein Bücherregal, noch irgendwelche Zeitschriften in seinem Haus befanden.
„Liest du eigentlich keine Bücher?“, wollte David von seinem Gesprächspartner wissen. Dieser wirkte etwas überrascht, da er in der gestellten Frage keinen direkten Zusammenhang zum vorherigen Gesprächsablauf fand.
„Nein, nicht wirklich. Ich war noch nie der grosse Leser, ich lese eigentlich nur Krimis…nur Krimis…nur Krimis…nur Krimis…“, wiederholte er sich ununterbrochen. David gab ein kurzes Handzeichen von sich, um anzudeuten, dass er ihn verstanden hätte. Doch Miller hörte nicht auf dieses letzte Satzfragment ständig zu wiederholen. Ohne Unterbruch. Was ist denn auf einmal mit ihm los? Hat wohl einen Sprung in der Platte, was? David konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, obwohl es ihm im Nachhinein leid tat. Seine Augen hielten Kontakt mit denen Olivers. Anscheinend half es nichts. Deshalb warf er einen kurzen Blick von links nach rechts um sicher zu gehen, dass ihn niemand beobachtete. Er wusste nicht, ob sie tatsächlich alleine in diesem gewaltigen Bau waren. Oliver konnte er nicht fragen, der war nach wie vor damit beschäftigt, sein überaus spannendes Satzfragment von sich zu geben. Als er sicher war, dass ihn niemand sehen oder hören konnte, schrie er seinen Kameraden an, um diesen zum Schweigen zu bringen. Der sich ständig wiederholende Satz aus dem Mund seines Gegenübers ging ihm langsam tierisch auf die Nerven. Solche Unan-nehmlichkeiten können wir uns ersparen. Oliver hörte nicht auf. David erhob seinen Körper vom Barhocker und schlug seinem Kumpel mit der flachen Hand kräftig ins Gesicht, ohne ihn aber dabei zu verletzen. Miller schüttelte erschrocken mit dem Kopf und stellte seine Wiederholungen ein. Es schien als wäre er ge-rade aus einer Bewusstlosigkeit aufgewacht.
„Was ist passiert?“, fragte er David mit umherschweifenden Blicken.
„Sag du’s mir? Hast dich angehört, als hättest du einen Kratzer in der Diskette. Vielleicht müssen wir dir mal ein neues Lauf-werk einbauen“, witzelte er, in der Hoffnung, mehr von Oliver zu erfahren. Dieser reagierte prompt über und rang David mit einem Satz durch die Luft, ähnlich dem eines Tigers im Angriff, rücklings auf den Boden.
„Wag es nicht, mich auseinander zu nehmen“, stotterte dieser. David versuchte ihn vergebens zu beruhigen, anscheinend ist es seinem hirngewaschenen Kollegen heftig eingefahren.
„Sag mir lieber mal, was mit dir auf einmal los ist, du verhältst dich nicht mehr so wie früher…du hast dich verändert“. Oliver schwieg, lockerte aber seinen festen Griff und half seinem Kampfgegner auf die Beine um anschliessend mit dem Staub-sauger eine kurze Runde über den Teppich zu drehen.
„Mein Gott, das Hemd ist sauber“, versuchte David ihm verge-bens klarzumachen.
„Ich habe keinen Schmutz hinterlassen.“
„Schweiss…“, belehrte ihn Oliver besserwisserisch. „Ha…Schweiss? Da bringt dir der Staubsauger aber nicht die gewünschte Wirkung. Probiere es mal mit einem Föhn.“, spot-tete David und schüttelte mit skeptischem Blick den Kopf. Wohl doch einen Sprung in der Schüssel dieser Klugscheisser. David setze sich aufs Neue auf den Hocker an der Bar und wartete darauf, dass Oliver den Schweiss eingesaugt hatte.
„Tut mir Leid, Alter“, entschuldigte sich David.
„Nein, mir tut es leid. Ich hätte dir sagen müssen, was Sache ist“, er legte eine kurze Denkpause ein, ehe er weitersprach. David hörte interessiert zu.
„Letztes Jahr wurde ich in ein Programm eingeladen. Eine The-rapie in Seattle. Ich lernte dort, meine Ängste in den Griff zu bekommen, da mich starke Panikanfälle überkamen, wenn ich an die bevorstehende Zeit im Militär dachte. Der Schuss ging nach hinten los. Mann, ich wusste nicht, dass diese verfluchten Tabletten keinen Alkohol vertrugen. Versprich mir, dass du dem Militär nichts davon erzählst. Die würden mich gleich feuern. Wie soll ich das Haus und den Wagen abzahlen, zum Teufel? Wie soll ich das meinen Eltern beichten? Kann ich meiner Freundin noch in die Augen sehen? Wohl kaum…“, er steigerte sich immer mehr hinein und wollte seinem Quasseln kein Ende setzen. Seine Monotonie hatte er mit einem Schlag begraben und seinen Sprechstil um hundertachtzig Grad gewendet, während er den Staubsauger in den Schrank zurück stellte. Er setzte sich wieder vor den Bildschirm.
„Beruhige dich mal!“, unterbrach ihn David kühl.
„Ich werde schon nichts sagen. Aber du musst dich beherrschen. Ich habe keinen Bock, auf ständige Wiederholungen deinerseits“. Oliver lenkte seinen Blick auf den Computerbildschirm und gab den Zugangscode durch.
„Code angenommen“, bestätigte die weibliche Stimme aus den Lautsprechern. David wartete auf ein Zeichen. Vergebens. Miller regte sich nicht. Er starrte auf den Bildschirm. Nur kein Hänger…Nur kein Hänger… Es klang wie ein Stossgebet, das durch Davids Gedanken schoss. Sekunden verstrichen. Miller rührte sich noch immer nicht. Der Bildschirm erlosch. Stille. Verdammt…nicht schon wieder… David erhob sich von seinem Hocker um dem Kumpanen einen erneuten Klaps zu verpassen. In diesem Moment aber öffnete sich unerwartet die Türe zum Foyer und ein Mann mittleren Alters stand im Türrahmen. Er liess erschrocken eine Tasche zu Boden fallen, die mit einge-kauften Waren vollgepackt war.
„Sie müssen der Butler sein…stimmt’s?“, begrüsste ihn David mit ernster Miene.
„Stimmt…aber wer sind sie?“, stammelte dieser unverständlich, während er die Tasche aufhob. Oliver kam wieder zu sich und starrte die beiden verdutzt an.
„Was ist los?“, fragte er.
„Erstarrt…“, bemerkte David ohne seinen Blick vom Butler ab-zuwenden.
„Erstarrt?...“ Der Butler verstand die Welt nicht mehr. Er ge-nehmigte sich einen Schluck Whisky und begann die Ware ein-zuräumen, während sich David zum wiederholten Mal er-schöpft auf den Barhocker fallen liess.
„Weiss der Butler davon…?“, flüsterte David und nickte mit dem Kopf in dessen Richtung. Miller nickte.
„Okay…vergessen wir’s…kommen wir zum Thema“, winkte David ab.
„Buddy…könnten sie uns für einen Moment alleine lassen?“ Die Frage richtete sich an den Butler.
„Selbstverständlich…“
„Noch einen Drink, Dave?“ lenkte Oliver dazwischen. Den Blick auf seinen Gesprächspartner geheftet.
„Gerne“, stimmte dieser zu.
„Buddy, noch zwei Drinks…“. Miller streckte dabei zwei Finger in die Luft um es ihm bildlich vor Augen zu führen, was er wollte. „Aber natürlich…“, erwiderte der Butler, ohne ihn an-zusehen „kommt sofort“.
Als sich Buddy aus dem Foyer verdrückt hatte, kam Miller zur ersten Frage.
„Denkst du, dass du diese Mission überleben wirst?“ David schnitt eine Grimasse.
„Ich hoffe es“, erwiderte er verwundert.
„Ich beginne anders“, begann Oliver sein Gespräch. Offenbar ist ihm die Unsicherheit in Davids Stimme aufgefallen.
„Die Mission wird nicht gerade ein Spaziergang. Wir müssen uns im Klaren sein, dass sie deine nächsten, sagen wir mal, zwei Jahre bestimmen könnte.“
David runzelte die Stirn. Zweifel überkamen ihn. Er dachte kurz an seinen kranken Vater, bevor er eine Frage dazu stellte. „Was meinst du mit zwei Jahre? Müsste ich irgendwohin verreisen, oder wäre ich zuhause? Wie sieht dein Plan aus?“, fragte er verunsichert.
„Es funktioniert wie folgt“, fuhr Oliver wichtigtuerisch fort. „Wir bestimmen einen AOZ, einen Augen- und Ohrenzeugen, den wir auf die Insel Karanapa schicken. Eine Insel westlich von Europa. Ihm wird operativ eine Mikrokamera unter das Augenlid verpflanzt. Zudem bekommt er ein Mikrochip ins Ohr gesetzt, damit er jederzeit mit uns kommunizieren kann. Dieser Mikrochip nimmt alle Schallwellen im Umfang von fünf Metern auf und sendet uns diese alle vierundzwanzig Stunden auf diesen Laptop, inklusive Bildmaterial, die die Kamera auf-nimmt“, er deutete kurz mit dem Finger auf den Rechner vor seiner Nase.
„Würdest du dich für diesen Eingriff zur Verfügung stellen?“, fragte Oliver mit ernster Miene.
„Auf keinen Fall. Das ist doch viel zu riskant. Ich meine was sollte ich dort drüben? Ich bin ein Universitätsabgänger…kein Bauarbeiter“, platzte David heraus.
„Was ich befürchtet habe…“, meinte Miller.
„Kannst du ein Flugzeug navigieren?“, war seine nächste ein-fallsreiche Frage.
„Was soll der Mist? Hör auf mich Dinge zu fragen, von denen du die Antwort schon im Voraus weisst.“ David war sichtlich entnervt. Er war müde und erschöpft von der Reise.
„Ich kann nichts dafür, diese Fragen stammen vom Militär“, redete sich Miller heraus, während er eifrig alles in den Laptop eintippte. Er überreichte David nun eine DVD.
„Sie enthält einen kurzen Film. Alle Zahlen und Fakten zur Mission. Schau sie dir zu Hause kurz an.“
„Was nun?“, fragte David.
„Wir müssen ins Land fliegen. Am besten so rasch wie möglich. Unsere Zeit ist kostbar und bedeutet Menschenleben. Schau dir die DVD an und nimm anschliessend mit mir Kontakt auf.“ Er lächelte kurz.
Die Fragestunde schien beendet und David musste sich beinahe Zahnstocher zwischen die Augenlider stecken, damit sie ihm nicht zufielen. Miller deutete auf eine Suite im oberen Stock-werk. Er könne sich dort ausruhen, sein Flug ginge erst morgen Mittag, es sei alles organisiert.
Mit schweren Beinen kämpfte er sich die Wendeltreppe hoch, öffnete die weiss gestrichene Holztür zur ersten Suite und legte sich, ohne seine Kleidung auszuziehen, halb ohnmächtig vor Müdigkeit in das breite Himmelbett fallen. Er schlief sofort ein.
Tag der Veröffentlichung: 04.12.2009
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