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Bergmann

 

 

 

 

Jeder hätte es verhindern können. Tatsache war nur, dass es niemand verhindern wollte. Tatsache war auch, dass es jetzt zu spät war. Hinter ihm fielen die Lichtstrahlen der frühen Morgensonne durch den eingetreten Türrahmen, es wäre ein schöner Tag geworden. Die Splitter der Holztür waren über den Boden bis zum Pult verteilt wo sie sich mit dem Dunkelrot der Blutlache vermischten. Stille. Die leeren Patronenhülsen hatten aufgehört zu rollen und lagen nun neben seinen schweren Springerstiefeln.

 

Das Blut sammelte sich in einem kleinen Rinnsal auf der Pultoberfläche und floß dann weiter, vorbei an den Bleistiften, Kugelschreibern und den bunten Filzstiften, neben dem noch immer aufgeschlagenen Schulbuch bis es von den gestapelten Arbeitsblättern aufgesogen wurde. Die Stille wurde von dem Tropfen auf den PVC-Boden durchbrochen. Er ist kein schlechter Mensch gewesen. Jährzornig vielleicht. Er verlor sehr schnell die Geduld mit Schülern die für sein Fach nicht lernten, oder mit Leuten die seinen grauen Unterrichtsblock mit Zwischenrufen störten.

 

Oder mit schüchternen Leuten. Möglicherweise war es ja deshalb weil er früher genauso wie sie war, einsam und introvertiert. Er hatte Angst sich an seine Vergangenheit erinnern zu müssen oder vielleicht wollte er einfach nur dass sie aus sich herauskommen. Das beige Baumwollhemd war wie immer heute morgen von ihm wohl hastig in der Früh angezogen worden, man sah noch die verblichenen Kreidespuren vom Vortag. Wahrscheinlich hatte er auch immer noch die dunkelbraunen Kaffeeflecken auf seiner Brusttasche. Sicher war ich mir nicht, denn sein Oberkörper lag nach vorne gebeugt auf der Tischplatte. Die dünnen Arme hingen entlang der Stuhllehne leblos dem Boden entgegen, lauter feine Blutspritzer waren vom Kragen bis zum Ärmel verteilt. Seine hellbraune Vollrandbrille hatte er davor noch auf der Lehrmappe neben ihm abgelegt. Die schmalen Gläser hatten ihn immer ernster wirken lassen als er eigentlich war, zumindest nach dem Unterricht gesellte er sich oft zu Schülergruppen in der Aula und unterhielt sich mit ihnen, lachte viel mit ihnen.

 

Zwischen seinen braunen Haaren sah ich feine weiße Ansätze, wenngleich er nicht so alt gewesen sein muss. Und Rot. Durch das klaffende Loch auf seiner rechten Kopfseite floß weiter das tiefrote Blut, darunter schimmerte der weiße Schädelknochen hervor. Die fleischigen Teilstücke des Gehirns waren über den Boden und am Glas des Klassenfensters verstreut. Bis auf das leise Tropfen des Blutes war es immer noch still. Wie eine steinernde Statue stand er zufrieden lächelnd vor der eingetretenen Klassentür, die halbautomatische Handfeuerwaffe hielt er weiterhin auf den leblosen Körper gerichtet. Mit einem metallischen Klicken machte er sie für den nächsten Schuss bereit. 

Weiß

 

 

 

Vorsichtig siebte er den feinen Puderzucker über das bunt bemalte Lebkuchendach und trat einen Schritt zurück um sein Werk ausgiebig bewundern zu können. Er nickte mir erfreut zu. "Man kann sagen was man will; auch wenn ich in Mathe oder Sprachen nie den Durchblick hab, im Handwerk bin ich der Beste." David nahm sich eins der sauberen Stofftücher aus der Verpackung und wischte sich damit den Zuckerguss von den Händen.

 

"Dann hast du aber auf dem Gymmi echt nichts verloren." Ich betrachtete nochmal kurz belustigt seine Kreation aus lieblos draufgeschmierten Zuckerstreifen und halb zerbrochenen Lebkuchen. "Und scheinbar auch anderswo nicht", fügte ich noch lachend hinzu. Er warf das verschmutzte Tuch nach mir und lachte ebenfalls mit. Im Hintergrund schallte aus irgendeinem billigen Handy der Anderen verschiedene Weihnachtssongs. Ein paar der Mädchen versuchten ihre ausgeschnittenen Papierfiguren an der Wand zu befestigen während der Rest in einem Stuhlkreis hockte und sich über irgendwelche Lehrer ausließ.

 

Ein paar der anderen Jungs hatten sich ebenfalls in einem Kreis versammelt und schnitten lustlos Tannenbäume und Schneemänner aus. So richtig Weihnachtsstimmung kam bei keinem gerade auf. Der Himmel war bewölkt und grau, aber auf Schnee hoffte niemand. Der würde doch nur wieder den Busverkehr lahmlegen und die Kinder würden freudig quiekend mit ihren hohen Stimmchen durch die verschneiten Straßen toben. Das wollte auch niemand.

 

Herr Bergmann war einer der wenigen Lehrer, die noch penibel die Schüler zwangen für den Weihnachtsbasar irgendwelche Dekorationen zu basteln. In der Zehnten bekam man als Lehrkraft für den Vorschlag höchstens noch ein müdes Lächeln von den Schülern, aber er hatte tatsächlich mit der Kunstlehrerin ausgemacht, dass die Bastelarbeiten zu 20 Prozent in die Halbjahresnote einfließen würde. Für die die sowieso schon schlecht in Kunst standen war das natürlich ein Druckmittel.

 

Kiste saß wieder einmal allein auf seinem Stuhl. Er hatte wieder einmal irgendeinen viel zu warmen, selbst bestickten Baumwollpulli an und kritzelte lustlos auf seinem Kunstblock herum. Fast wäre ich aus Interesse hingegangen, aber ich wusste dass alle nur darauf warteten jeden menschlichen Kontakt den er eingehen würde, zu mobben. Die dämliche knallrote Brille mit den dicken Brillengläsern rutschte ihm immer wieder von der verpickelten Nase und er schob sie jedes Mal wieder zurück an ihren angestammten Platz. Es war eigentlich unfair von mir, aber irgendwie regte mich mittlerweile alles war er machte auf. Warum konnte er nicht einfach normal sein? Die übergroßen Sportschuhe, die olivenfarbene Jeans und die ganze Bandbreite an selbst bestickten Baumwollpullis. Als ob er nur darauf wartet ausgelacht zu werden.

 

Früher hatte ich versucht ihm etwas beizustehen. Aber jedes Mal wenn ich ihm nur etwas half, musste ich ihn wie eine garstige Klette wieder von mir loswerden. Wie eine Zecke. Ein Blutegel. Oder eine lästige Mücke. Irgendwas nerviges auf jeden Fall. Irgendwann hatte ich gelernt den Dingen einfach ihren natürlichen Lauf zulassen und hielt mich für die meiste Zeit im Hintergrund. Auch wenn er sich hilfesuchend nach mir umsah, ich konzentrierte mich lieber auf mein Pausenbrot oder ging weiter um meine Freunden zu finden.

 

Herr Bergmann sah kurz von seinen Arbeitsblättern auf und blickte schweigend in die Runde. Sein Blick hing an Kiste hängen. Er schien kurz zu seufzen und setzte sich auf: "Karsten? Du sitzt wieder ganz allein fällt mir auf, willst du dich nicht zu den anderen dazusetzen?" Alle Gespräche verstummten schlagartig. Alle wussten es war wieder an der Zeit. Ein paar Lacher hier und da. Die Klasse folgte den Blick von Herr Bergmann nach hinten zu Kiste. Er blickte panisch auf und starrte verzweifelt in die Runde. Schweiß perlte auf seiner fettigen Stirnhaut. Kiste versuchte Ansätze von Wörtern zu stammeln, blickte aber kurz darauf resigniert auf seinen Tisch.

 

"Was hast du denn bisher gemacht, Karsten?", fragte Herr Bergmann vorsichtig. "Darf ich mal sehen?" Er stand auf und ging langsam zu seinem Tisch in den hinteren Reihen. Kiste rührte keine Faser seines Körpers. Herr Bergmann packte das Blatt und sah es geschockt an; „Was bitte soll das denn sein? Karsten? So einen Schwachsinn will ich in meinem Unterricht nicht sehen, hast du mich verstanden?“ Er hielt das bekritzelte Papier hoch so dass jeder einen guten Blick erhaschen konnte. Ein sich erhängender Weihnachtsmann. Was auch sonst.

 

Die Klasse brach in tosendes Gelächter aus und alle warfen mit etwaigen Beleidigungen um sich. „Kiste, du harter Spast!“, brüllte Richie. Seine Kollegen johlten begeistert und stimmten ihm zu. Herr Bergmann war außer sich vor Wut. „Karsten, es kann nicht sein dass du dir immer solche dämlichen Sachen leistest. Und ihr seid alle gefälligst still. Du kommst nach der Stunde zu mir.“ Er nahm das Bild mit zurück an seinen Platz, rückte die Brille zurecht und versuchte die Klasse wieder unter Kontrolle zu bekommen.

 

Kiste saß immer noch wie versteinert da, den Blick weiter starr auf seinen Tisch gerichtet. Hätte ich seine Augen gesehen hätte ich schwören können, dass er wieder weinte. Wenigstens verdeckten seine öligen, braunen Haarsträhnen sein Gesicht. Es fing an zu schneien.

Daniel

 

 

 

Der metallene Schlitten rastete zum zweiten Mal mit einem Klicken in seine ursprüngliche Position zurück. Ein feiner, grauer Rauchfaden quoll aus der Mündung hervor. Er lächelte kalt. Wir hatten ihn noch nie lächeln sehen.  Den Finger hielt er noch immer zitternd am Abzug der Pistole, während die leere Patronenhülse ziellos über den Fußboden kullerte. Sie kam unter der Tafel zum Halten und es war auf einmal schlagartig wieder still. Carolin hatte die Hände immer noch schützend vor sich gehoben, ihren Blick konnte ich nicht sehen, aber ihre weiße Bluse war nun ebenfalls mit roten Bluttropfen besprenkelt.

 

Ich mochte diese weiße Bluse. Sie erinnerte mich an die warmen Spätsommertage die unsere Klasse gemeinsam im Park verbracht hat, sie trug zumeist immer denselben marienblauen Rock passend dazu. Heute allerdings hatte sie sich anscheinend für eine dunkle Jeans entschieden. Von ihren langen, blonden Haaren tropfte eine Flüssigkeit auf den Tisch. War es sein Blut? Oder ihre Tränen von vorher als sie verzweifelt geschrien hatte?

 

Von meinem Platz konnte ich nicht viel sehen. Ich erkannte den typisch asphaltgrauen Hoodie, den er immer locker über die bunt gemusterten Shirts gezogen hatte. Selbst von hier hinten wirkte seine Haut kalt und bleich. Obwohl er bis vor ein paar Minuten noch Caro mit seinem abgedrehten Humor laut zum Lachen gebracht hatte. Er brachte gerne Leute zum Lachen. Das merkte man ihm an.

 

Präzise stapelte er wie Ziegelsteine die Grundmauern seiner Witze mit kleinen Details und wie ein Rammbock ließ er die Pointe knallhart auf den nichts ahnenden Zuhörer zurasen. Die Mädchen mochten ihn wegen seinen frechen, aber sympathischen Sprüchen, die Jungs hingegen respektierten seine offene Art und Weise mit seinen Mitmenschen umzugehen.

 

Die Tischplatte vor ihm war ebenfalls in dicke Blutspritzer getaucht die langsam ineinander zu einer kleinen Lache verschmolzen. Erst jetzt fiel mir die Wunde an seinem linken Ohr auf. Die Kugel hatte beim Aufprall den Wangenknochen durchbrochen und Teile seines Gesichts und seinem Ohr mitgerissen. Die Kopfhaut hing völlig zerfetzt über der klaffenden Wunde.

 

Nochmal hörten wir das bekannte Klacken der Waffe.

Gelb

 Für mich sind die Sommertage in der Schule stehts die Schlimmsten. Zuallererst mal gibt es so gut wie keinen Lehrer, der so kurz vor Ende des Jahres noch seinen Schulstoff durchbringen möchte, weshalb die meisten Stunden nur aus ewig andauernden Vorbereitungen für das Abi bestehen. Dazu kommt noch die stickige Klassenzimmerluft die durch die warme Vormittagssonne jeden Tag neu erhitzt wird. Die Fenster zu öffnen bringt dabei nichts, denn die Luft von draußen scheint noch viel wärmer zu sein als die angestaute Luft im Zimmer. 

 

Ich spürte förmlich den öligen Schweißfilm an meiner Haut kleben, als ich mit Mühen gelangweilt meinen Bleistift über das Arbeitsblatt kreisen ließ. Mit jedem Kreis musste eine Sekunde verstreichen, das wusste ich, ich hatte schließlich genug Zeit gehabt um es herauszufinden. Langsam bohrte sich die Bleimiene durch die immergleiche Bewegung in das Papier. Mein Blick fiel auf David ein paar Sitze neben mir. Er saß gerade mit äußerster Konzentration an einem gestapelten Konstrukt, bestehend aus dem Inhalt seines Federmäppchens. Gerade wollte er den Radiergummi vorsichtig auf sein Türmchen ablegen, doch ein Fineliner löste sich aus dem Fundament und das Bauvorhaben scheiterte lautstark. 

 

Herr Bergmann sah von den ausgebreiteten Arbeiten auf seinem Schreibtisch hoch, warf ihm einen genervten Blick zu und wendete sich wieder dem Korrigieren zu. Er zog den Ärmel seines Hemdes zurück und betrachtete seine Armbanduhr. "5 Minuten noch, dannach besprechen wir es gemeinsam." Ich blickte nochmal auf das beschmierte Blatt vor mir, die erste Zeile des Arbeitsauftrages war voll von undefinierbaren Variablen, Zahlen und Formeln. Zurück also zum Langweilen. Wieder ließ ich meinen Blick durch den Klassenraum wandern und hielt bei Kiste ganz hinten in der Ecke kurz inne. 

 

Man musste nicht direkt neben ihm sitzen um zu wissen dass er unter dem dicken Baumwollpulli schwitze, den wiederlichen Geruch den sein Sitznachbar Daniel aushalten musste, konnte ich mir nicht vorstellen. Sein hochroter Kopf wackelte nervös hin und her während seine Augen durch die dicken Brillengläser das Blatt vor sich fokusierten. Seine rechte Hand kritzelte irgendwas auf die Rückseite. Er schien mit sich zufrieden. Die andere Hand fummelte nervös an dem Kragen des Pullis. Daniel versuchte neben ihm so gut es ging ihn zu ignorieren. Herr Bergmann hatte ihn einfach am Anfang der Stunde neben Kiste gesetzt, ohne bestimmten Grund. Wahrscheinlich weil er normalerweise den unterricht mit seinen sonstigen Sitznachbarn störte.

 

Auf einmal stupste Kiste Daniel mit dem Zeigefinger an. Sein Gesicht wurde schlagartig kreidebleich, sein Blick wurde endlos leer. Er drehte sich nicht um. "pscht!" zischte ich David zu und zeigte nach hinten zu den beiden, das durfte er nicht verpassen. David blickte kurz zu mir, grinste und versuchte heimlich einen Blick von dem Geschehen hinter sich zu erhaschen. Kiste stupste Daniel erneut in den Nacken. Immer noch keine Reaktion. Daraufhin schob ihm Kiste den beschriebenen Zettel zu und fing an schwer zu Keuchen. Man sah die Daniel die Angst an; er gehörte sowieso schon nicht zu den beliebten Leuten der Klasse, aber wenn er sich mit ihm einlassen würde wäre das entgültig das Aus für ihn. Trotzdem schien er neugierig. 

 

Endlich sah er auf das Blatt. Sein Blick wechselte von ängstlich blitzschnell zu extrem angeekelt. "Verpiss dich, du Affe!" schnauzte er Kiste an. Mit einem Mal drehte sich jeder um und alle betrachteten belustigt das Schauspiel dass sich ihnen bot. "Heldinger, schaffst du es nicht einmal neben Karsten für eine Stunde still zu sein?", schnaufte Herr Bergmann von vorne genervt. Kiste blickte ihn entsetzt an und versuchte den Zettel schnell wieder Daniel zu entreißen, doch dieser behielt ihn fest in seiner Hand. Er sah eine Gelegenheit und nahm sie. "Findest du nicht auch dass Kathi echt heiß ist?" laß Daniel belustigt vor. Die gesamte Klasse johlte auf. "Na Kathi, ist das hier nicht dein Traummann?", brüllte er weiter lachend. Kathi zwei Reihen vor ihm schlug die Hände vor ihr gesicht und zog sich trotz des heißen Wetters wieder ihr Stickjäckchen an. 

 

Wir alle lachten weiter über die komische Situation und über Kathis angeekelten Blick. "Heldinger, du bist jetzt auf der Stelle still, ich-" schrieh Herr Bergmann, doch das laute Gelächter übertönte ihn schnell. Daniel schien zufrieden. Er merkte dass sich für ihn nun etwas in der Klasse ändern würde. Herr Bergmann schaffte es wieder etwas Ruhe einkehren zu lassen. Kilo, einer der beliebteren Typen aus der letzten Reihe meldete sich grinsend. "Könnte sich der Dani bitte zu uns hinter setzen?"

 

 "Nein, kann er nicht, Kretschmeier." entgegnete ihm Herr Bergmann gernervt. Er drehte sich etwas schlacksig um die eigene Achse und blickte zur Uhr über der Zimmertür. David hatte sich derweil ein neues Fundament aus den dickeren Markern seiner Nachbarin gebaut, ein Papierknäuel gab dem Ganzen etwas Gewicht für die Balance. Ich sah noch einmal kurz zurück zu Kiste. Wieder einmal hatte er sich von der Klasse weggedreht und stützte seinen Kopf mit seinen zitternden Händen. Kilo gab Daniel von hinten noch einmal ein ermutigendes Nicken. 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 29.09.2015

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