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Wohin verschwanden bloß die vielen Farben?

Am Abend wollte er mich besuchen. Seit letzter Woche hatten wir uns schon nicht mehr gesehen. Ich hasste die Tagen, an denen wir uns nicht begegneten, an denen wir nebeneinander unser Leben führten, als lebten wir nicht in derselben Dimension. Parallelgesellschaft, das Wort ging mir durch den Kopf. Natürlich meinte man im konventionellen Gebrauch damit das Nebeneinanderleben zweier unterschiedlicher Kulturen, zweier von Grund auf verschiedener Gesellschaften. Doch in diesem Moment, schien es mir so, als wäre dieser Begriff prädestiniert dafür, um unsere Beziehung zu beschreiben. Nicht allein, weil wir häufig örtlich oder zeitlich getrennt voneinander lebten, vielmehr wegen der Differenzen zwischen uns. Den Unterschieden, die sich mit der Zeit ergeben hatten. Die Veränderungen, die wir glaubten nicht aufhalten zu können. Das Schlimmste, war der Glaube. Der Glaube, sagt man doch so schön, könne Berge versetzten. In unserem Fall bewegten er zwei sich ergänzende Berge in mitten einer blühenden Landschaft voneinander weg. Den Einen nach links, den Anderen nach rechts. Eine große Kluft entstand zwischen ihnen, und damit auch zwischen uns.

Komisch, wie oft ich doch schon das Wort uns gebrauchte. Wer waren wir überhaupt? Ich war mir dessen nicht so recht bewusst. Vielleicht stellte ich mir falsche Frage. Ich wusste, doch wer jeder von uns im Einzelnen war, aber ich erkannte uns gemeinsam nicht wieder. Er und ich, die Summe daraus, das sind wir. Ganz einfach, dachte ich mir, wie das Ein-Mal-Eins. Aber in Wirklichkeit war es doch viel komplexer. Es gab Definitionslücken, Wendepunkte, Hoch- und Tiefpunkte. Verdammt, dachte ich mir, nur keine Analysis.

Auf andere Gedanken musste ich kommen. Ich dachte, es wäre nicht angebracht über einen Menschen länger als einige wenige Augenblicke nachzudenken. Das dachte ich ständig. Niemand hätte das Recht in Gedanken ständig bei anderen zu sein, sagte ich mir, während ich im selben Augenblick glaubte, jeder Mensch dürfe denken, was er will. Es war ein innerer Konflikt in mir, den ich bei keinem der gelegentlichen Konfrontationen auflösen konnte. Dann kam ich für einen kurzen Moment auf andere Gedanken. Es hielt nicht lange an, denn bei allem woran ich dachte, fand ich unverschämter Weise, ständig eine Verknüpfung zu ihm oder unserer Beziehung. Dachte ich an Essen, dachte ich an seine Lieblingsspeise, war ich in Gedanken in die Schule vertieft, spürte ich die zarten Berührungen, die wir als Tischnachbarn zufällig, manchmal auch willentlich, austauschten. Ich schämte mich für meine Gedanken, über die ich Kontrolle und Macht verlor. Jede weitere Sekunde, in der ich an ihn dachte, war mit neuen Eingeständnissen verbunden. Ich musste mir selbst eingestehen, ihn hübsch und seine selbstverhassten Sommersprossen attraktiv zu finden sowie seine klare Stimme und selbst sein manchmal aggressives Verhalten zu mögen. Und letztlich musste ich mir selbst eingestehen, schwul zu sein. Anfangs, da war das noch die schwerste Hürde.

Lange konnte es nicht mehr dauern, bis er an der Tür klingelte. Am Telefon klang er zuvor sehr hektisch. Normalerweise war er ein sehr gelassener Mensch. Geradezu so ruhig und gelassen, dass man im Gespräch mit ihm, ganz plötzlich bemerkte, wie man selbst zur Ruhe kam, als Atme man plötzlich eine ganz andere Luft ein oder als wäre der Raum von warmem Sonnenlicht durchflutet.

Er sagte nicht viel. Nur, dass er mich sprechen wolle und wie gerne er wieder seinen alten Freund besuchen würde. Mir warf das zuerst alles Fragen auf. Aber ich wusste, es wäre sinnlos ihn am Telefonapparat auszufragen. Es war nicht seine Art, Dinge, die ihm wichtig erschienen, und diese Sache war ihm wichtig, unpersönlich aus weiter Distanz zu besprechen. Also sagte ich, ohne groß Fragen zu stellen, dass ich am Abend mir die Zeit für ein persönliches Gespräch nehmen konnte. Das klang natürlich so, als wäre ich den ganzen Tag unterwegs, als gebe es in meinem Leben viele Tätigkeiten, denen ich nachkommen musste, ehe ich am Abend Zeit für meine Freunde hatte. Aber genau so wollte ich es. Ich wollte, dass es so klingt, als wäre ich beschäftigt, als hätte ich eine Menge Dinge zu erledigen. Es sollte so aussehen, als hätte ich keine Zeit, um über Dinge nachzudenken, die passiert sind. Er sollte nicht denken, dass es mich noch immer beschäftigte. Ihn hatte es beschäftigt, und im Gegensatz zu mir hatte er keine Probleme das offen zu zeigen.

Die Zeit vergeht so langsam, wenn man wartet. Ein kurzer, vorsichtiger Blick aus dem Fenster. Er soll mich natürlich nicht sehen, sonst denkt er noch, ich würde ihn schon sehnsüchtig erwarten. Draußen weht ein starker Wind, die Bäume tanzen wie verrückt. Der Ausblick aus meinem Fenster hatte stets was Beruhigendes für mich. Nur jetzt, da half auch das mir nicht. In meinem Kopf wimmelten tausende Stimmen. Sie sprechen, schreien und lallen. Ich verstehe nur Wortpfetzen.

Manchmal höre ich Gebete durch meinen Kopf flitzen. Sie erinnern mich an ihn. Und manchmal da höre ich sogar Suren aus dem Koran. Ich verstehe nicht ihre Bedeutung. Meine Mutter hatte sie mir mal beigebracht. Als ich noch ein Kind war, sagte sie mir, immer wenn ich Angst habe, solle ich eine Sure rezitieren. Gott würde es hören und er würde mir in jeder Lage helfen. Sie sagte immer, Gott ist allhörend und er vergibt, wenn man ihn um Vergebung bittet. Ich wusste nicht, worum ich Gott in diesem Moment bitten sollte. Um Vergebung konnte ich ihn nicht bitten, ich war der Meinung Gott würde jede Liebe akzeptieren. Doch er dachte nicht mehr so. Das war der Grund weshalb wir uns nicht mehr sehen konnten. Er wurde gläubig, plötzlich religiös. Eine Sünde wäre es, andere Männer zu lieben. Es veränderte ihn. Ich erkenne ihn nicht wieder. Und jetzt will er nur noch „einen alten Freund“ besuchen. Mir war diese Phrase noch immer so unangenehm gewesen wie in dem Moment als er sie aussprach. Seine Wortwahl sollte wohl klarstellen, dass er nur noch die Freundschaft zu mir pflegen wollte. Er war so schlecht darin, Dinge so auszudrücken, dass sie Menschen nicht verletzten. Aber man war unfähig ihn dafür zu hassen. Es war doch nicht seine Schuld, niemanden Schuld war es.

Und dann am Höhepunkte meines Gedankenchaos angekommen, klingelt es plötzlich an der Tür. Aus dem Fenster sehe ich, wie er an der Eingangstür steht. Von hier oben sieht er so klein aus, so winzig. Nur Schwarzes trug er. Keine Farben, keine Muster. Sein Gesicht so bleich und seine Haare vom Wind verweht. Wohin verschwanden bloß die vielen Farben?

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Tag der Veröffentlichung: 04.04.2013

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