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Prolog

„Keine brauchbaren Spuren.“

Der verbissene Ausdruck in Kits Gesicht, wurde noch eine Spur grimmiger, als er die anderen Tracker dabei beobachtete, wie sie die ausgebrannten Überreste des Fluchtfahrzeugs untersuchten. Es war wirklich nichts weiter als die verkohlte Karosserie übriggeblieben.

Dascha, seine Partnerin und beste Freundin, bei den Trackern, verlagerte ihr Gewicht und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihrem Gesicht war nicht anzumerken, was sie dachte. Dascha war eine Meisterin darin, wenn es darum ging, Emotionen hinter einer Wand der Gleichgültigkeit zu verbergen. „Wir werden die Gegend absuchen, aber ich mache mir keine allzu großen Hoffnungen. Sawyer hat vielleicht fast zwei Jahrzehnte in Eden gelebt und würde hier draußen nicht mehr alleine klarkommen, aber Kismet weiß sicher ihre Spuren zu verwischen.“

Die gleiche Einschätzung teilte er auch. „Du vergisst Killian. Er ist nicht hier, also werden sie ihn mitgenommen haben.“

„Du meinst, er hat uns eine Spur aus Brotkrumen hinterlassen?“

„Wenn er die Chance dazu hatte.“ Natürlich gab es auch noch andere Möglichkeiten. Dass er nicht hier war, bedeutete noch lange nicht, dass sie ihn mitgenommen hatten. Aber er hoffte, dass es so war, denn die anderen Möglichkeiten … Killian war ein Stadtmensch, die Welt außerhalb der Mauern, war nichts für ihn.

Xander, ein Tracker, der ziemlich versiert in technischen Dingen war, zog seinen Kopf aus dem ausgebrannten Schrotthaufen, wischte sich die Hände an einem Lappen ab und gesellte sich dann zu ihrer illustren Runde. „Brandstiftung“, sagte er. „Das war kein Unfall, sie haben den Wagen absichtlich in Brand gesetzt, wahrscheinlich, um ihre Spuren zu verwischen.“

Und das Ortungssystem zu vernichten. Eine sehr drastische Methode, um es zu deaktivieren.

Es war über eine Woche vergangen, seit drei Anwohner der Stadt, auf spektakuläre Weise, alle Sicherheitsvorkehrungen überwunden hatten und bei ihrer Flucht noch zwei Kinder und einen Arzt entführt hatten. Eines der Kinder war noch am selben Tag wieder sicher in ihrer Obhut gelandet, alle anderen waren seitdem verschwunden.

„Wie gehen wir jetzt weiter vor?“, wollte Xander wissen.

Das war eine ausgezeichnete Frage. Die Kolonne der Tracker war den Flüchtigen nach Westen gefolgt, weil sie den gestohlenen Wagen in dieser Richtung geortet hatten, bevor das Ortungssystem ausgefallen war. Das lag allerdings schon acht Tage zurück. Seither hatten sie blind suchen müssen und waren jetzt auch nur durch Zufall auf das ausgebrannte Fahrzeug gestoßen. Es befand sich kaum eine Tagesreise von Eden entfernt. Die Flüchtigen mussten es ziemlich schnell stehen gelassen haben, um die Tracker von ihrer Spur abzubringen.

„Ich denke, wir suchen die ganze Zeit in der falschen Richtung“, sagte Kit nach einigen Überlegungen und ging hinüber zu seinem Geländewagen, um von der Rückbank eine Karte zu holen. Es war ein wenig umständlich, sie bei dem Wind auf der Motorhaube auszubreiten, aber so konnten sie sich einen besseren Überblick verschaffen.

Dascha und Xander stellten sich dazu.

„Wir sind hier“, sagte Kit und zeigte auf einen Punkt auf der Karte, der gar nicht so weit von Eden entfernt lag. „Natürlich könnten sie noch irgendwo in dieser Gegend sein, doch ich glaube, es war nur eine Finte. Meiner Meinung nach, sollten wir lieber weiter südlich suchen.“ Dort, wo sie Kismet, vor gerade mal zwei Monaten, aufgesammelt hatten. Er hatte vom ersten Moment an gewusst, dass diese Frau Ärger bedeutete und dass nicht nur, weil sie ihm bei ihrer ersten Begegnung eine Machete an die Kehle gehalten hatte. Diesem Erlebnis verdankte er die Narbe an seinem Hals.

„Du meinst, sie will nach Hause“, erkannte Dascha.

Das wäre zwar dumm, aber … „Ihre Schwester war davon überzeugt.“

„Wir dürfen Sawyer nicht vergessen“, warf Xander ein. „Nur weil sie zusammen verschwunden sind, heißt das noch lange nicht, dass sie auch zusammengeblieben sind. Vielleicht will auch er zu seiner Familie zurück.“

Was bedeutete, dass sie in den Osten müssten, den dort hatte man ihn damals aufgegriffen. Natürlich könnten sie auch ganz woanders hingegangen sein. Das war wie die sprichwörtliche Suche, nach der Nadel im Heuhaufen. Wären Kismet, Sawyer und seine Tochter Salia, nicht so wichtig für den Fortbestand der Menschheit, würden sie sich gar nicht diese Mühe machen, sie wieder einzufangen. Aber diese drei waren wertvoll, wertvoller als aller Reichtum auf der Welt zusammen. Eden brauchte sie.

„Nikita hat gesagt, sie leben auf einem Flugplatz“, sagte Dascha.

Kit nickte. „Das Problem dabei ist nur, dass es in dieser Gegend, vor der Wende, zwei Flugplätze gab und sie uns nicht sagen konnte, auf welchem der beiden sie leben.“ Die Topographie sah heute nämlich anders aus, als noch vor dreihundert Jahren. Städte waren ausgelöscht, Landschaften hatten sich verändert. Heute flossen Flüsse, wo es früher nur Brachland gab und aus dem, was früher einmal die Mittelpunkte der Menschheit gewesen waren, sprossen heute ganze Wälder, die die Ruinen vergangener Zeiten unter sich begraben hatten. Und nur von den wenigsten Gebieten gab es Karten. Meistens mussten sie mit Satellitenbildern und veralteten Karten arbeiten und das war teilweise gar nicht so einfach.

„Dann müssen wir uns eben beide Standorte anschauen“, stellte Xander ganz richtig fest.

„Uns bleiben also drei Möglichkeiten“, fasste Dascha zusammen. „Wir können weiter im Westen suchen, wo unsere Aussichten sehr gering sind, weil es vermutlich eine Finte ist. Oder wir gehen nach Osten.“ Dascha fuhr mit dem Finger über die Karte, bis sie in der Nähe einer Linie kam, die früher einmal die polnische Grenze gewesen war. „Etwa hier haben wir Sawyer als Kind aufgegriffen, ich habe es nachgeschlagen.“

Was nicht weiter schwer war, da Eden mit der Historie, jedes einzelnen Anwohners, sehr sorgfältig war.

„Oder wir können weiter nach Süden ziehen.“ Wieder bewegte Dascha den Finger, dieses Mal zu einem Punkt, der vor der Wende eine Kleinstadt gewesen war. „Dort ist Kismet uns in die Falle gegangen.“

„Und was ist mit diesem anderen? Diesem Riesen?“, wollte Xander wissen.

„Wolf?“ Kit schüttelte den Kopf. „Uninteressant, wichtig sind nur die Evas und der Adam.“ Und natürlich sein Bruder, der völlig unschuldig in die ganze Sache hineingezogen wurde.

„Also, wohin soll es gehen?“, fragte Dascha.

 Wohin sie auch gingen, Kit würde seinen Bruder finden und zurück nach Eden bringen. Und Kismet würde er gehörig den Hintern versohlen.

 

oOo

Kapitel 01

 

„Papa, ich will nicht mehr laufen.“ Mit großen, braunen Augen, blickte Salia zu ihrem Vater auf. An ihre Brust, drückte sie ein flauschiges Kuscheltier, dass seine besten Zeiten, schon lange hinter sich hatte. Ein Schaf, mit kurzen Stummelbeinen und einem runden Kopf, dass sie auf den Namen, Wölkchen getauft hatte. Dieses kleine Mädchen war verrückt nach Wolken. „Meine Füße tun weh.“

Sawyer richtete seine Aufmerksamkeit auf die Siebenjährige, die in einem viel zu großen, schwarzen Pullover mit dem Emblem von Eden steckte – ein stilisierter Baum des Lebens in einem Kreis. Das gelbe Kleid, das sie bei unserer Flucht aus Eden getragen hatte, war zerrissen und blutig gewesen, weswegen sie nun den dünnen Pulli von meiner Gardistenuniform trug. Sie wirkte darin noch schmächtiger, als sie sowieso schon war. Wenigstens war es … naja, nicht unbedingt sauber, aber zumindest nicht blutig.

Nach zwei Wochen Fußmarsch durch die freie Welt, war keiner von uns noch besonders frisch. Wir schliefen auf dem Boden, aßen mit den Händen und liefen durch das Gelände, wie es eben gerade vor uns auftauchte. Das letzte Mal hatten wir unsere Kleidung, in Eden gewechselt und ganz egal wie oft man sich in einem Fluss, oder einem See wusch, wenn man hinterher die dreckige Kleidung wieder anziehen musste, roch man eben nicht besonders gut.

Sawyer, strich seiner Tochter tröstend über den Kopf. Auch an ihm war unsere Reise nicht spurlos vorbei gegangen. Das dunkelbraune Haar war strähnig und der sonst so gepflegte Kinnbart war in dem Gestrüpp in seinem Gesicht verschwunden. „Wir machen bald eine Pause“, versprach er und drückte ihr noch einen Kuss, auf das verfilzte Haar.

Sawyer war schlank, aber nicht übermäßig durchtrainiert. Er sah weder besonders gut, noch besonders schlecht aus. Ohne seinen bissigen Charakter, würde er in einer Menge vermutlich einfach untergehen. Das Auffälligste an ihm war sein Gesicht. Nicht weil es besonders hübsch, oder symmetrisch gewesen wäre, sondern, weil es das nicht war. Quer über seine linke Gesichtshälfte, verliefen mehrere tiefe Narben. Eine von ihnen zog sich direkt über sein Auge. Ich wusste nicht, wie er zu diesen Verletzungen gekommen war, doch sie hatten ihn auf dem linken Auge erblinden lassen. Mehr als ein Auge brauchte er aber auch nicht, um die Menschen um sich herum seine tiefe Verachtung spüren zu lassen. Natürlich trug das immer wiederkehrende, verächtliche Lächeln auf seinen vollen Lippen, auch seinen Teil dazu bei.

Diese Lippen hatte ich geküsst, während ich ihm dabei tief ins braune Auge gesehen hatte.

Das war nichts, woran ich gerne dachte. Nicht weil der Kuss so schrecklich gewesen war, sondern weil wir beide unter Medikamenten gestanden hatten, die uns mehr oder weniger dazu gezwungen hatten, wie läufige Hunde übereinander herzufallen. Ohne dieses Aphrodisiakum, wäre es niemals dazu gekommen.

„Aber meine Füße können nicht mehr laufen“, jammerte Salia weinerlich. „Auch Wölkchen will nicht mehr laufen. Siehst du?“ Sie hielt ihrem Vater das Kuscheltier hin. „Sie ist schon ganz traurig.“ 

Ich sah mich nach dem braunhaarigen Mädchen um. Sie wirkte müde und erschöpft. Nach einem zweiwöchigen Fußmarsch, kratzten außer Wolf und mir alle an ihren Reserven. Das Leben in der Stadt, verweichlichte die Menschen und auch wenn Sawyer in einer Welt geboren worden war, in der es kaum mehr gab, als die Ruinen einer einst blühenden Zivilisation, so hatte er in den letzten sechzehn Jahren doch unter dem zweifelhaften Schutz, der Stadt Eden gelebt.

Wobei man die Unterdrückung in dieser Stadt nicht unbedingt Leben nennen konnte. Es war eher sowas wie eine Daseinsberechtigung gewesen, die einem von Oberhaupt der Stadt ausgestellt worden war, um seinen ihm zugewiesenen Zweck zu erfüllen. Natürlich nur im Rahmen ihrer Bedingungen.

„Wir haben es doch bald geschafft“, versuchte Sawyer seine Tochter zu ermutigen. Er trug noch immer das weiße Hemd und die schwarze Hose, die er schon bei unserer Flucht aus Eden getragen hatte, nur dass das weiße Hemd in der Zwischenzeit nicht mehr weiß war. Staub und Dreck hatten sich darin festgesetzt, und der Schweiß hatte sein Übriges getan. „Dann musst du nicht mehr laufen, versprochen.“

Salia wirkte nicht glücklich über diese Worte.

Ich verstand sie. Für sie war diese Reise viel anstrengender als für jeden anderen von uns. Nicht nur weil sie noch ein Kind war und bisher nichts anderes als die Stadt gekannt hatte. Sie konnte auch noch nicht verstehen, dass ihr Vater sie auf diese beschwerliche Reise mitgenommen hatte, um sie vor ihrem Schicksal zu schützen. Die Pläne, die Eden mit ihr gehabt hatte, wünschte ich nicht mal meinem schlimmsten Feind.

Salia war schon bei ihrer Geburt dazu auserkoren gewesen, einmal eine Eva zu werden. Eine Eva war nichts anderes als eine Zuchtstute, die ihr ganzes Leben lang ein Baby nach dem anderen in die Welt setzen sollte, in der Hoffnung, dass sie Nachwuchs gebar, dem das gleiche Schicksal bevorstand.

Neben mir brummte Wolf, um Sawyers Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er schaute zu Salia und blieb dann stehen, womit er auch uns andere zum Anhalten brachte.

Wolf war ein Riese von einem Mann. Seine Schultern waren so breit, dass ich mich problemlos dahinter verbergen konnte. Mit seinen muskulösen Armen, könnte er vermutlich ganze Bäume stemmen und sie einfach davontragen. Seine Hüften dagegen, waren unheimlich schmal. Er wirkte fast wie ein Dreieck. Er war bestimmt sechs Fuß hoch und allein sein Anblick, mit dem dichten, schwarzen Haar, dem unrasierten Kinn und den dunklen Augen, konnte einem das Fürchten lehren. Dass er dazu noch durch Brumm- und Knurrlaute kommunizierte, weil er keine Zunge besaß, ließ ihn nicht unbedingt zugänglicher erscheinen. Dabei war er im Grunde ein richtig netter Kerl, solange man ihn nicht verärgerte.

Dieser eindrucksvolle Mann, steckte in der schwarzen Uniform, die eigentlich den Gardisten in Eden gehörte. Widerstandsfähige Hose, enganliegender Pulli und eine Weste, mit jeder Menge Taschen. An den Füßen trug er stabile, schwarze Stiefel. Und auf seiner Brust, direkt neben seinem Herzen, prangte das Emblem von Eden, der Baum, der alle Uniformen und Fahnen der Stadt zierte. Und noch eine Menge mehr.

Als Wolf sich Sawyers Aufmerksamkeit sicher war, ging er auf ein Knie hinunter, zeigte auf Salia und dann auf seinen Rücken. Ein weiteres, aufforderndes Brummen folgte.

„Du willst sie auf deinem Rücken tragen?“, fragte ich, um mich zu versichern, ihn auch richtig verstanden zu haben. Manchmal war es gar nicht so einfach, mit jemanden zu kommunizieren, wenn er nicht sprechen konnte. Teilweise war es sogar wirklich frustrierend – für beide Seiten. Dieses Mal war die Bedeutung jedoch sehr klar.

Sawyer schien einen Moment zu überlegen, ob das eine gute Idee sei, konnte daran aber wohl nichts Nachteiliges feststellen. „Willst du auf Wolf reiten?“

Die braunen Augen der Kleinen leuchteten begeistert auf. „Darf ich?“

„Du musst dich aber gut festhalten.“

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Bevor die Erwachsenen ihre Meinung wieder ändern konnten, sprintete sie zu dem Riesen und versuchte sogleich auf seinen Rücken zu klettern. Dabei verhedderten sich ihre dünnen Beinchen in dem langen Pullover, sodass Sawyer ihr helfen musste.

Während die drei beschäftigt waren, schaute ich zu Killian hinüber, der schon den ganzen Tag verdächtig still war. Er wirkte nicht weniger erschöpft, als Salia. Das sonst so gepflegte, blonde Haar, war staubig, die wachen, babyblauen Augen müde und die durchtrainierten Schultern, gebeugt. Er war ein großer, gutaussehender Mann und einer der wenigen Menschen aus Eden, die ich nicht abgrundtief hasste.

Bei unserer ersten Begegnung, hatte er hoch aufgeragt und versucht mich mit seinem einnehmenden Lächeln zu verzaubern – hatte nicht geklappt. Aber mit viel Zeit und Geduld, war es ihm gelungen, ein fragiles Vertrauen zwischen uns zu schaffen. Es hatte damit geendet, dass ich fast mit ihm geschlafen hätte.

Wir hatten nie über diesen Zwischenfall gesprochen – weil ich das nicht wollte – aber manchmal, spät in der Nacht, wenn ich tief in meinen Träumen versunken war, spülte mein Gehirn diese Erinnerung wieder hinauf, sodass ich mit dem Gedanken an ihn erwachte. Das war … frustrierend. Ich wollte nicht daran denken. Ich wollte es einfach nur vergessen, so wie alles, was mit Eden zu tun hatte. Leider spielte meine Erinnerung dabei nicht mit.

Eigentlich sollte Killian gar nicht hier sein. Es hatte nie zum Plan gehört, ihn mitzunehmen, doch bei unserer Flucht war Salia von einem Gardisten am Arm angeschossen worden. In einer Kurzschlussreaktion hatte Sawyer Killian daraufhin gekidnappt, damit er sich um Salias Verletzung kümmern konnte. Und jetzt war er bei uns, weil wir ihn ja nicht einfach in der Wildnis zurücklassen konnten. Killian hatte keine Ahnung von dem Leben hier draußen und würde allein nicht lange überleben.

Natürlich konnten wir ihn auch einfach zurück nach Eden schicken, nur würde er den Weg allein vermutlich nicht mal finden, wenn sein Leben davon abhinge. Ihn zurückzubringen, war auch keine Option. Nicht nur, weil wir nur noch einen halben Tagesmarsch von meinem Zuhause entfernt waren und der Weg hier her uns fast zwei Wochen gekostet hatte. Es gab auch absolut nichts, was mich dazu bewegen könnte, jemals wieder in die Nähe dieser Stadt zu kommen.

Die Menschen in Eden waren grausam, wenn man nicht das tat, was sie wollten und das was sie von mir verlangt hatten, war einfach nur abscheulich und unmenschlich gewesen. Ich hatte es gehasst, hinter ihren Mauern eingeschlossen zu sein und mich erniedrigen zu lassen, um ihrem Willen gerecht zu werden. Mich aus ihrer Gewalt zu befreien, war eine der schwierigsten Aufgaben meines Lebens gewesen und an einer Wiederholung hegte ich keinerlei Interesse.

Im Moment war mir noch nicht ganz klar, wie es mit Killian auf Dauer weitergehen sollte, denn er gehörte nicht zu uns, aber ihn einfach zurücklassen und damit einem unbekannten Schicksal auszuliefern, das konnte ich auch nicht – so grausam war ich nicht.

„Ist mit dir alles in Ordnung?“, fragte ich ihn, als er so still und nachdenklich vor sich hinstarrte.

Aus seinem Gedanken gerissen, schaute er auf. Sei linkes Auge wurde von einem abheilenden Veilchen verunstaltet, das er Sawyer verdankte. Seine Reiterkleidung war dreckig und staubig, sein Lächeln konnte nicht über seiner Erschöpfung hinwegtäuschen. „Mir geht es gut.“ Den Beisatz, den Umständen entsprechend, unterschlug er einfach.

„Du bist kein sehr guter Lügner.“

Nun erreichte sein Lächeln zumindest seine Augen. „Ich werde daran arbeiten“, versprach er.

Mit einem lauten „Und Vorwärts!“, verkündete Salia, dass wir weiterkonnten. Sie hatte ihre dünnen Ärmchen um Wolfs Hals gewickelt und wirkte munterer, als noch vor zehn Minuten. Wölkchen war bei Sawyer gelandet, damit die Kleine sich manierlich festhalten konnte.

Killian atmete einmal tief ein und schnappte sich dann die Arzttasche, die er auf dem Boden abgestellt hatte.

Vor knapp zwei Wochen, bevor unser Fluchtwagen, lichterloh in Flammen aufgegangen war, hatte Killian noch alles herausgeholt, was er für brauchbar und nützlich hielt. Unter anderem diesen Arztkoffer, der voll war mit Medikamenten und Verbandszeug, aus der Stadt. Er hatte es gebraucht, um Salia zu versorgen und auch uns, nachdem wir uns alle unsere Keychips aus den Händen geschnitten hatten.

Ein Keychip, war ein kleiner, reiskorngroßer Chip, der einem mithilfe einer Spritze, unter die Haut in die Hand, geschoben wurde. Er war der Schlüssel zu Türen und Wissen in der Stadt. Da aber niemand von uns vorhatte, jemals wieder nach Eden zurückzugehen, hatten wir alle ihn entfernt. Naja, alle bis auf Killian, er wollte nicht. Zuerst hatte ich ihn ihm fast gegen seinen Willen aus der Hand geschnitten, weil ich dieses Stück Eden nicht in meiner Nähe hatte haben wollen, aber nachdem mir alle hundertmal versichert hatten, dass man uns über diesen Chip nicht orten konnte, hatte ich ihn damit in Ruhe gelassen. 

Ich wartete, bis Killian zu mir aufschloss und setzte mich dann wieder in Bewegung, wobei ich meine rechte Seite ein wenig schonte. Bei unserer Flucht, hatte mich dort einer der Tracker mit dem Ellenbogen getroffen und mir vermutlich die Rippen geprellt. Seitdem tat es immer ein wenig weh, wenn ich mich falsch bewegte.

Trotz des klaren Himmels und den zwitschernden Vögeln, war es ein wenig kühl. Die Bäume hatten ihre Kronen bunt gefärbt. Laub raschelte bei jedem unserer Schritte, unter unseren Füßen. Der Sommer stand kurz vor dem Ende und der Herbst klopfte bereits an die Tür. Vielleicht gewährte uns dieses Jahr noch ein paar warme Tage, doch die würden die Ausnahme bleiben. Ab jetzt würde es stetig kühler werden. Zum Glück trennte uns nur noch ein halber Tagesmarsch von meinem Zuhause.

Bei der Aussicht darauf, heute Abend endlich wieder bei Marshalls Flugzeug zu sein, machte mein Herz vor Freude einen kleinen Hüpfer. Ich konnte es kaum noch erwarten, ihn und Azra und den immer besoffenen Balic, endlich wiederzusehen. Diese Leute, sie waren meine Familie und ich vermisste das Leben bei ihnen ganz furchtbar.

Neben mir stolperte Killian, fing sich aber wieder, bevor er fallen konnte und setzte weiterhin einen beschwerlichen Fuß vor den anderen. Er sah aus, als würde er jeden Moment beim Laufen einschlafen. Aber ich wollte nicht schon wieder eine Pause einlegen. Wir waren so kurz vor unserem Ziel und wenn wir erstmal angekommen waren, würde er tagelang durchschlafen können, wenn das sein Wunsch war. Er musste nur noch ein kleines bisschen länger durchhalten.

Der Weg dem wir folgten, war früher einmal eine sehr breite Straße gewesen, die direkt in die Stadt hineinführte. Solche Straßen waren heute zumeist rissig und unter Pflanzen und Erde begraben. Trotzdem erkannte man sie sehr gut. An den Rändern ragten Metallstangen und verrostete Schilder wie Klauen aus der Tiefe, in die Luft. Die Baumlinien zu beiden Seiten, waren immer unnatürlich grade. Mit der Zeit waren sie natürlich zur Straße vorgerückt, hatten mit ihren Wurzeln den Asphalt aufgerissen und Setzlinge gesät, doch so üppig die Wälder drumherum auch waren, die Straßen selber blieben bis auf ein paar Ausnahmen, immer ziemlich kahl. Vielleicht weil die dünne Erdschicht auf den Straßen nicht ausreichte, um großen Bäume den erforderlichen Halt zu gewähren.

In der Ferne waren bereits die Anfänge der Stadt zu erkennen. Zerbröckelte und schiefe Bauwerke, kaum mehr als Schemen, über diese Distanz. Sie wirkten gar nicht so weit weg, trotzdem würden wir noch mindestens zwei Stunden brauchen bis wir die Grenze zur Stadt erreichten.

Vor mir fummelte Sawyer an seinem Gürtel herum, bis er die grüne Feldflasche gelöst hatte, die wir aus unserem Fluchtwagen mitgenommen hatten. Es war wirklich erstaunlich, was alles an Ausrüstung in dieser Limousine gesteckt hatte. „Unser Wasser geht zur Neige“, sagte er zu niemand bestimmten und schraubte den Deckel ab. Er trank ein paar Schlucke, und reichte sie dann an Wolf weiter.

Ich griff zu der anderen Feldflasche, die an meinem Gürtel hing und schüttelte sie leicht. Auch sie war so gut wie leer.

Neben mir stolperte Killian wieder.

Mir wurde klar, dass wir so nicht mehr weit kommen würden. Ich selber könnte noch durchlaufen, bis ich am Ziel war, aber die anderen waren aus einem anderen Holz geschnitzt. Wenn ich sie weiter so vorantrieb, wären sie bald so erschöpft, dass wir eine längere Pause einlegen müssten. Eine lange Pause bedeutete, dass wir die Stadt nicht mehr bei Tageslicht durchqueren konnten und im Dunkeln durch eine so baufällige Stadt zu laufen, wäre einfach nur dumm.

Natürlich konnten wir auch einfach den Weg außen herum nehmen, aber dann bräuchten wir doppelt so lange. Das war also auch nicht viel besser.

Innerlich seufzend blieb ich stehen und sah mich um, um mich zu orientieren. Die anderen liefen noch ein paar Meter weiter, bis sie es bemerkten und ebenfalls anhielten.

„Was ist?“, wollte Sawyer wissen und beobachtete, wie ich mich einmal im Kreis drehte, um herauszufinden, wo genau wir uns befanden. Ich war vielleicht kein guter Stratege und meine Kochkünste ließen auch sehr zu wünschen übrig, aber mein Orientierungssinn war erstklassig.

„Kismet?“, fragte Killian.

„Moment.“ Nicht weit hinter der Stadtgrenze, gab es einen Fluss, wo wir unsere Wasservorräte auffüllen konnten, aber bis wir ihn erreichten, würden wir noch gut drei Stunden unterwegs sein. Der gleiche Fluss floss allerdings auch parallel zu dieser Straße. Wir müssten uns nur ein Stück quer durch das Waldstück schlagen, um zu ihm zu gelangen. Das wäre allerdings ein Umweg, von mindestens einer Stunde. Naja, mit den anderen wohl eher zwei. Besser, ich ging alleine, das würde am Schnellsten gehen.

„Zeit für eine Pause“, entschied ich und schaute mich nach einem geeigneten Platz um. Natürlich konnten wir auch einfach an Ort und Stelle zusammenbrechen, aber für den unwahrscheinlichen Fall, dass hier doch andere Menschen vorbeikämen, sollten wir nicht unbedingt auf dem Präsentierteller sitzen.

Wolf brummte und zeigte noch vorne zu einer alten Brücke, die die Straße überspannte. Der linke Teil war schon vor langer Zeit in sich zusammengebrochen. Selbst der Teil an der steilen Böschung, bröckelte unter Moos und Flechten. Der rechte dagegen stand noch, getragen von maroden Stützpfeilern. Ranken und Efeu schlängelten sich daran hinauf. Gräser und Unkraut hatten die Straße drumherum für sich beansprucht. Oben an der Bruchkannte, klammerte sich tapfer ein schiefes Bäumchen und trotzte allen Widrigkeiten.

„Linke Seite“, sagte ich. Die rechte war zwar besser geschützt, aber da bestand auch die Gefahr, dass uns der Rest der Brücke, durch die kleinste Erschütterung, einfach auf den Kopf fiel und uns dann unter sich begrub. Das war nicht unbedingt das, was man sich von einer kleinen Pause erhoffte.

Füße schlürften über den Boden, als wir uns wieder in Bewegung setzten. Salia rief laut „Hü hott, Pferdchen!“, und tat so, als würde sie Wolf die Sporen geben. Er brummte und hüpfte, was sie lachen ließ.

Sawyer behielt die beiden misstrauisch im Auge.

Es waren nur knapp fünfzig Fuß, bis zur Brücke und daran, wie schwer Killian sich auf einen der vielen Betonbruchteile setzte, merkte ich, dass eine Pause bitter nötig war. Die Steine und Trümmerteile der Brücke, waren wie auch die Straße, von Moos und Gestrüpp überwuchert. Eine Hummel schwirrte an uns vorbei.

Mit Sawyers Hilfe kletterte Salia von Wolfs Rücken und ließ sich dann einfach niederplumpsen. Sie stieß ein erleichtertes Seufzen aus, nahm Wölkchen an sich und drückte das ergraute Kuscheltier an ihre Brust.

Sawyer ließ sich neben ihr auf dem Boden nieder und lehnte sich mit dem Rücken an einen Betonblock. Wolf wählte genauso wie Killian, ein überwuchertes Trümmerteil.

Um uns herum, in den Ästen der Bäume, zwitscherten aufgeregt ein paar Vögel und erfreuten meine Ohren mit ihren Liedern.

Ich trat zu Sawyer und hielt ihm meine offene Hand hin. „Gib mir deine Feldflasche.“

„Warum?“ Trotz der Frage, löste er sie und überreichte sie mir.

Ich band sie zu der anderen an meinen Gürtel. „Ganz in der Nähe ist ein Fluss. Ich gehe schnell hin und fülle die Flaschen auf. Ihr ruht euch so lange hier aus.“

Wolf brummte und wollte sich wieder erheben, aber ich deutete ihm sitzen zu bleiben.

„Nein, bleib du mal hier und hab ein Auge auf unsere kleinen Zöglinge.“ Nicht dass sie in meiner Abwesenheit noch von ein paar Kaninchen gefressen wurden.

Sawyer funkelte mich an. „Ich brauche keinen Babysitter.“

Oh nein, auf eine solche Diskussion würde ich mich nicht schon wieder einlassen, das hatte ich in den letzten Tagen zu genüge gehabt. Zeit ihm mal ein wenig Vernunft einzubläuen. „Du wurdest vielleicht hier draußen geboren, aber du hast die letzten Jahre hinter schützenden Mauern verbracht. Du bist eingerostet“, sagte ich ihm ganz direkt.

So wie er mich anschaute, hatte er das nicht hören wollen.

„Vom Kopf her weißt du vielleicht noch was zu tun ist, aber deine Fähigkeiten musst du dir erst wieder aneignen. Und jetzt guck mich nicht so eingeschnappt an. Du bist eingerostet, na und? Killian ist komplett unerfahren, ihr braucht also jemanden, der ein Auge auf euch hat.“

„So nutzlos bin ich nun auch wieder nicht“, murmelte Killian.

Wolf versuchte vergebens ein Schmunzeln zu unterdrücken.

„Und ich?“, wollte Salia wissen. „Bin ich auch eingerostet?“

„Nein.“ Ich hockte mich vor sie und stupste sie auf die Nasenspitze. Sie kicherte. „Aber du bist so müde, du fällst schon um, wenn eine Mücke nur gegen dich fliegt.“

„Ha, ha.“

Sawyer streckte seine langen Beine aus und überschlug sie an den Knöcheln. „Was können wir uns glücklich schätzen, dass wir dich haben, oh großer Manitu.“

Ich verstand die Anspielung nicht, also überging ich sie einfach. „Ja, du kannst dich glücklich schätzen und jetzt hör auf zu meckern und sei dankbar, dass wir dich nicht irgendwo in ein dunkles Loch geschubst haben und ohne dich weitergegangen sind.“

Er wirkte nicht sehr dankbar.

Ich seufzte. Eigentlich konnte ich mich nicht groß beschweren. Dafür, dass er in Eden zeitweise der widerlichste Kerl gewesen war, mit dem ich in meinem ganzen Leben zu tun gehabt hatte, war seine Gesellschaft hier draußen … ich würde jetzt nicht angenehm sagen, sondern eher erträglich.

„In Ordnung, ich bin dann mal weg.“ Ich erhob mich wieder und schaute mich noch einmal um. Gefahren konnten überall lauern und gingen eher selten von anderen Menschen aus, aber hier schien für dem Moment alles sicher zu sein. „Wenn ich mich beeile, müsste ich in einer Stunde wieder zurück sein – vielleicht sogar etwas früher.“

„Keine Sorge Mami, wir werden schon nicht verloren gehen.“

Ich ignorierte Sawyer und wandte mich stattdessen an Salia. „Und du hast ein wachsames Auge auf die drei. Wenn sie Blödsinn machen, verrätst du es mir nach meiner Rückkehr, ja?“

Sie nickt mit all dem Ernst, den eine Siebenjährige aufbringen konnte.

Sawyer zog eine Augenbraue nach oben, was die Narben in seinem Gesicht ein wenig verzerrte. „Was, du würdest deinen eigenen Vater verraten?“

Wieder ein Nicken, dieses Mal jedoch mit einem Lächeln.

Er kniff die Augen leicht zusammen, dann griff er blitzschnell nach vorne und schnappte sich seiner Tochter. Salia kreischte vergnügt, als ihr Vater sie kitzelte.

„Ich beeile mich.“ Denn ich wollte heute auf jeden Fall noch den Flugplatz erreichen.

„Was, kein Abschiedskuss?“, fragte Sawyer.

Salia nutzte seine Unaufmerksamkeit, rollte sich von ihm runter und rannte kichernd zu Wolf. Sie musste sich nicht mal besonders klein machen, um sich hinter seinem Rücken zu verstecken.

„Von mir bekommst du höchstens einen Abschiedstritt. Wenn du einen Kuss haben willst, frag Killian.“

Beide Männer wirkten gleichermaßen abgestoßen voneinander.

„Da küsse ich doch lieber einen Frosch“, murmelte Sawyer.

Also ich nicht, ich würde Killian bevorzugen. Frösche waren eklig.

„Der arme Frosch“, sagte Killian.

Wolf lachte leise.

Kopfschüttelnd kehrte ich ihnen den Rücken und ging den Weg, den wir gerade gekommen waren, wieder ein Stück zurück, bis die Böschung nicht mehr ganz so steil war.

„Aber nicht, dass du dich absetzt und uns einfach hier zurücklässt“, rief Sawyer mir noch hinterher.

Ich hatte mir sicher nicht die Mühe gemacht, sie bis hierher mitzuschleppen, um sie dann auf den letzten Metern sich selbst zu überlassen. Davon abgesehen, dass man in der Gruppe sicherer reiste, würde mich auch ein schlechtes Gewissen plagen, wenn ich sie einfach sich selbst überließ. Bis auf Wolf waren sie einfach alle so … unbedarft. Es war, als wäre ich mit einem Rudel Kleinkinder unterwegs.

Mit einem letzten Blick auf meine Begleiter, tauchte ich in das Waldstück ein und fast sofort, wurde es um mich herum, deutlich kühler. Ohne die Stimmen und Schritte der anderen, nahm ich meine Umgebung mit einem Mal ganz anders wahr. Der laue Wind, der die Bäume rascheln ließ. Das Zwitschern der Vögel in den Ästen. Im Unterholz raschelte etwas und huschte dann eilig davon. Die Musik der Natur, ein niemals enden wollendes Lied.

Mit der Straße im Rücken, musste ich mich nur Richtung Osten halten, dann würde ich zwangsläufig irgendwann über den Fluss stolpern, der auch in die Stadt hineinfloss.

Ich setzte einen Fuß vor den anderen, spürte das Laub und die Nadeln der Bäume unter meinen Füßen. Meinen Schuhen hatte ich mich nach der Flucht ziemlich schnell entledigt. Ich mochte es einfach nicht besonders, etwas an den Füßen zu haben. Es fühlte sich falsch an und die Stiefel waren wie ein schwerer Klotz gewesen. Barfuß konnte man sich auch viel leiser bewegen.

Das Unterholz war nicht sehr dicht und die Mittagssonne, spendete genug Licht, um mich problemlos zurechtzufinden. Nicht weit entfernt, sah ich ein paar Fasane über eine Lichtung rennen und in Farne und Büsche verschwinden.

Früher hatte es hier sicher ganz anders ausgesehen. Als ich noch ein Kind gewesen war, hatte meine Mutter mir und meinen Geschwistern oft phantastische Geschichten über eine Welt erzählt, die so heute gar nicht mehr existierte und ein völlig anderes Gesicht getragen hatte. In dieser Welt, existierten Dörfer, Ortschaften und riesige Städte, die voll waren mit Milliarden von Menschen. Es waren so viele gewesen, dass sie in Häusern übereinandergestapelt wurden.

In diesem ruhmreichen und von technischem Fortschritt gezeichneten Zeitalter, konnte man mit Flugzeugen und Schiffen von einem Kontinent zum anderen reisen. Wenn ein der Hunger plagte, musste man nur das Haus verlassen und in den Laden auf der anderen Straßenseite gehen, um etwas zu Essen zu bekommen. Schlafen tat man warm und sicher in weichen Betten, ohne sich um den nächsten Tag zu sorgen. Das Leben war einfach gewesen.

Damals, in dieser Welt, hatten die Menschen den Planeten zu ihrer Spielwiese gemacht und sich darauf ausgetobt, ohne an die Konsequenzen zu denken. Viele Jahrhunderte hatten sie die Natur zu ihrem Vorteil ausgenutzt, bis sie es eines Tages zu weit trieben.

An einem Tag, der für die Menschen wie jeder andere gewesen war, hatte Gaia, die Mutter der Erde, beschlossen, dass sie von der Ausbeutung ihrer Reichtümer genug hatte. Sie degradierte die dominierende Spezies des Planeten zu einem Parasiten, den es unter allen Umständen auszulöschen galt. Sie nahm ihnen die Fruchtbarkeit und die Menschheit begann auszusterben, bis nur noch ein kläglicher Rest übrig war, der sich krampfhaft an seinen Fortbestand festklammerte.

Das war die Geschichte, wie meine Mutter sie mir als Kind erzählt hatte. Vor kurzem hatte ich von Killian noch eine andere Version gehört. In der ging es um einen Virus, der die inneren Fortpflanzungsorgane von Säugetieren verkümmern ließ, wodurch nur noch ein kleiner Prozentsatz der Menschen dazu fähig war, Babys in die Welt zu setzen.

Für diese zweite Theorie sprach, dass nicht nur Menschen von Gaias Rache betroffen waren, sondern alle Säugetiere – ob nun zu Land, oder im Wasser. Vögel, Fische und Reptilien hingegen, entwickelten sich prächtig und hatten die Welt für sich erobert.

Ich mochte die Geschichte meiner Mutter trotzdem lieber und das nicht nur, weil die andere Variante von den Monstern aus Eden stammte. Der Gedanke, dass die Welt ein höheres Wesen war, dass gutmütig das Leben formte und gedeihen ließ, hatte etwas beruhigendes. Denn Gaia war alles. Sie war der Boden auf dem ich lief, die Bäume um mich herum und der Himmel über meinem Kopf. Sie war der Regen und die Sonne, sie war das, was der Mensch zum Leben brauchte. Sie war alles, was ich zum Leben brauchte.

Während ich um ein paar Sträucher herum ging und über einen niedergegangenen Baumstamm kletterte, musste ich wieder einmal daran denken, wie man mir all das genommen hatte. Nicht Gaia selber, sondern das, womit sie mich beschenkt hatte.

Früher hatte ich mit meinen Eltern, meinem großen Bruder Akiim und meiner kleinen Schwester Nikita, in der Nähe eines Sees im Wald gelebt. Andere Menschen, außerhalb meiner Familie, hatte ich nur selten gesehen. In einer sterbenden Welt, in der es kaum noch Menschen gab, war das ganz normal.

Wir hatten nicht viel gehabt, aber wir waren glücklich gewesen, zumindest bis zu dem Winter, in dem ich acht Jahre geworden war. In diesem Winter wurde meine Welt zum ersten Mal erschüttert.

Damals, in diesem verhängnisvollen Winter, war mein Vater krank geworden. Anfangs war es nur eine einfache Erkältung gewesen, doch sie hatte sich verschlimmert, bis es eine Lungenentzündung war. Meine Mutter hatte alles getan, was in ihrer Macht stand, um ihm zu helfen, doch am Ende war es umsonst gewesen. Mein Vater erlag seiner Krankheit und meine Mutter blieb mit drei kleinen Kindern allein zurück.

Die nächsten Jahre waren schwierig gewesen. Nicht nur wegen dem Verlust, der uns alle tief getroffen hatte, sondern auch, wegen all den Aufgaben, die eigentlich immer mein Vater übernommen hatte. Doch wir hatten es überlebt. Wir hatten uns langsam von diesem Unglück erholt und weiter gemacht. Leider hatte das Schicksal es nicht gut mit meiner Familie gemeint.

Vier Jahre später waren die Monster aus Eden gekommen und hatten meine Mutter und meinen großen Bruder Akiim getötet. Sie waren einfach aufgetaucht und hatten meine Welt zerstört. Nikita und ich überlebten nur, weil ich mit ihr unbemerkt in den Wald geflohen war. Ich war damals gerade mal elf Jahre gewesen und Nikita sogar erst vier. Dieser Verlust hatte mich tief getroffen und mein Vertrauen in die Menschen fast vernichtet.

Fast ein Jahr lang, war ich mit meiner kleinen Schwester allein durch die Welt gereist und hatte uns am Leben erhalten. Dann, in dem ersten Frühling, nach dem Tod meiner Mutter, war Marshall in mein Leben getreten. Er hatte uns gefunden, uns zu seiner Mischpoche mitgenommen und uns aufgezogen, als wären wir seine eigenen Kinder.

Es war nicht wie vorher gewesen, das konnte es auch gar nicht sein. Es war etwas anderes, aber es war nicht schlecht. Viele Jahre lebte ich in meiner Mischpoche und war glücklich. Doch vor etwas mehr als zwei Monaten, schlug das Schicksal erneut mit eiserner Faust zu.

Es begann an einem Tag, wie jeder andere auch. Ich war früh wach und erledigte meine Aufgaben. Nikita dagegen machte sich davon, sobald sie konnte. Sie war ein Freigeist, Marshalls kleiner Schmetterling, der es liebte, sich jeden Tag in ein neues Abenteuer zu stürzen. Doch an diesem Tag sollte sich alles verändern.

Erst war sie am Abend nicht nach Hause gekommen, was mich wütend machte, denn sie wusste, dass ich mich sorgen würde. Als sie am nächsten Tag aber immer noch nicht aufgetaucht war, hatten Marshall und ich uns auf die Suche nach ihr begeben. Es hatte nicht lange gedauert, bis ich auf den Alptraum gestoßen war, der mir noch heute des Nachts in den Schlaf folgte.

Die Monster aus der Stadt Eden, die Tracker, sie waren zurückgekehrt und hatten meine kleine Schwester in ihre Gewalt gebracht.

Jeder normale Mensch hätte Nikita zurückgelassen, das Weite gesucht und um ihren Verlust getrauert. Ich jedoch hatte sie nicht im Stich lassen können und einen Rettungsversuch unternommen, der trotz meiner Vorsicht, grandios gescheitert war. Nun hatten sie nicht nur Nikita in ihrer Gewalt gehabt, sondern auch mich. Im Namen der Menschheit, fingen die Tracker die Leute in den Ruinen der freien Welt ein und brachten sie notfalls auch gegen ihren Willen, in die Stadt, wo sie für ihre Zwecken eingesetzt wurden.

Wolf war einer dieser Menschen gewesen. Das Regime in Eden hatte ihn erst eingefangen und dann zum Gardisten machen wollen. Nikita dagegen, war noch ein Kind und wurde somit erst noch auf ihre Zukunft vorbereitet. Und für mich hatte die Stadt einen ganz besonderen Platz vorgesehen.

Die Menschen in Eden wurden in zwei Kategorien eingeteilt. Die einen waren fruchtbar und konnten Kinder bekommen, und die anderen konnten es nicht. Ich hatte das zweifelhafte Glück gehabt, zu den fruchtbaren Menschen zu gehören. Ich sollte eine Eva werden.

Eine Eva war eine Königin, eine Göttin, der man jeden Wunsch von den Lippen ablas, das wertvollste Gut der Menschheit. Nur nicht in meinem Fall.

Die Aufgabe einer Eva war es, in ihrem Leben möglichst viele Kinder in die Welt zu setzten. Die Stadt hatte dafür verschiedene Methoden entwickelt, unter anderem den freien Zugang zu den ansässigen Adams. Sawyer war so ein Adam gewesen. Er mussten den Evas Tag und Nacht zur freien Verfügung stehen und die Hosen runterlassen, sobald sie es von ihm verlangten. Ein großes Mitspracherecht hatte er nicht.

Die zweite Methode bestand in der künstlichen Befruchtung. So hatte ich Killian kennengelernt. Er war mein Arzt gewesen und für dieses Zeug verantwortlich.

Verständlicherweise war ich nicht sehr erpicht darauf gewesen, mir von fremden Männern, oder kalten Maschinen ein Baby einpflanzen zu lassen, das man mir nach meiner Geburt dann auch noch wegnehmen würde. Ich wollte nicht ihre Zuchtstute sein. Daran hatte die Despotin Agnes Nazarova Anstoßt genommen und versucht mich mit verschiedensten Mitteln zu brechen und zum Mitmachen zu bewegen.

Vom ersten Moment an, noch bevor ich die Grenzen der Stadt übertreten hatte, stand für mich fest, dass ich mir meine Schwester schnappen würde und von diesem Ort schnellstens verschwinden musste. Leider war das gar nicht so einfach gewesen.

Nach einem spektakulär gescheiterten Fluchtversuch, war Sawyer auf mich zugekommen. Nach Jahren als Zuchthengst für läufige Stuten, wollte er fort. Genau wie ich, war er nicht freiwillig nach Eden gekommen und genau wie ich, wollte er dieses Leben nicht. Also entsannen wir zusammen ein Plan, um diese Stadt für immer hinter uns zu lassen.

Es war nicht ganz einfach gewesen, aber am Ende hatten wir es geschafft, den Fesseln von Eden zu entkommen. Doch die Freiheit schmeckte noch immer bitter, denn sobald wir die Mauern hinter uns gelassen hatten, musste ich erfahren, dass es meine eigene Schwester gewesen war, die mich an den Feind verraten und ausgeliefert hatte.

Meine Gefangennahme war eine Falle gewesen, die sie zusammen mit den Trackern ausgeheckt hatte. Der erste Fluchtversuch hatte nur durch ihre Mitwirkung vereitelt werden können und als wir dann endlich in Sicherheit waren, hatte sie erneut versucht, uns zurück hinter die Mauern der Stadt zu bringen. Und das alles nur, für das falsche Versprechen, auf ein besseres Leben.

Sie hatte Freiheit gegen Bequemlichkeit getauscht, Unabhängigkeit gegen Luxus und mich gegen ihre egoistischen Wünsche. Dabei war es ihr völlig egal gewesen, dass sie alles zerstörte, was ich liebte – Hauptsache sie bekam, was sie wollte.

Dieser Verrat schmerzte noch immer so sehr, dass ich am liebsten auf die Bäume um mich herum eingeschlagen hätte. Ich verstand nicht, warum sie nie mit mir geredet hatte. Warum war sie nicht zu mir gekommen und hatte mir gesagt, dass sie unglücklich war? Wir hätten eine Lösung finden können. Sie war meine Familie, alles was ich noch an Blutsverwandten in dieser Welt besaß und trotzdem hatte sie mich auf so grausame Art hintergangen, dass ich ihr das niemals verzeihen konnte.

Mit zusammengebissenen Zähnen stampfte ich durch das spärliche Unterholz des Waldstücks und musste mir eingestehen, wie dumm und blind ich die ganze Zeit gewesen war. Ich hatte gesehen, wie der Aufenthalt in Eden sie verändert hatte, wie sie von meiner kleinen Schwester zu einem Mädchen geworden war, das ich kaum wiedererkannte. Doch ich hatte ihr vertraut und das war mein Fehler gewesen.

Leider wusste ich nun, dass es in dieser Welt niemanden gab, der es wert war, ihm blind zu vertrauten. Man knüpfte Bande, man lebte sein Leben und ja, man konnte sogar glückliche Momente haben, doch es wäre einfach nur töricht, jemand anderem zu trauen, solange man nicht in seinen Kopf hineingucken konnte. Und da das nicht möglich war, sollte man es lieber gar nicht erst versuchen.

Mit grimmiger Mine, versuchte ich die Düsternis in meinem Kopf abzuschütteln und verbannte jeden Gedanken an Nikita in den hintersten Winkel meines Gehirns. Ich hatte eine Aufgabe, es war besser sich darauf zu konzentrieren. Nikita war nun nicht länger Teil meines Lebens und es war besser, das möglichst schnell zu akzeptieren und einfach weiter zu machen. Ändern konnte ich es sowieso nicht.

 

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Kapitel 02

 

Der Wind wehte durch die hohen Gräser, wiegte sie in einem sanften Rhythmus und ließ sie, wie grazile Frauenkörper, auf der Wiese tanzen. Irgendwo zwischen den Halmen zirpten betörte Grillen ihr Liebeslied. Kleine Kolibris flogen von einer Blume zur nächsten und bedienten sich an dem süßen Festmahl der Blüten.

Die offene Weide erstreckte sich bis auf die andere Seite des Flusses und weit darüber hinaus. Erst in der Ferne waren wieder vereinzelte Bäume zu erkennen. Obwohl es ja weniger ein Fluss war, sondern ein Kanal, einst geschaffen von Menschenhand und nun von der Natur erobert.

In den Bäumen zwitscherten ein paar Vögel und irgendwo krächzte ein Kakadu. Die Blätter in den Baumkronen raschelten. Vom Fluss kam ein Plätschern, als sei ein Fisch herausgesprungen. Hoch am Himmel flog ein Schwarm Enten. Zugvögel, die ihre Reise nach Süden antraten, um von der Kälte des Winters verschont zu bleiben. Alles wirkte ruhig und friedlich und hatte eine Idylle, die dazu einlud, sich ins hohe Gras zu legen und eine Weile zu verweilen.

Nach einem wachsamen Blick in alle Richtungen, trat ich unter dem Schutz der Bäume hervor. Ich erwartete keine Schwierigkeiten, doch es war Jahre her, seit ich das letzte Mal an diesem Fleckchen Erde gewesen war und in so einer Zeitspanne konnte sich eine Menge verändern. Darum wäre es töricht, nicht wenigstens ein kleinen wenig Wachsamkeit an den Tag zu legen.

Sobald ich mir sicher war, ungestört meiner Aufgabe nachgehen zu können, bahnte ich mir meinen Weg durch das hüfthohe Gras. Der gut fünfzehn Fuß breite Fluss, lag ein Stück weiter unten. Gräser und Pollen schwebten durch die Luft und brachten mich zum Niesen. Wieder erklang ein leises Plätschern. Scheinbar tummelten sich hier einige Fische.

Ich suchte mir meinen Weg hinab zum Ufer. Die Böschung war recht flach. Büsche und Gräser hielten sich an ihr fest und ich musste ein Stück am Kanal entlanglaufen, um eine Stelle zu finden, an der ich problemlos an das Wasser herankam. Alles war voll mit Schilf, dass an allen Seiten wie Unkraut wucherte und ein Tummelplatz für Libellen und Eintagsfliegen bot. Ein majestätischer Schwan, schwamm auf der schwachen Strömung dahin und beobachtete aus sicherer Entfernung, wie ich die beiden Feldflaschen von meinem Gürtel abnahm. Der eine Trageriemen, blieb an meinem Schlagstock hängen, sodass ich ihn erstmal abfummeln musste.

Früher hatte ich immer eine Machete als Waffe bei mir getragen. Sie hatte mir nicht nur viele Jahre gute Dienste geleistet, sie war auch das einzige Erinnerungsstück an meine Eltern, dass ich noch von ihnen besessen hatte. Aber bei meiner Gefangennahme durch die Tracker vor zwei Monaten, hatte man sie mir weggenommen. Ich hatte keine Ahnung, wo sie jetzt war, aber ich war mir sicher, dass ich sie niemals wiedersehen würde.

Der Schlagstock, den ich nun bei mir trug, war ein miserabler Ersatz, aber er hatte zur Uniform dazu gehört und bisher war ich an keine andere Waffe herangekommen.

Es hatte auch noch eine Pistole zur Uniform gehört, doch die war bei Sawyer und funktionierte nur mit dem richtigen Keychip. Ja, in Eden brauchte man wirklich für alles einen Schlüssel.

In die Hocke zu gehen, tat ein wenig weh. Ich musste mir die Hand auf die Rippen drücken. Das war die Stelle, an der der Gardist mich getroffen hatte, als ich versuchte, ihn von Sawyer runterzuziehen. Killian meinte, die Seite sei nur leicht geprellt und das würde schnell verheilen, doch bis es soweit war, tat es noch immer weh, wenn ich mich falsch bewegte.

Ich hockte mich ans Wasser und tauchte die erste Flasche hinein. Blasen stiegen auf, als sie sich langsam füllte und verzerrten mein Spiegelbild zur Unkenntlichkeit. Erst als sie voll war und die Oberfläche sich beruhigte, konnte ich die junge Frau in der Spiegelung erkennen.

Ruhige braune Augen erwiderten meinen Blick – Augen, die genauso aussahen, wie die meiner Mutter. Das schwarze Haar auf ihrem Kopf war nicht mehr ganz so kurz, wie noch vor zwei Monaten und die dünne Gestalt nicht mehr ganz so ausgemergelt. Das musste ich Eden wenigstens zugestehen, die Zeit bei ihnen hatte meinem Körper gutgetan. Wo vorher Knochen waren, sah man nun Rundungen und die braune Haut wirkte gesünder. Trotzdem erkannte ich mich nicht wirklich wieder und das lag sicher nicht nur an der Uniform der Gardisten.

Ich hatte mich verändert. Die Erfahrungen an diesem Ort, hatten mich zu keinem anderen Menschen gemacht, aber etwas in mir drinnen war anders geworden und das lag nicht allein an Nikitas Verrat.

Auch äußerlich war ich anders geworden. Meine Brüste waren noch immer groß, die Schmolllippen und die Stupsnase unverändert. Aber nun hatte ich eine Narbe an der Schläfe, die früher nicht dagewesen war. Doch sie war nichts gegen die große Narbe in meiner Handfläche, wo ich mir zwei Mal den Keychip herausgeschnitten hatte. Zeugnisse von Eden, die mich ewig an das Martyrium an diesem Ort erinnern würden.

Ruckartig zog ich die Flasche aus dem Wasser und zerstörte damit mein Spiegelbild. Ich hatte keine Zeit für diesen Blödsinn. Ich sollte mich besser beeilen, anstatt hier meine Zeit zu vertrödeln und mich selbst zu bemitleiden. Es waren schließlich nicht meine ersten Narben. Und ganz sicher auch nicht die letzten.

Ich verschloss die erste Flasche, hängte sie zurück an meine Gürtel und füllte dann die Zweite.

Der Schwan dümpelte immer noch träge auf der Wasseroberfläche. Wenn ich Pfeil und Bogen bei mir hätte, könnte ich ihn schießen. Das würde ein gutes Abendessen geben.

Die letzten zwei Wochen hatte ich mich hauptsächlich von Nüssen, Kräutern und Insekten ernährt. Die Wenigen Male, als ich wildes Gemüse und Obst gefunden hatte, hatte ich sie Salia und Killian überlassen. Die beiden hungerten lieber, als Insekten zu schlucken. Meine Lieblingsspeise waren sie auch nicht, aber ich hatte schon viel Schlimmeres gegessen, um zu überleben.

Als die zweite Flasche gefüllt an meinem Gürtel hing, richtete ich mich wieder auf und wollte mich gerade in Bewegung setzten, als ich auf der anderen Seite des Kanals ein verdächtiges Knacken hörte. Es war nur deswegen verdächtig, weil es so völlig fehl am Platz schien. Nur deswegen wurde ich aufmerksam und sondierte langsam die andere Seite.

Alles schien ruhig, da waren nur die hohen, wiegenden Gräser und der rauschende Wind. Auch die Vögel zwitscherten noch immer. Solange die Vögel ihr Lied trällerten, war alles in Ordnung. Erst wenn sie verstummten, musste man sich Sorgen machen, denn dann lag irgendwo etwas auf der Lauer und jagte einen.

Wahrscheinlich war es nur irgendein Tier, oder eine Ausgeburt meiner Phantasie gewesen. Ich war einfach überreizt. Die letzten Wochen hatten ihre Spuren hinterlassen. Nicht nur die Zeit in Eden, auch die Tage die danach gefolgt waren. In ersten zwei Nächte hatte ich gar nicht schlafen können, weil ich ständig Angst gehabt hatte, die Tracker würden gleich aus dem Gebüsch gesprungen kommen und mich wieder nach Eden bringen. Die ganze erste Woche war ich ständig angespannt und auf der Hut gewesen. Erst die letzten Tage hatte ich mich etwas beruhigt und jetzt war ich ziemlich sicher, dass es den Edenern viel zu aufwendig wäre, die anderen und mich zu suchen. Ich meine, die Welt war groß und sie wussten zwar, wo sie mich gefangen genommen hatten, aber nicht wo ich lebte. Selbst wenn sie direkt an meinem Zuhause vorbeigingen, würden sie uns nicht finden, einfach weil es unbewohnt wirkte. Sie müssten schon die ganze Stadt Stein für Stein auseinandernehmen, um unser Versteck zu entdecken.

Eine kleine Stimme in mir flüsterte, dass Nikita es ihnen gesagt haben könnte. Aber warum sollte sie? Marshall und die anderen waren ihr nicht wichtig und dass ich nicht dazwischen gegangen war, als Sawyer sie aus dem Wagen gezerrt hatte, war ein deutliches Zeichen für sie gewesen. Nikita war nicht länger meine Schwester. Es gab für sie also keinen Grund, mich wieder nach Eden zurückholen zu wollen. Vermutlich war ich in der Zwischenzeit einfach paranoid.

Über mich selbst den Kopf schüttelnd, wollte ich mich gerade vom Kanal abwenden und zu den anderen zurückkehren, als ein Geräusch an meine Ohren drang. Es war wie das Summen eines Bienenschwarms und es kam schnell näher.

Ich erstarrte, für einen Augenblick froren meine Muskeln einfach ein. Dann beschleunigte sich mit einem Schlag mein Puls und ich sah mich hektisch nach allen Seiten um. Dieses Summen, ich kannte es. Die Fahrzeuge der Tracker machten dieses Geräusch. Es jetzt hier zu hören, ließ alle meine Ängste und Befürchtungen zum Leben erwachen und die kalten Klauen der Furch packten mich.

Kaum, dass ich diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, waren sie auch schon da. In rasendem Tempo fuhren sie an der Waldlinie entlang, direkt auf mich zu.

Nein, das war unmöglich, sie konnten nicht wissen, dass ich hier war. Das war völlig ausgeschlossen. Selbst wenn sie wussten, dass ich nach Hause unterwegs war, konnten sie unmöglich wissen, dass ich genau in diesem Moment hier unten am Kanal sein würde. Bis vor einer halben Stunde hatte ich es ja nicht mal selber gewusst.

Und doch sah ich sie genau in diesem Moment direkt und unaufhaltsam auf mich zukommen.

Denk später darüber nach, renn!

Und ich rannte. Zwei Schritte die Böschung hinauf und dann rutschte ich auf dem nassen Untergrund aus. Ich schlug hart auf die Knie, ignorierte den Schmerz, rappelte mich sofort wieder auf die Beine und sprintete los. Ich musste zu den Bäumen kommen und Schutz zwischen ihnen suchen. Wenn ich sie nur rechtzeitig erreichte, würde ich mir dort ein Versteck suchen können. Hätte ich erstmal eine Deckung, würden sie mich nicht finden, doch die beiden Fahrzeuge kamen unheimlich schnell näher. Und dann wurden sie sogar noch schneller.

Ich hatte die halbe Strecke zum Waldstück geschafft, als mir klar wurde, dass ich es nicht schaffen würde. Ich würde niemals rechtzeitig bei den Bäumen sein.

Mit einer Vollbremsung blieb ich stehen, wirbelte herum und rannte wieder zurück Richtung Fluss.

Genau in dem Moment hielt das vordere Fahrzeug an der Stelle, wo ich eben kehrt gemacht hatte. Die Türen wurden aufgerissen, Schritte und Stimmen folgten. Jemand rannte mir hinterher.

„Kismet!“

Ein kurzer Blick über die Schulter reichte, um zu erkennen, wer sich da an meine Fersen geheftet hatte. Es war ein Mann, in der Uniform der Tracker. Sie ähnelte der der Gardisten sehr, nur das dieser hier grün gemustert war und es weder einem Helm, noch eine Sturmmaske dazu gab. Dafür war das Emblem von Eden aber deutlich größer und die Waffe deutlich gefährlicher. Sie brachte einen nämlich nicht um, nein, sie ließ einen einschlafen, sodass die Menschen dann mit einem machen konnten, was sie wollten und man keine Chance hatte sich dagegen zu wehren.

Auf den ersten Blick konnte man glauben, der Mann hinter mir wäre Killian. Aber dieser Mann hier, der ihm so ähnlich sah, war sauber, trug diese Uniform und hatte eine kleine Narbe unter dem Auge. Außerdem waren seine Haare ein wenig länger. Nein, das war nicht Killian, das war sein Zwillingsbruder Kit und er versuchte mich zu fangen.

„Kismet, bleib stehen!“

Das tat ich nicht. Stattdessen holte ich alles raus, was ich zu bieten hatte, rannte zum Ufer und sprang mit einem Hechtsprung in den Kanal.

Das kalte Wasser war wie ein Schock für meinen Körper und einen Moment sah ich nichts außer Luftblasen und Dunkelheit. Doch Adrenalin feuerte mich an und sorgte dafür, dass ich in Bewegung blieb. Ich musste unten bleiben, tauchen und so weit schwimmen, wie meine Lungen es erlaubten. Doch plötzlich packte mich etwas am Bein und hielt mich fest. Nein, es hielt mich nicht nur fest, es zerrte auch an mir und versuchte mich zurück zu reißen.

Eine Hand, man hatte mich gepackt und ich kam nicht von der Stelle. Durch den Schreck, entließ ich die Luft aus meinem Mund. Ich versuchte nach der Hand zu treten, oder besser gesagt, nach demjenigen, der mich da festhielt, aber dann musste ich auftauchen, weil meine Lunge nach Sauerstoff verlangte.

Prustend und nach Luft schnappend, kam ich an die Oberfläche und versuchte mich paddelnd oben zu halten, während ich strampelte und um mich trat, um mein Bein frei zu bekommen. Kit hielt es mit einem verbissenen Ausdruck im Gesicht fest. Er musste mir hinterhergesprungen sein und versuchte jetzt mich zurück an Land zu ziehen.

„Lass los!“, forderte ich und schlug nach ihm.

Er wich aus, gab mein Bein aber nicht frei. „Nicht schießen“, befahl er und kämpfte hartnäckig darum, die Oberhand zu gewinnen. „Sonst säuft sie uns noch ab.“

Ich gestattete mir eine Sekunde, um zum Ufer zu schauen. Dort stand eine Handvoll weiterer Tracker. Zwei von ihnen hatten ihre Waffen auf mich gerichtet, bereit auf Kommando sofort abzudrücken, ganz egal was das für Konsequenzen für mich hatte.

Ich erinnerte mich gut an diese Waffen und auch daran, was für ein Gefühl es war, von ihnen getroffen zu werden. Den Treffer mit der Munition selber merkte man kaum, es war nur ein kleiner Stich, doch das Medikament spürte man fast sofort. Es machte einen benommen und beraubte einem jeglicher Kraft. Jede Kontrolle über den eigenen Körper ging verloren. Man fühlte sich einfach nur noch hilflos und ausgeliefert und genau das war man auch.

Eine der Waffenträgerinnen war Dascha, die jüngste Tochter der Despotin Agnes Nazarova, die einfach alles tun würde, was ihre Mutter von ihr verlangte, um das kleinste bisschen Anerkennung von ihr zu bekommen. Sie würde mich gefangen nehmen und zurück nach Eden schaffen. Sie würde mich sogar töten, wenn Agnes es von ihr verlangte, da war ich mir sicher.

Plötzlich sah ich einen anderen Ort vor mir, einen See mit anderen Trackern, die die Leiche meiner toten Mutter umringten. Ich geriet in Panik und schlug heftiger um mich.

„Hör auf!“, fauchte Kit mich an und versuchte mich festzuhalten.

Ein anderer Tracker eilte zum Ufer und sprang ins Wasser. Er wollte Kit helfen.

Nein! Mit aller Kraft holte ich aus und trat Kit so heftig gegen die Schulter, dass er vor Schmerz aufschrie. Ich riss mich los, holte tief los und tauchte bis hinunter auf den Grund. An den Händen spürte ich Schlamm und Seetang. Der Kanal war gut fünfzehn Fuß breit, aber nicht mal halb so tief.

Da ich nicht zurück an die Oberfläche konnte, schwamm ich unter Kit hindurch zur anderen Seite des Kanals, doch ich war nicht so dumm einfach aufzutauchen, rauszuklettern und loszurennen. Mit ihren Waffen konnten sie quer über das Wasser schießen und mich niederstrecken, bevor ich auch nur einen Schritt weit gekommen wäre. Deswegen schwamm ich zum Schilf, quetschte mich zwischen die langen Halme der Pflanze und zwang mich zur Ruhe.

Die Luft wurde langsam knapp, trotzdem drückte ich mich noch tiefer in die Pflanze, bis ich die Böschung hinter mir spürte und hielt mich mit den Händen an den langen Halmen fest. Dann tauchte ich so langsam auf, dass ich weder Geräusche machte, noch Wellen schlug.

Nur der obere Teil meines Kopfes stieg langsam durch die Oberfläche empor, gerade so viel, dass ich atmen konnte. Ich zwang mich ruhig und langsam ein- und auszuatmen und nicht hektisch nach Luft zu schnappen, wie meine Lungen es von mir verlangten.

„Wo ist sie hin?“ Plätschern. „Sie kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.“

Das Geräusch von spritzendem Wasser.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich hatte mich so tief im Schilf versteckt, dass ich durch die hohen Halme kaum etwas sah und auch wenn alles in mir schrie, mich schnellstmöglich aus dem Staub zu machen, hielt ich ganz still.

„Wie lange kann jemand die Luft anhalten?“, fragte eine männliche Stimme.

Sehr vorsichtig schob ich mich ein wenig nach links. Jetzt konnte ich etwas sehen. Dascha stand grimmig am Ufer und sondierte aufmerksam die Oberfläche. Wie immer hatte sie ihr blondes Haar zu einem strengen Pferdeschwanz an den Kopf gebunden, wodurch ihr Gesicht einige scharfe Kanten bekam. „Sie muss hier irgendwo sein. Sucht weiter.“

Wieder plätscherte es, als Kit tief Luft holte und unter der Wasseroberfläche verschwand. Einen Moment war nichts von ihm zu sehen, dann tauchte er unweit von mir wieder auf. Sein Blick glitt suchend über das Wasser, strich über mich hinweg und tastete dann mit den Augen die andere Seite ab. „Das kann doch nicht sein.“

Ich war zu gut verborgen, er sah mich nicht. Am liebsten hätte ich erleichtert aufgeatmet, doch das hätte er sicher gehört, also verkniff ich es mir vorerst. Feiern konnte ich später immer noch, jetzt musste ich erstmal diese Situation überstehen.

„Vielleicht ist sie den Fluss weiter runter geschwommen?“

„Und dann hat sie sich Kiemen wachsen lassen? Oder Flügel und ist weggeflogen?“

„So ein Schwachsinn.“

„Hört auf damit“, befahl Dascha. Sie war die Einzige, die nicht das Ufer absuchte. Nach wie vor stand sie an der gleichen Stelle und erkundete alles allein mit ihren Augen. Nur die Waffe hatte sie mittlerweile gesenkt. „Xander, hol mir mal bitte die Wärmebildkamera aus dem Wagen.“

Ein Mann mit hohen Geheimratsecken und Dreitagebart, marschierte hinüber zum hinteren Jeep und öffnete die Heckklappe. Ich konnte nicht sehen, was er da tat, aber er kam mit einem kleinen Gerät in der Hand zurück. Es sah aus, wie ein halber Feldstecher.

Dascha nahm das Gerät entgegen, fummelte daran herum und hielt es sich ans Auge, während Kit und der andere Tracker noch immer im Wasser herumpaddelten. Langsam drehte sie den Kopf und tastete dabei den Fluss und das Ufer mit dem Gerät ab.

Ich versuchte mich so klein wie möglich zu machen. Zwar hatte ich keine Ahnung, wozu dieses Gerät diente, doch ich war mir ziemlich sicher, dass es für mich nichts Gutes bedeutete.

Alle Tracker hatten die Suche eingestellt und beobachteten gespannt Dascha. Die hatte den Kopf mittlerweile so weit gedreht, dass sie in meine Richtung schaute.

Ich versuchte mich noch kleiner zu machen, hoffte, betete, dass sie mich nicht sah. Ich stellte sogar das Atmen ein, als würde das einen Unterschied machen. Aber dann hob sie trotz allem den Arm und deutete genau in meine Richtung. „Hinter dir, Kit“, sagte sie und ließ das Gerät sinken. „Sie versteckt sich im Schilf.“

Kit fuhr zu mir herum.

Scheiße.

Ich wusste nicht, ob er mich sah, oder einfach nur auf das reagierte, was Dascha gesagt hatte, aber sowohl er, als auch der andere Tracker, schwammen sofort in meine Richtung.

Schlagartig schoss mein Puls in die Höhe. Ich verharrte nicht länger, fuhr nur herum und versuchte möglichst schnell aus dem Wasser zu kommen.

Die scharfen Kanten des Schilfs, schnitten mir in Arme und Gesicht. Wasser spritzte zu allen Seiten auf, als ich mich hastig an der steilen Böschung heraufzog. Meine Füße rutschten auf dem glitschigen Untergrund aus, aber ich grub meine Finger in die Erde und hievte mich an Land. Gerade rechtzeitig, denn Kit streckte den Arm nach mir aus. Er verfehlte mich nur um Zentimeter.

Ich kam so schnell auf die Beine, dass ich stolperte und fast noch auf die Nase fiel, doch ich fing mich rechtzeitig und rannte los. Ich musste hier weg, so schnell und so weit wie möglich.

Meine Beine trugen mich ins hohe Gras. Das Spritzen von Wasser verriet mir, dass auch Kit und der andere Tracker versuchten die Böschung zu erklimmen.

Ich versuchte mich geduckt zu halten, damit sie nicht mit ihren Waffen auf mich zielen konnten, doch da tauchte wie aus dem Nichts ein Tracker vor mir auf. Plötzlich war er einfach da, direkt vor meiner Nase, wie ein Springteufel. Die Arme leicht ausgebreitet, die Knie etwas gebeugt, als wollte er mich notfalls mit vollem Körpereinsatz abfangen.

Keuchend bremste ich ab. Bei Gaias unendlichem Zorn, wo kam der auf einmal her?

„Kismet, bitte machen sie es uns nicht unnötig schwer, sie haben eh keine Chance.

Na das würden wir noch sehen. Ich wich einen Schritt zurück und wollte nach links rennen, doch da stand ein weiterer Tracker. Eine Frau, der ich in Eden schon einmal begegnet war. Wie verdammt noch mal waren die auf diese Seite des Ufers gekommen? Ihre Kleidung war trocken und Fahrzeuge sah ich hier auch keine.

Egal, renn!

Nach vorne konnte ich nicht, also musste ich zurück zum Kanal, vielleicht würde sich dort eine Chance für mich ergeben. Hektisch wirbelte ich herum und rannte so schnell ich konnte.

„Kismet!“, rief der Tracker mir hinterher. Auch er und die Frau rannten los, bereit die Verfolgung aufzunehmen und ihrer Aufgabe nachzukommen: Mich zu fangen.

Sie wollten mich nicht gehen lassen, aber sie würden mich nicht bekommen. Auf keinen Fall würde ich nach Eden zurückkehren. Vorher würde ich sie alle töten, oder selber sterben.

Noch fünf Fuß trennten mich vom Ufer, vier. Ich setzte zum Sprung an, doch in dem Moment wurde ich am Arm gepackt und durch meinen eigenen Schwung herumgerissen. „Nein!“, schrie ich noch, da krachte ich auch schon zu Boden. Meine Füße landeten im Kanal. Wasser spritzte, als ich mich zur wehr setzte. Es war Kit, der mich abgefangen hatte und nun versuchte vom Ufer wegzuziehen.

„Lass mich los!“ Ich schlug nach ihm, kratzte mit meinen Fingernägeln über seinen Arm und kämpfte um meine Freiheit. Da waren plötzlich die beiden anderen Tracker da, stürzten sich auf mich und drückten mich zu Boden.

„Nein!“, schrie ich und Strampelte. „Nehmt eure Finger weg!“

Einer von ihnen zerrte meine Arme nach vorne.

Kit kam auf die Knie und nahm hastig die Handschellen von seinem Gürtel. In seinen Augen funkelte der Triumph. Dann schlossen sich die metallenen Reife der Schellen um meine Handgelenke und ich spürte nur noch eisiges Entsetzen.

Kit stieß den Atem aus. „Na endlich.“

Sie hatten mich. Ich brauchte einen Moment, bis dieser Gedanke in meinem Kopf angekommen war, doch sobald mir die Tragweite dessen bewusstwurde, geriet ich in Panik und rastete völlig aus. Sie würden mich zurück nach Eden bringen. Sie würden wieder versuchen, mich in ihr Programm zu zwingen und dieses Mal würden sie sicher keine Gnade mehr walten lassen.

Ich schrie auf, riss mein Bein hoch und trat dem Tracker, der mich festhielt, so heftig, gegen den Kopf, dass er mit einem schmerzhaften Ausruf zur Seite kippte. Gleichzeitig rollte ich mich herum, wich dabei Kits greifender Hand aus und benutzte meinen eigenen Schwung, um wieder auf die Beine zu kommen. Ich brauchte nur zwei Schritte zum Kanal, zwei Schritte, dann könnte ich im Wasser abtauchen, doch bevor ich meinen Plan in die Tat umsetzen konnte, rammte Kit mich von der Seite und riss mich wieder zu Boden.

„Nein!“, schrie ich.

„Willst du dich umbringen?!“ Er drückte mich runter und setzte sich auf mich rauf. Wasser tropfte aus seinen Haaren in mein Gesicht. „Mit den Handschellen kannst du nicht schwimmen!“

„Na und?! Lieber sauf ich ab, als wieder nach Eden zu müssen!“ Ich bockte, aber sein Gewicht hielt mich sehr wirksam unten.

„Das ist doch dumm“, schimpfte er und schaute über meinen Kopf hinweg, als würde er etwas beobachten.

„Das ist nicht dumm!“ Ich versuchte meine Knie hochzureißen und sie ihm in den Rücken zu rammen, doch er saß zu weit unten. „Wie würdest du es finden, wenn andere über deinen Körper bestimmen, ohne dass du ein Mitspracherecht hast?!“

„Hör endlich auf so zu tun, als wären wir Monster“, knurrte er und veränderte seinen Griff. Im nächsten Moment erschienen links und rechts von mir Stiefel. Zwei paar Hände ergriffen mich an Armen und Schultern und sobald Kit von mir heruntergestiegen war, rissen sie mich nicht allzu sanft auf die Beine.

Meine Rippen begannen wieder zu schmerzen. „Nein verdammt, ich will das nicht!“ Ich versuchte die Füße in den Boden zu stemmen, doch sie hoben mich einfach höher. Es interessierte sie auch nicht, dass ich mich in ihrem Griff wandte und versuchte nach ihnen zu treten. „Nein, bitte, ihr könnt das nicht tun.“

Keiner von ihnen schenkte meinen Worten auch nur ein Fünkchen Aufmerksamkeit. Sie drehten sich einfach mit mir herum und entfernten sich vom Ufer.

In der Luft war wieder das Summen zu hören. Ein Jeep der Tracker näherte sich uns, fuhr quer durch das hohe Gras und hinterließ eine Schneise.

Ich sah auf die andere Seite. Dascha und die anderen Tracker, stiegen gerade in ihre Fahrzeuge und starteten die Motoren. Wo war dieser Jeep hergekommen?

Als das Fahrzeug nicht weit von uns anhielt und sich die Türen öffneten, erblickte ich ein weiteres vertrautes Gesicht. Sinead – oder auch Sin, wie sie genannt werden wollte – stieg auf der Beifahrerseite aus. Sie war eine Frau mit violettem Haar, dass sie immer zu zwei geflochtenen Zöpfen trug.

Sie warf einen Blick auf mich, ging dann zur Hintertür und öffnete sie. Als meine Bewacher mich in ihre Richtung zerrten, machte sie einen Schritt zur Seite.

Sie wollten mich in den Wagen stopfen. „Nein!“, schrie ich und begann mich wieder heftiger zu wehren, doch es brachte nichts. Ihre Hände und Finger bohrten sich in meine Arme und hielten mich fest. Egal wie sehr ich mich gegen den Boden stemmte und hin und her warf, sie zerrten mich unerbittlich weiter. Sie waren zu stark, ich kam einfach nicht frei.

An der Tür entstand dann noch mal ein ordentliches Gerangel, denn ich stemmte mich mit den Füßen gegen die Karosserie des Wagens. Ich wollte da nicht rein, aber sie waren zu fünft und ich war allein. Kit umrundete einfach den Wagen, kletterte auf den Rücksitz und zog mich hinein. Mit vereinter Kraft, schafften sie es mich in den Sitzt zu drücken. Jemand zog ein weiteres Paar Handschellen hervor, mit denen sie mich an eine Stange fesselten, die in der Mitte des Wagens zwischen Boden und Decke befestigt war. Sobald die Handschellen befestigt waren, verschwanden die schmerzhaften Griffe, doch nun war es zu spät, ich war an dieses verdammte Fahrzeug gekettet.

Wie von Sinnen begann ich daran zu zerren. Ich spürte weder den Schmerz noch die Anstrengung, da war bloß diese Angst, die mir das Hirn vernebelte und jeden klaren Gedanken verhinderte. Ich hatte alles riskiert, um aus Eden zu fliehen und doch saß ich jetzt hier und schaffte es nicht mich zu befreien.

„Das wird nichts bringen“, teilte Sin mir mit. „Das weißt du doch.“

Wäre es mit rechten Dingen zugegangen, hätte sie bei meinem Blick einfach tot umfallen müssen.

Kit griff währenddessen nach meinem Gürtel und zog den Schlagstock heraus. Dann stieg der Mistkerl einfach aus dem Wagen und verschwand.

Ich zerrte weiter, trat und stemmte mich gegen die Stange. Ich wollte nicht hier sein, ich musste hier weg, sofort!

„Wenn du damit nicht aufhörst“, drohte Sinead, „dann werde ich dich betäuben.“

Das drang durch den Nebel der Verzweiflung in meinem Kopf. Schweratmend hielt ich inne und starrte sie entsetzt an. Meine Augen waren weit aufgerissen und ich konnte spüren, wie wild mein Herz in meiner Brust trommelte.

„So ist besser. Und jetzt beruhige dich bitte. Du weißt das wir dir nichts tun werden.“

„Ist das dein scheiß Ernst?!“, fauchte ich sie an. Das Schlimme daran war, dass sie das wirklich glaubte. Diese Leute hier waren der festen Überzeugung, dass sie nichts falsches taten, denn ihr ganzes Handeln wurde von einem einzigen Ziel geleitet: Der Erhalt der Menschheit. Mit diesem Ziel vor Augen, rechtfertigen sie all ihre Taten, ganz egal wie abscheulich sie auch waren.

Sinead öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schien es sich dann aber anders zu überlegen. Sie schüttelte nur den Kopf, als hätte sie es mit einem unbelehrbaren und undankbaren Kind zu tun. Dann drehte sie den Kopf. Ich hörte es im gleichen Moment. Es war wieder das Summen von den Jeeps. Damit waren wohl die anderen eingetroffen.

Sinead warf mir noch einen Blick zu und verschwand dann aus meinem Blickfeld.

Ich begann sofort wieder an den Handschellen zu zerren, doch langsam musste ich es einsehen, egal wie viel Mühe ich mir gab, das Einzige was ich damit erreichte, waren schmerzende Handgelenke und aufgescheuerte Haut.

Mit einem Mal verließ meine Kraft mich einfach und ich sackte in mich zusammen. Ich war ihnen entkommen, hatte ihre Mauern hinter mir gelassen und das Weite gesucht und doch saß ich nun wieder hier. Die Erkenntnis, dass alles umsonst gewesen war, schmeckte bitter.

Dass Summen verstummte, Stimmen erklangen. Gleich darauf erschienen Kit und Dascha in der offenen Tür.

Mit einem „Hier“, warf Kit mir ein sauberes Handtuch an den Kopf. Er selber hatte sich eines um die Schultern gelegt. Nicht das es viel brachte, er war noch immer triefend nass.

Ich ignorierte das Handtuch und ließ ihn mit meinem Blick meine ganze Verachtung spüren.

„Ich habe ein paar Fragen an dich“, meldete sich Dascha zu Wort, doch bevor sie mehr sagen konnte, wollte Kit wissen: „Wo ist mein Bruder?“

Dascha bedachte ihn mit einem Seitenblick. Das war wohl nicht das, was sie hatte wissen wollen.

Ich schwieg beharrlich. Es gab absolut nichts, mit dem sie mich dazu bringen konnten, ihnen zu verraten, dass Killian sich gleich auf der anderen Seite des Waldstücks befand. Nicht weil ich Killian vor ihnen schützen wollte, sondern weil er bei den anderen war und ich sie von den Trackern schützen musste.

Kit wartete einen Moment, aber mit jeder verstreichenden Sekunde, wurde er ungeduldiger. Ich sah es an seinem Finger, mit dem er unruhig auf seinen Arm tippte und auch daran, dass er zwei Mal sein Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte. „Nun komm schon, sag mir, was du mit ihm gemacht hast.“

Das würde ich nicht, aber vielleicht konnte ich sie auf eine falsche Fährte führen. Das würde zumindest den anderen helfen und ihnen einen Vorsprung verschaffen. Wolf würde sich um sie kümmern und dafür sorgen, dass sie sich rechtzeitig in Sicherheit brachten. „Ich habe gar nichts mit ihm gemacht und ich habe keine Ahnung, wo er ist. Vielleicht wieder in seinem geliebten Eden.“

Gereizt verschränkte Kit seine Arme vor der Brust. Dabei rutschte ihm das Handtuch fast von den Schultern. „Du redest Mist und das weißt du auch. Ihr habt Killian mitgenommen – warum auch immer. Und ich will jetzt augenblicklich wissen, wo er ist.“

„Warum auch immer? Wir haben ihn mitgenommen, weil ein Idiot von Gardist auf Salia geschossen hat“, knurrte ich. „Er sollte sich um ihre Wunde kümmern.“

Einen Moment starrten die beiden mich nur an.

„Was?“, fragte Dascha dann. „Salia wurde angeschossen?“

„Das habe ich ja wohl gerade gesagt.“ Obwohl ich mittlerweile ziemlich sicher war, dass es ein Versehen gewesen war. Kein Gardist würde auf eine Eva, oder einen Adam schießen. Ich vermutete viel eher, dass der Kerl auf Wolf gezielt hatte, um uns aufzuhalten. „Er hat sich um die Schusswunde gekümmert, dann haben wir ihn zurückgelassen. Wenn er nicht völlig verblödet ist, müsste er schon längst wieder in Eden sein.“ Nein, ich hatte absolut kein Problem damit, diese Lüge auszusprechen.

Kit leckte sich über die Unterlippe, dachte über die Möglichkeit nach, schüttelte dann aber den Kopf. „Du lügst.“

„Warum sollte ich? Ich schleppe doch keinen nutzlosen Edener mit mir herum. Er hat getan, was er tun sollte, danach haben wir ihn nicht mehr gebraucht.“

„Wo habt ihr ihn zurückgelassen?“, wollte Dascha wissen. Sie wirkte nicht viel überzeugter als Kit.

„Beim Wagen. Dort haben wir uns getrennt. Keine Ahnung, was dann mit ihm passiert ist. Es interessiert mich auch nicht. Wenn ich Glück habe, wurde er von Phantomhunden gefressen.“

Kit sah aus, als wollte er mir eine Ohrfeige verpassen. Er schien sich wirklich Sorgen um Killian zu machen. Schade nur für ihn, dass mich das kein bisschen berührte. Von mir aus konnte er ewig leiden. Das würde ihm nur gerecht geschehen, nachdem was er mir angetan hatte.

Dascha beobachtete mich mit ruhigem Blick. Wie immer war nicht zu erkennen, was in ihrem Kopf vor sich ging. In dieser Hinsicht war sie das genaue Gegenteil von Kit. „Nehmen wir mal an ich glaube dir, dann bleibt immer noch die Frage, wo die anderen sind.“

„Woher soll ich das wissen? Ich habe doch gerade gesagt, dass wir uns beim Wagen getrennt haben. Glaubt ihr wirklich, ich würde mit Sawyer freiwillig durch die Gegend wandern?“ Ich schnaubte verächtlich. „Ich bin froh, dass ich diesen Widerling nie wiedersehen muss.“

„Und wo wollte Sawyer hin?“

„Keine Ahnung, ich habe ihn nicht gefragt, denn es hat mich nicht interessiert.“ Ich drückte die Lippen zusammen und zerrte wieder an den Handschellen. Nicht dass ich glaubte, frei zu kommen. „Ich wollte das alles einfach nur vergessen.“ Zumindest dieser Teil stimmte.

Kit schüttelte den Kopf. „Sie lügt. Sie weiß ganz genau wo die anderen sind, aber sie will es uns nicht sagen.“

„Wenn das stimmt, sind sie vermutlich ganz in der Nähe.“ Bei diesen Worten beobachtete Dascha mich ganz genau und auch wenn ich keine Regung zeigte, so schlug mein Herz doch ein kleinen wenig schneller. „Von wo hat Sasha sie kommen sehen?“

„Aus dem Waldstück.“ Er zeigte auf die andere Seite des Kanals. „Sie hat sie entdeckt, als sie unter den Bäumen hervortrat.“

Bei Gaias Zorn, sie hatten mich beobachtet? Warum hatte ich das nicht bemerkt? Vielleicht weil ich verblendet war. Der Wunsch nach Hause zu kommen, hatte alles andere ausgeblendet. Die Reise musste mich doch mehr geschlaucht haben, als ich geglaubt hatte.

„Stell eine Gruppe zusammen und durchkämm mit ihr die Gegend. Dreht jeden Stein um, falls nötig. Aber zieh dir vorher etwas Trockenes an. Ich will nicht, dass du krank wirst und ausfällst.“ Sie sagte das nicht, als würde sie sich Sorgen um ihn machen, sondern als würde ihr so ein Ausfall einfach nur ungelegen kommen.

Kit warf mir noch einen bösen Blick zu, bevor er aus der Tür verschwand, um Daschas Befehlen zu folgen. Ich war auf seiner Beliebtheitsliste wohl gerade an den letzten Platz gerutscht.

Dascha folgte ihm kurz mit den Augen, bevor sie sich wieder mir zuwandte. Wäre es möglich gewesen, hätte ich behauptet, sie würde versuchen, meine Gedanken zu lesen. „Vielleicht glaubst du, dein Widerstand würde dir irgendwas bringen, aber das stimmt nicht. Mit deiner Flucht hast du deine Situation nicht gerade zum Guten gewendet und darum würde ich dir empfehlen, ein wenig Wiedergutmachung zu leisten. Uns zu sagen, wo sich Sawyer und Salia aufhalten, wäre schon einmal ein Anfang.“

Wenn sie glaubte, mich damit zum Umdenken bewegen zu können, hatte sie sich aber getäuscht.

„Wir werden sie finden, mit oder ohne deine Hilfe, aber wenn du uns hilfst, würde dir das sicher Pluspunkte einbringen.“

Als wenn ich darauf wert legen würde. „Lieber würde ich Scheiße fressen, als euch auf irgendeine Weise zu helfen.“

„Wie du meinst.“ Sie griff nach der Tür und schlug sie zu. Dann entfernte sie sich vom Wagen und ging zu den anderen Trackern.

Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Die Handschellen schepperten leise, als sie gegen die Metallstange schlugen. Zwei Reife, verbunden durch eine Kette. Kein sichtbares Schloss, nur ein kleines, blaues Lämpchen, das unermüdlich vor sich hin blinkte. Ich erinnerte mich noch sehr gut daran, wie ich das erste Mal solche Handschellen vor Augen gehabt hatte. Damals im Bus der Tracker, als ich versucht hatte, Nikita zu befreien – Nikita, die gar nicht befreit werden musste, weil sie freiwillig zu den Trackern gegangen war. Es war alles nur eine Falle gewesen.

Mit solchen Handschellen hatte alles begonnen und nun würde es erneut geschehen.

Wie hatte das passieren können? Ich hatte doch nur Wasser holen wollen. Und jetzt saß ich in diesem verdammten Fahrzeug und war ihnen ausgeliefert.

Wie lange würden die anderen wohl brauchen, bis sie merkten, dass ich nicht zurückkam? Hoffentlich bevor die Tracker sie suchen kamen. Mit Wolfs Hilfe konnten sie es schaffen, ihre Spuren zu verwischen und spurlos zu verschwinden. Wobei sie Killian vermutlich zurücklassen würden. Das wäre nicht unbedingt das Schlimmste, dann wäre wenigstens einer wieder dort, wo er eigentlich sein wollte: Bei seinen Leuten.

Einen kurzen, unzurechnungsfähigen Moment lang überlegte ich, ob sie mich wohl retten kommen würden. Aber das wäre einfach nur dumm. Die Tracker waren nicht nur in der Überzahl, sie hatten auch die besseren Waffen. Es wäre geradezu Hirnverbrannt, wenn sie es versuchten und damit riskierten, auch wieder in Eden zu landen.

Sechzehn lange Jahre war Sawyer ein Gefangener hinter den Mauern von Eden gewesen, er würde seine Freiheit sicher nicht riskieren, um mich zu retten und das konnte ich ihm nicht mal übelnehmen. Er war mir nichts schuldig und er hatte Salia, um die er sich kümmern musste. Nein, es war besser, wenn sie einfach still und heimlich verschwanden.

Außerdem wusste sie doch auch gar nicht, wo sie nach mir suchen müssten.

Als die Fahrertür geöffnet wurde, zuckte ich zusammen. Ein unbekannter Mann schob sich auf den Sitzt und startete den Motor.

Ich kniff die Augen fest zusammen und versuchte meiner aufsteigenden Verzweiflung Herr zu werden. Ich hatte keine Ahnung, was jetzt passieren würde, aber eines war sicher, am Ende dieses Weges würde Eden auf mich warten. Wie nur sollte ich ihnen entkommen? Es war beim ersten Mal schon schwierig gewesen und mir nur dank Sawyers Wissen und Hilfe gelungen. Dieses Mal aber hatte ich keinen Sawyer. Ich hatte dort nicht mal mehr eine Nikita. Alles was mich in Eden erwartete, war der Feind.

Als der Wagen sich in Bewegung setzte, machte sich tiefe Hoffnungslosigkeit in mir breit. Ich hatte so hart dafür gekämpft, dieses Schicksal hinter mir zu lassen, doch alles war umsonst gewesen.

 

oOo

Kapitel 03

 

„Hier.“ Dascha beugte sich in den Wagen und hielt mir einen Teller hin. „Iss, solange es noch warm ist.“

Zwei Scheiben Brot, mit etwas Gemüse. Das Fleisch daneben, brutzelte noch und verbreitete einen herrlichen Duft. Seit ich aus Eden geflohen war, hatte ich nicht mehr so was Gutes vor der Nase gehabt. Mein Magen begann auffordernd zu rumoren, doch ich schlug ihr einfach nur den Teller aus der Hand und schaute zu, wie sie schnell zurücksprang und das Essen draußen im Dreck landete.

Ihre Lippen wurden schmal. „Das war unnötig gewesen.“

Ganz im Gegenteil, es war sogar sehr nötig gewesen. Sie konnte froh sein, dass ich nicht auch noch drauf gespuckt hatte. „Ich will dein Essen nicht.“

„Und das hättest du mir nicht einfach sagen können?“

„Diese Methode erschien mir viel effektiver.“

Die Gleichgültigkeit wich aus ihrem Gesicht und machte einem tiefen – ja fast schon genervten – Seufzen Platz. „Muss es denn wieder so ein Kampf sein? Es wäre wirklich von Vorteil für dich, wenn du einfach kooperieren würdest.“

„Kooperieren und ein paar tausend Babys in die Welt setzten.“

„Du übertreibst maßlos.“

Darauf ging ich nicht ein. Es war viel leichter demonstrativ den Kopf abzuwenden und den Blick nach vorne durch die Windschutzscheibe zu richten.

Die Freiheit war nahe – so verdammt nahe. Wenn ich die Hand ausstreckte, konnte ich sie beinahe greifen. Leider war die betreffende Hand im Inneren des Wagens mit Handschellen festgemacht und niemand in diesem Lager schien bereit, mich in absehbarer Zukunft von ihnen befreien zu wollen.

Nachdem man mich am Fluss eingesammelt hatte, war ich direkt in ihr Lager gebracht worden. Es war nicht mal weit entfernt, nur knapp außerhalb der Stadt. Noch heute Morgen, waren wir ganz in der Nähe vorbeigelaufen. Hatten sie vielleicht so meine Spur gefunden? Ich hatte nicht gefragt und das würde ich auch nicht tun. Es war ganz egal, wie sie mich gefunden hatten, jetzt zählte nur noch, wie ich ihnen entkam.

Leider hatte sich bisher noch keine Gelegenheit geboten und das lag nicht nur daran, dass ich an diesen Wagen gekettet war. Sie ließen mich keinen Moment aus den Augen, nicht eine einzige Sekunde. Es war immer jemand bei mir, oder zumindest in meiner unmittelbaren Umgebung, um ein Auge auf mich zu haben. Die meisten beobachteten mich einfach nur, Dascha jedoch versuchte immer wieder Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. Wo war Killian? Wann genau hatte ich mich von Sawyer getrennt? Wie ging es Salia? Irgendwann hatte ich einfach aufgehört, mit ihr zu reden, weil ich keine Lust mehr hatte, meine Lügen immer und immer wieder wiederholen zu müssen.

Auch Sinead war einmal aufgetaucht, vorgeblich, um mich zu verarzten. Sie wollte die Schnitte auf meinen Armen und meinem Gesicht behandeln, die ich mir im Schilf zugezogen hatte. Ich hatte sie gewarnt, mir ja nicht zu nahe zu kommen. Selbst saubere und trockene Kleidung hatte ich abgelehnt, weil ich nicht wollte, dass sie mich anfassten. Darum stank es im Fahrzeug nun nach Flusswasser und ich hatte das Gefühl, auf einem Sandhaufen zu sitzen.

Aber Sinead war nicht nur gekommen, um den guten Samariter zu spielen. Sie hatte auch versucht mich in ein Gespräch zu verwickeln und so auf Umwege an ihre Antworten zu kommen. Als wenn ich so blöd wäre, darauf hereinzufallen. Ich hatte ihr gesagt, wohin sie sich scheren sollte und dass sie sich gleich selber verarzten könnte, wenn sie mich nicht in Ruhe ließ. Sie hatte richtig entrüstet gewirkt, als sie davon gestiefelt war.  Entrüstet! Was lief mit diesen Menschen nur falsch, dass sie glaubte, entrüstet sein zu dürfen, nachdem sie mich mit Gewalt eingefangen hatten und nun gefangen hielten?

Als es dann langsam dunkel wurde, und Kit mit den anderen Trackern von seiner Suche zurückgekommen war, hatte ich erleichtert aufgeatmet. Sie waren allein zurückgekommen. Sawyer und die anderen waren also in Sicherheit. Entweder hatte mein Wegbleiben sie alarmiert, oder sie waren noch rechtzeitig auf die Tracker aufmerksam geworden, um in Deckung zu gehen.

Dass sie allein zurückgekommen waren, hatte mich aber auch gewundert. Zumindest mit Killian hatte ich gerechnet. Sawyer mochte den Arzt nicht und wäre vermutlich froh, ihn endlich loszuwerden. Und Killian selber wollte zurück nach Eden. Er hatte die Stadt nicht freiwillig verlassen. Dennoch war er nicht hier.

Vielleicht hatten Wolf und Sawyer ihn ja als Geisel behalten – für den Notfall, falls sie ein Druckmittel gegen die Tracker bräuchten. Zutrauen würde ich es ihnen. Wolf hatte zwar nicht so eine Abneigung gegen den Arzt, aber ob er ihn mochte? Unwahrscheinlich.

Was auch immer geschehen war, ich würde es vermutlich nie erfahren, denn ich war hier, mit Handschellen an diesen Wagen gekettet und würde schon morgen wieder Richtung Eden fahren. Das wusste ich genau, denn Dascha hatte es mir vorhin bereits gesagt.

Als ich mich weiterhin standhaft weigerte, die Anwesenheit dieser Frau zur Kenntnis zu nehmen, fragte sie mich: „Möchtest du mit Nikita sprechen?“

Mein Kopf ruckte herum. Ich verengte die Augen leicht. Das war eine echt miese Nummer von ihr.

„Wir könnten sie ans Komkon holen. Du musst nur unsere Fragen beantworten.“

„Es gibt nichts, was ich diesem Mädchen zu sagen habe.“ Diese Worte waren die reine Wahrheit, was sie umso schmerzhafter machte. Aber ich wollte Nikita nicht sprechen. Ich wollte sie nicht sehen und auch nicht hören. Wenn sie mir nur unter die Augen trat, konnte es durchaus passieren, dass ich ihr eine Ohrfeige verpasste.

Das hier war allein ihre Schuld.

„Sie ist deine Schwester.“

„Sie ist eine Verräterin, die mich verkauft hat.“ Und das nur zu ihrem eigenen Vorteil.

Ein paar Tracker liefen durch das Lager, wünschten sich eine gute Nacht und verschwanden dann in ihren Hightechzelten. Sie waren nicht die ersten an diesem Abend, die sich zurückzogen. Die nächtliche Uhrzeit trieb sie alle nach und nach in ihre Nachtlager. Bald würde das Licht ausgehen und nur noch einige wenige Aufpasser alles bewachen. Es war genau wie vor zwei Monaten, als sie mich schon einmal nach Eden gebracht hatten.

„Sie hat dich nicht verkauft.“ Dascha schob mit dem Fuß das Essen auf dem Boden zur Seite und stellte sich wieder in die offene Tür. „Sie wollte ein besseres Leben für euch beide, eine Zukunft, die mehr für euch bereithält, als schlichtes überleben, um den nächsten Tag zu erreichen.“

„Ich hatte ein gutes Leben.“ Ich senkte den Blick auf meine Finger. Unter den Fingernägeln, hing noch der Schlamm vom Kanal. „Ich hatte alles was ich brauchte.“

„Das könntest du wieder haben.“

Ich schnaubte.

Irgendwo in den Bäumen um uns herum, rief eine Eule. Ein paar Wolkenfetzen schoben sich vor den Mond und ließen die Welt ein wenig dunkler werden.

Ein paar Sekunden blieb Dascha still, dann sagte sie: „Ich meine es ernst. Wir können Marshall und die anderen auch holen, dann könnt ihr wieder eine Familie sein.“

Ich erstarrte. Mittlerweile rechnete ich ja mit vielem, aber den Namen meines Ziehvaters aus ihrem Mund zu hören, war wie ein Schock. Wie konnten sie von ihm wissen? Ich hatte ihnen nie erzählt, dass es da noch weitere Menschen gab, die mir wichtig waren. Und sie hatte auch von den anderen gesprochen. Bedeutete das, dass sie auch von Balic und Azra wussten?

„Erinnerst du dich noch an deine Mischpoche?“

Killian hatte es gewusst. Als wir noch in Eden waren, hatte ich mich in seiner Gegenwart gut genug gefühlt, dass ich nicht aufgepasst hatte, was ich sagte und darum wusste er von Marshall und den anderen. Er hatte mir versprochen, mein Geheimnis zu wahren. Hatte er gelogen? Hatte er es doch erzählt?

Eine kleine Stimme in mir flüsterte, dass es in Eden noch jemand gab, der bescheid wusste. Aber das konnte nicht sein. Vielleicht hatte sie mich verraten, aber auch die anderen? Das hätte sie niemals gemacht.

Wirklich nicht?

„Wir wissen, dass ihr alle auf einem Flugplatz lebt“, redete sie weiter auf mich ein. Sie wollte mich mürbe machen. Auf die nette Art hatte es nicht funktioniert, also versuchte sie es mit Psychospielchen. Sie wollte mich in Rage bringen, damit mir vielleicht etwas herausrutschte. „Leider konnten wir den Flugplatz trotz Koordinaten nicht finden. Darum haben wir dich auch entdeckt. Wir haben die Gegend um die Stadt erkundet, in der Hoffnung, eine Spur zu finden.“

Ich ballte meine Hände so fest zusammen, dass die Knöchel ganz weiß wurden.

„Wenn du uns hilfst, helfen wir dir. Wir können dich wieder mit deiner Familie zusammenbringen.“

Meine Zähne auseinander zu kriegen, war eine Glanzleistung. Meine Stimme ruhig zu halten, verlangte mir eine enorme Willenskraft ab. „Meine Familie ist tot. Mein Vater starb, meine Mutter starb, mein Bruder starb und meine Schwester ist für mich gestorben. Ich habe keine Familie mehr.“ Und ich würde ihnen auch niemanden geben, mit dem sie mich erpressen konnten. Marshall und die anderen waren nicht meine Familie, sie waren meine Mischpoche. Aber auch sie bedeuteten mir etwas und ich würde sie niemals einem Schicksal in Eden ausliefern.

Dascha verschränkte die Arme und tippte mit dem Finger ein paar Mal auf ihren Arm. Eine kleine, ungeduldige Geste, die mir ihre wachsende Frustration signalisierte. „Deine Schwester lebt. Sie ist gesund und munter in Eden und das weißt du auch.“

„Ich weiß, dass es dort ein Mädchen gibt, das einmal meine Schwester war, aber das war, bevor sie mich verkauft hat und Eden ihren Geist verdrehte. Jetzt habe ich nur noch die Erinnerung an sie.“ Und sie hatten niemanden mehr in der Hand, den sie benutzen konnten, um mir ihren Willen aufzuzwingen. Diese Zeiten waren endgültig vorbei.

Eine kleine Falte erschien auf ihrer glatten Stirn. So hatte sie sich dieses Gespräch wohl nicht vorgestellt. „Du bist unvernünftig.“

Nein, das war ich nicht, aber ich würde es noch sein. Denn wenn ich keinen Weg fand, ihnen zu entkommen, bevor wir wieder in Eden waren, würde ich dafür sorgen, dass sie aus meiner Gefangenschaft keinen Nutzen ziehen konnten. Das wäre gar nicht weiter schwer. Ich bräuchte nur einen scharfen Gegenstand und einen Moment für mich allein. Der Freitod war immer noch besser, als das was sie für mich geplant hatten.

Dascha schüttelte den Kopf, als hätte sie es mit einem unbelehrbaren Dummkopf zu tun. Dann wechselte sie einfach das Thema. „Du wirst heute Nacht hier im Wagen schlafen. Ich bringe dir nachher noch Decke und Kissen, aber du bleibst angebunden.“

Und ich hatte mich schon gefragt, wo sie mich für die Nacht unterbringen wollten, da sie keinen Bus bei sich hatten. Das hier war kein üblicher Konvoi, mit dem die Tracker sonst durch die freie Welt fuhren, um die Leute von den Straßen zu sammeln. Das hier war ein Jagdtrupp, der nur eine einzige Aufgabe hatte: Er sollte mich und die anderen zurück nach Eden bringen. Sie hatten nur kleinere Fahrzeuge und ihre Hightechzelte.

In ein Zelt würden sie mich nicht lassen, das Risiko war viel zu groß, ihnen dort zu entkommen. Da würden sie mir eher eine ihrer Waffen in die Hand drücken, weil ich mit denen sowieso nichts anfangen konnte.

Wie auch viele andere Dinge in Eden, waren diese Waffen verschlossen, solange man nicht den richtigen Keychip besaß. Was bedeutete, sie waren nutzlos für mich, solange ich nicht vorhatte, jemanden damit zu schlagen.

War eigentlich auch keine schlechte Idee.

Als ich an Dascha vorbeisah, bemerkte ich Kit, der quer durch das Lager zum Waldrand lief. Dabei warf er einen bösen Blick in meine Richtung, bevor er unter den Bäumen verschwand. Er schien es persönlich zu nehmen, dass ich ihm seine Fragen nicht zufriedenstellend beantwortete.

Dascha bemerkte, dass meine Aufmerksamkeit woanders lag und folgte meiner Blickrichtung. „Er wird nur pinkeln gehen.“

Hoffentlich stolperte er in der Dunkelheit über eine Wurzel und brach sich beim Sturz das Genick.

Sie wandte sich mir wieder zu. „Einer von uns wird heute nach mit im Wagen schlafen und aufpassen, dass dir nichts passiert.“

„Du meinst, er wird ein Auge darauf haben, dass ich keinen Weg finde, euch zu entkommen.“

„Das auch.“

Na wenigstens war sie ehrlich. „Wie könnt ihr nur euer eigenes Spiegelbild ertragen?“

Die wenigen Emotionen in Daschas Gesicht, verschwanden hinter einer Wand aus Stahl. „Du bist ein verzogenes Kind.“

Wie bitte?

„Weißt du eigentlich, wie gut du es hast? Und ich rede hier nicht davon, wie sehr man dich als Eva verwöhnen wird. Dir wurde ein Geschenk in die Wiege gelegt und du trittst es mit Füßen.“

„Von mir aus kannst du dieses Geschenk gerne haben.“ Denn wenn man mit diesem Geschenk auf Edens Radar aufgetaucht war, dann war es kein Geschenk mehr, sondern nur noch eine Bürde.

„Vielleicht wirst du es nicht glauben, aber wenn es möglich wäre, würde ich es nehmen.“ Ihre Augen funkelten mich an, als sei es meine Schuld, dass sie keine eigenen Kinder haben konnte. „So eine Ehre ist eine Verschwendung an einen dummen, halsstarrigen Streuner wie du einer bist.“

Kit tauchte wieder zwischen den Bäumen auf, schaute sich einmal wachsam um und kam dann in unsere Richtung.

„Lieber bin ich ein dummer, halsstarriger Streuner, als blind einer Ideologie zu folgen, die auf dem Leid und dem Schmerz anderer Menschen aufgebaut ist. Du magst Mauern und Technologien haben, denen ich nicht gewachsen bin, aber ich kann wenigstens selber denken und tanze nicht nach der Pfeife meiner größenwahnsinnigen Mami, die deinen Wert nicht mal bemerken würde, wenn er ihr direkt ins Gesicht schlüge.“ Ich schüttelte den Kopf. „Du bist erbärmlich, Dascha, einfach nur erbärmlich.“

Ihre kühle Fassade bekam Risse. Aber es war nicht Wut, sondern Schmerz. Trotzdem hatte ich das Gefühl, sie würde mir liebend gerne eine reinhauen.

Das war der Moment, in dem Kit zu uns trat. Er blieb neben Dascha stehen, warf mir einen kurzen Blick zu und musterte seine Partnerin dann. „Alles okay?“

„Alles bestens“, knurrte sie.

Fast hätte ich gelächelt. Es wäre kein nettes Lächeln geworden, aber ein ehrliches. Meine Worte hatten sie getroffen und darum kannte ich nun ihren Schwachpunkt. Das würde sie die nächsten Tage zu spüren bekommen.

Kit schien misstrauisch, aber ich war zu sehr mit meinem kleinen Sieg beschäftigt, um darauf zu achten.

„Okay, ich glaube du brauchst eine kleine Pause.“ Wieder warf er einen kurzen Blick zu mir. „Vertritt dir die Füße, oder geh schlafen. Ich übernehme hier.“

Sie brauchte einen Moment, um zu ihrer kühlen Fassade zurückzukehren. „Du hast erst morgen wieder Schicht.“

„Ja ich weiß, aber …“ Er verstummte kurz. „Ich will noch mal mit ihr sprechen. Alleine.“ Das letzte Wort fügte er sehr nachdrücklich hinzu.

Dascha starrte ihn einen langen Moment an. Dann schüttelte sie über so viel Sturheit den Kopf, drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort davon. Wahrscheinlich war sie froh, mich endlich los zu sein. Das könnte sie auch viel einfacher haben, sie müsste mich nur losmachen.

„Wenn du glaubst, dass ich dir jetzt etwas anderes sage, als ihr, dann bist du noch dümmer, als du aussiehst.“

„Du bist immer so charmant.“ Er wartete bis Dascha völlig aus unserem Blickfeld verschwunden war, dann drehte er sich abrupt zu mir um, griff in seine Jackentasche und zog einen verdreckten Stofffetzen heraus. Moment, diese Flecken daran, war das Blut? Und … ich bekam große Augen, als er einen kleinen Keychip aus dem Tuch zutage beförderte.

„Was …“

Noch ein wachsamer Blick über die Schulter, dann griff er nach meinen Handschellen.

Was zum Kuckuck … „Was machst du da?“

„Na wonach sieht es denn aus? Ich werde nicht erlauben, dass sie dich zurück nach Eden bringen.“

Moment mal! Der Mann, in der Trackeruniform, das war nicht Kit. „Killian?“

Er hielt einen Moment in seinem Tun inne, um mir ein kurzes Lächeln zu schenken, löste dann aber mithilfe des Chips schnell die Schellen. „Ich glaube ich sollte beleidigt sein, weil es so lange gedauert hat, bis du es gemerkt hast. So ähnlich sehe ich Kit nun auch wieder nicht.“

Doch das tat er, aber ich war über seine Anwesenheit so überrascht, dass ich ausnahmsweise einmal nicht wusste, was ich sagen oder denken sollte. Nicht nur dass er hier war, als die Schellen sich lösten und ich fast schon reflexartig über die wunden Handgelenke rieb, wurde mir wirklich bewusst, was er da tat. Er rettete mich. Nein, er rettete mich nicht einfach nur, er half mir dabei, von seinen eigenen Leuten fortzukommen. „Ich … verstehe das nicht.“

„Für Erklärungen haben wir jetzt keine Zeit.“ Er warf einen wachsamen Blick über seine Schulter und zeigte dann auf die andere Wagentür. „Steig auf der anderen Seite aus, so können sie dich nicht sehen. Lauf zum Wald, ich bin direkt hinter dir.“

Er hatte recht, im Moment war es nur wichtig hier wegzukommen, bevor uns noch jemand bemerkte. Alles andere konnten wir später klären.

Mein Herz begann wie wild zu schlagen, als ich über den Sitzt zur anderen Seite rutschte und die Tür öffnete. Ich stieg so schnell wie möglich aus und wäre wegen des langen Sitzens fast noch auf die Nase gefallen.

Killian umrundete währenddessen schnell den Wagen und kam zu mir. „Nein, lass ihn einfach offen“, sagte er, als ich den Wagen schließen wollte. Er hatte Recht. Das Zuschlagen der Autotür könnte ungewollte Aufmerksamkeit auf uns lenken, besser einfach so zu verschwinden.

Ich sah mich nicht um, als ich mit rasendem Puls die zwanzig Fuß bis zur Baumgrenze rannte. Ich konnte es immer noch nicht glauben. Eben noch hatte ich darüber nachgedacht, mich umzubringen, sobald ich in Eden war und nun war ich wieder frei. Noch viel unglaubwürdiger war der Grund für meine Freiheit.

Killian hatte mich gerettet, diese Tatsache bekam ich einfach nicht in meinen Kopf. Warum nur?

Dadurch, dass ich keine Schuhe trug, schaffte ich die kurze Strecke fast lautlos. Von Killian hingegen hörte man jeden Schritt und es wurde sogar noch schlimmer, als wir in der Dunkelheit zwischen den Bäumen abtauchten.

Bis auf wenige Wolken, war der Himmel heute Nacht klar, doch das Licht des abnehmenden Mondes, schaffte es kaum durch die Kronen der Bäume.

Wir waren nur wenige Fuß weit gekommen, als sich plötzlich eine Gestalt aus der Dunkelheit vor uns herausschälte. Bei Gaias Rache, das war Kit!

Nicht weniger Überrascht als wir, blieb er direkt vor uns stehen, starrte erst mich an und dann seinen Bruder.

Es war surreal, die Brüder so zu sehen. Nicht nur, weil sie so gleich aussahen, sondern auch, weil sie die gleiche Kleidung trugen. Bis auf ein paar kleine, kaum merkliche Unterschiede, waren sie wirklich das Spiegelbild des anderen.

Ein paar endlose Sekunden, in denen keiner von uns wusste, was er sagen oder tun sollte, dehnte sich die Zeit. Dann sagte Killian ein wenig verlegen: „Ich habe es ja bereits vermutet, aber jetzt bin ich mir sicher, diese hässliche Uniform steht mir besser als dir.“

Kit öffnete den Mund, um etwas zu sagen, oder zu schreien, oder einfach um Luft zu holen. Ich wusste es nicht und ich würde es auch niemals erfahren, denn in dem Moment handelte ich einfach rein Instinktiv: Ich schlug zu. Ich ballte einfach meine Hand zur Faust und schlug Kit direkt gegens Kinn.

Schmerz schoss meinen Arm hinauf. Kit gab noch ein seltsames Geräusch von sich dann verdrehte er auch schon die Augen und fiel einfach um, während Killian vor Schreck einen Satz zur Seite machte.

Ich biss mir auf die Unterlippe und schüttelte meinen Arm aus. Bei Gaias Güte, das hatte verdammt wehgetan.

Nachdem Killian den ersten Schreck überwunden hatte, ging er hastig neben Kit auf die Knie und fühlte nach dem Puls seines Bruders.

„Jetzt mach mir bloß keine Vorwürfe“, warnte ich ihn.

„Das hatte ich nicht vor, aber … musstest du gleich so fest zuschlagen?“ Er drehte vorsichtig den Kopf seines Bruders. Kits Kinn begann bereits anzuschwellen.

„Was hätte ich denn bitte sonst tun sollen? Ihn bitten sich ruhig zu verhalten und so zu tun, als hätte er uns nicht gesehen?“

„Wahlweise ja.“

Manchmal konnte ich über diesen Kerl einfach nur den Kopf schütteln. „Das hätte er niemals getan.“

„Ich weiß.“ Er seufzte. „Er ist nur bewusstlos.“

„Dann lass uns verschwinden, bevor er wieder aufwacht und ich ihn nochmal niederschlagen muss.“

Killian schaute mich an, dann verzog sein Mundwinkel sich zu einem kleinen Lächeln. „Hoffentlich komme ich niemals in den Genuss deiner Fäuste.“

„Solange du mir keinen Grund dazu gibst.“

Er wurde wieder ernst. „Aber wir können ihn hier doch nicht einfach so liegen lassen.“

Ich schaute zu Kit, dann in die Richtung, aus der wir gerade gekommen waren. Zwischen den Stämmen der Bäume hindurch, konnte ich noch den flackernden Schein des Lagerfeuers erkennen. „Das Lager ist nicht weit, sie werden ihn finden.“

„Und wenn nicht?“

Am liebsten hätte ich ihn angeschrien, dass mir das völlig egal war. Kit war nicht mein Problem und es interessierte mich nicht, was mit ihm geschah. Aber er war Killians kleiner Bruder und ich verstand, dass er ihn nicht hilflos zurücklassen wollte. Vielleicht war nun der Moment gekommen, an dem sich unsere Wege trennen mussten.

Der Gedanke gefiel mir nicht. Es war verrückt und völlig unsinnig, aber ich wollte Killian nicht bei den Trackern lassen. Die Menschen in diesem Lager waren meine Feinde, aber Killian war kein Feind. Sie waren rücksichtslose Monster, denen nichts wichtiger war, als ihr ach so heiliges Ziel. Aber er war kein Monster. Er war anders, als die übrigen Edener.

Ich konnte es nur mir gegenüber zugeben, aber ich mochte Killian und wollte ihn in meiner Nähe behalten.

Die ganze Zeit hatte ich mir gesagt, ich würde ihn nicht zurücklassen, weil das grausam wäre und er ja eigentlich ein netter Kerl war. Es war einleuchtend gewesen, weswegen ich auch nie näher darüber nachgedacht hatte. Aber jetzt musste ich mir eingestehen, dass die Sympathie, die ich bereits in Eden für ihn entwickelt hatte, nach wie vor mein Handeln lenkte. Dieses Gefühl verwirrte mich und dass es mich verwirrte, ärgerte mich. Deswegen sagte ich schärfer, als beabsichtigt: „Dann sollte er hoffen, dass er wach wird, bevor die Krähen auf ihn aufmerksam werden.“

Killians Augenbrauen zogen sich bei meinem scharfen Ton leicht zusammen.

Ich trat einen Schritt von ihm weg. „Mach was du willst, aber ich werde jetzt verschwinden.“ Denn ich hatte keine Lust auf eine weitere Runde mit den Trackern. Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte ich mich einfach herum und marschierte los. Ich wollte mich nicht verabschieden und ich wollte auch nicht sehen, wie er sich gegen mich entschied. Also biss ich die Zähne zusammen und setzte einen Fuß vor den anderen.

„Warte“, sagte Killian, doch als ich einfach weiter ging, erhob er sich und folgte mir eilig. Er griff nach meinem Arm.

Sobald ich seine Berührung fühlte, riss ich mich von ihm los und wirbelte wütend zu ihm herum. „Was?!“

Er zuckte ein wenig zurück, doch seine Stimme war ruhig. „Du gehst in die falsche Richtung.“ Er zeigte nach Osten. „Sawyer und Wolf warten dort hinten auf uns.“

Verdammt.

Ich starrte ihn kurz an. Dann schnaubte ich und ging in die Richtung, in die er gezeigt hatte. Killian schloss sich mir an. Wie ein Schatten blieb er an meiner Seite, als wir uns eilig vom Lager entfernten. Warum machte er das? Warum blieb er nicht einfach bei seinen Leuten? Warum war er gekommen, um mich zu retten, wo es doch in seinem Interesse gelegen hätte, mit mir zusammen nach Eden zurückzukehren? Dass er von Sawyer und Wolf nicht als Geisel gehalten worden war, war ja nun offensichtlich.

Ich musterte ihn. „Wie hast du mich gefunden?“

„Das war Wolf.“ Ganz kurz huschte sein Blick zu mir, bevor er ihn wieder nach vorne richtete. Bei der Dunkelheit nicht aufzupassen, wohin man lief, konnte verheerend sein. „Als du nicht zurückgekommen bist, war uns sofort klar, dass etwas passiert sein musste. Wir haben überlegt, ob wir dir folgen sollten, aber bevor wir uns entscheiden konnten, hörten wir Stimmen im Wald. Sie waren schon ziemlich nahe, weswegen wir schnell auf den intakten Teil der Brücke geklettert sind und uns dort flach auf den Boden gelegt haben.“

Auf das altersschwache Teil? Sie konnten froh sein, dass es nicht unter ihnen zusammengebrochen war.

„Kaum hatten wir uns in Sicherheit gebracht, sind die Tracker aus dem Wald gekommen.“

„Und du wolltest nicht zu ihnen zurück?“

Er zögerte. „Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass mir dieser Gedanke nicht kam, aber ich habe mich dagegen entschieden.“

Und jetzt kam die alles entscheidende Frage: „Warum?“

„Weil ich wochenlang mitangesehen habe, wie du in Eden gelitten hast. Und dann habe ich erlebt, wie anders du hier draußen bist.“ Er machte einen großen Schritt über eine herausstehende Wurzel hinweg. „Vorher habe ich dich nie so abgeklärt erlebt. Hier draußen bist du glücklich.“

Das stimmte. Die freie Welt konnte grausam und unerbittlich sein, dennoch lebte und schlug mein Herz nur hier.

„Also habe ich mich entschieden, mich nicht zu zeigen, sondern zu helfen, dich zu befreien.“

„Das ist doch dumm“, knurrte ich verärgert, wobei ich nicht mal wusste, warum genau mich ihre Hilfe verärgerte. „Ihr hättet euch alle in Sicherheit bringen müssen, das wäre das Klügste gewesen. Du willst doch nach Hause. Und Sawyer und die anderen hätten dabei selber in Gefahr geraten können.“

Etwas daran ließ ihn lächeln. „Und trotzdem waren wir alle bereit, das Risiko einzugehen und dich aus deiner misslichen Lage zu befreien.“

„Ich bleibe bei meiner Aussage, es war dumm.“

„Vielleicht. Wie dem auch sei. Sobald die Tracker weitergezogen waren, sind wir zum Kanal. Von dort aus hat Wolf die Reifenspuren der Autos verfolgt.“ Er schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung, wie er das hinbekommen hat. Ich habe da kaum etwas gesehen.“

„Das ist gar nicht so schwer, wenn man weiß, worauf man achten muss.“

Das ließ er unkommentiert. „Sobald wir das Lager gefunden haben, heckten wir einen Plan aus. Wenn es dunkel war, würden wir uns einen Tracker schnappen. Ich würde dann seine Uniform anziehen und seinen Keychip nehmen und als Kit verkleidet, einfach ins Lager marschieren, um dich zu holen.“

„Wie du es dann auch getan hast.“

Er nickte. „Wir mussten nur auf den richtigen Moment warten. Als Kit in den Wald ging, war der gekommen.“

Ich sollte mich bei ihm bedanken. Er hatte nicht nur seine eigenen Leute hintergangen, um mich zu retten, sondern auch zugelassen, dass ich seinen Bruder verletzte. Doch aus irgendeinem Grund, wollten diese Worte mir nicht über die Lippen kommen. Stattdessen fragte ich: „Wo ist dein Veilchen?“

Killian griff sich an sein Auge, als müsste er sich versichern, dass es noch da war. Dann verzog er angeekelt das Gesicht. „Nachdem ich mir meine Haare notdürftig im Flusswasser gewaschen habe, hat Wolf mir irgendwas ins Gesicht geschmiert, was fürchterlich gestunken hat. Ich habe nicht nachgefragt, was es ist, weil ich mich vor der Antwort gefürchtet habe.“

Stimmt, seine Haare sahen sauberer aus, als noch die letzten Tage. „Wahrscheinlich war es heller Flussschlamm, oder zerriebener Kalkstein. Kalkstein mit Wasser, ergibt eine helle Paste.“

„Das wäre wenigstens nicht so schlimm, wie das was ich mir vorgestellt habe.“

Wahrscheinlich wollte ich gar nicht wissen, was er sich vorgestellt hatte. Aber etwas anderes wollte ich wissen, etwas das mir keine Ruhe mehr ließ, seit Dascha es angedeutet hatte. Ich beobachtete ihn genau. „Hast du ihnen von Marshall erzählt?“

„Was?“ Seine Überraschung wirkte echt, aber das konnte auch sein, weil ich ihn überrumpelt hatte.

„Hast du ihnen von Marshall erzählt“, wiederholte ich. „Den Trackern, oder Agnes. Sie wissen von Marshall, Azra und Balic. Du hast gesagt, du würdest ihnen nichts sagen. Hast du dein Versprechen gehalten?“

Killian wirkte ehrlich bestürzt. „Sie wissen von ihnen?“

„Sie wissen auch von dem Flugplatz, behaupten aber, dass sie ihn nicht gefunden haben.“ Was glaubwürdig war, den viel war von dem Flugplatz nicht mehr übrig.

„Ich habe nichts gesagt“, schwor er. „Ich habe es versprochen und ich halte meine Versprechen. Moment, ihr lebt auf einem Flugplatz?“ Er schien überrascht.

Ich beachtete die Frage nicht, blieb aber misstrauisch, obwohl seine Worte ehrlich klangen. Vielleicht wollte ich ihm aber auch einfach glauben und das obwohl ich doch vor kurzem erst festgestellt hatte, dass es an Dummheit kaum noch zu übertreffen war, jemanden zu vertrauen.

„Wirklich, Kismet, ich habe …“

Ein Geräusch zu meiner rechten ließ mich herumfahren. Ich dachte gar nicht darüber nach, was ich da tat, reagierte einfach nur und schlug zu. Mein Ziel jedoch verfehlte ich. Nicht weil es rechtzeitig zur Seite sprang, sondern weil von der Seite ein Arm heranschoss und meinen Schlag abfing. Erst dann verstand ich, dass ich fast Sawyer geschlagen hätte. Dass es nicht geschehen war, verdankte er Wolf, der rechtzeitig eingegriffen hatte.

Als der erste Schreck verklungen war, wurde Sawyers Miene finster. „Ist das dein Ernst? So dankst du also deinen Rettern?“

Plötzlich war ich so glücklich, sie zu sehen, dass ich einfach meine Arme um Wolf schlang und ihn an mich drückte. „Danke“, murmelte ich an seine Brust.

Etwas unbeholfen, tätschelte er mir den Rücken und brummte leise.

„Ich will die Wiedersehensfreude ja nicht unterbrechen“, unterbrach Sawyer die Wiedersehensfreude, „aber wir sollten verschwunden sein, bevor die Tracker merken, dass ihre goldene Gans einen unerlaubten Ausflug macht.“

Da hatte er recht. Ich löste mich von Wolf und musste mich beherrschen, nicht auch Sawyer zu umarmen. Langsam war ich wirklich nicht mehr zurechnungsfähig.

„Wo ist der Tracker?“, wollte Killian wissen.

Sawyer deutete mit einem Kopfnicken irgendwo in die Büsche. „Versteckt. Der wird morgen mit einer Mordsbeule aufwachen.“ Er schaute in die Richtung, in der die Tracker lagerten. „Lasst uns hier verschwinden, ich will Salia nicht länger als nötig allein lassen.“

Stimmt, Salia fehlte. „Wo ist sie?“

„Nicht weit entfernt, in einer alten Hausruine.“ Sawyer verlagerte ungeduldig sein Gewicht. „Können wir dann gehen?“

Die einzige Antwort, die es darauf geben konnte, lautete ja. Dennoch blieb ich wo ich war und schaute zu Killian. Egal wie sehr es mir auch widerstrebte, ich musste das einzig Vernünftige tun. „Danke. Ohne deine Hilfe, wäre ich wieder in Eden gelandet.“

Sein Gesicht wurde weich. „Du brauchst dich nicht zu bedanken.“

„Doch, das muss ich. Danke, dass du mich gerettet hast, aber jetzt ist es an der Zeit, dass sich unsere Wege trennen.“ Denn hier draußen würde er niemals glücklich werden und aus irgendeinem Grund, war es mir wichtig, dass er glücklich war.

Der warmherzige Ausdruck verschwand aus seinem Gesicht. „Was?“

„Das sind deine Leute. Du wolltest doch die ganze Zeit zurück nach Eden, geh zu ihnen, sie bringen dich nach Hause.“

Seine Lippen drückten sich zu einem festen Strich zusammen. Kurz glitt sein Blick Richtung Lager, bevor er sich wieder auf mich richtete und dann den Kopf schüttelte. „Nein, ich kann noch nicht gehen. Salias Wunde ist noch nicht ganz verheilt. Ihr braucht mich, falls sie sich entzündet, oder wieder aufgeht.“

Was sollte das denn? Es stimmte, Salias Wunde war noch nicht ganz verschwunden, aber sie heilte gut ab und das Risiko auf eine Infektion, war sehr gering. „So eine Chance, wirst du nicht noch einmal bekommen.“

Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn noch einmal und biss dann die Zähne zusammen.

Das weckte mein Misstrauen. Die ganze Zeit hatte er nach Eden zurück gewollten, ja praktisch wie ein kleines Kind herum gequengelt und jetzt, als die Gelegenheit ihn mit offenen Armen empfangen wollte, lehnte er ab? Da stimmte doch etwas nicht. „Warum willst du uns begleiten?“

Seine Lippen wurden schmal. „Nach allem, was ich gerade für dich getan habe, vertraust du mir immer noch nicht?“

Dass er der Frage auswich, machte mich nur noch misstrauischer.

Neben mir bewegte Sawyer sich unruhig. „Glaubt ihr nicht, dass es einen besseren Ort für so ein Gespräch gibt? Wir sollten hier endlich verschwinden.“

Wolf brummte zustimmend.

Ich ignorierte sie beide. Stattdessen überlegte ich, welchen Vorteil Killian daraus ziehen könnte, bei uns zu bleiben. Was würde er davon haben? Er würde herausfinden, wo meine Mischpoche hauste. Dascha hatte doch gesagt, dass sie das Versteck nicht hatten finden können, was wäre da besser, als ein Maulwurf? „Du willst erfahren, wo sich meine Leute verstecken.“

„Was?“ Killians Ton versuchte mir weiszumachen, wie lächerlich diese Anschuldigung war. „Warum sollte ich das wollen?“

„Aus dem gleichen Grund, warum die Tracker Menschen jagen und nach Eden bringen.“ Ich wich einen Schritt vor ihm zurück. „Das ist es, oder? Ihr wollt meine Leute. Darum hast du mich auch befreit. Du und die Tracker stecken unter einer Decke.“ Darum war alles so reibungslos abgelaufen. Das war kein Glück, das war ein abgekartetes Spiel und nur meine seltsamen Gefühle für ihn hatten dafür gesorgt, dass ich es nicht sofort gemerkt hatte.

Verraten. Schon wieder. Das tat weh.

„Das ist lächerlich“, widersprach Killian. „Denk doch einfach mal logisch darüber nach. Ihr habt mich aus Eden mitgenommen, seitdem hatte ich keine Chance, mit meinen Leuten in Kontakt zu treten. Wie hätte ich denn mit ihnen zusammen so einen Plan aushecken sollen?“

Ich zeigte auf seine Hand. „Dein Keychip, darum wolltest du ihn dir auch nicht entfernen lassen.“

Killian drückte ungläubig die Lippen zusammen. Dann krempelte er seinen Ärmel hoch und hielt mir seine Hand hin. „Dann schneit ihn mir raus. Wenn du das wirklich glaubst, dann mach ihn einfach weg.“

Ich zögerte.

„Kismet, ich habe dich nicht verraten und ich werde es auch nicht, ich bin nicht Nikita.“

Das war ein Schlag unter die Gürtellinie. „Mistkerl.“

„So habe ich das nicht gemeint, ich …“ Er ließ den Arm sinken und trat unruhig von einem Bein aufs andere. Dann schnaubte er, als sei sowieso alles sinnlos. „Glaubst du wirklich, ich mache bei jeder meiner Patientinnen so häufig Hausbesuche, oder interessiere mich dafür, wie ihr Tag war? Glaubst du, ich hätte bei einer anderen Frau die Sache mir der Urinprobe für mich behalten, oder den Abschlussbericht deiner Fekundation gefälscht? Ja, ich weiß, dass du nicht mit Sawyer geschlafen hast. Ich bin nicht dumm, Kismet, ich habe die Nachuntersuchung bei dir gemacht und es war sehr deutlich, dass du schon lange keinen Sex mehr hattest.“

Das kam unerwartet. Und das nicht nur, weil ich nicht gewusst hatte, dass man sowas feststellen konnte.

Er schaute mir so direkt in die Augen, als wollte er mir allein mit seinem Blick eine Botschaft in mein Hirn hämmern. „Meinst du ich würde eine von den anderen Frauen zum Essen einladen? Oder ihnen gestatten Geysir zu reiten? Ich habe so viel getan und für mich behalten. Ich …“ Er brach ab und kniff die Lippen zusammen, als hätte er schon zu viel gesagt.

Mir schwante Böses. Er konnte nicht das meinen was ich mir gerade einzubilden glaubte. Das war … nicht gut.

„Also ich werde nicht länger hier rumstehen“, verkündet Sawyer und ließ seinen Worten Taten folgen. Er wandte sich ab und verschwand ins Dickicht.

Wolf brummte wieder zustimmend und folgte ihm.

Ich schaute ihnen hinterher, warf Killian dann wieder einen Blick zu und biss mir dabei auf die Unterlippe. Entscheidungen über Entscheidungen. Aber wenn ich jetzt die falsche traf, würde es nicht nur für mich böse ausgehen. Andererseits, wenn ich ihn hier zurückließ, was hinderte ihn dann daran zu den Trackern zu laufen und sie auf mich zu hetzen? Sobald sie wussten was geschehen war, würden sie die Verfolgung wieder aufnehmen.

Natürlich gab es da noch eine Option. Wenn ich Killian für immer ausschaltete, dann müsste ich ihn nicht mitnehmen und hatte auch nichts mehr vor ihm zu befürchten. Doch allein der Gedanke daran verursachte mir Bauchkrämpfe. Und das nicht nur, weil er mich gerade davor bewahrt hatte, zurück nach Eden in die Knechtschaft zu müssen. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, gab es nur eines, dass ich tun konnte. Über alles andere konnte ich mir später noch Gedanken machen.

„Sawyer hat recht, wir sollten hier verschwinden.“ Ich packte Killian beim Ärmel und zog ihn hinter mir her. Hoffentlich beginn ich gerade keinen kolossalen Fehler.

 

oOo

Kapitel 04

 

Um ein sicheres Versteck für die Nacht zu finden, taten wir etwas, das ich unter normalen Umständen niemals in Betracht gezogen hätte. Wir betraten die Ruinen, die zu einer anderen Zeit, einmal eine Kleinstadt gewesen waren. Das war nicht nur gefährlich, weil im Dunklen Jäger lauern konnten, die auf der Suche nach einer schmackhaften Mahlzeit die Trümmer der Vergangenheit durchkämmten. Die ganze Stadt war untertunnelt. Selbst wenn man auf einer scheinbar sicheren Straße lief, konnte unter einem einfach der Boden wegsacken und einen mit in die Tiefe reißen. Viele dieser Tunnel waren zwar verschüttet, oder geflutet, aber eben nicht alle.

Wenn man dagegen in eines der Gebäude ging, lief man immer Gefahr, dass die kleinste Erschütterung diesen Bau über einen zusammenbrechen ließ. Die Gefahr bestand natürlich auch Tagsüber, aber da konnte man wenigstens etwas sehen, um es besser abzuschätzen. Leider blieb uns mit den Trackern auf den Fersen, gar nichts anderes übrig. Zwar war uns seit der Flucht aus dem Lager keiner mehr unter die Augen gekommen, aber damit das auch so blieb, mussten wir von der Bildfläche verschwinden. Also gingen wir in die Stadt, suchten Schutz in einer halb zerfallenen Ruine, die von außen nicht einsehbar war und schlugen dort unser Nachtlager auf.

Die erste die einschlief, war Salia. Kaum hatte sie sich in die Arme ihres Vaters gekuschelt, gingen bei ihr auch schon die Lichter aus. Killian und Wolf folgten ziemlich schnell. Sawyer dagegen brauchte sehr lang. Ich konnte das so gut beurteilen, weil ich selber in dieser Nacht kein Auge zu tat. Ich war zwar müde, versuchte aber gar nicht erst mich hinzulegen, sondern übernahm die Wache. Ich konnte einfach nicht aufhören, darüber nachzudenken, was passiert war.

Zwar war ich den Trackern wieder entkommen, aber allein die Tatsache, dass sie hier überhaupt aufgetaucht waren, um nach mir zu suchen, zeigte mir doch, dass Eden mich nicht so einfach aufgeben würde.

In der Zwischenzeit hatten sie sicher schon gemerkt, dass ich verschwunden war und wenn sie sich nicht sofort auf die Suche gemacht hatten, dann würden sie es sicher mit den ersten Sonnenstrahlen tun. Am liebsten hätte ich die Beine in die Hand genommen und wäre gerannt, aber meine Mischpoche war hier und ich hatte solche Sehnsucht nach meinem Zuhause. Also verharrte ich an Ort und Stelle und wartete ungeduldig auf den Sonnenaufgang.

Jedes kleine Geräusch ließ mich sofort aufmerksam den Kopf heben und angespannt in die Nacht horchen, doch das Ungewöhnlichste, was geschah, war ein seltsamer Pfeifton, den Killian im Schlaf ausstieß.

Das war die nächste Sache, die mir keine Ruhe ließ. Ich wusste einfach nicht, was ich mit diesem Mann tun sollte. Wäre er einfach zu seinen Leuten gegangen, wären die Grenzen klar und deutlich gewesen. Schwarz und weiß, sie auf der einen Seite, wir auf der anderen. Aber so wurde alles zu einer undurchdringlichen Grauzone.

In den letzten Wochen hatte Killian immer wieder sehr deutlich gemacht, dass er nach Hause wollte, aber so wie es schien, wollte er auch bei mir bleiben. Die Dinge, die er zu mir gesagt hatte, das was er getan hatte, das was ich selber fühlte … es war alles so verworren, dass ich nicht mehr wusste, was ich denken und glauben sollte. Es schaffte einen Zwiespalt in mir. Und wenn ich schon so hin und her gerissen war, wie ging es ihm dann erst?

Vielleicht war das gar nicht die Frage. Vielleicht musste ich herausfinden, was ich wollte und dann entscheiden, wie es weitergehen sollte.

Leider hatte ich im Moment absolut keine Ahnung, was ich wollte. Nein, das war nicht ganz richtig, eine Sache wusste ich: Ich wollte nach Hause. Darum weckte ich die anderen auch, sobald die Sonne über den Horizont blinzelte.

Unser karges Frühstück bestand aus ein paar Beeren und einem Apfel, den sich Salia mit Sawyer und Killian teilte. Wolf und ich aßen etwas Löwenzahn und Breitwegerich, den wir beim Laufen fanden. Salia verzog jedes Mal das Gesicht, wenn wir etwas von dem grünen Zeug in den Mund steckten.

Unser Weg führte uns quer durch die Stadt. Bröckelnde Hausfassaden, Stahlgerippe, aufgerissene Straßenbeläge, eingestürzte Gebäude und überwucherte Ruinen. Von der Zeit vergessen und der Natur zurückerobert. Bäume, Gräser und Gestrüpp, wuchsen aus jeder Spalte. Büsche und Sträucher hatten sich an seltsamen Orten niedergelassen. Ranken und andere Klettergewächse begruben Bauwerke aus einer Zeit, in der alles anders gewesen war. Die Ruinen dieser Welt, präsentierten sich uns heute unter einem strahlend blauen Himmel, an dem sich nicht die kleinste Wolke zeigte.

Die Sonne steuerte bereits auf den Zenit zu, als wir die Stadt durchquert hatten und auf vertraute Pfade stießen, über die ich schon in meiner Kindheit gelaufen war. Ich musste mich beherrschen, um nicht das Tempo anzuziehen.

Der Flughafen auf dem ich lebte, lag genau auf der Stadtgrenze. Die großen Stahlskelette und zerfallenen Gebäude wurden kleiner und verschwanden zwischen Bäumen, die hier in früherer Zeit nicht gestanden hatten.

Wind ließ die Baumkronen und Büsche um uns herum rascheln. Ich hörte Vögel zwitschern und irgendwo gab ein Tier ein Ruf von sich.

„Wie weit ist es denn noch?“, wollte Salia irgendwann wissen.

„Nicht mehr weit“, versprach ich, wohlwissend, dass uns nur noch diese Bäume und die Weide dahinter vom Flugplatz trennte.

„Aber ich will nicht mehr laufen“, quengelte sie. „Mir ist langweilig.“

„Vielleicht solltest du ein paar Blumen pflücken“, schlug Killian vor. „Die könnten wir als Geschenk für Kismets Leute mitbringen.“

„Au ja, darf ich Papa?“ Sie sah so flehentlich zu Sawyer auf, dass man meinen könnte, Killian hätte ihr den Mond versprochen.

„Aber bleib in Sichtweite.“

„Ja!“ Und schon stürmte sie los, direkt auf eine violette Blume zu, die zwischen ein paar Trümmerbrocken herausragte. Salbei.

Ich behielt sie genau im Auge, wie sie im Zickzack hin und her flitzte, dabei immer wieder unseren Weg kreuzte und auswählte, welche Blumen für ihr Sträußchen gut genug waren und welche nicht.

Das Laub unter unseren Füßen war auf dem alten Trampelpfad so hoch, dass es mit jedem Schritt aufgewirbelt wurde. Doch schon bald wurden die Bäume lichter, und verschwanden dann ganz.

Vor uns erstreckte sich eine weite Wiese, bis zu einer großen Anlage, von der kaum mehr als eingefallenen Gebäude und von Grün bedeckte Trümmer übrig waren.

In heller Vorfreude begann mein Herz wild zu schlagen. Hinter diesen Schuttbergen, lag unser Ziel.

Killian, der die ganze Zeit still neben mir hergelaufen war, schaute über die Schulter zurück. „Ähm … wir verlassen die Stadt gerade. Ist das richtig?“

Ich spürte, wie mein Mund sich zu einem kleinen Lächeln verzog. „Hmh“, machte ich nur und folgte weiter dem kaum erkennbaren Pfad im Gras.

Salia rannte quer über den Weg, drückte ihrem Vater den Strauß Blumen in die Hand und rannte dann los, um weitere zu holen.

Hinter den Schuttbergen erhob sich ein Turm, an dessen Spitze ein paar Vögel kreisten. Ranken und Efeu kletterten das alte Gemäuer hinauf und waren vermutlich der einzige Grund, warum er noch nicht umgefallen war.

Als ich ihn sah, beschleunigte ich unwillkürlich meine Schritte. Vorbei an einigen Sträuchern und einem einsamen Baum. Gleich dahinter ragten die uralten Reste eines Zauns aus dem Erdboden. Das Geflecht war heruntergerissen und die Stangen verbogen, oder herausgerissen. Nur ein kleines Stück stand noch und versuchte sich trotzig gegen den Zerfall zu wehren.

Ich erreichte den Zaun als erstes, winkte den andern, mir zu folgen und stieg über die Reste hinüber. Das Bild vor mir veränderte sich. Wo eben noch Gras war, wurde sie nun von rissigem und gebrochenem Beton ersetzt. Er breitete sich in alle Richtungen aus und wurde von den zerfallenen Gebäuderuinen begrenzt. Jede Menge Gestrüpp und Gräser erhoben ihr Haupt aus den Trümmern. An einigen Stellen hatten sich einzelne Bäume festgesetzt.

Auf dem Rollfeld verteilt, sah man ein Dutzend ausgeschlachteter Flugmaschinen in verschiedenen Stadien des Zerfalls. Manche lagen mit gebrochenen Flügeln auf der Seite, andere besaßen keine Verkleidung mehr und durch die eine, wuchs sogar ein Baum hindurch.

Hinter mir kletterten die anderen über den Zaun und schauten sich neugierig nach allen Seiten um. Salia war nun wieder bei Sawyer, ein kleines Sträußchen in der Hand.

„Wir sind fast da“, versprach ich und konnte ein Grinsen nicht mehr unterdrücken. „Es ist gleich da vorne.“ Mit diesem Wissen, schaffte ich es nicht länger, mich zu beherrschen. Meine Beine bewegten sich von ganz alleine. Schritt um Schritt über die alte Landebahn. Aus jedem Riss und jeder Spalte kroch Moos und Gras und versuchte den alten Beton weiter einzureißen.

Mein Ziel waren die eingestürzten Gebäude auf der anderen Seite. Die Meisten von ihnen waren bereits so weit in sich zusammengefallen, dass sie kaum mehr als überwucherte Hügel aus Trümmern und Schutt waren. Nur eines dieser Gebäude war noch nicht ganz zerstört. Ein alter Flugzeughangar. Der vordere Teil des Daches war ein wenig herabgesunken, der hintere nicht vom Rest des Flugplatzes zu unterscheiden. Und mittendrinn, zum Teil unter dem bereits vor langer Zeit eingestürzten Dach des Hangars begraben, war die alte verrostete Boeing, die ich nun schon seit mehr als zehn Jahren mein Zuhause nannte.

Wir hatten es geschafft. Nach elendig langen Tagen des Fußmarschs durch die Ruinen der freien Welt mit wenig Wasser und noch weniger Essen und dem Überfall der Tracker, waren wir endlich an unsrem Ziel angekommen. Doch beim Näherkommen, fiel mir eine kleine Veränderung auf.

Beim letzten Mal hatten die Tore des Hangars gefehlt, sodass man offen ins Gebäude hineinschauen konnte. Nun aber war das nicht mehr so. Die Tore fehlten zwar nach wie vor, aber es war nicht mehr offen. Jemand – vermutlich Marshall – hatte davor Netze gespannt und sie mit Pflanzen bedeckt. Von außen war nun überhaupt nicht mehr zu erkennen, dass dahinter mehr als nur Trümmer der Gebäude waren. Sie hatten in meiner Abwesenheit ein Sichtschutz gebaut.

Ein bisschen seltsam fand ich das schon, aber ich war so glücklich wieder hier zu sein, dass ich mich im Moment nicht für mögliche Gründe interessierte. Ohne auch nur einen Gedanken an die anderen zu verlieren, begann ich das letzte Stück zu rennen, fand die Lücke in den Netzten und schlüpfte hinein.

Fast hätte ich bei dem Anblick, der sich mir bot, vor Freude losgeheult. Ich spürte den Kloß in meiner Kehle, als ich mich umsah. Alles war so, wie es sein sollte.

Die alte Boeing im hinteren Teil, hatte schon vor langer Zeit ihr Fahrwerk eingebüßt. Auch der Flügel fehlte, weswegen sie ein kleinen wenig schief war. Aber durch das schwere Dach auf ihr drauf, konnte sie ihre Position nicht verändern. Gleichzeitig sorgte die Boeing mit ihrer Größe aber auch dafür, dass das Dach nicht ganz herunterkommen konnte.

Der vordere Teil des Hangars wurde zusätzlich durch Stützbalken oben gehalten, die Marshall eingezogen hatten. Kreuz und quer zwischen diesen Balken, waren Seile gespannt, an denen Wäsche, Kräuter und Gegenstände hingen, die wir im täglichen Gebrauch nutzten. Seile und Bündel voller Flachs. Ein Sack, aus dem zottiges Fell hing. Hier vorne im Hangar, lagerten wir alles, was zu groß war, um durch die Luke ins Flugzeug zu passen.

In der Mitte zwischen Boeing und Ausgang, war eine große Feuerstelle, die von geflochtenen Schilfmatten umringt war. Ein großer Webstuhl, der Metallschrott, mit dem Marshall immer das Flugzeug flickte. Werkzeuge, Kisten, alles war da. In der Ecke standen zwei Karren. Der eine war groß und besaß vier Räder, der andere war ein zweirädriger Handkarren.

Der halb eingefallene Hangar, der die Boeing halb unter sich begrub, sah noch genauso aus, wie vor zwei Monaten. Es war, als wäre ich nie weg gewesen. Wer allerdings fehlte, waren Marshall, Balic und Azra.

Zu meiner linken ertönte ein aufgeregtes Blubbern, das in einem lauten Blöken endete. Mein grinsen wurde breiter, als ich mich zu dem kleinen Pferch drehte, in dem mein Dromedar Trotzkopf am Gatter stand und mit der Brust gegen den Zaun rempelte. Würde ich ihn nicht so gut kennen, könnte ich glatt glauben, er hätte mich vermisst. Aber wie ich aus Erfahrung wusste, wollte er nur sein Fressen haben.

Ich aber hatte ihn vermisst, also ging ich zu ihm hinüber, schnappte mir seinen Kopf und streichelte ihn übers Maul.

„Guck mal, Papa, das Tier.“

Ich schaute mich zu den anderen um, die gerade durch den Sichtschutz traten und sich neugierig im begehbaren Teil des Hangars umsahen. Salia hatte als erstes Trotzkopf bemerkt. „Er ist ein Dromedar“, erklärte ich ihr.

„Der sieht aber komisch aus. Der hat ja einen Buckel auf dem Rücken.“ Sie musterte ihn, als er wieder blubberte. „Darf ich ihn streicheln?“

„Wenn du möchtest, aber du musst aufpassen, manchmal spuckt er.“

„Ihhh.“

Ja, das war wirklich ihhh. Ich ging in die Ecke zur Kiste, nahm eine Handvoll Grünzeug heraus und gab es Salia. „Damit kannst du ihn füttern.“

Sofort riss sie sich von ihrem Vater los und rannte zu Trotzkopf, der nicht zögerte, den Kopf nach dem angebotenen Futter auszustrecken. Und als kleine Zugabe, fraß er auch gleich noch das Sträußchen aus Blumen.

Killian, der näher kam, schüttelte ungläubig den Kopf. „Du hast tatsächlich ein Dromedar.“

„Natürlich. Oder hast du geglaubt, dass ich lüge?“

„Nein, das nicht. Es ist nur ein Unterschied, etwas zu hören und es dann auch wirklich zu sehen.“

Da konnte ich nicht widersprechen. Als Killian mir erzählt hatte, dass es in Eden Pferde gab, hatte ich ihm nicht wirklich glauben können, bis ich sie mit eigenen Augen gesehen hatte. Es waren große, wunderschöne Tiere, ganz anders als mein Trotzkopf. Auf ihnen zu reiten, war ein unglaubliches Gefühl gewesen. Trotzdem würde ich sie nicht gegen meinen treuen Begleiter eintauschen wollen.

Sawyer begutachtete unsere Inneneinrichtung ein wenig skeptisch. „Fehlt da nicht etwas?“

„Was denn?“ Ich strich Trotzkopf einmal über den Hals, bevor ich mich umsah. Da war Wolf, der mit großer Faszination das Flugzeug in Augenschein nahm – vermutlich hatte er sowas noch nie gesehen. Und da standen ein paar Kisten und Säcke neben der Einstiegsluke, die dort normalerweise nicht standen, aber ansonsten schien alles normal.

„Vielleicht deine Leute?“, fragte er mich, als hielte er mich für unterbelichtet. „Du weißt schon, die Menschen, wegen denen wir diesen langen und beschwerlichen Weg überhaupt erst auf uns genommen haben.“

Ich ließ mir von seinem spöttischen Ton nicht die gute Laune verderben. „Die sind vermutlich drinnen.“ Oder beim Jagen, oder hinten auf dem Feld. Wobei Balic garantiert schlief. Er verließ das Lager nur sehr selten. „Ich gehe mal nachsehen.“

Salia kicherte, als Trotzkopf auf der Suche nach weiterem Futter, in ihrem Gesicht herumschnüffelte. Sofort eilte die Kleine zu der Kiste in der Ecke und holte Nachschub.

Als Wolf brummte und auf die Einstiegsluke zeigte, schüttelte ich den Kopf. „Ihr bleibt besser draußen. Meine Leute reagieren auf Überraschungsbesuch nicht unbedingt freundlich. Hier, wartet.“ Ich tätschelte noch einmal Trotzkopfs Hals, dann ging ich in den vorderen Teil und band einen der kleineren Säcke von den Seilen los. „Nüsse“, erklärte ich und legte sie zusammen mit einem Hammer auf die Schilfmatten. Eigentlich gehörten sie Balic. Er liebte Nüsse, aber er würde es sicher verschmerzen können. „Nachher wird es noch richtiges Essen geben, aber für den Moment, füllen sie erstmal den Magen.“

Wolf ließ sich kein zweites Mal bitten. Er ließ das Flugzeug, Flugzeug sein, setzte sich ans erloschene Lagerfeuer und öffnete den Sack. Bei dem Anblick der Nüsse begann sein Magen laut und deutlich zu knurren.

Auch Sawyer setzte sich dazu und rief nach Salia. Nur Killian brauchte einen Moment länger, bevor auch er sich zögernd auf den Schilfmatten niederließ.

„Bin gleich zurück“, versprach ich und spürte, wie mein Herz vor Vorfreude schneller zu schlagen begann, als ich auf die Boeing zuging.

Wie die Tore des Hangars, war auch die Luke des Flugzeugs schon vor langer Zeit verschwunden und durch eine gewebte Schilfmatte ersetzt worden. Erreichen konnte man sie über eine selbstgebaute Treppe aus Holz, bei der die zweite Stufe knarrte. Bei diesem Geräusch wuchs der Kloß in meinem Hals. Wieder bemerkte ich die vollen Kisten daneben, doch als ich aus dem Inneren die vertraute Stimme von Azra hörte, waren sie sofort vergessen. Ich schob die Schilfmatte zur Seite und betrat das Flugzeug.

Die Boeing war durch eine selbsterrichtete Holzwand in zwei Teile aufgeteilt. Den vorderen, größeren Teil nutzen wir als Wohnraum. Auch hier gab es eine Feuerstelle, unter einem selbstgebauten Rauchabzug, die von warmen und weichen Tierfellen umringt war. An den Seiten standen volle Kisten und gezimmerte Regale, voll mit Dingen des Alltags. Das frühere Cockpit, nutzten wir als Lagerraum. Was mich jedoch gerade viel mehr interessierte, waren die beiden Leute, die bei den Regalen standen und sich um eine alte, angerostete Laterne stritten.

„Würdest du dieses hässliche Ding jetzt bitte zurückstellen“, schimpfte Azra mit tiefer und kratziger Stimme und riss sie Balic aus der Hand, um sie zurück ins Regal zu stellen. „Wir nehmen nur das Nötigste mit und das brauchen wir nicht.“

Azra war eine Frau in den Dreißigern. Müsste ich sie mit einem Wort beschreiben, dann wäre das dünn. Und lang. Na gut, das waren zwei Worte, aber genau das war sie. Ihre braunen Haare hatte sie zu einem langen Zopf gebunden, der ihr auf den Rücken fiel und das Hemd aus Leinen, reichte ihr bis an die Knie.

„Das gehört mir, Weib“, wetterte Balic und nahm das scheußliche Ding wieder aus dem Regal.

„Weib?!“ Azra plusterte sich auf.

„Ja, Weib. Und wenn ich das mitnehmen will, dann nehme ich das auch mit.“ Dafür, dass er normalerweise direkt morgens nach dem Aufstehen damit begann, seinen selbstgebrannten Fusel in sich hinein zu kippen, klang er erfreulich nüchtern. Insgesamt wirkte er ein wenig gepflegter, als die letzten Jahre. Der Bart war gestutzt und sauber, die dunklen Ringe unter seinen Augen nicht ganz so geschwollen und sein dünnes, weißes Haar hatte er erst vor kurzem gewaschen.

Balic war schon über sechzig, sah aber mit den tiefen Falten und dem kleinen Bierbauch weitaus älter aus. Er war ein kauziger, alter Kerl, der gerne sang und noch lieber trank.

„Nenn mich noch einmal Weib und ich werde dafür deinen ganzen Schnaps wegkippen und jetzt gibt die verdammte …“

„Nein!“

Als Azra versuchte, ihm die kaputte Laterne abzunehmen, drehte Balic sich hastig weg und bemerkte mich an der Luke. Seine Augen wurden groß, als würde er ein Gespenst vor sich sehen. Seine Gesichtszüge erschlafften und die zerbeulte Laterne war vergessen.

Nun war es für Azra ein Leichtes, ihm den Schrott wegzunehmen. „Und wenn du die jetzt noch einmal … was ist los?“ Sie folgte Balics Blick. Als sie mich entdeckte, stieß sie einen kleinen Schrei der Überraschung aus. Sie riss die Hände vor den Mund und ließ die Laterne dabei fallen. Sie fiel scheppernd auf den Boden. „Oh Gaia, oh du gütige Gaia“, rief sie und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie brauchte nur eine Sekunde, um sich von dem Schreck zu erholen, dann rief sie: „Marshall!“, stieg eilig über die Laterne und riss mich in ihre Arme.

Als ich diese vertraute Umarmung spürte, die Wärme und Zuneigung, so vieler Jahre, wurde der Kloß in meiner Kehle größer.

„Ich habe es gewusst“, sagte sie und drückte mich noch fester an sich. „Ich habe es die ganze Zeit gesagt. Ich wusste, du würdest zu uns zurückkommen. Als Marshall gehen wollte, sagte ich ihm, wir müssen bleiben, denn du würdest wiederkommen. Ich wusste es die ganze Zeit. Wenn es jemand schafft den Trackern zu entkommen, dann du.“

Vor Rührung spürte ich, wie meine Augen zu brennen begannen. „Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte“, versicherte ich ihr. Dabei klammerte ich mich so fest an sie, dass es wehtun musste, aber sie beschwerte sich nicht. „Ich habe nie aufgehört, es zu versuchen.“ Ganz egal was sie mir angetan hatten. Die Hoffnung, mein Weg zurück nach Hause zu finden, hatte mir selbst in den dunkelsten Stunden Kraft gegeben.

„Und ich habe die Hoffnung nicht für einen Moment aufgegeben.“ Sie löste sich ein kleines Stück von mir, strich mir mit der Hand über das Gesicht. In ihren Augen glänzten Tränen. „Geht es dir gut? Du siehst erschöpft aus.“

„Mir geht es gut“, versicherte ich und drehte den Kopf zu Balic. Er starrte mich immer noch an, als sei ich ein Geist. Ich versuchte zu Lächeln. „Und ich habe euch vermisst.“ So sehr.

Auch Azra schaue zu Balic. „Nun komm schon her und begrüß unser Kind, du alter Bock.“

Balic blinzelte, dann atmete er schwer ein, als müsste er sich zusammenreißen. Doch erst als ich ihm eine Hand entgegenstreckte, bewegte er sich endlich. Er kam auf uns zu, legte die Arme um uns beide und drückte nicht weniger fest, als wir. „Das ist ein Wunder“, murmelte er und schien es immer noch nicht glauben zu können. „Bei Gaias Güte, wie hast du das nur hinbekommen?“

„Ist doch völlig egal“, beschied Azra. „Hauptsache sie ist wieder bei uns.“ Sie drückte mich nochmal fest an sich, löste sich dann und schaute zur Trennwand. „Marshall, komm her, sofort!“ Als sie den Blick wieder auf mich richtete, runzelte sie die Stirn. „Was trägst du da für Kleidung, Kind? Und wo ist Nikita?“ Sie schaute zur Luke, als hoffte sie zu sehen, wie die kleine Verräterin dort auftauchte.

„Sie ist nicht hier“, gestand ich und versuchte den Schmerz nicht zuzulassen. „Sie ist noch in Eden.“

„Was? Aber …“

Bevor sie mehr dazu sagen konnte, tauchte Marshall mit einem „Warum schreist du hier so herum?“, aus der Schlafstube auf, indem er der Vorhang vor dem Zugang zur Seite schob. Als er mich zwischen Azra und Balic entdeckte, erstarrte er. Die Farbe wich aus seinem Gesicht und einen Moment befürchtete ich, er würde einfach in Ohnmacht fallen.

Wie auf ein stilles Kommando hin, traten Azra und Balic zurück und machten den Weg frei.

Ich zögerte keinen Moment, rannte los und schlang meine Arme um seinen Hals. Der Kloß in meinem Hals erreichte seinen Höhepunkt. Meine Augen begannen zu brennen und ich spürte, wie mir eine Träne über die Wange lief.

Nur langsam, als hätte er vergessen, wie es ging und müsste es erst wieder lernen, hob er seine Arme und schloss sie um mich. Dann drückte er mich so fest an sich, als wollte er mich nie wieder loslassen. Sein Gesicht vergrub er an meinem Hals. Ich spürte, wie er am ganzen Körper zitterte.

„Siehst du?“, sagte Azra. „Ich habe gesagt, sie würde zurückkommen. Ich habe es immer wieder gesagt, aber du wolltest mir ja nicht glauben.“

„Schhht“, machte Balic. „Halt den Mund und lass die beiden.“

Ein seltsamer Laut entrang sich Marshalls Kehle. Dann spürte ich, wie es an meinem Hals feucht wurde. „Es tut mir so leid“, flüsterte er mit rauer Stimme. „Es tut mir so unendlich leid.“

„Dir brauch nichts leidzutun.“ Es war gar nicht so leicht, diese Worte an dem Kloß in meiner Kehle vorbei zu bekommen. „Mir geht es gut.“

„Aber ich habe euch im Stich gelassen.“ Er löste sich weit genug von mir, um mir ins Gesicht sehen zu können. Seine Augen waren gerötet und schwammen in Tränen. „Ich wollte schießen, aber es war nur einer und du schienst mit ihm klarzukommen. Dann waren es zwei und … was hätte ich tun sollen? Hätte ich den einen erschossen, hätte der andere um Hilfe gerufen und plötzlich waren sie überall. Wenn ich mich eingemischt hätte, dann … ich …“ Er verstummte und schloss die Augen, um seine Scham zu verbergen.

Doch ich wusste was er sagen wollte. Hätte er geschossen, hätten sie bemerkt, dass ich nicht alleine war und auch noch auf ihn jagt gemacht.

„Ich konnte Balic und Azra doch nicht allein lassen und … es tut mir leid. Ich hatte Angst. Ich hatte so große Angst, dass ich meine beiden Töchter verlor.“

„Ich bin ja wieder da“, versuchte ich ihn zu trösten und wischte ihm eine Träne von der Wange, bevor sie in seinem langen, geflochtenen Bart verschwinden konnte.

Er sah älter aus, als noch vor zwei Monaten. Das graumelierte Haar war länger geworden und er schien etwas von seiner alterslosen Schönheit eingebüßt zu haben. Er war immer noch ein Stück größer und immer noch schlank und einfach Marshall, doch etwas hatte sich wie ein Schatten über ihn gelegt.

Nur der Verlust eines geliebten Menschen, konnte einem sowas antun.

„Ich bin nicht weggelaufen“, versicherte er mir und wischte sich nun selber eine Träne aus dem Gesicht. „Ich habe gewartet und gehofft. Ich wollte helfen, aber ich wusste nicht wie und dann seid ihr einfach fortgefahren.“ Er musste schlucken. „Ich wusste nicht, was ich tun sollte.“

„Du konntest gar nichts tun.“ Auch wenn es schmerzte, dass er es einfach hatte geschehen lassen, so war das die reine Wahrheit. Hätte er versucht Nikita und mich zu befreien, dann wäre auch er in Eden gelandet. Und er hatte auch recht damit, dass er Azra und Balic nicht allein lassen konnte. Ohne ihn würden die beiden es sehr schwer haben. „Und jetzt bin ich wieder hier.“

„Aber … wie?“

Diese Frage musste kommen, denn unter den freien Menschen, war es eine unumstößliche Tatsache, dass kein Weg aus Eden hinausführte. „Ich hatte Hilfe von …“ Freunden? „Anderen Leuten, die genau wie ich aus Eden fortwollten. Früher waren sie freie Menschen, aber Eden hat sie genau wie mich gefangen genommen und gegen ihren Willen in die Stadt gebracht. Sie sind hier, draußen. Ich habe sie mitgebracht.“

Marshall zog die Augenbrauen zusammen. „Menschen aus Eden?“

Das musste ich jetzt sehr vorsichtig angehen. „Einer von ihnen wurde als Kind entführt und nach Eden gebracht, den anderen hat man zusammen mit mir gefangen genommen.“ Killians Anwesenheit ließ ich vorläufig erstmal unter den Tisch fallen. „Zusammen konnten wir fliegen. Sawyer hat seine Tochter mitgenommen.“

„Tochter?“, fragte Azra. „Ein Kind?“

Ich löste mich ein Stück von Marshall und lächelte sie an. „Ja. Sie ist sieben und nur dank ihr, konnten wir entkommen.“

„Durch das Kind?“, fragte Balic ungläubig.

„Ja, sie …“

„Was ist mit Nikita“, unterbrach Marshall mich. „Ist sie auch draußen?“

Das Lächeln schwand von meinen Lippen. „Nein“, musste ich zugeben und wich seinem Blick aus. „Sie ist noch in Eden.“

Marshalls Gesicht zerfloss vor Kummer. „Du hast sie nicht retten können“, stellte er fest.

„Sie wollte nicht gerettet werden“, verbesserte ich ihn und versuchte mir meinen Schmerz nicht anmerken zu lassen.

Jetzt krochen seine Augenbrauen wieder aufeinander zu. „Was meinst du damit?“

Ich war schon dabei den Mund zu öffnen, zögerte dann aber. Wie sollte ich ihnen erklären, dass Nikita alles – ihre Mischpoche, ja ihr ganzes Leben – für ein paar Annehmlichkeiten, aufgegeben hatte. Sie hatte nicht nur mich verraten, sie hatte uns alle verraten. Mich hatte es nur besonders schlimm getroffen, da sie mich als Zahlungsmittel für ihre Bequemlichkeit eingetauscht hatte.

Nein, das konnte ich ihnen nicht sagen, es würde sie nur verletzten und sie würden so schon mit dem Verlust klarkommen müssen. „Eden hat sie uns weggenommen. Sie haben ihr eine Gehirnwäsche verpasst, ich konnte nichts dagegen tun.“

Marshall presste die Lippen zusammen. Der Kummer schien sich in sein Gesicht zu graben und es vor meinen Augen altern zu lassen.

„Unser armes Mädchen“, murmelte Azra.

Ich biss die Zähne zusammen. „Es geht ihr dort gut“, fühlte ich mich gezwungen zu sagen, um ihnen ein wenig von ihrem Leid zu nehmen. „Sie ist dort glücklich.“

„Aber nur, weil diese Monster sie verdorben haben.“ Marshall ballte seine Hand zur Faust. „Sie sind ein Geschwür.“

Damit hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen. Leider konnte niemand etwas daran ändern, dafür waren sie einfach zu mächtig.

„Wenigstens haben wir eines unserer Mädchen wieder“, sagte Azra und kam erneut zu mir, um mir eine Hand auf die Schulter zu legen. „Dafür sollten wir dankbar sein.“

„Ich bin mehr als nur dankbar“, versicherte Marshall. „Niemals hätte ich geglaubt, dich wiederzusehen. Aber nun stehst du hier, direkt vor mir und … es ist wie ein Wunder.“

„Ich habe es dir doch gesagt.“ Ich versuchte mich an einem Lächeln, auch wenn mein Kiefer davon schmerzte. „Wenn ich weg bin, würdest du mich vermissen.“

„Das habe ich.“ Er legte eine Hand an meine Wange. „Ich habe dich schrecklich vermisst und mir fürchterliche Vorwürfe …“

„Da klaut jemand meine Nüsse!“, rief Balic plötzlich empört. Er stand an der Luke und hatte die Schilfmatte zur Seite geschoben.

Ich lachte auf und dieses Mal war es ehrlich. „Ich habe doch gesagt, dass ich die Männer, mit denen ich geflohen bin, mitgebracht habe. Sie gehören zu mir.“

„Aber warum meine Nüsse?“

Äh, weil wir alle hungrig waren? „Von Käfern und Unkraut, lebt es sich nicht gut. Und sie haben sie nicht geklaut, ich habe sie ihnen gegeben.“

Jetzt war er erstrecht empört. Ja, Balic liebte seine Nüsse.

Azra verdrehte die Augen. „Jetzt hört auf dich so aufzuregen. Der Herbst steht vor der Tür, wir können bald neue sammeln.“

„Aber vorher sollten wir vielleicht unsere Gäste begrüßen“, bemerkte Marshall. „Ich möchte mich bei ihnen für deine Rettung bedanken.“

„Und wir sollten ihnen etwas zu trinken und etwas richtiges zu Essen anbieten.“ Azra setzte sich in Bewegung und begann damit, Holzbecher aus dem Regal zu nehmen. „Ich werde kochen, das müssen wir feiern.“

„Ich hole den Schnaps“, verpflichtete sich Balic. So schnell waren die Nüsse vergessen.

Marshall schüttelte den Kopf, lächelte mich dann aber an. Dieser Blick, das war so vertraut. Ein neuer Kloß bildete sich in meinem Hals. Wenn wir nicht bald aufhörten gefühlsduselig zu sein, würde ich demnächst doch noch anfangen zu weinen.

„Na dann lass uns mal rausgehen, damit ich mir diese Männer erstmal ansehen kann.“ Das Lächeln blieb auf seinen Lippen, doch die Worte schienen mehr zu bedeuten, als eine schlichte Begrüßung. Marshall war ein sehr guter Menschenkenner und sein Urteil würde einen großen Einfluss auf das haben, was als nächstes geschah.

 

oOo

Kapitel 05

 

Ich bekam dieses verdammte Lächeln nicht mehr aus meinem Gesicht. Um ehrlich zu sein, wollte ich das auch gar nicht. Endlich war ich wieder Zuhause. Azra und Balic ging es gut, Marshall war an meiner Seite und sogar mein sonst so gleichgültiger Trotzkopf schien sich gefreut zu haben mich zu sehen. Das Einzige was diesen Moment dämpfte, war das Wissen um Nikita. Sie war nicht hier und sie würde es auch nie wieder sein.

Denk jetzt nicht daran.

„Ich glaube ich habe dich in meinem ganzen Leben noch nie so strahlen sehen.“ Marshall schob den Vorhang zur Seite und machte den Weg frei, damit ich als erstes das Flugzeug verlassen konnte.

„Ich hatte bisher auch noch nie einen so guten Grund, mich über deinen Anblick zu freuen“, versetzte ich scherzhaft.

Marshall drohte mir mit dem Finger.

Bevor ich an ihm vorbeigehen konnte, drängte sich Balic als erster ins Freie. Er stampfte die Treppe herunter, als meinte er es ernst, ging geradewegs auf unsere Besucher zu und riss ihnen mit einem „Das sind meine!“, den Sack mit den Nüssen unter der Nase weg.

Alle Männer, inklusive Salia, schauten verdutzt. Das wurde auch nicht besser, als Balic sich bückte, um auch noch die Nuss an sich zu nehmen, die Wolf gerade mit dem Hammer hatte öffnen wollen.

Ich verdrehte die Augen und folgte ihm ins Freie. „Balic, gib ihnen die verdammten Nüsse zurück.“

„Nein!“ Er drückte sie an seine Brust, warf unseren Gästen noch einem finsteren Blick zu und trug sie dann zu den Kisten neben der Treppe, wo er sie sorgsam verstaute.

Ich warf ihnen einen entschuldigenden Blick zu, während ich die Treppe hinabstieg. „Tut mir leid, er ist sozial inkompetent. Liegt wahrscheinlich daran, dass wir ihn nur selten aus seinem Käfig lassen.“ Sein böser Blick wurde schon aus Prinzip nicht beachtet.

Ich trat zur Seite, um Platz für Marshall zu machen. Direkt hinter ihm kam Azra aus dem Flugzeug, sah unsere Gäste und lächelte. Sie drängte sich mit den Bechern und einer Karaffe in der Hand an uns vorbei und ging direkt zur Feuerstelle.

„Seid herzlich willkommen“, begrüßte sie alle und stellte die Becher und die Karaffe neben den Schilfmatten ab. Als sie sich wieder aufrichtete, erhoben sich auch die Männer. Sie ergriff Sawyers Hände, einfach weil er ihr am nächsten stand. „Danke“, sagte sie. „Vielen Dank, dass ihr mein Mädchen nach Hause gebracht habt. Hier, Wasser, bedient euch. Ich werde gleich etwas zu essen machen und wenn ihr …“ Ihr Blick blieb an Killian hängen, der noch immer in der Uniform der Tracker steckte. Erschrocken machte sie einen Schritt zurück und legte sich die Hand auf die Brust.

„Er ist kein Tracker“, sagte ich eilig, weil ich bemerkte, wie Marshall nach dem Messer an seiner Hüfte griff. Auch ihm war die Uniform aufgefallen. „Er hat die Uniform nur angezogen, um mich zu retten.“

Trotz meiner Versicherung, ging Azra auf Abstand und stellte sich zu Balic.

Marshall musterte den Arzt misstrauisch. Dann schaute er zu Sawyer, der zwar keine Uniform trug, aber auch in Kleidung der Edener steckte. Sein Blick glitt über mich und die Gardistenaufmachung und blieb am Ende bei Wolf hängen. Vermutlich, weil er mit seiner Größe und den breiten Schultern der Imposanteste von allen war. Bei ihm wirkte auch die Uniform am Eindrucksvollsten.

„Marshall, Balic, Azra, darf ich euch vorstellen, das ist Wolf.“

Marshall trat vor, bis er vor dem Großen Mann stand. Er war ein großgewachsener Mann, aber Wolf überragte ihn noch um einen ganzen Kopf. „Du bist der Mann, der meiner Kismet zur Flucht verholfen hat?“

Wolf nickte und brummte zustimmend.

„Er kann nicht sprechen“, erklärte ich. „Er hat keine Zunge.“

„Bei Gaias Zorn!“, rief Balic begeistert und errang damit die allgemeine Aufmerksamkeit. „Das ist ja phantastisch!“

Besäße ich nicht so eine gute Selbstkontrolle, wäre mir bei diesem Ausruf wohl die Kinnlade heruntergeklappt. Schon seit ich Balic als Kind kennengelernt hatte, wusste ich, dass er manchmal ein echt seltsamer Vogel war. Immer mal wieder sagte er unangebrachte Dinge, oder verhielt sich merkwürdig, besonders wenn er vorher getrunken hatte. Doch noch nie war ich so schockiert von ihm gewesen. So wie die anderen in anschauten, stand ich mit meiner Meinung nicht alleine da.

Und dann breitete sich ein listiges Lächeln auf Balics zerfurchten Gesicht aus. „Können wir das auch mit Azra machen?“

Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, auf was er da anspielte, Azra jedoch nicht, ihr Gesicht verfinsterte sich auf der Stelle.

„Du verdammte Schnapsdrossel“, schimpfte sie und schlug ihn gegen die Schulter. Fest.

„Aua!“, beschwerte sich Balic und ging sofort auf Abstand. „Man, das war doch nur ein Witz gewesen.“ Grummelnd und unter verärgerten Blicken, schlich er an uns vorbei zu einem Korb in der Ecke. Dort holte er sich eine angefangene Flasche Schnaps heraus und ließ sich damit auf dem Schemel daneben nieder. „Alles Spaßbremsen“, grummelte er und nahm einen kräftigen Schluck, aber nicht, ohne uns weiter mit seinen Blicken zu strafen.

Ich rieb mir über die Stirn. „Tut mir leid“, sagte ich zu Wolf. „Aber wenn du möchtest, kann ich ihm den Mund zukleben.“

Doch Wolf schmunzelte nur. Abgesehen von Balic, war er wohl der Einzige hier, der das komisch fand.

Marshall schüttelte nur den Kopf. „Beachte Balic einfach nicht.“ Dann lächelte er leicht. „Ich bin dir sehr zu Dank verpflichtet. Dass du mir meine Kismet zurückgebracht hast … ich weiß nicht, wie ich dir das vergelten soll.“

Als wäre es keine große Sache, winkte Wolf einfach ab. Er wirkte ein wenig verlegend. Vermutlich, weil er eigentlich gar nicht so viel getan hatte. Er hatte sich einfach nur unserer Flucht angeschlossen und dann ein paar Hindernisse aus dem Weg geräumt.

„Falls ich irgendwas für dich tun kann, dann …“

„Guck mal Papa“, flüsterte Salia so laut, dass keiner von uns sie überhören konnte. „Die tragen alle keine Schuhe, genau wie Kismet.“

Nach diesen Worten rückte Salia in den Fokus von Marshalls Aufmerksamkeit. Mit der Linken Wölkchen fest an die Brust gedrückt, hielt sie sich mit der rechten Hand an Sawyers Hosenbein fest und musterte den fremden Mann misstrauisch.

Marshall ließ Wolf einfach stehen und ging lächelnd zu dem kleinen Mädchen hinüber. Er hockte sich vor sie, um auf Augenhöhe mit ihr zu sprechen. Marshall mochte Kinder, das hatte er schon immer. „Und wer bist du?“

Nur ein kurzer Blick zu ihrem Papa, dann konzentrierte sie sich wieder auf den bärtigen Mann. „Salia.“

„Salia ist ein schöner Name.“

„Ich weiß.“

Das ließ uns alle schmunzeln.

„Und du trägst Schuhe, wie ich sehe.“

Ein ernstes Nicken. „Alle in Eden tragen Schuhe. Warst du schon mal in Eden?“

„Nein.“

„Da ist es ganz toll“, begann sie zu erzählen. „Da habe ich mein eigenes Zimmer und ganz viel Spielzeug. Und Freunde. Ich vermisse meine Freunde.“

Sawyer legte ihr tröstend eine Hand auf den Kopf. Für die Kleine war es am Schwersten, ihr Zuhause zu verlassen, weil sie noch nicht verstand, warum wir hatten gehen müssen. Sawyer hatte zwar versucht es ihr zu erklären, aber das änderte nichts daran, dass sie sich nach dem Vertrauten sehnte.

„Vielleicht kannst du ja neue Freunde finden“, überlegte Marshall.

„Ich habe Wölkchen“, erklärte sie und zeigte Marshall ihr Kuscheltier. „Wölkchen beschützt mich auch vor den bösen Menschen, weißt du? Darum mussten wir nämlich aus Eden weggehen. Es war mein Geburtstag und ich durfte endlich die Wolken sehen, aber dann waren da die bösen Männer und die haben mir wehgetan. Hier guck.“ Sie schob ihren viel zu großen Ärmel hoch und zeigte ihm ihren verbundenen Arm.

Marshall sah fragend zu mir auf.

„Ich erkläre es dir später.“

„Hier bist du sicher“, versprach Marshall. „Hier finden die bösen Menschen dich nicht.“

„Das hat Papa auch gesagt.“ Sie schaute zu ihrem Vater auf.

In einer geschmeidigen Bewegung, erhob Marshall sich wieder auf die Beine. Nun stand er in seiner ganzen eindrucksvollen Pracht vor Sawyer auf und musterte sein Gegenüber sehr gründlich. Sei Blick blieb einen Moment an den Narben und dem blinden Auge hängen, bevor er sich auf sein Gesicht konzentrierte. „Du musst Sawyer sein.“

Wenn er sich wunderte, dass Marshall seinen Namen kannte, dann zeigte er es jedenfalls nicht. „Ja“, sagte er schlicht und wartete dann einfach ab.

Auf Marshalls Gesicht erschien das gleiche herzliche Lächeln, mit dem er damals mich und Nikita aus den Ruinen gelockt hatte, nachdem wir uns über ein Jahr allein und ohne Hilfe durch einen Erwachsenen, durch die freie Welt geschlagen hatten. „Danke. Ich stehe auch in deiner Schuld.“

Sawyer zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Irgendjemand musste ja ihren süßen, kleinen Hintern retten. Und da ich da auch wegwollte, hat sich das angeboten.“

Ich schnaubte. Angeboten. Ohne mich würde er immer noch in Eden festsitzen und nach einer Möglichkeit suchen, die Stadt zu verlassen.

Marshall runzelte die Stirn. Es gefiel ihm nicht, dass Sawyer meinen Hintern zur Sprache gebracht hatte. „Dann sollte ich Gaia danken, dass sie dich gefunden hat.“

„Gaia hatte damit nur wenig zu tun“, erwiderte er.

Etwas an dem was Sawyer gesagt hatte, schien Marshall nicht zu gefallen. Er verengte die Augen ganz leicht, nickte dann nur und wandte sich an seinen letzten Besucher. Nach einer kurzen Musterung seines fast verheilten Veilchens, fragte er: „Und du bist?“

„Killian.“ Ich musste ihm zugestehen, dass er den Blick von Marshall auf Augenhöhe begegnete und nicht hilfesuchend zu mir schaute. Er schaffte es sogar ein kleinen wenig zu lächeln. „Ich bin Arzt in Eden.“

„Du bist?“ Seine Augenbrauen krochen aufeinander zu.

„Naja, ja. Ich bin eher zufällig in das ganze hineingeraten. Ich wollte gar nicht aus der Stadt weg.“

Vor Schreck riss ich die Augen auf.

„Eigentlich wollte ich nur mit meinem Pferd ausreiten, als plötzlich Chaos … ufff!“

Ich versuchte noch einzugreifen, als sich Marshalls Gesicht vor Wut verzerrte, doch da hatte er den Arzt auch schon zu Boden gestoßen, riss sein Messer aus seinem Gürtel und warf sich auf ihn.

Sawyer packte Salia und riss sie hastig aus der Gefahrenzone, als ich schon nach vorne Stürzte.

Mit einem hasserfüllten Ausdruck, packte Marshall Killian an der Weste. Als der Arzt sich weheren wollte, hielt Marshall ihn mit seinem Gewicht unten und hob den Arm mit dem Messer. „Abscheuliches Monster!“

Als die Klinge sich auf ihn zubewegte, riss Killian erschrocken die Hände vor das Gesicht.

Im letzten Moment packte ich Marschalls Arm und riss ihn daran zurück. Er kam ins Schwanken, behielt den Arzt aber am Schlafittchen gepackt, während sich sein vor Wut funkelnden Blick auf mich richtete.

„Killian ist nicht der Feind!“, schrie ich ihm ins Gesicht und zerrte wieder an seinem Arm. Wenn ich nicht zu Marshall durchdrang, konnte das hier ganz böse enden.

„Ist er ein freier Mensch?“

Am einfachsten wäre die Situation wohl zu bereinigen gewesen, wenn ich ihn angelogen hätte, aber das hätte nur kurze Zeit angehalten und dann wäre es wieder eskaliert. Besser war, ihn davon zu überzeugen, dass Killian trotz allem zu den Guten gehörte und keine Gefahr für uns darstellte. „Nein, aber …“

Weiter kam ich nicht. Er stieß mich mit so viel Wucht von sich, dass ich zurückstolperte und ziemlich schmerzhaft auf dem Hintern landete. Dann musste ich mit ansehen, wie Marshall das Messer ein zweites Mal anhob.

Ohne auch nur einen Moment nachzudenken, stürzte ich mich auf ihn und riss ihn durch meinen Schwung von Killian herunter. Wir rollten einmal über den Boden, bis er unter mir lag. Hastig stieg ich von ihm herunter und baute mich mit ausgebreiteten Armen, vor dem immer noch am Boden liegenden Killian auf. Meine Seite schmerzte wieder, das Manöver hatte meinen Rippen nicht gutgetan. „Jetzt hör mir doch zu!“, forderte ich ihn auf.

Wütend kam Marshall wieder auf die Beine und stampfte bedrohlich auf mich zu. Ich wich keinen Schritt zurück, als er direkt vor mir stehen blieb. „Geh aus dem Weg.“

Und damit ein Blutbad zulassen? „Nein.“

Marshall schien noch ein Stück zu wachsen, aber ich ließ mich von ihm nicht einschüchtern. Er wollte Killian an den Kragen, nicht mir. Er würde mir niemals ein Haar krümmen. „Geh. Mir. Aus. Dem. Weg!“

Ich wurde ganz ruhig. „Wenn du an Killian heranwillst, musst du mich vorher mit Gewalt aus dem Weg räumen.“

Sein Zorn explodierte. „Du schützt einen von ihnen?!“

„Er ist nicht wie die anderen.“

„Sie sind alle gleich!“, schrie er mir ins Gesicht. „Hast du vergessen, was sie mit deiner Mutter getan haben?! Hast du Akiim vergessen?!“

Das war ein Schlag unter die Gürtellinie. „Ich könnte sie niemals vergessen“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Warum stehst du mir dann im Weg?! Hast du in all den Jahren nichts dazugelernt?! Haben dir die letzten Wochen nicht gereicht?! Sie haben uns Nikita weggenommen! Sie wollten dich wegnehmen! Und dann bringst du auch noch einen von ihnen hier her! Seit wann bist du so dumm?!“

So, jetzt reichte es aber. „Ich bin nicht dumm!“, fauchte ich. „Aber du benimmst dich dumm! Sie sind nicht alle gleich! Killian hat mir geholfen, oft! Erst gestern hat er mich vor den Trackern gerettet, darum werde ich nicht zulassen, dass du ihm etwas antust!“

„Wie kannst du nur so unvernünftig sein?! Er ist einer von ihnen und er wird immer einer von ihnen bleiben! Diese Menschen sind Monster und daran wird sich niemals etwas ändern!“

Ich wollte das nicht hören, denn er sprach das aus, was ich tief in meinem Inneren selber befürchtete. „Als ich dir das erste Mal begegnete, hielt ich dich für ein Monster, aber ich habe mich getäuscht. Und du täuschst dich in Killian.“

„Ach wirklich? Warum glaubst du, sind wir dabei unsere Sachen zu packen?!“ Er zeigte auf die Kisten neben der Treppe, die mir schon bei meiner Ankunft aufgefallen waren. „Die Tracker waren gestern hier, auf diesem Flugplatz! Es war nichts als Glück, dass sie den Hangar nicht gefunden haben. Und jetzt führst du auch noch einen von ihnen direkt hierher!“

Die Tracker waren hier gewesen? Dascha hatte ja erzählt, dass sie den Flugplatz nicht gefunden hatten, aber dass sie so nahe dran gewesen waren, hatte ich nicht für möglich gehalten. Der Sichtschutz war wohl ihre Rettung gewesen.

Zögernd schaute ich zu Killian, der ein wenig weiß um die Nase war. Aber auch wenn sein Gesicht Vorsicht zeigte, schien er keine Angst zu haben. Da war nur eine Spur von Ärger. „Killian ist Arzt, kein Tracker“, sagte ich mit fester Stimme. „Er wird uns nicht verraten.“

„Du kannst nicht wissen, was er tun wird.“

Nein, das konnte ich nicht, aber ich glaubte nicht, dass er das tun würde. Das war vielleicht dumm, doch ich konnte mich nur an das Halten, was ich wusste und was ich selber erlebt hatte. Also blieb ich genau da stehen, wo ich war.

Marshall presste die Lippen aufeinander. Dann warf er wütend sein Messer von sich. Es blieb in einem der Stützbalken stecken. „Das ist ein Fehler“, versprach er mir mit unheilverkündender Stimme. „Du wirst schon sehen und dann wirst du dir Vorwürfe machen.“ Er warf Killian noch einen hasserfüllten Blick zu, dann kehrte er uns den Rücken und marschierte aus dem Hangar. Seine Wut schien dabei in Wellen von ihm abzustrahlen.

Erst als der Sichtschutz hinter ihm zugefallen war, erlaubte ich es mir die Arme sinken zu lassen und einmal tief durchzuatmen.

„Danke“, sagte Killian. Seine Stimme war ein wenig zittrig und er blieb wachsam, als er allein auf die Beine kam. Dabei schaute er von Wolf zu Sawyer. Seine Lippen wurden schmal. Keiner von beiden, war ihm zu Hilfe gekommen. Diese Situation hatte ihm genau vor Augen geführt, dass er hier der Außenseiter war und sich niemand die Hände schmutzig machen würde, um ihn zu retten. Naja niemand außer mir.

„Na das ist doch gar nicht so schlecht gelaufen“, kam es von Balic. Er saß noch immer mit seiner Flasche auf dem Schemel. Die Wangen waren ein wenig gerötet und er schien die Abwechslung genossen zu haben.  „Keine blutigen Nasen, keine gebrochenen Knochen und alle erfreuen sich bester … was?“, fragte er, als er meinen mordlüsternen Blick bemerkte. „Was habe ich jetzt schon wieder falsch gemacht?“ Er überlegte kurz und hielt mir dann seine offene Flasche hin. „Willst du?“

Einen kurzen Moment zog ich sein Angebot tatsächlich in Erwägung, aber mich volllaufen zu lassen, würde mich nicht von meinen Problemen befreien. Leider. Doch ich konnte die Situation auch nicht einfach so stehen lassen und darauf hoffen, dass Marshall nicht erneut auf Killian losgehen würde.

Vielleicht würde er sich erstmal zurückhalten, aber eher früher als später, würde er einen weiteren Versucht starten, Killian auszuschalten – vermutlich dann, wenn ich nicht in der Nähe war. Ich musste das bereinigen, jetzt. „Ich werde mal mit ihm reden.“ Ich warf einen warnenden Blick zu Azra und Balic. „Und wenn ich wieder komme, und es geht ihm nicht gut, dann werde ich sehr böse werden.“

„Ich werde artig sein“, versprach Balic und setzte seine Flasche erneut an die Lippen.

Azra gab kein solches Versprechen. Sie schaute mich nur unbeteiligt an. Normalerweise war sie trotz ihrer Ecken und Kanten der liebste Mensch auf der ganzen Welt, aber auch sie besaß ein Messer und wusste, wie sie es einsetzten musste.

Na super. Ich drehte mich zu Wolf um. „Passt du bitte auf Killian auf?“

Er brummte bestätigend, auch wenn er nicht begeistert von der Aufgabe schien.

Killians Lippen wurden zu einem dünnen Strich.

Da er im Moment nicht in akuter Gefahr zu schweben schien, kehrte ich ihnen allen den Rücken, hielt mir dabei die schmerzenden Rippen und durchquerte die Vorhalle. Ich brauchte einen Moment, um den Spalt im Sichtschutz zu finden und trat dann hinaus ins Freie.

Marshall zu finden war nicht schwer. Er lief nur wenige Fuß vor dem Hangar entfernt aufgebracht auf und ab. Seine Wut war nicht verpufft, ganz im Gegenteil, sie schien sogar noch stärker geworden zu sein.

Als er mich bemerkte, blieb er stehen und durchbohrte mich mit seinem Blick, sagte aber kein Wort.

Ich atmete einmal tief ein, näherte mich ihm und blieb direkt vor ihm stehen. Von ihm ließ ich mich nicht einschüchtern. „Hältst du mich wirklich für dumm?“, fragte ich ihn.

Er schwieg.

„Glaubst du ehrlich, ich würde jemanden hierherbringen, der eine Gefahr für uns darstellt? Ja, er wurde in Eden geboren und er hat dort gearbeitet, doch er ist nicht wie die anderen. Er hat mir geholfen, immer wieder. Er war sowas wie … keine Ahnung, wie ich das sagen soll, aber ich weiß, er ist ein guter Mann.“

„Vertraust du ihm?“ Als ich zögerte, kniff er die Augen ein wenig zusammen. „Nein, tust du nicht.“

„Es ist schwer, einem von ihnen zu vertrauen“, verteidigte ich mich. „Aber ich traue ihm genug, um ihn mit hierher zu bringen.“

„Aber du hast deine Zweifel.“

„Du verstehst das nicht.“ Frustriert senkte ich den Blick und stemmte die Arme in die Seiten. „Du kannst das nicht verstehen, denn du warst nicht dort. Die Menschen dort folgen alle ein und demselben Ziel und sie tun alles, um dieses Ziel zu erreichen, aber Killian … er ist nicht wie die anderen. Er hat immer Rücksicht auf mich genommen und war nett zu mir gewesen. Er hat meine Geheimnisse bewahrt.“

Marshall war nicht überzeugt. „Und was ist, wenn er zu seinen Leuten zurück geht?“

„Das wird er nicht“, sagte ich sofort. „Er hatte bereits die Chance dazu und er hat sie nicht genutzt. Stattdessen hat er sich für mich entschieden. Er hat mich gerettet und seinen Leuten damit geschadet.“ Denn die waren sicher nicht glücklich gewesen, als sie herausgefunden hatten, wie ich entkommen war. „Er kann nicht zurück, ohne sich den Konsequenzen seines Handelns zu stellen.“

„Das war nicht die Frage gewesen“, stellte Marshall ganz richtig fest. „Was wird geschehen, wenn er zu seinen Leuten zurück geht? Was wird er tun, wenn sie ihn fragen, was geschehen ist? Glaubst du wirklich, er wird den Mund halten und weiterhin deine Geheimnisse wahren? Besonders wenn sie ihn unter Druck setzen? Er sieht nicht so aus, als könnte er mit Druck umgehen.“

Nein, er sah aus, wie ein hübscher Kerl, der nicht viel im Kopf hatte. Aber das täuschte. Killian war intelligent. Und integer. Er würde nichts tun, mit dem er mir schaden konnte, das hatte er schon des Öfteren bewiesen.

„Ich werde nicht erlauben, dass er zu den Städtern zurück geht.“

„Du kannst ihn nicht kontrollieren“, bemerkte Marshall ganz richtig. „Was machst du, wenn er sich einfach davonschleicht und seinen Leuten verrät, wo wir sind? Was tust du, wenn er die Tracker zu uns führt?“

„Das wird er nicht.“

„Das war nicht die Frage“, sagte er unnachgiebig. „Was tust du – was sollen wir tun – wenn er uns doch verrät?“

Auf diese Frage gab es nur eine einzige richtige Antwort. „Dann werde ich ihn töten.“ Einen Verrat dieser Größenordnung, würde ich zu verhindern wissen. Bei Nikita war es etwas anderes. Trotz allem war sie meine Schwester und würde es auch immer bleiben. Ich wäre niemals fähig, ihr etwas anzutun. Killian jedoch hatte diesen Schutz nicht. Ich mochte ihn, wie ich mir in der Zwischenzeit eigestehen konnte, doch sollte er zum Problem werden, würde ihn niemand vor mir schützen können. „Sollte er uns verraten, wird er das nicht überleben“, wiederholte ich, um mich auch selber davon zu überzeugen.

„Und du glaubst wirklich, du bist dazu fähig?“

„Ja“, antwortete ich ohne zu zögern. Ich hatte schon einmal getötet und ich wusste, sollte die Situation es erfordern, würde ich es erneut tun. „Aber soweit wird es gar nicht kommen. Darum musst du mir auch versprechen, ihn in Ruhe zu lassen. Killian ist keine Gefahr für uns. Und du musst auch Azra sagen, dass sie die Finger von ihm lassen soll.“ Nicht dass sie ihm noch Gift ins Essen mischte. Ja, das traute ich ihr zu.

Marshall wandte den Blick ab und starrte zum Hangar. Sein Kiefer arbeitete, als würde er auf altem Leder herumkauen. „Das gefällt mir nicht.“

„Es muss dir nicht gefallen, aber du musst meinem Urteilsvermögen vertrauen. Killian gehört mir und darum dürft ihr ihn nicht anfassen.“

„Er gehört dir? Er ist dein Eigentum?“

„Wenn ihn das vor euch schützt, ja.“

Sein Blick richtete sich auf mich. Er musterte mich so intensiv, dass ich mich durchleuchtet fühlte. Ich konnte praktisch sehen, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was dieser Blick ausdrückte. „Was bedeutet dir dieser Mann?“

Diese Frage überrumpelte mich. „W-was?“

„Was bedeutet dir dieser Mann? Du beschützt ihn. Du bestehst trotz aller Tatsachen darauf, dass er ungefährlich ist. Du hältst ihm am Leben, obwohl wir beide wissen, dass er nur Ballast ist.“

„Er ist Arzt“, verteidigte ich ihn. Ärzte waren eine Rarität und ein ausgebildeter Arzt wie Killian, war in der freien Welt so viel wert, wie Wasser in einer Wüste.

Marshall wischte diesen Einwurf mit einer Handbewegung fort. „Du weißt was ich meine. Also sag es mir, was bedeutet er dir. Eine ganz einfache Frage.“

Nein, das war keine einfache Frage, weil ich das selber nicht so genau wusste. Darum ließ ich mir auch Zeit, bevor ich antwortete. „Er war für mich da“, sagte ich schlicht. „In Eden … es gab Tage, an denen ich die Hoffnung fast verloren hatte und er war einfach da. Er hat nicht geurteilt, oder Bedingungen gestellt. Er wollte nichts von mir.“ Naja, wenn man von diesem einen Moment absah, in dem wir uns gegenseitig die Kleidung vom Leib gerissen hatten. Da hatte er eindeutig etwas von mir gewollt, aber das konnte ich ihm nun wirklich nicht zum Vorwurf machen.

„Und die beiden anderen Männer?“, wollte er wissen. „Was ist mit diesem Wolf?“

Ich zuckte mit den Achseln. „Wolf ist ein Freund, denke ich.“

Seine Mundwinkel zuckten nach oben. „So so, denkst du.“

Ich wüsste nicht, wie ich ihn sonst einordnen sollte.

„Und dieser Sawyer?“

Diese Frage war nicht ganz einfach. „Sawyer ist … man könnte ihn wohl ein Mittel zum Zweck nennen.“

Seine Augenbraue wanderte an seiner Stirn hoch.

„Naja, ich habe ihn gebraucht, um aus Eden zu entkommen. Und er hat mich gebraucht. Wir sind eine Zweckgemeinschaft.“

„Und trotzdem hast du ihn mit hierhergebracht.“

Das stimmte schon. Eigentlich hatte ich bisher nie so genau darüber nachgedacht. Wir waren zusammen geflohen und dann einfach zusammengeblieben. „Er hat Salia bei sich und auch, wenn er ein freier Mensch gewesen ist, so war er doch sechzehn Jahre lang ein Gefangener in Eden. Er braucht ein wenig Zeit, um sich wieder zurechtzufinden.“

„Er war dort sechzehn Jahre gefangen?“

Ich nickte. „Damals hatte er noch Familie, aber er weiß nicht, ob sie noch leben.“ Und wahrscheinlich fürchtete er sich auch ein wenig davor, es herauszufinden. In sechzehn Jahren konnte immerhin viel geschehen. Es war einfacher, der Antwort erstmal aus dem Weg zu gehen, bis man sich dazu bereit fühlte, sich ihr zu stellen. „Er wird erstmal bei uns bleiben. Und ich möchte, dass auch die anderen bleiben. Sie werden sich nützlich machen. Wolf ist ein ausgezeichneter Jäger und Spurenleser. Sawyer hat sicher auch ein paar Talente.“ Die sich nicht nur darauf reduzierten, mich in den Wahnsinn zu treiben. „Und Killian ist Arzt. Einen Arzt in der Mischpoche zu haben, kann sehr nützlich sein.“

Dem konnte er nicht widersprechen.

„Darum musst du ihn auch in Ruhe lassen. Versprich es mir“, forderte ich.

Das wollte er nicht, man sah es ihm an der Nasenspitze an. Dennoch grummelte er: „In Ordnung, ich verspreche es. Aber ich werde ihn genau im Auge behalten.“

„Danke.“ Ich fiel ihm um den Hals und drückte ihn an mich. Ein kleiner Stich des Schmerzes fuhr durch meine Rippen. „Du wirst es nicht bereuen.“

„Das wird sich noch zeigen.“ Auch er drückte mich kurz an sich, ließ mich dann aber auch gleich wieder los. „Na komm, lass uns wieder hinein gehen. Wir sollten nicht so lange hier draußen stehen, wenn die Tracker noch in der Nähe sein könnten.“ Er ließ den Blick über den Flugplatz gleiten, als befürchtete er, sie würden gleich aus den Trümmern hervorspringen und direkt zum Angriff über gehen.

„Und da soll noch mal jemand behaupten, ich sei Paranoid.“ Ich grinste ihn an und ließ ihm den Vortritt, als wir zum Sichtschutz kamen. Zielsicher fand er die Öffnung und schlüpfte hindurch. Ich war gleich hinter ihm.

In der Vorhalle hatte sich nicht viel geändert. Balic saß immer noch auf seinem Schemel und hatte seine Flasche fast geleert. Azra saß zusammen mit Sawyer und Wolf an der Feuerstelle auf den Schilfmatten, ein Schneidebrett und Gemüse vor sich, dass sie kleinschnitt und in den Topf daneben gab. Dabei erzählte sie lächelnd eine Geschichte.

Salia war wieder bei Trotzkopf und versuchte ihn zu füttern. Allerdings hatte der Sturkopf sich in seinen Heuberg gelegt und beachtete sie gar nicht.

Killian hatte sich etwas abseits auf einer leeren Kiste vor dem Flugzeug niedergelassen. Die Erschöpfung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Gleichzeitig wirkte er vergrämt. Vielleicht wünschte er sich ja gerade, doch zu seinen Leuten zurückgekehrt zu sein.

Denk sowas nicht.

Als wir in den Hangar traten, unterbrach Azra sich und alle drehten sich geschlossen zu uns um, als erwarteten sie voller Spannung ein endgültiges Urteil.

Marshall warf einen langen Blick zu Killian, den dieser ruhig erwiderte. Dann seufzte er, lächelte und legte mir einen Arm um die Schultern. „Last uns feiern, unser Mädchen ist nach Hause zurückgekehrt.“

 

oOo

Kapitel 06

 

„Ich wollte einfach verschwinden“, sagte Marshall bedrückt und voller Scham. „Ich hatte Angst, dass sie uns finden würden. Ich hatte dich und Nikita bereits verloren und ich fürchtete mich davor, dass sie kommen und auch noch den Rest von uns holen würden. Ich konnte einfach nicht mehr klar denken.“

Ich legte meine Hand auf seine und drückte sie. „Ich hätte euch niemals verraten.“

„Nicht freiwillig.“ Marshall nickte. „Du bist willensstark, aber auch du würdest unter Folter irgendwann zusammenbrechen.“

Gerne hätte ich gesagt, dass das nicht stimmte, aber das wäre eine Lüge. Ein Mensch konnte nur ein gewisses Maß an Schmerz aushalten, bevor er aufgab und sich den Wünschen seiner Peiniger fügte. Hätten die Städter es wirklich darauf angelegt, oder hätten sie einfach nur mehr Zeit gehabt, dann wäre auch ich vielleicht unter dem Druck zusammengebrochen und hätte meine Geheimnisse preisgegeben.

Es war Abend und wir saßen alle um das Lagerfeuer in der Vorhalle. In einem Topf, an einem Gestell, kochte das Abendessen über dem Feuer und verteilte seinen herrlichen Duft in der Luft, sodass mir schon die ganze Zeit der leere Magen knurrte.

Auf Azras Drängen hin, hatte ich gerade berichtet, was in Eden geschehen war. Ich hatte ihnen erzählt, wie sie eine Eva aus mir machen wollten, was das bedeutete und wie ich mit Sawyers und Wolfs Hilfe entkommen war. Ich hatte auch von Nikitas Veränderungen erzählt, nur das Ende hatte ich abgeändert. In meiner Version war sie keine Verräterin, sondern einfach nur ein fehlgeleitetes Kind.

Die drei Männer wussten natürlich, dass ich einen entscheidenden Teil verschwieg, aber außer einer hochgezogenen Augenbraue von Sawyer, hatte sich keiner von ihnen dazu geäußert. Vielleicht verstanden sie, dass ich meiner Mischpoche nicht noch weiteren Schmerz zufügen wollte und ich würde schon damit klarkommen – irgendwann.

Ich hatte ihnen auch von meinem gestrigen Zusammentreffen mit den Trackern berichtet und erzählt, wie Killian mich gerettet hatte. Leider schien das in Marshalls Augen den Schandfleck seiner Herkunft nicht im Mindesten zu schmälern. Es war mir sehr wohl aufgefallen, dass er sich bei Sawyer und Wolf für meine Rettung bedankt hatte, für Killian aber nur einen misstrauischen Blick übrighatte.

Auch Killian hatte es bemerkt.

Sobald ich geendet hatte, war Azra mit Salia ins Flugzeug gegangen und Marshall hatte begonnen zu erzählen, was nach meinem Verschwinden geschehen war.

„Azra hat es ihm ausgeredet“, warf Balic ein und setzte seine Flasche wieder an den Mund. Es war noch die erste, aber die war so gut wie leer und so wie ich ihn kannte, würde die nächste nicht lange auf sich warten lassen.

„Azra hat immer wieder gesagt, ihr würdet zurückkommen“, erzählte Marshall weiter. Er saß im Schneidersitzt zwischen mir und Balic und rührte immer mal wieder im Topf, damit die Suppe nicht anbrannte. „Natürlich habe ich mir das auch gewünscht, aber ich habe nicht daran geglaubt.“

Neben Balic brummte Wolf, als würde er ihn verstehen. Es war nun einmal eine unumstößliche Tatsache, dass der Weg nach Eden, ein Weg ohne Wiederkehr war. Das was uns gelungen war, hatte vor uns noch keiner geschafft. Zumindest hatte ich noch nie etwas davon gehört.

„Doch ich wollte hier nicht wie auf dem Präsentierteller sitzen, darum habe ich das Netz gespannt und es mit Ranken und Efeu bepflanzt.“

Auf meiner anderen Seite, bewegte sich Killian. Er hatte den ganzen Abend kaum ein Wort gesagt, lauschte dem Gespräch aber aufmerksam.

Marshall rührte wieder mit dem Kochlöffel und lehnte sich dann zurück. „Ich hatte schon geglaubt, dass ich einfach nur übervorsichtig bin, bis sie gestern auftauchten.“

„Ich habe euch nicht verraten“, schwor ich ihm. „Das musst du mir glauben.“

Er schenkte mir ein Lächeln und tätschelte meine Hand. „Ich glaube dir. Vielleicht war es nur Zufall, dass sie hier waren, vielleicht auch nicht. Wir werden es wohl nie erfahren.“

„Manche Zufälle, lassen sich aber auch sehr leicht erklären“, bemerkte Sawyer nonchalant. Er lag neben Killian auf der Schilfmatte, den Oberkörper auf einen Arm gestützt und schien sich von meinem mordlüsternen Blick nicht im Mindesten bedroht zu fühlen.

„Manche aber auch nicht“, sagte ich sehr nachdrücklich. Ich würde ihm den Hals umdrehen, wenn er mit dieser Anspielung nicht aufhörte.

Er öffnete den Mund, wahrscheinlich um uns erneut mit seiner Weisheit zu blenden, aber in dem Moment platzte Salia mit einem „Guck mal Papa, jetzt bin ich ein Streuner!“, aus dem Flugzeug heraus und purzelte fast auch noch die Holzstufen hinunter, womit sie uns allen kollektiv einen Herzinfarkt verpasste. Aber sie fing sich wieder, rannte dann freudestrahlend zu Sawyer und drehte sich mit Wölkchen im Arm, einmal vor ihm im Kreis. „Das hat Azra mir gegeben.“

Sie hatte recht, sie sah aus wie ein Mädchen aus den Ruinen. Das verdreckte Hemd von der Gardistenuniform, war verschwunden. Stattdessen trug sie nun ein langes, sauberes Hemd, zu ihren Schuhen aus Eden. Diese Kleidung war schon ein wenig älter. Kein Wunder, hatte sie doch einst Nikita gehört. Außerdem hatte Azra ihr wohl die Haare und das Gesicht gewaschen.

„Freier Mensch“, korrigierte Sawyer sie sofort. „Es gibt keine Streuner, nur freie Menschen. Wir sind freie Menschen.“

„Freier Mensch“, wiederholte Salia und nickte sehr ernst.

Azra kam in dem Moment auch aus dem Flugzeug, nur viel gesitteter. In ihren Armen trug sie mehrere Holzschüsseln und Stäbchen. „Ich habe euch auch Kleindung herausgelegt“, sagte sie zu unseren Gästen. „Geht nur hinein. Ihr könnt euch waschen und umziehen.“

Sawyer musterte Salias nackte Beine kritisch. „Gibt es denn auch Hosen? Untenrum habe ich es gerne schön warm und kuschelig.“

So wie er vorhin meine nackten Beine angestarrt hatte, als ich aus dem Flugzeug gekommen war, konnte ich das nicht so recht glauben. Nachdem sich die Situation vorhin ein wenig entspannt hatte, war es so ziemlich meine erste richtige Handlung gewesen, die Uniform der Gardisten loszuwerden. Nun trug ich ein einfaches Leinenhemd. Um meine Taille hin an einem Ledergürtel, ein kleines Messer. Es war nur ein kläglicher Ersatz für meine Machete, aber immer noch besser als gar nichts.

Azra schenkte ihm ein Lächeln, als sie die Schüsseln neben die Schilfmatten stellte und sich dann zwischen Balic und Wolf vor den Topf kniete. „Ich habe auch Hosen dazu gelegt. Ihr müsst nur schauen, was euch davon passt.“

Wolf brummte, erhob sich und ging Richtung Flugzeug.

„Azra, du bist meine Heldin“, sagte Sawyer und kam ebenfalls auf die Beine. „Wenn du so weiter machst, dann muss ich dich behalten.“

Azra kicherte, während Killian leise schnaubte.

Auch ich war kurz davor, die Augen zu verdrehen und ihm zu sagen, er sollte nicht so dick auftragen. Für jemanden, der Menschen nicht besonders mochte, war er heute Abend geradezu ein Charmebolzen. Am Besten war es ihn einfach zu ignorieren, das war wahrscheinlich besser für mein Seelenheil.

„Ich will mit“, rief Salia und rannte ihrem Vater hinterher. Kurz vor der Treppe überholte sie ihn und drängelte sich als erstes ins Flugzeug.

„Was ist mit dir?“, fragte ich Killian. „Willst du dich nicht auch umziehen?“

Er zögerte, schenkte mir dann aber ein halbes Lächeln. „Die Uniform trage ich doch erst seit gestern, sie ist noch in Ordnung.“

„Aber so siehst du aus wie ein Tracker“, schimpfte Balic und beugte sich vor, um seinen Standpunkt zu verdeutlichen. „Wir wollen hier keine Tracker.“

„Hör auf zu meckern“, fuhr ich ihn an. „Wenn er sich so wohler fühlt, lass ihn doch. Wir wollen auch nicht, dass du ständig säufst und du tust es trotzdem.“

Jetzt war er beleidigt. Er funkelte mich an und wandte sich dann demonstrativ Azra zu, um ihr dabei zuzuschauen, wie sie in der Suppe rührte.

Neben mir regte Killian sich und stand auf.

„Du musst dich nicht umziehen, nur weil Balic kein Gehirn besitzt.“

„Ist schon in Ordnung“, sagte er, obwohl seine Augen deutlich sagten, dass es nicht in Ordnung war. Er war es nicht gewohnt, so viel Feindseligkeit abzubekommen. In Eden haben die Menschen ihn gemocht und respektiert. Sie waren freundlich zu ihm und wenn sie über ihn sprachen, war es immer positiv. Ich wusste gar nicht mehr, wie oft ich von anderen gehört hatte, was für ein netter Kerl er war. Roxy hatte ihn einmal sogar als erstklassige Sahneschnitte bezeichnet – wobei ich bis heute nicht so genau wusste, was das bedeutete.

Hier jedoch war es völlig egal, was für ein netter Kerl er war, denn er war in Eden geboren und gehörte damit zu unseren Feinden.

Ich wartete, bis er im Flugzeug verschwunden war, dann machte ich meinem Ärger Luft. „Hört ihr endlich auf so scheußlich zu ihm zu sein! Das hat er nicht verdient.“

„Wir haben doch gar nichts gemacht“, sagte Azra und kostete an der Suppe. Dann streute sie noch ein paar Kräuter hinein.

„Ihr schneidet ihn. Habt ihr vergessen, dass er mich erst gestern gerettet hat? Also seid nett.“ Ich wandte mich direkt an Marshall. „Du hast es versprochen.“

„Ich habe versprochen, ihn vorerst nicht zu töten.“

Meine Augen wurden ein kleinen wenig schmaler. Gleich würde ich damit Pfeile verschießen.

Er seufzte. „In Ordnung, wir versuchen netter zu sein.“

„Danke.“ Es klang ziemlich sarkastisch. Dass sie sich so benehmen würden, hätte ich nicht gedacht und wenn sie damit nicht aufhörten, würde ich wirklich verärgert sein. Was glaubten sie denn, was sie mit diesem Verhalten erreichten? Oh Gaia, dabei war ich doch hier die jüngste, die drei sollten es wirklich besser wissen.

Es dauerte gar nicht so lange, bis die Männer nach und nach wieder auftauchten. Sawyer war der erste, der aus dem Flugzeug trat. Seine Schuhe hatte er wieder angezogen, doch ansonsten sah er nun ganz anders aus. Seine Beine steckten in einer alten Lederhose, die ihre besten Zeiten schon lange hinter sich hatte. Dazu trug er ein langärmliges Leinenhemd wie meines, nur dass er seines in die Hose gesteckt hatte. Sein Haar war feucht, als hätte er es sich in der Schüssel gewaschen. Wenn man das zusammen mit den Narben in seinem Gesicht nahm, dann erkannte ich in ihm zum ersten Mal einen Mann aus der freien Welt.

Schon erstaunlich, wie sehr die Kleidung einen verändern konnte.

„Wenn du mich weiter so anstarrst, werde ich dafür Geld verlangen müssen.“ Er fing Salia auf, als diese aus dem Flugzeug stürzte und zum zweiten Mal fast die Treppe heruntergepurzelt wäre.

Ich schnaubte laut und deutlich. „Du bist heute mal wieder ziemlich eingebildet.“

„Erfahrung, Baby, alles Erfahrung.“ Er stellte Salia auf den Boden und ging dann hinter ihr zum Lagerfeuer. Gerade als er sich setzte, erschien Wolf auf der Treppe.

Azra schlug sich die Hand vor den Mund und versuchte ein Grinsen zu unterdrücken. „Ohje.“

Ohje traf es recht gut. Auch sein Haar war feucht, doch das fiel bei dem Rest gar nicht weiter auf. Die Lederhose war zwar zu kurz, passte ansonsten aber recht gut, doch das Hemd … an den Schultern war es so eng, dass ich schon fürchtete, die Nähte könnten jeden Moment platzten. Der Saum war zu kurz, sodass sein Bauch bei jeder Bewegung hervorblitzte und um den Brustkorb herum spannte es.

„Ich glaube, wir müssen dir ein neues Hemd machen“, sagte ich, als er sich wieder zu uns setzte.

Er brummte nur, was ich als „Geht schon“ interpretierte.

„Ich habe noch ein wenig Stoff übrig“, sagte Azra. „Ich werde dir etwas Neues nähen.“

Wieder ein Brummen. Keine Ahnung, was er dieses Mal damit sagen wollte.

„So, das Essen ist fertig“, verkündete Azra. „Wer hat Hunger?“

„Ich!“, kam es sofort von Salia.

Lächelnd füllte Azra eine Schale und reichte sie an die Kleine weiter.

Das Knarren der Treppe machte mich darauf aufmerksam, dass auch Killian zurück war. Er hatte die grüne Camouflageuniform der Tracker abgelegt und stattdessen eine Leinenhose und ein Leinenhemd zu seinen Schuhen angezogen. Um die Taille hatte er sich einen Gürtel geschnallt. Als er meinen Blick auffing, lächelte er scheu und zupfte etwas hilflos an dem Hemd.

Mein Mundwinkel zuckte und ich machte eine Kopfbewegung, damit er sich wieder neben mich setzte.

Er kam der Aufforderung nach und sobald er sich neben mir niedergelassen hatte, sagte ich: „Sieht doch gar nicht so schlecht aus.“

„Es ist ungewohnt.“

Ja, das Gefühl kannte ich. Als ich in Eden angekommen war, hatte ich die Kleidung von den Städtern nicht anziehen wollen, einfach weil sie sich so falsch angefühlt hatte. „Wenigstens ist sie sauber.“

„Hier“, sagte Azra und drückte Sawyer eine Schüssel mit Suppe in die Hand. Die nächste ging an Wolf.

Als sie eine weitere zum Füllen vom Stapel nahm, bemerkte ich, dass sie eine einzelne daneben gestellt hatte. Ich dachte mir nichts dabei, bis sie sie füllte und mit einem Lächeln an Killian reichte.

„Danke“, sagte er und nahm auch die Essstäbchen entgegen. Dann roch er an dem aufsteigenden Dampf. „Das riecht sehr gut.“

„Und es schmeckt auch“, verkündete Balic, der seine Schüssel schon zur Hälfte geleert hatte.

Salia tat sich ein wenig schwer, die Fleischstücke und Gemüseteile mit den Stäbchen aus der Schüssel zu angeln. Währenddessen redete Balic laut über den Fisch, den er gestern gegessen hatte. Marshall hörte nur mit halbem Ohr zu.

„Kismet, Schatz.“

Ich nahm die Schüssel von Azra entgegen und musterte sie. Dann musterte ich Killian und die Schüssel, die sie ihm gegeben hatte und dann wieder Azra. Ihr Lächeln gefiel mir nicht. „Warte“, sagte ich zu Killian und hielt meine Hand über seine Schüssel, als er gerade davon essen wollte.

Er hielt inne und schaute mich fragend an.

„Gib mir die.“ Ohne ihm die Chance auf Widerspruch zu geben, nahm ich ihm die Suppe aus der Hand und gab ihn stattdessen meine Schüssel. „Iss das.“ Dann behielt ich Azra sehr genau im Auge, als ich mit den Stäbchen ein Stück von dem Fleisch aus der Suppe fischte und es mir zum Mund führte.

Zuerst sagte sie nichts, aber kurz bevor das Essen meinen Mund berührte, griff sie hastig nach meiner Schüssel. „Lass das und gib die her.“ Mit verkniffenem Gesicht, riss sie mir die Schüssel aus der Hand.

Hatte ich es doch gewusst. „Azra!“

Sie erhob sich wortlos und marschierte mit meinem Essen aus dem Hangar – vermutlich um es wegzukippen.

Ich schnappte mir ihre Schüssel und begann davon zu essen. Dabei bemerkte ich Killians Blick.

„Sie hat es nicht vergiftet“, versicherte ich ihm sofort. „Wahrscheinlich hat sie Kräuter hineingetan, von denen man Durchfall, oder Bauchschmerzen bekommt, oder sie hat einfach nur hineingespuckt.“

Der Ausdruck in seinem Gesicht wurde verdrossen. Er ließ seine Schüssel in seinen Schoß sinken und starrte ins Feuer.

„Hey.“ Ich stieß ihn leicht mit der Schulter an. „Iss. Du hast seit Tagen nichts Richtiges in den Magen bekommen, du brauchst das.“

Er wirkte nicht, als hätte er noch Appetit.

„Es wird besser werden“, versuchte ich ihn zu trösten. „Sie müssen dich nur erstmal kennenlernen.“

„Sieh es mal so“, mischte sich da Sawyer ein. Er angelte ein Stück Gemüse aus Salias Schüssel und hielt es ihr vor den Mund „Was dich nicht umbringt, macht dich stärker und Stärke kannst du dringend gebrauchen. Dann bemuttert Kiss dich vielleicht nicht mehr wie ihr Küken und nimmt dich als Mann wahr.“

Was bei Gaias Zorn sollte das denn jetzt?

Killian funkelte ihn an. „Sie hat mich bereits als Mann wahrgenommen“, sagte er sehr leise, aber eindringlich. „Du willst es nur nicht wahrhaben, weil du dich dann der Konkurrenz stellen müsstest.“

„Konkurrenz, du?“ Er lachte auf. Dann packte er Killian am Arm und riss ihn zu sich heran.

Killian musste sich mit der Hand auf dem Boden abstützen, um nicht umzufallen, hielt aber still, als Sawyer sich mit einem verschlagenen Lächeln vorbeugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Egal was er da hörte. Es brachte ihn dazu, sich von Sawyer loszureißen, einen kurzen Blick zu mir zu werfen und Sawyer dann verärgert anzufunkeln. „Du bist widerlich.“

„Eifersüchtig?“

Ohne Sawyer weiter zu beachten, nahm Killian sich seine Schüssel und begann zu essen. Dabei starrte er ins Feuer, als hätte es ihn geärgert.

Stirnrunzelnd schaute ich von einem zum anderen. „Was hast du zu ihm gesagt?“

„Nichts weiter.“ Er fütterte Salia ein weiteres Mal. „Ich habe ihn an meinem Erfahrungsschatz teilhaben lassen. Nicht mein Problem, wenn er damit nicht klarkommt.“

Kurz war ich versucht, noch mal genauer nachzufragen, entschied dann aber, dass ich mich nicht in ihren Zwist mit hineinziehen lassen wollte. Stattdessen widmete ich mich meiner Suppe und meinem knurrenden Magen.

Nach zwei Wochen mit wenig bis gar keinem Essen, war das für mich ein richtiges Festmahl. Es schmeckte besser als alles, was sie mir in Eden gegeben hatten und ich genoss jeden einzelnen Bissen.

Als Azra wieder auftauchte, ließ sie den kleinen Zwischenfall unkommentiert. Sie setzte sich einfach nur und begann ihrerseits zu Essen.

Das war es, was ich die letzten Wochen vermisst hatte, einfach mit den Menschen, die mir wichtig waren, am Lagerfeuer sitzen, den Tag ausklingen lassen und ihren Stimmen zu lauschen.

Der Himmel wurde langsam dunkler und die Luft kühlte deutlich ab, doch hier am Feuer blieb es herrlich warm.

Nach dem Essen räumte Azra die Schüsseln und den Topf weg und Balic holte zwei weitere Flaschen mit seinem selbstgebrannten Fusel heraus. Als Azra zurückkam, brachte sie die passenden Becher mit und verteilte sie.

Sobald der Alkohol floss, wurde die Stimmung deutlich ausgelassener.

„Das ist erst das zweite Mal in meinem Leben, dass ich Alkohol trinke“, verkündete Sawyer. Es war sein zweiter Becher und mittlerweile hustete er nicht mehr bei jedem Schluck.

Balic wirkte entsetzt. „In Eden gibt es keinen Schnaps?“

„Nein. Sonst wäre ich da vermutlich dauerbesoffen gewesen.“ Denn er hätte versucht seinen Schmerz zu ertränken.

Ich verstand ihn. Manchmal betäubte einen der Alkohol und wenn man so lange wie Sawyer als Lustobjekt ausgenutzt wurde, konnte das schon ziemlich belastend sein. Irgendwie musste ich ihn schon ein wenig bewundern, er hatte solange durchgehalten. Ich wusste nicht, ob ich dazu fähig gewesen wäre.

Besser ich dachte gar nicht darüber nach.

Ich wollte einen weiteren Schluck aus meinem Becher nehmen, stellte dabei aber fest, dass er leer war. Also beugte ich mich über Marshall zu Balic und nahm die Schnapsflasche an mich.

„Hey!“, beschwerte er sich. „Das ist meine.“

„Du hast noch genug andere.“ Ich kippte den Rest aus der Flasche in meinen Becher und nahm einen tiefen Schluck. Das Gebräu verätzte mir die Schleimhäute und brannte mir die Speiseröhre hinunter, aber in meinem Magen wurde es wohlig warm.

„Der andere Schnaps ist aber noch im Turm“, jammerte Balic.

Der Turm war das einzig halbwegs intakte Gebäude auf dem Gelände und weil Azra die Brennerei nicht beim Flugzeug haben wollte, hatte Balic sie dort untergebracht.

„Dann geh halt hinüber und hol noch etwas“, sagte Azra.

„Aber das ist so weit weg.“ Wenn er wollte, konnte dieser Mann wirklich jämmerlich aussehen. „Und die Flaschen sind so schwer.“

Na gut, dann würde ich mich eben opfern. Ich stellte den Becher und die Flasche zur Seite und wollte gerade aufstehen, als Wolf sich schon erhob und mir bedeutete, sitzen zu bleiben.

„Ist das für dich in Ordnung?“

Wolf nickte.

Wenn er es so wollte, bitte. Ich würde mich sicher nicht um diese Arbeit reißen. „Wolf wird dir helfen“, sagte ich zu Balic. „Los, hoch mit dir, er kennt den Weg nicht.“

Balic grummelte kurz, kam dann aber schwerfällig auf die Beine. Er wankte schon leicht. „Na dann mal los, mein Großer.“

„Wenn er unterwegs stürzt“, rief ich ihnen beim Hinausgehen hinterher, „lass ihn einfach liegen. Wir heben ihn dann morgen wieder auf.“

Marshall lachte leise. Kleine Fältchen zeigten sich um seine Augen. „Sei nicht immer so gemein zu ihm.“

„Aber das erwartet er von mir.“ Und ich wollte ihn ja nicht enttäuschen. Ich schaute zu Killian. „Du hast noch nie Alkohol getrunken, oder?“

„Nein.“ Er schwenkte die Flüssigkeit in seinem Becher. Ich hatte ihn ein paar Mal daran nippen sehen, aber wirklich schmecken tat es ihm wohl nicht. „Alkohol ist Gift und macht abhängig. Solche Substanzen sind in Eden verboten.“

„Und was macht ihr dann um Spaß zu haben?“, wollte Azra wissen.

„Fight Car Racing“, sagte ich, während Sawyer „Vögeln“ raushaut.

Killian verzog das Gesicht, als hätte er Schmerzen.

Marshall lachte leise. „Das tun wir doch alle gern, wenn wir ein wenig Spaß haben wollen.“

Ich enthielt mich eines Kommentars, da ich noch genau wusste, wie Marshall reagierte, wenn er glaubte, es gäbe Männer, die sich für mich interessierten. Wahrscheinlich vermutete er, dass ich bereits Sex gehabt hatte, aber ich wollte dieses Thema nicht vertiefen und das lag nicht nur daran, dass hier gerade zwei Männer saßen, mit denen ich herumgeknutscht hatte.

Zum Glück wechselte das Thema recht schnell wieder und als Balic und Wolf mit dem Nachschub zurückkamen, wurde es richtig ausgelassen. Wolf trug zwei volle Kisten in die Vorhalle, Balic nur eine einzelne Flasche.

Der Abend ging noch lang und es erstaunte mich zu sehen, wie einfach Sawyer sich einfügte. In Eden war er immer sehr derb und frostig zu seinen Mitmenschen gewesen.  Er konnte sogar richtig grausam sein. Hier war er ganz anders.

Natürlich war er immer noch Sawyer und das würde er wahrscheinlich auch immer bleiben, doch er wirkte viel zugänglicher, geradezu gesellig.

Balic und Sawyer unterhielten uns mit lustigen Geschichten und auch ich steuerte die eine oder andere bei. Wolf schien sich sehr gut zu amüsieren. Nach einiger Zeit hatte er ganz rote Wangen vom Alkohol und er lachte viel. Auch er steuerte eine Geschichte bei, die er Aufschrieb und von Sawyer vorlesen ließ.

Killian dagegen war die ganze Zeit sehr ruhig und das lag nicht nur an der Erschöpfung, die auch ich langsam spürte. Doch auch ihn sah ich das eine oder andere Mal lächeln.

Nur einer in unserer Runde, schien nicht recht in Feierlaue zu kommen. Marshall war ungewohnt still. Zum Teil lag es wohl daran, dass er wegen Killians Anwesenheit noch immer ein wenig verstimmt war, aber es war weit mehr als das. Er nippte immer wieder an seinem Becher und schien dabei sehr nachdenklich. Ich hatte keine Ahnung, was in seinem Kopf vor sich ging und es schien mir auch nicht der passende Moment, um danach zu fragen. Vielleicht bildete ich mir ja auch nur etwas ein und alles war in bester Ordnung. Ich würde ihn einfach morgen danach fragen, wenn sich alles ein wenig beruhigt hatte.

Es war ein schöner Abend. Das Einzige, was meine Stimmung hin und wieder ein wenig drückte, waren die Gedanken an Nikita, die sich ungebeten in mein Hirn schlichen. Sie fehlte hier, ohne sie war es einfach nicht dasselbe. Wahrscheinlich würde ich noch eine ganze Weile brauchen, um damit klarzukommen und meine neue Realität zu akzeptieren.

Die erste, die schlapp machte, war Salia. Sie rollte sich wie eine Katze auf Sawyers Schoß ein und entschwand in ihre Träume. Ihr Vater hielt nur wenig länger durch. Er vertrug nicht viel Alkohol und so verabschiedete er sich als erstes, brachte die Kleine mit meiner Hilfe ins Flugzeug und kuschelte sich zusammen mit ihr auf eines der Lager, die Azra bereits für unsere Gäste im Wohnraum vorbereitet hatte.

Killian war der Nächste. Ich schickte ihn ins Bett, als er neben mir einzuschlafen drohte und gab ihm Nikitas Lager. Sie war schließlich nicht hier, sie würde es also nicht brauchen.

Als ich mich wieder zu den anderen ans Lagerfeuer gesellte, lachte Wolf gerade dröhnend über etwas, das Azra gesagt hatte. Der Mann hatte ein tiefes Lachen, das ansteckend war.

Ich blieb noch eine ganze Weile bei ihnen sitzen, lauschte den vertrauten Stimmen und den bekannten Geschichten, während Balic und Wolf versuchten sich gegenseitig in den Boden zu trinken. Doch irgendwann kam der Punkt, an dem ich merkte, dass ich gerne ein wenig allein sein wollte. Ich liebte diese Menschen, aber die Einsamkeit war ein Freund und den vermisste ich. Also erhob ich mich, schaute noch kurz nach Trotzkopf, der friedlich in seinem Pferch schief und machte mich dann auf dem Weg zum Sichtschutz.

„Wo willst du hin?“, fragte Marshall, als er es bemerkte.

„Na wo wird sie um diese Zeit wohl hinwollen?“, antwortete Azra an meiner Stelle. „Sie geht zu ihrer Brücke, so wie sie es jeden Abend tut.“

Marshall schien das nicht zu gefallen. Wahrscheinlich, weil der Schrecken darüber, dass die Tracker gestern hier aufgetaucht waren, noch immer gegenwärtig war. Trotzdem sagte er: „Mach nicht zu lange. Und pass auf dich auf.“

„Mir wird nichts passieren“, versprach ich und tätschelte sichtbar für ihn, das Messer an meinem Gürtel. Dann schlüpfte ich ins Freie.

Die Nacht war kühl, aber angenehm. Am klaren Himmel funkelten die Sterne und überstrahlten das diffuse Licht des Mondes.

Ich atmete einmal tief durch, bevor ich mich nach links wandte, wo ein Pfad um den Hangar herum, zur Rückseite des eingefallenen Gebäudes führte.

Je weiter ich mich entfernte, desto mehr verklangen die Stimmen der anderen und schon bald umfing mich die herrliche Stille der Nacht. Wobei die Nacht gar nicht so still war. Da war das Rauschen des Windes und das Rascheln der Natur. Irgendein kleines Wesen huschte durchs Gestrüpp und suchte eilig das Weite, als ich an ihm vorbei ging.

Der Pfad führte mich zu einer alten Straße, die kaum noch zu erkennen war. Gras und Unkraut hatten den Asphalt brüchig werden lassen und zu einem Großteil unter sich begraben. Nur stellenweise sah man noch, was hier einst von Menschenhand geschaffen worden war.

Ich musste nur ein paar Minuten der Straße folgen, dann kam ich zu einer alten Brücke, die sicher schon vor Jahrzenten dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen war. Bis auf die Randteile, war die Brücke in sich zusammengefallen und kaum mehr als Trümmer am Boden der Senke, die sie eins überspannt hatte.

Wofür diese Senke einst gedacht war, ließ sich heute nur noch schwer sagen. Sie führte kein Wasser und barg kaum mehr als Gräser, Unkraut und die Fragmente der Brücke.

Ich setzte einen Fuß vor den anderen, bis ich an der Bruchkante der Brücke stand. Dort schlang ich die Arme um mich, schloss die Augen und atmete tief ein, während die Nacht ihren Griff um mich festigte.

Ich war Zuhause. Endlich, nach Wochen der Gefangenschaft und Schikane, hatte ich den Weg nach Hause gefunden und konnte das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit wieder frei atmen.

Ein Gefühl der Ruhe überkam mich. Mein ganzer Körper schien erleichtert aufzuatmen und die ganze Anspannung begann einfach von mir abzufallen.

Meine Augen öffneten sich wieder und schauten hinauf zum Sternenmeer. Wie oft ich genau das in Eden getan hatte, wusste ich nicht mehr, aber nie hatte es sich so gut angefühlt, wie in diesem Moment. Das hier war die wahre Freiheit und das war es, was ich brauchte, damit meine Seele frei atmen konnte.

 

oOo

Kapitel 07

 

Ein Seufzen, gefolgt von raschelndem Bettzeug. Ich versuchte es zu ignorieren, genau wie das darauffolgende Herumwälzen eines großen Männerkörpers. Nein, ich würde die Augen nicht wieder öffnen. Ich war völlig erledigt und wollte nichts weiter tun, als zurück in den Schlaf zu finden und mich meiner wohlverdienten Nachtruhe hinzugeben. Doch dann begann die Geräuschkulisse von vorne. Das war ja schlimmer als das leise Schnarchen von Balic aus der Ecke.

Nachdem mein Bettnachbar das dritte Mal versuchte eine bequeme Lage auf der alten Strohmatte zu finden, schlug ich genervt die Augen auf und sah einen Moment nichts anderes als Dunkelheit.

Ich lag auf meinem Lager, im hinteren Teil der Boeing. Genau wie die Lager der anderen, bestand es aus vertrockneten Gräsern und Stroh, umwickelt und zusammengehalten von Leinenlaken. Ein Flickenteppich aus Tierfellen war darüber ausgebreitet und hielt auch in den frostigsten Nächten die Bodenkälte von mir fern. Meine Decke bestand aus Leinen, weil es für die Felldecke einfach noch zu warm war.

Neben meinem Lager stand eine Kiste, in der ich meine persönlichsten Dinge aufbewahrte. Sie trennte mich von dem nächsten Lager, dem, in dem eigentlich Nikita liegen sollte. Aber Nikita war nicht hier und würde auch nie mehr zurückkommen. Darum hatte ich es Killian gegeben. So konnte ich ein Auge auf ihn haben. Außerdem kam mir der Platz so nicht so leer vor.

Alle unsere Lager waren mit einigem Abstand zueinander, nebeneinander aufgereiht, nur getrennt durch die Kisten, mit unserem persönlichen Hab und Gut. Der Boden, die Wände und sogar die Decke, waren mit den Pelzen kleinerer Tiere verkleidet. So blieb es auch im Winter immer angenehm warm.

Wieder raschelte es neben mir.

In der nächtlichen Dunkelheit des Flugzeugs, konnte ich nur ein paar schlafende Schemen ausmachen. Da war Balic, ganz am anderen Ende der Reihe. Marshall und Azra folgten ihnen. Sawyer, Salia und Wolf schiefen vorne im Wohnraum des Flugzeugs. Azra hatte ihnen dort ihre provisorischen Lager bereitet, weil in der Schlafkammer nicht genug Platz für sie war. Wir würden umbauen müssen, um sie hier unterbringen zu können.

Ob alle bereits schiefen wusste ich nicht, jedenfalls hatte es keiner von ihnen geschafft, mich wieder aufzuwecken. Ganz anders Killian, der sich ein weiteres Mal auf der alten Matratze von Nikita herumwälzte, als könnte er keine bequeme Position finden.

„Kannst du nicht schlafen?“, fragte ich ihn leise. Nur weil er mich am Schlafen hinderte, musste ich das noch lange nicht mit den andern tun, indem ich ihn anschnauzte.

Er stockte einen Moment und atmete dann leise aus. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken.“ Seine Hand ging zu seinem Gesicht, als er sich die Augen rieb. „Es ist nur … das alles ist so fremd.“

Das Gefühl kannte ich. „Du hast die letzten Wochen auch schon in der Fremde geschlafen.“ Wenn auch nicht sehr gut, wie ich zugeben musste. Meistens hatte ihn seine Erschöpfung irgendwann zur Ruhe gezwungen, aber ich wusste aus eigener Erfahrung, dass das selten guten Schlaf bedeutete.

Er schwieg einen Moment. „Ich glaube, ich vermisse einfach mein Bett.“

Wahrscheinlich war das nur eine Kleinigkeit, in Gegensatz zu dem, was ihm wirklich fehlte.

Als ich Killian kennengelernt hatte, war er durch und durch ein Stadtmensch gewesen. Zwar hatte er mal Tagesausflüge in die Ruinen der freien Welt unternommen, aber das war nur zur Zerstreuung gewesen. Sein Leben fand in Eden statt. Dort waren seine Freunde, seine Familie, seine Berufung. Für ein Leben hier draußen, war er einfach nicht gemacht. Und trotzdem hatte er alles fortgeworfen, um mich zu retten.

Bisher hatte ich noch nicht allzu genau darüber nachgedacht. Ich wollte nicht wissen was es bedeutete, weil ich mich dann damit auseinandersetzen müsste. Was wenn mir die Antworten auf meine Fragen nicht gefielen? Und was, wenn sie es doch taten?

Vielleicht lag es an der Dunkelheit, oder daran, dass ich zu müde war um klar denken zu können, doch mit einem Mal fühlte ich mich mutig genug, um der Sache genauer auf den Grund zu gehen. „Warum hast du es gemacht“, fragte ich ihn leise. „Warum hast du mich gerettet? Du hättest mich bei den Trackern lassen und zu ihnen zurückkehren können. Ich weiß, dass du nicht hier sein willst, du willst zurück nach Eden.“

„Das habe ich dir doch schon gesagt, weil du in Eden nicht glücklich warst.“

Ja, das hatte er, aber das war es nicht, was ich wissen wollte. „Dann sag mir, warum ist es dir wichtig, dass ich glücklich bin. Keinen anderen Menschen in Eden hat es interessiert, wie ich mich fühle. Nur dich.“

Eine lange Zeit starrte er einfach nur an die Decke. Zwischendurch fragte ich mich schon, ob er nun doch eingeschlafen war, doch dann drehte er den Kopf in meine Richtung. „Weil du mir wichtig bist“, sagte er sehr leise.

„Warum?“, fragte ich ihn genauso leise. „Du kennst mich doch kaum und meistens war ich nicht besonders nett zu dir gewesen.“

Seine Zähne blitzen in der Dunkelheit auf, als er lächelte. „Ich an deiner Stelle wäre auch nicht nett zu mir gewesen.“ Das Lächeln verblasste. „Weißt du, hätte ich mehr Zeit gehabt, dann … also, ich wollte eigentlich … ich meine …“

Ein lauter Schnarcher von Balic zerriss einen Moment die Ruhe und ließ Killian verstummen.

„Was wolltest du eigentlich?“, fragte ich, als wäre nichts geschehen. Auch wenn mein Herz ein wenig schneller schlug, ich wollte wissen, was er hatte sagen wollen. Vielleicht gerade, weil mein Herz einen Takt zugenommen hatte.

Er drehte den Kopf kurz zu Balic, bevor er sich wieder mir zuwandte. „Ich bin mir nicht sicher, ob du schon bereit dafür bist, das zu hören“, sagte er sehr leise. „Und ich will dich nicht verschrecken, darum … vielleicht sollten wir das ein anderes Mal klären.“

Dieser Stich, den ich da verspürte, war keine Enttäuschung. Warum auch? Das wäre ja albern. „Ich kann dir versichern, dass mich gar nichts schreckt.“

„Doch.“ Dieses Mal war seine Stimme so leise, dass ich sie kaum hören konnte. „Diese Sache wird es tun.“

„Warum glaubst du das?“

„Weil du mir nicht vertraust.“ Seine Stimme war sanft, ohne jeden Beiklang von Vorwurf.

So war es immer mit ihm. Selbst wenn ich ihn angeschrien und beleidigt hatte, war er immer ruhig geblieben. Ich hatte nur einmal erlebt, dass dieser Mann aus seiner ruhigen Fassade hervorgebrochen war und da war es um seine Mutter gegangen. Es gab eine Gruppe in Eden, die es befürwortete, dass Menschen, die für die Gesellschaft keinen Nutzen mehr brachten, einfach hingerichtet wurden.

Killians Mutter war eine Eva – natürlich war sie das, jeder Bewohner in Eden stammte von einer Eva und einem Adam ab. Olive war jedoch eine ganz besondere Eva, denn sie war Geisteskrank und musste daher von ausgebildetem Personal betreut werden. Sobald sie also keine Kinder mehr bekommen konnte, weil sie einfach irgendwann zu alt dafür war, würde sie eine Belastung ohne nutzen sein.

Ein Mann dieser Gruppe hatte sich dafür ausgesprochen, Olive nach der Geburt ihrer letzten Kinder, von ihrem Dasein zu erlösen. Zu seinem Pech hatte er das vor Killian getan. Der war ausgerastet und hatte den Mann niedergeschlagen.

Ich konnte es ihm nicht verübeln. Dieses Prinzip war einfach nur krank, aber leider war die Gesellschaft von Eden nun einmal so. Darum musste ich mich auch so weit wie möglich von diesem Ort und seinen Menschen, fernhalten.

„Da du mir nicht widersprichst, liege ich mit meiner Annahme wohl richtig“, sagte Killian leise in meine Gedanken hinein.

Ich brauchte einen Moment, um mich wieder daran zu erinnern, worüber wir eben gesprochen hatten und als ich mich erinnerte, wusste ich nicht so recht, was ich sagen sollte. Eigentlich sollte es mir egal sein was er dachte und fühlte. Ich sollte ihm einfach mitten ins Gesicht knallen, dass er recht hatte. Natürlich vertraute ich ihm nicht – nicht so wie er es wollte. Wie könnte ich auch? Vielleicht war er nicht die treibende Kraft hinter meiner Gefangenschaft gewesen und ja, er war auch immer nett, aber er hatte sich auch nie gegen das System zur wehr gesetzt.

Am besten war es wohl, ich beendete das Gespräch an dieser Stelle. Ich war müde und mein Hirn funktionierte nur auf Sparflamme. Wer wusste schon, was da noch aus meinem Mund herauskam, wenn ich einfach weiterredete. „Schlaf jetzt“, forderte ich ihn auf.

„Ich werde es versuchen“, versprach er.

Das tat er auch. Doch nach fünf Minuten drehte er sich wieder. Er versuchte dabei leise zu sein, doch ich hörte es trotzdem. Stroh raschelte eben, selbst dann, wenn es mit Stoff und Fell bedeckt war.

Seufzend richtete ich mich auf, schnappte mir meine Decke und krabbelte zu Killian hinüber.

„Tut mir …“

„Sei still.“ Ohne jede weitere Erklärung, streckte ich mich neben ihm aus, deckte mich zu und missbrauchte seine Schulter als Kopfkissen.

„Was …“

„Du sollst still sein“, murmelte ich und begann mich mit einem tiefen Atemzug zu entspannen. Die Idee hinter meinem Tun? Wenn ich halb auf ihm drauf lag, dann würde er vielleicht endlich still liegen bleiben, wenn auch nur um mich nicht wieder wach zu machen. Bei Gaias Güte, ich würde mich sogar auf ihm drauf drapieren, wenn er dann nur endlich mit dem Herumwälzen aufhörte.

Außerdem hatten wir das auf unserem Weg hier her schon ein paar Mal tun müssen, wenn die Nächte zu kalt geworden waren, um alleine zu liegen. Es war also nichts Neues für mich.

Es klappte, für ganze zwei Minuten. „Darf ich dich etwas fragen?“

Bei den Abgründen in Gaias Reich, gleich würde ich ihm etwas in den Mund stopfen. „Wenn du mich dann endlich schlagen lässt.“

„Du und Marshall, ihr wirkt gar nicht wie ein Liebespaar.“

Das beschäftigte ihn ausgerechnet jetzt? „War das eine Frage?“

„Ich kann es auch umformulieren.“

Dann würde ich wahrscheinlich niemals zum Schlafen kommen. „Wir sind kein Liebespaar, waren es nie und werden es auch nie sein. Marshall ist mein Mentor.“ Als Ersatzvater hatte ich ihn nie akzeptieren können, weil er ganz anders war, als mein leiblicher Vater.

„Aber in Eden hast du gesagt …“

„Nein, du hast es nur angenommen“, unterbrach ich ihn, um dieses Gespräch zu verkürzen. „Ich habe nur einfach nicht widersprochen.“ Denn hätte ich das getan, hätte ich ihm noch viel mehr erzählen müssen und das war überhaupt nicht in Frage gekommen. Schon dass er von Marshall wusste, war eigentlich zu viel gewesen.

Einen Moment blieb er still. Dann fragte er leise: „Das heißt also, du hast keinen … Mann?“ Das letzte Wort kam zögernd, so als wüsste er nicht, was die richtige Bezeichnung war.

Ach bitte, ich wollte doch einfach nur schlafen. „Es gab zwei Männer in meinem Leben. Der eine ist ein fahrender Händler und der andere ein sehr charmanter Fremder.“ Ich kuschelte mich etwas enger an Killian. „Und jetzt sei endlich still, ich bin müde.“

Ein tiefer Atemzug hob seine Brust. „Schlaf gut“, flüsterte er und legte seinen Arm um meinen Rücken.

Ich kuschelte mich enger an ihn, seufzte noch einmal aus tiefstem Herzen und gab mich endlich meinen wohlverdienten Träumen hin.

 

oOo

Kapitel 08

 

„Hey, mach endlich Platz, sonst bekommst du gar nichts.“

Natürlich ließ Trotzkopf sich von dieser Drohung nicht einschüchtern, was es für mich nicht gerade leichter machte, in seinen Pferch zu kommen. So ein sechshundert Kilo Geschöpf zur Seite zu schieben, wenn es sich nicht bewegen wollte, war beinahe unmöglich. Und wenn sich diese sechshundert Kilo gegen das Gatter stemmten, ließ es sich nicht öffnen.

Kurzerhand nahm ich eine Handvoll von seinem Futter und warf es in die hinterste Ecke des Pferchs. Trotzkopf lief zwar nicht hinterher – wahrscheinlich, weil er es für unter seiner Würde empfand – aber er bewegte sich zumindest so weit, dass ich hinter den Zaun schlüpfen konnte. „Sturer Esel.“

Er blökte mich an, beleidigt, dass ich ihn einen Esel genannt hatte.

Super, jetzt unterstellte ich ihm schon menschliches Denken. Manchmal war mir wirklich nicht mehr zu helfen. „Wegen dir werde ich noch dem Wahnsinn verfallen“, knurrte ich und drängte mich an ihm vorbei, um sein Futter in die Ecke zu kippen.

„Na, führst du jetzt schon Selbstgespräche?“

Ertappt schaute ich über die Schulter zur Luke der alten Boeing. In der verbeulten Öffnung stand mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen Marshall.

Eigentlich hatte ich mich ja nach draußen verzogen, um niemanden zu stören. Als ich die Augen geöffnet hatte, lagen alle anderen noch in einem tiefen Schlummer. Kein Wunder, wenn man bedachte, was sie gestern Abend alles in sich hineingeschüttet hatten.  „Ich erkläre Trotzkopf nur gerade, wie unterbelichtet er ist.“

Marshall schaute zu, wie dieses undankbare Trampeltier mich zur Seite schubste, um an sein Futter zu kommen. „Ich glaube, das ist ein aussichtsloses Unterfangen.“

Die alten Holzstufen knarrten ächzend und stöhnend, sobald sie Marshalls Gewicht auf sich spürten. Er selber gab ganz ähnliche Geräusche von sich, als er in die Mitte zur ausgebrannten Feuerstelle ging und sich auf den Schilfmatten niederließ. „Hast du einen Moment Zeit? Ich würde gerne mit dir reden.“

„Oh oh, das hört sich gar nicht gut an.“

Das erhoffte Lächeln blieb aus. Stattdessen wurde Marshall sehr ernst und tätschelte die Schilfmatte neben sich. „Setzt dich zu mir.“

Wie es schien, ging es wirklich um etwas Ernstes. Wahrscheinlich würde mir nicht gefallen, was er zu sagen hatte. Trotzdem kam ich aus dem Pferch, versicherte mich zwei Mal, dass er richtig verschlossen war und stellte dann die Futterkiste zurück an ihren Platz. Erst danach ging ich zu ihm und ließ mich neben ihn in den Schneidersitz sinken. „Was ist los?“

Er antwortete nicht sofort, schien erst überlegen zu müssen, was genau er sagen wollte. „Als du gestern mit deinen Reisegefährten hier aufgetaucht bist, waren wir gerade dabei gewesen, unsere Sachen zu packen. Eigentlich wollten wir heute gehen.“

„Gehen?“ Ich runzelte die Stirn. „Wohin?“

Wieder überlegte er, bevor er den Mund öffnete. „Wir können nicht hierbleiben. Die Gefahr, dass die Tracker noch einmal hier auftauchen, ist einfach zu groß. Das letzte Mal hatten wir Glück, das nächste Mal, werden wir vielleicht nicht so glimpflich davonkommen.“

Bei diesen Worten wurde mein Herz schwer. Er sprach davon unser Zuhause zu verlassen und niemals wieder hierher zurückzukehren.

Ich ließ den Blick durch unsere kleine Vorhalle gleiten, über den großen Webstuhl, die Kisten und Säcke und vollen Regale. Ich sah zu den Stützbalken und den Pferch, in dem Trotzkopf zufrieden sein Frühstück verspeise und ein Stich des Kummers durchbohrte mich.

Das hier war zehn Jahre meines Lebens mein Heim gewesen. Ich hatte hier geschlafen und gegessen und gefeiert. Hier hatte ich schwere Zeiten durchlebt und glückliche Momente erfahren. Ich hatte für diesen Ort gearbeitet, ihn mit aufgebaut und gepflegt. Aber nun würde ich all das zurücklassen müssen, weil Eden noch immer seinen Schatten über mich warf. Und nicht nur über mich. Solange die anderen bei uns waren, würden die Tracker uns suchen und jagen. Sie würden uns nicht gehen lassen. Marshall hatte recht, wir konnten nicht hierbleiben und dieses Wissen tat weh.

„Kismet.“ Marshall legte mir eine Hand aufs Knie. „Verstehst du was ich dir sagen will?“

„Ja.“ Ich nickte. „Die Tracker sind eine Gefahr, darum müssen wir hier weg.“ Auch wenn mein Herz schwer war, so versuchte ich mich an einem Lächeln. „Aber keine Sorge, wir kriegen das schon hin. Wir suchen uns einfach etwas Neues, weit weg von Eden. Und dieses Mal bekommt Balic sein eigenes Zimmer, damit er uns nachts nicht mehr mit seinem Schnarchen den Schlaf rauben kann.“ Allerdings würden wir uns beeilen müssen. Der Herbst war bereits im Anmarsch. Die Tage würden schnell kürzer und die Temperaturen kühler werden.

„Du verstehst nicht was ich sagen will.“ Aus irgendeinem Grund, wurden seine Auge tieftraurig. „Ich weiß was du alles hinter dir hast und ich weiß auch, dass du dir nichts sehnlicher wünschst, als in dein altes Leben zurückzukehren.“

Warum nur ließen seine Worte mich innerlich frösteln? „Aber?“

„Aber …“ Er schloss den Mund und fuhr sich auf eine nervöse Art durch die Haare, bei der sich mir alles zusammenzog. „Wir können nicht zusammen reisen.“

Leerlauf. Nach diesen Worten war ich einen Moment gar nicht fähig, auch nur einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen. Und als ich es wieder konnte, lag mir nur ein einziges Wort auf der Zunge: „Was?“

„Es tut mir leid, aber dich bei uns zu behalten, ist einfach viel zu gefährlich. Sowohl für dich, als auch für uns. Besonders mit deinen Reisegefährten.“

Das war wie Verrat. Nein, diese Worte aus seinem Mund zu hören, war noch viel schlimmer. Es zerriss mir beinahe das Herz „Das heißt … du schickst mich fort?“ Ich hörte mich wie ein kleines Kind an. Meine Stimme war so dünn und brüchig, dass sie selbst in meinen Ohren völlig falsch klang.

„Kismet, du musst verstehen, Eden wird dich nicht so einfach ziehen lassen.“ Er drückte mein Knie und versuchte einen vernünftigen Ton anzuschlagen. „Du hast die Tracker vielleicht erstmal abgehängt, aber sie werden sicher nicht so einfach aufgeben. Wenn du in unserer Nähe bleibst … versteh mich nicht falsch, ich will dich nicht wegschicken, das würde ich niemals wollen.“

„Aber du wirst es tun.“ Meine leisen Worte waren kaum ein Flüstern.

„Es ist sicherer. Sowohl für dich, als auch für mich.“

„Sicherer?“ Gleich würde ich entweder anfangen zu heulen, oder zu schreien und im Moment war ich mir nicht sicher, was von beidem mir lieber war.

Er wich meinem Blick aus, drückte die Lippen zusammen und schien um Worte zu ringen. „Versteh mich doch bitte. Du hast einen Städter in unser Versteck gebracht, den Feind.“

„Killian würde nie …“

„Sawyer und seine Tochter sind auch wie ein Magnet für die Tracker“, sprach er einfach weiter, ohne mich ausreden zu lassen. „Eden ist nach wie vor hinter euch her. Vor zwei Tagen erst, haben sie dich wieder in ihre Gewalt gebracht. Es tut mir leid, dir das zu sagen, aber ich will deinetwegen nicht in ihr Fadenkreuz geraten.“ Er schaute mich flehentlich an, ich sollte ihn doch verstehen. „Ich muss meine Familie beschützen. Sie sind alles was ich habe und außer mir gibt es niemanden, der das tun kann.“

„Und ich gehöre nicht zu deiner Familie?“, fragte ich leise. „Wer beschützt mich?“ Dass ich wie ein kleines, weinerliches Kind klang war mir völlig egal. Marshall riss mir gerade den Boden unter den Füßen weg. Es brauchte nur noch einen kleinen Stoß und ich würde haltlos in den Abgrund stürzen. Und es würde niemand da sein, der mich auffing.

„Du wirst nicht allein sein. Du hast drei Männer an deiner Seite, die auf dich aufpassen können. Du bist stark und schlau, du wirst es schaffen, das weiß ich.“

Meinte er das wirklich so, oder sagte er das nur, um sein eigenes Gewissen zu beruhigen? „Das kann nicht dein Ernst sein.“

Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und öffnete ihn noch mal. „Du bist für mich wie meine Tochter und Kinder werden flügge.“ Seine Hand löste sich von meinem Bein, als würde er den Kontakt zu mir nicht länger aushalten. Er begann mit den Fingern aneinander herumzuknibbeln. Eine Angewohnheit, der er immer verfiel, wenn er nervös oder unzufrieden war. „Früher oder später hättest du das Nest so oder so verlassen. Und jetzt ist es einfach so weit. Es ist an der Zeit getrennte Wege zu gehen. Das ist das Beste für uns beide.“

Fast hätte ich gelacht. „Das ist die dümmste Erklärung die jemals deinen Mund verlassen hat.“

„Kiss …“

„Nein!“ Ich wollte aufstehen und ihn einfach sitzen lassen, wollte weg von ihm, doch er packte mich am Arm und zwang mich damit bei ihm zu bleiben. „Es tut mir leid, dass es so ist, aber es muss sein.“

Ich konnte es nicht fassen. All die Strapazen die ich auf mich genommen hatte, der Ausbruch aus Eden, der Marsch hier her, die Flucht vor den Trackern … alles umsonst. „Die ganzen Wochen in Eden … die ganze Zeit hat mich nur ein Gedanke durchhalten lassen. Ich wollte an diesen Ort zurück, nach Hause und zu dir. Ich habe alles riskiert, um wieder bei euch zu sein und du schickst mich jetzt einfach weg!“

„Ich wünschte, ich müsste es nicht tun, aber …“

„Du musst es nicht tun, du willst es!“, fauchte ich ihm ins Gesicht und riss mich von ihm los. Ich sprang auf die Beine und wich vor ihm zurück, denn ich konnte keinen Moment länger neben diesem Mann sitzen bleiben, der plötzlich wie ein Fremder war. „Du willst das ich verschwinde, du willst mich nicht länger in deiner Nähe haben!“

„Das ist nicht wahr.“

„Ach nein? Du hast Angst vor der Gefahr? Schön, damit kann ich leben, aber was du hier tust, ist falsch und du weißt es!“

„Natürlich habe ich Angst. Jeder vernünftige Mensch hätte das an meiner Stelle. Auch du solltest Angst haben, nur ein Dummkopf würde sich nicht fürchten.“ Er kam auf die Beine, drehte sich von mir weg, strich sich über den Bart und drehte sich wieder zurück. „Ich werde Azra und Balic noch heute dazu anhalten, ihre Sachen zu packen und anschließend werde ich sie von hier wegbringen – weit weg.“

Nein, nein, nein, so durfte das nicht enden. „Aber … wenn du sowieso gehst, warum kann ich dann nicht einfach mit euch mitkommen?“

„Und deine Reisegefährten? Der Städter?“ Das letzte Wort spie er wie ein Schimpfwort aus.

Ich blieb stumm. Was hätte ich auch sagen sollen? Marshall würde Killian niemals mitnehmen und ich konnte ihn nicht einfach zurücklassen. Ich war für ihn verantwortlich. Sawyer und Wolf würden es auch ohne meine Hilfe schaffen, aber Killian? Niemals.

„Ich werde dir nicht sagen, was du zu tun hast“, fuhr er fort. „Ich weiß, dass du das Richtige tun wirst.“

Langsam verwandelte meine Verzweiflung sich in Zorn. Zorn war auf jeden Fall besser als gleich in Tränen auszubrechen. „Du hast mir immer noch keinen guten Grund genannt, warum ich euch nicht begleiten kann!“

„Doch habe ich, mehrere sogar. Aber wenn du es noch deutlicher willst: Balic ist alt, er ist langsam und er wird sehr schnell erschöpfen. Wenn die Tracker dir folgen, werden sie uns nicht folgen und ich gewinne damit genug Zeit, ihn und Azra in Sicherheit zu bringen. Sie werden euch jagen, weil sie euch haben wollen, nicht uns. Außerdem wird der Städter so nicht erfahren, wo wir sind.“

„Er heißt Killian!“, fauchte ich, wütend darüber, dass er mich als Lockvogel benutzen wollte, um sich selber in Sicherheit zu bringen. „Und im Gegensatz zu dir würde er mich niemals im Stich lassen! Er hat mir in Eden beigestanden und mich von den Trackern weggeholt, etwas das du niemals tun würdest!“

Marshalls Mimik wurde völlig ausdruckslos. „Ich habe dich und Nikita gerettet, als ihr alleine und verloren wart. Ich habe euch wie meine Töchter aufgenommen und jahrelang versorgt. Ich habe euch viele Jahre beschützt und gezeigt, wie ihr Überleben könnt. Ich habe dich nie im Stich gelassen, ich bin dir nichts schuldig.“

Hinter uns knarrte die Treppe. Sawyer war mit Salia auf dem Arm nach draußen getreten und beobachtete uns still.

Keiner von uns beachtete ihn.

„Du hast mich im Stich gelassen!“, schrie ich ihm ins Gesicht. „Du saßt in deinem Versteck und hast zugelassen, dass die Tracker mich gefangen nahmen und jetzt lässt du mich schon wieder im Stich!“

Nun kochte auch in Marshall der Ärger hoch. „Du bist doch selber schuld!“, warf er mir vor. „Du hast nicht hören wollen! Ich habe dir gesagt, geh nicht zu den Trackern! Ich habe dich angefleht nicht zu gehen, weil es zu gefährlich ist, aber du musstes ja deinen Kopf durchsetzen!“

Ach so wollte er es jetzt haben? Bitte, dann würde ich ihm jetzt ordentlich den Kopf waschen. „Falsch, das alles ist deine schuld! Mit deinem Scheißgerede von Schmetterlingen, die ihre Freiheit brauchen!“

Seine Augen blitzten wütend. „Du redest Unfug!“

„Nein, tue ich nicht, du bist nur zu dumm, um die Wahrheit zu erkennen!“

„Pass auf was du sagst“, knurrte er.

Ich ignorierte das. Die Wut und Verzweiflung über diesen Verrat, brach einfach aus mir heraus. „Du hast Nikita an diesem Morgen gehen lassen, nicht ich, das warst du! Ich wollte, dass sie beim Flugzeug bleibt, aber du musstest dem kleinen, unbedarften Schmetterling ja fliegen lassen!“

„Ich konnte doch nicht wissen, dass die Tracker sie finden würden!“

„Die Tracker haben sie nicht gefunden, sie ist zu ihnen gegangen!“, spie ich ihm mitten ins Gesicht.

Marshall schreckte zurück, als hätte ich ihn geschlagen. „Was?“

„Sie wollte nach Eden! Sie ist zu ihnen gegangen und wollte, dass ich sie nach Eden begleite, aber sie wusste genau, ich würde niemals freiwillig mitgehen, also hat sie zusammen mit den Trackern eine Falle für mich aufgebaut – nur für mich! Sie wollte weder dich, noch Azra oder Balic dabeihaben, weil sie euch hasst, aber ich sollte mitgehen!“

„Du lügst.“

Ich ignorierte ihn. „Wenn ich nicht versucht hätte sie zu befreien, hätte Nikita sie hierhergeführt und dann wären wir alle in Eden gelandet! Nikita hat mich verkauft, für ein Leben in Wohlstand und Sorglosigkeit! Dein ach so geliebter, kleiner Schmetterling ist eine eiskalte Verräterin! Nur deswegen habe ich all das ertragen müssen und jetzt schickst du mich fort, um die Konsequenzen deines Handelns nicht immer vor Augen haben zu müssen!“

Marshall schüttelte den Kopf. Entweder konnte, oder wollte er das nicht glauben. „Das kann nicht stimmen.“

„Glaub was du willst, aber es ist die Wahrheit! Du hast sie verhätschelt und ihr alles durchgehen lassen! Es ist deine Schuld, ganz allein deine und jetzt willst du dich einfach so aus der Affäre ziehen! Du bist ein Feigling, ein elender Feigling!“

Jegliche Mimik verschwand hinter einer Maske aus Stein. „Nimm dir was du brauchst. Wasser, Nahrung, Waffen, Ausrüstung, deine persönlichen Sachen. Nimm Trotzkopf und den Karren und mach dich auf den Weg.“

Ich biss meine Zähne so fest zusammen, dass mein Kiefer zu schmerzen begann.

„Wenn du schlau bist, nimmst du nur Wolf mit. Zu zweit seid ihr schneller und die Gefahr für dich sinkt, denn die Tracker …“

„Du kannst mir nicht länger sagen, was ich tun soll und im Gegensatz zu dir bin ich kein Feigling, ich werde niemanden zurücklassen!“ Ich wirbelte herum und eilte davon. Ich konnte nicht länger bei diesem Mann bleiben, der mein Herz gerade in tausend Stücke zerbrach. Meine Augen brannten. Ich stand kurz davor in Tränen auszubrechen, aber ich wusste nicht ob vor Wut oder aus Trauer.

„Warte hier“, hörte ich Sawyer hinter mir sagen. Dann erklangen hastige Schritte.

Ohne mich umzudrehen, hastete ich zum Sichtschutz und zerrte daran, als ich nicht gleich den Ausgang fand. Ich riss so heftig daran, dass ein Teil abfiel und den Blick ins Innere freigab, aber es war mir egal. Eilig verließ ich den Hangar, doch kaum, dass ich draußen war, holte Sawyer mich ein.

„Baby, warte.“

Das tat ich nicht.

Sawyer griff nach meinem Arm und brachte mich damit sehr wirksam zum Stehen.

„Lass mich!“

„Nein, du musst mir zuhören.“

„Ich habe heute schon genug gehört!“ Er hatte meine Wut nicht verdient, aber im Moment wollte ich einfach nur von allen in ruhe gelassen werden, also riss ich mich von ihm los und schlug den Weg zu meiner Brücke ein. Den Trampelpfad am Hangar entlang, auf die Rückseite der Trümmerberge.

Über mir war der Himmel strahlend blau und ich fragte mich, warum er ausgerechnet an diesem Scheißtag so glücklich sein musste.

Wut und Kummer brannten in mir und plötzlich ertrug ich dieses Gefühl einfach nicht mehr. Ich schrie, packte einen alten Ziegelstein und warf ihn mit aller Kraft gegen den Hangar. Aber das reichte mir nicht. Immer und immer wieder, griff ich in den Schutt und warf Brocken und Geröll von mir. Meine Finger begannen zu schmerzen, ein Nagel riss ein, aber ich konnte einfach nicht aufhören.

In meinen Augen brannten ungeweinte Tränen. Ich spürte den Druck, doch sie wollten einfach nicht überfließen.

Wie konnte er mir das nur antun? Ja, Eden war hinter mir her, aber selbst wenn sie mich jemals wieder in ihre dreckigen Finger bekamen, würde ich es niemals zulassen, dass sie Marshall, oder den anderen etwas antaten. Verdammt, ich war zwei Monate in ihrer zweifelhaften Obhut gewesen und hatte sie nicht preisgegeben!

Das war so unfair, dieser verrat schmerzte fast noch mehr, als das was Nikita getan hatte. Ich war nach Hause gekommen und hatte geglaubt, jetzt würde endlich wieder alles gut werden, aber dann tut er sowas.

Ich griff nach einem weiteren Ziegel, warf ihn von mir und hörte, wie er mit einem lauten Dong gegen die Metallverkleidung des Hangars donnerte. Mein Schmerz blieb und fraß sich immer tiefer in mein Herz. „Ich hasse dich!“, schrie ich und es war mir egal, wer mich hörte. Wenn die Tracker deswegen jetzt hier auftauchten und ihn mitnahmen, würde ihm das nur gerecht geschehen.

Dann stand ich einfach nur da, ballte die Hände und biss die Zähne so fest zusammen, dass mein Kiefer schmerzte.

„Bist du mit deinem kleinen Wutanfall jetzt fertig?“

Ich wirbelte herum und wäre es möglich gewesen, so wäre er bei meinem Blick wohl einfach tot umgefallen. Dass er es sich erdreistete, mir ausgerechnet in diesem Moment so dumm zu kommen, ließ meine Wut noch ein wenig höher kochen.

Zwei Schritte, mehr brauchte ich nicht, um bei ihm zu sein. Dann stieß ich ihn so heftig vor die Brust, dass er zurückstolperte. Leider musste er mit sowas gerechnet haben, denn er taumelte zwar ein Stück zurück, kam aber nicht mal ins Schwanken. Das machte mich so sauer, dass ich ein weiteres Mal ausholte. Dieses Mal jedoch traf ich mein Ziel nicht, weil er mich an den Handgelenken abfing, bevor ich ihn berühren konnte.

„Nicht schlagen.“

„Lass los!“ Ich zog an meinen Handgelenken, doch er riss mich nur zu sich heran, sodass ich gegen ihn prallte. „Verdammt, was soll das?!“ Als ich versuchte mich zu wehren, wurde sein Griff nur umso fester.

„Hör mir zu.“ Dieser Mann war selten ernst. Meistens war er sarkastisch, arrogant und altklug. Doch jetzt war nichts davon vorhanden. Vielleicht war es das, was mich dazu bewog, nicht mehr weiter gegen ihn anzukämpfen. „Egal was für einen riesigen Mist der Idiot gerade von sich gegeben hat, in einer Sache hat er recht: Wir können nicht länger als nötig hierbleiben.“

Das hatte er gehört? Wie lange hatte er schon an der Luke gestanden?

„Die Tracker sind nach wie vor hinter uns her und auch wenn sie schon hier gewesen sind, bedeutet das nicht, dass sie nicht noch mal wiederkommen können.“

„Das weiß ich selber!“, fauchte ich ihn an. „Und jetzt lass mich endlich los!“ Ich riss erneut an meinen Handgelenken und dieses Mal gab er mich frei. Ich wich vor ihm zurück, kehrte ihm den Rücken und schlang die Arme um mich.

„Ich wollte gestern nichts sagen, weil wir alle erschöpft waren, aber heute hätte ich mit dir gesprochen, wenn er mir nicht zuvorgekommen wäre.“

Ich hatte mir darüber überhaupt keine Gedanken gemacht, einfach weil ich so glücklich gewesen war, endlich wieder hier zu sein. Wenigstens für einen Abend hatte ich alle Gefahren ausblenden und so tun wollen, als wäre meine kleine Welt heile. Doch dieser Abend war nun vorbei und nichts war in Ordnung. Es war sogar noch schlimmer, als vorher. Jetzt hatte ich nicht nur kein Zuhause mehr, ich hatte auch keinen Ort, an den ich gehen konnte.

Im Moment hätte ich wohl alles dafür gegeben, wenn alles wieder wie früher wäre. Nicht nur vor Nikitas verrat und Eden, nein, ich wollte zurück in den Winter, bevor mein Vater gestorben war. Würde er noch leben, wäre vielleicht alles anders gekommen.

„Wir müssen hier verschwinden und ich weiß auch, wohin wir gehen können“, sagte Sawyer.

„Hast du dir schon einmal gewünscht, die Zeit zurückdrehen zu können?“

Bei dem plötzlichen Themenwechsel, musste er erstmal umdenken. „Viele Male. Ich habe mir oft vorgestellt, was gewesen wäre, wenn ich nicht in das Lager der Tracker gegangen wäre.“ Schritte nährten sich und zwei warme Hände legten sich von hinten auf meine Oberarme. „Aber sich mit was-wäre-wenn-Fragen zu beschäftigen, bringt nichts und kostet nur Energie.“

Und trotzdem konnte man gar nicht anders, als sich hin und wieder diesen Gedanken zu öffnen. Leider war das im Moment nicht von Nutzen, genauso wenig, wie die Wut, die noch in mir köchelte. Damit, dass wir wieder von hier fortmussten, gab es ein viel wichtigeres Problem, mit dem ich mich beschäftigen musste. „Wohin?“, fragte ich. „Wohin können wir gehen?“

„Zu meinem Vater.“

Seinem Zuhause, der Ort, nach dem sein Herz sich sehnte. „Und wenn der uns auch wegschickt?“

„Das würde er niemals tun.“

Bei so viel blindem Vertrauen, hätte ich fast aufgelacht, nur wäre es kein sehr fröhlicher Laut geworden. „Vor einer halben Stunde hätte ich das auch noch von Marshall behauptet.“ Doch dann hatte er mich eines Besseren belehrt. Ich biss die Zähne zusammen.

„Mein Vater ist kein Feigling. Er würde eher alle seine Leute zum Aufbruch zwingen und mit uns fortgehen, als eines seiner Kinder abzuweisen.“

„Du warst sechzehn Jahre fort. Die Menschen ändern sich. Du kannst nicht wissen, was er heute tun würde.“ Ich drehte mich zu ihm um, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Seine Hände rutschten von meinen Oberarmen. „Vielleicht ist er nicht mehr der Mann, der er war, als man dich fortgeholt hat.“

Er antwortete nicht sofort, schaute mich nur einen langen Moment an. „Ich kenne meinen Vater“, war dann alles, was er sagte.

Ich kannte auch Marshall. Und Nikita. Trotzdem stand ich nun hier, verraten und verlassen, unwissend, was ich als nächstes tun sollte. Aber vielleicht war das im Moment auch völlig egal. Ob wir nun zu seinem Vater gingen, in ein anderes Land, oder einfach wie Nomaden herumzogen, wichtig war doch nur, dass wir von hier verschwanden. Da war ein Ort genauso gut, wie der andere. Meine Heimat würde ich so oder so verlieren.

Ich wandte mich von ihm ab und ging den Pfad zurück, den ich eben erst gekommen war. Zwar hatte ich keine Ahnung, was die Zukunft bringen würde, aber ich wusste genau, was ich nun zu tun hatte.

Sawyer folgte mir, als ich zurück in den Hangar ging und den Sichtschutz noch ein wenig weiter herunterriss, als ich hineinwollte. Es war egal, wir wären hier eh gleich weg und somit war es nicht mehr mein Problem.

Marshall war noch immer in der Vorhalle. Mit grimmiger Mine stand er bei Azra und schaute zu, wie sie Salia die langen, braunen Haare zu einem Zopf flocht.

„Guck mal Papa, ich bekomme einen Zopf“, erzählte sie sofort aufgeregt.

„Still halten“, mahnte Azra, denn sie war noch nicht fertig.

„Das sieht hübsch aus“, sagte Sawyer.

Während ich den Hangar durchquerte, richtete sich mein Blick auf Marshall und sofort flammte mein Zorn wieder auf. Ich biss die Zähne zusammen und versuchte ihn auszublenden. Er wollte, dass ich verschwand? Ich würde nicht betteln, bleiben zu dürfen.

Konzentriere dich einfach auf deine Aufgabe.

Als ich in die Ecke ging, in der die beiden Holzkarren standen, trat Trotzkopf in seinem Pferch ans Gatter, als wollte er mir zugucken.

Wir besaßen zwei Karren. Einen kleinen mit zwei Rädern, der von Hand gezogen werden musste und einen großen mit vier Rädern. Den hatte ich zusammen mit Marshall gebaut, als Trotzkopf groß genug geworden war, um uns auf längeren Reisen zu begleiten. Wir hatten ihn auf seine Größe und Kraft angepasst und in den Jahren hatte er uns bereits gute Dienste geleistet.

Der Karren selber machte nicht viel her und wirkte auch ein wenig schäbig, aber er war einwandfrei in Ordnung, da wir immer darauf geachtet hatten, ihn gut in Schuss zu halten.

Jetzt löste ich die seitliche Bremse, packte dann die Schere der Kutsche und zog daran, bis sie sich in Bewegung setzte. Sawyer trat zur Seite, um mir nicht im Weg zu stehen, als ich sie neben den Pferch zog und die Bremse wieder anzog.

Dann begann ich damit, den Karren zu beladen. Ich ging zu den Regalen und Kisten und suchte mir alles heraus, was mir nützlich erschien. Töpfe, ein alter Feldstecher, ein Rasiermesser, eine Bola, denn die waren bei der Jagt immer sehr hilfreich. Ich nahm eine Axt und Seile und eine Laterne mit mehreren Kerzen. Auch der alte, angelaufene Kompass, mein Fischspeer, ein großes Netzt, das ich selber geknüpft hatte und meine Angel, landete bei meinen Sachen. Das alles tat ich in eine Kiste, die ich auf den Karren schob.

Mittlerweile war Azra mit ihrer Aufgabe fertig und schaute nun auch dabei zu, wie ich zurück zu den Regalen ging, eine weitere Kiste nahm und dort eine Säge und eine Sichel hineintat. Dann durchsuchte ich die Fächer, nach den Stoffen, von denen Azra gestern gesprochen hatte. Zwar war ich im Nähen nicht so versiert wie sie, aber Wolf brauchte dringend etwas passendes zum Anziehen und so ein Hemd bekam ich noch hin.

Leider fand ich das Gesuchte nicht. „Wo sind die Stoffe, für Wolfs Hemd?“

„In der Kiste, neben dem Webstuhl“, sagte Azra und runzelte die Stirn. „Was machst du da Kind?“

„Wonach sieht es denn aus?“ Ich fand die Stoffe, nahm sie zusammen mit dem Nähzeug und legte auch das zu meinen Sachen in die Kiste. „Ich packe alles ein, was ich haben will und dann nehme ich meine Männer und verschwinde hier.“

Ein Ausdruck von Verwirrung erschien auf ihrem Gesicht. „Was meinst du mit verschwinden?“

Ach, dann hatte Marshall sie also noch nicht eingeweiht, war er jetzt auch dafür schon zu feige? „Das was ich sage.“ Ich nahm meine Kiste auf und trug sie quer durch die Vorhalle, direkt an ihr und Marshall vorbei. „Marshall will, dass ich mich so schnell wie möglich davon mache, also bleibe ich keine Sekunde länger als nötig.“

„Wie bitte?“ Unverständnis machte sich in ihr breit. „Was ist hier los?“ Sie schaute zu Marshall. „Du willst, dass sie geht? Ohne uns?“

Neugierig wie Kinder nun einmal waren, hatte Salia sich dem Karren genährt und späte auf die Ladefläche.

Marshall versuchte, jede Emotion hinter einer Wand aus Beton zu verbergen, doch er sah einfach nur bockig und defensiv aus. „Ihre Gegenwart bringt uns alle in Gefahr.“

Als Salia versuchte auf den Karren zu klettern, trat Sawyer vorsichtshalber näher.

„Aber … du kannst doch nicht …“

„Willst du, dass es dir wie ihr ergeht? Willst du in Ketten gelegt und in eine Maschine gesteckt werden, die dich wäscht? Willst du einem Schicksal folgen, dass eine größenwahnsinnige Frau dir aufzwingt, ohne dich dagegen wehren zu können? Ist dir klar, dass auch du zu einer Eva werden könntest und damit jegliches Recht auf deinen Körper abgibst?“

Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich diese Worte schmerzten. Konzentrierte mich nur darauf, die Kiste zu der anderen zu stellen. Und weil ich gerade schon dabei war, hob ich Salia auch gleich mit rauf. So würde sie sich bei dem Versuch hinauf zu kommen, wenigstens nicht wehtun. Auch der Sattel von Trotzkopf landete auf der Ladefläche.

„Wenn sie bei uns bleibt, wird genau das passieren“, fuhr Marshall unerbittlich fort. „Sie werden kommen und uns holen.“

Das zu hören, tat richtig weh. Ich drehte mich um, hoffte – betete – dass Azra ihm den Marsch blasen würde, dass sie auf ihn einreden würde, damit er seine Meinung änderte und am Ende doch wieder alles gut werden würde. Doch sie war einfach nur verunsichert. Ihr Blick huschte von ihm zu mir und ich erkannte, dass sie nichts dergleichen tun würde. Erst gestern hatte sie von mir aus erster Hand erfahren, wie es mir in Eden ergangen war und das wollte sie auf keinen Fall für sich selber. Eher würde sie mich einfach ziehen lassen.

„Sie ist eine Gefahr für jeden Menschen in ihrer Nähe“, setzte er noch oben drauf.

„Wow“, kam es da von Sawyer. „Ich habe ja schon viele Scheißkerle kennengelernt, aber du schaffst es problemlos direkt an die Spitze dieser Liste. So skrupellos wäre ich auch gerne.“

Marshall fuhr zu ihm herum, die Wut verzerrte sein Gesicht und ich sah, wie er nach dem Messer an seinem Gürtel griff, doch bevor er es ziehen konnte, hielt ich ihm meine Klinge bereits an die Kehle.

„Wage es nicht, ihm auch nur ein Haar zu krümmen, oder du wirst es bereuen.“ Meine Stimme war eiskalt.

Sein Blick huschte zu mir, die Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Ein paar Sekunden zogen ins Land. Ich würde ihn nicht töten, denn das konnte ich nicht, aber ich würde ihn verletzten, wenn er es darauf anlegte.

Er schien das zu spüren, denn er nahm seine Hand langsam vom Griff seines Messers und wich vor der Spitze meiner Klinge zurück.

„Komm mir nicht in die Quere“, warnte ich ihn und ließ das Messer wieder in die Scheide an meinem Gürtel gleiten. Ich ließ ihm noch einen drohenden Blick zukommen, dann ging ich ins Flugzeug. Dabei konnte ich selber kaum glauben, was ich gerade getan hatte. Dieser Mann war wie ein Vater für mich, aber der Schmerz durch seine Zurückweisung, riss noch immer mit scharfen Klauen an mir. Das Schlimmste daran war wohl, dass ich ihn gerne hassen würde, es aber nicht konnte. Es tat einfach nur weh.

Kaum das die Schilfmatte hinter mir zugefallen war, wurde sie auch schon wieder aufgeschoben und Sawyer kam herein

„Ich kann meine Kämpfe auch selber ausfechten“, ließ er mich wissen.

„Das hier ist nicht dein Kampf, das ist meiner.“ Ich ging zu dem Regal an der Wand und begann darin nach nützlichen Dingen zu suchen. Dabei musste ich um die Schlaflager von Sawyer und Wolf herumgehen. Wolf schlief immer noch tief und fest. So viel wie er gestern getrunken hatte, würde ich wohl einige Schwierigkeiten damit haben, ihn aufzuwecken.

„Kann ich dir helfen?“

Ich stockte kurz, als ich zu entscheiden versuchte, ob ich nur Becher und Schüsseln mitnehmen sollte, oder auch ein paar Teller. „Du kannst schon mal das Essen holen“, sagte ich und zeigte zum Cockpit, wo wir unser Lager untergebracht hatten. „Nimm von allem die Hälfte, Trockenfleisch, gepökelter Fisch, Trockenobst, frisches Gemüse, frisches Obst. Dann bring es zu Karren. Und vergiss die Wasserschläuche nicht, die werden wir brauchen.“

Er nickte nur und verschwand im Lager.

Ich räumte währenddessen einen Jutesack voll mit Dingen, die ich haben wollte. Medikamente, Becher, Schüsseln, Besteck. Dann ging ich mit dem halbvollen Sack in die Schlafkammer.

Hier war es ziemlich dunkel. Nur ein paar strategisch angebrachte Schlitze in der Außenwand, ließen ein wenig Tageslicht hinein.

Ganz hinten in der Ecke lag Balic leise schnarchend auf seinem Lager. Mein Herz wurde schwer, wenn ich daran dachte, ihn zurücklassen zu müssen. Klar, er war anstrengend und es gab sicher besserer Gesellschaft, aber es war Balic. Er war wie ein Onkel und ich würde ihn vermissen.

Kurz fragte ich mich, ob es besser war ihn zu wecken, um mich von ihm zu verabschieden, oder ob ich ihn einfach schlafen lassen sollte. Ich verschob diese Entscheidung auf später, stellte den Sack dann neben meinem Lager ab und kniete mich zu Killian.

Er hatte noch lange gebraucht, bis die Erschöpfung ihn erneut in den Schlaf gezwungen hatte. Bis in die frühen Morgenstunden war er wach gewesen und nun lagen dunkle Ringe unter seinen Augen. Wenn ich könnte, würde ich ihn weiterschlafen lassen, aber das ging nicht. Also streckte ich die Hand aus und strich ihm sanft über die stoppelige Wange.

„Los, Schlafmütze, Augen auf“, sagte ich leise. „Wir müssen gleich los.“

Er blinzelte, was mir zeigte, dass er wieder nicht allzu tief geschlafen haben konnte und rieb sich dann müde über das Gesicht. „Was ist los?“

„Wir müssen los“, wiederholte ich und nahm meine Hand weg. „Wir brechen gleich auf.“

„Auf?“ Er setzte sich auf und schaute sich, immer noch ein wenig verwirrt, um. „Wo gehen wir denn hin?“

„Weg.“ Ich begann die Laken und Felle von meinem Lager zu ziehen und sie auf einen Haufen zu werfen. Dann schob ich Killian von seinem Lager und tat dort das gleiche.

„Was meinst du mit weg? Ich dachte, wir würden hierbleiben.“

„Die Pläne haben sich geändert. Wir müssen gehen, bevor die Tracker hier auftauchen.“

Das kam für ihn so überraschend, dass er eine nähere Erklärung haben wollte, doch ich konnte das jetzt nicht und vertröstete ihn auf später. Im Moment war es einfacher, sich meiner Kiste zu widmen und dort alles herauszuholen, was ich noch gebrauchen konnte. Zwei Messer, das Töpfchen mit dem Honig, das ich Saad abgekauft hatte und meine Kleidung. Einen Moment überlegte ich, ob ich noch Nikitas Kiste durchsuchen sollte, verwarf den Gedanken dann aber wieder, weil sie da wahrscheinlich sowieso nur Plunder drinnen hatte. Ich tat meine Sachen mit in den Sack und schleppte es zusammen mit den Decken und Laken nach draußen zum Karren.

Marshall war verschwunden, Azra aber stand händeringend in der Vorhalle und wusste offensichtlich nicht, was sie tun sollte.

Gerade als ich wieder ins Flugzeug gehen wollte, kam Killian mit einer Kiste voller Lebensmittel heraus. Gleich hinter ihm folgte Sawyer, der eine weitere Kiste und einen Sack mit sich trug. Das sollte für ein paar Tage reichen.

Mit meiner Hilfe, verstauten wir alles ordentlich auf dem Karren. Die Decken und Felle breitete ich auf der freien Fläche aus, damit man sich dort bequem hinsetzten konnte.

Dann holte ich noch Winterkleidung und alte Sachen, die keine mehr von uns trug. Weitere Felle und Decken und die große, Wasserdichte Plane für den Karren, folgten. Und ich nahm auch noch Pfeil und Bogen mit. Zwar war ich im Schießen nicht so gut wie Marshall, aber er gehörte mir und würde mir auf der Jagd gute Dienste leisten.

Es dauerte über eine Stunde, bis ich alles auf dem Karren hatte, was ich mitnehmen wollte. Naja, nicht alles, eine Sache fehlte noch. Also ging ich wieder ins Flugzeug und versuchte Wolf zu wecken.

Beim ersten Versuch, grummelte er nur. Beim zweiten, brummte er und drehte sich von mir weg. Als er beim dritten Versuch mit der Hand in meine Richtung wedelte, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen, drohte ich ihm damit, ihm einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf zu gießen, wenn er jetzt nicht aufstand.

Er entschied, dass es das Beste für ihn wäre, seinen Hintern aus dem Bett zu bewegen.

Sobald er auf den Beinen stand und sich den schmerzenden Kopf rieb, nahm ich auch noch die Felle von seinem Lager und scheuchte ihn vor mir aus dem Flugzeug. Draußen wies ich ihn an, sich auf den Karren zu packen, dort konnte er weiter seinen Rausch ausschlafen.

Gerade als der große Mann sich auf unser Fahrzeug hievte, verschwand Azra im Flugzeug.

Jetzt fehlte nur noch Trotzkopf. Also ging ich in den Pferch, spannte ihn in sein Geschirr und führte ihn dann zum Karren. Er mäkelte ein wenig rum, als ich ihn in die Schere spannte, wusste aber, dass es nur länger dauerte, wenn er zu viel herumhampelte.

Und dann … war ich fertig. Ich stand da, die Führleine von Trotzkopf in der Hand und alle waren bereit zum Aufbruch. Wolf lag auf der Ladefläche, Salia saß mit Wölkchen im Arm daneben. Killian und Sawyer standen abwartend neben mir, als warteten sie nur auf den Startschuss, doch ich konnte mich nicht bewegen.

Mein Herz wurde schwer, als ich das Flugzeug betrachtete, das so viele Jahre mein Zuhause gewesen war. Mit einem Mal wurde mir klar, dass ich nicht nur Nikita verloren hatte, sondern meine ganze Mischpoche. Ich hatte gehofft, Eden hinter mir gelassen zu haben, doch noch immer zerstörten die Menschen dieser Stadt mein Leben.

Sawyer trat neben mich und legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich schwor, dass ich ihm wehtun würde, wenn er jetzt etwas Dummes sagte, doch er schien mir nur Trost spenden zu wollen.

„Es wird nicht einfacher, wenn ich noch länger warte“, bemerkte ich.

„Nein“, stimmte er mir zu.

Hier hatte ich gelebt, hier hatte ich so viel erlebt. Dort drüben hatte Nikita gesessen und versucht, sich selber die Haare zu schneiden. Anschließend hatte sie ausgesehen, wie ein Vogel in der Mauser. Und ich erinnerte mich, wie ich mit Marshall diese Stützbalken aufgestellt hatte. Er war von der Leiter gefallen und hatte sich dabei fast mit einem Rohr aufgespießt. Und dort, bei der Feuerstelle, hatte Azra einmal den Topf mit unserem Essen ins Feuer fallen lassen – das war eine riesige Sauerei gewesen. Und dann noch die Treppe, ich wusste gar nicht mehr, wie oft Balic sie heruntergefallen war, weil er zu betrunken gewesen war, um gerade laufen zu können.

Alles hier war voller Erinnerungen und jetzt würde ich dem einfach den Rücken kehren und nie wieder zurückblicken.

Doch was mich wohl am Meisten traf, war die Tatsache, dass niemand hier war, um mich zu verabschieden. Von Marshall hatte ich nichts anderes erwartet und Balic schlief vermutlich noch, aber wenigstens Azra hätte doch hier sein können. Ich wollte aber auch nicht zu ihr gehen, denn noch mehr Ablehnung würde ich heute einfach nicht mehr ertragen.

„Lasst uns verschwinden.“ Ich schluckte und wandte den Blick ab. Noch länger zu bleiben, brachte nichts und würde es mir nur noch schwerer machen.

„Warte!“ Azra stürzte panisch aus dem Flugzeug und eilte zu mir hinüber. Ich war von ihrem Auftauchen so überrascht, dass ich einfach nur dumm dastand, als sie die Arme um mich legte und mich ganz fest an sich drückte. „Es tut mir so leid“, flüsterte sie und ich konnte die Tränen in ihrer Stimme hören. „Ich weiß, das ist mit nichts zu entschuldigen, aber es tut mir leid.“

Da hatte sie recht, das Verhalten dieser Menschen war wirklich durch nichts zu entschuldigen.

Mit ein wenig Schlagseite, kam nun auch Balic aus dem Flugzeug getaumelt. Azra musste ihn geweckt haben. Er blinzelte, als versuchte er sich zu orientieren und schlingerte dann zu mir. „Hier!“, sagte er und streckte mir eine Flasche von seinem Schnaps entgegen. „Zum Abschied.“

Es war dumm und lächerlich, aber diese Geste passte so sehr zu ihm, dass ich wieder spürte, wie meine Augen zu tränen begannen.

Azra löste sich, als ich nach der Flasche griff. Balic tätschelte mir die Hand und ließ sich dann an Ort und Stelle auf den Boden plumpsen, als sei es zu anstrengend, sich auf den Beinen zu halten.

„Du musst gut auf dich aufpassen“, sagte Azra zu mir und strich mir übers Haar, wie sie es schon getan hatte, als ich noch ein Kind gewesen war. „Achte auf dich und vielleicht sehen wir uns ja schon bald wieder.“

„Nicht wenn es nach Marshall geht.“

Sie winkte ab. „Vergiss diesen dummen Mann. Er hat Angst, aber auch er wird noch erkennen, dass das hier ein Fehler ist.“

Und wenn es ein Fehler ist, warum machst du dann mit?, hätte ich am liebsten gefragt, doch ich schwieg einfach, denn es schien mir sinnlos.

„Wir werden sicher auf dem Herbstmarkt sein, dort können wir uns sehen. Du weißt doch, wo der Herbstmarkt ist, oder?“

„Ja.“ Natürlich wusste ich das, ging ich doch seit zehn Jahren dorthin, aber ich bezweifelte, dass ich dieses Jahr dort auftauchen würde, um die Menschen zu sehen, die mich so eiskalt vor die Tür setzten. Es würde nur wieder schmerzen und das wollte ich nicht.

„Gut.“ Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn und wandte sich dann Sawyer und Killian zu. „Passt gut auf mein Mädchen auf.“

„Dein Mädchen?“ Sawyer hob eine Augenbraue und ließ dieses geringschätzige Lächeln aufblitzen, das ich so wenig mochte. „Wäre sie dein Mädchen, würdest du sie nicht im Stich lassen. Mich könnte jedenfalls keiner so einfach von meiner Tochter trennen.“

Azra sah aus, als hätte er sie geschlagen.

Ich maßregelte ihn nicht, denn er hatte ja recht. Stattdessen verstaute ich die Flasche bei unseren anderen Sachen, schaute ein letztes Mal von ihr zu Balic und wandte mich dann ohne ein weiteres Wort ab. Es gab nichts mehr zu sagen.

Diese ersten Schritte waren seit langem die schwersten, die ich gehen musste, denn sie bedeuteten endgültig Abschied. Ich spürte wie mein Herz schwer wurde, zwang mich aber, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Trotzkopf kam in Bewegung, sobald er den Zug an seiner Leine spürte. Der Karren knarrte, als er losfuhr. Killian trat still an meine Seite. Nur Sawyer bedachte die Menschen, die ich zurückließ, noch mit einem abfälligen Blick, in dem seine ganze Verachtung mitschwang. Erst dann schloss er sich uns an.

Als ich Trotzkopf mit dem Karren aus dem Hangar führte, hörte ich ein Schluchzen von Balic, das mir mein Herz gleich noch einmal bracht. Leider gab es kein Zurück, denn ich wollte nicht bei Menschen sein, die mich einfach so wegwarfen, nur weil ich plötzlich nicht mehr so pflegeleicht war.

Mit einem letzten Blick über den Flughafen, wollte ich mich von diesem Ort verabschieden. Dabei bemerkte ich die einsame Gestalt, die im Schatten eines rostigen Flugzeugs saß und unseren Aufbruch beobachtete.

Marshall.

Er wirkte traurig, so als täte ihm diese ganze Situation leid. Gleichzeitig wusste ich aber, dass er viel zu stur war, um diese Entscheidung rückgängig zu machen. Im Moment war ich mir nicht mal sicher, ob ich bei ihm bleiben würde, wenn er plötzlich einen Sinneswandel hätte und mich darum bäte. Ich war einfach nur verletzt und wollte ihn nicht mehr sehen.

Am Besten wäre es, wenn ich ihn ganz aus meinen Gedanken verbannte und ihn in die Kiste zu all den anderen unliebsamen Erinnerungen steckte, die ich so gerne vergessen hätte. Vielleicht konnte ich ihn so aus meinem Leben streichen.

Mit einem vernichtenden Blick in seine Richtung, wandte ich mich von ihm, dem Hangar und meinem bisherigen Leben ab. Ich weigerte mich, auch nur eine Träne für sie zu vergießen.

 

oOo

Kapitel 09

 

Knarrend und ruckelnd, zog Trotzkopf den Karren am grasbewachsenen Ufer eines ruhigen Baches entlang. Die Strömung war hier so schwach, dass die Oberfläche spiegelglatt wirkte. In dem glasklaren Wasser, konnte man die abgerundeten Flusssteine auf dem Grund sehen. Kleine Fische tummelten sich zwischen ihnen und verschwanden schnell in Deckung, wenn unser Schatten auf sie fiel.

Der Himmel war klar und blau und die Sonne stark genug, damit ich ins Schwitzen kam. Es war Stunden her, seit wir den Flugplatz verlassen und meiner Heimat den Rücken gekehrt hatten. Mein Zorn und die Wut über diesen unsagbaren Verrat, waren abgeklungen. Nun fühlte ich nur noch Schmerz, der wie eine entzündete Wunde eiterte und pochte und mein Herz langsam vergiftete.

Ich verstand noch immer nicht, wie Marshall mir das antun konnte. Ich glaubte nicht mal, dass ich es schon richtig realisiert hatte. Ich wusste es, ich war gegangen, aber irgendwie … fühlte ich es nicht. Dieser Ort war zehn Jahre lang mein Zuhause gewesen, meine Zuflucht, der Platz an dem ich mich sicher fühlte. Und jetzt? Einfach weg.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Killian mir einen kurzen Blick zuwarf. Seit wir den Hangar hinter uns gelassen hatten, bewegte er sich an meiner Seite. Sawyer war etwas zurückgeblieben, wahrscheinlich um die schlafende Salia im Auge zu behalten – nicht das sie noch vom Karren kullerte. Wolf dagegen, hatte die meiste Zeit verschlafen. Erst vor einer knappen Stunde war er mit verquollenen Augen und dröhnendem Schädel erwacht. Sawyer hatte ihm dann erklärt, warum wir wieder allein unterwegs waren. Ich hatte währenddessen die Zähne zusammengebissen und so getan, als würde ich ihn nicht hören.

Wieder schaute Killian zu mir, drückte dann aber die Lippen fest aufeinander und senkte den Blick auf seine Füße.

„Spuck es aus“, forderte ich ihn auf.

Er hob den Kopf, ließ den Mund aber geschlossen.

„Wenn du nicht bald sagst, was dir auf der Seele liegt, wirst du dir noch die Zunge abbeißen.“

Nun lächelte er sein halbes Lächeln, doch es verblasste recht schnell wieder. „Es ist …“ Er seufzte. „Ich weiß, du willst das vermutlich nicht hören, aber … es gibt noch einen anderen Ort an den wir gehen können.“

„Ach so?“

„Ja.“ Zwei Schritte, drei, vier. Der Karren polterte durch eine Kuhle. „Vielleicht solltest du noch mal darüber nachdenken … weißt du, Eden ist nicht nur schlecht.“

Ich faste ihn scharf ins Auge. „Das kannst du nicht ernst meinen.“

„Ich meinte nur … es wäre eine Option. Und bevor du mich jetzt beschimpfst, ich weiß was du von dem System hältst und wie es dir dort ergangen ist und mir ist schon klar, dass du dort auf keinen Fall wieder hinmöchtest, aber … wir tun auch viel Gutes.“

Hinter ihm schnaubte Sawyer. „Scheinbar muss man doch nicht besonders intelligent sein, um Arzt zu werden.“

„Halt dich da raus“, knurrte Killian.

„Wie könnte ich denn? Das ist doch genau mein Thema. Also, fassen wir zusammen: Du möchtest, dass sie an den Ort zurückkehrt, der sie die nächsten vierzig Jahre als Brutmaschine benutzt, damit sie neue Brutmaschinen herstellen kann. Wahrscheinlich würde sie dann auch den einen oder anderen Adam gebären, der jederzeit einsatzfähig sein muss, wenn eine von diesen notgeilen Schlampen einen guten Fick braucht. Stimmst du mir soweit zu?“

Killian warf ihm einen giftigen Blick zu. „Nicht alles an dem Eden-Projekt ist falsch. Die Meisten unserer Adams und Evas kommen ihrer Aufgabe freiwillig nach, weil sie wissen, wie wichtig unsere Arbeit ist.“

„Ja, aber nur, weil man es ihnen von Geburt an so eingeimpft hat. Doch mach nur weiter, erhelle uns mit deiner Weisheit und schaufle dir dein eigenes Grab. Kismet ist sicher sehr begierig darauf, noch mehr von deiner Verkaufspräsentation zu hören. Und ich ehrlich gesagt auch. Mal schauen, ob du mich überzeugen kannst.“

„Ich will hier niemanden überzeugen, ich wollte nur anmerken, dass ihr dieser Weg offensteht.“ Er wandte sich mir zu. „Du weißt, dass ich niemals versuchen würde, dir zu schaden.“

Nein, das würde er nicht, aber er war nicht Eden und Eden war nicht er. Killian versuchte vielleicht nur das Richtige zu tun, aber das war sein Richtig, nicht meins. „Ich will von diesem Thema nichts mehr hören. Nie wieder.“ Denn dies war ein Weg, den ich niemals einschlagen würde. Eher würde ich sterben, als diese Stadt von meiner Existenz profitieren zu lassen.

Seine Lippen wurden schmal. „Ich wollte nur, dass du darüber nachdenkst, mehr nicht.“

„Und so vielleicht selber wieder nach Hause kommst“, fügte Sawyer noch hinzu. „Man kann es ja wenigstens mal versuchen.“

„Du wärst eine viel angenehmere Begleitung, wenn du einfach mal deinen Mund halten würdest“, murmelte Killian verärgert.

„Das siehst du aber nur so, weil dir nicht gefällt, was ich zu sagen habe.“

Langsam gingen die beiden mir auf die Nerven. Sie waren wie kleine Kinder, die sich ständig zanken mussten. Wenn sie damit nicht bald aufhörten, würde ich sie beide knebeln. Anschließend würde ich sie an einen Baum binden und einfach weggehen. Dann wäre endlich Ruhe.

Killian öffnete den Mund.

„Wenn du jetzt etwas sagst, werde ich dich im Bach ertränken.“

Er schloss den Mund wieder.

„Danke.“ Vielleicht war das der Trick dabei, beide mit harter Hand an die Kandare nehmen. Allerdings klang die Idee mit dem Bach ziemlich verlockend. Ich hatte nicht mehr gebadet, seit wir Eden verlassen hatten. Zwar hatte ich mich gestern an der Schüssel waschen können, aber das war nicht dasselbe.

Ich schaute zum Himmel. Es war angenehm warm und eine Pause würde uns allen sicher guttun – genau wie ein ausgiebiges Bad. Hier schien es auch sicher zu sein.

Der Bach schlängelte sich durch eine offene Landschaft. Die Stadt hatten wir bereits weit hinter uns gelassen und hier gab es nur hin und wieder ein paar Mauerreste, die den Zahn der Zeit überlebt hatten. Keine Menschen, keine erkennbaren Straßen. Die alten Straßen hatte ich mit Absicht gemieden. Zwar wären wir dort schneller vorrangekommen, doch dort war auch die Gefahr größer, von den Trackern überrascht zu werden, denn die benutzten mit ihren Fahrzeugen diese alten Wege.

Allerdings war die Landschaft wirklich sehr offen. Ich konnte kilometerweit in alle Richtungen sehen. Das war eigentlich gar nicht schlecht, wenn man mal die Tatsache wegließ, dass auch wir aus der Ferne erspäht werden konnten.

Suchend ließ ich meinen Blick über das Gelände gleiten. Genau vor uns, nur ein paar hundert Fuß entfernt, stand eine kleine Baumgruppe direkt am Bach. Die konnten uns ein wenig Schutz bieten, dann würden wir wenigstens nicht für alle sichtbar auf dem Präsentierteller sitzen.

Beflügelt von dieser Idee, führte ich Trotzkopf näher an den Bach heran. Wenn wir alle sauber waren, dann konnte ich auch die Kleidung der Männer waschen. Wolf wäre sicher dankbar dafür, die Uniform wieder anziehen zu können. Die passte ihm wenigstens. Und vielleicht würde ihm das kühle Wasser dabei helfen, seinen Kater zu bekämpfen.

Locker verteilt, um die Baumgruppe herum, standen ein paar Büsche und Sträucher. Ich musste Trotzkopf ziemlich nahe ans Wasser heranführen, um an ihnen vorbei zu kommen.

Wolf brummte irritiert.

„Wir machen eine Pause und schlagen unser Lager für die Nacht auf“, teilte ich ihm mit. Der Karren holperte über einen Stein, dann waren wir hinter den Bäumen.

Mit einem lauten Röhren, beschwerte Trotzkopf sich, als ich ihn zwang, stehen zu bleiben. Er versuchte einen Schritt weiter zu gehen, doch ich zog ihm am Halfter zurück, woraufhin er fast mit seinem Kopf gegen meinen donnerte. Er traf mich nur nicht, weil ich rechtzeitig auswich.

„Hey“, beschwerte ich mich verärgert. „Hör auf damit, du verdammter Sturkopf.“

Seine Erwiderung bestand in einem weiteren, unwilligen Röhren.

„Du kannst dich beschweren, so viel du willst, ich habe trotzdem das Sagen.“ Ich griff an die Seite des Karrens und zog die Bremse an. „Ihr könnt ja schon mal damit beginnen, das Lager aufzubauen“, sagte ich zu keinem bestimmten.

Wolf brummte und zeigte dann zum Himmel.

Ich schaute hoch, aber da war nichts, außer der Himmel und ein Vogel.

Als er mein Unverständnis bemerkte, brummte er frustriert, zog dann seinen Block und einen Stift heraus und begann darauf zu schreiben. Sobald er fertig war, reichte er ihn Sawyer.  

„Wir haben noch ein paar Stunden Tageslicht“, las er vor. „Wir können noch weiterlaufen.“

Mit geübten Bewegungen begann ich, Trotzkopf von dem Karren loszumachen. „Ich will baden gehen und die Wäsche waschen.“

Als Trotzkopf merkte, dass sich seine Gurte lösten, blubberte er begeistert und versuchte mir zu helfen, indem er losgehen wollte, sodass ich ihn zurückhalten musste.

„Außerdem wollt ihr sicher irgendwann auch mal etwas essen, oder?“

„Killian besorgt Feuerholz“, entschied Sawyer und ging zum Karren, um Salia zu wecken.

Killian wirkte nicht so, als wollte er etwas tun, was Sawyer ihm aufgetragen hatte, aber er konnte auch nicht widersprechen, denn Sawyer war dabei einmal mehr oder weniger höfflich gewesen. Aber er konnte ihm einen bösen Blick zuwerfen, bevor er sich an die Arbeit machte. 

Sobald ich Trotzkopf von der Schere und dem Geschirr befreit hatte, band ich ihn mithilfe eines langen Seils an einen der Bäume. Das gefiel ihm natürlich nicht, weil er viel lieber frei herumgelaufen wäre, aber er hatte die blöde Angewohnheit, dann immer tagelang zu verschwinden und ich hatte keine Lust ihn suchen zu gehen. Also musste er sich mit dem Gras zufriedengeben, das in seiner Reichweite war.

Danach half ich den Männern dabei, das Lagerfeuer aufzubauen und Felle auf dem Boden auszubreiten.

Salia stieg mit Knitterfalten im Gesicht vom Karren und rieb sich müde die Augen, während sie Wölkchen an ihre Brust drückte. Sie brauchte ein paar Minuten, um richtig wach zu werden, aber dann half sie tatkräftig mit.

Erst als wir soweit fertig waren, nahm ich ein paar Leinentücher vom Karren und hielt der Kleinen dann meine Hand hin. „Komm, lass uns baden gehen.“

Sie schaute mich mit großen Augen an. „Baden? Wo denn?“

„Im Bach.“ Ich nickte richtig Wasser. „Es wird Zeit, dass wir uns waschen.“

Ihre Augen wurden noch ein Stück größer. „Ich habe noch nie in einem Bach gebadet. Papa, darf ich?“

„Aber lass Wölkchen hier, damit sie nicht nass wird.“

„Ja!“ Sie rannte zu den ausgebreiteten Fellen auf dem Boden, warf Wölkchen darauf und rannte dann zu mir zurück. Sobald sie sich meine Hand geschnappt hatte, zog sie mich zum Ufer.

„Ihr auch“, sagte ich zu den Männern. „Ihr bekommt erst etwas zu Essen, wenn ihr sauber seid.“

„Ich auch?“, fragte Salia und blieb dann direkt am Ufer stehen, als wüsste sie nicht weiter.

„Du auch.“ Ich legte die Tücher beiseite, kniete mich vor sie und begann sie auszuziehen. Sie kicherte, als ich sie dabei spielerisch unter den Armen kitzelte. Dabei glitzerte ihre Kette, mit dem rosa Scharfanhänger, um ihren Hals. Es war ein Geschenk von Sawyer zu ihrem siebenten Geburtstag gewesen. Sie liebte dieses Ding.

Sobald sie nackig war, richtete ich mich wieder auf und löste den Gürtel von meiner Taille. Ich legte ihn sorgfältig neben Salias Sachen, dann griff ich nach dem Saum meines langen Hemdes. Gerade als ich es mir über den Kopf ziehen wollte, bemerkte ich die Blicke von Sawyer und Killian.

Sawyer hatte interessiert die Augenbraue gehoben, während Killian ein wenig ungläubig wirkte.

Ich schaute mich um, um zu erfahren warum sie so seltsam guckten, konnte aber nichts entdecken. „Was ist los?“

„Nichts“, sagten beide Männer wie aus einem Munde, nur in verschiedenen Tonlagen.

Ich wartete, ob da noch mehr kommen würde. Als das ausblieb, schüttelte ich nur den Kopf und entledigte mich meines Hemdes. Der Wind strich mir angenehm über die nackte Haut, als ich mein Hemd zu meinem Gürtel packte. Dann reichte ich Salia meine Hand. „Na los, lass und baden gehen.“ Und an die Männer fügte ich hinzu: „Das mit dem Essen war mein Ernst gewesen. Ihr bekommt nichts, solange ihr nicht sauber seid.“

Wolf brummte nur, entledigte sich völlig ungeniert seiner Sachen und legte sie neben den Karren, während ich probeweise einen Fuß ins Wasser stellte. Es war kühl, aber auszuhalten.

Salia war da ganz anderer Meinung. Mutig wie nur siebenjährige es sein konnten, sprang sie ins Wasser und quickte dann auf. „Das ist ja kalt!“

„Du wirst dich gleich daran gewöhnen“, versprach ich ihr und ließ sie los, um meine Arme in den Bach zu tauchen und mich nass zu spritzen. Sobald ich mich selber ein wenig daran gewöhnt hatte, setzte ich mich ins Wasser und machte Salia nass.

Sie quickte wieder, platschte dann aber mit den Händen auf die Oberfläche und spitzte mit dem Wasser herum.

„Pass auf, dass du nicht ausrutschst“, warnte ich sie und begann mich zu waschen.

Wolf kam nun auch ins Wasser, allerdings war er nicht so vorsichtig wie ich. Er marschierte einfach hinein, bis das Wasser ihm bis zu den Oberschenkeln reichte und begann direkt damit, sich zu waschen.

Als ich seinen nackten Hintern mehr oder weniger vor der Nase hatte, musste ich an etwas denken, was Roxy einmal gesagt hatte. Sie meinte, mit diesem Arsch, könnte man Nüsse knacken und ja, ich musste zugeben, er war wirklich muskulös. Nach meiner Auffassung jedoch zu sehr. Er war nicht hässlich und hatte einiges zu bieten, wie ich sehr deutlich erkennen konnte, aber er war einfach nicht mein Typ.

„Warum eigentlich nicht.“ Sawyer trat sich die Schuhe von den Füßen, zog sich dann das Hemd über den Kopf und ließ es achtlos ins Gras fallen.

Ich versuchte mich auf meine Wäsche zu konzentrieren und nicht zu auffällig zu ihm rüber zu schauen, als Sawyer auch noch seine Hose öffnete. Ich hatte ihn bereits nackt gesehen, als ich einfach in sein Bad geplatzt war. Ich hatte ihn auch schon erregt gesehen, als ich im Rosengarten zufällig über ihn und Celeste gestolpert war. Sein Körper war mir also nicht fremd. Trotzdem erwischte ich mich dabei, wie ich ihn unauffällig beobachtete, als er nackt in den Fluss gewartet kam. Er war schlank, ohne dürr zu sein, genau richtig für seine Körpergröße. Seine Haut hatte eine natürliche Bräune und sein Hintern war recht ansehnlich. Auch das was er vorne zu bieten hatte, konnte sich sehen lassen. Gaia hatte es gut mit ihm gemeint. Wenn er nicht Sawyer wäre, könnte ich glatt …

„Guck mal Papa, ich bin ein Frosch. Quark.“ Salia machte einen Sprung und mir spritzte Wasser ins Gesicht. Das würde mir eine Lehre sein, noch einmal so zu gaffen.

Verärgert über mich selber, schrubbte ich meine Haut stärker, als notwendig gewesen wäre. Dabei bemerkte ich, dass Killian immer noch draußen stand. Im Sonnenlicht bemerkte ich auch, dass sein Veilchen nicht mehr zu sehen war. „Komm rein, das Wasser ist angenehm.“

„Ja, oder bist du etwa prüde?“ Sawyer drehte sich und präsentierte mir eine Frontalansicht.

Vielen Dank auch.

Seufzend, als würde er sich seinem Schicksal ergeben, trat Killian seine Schuhe von den Füßen und entledigte sich dann nach und nach seiner Kleidung.

Er war ein wenig größer als Sawyer und definitiv muskulöser. Außerdem war seine Haut heller. Und an seiner Hüfte hatte er ein großes Feuermal. Ihn hatte ich noch nicht nackt gesehen, darum war an meiner Neugierde auch nichts auszusetzen. Allerdings hatte ich mit Killian fast geschlafen. Leider war uns seine Arbeit dazwischengekommen.

Moment, was hieß hier leider? Es war gut gewesen. Ich hatte einen Moment die Kontrolle verloren und war zum Glück gestört worden, bevor es zum äußeren gekommen war, denn auch wenn es sich in diesem Moment gut angefühlt hatte, wusste ich, dass ich es später bereut hätte. Ganz egal, wie gut er gebaut war und wie sehr er mir gefiel.

Verdammt, jetzt waren diese Bilder wieder in meinem Kopf. Wie er mich geküsst hatte, wie er mich berührt hatte, wie er sich angefühlt hatte.

Auf einmal wurde mir klar, dass ich ihn direkt anschaute und auch, dass er meinen Blick erwiderte. Seine Augen blitzten und ich war mir ziemlich sicher, dass er in diesem Moment an das gleiche dachte wie ich.

„Wollt ihr ungestört sein?“

Mein Blick huschte zu Sawyer. Seine Worte mochten spöttisch geklungen haben, doch der Ausdruck in seinem Gesicht war es nicht. Er wirkte ehr … verstimmt. „Sei nicht albern“, sagte ich und drehte mich demonstrativ von den Männern weg. Es gab keinen Grund, mit einem von ihnen allein sein zu wollen. Und dass meine Hormone gerade so durchdrehten, war nicht meine Schuld. Keine Ahnung, was mit mir los war und ich hatte auch nicht vor, genauer darüber nachzudenken, um es herauszufinden.

Wahrscheinlich lag es einfach nur daran, dass ich seit fast drei Monaten keinen Sex mehr gehabt hatte. Diese Erklärung war genauso gut wie jede andere auch, also gab ich mich damit zufrieden und verdrängte die Bilder von mir und Killian aus meinem Kopf.

Außerdem, warum musste ich dabei nur an Killian denken, mit Sawyer hatte ich schließlich auch rumgemacht und es war …

Nein, nein, nein, du wirst jetzt nicht auch noch daran denken!

Verdammt, was war denn gerade nur los mit mir? Zeit den Kopf unter Wasser zu tauchen, das wird meine Gedanken vielleicht ein wenig abkühlen.

Ich lehnte mich zurück, holte tief Luft und tauchte ins Wasser ab. Die Welt um mich herum wurde stumm. Meine Gedanken leider nicht und da half es auch nicht, so lange unten zu bleiben, bis mir fast die Luft ausging.

Als ich wieder auftauchte, war Killian auch ins Wasser gekommen, stand aber ein wenig abseits und hatte uns den Rücken zugedreht. Sawyer dagegen saß bei Salia und plantschte mit ihr im Wasser. Auf seinen Lippen lag ein Lächeln, ehrlich und aufrichtig. Ich mochte dieses Lächeln, nur leider bekam ich es nur zu Gesicht, wenn er mit seiner Tochter spielte. Es wurde sogar noch breiter, als Salia die kleinen Fische im Wasser bemerkte und versuchte sie zu fangen. 

Sawyer liebte seine Tochter, sie war der wichtigste Mensch in seinem Leben und er würde wohl alles für sie tun.

Bei diesem Gedanken, verspürte ich einen Stich des Neides. Es war albern, auf ein kleines Kind neidisch zu sein, denn die Kleine verdiente diese bedingungslose Liebe. Es war nur … ich wollte das auch. Früher hatte ich das einmal gehabt, doch jetzt war mir nichts mehr geblieben, außer meinen Trotzkopf.

Ich sollte dringend meinen Kopf ausschalten, da kam heute nur Mist raus.

Missmutig schrubbte ich mich ab. Die Lust aufs Baden war mir vergangen und so war ich die erste, die aus dem Wasser stieg, sich eines der Tücher nahm und sich abtrocknete. Danach ging ich zum Karren und nahm mir saubere Sachen.

Sobald ich angezogen war, suchte ich auch etwas für Salia und die Männer heraus. Killian und Sawyer waren kein Problem, aber für Wolf fand ich nichts Passendes. Ich musste dringend etwas für ihn nähen.

Um Mich beschäftigt zu halten, legte ich allen ihre Sachen hin und sammelte dann die Schmutzwäsche ein. Dann holte ich mir das Waschbrett vom Karren und setzte mich auf einen großen Stein im Bach, um die Kleidung sauber zu machen.

Ich mochte diese Arbeit nicht. Sie war anstrengend und meine Finger waren hinterher immer total verschrumpelt. Trotzdem beruhigte mich diese vertraute Tätigkeit heute und Ruhe überkam mich.

Im Hintergrund hörte ich Salia vergnügt kreischen und Sawyer lachen. Um uns herum zwitscherten die Vögel in den Bäumen und am Ufer graste Trotzkopf. Dieser Moment hatte etwas Friedliches, wie ich es schon lange nicht mehr gespürt hatte.

Ich hatte gerade mal vier Teile fertig, als Wolf beschloss, dass er nun sauber genug war. Sawyer und Salia kamen kurz nach ihm aus dem Wasser, auch wenn Salia gerne noch etwas länger darin geblieben wäre. Killian war der letzte, der dem Bach entstieg und sich trocken rubbelte.

Als die Sonne langsam dem Horizont entgegenrollte, sah ich Wolf auf dem Karren herumkramen. Er schob ein paar Kisten hin und her, bis er den Fischspeer gefunden hatte und marschierte damit dann an mir vorbei.

Frischer Fisch zum Abendessen, wäre nicht schlecht. Allein der Gedanke daran, ließ meinen Magen auffordernd knurren, als hätte ich ihn seit Jahren nicht gefüllt.

„Da scheint jemand Hunger zu haben.“

Überrascht zuckte ich zusammen und hätte fast das Waschbrett ins Wasser fallen lassen. Ich hatte mich so auf Wolf konzentriert, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie Killian ans Ufer getreten war. Er trug etwas ähnliches, wie gestern, nur dass dieses Hemd deutlich länger und älter war.

„Ich habe heute ja auch noch nichts gegessen“, rechtfertigte ich mich. Warum hatte ich überhaupt das Bedürfnis, mich zu rechtfertigen? Das war völlig unnötig. Im Gegensatz zu den anderen, hatte ich bei unserer kleinen Pause am Vormittag nichts zu mir genommen. Nach diesem Morgen war mir einfach der Appetit vergangen. Nun rechte sich das.

Etwas gröber, als es von Nöten gewesen wäre, schrubbte ich das Hemd über das Waschbrett. „Brauchst du etwas?“

„Nein.“ Er schaute mir einen Moment zu, biss sich dabei auf die Lippen und schien unschlüssig, ob er den Mund öffnen sollte. „Ich wollte mich nur bei dir entschuldigen. Das mit Eden … es war dumm gewesen, ich habe nicht nachgedacht.“

Dem war nichts hinzuzufügen, aber konnte ich ihm wirklich einen Vorwurf daraus machen, dass er es versucht hatte? Wenn ich einen Ort hätte, nach dem ich mich sehnte, würde ich auch alles versuchen, dorthin zu kommen. „Ich verstehe dich“, sagte ich, nahm das Hemd und begann damit, es gegen den Stein zu schlagen. „Du willst nach Hause, hast dir aber deine einzige Chance verbaut, um mich zu retten. Du findest, dass war die richtige Entscheidung, aber nach Hause willst du immer noch, nur würdest du den Weg nicht mal dann finden, wenn dein Leben davon abhinge.“

Er lachte leise.

„Wenn du mich überzeugen könntest zu gehen, dann könnte ich dich dort hinbringen.“ Und wenn er mich gleich mitbrachte, würde man ihn vermutlich mit einem Fest empfangen und ihn als Helden feiern. „Das wird nicht passieren. Niemals.“ Das sollte er sich lieber gleich klar machen. Es gab nichts auf dieser Welt, dass mich dazu bringen könnte, freiwillig in diese Stadt zurückzukehren.

Killian sagte nichts dazu. Er stand still am Ufer, und beobachtete, wie ich das Hemd immer wieder gegen den Stein schlug. „Das sieht aus, als hättest du es schon oft gemacht.“

„Oft genug.“ Und es war jedes Mal wieder anstrengend und nervig.

„Kann man dir helfen?“

Überrascht hielt ich inne. „Du willst die Wäsche waschen?“ Das hatte mich noch niemand gefragt. Wenn die Wäsche anstand, hatten alle plötzlich immer unheimlich viel zu tun.

Er zuckte nur mit den Schultern. „Es ist schließlich auch meine Wäsche.“

Na gut, wenn er unbedingt wollte. Weniger Arbeit für mich. „Dann komm her, ich zeige es dir.“

Schmunzelnd schaute ich ihm dabei zu, wie er seine Schuhe auszog und dann etwas umständlich durch den Bach watete, um sich neben mich auf den Stein zu setzten. Dann zeigte ich ihm, was er tun musste. Er war … naja, es war sein erstes Mal.

Das mit dem Waschbrett, bekam er nicht richtig hin, also zeigte ich ihm, wie er die Wäsche ausschlagen musste. Bei seinem ersten Versuch, flutschte ihm das Hemd aus der Hand und landete im Wasser. Bei zweiten schlug er es sich selber ins Gesicht.

Nicht zu lachen, war ein Ding der Unmöglichkeit. „Solche Arbeit bist du wohl nicht gewöhnt“, kicherte ich.

„Nein, ganz und gar nicht.“ Er rieb sich über die Wange und versuchte es dann noch einmal. „Für sowas haben wir Maschinen.“

Ja, die Menschen in der Stadt, ließen sich die Arbeit gerne von Maschinen abnehmen. Auch bei seiner Arbeit, hatte Killian immer irgendwelche Geräte und Technologien genutzt, um mich zu untersuchen. Manche von den Dingen hatten unheimlich kompliziert gewirkt, doch den Umgang, hatte er so einfach aussehen lassen.

Killian schien immer Freude bei der Arbeit zu haben, selbst bei einer schwierigen Patientin wie mir. „Wie bist du zu deiner Arbeit gekommen?“, fragte ich, weil mich das plötzlich interessierte. „Wolltest du schon immer Arzt werden?“

„Nein. Ich habe einen Test gemacht, der mir gesagt hat, wozu ich am Besten geeignet bin.“

Ach ja, diese Tests, das hatte ich ganz vergessen. Obwohl ich das wahrscheinlich eher verdrängt hatte. „Also hat man dir die Entscheidung abgenommen.“

„Nicht ganz.“ Er schlug das Hemd noch einmal, ließ es dann liegen und schaute mich an. „Der Test gibt dir nicht eine Sache vor, er zeigt dir mehrere Möglichkeiten auf, von denen du eine wählen kannst.“

„Möglichkeiten?“

„Hmh.“ Er richtete den Blick nach vorne, wo Wolf in einiger Entfernung, bewegungslos im Bach stand. Den Speer hatte er erhoben und die Augen aufs Wasser gerichtet. „Ich konnte aus sechs Berufen wählen.“

„Was stand denn noch zur Auswahl?“ Ich nahm mir eine Hose und tauchte sie ins Wasser, bevor ich damit begann, sie über das Waschbrett zu reiben.

„Hmm, lass mal nachdenken. Also, an erster Stelle, Grundschullehrer. An zweiter, Erzieher im Kindergarten und an dritter, Sozialpädagoge an der Schule.“

Ich hatte keine Ahnung, was das Letzte sein sollte, aber eines stach deutlich hervor. „Du solltest mit Kindern arbeiten.“

„Ich mag Kinder.“ Sein Lächeln war bezaubernd und berührte etwas in mir.

Schnell schaute ich woanders hin. „Was noch, was hättest du noch werden können?“

„Psychologe und Mediziner in der Forschung“, sagte er und drehte sich halb zu mir um. Das Hemd war vergessen. War ihm wohl doch zu anstrengend. „Arzt war meine letzte und die am wenigsten geeignete Möglichkeit für mich gewesen.“

Das überraschte mich. „Und du hast sie trotzdem gewählt? Warum?“

Die plötzliche Bewegung von Wolf, zog Killians Aufmerksamkeit kurz auf sich. Der Speer steckte im Bach und als er ihn wieder herauszog, zappelte ein Fisch an der Spitze. Lecker, Abendessen.

„Ich wollte mit Menschen arbeiten und gleichzeitig etwas für unsere Zukunft tun“, erklärte Killian. „Da hat sich der Beruf als Tokologe einfach angeboten. Und ich habe es auch nie bereut.“ Der Ausdruck in seinem Gesicht wurde ganz sanft. „Das Gefühl, wenn du einen Menschen auf die Welt bringst und diesen Menschen das erste Mal im Arm hältst, einen Menschen, den du selber dabei geholfen hast, erschaffen zu werden … das ist unbeschreiblich. So ein kleines, unschuldiges Wesen im Arm zu halten, es gibt einfach kein schöneres Gefühl.“

Da konnte ich nicht mitreden. Das einzige Baby, dass ich jemals im Arm gehalten hatte, war Nikita gewesen und damals war ich selber noch ein Kind. Aber ich bemerkte seine Begeisterung und das Entzücken, wenn er über so ein kleines Wesen sprach. „Du magst Kinder wirklich.“

Er hob eine Augenbraue. „Warum so erstaunt?“

„Du hast bisher nicht den Eindruck gemacht, viel mit Kindern anfangen zu können.“ Zwar half er dabei, sie zu erschaffen, doch mehr Interesse an diesem Thema, hatte er mir gegenüber nie gezeigt.

Andererseits, hatte ich ihm auch nie die Gelegenheit gegeben, etwas von sich preiszugeben. Er war der Feind gewesen und deswegen hatte es mich nicht interessiert. Hier jedoch lagen die Dinge nun ganz anders. Da er bei uns war und auch nicht zurückkehren konnte, gehörte er nun zu uns. Die Karten waren neu gemischt worden.

„Außer mit Salia, hast du mich noch nie mit Kindern zusammen erlebt. Und Sawyer möchte mich nicht in der Nähe seiner Tochter haben, also lasse ich es. Die Kleine hat schon genug durchgemacht, sie brauch nicht noch mehr Druck.“ Er lächelte wieder so selig. „Aber die Kleine ist toll, ein richtiger Wildfang.“

„Das hört sich an, als würdest du selber gerne eines haben.“

„Oh, ich werde eines haben, ich stehe schon auf der Warteliste“, erklärte er mir stolz. „Doch bevor ich in Betracht gezogen werde, muss ich erst eine Frau haben.“

Eben noch hatte ich gedacht, dass er bei uns bleiben würde, aber wie es schien, hatte er seinen Plan nach Hause zu gehen, noch nicht aufgegeben. Doch das Misstrauen, dass sei Haupt erhob, kam von einer ganz anderen Seite. „Eine fruchtbare Frau?“ War das der Grund, warum er sich in Eden so für mich interessiert hatte? Sah er in mir eine Chance, auf ein Kind?

„Nein, darum geht es nicht, sondern um Adoption“, sagte er, ohne etwas von meinen Gedanken zu ahnen. „Du weißt doch, dass die unfruchtbaren Kinder der Evas an geeignete Familien gegeben werden, um bei ihnen aufzuwachsen.“ Als ich nickte, fuhr er fort: „Um ein Kind adoptieren zu können, muss man allerdings ein paar Voraussetzungen erfüllen.“

„Eine Voraussetzung ist eine Frau.“ Soviel hatte ich verstanden, aber wie es schien, war es nicht wichtig, was für eine Frau.

„Genau, ich muss verheiratet sein“, bestätigte er. „Das Kind soll in einer intakten Familie aufwachsen, damit es die besten Voraussetzungen für sein zukünftiges Leben hat.“

Offensichtlich konnte er also jede Frau nehmen. Ganz egal welche, Hauptsache sie war weiblich. Was ein dummer Gedanke war, da jede Frau weiblich war. Er konnte Carrie nehmen, meine Fallmanagerin. Oder Roxy. Oder sogar Dascha. Obwohl ihm vermutlich eine Frau lieber wäre, der er bereits nähergekommen war. „Dann nimm doch deine Arzthelferin.“ Es kam bissiger heraus, als ich beabsichtigt hatte. Aber das war mir egal. Sollte er doch mit irgendeiner Frau glücklich werden.

„Pandora?“ Seine Überraschung war echt. „Sie ist eine nette Frau, aber …“ Er wandte sich ein wenig, als sei ihm dieses Thema unangenehm. „Sie ist nichts für mich.“

„Du hast sie geküsst.“ Verdammt, warum klang das bitte wie ein Vorwurf? Mir doch egal, wen er küsste.

Seine Wangen röteten sich leicht. „Das war … ein Versehen.“

„Ein Versehen?“ Ich schnaubte. „Wie kann ein Kuss ein Versehen sein? Ist sie gestolpert, und auf dich drauf gefallen, sodass eure Lippen sich versehentlich getroffen haben? Und warum grinst du jetzt so blöd?“ Er sollte das lassen, das war nicht lustig.

Sein Lächeln wurde noch eine Spur breiter. „Du regst dich darüber ganz schön auf.“

„Natürlich regt mich das auf, wenn du so was dummes sagst.“ Ich funkelte ihn an. „Hör auf zu grinsen!“

Ich musste ihm zugutehalten, dass er es versuchte. Leider versagte er auf ganzer Linie.

Das ärgerte mich. Ich wusste nicht einmal, warum mich das ärgerte und das ärgerte mich auch. „Das ist mir zu blöd“, verkündete ich und stieg vom Felsen. Sollte er doch allein die Wäsche waschen, ich würde in der Zeit schon mal die Wäscheleine spannen und die bereits fertige Kleidung aufhängen. Hauptsache, ich kam von ihm weg.

„Warte, ich helfe dir“, sagte er, als ich nach den sauberen Sachen griff und stieg selber vom Felsen. Da geschah es. Bevor ich ihm sagen konnte, dass ich seine Hilfe nicht brauchte, streckte er schon die Hand nach mir aus. In dem Moment rutschte er auf dem glitschigen Untergrund aus. Seine Hand griff nach dem nächstbesten, um sich abzufangen – meinen Arm – doch ich war darauf nicht vorbereitet. Er kippte rückwärts und riss mich mit sich.

Er platschte durch die Oberfläche und ich landete genau auf ihm. Wasser spritzte um uns herum auf und durchnässte uns von oben bis unten. Dann kniete ich über ihm, die Hände links und rechts neben seinem Kopf, mein Gesicht direkt über seinem. So nahe.

Sein Blick verhakte sich mit meinem, seine Lippen öffneten sich leicht.

Ich bewegte mich nicht. Ich sollte es tun, aber ich blieb wo ich war und spürte, wie mein Herzschlag sich beschleunigte.

„Ein Versehen“, murmelte er.

Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, worauf er anspielte, doch bevor ich darauf reagieren konnte, rief Sawyer zu uns hinüber: „Brauch der Idiot eine Mund-zu-Mund-Beatmung, oder was macht ihr da?“

Ich hob den Kopf und sah, wie er mit Salia am vorbereiteten Lagerfeuer saß, die Lippen spöttisch verzogen.

Mein Blick glitt wieder zu Killian. „Dieses Versehen, wird nicht noch mal geschehen“, versicherte ich nicht nur ihm, sondern auch mir. Ich würde nicht die Frau werden, die er brauchte, nur weil er ein Kind haben wollte. Und sowas wie in seiner Arztpraxis, würde nicht nochmal passieren.

Hastig erhob ich mich und wandte mich ab, ohne ihm beim Aufstehen zu helfen. Er war ein erwachsener Mann, er würde das schon allein hinbekommen. Ich musste mich jetzt erstmal abtrocknen und dann um meine Wäsche kümmern. Und dann würde ich ihm erstmal möglichst aus dem Weg gehen.

Killian war nichts für mich, nicht solange er noch an dem Ziel festhielt, irgendwann wieder nach Eden zurückzukehren. Diese beiden Welten ließen sich einfach nicht miteinander vereinen.

Das mein Herz trotzdem noch viel zu schnell schlug, würde er niemals erfahren.

 

oOo

Kapitel 10

 

Leise prasselnd fraß sich das Feuer über die vertrockneten Äste und Blätter. Ein paar Funken stoben in den dunkeln Abendhimmel, glühten im Wind und verloschen. Einer landete auf meinem Arm. Ich klopfte ihn schnell aus, weil ich gerade kein Interesse daran hatte, mich in eine menschliche Fackel zu verwandeln.

„Ich mag keinen Fisch“, mäkelte Salia und starte angewidert auf das tote Tier, vor sich auf dem Holzteller. „Und Wölkchen mag auch keinen Fisch.“

„Du isst doch sonst auch Fisch“, sagte Sawyer.

„Aber der sieht anders aus.“

Ja, in Eden hatte der Fisch keinen Kopf und war mit einer braunen Panade ummantelt. Manchmal hatten sie nicht mal mehr die Form eines Fisches gehabt.

„Du hast doch noch gar nicht probiert“, sagte Sawyer und versuchte seine Tochter damit zum Essen zu animieren. „Versuch es doch erstmal.“

„Nein.“ Sie schob ihren Teller von sich.

„Das ist aber nicht nett“, sagte ich und griff nach dem letzten Fisch, der auf einem Stock im Feuer brutzelte. Er war an der Seite ein wenig angekokelt, aber das störte mich nicht. „Wolf hat sich solche Mühe gegeben ihn zu fangen und zu kochen und du verschmähst ihn, ohne auch nur zu probieren. Damit machst du Wolf sehr traurig.“

Wie erhofft schaute sie zu dem Riesen auf der anderen Seite des Lagerfeuers. Wolf wirkte nicht, als sei er traurig, zumindest nicht, bis ich ihm einen unauffälligen Stoß verpasste – weswegen er sich auch noch fast an seinem Fisch verschluckte. Dann schaute er tieftraurig zu Salia und ließ sogar seine Unterlippe leicht beben.

Salia überlegte, senkte den Blick dann wieder auf ihren Fisch und streckte langsam die Hand danach aus. Sie zupfte ein ganz kleines Stück davon ab, begutachtete es eine Weile und schob es sich dann widerwillig in den Mund. Da sie nicht zu würgen begann und den Fisch ins Feuer spuckte, musste er wohl genießbar sein.

Zufrieden biss ich in meinen eigenen Fisch und beobachtete, wie Sawyer den Teller wortlos zu seiner Tochter zurückschob, als sie sich ein zweites Stück abzupfte. Da siegte der Hunger wohl über den Ekel.

Es war Abend. Die Sonne war vor einer Stunde untergegangen und wir saßen alle um das Lagerfeuer und genossen unser Essen. Trotzkopf döste im Schatten vor sich hin und war von meinem Platz aus kaum zu erkennen.

Ich hatte es mir zwischen Wolf und Sawyer bequem gemacht – so weit wie möglich von Killian entfernt. Nachdem was vorhin am Bach geschehen war, hatte ich mich den ganzen Nachmittag, so gut es eben ging, von ihm ferngehalten. Es war albern, da eigentlich gar nichts passiert war. Und es würde auch nichts passieren. Also war dieses Verhalten auch völlig überflüssig. Trotzdem kam mir immer wieder dieser kurze Moment in den Sinn. Mein Gesicht direkt über seinem. Ich hatte es wahrgenommen, ich hatte es in seinen Augen gesehen, diese Sehnsucht. Hätte ich ihm nur ein Zeichen gegeben, hätte ich mich nur ein wenig weiter zu ihm hinunter gebeugt, er hätte nicht gezögert mich zu küssen.

Den Bruchteil einer Sekunde, hatte ich überlegt es zu tun. Ich hatte überlegt, die Distanz zwischen uns zu überwinden, denn in diesem einen kurzen Moment, hatte ich es auch gewollt.

Das war der Grund, warum ich mich von ihm fernhielt. Er hatte nichts falsch gemacht. Ich wollte das, und das ich das wollte, hielt mich nun auf Abstand. Ich sollte das einfach nicht wollen, nicht mit ihm. Er hatte doch vorhin erst wieder deutlich gemacht, dass der Traum von Eden für ihn noch nicht gestorben war. Es wäre einfach nur dumm, das außer Acht zu lassen.

Außerdem interessierte Killian mich sowieso nicht. Dass ich auf ihn reagiert hatte, lag einfach daran, dass er da gewesen war. Es hätte auch Wolf, oder Sawyer sein können, da wäre es das gleiche gewesen. Naja, Sawyer vielleicht nicht, bei dem hätte ich ganz schnell das Weite gesucht. Sawyer war einfach so … Sawyer eben. Ein Mistkerl mit einer Abneigung gegen Frauen.

Gut, nachdem was er hinter sich hatte, konnte ich ihm das nicht zum Vorwurf machen. Trotzdem war seine Gegenwart manchmal nicht sehr angenehm.

Andererseits hatte er mir hin und wieder auch zur Seite gestanden. Nicht nur bei der Flucht, es hatte auch andere Momente gegeben. Wie bei der Suche nach der Wahrheit über meine Mutter. Oder heute Morgen, als er mir eine neue Richtung gewiesen hatte, als ich nicht mehr weiterwusste. Aber ich war mir nicht sicher, ob die wenigen guten Taten, seinen Charakter ausgleichen konnten.

Apropos neue Richtung. „Wo genau müssen wir eigentlich hin?“ Bisher hatte Sawyer mir nur eine grobe Richtung genannt, aber ich hätte es doch gerne ein wenig genauer.

Er warf mir einen Blick zu, als hielte er mich für doof. „Habe ich doch schon gesagt, nach Osten.“

Ja, danke, sehr hilfreich. „Könntest du es ein wenig präzisieren? Der Osten ist nicht gerade klein und ist sowohl zehn, als auch dreißig Tage entfernt.“ Je nachdem, wohin man eben wollte.

„Ja, keine Ahnung.“ Er zupfte das letzte Stück Fleisch von seinem Fisch, schob es sich in den Mund und kaute in aller Ruhe. Davon, dass ich weiter auf eine Antwort wartete, ließ er sich nicht drängen. „Weißt du wo vor der Wende die polnische Grenze war?“

Dieser Ort sagte mir gar nichts, also schüttelte ich den Kopf.

„War ja klar“, murmelte er abfällig und legte die Reste von seinem Fisch auf seinen Teller. Dabei ignorierte er geflissentlich meinen bösen Blick. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn er so überheblich war und so tat, als wäre ich strohdumm.

Mir gegenüber öffnete Killian den Mund. „Im Norden ist die Oder die Grenze.“ Als ich ihn nur ratlos ansah, fügte er hinzu: „Der Fluss.“

In Ordnung, damit konnte ich etwas anfangen, doch Sawyer schüttelte den Kopf.

„Nein, wir müssen viel weiter südlich. Vor der Wende hat es dort eine Stadt gegeben, direkt an der Grenze. Ein Stück davor, ist ein kleines Waldstück. Darin befindet sich die Siedlung meines Vaters.“

„Siedlung?“ Sein Vater lebte in einer richtigen Siedlung?

Sawyer nickte. „Eine kleine Siedlung, vielleicht acht oder neun Häuser.“

„Und sie sind alle bewohnt?“ Sowas war selten. Bisher hatte ich geglaubt, an unserem Ziel, gäbe es nur Sawyers Familie. So konnte man sich irren.

„Das waren sie damals zumindest. Heute könnte es anders sein. Vielleicht leben dort nun weniger Menschen.“

„Vielleicht aber auch mehr“, mischte sich Killian ein. „Menschen finden sich gerne zu größeren Gruppen zusammen, wenn sie die Möglichkeit haben.“

Eigentlich wollte ich Killian gar nicht zur Kenntnis nehmen, doch das war schwer, wenn er einen so direkt ansprach. Ich knabberte die Reste von meinem Fisch, so hatte ich wenigstens einen Grund, ihn nicht anzusehen.

„Warum mischst du dich immer ein?“, wollte Sawyer wissen.

„Weil ein Gespräch mit mir viel angenehmer ist, als mit dir.“

Nicht schon wieder. Besser ich beendete das gleich, bevor die beiden wieder auf Konfrontation gingen. „Kannst du ungefähr abschätzen, wann wir da sein werden?“

Er zuckte die Achseln und half Salia dabei, die Reste von ihrem Fisch zu zupfen. „Ich war sechzehn Jahre fort und kann Entfernungen nicht mehr so gut einschätzen. Eine Woche, vielleicht ein wenig mehr. Schwer zu sagen, ist einfach zu lange her.“

Eine Woche, das war nicht lange. Unsere Vorräte würden auf jeden Fall reichen – besonders, wenn Wolf und ich zwischendurch noch jagen gingen. „Aber du erkennst es, wenn du es siehst.“

„Solange die Gegend sich nicht in eine Wüste, oder in eine Berglandschaft verwandelt hat, sollte mir das gerade noch so gelingen.“

Oh Gaia, warum nur musste er immer gleich so zickig werden. „Ich habe ja nur gefragt.“

Killian erhob sich und entfernte sich mit eine „Bin gleich zurück“, vom Lagerfeuer. Da er Richtung Bäume ging, musste er wohl mal austreten.

„Sind da auch andere Kinder?“, wollte Salia wissen. Sie hatte den Fisch, den sie nicht mochte, bis auf das letzte Stück vertilgt und schielte nun auf die anderen Teller, als hoffte sie, dort noch etwas zu finden.

„Ich weiß es nicht.“ Sawyer strich seiner Tochter über den Kopf. Die Kleine trug immer noch den Zopf, den Azra ihr heute Morgen gemacht hatte. „Vielleicht.“

„Dann kann ich mit ihnen spielen.“

Ich erhob mich und ging zum Karren hinüber. Dort zog ich eine der Kisten mit dem Essen zu mir heran und kramte so lange darin herum, bis ich einen Beutel mit getrockneten Pflaumen zu fassen bekam.

Bewaffnet mit meiner Beute, setzte ich mich wieder neben Sawyer und reichte der Kleinen den Beutel. „Hier, isst das.“

Sie nahm den Beutel und spähte neugierig hinein. Das getrocknete Obst war wohl nicht so eklig wie der Fisch, denn sie griff sofort hinein und steckte sich ein Stück in den Mund.

Eine Woche, vielleicht ein wenig mehr. In einer Woche könnte ich ein neues Zuhause haben, wo ich ein neues Leben beginnen würde. Wieder einmal. Das wäre dann das vierte Mal. Und das erste Mal, dass ich völlig allein war.

Egal was mir in meinem Leben bisher widerfahren war, Nikita war immer bei mir gewesen. Als ich mit ihr vor den Trackern geflohen war, die meine Mutter und meinen Bruder getötet hatten. Als Marshall uns im Keller einer alten Ruine entdeckt hatte. Selbst in Eden war sie bei mir gewesen. Dieses Mal jedoch war es anders. Sie war weg und ich sollte verdammt noch mal damit aufhören, mir ständig Gedanken darüber zu machen, was ich verloren hatte. Es war vergangen und es spielte keine Rolle mehr. Etwas das weg war, würde niemals zu einem zurückkommen – das hatte ich bereits früh gelernt.

Viel wichtiger war jetzt das, was vor uns lag. Weitere lange Tage anstrengender Fußmarsch und am Ende … ja, was genau erwartete mich eigentlich an unserem Ziel? „Wie ist es da, wo du gelebt hast?“

Da Salia ihrem Vater gerade eine getrocknete Pflaume in den Mund gesteckt hatte und er erstmal kauen musste, konnte er nicht sofort antworten. Dabei zuckte er die Schultern, was alles oder nichts bedeuten konnte. „Ein kleiner Ort eben“, sagte er dann. „Dort gibt es einen uralten Luftschutzbunker, der zur Zeit der Wende gebaut wurde. Die Leute haben ihre Häuser um den Bunker herum errichtet. Es gibt einen Stall und ein paar Felder. Eine kleine Siedlung eben.“

Also im Grunde alles, was man zum Leben brauchte. Das hörte sich wirklich gut an. Allerdings … „Was ist, wenn wir die Siedlung nicht finden?“

Sein Gesicht verfinsterte sich. „Ich werde sie finden. Ich war vielleicht ein Weilchen weg, aber ich bin nicht unterbelichtet und leide auch nicht an Demenz.“

So wie sich das anhörte, befürchtete ich bereits, dass aus einer Woche locker zwei werden konnten, weil wir uns auf seinen Orientierungssinn verlassen mussten. Wahrscheinlich würden wir uns verlaufen. Das waren ja tolle Aussichten. „Das war keine Antwort auf meine Frage.“

Sawyer antwortete nicht sofort. Stattdessen richtete er den Blick in die Flammen. Der Ausdruck in seinem Gesicht wurde grimmig. „Sollten wir sie wirklich nicht finden, dann schließen wir uns eben einer anderen Gruppe an, oder bauen uns etwas Eigenes auf. Keine Ahnung, warum fragst du mich das überhaupt? Du bist doch hier unser super Outsider-Spezialist.“

Ich hatte keine Ahnung, was ein Outsider-Spezialist war, aber ich wollte mir nicht schon wieder die Blöße von Unwissenheit geben, also reagierte ich nicht darauf. Ich hasste es, mich wie ein dummes Mädchen zu fühlen, aber die Menschen aus Eden hatten manchmal wirklich seltsame Begriffe für bestimmte Dinge.

In Eden war ich mir ständig dumm vorgekommen, weil ich nicht wusste, worüber die Menschen um mich herum sprachen. Sawyer war vielleicht ein freier Mensch, aber er hatte so lange in der Stadt gelebt, dass er ihre Ausdrucksweise angenommen hatte.

Mich darüber aufzuregen würde nichts bringen, also ließ ich das Thema einfach fallen. Trotzdem musste ich mich fragen, ob es nur mir so ging. Wolf war schließlich wie ich. Störte ihn das denn gar nicht? Er sah auf jeden Fall nicht so aus. Aber wo wir schon mal beim Thema waren, ich hatte ihn nie nach seiner Herkunft gefragt. „Was ist eigentlich mit dir?“, erkundigte ich deswegen. „Gibt es keinen Ort, an den du zurück möchtest?“

Brummend schüttelte er den Kopf, zog dann Block und Stift aus seiner Hosentasche und begann zu schreiben.

Hinter mir knackte etwas und als ich mich alarmiert umdrehte, sah ich Killian aus der Dunkelheit auftauchen. Ich wollte mich schon wieder entspannen, als ich bemerkte, dass er nicht auf seinen Platz zurück ging. Nein, er kam um das Lagerfeuer herum und ließ sich zwischen mir und Wolf in den Schneidersitz sinken. Dabei berührte sein Bein das meine, weswegen ich sofort von ihm wegrutschte. Leider brachte mich das näher an Sawyer heran, was auch nicht unbedingt besser war.

Er nahm meine plötzliche Nähe mit einer erhobenen Augenbraue zur Kenntnis.

Ich antwortete mit einem bösen Blick, der ihn davor warnte, jetzt etwas Unpassendes zu sagen.

Seine Lippen verzogen sich zu einem süffisanten Lächeln, doch was auch immer er sagen wollte, es blieb mir erspart, weil Wolf in dem Moment brummte. Er reichte seinen Block an Killian, damit der vorlas, was er geschrieben hatte.

„Ich habe schon lange kein Zuhause mehr“, las er vor. Dabei wirkte er nicht gekränkt, weil ich von ihm abgerückt war. Eher … amüsiert. „Meine Mutter ist bereits vor vielen Jahren gestorben. Damals habe ich mein Heim verlassen und ziehe seitdem umher. Ich wollte dort nicht bleiben, nachdem sie fort war.“

Das Gefühl kannte ich. „Woran ist sie denn gestorben?“, hörte ich mich fragen, bevor ich mich bremsen konnte. Ich würde nicht wollen, dass man mir diese Frage stellte. Nicht nur weil es etwas Persönliches war, meine Mutter war auch auf grausame Art von uns gegangen.

Wolf jedoch nahm einfach wieder den Block an sich und schrieb erneut etwas darauf. Dann drehte er ihn so, dass Killian die Worte lesen konnte.

„Sie war alt. Sie war bereits alt gewesen, als sie mich bekommen hat. Ihre Zeit war einfach abgelaufen.“

„Und seitdem warst du immer allein?“

Er nickte, begann dann aber noch etwas auf seinen Block zu schreiben.

Irgendwie schämte ich mich ein wenig dafür, dass ich ihn diese Dinge nicht schon früher gefragt hatte. Der einzige Gedanke, der mich die letzten Zwei Wochen vorangetrieben hatte, war der Wunsch nach Hause zu kommen. Und wenn ich nicht von diesen Gedanken getrieben war, hatte ich versucht, Nikita und ihren Verrat aus meinem Kopf zu verdrängen. Ich hatte mich für nichts anderes interessiert und auch jetzt beschäftigte ich mich wahrscheinlich nur damit, um mich von anderen Dingen abzulenken.

Dieses Mal schrieb Wolf ein wenig länger, bevor er den Block wieder an Killian reichte.

„Manchmal habe ich Menschen getroffen. Einmal habe ich mich sogar einer Gruppe angeschlossen. Dort gab es eine Frau, die sehr interessiert an mir war, aber ich interessierte mich nicht für sie. Daraufhin hat sie behauptet, ich hätte sie gezwungen, mit mir zu schlafen. Die Männer der Gruppe wollten mich deswegen töten, also bin ich schnell verschwunden.“

Sawyer gab ein abschätzendes Geräusch von sich. „Warum nur bin ich nicht überrascht, dass die Schlampen hier draußen genauso verkommen sind wie in Eden.“

„Vielen Dank auch“, murrte ich.

Er zwinkerte mir zu. „Ausnahmen bestätigen die Regel.“

Sollte das eine Entschuldigung sein? Oder sogar ein Kompliment? Ich beschloss, diese Frage für mich zu behalten. Ein Gespräch über Frauen mit Sawyer, konnte nur anstrengend sein. Außerdem hatte ich noch eine Frage an Wolf. „Waren sie es die dich verletzt haben?“ Ich zeigte auf sein Bein. „Du warst verletzt, als die Tracker dich gefangen haben.“

Mit einem Kopfschütteln nahm er den Block wieder an sich und zückte den Stift ein weiteres Mal. Seine Augenbrauen zogen sich leicht zusammen, während er Zeile um Zeile füllte und ihn dann an Killian zurückgab.

„Die Verletzung am Bein habe ich mir bei einer Jagd zugezogen, als ich an einem rostigen Stück Metall hängen geblieben bin. Davon bekam ich die Blutvergiftung. Nur deswegen war es den Trackern möglich, mich zu überraschen. Ich war im Fieberwahn und habe sie nicht kommen sehen.“

Ich erinnerte mich noch gut daran, wie die Tracker ihn bewusstlos in dem Bus geschleppt hatten. Er hatte wirklich nicht gut ausgesehen. Ich gab es nicht gerne zu, aber ohne die Tracker, wäre er heute vermutlich nicht mehr am Leben. Doch die Tatsache, dass sie ihn gerettet hatten, gab ihnen noch lange nicht das Recht, ihn zu versklaven und für ihre Zwecke einzusetzen. Besonders dann nicht, wenn er nicht wollte. Und er hatte nicht gewollt.

Da fiel mir noch eine Frage ein, die ich mir schon damals gestellt hatte. „Als sie dich in den Bus gebracht haben, haben sie behauptet, du wärst vor ihrer Nase einfach umgefallen. Stimmt das, oder haben sie nachgeholfen?“

Er zuckte mit den Schultern. Sollte wohl heißen, dass er es nicht mehr wusste. Verständlich, wenn man so im Fieberwahn war.

Ich selber hatte auch mal eine übel entzündete Wunde gehabt, deswegen fehlte mir heute auch ein Stück aus meinem Oberschenkel. Der Heiler, zu dem Marshall mich gebracht hatte, hatte das betroffene Gewebe einfach weggeschnitten. Aber ich wusste noch, wie ich mich damals gefühlt hatte. Alles war in seltsamen Bildern und kurzen Szenen abgelaufen und Fieberträume hatten sich mit der Realität vermischt. Bis heute konnte ich nicht genau sagen, was alles real gewesen war und was nicht.

Wolf nahm sich seinen Block ein weiteres Mal, schrieb etwas darauf und reichte ihn an Killian zurück.

„Das erste, an das ich mich erinnere, nachdem ich wieder aufgewacht bin, bist du. Ich weiß noch, wie du versucht hast, mir zu helfen. Dafür bin ich dankbar.“

Etwas an diesem letzten Satz ließ Killian lächeln.

„Was?“, fragte ich und versuchte gar nicht erst das Misstrauen aus meiner Stimme herauszuhalten. Ich wusste nicht, was an dieser Aussage so witzig war.

„Nichts“, sagte er ganz unschuldig und legte den Block zwischen sich und Wolf auf die Felle.

Ich kniff die Augen ein wenig zusammen, was ihn noch breiter lächeln ließ. „Warum grinst du dann so blöd?“

„Weil er damit deine Aufmerksamkeit bekommt. Das erste Mal heute Abend“, erklärte Sawyer und machte den Mund auf, um sich mit einer weiteren Pflaume füttern zu lassen.

Killian ließ sich nicht provozieren. „Es ist nur, du hinterlässt bei jedem einen bleibenden Eindruck.“

„Und das findest du lustig?“

„Nein, das findet er bezaubernd.“ Sawyer erhob sich von seinem Platz und ging hinüber zum Karren. „Demnächst pflückt er dir einen Strauß Blumen und überbringt dir ein Ständchen.“ Zwei, drei Handgriffe und schon hatte er mehrere Decken in der Hand. „Und dann musst du von ihm verzaubert sein.“

Killian stieß einen tiefen Seufzer aus, als sei er Sawyers Kommentare einfach nur noch leid. „Warum ist eine Unterhaltung mit dir, nur immer so anstrengend?“

Ja, das war eine ausgezeichnete Frage.

„Weil die Menschen mit der Wahrheit nur selten zurechtkommen.“ Er setzte sich wieder zu Salia und wickelte sie in eine der Decken ein.

„Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass deine Wahrheit, nicht gleichbedeutend mit der Wahrheit ist?“, wollte Killian wissen.

„Nein.“

Als Salia gähnte, bastelte Sawyer ihr noch ein Kopfkissen. Der halb leere Sack mit den Pflaumen lag vergessen neben ihr.

„Ihr beide fühlt euch nicht wohl, wenn ihr nicht zanken könnt“, bemerkte ich.

Wolf brummte, was ich als Zustimmung auffasste.

„Ich zanke mich nicht“, sagte Killian, während Sawyer erklärte: „Mit so einem Mädchen, kann man sich doch nur zanken.“

Salia gähnte und legte sich hin. Ihre Augen waren schon ganz klein, aber sie hielt sie noch offen und lauschte den Erwachsenen. 

„Man sollte meinen, ein Mann in deiner Position sollte ein Vorbild sein“, bemerkte Killian spitz. „Was glaubst du, vermittelst du deiner Tochter mit deinem Verhalten?“

Auf zur nächsten Runde.

„Das sie sich niemals wertlos fühlen brauch und sich wehren darf, auch gegen eingebildete Sonnenscheinchen, mit einem versteckten Aggressionsproblem.“ Sawyers Augen blitzten gefährlich. „Aber das sind Probleme, die du nie verstehen wirst, da du nur mit Platzpatronen schießen kannst.“

Killians ruhige Maske bröckelte ein wenig. „Und trotzdem wäre ich als Vater vermutlich brauchbarer als du.“

„Das reicht jetzt“, unterbrach ich die Beiden, als Sawyer wieder den Mund öffnen wollte. „Ihr seid beide furchtbar und für heute habe ich genug von euch.“ Ich erhob mich und kehrte ihnen den Rücken. „Ich geh mir ein wenig die Beine vertreten.“ Dann hätte ich endlich ein wenig ruhe.

Killian drehte sich zu mir um. „Kismet, warte.“

„Hast du ihr nicht zugehört?“, fragte Sawyer. „Sie hat für heute die Nase voll von dir.“

„Von mir? Du hast doch …“

Ich blendete die beiden aus und entfernte mich eilig, bis ich sie nicht mehr hören konnte. Dieses ständige aufeinander herumhacken, zerrte so an meinen Nerven, dass ich manchmal dem Bedürfnis widerstehen musste, ihnen die Köpfe abzureißen. Ich meine, war es wirklich so schwer, sich hin und wieder zusammenzureißen? Sie mussten sich ja nicht mal vertagen, wenn sie sich einfach nur anschwiegen, würde mir das schon reichen. Aber von diesem andauernden Gezänk, bekam ich schlechte Laune. Und Kopfschmerzen. Und hin und wieder sogar Mordgedanken. Vielleicht sollte ich ihnen beiden den Mund zunähen, Nähzeug hatte ich immerhin bei mir.

Na gut, das war jetzt albern, aber der Gedanke munterte mich schon ein wenig auf.

Mit einem tiefen Atemzug, sog ich die kühle Nachtluft in meine Lungen und entspannte mich ein wenig. Die kleine Baumgruppe hatte ich schon bald hinter mir gelassen. Langsam schlenderte ich durch kniehohes Gras.

Die Nacht um mich herum war dunkel, aber alles andere als still. Da war der Wind und die Natur, die mich durch die Dunkelheit begleiteten, aber kein Mensch, der mir den letzten Nerv raubte. Diese Art der Einsamkeit war ich gewohnt und ich mochte sie. Ich konnte mich in ihr entspannen, wenn mir alles andere zu viel wurde, oder wenn ich nach einem langen Tag einfach ein wenig ausspannen wollte. Es war friedlich und erholsam, genau das was ich wollte.

Normalerweise verbrachte ich diese Momente auf meiner Brücke, aber jetzt …

Mit einem Schlag, holten mich die Geschehnisse des Tages ein. Ich würde nie wieder zu meiner Brücke gehen. Sie gehörte zu einem Leben, das mir nun verwehrt war.

Schwermut überkam mich. Wie eine dunkle Wolke über meinem Kopf, schien sie auf mich herabzusinken. Ich versuchte mich davon los zu machen und sie zu dem ganzen anderen Mist in die Kiste zu stopfen, der sich über die Jahre hinweg angesammelt hatte, doch die Kiste war schon zu voll. Sie ließ sich nicht mehr richtig schließen und mit einem Mal war alles da. Die Vergangenheit und auch die Gegenwart.

Als kleines Kind, hatte ich meinen Vater verloren. Nicht viel später, waren ihm meine Mutter und mein Bruder gefolgt und hatten mich allein und haltlos zurückgelassen. Diese Zeit war so schwer gewesen, aber ich hatte sie überwunden. Ich hatte sie mit der Hilfe lieber Menschen bezwungen, bei denen ich geglaubt hatte, ein neues Zuhause gefunden zu haben. Doch wieder hatte mich das Leben eines Besseren belehrt.

Noch heute Morgen hatte ich ein Zuhause und eine Familie gehabt. Nun war ich allein und heimatlos. Natürlich hatte ich Salia und die Männer bei mir, doch das war nicht dasselbe. Ich kannte sie doch kaum. Im Besten Falle waren sie … Reisegefährten. Menschen, mit denen man sich abgab, weil sie das gleiche Ziel hatten, oder nicht wussten, wohin sie sonst gehen sollten.

Die Menschen, denen ich blind vertraut hatte, für die ich sogar mein Leben gegeben hätte, sie alle hatten mich verraten und eiskalt im Stich gelassen.

Ich merkte kaum, wie ich stehen blieb und die Fäuste ballte. Weg, alles war weg und ich wusste nicht, wem ich dafür die Schuld geben sollte. Nikita? Sie war es schließlich, die mich hintergangen hatte. Oder vielleicht meiner Mutter? Wäre sie bei mir geblieben, anstatt Akiim hinterher zu laufen, wäre sie heute vielleicht noch am Leben und alles wäre anders gekommen. Ich konnte die Schuld auch bei Eden und den Menschen dort suchen. Ohne sie wäre mein Leben ganz anders verlaufen.

Aber vielleicht … vielleicht war ich selber ja an allem schuld.

Ich ließ mich ins Gras sinken, zog die Beine an die Brust und schlang die Arme darum. Auf einmal war die Nacht kalt und finster. Die Schicksalsschläge der letzten Wochen, hämmerten mit einem Prügel auf mich ein.

In einer einzigen Minute konnte sich das ganze Leben mit einem Schlag verändern. In einem ganzen Leben gab es mehr als nur eine dieser lebensverändernden Minuten und ich hatte keine von ihnen kommen sehen. Immer waren es Mächte von außen gewesen, die ich nicht beeinflussen konnte. Hätte ich nur früher darüber bescheid gewusst, wäre manches vielleicht anders gekommen.

Einen Moment fragte ich mich, was geschehen wäre, wenn ich damals Tavvins Angebot angenommen und mit ihm fortgegangen wäre. Ich wäre nicht in Nikitas Falle getappt und Eden wäre nach wie vor ein Phantom in der Ferne, vor dem ich nur Mythen und Legenden kannte.

Wäre ich mit ihm gegangen, hätte ich erst Monate später von Nikitas Verschwinden erfahren und hätte um sie getrauert, in der Gewissheit, sie für immer verloren zu haben. Zwar hätte ich mir Vorwürfe gemacht, weil ich nicht zur Stelle gewesen wäre, um sie zu retten, aber diese Rettung war ja auch der schlimmste Fehler, den ich in meinem Leben begannen hatte.

Ich war mir nicht sicher, ob die Alternative so viel besser gewesen wäre. Ein Leben voller Selbstvorwürfe, gegen das was ich jetzt hatte. Aber Wunden verheilten mit der Zeit, Eden würde ich auf Ewig im Gedächtnis bleiben.

Warum nur war das Schicksal mir nicht wohlgesonnen?

Ich spürte einen Kloß in meiner Kehle aufsteigen und das Brennen in meinen Augen. Alles war so schiefgelaufen. Warum nur widerfuhren mir ständig so schreckliche Dinge? War ich so ein abscheulicher Mensch? Ich hatte doch nie jemanden etwas getan. Ganz im Gegenteil. Wenn ich konnte, versuchte ich immer zu helfen, doch ganz egal was ich anpackte, am Ende war immer ich die Leidtragende.

Das Marschall mich heute Morgen praktisch vor die Tür gesetzt hatte, war nur der Höhepunkt einer langen Kette von Misserfolgen. Ich war ein Misserfolg. Mein ganzes Leben war ein Misserfolg.

Ein Schluchzen stieg in mir auf und ließ sich nicht zurückhalten. Dieser Kummer war wie ein Schmerz, der durch meinen ganzen Körper tobte und mit scharfen Klauen an meiner Seele riss.

Wie sich Trauer anfühlte wusste ich bereits, doch mir war nicht klar gewesen, wie viel Schlimmer dieses Gefühl noch werden konnte. Es war, als würde ich in einem Ozean ertrinken, aus dem es kein Entrinnen gab. Aber ich durfte in diesem Gefühl nicht versinken, ich musste funktionieren, denn ich konnte es mir nicht erlauben, mich zusammenzurollen und in meinem Kummer zu baden. Agnes würde sicher nicht so einfach aufgeben, nur weil sie einen kleinen Rückschlag erlitten hatte und ich den Trackern entkommen war.

Aber hier, in diesem Moment, unbeobachtet und ganz allein, schaffte ich es nicht länger stark zu bleiben. Die Tränen liefen über, während ein Schluchzer dem nächsten folgte und meinen ganzen Leib schüttelte. Da war nichts mehr, absolut nichts mehr. Ich hatte alles verloren und nun stand ich vor dem absoluten und unwiderruflichen Nichts.

Bei dieser Erkenntnis drohte ich einfach auseinander zu brechen. Es tat so weh, aber gegen diese Art von Schmerz gab es keine Salbe und kein Pflaster. Wie nur hatte Nikita mir das antun können? Wie hatte Marshall nur so eiskalt sein können? Warum hatten Azra und Balic sich nicht für mich eingesetzt? War ich vielleicht der Fehler, der alle anderen mit in den Abgrund riss? War es ihnen deswegen so leichtgefallen, mich wegzuwerfen? Ich konnte diesen Menschen doch nicht wirklich so völlig egal sein. Oder? Das war ungerecht, das hatte ich nicht verdient. Und trotzdem führte nicht zu dem zurück, was ich einmal hatte.  

Der Kummer und der Schmerz randalierten in mir, während mir immer und immer wieder nur eine Frage durch den Kopf ging: Warum?

Ich bekam keine Antwort. Da war nichts, als die Nacht und die Freiheit, nach der ich mich so sehr gesehnt hatte. Doch nun war diese Freiheit ein Käfig aus Schmerz, dem ich nicht so einfach entkommen konnte, denn er war ein Teil von mir.

 

oOo

Kapitel 11

 

„Hier, nimm die und füll sie unten am Wasser auf.“ Ich hielt Salia die vier Wasserschläuche hin. „Mach sie ganz voll.“

„Okay.“ Sie schnappte sie sich alle auf einmal und wollte sofort loslaufen. Dabei bemerkte sie, dass ihr Wölkchen heruntergefallen war. Es sah lustig aus, wie sie versuchte die vier Flaschen oben zu behalten und gleichzeitig ihr Kuscheltier aufzuheben, doch am Ende gelang es ihr und sie eilte hinunter zum Flusslauf.

„Pass auf, dass du nicht hineinfällst“, rief Sawyer ihr hinterher, der gerade ein paar Felle auf den Karren warf.

Warum sollte sie aufpassen? Was konnte denn schon groß passieren, außer dass sie nass wurde? Dann fischte man sie eben einfach wieder heraus. „Und mir wirft man vor, ich sei überfürsorglich.“

„Du bist eine Glucke“, ließ Sawyer mich wissen und Wolf nickte zustimmend.

Ich spießte sie beide mit einem Blick auf, kehrte ihnen dann den Rücken und machte mich auf den Weg zu Trotzkopf. Glucke. Ich würde ihnen gleich mal zeigen, wie gluckenhaft ich war, indem ich sie alle mit dem Kopf unter Wasser drückte, bis keine Luftblasen mehr kamen. Dann würden sie sicher nicht mehr behaupten, ich sei eine Glucke.

Blödmänner. Allesamt.

Es war Morgen. Der Himmel war klar, aber von dem gestrigen warmen Wetter, war nicht viel übriggeblieben. Wenn wir Pech hatten, war der Herbst nun auf dem Vormarsch.

Das gefiel mir nicht. Herbst bedeutete nicht nur bunte Blätter und hübsche Sonnenuntergänge. Kalte Temperaturen, ständiger Regen und matschige Straßen waren eher seine Merkmale. Keine guten Bedingungen für eine längere Reise.

Naja, mit ein wenig Glück, wären wir ja in einer Woche an unserem Ziel.

Als ich Trotzkopf erreichte, musste ich ein Seufzen unterdrücken. Irgendwie hatte der Idiot es geschafft, sich selber an den Baum zu binden. Er stand am Stamm, das Seil um Hals und Beine und konnte sich nicht mehr bewegen. Als er mich kommen sah, blubberte er kläglich.

„Du bist doch ein kleiner Trottel“, murmelte ich und begann damit, das Seil von ihm und dem Baum zu lösen. Er musste mehrmals den Stamm umrundet haben, um in diese Lage zu kommen. Das würde mir eine Lehre sein, ihm noch mal so viel Leine zu geben, damit er sich bewegen konnte.

Es dauerte eine kleine Ewigkeit ihn loszubinden und mehr als einmal war ich versucht, einfach mein Messer zu ziehen und das Seil durchzuschneiden, doch am Ende zahlte sich meine Hartnäckigkeit aus und ich bekam das dumme Dromedar vom Baum.

Zum Dank trat er mir fast auf den Fuß und wollte in die andere Richtung davonlaufen. In solchen Momenten konnte er froh sein, dass er nützlich war, sonst wäre er schon vor Jahren in der Pfanne gelandet. So jedoch musste ich mich damit abmühen, um ihn zum Karren zu bekommen, wo er gar nicht damit einverstanden war, in sein Geschirr gesteckt zu werden.

Killian, der gerade eines der Felle auf der Ladefläche ausbreitete, beobachtete wie ich mich abmühte und kurz davor war, diesem sturen Trampeltier in den Hintern zu treten. „Ihr habt wohl eine kleine Meinungsverschiedenheit.“

So konnte man es auch nennen. „Wir sind gerade dabei, sie zu klären.“ Ich zog an seinem Halfter, damit er den Kopf herunternahm, doch er schwang ihn nach rechts.

„Kann ich dir vielleicht helfen?“

Wenn ich ehrlich war, wollte ich Killian im Moment eigentlich nicht in meiner Nähe haben. Genaugenommen wollte ich im Augenblick eigentlich niemanden um mich herumhaben. Ich hatte gestern Abend sehr lange gebraucht, bis ich mich wieder so weit im Griff hatte, um ins Lager zurückzukehren. Auf den ersten Blick hatten bereits alle geschlafen. Erst als ich mir ein Laken vom Karren genommen hatte, war mir aufgefallen, dass Sawyer zwar lag, seine Augen aber offen waren. Er hatte nichts gesagt, aber er hatte mich gründlich gemustert – naja, so gründlich das eben bei den schlechten Lichtverhältnissen gegangen war.

Seitdem hatte ich ständig das Gefühl mich zusammenreißen zu müssen. Ich hatte es nicht geschafft, den ganzen Dreck zurück in die Kiste in meinem Kopf zu stopfen. Stattdessen war ich schon den ganzen Morgen damit beschäftigt, ständig gegen meine Gedanken anzukämpfen und mir nicht anmerken zu lassen, wie dreckig es mir im Augenblick ging.

Das war anstrengend. Wäre ich alleine, wäre es viel einfacher.

Mit Killian in meiner Nähe, würde es nur noch beschwerlicher werden. Außer … vielleicht konnte er mich ablenken. Es wäre auf jeden Fall besser, als weiter über dieses Desaster nachzudenken, dass sich mein Leben nannte. „Klar, kannst du“, sagte ich deswegen und hielt ihm Trotzkopfs Führleine hin. „Halt ihn fest.“

Killian kam zu uns herüber und machte dabei leise Schnalzgeräusche, die Trotzkopf auf ihn aufmerksam machten. Er nahm mir die Leine ab, bückte sich, um etwas Gras zu pflücken und hielt sie meinem treuen Begleiter dann vor die Nase. Dabei redete er die ganze Zeit mit sanfter Stimme auf ihn ein.

Ich überlegte anzumerken, dass Trotzkopf kein Pferd war, aber da es zu funktionieren schien, ließ ich die beiden einfach machen und nutzte meine Chance, um ihm das Geschirr anzulegen.

„Ja, du bist ein guter Junge“, sagte Killian, als Trotzkopf das Gras aus seiner Hand nahm. Dann tätschelte er seinen haarigen Hals. „Weißt du, früher gab es hier keine Dromedare. Naja, zumindest keine wildlebenden. Erst die Wende hat dieses Land zu ihrer Heimat gemacht.“

Ach wirklich? „Wie kommst du darauf?“

„Das weiß ich aus Geschichtsbüchern.“ Er rupfte noch etwas Gras, um es seinem neuen Freund anzubieten. „Viele Tiere die heute für uns alltäglich sind, haben ihren Ursprung zum Teil auf anderen Kontinenten.“

Ich war noch nie auf einem anderen Kontinent gewesen, aber ich hatte schon davon gehört. Man konnte Tage und Wochen laufen, aber irgendwann endete das Land und der Ozean begann. Doch dort war nicht Schluss. Wenn man es schaffte diesen Ozean zu überwinden, kam man auf einen anderen Kontinent. Aber diese Reise war gefährlich und ich hatte noch nie von jemanden gehört, der es geschafft hätte. Versucht? Ja. Aber geschafft? Nein.

Mit einem Tier über die Ozeane auf einen Kontinent zu reisen, schien mir völlig unmöglich. Heutzutage war das vielleicht auch so, aber vor der Wende? Ich hatte schon sonderbarere Dinge aus dieser Zeit gehört. Eine Frage jedoch blieb offen: „Zu welchem Zweck, bringt man ein Tier auf einen anderen Kontinent?“

„Zur Zucht, oder um es auszustellen, damit die Menschen sich an seinem Anblick erfreuen können.“ Er drehte sich ein wenig und schaute dabei zu, wie ich die Lederriemen um Trotzkopf festzurrte. „Man konnte sie in Zoos, Tierparks und Zirkusse bewundern.“

Mit sowas hatten die Menschen sich früher die Zeit vertrieben? Schon ein wenig armselig. Also ich wusste besseres mit meiner Zeit anzufangen. „Was ist Zirkusse?“

„Zirkus“, korrigierte er mich. „Und das ist … hm, wie erkläre ich das am besten?“

Woher sollte ich das wissen?

„Ein Zirkus ist ein Ort, wo Artisten eine artistische Darbietung zeigen. Du weißt schon, Kunststücke und besondere Talente. Es dient zur Unterhaltung.“ Er trat ein Stück zur Seite, als ich an ihm vorbeimusste, um den Brustgurt zu befestigen. „Dort haben auch Tiere Kunststücke vorgeführt. Du kannst es dir in etwa so vorstellen wie die Hundeshow auf dem Elysium-Fest.“

Das war etwas, an das ich im Moment nicht denken wollte. Genaugenommen wollte ich nie wieder daran denken, denn auf diesem Fest hatte ich etwas gesehen, was mich in meinen Grundfesten erschüttert hatte. „Ich war zu dieser Show nicht mehr da gewesen“, sagte ich daher kurz angebunden und nahm ihm etwas zu grob die Leine aus der Hand.

„Oh, stimmt ja. Du hattest dich wegen einem der Bilder aufgeregt und bist deswegen …“ Er verstummte kurz. „Naja, ist ja auch egal. Worauf ich eigentlich hinaus wollte: Früher waren eine Vielzahl von Tieren hier überhaupt nicht beheimaten. Kakadus, Strauße, Löwen, oder eben auch Dromedare, lebten hier nur in Gefangenschaft.“

Ja, weil die Menschen schon damals, das was sie haben wollten, in Käfige gesteckt hatten, damit es nicht entkommen konnte.

„Durch die Wende und die Kriege sind diese Tiere aus Tierparks, Zoos und Privatzoos entkommen, oder wurden freigelassen und haben sich angesiedelt und angepasst. Nur deswegen kann man hier jetzt Affen, Erdmännchen und Krokodilen begegnen.“

„Was für ein Glück für uns.“

Sein Mundwinkel wanderte ein Stück aufwärts. „Einheimische Tiere dagegen, sind zum Großteil ausgestorben. Nicht nur wegen des Virus, sondern auch wegen der vielen neuen Fressfeinde.“

„Also habe ich es den Idioten aus der Vergangenheit zu verdanken, dass ich mich am Fluss vor Krokodilen in Acht nehmen muss?“ Je mehr ich aus der Geschichte der Menschheit lernte, desto sicherer war ich mir, dass damals nur Dummköpfe gelebt hatten. Nicht nur, dass sie ein Virus erschaffen hatten, dass die Macht besaß, uns alle auszulöschen, sie hatten in ihrem Wahn auch die ganze Flora und Fauner durcheinandergebracht.

Wenn es stimmte was Killian sagte, dann waren Löwen hier früher gar nicht beheimatet gewesen. Jetzt dagegen konnten sie zu einem richtigen Problem werden, wenn man ihnen begegnete. Zum Glück war mir das noch nie passiert.

Meine schlimmsten Begegnungen mit Wildtieren, waren mit Phantomhunden gewesen.

Phantomhunde waren das, was von dem früheren, domestizierten, treuen Begleiter, übriggeblieben war. Sie hatten die Form von Wölfen, waren aber größer und kräftiger. Sie jagten immer im Rudel und waren das wohl gefährlichste Landraubtier, dass diese Zeit kannte.

„Damals konnte ja niemand ahnen, was geschehen würde und was ihre Taten für Auswirkungen haben würden.“

Ich hielt in meinem Tun inne und schaute über Trotzkopf hinweg zu Killian. „Sie konnten nicht wissen was geschehen würde, wenn sie ein Virus erschaffen, was uns alle umbringen kann?“

Er öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder und schüttelte dabei den Kopf. „Jetzt zu sagen, dass die Menschen damals gar nicht vorhatten das Virus freizusetzen, wäre einfach nur dumm. Wenn man eine Waffe erschafft, muss man damit rechnen, dass sie gezündet wird – egal ob mit Absicht, oder aus Versehen.“

Ja und dabei war es auch egal, in welcher Form sie sich präsentierte. Nicht nur Messer und Pistolen waren Waffen, auch Krankheiten. Und selbst Worte konnten zu Waffen umfunktioniert werden und jemanden schwer verletzten. Ich musste es wissen.

Denk jetzt nicht darüber nach!

Ich drückte gegen Trotzkopfs Brust, damit er rückwärts zwischen die Schere des Karrens trat. „Also habe ich Recht, es waren Idioten.“

„Vom heutigen Standpunkt aus gesehen? Ja.“ Killian schaute rüber zu Wolf, der die Wäsche von der Leine nahm und sie auf einen Haufen warf. Als er seine Kleidung in die Hand bekam, tauschte er das Zeug aus meiner Mischpoche, direkt gegen die Gardistenuniform aus – die Sachen passten einfach besser.

Währenddessen rollte Sawyer die restlichen Felle auf dem Boden zusammen. Dabei beobachtete er Salia, die immer noch am Bach mit den Wasserschläuchen beschäftigt war. Sie füllte sie auf, kippte sie dann wieder aus und befüllte sie neu. Es schien ein Spiel zu sein.

„Wow, du hast mir bereits zwei Mal zugestimmt.“ Mit geübten Handgriffen, verband ich Trotzkopfs Geschirr mit der Schere. Dabei überprüfte ich alles zwei Mal, um sicher zu gehen, dass auch alles festsaß. „Das muss ein Rekord sein.“

„Ich war schon öfters deiner Meinung.“ Als ich auf die andere Seite wechselte, ging er mir aus dem Weg, folgte mir aber, bis er neben mir stand. „Du blendest das nur gerne aus, weil es so einfacher für dich ist, mich als Feind zu sehen.“

„Würde ich dich als Feind sehen, hätte ich dich schon längst getötet.“

Er musterte mich einen Moment. „Du hättest mich vielleicht meinem eigenen Schicksal überlassen, aber du bist keine Mörderin.“

Etwas an dem Klang seiner Stimme ließ mich aufblicken. Er stand näher als erwartet, meiner Auffassung nach, viel zu nahe. „Du kennst mich nicht“, sagte ich leise. „Du weißt nicht was ich schon getan habe, um zu überleben.“ Die Art wie er mich ansah, gefiel mir nicht. Diesen intensiven Blick, hatte ich schon mehr als einmal gesehen. Warum schaute er mich jetzt schon wieder so an? Ich hatte ihm doch deutlich gesagt, was ich davon hielt.

„Nein, nicht alles, aber ein paar Dinge weiß ich schon.“ Er hob seine Hand, berührte meine Wange ganz leicht mit der Fingerspitze und zog damit ein sanftes Kribbeln über meine Haut. „Wenn es sein muss, dann sind wir alle fähig, unaussprechliche Dinge zu tun, um uns und die Unsrigen zu schützen, aber du bist keine eiskalte Killerin.“

Das vielleicht nicht, aber er täuschte sich, wenn er glaubte, ich sei nicht dazu fähig, einen Mord zu begehen.

„Ich sehe dich, Kismet“, sagte er leise. Sein Finger strich an meiner Kinnlinie entlang. „Ich sehe wer du bist und was in dir vorgeht. Ich bemerke deinen Zwiespalt, wenn du mich ansiehst.“

Ich schluckte. Der vernünftige Teil in mir riet mir dazu, seine Hand wegzuschlagen, ihn gegens Schienbein zu treten und ihn anzuschreien, dass er mich nie wieder anfassen sollte. Aber diese sanfte Berührung machte irgendwas mit mir. Es war wie an dem Nachmittag in seiner Arztpraxis. Ich wollte mehr. Ich konnte nicht erklären, warum das so war und wusste, dass ich das beenden sollte, aber das wollte ich gar nicht. Ich wollte noch einmal fühlen, was ich dort gefühlt hatte. Ich wollte, dass er mich berührte. Ich wollte so viel mehr.

„Und ich sehe auch, was du möchtest.“

Tritt zurück! „Was möchte ich denn?“

Er antwortete nicht, zumindest nicht mit Worten. Stattdessen trat er ein Stück näher. Seine Finger schlossen sich um mein Kinn, als wollte er verhindern, dass ich ihm auswich.

Mein Herzschlag beschleunigte sich, als er sich zu mir vorbeugte. Ich spürte seinen warmen Atem auf meinen Lippen. Sein Blick hielt meinen gefangen.

Wenn ich jetzt nichts unternahm, würde er mich küssen. Ein Teil von mir wollte das sogar, aber der andere Teil schlug entsetzt die Hände über den Kopf zusammen und schrie mich an, diesen Mist zu unterbinden, weil da einfach nichts Gutes bei rauskommen konnte. Also, was wollte ich?

Ich musste mich entscheiden. Jetzt. Wenn ich nichts tat, würde mir diese Entscheidung abgenommen werden und ich wusste nicht, was dann geschehen würde.

Mein Mund öffnete sich. Um ihn zu küssen? Ihm zu sagen, er sollte aufhören?

In dem Moment riss Trotzkopf mit einem Röhren den Kopf herum und stieß Killian von mir weg.

Überrascht stolperte er ein paar Schritte zur Seite und schaute ein wenig perplex zu dem Dromedar.

Ich blinzelte, viel zu überrascht, um etwas anderes zu tun. Mein Herz schlug viel zu schnell. Ich wusste nicht, ob ich lachen sollte, oder es doch angebrachter wäre, dem haarigen Trampeltier einen Tritt in den Hintern zu versetzen, weil er diesen Moment zerstört hatte.

Nein, kein Tritt. Ich sollte ihm ein Leckerli geben und ihn mit Streicheleinheiten belohnen, weil er die Situation gerettet hatte, als ich nicht dazu in der Lage war.

Was bei Gaias Zorn war eigentlich mit mir los? Ich hätte es wirklich zugelassen. Ich hätte es nicht nur zugelassen, einen kurzen Augenblick hatte ich es sogar gewollt.

Killian schien sich schneller zu fangen, als ich. Er schaffte es sogar ein wenig zu lächeln. „Da ist wohl jemand eifersüchtig.“

Trotzkopf röhrte wieder, drehte den Kopf dann noch ein wenig und schubste auch mich.

„Hey!“, beschwerte ich mich und packte ihn an seinem Halfter. „Was soll der Mist?“

Natürlich antwortete der Sturschädel nicht.

Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Killian. Vielleicht wäre es wirklich das Beste ihn einfach zurückzulassen. Aber ich fühlte mich verpflichtet auf ihn aufzupassen, weil er das gleiche mit mir in Eden getan hatte. Hier waren die Rollen einfach nur vertauscht.

Das wäre logisch, doch gleichzeitig wusste ich, dass da noch mehr war. Killian war mehr als eine einfache Aufgabe, geboren aus Pflichtgefühl, um eine Schuld zu begleichen. Nur was, das konnte ich nicht mit Sicherheit sagen und das verwirrte mich. Ich mochte es nicht, verwirrt zu sein.

Als Killian wieder einen Schritt näher machte, spannte ich mich am ganzen Körper an. Reflex? Abwehrmechanismus? Oder wollte ich es vielleicht auf einen weiteren Versuch ankommen lassen?

Sein Mund öffnete sich. „Vielleicht sollten wir …“

Ein gellender Schrei hallte über die Wiese und ließ uns herumfahren.

„Salia!“, rief Sawyer und rannte los.

Mein Blick flog zum Bach, wo die Kleine es sehr eilig hatte vom Wasser wegzukommen. Sie stolperte über ihre eigenen Beine und fiel mit angstgeweiteten Augen auf den Po. Vor ihr im Bach stand ein … Ungeheuer.

Es war riesig, grau und dick. Mindestens zehn Fuß lang und vier hoch und wurde von vier kurzen, stämmigen Beinen getragen. Der Schädel war groß und wuchtig und aus dem langen, breiten Maul, ragten riesige Hauer wie Dolche heraus. Das war leicht zu erkennen, denn es hatte das riesige Maul aufgerissen und brüllte Salia an. Dabei funkelten die kleinen, schwarzen Augen wütend.

Sowas hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen.

Während Sawyer schon rannte, brauchte ich eine Sekunde, um diesen Anblick zu verarbeiten. Dann griff ich ohne zu zögern nach meinem Messer und eilte ihm hinterher.

Nicht weit entfernt brüllte Wolf. Er hatte einen langen Ast in der Hand, den er wie einen Knüppel schwang.

Die riesige Kreatur machte einen drohenden Schritt nach vorne und brüllte wieder. Im gleichen Moment war Sawyer bei Salia. Er riss sie an sich, wirbelte herum und rannte in die andere Richtung davon.

Ich flog fast über das Gras, aber Wolf war vor mir bei dem Ungeheuer und drosch mit seinem Knüppel auf den Kopf der Bestie, doch diese Kreatur schien das kaum zu spüren.

Wasser spritzte auf, als das Vieh mit erstaunlicher Geschwindigkeit herumwirbelte und Wolf mit seinem Kopf einfach von den Füßen riss. Der große Mann flog ein Stück durch die Luft und klatschte dann mitten in den Bach.

Als es ihm nachsetzten wollte, war ich zur Stelle. Noch im Lauf holte ich mit meinem Messer aus und stach es dem Ungetüm in die Schulter.

Das Vieh brüllte und versuchte nach mir zu beißen, doch zu meinem Glück, befand ich mich gerade außerhalb seiner Reichweite. Hätte es mich erwischt, es hätte mich glatt in der Mitte durchgebrochen.

Mein Herz raste und schlug mir bis zum Hals, als ich das Messer aus seiner Schulter riss, um ein weiteres Mal zuzustechen. Ich spürte wie das Adrenalin in meinen Adern mich befeuerte und aufmerksamer machte, doch bevor mir ein zweiter Stich gelang, wurde ich von dem Vieh zur Seite gestoßen und klatschte seitlich ins Wasser. Meine Hand schrammte über die Steine und das Messer fiel mir herunter. Scheiße.

Ich sah, wie dieses Maul sich zu einem weiteren Angriff öffnete, da war Wolf auch schon wieder zur Stelle und schlug der Bestie mit seinem Knüppel so fest ins Maul, dass einer der Hauer abbrach und Blut spritzte. Doch anstatt nun zurück zu weichen, wurde das Vieh nur noch wütender, biss in den Knüppel und riss ihn Wolf aus den Händen.

Hastig tastete ich im Wasser nach meinem Messer und richtete mich dann wieder angriffsbereit auf. Wir mussten es erledigen und zwar schnell, sonst würde es uns erledigen. Nur wie?

Am einfachsten war es normalerweise, die Halsschlagader durchzuschneiden, aber das Vieh hatte dort so viel Fett, dass ich mit meinem Messer niemals durchkommen würde. Hätte ich noch meine Machete, würde mir diese Glanzleistung vielleicht gelingen, aber so? Keine Chance.

Ein Stich ins Auge wäre auch sehr schwierig. Ein Auge war ein kleines Ziel und davor war dieses riesige Maul. An sein Herz würde ich schon mal gar nicht herankommen. Auch dort war zu viel Fett. Sollte ich es dennoch versuchen, würde dieses Ding mich einfach zerstampfen und platt machen, indem es sich auf mich drauflegte.

All das schoss mir in Bruchteilen von Sekunden durch den Kopf.

Mit einem Kampfschrei rannte Sawyer auf uns zu – wo war Salia? Er hatte sich den Fischspeer vom Karren geholt, holte beim Laufen aus und warf seine Waffe, als er nur noch wenige Fuß entfernt war.

Der Speer sauste durch die Luft und blieb dann im fleischigen Teil des Rückens stecken.

Das Ungeheuer brüllte und riss den Kopf herum.

„Pass auf!“, schrie ich, aber Wolf war schon zur Seite gesprungen.

Fieberhaft überlegte ich was wir tun konnten. Dieses Vieh war uns weit überlegen, aber jedes Wesen hatte einen Schwachpunkt, wir mussten ihn nur finden

Als es Wolf nachsetzen wollte, versenkte ich mein Messer im Schenkel der Bestie, was es immerhin von dem Riesen ablenkte. Nur leider stand ich nun im Fokus seiner Aufmerksamkeit.

Ich versuchte mein Messer wieder herauszuziehen, aber es steckte fest. Weil ich das Messer aber nicht loslassen wollte, riss es mich einfach mit, als es herumwirbelte und nach mir schnappte.

Sawyer griff hektisch nach Flusssteinen und bewarf die Bestie damit, doch genauso gut hätte er mit Kiesel einen Berg bewerfen können. Egal was wir taten, wir richteten einfach nicht genug Schaden an.

„Lass das verdammte Messer los!“, brüllte Sawyer.

„Nein!“

Wolf hatte in der Zwischenzeit auch damit begonnen Steine zu werfen, nur das er auf die Augen des Ungetüms zielte.  

Ich riss mit aller Kraft an dem Messer und endlich kam es frei. Leider stolperte ich durch den Schwung ein paar Schritte nach hinten und wäre fast ins Wasser gestürzt, doch irgendwie schaffte ich es mich auf den Beinen zu halten. Das half mir aber nicht, denn das Vieh hatte sich bereits mit beängstigender Geschwindigkeit herumgedreht und stürzte mit weit aufgerissenem Maul auf mich zu.

Ich dachte gar nicht nach, ich riss mein Messer einfach hoch und schnitt der Kreatur einmal quer über das breite Maul. Die Klinge riss die dicke Haut auf. Blut spritzte. Die Bestie brüllte auf und schlug mit dem dicken Schädel nach mir. Die Zeit reichte nicht um auszuweichen.

„Kismet!“

Das breite Maul traf mich mit solcher Wucht, dass ich von den Beinen gerissen wurde und rückwärts durch die Luft flog. Der Aufprall trieb mir die Luft aus den Lungen. Wasser spritzte zu allen Seiten auf und blockierte für einen Moment meine Sicht.

Ich versuchte einzuatmen, doch irgendwas stimmte nicht. Meine Brust schmerzte, aber meine Lunge verweigerte den Dienst. Und dann ragte das Ungetüm vor meiner Nase auf. Ich würde sterben. In diesem Moment hatte ich es so klar vor Augen, als wäre es bereits geschehen. Es würde mich zerbeißen, oder einfach niederwalzen.

Wolf brüllte, als Sawyer panisch meinen Namen rief.

Die Bestie riss das Maul auf …

Ein lauter Knall schallte über die Weide. Ein zweiter und ein dritter folgten ihm.

Auf der Stirn des Ungetüms erblühte eine blutrote Blüte. Eine zweite folgte und riss der Kreatur auch noch den halben Schädel weg. Blut und Hirnmasse spritzten in alle Richtungen und färbten das Wasser rot. Für einen Moment geschah nichts weiter, dann sackten die stämmigen Beine einfach in sich zusammen. Das Wesen klatschte ins Wasser, rollte auf die Seite und bewegte sich dann nicht mehr. Seine kleinen, schwarzen Augen blickten leblos.

Eine Sorge weniger, dann blieb nur noch das Problem, dass ich verdammt noch mal keine Luft bekam und hier gleich ersticken würde. Meine Hände fuhren an meine Kehle, während ich wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft schnappte

„Kismet!“ Sawyer stürzte zu mir. Er fiel einfach neben mir im Wasser auf die Knie und riss mich halb auf seinen Schoß. Sein Gesicht war kalkweiß. „Verdammt Baby, was ist los? Killian!“

Auf meiner anderen Seite erschien Wolf. Seine Brauen waren vor Sorge zusammengezogen.

„Scheiße, sie bekommt keine Luft!“

Wolf brummte.

„Kiss, komm schon Baby, atme!“

Wasser plätscherte und dann war auch Killian bei mir. Er schaute mich nur einmal kurz an, dann griff er nach meinen Armen und zog mich ziemlich unsanft in eine sitzende Position. Dann schlug er mir auf den Rücken – kräftig.

Es tat weh. Verdammt, mein ganzer Körper tat weh, aber durch den Schmerz, schnappte ich nach Luft und plötzlich strömte der so dringend gebrauchte Sauerstoff in meine Lungen.

Hektisch atmete ich ein, immer und immer wieder. Süße, süße Luft.

Killian legte die Arme um mich und lehnte meinen Kopf gegen seine Brust. „Einfach atmen“, sagte er leise und beruhigen. „Gleich wird es besser, atme einfach weiter.“

Hervorragender Vorschlag, den ich eifrig und voller Tatendrang nachkam.

„So ist es gut.“ Vorsichtig strich Killian mir durchs Haar, während meine Atmung sich langsam wieder beruhigte. Mir tat noch immer alles weh, aber wenigstens schwand der stechende Schmerz in meiner Brust endlich.

„Papa?“

Ich drehte den Kopf ganz leicht und sah Salia am Ufer. Mit der einen Hand drückte sie Wölkchen an ihre Brust. In der anderen hielt sie eine Pistole der Gardisten.

Sawyers Augen weiteten sich leicht. Er sprang auf, nahm ihr die Waffe ab und schlang dann die Arme um sie. „Alles ist gut“, versicherte er ihr. „Du brauchst keine Angst mehr haben.“

Ihr Blick richtete sich auf das tote Ungetüm. „Was ist das?“

Was folgte waren viele ratlose Blicke.

„Ein Nilpferd“, sagte Killian dann.

Ich löste mich ein Stück von ihm und schaute ihn ungläubig an. „Das ist ein Pferd?“ Oh Gaia, meine Stimme. Ich hörte mich an, als hätte ich ein Reibeisen verschluckt. Es fühlte sich auch so an.

„Ein Nilpferd, oder auch Flusspferd. Es hat nichts mit anderen Pferden zu tun. Familie der Dickhäuter. Es stammt ursprünglich aus Afrika.“

Wollte ich wissen, woher er das alles wusste? Eigentlich war es mir ziemlich egal. Im Moment interessierte mich etwas anderes viel mehr. „Was ist passiert?“

„Es kam von da drüben.“ Mit ausgestrecktem Arm, zeigte Salia auf die andere Seite des Bachs, was gar nicht so einfach war, so fest wie Sawyer sie an sich drückte. Er zitterte am ganzen Körper. „Es kam einfach angelaufen.“

Das war es nicht, was ich gemeint hatte. „Nein, warum ist es tot.“ Vom offensichtlichen einmal abgesehen. „Warum ist sein Kopf explodiert?“

„Das war ich“, sagte Killian und gab mich widerwillig frei, als ich mich von ihm wegdrückte. Mir tat immer noch alles weh und ich hatte so die Vermutung, dass sich das in näherer Zukunft auch nicht ändern würde. „Ich habe die Waffe vom Karren geholt.“ Er schaute von mir zu den anderen. „Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, ich habe sie nicht gleich gefunden.“

„Na wenigstens hast du sie gefunden.“ Ich versuchte aufzustehen und verzog sofort schmerzhaft das Gesicht. Das würde ich definitiv noch ein paar Tage spüren.

„Warte, ich helfe dir.“

Sofort wollte ich erklären, dass ich in der Lage war, das ganz alleine zu machen, aber im Moment fehlte mir dafür die Energie. Es wäre einfach nur dumm, die helfende Hand auszuschlagen, darum griff ich zu und ließ mich von Killian auf die Füße ziehen. Dann konnte ich die Bestie, dieses Nilpferd, in seiner ganzen Pracht betrachten. Das breite Maul, die kleinen, runden Ohren, der massige Leib. Das Blut floss immer noch aus seiner Wunde und färbte das Wasser zu unseren Füßen rot. „Wir sollten es ausnehmen.“

Killian und Sawyer, starrten mich an, als sei ich von einem anderen Planeten.

„Es ist Fleisch, viel Fleisch.“ Wenn wir es gut ausbluteten, konnten wir davon die nächsten paar Tage leben. Vielleicht konnten wir sogar ein wenig Trockenfleisch herstellen, obwohl das auf Reisen schwierig werden könnte.

Mit einem Ächzen, erhob Wolf sich aus dem Wasser. Er humpelte ein wenig, als er an mir vorbei ging und offensichtlich etwas im Wasser suchte.

„Ich habe noch nie ein Nilpferd gegessen“, sagte Sawyer.

Ich auch nicht. Bis heute hatte ich noch nicht mal davon gehört. Aber selbst, wenn es eklig war, ich hatte mich auch schon von Käfern ernährt, wenn die Umstände es verlangten. Besser ekliges Essen, als gar keines. „Wir braten es, oder kochen eine Suppe daraus.“ Das würde es auch ein wenig haltbarer machen.

Nicht weit von der Kreatur entfernt bückte Wolf sich und hob etwas aus dem Wasser heraus. Es war der Hauer, den er ihm ausgeschlagen hatte. Er wischte ihn an seinem Hosenbein ab und barg in dann als Jagdtrophäe in der Hand. Dabei fiel mir auf, wie durchnässt und blutverschmiert er war. Sawyer und Killian sahen kaum besser aus und mir klebte vermutlich Hirnmasse im Gesicht. Selbst Salia war nach Sawyers Umarmung bereit für ein neues Outfit. „Aber vorher sollten wir uns vielleicht alle erstmal umziehen.“

„Das könnte vielleicht ein Problem werden“, bemerkte Sawyer.

Ich runzelte die Stirn. „Warum?“

„Weil unsere Kleidung sich gerade aus dem Staub macht.“

Diese Worte waren so sinnlos, dass ich sie direkt als Unsinn abtun wollte, aber dann sah ich was er meinte. Trotzkopf und der Karren standen nicht mehr dort, wo ich sie zurückgelassen hatte. Bei Gaias Zorn, was …

Ich drehte mich ein Stück und entdeckte das undankbare Vieh ein paar hundert Fuß entfernt, dem Horizont entgegenlaufen. Während wir um unser Leben kämpften, hatte dieser treulose Bettvorleger seine Chance genutzt und sich aus dem Staub gemacht. „Das kann doch wohl nicht wahr sein“, knurrte ich und wollte mich sofort in Bewegung setzten, doch bereits der erste Schritt, ließ meine geprellten Rippen schmerzen, als sei die Verletzung erst wenige Stunden alt und nicht bereits mehrere Wochen. Nach der Kollision mit dem Nilpferd, waren sie das wahrscheinlich auch.

„Warte, setzt dich hin. Ich will nicht das du dich überanstrengst, bevor ich dich untersucht habe“; sagte Killian.

„Aber ich muss …“

„Ich werde Trotzkopf holen. Du nimmst Platz.“ Sein Blick war streng und unnachgiebig. In diesem Punkt würde er nicht mit sich reden lassen. „Und du auch“, forderte er Wolf auf. „Du hast auch einiges abbekommen.“

Brummend gehorchte Wolf und humpelte ans Ufer.

Na gut, wenn Wolf hören konnte, dann konnte auch ich meinen Stolz für einen Moment über Bord werfen und Killians Anweisungen befolgen. Allerdings ließ ich mir dabei von ihm helfen und war heilfroh, das Ufer zu erreichen und mich hinsetzen zu können.

„Bleib genau hier“, befahl Killian mir in strengem Ton. „Ich meine es ernst.“

„Ich werde mich nicht vom Fleck bewegen.“

Sein Blick machte deutlich, dass er nicht überzeug war, aber er wandte sich trotzdem ab und eilte unserem fliehenden Hab und Gut hinterher.

Ich schloss für einen Moment die Augen. Das war wirklich eine Begegnung gewesen, auf die ich hätte verzichten können. In solchen Momenten, kam man nicht um die Frage herum, was das Leben noch für einen breit hielt. Und ob man allen Hürden gewachsen war, oder irgendwann einfach zerbrechen würde.

 

oOo

Kapitel 12

 

Sawyer tauchte seinen Löffel in die Schale, nahm etwas Suppe auf und steckte sie sich in den Mund. Im gleichen Moment verzog er angewidert das Gesicht. Er schluckte es zwar herunter, aber man sah ihm deutlich an, dass er es am liebsten wieder ausgespuckt hätte. „Hätte ich nicht Angst, du würdest mich einfach umhauen, würde ich dir sagen, dein Essen schmeckt scheiße.“

Wolf warf ihm einen bösen Blick zu, streckte den Arm aus und wollte ihm die Schüssel wegnehmen.

Sawyer wich rechtzeitig aus. „Hey, lass das, das ist meinst.“ 

Ich überlegte kurz, ob ich mich einmischen sollte, entschied dann aber, dass es wichtiger war, Salia nicht aus den Augen zu lassen. Sie hatte sich neben den liegenden Trotzkopf gesetzt und fütterte ihn immer abwechselnd mit Blättern und Gras.

Der sture Bock schien das Verwöhnprogramm zu genießen, aber ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass seine Launen ganz schnell umschlagen konnten. Wenn ihm danach war, konnte es passieren, dass er Salia einfach umschubste.

„Nur weil es ungenießbar ist, heißt das ja noch lange nicht, dass ich nicht etwas Essbares daraus machen kann.“ Grinsend wich Sawyer zur Seite aus, als Wolf den Kochlöffel nach ihm warf. „Das Zielen solltest du auch noch üben.“

„Sawyer, hör auf so ein Arsch zu sein“, mahnte ich ihn und nahm den Löffel aus meiner eigenen Schale. Er hatte recht, es schmeckte ein wenig fad, aber bei weitem nicht eklig.

„Aber das kann er doch so gut“, murmelte Killian und schlürfte den letzten Rest aus seiner Schüssel.

„Besser ein Arsch, als eine Marionette mit Minderwertigkeitskomplexen.“

Killian verengte seine Augen leicht. „Ich bin mit mir sehr zufrieden.“

„Wahrscheinlich, weil du noch nie in einen Spiegel geguckt hast.“

Ging das schon wieder los. Nicht mehr lange und ich würde sie beide erschlagen.

Vier Tage lag unsere Begegnung mit dem Nilpferd nun zurück, vier Tage in denen wir nicht so weit gekommen waren, wie ich mir das vorgestellt hatte. Hauptsächlich war das meine Schuld. Wegen dem Kampf mit diesem Ungetüm, war ich am ganzen Körper grün und blau und auch wenn es besser geworden war, so spürte ich die Nachwehen dessen immer noch.

Wolf hatte es nicht ganz so übel getroffen. Zwar hatte auch er mehrere eindrucksvolle Blutergüsse und Prellungen, aber offensichtlich steckte er das Rendezvous mit der Bestie wesentlich besser weg, als es mir jemals gelingen konnte. Vermutlich weil er muskulöser und auch größer war. Vielleicht war er auch nicht so hart getroffen worden, oder besser gelandet. Es konnte natürlich auch sein, dass ich einfach nur ein Weichei war. Wie auch immer, ihm schien es soweit gut zu gehen, während ich mir vorkam, wie eine hundertjährige Oma.

Wenigsten hatte dieser Zusammenstoß etwas Gutes gehabt: Wir hatten mehrere Tage gut von dem Fleisch essen können. Natürlich hatten wir das Meiste zurücklassen müssen. Nicht nur, weil es zu viel war, sondern auch, weil ein Großteil vergammelt wäre, bevor wir das alles essen konnten.

Das Wetter hatte die letzten Tage recht gut mitgespielt. Zwar war es in der Zwischenzeit deutlich kälter geworden – besonders nachts – aber wenigstens trocken geblieben.

Mein Blick ging nach oben. Ein paar vereinzelte Wolken zogen über den Himmel. Eine sah aus wie ein Gesicht mit einer sehr langen Nase.

Ich war eindeutig schon zu lange mit Salia unterwegs.

Es war Mittag. Wir hatten schon in der Morgendämmerung unser Lager abgebrochen und uns wieder auf den Weg gemacht. Jetzt aber machten wir Rast, um zu Essen und neue Energie zu tanken. Wir wollten heute noch ein gutes Stück schaffen.

Als Sawyer damit begann, an Killians Männlichkeit zu zweifeln, befand ich, dass ich meine Zeit auch sinnvoll nutzen konnte. Also leerte ich schnell meine fade Suppe und erhob mich. Dabei versuchte ich nicht allzu offensichtlich das Gesicht zu verziehen. Dieses verdammte Nilpferd. Wahrscheinlich würden meine Rippen nie wieder dieselben werden.

Unser Rastplatz lag zwischen einem üppigen Waldrand und den Resten einer früheren Stadt. Da wir mit dem Karren weder durch das eine, noch durch das andere durchfahren wollten, hatten wir den Weg dazwischen gewählt. Zwar gab es auch hier vereinzelte Bäume und kleinere Ruinen, die teilweise bis zur Unkenntlichkeit überwuchert waren, aber der Rest bestand aus Wiese und einer alten, kaum erkennbaren Straße. Hier kamen wir ganz gut voran.

Für unsere Pause hatten wir uns einen sonnigen Flecken, neben einem zerfallenen Gebäude gesucht. Hier waren wir ein wenig geschützt und man würde uns nicht sofort entdecken.

„Ein Mann muss einen anderen nicht runter machen, um sich selber groß zu fühlen“, erklärte Killian ganz ruhig, als spräche er eine schlichte Tatsache aus. „Sowas tun nur kleine, dumme Jungs.“

„Mit solchen Weisheiten können nur alte Männer wie du aufwarten.“

Gaia, schenk mir Kraft! „Könntet ihr beide jetzt endlich damit aufhören?“, schimpfte ich und fixierte sie mit einem Blick, der ihnen Schmerzen versprach, wenn sie den Unsinn nicht bald ließen.

Wie sie mich beide anschauten. Am liebsten hätten sie wohl mit dem Finger auf den anderen gezeigt und gesagt, er hätte angefangen. Die beiden waren wirklich kindisch. Nein, viel schlimmer, sie waren erwachsen und benahmen sich wie Idioten. Ein weiterer Kampf mit dem Nilpferd hörte sich verlockender an, als noch einen Moment länger diesem Gezänk beizuwohnen.

Kopfschüttelnd ging ich zum Karren und kramte darauf herum, bis ich den Leinenstoff und das Nähzeug fand. Damit bewaffnet, ging ich zu Wolf und kniete mich neben ihm. „Ausziehen.“

Gerade noch kaute er auf einem Stück Fleisch aus seiner Suppe herum, nun hielt er inne und zog eine Augenbraue nach oben.

„Dein Hemd“, machte ich deutlicher, nahm eine Nadel und zog einen Faden daran auf. „Du musst es ausziehen, damit ich dir ein neues nähen kann.“

Mit einem Brummen, stellte er seine Schüssel ab und zog sich das Hemd über den Kopf. Dabei bewegte er sich vorsichtig, als würde ihm etwas wehtun.

Vielleicht hatte er den Angriff ja doch nicht so locker weggesteckt. Ich war also doch kein Weichei.

Sobald er das Hemd aus hatte, zerteilte ich den Leinenstoff mit meinem Messer in drei gleichgroße Stücke. Eines davon hielt ich ihm vor die Brust, richtete es richtig aus und legte dann seine Hand darauf. „Festhalten. Und nicht verrutschen.“

„Hast du sowas schon mal gemacht?“ Sawyers setzte die Schüssel an den Mund und trank den Rest daraus.

„Ja.“ Mit dem zweiten Stoffstück kniete ich mich hinter Wolf und legte es ihm auf den Rücken. Dann begann ich mit einer groben Naht von seinem Hals, zu seiner Schulter. Ich wusste, man machte das eigentlich anders, aber so fand ich es einfacher.

Als Sawyer die Schüssel absetzte, funkelten seine Augen boshaft. „Und die Sachen hat man auch tragen können?“

Warum nur wunderte mich diese Frage nicht? „Guck an dir runter und sag es mir. Die Hose die du trägst, habe ich gemacht.“

„Ach deswegen zwickt sie die ganze Zeit im Schritt. Und ich dachte schon, es liegt daran, dass ich da einfach nicht genug Platz habe – wenn du verstehst, was ich meine.“

Nein, darauf würde ich nicht reagieren. Zumindest nicht mit Worten. Aber wenn er Pech hatte, würde ich ihm gleich einen Stein an den Kopf werfen.

Killian aber konnte es sich nicht verkneifen, geringschätzig zu schnauben.

Oh nein. Innerlich seufzend, machte ich mich für die nächste Runde zwischen dem Kleinkrieg der beiden bereit, doch bevor Sawyer zum nächsten Schlagabtausch ansetzen konnte, rief Salia plötzlich: „Wölkchen ist weg.“

Wie ein einziges Wesen, drehten wir alle den Kopf zu der Kleinen. Sie stand vor Trotzkopf, der immer noch genüsslich kaute und drehte sich im Kreis, um den Boden nach ihrem Stofftier abzusuchen.

„Wo hast du sie denn das letzte Mal gesehen?“

Sie schaute auf. Die Unterlippe zitterte leicht. „Ich weiß nicht.“

Ja, das war immer gut. „Hast du sie denn mit vom Karren genommen?“ Als sie vorhin darauf gesessen hatte, war es auf jeden Fall noch da gewesen. Ich hatte gesehen, wie sie damit gespielt hatte.

„Weiß ich nicht.“

Wie beschäftigte man vier Erwachsene? Ganz einfach, schick sie auf die Suche, nach einem kleinen Schaf.

„Ich schaue mal nach.“ Sawyer erhob sich und strich Salia im Vorbeigehen über den Kopf. „Nicht traurig sein, wir finden sie schon, sie muss hier ja irgendwo sein.“

„Und wenn nicht?“

„Dann fahren wir zurück uns suchen sie, bis wir sie gefunden haben.“ Und das war nicht nur so dahingesagt, das meinte er wirklich. Er würde so lange suchen, bis er dieses Schaf fand – mit oder ohne uns. Salia hatte alles verloren. Außer ihrem Vater, war ihr nur noch dieses Kuscheltier geblieben und er würde nicht erlauben, dass es verschollen blieb.

In diesen kleinen Momenten, wenn Sawyer seine menschliche Seite durchsickern ließ, erinnerte er mich immer daran, dass er auch ganz anders sein konnte. Diese Seite von ihm, bekam man nicht oft zu sehen. Aber wenn sie doch mal aufblitzte, machte mir das immer ein warmes Gefühl. Diesen Sawyer mochte ich, denn er war sympathisch.

Leider versteckte er ihn meistens.

Als Wolf zischte, bemerkte ich, dass ich ihn aus Versehen mit der Nadel gestochen hatte, weil ich mich hatte ablenken lassen. „Entschuldigung.“ Vielleicht sollte ich mich lieber hier drauf konzentrieren, anstatt auf Sawyers nette Seite.

Salia schniefte leise und lief Sawyer hinterher, als der auf den Karren kletterte, um zwischen unseren Sachen, nach ihrem Schmusetier zu suchen.

„Da ist sie ja“, verkündete er und hob eine kleine, weiße Wollkugel auf.

Salia streckte sofort begierig die Hände danach aus und drückte das Vieh an ihre Brust, sobald sie es zwischen die Finger bekam.

„Na siehst du, Wölkchen ist wieder da.“

„Danke.“

„Alles gut?“

Sie nickte und eilte mit Wölkchen zurück zu Trotzkopf, der sich von der ganzen Aufregung nicht hatte anstecken lassen.

Sawyer schob währenddessen auf dem Karren wieder alles an seinen Platz, hielt dann mitten in der Bewegung inne und begann zu grinsen. Sein Blick war auf etwas gerichtet, das ich von meinem Standpunkt aus nicht sehen konnte. Aber dann beförderte er meinen Bogen und den Köcher mit den Pfeilen zutage.

Er überprüfte beides kurz, schwang sich den Köcher dann auf den Rücken und sprang mit dem Bogen in der Hand vom Karren.

Wahrscheinlich wäre es besser darauf zu achten, dass ich Wolf nicht noch mal stach, aber ich musste einfach dabei zuschauen, wie Sawyer sich ungefähr zehn Fuß vor einem Baum positionierte, einen Pfeil herauszog und ihn auf den Bogen legte.

Zu meiner Entschuldigung sei gesagt, dass auch Killian und Wolf ihn aufmerksam beobachteten.

Sawyers Bewegungen wirkten geübt, aber eingerostet, so als hätte er das früher gut gekonnt, jetzt aber schon seit Jahren nicht mehr gemacht. Wahrscheinlich war es auch so.

Der Pfeil fand seinen Platz auf der Sehne. Sawyer spannte den Bogen und richtete die Spitze des Pfeils auf den Baum.

„Ich wette, er schieß daneben“, flüsterte ich Wolf zu.

Mit einem Nicken, machte er mir verständlich, dass er meine Meinung teilte. Jeder anständige Jäger sah sofort die Fehler in Sawyers Haltung. Der Pfeil müsste höher zielen, auch sein Ellenbogen war zu weit unten. Man sollte zwar nicht vorher urteilen, aber es war unübersehbar, dass das nichts wurde.

Trotzdem schaute ich aufmerksam dabei zu, als er noch einmal Luft holte und den Pfeil dann von der Sehne schnellen ließ.

Er sauste davon, zischte durch die Luft und zerschnitt sie und … verschwand irgendwo neben dem Baum im Gebüsch.

„Wusste ich es doch.“ Grinsend hob ich Wolfs Arme. „Oben lassen“, befahl ich und begann dann seitlich die Naht abzustecken.

Mit einem bösen Blick teilte Sawyer mir mit, dass er mich sehr wohl gehört hatte. Dann nahm er sich den nächsten Pfeil und versuchte es noch einmal. Dieses Mal ging der Schuss sogar noch weiter vorbei.

Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen.

Mit einem unzufriedenen Zug um den Mund, nahm Sawyer sich den nächsten Pfeil aus dem Köcher.

„Ich hoffe dir ist klar, dass du die nachher alle wieder einsammeln wirst.“ Denn das waren unsere einzigen Pfeile und ich hatte kein Material hier, um neue zu machen.

„Warst du nicht gerade noch schwer beschäftigt?“, knurrte Sawyer und legte den Pfeil auf die Sehne. Als er den Bogen dann spannte, rutschten seine Finger weg.

„Achtung!“, rief ich noch, da schoss der Pfeil los, wobei es mehr ein besoffenes Trudeln war, das an der Hauswand der Ruine endete.

Dieses Mal konnte ich nicht anders, ich musste kichern.

Sawyer spießte mich mit einem Blick auf. „Hör auf zu lachen, ich habe das seit Jahren nicht mehr gemacht.“

„Sieht man.“

Uh, konnte der aber finster gucken.

Ich kicherte wieder. Mit Pfeil und Bogen war ich zwar nicht herausragend, aber ich traf wenigstens acht von zehn Zielen. Sawyers Quote lag bisher bei null. Ziemlich traurig, wenn man bedachte, dass sich sein Ziel nicht mal bewegte.

Während Sawyer weiter versuchte, den Baum in ein Nadelkissen zu verwandeln, machte ich schnell die letzten Nähte und befahl Wolf dann, das Stück Stoff, das mal ein Hemd werden sollte, auszuziehen. Dabei musste ich breit grinsen, als Sawyer endlich ins Zielt traf und einen lauten Jubelruf ausstieß.

„Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn“, murmelte Killian.

Es war wirklich schwer, nicht in alte Gewohnheiten zu verfallen und die Augen zu verdrehen. „Du bist aber auch nicht viel besser als er. Ständig müsst ihr aufeinander herumhacken. Beschäftigt euch mal lieber mit etwas Sinnvollen.“ Ich ließ mich mit dem Hemd im Schoß auf den Hintern plumpsen und verzog das Gesicht. Diese Bewegung hatte meinem Körper nicht sonderlich gutgetan.

„Bist du okay?“

„Hab mich nur falsch bewegt.“ Wenn man es genau nahm, war im Moment jede Bewegung eine falsche Bewegung, aber wer wollte da schon so genau ins Detail gehen?

Sawyers nächster Pfeil zischte wieder an dem Baum vorbei, was ihm einen sehr einfallsreichen Fluch entlockte.

An mir rannte eine kleine Gestallt vorbei. „Ich will auch!“, verkündete Salia und blieb aufgeregt neben ihrem Vater stehen. Ihre Hände waren begierig in die Luft gestreckt, als erwartete sie, dass Sawyer ihr den Bogen ohne Weiteres aushändigte. Dass er das nicht tat, überraschte mich ein wenig, da er ihr doch sonst jeden Wunsch von den Augen ablas. Nun aber dachte er erstmal darüber nach. „Ich bin mir nicht sicher, ob das schon etwas für dich ist.“

„Bitte, Papa.“ Die rehbraunen Augen waren weit aufgerissen und es hatte den Anschein, als würde sie gleich zu weinen beginnen.

„Oh nein, so nicht. Auf die Tour kriegst du mich nicht mehr.“

Ihre Unterlippe begann ganz leicht zu beben.

Mit einem Seufzen gab er sich ergeben. „Aber zuerst müssen wir die Pfeile wieder einsammeln.“

„Ja!“ Sie peste los.

So konnte man natürlich auch ums Aufräumen herumkommen. „Bist du dir sicher, dass ausgerechnet du ihr das beibringen solltest?“

Da war er wieder, der finstere Blick.

„Ich meine ja nur. Nicht das du nachher noch das Kind auf die Sehne legst und versuchst damit zu schießen.“

„Du hältst dich wohl für sehr witzig.“

„Zumindest kann ich besser schießen als du.“ Grinsend breitete ich das, was einmal Wolfs Hemd sein sollte, vor mir auf dem Boden aus, zeichnete Linien und schnitt den überflüssigen Stoff weg.

„Heute vielleicht. Vor zwanzig Jahren hätte ich dich Problemlos geschlagen.“

„Natürlich hättest du das, vor zwanzig Jahren war ich nämlich erst zwei.“

Salia tauchte mit einem halben Dutzend Pfeilen neben ihrem Vater auf. „Jetzt will ich schießen.“

„Okay, komm her, ich zeige es dir.“ Er kniete sich zu seiner Tochter und erklärte ihr alles, doch als er ihr dann den Bogen übergab wurde sehr schnell deutlich, dass jemand Ungeübtes wie Salia, damit sicher keinen Pfeil würde abschießen können, denn der Bogen war größer als sie.

Als sie es mit Sawyers Hilfe trotzdem versuchte, seufzte Wolf neben mir und erhob sich. Er ging zu Sawyer und der Kleinen hinüber, und nahm ihnen beiden den Bogen weg. Dabei schüttelte er den Kopf.

„Wenn ich mich nicht irre, bin immer noch ich ihr Vater. Folglich bestimme ich, was sie darf, und was nicht.“

Brummend schüttelte Wolf den Kopf. Dann gab er Sawyer den Bogen wieder und hielt einen Finger hoch, zum Zeichen, dass Sawyer einen Moment warten sollte.

Während Wolf zur Ruine hinüber ging, nahm ich das Hemd auf meinen Schoß und begann zu nähen. Dabei trennte ich die ursprüngliche Naht, immer nur ein Stück auf, damit mir der Stoff nicht verrutschte.

Suchend stampfte Wolf durch die Ruine, bis er ein Trümmerteil gefunden hatte. Er ruckte daran herum, bis es sich aus dem Erdboden löste, dann rollte er es vor sich her, bis er wieder bei Sawyer und Salia war.

Neugierig schaute ich dabei zu, wie er das Trümmerstück solange herumruckelte, bis es fest auf dem Boden stand. Dann packte er Salia unter den Achseln und stellte sie oben drauf. So war sie zumindest von der Höhe her größer, als der Bogen.

Sobald er sicher war, das Salia fest stand, nahm er sich die Waffe von Sawyer zurück und drückte sie ihr in die Hand. Dabei viel ihm etwas aus der hinteren Hosentasche. Es war der Nilpferdzahn. Obwohl Killian das Ding ja als Hippo-Dolch bezeichnet hatte, nachdem Wolf daraus ein Messer geschnitzt hatte. Jetzt fehlte nur noch der Griff.

„Wolf, hinter dir auf dem Boden.“

Wolf drehte sich um, bemerkte den Zahn und warf ihn zu Killian und mir, damit er nicht im Weg war. Dann begann er Salia zu zeigen, wie man den Bogen spannte.

Falls sie das wirklich lernen wollte, mussten wir ihr einen kleineren Bogen machen.

„So ähnliche Waffen werden auch in unserem Museum ausgestellt“, sagte Killian mit Blick auf den Hippo-Dolch. „Allerdings stammen die aus der Steinzeit.“

„Was ist ein Museum?“ Ich drehte das Hemd ein wenig und stach mir dabei fast selber in den Finger. Das kam dabei raus, wenn man sich nicht auf seine Arbeit konzentrierte.

„Ein Museum ist …“ Er stockte und überlegte. „Ein Museum ist ein Gebäude, in den alte Gegenstände ausgestellt werden. Dort gibt es allerlei Objekte aus der Zeit vor der Wende, die teilweise sogar noch funktionieren. Aber auch andere Dinge, die wesentlich älter sind. Bilder, Skulpturen und auch Waffen.“

„In Eden gibt es ein Gebäude, in dem liegt alter Schrott rum, damit die Leute sich das ansehen können?“

„Kein Schrott, ein Stück Geschichte. Dort lernen wir von den Menschen, die lange vor uns gelebt haben.“

Was sollte man von denen denn noch lernen? Wie man den Weltuntergang herbeiführte? „Das klingt … naja, langweilig.“

Ein Lächeln erhellte sein Gesicht. „Also ich finde die Geschichte der Menschheit sehr interessant. Früher gab es so viele Kulturen und Völker, die alle einzigartig waren und alle auf ihre einzigartige Art gelebt haben. Hast du schon einmal was von den Mayas gehört, oder von den alten Ägyptern?“

Ich schüttelte den Kopf. Ä-gyp-ter. Was war das für ein Wort? Ein Ort, oder ein bestimmter Mensch? Vielleicht war es ja auch eine Pflanzensorte, oder eine Frucht.

„Im alten Ägypten, schon tausende von Jahren vor der Zeitrechnung, haben die ihre Toten auf eine ganz spezielle Art beerdigt. Sie haben …“

Ein lautes Jauchzen von Salia erregte unsere Aufmerksamkeit. Die Kleine hüpfte aufgeregt auf dem Stein auf und ab. Vor ihr im Baum, steckte zitternd ein Pfeil. „Ich hab’s geschafft, ich hab’s geschafft! Papa, hast du das gesehen?!“

„Habe ich.“ Er strich ihr über den Kopf. „Du bist ein Naturtalent, ganz wie dein Vater. Das sind die Gene.“ Für den letzten Teil, hatte er sich zu ihr vorgebeugt, als vertraute er ihr ein großes Geheimnis an.

„Naja, sie ist besser als du.“ Nein. Ich konnte mir das Sticheln nicht verkneifen. So häufig bekam ich schließlich nicht die Gelegenheit dazu. „Also kann sie es nicht von dir haben.“ Ich legte den Kopf zur Seite und tat so, als würde ich intensiv nachdenken. „Ich habe gehört, dass Talente gerne mal eine Generation überspringen. Das könnte es erklären.“

„Warte nur bis ich ein wenig geübt habe, dann schieße ich dir aus zweihundert Meter Entfernung, einen Apfel vom Kopf.“

„Aber nur, wenn der Apfel schon vorher auf dem Pfeil steckt.“

Sawyer drehte sich mit verschränkten Armen zu mir um, während Salia ihren zweiten Pfeil im Baum versenkte – mit ein wenig Unterstützung von Wolf. „Ich nehme die Herausforderung an. Gib mir eine Woche, dann können wir uns messen.“

Das hatte ich zwar nicht geplant, aber bitte. „Aber heul mir hinterher nicht die Ohren voll.“

„Nimm dir deinen eigenen Rat zu Herzen, Baby.“

Neben mir krachte es. Als ich mich umdrehte sah ich Trotzkopf, der gerade versuchte den Karren loszuwerden, indem er sich am Stamm eines Baumes schupperte.  

„Du elende Flohschaukel.“ Ich legte das Hemd zur Seite, erhob mich mit schmerzenden Muskeln und eilte zu meinem idiotischen Haustier hinüber. Sobald ich ihn an den Zügeln hatte, begann eine kleine Diskussion darüber, wer was wollte und wer hier das Sagen hatte. Ich gewann, wenn auch nicht kampflos.

Wir blieben noch eine halbe Stunde auf unserem kleinen Rastplatz. Salia übte weiter mit dem Bogen, Killian erzählte von Mumien und gigantischen Bauwerken aus Ägypten und ich nähte weiter an dem Hemd.

Vielleicht lag es daran, dass meine Gedanken sich einmal nicht darum drehten, was mir in den letzten Wochen und Monaten zugestoßen war, oder was ich alles verloren hatte. Ich saß einfach da und konnte den Moment genießen. Es war erfrischend.

Vielleicht sollten wir gar nicht weitergehen und Sawyers Familie suchen, vielleicht sollten wir einfach für uns bleiben. Nur wir und niemand sonst.

Nein, das ging nicht, das wäre egoistisch. Nur weil ich von meiner Familie ausgenutzt und verstoßen worden war, konnte ich nicht von Sawyer verlangen, alles hinter sich zu lassen und zu vergessen. Wenn auch nur die kleinste Chance bestand, dass er in sein altes Leben zurückkehren konnte, dann würde ich ihm dabei helfen und ihn unterstützen.

Ich wusste noch nicht, ob ich auch dortbleiben würde. Ich war einfach noch nicht so weit, mich jemand anderem anzuschließen. Wahrscheinlich würde ich Sawyer und Salia nur dorthin bringen und sobald ich wusste, dass sie in sicheren Händen waren, weiterziehen. Killian würde bei mir bleiben und Wolf müsste entscheiden, ob er sich Sawyer anschloss, oder mit mir durchs Land zog, bis wir ein Ziel gefunden hatten.

Mir wurde schon ein wenig schwer ums Herz, wenn ich daran dachte, sie zurückzulassen. Das lag sicher nur daran, weil ich in den letzten Tagen schon so viel hinter mir gelassen hatte. Wir hatten sowieso nie vorgehabt zusammenzubleiben. Einzig die Flucht aus Eden hatte uns dazu gebracht, an einem Strang zu ziehen. Das würde bald ein Ende nehmen.

Allerdings beschloss ich, ihnen vorerst nichts von meiner Entscheidung mitzuteilen. Es war immerhin nur eine Möglichkeit und vielleicht gefiel es mir in der Siedlung ja so gut, dass ich doch bleiben wollte. Das Problem war nur, wie sollte ich lernen, wieder zu vertrauen?

Für Sawyer waren diese Leute vielleicht Freunde und Familie, aber für mich waren es Fremde und fremde Menschen hatten für mich in der Vergangenheit nur selten eine gute Bedeutung gehabt.

Naja, die Zeit würde zeigen, was geschah. Jetzt war es jedenfalls an der Zeit weiter zu ziehen. Also packten wir unsere Sachen zusammen, luden Salia samt Wölkchen auf den Karren und machten uns wieder auf den Weg. Nebenbei zog ich Sawyer noch ein wenig damit auf, wie mies er im Bogenschießen war. Das tat ich aber nur solange, bis er mir im Vorbeigehen einen Klapps auf den Hintern gab.

Empört schaute ich ihm hinterher und schwor mir, dass ich ihn bei unserem kleinen Wettkampf, fertig machen würde. Er würde schon noch sein blaues Wunder erleben.

Die nächsten Tage waren eine Spiegelung der letzten drei Wochen. Jedem Morgen aßen wir eine Kleinigkeit, räumten unser Zeug zusammen und zogen weiter Richtung Osten. Mittags machten wir eine etwas längere Pause, um uns etwas auszuruhen, oder auch jagen zu gehen. Bei fünf Personen nahmen die Vorräte schneller ab als mir lieb war, aber Wolf war ein noch besserer Jäger als ich und so hatten wir keine großen Probleme, Essen zu besorgen.

Wenn der Tag zu dämmern begann, hielten wie die Augen nach einem geeigneten Platz für die Nacht offen. Abends saßen wir dann zusammen und pflegten Geselligkeiten, wie Carrie es nennen würde.

Tagsüber blieb das Wetter ganz angenehm, aber nachts wurde es zunehmend kälter.

So verging ein Tag. Und noch ein zweiter. Sawyer drängte immer weiter nach Osten, auch wenn ich langsam daran zweifelte, ob er wirklich wusste, was er da tat – oder wohin wir mussten.

Ich beschwerte mich aber auch nicht. Solange wir unterwegs waren konnte ich mir einbilden, ein Ziel zu haben. Es mussten Dinge erledigt werden, damit wir alle heil am Zielort ankamen. Ich war beschäftigt und das hinderte mich daran, zu viel über die Situation nachzudenken.

Erst abends, wenn die Gespräche verstummten und alle zur Ruhe kamen, begannen meine Gedanken mich in eine Spirale zu ziehen, die mich mehr als nur eine kostbare Stunde meines Schlafs kostete. Es waren nicht nur die Dinge die mir in Eden widerfahren waren, da waren auch der Verrat von Nikita und die Zurückweisung von Marshall, die so sehr schmerzten. Sie hämmerten mit Fäusten gegen die Wände meiner Erinnerungen, als wollten sie erhört werden. Ich wollte das alles eigentlich nur vergessen, aber all das Erlebte, ließ mir einfach keine Ruhe.

Über all dem schwebte die Angst vor dem, was hinter mir her war. Vielleicht glaubten die anderen, ich hätte die erneute Entführung durch die Tracker gut weggesteckt, einfach, weil sie mich nur wenige Stunden in ihrer Gewalt gehabt hatten, aber sie waren immer da. In jedem Schatten, in dem ich glaubte eine Bewegung wahrgenommen zu haben, auch wenn es nur der Ast eines Baumes war, der vom Wind gestreift wurde. In den Geräuschen um mich herum, die ich nicht sofort identifizieren konnte. Das Knacken eines Zweigs, oder das Rascheln im Laub. Geräusche die ich früher wahrgenommen, aber nicht weiter beachtet hatte. Jetzt signalisierte jedes einzelne von ihnen für mich Gefahr, weil es ein Tracker sein konnte, der nur darauf lauerte, mich wieder in seine Fänge zu bekommen.

Seit Killian mich aus ihrem Lager befreit hatte, war mir keiner von ihnen unter die Augen gekommen. Ich hatte nicht einmal eine vage Spur, die darauf hindeutete, dass sie immer noch hinter uns her waren. Aber ich konnte dieses Gefühl nicht abschütteln. Wahrscheinlich würde es mir noch lange erhalten bleiben.

Wenn es mir nach einem langen Tag dann doch gelang, der Erschöpfung nachzugeben und einzuschlafen, war das meist ein sehr unruhiger Schlaf, voll von dem, was war und dem was sein könnte.

Ich träumte von meiner Mutter, die weinend am Grab meines Vaters kniete und ihn fragte, wie sie das nur ohne ihn schaffen sollte. Ich träumte von Nikita, die fröhlich durch die Straßen von Eden tanzte und gar nicht bemerkte, wie Ketten aus Stahl wie Schlangen auf sie zukrochen und sich langsam um ihren Körper wickelten. Sie tanzte einfach weiter, während die Schlingen immer enger wurden. Erst wenn sie kurz davor war von ihnen erwürgt zu werden, bemerkte sie die Gefahr, aber da war es schon zu spät.

Ich träumte von meinem Vater, wie er mir das Schwimmen beigebracht hatte und von Marshall, wie er mich das Jagen lehrte. Ich träumte von Taavin und unserer ersten gemeinsamen Nacht auf meiner Brücke und dann von Roxy, wie sie mir von ihrem wahren Vater erzählte, der schon vor ihrer Zeugung tot gewesen war.

Die Bilder in meinem Kopf sprangen hin und her, klammerten sich mal da an eine Erinnerung und mal dort, verzerrten sie, bis aus der Realität Fiktion wurde und ich nicht mehr entscheiden konnte, was der Wahrheit entsprang und was nicht.

Und dann, wenn der Strudel zu undurchsichtig wurde, stoppten die Bilder und ich fand mich in einer düsteren Welt wieder. Große, dunkle Schatten, die nur entfernt Ähnlichkeit mit Menschen aufwiesen. Zwischen kargen Bäumen ragten sie unheilverkündend in den Himmel auf. Zwischen ihnen, auf dem kalten, zugefrorenen Boden, saß ein kleiner Junge. Die Beine fest an die Brust gezogen, weinte er leise und rief nach seiner Mutter, während die Schatten immer näherkamen.

Blut tropfte von seiner Lippe, rot und dickflüssig. Es vermischte sich mit den Tränen, fiel auf den gefrorenen Boden und versickerte dort im Untergrund.

Ich wollte schreien, dass er fortlaufen musste, doch da hatten die Schatten ihn bereits erreicht. Sie türmten sich um ihn herum und verschlangen ihn. Ich hörte ihn noch schreien und dann … wachte ich auf. Desorientiert und völlig übermüdet und immer vor den anderen. Das war insofern gut, dass sie es nicht mitbekamen. Ich wollte nicht, dass sie von meinem Zustand erfuhren und vielleicht auch noch Fragen stellten. Ich wollte darüber einfach nicht sprechen.

Stattdessen tat ich das, was ich jeden Tag tat. Aufstehen, zusammenpacken, weiterziehen. Mittags eine kurze Pause, und dann wieder laufen, solange bis die Dämmerung anbracht.

Zwar zerrten diese kurzen Nächte und langen Wanderungen an mir, aber wenigstens hielt die Sonne die Alpträume fort, die mich des Nachts immer überfielen.

 

oOo

Kapitel 13

 

Fröstelnd rutschte ich ein wenig näher an das Lagerfeuer heran und zog meine Decke enger um meine Schultern. Wir hatten zwar noch keine Minustemperaturen, aber sobald die Sonne erstmal weg war, wurde es schon ganz schön kalt. Ungeschützt im Freien zu kampieren, war da auch nicht sehr hilfreich. Zwar boten die Büsche und Bäume um uns herum ein wenig Schutz vor dem Wind, aber ohne Wände und Dach, waren wir dem Wetter leider ausgesetzt.

„Du kannst dich in meine Arme kuscheln“, bot Sawyer grinsend an und breitete einladend die Arme aus. „Ich werde dafür sorgen, dass dir ganz schnell warm wird.“

Mein Blick sprach Bände. Trotzdem fügte ich sicherheitshalber hinzu: „Danke, aber ich verzichte.“

„Du weißt nicht, was du verpasst.“

Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug, als seine Nase meine Wange streifte. Sein Atem kitzelte meine Haut und die Wärme, die er abstrahlte, ließ mich ganz kribbelig werden.

Nein! Nein, nein, nein, daran würde ich jetzt auf keinen Fall denken! Warum hatte er den Blödsinn jetzt nur zur Sprache bringen müssen? Und wenn er nicht gleich aufhörte so dreckig zu grinsen, dann würde ich ihm Sand ins Gesicht werfen. Wenn er sich Krümel aus den Augen puhlen musste, würde ihm das Lachen sicher vergehen.

„Spielverderber.“ Er zog seine eigene Decke wieder fest um seine Schultern und warf einen kurzen Blick, auf die schlafende Salia.

Zwei Tage waren vergangen, seit die Kleine das Bogenschießen für sich entdeckt hatte und Sawyer bei jeder sich bietenden Gelegenheit versuchte, mit seiner Tochter mitzuhalten – er wurde besser, aber er hatte noch einen weiten Weg vor sich.

Jetzt allerdings konnte er nicht üben, denn es war bereits dunkel und nur das Lagerfeuer spendete in dieser Nacht ein wenig Licht. Die Sterne und der Mond hatten sich hinter dicken Wolken versteckt. Regnen würde es heute Nacht nicht, aber die Kälte reichte ja schon. Hoffentlich würden wir Sawyers Siedlung erreichen, bevor der Herbst richtig zuschlug.

„Wie weit ist es noch bis zu deinem Vater?“

Neben mir erhob sich Killian und ging zum Karren hinüber.

„Bin mir nicht sicher. Vielleicht noch zwei oder drei Tage?“

Das hatte er gestern schon gesagt. „Sag doch einfach, wenn du keine Ahnung hast.“

„Wer sagt, dass ich keine Ahnung habe? Ich kann das einfach nicht gut einschätzen.“

Meine Augenbrauen hoben sich. „Dann weißt du wo wir jetzt sind?“

„Nein.“

Mir gegenüber begann Wolf leise zu lachen.

Killian kam zu uns zurück. In seiner Hand hielt er eine Leinendecke, die er mir um die Schultern legte, bevor er sich wieder neben mich setzte.

„Danke.“ Oh, welch schöne Wärme.

„Oh, was für ein Kavalier“, spottete Sawyer.

Killian beachtete ihn gar nicht. Er wickelte sich einfach wieder in seine eigene Decke ein und rutschte ans Lagerfeuer. Und ja, er rutschte auch näher zu mir.

Einen Moment war ich am überlegen, ob ich wegrutschen solle. Aber eigentlich wollte ich mich gar nicht bewegen und das nicht nur, weil mir noch immer jede Bewegung wehtat. Hier war es gerade mollig warm und es war ja auch nicht so, als versuchte Killian mit mir zu kuscheln. Da war immer noch eine kleine Lücke zwischen uns – so zwei Finger breit.

„Du weißt also nicht, wie lange wir noch brauchen und wo wir gerade sind.“

„Ich weiß immerhin, dass wir auf dem Richtigen Weg sind.“

„Woher?“

„Weil ich weiß, wo Osten ist.“

Na wenigstens etwas.

Wieder lachte Wolf leise. Heute Abend schien er sich ausgesprochen gut zu amüsieren.

Killian bewegte sich und setzte sich etwas bequemer hin. Ich späte auf die Lücke zwischen uns. War sie kleiner geworden?

„Warum bist du eigentlich nicht direkt nach Hause gegangen?“, wollte er von Sawyer wissen. „Warum hast du Kismet begleitet?“

„Was, unglücklich, dass du mich bisher nicht losgeworden bist?“

Killian machte ein Geräusch, dass uns allen verdeutlichte, wie schwer ein vernünftiges Gespräch mit Sawyer doch war. „Es war nur eine Frage, ohne irgendwelche Hintergedanken.“

Und ich hoffte, dass er sie beantworten würde. Ich hatte mich schließlich auch schon gefragt, warum er mit mir mitgegangen war, obwohl ich in eine ganz andere Richtung musste.

Sawyer nahm einen kleinen Ast und zerbrach ihn in mehrere Stücke. „Du wirst es vermutlich nicht glauben, aber ich bin nicht dumm.“ Er warf ein Stückchen ins Feuer. „Ich war mehr als die Hälfte meines Lebens hinter den Mauern von Eden gefangen. Viele meiner Fähigkeiten sind dort verkümmert und mit Salia an meiner Seite, wollte ich es einfach nicht riskieren, mich unnötiger Gefahr auszusetzen.“

„Also bist du nur bei ihr geblieben, damit sie auf dich und deine Tochter aufpasst?“ Killian meinte das nicht als Vorwurf, für ihn war das einfach eine Tatsache, aber Sawyer schien es so aufzufassen.

Der Ausdruck in seinem Gesicht verfinsterte sich und etwas Gehässiges erhielt Einzug. „Wenigstens habe ich einen guten Grund. Warum hängst du ihr immer noch am Rocksaum? Ach ja, damit Kismet auf dich aufpassen kann, weil du ansonsten völlig verloren und vermutlich bereits tot wärst.“

Nun verfinsterte sich auch Killians Ausdruck. „Das sollte kein Angriff sein, es war nur eine Frage.“

„Oh, meins war ein Angriff, glaub mir.“

Wenn ich das nicht schnellstens unterbrach, würden wir uns gleich in einer weiteren Runde dieses unsinnigen Kleinkriegs befinden. „Das heißt, du hattest vor irgendwann zu verschwinden?“

Sawyer spießte Killian noch kurz mit einem Blick auf, bevor er seine Aufmerksamkeit auf mich richtete. „Ich hatte bestimmt nicht geplant, bis an mein Lebensende, in deiner hinterwäldlerischen Mischpoche zu hocken.“

„Gut zu wissen, was du von mir und meinen Leuten hältst.“ Zum Glück hatte ich mir sowieso schon vorgenommen, nicht in seiner Siedlung zu bleiben. Es wurde wirklich langsam Zeit, dass unsere Wege sich trennten. Idiot.

„Diese Schwachköpfe haben dich im Stich gelassen und du beschwerst dich trotzdem, dass ich sie beleidige?“

„Du hast mich auch beleidigt, ich gehöre schließlich zu dieser Mischpoche.“

Er nahm sich allen Ernstes die Freiheit heraus, von mir genervt zu sein. „Gehörte, Vergangenheit. Du gehörst nicht mehr zu ihnen. Sei nicht immer so empfindlich und kleinkariert.“

Empfindlich? Also gleich würde ich ihm etwas Schweres an den Kopf werfen. Dann würde ich aufstehen, es mir zurückholen und es ihm noch ein zweites Mal nach ihm werfen. Vielleicht auch noch ein drittes Mal, aber dann wäre erstmal Schluss.

„Vermisst du sie denn?“, fragte Killian mich. „Deine Leute? Du hast bisher kein Wort darüber verloren.“

Und das würde ich auch nicht. Nicht nur, weil es zu sehr wehtat, es ging ihn auch nichts an. Das war meine private Angelegenheit. „Und du? Vermisst du deine Leute? Kit?“

Etwas wehmütiges zeigte sich auf Killians Gesicht. „Er ist mein Bruder, natürlich fehlt er mir.“

Wenn ich mir überlegte, wo ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war fraglich, ob es ihm auch so ging. Wahrscheinlich kochte der Kerl noch vor Wut, weil Killian mich befreit und ich ihn niedergeschlagen hatte.

„Mir fehlt auch Geysir.“

„Dein Pferd?“

Er nickte. „Das letzte Mal habe ich ihn gesehen, als der Alarm in Eden losging und er verängstigt davongestürmt ist.“

Daran erinnerte ich mich. Der Gaul hatte dabei auch noch fast Nikita getreten und Killian hatte verstanden, dass ich in einer Uniform der Gardisten steckte. „Glaubst du, ihm ist etwas passiert?“ Das wäre wirklich schade. Geysir war ein so schönes Tier.

„Nein. Vermutlich hat ihn jemand eingefangen und zurück in den Stall gebracht, nachdem sich das Chaos ein wenig gelegt hat.“

Das blieb zu hoffen.

„Wen ich wirklich vermisse, ist meine Mutter.“

Olive. Sie war eine besondere Frau. Nicht weil sie seine Mutter war, oder etwas Außergewöhnliches geleistet hatte, sondern weil sie krank war. Ihr Geist war kaputt. Die meiste Zeit ihres Lebens schien sie sich in einer anderen Welt zu befinden. Was um sie herum geschah, bekam sie kaum mit.

Ich hatte ein paar Mal versucht mich mit ihr zu unterhalten, aber ein Gespräch mit ihr war, als würde man versuchen, flüchtige Gedanken einzufangen und sie in die richtige Reihenfolge zu bringen. „Glaubst du, sie vermisst dich auch?“ Wo sie doch nicht mal wusste, dass Killian ihr Sohn war. Ihr Geist war so zerrüttet, dass ich mir nicht mal sicher war, ob sie überhaupt wusste, dass sie Kinder hatte.

„Wer weiß, vielleicht. Sie ist ja jetzt aus dem Eden-Programm raus. Es ist bestimmt gut für sie, sich zur Ruhe setzten zu können.“

Ach ja, das hatte ich ja ganz vergessen. Die Geburt von Olives Baby, war der Grund, warum ich nicht mit Killian geschlafen hatte. Gerade als ich bei ihm in der Praxis gewesen war und es heftiger zur Sache gegangen war, hatten ihre Wehen eingesetzt. Das hatte ich in dem ganzen Chaos um die Flucht einfach vergessen. „Wie geht es ihr denn, hat sie die Geburt gut überstanden?“

Ein halbes Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Es geht ihr gut. Und den Babys auch.“

Babys? Mehrzahl? „Wie viele hat sie denn bekommen?“

Sein Lächeln wurde ein wenig sanfter. „Drei. Zwei Mädchen und einen Jungen. Eines der Mädchen wird einmal eine Eva sein.“

Diese Nachricht sorgte bei mir nicht gerade für Jubelschreie. Die Menschen in Eden mochten den Status als Eva mit etwas Anbetungswürdigen gleichsetzten, aber das war es nicht. Diese Frauen waren keine Göttinnen, sie waren Menschen, die für ein hehres Ziel geopfert werden sollten. Und damit sie auch nicht merkten, wie falsch das war, wozu man sie machte, wurde ihnen von klein an beigebracht, sich den Wünschen der Stadt und des Programms zu fügen, weil es das Beste für alle war.

Für alle, bis auf sie.

Sawyer warf einen weiteren Zweig in das Feuer. Er wurde fast sofort von den Flammen aufgezerrt. „Agnes ist bestimmt hellauf begeistert, eine weitere, kleine Zuchtstute für ihr Programm gewonnen zu haben.“

„Es wird ihr gut gehen“, versicherte Killian.

„Zumindest solange sie tut, was von ihr erwartet wird. Aber hey, vielleicht ist ihr das Schicksal ja wohlgesonnen und die alte Schreckschraube ist tot, bis die Kleine ihren Dienst antreten muss. Mit ein bisschen Glück, ist die nächste Despotin kein menschenverachtendes Scheusal.“

Dazu brauchte die Kleine kein Glück, es war eine einfache Rechnung. Agnes Nazarova, die Despotin in Eden, war bereits zweiundachtzig Jahre alt. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass sie die hundert erreichen würde. Obwohl ich ihr das glatt zutrauen würde.

„Was passiert denn jetzt mit den Babys?“, wollte ich wissen. Durch ihren Geisteszustand war Olive nicht fähig, sich um ihre Babys zu kümmern. Nur deswegen durfte Sawyer ja Salias Vater sein. Sie war auch Olives Tochter.

Irgendwie war das ein wenig schräg. Salia war Killians Halbschwester. Genauso waren die drei Babys die Halbgeschwister von Killian und Salia. Alles Kinder von Olive, aber Olive konnte sich an keines von ihnen erinnern. Und das waren nur die Kinder von ihr, die ich kannte, sie hatte noch viel mehr.

„Der Junge und das unfruchtbare Mädchen gehen ins Elternprogramm. Wahrscheinlich haben die beiden bereits Familien gefunden, wo man sich gut um sie kümmert.“

Ja, so wie Nikita. Auch sie hatte über das Elternprogramm neue Eltern gefunden. Wahrscheinlich war es ihr so leichter gefallen, alles zu vergessen, was ihrem Leben vorher einen Wert gegeben hatte.

Denk jetzt nicht daran.

„Und die kleine Eva, was ist mit ihr?“, wollte ich wissen. Dieses Thema war immer noch besser, als das, womit mein Hirn sich mal wieder beschäftigen wollte. „Bei Olive kann sie ja nicht bleiben. Kümmert sich ihr Vater um sie, so wie es bei Sawyer und Salia war?“

Killian warf einen Blick zu dem schlafenden Mädchen, schüttelte aber den Kopf. „Der Samen für diese Schwangerschaft, stammt aus unseren kryokonservierten Beständen.“

Moment, das hatte ich schon mal gehört. „Gefriersperma? Von toten Männern?“ Das hatten sie mir in Eden auch angeboten, aber ich hatte dankend abgelehnt.

Killian nickte. „Genau. Der Spender ist bereits seit vielen Jahren tot.“

Die Kleine hatte also keinen Vater, der sich um sie kümmern konnte. „Und was passiert dann mit ihr?“

„Eine der anderen Evas wird sich der Kleinen annehmen und sie wie ihre eigene Tochter aufziehen.“ Er zog seine Decke ein wenig fester um seine Schultern und dieses Mal war ich mir sicher, dass er dabei näher herangerückt war. „Es wird ihr gut gehen.“

„Ja, der Standardspruch in Eden.“ Sawyer schnaubte. „Übergeben sie ihr Leben in unsere Obhut, dann wird es ihnen schon gut gehen.“ 

Wolf gähnte laut und streckte sich unter seiner Decke. Dann rollte er sich herum, bis er hinter Salia lag und schloss die Augen.

Da war wohl jemand müde.

So wie Killian den Mund verzog, hatte er wohl keine Lust, auf eine weitere Runde Lobeshymnen, auf die Stadt. Aus irgendeinem Grund sah er sich trotzdem gezwungen, darauf einzugehen. „Es ist nicht alles schlecht an Eden. Ob ihr es nun einsehen wollt, oder nicht, die Stadt ist eine Zuflucht und bietet Menschen die Chance auf ein besseres Leben.“

„Sie bietet es nicht nur, sie zwingt es einem auf“, erklärte Sawyer. „Egal zu welchem Preis.“

„Er hat recht“, stimmte ich Sawyer zu. „Die Motive von Eden können noch so edel sein, aber der Preis, den die Menschen dafür zahlen müssen, ist es nicht. Dabei ist es völlig egal, wie gut ihr eine Eva behandelt. Wenn ihr mit ihr etwas tut, dass sie nicht will, ist es falsch. Niemand sollte zu etwas gezwungen werden, dass er nicht bereit ist, aus freien Stücken zu machen.“

„Aber manchmal geht es nicht anders“, wandte Killian ein. „Nimm nur mal einen Verbrecher. Wenn er bei seiner Tat erwischt wird, droht ihm eine Strafe. Er will sie mit Sicherheit nicht. Soll man sie ihm deswegen ersparen?“

„Du sagst also, dass die Position einer Eva mit der eines Verbrechers gleichzustellen ist?“ Das würde zumindest so einiges erklären. Nur nicht die Frage, was mich zu einer Verbrecherin machte. Das musste ich laut dieser Aussage schließlich sein, richtig?

„Ich sage, dass es Regeln und Gesetze nicht ohne Grund gibt. Manche dieser Regeln gefallen uns, andere nicht. Aber wenn wir nur die befolgen die wir wollen, versinkt alles im Chaos.“

Und genau das war der Unterschied zwischen Killian und mir. Regeln und Gesetze bedeuteten für ihn Struktur und diese Struktur versprach Sicherheit. Killian brauchte diese Sicherheit, um sich wohl zu fühlen. Bei mir jedoch lag der Fall ganz anders. Natürlich wollte auch ich eine gewisse Ordnung im Chaos, nur das vor alle dem die Freiheit kam.

Chaos bedeutete vielleicht sich auch unerwarteten, oder sogar gefährlichen Dingen, stellen zu müssen, aber war es nicht genau das, was Leben bedeutete? Die Freiheit, Entscheidungen zu treffen und auch mal Fehler zu machen? Diese überwachte Sicherheit in der Stadt, ständig unter den wachsamen Augen irgendeines Befehlshabers … das war doch gar keine Sicherheit, das war Kontrolle. Und die Menschen in Eden verstanden das einfach nicht.

Natürlich wäre mir in meinem Leben viel Leid und Kummer erspart geblieben, wenn ich einfach ein weiterer dieser zahllosen Menschen in dieser Stadt wäre, aber dann wäre ich heute sicher nicht die Person, die ich war. Vielleicht wäre ich dann so sorglos wie Roxy, oder so charmante wie Tican. Vielleicht wäre ich aber auch genauso eine Zicke wie Lija. Eigentlich war das auch völlig egal, denn ich mochte die Person, die ich heute war und ich wollte mich nicht ändern, um in ein System zu passen, das in meinen Augen einfach nur abscheulich war.

Mit einem Kopfschütteln wickelte Sawyer sich aus seiner Decke. „Aber wenn man Regeln und Gesetze dazu benutz, andere zu unterdrücken und ihnen den eigenen Willen aufzuzwingen, läuft da etwas grundlegend falsch.“ Er ordnete seine Decke neu, rutschte dann neben Salia und rollte sich neben ihr zusammen. So war die Kleine zwischen ihm und Wolf geschützt. „Und jetzt will ich von dieser Scheiße nichts mehr hören.“ Er zog sich die Decke bis unters Kinn, sodass nur noch sein braunes Haar herausschaute.

Also gut.

Nachdenklich schaute Killian ins Feuer, seine Gedanken schienen ganz weit weg zu sein. „Es ist nicht so, dass ich euren Standpunkt nicht verstehe. Auch ich finde, dass einige Dinge in Eden anders laufen sollten und irgendwann wird dieser Wunsch vielleicht auch wahr, aber das ganze System wegen eines Fehlers zu verunglimpfen, ist auch nicht richtig.“

Da hatte er nicht unrecht. Und normalerweise hatte ich auch nichts gegen die Lebensweisen anderer Menschen. Das Problem mit Eden war einfach, dass es für sie nur diesen einen Weg gab und wer nicht für sie war, wurde gefügig gemacht, bis er seine Meinung änderte. „Aber ihr wollt diesen Fehler gar nicht beheben. Ihr seid die Stärkeren und glaubt deswegen, das gibt euch das Recht, die Herschafft zu übernehmen. Eine andere Meinung neben der euren, lasst ihr gar nicht erst zu.“

„Das hat nichts mit Meinung zu tun, das ist Loyalität. Wir …“

„Das ist keine Loyalität“, unterbrach ich ihn. „Das ist blinder Gehorsam. Ihr hinterfragt nichts. Vielleicht aus Bequemlichkeit, vielleicht auch, weil ihr euch vor den Konsequenzen fürchtet, und solange ihr euch dem Regime unterwerft, wird sich auch nichts ändern. Glaubst du wirklich, Agnes hätte so viel Macht, wenn ihr sie ihr nicht geben würdet? Was ist eine Göttin, ohne ihre Anbeter?“

„Ein Geist“, sagte Killian ohne zu zögern. „Aber Agnes ist keine Göttin. Gott ist ein allmächtiges Wesen, Agnes ist nur eine alte Frau mit etwas verqueren Zukunftsvorstellungen.“

„Sowas wie einen Gott gibt es gar nicht.“ Also war diese Metapher völlig Sinnlos.

„Aber eine Göttin?“ Killian zog eine Augenbraue nach oben. „Gaia?“

Bei seinem belustigten Tonfall verengte ich missbilligend die Augen. „Gaia ist realer, als Gott.“

Nun schmunzelte er ganz offen. „Der Glaube an Gaia ist realer, als der Glaube an Gott? Meinst du, sie erhört deine Gebete eher?“

„Die freien Menschen beten Gaia nicht an, sie ehren sie. Im Gegensatz zu ihr, ist Gott nur ein Konstrukt, von Menschen erschaffen, um Dinge zu erklären, die nicht erklärt werden können. Mutter Erde existiert. Sie ist es, die uns Essen schenkt, Leben und auch Luft zum Atmen. Sie bietet uns alles was wir brauchen. Was kann uns dagegen ein unsichtbarer Geist geben, der von oben auf uns herabsieht und niemanden an seiner angeblich allmächtigen Macht teilhaben lässt? Gott gibt uns Regeln vor, nach denen wir leben müssen, weil wir sonst bestraft werden. Gaia lässt uns unser Leben selbst bestimmen. Die einzigen Konsequenzen, die wir bei ihr fürchten müssen, sind die, die wir uns selbst auferlegt haben.“

Killian neigte den Kopf leicht zur Seite. „Laut deiner Ausführung, ist Agnes also Gott und du bist Gaia?“

Ich öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. In gewisser Hinsicht, war der Vergleich gar nicht so schlecht, auch wenn ich mich niemals mit Gaia verglichen hätte. Unser Planet war ein wahrgewordenes Wunder. Ich dagegen war nur ein flüchtiger Gedanke, auf der langen Reise der Welt. „Ich bin die, die ich bin. Nicht mehr und nicht weniger.“

Das ließ ihn lächeln. „Besser hätte ich es auch nicht formulieren können.“ Er ließ es klingen, als sei es ein Kompliment. Nur warum mein Herz dabei einen kleinen Hüpfer machte, verstand ich nicht. Lag es vielleicht an seinem Blick? Er hatte schon wieder dieses Funkeln in den Augen. Wenn er mich jetzt berührte …

„Wir sollten schlafen gehen“, verkündete ich und kramte mich aus meinen Decken heraus.

Killian war über die Plötzlichkeit ein wenig verblüfft, nickte aber und tat es mir gleich.

Meine Muskeln und Knochen protestierten, als ich mich auf die Beine begab. Die Schmerzen von dem Nilpferdangriff waren besser geworden, aber noch nicht ganz verschwunden. Doch ich war eine Kriegerin und eine Kriegerin schluckte den Schmerz einfach runter. Naja, oder bewegte sich einfach ein wenig vorsichtiger.

Da hinter Wolf ein paar Büsche waren und ich keine Lust hatte, mit diesem Gestrüpp zu kuscheln, legte ich mich neben Sawyer. Es war nachts einfach zu kalt, um ganz alleine zu liegen. Darum rollte ich mich unter meinen Decken zusammen, rückte ein wenig an ihn heran und atmete einmal tief durch.

Killian nahm den Platz auf meiner anderen Seite. Auch er zog sich seine Decke bis zum Hals und obwohl ich mit dem Rücken zu ihm lag wusste ich, dass uns nur wenige Zentimeter trennten. Ich spürte seinen warmen Atem in meinem Nacken.

Eine Gänsehaut kroch über meine Haut.

„Schlaf jetzt“, sagte ich leise und rollte mich noch ein wenig fester zusammen. Morgen würde wieder ein anstrengender Tag sein und da sollten wir fit und ausgeruht sein. Naja, sofern das Karussell in meinem Kopf mich mal für eine Nacht in Ruhe lassen würde.

„Gute Nacht, Kismet“, flüsterte Killian.

 

oOo

Kapitel 14

 

Ein Einzelner Tropfen landete auf meiner Nasenspitze. Ich wischte ihn weg, was nicht viel brachte, da der nächste gleich folgte. Vor einer halben Stunde hatte dieser nervige Nieselregen angefangen und statt wieder zu verschwinden, hatte Gaia es sich heute zur Aufgabe gemacht, uns mit dieser nassen Kälte zu ärgern.

Sprühregen fand ich einfach nur furchtbar. Es war nichts Ganzes und nichts Halbes, es war einfach nur lästig.

Wir waren nun schon den dritten Tag unterwegs, seit Sawyer erklärt hatte, wir wären in zwei bis drei Tagen an unserem Ziel. Ein Ziel hatte sich uns bis jetzt noch nicht eröffnet und von den Zweifeln an Sawyers Orientierungssinn einmal abgesehen, standen wir nun vor einem Problem – wortwörtlich.

Die alte Straße, die wir den letzten Stunden gefolgt waren, war links und rechts von hohen Bäumen gesäumt. Sie standen so eng, dass ein Durchkommen mit dem Karren sehr schwierig – vielleicht sogar unmöglich – war. Wir mussten also immer weiter geradeaus laufen, wenn wir vorwärtskommen wollten.

Vor ein paar Minuten war die Straße abschüssig geworden und nun standen wir vor dem Eingang eines Tunnels. Links und rechts Bäume und rissige Betonwände und vor uns ein dunkler Schlund ins Ungewisse.

„Willst du da durch?“, fragte Killian zweifelnd.

„Nein, eigentlich nicht.“ Ganz sicher sogar. Der Tunnel war alt, sicher noch aus der Zeit vor der Wende. Oben drüber, war mit den Jahrhunderten ein Wald gewachsen und das wenige, dass ich von meinem Standpunkt aus sehen konnte, war nichts sehr vertrauenserweckend. Rissiger und bröckelnder Beton, bedeckt mit Moosen und Flechten. Links war die Decke leicht herabgesackt, darunter lagen ein paar Betontrümmer. Rostige Eisenstreben ragten aus dem Stein. Von drinnen hörte ich das plätschern von Wasser, aber es war zu dunkel, um weiter als ein paar Fuß hineinzusehen. „Aber wenn wir nicht hindurch gehen, müssen wir uns einen anderen Weg suchen.“ Was bedeutete, dass wir die gesamte Strecke zurücklaufen müssten und am Ende einen ganzen Tag verloren hätten.

„Vielleicht ist ein anderer Weg gar nicht so verkehrt. Dieser Tunnel wirkt nicht sehr vertrauenserweckend.“

Nein, das tat er wirklich nicht. Wenn wir es wirklich wagten da durch zu gehen, konnte uns nicht nur die Decke auf den Kopf fallen. Es konnte auch sein, dass dort drinnen wilde Tiere lauerten, oder der Tunnel an irgendeiner Stelle verschüttet war und es sowieso kein Durchkommen gab. Vielleicht war der Boden auch zu schlecht für den Karren. Bei Gaia, ich wusste nicht mal, wie lang dieser Tunnel war.

Dieser Weg war keine gute Option.

„Ich habe keine große Lust zurück zu laufen.“ Zwar heilten meine Verletzungen gut, dennoch war es anstrengend.

Wolf brummte, als teilte er meine Meinung und sondierte unsere Umgebung auf der Suche, nach einer anderen Möglichkeit.

Zwecklos, das hatte ich bereit überprüft. „Ich gehe erstmal allein hinein und schaue mir alles an.“

„Du willst da allein reingehen?“, fragte Killian und hörte sich genauso beunruhigt an, wie er aussah.

Ich drückte ihm die Führleine von Trotzkopf in die Hand und kletterte zu Salia auf den Karren. „Solange wir nicht wissen wie es darin aussieht, wissen wir auch nicht, ob wir da mit dem Karren durchkommen.“ Ich zog eine Kiste hervor, in der eine Laterne war. Nein, die Laterne war nicht hier drin, sie war in der anderen Kiste. „Ich muss also nachschauen gehen.“

„Aber du gehst nicht alleine“, sagte Sawyer und nahm sich den Fischspeer vom Karren. „Ich begleite dich.“

Ich starrte auf den Speer. Was wollte er damit machen, im Tunnel fliegende Fische fangen? „Nein, tust du nicht.“ Mit der Laterne in der Hand, sprang ich wieder vom Karren.

„Und wer will mich davon abhalten?“, fragte er ein wenig zu überheblich. „Du?“

Im Ernstfall? Ja. „Du kannst da nicht mit rein, du hast Salia. Was soll sie machen, wenn das Ding über dir zusammenbricht? Du trägst Verantwortung.“ Mich hingegen würde niemand vermissen. Das war die traurige Wahrheit. „Du wartest hier, ich gehe alleine.“ Um meinen Standpunkt noch Nachdruck zu verleihen, nahm ich ihm den Speer weg und legte ihn zurück auf den Karren. Dabei bemerkte ich Wolf, der auf der anderen Seite Bogen und Pfeile von der Ladefläche nahm und sich damit auf dem Weg zum Tunnel machte.

„Hey! Ich habe doch gerade gesagt, ich gehe alleine.“

Seine Reaktion? Er tat so, als wäre er taub und könnte mich nicht hören.

„Dieser verdammte Sturkopf“, knurrte ich und nahm den Feuerstein und das Schlageisen, aus dem Beutel an meinem Gürtel und versuchte damit die Kerze in der Laterne anzuzünden. Natürlich dauerte es auf diese Art eine Ewigkeit, bis die Flamme endlich brannte.

Mit einem sehr ernsten „Ihr wartet hier“, schloss ich die Klappe der Laterne und eilte Wolf in den finsteren Schlund hinterher.

Sobald der freie Himmel über mir verschwunden war, wurde es um mich herum merklich kühler. Wolf war so schlau gewesen, nur so weit zu gehen, wie das Tageslicht reichte und dort auf mich zu warten. „Wir sollten uns dringend einmal über die Befehlskette unterhalten.“

Grinsend tätschelte er mir den Kopf, als ich mich neben ihn stellte und die Laterne hochhielt.

Hier drinnen wirkte der Tunnel nicht viel vertrauenserweckender, als draußen. Der Boden war rissig und an manchen Stellen richtig weggeplatzt. Die linke Seite der Decke sackte hier noch mehr ab als draußen und überall tropfte es herunter. An manchen Stellen hatten sich Stalagmiten und Stalaktiten gebildet und trotz des kaputten Bodens, waren überall Pfützen. Manche kleiner, manche größer.

Es roch muffig, nach Schimmel und abgestandener Luft. Die Moose und Flechten verloren sich nach ein paar Fuß, denn weiter drinnen, bekamen sie niemals Sonnenlicht.

Weiter in dieses finstere Loch hinein zu gehen, wäre einfach nur dumm. Dieser Ort schrie praktisch: Lebensgefahr, kehrt um, solange ihr noch könnt!

Ich streckte den Arm aus, um das Dunkel ein wenig zu erhellen. „Na dann wollen wir mal.“ Hoffentlich ging das auch gut.

Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen und sondierte ununterbrochen meine Umgebung. Meine Sinne arbeiteten auf Hochtouren. Ich achtete darauf, ob sich der Geruch in der Luft veränderte, oder die Geräusche, aber außer dem stetigen Tropfen von Wasser und unseren Schritten, war nichts zu hören.

Wäre es mir nicht schon vorher klar gewesen, so wüsste ich spätestens jetzt, dass dieser Ort einmal von Menschenhand erschaffen worden war. Der Boden, die Wände und die Decke, alles war unnatürlich gerade – oder war es einmal gewesen.

Es gab keine Stützpfeiler, die die Decke oben halten konnten. Als mir das klar wurde, bekam ich ein leicht mulmiges Gefühl. Wenigstens die Stalagmiten und Stalaktiten stützten das Ganze ein wenig ab. Wahrscheinlich war das der einzige Grund, warum der Tunnel noch nicht eingestürzt war.

An den Seiten lagen Dreck und Unrat und da wo die Decke herabgesackt war, lagen auch immer wieder Schutthaufen und Trümmerteile, doch der Tunnel war – zumindest bis hier her – breit genug, um mit dem Karren hindurchzufahren. Leider konnte ich das Licht am anderen Ende nicht sehen. Der Tunnel war also länger, als ich gehofft hatte.

Unsere Schritte hallten von den Wänden wider, als wir tiefer ins Innere vordrangen.

Wir hatten vielleicht hundert Fuß zurückgelegt, als Wolf mich auf eine Nische in der rechten Wand aufmerksam machte. Nein, keine Nische, ein Durchgang in einem anliegenden Raum.

Ich versicherte mich, dass Wolf hinter mir war und den Bogen bereithielt, bevor ich darauf zusteuerte. Vorsichtig und wachsam, denn man konnte nie wissen, was einen erwartete und ich hatte nicht vor, ein schlafendes Tier zu überraschen, dass sich von unsrem Auftauchen gestört fühlen könnte. Darum lauschte ich angestrengt, bevor ich die Laterne etwas höher hob und einen Blick in den Raum warf.

Er war klein und erstaunlich gut erhalten. In der Ecke schien etwas Großes eine Art Nest zusammen geschart zu haben. Allerdings wirkte dieses Nest alt und verlassen. Zum Glück, ich wollte gar nicht so genau wissen, was für eine Kreatur auf so einem großen Schlafplatz schlief. Den Fußabdrücken auf dem Boden zu folge, musste es etwas mit großen Tatzen sein.

Ich entdeckte aber nicht nur Spuren von Tieren, sondern auch Abdrücke von menschlichen Füßen. Eine Kerze auf einer Kiste und daneben ein halb verrottetes Buch. Ein Regal aus Metall, oder besser gesagt, die Reste davon und auch einige andere Dinge, von denen ich zum Teil nicht mal den Namen kannte. Dieses Zeug wirkte sogar noch älter als das Nest.

Vor langer Zeit hatte hier mal ein Mensch gelebt, bis er irgendwann gegangen und nicht wiedergekommen war. Und das war nun alles, was von ihm noch übrig war. Die traurige Bilanz eines ganzen Lebens.

Ich sollte dringend aufhören so melancholisch zu sein.

Wolf brummte und machte mit dem Kopf eine Bewegung nach links.

Ich nickte. „Ja, lass uns weiter gehen.“ Von dem alten Zeug war nichts mehr zu gebrauchen und ich wollte nicht länger als nötig in diesem Tunnel verweilen. Also verließ ich den Raum und folgte Wolf.

Mittlerweile wurde die Dunkelheit nur noch von dem schwachen Licht unserer Laterne vertrieben. Überall um uns herum krochen Schatten über die Wände und machten dieses beklemmende Erlebnis noch ein wenig beängstigender.

Vielleicht hätten wir doch einfach umkehren sollen, aber ich wollte vorwärtskommen und keinen Schritt zurück machen. Solange ich in Bewegung blieb und mich immer weiter von Marshalls Flugzeug entfernte, war es ziemlich ausgeschlossen, dass die Tracker erneut auf mich stoßen würden. Sollte ich aber irgendwo länger verharren, oder zurück, und ihnen damit entgegenlaufen, würden die Chancen meiner Feinde auf jeden Fall steigen.

Während ich noch darüber nachdachte, ob wir die Tracker vielleicht abgehängt hatten, hob Wolf plötzlich eine Hand und legte sich einen Finger auf den Mund. Ich blieb sofort stehen und lauschte, aber es dauerte ein Moment, bis ich es hörte. Ein zirpender Singsang, voller Knacken und Klicken.

Das kannte ich, das hatte ich schon einmal gehört, damals, als ich mit Nikita ganz allein gewesen war und wir uns Höhlen und brauchbare Ruinen gesucht hatten, wo wir schlafen konnten. „Fledermäuse.“

Wolf nickte.

Na großartig. „Wie schade, dass die Tracker mir meinen Schlagstock abgenommen haben.“ Fledermäuse waren nämlich äußerst lästig, wenn sie sich erschraken. Zum Glück lebten sie nur in kleinen Gruppen. Trotzdem sollten wir uns nach Möglichkeit ruhig verhalten, um sie nicht aufzuschrecken. „Lass uns weiter gehen.“

Er zeigte mit einer Handbewegung, dass ich vorgehen sollte.

„Gerissen“, sagte ich. „Wenn sich ein tiefes Loch vor uns im Boden auftut, dann falle ich als erstes hinein.“

Mit einem breiten Grinsen nickte er.

Ich drohte ihm spielerisch mit dem Zeigefinger und ging weiter. Es war eigentlich gar nicht möglich, aber ich hatte das Gefühl, dass die Dunkelheit um uns herum mit jedem Schritt finsterer wurde und die Schatten an den Wänden immer näher rückten.

Dunkle, enge Räume hatten mir noch nie gefallen. Schon als kleines Kind, hatte ich selbst bei Regen, viel lieber unter freiem Himmel gestanden, als mich in einer dunkeln Ecke zu verkriechen. Hier war es nicht viel anders. Ich würde Gaia danken, sobald ich endlich aus diesem Tunnel hinauskam – immer vorausgesetzt, er würde irgendwann ein Ende haben.

Wie lang konnte so ein Tunnel eigentlich sein? Und wie in aller Welt hatte er es geschafft, nach so vielen Jahren immer noch zu stehen? Das war wohl eine von diesen Fragen, auf die ich niemals eine Antwort finden würde.

Die Geräusche der Fledermäuse wurden lauter, je näher wir ihnen kamen. Die Decke auf der linken Seite, wölbte sich immer weiter dem Boden zu. Teile waren heruntergebrochen und hatten sich über die zerklüftete Straße verteilt. Eidechsen und Spinnentiere, huschten schnell davon, wenn das Licht auf sie fiel.

Der Lichtkegel kroch über den Boden und die Wände und verzerrte die Schatten zu Kreaturen der Unterwelt.

Plötzlich türmte sich vor uns eine Wand aus Schutt und Trümmer auf. Das was ich befürchtet hatte, war hier geschehen: Die Decke war eingestürzt und versperrte uns den Weg.

Ich hielt die Laterne höher. In der vagen Hoffnung, doch noch einen Durchgang zu finden, ging ich an der Trümmerwand entlang und suchte nach einer Lücke in dem Schutt. Plötzlich schälte sich aus der Dunkelheit eine Gestalt. Ein knochiger Schädel mit Hautfetzen und einem Maul mit messerscharfen Zähnen. Tatzen mit gewaltigen Klauen ragten in die Luft, bereit jede Art von Beute zu zerfetzen.

Dieser Anblick kam so unerwartet, dass ich einen spitzen Schrei ausstieß und rein instinktiv nach hinten sprang. Ich prallte gegen Wolf und fiel nur nicht zu Boden, weil er mich auffing. Und das war nicht nur so ein kleiner Schreckenslaut, den ich problemlos hätte überspielen können. Dieser Schrei hallte schrill von den Wänden wider und war sicher im gesamten Tunnel zu hören gewesen.

In der nächsten Sekunde hörten die schläfrigen Gesänge der Fledermäuse auf. Es wurde zu einem Kreischen und schon schoss ein ganzer Schwarm an uns vorbei.

Mit einem Fluch, ließ ich mich in die Hocke fallen und riss die Arme über den Kopf. Ich hörte das Kreischen an meinen Ohren und spürte den Wind, wenn eines von diesen Viechern zu nahe an mir vorbeiflog. Kleine Krallen rissen an meinen Armen und kurz verfing sich eines dieser Biester in meinen kurzen Haaren, bevor es sich losriss und davonflog.

Ich spürte die Bewegung um mich herum und dann … flogen sie einfach davon.

Mein Herz trommelte in meiner Brust und das Adrenalin jagte durch meine Adern. Alle Sinne waren auf Gefahr ausgerichtet. Wenn diese Gefahr dann aber plötzlich verschwand, war das ein echt irritierendes Gefühl.

Nur langsam nahm ich die Arme herunter und sah mich nach Wolf um. Auch er war zu Boden gegangen und hatte versucht, sich so klein wie möglich zu machen – eine wirkliche Leistung, bei so einem riesigen Kerl.

Die Laterne war mir aus der Hand gefallen. Es war ein Glück, dass sie nicht erloschen war.

„Ist mit dir alles in Ordnung?“

Er nickte, griff nach der Laterne und richtete sie wieder auf. Dann leuchtete er auf das, was mich so erschreckt hatte. Es war der Kadaver eines Tieres, der vordere Teil eines Bären. So wie es aussah, war die Decke über ihm zusammengebrochen und hatte ihn verschüttet. Der hintere Teil war bis zum Brustkorb unter den Trümmern begraben. Nur der gewaltige Kopf und eines der Vorderbeine ragten heraus.

Von dem Bären war nur wenig mehr als das Skelett übriggeblieben. Die Augen waren leere Höhlen und die Knochen wurden nur von Fell und Hautfetzen zusammengehalten.

Oh Gaia, wie peinlich war das denn? Ich hatte mich vor ein paar Knochen und Fell erschreckt. Ich nahm Wolf ins Visier. „Wenn du davon jemanden erzählst, werde ich dir nachts, wenn du schläfst, Blutegel ins Hemd stecken.“

Seine Lippen öffneten sich zu einem wilden Grinsen, bei dem er mir seine Zähne zeigte.

„Und ich werde behaupten, du hättest geschrien“, drohte ich ihm, was ihm zum Lachen brachte. Hey, es gab keine Zeugen und somit stand Aussage gegen Aussage. Wem würde man mehr glauben? Mir, die meine Version der Geschichte wiedergeben konnte, oder jemanden, der sich nicht mal wehren konnte, weil er nicht fähig war zu sprechen?

Seine Augen lachten mich an.

„Schön das wir uns einig sind“, grummelte ich und nahm von ihm die Laterne entgegen. Dieses Mal war ich auf den grausigen Anblick des Bären vorbereitet. Vielleicht war er es gewesen, der weiter vorne in dem Raum seinen Unterschlupf hatte. Falls dem so war, schätzte ich mich glücklich, dass er bereits tot war. Ein Kampf mit einem Bären gehörte zu den Letzten Dingen, nach denen mir der Sinn stand – besonders, da die Verletzungen von dem Kampf mit dem Nilpferd, noch nicht ganz verheilt waren. Ein Mädchen musste eben Prioritäten setzen.

Auf der Suche nach einem Durchgang durch die Trümmerwand, ließ ich das Licht der Laterne über den Schutt gleiten.

Es war kaum zu glauben, aber meine Gebete wurden erhört. Ganz an der rechten Seite war die Decke noch intakt und bildete damit einen Durchgang zum anderen Teil des Tunnels. Nicht mal Stalagmiten versperrten den Weg, sodass wir mit dem Karren problemlos hindurchfahren konnten. Es war, als hätte Gaia persönlich, uns einen Weg offengehalten. Jetzt blieb nur die Frage, welche Gefahren Gaia uns für diesen Weg bereitet hatte.

Bevor ich überhaupt in Erwägung zog, diesen Durchgang zu durchschreiten, schaute ich ihn mir allerdings erstmal genauer an, denn er wirkte nicht sehr stabil. Ich ruckelte sogar an ein paar der Trümmer, aber alles schien Bombenfest. „Ich denke, es ist sicher“, teilte ich Wolf mit und schaute zu ihm rüber. „Was meinst du?“

Seine Stirn legte sich leicht in Falten, als er sich die Sache genauer anschaute, nickte dann aber. Um sicher zu gehen, dass ich ihn auch wirklich verstanden hatte, hob er sogar einen Daumen in die Luft. Die Botschaft war eindeutig, er war der gleichen Meinung wie ich.

„Du musst mir dringend Zeichensprache beibringen, damit wir uns besser verständigen können.“

Sein Daumen reckte sich ein weiteres Mal in die Höhe.

Gut, dass wir das geklärt hatten.

Vorsichtig darauf bedacht, wohin ich meinen Fuß setzte, um auch ja keine losen Steinchen, oder Geröll loszutreten, trat ich durch den Durchlass. Er war zwar nicht sehr schmal, aber der Karren würde trotzdem nur ganz knapp durchpassen. Das könnte eng werden.

Auf der anderen Seite veränderte sich das Bild nicht groß, zumindest zu Anfang nicht. Immer noch feuchte Wände und ein nasser Boden. Überall tropfte es. Doch nach ein paar Minuten fiel mir etwas auf und ich blieb stehen.

Als meine platschenden Schritte verhallten, hielt auch Wolf an und schaute sich zu mir um. Er brummte fragend.

Ich hielt die Laterne etwas tiefer und schaute mir den Boden genauer an. „Das ist keine Pfütze.“

Er schaute nach unten, schien aber nicht zu verstehen, was ich sagen wollte.

„Das ist keine Pfütze“, wiederholte ich. Bisher hatte ich es nicht wirklich wahrgenommen, weil meine Füße die ganze Zeit schon nass und kalt waren. „Ist es dir nicht aufgefallen? Der ganze Boden ist mittlerweile überschwemmt und das Wasser wird immer tiefer.“ Es war, als wateten wir langsam in einen Fluss, oder einen See hinein.

Jetzt verstand er. Er schaute zurück in die Richtung aus der wir gekommen waren und dann in die, in die wir mussten.

„Lass uns noch ein Stück gehen, mal schauen ob das Wasser noch tiefer wird.“ Und wie lang dieser Tunnel noch war.

Er nickte zwar, aber seine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Im Dunkeln war es gefährlich. Im Wasser, wenn man nicht sah, was sich darin verbarg, war es gefährlich. Im Dunkeln, im Wasser und in einem Tunnel? Man dachte besser gar nicht darüber nach.

Da wir nicht ewig über unsere nächsten Schritte nachdenken konnten, setzten wir uns wieder in Bewegung. Um uns herum blieb es ruhig und es tauchte auch kein Krokodil aus dem Nichts auf, aber das Wasser stieg mit jedem Schritt deutlich an. Der Boden war hier abgesackt und die Wände schienen hier auch nicht mehr ganz so gerade. Das dieser Teil des Tunnels noch stand, war vermutlich nichts weiter als Glück.

Wir liefen ungefähr noch zwei Minuten, als in der Ferne endlich das Ende des Tunnels auftauchte. Das schwache Tageslicht kam von verhangenem Himmel, aber es war eindeutig, der Tunnel war offen.

Froh über diese Entdeckung, lief ich ein wenig schneller. Der Wasserspiegel stieg weiter und reichte mir mittlerweile bis zur Hüfte. Der Boden war schlammig und grau und langsam begann ich zu frieren, aber ich ging weiter und nach wenigen Minuten hatten wir es endlich geschafft, wir hatten die andere Seite erreicht.

„Der Tunnel ist offen“, stellte ich erleichtert fest und schaute mich ein wenig um. Hier sah es ganz ähnlich aus, wie auf der anderen Seite. Hohe Bäume zu beiden Seiten, eine leicht ansteigende Straße und der kleine Teich endete in gut fünfzig Fuß Entfernung. Allerdings regnete es mittlerweile ein wenig stärker.

Wolf brummte und zeigte dann auf den Tunnel.

„Ja, vermutlich sollten wir die anderen holen.“ Auch wenn ich keine große Lust hatte, diesen Tunnel noch einmal zu durchqueren. Aber es half alles nichts. Ich konnte den anderen ja schließlich keine Brieftaube schicken, die ihnen mitteilte, dass sie uns folgen sollten. Ich hatte nämlich keine Brieftaube. Und wenn ich eine hätte, wäre sie vermutlich schon vor langer Zeit in einer Pfanne gelandet. „Na dann lass uns mal zurück gehen.“

Der Rückweg war deutlich angenehmer, als der erste Durchlauf, da wir nun wussten, was uns erwartete. Zwar waren wir immer noch aufmerksam, aber ich hatte das Gefühl, wir wären schneller, als bei unserer ersten Erkundung. Trotzdem war ich heilfroh, als wir endlich auf der anderen Seite herauskamen und wieder bei den anderen waren. Nur hatte ich nicht diese drei besorgten Gesichter erwartet.

„Geht es dir gut?“, fragte Killian und eilte direkt zu mir. Seine Haare waren feucht und klebten ihm in der Stirn. „Wir haben dich schreien gehört.“

Ähm … ja.

„Und dann waren da plötzlich ganz viele Fledermäuse“, berichtete Salia aufgeregt. Dabei wackelte sie mit den Armen, als wollte sie selber fliegen.

Sawyer musterte uns gründlich. „Seid ihr baden gewesen?“

Ich blickte an mir hinunter. Ab der Taille abwärts war ich klitschnass. „Sowas in der Art.“

„Hast du deswegen geschrien?“, wollte Killian wissen. „Bist du ins Wasser gefallen?“

Ich hatte mich erschreckt und wäre fast auf Wolf gefallen. „So was in der Art“, wiederholte ich und nahm ihm die Leine von Trotzkopf ab. „Der Tunnel ist offen, wir können durchgehen, aber seid leise.“ Nicht dass das Ding doch noch über uns einstürzte.

Killian warf einen Blick auf den dunklen Schlund. „Ich hatte ja immer noch darauf gehofft, dass wir uns einen anderen Weg suchen.“

„Feigling“, sagte Sawyer und wandte sich dann Salia zu. „Wir fahren jetzt durch diese Höhle. Du bleibst auf dem Karren sitzen und bist leise, okay?“

Ihre Augen wurden ein Stück größer. „Ist es gefährlich?“

Nein, nur ein wenig gruselig. „Dir wird nichts passieren.“

„Sehen wir dann wieder Fledermäuse?“

Wenn wir Glück hatten, dann nicht. „Vielleicht“, sagte ich jedoch, um ihr ihre kindliche Begeisterung zu lassen.

Sie grinste und ihre Wangen glühten praktisch vor Aufregung. In diesem Moment erinnerte sie mich so stark an Nikita als kleines Mädchen, dass ich hastig den Blick abwandte und brüsk den Befehl zum Abmarsch gab.

Verdammt.

Warum konnten Erinnerungen und Gefühle nicht einfach verschwinden? Was brachten sie einem denn noch, wenn sie einen nur quälten? Wie viel einfacher wäre mein Leben, wenn ich all das was mich belastete, einfach hinter mir lassen könnte. Wahrscheinlich wäre ich dann der glücklichste Mensch der Welt. Im Moment gehörte ich allerdings nur zu den Feuchtesten. Und frieren tat ich auch noch. Wenn wir auf der anderen Seite herausgekommen waren, würde ich mir ganz schnell andere Sachen anziehen müssen. Dazu mussten wir aber erstmal hindurchgehen.

Sobald wir den Tunnel betreten hatten, wurde es wieder deutlich kälter und die modrige Luft umfing uns erneut. Wolf ging mit der Laterne in der Hand voraus und leuchtete uns den Weg aus. Ich führte Trotzkopf an seiner Leine.

Bis zu dem Teil, wo die Decke heruntergekommen war, hatten wir keinerlei Probleme. Killian gefiel die Umgebung offensichtlich nicht. Salia dagegen war begeistert und bestaunte alles. Besonders die Tropfsteine hatten es ihr angetan und sie lauschte wissbegierig ihrem Vater, der ihr erklärte, wie sie entstanden waren.

Kurz bevor wir die Wand aus Schutt erreichten, befahl ich Salia, ihre Augen zu schließen und sie zu zulassen, bis ich ihr etwas anderes sagte. Das grausige Bärenskelett musste sie nun wirklich nicht sehen. Die Männer warnte ich vor dem Anblick. Trotzdem zuckte Killian kaum merklich zusammen. Sawyer dagegen verzog nur das Gesicht und sagte: „Widerlich.“

Dem war nichts hinzuzufügen.

Der Durchgang an der Wand war schmaler, als ich geglaubt hatte. Oder war der Karren einfach breiter? Wie rum auch immer, wir hatten einige Schwierigkeiten, ihn auf die andere Seite zu bekommen. Die Männer mussten schieben, während ich Trotzkopf dazu antrieb zu ziehen und am Ende mussten wir an der Seite vorsichtig etwas von dem Schutt entfernen. Dann schafften wir es jedoch hindurch und Salia durfte ihre Augen wieder öffnen.

Als aus den Pfützen am Boden langsam ein seichtes Ufer wurde, hielt ich Killian und Sawyer dazu an, zu Salia auf den Karren zu klettern. Wir mussten schließlich nicht alle bis auf die Knochen durchweicht werden, wenn es sich vermeiden ließ.

Vor uns kündete das triste Tageslicht bereits das Ende des Tunnels an, als ich plötzlich von hinten mit ein paar Tropfen Wasser bespritzt wurde. Sie klatschten mir kalt in den Nacken und als ich mich umdrehte um zu sehen woher das kam, drehte Sawyer ganz unschuldig den Kopf weg.

Salia kicherte, aber Killian schüttelte den Kopf.

Ich warf Sawyer einen warnenden Blick zu und ging weiter. Da trafen mich die nächsten Tropfen.

Wieder kicherte Salia, als ich herumfuhr und versuchte, Sawyer mit Blicken zu erdolchen. „Hör auf mit dem Mist.“

„Ich weiß nicht was du meinst“, sagte er ganz unschuldig.

Salia klatschte sich die Hände ins Gesicht, um ihr Grinsen zu verbergen.

„Ich warne dich“, teilte ich Sawyer noch mal mit und ging weiter. In dem Moment traf mich ein eiskalter Schwall von hinten. Kopf, Nacken, Schultern, Rücken. Eiskalt lief das Wasser meinen Körper herunter. Ich fuhr zu Sawyer herum, der mich nur angrinste, als wollte er fragen, was ich dagegen tun wollte. Oh, das würde er gleich erfahren.

Ich ließ die Leine einfach los, ging zum Karren und packte ihn an den Armen. Er versuchte noch sich abzustützen, doch da hatte ich ihn bereits zu mir herangezogen. Im nächsten Moment kippte er mit meiner Hilfe über den Rand, bekam Übergewicht und fiel kopfüber ins kalte Wasser. Wassertropfen spritzten in alle Richtungen und machten mich noch zusätzlich nass, aber das war jetzt auch egal.

Sawyer kam prustend zurück an die Oberfläche und richtete sich auf. Nun wirkte er nicht mehr so vergnügt, trotzdem funkelte sein braunes Auge erheitert. „Das war es wert.“

„Lass es dir trotzdem eine Lehre sein. Beim nächsten Mal drücke ich dich runter und lasse dich erst wieder los, wenn keine Blasen mehr kommen.“

Mit den Händen, wischte er sich so gut es ging, das Wasser aus dem Gesicht. „Das kannst du nicht machen.“

Ach nein? „Warum nicht?“

„Du würdest mich vermissen.“

„Das glaubst auch nur du.“ Aus dem Augenwinkel bemerkte ich wie der Karren sich bewegte. Trotzkopf hatte wohl beschlossen, nicht mehr länger im kalten Wasser stehen zu wollen und war einfach wieder losmarschiert.

„Oh, das war jetzt aber gemein.“

Für eine Erwiderung hatte ich keine Zeit. Ich musste mich beeilen nach vorne zu kommen, bevor Trotzkopf einfach abhauen konnte. Wäre auch nicht das erste Mal.

Sobald wir den Tunnel verlassen hatten und aus dem Wasser heraus waren, suchte ich mir sofort trockene Kleidung. Auch Wolf uns Sawyer mussten sich umziehen. Zwar nieselte es immer noch, aber das war weit angenehmer, als die klitschnasse Kleidung.

Oh, süße, süße Wärme. Ich liebe dich so sehr.

Die nasse Kleidung, landete in einem Sack, die Laterne wieder in der Kiste, dann konnte es auch schon weiter gehen.

Killian saß immer noch bei Salia auf dem Karren. „Vielleicht sollten wir bald mal eine Pause einlegen“, überlegte er. „Dann können wir eine Kleinigkeit essen und uns ein wenig ausruhen.“

„Klingt gut.“ Die Straße vor uns wurde ein wenig schlechter. Gras und Unkraut waren über den Asphalt gewachsen und die Wurzeln der Bäume hatten den Stein aufgebrochen. Ich musste ein wenig aufpassen wohin ich Trotzkopf führte, um den Karren so gut eben möglich, zu schonen.

Wir waren vielleicht zehn Minuten vom Tunnel entfernt, als sich die Straße vor uns gabelte. Links ging sie genauso weiter, wie bereits die letzten Stunden. Rechts dagegen führte ein schmaler Weg direkt durch den Wald. Es sah aus, als hätte dort jemand vor langer Zeit eine Schneise geschlagen.

Ich blieb stehen und zwang Trotzkopf damit auch anzuhalten. Ausnahmsweise einmal gehorchte er ohne Probleme. „Straße, oder Waldweg?“

„Die Straße ist mit dem Karren einfacher“, sagte Killian. „Der Waldweg ist durch den Nieselregen aufgeweicht. Du weißt auch nicht, wohin er führt.“

Das wusste ich bei der Straße auch nicht.

Wolf brummte und nickte, als würde er Killian zustimmen.

Ich schaute zu Sawyer, der die Straße nur kurz musterte, seinen Blick dann aber nachdenklich auf den Weg heftete. Dann zeigte er nach rechts. „Da lang.“

„Wirklich?“ Killian war skeptisch. „Du hast schon gehört, was ich gerade gesagt habe?“

„Nein, wenn du sprichst, schaltet sich immer mein Gehör ab.“ Er setzte sich in Bewegung. „Kommt, wir müssen da entlang.“

Na gut. Zwar waren wir uns alle ziemlich sicher, dass Sawyer keinen Schimmer hatte, wohin er uns führte, aber zumindest in der Theorie war er unser Wegweiser. Und egal, ob der Weg nun richtig war, oder nicht, am Ende würden wir sicher irgendwo landen.

Zuallererst musste ich Trotzkopf aber dazu überreden, sich wieder in Bewegung zu setzten. Nachdem mir dieses Meisterstück gelungen war, folgte ich Sawyer.

Der Weg war breit genug, um mit dem Karren bequem darüber zu fahren. Der Untergrund war allerdings ein wenig holperig. Immer wieder fuhren wir durch Löcher, oder über Wurzeln. Salia freute sich jedes Mal, wenn sie deswegen auf dem Karren hüpfte. Es musste schön sein, sich an so kleinen Dingen erfreuen zu können.

Wir waren nur ein paar Minuten gefahren, als die Bäume spärlicher wurden und zwischen ihnen alte Ruinen von Häusern auftauchten. Wie Schatten aus der Vergangenheit, standen sie zwischen den Stämmen der Bäume. Mal eine ganze Wand, mal nur die Grundmauern, dann wieder nur ein Schutthaufen.

Der Weg wurde breiter, die Ruinen vermehrten sich und dann fuhren wir über eine alte Straße, die von Mutter Natur völlig verschluckt worden war.

Die Bäume um uns herum waren noch nicht so alt, vielleicht dreißig, oder vierzig Jahre. Es gab überall Anzeichen dafür, dass es hier vor vielen Jahren gebrannt haben musste. Wahrscheinlich war damals alles zerstört worden. Darum waren die wenigen Bäume um uns herum so verhältnismäßig jung.

Manche wuchsen an der Straße, andere hatten sich ihren Weg aus den Ruinen herausgesucht. Überall wuchsen Gräser und Gestrüpp, leicht verdorrt, von der Sommerhitze. Im Frühling sah es hier bestimmt hübsch aus.

In alter Zeit musste das hier ein Dorf gewesen sein. Noch immer sah man überall Zeugnisse der Menschheitsgeschichte. Fast verrottete Autowracks, von denen kaum mehr als die Karosserie übrig war. Ein uralter Funkmast, rostig und korrodiert. Reste von Metallzäunen, Backsteingebäuden und sogar einen halb zerfallenen Brunnen entdeckte ich.

Killian schien von dem Anblick ganz fasziniert. „Sowas habe ich noch nie gesehen.“

In Eden gab es sowas ja auch nicht. Da war alles schick und neu. „Ich dachte, du hättest Ausflüge in die freie Welt unternommen.“ Das hatte er mir zumindest erzählt.

„Ja schon, aber solche Orte haben wir da nie besucht.“

Wir kamen an einer alten Brücke vorbei, die schon lange keiner mehr überquert hatte und das nicht nur, weil sie schon vor einer Ewigkeit in sich zusammengestürzt war.

„Und die Touren waren immer Tagesausflüge. Wir haben uns niemals so weit von Eden entfernt.“

„Ich und Wölkchen haben sowas auch noch nie gesehen“, erklärte Salia. „Und du, Papa?“

Als von Sawyer keine Reaktion kam, schaute ich mich nach ihm um. Dabei stellte ich fest, dass er ein Stück hinter uns zurückgefallen war und aufmerksam die Ruinen musterte. Dann blieb er plötzlich ganz stehen. Die Stirn gerunzelt, den Blick wandernd.

Ich wurde wachsam und hielt den Karren an. Hatte er etwas gehört, oder gesehen? „Sawyer?“

Sein Blick schnellte kurz zu mir. „Bin gleich wieder da“, sagte er und verließ die Straße, um zwischen den Ruinen zu verschwinden.

„Sawyer!“ Bei Gaias Zorn, der konnte doch nicht so einfach verschwinden! Dazu kam noch, dass er offenen Auges in ein Meer aus Ruinen hineinrannte. Wusste er denn nicht wie gefährlich das war? Da konnte alles Mögliche passieren! „Mist. Bin gleich wieder da.“ Ich drückte Wolf die Zügel von Trotzkopf in die Hand und eilte dem Dummkopf hinterher. Dabei achtete ich sorgsam darauf, den gleichen Weg zu nehmen, wie Sawyer zuvor. Dort wo er langelaufen war, musste der Boden sicher sein. Keine Hohlräume, die einem plötzlich den Boden unter den Füßen wegrissen. So zumindest die Theorie.

Ich lief an drei Bäumen vorbei und zwischen zwei Ruinen hindurch. „Sawyer?“ Wo war dieser Kerl nur abgeblieben? So viel Vorsprung konnte er nicht haben, er musste hier irgendwo sein. Aber ich sah ihn nicht. „Sawyer!“

Was nur hatte ihn dazu veranlasst, einfach so abzuhauen? Hatte er etwas gesehen? Aber was? Ich würde es aus ihm herausprügeln, sobald ich ihn gefunden hatte. Einfach so zu verschwinden, war Mist. Noch dazu in einem Gebiet, dass wir beide nicht kannten. Außerdem nervte mich dieser Nieselregen. Konnte der nicht endlich mal aufhören?

„Sawyer!“ Ich lief um eine Ruine herum, bei der ein Teil der unteren Steinmauern noch standen. Ein kleines Bäumchen hatte sich dort sein Zuhause gesucht, kaum mehr als ein Setzling. Drumherum lagen kaputte Backsteine und Mauerreste, die halb unter dem Gestrüpp verschwanden. Daneben, in der Ecke der Ruine stand Sawyer und … was machte er da? Zählte der die Ziegel? „Du kannst doch nicht einfach wegrennen.“

„Ich habe doch gesagt, bin gleich zurück“, antwortete er, ohne sich nach mir umzuschauen.

„Das war aber keine Erklärung.“

„Hattest du etwa Angst, ich würde dich im Stich lassen?“ Nun drehte der Idiot sich doch zu mir um und zwinkerte mir auch noch zu. „Ich weiß, ich mache süchtig, Baby, aber du wirst dich hoffentlich noch ein wenig beherrschen können.“

Wie konnte in einer einzigen Person, nur so viel Arroganz stecken? Vielleicht sollte ich ihm ja doch sagen, dass ich abhauen würde, sobald wir seine Siedlung erreicht hatten. Das würde seinem Ego einem kräftigen Dämpfer verpassen. Obwohl, wahrscheinlich würde es ihn nicht mal interessieren. Er brauchte mich schließlich nur, damit ich ihn sicher nach Hause brachte. Danach wäre ich nicht mehr weiter von Bedeutung.

Dieser Gedanke gefiel mir nicht. Ich wollte nicht nur ein Hilfsmittel sein, dass man im Stich lassen konnte, wenn man genug davon hatte. Ich wollte gebraucht werden, um meiner Willen, nicht wegen dem was ich konnte.

Das war einfach nur albern.

Um mich von diesen dummen Gedanken abzubringen, trat ich zu ihm. „Was machst du da, warum bist du einfach abgehauen?“ Eine akute Gefahr, schien es hier jedenfalls nicht zu geben.

„Ich wollte etwas nachschauen.“ Er drehte sich wieder zur Mauer um. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, wodurch seine Narben leicht verzerrt wurden. „Toll, jetzt darf ich von vorne anfangen.“ Was genau er damit meinte erfuhr ich, als er mit den Fingern gegen die Ziegel tippte. Er zählte sie wirklich. Von oben nach unten, dreizehn und von rechts nach links, neun. Dann verharrte er einfach. Er stand da und tat nichts. Sein Atem schien sogar einen Moment zu stocken.

Besorgt musterte ich ihn. „Sawyer?“

Sein Blick schnellte eine Sekunde zu mir, dann drückte er entschlossen die Lippen aufeinander und begann an dem Ziegel zu rütteln. Erst geschah gar nichts, außer dass etwas von dem alten Mörtel herabrieselte. Dann löste er sich Stück für Stück aus dem Mauerwerk, bis Sawyer ihn einfach herausziehen konnte.

Ich schaute interessiert dabei zu, wie er ihn auf dem Boden ablegte und dann in das entstandene Loch griff. Als er die Hand wieder herauszog, umklammerten seine Finger einen alten Stoffbeutel.

Ein Schatz. „Was ist das?“

Vorsichtig öffnete er die Verschnürung des Beutels und kippte sich den Inhalt in die offene Handfläche. Mehrere Holzperlen und drei geschnitzte Figuren aus Holz, fielen heraus. Ein Mann mit einer Axt auf der Schulter, eine Frau mit einem Baby auf dem Rücken und ein kleiner Junge mit einem Ball am Fuß. Sie waren alt und abgegriffen, aber irgendjemand hatte sie einmal liebevoll und mit vielen Einzelheiten bemalt. Auch die Holzkugeln waren alle in einer anderen Farbe.

So schönes Spielzeug hatte ich nie besessen – nicht mal damals, bei meinen Eltern. Aber ich hatte eine Puppe gehabt. „Woher hast du gewusst, dass sie da versteckt sind?“

„Weil ich sie dort hineingetan habe.“ Er bewegte die Hand ein wenig, sodass sich das Spielzeug auch bewegte. „Noor, meine kleine Schwester, sie hat mir immer mein Spielzeug geklaut und es mir dann nicht zurückgegeben. Mein Vater hat immer gesagt, wir sollen das unter uns klären und meine Mutter meinte, ich sollte mit ihr teilen.“ Wieder bewegte er die Hand. Seine Gedanken schienen ganz woanders zu sein. „Also habe ich mein Spielzeug vor ihr versteckt.“

Klar, wenn sie sein Spielzeug nicht fand, dann konnte sie es ihm auch nicht klauen. Allerdings … Moment, sollte das etwa bedeuten, wir waren am Ziel? „Deine Siedlung ist hier?“ In Ordnung, das war eine äußerst dumme Frage gewesen. Hier gab es weder Menschen, noch bewohnbare Häuser. Die wären mir mit Sicherheit nicht entgangen.

Sawyer war so in der Vergangenheit gefangen, dass er keinen dummen Kommentar dazu abgab, sondern einfach auf die Frage einging. „Ganz in der Nähe.“ Er hob den Blick und schaute sich um, als suchte er etwas. Dann deutete er Richtung Nordosten. „Vielleicht zehn Minuten in diese Richtung.“

Ich folgte mit den Augen seinem Ausgestrecktem Finger. „Da kommen wir mit dem Karren nicht durch.“ Nicht mal wenn unser Leben davon abhinge.

„Dann müssen wir außen herumlaufen.“ Er füllte die Spielzeuge zurück in den alten Stoffbeutel und behielt ihn in der Hand. „Da brauchen wir aber länger, vielleicht eine halbe Stunde.“

In einer halben Stunde könnte ich diesem elenden Nieselregen entkommen sein und endlich im Trockenen sitzen? „Worauf warten wir dann noch?“

Er grinste wie ein kleiner Junge. Die Freude stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Ich hoffe, du freust dich schon darauf, meine Eltern kennenzulernen.“

Ehrlich gesagt, sah ich dem ganzen mit gemischten Gefühlen entgegen, denn mir wurde klar, was es bedeutete unser Ziel zu erreichen. Abschied. Sobald ich mich davon überzeugt hatte, dass Sawyer und Salia in Sicherheit wären, würde ich gehen. Da ich ihm aber seine Laune nicht verderben wollte, sagte ich ihm davon nichts, als wir zum Karren zurückkehrten.

Killian war mittlerweile von der Ladefläche heruntergeklettert und hielt Salia an der Hand, die aufgeregt auf und ab hüpfte, als sie ihren Vater kommen sah.

„Papa, du darfst nicht einfach weggehen“, beschwerte sie sich und schob die Unterlippe vor.

Sawyer grinste nur, beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen dicken Schmatzer auf die Wange.

„Ihhh“, machte sie und wischte sich über die Stelle.

„Ich musste nur kurz etwas überprüfen.“

„Was denn?“

Statt zu antworten zeigte er ihr den kleinen Beutel, mit dem Spielzeug darin.

Als Wolf und Killian fragend zu mir schauten, erklärte ich: „Das hat Sawyer gehört, als er ein Kind war. Er weiß jetzt wo wir sind. Die Siedlung ist nur eine halbe Stunde entfernt.“

Wolf richtete sich ein wenig gerader auf und begann zu grinsen. Die Aussicht darauf, kurz vor dem Ziel zu sein, erfreute ihn.

Auch Salias Augen begannen zu leuchten. „Stimmt das, sind wir bald da?“

Sawyer nickte und nahm sie auf den Arm, um sie zurück auf den Karren zu setzten. „Wir sind fast da. Und dann lernst du deinen Opa kennen.“

„Meinen Opa?“

„Hmh.“ Er wickelte sie in ihre Decke. „Dein Opa und deine Oma und deine Tanten.“

Ich ging zu Wolf und nahm von ihm die Führleine von Trotzkopf entgegen. Dann schnalzte ich, damit er sich wieder in Bewegung setzte. Immer der Straße nach – naja, zumindest solange, bis Sawyer etwas anderes sagte.

„Wie ist denn mein Opa?“, wollte Salia wissen.

Sawyer lief neben dem Karren her. „Dein Opa ist ein großer und mächtiger Mann.“

„So groß wie Wolf?“

Er warf einen kurzen Blick zu dem Riesen und begann noch breiter zu grinsen. „Nein, niemand ist so groß wie Wolf.“

Wolf schmunzelte.

„Und meine Oma?“

„Deine Oma ist die schönste Frau im ganzen Land.“

„Noch schöner als Kismet?“ So wie sie das fragte, konnte man meinen, das wäre gar nicht möglich. Dabei fand ich mich gar nicht außergewöhnlich hübsch. Ich war zwar keine Urwaldhexe, aber auch keine herausstechende Schönheit.

„Viel schöner als Kismet“, versicherte Sawyer seiner Tochter.

Wenn das stimmte, musste seine Mutter eine wahre Augenweide sein. Viel wahrscheinlicher war aber, dass er mich hässlich fand.

„Und dann gibt es da noch Laarni und Noor, deine Tanten. Sie werden sich sicher freuen, dich zu treffen.“

Kurz überlegte ich, warum er nicht seine andere Schwester erwähnte, Maela, die älteste, aber dann erinnerte ich mich, dass sie ja schon gestorben war, als Sawyer noch ein kleiner Junge war. Das war etwas, dass Salia im Moment nicht wissen musste. Es wunderte mich nur, dass Sawyer seiner Tochter bisher nichts über seine Familie erzählt hatte. Dass er aus der freien Welt stammte, wusste sie aber der Rest schien neu für sie zu sein.

Vielleicht war es bisher zu schmerzhaft für ihn gewesen, darüber zu sprechen. Bevor ich aufgetaucht war, hatte er vielleicht gar nicht mehr damit gerechnet, Eden jemals verlassen zu können. Manchmal war es eben einfacher zu vergessen, als sich zu erinnern, besonders wenn diese Erinnerungen mit Schmerz verbunden waren.

Viel wahrscheinlicher war aber, dass er es aus dem gleichen Grund getan hatte, warum ich nichts von Marshall und den anderen erzählt hatte. Er hatte seine Familie und seine Siedlung schützen wollen und deswegen stillschweigen bewahrt. Salia war zwar nur ein kleines Kind, doch hätte er ihr bereits früher etwas erzählt, hätte diese Information aus reiner Unwissenheit an fremde Ohren gelangen können. Und wir wussten ja alle, was Eden mit solchen Informationen anstellte.

Er hatte geschwiegen, um die, die er liebte, zu schützen. Und nur deswegen, würde er nun eine Zukunft in einer Zuflucht haben.

„Ich freue mich auch“, erklärte Salia. „Und du?“

„Ja, ich mich auch“, versicherte er seiner Tochter und das war noch milde ausgedrückt. Seit Sawyer das Spielzeug aus der Mauer gezogen hatte, wirkte er aufgekratzt, voller freudiger Erwartung. Aber ich bemerkte auch die leichte Unsicherheit.

Was musste das für ein Gefühl sein, nach sechzehn Jahren endlich wieder nach Hause zu kommen und seine Familie in den Arm nehmen zu können? Wenn man sich so lange nach etwas gesehnt hatte und es endlich wahr wurde, musste es einfach überwältigend sein.

Blieb nur zu hoffen, dass sein Empfang nicht so enden würde wie der meine. Nur dann würde ich weiterziehen können und hoffentlich irgendwann einen kleinen Flecken Erde finden, den ich für mich beanspruchen konnte.

„Was ist mit dir?“, fragte mich Killian leise. Er lief neben mir her, aber anstatt dem fröhlichen Geplapper zu lauschen, musterte er mich auf eine Art, als wollte er meine Gedanken einfach aus meinem Kopf ziehen.

Meine Gedanken gehörten aber mir. „Ich weiß nicht was du meinst.“

Wäre Killian der Typ dafür, hätte er jetzt wohl mit den Augen gerollt. „Wir waren jetzt wie lange unterwegs, um die Siedlung zu finden? Zehn Tage?“

Könnte hinkommen.

„Aber du scheinst dich nicht zu freuen, dass unsere Reise bald ein Ende hat.“

Weil sie nicht zu Ende war, zumindest nicht für mich und wahrscheinlich auch nicht für ihn. Killian würde sicher nicht bei Sawyer und seinen Leuten bleiben wollen. Bei Wolf war ich mir nicht so sicher. „Mir geht es gut.“

Dass er mir nicht glaubte, war offensichtlich, doch bevor er noch genauer nachhaken konnte, drehte ich den Kopf und fragte Sawyer: „Hast du Angst?“

„Wovor?“

„Naja, du warst mehr als ein Jahrzehnt fort.“

„Umso größer ist die Freude beim Wiedersehen.“ Er grinste, aber es war eindeutig ein wenig nervös. Natürlich gab er nicht zu, dass er sich ein kleinen wenig fürchtete, er war schließlich immer noch er.

Sawyer erzählte noch ein wenig von den Leuten in der Siedlung. Er und seine Schwestern waren damals die einzigen Kinder der Gruppe, der Rest waren alles ältere Personen, Eheleute, Freunde und ein Geschwisterpaar.

Angeführt wurden diese Leute von zwei Männern, die in dem alten Luftschutzbunker lebten.

Das überraschte mich ein wenig. Bisher hatte sich das für mich immer so angehört, als hätte sein Vater das Sagen gehabt, aber offensichtlich hatte ich da etwas missverstanden.

Nachdem wir fast zwanzig Minuten der Straße gefolgt waren, setzte Sawyer sich an die Spitze unserer kleinen Reisegruppe und führte uns nach rechts auf einen alten Wildwechsel. Den Karren dort entlang zu bekommen, besonders bei dem aufgeweichten Boden, erwies sich als anstrengend. Aber wir mussten ihm zum Glück nur ein kurzes Stück folgen, bevor Sawyer uns aus dem Wäldchen hinaus auf eine Weide führte, auf der überall kleine Baumgruppen standen. Sie war von Bäumen umringt.

„Es ist nicht mehr weit“, versicherte Sawyer uns und lief noch ein wenig schneller.

Ich glaubte nicht, dass ich ihn schon jemals so voller Vorfreude erlebt hatte.

Über die Weide hinweg, ging es auf der anderen Seite wieder in den Wald hinein, doch hier standen die Bäume viel lichter.

„Gleich da vorne ist es.“

Zwischen den dicken Stämmen hindurch konnte ich ein paar vereinzelte Holzhütten ausmachen, aber das Grünzeug drumherum war zu dicht, um wirklich etwas erkennen zu können. Trotzdem, irgendwas daran war seltsam. Aber nicht nur die Hütten, auch der Pfad auf dem wir uns bewegten. Er war so … verwildert. So stellte ich mir keinen Weg vor, der häufig benutzt wurde.

Doch Sawyer bemerkte das nicht, er war nur auf sein Ziel fokussiert. Nur noch zehn Fuß, dann kam eine Kurve. Fünf. Sawyer bog ab und erstarrte. Das Grinsen fiel einfach aus seinem Gesicht. Verwirrung machte sich darauf breit, gefolgt von Bestürzung.

Irgendwas stimmte da nicht.

Ich beeilte mich zu ihm zu kommen, um zu begreifen, was zu seinem plötzlichen Stimmungsumschwung geführt hatte. Salia wurde auf dem Wagen ein wenig herumgeschüttelt, als ich Trotzkopf dazu antrieb, etwas schneller zu laufen. Nur noch ein kurzes Stück, dann hatte auch ich die letzten Bäume hinter mir gelassen und bog um die Ecke. Das Bild das sich vor uns ausbreitete, machte all unsere Pläne zunichte. Das war keine lebendige Siedlung, nur verbrannte Erde.

 

oOo

Kapitel 15

 

Eine kleine Dorfmitte mit einem zentralen Brunnen. Rundherum neun Häuser in verschiedenen Größen. Die meisten waren eher klein, mit ein, maximal zwei Zimmer. Nur zwei der Häuser waren ein wenig größer. Umzäunte Gärten mit Hochbeeten und festen Feuerstellen, an denen man sich am Abend gemütlich zusammensetzen konnte.

Ein paar eingezäunte Hühnerställe. Mehrere Unterstände, eine große Scheune und sogar ein hoher Aussichtsturm. Dort drüben war eine kleine Schmiede mit einer steinernen Esse. Und das kleine Gebäude neben uns war sicher das Lager. Oder war es einmal gewesen. Jetzt war nichts mehr so, wie es einmal ausgesehen haben musste

Die Häuser waren zum Großteil verbrannt und nur noch Asche. Die Zäune niedergerissen und die Beete zerstört. Einer der Unterstände stand noch, war aber so mit Efeu behangen und überwuchert, dass er darunter fast verschwand. Die Scheune war angekokelt, stand aber noch und der Aussichtsturm war nur noch ein gefallener Krieger.

Wie auch immer es hier einmal ausgesehen haben mochte, die Siedlung existierte nicht mehr und das schon seit einer geraumen Zeit. Die Abgebrannten Häuser waren von Mutter Natur zurückerobert worden. Die Pfade der einstigen Bewohner, verwildert und überwuchert. Die Schmiede verwüstet und der Brunnen verkommen. Hier war schon sehr lange kein Mensch mehr gewesen.

„Das kann nicht sein.“ Betroffen überblickte Sawyer das, was einst sein Zuhause gewesen war. Doch jetzt war dieser Ort nur noch ein verkohlter Schatten der Vergangenheit. Da war kein Vater, der ihn nach seiner langen Abwesenheit freudig in die Arme schloss, keine Mutter, der bei seinem Anblick Tränen in die Augen stiegen und auch keine Schwestern, die in den Jahren der Trennung zu erwachsenen Frauen herangereift waren. Nein, hier gab es gar nichts. Statt vor einer kleinen, lebhaften Siedlung, standen wir vor einem toten Stück Land.

Schweigend stellten sich Killian und Wolf zu uns und überblickten das kleine Dorf. Selbst Salia war unnatürlich still, so als spürte sie, dass hier gerade etwas Grundlegendes schieflief.

Langsam legte sich der erste Schock bei Sawyer. Er schüttelte den Kopf und setzte sich in Bewegung, direkt auf das alte Lagerhaus zu. Da es über keine Tür mehr verfügte, kein Dach besaß und auch die Hälfte der Holzwände dem Feuer zum Opfer gefallen sein mussten, konnte er über die Überreste hinweg direkt in das Gebäude hinein gehen. Er drehte sich einmal im Kreis, ging dann zu halbverbrannten Kisten und Regalen und begann darin herumzuwühlen.

„Was glaubst du ist hier passiert?“, fragte Killian leise.

„Ein Feuer hat die Siedlung niedergebrannt.“ Es musste ein wirklich großes Feuer gewesen sein, denn selbst die Bäume, die diesen kleinen Ort umschlossen, zeigten nach all den Jahren noch spuren von diesem Ereignis. Seltsam war nur, dass sich das Feuer auf die Gebäude beschränkt zu haben schien. Die Umgebung war mehr oder weniger unberührt.

Sawyer schleuderte etwas quer durch das Lagerhaus, stürmte dann heraus und ging entschlossen auf das größte der Häuser zu.

„Vielleicht durch die Schmiede“, überlegte Killian.

Oder durch eine Kerze, oder ein unbeaufsichtigtes Lagerfeuer. Genauso gut konnten es auch Banditen gewesen sein, die bei ihrem Raubzug alles niedergebrannt hatten. Selbst ein Blitzeinschlag lag als Ursache im Bereich des Möglichen. So aus dem Nichts, war das schwer einzuschätzen.

Als Sawyer in dem Versuch, in die Überreste des Hauses hineinzukommen, versuchte eine alte Wand einzutreten, drückte ich Killian die Führleine von Trotzkopf in die Hand. „Hier halt mal.“

Die Wand knirschte und knackte. Staub und Splitter rieselten herunter. Dann brach das alte Holz und Sawyer war durch. In der nächsten Sekunde war er schon darin verschwunden. Wenn er so blind weiter wütete, würde er sich gleich noch selber umbringen.

Ich beeilte mich zu ihm zu kommen, achtete dabei aber sorgfältig darauf, wohin ich trat.

Dort, halb versteckt unter Gestrüpp, lag ein alter Eimer. Nicht weit davon entfernt, lag eine Forke im halbhohen Gras. Sie war angerostet, aber ansonsten unbeschädigt. Hatte jemand sie bei einem Kampf verloren, oder hatte die Zeit sie an diesen Platz gebracht?

Aufmerksam lief ich zu dem großen Haus – oder besser gesagt, zu dem was noch davon übrig war. Dabei wurden mir zwei Dinge klar. Erstens: Was auch immer hier passiert war, es musste schon viele Jahre zurück liegen. Die Spuren des Brandes waren überall, aber alles war verwildert und verkommen.

Das zweite, was ich mit ein wenig Erleichterung feststellte, es gab keine Leichen. Gut, nach so vielen Jahren, wären es sowieso nur noch Skelette und Knochen, aber auch die konnte ich nicht entdecken. Das konnte darauf hindeuten, dass die Leute aus dieser Siedlung aus eigenem Antrieb verschwunden waren. Oder dass ihre Leichname, zusammen mit den Häusern, verbrannt waren. Vielleicht hatte man sie auch entführt und fortgebracht, so wie man es mit Sawyer getan hatte. Aber wer außer Eden würde sowas tun?

Ich näherte mich der Bruchstelle in der Wand und warf einen Blick ins Innerste. Zum Glück entdeckte ich auch hier keine verkohlten Skelette. Dafür aber Sawyer, der mit den Händen den Schutt hin und her schob, als würde er nach etwas suchen.

Ich musste nicht fragen was er da tat, er machte das, was auch ich an seiner Stelle getan hätte: Er suchte nach Hinweisen, um herauszufinden, was hier geschehen war und wo seine Leute waren. Er hoffte auf irgendetwas, das ihm eine Erklärung, oder Antworten lieferte. Leider war hier außer Asche und Kohle nichts mehr zu holen.

Vorsichtig trat ich in das Haus und ging zu ihm hinüber. „Sawyer“, sagte ich leise und legte ihm eine Hand auf den Rücken.

Sofort wirbelte er zu mir herum und sein Auge … ich hatte ihn noch nie so erschüttert und aufgewühlt gesehen. Seine Hände waren schwarz von der nassen Asche und auch seine Kleidung hatte dunkle Flecken.

„Es tut mir leid, aber du wirst hier nichts finden.“ Ich sprach ruhig und wie ich hoffte, einfühlsam. Ich konnte mir die Enttäuschung und den Verlust, den er gerade spüren musste, gar nicht vorstellen. Als kleiner Junge entführt, kehrte er nach sechzehn Jahren endlich nach Hause zurück, doch statt seiner Familie, erwartete ihn nur eine ausgebrannte Ruine.

Sawyer hob die Hand und drückte sich den Handballen gegen die Nasenwurzel. Seine Augen waren zusammengekniffen und sein Körper schien vor Anspannung zu vibrieren. Der Regen wurde stärker und sammelte sich in Pfützen zu unseren Füßen. Doch den Schrecken der Vergangenheit, konnten sie nicht von diesem Ort waschen.

Was sollte ich nur tun? In sowas war ich einfach nicht gut und hatte ehrlich gesagt Angst, etwas Falsches zu sagen. Vielleicht sollte ich einfach ganz pragmatisch sein. „Der Regen wird schlimmer. Wir müssen einen Unterschlupf finden. Lass uns wiederkommen, wenn es trocken ist, dann finden wir vielleicht heraus, was hier passiert ist.“ Und er könnte erstmal seinen Schock verarbeiten und wäre vorbereitet auf das, was ihn hier erwartete.

Er ließ seine Hand sinken und schaute mich an. Einen Moment schien es, als würde er auf mich hören, doch dann wurde sein Mund zu einer dünnen Linie. Er schüttelte den Kopf und drängte sich an mir vorbei, um aus dem Haus herauszukommen.

Diese Situation hatte ich also mit meinem sprichwörtlichen Fingerspitzengefühl gehandhabt. Ich war wirklich nicht gut in sowas. Trotzdem würde ich ihn hier nicht allein herumrennen lassen. Die Gefahr, dass er sich selber verletzte, einfach weil er in diesem Zustand gar nicht darauf achtete was er tat, war einfach zu groß. Also heftete ich mich an seine Fersen und folgte ihm quer über die Dorfmitte zu einem kleinen Hügel, der mit Sträuchern und groben Gestrüpp überwuchert war.

Am Fuß des Hügels hielt er an und begann dort die Büsche und Gräser herauszureißen.

Zuerst verstand ich nicht was er da tat, aber dann bemerkte ich das rostige Metallgeländer und den Betonrahmen, der in den Hügel eingelassen war. Das musste der Luftschutzbunker sein, von dem Sawyer erzählt hatte. Hier gab es keine Brandspuren, es war mit den Jahren einfach zugewuchert.

Ich zog mein Messer aus der Scheide an meinem Gürtel und begann das Gestrüpp runterzuschneiden, bis der Eingang des Bunkers zugänglich war.

Die dicke Stahltür war noch vorhanden und stand weit offen. Aus dem Schlund dahinter gähnte uns die Dunkelheit entgegen. Leider hinderte das Sawyer nicht daran hineinzugehen. Vernunft war im Moment wirklich keine seiner Stärken.

Ich drehte mich zu den anderen um. „Wolf, kannst du mal bitte die Laterne herbringen?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, folgte ich Sawyer in den Bunker.

Das Erste was mir auffiel, war die Luft. Sie roch muffig und abgestanden, aber wenigstens nicht modrig.

Langsam ging ich eine schmale Treppe hinunter. Ich musste vorsichtig sein, da manche der Stufen bereits bröckelten. Das trübe Tageslicht reichte leider nicht weit und so musste ich am Fuß der Treppe erstmal anhalten, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.

Nicht weit von mir entfernt schabte etwas über den Boden und knallte dann. Dem folgte ein Fluch von Sawyer. Da war wohl jemand gegen die Einrichtung gelaufen.

„Warte einen Moment, Wolf kommt gleich mit der Laterne.“

Wieder schabte etwas. Er schien nicht warten zu wollen.

Langsam gewöhnten meine Augen sich an das Fehlen von Licht und vereinzelte Schemen schälten sich aus der Dunkelheit heraus. An der hinteren Wand schienen Regale und Schränke zu stehen. Rechts war ein Stapel mit Kisten. Direkt daneben schien es in einen anderen Raum zu gehen, aber es konnte auch ein Brett sein, dass an der Wand lehnte. So genau konnte ich das nicht erkennen.

Sawyer stand an einem der Regale und tastete auf den Brettern herum, als würde er dort etwas suchen.

Hinter mir wurden Schritte laut. Gleich darauf erschien Wolf mit der Laterne und brachte uns damit das ersehnte Licht. Der Bunker war nicht sehr hoch, darum musste Wolf den Rücken krumm machen um hereinzupassen. Aber wenigstens konnte ich nun erkennen, was direkt vor mir war. Auf der anderen Seite waren wirklich Schränke und Regale und rechts davor Kisten. Das Brett war kein Brett, sondern die Türöffnung zu einem weiteren Raum. Links gab es eine weitere Öffnung, in ein drittes Zimmer.

Alles war verrottet und mit Spinnweben überzogen. Kleine Insekten ergriffen eilig die Flucht ins Dunkle, als das Licht sie traf. Auch hier genügte ein kurzer Blick, um sicher zu wissen, dass hier schon lange niemand mehr gewesen war. Trotzdem kam Sawyer entschlossenen Schrittes auf uns zu und nahm Wolf die Laterne ab, um sich auch in den anliegenden Räumen umzusehen.

„Ich behalte ihn besser im Auge“, sagte ich zu dem großen Mann und folgte Sawyer.

Wolf brummte nur und ließ sich mit dem Hintern auf der Treppe nieder.

Der Raum rechts sah nicht viel anders aus, als der Eingangsbereich, nur gab es hier noch ein Bett mit Strohmatte und eine Kiste, die als Nachttisch gedient haben musste. In der Ecke stand noch ein alter, kaputter Ofen. Der Rest war verrottet und von der Zeit zerstört. Die Regale und Schränke waren ausgeräumt und das Bett bis auf die Matte leer. Das konnte bedeuten, dass der ehemalige Bewohner seine Sachen gepackt und gegangen war. Es konnte aber auch darauf hinweisen, dass jemand die Anwohner abgeschlachtet und dann alles mitgenommen hatte. Oder jemand war hier eingedrungen, nachdem bereits alle verschwunden waren und hatte sich genommen, was noch übriggeblieben war. Es gab einfach keine Hinweise, die uns hätten verraten können, was hier vorgefallen war.

„Nichts“, knurrte Sawyer. „Absolut gar nichts!“ Er trat gegen die alte Kiste, die sofort in ihre Einzelteile zerbrach. Dann rauschte er an mir vorbei und ging hinüber in den anderen Raum.

Wir beide wussten, dass es sinnlos war und er auch dort keine Anhaltspunkte finden würde, aber trotzdem musste er sichergehen, also versuchte ich nicht noch einmal ihn aufzuhalten. Ich folgte ihm einfach bis zur Tür und schaute ihm dabei zu, wie er den Raum auseinandernahm. Hier sah es ganz ähnlich aus, wie in dem anderen Zimmer, nur das der Ofen hier noch intakt war.

Leider fand Sawyer auch hier keine Spuren, egal wie sehr er sich anstrengte. Am Ende blieb er einfach mitten im Raum stehen und starrte auf den Boden. Er war angespannt und biss die Zähne zusammen.

Sag etwas.

Und was?

Irgendwas.

Hoffentlich funktionierte das dieses Mal besser, als bei meinem ersten Versuch. „Sawyer, vielleicht sollten wir …“

„Ich muss hier raus.“ Ohne mir auch nur die Chance für ein weiteres Wort zu geben, stürmte er aus dem Raum und rannte mich dabei fast noch über den Haufen.

„Sawyer, warte.“

Das tat er natürlich nicht. Das war genau wie an dem Morgen, als Marshall mir eröffnet hatte, dass es besser wäre, wenn sich unsere Wege trennten. Nur andersherum. Dieses Mal war es seine Welt, die zusammenbrach. Leider hatte ich im Gegensatz zu ihm keinen Ausweichplan, den ich ihm anbieten konnte. Alleine wollte ich ihn aber trotzdem nicht lassen, also lief ich ihm hinterher. An Wolf vorbei, die Treppe hinauf.

Meine Hoffnung, dass er zu Salia gehen würde, zerschlug sich, sobald ich oben angekommen war und ihm mit eiligem Schritt im Wald verschwinden sah. Mist.

„Wo will Papa denn hin?“

Überrascht, Salias Stimmchen praktisch neben mir zu hören, schaute ich zur Seite. Sie saß nicht mehr im Karren, sie stand ein Stück entfernt und drückte Wölkchen an ihre Brust. Ihre Augen waren groß und unsicher. So hatte sie sich ihr neues Zuhause wohl nicht vorgestellt.

Da sie Sawyers Benehmen und auch seinen Abgang mitbekommen hatte, musste ich sie erstmal beruhigen. „Er will nur etwas nachschauen und ist gleich wieder zurück“, versicherte ich der Kleinen. Aber ich konnte es nicht verhindern, Sawyer einen besorgten Blick hinterherzuschicken. So betroffen hatte ich ihn noch nie erlebt.

Ich schaute zu Killian hinüber. Er stand mit Trotzkopf und dem Karren neben dem Brunnen. Seine Augen waren auf die Stelle gerichtet, wo Sawyer im Wald verschwunden war. Er wirkte nachdenklich, aber was in seinem Kopf vor sich ging, konnte ich nicht sagen.

„Aber wo ist denn nun mein Opa? Und meine Oma?“, wollte Salia wissen.

Gute Frage. „Das versuchen wir gerade herauszufinden.“ Ich ging zu ihr und strich ihr beruhigend über den Kopf, so wie Sawyer es immer bei ihr tat. „Keine Angst, es wird schon alles in Ordnung kommen.“

„Versprochen?“

„Versprochen.“ Sowas sollte ich nicht sagen, wenn ich nicht selber davon überzeugt war, aber was sollte ich sonst tun? Es war schwer einer siebenjährigen die Wahrheit nahezubringen, ohne sie zu verängstigen.

Killian legte den Kopf in den Nacken und schaute zum Himmel. „Der Regen wird immer schlimmer.“

Das war mir auch schon aufgefallen. Nicht mehr lange und wir wären völlig durchnässt. Außerdem waren alle hungrig und müde. Und von unserem Fund entmutigt. Eine Pause war längst überfällig.

„Wir sollten uns einen Unterschlupf suchen, bevor der Regen richtig losbricht.“

Da hatte er recht. Ich schaute mich nach dem Bunker um. Er war zwar nicht besonders einladen, aber er war trocken und sicher. Selbst wenn wir die ganze Nacht dort ausharren mussten, wäre er wohl der beste Unterschlupf, den wir seit der Nacht im Flugzeug hätten. „Wir sollten erstmal hierbleiben.“

Diese Idee schien ihm nicht besonders zu gefallen. „Da rein?“

„Er ist groß genug und trocken.“

„Und was machen wir mit Trotzkopf und dem Karren?“

Auch dafür hatte ich schon eine Idee. „Die Scheune scheint noch in Ordnung zu sein.“ Jedenfalls besser, als Trotzkopf im Regen stehen lassen zu müssen. „Sag Wolf Bescheid. Wir machen unten ein wenig sauber und tragen unsere Sachen rein. Ich bringe Trotzkopf schon mal in die Scheune.“

„Ich helfe dir“, verkündete Salia und nahm Killian wie selbstverständlich Trotzkopfs Führleine aus der Hand. Dann zog sie ein wenig an ihm, bis er sich dazu entschloss, ihr zu folgen. 

„Was ist mit Sawyer?“, wollte Killian wissen.

Ich schaute wieder zu den Bäumen. „Lassen wir ihn einen Moment in Ruhe. Wenn er nicht von alleine wiederkommt, gehe ich ihn holen.“

„Dann lass uns loslegen.“

Da Salia bereits losgelegt hatte und schon halb bei der Scheune war, beeilte ich mich hinter ihr herzukommen, während Killian nach unten in den Bunker verschwand. Ich wollte auf keinen Fall, dass die Kleine die Scheune alleine betrat. Nur weil sie von außen scheinbar in Ordnung war, musste das nicht heißen, dass es drinnen ungefährlich war. Deswegen musste Salia auch draußen warten, während ich das Scheunentor aufstemmte.

Über die Jahre hatte sich viel Dreck und Unkraut am Boden gesammelt. Es kostete einiges an Kraft und Anstrengung, es zu öffnen. Wo waren nur all die starken Männer, wenn man sie mal brauchte? Ach ja, zwei waren sicher verwahrt im Bunker und der dritte verirrte sich gerade im Wald.

Wie hieß es so schön? Selbst war die Frau und irgendwann hatte ich das dumme Tor auch offen. Salia bekam von mir noch einmal die ausdrückliche Anweisung draußen zu warten, dann ging ich vorsichtig hinein und schaute mich erstmal um.

So wie es hier aussah und roch, hatte man diese Scheune früher für Vieh benutzt. Das alte Stroh war feucht und bereits halb verrottet und an manchen Stellen tropfte es durch die Decke. Es gab ein paar alte Gerätschaften und Seile und andere Ausrüstungen, die einem das Leben leichter machten. Alles schon sehr vergammelt und heruntergekommen. Das Gebälk wirkte allerdings noch recht stabil und auch sonst konnte ich keine größeren Schäden feststellen, die einen Aufenthalt hier zu einer Gefahr machen konnten. Die Wände waren auch weitestgehend in Ordnung, nur an einer Stelle waren ein paar Bretter herausgebrochen.

Da durch dieses Loch hungrige Wildtiere eindringen konnten, schob ich eines der schweren Gerätschaften davor. Das war zwar nicht besonders sicher, aber für eine Nacht würde es genügen.

Nachdem soweit alles in Ordnung war, ging ich und holte Salia herein. Sie half mir tatkräftig dabei Trotzkopf von dem Karren loszumachen und ihn ein wenig abzutrocknen. Der sture Kerl schien es zu genießen so umsorgt zu werden und ließ alles geduldig über sich ergehen. Wahrscheinlich war er auch erschöpft und froh, endlich einmal ausruhen zu können.

Wir waren gerade damit fertig ihn abzutrocknen, als Wolf und Killian in die Scheune kamen und damit begannen, den Karren abzuladen. Essen, die Felle und Decken für die Lager und noch eine Laterne, fanden ihren Weg in den Bunker. Wolf sammelte außerdem noch etwas trockenes Holz, das hier gestapelt war, um den Ofen zu befeuern.

Salia half mir währenddessen dabei, eine Ecke für Trotzkopf herzurichten. Sie machte dort nicht nur sauber, sie achtete auch sehr sorgfältig darauf, dass wir nur trockenes Stroh verwendeten.

Während wir arbeiteten, wurde das Trommeln des Regens auf dem Dach stärker. Mir war schon klar gewesen, dass wir heute nicht mehr weiterreisen würden, aber spätestens jetzt sah ich meine Vermutung bestätigt. Der Nieselregen war nur ein Vorbote gewesen, es würde sich so richtig schön einregnen.

Nachdem ich mich versichert hatte, dass Trotzkopf fest angebunden und gut versorgt war, scheuchte ich Salia aus der Scheune. Sie verabschiedete sich mit einem Küsschen bei Trotzkopf, der das gutmütig über sich ergehen ließ und half mir dann dabei, das Scheunentor wieder zu schließen. Durch den ganzen Unrat und den Pflanzen, bekamen wir es leider nicht mehr ganz geschlossen, aber es war unwahrscheinlich, dass sich etwas durch den Spalt drücken wollte.

„Hat er denn gar keine Angst, so ganz allein?“, wollte Salia wissen, als wir uns auf dem Weg zum Bunker machten.

„Nein, Trotzkopf ist sehr mutig. Wenn jemand gemein zu ihm ist, dann spuckt er ihn einfach an.“

„Ihhh.“

Ja, ihhh, traf es ziemlich gut. „Du brauchst dir also keine Sorgen machen, er kommt gut alleine klar.“

„Also ich habe immer Angst, wenn ich alleine bin. Deswegen ist Wölkchen auch immer bei mir. Papa hat sie mir geschenkt, als ich geboren wurde. Das hat er mir erzählt.“

Die Erwähnung von Sawyer, brachte mich dazu, wieder zum Wald zu schauen. Doch statt ihm, entdeckte ich Killian und Wolf, die bei dem umgekippten Aussichtsturm standen und sich dort etwas anschauten. „Dein Papa weiß eben, was gut für dich ist.“

„Hmh, ich weiß, deswegen hat er mich auch aus Eden weggebracht. Er sagt, Eden ist nicht gut für kleine Evas.“

Das war mal ein wahres Wort. „Dein Papa ist sehr schlau. Komm, lass uns zu den anderen gehen.“ Ich wollte wissen was sie sich da anschauten.

„Okay.“ Salia hüpfte los. Dabei störte es sie nicht, dass bei jedem Sprung Schlamm aufspritzte und sie nicht nur nass, sondern auch dreckig wurde.

Ich ging etwas langsamer hinterher und kam somit erst nach ihr bei den Männern an. „Was ist los, warum steht ihr hier im Regen?“

„Wolf hat etwas entdeckt.“

Ich hockte mich zu Wolf und schaute mir an, was er entdeckt hatte. Es war eines der Stützbeine vom Aussichtsturm. Er war nicht angesengt, oder verbrannt. Wenn man von der jahrelangen Witterung absah, war es völlig in Ordnung. „Was ist damit?“

Wolf legte die flache Hand an das Ende und bewegte sie dann hin und her.

Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass er damit eine Säge andeutete.

„Dieser Turm ist nicht von alleine umgefallen“, sagte Killian in dem Moment, als mir klar wurde, was das bedeutete. „Jemand hat die Balken durchgesägt.“

Der Turm wurde also mit Absicht zerstört. Ich richtete mich auf und schaute mir den Ort an, wo der Turm gestanden haben musste. Vier kurze Balkenstücke waren dort im Boden versenkt. Zwei wurden offensichtlich durchgesägt, die beiden anderen waren gebrochen. Keine Brandspuren.

„Der Turm wurde mit Absicht zerstört“, sagte Killian.

Wolf richtete sich auf, nahm Salia an die Hand und bedeutete uns, dass er mit ihr in den Bunker gehen würde, bevor wir noch hier draußen im Regen ertranken.

Ich regte den Daumen, um ihm zu zeigen, dass ich verstanden hatte. „Die Frage ist nur, warum.“

„Und wer.“

Ja, wer würde sich die Mühe machen, ihn auf diese Art abzureißen, wenn sowieso schon alles in Flammen stand? Vielleicht war es ja auch vorher passiert. Oder erst nach dem Feuer. Aber das ergab genauso wenig Sinn.

Killian kaute auf seiner Unterlippe und schaute sich um, als befürchtete er, irgendwo würde eine Gefahr auf uns lauern. „Dieser Ort gefällt mir mit jedem Moment weniger.“

Ich konnte mir auch weitaus schönere Orte vorstellen. „Leider können wir gerade nirgendwo anders hin.“

„Wir sollten trotzdem nicht länger als nötig bleiben.“

Das sah ich ganz genauso, doch bevor wir irgendwas unternehmen konnten, mussten wir uns erstmal im Klaren darüber werden, wie es nun weitergehen sollte. Und das konnten wir erst entscheiden, wenn Sawyer zurück war. Dies hier war sein Zuhause gewesen und auch wenn ich eigentlich vorgehabt hatte, ihn und Salia hier zurück zu lassen, hatten sich die Dinge nun grundlegend geändert. Ich konnte hier nun nicht mehr einfach verschwinden – nicht ohne ihn.

Und wo wir schon mal beim Thema waren: „Ist Sawyer wieder aufgetaucht?“

„Nein.“ Killian sah wieder rüber zum Waldrand. „Und langsam mache ich mir Sorgen um ihn. Das hier muss ein ziemlicher Schock für ihn gewesen sein.“

Das war noch milde ausgedrückt. „Ich werde mal schauen, ob ich ihn finden kann.“

„Ich komme mit“, sagte er sofort.

Das musste ich jetzt sehr vorsichtig formulieren. „Sawyer kann dich nicht leiden.“ Das wäre sicher besser gegangen. „Ich glaube, im Moment wäre es besser, wenn ich alleine gehe.“ Na bitte, war doch gar nicht so schwer.

„Ja, vermutlich wäre er über meinen Anblick nicht sehr erfreut.“ Er schaute kurz zum Himmel, bevor er den Blick wieder auf mich richtete. „Pass auf dich auf, ich will nicht, dass dir etwas passiert.“

„Es ist nur ein bisschen Regen, ich werde schon nicht verloren gehen.“ Vielleicht entführt, aber nicht verloren.

Das war jetzt kein sehr hilfreicher Gedanke.

Aber leider ein wahrer. Die Tracker waren schließlich immer noch hinter uns her, auch wenn ich sie seit dem Tag am Kanal nicht mehr gesehen hatte. Ich glaubte nicht, dass sie so einfach aufgegeben hatten.

„Komm einfach nur heil zu mir zurück.“ Er sagte das auf eine bedeutungsvolle Art, die mich dazu verleiten wollte, etwas ähnlich Bedeutungsvolles zu sagen. Aber da dieser Impuls einfach nur skurril war, beließ ich es bei einem Nicken und machte mich mit einem letzten Blick auf die abgesägten Balken, auf den Weg meine Mission zu erfüllen.

Sawyer aufzuspüren bereitete mir keine Schwierigkeiten, denn er hatte eine deutliche Spur hinterlassen. Aufgewühltes Laub auf dem Boden, abgeknickte Zweige, wo er Sträucher und Büsche gestreift hatte und rausgerissene Blätter, die zerstückelt auf dem nassen Laub lagen. An einem Baumstamm, war Moos und Rinde weggewischt, als hätte jemand in seiner Wut dagegen geschlagen. Sawyer musste das als Ventil für seine Gefühle genutzt haben.

Das Wäldchen war hier ziemlich dicht und man konnte nicht weit sehen. Hören war auch nicht möglich, da um mich herum der Regen mittlerweile so stark auf die Blätter und Bäume prasselte, dass ich kaum etwas anderes wahrnahm. Rufen würde deswegen vermutlich auch nicht viel bringen. Selbst wenn er mich hörte, war es fraglich, ob er darauf reagieren würde. Mir blieb also gar nichts anderes übrig, als mich auf meine Kenntnisse im Spurenlesen zu verlassen. Zum Glück beherrschte ich diese Fähigkeit recht gut.

Ich lief noch ein paar Minuten, bis ich zu einer steilen Senke kam, die von allen Seiten dicht mit Bäumen bewachsen war. An der Kante dieser Senke stand Sawyer. Die Arme an der Seite, starrte er ins Leere.

Wie er dort stand, gefiel mir nicht. Der Hang war nur fünf Fuß tief und mit einer dicken Schicht aus Laub gepolstert. Selbst wenn er abrutschte und fiel, musste er schon großes Pech haben, um sich wehzutun. Trotzdem ließ ich mit Absicht das Laub unter meinen Füßen rascheln, damit er mich kommen hörte und nicht vor Schreck doch noch abrutschte. Bei meinem Glück würde er sich dabei den Kopf an einem Baumstamm anschlagen und sich das Genick brechen.

Als ich neben ihm stehen blieb, nahm er meine Anwesenheit nicht zur Kenntnis. Sein Blick ging starr in den dichten Wald, während ihn sein Zorn und seine Enttäuschung wie eine dunkle Wolke einhüllten. Seine Hände waren geballt und er zitterte leicht, doch auch wenn er vom Regen völlig durchnässt war und ihm das dunkle Haar feucht am Kopf klebte, glaubte ich nicht, dass er vor Kälte zitterte. Das war unterdrückte Wut.

Ich überlegte, ob ich ihm vielleicht tröstend eine Hand auf die Schulter legen sollte. Ich könnte ihn natürlich auch einfach den Hang hinunter schubsen. Beides hatte seinen Reiz.

Als er plötzlich mit einem „Das ist doch scheiße!“, explodierte, wunderte ich mich nicht. Ich zuckte zwar kurz zusammen, aber wirklich überrascht war ich nicht. „Das ist ein riesiger Haufen beschissener Scheiße! Wir laufen tagelang durch die beschissene Pampa, nur um am Ende auf diesem verschissenen Scheißhaufen voller beschissener Scheiße zu landen!“

Jetzt nur nichts Falsches sagen. „Das ist ziemlich viel Scheiße.“

Seinem Blick nach zu urteilen, war das doch das Falsche gewesen. Wenn ich nicht aufpasste, würde ihm gleich Dampf aus den Ohren kommen.

Ich war einfach nicht gut in sowas. Aber vielleicht konnte ich ihm auf anderem Wege helfen.

Suchend schaute ich mich auf dem Boden nach einem Wurfgeschoss um und entdeckte einen Stein, den ich aufhob und ihm hinhielt.

Er machte keine Anstalten danach zu greifen.

„Nimm ihn.“ Ich hielt ihn ihm etwas nachdrücklicher hin. „Glaub mir, es hilft.“ Wenn auch nur für einen kurzen Moment. So konnte er seinen Gefühlen wenigstens ein bisschen Luft machen.

Erst tat er gar nichts. Dann verzerrte sich sein Gesicht vor Wut. Er packte den Stein, wirbelte herum und schleuderte ihn mit einer solchen Wucht von sich, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn er in einem Baum stecken geblieben wäre.

„Nicht schlecht“, kommentierte ich und schnappte mir noch einen Stein.

Dieses Mal zögerte er nicht ihn zu nehmen und während er ihn von sich schleuderte, stieß er ein Wutbrüllen aus, das ein paar Vögel in den Bäumen aufflattern ließ.

Der Stein streifte auf seiner Flugbahn einen Baum. Rinde splitterte ab und der Stein landete als Querschläger irgendwo ihm Unterholz.

„Beeindruckend. Das nächste Mal vielleicht ein wenig weiter nach links.“ Ich hielt schon den nächsten Stein bereit. Dieser flog frontal gegen einen hohen Stamm. Der Stein zersplitterte und explodierte in einem Schauer aus Rinde und Holzsplitter. Da hatte sich wirklich eine Menge Wut angesammelt.

„Ich glaube, du hast ein Eichhörnchen erschreckt.“ Ich schaute mich nach einem weiteren Stein um, fand aber keinen, also nahm ich stattdessen ein massives Holzstück. „Jetzt musst du aufpassen, sonst hast du gleich eine ganze Eichhörnchenfamilie am Hals.“ Ich wischte ein paar Käfer und Larven von dem Holzstück und hielt es ihm dann hin. „Dann kommen sie alle angerannt und krabbeln auf dir herum.“

Seinem Blick nach zu schließen, fragte er sich wohl, wer von uns beiden gerade am überschnappen war.  

Er nahm das Stück Holz, doch statt es zu werfen, drehte er es in seiner Hand hin und her. Seine Lippen waren aufeinandergepresst und auch wenn die Wut noch unter der Oberfläche brodelte, so hatte sie erstmal an Kraft verloren. „Sie sind weg.“ Drei einfache Worte, in denen all das mitklang, was ihn in diesem Augenblick beschäftigte. „Ich bin hierhergekommen, weil ich dachte … ach, keine Ahnung was ich gehofft habe.“ Seine Finger krampften sich um das Holzstück, dann drehte er sich ein wenig und warf es nun doch von sich. Dieses Mal fehlte jedoch der Elan. Es rollte den Hang hinunter und blieb dann zwischen nassem Laub und Zweigen liegen. „Es war einfach nur bescheuert hier her zu kommen.“

Nein, das war es nicht. Ich verstand die Gründe, warum er hatte hier her zurückkehren müssen.

Er war noch ein Kind gewesen, als man ihn aus seinem Leben herausgerissen hatte, um ihn in einen Käfig zu stecken. Es war nur natürlich, dass er das zurückhaben wollte, was er verloren hatte und jetzt vor dem Nichts zu stehen, musste sehr schmerzhaft sein. In einem einzigen Moment, waren all die Hoffnungen der letzten Jahre, zunichte gemacht worden.

Das war grausam. Nicht nur, dass er zum zweiten Mal alles verloren hatte, es gab auch keine Antworten auf seine Fragen. Nichts von dem was wir bisher gefunden hatten, konnte uns sagen, was hier geschehen war, oder was mit seiner Familie passiert war. Wir wussten nur, dass es gebrannt hatte und sie verschwunden waren. Die Umstände jedoch blieben uns verschlossen.

Ich wollte etwas sagen um ihn zu trösten, doch Wortgewandtheit und Einfühlungsvermögen hatten noch nie zu meinen Stärken gehört. Ich wollte es nicht noch schlimmer machen – besonders nicht in diesem Moment. Er hatte auf mich noch nie so menschlich gewirkt. Und so zerstört. Es war das erste Mal, dass er mich einen Blick auf den Mann hinter den schützenden Mauern werfen ließ und das kam so unerwartet, dass ich nicht recht wusste, was ich tun sollte.

Vielleicht wäre es am besten, ihn an das zu erinnern, was er nicht verloren hatte.  „Wir sollten erstmal zu Salia zurückgehen. Sie war ziemlich beunruhigt, als du einfach in den Wald verschwunden bist.“

„Ach verdammt.“ Er hob den Blick und ich hatte das Gefühl, er wollte noch etwas sagen, etwas Wichtiges, doch im letzten Moment überlegte er es sich anders und sagte schlicht: „Lass uns zurück gehen.“ Dann wandte er sich zum Gehen. Eine einsame Gestalt im verregneten Wald.

Bei diesem Anblick zerbrach etwas tief in mir. Und fügte sich neu zusammen.

 

oOo

Kapitel 16

 

„Ich weiß nicht“, sagte ich und stocherte mit meinem nackten Zeh in einem Loch im Fell herum. „Ich glaube der modrige Geruch stört mich weniger, als die ganzen Spinnen in den Ecken. Der Geruch kriecht einem nachts wenigstens nicht ins Ohr und lässt sich dort häuslich nieder.“

Killian verzog das Gesicht. „Danke für diese bildliche Darstellung. Jetzt werde ich heute Nacht wohl kein Auge mehr zubekommen.“

„Du hast mit der Schlange in meiner Decke angefangen.“ Obwohl ich das natürlich bereits gewusst hatte. Schlangen kuschelten sich halt gerne an warme Orte und der Mensch war ihrer Auffassung nach wohl eine wandelnde Heizung.

Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Sawyer, der an der hinteren Wand saß, die Beine angezogen und versuchte mit seinem Blick ein Loch in den Betonboden zu brennen. Ich war mir nicht sicher, ob es besser wäre ihn einfach in Ruhe zu lassen, oder ob ich mich um ihn kümmern sollte. Sawyer war ein schwieriger Mensch und darum ließ sich das nicht so leicht sagen.

Würden wir uns bereits seit Jahren kennen, wäre das etwas anderes, aber wir kannten uns erst knapp drei Monate und auch wenn wir die ganze Zeit zusammen reisten, waren wir im Grunde … nicht unbedingt Fremde, aber auch keine Freunde – und schon gar keine Familie.

„Die Schlange war nur ein Beispiel“, rechtfertigte Killian sich, ohne zu wissen, womit meine Gedanken gerade beschäftigt waren. „Und ich wollte damit auch nur sagen, wie sehr ich mich davor grusele.“

„Dann sei lieber nett zu mir, sonst stecke ich dir noch eine Schlange unter die Decke.“

„Dein Wunsch ist mir Befehl.“

Bei diesen Worten bekam ich eine Gänsehaut – und zwar nicht auf angenehme Weise. Sie erinnerten mich an Eden, denn dort war es einer der Lieblingszitate der Anwohner. Einer Eva wird jeder Wunsch erfüllt, sie muss nur darum bitten.

Eilig verbannte ich diesen Gedanken in den hintersten Winkel meines Hirns und hoffte, dass er dort verrotten würde.

Der Tag hatte mich geschafft, doch zum Schlafen war ich noch viel zu aufgekratzt. Nicht mal die angenehme Wärme vom Ofen machte mich schläfrig. Wenigstens wurde der kleine Raum von ihm gut beheizt.

Wir waren heute so oft durchnässt worden, dass wir kaum noch Kleidung hatten und deswegen alle halb nackt dasaßen. Wolf und Sawyer trugen nur noch Hosen und ich eine alte Tunika, die mir eigentlich schon zu klein war. Nur Killian war bis auf die Schuhe noch komplett angezogen. Selbst Salia trug nur ein großes Hemd, in dem sie fast unterging. Die nasse Kleidung hatte ich im Durchgangszimmer zum Trockenen aufgehängt.

Das Prasseln aus dem Ofen war das einzige Geräusch im Raum. Der Bunker lag tief genug im Boden, um den Regen draußen auszublenden – und das obwohl wir die Stahltür nicht ganz zubekommen hatten.

Salia schlief bereits tief und fest. Sie hatte ein wenig mit Wolf herumgetobt und sich dann vor einer halben Stunde an seine Brust gekuschelt. Keine zwei Sekunden später waren ihr die Augen zugefallen und ihr Geist ins Land der Träume entschwunden. Damit hatte sie den großen Mann zum Nichtstun verdammt. Nicht dass er sich daran zu stören schien.

Ich hatte es mir direkt vor dem Ofen bequem gemacht und streckte meine Hände der Wärme entgegen.

Killian lag neben mir auf einem der Felle. Die Füße gekreuzt, die Hände locker auf dem Bauch, war sein Blick an die Decke gerichtet, als überlegte er, wie stabil die wohl nach all den Jahrhunderten noch war. „Was machen wir jetzt?“

„Schlafen, aufstehen, frühstücken.“ Zu Abend hatten wir ja schon gegessen. Es hatte Trockenfleisch und einen Gemüseeintopf gegeben.

„Nein, ich meine, wie soll es jetzt weitergehen? Was ist unser nächster Schritt?“

Das war mir schon klar gewesen, nur war ich mir nicht sicher, ob dies der richtige Moment war, um darüber nachzudenken.

„Wenn du jetzt wieder mit deinem Eden-Scheiß anfängst“, knurrte es von der hinteren Wand, „werde ich dir deine Zähne alle einzeln ausschlagen und sie dir anschließend zu fressen geben, das schwöre ich dir.“

Klare Ansage und genau das war auch der Grund, warum ich dieses Gespräch hatte auf später vertagen wollen.

Sawyer war bereits den ganzen Abend sehr in sich gekehrt, so ganz untypisch für ihn. Nach unserer Rückkehr aus dem Wald, hatte er Salia umarmt und ihr versprochen, dass alles gut werden würde. Danach war er sehr wortkarg geblieben. Seit die Kleine eingeschlafen war, hatte er gar nichts mehr gesagt. Er saß nur in seiner Grübelecke und versank in seiner dunklen Wolke.

Neben mir setzte Killian sich auf und drehte sich so, dass er Sawyer im Blick hatte. „Das hatte ich gar nicht vor. Ich wollte nur wissen, wie es weitergeht. Wir können ja nicht für immer hierbleiben.“

„Ach und warum nicht? Das hier ist schließlich mein scheiß Zuhause.“ Sawyer funkelte Killian herausfordernd an. „Nicht dass du eingeladen bist, hier zu bleiben. Meinetwegen kannst du dich noch heute Nacht verpissen.“

Killian öffnete den Mund, überlegte es sich dann aber anders und schloss ihn wieder.

Hätte ich jetzt laut geseufzt, hätten sie das gehört. Das Bedürfnis zu unterdrücken, war gar nicht so leicht, aber ich schaffte es.

„Na, nicht genug Eier in der Hose, um das Maul zu öffnen?“

Das war nicht gut, jetzt versuchte er auch noch Killian mit Absicht zu provozieren. Es war wohl mal wieder an der Zeit, den Puffer zwischen den beiden zu spielen. „Lass es nicht an ihm aus, er kann nichts dafür.“

Sawyer beachtete mich nicht. Natürlich nicht. Es war ja auch viel erstrebenswerter, Killian mit Blicken zu erdolchen.

Ich erhob mich von meinem Platz am schönen, warmen Ofen, ging quer durch den Raum und ließ mich neben Sawyer an der kalten Wand hinunterrutschen. Wenigstens lag hier ein Fell, so würde ich mir immerhin nicht den Hintern abfrieren.

Seine einzige Reaktion bestand darin, die Lippen ein wenig aufeinander zu pressen.

„Kommst du klar?“

„Natürlich komme ich klar, warm sollte ich auch nicht?“

Ich warf Killian einen Blick zu, der im deutlich machte, dass dies hier ein Vier-Augen-Gespräch werden sollte. Er verstand die Botschaft, streckte sich wieder auf dem Rücken aus und machte sich erneut an die Aufgabe, die Decke zu beobachten.

Sobald Killian ihn nicht mehr anschaute, entspannte Sawyer sich ein wenig und tauchte wieder in seiner dunklen Wolke ab.

„Wenn du reden willst, ich höre zu.“ Er sollte wissen, dass er nicht allein war. Vielleicht war es ihm nicht wichtig, aber mir war es das. Niemand sollte sowas allein durchstehen müssen.

„Es gibt nichts zu reden.“

Das sah ich ganz anders, aber ich konnte ihn ja schließlich nicht zwingen. „Wenn du meinst.“

Er drehte den Kopf ganz leicht zu mir. „Was soll das?“

Da war ich mir selber noch nicht ganz sicher. Er wirkte nur einfach so … verkehrt. Ich hatte Sawyer schon in vielen Stimmungen erlebt. Meistens war er einfach nur herablassend, oder so abweisend, wie ein Eisberg im Winter, einfach nur kalt. Seltener war er normal, oder sogar witzig. Einmal hatte ich ihn sogar schon selbstlos erlebt, obwohl er steif und fest behauptet hatte, er täte es nur zu seinem eigenen Vorteil. Vielleicht stimmte das sogar, aber ich bildete mir gerne ein, dass er auch eine menschliche Seite besaß.

Im Moment allerdings war er nicht er selbst. Das sollte kein Vorwurf sein, aber es weckte eben das Bedürfnis in mir, etwas für ihn zu tun, damit er wieder zu dem herablassenden Arsch werden konnte. Mit dem wusste ich wenigstens umzugehen.

Vielleicht sollte ich es so machen, wie er es damals bei mir getan hatte, als ich die erste Nacht in seinem Haus in Eden geschlafen hatte. Damals – war das wirklich erst etwas über einen Monat her? – war ich aus einem Alptraum aufgewacht und er hatte mich zum Reden gebracht, indem er mir etwas über sich erzählt hatte. „Nachdem die Tracker mich geholt hatten, gab es Tage, an denen ich glaubte, ich hätte alles verloren. Wärst du nicht mit deinem Plan auf der Bildfläche erschien, hätte das vielleicht sogar gestimmt.“ Ich streckte die Beine aus und legte die Hände in den Schoß. „Als wir es geschafft haben Eden zu entkommen, glaubte ich, dass nun alles besser werden würde. Wir haben das Flugzeug erreicht und für einen Abend war meine Welt endlich wieder in Ordnung. Doch am nächsten Tag habe ich ein zweites Mal alles verloren.“ Und es tat noch immer weh.

Sawyers Augen funkelten vor Wut. „Versuchst du uns hier gerade zu vergleichen?“

Ähm … eigentlich hatte ich das nicht vorgehabt, auch wenn unsere Geschichten sich an ein paar Stellen glichen.

„Dann pass mal auf, Baby: Ich bin nicht wie du. Ich bin als Kind nach Eden gekommen und war sechzehn Jahre ihr Gefangener. Ich habe jahrelang diese verdammten Schlampen ficken müssen, weil sie mir sonst Salia weggenommen hätten. Jetzt bin ich endlich frei, nach sechzehn beschissenen Jahren, aber statt meiner Familie, finde ich hier nur scheiß Ruinen. Meine ist verschwunden, deine Familie hat dich im Stich gelassen.“

Autsch.

„Ich weiß nicht was hier passiert ist, ich weiß nicht wo sie sind, verdammt, ich weiß nicht mal, ob sie überhaupt noch am Leben sind! Eden hat mir bereits mein halbes Leben gestohlen und weil ich die ganze Zeit hinter ihren beschissenen Mauern gefangen war, haben sie mir nun auch noch meine Zukunft genommen!“

Wenigstens sprach er jetzt endlich mit mir. „Du bist jetzt frei, Eden kann dir nichts mehr nehmen. Du bestimmst nun über deine Zukunft.“

Er lachte mir ins Gesicht, es war kein fröhlicher Laut. „Bist du wirklich so naiv? Hier sollte meine Zukunft stattfinden, mit meiner Familie. Ich habe Salia hierhergebracht damit sie es besser hat. Sie sollte ein gutes Leben haben und jetzt sitzt sie mit mir in dieser verdammten Scheiße fest!“

„So sieht es im Moment vielleicht aus, aber es wird besser werden. Wenn wir …“

„Besser? Wie soll das hier besser werden? Ich kann ihr nichts bieten, absolut gar nichts!“

Er hatte aufgegeben, wurde mir mit einem Schlag klar. Er war nicht wütend, nicht wirklich, er war traurig. Sechzehn Jahre lang hatte er gekämpft, immer mit der Hoffnung, eines Tages hier her zurückkehren zu können, doch jetzt, wo er sein Ziel erreicht hatte und es nicht das war, was er erwartet hatte, gab er einfach auf.  Er war am Ende seiner Kraft. Jeder Krieger wurde irgendwann des Kämpfens müde und bei ihm war es nun so weit. Er hatte sein Ziel aus den Augen verloren. „Wir wissen doch noch gar nicht was hier passiert ist. Deine Familie könnte noch am Leben sein, wir müssen sie nur finden.“

„Nur?!“ In diesem einen Wort, schwang sein ganzer Hohn mit. „Und wo bitte soll ich sie finden? Natürlich nur für den Fall, dass sie überhaupt noch am Leben sind – wonach es im Moment ja nun nicht gerade aussieht.“

„Ich glaube nicht, dass sie tot sind. Wir haben nirgendwo Leichen gefunden.“

„Wenn sie in den Häusern verbrannt sind, dann gibt es keine Leichen.“

Aber es würde Knochenreste geben. Dieses Feuer hatte nicht lange und heißgenug gebrannt, um auch die letzten Überreste zu vernichten, dafür stand noch viel zu viel vom Dorf. Aber darum ging es im Augenblick gar nicht. Sawyer wollte aufgeben. Seine Siedlung so vorzufinden, hatte ihn einen solchen Schlag versetzt, dass er im Moment einfach nicht weiterwusste. Das war seine Art, damit umzugehen.

Das konnte ich nicht zulassen. Ich wusste nicht, ob ich es für ihn tun wollte, oder damit ich selber erstmal ein Ziel hatte, aber so wollte ich es nicht enden lassen. Zeit ihm ein wenig den Kopf zu waschen. „Du hast sechzehn Jahre in Eden durchgehalten und jetzt willst du schon nach einem Fehlschlag aufgeben?“

„Fehlschlag? Das ist kein Fehlschlag, dass ist ein verdammtes Desaster!“

Von Wolf kam ein mahnendes Brummen.

„Was?!“, fauchte Sawyer ihn an.

Wolfs Gesichtsausdruck verfinsterte sich. Er zeigte erst auf Salia und hielt sich dann einen Finger vor die Lippen. Klare Botschaft: Sawyer sollte nicht so herumbrüllen, weil er Salia sonst wecken würde.

Sawyers Lippen wurden eine Spur schmaler.

„Das ist kein Desaster“, nahm ich den Faden wieder auf, als wären wir nicht unterbrochen worden. „Es ist ein Rückschlag, ja, aber das bedeutet noch lange nicht, dass wir sie nicht finden können.“ Auch wenn die Chancen dafür sehr gering waren. „Wir dürfen nur nicht so schnell aufgeben.“

Er schnaubte. „Und wo bitte sollen wir suchen? Ist ja nicht so, als hätten sie eine Nachsendeadresse zurückgelassen.“

Zwar hatte ich keine Ahnung, was eine Nachsendeadresse war, aber ich hatte eine Idee, was wir tun konnten. „Es muss Spuren geben, die darauf hindeuten, was mit ihnen passiert ist. Wenn der Regen aufhört, dann suchen wir die Siedlung ab und dann …“

„Das ist dein toller Plan? Die Hoffnung auf ein paar nichtexistierende Spuren?“ So wie er mich anschaute, hielt er mich wohl für wenig intelligenter als einen Regenwurm. „Hier gibt es keine Spuren, nur noch Asche. Solange wir also niemanden finden, der uns sagen kann, was hier passiert ist, wäre eine Suche einfach nur Zeitverschwendung.“

Das war die Idee. „Dann müssen wir eben jemanden finden, der weiß, wohin deine Leute verschwunden sind.“

„Oh, klar“, spottete er und lehnte seinen Kopf an die Wand. „Bevor wir uns also auf die sinnlose Suche nach meiner Familie begeben, beginnen wir eine aussichtslose Suche nach Mister X. Was kann da schon schiefgehen?“

Ungeachtet dessen wie es ihm gerade ging, würde ich ihm gleich eine runterhauen, vielleicht würde ihn das wieder zur Besinnung bringen. Er hatte Jahrelang an einem Plan gearbeitet, um Eden zu entkommen, also konnte er sich doch nun auch mal ein wenig einbringen.

Leider hatte er aber auch recht. In der heutigen Zeit gab es nicht mehr viele Menschen. Die Wenigen noch vorhandenen, lebten so zerstreut und teilweise auch versteckt, dass es sehr schwer war sie zu finden. Ich hatte manchmal monatelang niemanden außerhalb meiner Mischpoche gesehen. Jemanden aufzuspüren, ohne zu wissen, wo und wer er war, war ein Ding der Unmöglichkeit. Außer …

In meinem Kopf reifte eine Idee heran. Zwar wussten wir nicht, wen wir suchen mussten, aber vielleicht wo. Mit ein wenig Glück, könnten wir dort sogar jemanden von Sawyers Leuten finden. „Wir müssen zum Herbstmarkt.“

Sawyer machte sich nicht mal die Mühe den Kopf zu drehen. „Musst du plötzlich shoppen gehen, oder was?“

„Sei nicht albern.“ Ich schob mich über den Boden, bis ich direkt vor ihm saß und ihm gar nichts anderes übrig blieb, als mich anzuschauen. „Denk doch mal nach, so gut wie jeder Clan, jede Familie, Stamm, oder Mischpoche, in dieser Gegend, sendet seine Leute zum Markt. Manche von ihnen laufen wochenlang, um dort hinzugelangen. Ja selbst Nomaden und Einzelgänger, finden sich dort ein. Wenn jemand etwas über deine Familie weiß, dann werden wir ihn mit Sicherheit dort finden.“ Als er den Blick senkte, neigte ich den Kopf leicht zur Seite. „Vielleicht finden wir dort sogar jemanden aus deiner Siedlung. Oder deiner Familie.“ Das war gar nicht so weit hergeholt. Wenn seine Familie noch am Leben war, konnte es gut sein, dass sie selber auf dem Herbstmarkt sein würden.

Er schwieg, aber endlich begann er nachzudenken.

„Und selbst wenn wir nichts finden, ist es nicht besser Klarheit zu haben, als im Ungewissen zu leben?“

„Welche Klarheit? Ich bin hierhergekommen und habe mehr Fragen, als jemals zuvor in meinem Leben.“

„Und wenn wir dorthin gehen, werden dir diese Fragen vielleicht beantwortet“, drang ich weiter auf ihn ein. „Es gibt dort auch massenhaft reisende Händler. Diese Leute sind viel unterwegs. Vielleicht hat jemand von ihnen etwas gehört, oder weiß, wo wir suchen müssen, oder was mit deinen Leuten passiert ist.“

Langsam drang ich zu ihm durch. Die schwarze Wolke verschwand nicht, aber sie lichtete sich ein wenig.

„Wir sollten es wenigstens versuchen“, sagte ich leise. „Oder möchtest du wirklich hierbleiben? Denn wenn nicht, werden wir sowieso wieder auf Reisen gehen. Dann können wir doch auch dort hingehen und mit ein wenig Glück, werden wir sogar fündig werden.“

Für einen Moment schlossen sich seine Augen. Als sie sich wieder öffneten, lag dort eine Resignation, die ich schon einmal bei ihm gesehen hatte. „Warum tust du das?“, fragte er genauso leise. „Warum willst du mir helfen? Das hier geht dich doch eigentlich gar nichts an. Du brauchst weder mich noch Salia. Genaugenommen wärst du ohne uns sogar besser dran.“

Wie sollte ich das beantworten, wo ich es doch selber nicht so richtig wusste. „Ich mag Salia und im Moment habe ich auch nichts Besseres zu tun.“

Seine Lippen verzogen sich zu einem kaum merklichen Lächeln. Es verschwand genauso schnell, wie es aufgetaucht war. „Und wenn wir nichts finden? Wenn diese ganze Reise wieder umsonst ist?“

„Bewegung tut gut.“

Mit seinem Blick machte er mir deutlich, wie ernst er die Frage gemeint hatte.

„Wenn wir wirklich nichts finden, dann überlegen wir uns etwas anderes und suchen weiter.“

„Und wenn wir auch dann nichts finden? Wenn wir jahrelang suchen, und da kommt nichts bei raus, was ist dann?“

Er wollte also einen Plan B haben. Im Grunde gab es darauf nur eine Antwort. „Wenn wir wirklich keinen Erfolg haben, dann suchen wir uns ein nettes Plätzchen und gründen unseren eigenen Stamm. Oder wir schließen uns einer anderen Gruppe an.“ Ja, ich verwendete seine eigenen Worte gegen ihn. „Vielleicht ziehen wir auch für den Rest unseres Lebens als Nomaden durch die Welt, oder reisen ans Meer – das wollte ich schon immer mal sehen.“

Sein Blick wurde eine Spur gereizt.  

Da verstand wohl jemand keinen Spaß. „Ich habe keine Ahnung, was dann sein wird, aber irgendwas wird sich schon finden.“ Das tat es doch immer.

Sawyer verfiel ins Grübeln und da ich ihm erstmal genug zum Nachdenken gegeben hatte, ließ ich ihn einen Moment.

Ein lautes Gähnen, machte uns darauf aufmerksam, dass Wolf müde war. Er legte Salia vorsichtig neben sich, streckte sich neben ihr aus und zog eine Decke über sie beide. Die Kleine schief so tief, dass sie davon gar nichts mitbekam. War ja auch wieder ein anstrengender Tag für sie gewesen.

„Weißt du denn, wo der Herbstmarkt ist?“, wollte Sawyer wissen.

Ich nickte. Natürlich wusste ich das, sonst hätte ich es ja nicht vorgeschlagen. „Ich kenne den Weg gut, ich bin jedes Jahr mindestens einmal dort.“ Der Markt fand sowohl im Frühling, als auch im Herbst statt und war ein guter Ort zum Handeln und tauschen. Man musste nur etwas zu bieten haben, dann würde man auch etwas bekommen.

„Und du weißt natürlich auch, wann er stattfindet.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.

„Wenn ich mich nicht irre, dann findet er in neun Tagen statt und geht ungefähr eine Woche. Von hier aus brauchen wir ungefähr zwei Wochen dorthin. Wir schaffen es also ganz knapp zum Ende da zu sein.“

„Na das sind ja ausgezeichnete Aussichten“, grummelte er mürrisch. „Wir kommen dann an, wenn die meisten schon wieder weg sind.“

„Könntest du bitte mal damit aufhören, ständig nach dem Haar in der Suppe zu suchen?“ Das war ja anstrengend. „Auch an den letzten Tagen sind noch viele Menschen dort. Nicht nur Kunden. Die richtigen Händler bleiben die ganze Woche und das sind nicht wenige.“ Zumindest nicht für die freie Welt. Wenn man sie hingegen mit den Massen in Eden verglich, waren sie nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Als er nichts erwiderte, beugte ich mich ein wenig vor und berührte seinen Arm. Doch erst als er den Kopf hob und mich ansah, fragte ich ihn: „Was hast du schon zu verlieren?“

„Wahrscheinlich nichts.“

„Dann lass es uns einfach versuchen. Ich verspreche auch, dass ich gut auf dich und auf Salia aufpassen werde.“

Er stieß ein schnaubendes Lachen aus. „Wahrscheinlich willst du mich bloß auf dem Mark verhökern, um dir eine neue Angel oder sowas zu kaufen.“

„Das ist eigentlich gar keine schlechte Idee, obwohl mir ein schönes, langes Messer ja lieber wäre.“

„Dann solltest du lieber den Schönling eintauschen. Für den legen sie dir wahrscheinlich noch eine Decke gratis oben drauf.“

Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, wen er damit meinte. Er hatte recht, Killian war wirklich ein gutaussehender Mann. Mit den babyblauen Augen und dem blonden Haar, war er fast ein Sonnenkind. Nicht mal das große Feuermal an seiner Hüfte, konnte daran etwas ändern. Ganz im Gegenteil, es machte ihn zu etwas besonderem. „Dann müssten sie aber schon zwei Decken mit drauflegen“, murmelte ich.

„Ich kann euch beide hören“, ließ Killian uns wissen.

„Und du glaubst wirklich, das interessiert uns?“, fragte Sawyer bissig.

Zeit zum Thema zurückzukehren, bevor die beiden wieder anfingen zu streiten. „Sag ja“, forderte ich Sawyer auf. „Lass es uns versuchen.“ Reiß dich noch einmal zusammen und gib nicht einfach auf. Das sagte ich nicht laut. Trotzdem schien er zu wissen, was in meinem Kopf vor sich ging.

„Wir müssten dann gleich morgen früh aufbrechen“, überlegte er.

„Hmh.“ Je früher, desto besser, denn wir würden einige Tage unterwegs waren und wussten nicht, welche Hindernisse uns auf dem Weg begegnen würden. Eine mehrwöchige Reise, war niemals einfach und immer anstrengend.

„Ich glaube nicht, dass es etwas bringen wird“, murmelte Sawyer. „Das wäre ein wirklich glücklicher Zufall.“

Und genau wie bei mir, war Glück etwas, dass in seinem Leben nicht allzu oft Einzug erhielt. „Die Chance ist gering, aber es ist eine Chance. Überleg doch mal, wir sind aus Eden herausgekommen, aus einer Stadt, die als unüberwindbar gilt. Wenn es jemand schafft, deine Familie zu finden, dann sind wir das.“ Ja, ich trug gerade ein wenig dick auf, aber langsam schien er sich für meine Idee zu erwärmen, obwohl wir doch beide wussten, dass die Erfolgschancen sehr gering waren. „Wir müssen es nur versuchen.“

Er atmete einmal tief ein, bevor er sagte: „Na gut, meinetwegen, lass es uns versuchen.“ Er ließ es klingen, als würde er mir damit einen großen Gefallen tun. Vielleicht tat er das sogar, weil er mir damit eine Aufgabe und ein Ziel gab. Ehrlich gesagt wusste ich gar nicht, was ich tun sollte, wenn er nicht mitspielen wollte. Hierbleiben und versuchen, ein Platz in dieser Welt zu finden? Gehen?

Ich hatte zwar vorgehabt abzureisen, sobald wir hier waren, aber meine Pläne, ihn und Salia hier zurück zu lassen, hatten sich ja in Luft aufgelöst. Der Grund warum ich nicht hatte hierbleiben wollen, war nicht mehr existent. Darum musste es ja irgendwie weitergehen.

Als Sawyer aufstand und Richtung Tür ging, runzelte ich die Stirn. „Wo willst du hin?“

„Pinkeln.“ Er hielt an und drehte den Kopf zu mir. „Willst du mitkommen und ihn für mich halten?“

Ich machte ein angewidertes Gesicht. „Bestimmt nicht.“

„Schade, hätte lustig werden können.“ Damit verschwand er zur Tür hinaus.

Immerhin schien er jetzt wieder ein wenig mehr er selbst zu sein.

„Glaubst du wirklich, dass wir seine Familie finden werden?“, fragte Killian leise.

„Ich muss daran glauben.“ Ich musste es für Sawyer glauben und auch für mich, denn ich brauchte eine Aufgabe. Hätte ich kein Ziel, müsste ich mich mit den Scherben meines Lebens beschäftigen und dafür war ich noch nicht bereit. Das war vielleicht egoistisch, aber es war ja auch nicht so, als würde ich irgendjemanden damit schaden. Ganz im Gegenteil, wenn ich Erfolg hatte, würde ich damit einer ganzen Familie helfen.

Wenn ich allerdings keinen Erfolg hatte … darüber wollte ich im Augenblick gar nicht nachdenken. Ich konnte mich immer noch damit beschäftigen, wenn wir wirklich scheitern sollten. Und egal wie die Geschichte ausgehen sollte, das Leben ging weiter und irgendwie würden wir uns schon damit arrangieren.

„Das klingt aber nicht sehr zuversichtlich“, bemerkte Killian. „Warum willst du das tun, wenn du eigentlich gar nicht daran glaubst?“

„Du weißt nicht was ich glaube“, antwortete ich ausweichend, nichtbereit, mit ihm über meine Gründe zu sprechen. Es ging ihn einfach nichts an und ich wollte auch selber nicht so genau darüber nachdenken. „Sawyer hat in seinem Leben bereits genug durchgemacht, er hat es verdient, glücklich zu werden. Und wenn es das ist, was er brauch, um glücklich zu sein, werde ich ihm helfen.“ Er hatte auch mir geholfen, als ich in Not gewesen war – zwar aus Eigennutz, aber trotzdem.

Killian drehte den Kopf und musterte mich mit einem seltsamen Blick, den ich nicht interpretieren konnte.

„Warum guckst du mich so an?“

„Ich dachte nur gerade … nicht so wichtig.“ Er stand auf, ging in die Ecke, wo wir unsere Sachen abgelegt hatten und nahm sich von dort eine Decke. Mit seiner Beute legte er sich wieder in die Nähe des Ofens, deckte sich zu und schloss die Augen.

Jetzt war ich verwirrt. Erst dieser Blick und dann legte er sich wortlos schlafen? Hatte ich etwas Falsches gesagt?

Ich ließ das Gespräch in meinem Kopf Revue passieren und war hinterher genauso schlau wie vorher. Vielleicht hatte das ja auch gar nichts zu bedeuten und er war einfach nur müde. Der Tag war ja auch wieder lang und anstrengend gewesen. Oder störte es ihn einfach, dass ich Sawyer half, während ich mich weigerte, ihn nach Hause zu bringen? Das wäre aber ziemlich dumm, denn das waren zwei völlig unterschiedliche Situationen.

Was auch immer sein Problem war – oder auch nicht – ich wollte mich heute nicht mehr damit befassen. Langsam spürte ich selber die Erschöpfung und da wir morgen sicher wieder früh aufbrechen würden, war es auch für mich an der Zeit, sich hinzulegen. Also erhob ich mich und nahm mir selber eine Decke aus der Ecke, gerade als Sawyer mit feuchten Haaren zur Tür hineinkam.

Er schüttelte sich, wie ein nasser Hund. „Wenn es nicht bald aufhört zu regnen, werden wir morgen nirgendwo hingehen, solange uns keine Schwimmhäute wachsen.“

„Ein bisschen Regen hat noch niemanden geschadet.“ Ich ging hinüber zum Ofen und legte mich wie immer neben Killian. Meine Decke zog ich mir bis zum Hals hoch.

„Da würde Noah dir aber wiedersprechen.“

„Wer?“

„Egal, vergiss es.“ Er machte sich gar nicht erst die Mühe, sich trocken zu rubbeln, nahm nur eine Decke, blies dann die kleine Kerze in der Laterne aus und suchte sich dann seinen Platz zwischen Salia und mir.

Ich runzelte unzufrieden die Stirn. Ich mochte es nicht, wenn er Dinge sagte, die ich nicht verstand. Ich war nicht dumm, aber in solchen Momenten fehlte es mir einfach an Wissen und das ging mir gegen den Strich. Wahrscheinlich war es nicht einmal wichtig, wer dieser Noah war, aber es störte mich trotzdem. Und das Killian mich nicht unaufgefordert aufklärte, wie er es sonst immer tat, störte mich auch. Er schlief noch nicht, also warum war er so still? Irgendwas war hier nicht in Ordnung, aber ich war zu müde, um mir im Augenblick Gedanken darüber zu machen. Morgen, morgen würde ich mich darum kümmern, aber jetzt wollte ich einfach nur noch schlafen.

Ich kuschelte mich ein wenig fester in meine Decke und wollte gerade die Augen schließen, als ich in dem wenigen Licht vom Ofen bemerkte, wie Sawyer neben mir lag. Den rechten Arm hatte er hinter den Kopf geschoben, den linken auf seine Brust gelegt. Sein Brustkorb hob sich leicht bei jedem Atemzug. Doch es waren seine Augen, die meine Aufmerksamkeit erregt hatten. Sie waren offen und starrten an die Decke. Die Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen mussten, waren nicht schwer zu erraten.

Er hatte alles verloren, genauso wie ich und stand nun vor dem absoluten Nichts. Wir wussten beide, seine Familie zu finden, selbst wenn sie noch lebte, würde sehr schwer werden, denn wir wussten weder, wann sie von hier fortgegangen waren, noch wohin ihr Weg sie geführt hatte. Sie konnten bereits vor einem Jahrzehnt verschwunden sein. Und trotz der verschwindend geringen Chance, hatte ich Sawyer einfach einen Funken Hoffnung geben müssen. An den klammerte er sich nun und ich konnte nur beten, dass er nicht erlosch, denn wenn das geschah, wusste ich nicht, was von Sawyer noch übrigbleiben würde.

Keine Ahnung, warum ich das tat, aber ich schob meine Hand unter der Decke hervor, legte sie auf seine und drückte sie leicht.

Befremdet, aber nicht ablehnend, drehte er den Kopf und schaute mich an. Er musste nichts sagen, denn die Frage stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Er wollte wissen, was das sollte.

Ich war mir da selber nicht so ganz sicher. „Du bist nicht allein“, flüsterte ich und hoffte, dass ihm das als Erklärung ausreichen würde. „Vergiss das nicht.“

Völlig unerwartet, verschränkte er seine Finger mit den meinen und legte sie sich auf sein Herz. Er drückte sie leicht, bevor er einmal tief durchatmete und die Augen schloss.

Warum bei Gaias Güte, schlug mein Herz plötzlich so schnell? Und warum schaffte ich es nicht, den Blick von unseren verschränkten Fingern abzuwenden? Das sollte doch nur eine kleine Geste sein, um ihm zu zeigen, dass er nicht allein war. Das war … skurril.

Mach einfach die Augen zu und schlaf.

Genau das tat ich auch. Ich verbannte Sawyer und alles andere aus meinem Kopf und schloss die Augen. Leider spürte ich seine Berührung so nur umso deutlicher. Oh Gaia, das würde mal wieder eine lange sehr Nacht für mich werden.

 

oOo

Kapitel 17

 

„Pass auf“, warnte ich ihn noch, da stieß Killian auch schon mit dem Kopf, gegen den herunterhängenden Balken am Scheunentor. Es gab ein dumpfes Geräusch.

Seine Hände schnellten zu der schmerzenden Stelle und er stieß einen so derben Fluch aus, dass ich beeindruckt die Augenbraue hob. Sowas hätte ich ihm ja nicht zugetraut.

Mit zusammengekniffenen Augen, taumelte er zwei Schritte rückwärts und blieb dann einfach stehen. So wie er sich anstellte, musste das wirklich wehgetan haben. Das kam eben dabei heraus, wenn man nicht darauf achtete, wohin man ging.

Kopfschüttelnd trat ich zu ihm. „Mach in Zukunft die Augen auf“, sagte ich und zog seine Hand von der Stirn, um mir die Sache genauer anzusehen. Da war deutlich ein roter Fleck. „Das könnte eine Beule geben.“

„Mit einer Beule kann ich leben, die Kopfschmerzen sind viel schlimmer.“ Er hob wieder die Hand und rieb über die schmerzende Stelle. Dann warf er dem Balken einen bösen Blick zu.

„Der Balken kann nichts dafür, wenn du nicht nach vorne schaust.“

Jetzt schaute er mich böse an.

Ergeben hob ich die Hände. „Ich meine ja nur“, murmelte ich und drehte mich zur Scheune um.

Ich war bereits im Morgengrauen erwacht, war aber noch eine Zeitlang unter meiner Decke liegen geblieben. Dort war es so kuschelig und so warm gewesen. Das war auch der einzige Grund. Es hatte nichts damit zu tun gehabt, dass Sawyer sich in der Nacht zu mir gedreht hatte und meine Hand immer noch in seiner hielt. Wirklich nicht. Und auch nichts mit dem stillen Blick, als er plötzlich seine Augen öffnete. Er hatte nichts anderes getan, als mich anzusehen, mit dieser unergründlichen Tiefe in seinem sehenden Auge.

Warum er seine Hand nicht weggezogen hatte, verstand ich immer noch nicht. Vielleicht hatte er den Trost einfach noch ein wenig gebraucht. Und mein Herz hatte auch nur schneller geschlagen, weil ich mich so unwohl gefühlt hatte. Ich meine, dass war immer noch Sawyer, es konnte also gar keinen anderen Grund gegeben haben.

Erst als Salia begann sich zu regen und mit ihrem Gezappel auch die anderen weckte, hatte ich mich schnell von Sawyer losgemacht und war als erstes zu meiner Morgentoilette aus dem Bunker verschwunden. Es war ziemlich frisch gewesen und alles war nass und voller Pfützen, aber wenigstens hatte der Regen aufgehört. So stand unseren Plänen für heute nichts mehr im Weg.

Bei unserem kurzen Frühstück, bestehend aus Trockenfrüchten und gepökeltem Fisch, hatte ich allen noch einmal unser weiteres Vorgehen erläutert. Es wurde beschlossen, dass Sawyer und Wolf die Sachen zusammenpacken würden, während Killian und ich Trotzkopf und den Karren holten. Naja, eigentlich sollte nur ich ihn holen, Killian hatte sich ungebeten angeschlossen.

Durch den Regen und dadurch, dass ich gestern das Scheunentor bewegt hatte, musste in der Nacht einer der äußeren Balken heruntergerutscht sein. Anders konnte ich mir nicht erklären, warum er nun da hing. Gestern war er jedenfalls noch nicht da gewesen.

Da Killians Schmerzen mir eine Lehre waren, achtete ich auf diesen Balken, als ich gegen das Scheunentor drückte. Es war bereits halb geöffnet, wahrscheinlich hatte der Wind es ein wenig aufgedrückt. Der Karren würde so aber auf keinen Fall hindurch passen, darum musste es ganz auf.

Natürlich klemmte es wieder. Darum kam Killian mir auch zur Hilfe. Doch kaum, dass er sich gegen das alte Holz stemmte, hörte ich auf zu drücken und mir entkam ein „Verdammter Mist“, das hatte uns jetzt gerade noch gefehlt.

Auch Killian hörte auf zu drücken und musterte mich besorgt. „Was ist los?“

„Das Dromedar ist los“, knurrte ich und marschierte in die Scheune, in der Hoffnung, dass ich mich irrte. Nein, ich irrte mich nicht, die Scheune war leer und Trotzkopf war weg. Um das mit Sicherheit sagen zu können, musste ich mich nur einmal kurz umschauen. Bei seiner Größe konnte er sich schließlich nicht in irgendeiner Ecke verstecken.

Killian folgte mir in das Gebäude und sah das, was ich bereits bemerkt hatte. Die Ecke, in der ich Trotzkopf gestern festgebunden hatte, war leer. „Wie konnte das passieren?“

Das war eine ausgezeichnete Frage. Um sie zu beantworten, ging ich in die Ecke, wo eigentlich mein treuer Begleiter hätte stehen sollen und schaute mir die Holzplanke an, an der ich ihn festgebunden hatte.

Die eine Seite hatte sich vom Holzbalken gelöst, die Nägel schauten noch aus dem Holz heraus. „Wahrscheinlich hat Trotzkopf solange daran gezerrt, bis sich die Planke vom Balken getrennt hat und dann hat er sich losgerissen.“

Killian schaute sich die Stelle an. „Es könnte auch jemand eingedrungen und ihn geklaut haben.“

„Unwahrscheinlich. Warum sollte jemand ein sturköpfiges Dromedar klauen und unsere Sachen zurücklassen?“ Ich zeigte zum Karren, wo der Großteil unseres Besitzes noch gestapelt war. „Außerdem wurde er nicht losgebunden. Nein, er hat sich losgerissen.“ Darum war auch das Scheunentor halb offen gewesen. Das kam nicht vom Wind, das war Trotzkopf gewesen, als er das Weite gesucht hatte.

„Warum sollte er abhauen?“

„Entweder er hatte keine Lust hier eingesperrt zu sein, oder er hat sich erschrocken und ist davongelaufen.“ Ich ging zum Karren hinüber und nahm mir ein Seil von der Ladefläche. „So oder so, er kann nicht weit sein.“ Bei dem Regen hatte er sich wahrscheinlich irgendwo zum Schutz untergestellt, dieser Dummkopf.

Killian beobachtete, wie ich das Seil über meine Schulter hängte und Richtung Tor marschierte.

„Und was machen wir jetzt?“

„Ich gehe ihn suchen. Du kannst den anderen Bescheid sagen was los ist und dass unsere Abreise sich ein wenig verzögern wird.“

Bevor ich das Tor erreicht hatte, stellte Killian sich mir in den Weg, sodass ich gezwungen war stehenzubleiben, wenn ich nicht in ihn hineinlaufen wollte.

„Ich begleite dich.“

Hm, wie drückte ich das jetzt am besten aus, ohne ihn zu beleidigen? „Ich bin schneller, wenn ich alleine …“

„Ich möchte mich nützlich machen“, unterbrach er mich und schaute mich dann mit einem Blick an, der wohl unbeugsam sein sollte. Er wirkte aber nur liebenswert. „Bitte.“

Vielleicht war das aber auch seine Art, mich einzulullen. „Killian …“

„Ich halte dich nicht auf und ich werde auch nicht im Weg stehen.“ Er sah mich bittend an. „Gib mir eine Chance.“

Er wollte seinen Wert beweisen. Das war nicht das erste Mal, dass er versuchte sich einzubringen. Man denke nur daran, wie er die Wäsche waschen wollte, oder den einen Abend das Kochen über dem offenen Lagerfeuer übernommen hatte. Leider schien alles was er anfasste nach hintern loszugehen. Aber konnte ich es ihm wirklich verdenken, dass er sich nicht nutzlos fühlen wollte? Vielleicht war es ja wirklich an der Zeit, ihn richtig mit einzubeziehen. Ich konnte ihm ja nicht für den Rest seines Lebens wie ein Baby behandeln. Irgendwann musste er auch selber mit anpacken, warum also nicht jetzt. „Wir müssen den anderen aber trotzdem sagen was los ist.“ Nicht dass sie nachher noch glaubten, wir wären einfach ohne sie abgehauen.

„Ich sage es ihnen.“

„Dann kann ich schon mal schauen, ob ich irgendwo Spuren finde.“ Nicht dass ich große Hoffnung hatte. Sollte er wirklich letzte Nacht abgehauen sein, hatte der Regen in der Zwischenzeit sicher alle brauchbaren Spuren verwischt. Trotzdem suchte ich den Erdboden um die Scheune herum ab, während Killian kurz im Bunker verschwand.

Wie erwartet war der Boden aufgeweicht und alles voller Pfützen. Hinweise auf ein sechshundert Kilo schweres Reittier fand ich aber nicht. Solche Spuren wären in der feuchten Erde leicht zu erkennen gewesen. Doch als ich auf die Rückseite der Scheune kam, fand ich etwas Fell, dass ich an einem Strauch verfangen hatte. Es war feucht. Farbe und Struktur passten zu Trotzkopf. Das war eindeutig sein Fell. Er musste es verloren haben, als er hier entlanggelaufen war.

Nun gut, dann würde ich mit der Suche wohl in dieser Richtung beginnen.

„Kismet?“

Ups, den hatte ich jetzt fast vergessen. „Ich bin hier“, rief ich. „Hinter der Scheune.“

Es dauerte einen Moment, bis Killian die Scheune umrundet hatte und zu mir stieß. „Ich habe den anderen Bescheid gesagt. Sie warten mit dem Packen bis wir zurück sind.“

Mit ein bisschen Glück, würden wir sogar mit Trotzkopf zurückkommen.

Killian bemerkte das Fell in meiner Hand. „Weißt du, wohin er verschwunden ist?“

Wenn ich raten müsste: „Da lang“, sagte ich und zeigte in den Wald hinein. Natürlich war er in den Wald gelaufen, wo man sich leicht verirren konnte. Die Straße wäre bei dem Wetter ja viel zu einfach gewesen. „Komm“, forderte ich ihn auf und suchte mir ein Weg zwischen den Bäumen entlang. Dabei suchte ich unablässig den Boden und die Zweige ab und nahm den wahrscheinlichsten Weg. Weit auseinanderstehende Bäume, wo ein Tier seiner Größe problemlos durchpasste. Ebene Strecken, wo keine Hindernisse wie entwurzelte Baumstämme lagen.

Der bewölkte Himmel ließ nur wenig Licht zwischen die Bäume, darum musste ich meine Augen teilweise ziemlich anstrengen.

Killian folgte mir leise und beobachtete mich aufmerksam. Mir war klar, dass er nur neugierig war, aber es störte mich schon ein wenig, so unter Beobachtung zu stehen.

„Wie kannst du hier nur seine Spur sehen?“, fragte er irgendwann. „Das sieht doch alles gleich aus.“

„Kann ich nicht, der Regen hat alle Spuren weggewaschen.“ Und die dicke Laubschicht machte Hufabdrücke im Schlamm beinahe unmöglich.

Bei den Worten stutzte Killian kurz. „Woher weißt du dann, wo du suchen musst?“ Er rutschte auf dem nassen Laub weg und wäre wohl mit der Nase im Dreck gelandet, hätte er nicht hastig nach einem Ast gegriffen.

„Das weiß ich nicht.“ Ich wartete, bis er wieder sicher stand, bevor ich weiter ging. „Es ist nicht das erste Mal, dass Trotzkopf spurlos verschwunden ist. Eine Zeitlang hat er es zu einer Disziplin erhoben, auf möglichst kreative Weise aus seinem Pferch zu entkommen. Das hat erst aufgehört, als ich ihn freigelassen habe.“

„Du hast ihn freigelassen?“

„Hmh.“ Ich schob einen tiefhängenden Ast zur Seite. „Sogar ziemlich oft. Meistens verschwindet er dann für zwei drei Tage und kommt dann zufrieden zurück nach Hause.“ Als ich den Ast losließ, schlug er Killian ins Gesicht. „Entschuldigung.“

„Schon gut.“ Killian wischte sich die Feuchtigkeit aus dem Gesicht und schob den Ast nun selber zur Seite. „Er muss ziemlich schlau sein, wenn er immer zu dir zurückkommt.“

Schlau? Zweifelhaft. Ein schlaues Wesen würde schließlich nicht in einer verregneten Nacht davonlaufen, um seinen Freiheitsdrang auszuleben. Wäre er schlau, hätte er damit bis zum nächsten Frühling gewartet. „Er weiß, wo es Futter und einen gemütlichen Heuhaufen gibt.“

Killian lachte leise. „Ich glaube, du traust ihm viel zu wenig zu.“

„Ich traue ihm eine Menge zu.“ Aber ich kannte ihn schließlich auch, seit er ein Kalb gewesen war. „Einmal war er über eine Woche verschwunden. Da habe ich mir Sorgen gemacht und bin ihn suchen gegangen.“

„Woher wusstest du, wo du nach ihm suchen musst?“

„Das wusste ich nicht.“ Ich bückte mich, um eine Stelle zu untersuchen, an der das Laub weggescharrt worden war. Dort waren Hufandrücke, aber sie waren viel zu klein für ein Dromedar. Vermutlich gehörten sie zu einem Wildschwein. „Ich habe tagelang die Gegend abgesucht, ohne Erfolg. Am Ende ist er dann alleine nach Hause gekommen – gesund und munter. Ich weiß bis heute nicht, wo er sich herumgetrieben hat.“

„Und warum suchen wir nach ihm, wenn er doch allein zurückkommt?“

„Weil es Tage dauern kann, bis er wieder auftaucht.“ Ich richtete mich auf und schaute mich um, um zu entscheiden, welches der wahrscheinlichste Weg war. Vielleicht irrte ich mich auch und suchte an der völlig verkehrten Stelle nach ihm. Das würde sich erst noch zeigen müssen. „Und ich weiß auch nicht, ob er dorthin gehen würde, wo er mich zuletzt gesehen hat, oder ob er versuchen würde, zu Marshalls Flugzeug zurückzukehren.“

„Das ist … erstaunlich.“

„Findest du?“ Als ich mich nach links wandte, rutschte Killian wieder aus, schaffte es aber auf den Beinen zu bleiben. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen ihn mitzunehmen, so unbeholfen wie er hier durchs Unterholz stolperte. „Ich kann ihn eigentlich ziemlich gut verstehen. Niemand will die ganze Zeit eingesperrt sein.“

„Aber es wäre sicherer für ihn.“ Killian stieg achtsam über eine Kuhle im Boden. „Allein hier draußen in der Wildnis, kann ihm viel passieren.“

Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm um. „Darum soll ich ihn zu einem Leben in Gefangenschaft verdammen? Nie etwas anderes, als Arbeit, Isolation und Monotonie?“ 

Auch Killian blieb stehen. „Es würde ihm wenigstens gut gehen.“

„Wie kann es jemanden gut gehen, der gezwungen ist, so zu leben?“

„Er wäre sicher. Und gesund.“

Merkte er eigentlich, was er da gerade sagte? Genau das war es, was Eden mit den Menschen machte. Und auch wenn er Zwang und Erpressung nicht unterstützte, fand er doch nichts falsch daran, die Leute so leben zu lassen. „Körperlich vielleicht, aber geistig? Zweifelhaft.“ Ich setze mich wieder in Bewegung. „Nein, wenn dir jemand wichtig ist, musst du dafür sorgen, dass er glücklich ist. Und wenn das bedeutet, ihn gehen zu lassen, musst du das tun. Mit ein bisschen Glück, kommt er zu dir zurück.“

Mittlerweile hatten wir uns schon ein ganzschönes Stück von der Siedlung entfernt. Wenn mir nicht bald ein Hinweis vor die Füße fiel, sollten wir vielleicht noch mal zurück gehen und von Vorne beginnen. Vielleicht hatte ich ja irgendwo etwas übersehen. Oder war von Anfang an in die falsche Richtung gelaufen.

„Ich finde deine Weltanschauung faszinierend.“

„Warum?“

„Etwas gehen zu lassen, obwohl man es festhalten will, zeugt von einer enormen Willenskraft. Ich weiß nicht, ob ich das könnte.“

„Es ist gar nicht so schwer“, erklärte ich und stieg über ein paar Äste. Dabei entdeckte ich einen tiefen Abdruck im Schlamm zwischen den Blättern. Ich hockte mich hin, um ihn mir genauer anzusehen. „Man muss nur Vertrauen haben.“

„Es ist weit mehr als Vertrauen.“ Killian trat neben mich, um zu gucken, was ich da entdeckt hatte. „Einen Menschen wie dich, gibt es kein zweites Mal.“

„Es gibt viele Menschen wie mich.“ Ich machte mir nichts vor, ich war nichts Besonderes.

„Nein, das ist nicht wahr. Denk doch nur mal an …“ Er verstummte, als würde ihm plötzlich aufgehen, was er da gerade sagte.

Ich schaute zu ihm auf. „An?“ Als er nicht antwortete, wurde ich ein wenig ungeduldig. „Nun spuck es schon aus.“

Trotz meiner Aufforderung zögerte er. „Nikita“, sagte er dann leise. „Denk nur mal an Nikita.“

Sofort senkte ich den Blick auf den Abdruck. Ich wollte ihn nicht sehen lassen, was dieser Name bei mir auslöste. Es tat weh ihren Namen zu hören. Über sie zu sprechen, war noch viel schlimmer. „Was ist mit ihr?“ Mein Finger fuhr über die Spur, ein tiefer Hufabdruck. Der stammte eindeutig von Trotzkopf.

Oh, gut, wir waren auf der Richtigen Fährte. Ich hatte meinen Instinkt also noch nicht verloren. Gut zu wissen.

„Du hast sie gehen lassen, weil es das war, was sie wollte, obwohl du wusstest, dass du sie dann nie wiedersehen würdest.“

Ohne ihn anzusehen, richtete ich mich auf und ging an ihm vorbei. „Trotzkopf war hier gewesen. Wahrscheinlich ist er hier entlang gegangen.“ Das waren die einzigen Bäume, die weitgenug auseinanderstanden um hindurchzupassen.

Er folgte mir. „Ich habe gesehen, wie schwer dir das gefallen ist.“

Scheinbar wollte er das Thema nicht ruhen lassen. Ich Glückliche. „Was hätte ich denn sonst tun sollen, sie gegen ihren Willen mitnehmen?“ Ja, ich klang ein wenig angriffslustig, na und? Ich wollte nicht drüber sprechen, nicht mit ihm und auch mit niemand anderem.

„Es hätte in deiner Macht gestanden.“ So wie er das sagte, glaubte er wirklich daran. „Sie ist deine kleine Schwester, du hast Einfluss auf sie. Es wäre für dich kein Problem gewesen, sie gegen ihren Willen mitzunehmen. Sie hätte sich gefügt.“

„Sie hätte mich gehasst“, sagte ich leise. Der Moment, als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, tauchte vor meinem inneren Auge auf. Wie sie immer kleiner geworden war, als das Auto wegfuhr. Eine einsame Gestalt in der endlosen Wildnis. Sie hatte so verloren und allein gewirkt. Und verletzt. Zum ersten Mal in ihrem Leben, hatte ich mich gegen sie entschieden. Wahrscheinlich hatte sie bis dahin gar nicht geglaubt, dass das überhaupt möglich wäre.

Ich ehrlich gesagt auch nicht.

„Nein, das glaube ich nicht“, widersprach Killian mir. „Sie liebt dich. Nur deswegen hat sie überhaupt diesen Plan ausgeheckt, um dich nach Eden zu bekommen.“

Diese Liebe hatte sie aber toll gezeigt.

„Anfangs wäre sie vielleicht sauer auf dich gewesen, aber mit der Zeit hätte sie dieses Leben wieder akzeptiert.“

„Aber sie wäre niemals glücklich gewesen.“ Denn es war nicht das, was sie für sich gewollt hatte.

„Und darum hast du sie gehen gelassen, auch wenn es dir wehgetan hat.“ Als ich darauf nicht reagierte, überholte er mich und blieb direkt vor mir stehen. Das zwang auch mich stehen zu bleiben. „Das ist es was ich meinte. Du möchtest, dass alle das bekommen, was sie sich wünschen, deine eigenen Bedürfnisse stellst du hinten an.“

Selbstlos. Das war das Wort, das er beschrieb. Er glaubte ich sei selbstlos. Doch wenn ich wirklich so selbstlos wäre, dann wäre ich bei ihr geblieben, mit allem was dazu gehörte.

„Das macht dich zu etwas sehr Besonderem.“ Seine Hand legte sich unter mein Kinn und hob mein Gesicht, bis ich ihn ansah. „Du bist etwas ganz Besonderes, Kismet.“

Er hatte es nett gemeint, das war mir klar, doch etwas an diesen Worten rührte an mir. Es traf mich und das machte mich wütend. „Als Tracker meine Mutter töteten, lief ich einfach fort. Ich ließ meinen Bruder zurück, in dem Wissen, dass auch er sterben würde. Und das gleiche habe ich mit Nikita getan.“ Ich machte mich von ihm los und trat einen Schritt zurück. „Ich bin nichts Besonderes, ich bin ein Feigling, der nur seine eigene Haut retten will.“

Nach diesen Worten wirkte Killian betroffen. Mit solch einer Wendung hatte er wohl nicht gerechnet. Dann schüttelte er ungläubig den Kopf. „Ich weiß nicht, was für ein verdrehtes Selbstbild du von dir hast, aber du bist definitiv kein Feigling. Du bist einer der mutigsten Menschen die ich kenne.“

Ich schnaubte und ging an ihm vorbei. Dieses Gespräch war sinnlos.

„Kismet …“

„Ich will nichts mehr davon hören.“

„Warum? Weil du dann einsehen müsstest, dass ich recht habe?“

Ich wirbelte zu ihm herum. „Du weißt nichts von mir, absolut gar nichts, also halt endlich den Mund!“

Zu meinem Missfallen war Killian niemand, der sich den Mund verbieten ließ, wenn er noch etwas zu sagen hatte. „Ich weiß, dass du als kleines Mädchen einen erwachsenen Mann angegriffen hast, um deine kleine Schwester zu beschützen. Ich weiß, dass du in ein Lager voller Tracker marschiert bist, um sie zu retten. Ich weiß, dass du dich mit ganz Eden angelegt hast, um für deine Freiheit zu kämpfen.“ Er sah mir fest in die Augen. „Nichts davon würde ein Feigling machen. Solche Dinge verlangen Courage und Mut.“

„Und was hat es mir gebracht?“ Ich hatte trotzdem alles verloren. Immer und immer wieder.

„Es hat dir ein Leben gebracht, in dem du deine eigenen Entscheidungen treffen kannst.“ Er trat näher und hob die Hand, als wollte er mich berühren. Doch das wollte ich nicht, also trat ich ein Stück zurück, sodass er sie wieder sinken ließ. „Egal was du sagst, das wird mein Bild von dir nicht verändern.“

„Dann bist du einfach nur dumm.“

„Dann bin ich eben dumm. Es stört mich nicht.“

Einen Moment schaute ich ihn einfach nur an, dann gab ich ein lautes Schnauben von mir und kehrte ihm den Rücken. Wir hatten eine Aufgabe und ich sollte mich darauf konzentrieren, anstatt mich mit diesem Mist auseinanderzusetzten. Er wusste doch gar nicht, wovon er sprach. Alle waren weg, jeder in meinem Leben hatte mich verlassen und der einzige gemeinsame Nenner, war ich. Es musste also an mir liegen.

Wenn ich so was Besonderes war, warum hätten sie mich dann alle im Stich lassen sollen? Das ergab keinen Sinn. Und dass er mich jetzt zwang darüber nachzudenken, machte mich wütend. Ich wollte diesen ganzen Mist aus meinem Kopf haben und nicht immer und immer wieder daran erinnert werden.

Ich kam genau drei Schritte weit, bevor ich wieder zu ihm herumwirbelte. „Du bist ein Arsch!“

Er hob eine Augenbraue, offensichtlich verblüfft über diese Beleidigung.

„Was glaubst du eigentlich wer du bist, dass du dir ein Urteil über mich erlauben kannst?!“ 

Die Verblüffung schlug in Verwirrung um. „Wenn ich ehrlich bin, verstehe ich gerade nicht, was hier los ist. Warum bist du auf einmal so wütend?“

„Weil du mich zwingst, über diese Dinge nachzudenken, obwohl ich das gar nicht will“, fauchte ich. Eigentlich wollte ich das gar nicht sagen. Ich wollte nur Trotzkopf finden und mich dann endlich auf den Weg machen, aber auf einmal konnte ich nicht mehr damit aufhören. Es war, als wäre der Damm gebrochen und ich konnte es nicht aufhalten. „Ich will nicht darüber nachdenken, ich will nicht darüber sprechen und ganz besonders will ich nicht mit dir darüber sprechen!“

„Mit mir?“ Seine Verwirrung wurde immer größer. Nun verstand er gar nichts mehr. „Warum? Ich habe dir doch immer zugehört, oder habe ich dir jemals das Gefühl gegeben, dass du nicht mit allem zu mir kommen kannst?“

War das sein verdammter Ernst? Ich stand kurz vor dem explodieren. „Ja!“, spie ich ihm entgegen. „Jedes Mal, wenn es um wichtige Dinge ging, dann hast du mir erklärt, dass ich mir das alles nur einbilde!“

„Was?“

„Als ich dir das mit meiner Mutter und den Trackern erzählt habe, hast du mir erklärt, ein Trauma hätte meine Erinnerungen verzerrt, denn Tracker sind ganz liebe Menschenfreunde und tun niemanden etwas!“

„Aber …“

„Oder auf dem Elysium-Fest, als das Bild von meiner Mutter auf der Leinwand erschien ist!“, unterbrach ich ihn, ohne ihm auch nur die Chance zu geben, sich zu rechtfertigen. „Da hast du mir auch erklärt, ich würde mir da nur etwas einbilden.“ Ich machte einen Schritt auf ihn zu. Die Verwirrung und die Angst von damals, waren mir noch gut in Erinnerung geblieben. „Aber das habe ich nicht. Ich hatte den Beweis in den Händen, Sawyer hat ihn mir besorgt. Meine Mutter war in Eden und deine Mutter kannte sie!“

Sein Mund öffnete sich. Er schüttelte den Kopf, als könnte er das nicht glauben, oder wüsste nicht, was genau er dazu sagen sollte. Als er sich dann entschied, traf er eine wirklich dumme Wahl. „Sawyer hat dir den Beweis gegeben?“

Ich konnte es kaum fassen. „Wirklich, das ist der Teil auf den du eingehst?“ Bei allem was ich gerade gesagt hatte, interessierte er sich nur für diese unbedeutende Kleinigkeit? Das war, als würde man jemanden erzählen, dass die Welt gerade unterging und er würde sich nur dafür interessieren, ob noch genug Klopapier vorhanden war. Aber bitte, wenn er es so wollte. „Ja, Sawyer hat mir geholfen. Ich habe ihm gesagt was passiert ist und er ist losgezogen und hat die Bilder vom Fest besorgt. Er hat mir nicht gesagt, ich hätte eine blühende Phantasie und würde mir da nur etwas einbilden. Er hat mir geglaubt und geholfen. Du nicht.“

Die letzten Worte waren wie Pfeile und sie trafen genau in ihr Ziel. Killian wirkte einfach nur bestürzt. Wahrscheinlich hatte er diese Dinge noch nie aus meinem Blickwinkel betrachtet, weil dass was er geglaubt hatte, für ihn logisch war. Leider machte es das nicht besser. Sein Denken, ja sein ganzes Handeln, war so von Eden beeinflusst, dass ihm nie in den Sinn gekommen wäre, im Unrecht zu sein. Und er hatte auch nie verstanden, was er mir damit antat. Nicht bis zu diesem Augenblick.

„Es … tut mir leid. Es war nie meine Absicht gewesen, dir etwas zu unterstellen. Ich hätte dir glauben sollen.“ Seine Worte klangen aufrichtig, doch auch wenn er es ehrlich meinte, konnte er damit den bisherigen Schaden nicht reparieren.

Vielleicht war das ja der Grund, warum ich ihn nie richtig an mich hatte heranlassen können.

„Aber das hast du nicht“, sagte ich leise. Meine Wut war nicht verschwunden, sie brodelte noch immer unter der Oberfläche, aber ich hatte ein wenig meiner Selbstkontrolle zurückerlangt, genug, damit ich sie wieder wegschließen konnte. „Du hast meine Aussagen als Unsinn abgestempelt, damit du nicht an deinem tollen Eden zweifeln musst.“

Er stand vor mir, betroffen und nach Worten ringend, schien aber nicht zu wissen, was er sagen sollte. Vielleicht gab es im Moment auch einfach nichts mehr zu sagen.

„Egal, vergiss es, lass uns einfach weitersuchen.“ Ich kehrte ihm den Rücken und besann mich auf meine Suche. Ich wollte diesen Wald irgendwann auch wieder verlassen.

„Kismet …“

„Hör jetzt auf damit, ich will nicht mehr darüber reden.“

Die nächsten zwei Minuten verliefen schweigend. Ich hoffte, betete darum, dass er es einfach gut sein lassen würde, aber dann begann er doch wieder zu sprechen.

„Ich wusste nicht, dass du einen Bruder hattest.“

Gaia, schenk mir Kraft, damit ich ihm nicht den Hals umdrehe. „Es gibt so vieles, was du nicht von mir weißt.“

„Ja, das wird mir allmählich auch klar.“

Etwas an dem, wie er es sagte, brachte mich dazu, den Kopf zu drehen. Doch es war nicht Killian, den ich beachtete, denn mein Blick fiel auf den Strauch, an dem er gerade vorbei ging. Ein paar der Äste waren abgeknickt und in den Zweigen hatte sich helles Fell verfangen.

Ich ging sofort dorthin und schaute mir die Sache genauer an. Ich musste das Fell noch nicht mal anfassen, um zu wissen, dass es von Trotzkopf ist. Er war hier gewesen.

Mit den Augen sondierte ich die möglichen Wege, die er von hieraus genommen haben konnte und entdeckte dabei etwas ganz anderes. Nicht weit von uns entfernt, klitschnass und zitternd, stand Trotzkopf dicht an einem Baum gedrängt und sah aus wie ein kümmerlicher Haufen Elend. „Da bist du ja.“

Als hätte er nur darauf gewartet, dass ich ihn bemerkte, stieß er ein Röhren aus, das mir sein ganzes Elend mitteilte.

„Was bist du nur für ein Dummkopf“, schimpfte ich mit ihm und machte mich auf den Weg zu ihm. Es ging ein Stück abwärts, sodass ich mich an den Stämmen der Bäume festhalten musste, um nicht abzurutschen. Dann war ich auch schon bei ihm. Zur Begrüßung bekam ich ein Blöken und einen Stoß mit dem Kopf.

„Hey, ich kann nichts dafür, dass du dich in diese Situation gebracht hast.“ 

Hinter mir hörte ich einen dumpfen Aufprall. Als ich mich umdrehte, saß Killian im Dreck. Er hatte sich beim Abstieg nicht festgehalten.

Da er aber schon wieder dabei war auf die Beine zu kommen schien ihm wohl nichts weiter passiert zu sein. Darum machte ich mich daran, Trotzkopf zu untersuchen, aber bis auf die Tatsache, dass er klitschnass war, ging es ihm gut. „Wenn du sowas noch mal machst, dann kannst du zusehen, wie du zurückkommst.“

Er blökte so leidig, dass man meine könnte, er hätte meine Worte verstanden.

Killian hatte es nun auch heruntergeschafft. Seine Hose war nass und fleckig, und am Hintern klebten ihm ein paar Blätter. „Geht es ihm gut?“

„Er ist nur nass und wahrscheinlich ist ihm kalt.“ Wenn wir zurück waren, würde ich ihn erstmal gründlich trocken rubbeln müssen. Das würde eine Heidenarbeit werden. Warum nur war der Trottel nicht einfach in der Scheune geblieben? „Lass uns aufbrechen, sonst brauchen wir uns heute gar nicht mehr auf den Weg machen.“ Außerdem wollte ich zurück, um nicht länger mit Killian allein zu sein. All die Worte die gefallen waren, hingen wie eine dicke Mauer zwischen uns.

Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn ich mein Temperament gezügelt hätte, aber nun war es bereits geschehen, und es ließ sich nicht mehr rückgängig machen.

„Ich hoffe, du weißt wo wir hinmüssen.“ Killian versuchte sich an einem vorsichtigen Lächeln. „Ich habe nämlich völlig die Orientierung verloren.“

Ich hätte ihn bei den anderen im Bunker lassen sollen. „Folg mir einfach.“ Ich nahm Trotzkopfs Führleine, die völlig verdreckt und mit Schlamm besudelt war und zog an seinem Halfter. Erst wollte er sich nicht bewegen, aber dann befand er wohl, dass es besser war mit mir zu gehen, als alleine im Wald zurückzubleiben – damit drohte ich ihm nämlich.

Da ich dieses Mal nicht besonders auf meine Umgebung achten musste, kamen wir viel zügiger voran. Ich nahm nicht den Weg, den wir gekommen waren, weil wir einen Bogen gelaufen waren. Der direkte Weg ging viel schneller.

„Darum willst du auch Sawyer helfen, nicht wahr?“, fragte Killian plötzlich. Er war die letzten Minuten sehr still und nachdenklich gewesen und eigentlich hatte mir das gefallen.

„Was meinst du?“

„Weil er dir geholfen hat. Mit deiner Mutter.“  Er warf mir einen fragenden Blick zu. „Du willst eine Schuld begleichen.“

Das beschäftigte ihn die ganze Zeit? Dass Sawyer mir geholfen hatte? Bei allem was ich ihm gesagt hatte, klammerte er sich an dieses kleine Detail? Das war mir einfach unbegreiflich. „Killian, ich will im Moment wirklich überhaupt nicht mit dir sprechen, also lass mich einfach in Ruhe.“ Sonst könnte ich noch auf die Idee kommen, ihn einfach im Wald auszusetzen.

Von da an war endlich Ruhe. Der ganze Rückweg verlief schweigend. Mir wurde langsam bewusst, dass es ein Fehler gewesen war, ihn nicht bei seinen Leuten zurückgelassen zu haben.

Natürlich war es gut möglich, dass mir diese Gedanken jetzt nur kamen, weil ich sauer auf ihn war, denn trotz allem würde er mir fehlen, wenn er plötzlich nicht mehr da wäre. Wobei ich weniger sauer auf ihn, als vielmehr auf mich selbst war, wenn ich ehrlich mit mir war. Mit seinem Gerede hatte er mich dazu gezwungen, mich mit Dingen zu beschäftigen, die ich eigentlich nur vergessen wollte und dass ich sie nicht einfach hinter mir lassen konnte, machte mich wütend.

Es war nicht gut, die Dinge so in sich hineinzufressen, das wusste ich. Nur weil ich immer alles mit mir allein ausmache musste, war ich vorhin so hochgegangen. Aber war es deswegen wirklich falsch gewesen, ihm das alles vor den Latz zu knallen? Es war schließlich die Wahrheit gewesen. Außerdem hätte er sich doch ausrechnen können was geschah, wenn er Nikita zum Thema machte. Und dass ich jetzt schon wieder darüber nachdachte, ließ den Ärger erneut in mir aufsteigen.

Die ganze Zeit hatte ich das alles so gut verdrängt, aber jetzt war die Kiste in meinem Kopf einen spaltbreit offen und ich bekam sie einfach nicht mehr zu.

Als wir eine Stunde später endlich die abgebrannte Siedlung erreichten, war meine Laune an einem neuen Tiefpunkt. Ich war nicht unbedingt sauer, ich war … ich hatte keine Ahnung was ich war. Ich wusste nur, ich war nicht glücklich.

„Kismet ist wieder da!“, rief ein kleines Stimmchen. Dann sprang Salia aus dem hohen Gras neben dem Bunker und verschwand darin.

Hatte sie da auf der Lauer gelegen?

Ich band Trotzkopf am Balken des Brunnens fest und ging in die Scheune, um nach etwas zu suchen, mit dem ich ihn abtrocknen konnte. In der Ecke fand ich ein paar alte Decken. Die waren zwar ziemlich dreckig, aber nachdem ich sie ordentlich ausgeschüttelt hatte, waren sie meinem Zweck dienlich.

Als ich die Scheune verließ und zurück zu Trotzkopf ging, kamen Sawyer und Wolf gerade aus dem Bunker. Salia war bereits bei dem Dromedar und … schimpfte ihn aus? Verdient hatte er es jedenfalls.

„Oh, schön dass ihr euch auch endlich mal blicken lasst“, begrüßte Sawyer uns schlecht gelaunt.

Ganz schlechter Zeitpunkt, um mir so zu kommen. „Ich habe wenigstens etwas getan und nicht nur dumm auf meinem Hintern herumgesessen“, knurrte ich ihn an. Ein giftiger Blick flog auch noch in seine Richtung, dann ging ich zu Trotzkopf hinüber.

Leider schien Sawyer das als Anlass zu sehen, noch ein bisschen auf meinen Nerven herumzutanzen. „Oh, da hat wohl jemand einen üblen Anfall von PMS. Was ist los, Ärger im Paradies?“

Konnte er nicht einfach seine Klappe halten? „Hast du nichts zu tun?“ Ich warf eine der Decken über Trotzkopf und begann ihn mit der anderen abzutrocknen.

„Nein, eigentlich nicht.“ Er stellte sich zu uns, schaute dann von mir zu Killian und begann hämisch zu grinsen. „Was hast du angestellt, um sie so sauer zu machen?“

Salia beobachtete mein Tun. Dann nickte sie, als hätte sie verstanden, kam näher und begann Trotzkopf mit ihrem Wölkchen trockenzureiben.

Killian bedachte Sawyer mit einem bösen Blick, der einem wohl das Fürchten lehren sollte. „Ich habe nichts getan.“

Als Wolf sah, was Salia da tat, zog er ein Tuch aus seiner Hosentasche, gab es Salia und nahm Wölkchen an sich. Sofort stürzte Salia sich wieder voller Begeisterung auf die Arbeit.

Sawyers grinsen wurde breiter. „Also hast du einfach nur scheiße gelabert?“, folgerte er.

Wohl ehr mitten ins Fettnäpfchen getreten.

Wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte Killian Sawyer wohl mit einem Blitzschlag niedergestreckt. So verlegte er sich einfach darauf, ihm im Vorbeigehen, mit der Schulter anzurempeln. „Kümmere dich um deinen eigenen Kram.“

Anstatt sich angegriffen zu fühlen, lachte Sawyer leise. „Da habe ich wohl ins Schwarze getroffen.“

Musste er dabei so Schadenfroh klingen? „Tut etwas Sinnvolles und beladet schon mal den Karren. Sobald wir hier fertig sind, können wir los“, mischte ich mich ein. Dieser Tag hatte gerade erst begonnen und ich hatte jetzt schon genug davon.

 

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Kapitel 18

 

Ich legte den Kopf in den Nacken und schickte einen bösen Blick zu dem verregneten Himmel hinauf. Nicht dass ich durch die dichten Baumkronen viel sehen konnte, aber von dem andauernden Nieselregen war ich einfach nur noch genervt. Seit zwei Tagen war er unser ständiger Begleiter und langsam hatte ich wirklich die Nase voll davon. Die ganze Zeit war man nass, es war kalt und der Wind pfiff einem unter die Kleidung. Am liebsten hätte ich mich irgendwo verkrochen und diese unangenehmen Tage im Trockenen am Lagerfeuer ausgeharrt, aber davon abgesehen, dass wir nicht ewig Zeit hatten um zum Herbstmarkt zu kommen, wollten fünf leere Mägen auch an einem verregneten Tag ernährt werden.

Wenigstens hatten wir noch keine Minustemperaturen. Man musste eben auch die kleinen Dinge des Alltags zu würdigen wissen.

Seit unserem Aufbruch aus Sawyers alter Siedlung war eine Woche vergangen. Wir hatten also ungefähr die Hälfte des Weges zum Herbstmarkt hinter uns gebracht. Es war eine anstrengende Woche gewesen. Das Reisen bei so einem Wetter war nie einfach. Dazu kamen noch die Verletzungen von dem Nilpferdangriff. Die waren mittlerweile zwar fast verheilt, aber wenn ich mich falsch bewegte, tat es immer noch ein bisschen weh.

Außerdem war seit dem Morgen, als Killian und ich nach Trotzkopf gesucht hatten, die Stimmung irgendwie … anders. Er war seitdem immer sehr vorsichtig mit mir und schien ständig auf der Hut zu sein, ja nichts Falsches zu sagen, oder zu tun. Gestern hatte ich ihn sogar angeschnauzt, dass er nicht immer so nett sein sollte und mich anschließend einfach nur schlecht gefühlt. Vermutlich sollte ich mich einmal mit ihm aussprechen, denn wenn man es genau nahm, hatte er ja nichts falsch gemacht. Ich war es gewesen die sich falsch verhalten hatte. Ich hatte nur ein wenig gebraucht, um mir das selber einzugestehen. Damit lag es jetzt an mir, die Sache zwischen uns wieder zu bereinigen.

Neben mir ließ Sawyer seinen Blick über die Hänge der Gebirgskette gleiten. „Das ist hier wie ausgestorben. Ja selbst die Toten haben diese Gegend verlassen.“

Ja, weil selbst die Tiere keine Lust auf dieses Dreckswetter hatten. „Wir müssen einfach weitersuchen. Irgendwas werden wir schon finden.“ Oder besser gesagt, mussten wir finden. Unsere Vorräte waren so gut wie aufgebraucht und keiner von uns hatte Lust, wieder eine Käferdiät zu machen, bei der es als Beilage nur Unkraut und Rinde gab.

Seit fast zwei Tagen führte unsere Reise uns an den Ausläufern des Erzgebirges entlang. Das Gelände war teilweise steinig und unwegsam und auch für die Jagd, konnte ich mir einen besseren Landstrich vorstellen, aber wir mussten nun einmal in diese Richtung.

Sawyer wischte sich einmal mit dem Ärmel über das Gesicht, was nicht viel brachte, da der Niesel einfach nicht nachlassen wollte. „Dann sag mal an, Meisterjägerin, wie geht es weiter?“

Gute Frage. „Lass uns erstmal aus dem Wäldchen raus. Vielleicht sehen wir im offenen Gelände mehr.“

„Ich folge dir überall hin, Baby.“

Warum ließ er das so anzüglich klingen? Ich ersparte mir die Frage und machte mich auf den Weg, Sawyer blieb an meiner Seite.

Es war erstaunlich wie normal er sein konnte, wenn die anderen nicht in der Nähe waren. Naja, für seine Verhältnisse normal. Trotzdem konnte ich es noch immer nicht richtig begreifen, dass ich ihn statt Wolf mit zur Jagd genommen hatte. Wolf war der viel bessere Jäger. Und auch viel stiller. Sawyer hatte in den letzten drei Wochen zwar immer wieder fleißig mit Pfeil und Bogen geübt, aber er hatte noch einen langen Weg vor sich, um richtig gut zu werden.

Trotzdem hatte er heute im Morgengrauen auf der Matte gestanden und verkündet, er wolle mich zur Jagd begleiten, um seine Fähigkeiten zu verbessern. Und ich hatte aus irgendeinem Grund zugestimmt – vermutlich, weil ich noch halb geschlafen hatte und gar nicht so wirklich realisiert hatte, was um mich herum los war. So hatten wir die anderen in unserem trockenen Unterschlupf zurückgelassen und waren losgezogen. Und nun waren wir hier und versuchten die nächste Mahlzeit aufzuspüren.

Vielleicht sollte ich mir angewöhnen abends ein paar Fallen aufzustellen. Mit ein bisschen Glück, würde morgens dann immer eine kleine Mahlzeit auf uns warten.

„Die sind essbar.“

Ich war so in meinen Gedanken, dass ich erst nach zwei weiteren Schritten realisierte, dass Sawyer etwas gesagt hatte. „Nochmal, ich habe dir nicht zugehört.“

Seine Mundwinkel kletterten ein wenig hör. Eigentlich sollte ich mich langsam daran gewöhnt haben, wie er mit dieser Kleidung und dem Bogen auf dem Rücken aussah. Aber ich hatte ihn als Stadtmenschen kennengelernt und so wirkte sein Outfit als freier Mensch, noch immer ein wenig wie ein Kostüm. „Baby, es ist schon beinahe tragisch, wie sehr du um meine Aufmerksamkeit buhlst.“

Ohje. „Kommt da jetzt noch etwas Sinnvolles, oder war das alles, was du zu sagen hast?“

Er zwinkerte mir zu und zeigte dann auf die Wurzeln des Baumes neben sich. „Pilze. Wenn ich mich nicht irre, dann sind die essbar.“ Er richtete den Blick nachdenklich auf besagte Pilze. „Es ist schon ziemlich verstörend, wie sehr mein Wissen in Eden eingerostet ist.“

„Wenn man es nicht braucht, geht Wissen sehr schnell verloren.“ Ich ging zu ihm und hockte mich vor seinen Fund. „Das ist Eierschwammerl, oder auch Pfifferlinge. Ja, du hast recht, die sind essbar.“ Noch während ich das sagte, begann ich sie auszureißen und in meinen Beutel zu stopfen. Ein Korb wäre besser, aber sowas hatte ich leider nicht dabei.

„Baby, bin ich gut, oder bin ich gut?“

Wenn er nicht bald damit aufhörte, mich ständig Baby zu nennen, würde ich ihm diese Pfifferlinge in den Hintern schieben. „Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn.“

„Halbblind.“

Das war dann wohl eine Anspielung auf sein Auge.

Ich ignorierte es und kroch um den Baum herum, um auch keinen Pfifferling zu übersehen. Ich wühlte sogar ein wenig im Laub herum. Als ich dann keinen mehr finden konnte, ging es weiter.

Nur wenige Fuß entfernt entdeckten wir weitere Pilze. Und ein paar essbare Pflanzen. Als wir unter den Bäumen hervorkamen, war mein Beutel gutgefüllt. Es wäre zwar kein Festmahl, aber auch eine Notration konnte hilfreich sein.

Kaum dass die Bäume hinter uns zurückblieben, wurde das Gelände ein wenig steiler. Ein paar Nadelbäume standen an den Hängen und am Fuß der Steigung, breitete sich eine große Weidenlandschaft aus, auf der zum Norden hin, mehrere Ruinen standen. Oder besser gesagt, Reste von Ruinen. Diese Gegend war vermutlich schon vor der Wende ziemlich verlassen gewesen. Viel Natur und kaum Bauwerke von Menschen.

Wir bewegten uns durch das hohe Gras und sondierten dabei die Umgebung. Sawyer war sehr aufmerksam, aber ich spürte auch seine Ungeduld. Ziellos herumzulaufen und den Boden nach Spuren abzusuchen, gehörte wohl nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen.

„Vermisst du es?“, fragte ich ihn. „Den Wohlstand aus Eden?“ Dort war das Leben zumindest einfacher gewesen.

Er nahm mich scharf ins Auge. „Und du?“

Ich schnaubte abfällig, was wohl Antwort genug war. „Aber ich bin dort auch nicht aufgewachsen, ich kenne nichts anderes als das hier.“

„Und ich wünschte, ich hätte nie etwas anderes kennengelernt.“

Also war ihm das hier, trotz allen Widrigkeiten, immer noch lieber als ein verwöhntes Leben in Eden. Ich konnte ihn verstehen.

Eine kleine Bewegung im Augenwinkel veranlasste mich dazu den Kopf zu drehen und da sah ich sie. Ein Dutzend fetter Wildhühner standen gackernd und pickend im Gras, um noch ein wenig fetter zu werden.

Sofort schnellte mein Arm hoch, um Sawyer am Weitergehen zu hindern. Dann hob ich einen Finger an die Lippen, damit er still blieb. Auf seinen fragenden Blick hin, zeigte ich auf die Vögel und streckte die Hand nach dem Bogen aus. Das würde ein Festmahl werden. Nur wollte Sawyer den Bogen nicht hergeben. Er hielt ihn nicht nur fest, er zeigte auch auf sich und dann auf die Hühner. Er wollte es versuchen.

Ob das so eine gute Idee war, wusste ich nicht, aber schließlich hatte er mitkommen wollen, um es zu lernen. Wie sonst konnte er es lernen, wenn er es nicht ausprobierte? Und solange er nicht aus Versehen mich erschoss, würde ich mit allem zurechtkommen. Also trat ich zur Seite und überließ ihm das Feld.

Ein Grinsen, das seine Überzeugung auf einen Sieg verkündete, trat auf sein Gesicht. Er zog einen Pfeil aus dem Köcher auf seinem Rücken, legte ihn geübt auf den Bogen und brachte sich in Position.

Also ich an seiner Stelle wäre ja ein wenig näher herangeschlichen, aber wer war ich schon, ihn zu korrigieren? Ich musste zuversichtlich sein, er würde das schon hinbekommen.

Er hob den Bogen und visierte sein Ziel an.

Die Hühner pikten munter weiter, ohne auch nur zu ahnen, in welcher Gefahr sie schwebten.

Wenn man ihm zuschaute, konnte man fast glauben, er wüsste was er da tat.

Sawyer atmete einmal ein und beim Ausatmen, ließ er den Pfeil von der Sehne schnellen.

Das Geschoss durchschnitt die Luft, zischte auf sein Ziel zu und … verfehlte es um eine Handbreit.

Die Hühner flatterten vor Schreck auf und verschwanden in alle Richtungen im hohen Gras. Zurück blieb nur ein einsamer Pfeil, der im Boden steckte.

Ich verlagerte mein Gewicht aufs andere Bein, während ich diesen Pfeil nachdenklich betrachtete. „Wenigstens machst du beim Schießen eine gute Figur.“

Uh, das war mal ein finsterer Blick.

„Was denn? Schau mich nicht so an, du hast den Boden erschossen, nicht ich.“

Frustriert machte Sawyer sich auf den Weg den Pfeil zu holen. „Früher konnte ich einer Ente ins Auge schießen, jetzt treffe ich nicht mal mehr ein Huhn mit einer riesigen Zielscheibe auf dem Rücken.“

Ja, sowas konnte schon entmutigend sein. „Vielleicht ist ja deine Wahrnehmung das Problem.“ Weit genug geflogen, war der Pfeil auf jeden Fall.

„Meine Wahrnehmung?“ Er steckte den Pfeil zurück zu den anderen in den Köcher.

„Dein blindes Auge“, spezifizierte ich und sondierte die Umgebung nach Nachzüglern. Nein, keine da, die Hühner hatten sich alle aus dem Staub gemacht. Aber mit ein bisschen Glück, konnte ich ihre Nester finden. Zwar waren Eier um diese Jahreszeit sehr unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen.

„Du meinst, weil ich auf dem linken Auge nichts sehen kann.“

„Wenn man nur noch mit einem Auge sieht, verändert sich die Perspektive.“ Das hatte ich zumindest mal gehört. Allerdings wusste ich nicht mehr wo.

„Nein, das ist nicht das Problem. Ich war auf diesem Auge schon immer blind.“

Er war blind zur Welt gekommen? „Ich dachte immer, dein blindes Auge hat etwas mit deinen Narben zu tun.“

Ein selbstgefälliges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „So, du denkst also an mich, ja? In was für Situationen denn so?“

Einen Moment bedachte ich ihn ausdruckslos. Dann ging ich in die Hocke und inspizierte die Spuren von den Hühnern. „Dann sag es mir eben nicht.“

Aufmerksam beobachtete er mich bei meiner Spurensuche. „Es stimmt, die Narben und das Auge hängen zusammen.“

„Hä?“ Das fasste meine Gedanken recht gut zusammen.

„Vielleicht sollte ich besser sagen, ich kann mich nicht mehr an ein Leben ohne diese Narben erinnern.“

Ah, jetzt verstand ich. „Du warst noch sehr klein, als du sie bekommen hast.“ Ich erhob mich und machte mich auf Richtung Norden, wo eine Reihe von Ruinen, zwischen vereinzelten Bäumen, in den Himmel ragten.

Sawyer schloss sich mir an. „Gerade mal zwei Monate alt“, bestätigte er meinen Verdacht. „Wir waren in der Scheune. Meine Mutter hat mich im Stroh abgelegt, während sie sich um das Vieh gekümmert hat. Laarni hat neben mir gesessen und gespielt.“

„Deine große Schwester.“

Er nickte. „Sie ist drei Jahre älter als ich. Irgendwann ist sie aufgestanden und hat sich die Harke genommen, die da herumstand. Sie hat damit herumgespielt. Dann ist sie ihr aus der Hand gefallen, mit den Zinken direkt auf mein Gesicht. In ihrer Panik hat sie versucht sie wegzureißen und es damit noch schlimmer gemacht. Darum sieht das jetzt so aus.“ Er tippte sich an die linke Gesichtshälfte.

Jetzt war ich doch überrascht. „Das war kein Tier gewesen?“ Ich hatte immer geglaubt, die Narben wären von Zähnen oder Klauen gerissen worden.

Ein Kopfschütteln. „Nein, das war meine Schwester in ihrer jugendlichen Unschuld gewesen.“

Eine Harke, ein einfaches Gartengerät hatte ihn so zugerichtet.

Sawyers Mundwinkel zuckten. „Du siehst enttäuscht aus. Hast du etwa geglaubt, ich sei dem finsteren Schlund eines hungrigen Krokodiles gerade noch so entkommen?“

„Etwas in der Art.“

„Ganz schön enttäuschend, was?“

„Schon ein bisschen.“

„Ich werde mir Mühe geben, die Geschichte um meine nächste Narbe spannender zu gestallten.“

„Ich verlasse mich darauf“, erwiderte ich mit einem Lächeln. Dann ging mir auf, was ich hier gerade tat. Schäkerte ich etwa wirklich mit Sawyer? Dem Sawyer? Das war … merkwürdig. Noch merkwürdiger war allerdings, wie leicht es mir fiel und wie sehr ich es genoss.

Mir wurde klar, dass ich heute zum ersten Mal mit Sawyer allein war, seit wir Eden verlassen hatten. Auch in der Stadt hatte es Momente gegeben, in denen wir unbeobachtet von anderen Menschen, Zeit allein miteinander verbracht hatten. In seinem Haus und als er mir Informationen über meine Mutter gegeben hatte. Und auch damals hatte ich mich in seiner Gegenwart … naja, nicht unbedingt wohlgefühlt, aber wohler als mit anderen Menschen. Ja sogar wohler als mit Killian. Bei Sawyer hatte ich nie Angst haben müssen, Sympathien für den Feind zu entwickeln, denn er war genauso wie ich. Und er war Sawyer. Ihn zu mögen war nicht leicht.

Als er bemerkte, wie ich ihn beobachtete, hob er eine Augenbraue. „Was ist?“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir das sagen möchte.“

„Warum?“ Er umrundete einen Steinhaufen, der aussah, als wäre er mal eine Treppe gewesen. Allerdings gab es dazu kein Gebäude mehr.

„Du könntest dich über mich lustig machen“, erklärte ich mit dem Blick auf den Boden. Der Nieselregen ließ endlich etwas nach, darum waren die Spuren von den Hühnern im aufgeschwemmten Boden sehr deutlich zu erkennen.

„Jetzt musst du es mir erst recht sagen“, verlangte er.

Ich folgte den Spuren. Sie führten in die Richtung einer Ruine, kaum mehr als ein paar verrotteter Grundmauern.

„Ach komm schon. Ich verspreche auch, mich zurückzuhalten.“ Er überlegte kurz. „Zumindest zeitweise.“

„Ich habe mur gerade darüber nachgedacht, dass du hin und wieder eine recht nette Gesellschaft sein kannst.“

Er schnaubte. „Diese Illusion solltest du ganz schnell wieder vergessen, du weißt doch, alles nur Eigennutz. Ich brauche dich, also halte ich dich bei der Stange.“

Wie nett. „Wenigstens bist du ehrlich.“

„Nur wenn es mir zugutekommt. Ich bin nicht wie unser edelmütiges Sonnenscheinchen.“ Als ich die Stirn runzelte, fügte er hinzu: „Killian.“

Ach so. Als Sonnenscheinchen würde ich ihn nicht bezeichnen, besonders nicht in den letzten Tagen.

Wir hatten die Überreste des Gebäudes erreicht. Ich konnte nicht sagen, was es einmal gewesen war, aber besonders groß konnte es nicht gewesen sein.

Zwischen den Trümmern fand ich weitere Spuren. Viele Spuren. Hier hielten die Hühner sich häufiger auf. Und da, in der Kuhle unter den Steinplatten, entdeckte ich ein Nest.

„Was hat er eigentlich angestellt, dass du so verstimmt bist?“

„Wer?“ Mit den Händen schob ich das Gestrüpp auseinander und bückte mich. Das Nest war leer.

„Ach komm schon, stell dich nicht dümmer als du bist.“ Auch Sawyer suchte in Buschwerk nach Nestern. Dabei untersuchte er alle Orte, wo kleine Krallen gescharrt hatten. „Du weißt genau von wem ich spreche, also spuck es schon aus. Was hat Killian zu dir gesagt?“

„Ich glaube nicht, dass dich das etwas angeht.“ Ein Stück weiter, mitten im Dickicht, entdeckte ich ein weiteres Nest. Auch das war leer.

„Tut es auch nicht, ich will es trotzdem wissen.“ Er richtete sich auf und schaute zu mir rüber. „Also los, sag schon.“

„Warum?“

„Du weichst der Frage aus.“

„Du auch.“

Er grinste und begab sich dann auf die andere Seite der Mauerreste. „Neugierde, Langeweile. Vielleicht brauche ich auch einfach neue Munition, um ihn ein wenig zu piesacken.“

Ja, piesacken tat er ihn wirklich gerne. Wenn man es genau nahm, tat er das mit allen– auch mit mir. Ich erinnerte mich an sehr viele Gelegenheiten. Aber sein Lieblingsopfer war eindeutig Killian. Wenn ich nur daran dachte, wie oft die beiden sich stritten. Oder an den Abend bei Marshalls Flugzeug. Ich wusste noch genau, wie Sawyer ihm etwas zugeflüstert hatte und Killian danach total schockiert und angewidert ausgesehen hatte. Ich wusste bis heute nicht warum, aber jetzt war ich neugierig.

Ich richtete mich auf und schaute mich nach Sawyer um. „Was hast du zu ihm gesagt?“

Der Blick der mich traf, sprach von reinem Unverständnis.

Ja, die Frage war ja auch sehr präzise gewesen. Vielleicht sollte ich mich daran erinnern, dass er meine Gedanken nicht lesen konnte. Und dann sollte ich dankbar dafür sein, dass er dazu nicht fähig war. „An dem Abend in meiner Mischpoche, als wir meine Rückkehr gefeiert haben, da hast du Killian etwas ins Ohr geflüstert. Was hast du zu ihm gesagt?“

Jetzt hatte er verstanden und ein schelmisches Glitzern trat in seine Augen. „Willst du das wirklich wissen?“

Hm, wenn er so fragte, war ich mir da nicht mehr so sicher. „Sonst würde ich ja wohl nicht fragen.“

Sein Lächeln wurde ein kleinen wenig boshaft. „Ich habe ihm gesagt, dass du niemals Unterwäsche trägst und dass er raten soll, woher ich das weiß.“

Aha. Und was war daran jetzt so schockierend? Viele Menschen trugen keine Unterwäsche. Na gut, in Eden war das wahrscheinlich nicht so, aber in der freien Welt, war das absolut nichts Besonderes. Und Sawyer wusste das, weil wir … nein, daran würde ich jetzt nicht denken. Ich sollte mir besser dieses Nest dahinten unter dem Steinhaufen ansehen.

„Jetzt bist du dran.“

„Womit?“

„Wirklich, du stellst dich schon wieder dumm?“ Er wanderte ein Stück weiter und verschwand so aus meinem Blickfeld. „Du weißt ganz genau was ich meine.“

Natürlich wusste ich das, aber ich wollte nicht schon wieder darüber sprechen. Vielleicht würde er sich mit einer Kurzfassung zufriedengeben und mich dann mit diesem Thema in Ruhe lassen. „Er hat etwas über Nikita gesagt. Und über mich.“ Und dann war es etwas eskaliert. „Mehr werde ich dazu nicht sagen.“ Ich hockte mich hin, um das Nest zu inspizieren und war mehr als nur ein wenig Überrascht, was ich darin fand. Eier. Da lagen wirklich vier Eier drin. Ich hatte zwar darauf gehofft, aber nicht wirklich damit gerechnet.

„Der Kerl ist noch dümmer, als er aussieht.“ Sawyer tauchte auf der anderen Seite der Mauer wieder auf, den Blick weiter auf den Boden gerichtet.

„Warum?“ Ich band meinen Beutel vom Gürtel und verstaute die Eier vorsichtig darin. Zwischen den Pilzen und dem Grünzeug, waren sie gut gepolstert, bis wir wieder bei den anderen waren.

„Er hat mitbekommen was zwischen dir und deiner Schwester passiert ist und dann reitet er noch darauf rum?“ Sawyer schüttelte den Kopf, als könnte er es nicht glauben. „Wer dich nur ein bisschen kennt, dem ist klar, dass du im Moment nicht darüber sprechen willst.“

Das Stimmte, aber es erstaunte mich, dass er das wusste.

„Der Idiot sollte wirklich lernen …“ Mitten im Satz verstummte er. Und als dann nichts mehr kam, schaute ich mich nach ihm um. Es war einfach ungewohnt, dass Sawyer eine Schmähung gegen Killian nicht zu Ende brachte.

Er stand immer noch neben der Mauer, den Blick aufmerksam in die Ferne gerichtet.

„Was ist los?“

„Ich glaube, da hat sich etwas bewegte.“ Er hob den Arm und zeigte hinüber zu einer anderen Ruine. „Da, schon wieder.“

Bewegung war gut, Bewegung bedeutete Beute. Außer es waren Tracker, dann war eine Bewegung etwas sehr sehr Schlechtes.

Jetzt hör auf, dir schon wieder etwas einzureden. Geh einfach und schau nach.

Wachsam näherte ich mich Sawyer und sobald ich bei ihm stand, folgte ich seinem Blick. Zuerst sah ich nichts, aber dann bemerkte auch ich die Bewegung. Da, halb verborgen von der Ruine. Was war das?

„Hast du den Feldstecher mitgenommen?“

Hatte ich, aber auch wenn er mir auffordernd seine Hand hinhielt, setzte ich ihn an mein Auge. Ich musste ein wenig suchen, aber dann hatte ich mein Ziel gefunden. Es war ein Vogel, aber keine von den fetten Hennen. Dieser Vogel hatte einen langen Hals und sehr lange und kräftige Beine zum Laufen. Kopf und Hals waren nackt, das Federkleid war schwarz mit weißen Spitzen an den Flügeln. Allerdings würde dieser Vogel niemals vom Boden abheben, dafür waren die Flügel zu klein und der Vogel zu groß. Er maß bestimmt acht Fuß in die Höhe.

„Das ist ein Strauß“, erklärte ich und gab den Feldstecher an Sawyer weiter. Das war seltsam. Strauße lebten normalerweise viel weiter im Süden.

Er hielt sich den Feldstecher ans Auge. „Er schein allein zu sein.“

Auch das war merkwürdig. Normalerweise traf man diese Vögel in Gruppen an. „Vielleicht wurde er von seiner Herde getrennt und ist dann vom Weg abgekommen.“ Das würde zumindest erklären, wie er in dieser Gegend gelandet war.

„Das wäre mal eine ordentliche Mahlzeit“, bemerkte Sawyer und gab mir den Feldstecher zurück.

Das wäre sie auf jeden Fall. So ein Strauß hatte viel Fleisch, aber es war nicht ganz ungefährlich sie zu jagen. Wenn einen der Tritt von so einem Strauß traf, konnte er Menschen schon mal die Knochen brechen. Und mit ihren Krallen konnten sie ihrem Gegner die Innereien herausreißen. Außerdem waren diese Vögel verdammt schnell. Wenn er also vor uns davonlief, würden wir nicht viel dagegen unternehmen können.

„Versuchen wir es?“

„Wir werden heute wie Könige zu Abend essen.“

Er grinste. „Das wollte ich hören.“

Ich nahm meine Bola von meinem Gürtel und wog ihr vertrautes Gewicht in meinen Händen. Wenn ich damit richtig traf, würde ich ihm die Beine verschnüren. Dann würde jeder Versuch abzuhauen damit enden, dass er im Dreck landete.

Als ich losgehen wollte, legte Sawyer mir eine Hand auf die Schulter und hielt mich damit auf. Ich schaute erst etwas befremdet auf die Hand und dann zu ihm. „Was ist?“

„Ich will es versuchen.“

Ich zögerte. Sein letzter Versuch hatte nicht sehr erfolgreich geendet und von diesem Vogel konnten wir gut ein paar Tage leben. Wenn er es versemmelte, würde es heute Abend nur ein Pilzomelett geben.

„Ich kriege das hin“, versicherte er mir.

Ich wusste, es war eine dumme Idee, versuchte meine Zweifel aber mit einem tiefen Seufzer zu vertreiben und reichte ihm die Bola. „Fünf leere Mägen“, sagte ich, um ihm einen Anreiz zu geben. „Einer davon gehört Salia.“

Er schaute auf die Bola, schüttelte dann aber den Kopf und zog sich einen Pfeil aus dem Köcher. „Mit den Dingern kann ich nicht umgehen. Ich mach das so.“

Meine Zweifel stiegen.

„Wie wäre es mit ein wenig Zuversicht. Das Ziel ist riesig, das kann ich ja wohl nicht verfehlen.“

Sollte man meinen. Aber ein Baum war auch nicht gerade ein kleines Ziel und das hatte er schon oft verfehlt. Und ein Baum bewegte sich im Gegensatz zu einem Strauß nicht. „Ich stehe voll und ganz hinter dir.“ Auch damit er mich nicht treffen konnte.

Ob er mir nun glaubte, oder nicht, er nickte, duckte sich und machte sich auf den Weg. Ich tat es ihm gleich und folgte ihm. Dabei behielt ich die Bola in der Hand – einfach sicherheitshalber.

Der Nieselregen wurde wieder ein wenig stärker, was gar nicht so schlecht war. Das Prasseln übertönte alle Geräusche in der Gegend – auch die, die von uns kamen.

Da zwischen hier und unserer Beute, immer wieder Ruinen und Bäume standen, war es nicht sehr schwer, unbemerkt von einer Deckung zur nächsten zu huschen. Wir mussten nur aufpassen wohin wir traten, was mir besser gelang als ihm. Zwei Mal trat er auf Äste und ein Mal brachte er mit seinem Fuß einen kleinen Stein ins Rollen.

Liebend gern, hätte ich ihm eine Watsche verpasst, damit er besser aufpasste, aber das wäre etwas zu auffällig gewesen. Und zu seinem Glück war der Vogel auch nicht besonders aufmerksam.

Als wir in ungefähr hundert Fuß Entfernung geduckt hinter einem Strauch hockten, legte Sawyer seinen Pfeil auf den Bogen und machte sich fertig zum Schießen. Aber ich sah jetzt schon, dass der Winkel nicht stimmte. Der Vogel stand hinter der Steinmauer einer Ruine. Wir sahen zwar den Kopf auf dem langen Hals und einen Teil vom Rücken, aber so wäre ein tödlicher Treffer sehr schwierig. Selbst ein nicht tödlicher Treffer war kaum machbar. Deswegen tippte ich Sawyer auf die Schulter und sobald er mich ansah, schüttelte ich den Kopf. Dann deutete ich auf eine einzelne Mauer links von uns. Auf dem Weg dorthin gab es zwar kaum Deckung, aber von dort hätte er ein viel besseres Schussfeld.

Sawyer sah sich die Sache einen Moment an, schlich dann um mich herum und nahm in einem weiten Bogen Kurs auf die Mauer.

Ich folgte ihm leise und behielt den Vogel dabei ganz genau im Auge. Er stand einfach nur da, die Augen halb geschlossen, als hoffte er, der Regen würde bald vorbei gehen. Da er aber gerade noch ein wenig stärker wurde, konnte er darauf wohl lange warten.

Langsam und vorsichtig nährten wir uns dem kleinen Mauerstück. Kaum das wir es erreicht hatten, gingen wir dahinter in Deckung. Nun begann mich das Jagdfieber zu packen. Ich kannte dieses Gefühl bereits. Das Adrenalin, das durch die Adern pumpte und einen wacher und aufmerksamer machte. Es war wie ein Rausch, bei dem das Herz schneller schlug. Wenn wir es wirklich schafften diesen Vogel zu erlegen, würden wir genug Essen haben, bis wir den Herbstmarkt erreichten – naja, zumindest, wenn ich es haltbar bekam.

Vorsichtig spähte ich über die Mauer. Wir waren jetzt noch gut dreißig Fuß von unserer Beute entfernt. Der Vogel hatte sich kein Stück bewegt. Vermutlich fand er dieses Wetter genauso ätzend wie wir.

Sawyer warf mir einen Blick zu und erst als ich nickte, brachte er sich in Position. Er kniete sich auf ein Bein hinter der Mauer und hielt den Bogen so, dass er knapp darüber hinwegschießen würde.

„Du schaffst das“, flüsterte ich ihm zu und hoffte, dass ein wenig Zuspruch ihn bestärken würde. „Du wirst diesen Vogel erlegen.“

Der Bogen spannte sich.

Es war, als würde ich selber auf unsere Beute zielen, so schnell schlug mein Herz.

Sawyer ließ sich Zeit. Das war gut. Nur der Geduldige wurde belohnt. Das hatte Marshall mir beigebracht. Disziplin, Zeit und Geduld. Die wichtigsten Pfeiler bei der Jagd.

Sawyers Blick war komplett auf den Vogel konzentriert. Er atmete noch einmal ein und dann war es so weit: Der Pfeil wurde von der Sehne gelassen. Er sauste durch die Luft, überwand die dreißig Fuß in Bruchteilen von Sekunden und bohrte sich dann seitlich in die Brust des Vogels.

Der Vogel schrie vor Schreck und Schmerz, wirbelte herum und rannte los – genau auf uns zu.

Hecktisch zog Sawyer noch einen Pfeil heraus, doch bevor er es schaffte, ihn auf die Sehne zu legen, zischte der Strauß bereits an uns vorbei. Ich wollte noch die Bola werfen, aber der Vogel war so schnell, dass ich gar nicht die Chance dazu bekam.

„Verdammt!“, fluchte Sawyer, sprang auf die Beine und rannte dem Vogel hinterher.

Mist, Mist, Mist. Ich stieß mich vom Boden ab und nahm die Verfolgung auf. Der Schuss war nicht tödlich gewesen, aber der Strauß war verletzt. Das würde ihn bremsen und wenn wir großes Glück hatten, geriet er vielleicht ins Stolpern und schlug der Länge nach hin. Aber erstmal hieß es rennen und zwar schnell.

Im Zickzackkurs, suchte unsere Beute sich ihren Weg zwischen den Resten der Mauern.

Sawyer blieb zwei Mal stehen und versuchte ihn wieder ins Visier zu nehmen, aber der Vogel bewegte sich zu schnell und so musste er immer wieder abbrechen und weiterrennen.

Ich flog praktisch. Meine Füße berührten kaum den Boden und die Hitze der Jagd, gab mir noch zusätzlichen Antrieb. Trotzdem wurde die Entfernung zu unserer Beute immer größer. Verflucht, lange würden wir das nicht durchhalten.

Die Ruinen blieben hinter uns zurück und vor uns breitete sich freies Feld aus. Das war nicht gut. Nun gab es nichts mehr, was den Vogel ausbremsen konnte. Wenn mir nicht gleich etwas einfiel, würden wir unsere Beute verlieren.

Wir mussten ihn irgendwo in die Ecke treiben, nur so konnten wir seiner Flucht ein Ende bereiten. Aber hier gab es nur offene Wiese, ein paar Bäume und der Hang, der den Berg hinaufstieg. Aber in den Ruinen, da hatte es ein paar Ecken gegeben. Wenn wir ihn nur überholen könnten, wäre es ein leichtes, ihn zurück in die Ruinen zu treiben. Wenn meine Beine doppelt so lang wären, würde mir das vielleicht gelingen, aber so? Aussichtlos. Aber wir konnten etwas anderes probieren.

„Sawyer!“, rief ich beim Rennen. Er war nur wenige Fuß vor mir. „Schieß neben ihn, damit er wendet! Versuch ihn zurück in die Ruinen zu treiben!“

Er schien sofort zu verstehen und hielt so abrupt, dass ich fast in ihn hineingelaufen wäre. Der Pfeil landete auf dem Bogen, dann hob er ihn und zielte.

Ich machte eine scharfe Kurve nach rechts. So konnte ich den Strauß aufhalten, sollte er versuchen, in diese Richtung zu verschwinden.

Mein Atem wurde immer schwerer, meine Lungen arbeiteten auf Hochbetrieb, aber ich wurde nicht langsamer. Ich legte sogar noch einen Zahn zu. Gleichzeitig ging mein Blick zu dem Vogel. Nicht zu stolpern und mir beim Sturz alle Zähne auszuschlagen, war eine Meisterleistung.

Durch den Regen sah ich nicht, wie der Pfeil flog, doch ich sah, wie der Vogel erschrak und die Richtung wechselte und auch, wie Sawyer wieder losrannte.

Genau wie ich gehofft hatte, war der Vogel nach rechts gelaufen und rannte nun genau auf mich zu. Ich hätte gerne einen Versuch gestartet die Bola zu werfen, aber der Strauß hielt dafür nicht lange genug still. Bei meinem Glück, würde die Bola irgendwo ins hohe Gras fliegen und dann müsste ich sie erstmal suchen. Darum breitete ich die Arme aus, um mich so groß wie möglich zu machen.

Der Vogel sah mich und versuchte umzukehren, aber da war Sawyer schon wieder hinter ihm. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als zurück in die Ruinen zu fliehen.

Das war unsere letzte Chance. Wenn es jetzt nicht klappte, dann würde uns die Puste ausgehen. Ich pfiff jetzt schon aus dem letzten Loch und Sawyer war in der Zwischenzeit auch deutlich langsamer geworden.

Wie erhofft rannte der Strauß mitten in die Ruinen hinein. Er begann wieder seinen Zickzackkurs und wurde dadurch deutlich langsamer. Ich schaffte es ihn links zu überholen, sodass er wieder nach rechts rannte, mitten hinein in eine Ruine, bei der noch drei von vier Seiten standen.

Als er merkte, dass er in der Falle saß und wir ihm noch immer auf den Fersen waren, wirbelte der Strauß herum, machte sich groß und breitete die Flügel in einer Drohgebärde aus. Dann gab er einen Laut von sich, den ich noch nie von einem Vogel gehört hatte. Es war eine Mischung aus einem Fauchen und einem Knurren. Bis jetzt hatte ich gar nicht gewusst, dass Vögel sowas konnten.

Bevor er uns wieder entwischen konnte, hob ich die Bola, doch kam gar nicht dazu sie zu werfen, denn Sawyer drängte sich mit einem „Ich mach das!“, an mir vorbei. Gleichzeitig hob er einen weiteren Pfeil und legte ihn auf den Bogen.

Bei Gaias glühendem Zorn, was sollte das denn? Musste er ihn erlegen, um sein Ego zu pflegen?

In dem Moment stürzte der Vogel nach vorne. Ich schrie noch „Pass auf!“, aber da war es schon zu spät. Der Pfeil flog an dem Strauß vorbei und unsere Beute ging zum Angriff über.

Er plusterte sich auf, fauchte und hieb mit seinen gefährlichen Klauen nach seinem Angreifer. Sawyer schaffte es nicht mehr auszuweichen. Er riss noch den Arm hoch, wurde aber getroffen und zu Boden geschleudert.

Ohne Zögern, warf ich die Bola. Sie verfing sich um seine Beine und als der Strauß versuchte, ein zweites Mal zu treten, riss er sich selber die Beine weg und krachte zu Boden. Sofort stürzte ich zu ihm und während er mit den Flügeln nach mir schlug und versuchte zurück auf die Beine zu kommen, zog ich mein Messer und schnitt ihm damit einmal quer über die Kehle.

Blut spritzte, aber der Vogel wehrte sich noch immer, darum schnitt und hackte ich weiter, solange bis der Kopf abfiel und der Strauß nur noch zuckte.

Keuchend und nach Luftschnappend, hockte ich neben ihm. Wir hatten es geschafft. Wir hatten es wirklich geschafft und ihn erlegt. Nachdem er abgehauen war, hätte ich nicht geglaubt, dass uns das noch gelang. Aber jetzt lag er hier und wir konnten uns zum Abendessen auf ein Festmahl freuen.

Ein Stöhnen machte mich darauf aufmerksam, dass ich hier ja noch nicht fertig war. Auch wenn meine Muskeln mich anschrien, einfach sitzen zu bleiben und meine Lunge mir zurief, dass sie gleich die Arbeit einstellen würde, wenn ich sie weiter belastete, schleppte ich mich rüber zu Sawyer und ließ mich neben ihm auf die Knie sinken. Die kleinen Wehwehchen, die noch vom Nilpferdangriff übrig waren, nahmen das zum Anlass, sich auch wieder zurück zu melden.

Sawyer saß auf dem Hintern und hatte den Arm an die Brust gedrückt. Das Hemd war nass und zerrissen und Blut sickerte aus einer schartigen Wunde. Der Bogen lag neben ihm.

Mist, das sah böse aus. „Zeig her“, forderte ich und auch wenn mein Ton harsch war, so waren meine Hände vorsichtig.

„Fast hätte ich ihn gehabt“, erklärte er mir, als ich den Ärmel mit meinem Messer aufschnitt und den Stoff dann vorsichtig zur Seite strich.

„Hmh“, machte ich nur und untersuchte vorsichtig die Verletzung. Ein tiefer Striemen quer über den Unterarm. „Du hast Glück, das ist nur eine Fleischwunde. Nerven und Muskeln scheinen nicht betroffen zu sein.“

Er lachte auf, verzog dann aber gleich wieder das Gesicht. „Also wenn sich so Glück anfühlt, dann kann ich darauf verzichten.“

„Sei froh, dass er dir nicht den Arm gebrochen hat.“ Ich schaute ihn böse an und weil ich schon mal dabei war, schlug ich ihm gleich auch noch gegen den Kopf.

„Aua! Was soll das?“

„Du hast dich dumm verhalten. Warum hast du mich nicht erst die Bola werfen lassen? Dann wäre das nicht passiert.“

„Selbst wenn es so ist, musst du nett zu mir sein, ich bin verletzt.“

„Ich muss gar nichts.“ Da der Ärmel nun eh schon kaputt war, schnitt ich ihn ganz herunter und wickelte ihn dann um die Wunde. Sawyer verzog zwar das Gesicht, gab dabei aber keinen Ton von sich. „Wenn wir zurück sind, werde ich das säubern und nähen.“

„Muss das sein?“

„Nein, wir können es auch so lassen und einfach darauf warten, dass dir der Arm abfault.“ Ich zog die Enden zusammen und befestigte sie mit einem Knoten.

„Dann nehme ich doch lieber die Nadel“, murrte er.

Hatte ich es mir doch gedacht. „Sieh es doch mal so: Du wirst eine Narbe haben, die eine aufregende Geschichte erzählt.“

„Irgendwas Gutes musste dabei ja herauskommen.“ Er schaute zum toten Strauß. „Naja, noch etwas Gutes.“

Etwas Gutes war das wirklich.

„Wie bekommen wir das Ding eigentlich zu den anderen?“

Das war eine ausgezeichnete Frage. Der Strauß wog weit mehr als hundert Kilo. Selbst wenn ich ihn filetierte, waren das bestimmt immer noch an die fünfzig Kilo Fleisch. Vorher allerdings sollten wir ihn in einem Baum hängen, damit er ausbluten konnte. Da würde jetzt noch einiges an Arbeit auf uns zukommen und wenn das erledigt war, gab es nur eines, was ich tun konnte: „Ich muss Trotzkopf holen.“

 

oOo

Kapitel 19

 

„Lass das“, sagte ich und schob Trotzkopfs Kopf zur Seite, als er nun schon zum dritten Mal damit gegen meine Schulter haute. Davon abgesehen, dass das wehtat, wurde ich auch nicht gerne durch die Gegend geschubst. Außerdem war es ziemlich hinderlich beim Laufen.

Wolf brummte leise und sobald er meine Aufmerksamkeit hatte, nickte er Richtung Trotzkopf und zog fragend die Augenbraue nach oben.

„Was mit ihm los ist?“

Wolf nickte.

Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, wer weiß schon was in dem Hirn von so einem müffelnden Esel vor sich geht.“

Als hätte er verstanden, dass ich ihn beleidigt hatte, blökte er und stieß mich ein weiteres Mal an.

Also gleich würde ich ihn eine runterhauen.

Es war Nachmittag, der Himmel war bewölkt aber trocken und solange wir in Bewegung blieben, war es auch nicht allzu kalt. Naja, zumindest wenn man eine Hose trug. Heute Morgen hatte ich mir zum ersten Mal seit dem letzten Frühjahr eine Hose übergezogen und mir gleich mehrere blöde Kommentare von Sawyer anhören dürfen. Allerdings waren die alle eher halbherzig gewesen, so als sei er nicht ganz bei der Sache. Das lag wohl daran, dass wir uns dem Herbstmarkt mit großen Schritten näherten. Wenn nichts dazwischenkam, würden wir ihn morgen erreichen.

Seine Gedanken mussten bei dem liegen, was uns erwartete. Mir zumindest würde es an seiner Stelle so gehen. Vor knapp zwei Wochen hatte er bereits geglaubt, seine Reise sei endlich zu Ende und er würde mit seiner Familie wiedervereint sein, nur um dann bitter enttäuscht zu werden. Der Besuch auf dem Markt war eine Möglichkeit, diese Enttäuschung wieder wettzumachen, aber nur, wenn wir Erfolg hatten.

Aber nicht nur seine Gedanken waren bei dem was uns erwartete, auch mich beschäftigte es aus mehreren Gründen. Zum einen würde sich mir erneut die Frage stellen, was ich tun sollte, wenn wir seine Familie fanden. Ich war noch immer nicht so weit mich einer neuen Gruppe anzuschließen, weswegen das Ganze wohl auf den alten Plan hinauslaufen würde. Außer natürlich wir scheiterten erneut.

Das war ein weiterer Punkt, der mir keine Ruhe ließ. Was würden wir tun, wenn unser Besuch auf dem Markt nicht das erhoffte Ergebnis erzielte? Klar, wir würden weitersuchen, keine Frage, aber wo? Das war etwas, dass wir erst entscheiden konnten, wenn wir wussten, was wir fanden. Oder eben auch nicht.

Auf jeden Fall hoffte ich etwas nicht zu finden. Oder doch. Keine Ahnung, ich war mir da ziemlich unsicher.

Bei meinem Abschied hatte Azra gesagt, wir würden uns vielleicht schon bald wiedersehen und zwar auf dem Herbstmarkt. Jetzt war ich mir aber gar nicht so sicher, ob ich sie wiedersehen wollte. Ich sehnte mich nach ihnen. Egal was passiert war, sie gehörten doch zu mir. Trotzdem tat es immer noch weh, dass sie mich verstoßen hatten, als sei ich plötzlich eine Aussätzige.

Das verursachte bei mir einen inneren Zwiespalt. Und ich wusste auch nicht wie ich mich verhalten sollte, wenn ich ihnen wirklich über den Weg lief. Wahrscheinlich wäre es für alle Beteiligten das Beste, wenn wir uns nicht begegneten. Auf jeden Fall wäre es weniger schmerzhaft.

Wieder brummte Wolf neben mir und machte dann mit dem Kopf eine Bewegung nach hinten.

Ich drehte den Kopf, um herauszufinden, was er wollte.

Salia saß dick eingemummelt auf dem Karren und spielte mit Wölkchen und den Spielfiguren, die Sawyer aus der Wand geholt hatte. Sie liebte diese kleinen Holzfiguren. Vielleicht weil sie kein anderes Spielzeug hatte, oder weil sie früher einmal ihrem Vater gehört hatten. Es musste auch langweilig sein, ständig auf dem Karren zu sitzen und nichts zu tun zu haben.

Neben dem Karren lief Sawyer. Den Angriff des Straußes hatte er gut überstanden. Nachdem ich den Vogel in einem Baum zum Ausbluten aufgehängt hatte, waren wir zu den anderen zurückgekehrt. Dort hatte ich erstmal seine Wunde versorgt, bevor ich mir Wolf und Trotzkopf geschnappt hatte und zu unserer Beute zurückgegangen war.

Gemeinsam hatten wir den Vogel zerlegt und ernährten uns nun seit fast einer Woche davon. Das restliche Fleisch würde ich morgen allerdings für ein paar haltbare Lebensmittel auf dem Herbstmarkt eintauschen. Wir hatten auch einen ganzen Beutel voller Federn mitgenommen. Große Federn waren als Schreibwerkzeug selten und ich hoffte, etwas Gutes dafür zu bekommen. Und wenn nicht, konnte ich sie immer noch als Füllmaterial für Kleidung und Decken benutzen.

Da auch mit Sawyer so weit alles in Ordnung war – wenn man von der Armschlinge einmal absah – ging ich davon aus, dass Wolf nicht auf ihn aufmerksam machen wollte, sondern auf Killian. Der lief nämlich ein ganzes Stück hinter dem Karren, den Blick auf den Boden gerichtet und schien tief in Gedanken versunken.

In den letzten Tagen hatte er sich mehr als sonst von der Gruppe distanziert. Vielleicht immer noch wegen unserer Auseinandersetzung? Belastete ihn das, oder war er einfach nur nachtragend? Das zweite konnte ich wohl ausschließen, wir sprachen hier immerhin von Killian. Es war wohl an der Zeit, sich mal ein wenig mit ihm zu unterhalten.

„Hier, übernimm du mal eine Weile die Führung.“ Ich drückte Wolf die Leine von Trotzkopf in die Hand und freute mich nur ein ganz kleinen Wenig darüber, dass der alte Sturkopf mich mal eine Weile nicht anrempeln konnte. Dann blieb ich einfach stehen und wartete, bis unsere kleine Karawane an mir vorbeigezogen war.

Sawyer hob im Vorbeigehen eine Augenbraue, verdrehte dann aber nur die Augen, als ihm klar wurde, dass ich auf Killian wartete. „Da brauch wohl einer eine dicke Umarmung“, meinte er nur spöttisch.

Da ich keine Lust hatte, darauf etwas zu erwidern, wartete ich schweigend, bis Killian auf meiner Höhe war. Er schien mich nicht mal zu bemerken, so sehr war er in seine Gedanken versunken.

Na gut, wir mussten das zwischen uns endlich bereinigen.

Ich gesellte mich an seine Seite und öffnete den Mund. Wie schon mehrmals in den letzten beiden Wochen, lagen mir die Worte der Entschuldigung auf den Lippen. Doch auch wenn es mich noch immer beschäftigte, sperrte sich etwas in mir dagegen, sie auszusprechen. Vielleicht weil ich nicht wirklich glaubte, etwas falsch gemacht zu haben. Ja, es war nicht richtig gewesen, ihm das alles so an den Kopf zu knallen, aber es war die Wahrheit gewesen und für die Wahrheit sollte man sich nicht entschuldigen müssen, damit es dem anderen wieder besser ging. Darum verließ nur ein schlichtes „Alles in Ordnung mit dir?“, meinen Mund.

Sichtlich aufgeschreckt hob Killian den Kopf. Man sah ihm seine Überraschung an, mich neben ihm zu finden, aber dann lächelte er. „Tut mir leid, ich war nur in Gedanken.“

Wofür entschuldigte er sich? „Du solltest trotzdem ein wenig auf den Weg aufpassen. Wäre Wolf nicht so aufmerksam, hätten wir dich unterwegs vielleicht verloren.“

Er schaute nach vorne zu dem großen Mann, der uns im Schatten einiger Bäume, durch die hügelige Landschaft führte. In der Ferne flog ein Schwarm Vögel über den Himmel. Dem Geschnatter nach, waren es wohl Gänse.

„Dann kann ich ja froh sein, dass wir ihn bei uns haben.“

„Hmh.“

Schweigen breitete sich zwischen uns aus. Wirklich? Wir waren nur noch zu diesen paar oberflächlichen Worten fähig? Das gefiel mir nicht.

Ich war immer noch der Auffassung, dass ich im Grunde nichts falsch gemacht hatte, aber diese Situation zwischen uns störte mich gewaltig. So schlimm war es nicht mal nach unserem Fast-Sex gewesen. Damals hatten wir noch reden können – auch wenn ich das nicht gewollt hatte – aber jetzt schienen wir beide Angst zu haben, den Mund zu öffnen, weil wir es nicht noch schlimmer machen wollten.

Das wurde langsam richtig lächerlich. Ich sollte etwas sagen. „Es sieht nicht so aus, als würde es heute noch regen.“

Wirklich? Ein Gespräch über das Wetter?

Ich konnte ihn ja auch fragen, ob er nicht Lust hatte, schnell im Gebüsch eine Nummer mit mir zu schieben. Danach wäre das Eis zwischen und sicher gebrochen.

„Hoffen wir es. Ich habe ehrlich gesagt keine Lust, schon wieder nass zu werden.“

Na er strengte sich aber auch nicht sonderlich an. Allerdings schien er nach etwas zu suchen, um das Gespräch am Laufen zu halten.

Mit wenig Erfolg.

Ein paar Minuten liefen wir schweigend nebeneinander her und ich dachte gerade, dass das ja auch nicht unbedingt schlecht war, als ihm doch noch etwas einfiel.

„Erinnerst du dich daran, dass ich keinen Zugriff auf deine DNA-Analyse hatte?“

Ähm … was? Ach ja, dieses DNA-Ding, bei meinem ersten Besucht in seiner Praxis. Er hatte an seinem Digital-Desk gesessen und irgendwelche Daten in meiner Akte abrufen wollen, aber keinen Zugriff bekommen, was ihn sehr verwundert hatte. Laut seiner Aussage, hätte er als mein Arzt, Zugang zu diesen Daten haben müssen. „Dunkel.“

Er nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. „Ich habe daraufhin selber noch einmal eine Probe ins Labor geschickt. Kurz darauf bat Agnes mich zu einer persönlichen Unterredung und untersagte mir weitere Nachforschungen in diese Richtung anzustellen.“

Agnes hatte nicht gewollt, dass Killian sich mit meiner DNA befasste? „Das klingt, als würde sie etwas verheimlichen.“ Etwas das mit mir zu tun hatte.

„Das habe ich mir auch gedacht.“

Ein paar Schritte liefen wir schweigend weiter.

„Was an meiner DNA ist so besonders, dass sie ein Geheimnis daraus machen muss?“

Killian zuckte ratlos mit den Schultern. „Ich weiß es nicht und ich habe auch keine Möglichkeit es herauszufinden. Deine Daten sind unter Verschluss und ohne Autorisierung komme ich da nicht ran.“ Davon abgesehen, dass wir nicht mehr in Eden waren und deswegen sowieso keine Möglichkeit hatten, auf irgendwelche Daten zuzugreifen.

Aber wo er es jetzt erwähnte, fiel mir noch etwas ein, dass seltsam gewesen war. Als ich in Eden kurz vor meiner ersten Fekundation gestanden hatte – der Zeitraum, in dem ich mich mit einem Adam für mehrere Tage in die Abgeschiedenheit zurückzog, damit er mir ein Baby machen konnte – war es Killian gewesen, der mir hatte helfen wollen, einen Partner auszuwählen.

An diesem Tag in seiner Praxis hatte er mir erklärt, dass ich eigentlich Zugriff auf jeden Adam in der Stadt haben müsste, da ich dort ja keine Verwandten hatte. Nur Verwandte durften sich nicht miteinander fortpflanzen. Das seltsame daran war, dass es einen Adam gab, den ich nicht auswählen konnte: Haydn Staab, den Bruder von Roxy.

Wenn man diese Sache mit dem DNA-Ding in einem Topf warf …

Ein schier unglaublicher Gedanke nahm in meinem Kopf Form an. Ich wusste, dass meine Mutter in Eden gewesen war und da sie fruchtbar war, hatte man sie sicher als Eva vorgesehen. Was wenn sie bereits ein Kind in Eden bekommen hatte, bevor ihr die Flucht gelungen war? Was wenn ich diesen Haydn nicht hatte wählen können, weil er mein Bruder war? Was wenn das der Grund war, warum Agnes meine DNA unter Verschluss hielt? Aus irgendwelchen Gründen, die ich mir nicht erklären konnte, wollte Agnes vielleicht nicht, dass meine Verbindung mit Eden bekannt wurde.

Aber das war doch völlig absurd. Warum sollte sie das wollen? Eine Erklärung dafür hatte ich nicht und ich war mir auch nicht sicher, ob ich es überhaupt wissen wollte. Trotzdem hörte ich mich fragen: „Killian?“

„Ja?“ Er musterte mich. „Was ist los? Du siehst auf einmal so blass aus.“

Wenn das was in meinem Kopf vor sich ging stimmte, hatte ich auch allen Grund dazu. „Weißt du, wie alt Haydn ist?“

„Haydn?“ Auf seiner Stirn nistete sich ein Stirnrunzeln ein. „Haydn Staab, der Adam?“

Ich nickte und hoffte – betete – dass ich unrecht hatte.

„Warum möchtest du das wissen?“

Weil ich wissen musste, ob es außer Nikita noch jemanden gab, mit dem ich verwandt war. „Sag es mir bitte einfach.“

Sein Blick wurde eindringlich. „Wenn ich mich nicht irre, dann müsste er jetzt dreiundzwanzig sein.“

Dreiundzwanzig. Wenn mein Bruder Akiim noch leben würde, wäre er jetzt vierundzwanzig, ein Jahr älter als Haydn. Akiim war in der freien Welt geboren worden, ein Jahr, bevor Haydn das Licht der Welt erblickt hatte. Meine Mutter konnte also nicht seine Mutter sein, weil sie zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr in Eden gewesen war. Sie hatte in der freien Welt gelebt, meinen Vater kennengelernt und mit ihm bereits eine Familie gegründet.

Die Erleichterung war nicht ganz so allumfassend, wie ich geglaubt hatte. War da wirklich ein kleiner Teil in mir, der sich gewünscht hätte, dass es da außer Nikita noch jemanden gegeben hätte? Diese Frage war einfach nur sinnlos, da beide, Nikita und Haydn, in Eden für mich unerreichbar waren.

Dennoch gab es da einen klitzekleinen Teil von mir, der sich danach sehnte, wieder Teil einer Familie zu sein. Ich wollte einfach irgendwo dazugehören. Allerdings hatte ich auch Angst davor. Nachdem was geschehen war, wusste ich nicht, ob ich jemals wieder jemanden vertrauen konnte. Und Vertrauen gehörte doch zu einer Familie dazu. Oder?

Killian wartete geduldig auf eine Erwiderung. Als da nichts kam, fragte er: „Warum wolltest du das wissen?“

„Ich habe nur etwas überlegt.“

„Und du möchtest mir nicht sagen was.“ Er ließ es klingen, als hätte ich ihn zurückgewiesen.

Verdammt noch mal, musste er alles auf sich münzen? Er wusste doch, dass ich nicht besonders mitteilsam war. Das war ich noch nie gewesen. „Das ist es nicht. Es war einfach ein dummer Gedanke und wenn ich es jetzt laut ausspreche, wird er vermutlich noch viel dümmer klingen.“

Mit einem leisen Seufzen, richtete er den Blick nach vorne. Die Bäume hatten sich zurückgezogen, nur noch oben auf der Hügelkuppe standen ein paar vereinzelte Wäldchen. „Ich möchte, dass du weißt, dass du mit allem zu mir kommen kannst. Ich weiß, in der Vergangenheit habe ich Fehler gemacht und dir nicht richtig zugehört, aber …“

„Du brauchst nicht …“

„Lass mich bitte ausreden.“

In Ordnung, dann würden wir uns jetzt doch noch damit auseinandersetzen. „Ich bin ganz Ohr.“

Zwei Schritte schwieg er, als müsste er sich erst klar darüber werden, wo er beginnen sollte. „Du hattest recht gehabt, ich habe dir nicht richtig zugehört und deine Worte als Unsinn abgetan. Und du hast jetzt alles recht der Welt, sauer auf mich zu sein.“

„Ich bin nicht sauer.“ Vielleicht ein wenig enttäuscht, aber nicht sauer.

Seine Lippen verzogen sich zu einem schmallippigen Lächeln. „Aber du vertraust dich mir nicht an, weil ich dir das Gefühl gegeben habe, ich würde dir nicht richtig zuhören und das tut mir leid. Es war nie meine Absicht gewesen, dich zu verletzen.“

Er hatte recht. Dass er diese Ereignisse als Unfug abgetan hatte, war verletzend gewesen. „Vergiss es einfach, es hat sich erledigt.“ Und darauf herumzureiten, würde eh nichts mehr bringen.

„Ich möchte es aber nicht vergessen, da es dich ja scheinbar immer noch beschäftigt.“

„Mich beschäftigen im Moment so viele Dinge, da ist das nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.“

„Und ich weiß nichts von diesen Dingen, die dich beschäftigen, weil du sie mir nicht erzählst.“ Ein schiefes Lächeln erschien auf seinen Lippen. Es wirkte nicht besonders glücklich. „Und daran bin ich auch noch selber schuld.“

Schon bevor er geendet hatte, schüttelte ich den Kopf. „Ich war schon immer ein sehr introvertierter Mensch, das hat gar nichts mit dir zu tun.“

„Ach wirklich nicht?“

„Nein.“

Er musterte mich wieder. „Dann … Freunde?“

Freunde? Ich schaute ihn an und wusste nicht recht, was ich sagen sollte. Einen Freund zu haben, wäre nichts Schlechtes. Jeder sollte einen Freund haben und Killian war eine gute Partie für diesen Posten. Aber einem Freund sollte man vertrauen und ich wusste nicht, ob ich das konnte.

Das hatte auch nichts mit ihm zutun – jedenfalls nicht so direkt – aber ihm zu vertrauen, würde bedeuten, sich ihm auch in allen Lebenslagen anvertrauen zu können. Das Problem lag also nicht bei ihm, sondern bei mir. Und daran, dass er irgendwie immer noch nach Eden gehörte.

Ich rang noch immer um eine Antwort, als von Salia plötzlich ein aufgeregtes „Guck mal Papa, da sind Menschen“, kam und mich damit vor einer Antwort rettete.

Wie ein Wesen, schauten wir uns alle zu Salia um und folgten mit den Augen ihrem ausgestreckten Finger. Der Karren hielt an und Killian und ich liefen weiter, bis wir mit ihm wieder auf gleicher Höhe waren.

Salia hatte recht, oben auf der Hügelkuppel, bewegten sich drei Menschen, in die gleiche Richtung, in die auch wir unterwegs waren. Wenn ich nach der Figur ging, würde ich behaupten, es waren alles Frauen, aber aus der Entfernung ließ sich das nur schwer sagen.

„Sie wollen sicher auch zum Herbstmarkt“, vermutete ich. Es waren die ersten Menschen, denen wir seit dem Abschied von Marschall begegneten, aber definitiv nicht die letzten. Ab jetzt würden wir immer wieder vereinzelt auf sie treffen. Diese drei Frauen waren sozusagen der Startschuss zur Zielgeraden. Morgen würden wir endlich den Markt erreichen und dann würde sich zeigen, ob wir eine Spur zu Sawyers Familie fanden, oder sich die ganze Aktion als Flopp herausstellte.

Für Sawyer hoffte ich, dass wir fanden, was wir suchten, auch wenn er selber nicht daran zu glauben schien. Er hatte es nicht ausgesprochen, aber in den letzten Tagen war er deutlich mürrischer und wortkarger geworden, so als bereitete er sich innerlich schon mal auf eine Enttäuschung vor.

Killian folgte den drei Frauen mit den Augen. „Sollen wir uns ihnen anschließen?“

„Nein.“ Wir würden schon früh genug mit anderen aufeinandertreffen, das musste ich nicht auch noch beschleunigen.

„Warum nicht?“

Da gab es so einige Gründe, aber gerade hatte ich keine Lust, die alle aufzuzählen. Darum sagte ich: „Wenn du dich den Damen anschließen möchtest, steht es dir frei zu gehen. Ich habe keine Lust, Trotzkopf und den Karren den Hügel hinauf zu zerren, um mich Leuten aufzudrängen, die mich vielleicht gar nicht in ihrer Nähe haben möchten.“ Und ehrlich gesagt, wollte ich im Moment auch nicht mit Fremden reisen. Sinnlose Plaudereien waren einfach nichts für mich.

„Trottel.“ Das hatte Sawyer sich wohl einfach nicht verkneifen können.

Killians Augen wurden eine Spur schmaler. „Wenigstens war ich nicht so dumm, mir von einem Vogel fast den Arm abreißen zu lassen, nur weil ich mein Ego pflegen musste.“

Jetzt ging das wieder los.

Da ich nicht zwischen den beiden stehen wollte, wenn sie sich wieder anfeindeten, ging ich nach vorne zu Wolf und übernahm wieder die Führleine von Trotzkopf. Dann schnalzte ich zwei Mal, damit wir weitergehen konnten. Ich musste aber noch mal kräftig an seinem Halfter ziehen, um ihm verständlich zu machen, wie ernst es mir war. Erst dann gab er sich geschlagen und wir konnten unseren Weg fortführen.

„Ich mache mich zumindest nützlich“, erklärte Sawyer ein wenig überheblich. „Was tust du, außer dich durchzufuttern?“

Die drei Damen auf der Hügelkuppe, verschwanden hinter ein paar Bäumen und waren nicht mehr zu sehen.

„Wäre ich nicht gewesen, wäre heute keiner von uns hier“, erwiderte Killian und klang dabei nur ein ganz kleinen wenig bissig. Heute hatte er wohl keine Lust, auf Sawyers Spielchen und wollte ihn in seine Schranken weisen. „Ich habe Kismet aus dem Lager der Tracker geholt. Nur deswegen ist sie jetzt hier und kann dir helfen, deine Familie zu finden.“

Dieser Punkt ging an Killian.

„Ohne dein tolles Eden, müsste ich gar nicht nach ihnen suchen, ich wäre die ganzen Jahre bei ihnen gewesen.“

Damit herrschte Gleichstand. Zeit die Gemüter ein wenig zu beruhigen. „Ja, ihr seid beide ganz tolle Kerle, was würden wir nur ohne euch machen?“

„Weniger streiten.“

Das kam von Salia und war so unerwartet, dass wir wieder alle zu ihr schauten. Naja, alle bis auf Wolf. Der warf den Kopf in den Nacken und begann zu lachen.

Auch in meinem Gesicht erschien ein Grinsen. Sawyer und Killian dagegen, warfen sich böse Blicke zu, als wäre das die Schuld des anderen.

Kopfschüttelnd suchte ich mir einen halbwegs ebenen Weg über die Wiese. Wir hatten schon die letzten Tage kaum noch Ruinen gesehen und die letzte, in Trümmern liegende Stadt, war auch schon vor über einer Woche an uns vorbeigezogen. Seitdem wanderten wir durch die Wildnis. Aber das würde sich bald ändern.

Von meinen Besuchen der letzten Jahre wusste ich, dass rund um unser Ziel kleine Ortschaften lagen. Oder, naja das, was aus der Zeit von vor der Wende, noch davon übrig war. Der Marktplatz selber befand sich mitten in einer Stadt. Der Weg durch die Stadt war nicht ungefährlich, weswegen es wichtig war, auf den alten Straßen zu bleiben. In nur wenigen Stunden, würden wir also durch einen Friedhof der Zeit laufen, in dessen Mittelpunkt ein zerbröckelnder Riese in Rot auf uns wartete.

Oh Gaia, war ich heute mal wieder poetisch.

„Was bedeutet dieses Lächeln?“, wollte Killian wissen.

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er zu mir aufgeschlossen hatte. Wahrscheinlich war es besser, dass er neben mir lief, als hinten bei Sawyer. „Nur dumme Gedanken.“

Da das alles war, was von mir kam, verwandelte sich seine Neugierde ganz schnell in Enttäuschung. Es war die gleiche Antwort gewesen, die ich ihm schon vorhin gegeben hatte, weil ich nicht über das sprechen wollte, was in meinem Kopf vor sich ging.

Was solls, ich hatte gerade ja eh nichts anderes zu tun. „Ich habe gerade nur über den Weg zum Markt nachgedacht.“

Er nickte, als wüsste er genau, was ich meinte, dabei hatte er keine Ahnung, denn er war noch nie dort gewesen. Dann wurde sein Blick nachdenklich. „Wie kommt es eigentlich, dass Eden nichts von diesem Ort weiß? Ich meine, es kommen ja auch viele Streuner freiwillig in die Stadt. Irgendjemand muss doch mal erwähnt haben, dass es einen großen Markt gibt, an dem die Streuner sich zwei Mal im Jahr versammeln.“

Ich verzog das Gesicht. Streuner, wie ich dieses Wort hasste. Es implizierte, dass wir etwas Dreckiges waren, etwas das weniger Wert war, als die Menschen aus der Stadt. Dabei waren auch wir ganz normale Menschen. Wir hatten nur eine etwas andere Kultur. „Wie kommst du darauf, dass sie es nicht wüssten?“, fragte ich etwas schärfer, als beabsichtig.

Er stutzte kurz, überging meinen scharfen Tonfall dann aber einfach. „Wenn Eden davon wüsste, würden sie die Tracker ausschicken, um alle zu holen.“

„Und was lässt dich glauben, dass das noch nicht geschehen ist?“

Drei große Fragenzeichen sprossen in seinem Gesicht. „Ich habe noch nie davon gehört, dass eine größere Menge von Streunern nach Eden gebracht wurde.“

Na gut, das reichte jetzt. „Menschen. Ich bin kein Streuner, ich bin ein freier Mensch.“

Da ging ihm wohl endlich ein Licht auf. „Mensch, natürlich. Ich vergesse immer, dass ihr es nicht mögt, so genannt zu werden. Tut mir leid.“

Ihr? „Du meinst wohl wir.“ Ich fasste ihn ins Auge. „Du bist doch einer von uns, oder täusche ich mich da?“

Er öffnete den Mund, schien aber nicht zu wissen, was genau er darauf erwidern sollte. Stattdessen senkte er den Blick auf seine Hand und strich mit dem Finger über die kleine Wölbung in seinem rechten Handballen. Dort, wo noch immer sein Keychip steckte. „Du hast wohl recht“, stimmte er mir sehr leise zu. Sich an diesen Gedanken zu gewöhnen, war für ihn wohl nicht ganz einfach.

Besser wir ließen das für den Augenblick und kehrten zum eigentlichen Thema zurück. „Ich weiß es nur aus Erzählungen, denn als es geschah, war ich noch ein Baby gewesen. Damals entschloss Eden sich, genau das zu tun, was du eben gesagt hast. Die Stadt schickte die Tracker, um die Menschen vom Markt in die Stadt zu holen.“

Killian hob den Kopf und hörte mir aufmerksam zu.

„Sie kamen zum Markt und fanden die freien Menschen, doch sie waren zu wenige. Die Tracker haben zwar die besseren Waffen, doch die freien Menschen waren in der Überzahl. Natürlich sind viele von ihnen einfach geflohen, oder haben sich versteckt, aber genauso viele haben sich auch gegen sie zur Wehr gesetzt. Das Ziel der Tracker ist es, die Menschen zu fangen und nach Eden zu bringen. Sie wollen sie nicht verletzen, und schon gar nicht töten. Die Leute auf dem Markt aber haben getötet.“

„Sie wollten sich nicht fangen lassen“, erkannte Killian ganz richtig.

Ich nickte. „Die Tracker haben bei diesem Überfall mehr als die Hälfte ihrer Leute verloren und keinen einzigen Gefangenen gemacht.“

„Das ist ja schrecklich.“

„Findest du? Ich finde es viel schrecklicher, dass die Tracker es überhaupt versucht haben.“ Denn bei diesem Überfall, hatten nicht nur die Tracker Verluste erlebt. So wie Saad mir diese Geschichte erzählt hatte, waren auch viele von den freien Menschen nicht mehr nach Hause zurückgekehrt.

„Und sie haben es danach nie wieder versucht?“

„Doch, zwei Mal, soweit ich weiß. Jedes Mal mit dem gleichen Ergebnis.“ Und das, obwohl sie die anderen Male mehr Leute geschickt und bessere Waffen verwendet hatten. So jedenfalls hatte es der alte Saad mir einmal erzählt und dem durfte man nie alles glauben, was er sagte. „Es gibt einfach nicht genug Tracker, um so vieler Leute Herr zu werden. Es ist leichter, die Leute in der freien Welt einzusammeln, als sich dieser Gefahr auszusetzen.“

Diese Worte stimmten ihn eine Weile nachdenklich. Dann fragte er. „Es besteht also keine Gefahr, dass die Tracker auf dem Markt auftauchen?“

„Warum fragst du?“, wollte Sawyer wissen. „Hast du etwa immer noch die Hoffnung gerettet zu werden?“

Killian ging nicht auf seinen herausfordernden Tonfall ein. „Nein, es geht mir dabei eher um dich, Salia und Kismet. Wenn die Tracker dort auftauchen würden, wäre das nicht gut für euch.“

„Würde diese Möglichkeit bestehen“, erklärte ich, „hätten wir uns niemals auf den Weg dorthin gemacht.“ Es wäre einfach nur dumm von den Trackern, wenn sie dort auftauchen würden. Nicht mal wenn sie alle Tracker aus Eden schicken würden, hätten sie eine Chance. Außerdem wäre es sicher nicht der Mühe wert, so viele widerspenstige Leute in ihre Gesellschaft einzugliedern. Wenn die sich nämlich zusammentaten, könnte es innerhalb ihrer Mauern zu einem Aufstand kommen. Nein, es war viel einfacher, sich mit einem nach dem anderen zu befassen, als mit allen auf einmal.

„Also sind wir sicher.“

„Zumindest vor den Trackern“, bestätigte ich. Von denen würde sich keiner mehr dem Markt näheren. Vielleicht in zweihundert Jahren, wenn ihre Zahl weiter gestiegen war und sie den freien Menschen zahlenmäßig überlegen waren, aber im Moment wäre es eine reine Selbstmordaktion.

„Das klingt so, als gäbe es noch andere Gefahren.“

„Das ist …“ Ich warf einen Blick über die Schulter, um zu schauen, ob Salia zuhörte. Ich wollte sie nicht verängstigen. Sie spielte friedlich unter ihrer dicken Schicht aus Decken. „Es ist nicht ganz ungefährlich, denn es kommen nicht nur nette Menschen zum Markt.“ Darum bereiteten die Tracker mir ausnahmsweise einmal die wenigsten Sorgen. Viel mehr mussten wir wegen Räuber und Banditen aufpassen. Die lauerten während des Herbstmarktes nämlich gerne zwischen den Ruinen, um die Leute zu überfallen. Wenn man Glück hatte, raubten sie einen nur aus, wenn man Pech hatte, nahmen sie einem auch noch das Leben.

Der Weg zum Markt war alles andere als ungefährlich. Ich wusste das aus Erfahrung. „Wir müssen einfach ein wenig wachsamer sein, dann wird es schon keine Probleme geben.“ Und wenn doch, dann hatte ich mein Messer.

„Das klang jetzt nicht allzu ermutigen“, sagte Killian mit einem unsicheren Lächeln.

„Du musst dir keine Sorgen machen, ich werde auf dich aufpassen.“

Von hinten kam ein hämisches Lachen von Sawyer. „Wow, so einfach kastriert man einen Mann.“

Killian schnaubte sehr abfällig. „Wenn du dich wegen sowas gleicht entmannt fühlst, bist du ziemlich armselig. Ich weiß um meine Stärken und meine Fähigkeiten. Es bereitet mir keine Probleme zuzugeben, dass jemand anderes in etwas besser ist als ich und da ist es ganz egal, ob es sich dabei um einen Mann, oder eine Frau handelt.“

Nun ging das schon wieder los. War es für die beiden wirklich so schwer, sich einmal nicht anzufeinden? Wahrscheinlich. „Ihr seid beide Idioten“, erklärte ich ihnen, ehe sie weiter aufeinander herumhacken konnten. Obwohl, eigentlich war nur ich hier die Idiotin, weil ich sie trotz allem noch nicht ausgesetzt hatte.

„Er ist der größere Idiot“, sagte Sawyer sofort.

„Davon träumst du“, erklärte Killian ganz ruhig.

„Weichei.“

„Dramaqueen.“

„Mamis kleiner Liebling.“

„Neidisch?“

Aber was nicht war, konnte ja noch werden.

 

oOo

Kapitel 20

 

„Dort gibt es alles, was man braucht“, erklärte ich Salia, während der Karren rumpelnd durch ein Schlagloch fuhr und seine Ladung hüpfen ließ – inklusive Salia selber. „Essen und Kleidung, Stoffe, Waffen, Ramsch, Tiere, Medizin und natürlich gibt es dort auch …“

„Kinder?“

Ich schmunzelte. „Vielleicht, aber die werden dort eher selten zum Tausch angeboten.“ Nachdenklich spitzte ich die Lippen und schaute zu ihr. Sie hielt sich mit beiden Händen am Karren fest und glühte fast vor Aufregung. „Vielleicht kann ich dich ja gegen etwas Schönes eintauschen.“

Sie machte ein empörtes Gesicht. „Ich will aber nicht eingetauscht werden!“

Killian schmunzelte neben mir.

„Keine Sorge“, sagte Sawyer. „Wenn hier jemand eingetauscht wird, dann ist es der Schönling.“ Er überlegte kurz. „Obwohl wir wahrscheinlich noch etwas drauflegen müssten, um ihn loszuwerden.“

Oh nein, nicht schon wieder. Besser ich redete schnell weiter, bevor die beiden sich wieder in die Haare bekommen konnten. „Vor ein paar Jahren war dort eine Frau gewesen, die hat Portraits von einem gemalt.“ Ich drehte mich zu Wolf um. „Das könntest du bestimmt auch. Die Frau war nicht schlecht, aber du wärst sicher der Hammer.“

Als Salia und die Männer sich nun auch zu ihm umdrehten, röteten sich seine Wangen verlegen. Er brummte und schaute mich böse an.

„Was denn? Sollte das etwa ein Geheimnis sein?“ Das hätte er mir dann sagen müssen. Oder, naja, ihr versteht schon.

Heute war es endlich so weit, der Markt war nicht mehr weit entfernt. Höchstens noch eine Stunde, dann hätten wir ihn erreicht.

Die Nacht hatten wir ohne Zwischenfälle überstanden und waren schon früh am Morgen aufgestanden, um uns auf den Weg zu machen. Selbst das Wetter spielte heute mit. Der Himmel war zwar bewölkt, aber es hatte seit zwei Tagen nicht mehr geregnet und mit ein wenig Glück, würde es auch so bleiben.

Wie ich es bereits vermutet hatte, waren wir seit gestern immer wieder anderen Menschen begegnet. Die Meisten hatten wir nur in der Ferne gesehen, doch vor zwei Stunden, hatte sich unser Weg mit zwei älteren Männern gekreuzt. Allerdings waren die aus einer etwas älteren Generation und nicht mehr so schnell wie wir. Sie waren irgendwo hinter uns zurückgeblieben.

Jetzt liefen wir mitten durch die Überbleibsel einer alten Stadt. Zu beiden Seiten türmten sich die Trümmer vergangener Bauwerke und wurden nur von der Natur an Ort und Stelle gehalten. Alles war überwuchert. Moose und Flechten sprossen an glatten Stein, Unkraut kroch aus jeder Ritze und Ranken und Kletterpflanzen wucherten an den Ruinen hinauf.

Immer mal wieder hatte ein Baum zischen den Trümmern und Ruinen seine Wurzeln geschlagen und überschattete dieses Mausoleum einer vergangenen Kultur.

Es war eine Mischung aus der Baukunst vergangener Zeiten und der Kraft von Mutter Natur. Irgendwann würde all das hier unter der Macht von Gaia verschwunden sein und nichts als Natur würde zurückbleiben. Heute allerdings, war es noch nicht so weit.

Die Straße auf der wir liefen, war rissig und zu großen Teilen unter Erde und Gras verborgen. Es war eine der wenigen Straßen, die noch in die Stadt hineinführten und uns direkt zum Markt bringen würde. Der Mittelteil war von den vielen Besuchern der letzten Tage, ein wenig plattgetreten. Es war der sicherste Weg an unser Ziel und der Einzige, der breit genug war, um mit dem Karren problemlos hindurchzukommen.

Vermutlich gab es auch noch andere Wege, um in die Stadt zu gelangen und auch Leute, die der Meinung waren, sich quer durch die Ruinen schlagen zu müssen, aber das war mir zu gefährlich. Die Häuser und Gebäude waren mit den Jahren so wackelig und instabil geworden, dass die kleinste Erschütterung sie zum Einsturz bringen konnte. Viele Städte waren auch untertunnelt, sodass einem der Boden unter den Füßen einfach wegbrechen konnte. Sich mitten in einer Stadt durch unbekanntes Gebiet zu bewegen, war mehr als nur lebensgefährlich. Das taten eigentlich nur Selbstmordkandidaten.

Killian blieb immer mal wieder stehen und schaute sich einige Dinge am Straßenrand genauer an, oder bestaunte ein größeres Gebäude in der Ferne. Er schien fasziniert von diesem Ort. Wahrscheinlich, weil er sowas noch nie gesehen hatte. Oder nur auf Bildern.

Auch jetzt hielt er wieder an und bestaunte etwas, das in früherer Zeit vielleicht eine Skulptur aus Bronze gewesen war. Etwas abstraktes, dem ich keinen Namen geben konnte.

„Pass auf, dass du nicht verloren gehst“, rief ich, als der Karren bereits an ihm vorbei war.

Er Schaute schnell zu mir, dann noch ein kurzer Blick auf die Skulptur, bevor er sich beeilte, wieder an meine Seite zu kommen. „Die Menschen von damals waren so vielfältig.“

„Das sind sie heute noch.“ Es gab nämlich viel mehr als Eden. Auf dem Markt würde er sicher einen kleinen Einblick darin erhalten.

„Ja schon, aber all dies ist einfach atemberaubend.“ Er machte eine Handbewegung, die alles um uns herum miteinschloss. „Allein die Vorstellung, dass diese ganze Stadt einmal von Menschenhand erbaut wurde, ist unglaublich.“

„Eden ist doch auch von Menschen erbaut.“

„Schon“, räumte er ein. „Aber das hier ist ganz anders. Es ist nicht nur größer, vor der Wende war diese Stadt auch voll mit Menschen gewesen. Das ist einfach … bemerkenswert.“

Ich schmunzelte über seine Begeisterung und warf einen Blick nach hinten. Seit wir die Stadt betreten hatten, war ich äußerst wachsam und sondierte ständig unsere Umgebung. Ich erwartete keine Schwierigkeiten, aber dort wo Menschen aufeinandertrafen, gab es immer wieder unerfreuliche Zusammenstöße. Da war es besser beide Augen offenzuhalten.

Wie nicht anders erwartet, befand sich zurzeit niemand anders als wir auf diesem Teil der Straße. Aber als ich mich so umsah, fiel mein Blick auf Sawyer. Er war heute das genaue Gegenteil von Killian. Mürrisch, schlecht gelaunt und äußerst herablassend. Man konnte sagen, heute war er der Eden-Sawyer, denn so war er dort immer gewesen.

Ich schob es auf den Besuch des Markts. Vielleicht machte er sich bereits für eine Enttäuschung bereit. Wenn man nicht zu viel erwartete, tat es hinterher nämlich nicht so weh. Oder er war sauer auf sich selbst, weil er sich eben doch Hoffnungen machte, gleichzeitig aber nicht erwartete, heute irgendwas zu erreichen. Ich wusste es nicht, ich konnte nur sagen, dass er im Moment nicht besonders glücklich aussah. Leider wusste ich nicht, wie ich ihn aufmuntern, oder ablenken konnte. Wahrscheinlich wüsste er es nicht mal zu schätzen, wenn ich es versuchen sollte.

„Du musst überlegen, allein in dieser Stadt haben früher weit über einhunderttausend Menschen gelebt“, sagte Killian, ohne etwas von meinen Gedanken zu ahnen. „Das ist ein Vielfaches mehr als in Eden.“

Ja, das waren wirklich sehr viele Menschen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sie sich alle in dieser Stadt zusammengedrängt hatten. Es war so unvorstellbar, dass sich das Bild einfach nicht einstellen wollte. In Eden hatten mich die Massen ja schon beinahe erdrückt. „Du weißt wo wir sind?“

„Du meinst, welche Stadt das vor der Wende war?“

Ich nickte.

„Ich bin mir nicht ganz sicher.“ Er schaute sich um, als würde ihm von irgendwo ein Hinweis entgegenfliegen, wenn er nur lange genug Ausschau hielt. „Es könnte … aber dafür müssten wir wahrscheinlich weiter nach Süden gehen.“ Er runzelte die Stirn. „Vielleicht ist es auch … wenn man die Strecke bedenkt …“

„Sag doch einfach, dass du keinen Schimmer hast“, schnauzte Sawyer ihn an.

Überrascht über die ruppige Art, drehte Killian sich nach ihm um. Als er dann auch noch den Mund öffnen wollte, bekam er von mir einen Stoß in die Rippen.

Ich schüttelte den Kopf, um ihm klar zu machen, es ausnahmsweise einfach mal gut sein zu lassen. Sawyer war heute eben ein wenig unberechenbar. Das wäre ich an seiner Stelle vermutlich auch. Obwohl, irgendwie war ich ja in einer ähnlichen Lage wie er. Das war der Herbstmarkt, Marshall konnte hier sein und … nein, darüber würde ich jetzt nicht nachdenken. „Heute leben nicht mehr viele Menschen in Städten.“ Ich schaute kurz zu Killian. „Naja, von Eden einmal abgesehen.“

Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. „Weil es dort ziemlich gefährlich werden kann.“

Ich nickte. „Die meisten Menschen leben eher ländlich und zurückgezogen in Clans und Stämmen. Oder ziehen als Nomaden durch die Gegend.“

„Du meinst wie wir?“ Er lächelte ein wenig schief.

„Das ist nur vorrübergehend.“ Allerdings wusste ich nicht, wie lange dieser Zustand noch anhalten würde. Eine Woche? Ein Jahr? Oder würde es heute vielleicht sein Ende finden? Ja, das war die große Frage, die auch mich beschäftigte. Eigentlich war es auch ganz egal, wie lange unsere Reise noch dauern würde, spätestens in ein paar Wochen, würden wir so weit wie möglich nach Süden ziehen müssen, um dort zu überwintern. Danach wäre es fraglich, ob ich hier her zurückkehren würde, denn an diesem Ort gab es nichts mehr, was auf mich wartete.

Ich sollte dringend mit diesen trüben Gedanken aufhören.

„Wie gehen wir eigentlich vor, wenn wir auf dem Markt angekommen sind?“, wollte Killian wissen.

Na wie schon. „Wir fragen einfach rum. Bei den Händlern und auch bei den Besuchern.“

„Das ist aber ziemlich aufwendig.“

Sawyer gab ein abfälliges Geräusch von sich. „Hier gibt es nun mal kein Skye, auf dem man eine Suchanfrage in den allgemeinen Chat, oder auf eine Plattform stellen kann. Aber wenn dir das zu viel ist, keine Sorge, niemand hat dich um Hilfe gebeten.“

Der Ausdruck auf Killians Gesicht wurde grimmig. „Ich habe doch nicht gesagt …“

„Nicht“, bat ich und sah ihn eindringlich an.

Killian presste unzufrieden die Lippen aufeinander.

„Wenn wir da sind, teilen wir uns am Besten auf“, überlegte ich laut. „Das ist wahrscheinlich effektiver, als im Pulk zu laufen.“ Und würde meine Nerven weniger strapazieren. Andererseits, konnte ich wirklich entspannt suchen, wenn ich einen von ihnen aus den Augen verlor? Es waren zwar keine Kinder mehr, aber, naja, viel Unterschied sah ich in den letzten Tagen nicht.

„Solange ich nicht auf diesen Idioten aufpassen muss, ist mir alles recht.“

Killians Blick verfinsterte sich.

Wenn ich es mir recht überlegte, war aufteilen eine wirklich hervorragende Idee. Das Duo aus Sawyer und Killian war manchmal kaum noch zu ertragen. „Dann machen wir es so. Und Salia bleibt am Besten auf dem Karren, damit sie nicht irgendwo verloren geht.“ Oder geklaut wurde. Kinder waren selten und auch unter den freien Menschen gab es Leute, die sie als ihre Zukunft sahen. Ich konnte gar nicht mehr zählen, wie oft Marshall in den vergangenen Jahren gefragt worden war, ob er mich eintauschen würde. Einer hatte sogar wirklich versucht, mich einfach mitzunehmen, weil Marshall kategorisch abgelehnt hatte. Im nächsten Moment hatte er Marshalls Dolch im Bein stecken gehabt.

Verdammt, ich wollte doch nicht mehr an diesen Kerl denken. „Ich will auch noch ein paar Sachen besorgen. Wenn jemand von euch etwas brauch, sollte er es mir jetzt sagen, damit ich danach Ausschau halten kann.“

„Salia brauch wärmere Schuhe“, kam es sofort von Sawyer.

Dem konnte ich nur zustimmen. „Ich werde welche besorgen.“ Und falls ich keine fand, würde ich das Material besorgen und selber welche machen. Die würden zwar nicht so schön werden, wie die von einem Schuhmacher, aber sie würden ihren Zweck erfüllen.

In einiger Entfernung bemerkte ich einen Handkarren mitten auf der Straße. Eine Gestalt lief geduckt davor hin und her, eine Frau. Mal vor dem Karren, mal dahinter, links, rechts, einmal rundherum, Drehung, vorne, hinten. Egal was das werden sollte, es sah ziemlich abnormal aus.

„Was macht sie da?“, fragte Killian leicht irritiert.

Woher sollte ich das denn wissen? „Keine Ahnung.“ Vielleicht war sie ja geistig verwirrt. Das hätte uns jetzt gerade noch gefehlt.

Beim Nährkommen wurde mir aber schnell klar, dass mit der Person alles in bester Ordnung war und sie sich keineswegs seltsam benahm. Der zweirädrige Karren auf der Straße war kaputt. Er stand schief. Das Rad auf der rechten Seite, lag daneben am Straßenrand.

Auf dem Karren standen mehrere Säcke mit Kartoffeln, wenn ich das richtig erkannte. Einer der Säcke war runtergefallen und aufgegangen und die Dame lief nun hin und her, um ihre Kartoffeln vom Boden aufzuklauben.

Als die Frau sich aufrichtete und ihre Hand in den Rücken stützte, als hätte sie dort Schmerzen, erkannte ich sie von meinen früheren Besuchen auf dem Markt.

„Das ist Lysann.“

„Du kennst die Frau?“

„Kennen ist zu viel gesagt.“ Ich hatte sie schon öfter gesehen und auch das eine oder andere Mal mit ihr gesprochen, wenn Marshall und ich bei einer Rast von ihr bedient worden waren. „Sie und ihre Mutter betreiben das Gasthaus am Markt.“

Killian wirkte überrascht. „Es gibt hier ein richtiges Gasthaus?“

Also langsam sollte ich ihn mal fragen, für wie hinterwäldlerisch er die freien Menschen hielt. „Ja. Sie betreiben es immer im Frühjahr und im Herbst, wenn der Markt ist.“

Als wir Lysann fast erreicht hatten, bemerkte sie uns und Erleichterung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Sie war eine etwas beleibte Frau Anfang fünfzig, mit langen braunen Haaren, die bereits mit grauen Strähnen durchzogen waren. Um ihre braunen Augen hatten sich fröhliche Lachfältchen eingegraben. Wenn sie lächelte, bemerkte man, dass ihr zwei Zähne fehlten. Sie war ein fröhlicher und offener Mensch, der viel und gerne lachte.

Das Haar hatte sie zu einem langen Zopf geflochten. Sie trug ein braunes Kleid aus Leinen, mit Schnürung im Brustbereich. Um die Schultern hatte sie sich ein Tuch gewickelt, um sich gegen die Kälte zu schützen.

Als wir näherkamen, wurde ich langsamer, bis ich ganz stehen blieb. Solange der Karren mitten auf der Straße stand, würden wir es schwer haben daran vorbeizukommen. Das kam ihr im Augenblick wohl zugute.

„Gaia sei es gedankt, ein paar starke Männer. Könnt ihr mir helfen? Mein Rad ist abgefallen.“

Killian sah aus, als befürchtete er, sie könnte ihn gemeint haben. Wolf dagegen brummte nur und setzte sich sofort in Bewegung.

„Hier, halt mal.“ Ich drückte Killian die Führleine in die Hand und folgte Wolf. Sawyer blieb bei Salia. Mit seinem verletzten Arm wäre er im Moment sowieso keine große Hilfe.

„Ich habe den Karren einfach nur die Straße entlanggezogen und dann ist das Rad abgefallen“, erzählte Lysann und hob dabei dramatisch die Arme. „Wie soll ich jetzt nur das Essen zum Gasthaus kriegen?“

„Wir schauen mal, was wir tun können“, versprach ich und nahm das Rad näher in Augenschein. Hm, das war nicht einfach nur abgefallen, da steckte noch ein abgebrochener Teil der Achse drinnen. Das Holz war auch schon sehr alt und morsch und auch die Speichen sahen nicht mehr sehr gut aus.

Ich drehte mich um und schaute zu Wolf, der neben dem Karren auf die Knie gegangen war, um einen Blick darunter zu werfen. Sein Kopfschütteln sagte mir bereits alles. Trotzdem hockte ich mich neben ihn, um mir die Sache einmal selber anzuschauen. Wie bereits vermutet, die Achse war gebrochen.

„Und?“, fragte Lysann. „Könnt ihr mir helfen?“

Keine Chance. „Nein, das bekommen wir nicht repariert.“ Wir hatten weder das erforderliche Material, noch die richtigen Werkzeuge.

„Oh nein.“ Lysann sah aus, als wäre sie kurz vorm Verzweifeln. „Was mache ich denn jetzt nur? Die Säcke bekomme ich doch niemals alle getragen.“

Oh man, na gut. Wie hieß es so schön? Jeden Tag eine gute Tat. Dies war wohl der Zeitpunkt, meine gute Tat für heute zu vollbringen. „Mach dir keine Sorgen, wir werden dir helfen.“

„Oh nein, darum kann ich euch nicht bitten.“

„Du bittest ja nicht, wir bieten es an.“ Ich richtete mich wieder auf, schnappte mir einen von den Säcken und ächzte fast unter dem Gewicht. Bei Gaias Güte, was hatte sie da drin, Steine?

„Pass auf, Mädchen, die sind schwer.“

Ja, vielen dank auch. Eine etwas frühere Warnung wäre nett gewesen.

Auch Wolf packte mit an. Natürlich hatte er keine Probleme mit dem Gewicht. Manchmal war es ganz nützlich, ein Mann zu sein.

Ich hievte meinen Sack neben den Karren und kletterte dann hinauf, um ein wenig Platz zu schaffen.

Salia warf einen neugierigen Blick zu Lysann.

„Oh ein Kind!“ Die Augen der älteren Frau begannen zu leuchten. „Nein, was bist du doch für ein hübsches Ding.“

Salia schaute erst zu ihrem Papa und dann zurück zu Lysann. Dann sagte sie mit dem ganzen Ernst, den eine Siebenjährige aufbringen konnte: „Ich finde dich auch hübsch.“

Die Wangen der Frau röteten sich leicht. Dann griff sie sich an ihre Haare, als wollte sie ihre Frisur ein wenig richten. „Oh, danke. Du bist aber ein liebes Mädchen.“

Sie nickte, als würde sie der Frau zustimmen. „Maja sagt immer, alle Menschen sind hübsch, auch wenn sie in Wirklichkeit hässlich sind. Sie nennt das innere Schönheit.“

Ich erstarrte. Oh Gaia, das hatte sie doch jetzt nicht wirklich gesagt.

„Aber Papa sagt, es gibt auch Menschen, die innerlich hässlich sind. Die sind dann nur hässlich.“

Ob es wohl zu spät war, ihr den Mund zuzukleben?

„Aber sie sind hübsch. Sie haben schöne Haare.“

„Ähm … danke.“ Jetzt wirkte Lysann nicht mehr ganz so überwältigt.

„Bitte.“ Salia setzte sich wieder auf dem Karren zurecht. Damit war ihre Aufgabe wohl erledigt.

Hätte ich etwas auf Etikette gegeben, hätte ich mich jetzt wohl blamiert gefühlt. Trotzdem sollte ich mit Salia bei Gelegenheit mal ein kleines Gespräch über Anstand führen.

Wolf lachte leise, als er seinen Sack direkt auf den Karren stellte.

Als ich ihn entgegennahm, schlug ich ihm unauffällig gegen die Schulter. Dann räumte ich den Sack so hin, dass er nicht umfallen konnte.

Lysann schaute von der Kleinen zu mir. „Deins?“

„Meins“, sagte Sawyer sofort und schaute dabei so böse, dass die Narben in seinem Gesicht deutlich hervorstachen. Keine Ahnung was er damit bezweckte. Vielleicht wollte er sie einfach vorwarnen, nichts Dummes zu sagen, oder zu tun, weil sie es sonst mit ihm zutun bekäme.

Es wirkte, Lysann wich einen Schritt zurück.

„Keine Angst“, sagte ich und nahm von Wolf den nächsten Sack entgegen. „Meistens ist er harmlos.“

„Und an allen anderen Tagen, verpassen wir ihm einen Maulkorb“, murmelte Killian.

„Aha.“

Ob sie sich wohl langsam fragte, an was für Verrückte sie hier geraten war? Wenn sie nicht so dringend unsere Hilfe bräuchte, würde sie jetzt vermutlich einfach das Weite suchen.

Wir verluden auch noch die letzten Säcke und halfen Lysann dann, auch noch die restlichen Kartoffeln vom Boden aufzusammeln. Dann stellte sich uns die Frage, was wir mit ihrem Karren machen sollten.

Wolf legte das abgebrochene Rad auch noch auf unseren Karren, sodass Salia kaum noch Platz hatte und ging dann zu dem Handkarren. Er packte die Griffe, hob die rechte Seite, sodass das Ding auf dem linken Rad stand und marschierte los.

Ja, so würde es wohl gehen.

Ich übernahm wieder Trotzkopfs Leine und folgte ihm.

Erst jetzt schien Lysann unser Zugtier richtig wahrzunehmen. Sie schaute erst Trotzkopf an und dann mich. „Ich kenne dich. Du warst die letzten Jahre immer mal wieder hier gewesen.“

Sollte ich mich jetzt beleidigt fühlen, weil sie mich bisher nicht erkannt hatte? Eher nicht. Sie hatte immer viele Kunden gehabt, da war ich nie groß herausgestochen. „Der Markt ist ein sehr beliebter Treffpunkt“, sagte ich daher völlig sinnlos. Da sah man es mal wieder, Smalltalk war einfach nicht mein Ding.

Von hinten nährten sich die beiden alten Männer, denen wir vorhin schon begegnet waren. Wir hatten so lange gebraucht, dass sie aufgeholt hatten.

Salia beugte sich ein wenig über den Rand des Karrens. „Guck mal, das ist Wölkchen.“ Sie hielt ihr Kuscheltier über den Rand, damit Lysann es bewundern konnte.

„Niedlich.“

Niedlich? Also als Salia mir das Ding zum ersten Mal gezeigt hatte, wusste ich nicht, was es darstellen sollte. Es war einfach ein weißer Wattebausch mit Beinen.

Zufrieden drückte die Kleine ihren ewigen Begleiter wieder an ihre Brust. „Magst du Wolken?“

„Wolken?“

„Wolken.“ Salia zeigte zum Himmel hinauf. „Heute sind die Wolken sauer, deswegen sind sie so dunkel.“

„Oh! Ähm … wirklich?“

Sie nickte. „Also ich mag Wolken, auch wenn sie sauer sind.“

„Das ist … schön?“

Wenigstens war ich hier nicht die Einzige, die bei einem Gespräch mit einem Kind ein wenig unbeholfen war. Ich konnte mich noch sehr gut an meine erste Begegnung mit Salia erinnern. Es war ein einziger Krampf gewesen, weil ich absolut keine Ahnung gehabt hatte, wie ich mit einem so kleinen Menschen umgehen sollte. Zwar hatte ich Nikita aufgezogen, aber Nikita war nicht Salia und mit Nikita war ich aufgewachsen. Das machte einen großen Unterschied.

„Entschuldigung“, sprach Killian Lysann an. „Dürfte ich sie etwas fragen?“

Über seine höffliche Art erstaunt, hob die Frau ihre Augenbrauen. „Aber natürlich.“

Er lächelte dieses einnehmende Lächeln, dass er auch bei unserer ersten Begegnung getragen hatte. Es war gar nicht so leicht, dagegen anzukommen.

Sawyer verdrehte nur die Augen.

„Wir sind auf der Suche nach jemanden und vielleicht kennen sie ihn ja, oder haben etwas über ihn gehört.“

Ach ja, warum war ich nicht selber darauf gekommen? Als Gastwirtin hatte sie mit vielen Menschen zu tun. Es war nicht unwahrscheinlich, dass sie etwas wissen konnte.

Neugierig neigte Lysann den Kopf. „So? Wen sucht ihr denn?“

„Seine Familie.“ Er zeigte zu Sawyer. „Sie haben früher weit im Osten gewohnt. Vor knapp sechzehn Jahren verloren sie einen Sohn. Jetzt sind sie verschwunden. Ihre Siedlung ist niedergebrannt. Wir wollen die Leute, die dort gelebt haben, finden.“

„Die Familie hat mehrere Töchter“, fügte ich noch hinzu. „Aber es war nicht nur eine Familie, es war eine kleine Siedlung.“

Lysann hörte interessiert zu, schüttelte aber den Kopf. „Davon höre ich heute zum ersten Mal. Wer war denn das Oberhaupt dieser Siedlung?“

Ich schaute zu Sawyer. Diese Frage musste er beantworten.

„Ophir.“

Wieder schüttelte sie den Kopf. „Nein, tut mir leid, dieser Name sagt mir gar nichts. Ist er denn ein häufiger Besucher des Markts?“

„Das wissen wir nicht.“ Ich schaute wieder zu Sawyer, doch der hatte sich hinter einer Maske der Unnahbarkeit verschanzt. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass das doch erst der erste Versuch gewesen war. Nur weil sie nichts wusste, bedeutete das doch noch lange nicht, dass auch niemand anderes etwas wusste. Aber jeglicher Versuch ihn zu trösten, hätte er wahrscheinlich mit einem fiesen Kommentar postwendend zu mir zurückgeschickt. „Weißt du, wer etwas wissen könnte?“

„Puh, das ist schwer. Wie lange vermisst ihr die Leute denn schon?“

„Sechzehn Jahre.“

„Oh.“ Sie warf einen kurzen Blick zu Sawyer. So wie sie ihn ansah, war ihr gerade klar geworden, dass es sich bei ihm um den verlorenen Sohn handelte.

Er schaute böse zurück.

Der Karren polterte über ein paar Risse im Asphalt.

„Sechzehn Jahre ist eine lange Zeit“, sagte Lysann. „Da kann viel passieren.“

Die Aussage stimmte zwar, war aber nicht besonders hilfreich. „Und, hast du eine Ahnung, wen wir fragen könnten?“

Von Vorne kam uns eine kleine Gruppe entgegen, zwei Frauen und ein Mann, alle noch recht jung. Jeder hatte auf dem Rücken einen großen Korb, der bis obenhin gefüllt war. Der Mann sagte etwas, woraufhin die beiden Frauen lachten.

„Niemand bestimmtes“, erwiderte Lysann. „Einfach mal herumfragen, würde ich sagen. Irgendjemand weiß sicher etwas.“

Das war dann wohl eine komplette Pleite gewesen. „Das werden wir machen.“

Die kleine Gruppe lief an uns vorbei. Der Mann schaute Trotzkopf an, als wäre er ein Fabelwesen aus einer fremden Welt. Die beiden Damen dagegen hatten nur Augen für Killian. Sie musterten ihn sehr intensiv, tuschelten dann leise und kicherten.

Killian bekam von all dem gar nichts mit. Ich schon. Und es gefiel mir nicht. Sie hatten einen Mann bei sich, sollten sie doch ihn anglotzen.

Um Sawyer allerdings machten sie einen großen Bogen und das lag wohl nicht nur an seinem finsteren Blick. Die Narben in seinem Gesicht wirkten auf sie wohl ein wenig abschreckend. Manchmal waren Menschen wirklich oberflächlich.

Gut, Sawyer war wirklich nicht gerade der umgängliche Typ, aber das konnten sie ja gar nicht wissen.

Warum hatten seine Narben mich eigentlich nie abgeschreckt? Vom ersten Moment an, hatte ich sie als Teil von ihm akzeptiert und sie nie als Makel oder Entstellung wahrgenommen. Sie gehörten zu ihm, wie seine Nase, oder seine Ohren. Ohne diese Narben, würde Sawyer für mich wahrscheinlich sehr seltsam aussehen, wie ein Fremder.

Wie es nun einmal Killians Art war, unterhielt er sich den Rest des Weges höflich mit Lysann. Er besaß das erstaunliche Talent, dass die Leute sich ihm anvertrauen wollten, weil er so zugänglich wirkte und sich wirklich für sie zu interessieren schien.

War das auch bei mir so gewesen, als wir uns kennengelernt hatten? Auf jeden Fall war dieses Gefühl verschwunden, als er die Geschichte mit meiner Mutter als Trauma abgetan hatte.

Die Straße machte einen Bogen. Nicht weit entfernt konnte ich bereits den Zugang zum Markt erkennen. In ein paar Minuten hätten wir ihn erreicht. Vorher jedoch mussten wir links an den Rand fahren, zu dem einzigen noch stehenden Gebäude in dieser Straße. Wobei das Wort stehend hier mit Vorsicht zu genießen war. Das alte, marode Gebäude hatte noch vier Wände und ein Dach. Naja, eigentlich hatte es nur zwei Räume und ein eingesunkenes Dach, dass von Stützpfeilern oben gehalten wurde. Der vordere Teil des Baus war nicht mehr vorhanden. Rechts war noch der zerklüftete Rest einer Mauer zu sehen. 

Irgendjemand hatte vor langer Zeit ein Vordach an die beiden Räume gebaut. Darunter standen nun eine Handvoll Tische mit Bänken. Der linke Raum war der Gastraum, wo Lysann und ihre Mutter die Gäste mit Speisen und Getränken bewirteten. In dem Rechten standen mehrere Betten, wo man sich ausruhen konnte. Allerdings gab es dort keinerlei Privatsphäre, die Betten standen einfach alle nebeneinander. Ich wusste das, weil ich schon öfter darin gewesen war.

„Hier“, rief Lysann Wolf zu. „Hier musst du halten. Stell den Karren einfach neben dem Vordach ab.“

Wolf nickte und tat genau das, worum sie ihn gebeten hatte.

Draußen auf den Bänken saßen zwei Männer, die Schüsseln mit Essen vor sich hatten und Wolf zuschauten. Eine Frau kam gerade aus dem Gastraum, warf uns nur einen mäßig interessierten Blick zu und machte sich dann auf dem Weg zum Markt.

Ich ließ Trotzkopf direkt vor dem Vordach halten und übergab die Leine wieder an Killian. Dann lud ich zusammen mit Wolf die Säcke vom Karren und stellte sie neben der Tür an die Wand. Anschließend war ich ziemlich durchgeschwitzt. Wolf dagegen sah nicht so aus, als hätte er überhaupt etwas getan.

„Ich weiß gar nicht wie ich euch danken kann“, sagte Lysann, als Wolf noch das Rad von unserem Karren holte und es zu den Säcken an die Wand lehnte. „Ohne eure Hilfe, wäre ich vollkommen aufgeschmissen gewesen.“

Ich winkte ab. „Kein Problem, wir hatten ja den gleichen Weg.“

„Kann ich euch etwas geben? Oh, ich weiß.“ Sie schnipste mit den Fingern, als ihr ein Einfall kam und strahlte uns dann an. „Kommt später vorbei. Ich werde euch dann etwas Schönes kochen. Umsonst, versteht sich.“

Die beiden alten Männer, die die ganze Zeit hinter uns gewesen waren, zogen an uns vorbei. Sie wirkten müde und erschöpft. Wahrscheinlich hatten sie eine lange Reise hinter sich.

„Das werden wir uns nicht entgehen lassen“, versprach ich ihr und meinte es auch so. Bei der Aussicht auf ein leckeres Essen bei Lysann, hatte sich die Anstrengung auf jeden Fall gelohnt.

„Ich verlasse mich drauf. Passt gut auf euch auf und vielen Dank noch mal.“

Ich nickte, übernahm dann wieder Trotzkopf und schnalzte, damit er mir folgte.

Er gab ein Röhren von sich, als wollte er sich auch verabschieden und setzte dann ein langes Bein vor das andere. Dabei brauchte ich ihn gar nicht zu führen, denn er kannte den Weg.

„Gehen wir nachher wirklich noch mal zu ihr?“, wollte Killian wissen.

„Warum sollte ich es sonst sagen?“

„Um höfflich zu sein?“

Meine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Was wäre denn daran höfflich, etwas zu versprechen und es dann nicht zu halten?“

Sein Mund ging auf, schloss sich dann aber wieder, ohne etwas zu sagen. Stattdessen grinste er ein wenig schief.

Verstehe noch mal einer diesen Mann.

Vor uns wurde die Straße immer kürzer. Die ersten Geräusche vom Markt drangen an unsere Ohren und wurden mit jedem Schritt lauter. Ich sah Bewegungen und Menschen, die hin und her liefen. Dann wurde die Straße ein wenig breiter und endlich, nach zwei Wochen Fußmarsch, hatten wir unser Ziel erreicht.

 

oOo

Kapitel 21

 

Sobald die Straße endete, präsentierte der Herbstmarkt sich in all seiner chaotischen Pracht. Ich wusste nicht was sich vor der Wende an diesem Ort befunden hatte, doch direkt am Marktplatz erhob sich eine wirklich eindrucksvolle Ruine, die die Jahrhunderte des Zerfalls erstaunlich gut überstanden hatte. Jeder Mensch an diesem Ort, tummelte sich in ihrem Schatten, so hoch ragte sie noch heute auf.

Azra hatte mir bei unserm ersten Besuch hier erklärt, dass dieses Gebäude einst eine Kathedrale gewesen sei. Heute war ein Großteil der Türme, Wände und des Dachs eingestürzt, doch die Grundmauern waren erstaunlich gut erhalten und das Seitenschiff war sogar noch begehbar.

In diesen begehbaren Bereichen und auch auf dem großen Marktplatz rund um diese Ruine, hatten sich die Händler niedergelassen. Sie boten ihre Waren feil, feilschten mit ihren Kunden und riefen ihr Angebot in die Menge, in der Hoffnung, sie zu sich zu locken und ein für sie profitables Geschäft abzuschließen.

Der ganze Markt war umgeben von Ruinen, Trümmern und Schutt, die sich schützend um den Markt schlossen. Zerfallen, überwuchert und vergessen. Eine Mahnung an das was geschah, wenn man sich mit Gaia anlegte.

Doch das wirklich beeindruckendste an diesem Bild waren die vielen Menschen, die zwischen diesen Trümmerbergen und den Ruinen der Kathedrale, ihre Besorgungen machten. An einem guten Tag, hielten sich hier zwei- bis dreihundert Menschen auf und an die fünfzig Händler. Diese Anzahl hatte ich immer für sehr beeindruckend und ja, auch viel gehalten. Nachdem ich nun aber in Eden gewesen war, kam mir diese Menge jetzt sehr klein vor.

Was mir auch sofort auffiel, war das triste Bild. In Eden waren die Menschen bunt. Nicht nur die Kleidung, nein die Menschen selber. Sie färbten sich die Haare auf dem Kopf, colorierten sich Augenbrauen und Bärte und schminkten ihre Gesichter auffällig in bunten Farben. Männer waren ein wenig dezenter als Frauen, bei denen es teilweise aussah, als würden sie Masken tragen.

Die Kleidung der Menschen hier dagegen war eher schlicht. Weiß, braun und verschiedene Varianten davon. Manchmal auch grün oder schwarz, selten bunte Farben. Der Stil war auch ganz anders und gefärbte Haare hatte hier niemand. In manchen Stämmen war es Tradition, eine bestimmte Art von Schmuck zu tragen, oder sich das Gesicht zu bemalen, aber nicht so auffälliges, wie in Eden.

Um auf den Markt zu gelangen, mussten wir um die Überreste des eingestürzten Turms herum gehen und landeten so mitten im Geschehen.

Die Händler hatten ihre Stände auf dem ganzen Marktplatz verteilt, nicht nur an den Rändern, auch mittendrinn. Neben einfachen Leuten, die ihren Ertrag vom Sommer anboten, gab es auch zahlreiche Fressbuden, an denen man sich den Magen mit Köstlichkeiten vollstopfen konnte. Irgendwo zu unserer Rechten hatten sich auch ein paar Musiker hingestellt, die unsere Ohren mit ihrer Musik erfreuten und als Dank auf milde Gaben hofften.

Nur wenige dieser Stände waren mehr als Tauschhandel von Karren, oder direkt aus Körben, Kisten und Jutesäcken. Es gab vielleicht ein Dutzend Tische und nur die Hälfte davon hatte zum Schutz eine Plane gegen Regen gespannt.

Die Karren und Tische, gehörten meist zu größeren Clans und Stämmen. Bauern und Mischpochen konnten froh sein, wenn sie einen Handkarren besaßen und nicht alles auf dem Rücken schleppen mussten.

Hier zeigte sich mal wieder sehr deutlich, dass ich eine ziemliche Ausnahme vom Normalzustand war. Wenn die Leute mich sahen, kamen sie sehr oft auf den Gedanken, ich würde zu einem der größeren Stämme gehören und das nur, weil ich Trotzkopf und den Karren besaß.

Die normalen Kunden, liefen mit allerlei Gepäck herum. Taschen, Säcke, Kisten und Körbe. Dort hatten sie die Dinge drin, die sie für ihre Reise brauchten und die sie tauschen wollten.

Bei vielen Händlern standen auch Käfige mit Tieren, die zum Tausch angeboten wurden. Meistens waren es Vögel wie Enten, Gänse und Hühner. Bei dem Stand links von uns, sah ich sogar ein paar Wachteln. Natürlich gab es auch andere Tiere wie Hunde und Kaninchen, aber die wahren eher selten und Zugtiere wie Rinder, fand man nur bei den großen Stämmen und Clans. Die wurden aber nie zum Tausch feilgeboten, egal wie sehr die Kunden sich auch bemühten.

Das konnte ich verstehen. Ich würde mich auch nicht von meinem Trotzkopf trennen, dafür war er einfach zu nützlich.

Niemand schenkte uns große Beachtung, als wir in das Stimmengewirr und das betriebsame Treiben eintauchten. Killian allerdings machte große Augen. Mit einem ehrfurchtsvollen Blick, bestaunte er die Kathedrale, an der wir gerade vorbeizogen. Sie war weiß – oder war es in früherer Zeit einmal gewesen – doch durch die vielen roten Verzierungen, bemerkte man das kaum.

Diese Verzierungen waren der Grund, warum die freien Menschen sie gerne als den roten Riesen bezeichneten. Solche Bauwerke gab es heutzutage nicht mehr. Zumindest hatte ich nie etwas Ähnliches gesehen, oder davon gehört.

„Die Marienkapelle.“

Nun war ich es, die erstaunt dreinblickte. „Du kennst dieses Gebäude?“

„Ja, ich …“ Er warf mir einen kurzen Blick zu, bevor er die Kapelle wieder bewunderte. „Wir haben alte Baukunst im Geschichtsunterricht in der Schule durchgenommen. Die Marienkapelle war dabei kurzzeitig Thema, aber ich hätte niemals gedacht, dass ich sie leibhaftig sehen würde.“

So wie er das klingen ließ, war das eine große Sache für ihn.

„Schau nur.“ Er hob die Hand und deutete auf das große, steinerne Portal. „Die Architektur ist zwar nichts Besonderes, da gab es weitaus größere und beeindruckendere Kathedralen, wie zum Beispiel Notre-Dame, doch diese Farbkombination …“

„Besorg dir einen Backstein als Souvenir“, unterbrach Sawyer ihn gereizt. „Dann hast du länger etwas davon.“

Wir alle, einschließlich Wolf, schauten uns nach ihm um.

„Hatten wir nicht eigentlich etwas zu tun?“ Sein Blick verfinsterte sich. „Ach vergesst es, macht doch was ihr wollt.“ Er kehrte uns den Rücken und machte sich davon. Was er dabei nicht bemerkte, war der Ausdruck auf Salias Gesicht. Er war der Grund, warum ich sofort reagierte und Sawyer eilig hinterherlief. Trotzkopf ließ ich an Ort und Stelle stehen und hoffte einfach, dass er nicht beschloss, den Markt auf eigene Faust zu erkunden.

„Sawyer“, rief ich und als er nicht reagierte, packte ich ihn an der Schulter und zwang ihn damit zum Stehen. Er fuhr zu mir herum, doch bevor er mich anfahren konnte, sagte ich schlicht ein Wort. „Salia.“

Der grimmige Ausdruck auf seinem Gesicht wurde ein wenig verkniffen. Er schaute zu seiner Tochter, die ihm unsicher hinterher sah. Er riss sich zusammen, was ihn einiges an Willenskraft zu kosten schien, atmete einmal tief durch und ging zurück zum Karren. Er streckte die Hände nach ihr aus und sie ließ sich bereitwillig von ihm auf den Arm nehmen.

„Tut mir leid“, sagte er leise und drückte die Kleine an sich. Ich konnte es nur hören, weil ich ihm gefolgt war. „Ich bin gerade etwas … neben der Spur.“

„Wie wenn ich bockig bin?“

Ein leises Lachen. „Sowas in der Art.“

„Du bist also nicht böse?“

„Nein, aber ich muss jetzt etwas erledigen. Du bleibst solange bei Kismet. Ich bin bald wieder da.“

„Versprochen?“

„Versprochen.“

Sie musterte ihn, nickte dann und gab ihm einen Kuss auf die kratzige Wange. „Ich bin artig.“

„Ich weiß.“ Sawyer stellte sie zurück auf den Karren und half ihr dabei, sich wieder in ihre Decke einzuwickeln. Dann strich er ihr noch einmal über die Wange, bevor er sich abwandte.

Ich war mir nicht ganz sicher, warum ich das tat, doch als er an mir vorbei ging, legte ich ihm kurz die Hand auf den Unterarm und drückte ihn leicht. Vielleicht um ihn Mut zu machen und ihm zu versichern, dass alles gut werden würde.

Sein Blick traf meinen und einen Moment schauten wir uns einfach nur an. Dann ließ er uns stehen und steuerte einen der Händler an, um ihn auszuquetschen. Blieb nur zu hoffen, dass er es schaffte, seine Fragen freundlich an den Mann zu bringen.

Da Sawyer sich nun allein auf die Socken gemacht hatte, blieben die anderen wohl bei mir. Da Wolf nicht sprechen konnte, wäre es sinnlos ihn loszuschicken, um die Leute zu befragen und Killian wollte ich nicht so gerne aus den Augen lassen. Wer konnte schon wissen, was er anstellte.

Ich ging wieder nach vorne, erstaunt dass Trotzkopf wirklich dort stehengeblieben war, wo ich ihn abgestellt hatte und schnappte mir seine Leine. „Lasst uns links langgehen.“ Das war nur logisch, da Sawyer den rechten Weg eingeschlagen hatte. Wir würden uns erstmal außen durchfragen und dann auf der anderen Seite wieder mit Sawyer zusammentreffen. Wenn wir dabei kein Glück hatten, konnten wir noch den inneren Kreis in Angriff nehmen.

Den ersten Händler den ich befragte, war eine ältere Frau mit tiefen Krähenfüßen um die Augen. Sie hatte sich mit ihren Sachen neben den Trümmern des Turms niedergelassen. Auf dem Boden war eine Decke ausgebreitet, auf der sie saß. Zwei Körbe voller Kerzen standen neben ihr.

„Entschuldigung, ich hätte eine Frage.“

Sie schaute zu mir auf, dann zu Trotzkopf und wieder zu mir. „Ja?“

„Ich suche eine Gruppe von Leuten, die vor sechzehn Jahren weiter im Osten gelebt haben – ungefähr zwei Wochen von hier. Ihr Clanführer hieß Ophir. Dort gab es auch eine Familie mit vielen Kindern. Jetzt sind sie verschwunden. Hast du vielleicht mal von so jemanden gehört?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“

Ehrlich gesagt, hatte ich das auch nicht erwartet. Erfolg gleich beim ersten Versuch? Das wäre wirklich ein Glückstreffer gewesen. „Trotzdem danke.“

„Gerne.“ Sie griff in eine ihrer Körbe und stellte ein paar der Kerzen vor sich auf die Decke, als wollte sie mich damit in Versuchung führen, ihr ein paar davon abzunehmen.

Ich wandte mich von ihr ab und bemerkte zwei Frauen, die sehr interessiert Salia beobachteten, als sie an uns vorbei gingen. Auch Wolf fiel das auf und baute sich neben der Kleinen auf. Die Botschaft war eindeutig: Pfoten weg.

Die Händlerin mit den Kerzen, war die erste in einer langen Reihe von Fehlschlägen. Niemand hatte jemals etwas von Ophir und seinen Leuten gehört und keiner wusste etwas über eine niedergebrannte Siedlung im Osten. Das war ziemlich ernüchternd.

Nach dem siebenten Misserfolg, fand ich mich bei einem Mann wieder, der eine Vielzahl von getrockneten, gepökelten und geräucherten Lebensmitteln aus Kisten anbot. Ich feilschte eine Weile mit ihm und tauschte dann eine Kiste mit getrocknetem Obst und Fleisch und geräuchertem Fisch, gegen die Hälfte von dem Straußenfleisch, dass wir noch besaßen.

Wolf half mir dabei, die Kiste zu verladen und warf dabei einem Mann, der Salia und dem Karren zu nahekam, einen warnenden Blick zu.

Es war nicht davon auszugehen, dass der Mann böses im Sinn hatte. Kinder waren einfach eine Rarität und zogen deswegen viel Aufmerksamkeit auf sich. Aber man konnte eben auch nicht in die Köpfe der Menschen gucken und wusste nicht, welch finstere Absichten sich hinter einer freundlichen Maske verbargen. Es wunderte mich ein wenig, dass bisher noch niemand versucht hatte uns einen Tauschhandel anzubieten. Trotzdem mussten wir aufmerksam bleiben.

Als die Kiste verladen war, sprang ich wieder vom Karren und bemerkte, dass Killian ein Stück weiter aufmerksam eine Frau beobachtete, die gerade das Auge einer anderen Frau untersuchte. Ihrer Ausrüstung nach, den Tinkturen und Cremes, musste sie eine Heilerin sein.

Er belauschte die beiden, schüttelte dann den Kopf und ging zum Karren, wo er auf der Ladefläche nach seiner Arzttasche kramte. Ich beobachtete wie er darin herumwühlte und dann eine kleine Tube herauszog. Er lass schnell das Etikett und ging dann zu den beiden Frauen.

Was hatte er denn jetzt vor? „Pass mal kurz auf“, forderte ich Wolf auf und folgte Killian dann eilig. Ich kam gerade rechtzeitig an, als er der Patientin die kleine Tube in die Hand drückte.

„Versuchen sie es einfach“, forderte er die Frau mit einem einnehmenden Lächeln auf. „Glauben sie mir, dass funktioniert viel besser.“

Etwas verdutzt schaute die Frau auf die Tube in ihrer Hand. An ihrem linken Auge war eine kleine Schwelung. Ein Gerstenkorn. „Was ist das?“

„Nur eine einfache antiseptische Salbe. Tragen sie sie drei Mal am Tag auf, dann ist es ganz schnell wieder weg und verhindert, dass es sich auf das andere Auge ausbreitet.“ 

Ihre Augen wurden ein wenig größer. „Das ist Medizin aus der Stadt.“

Auch die Heilerin beugte sich interessiert vor.

„Ähm … ja.“ Als ich mich neben ihn stellte, schaute er kurz zu mir. „Aber sie hilf wirklich gut.“

Offensichtlich missverstand er die Frau. Medizin aus Eden war selten. Und begehrt. Die Frau misstraute ihm nicht, sie war nur erstaunt.

„Was kann ich dir dafür geben?“, fragte sie und drückte das Medikament an ihre Brust, als hätte sie Angst, er würde es ihr sonst wieder wegnehmen.

„Sie brauchen mir nichts geben“, wiegelte Killian sofort ab und bezauberte sie mit einem weiteren Lächeln. „Das ist …“

„Was bietest du?“, mischte ich mich ein.

Auf Killians Gesicht zogen sich die Augenbrauen zusammen, während die Frau von mir zu ihm und dann wieder zurückschaute. Dann nahm sie den alten Rucksack von ihrem Rücken und stellte ihn auf den Boden.

„Ich habe Minze, getrocknete und frische.“ Wie zum Beweis, öffnete sie ihre Tasche und holte mehrere Bündel mit Minze heraus.

Ich nickte. „Nehmen wir.“

Sie nahm ein Bündel von der getrockneten Minze und eines von der frischen und übergab sie mir. Ihre Beute verschwand in ihrer Tasche, bevor sie sie wieder verschloss und zurück auf ihren Rücken hievte. „Vielen Dank.“

„Wiedersehen“, murmelte ich und drehte die Minze in meiner Hand. Sie roch herrlich. Ich mochte Minze. Man konnte schönen Tee daraus kochen und Speisen würzen. Und wenn man einen schlechten Geschmack im Mund hatte, konnte man sie kauen.

Als die Frau wieder ihrer Wege ging, nickte ich mit dem Kopf Richtung Karren und setzte mich in Bewegung.

Killian schloss sich mir an.

„Warum hast du das gemacht? Wir haben genug von der antiseptischen Salbe. Es ist kein Problem etwas abzugeben.“

„Man macht Fremden keine Geschenke, das ist unhöflich.“

Auf seinem Gesicht zeichnete sich Verwirrung ab. „Aber es war doch nur ein kleines Fläschchen, wie kann das unhöflich sein?“

„Die Menge spielt keine Rolle. Du kannst ihr eine Tonne Medizin geben und dafür nur einen Kiesel nehmen, aber du darfst es nicht umsonst geben. Damit wertest du sie ab. Nur Tiere nehmen, ohne zu geben.“ Das hatte ich bei meinem ersten Besuch auf dem Markt gelernt. Damals war es Frühling gewesen und ich gerade mal dreizehn Jahre alt. Meine Eltern waren mit uns nie auf den Markt gegangen, aber Marshall hielt das für eine wichtige Erfahrung.

Nikita war damals noch zu klein gewesen, also war sie mit Azra und Balic im Flugzeug geblieben. Mich aber hatte Marshall mitgenommen und es war einfach nur überwältigend gewesen. Und angsteinflößend. Noch nie in meinem Leben hatte ich so viele Menschen gesehen.

Anfangs hatte ich mich ein wenig gefürchtet, aber Marshall hatte mir alles erklärt und irgendwann hatte ich eine Stoffpuppe entdeckt, die ich unbedingt für Nikita hatte haben wollen. Aber Marshall hatte gesagt, dass sei nur unnötiger Tand und wir brauchten unsere Sachen für wichtigere Dinge, also gab er mir nichts zum Tauschen.

Zu seinem Pech, war ich aber schon damals ein Sturkopf gewesen. Ich hatte das Prinzip des Tauschens verstanden und einen Knopf auf der Straße gefunden. Mit dem war ich dann zu dem Mann gegangen und hatte ihn gefragt, ob er mir dafür die Puppe für meine kleine Schwester geben würde.

Verständlicherweise war seine Antwort nein gewesen, denn mit einem Knopf konnte er nichts anfangen. Zu seinem Leidwesen war er aber nicht gegen die traurigen Augen eines Kindes gefeit gewesen. Er sagte mir, den Knopf wollte er nicht, aber wenn ich ihm Wasser besorgte, könnten wir noch mal darüber sprechen.

Ich hatte ihm das Wasser besorgt und dafür die Puppe bekommen. Nikita hatte sich riesig darüber gefreut.

Heute war das leider alles bedeutungslos.

„Ich wollte sie nicht beleidigen“, sagte Killian und riss mich damit aus meiner Erinnerung.

Ich sollte wirklich damit aufhören, mir ständig meine Vergangenheit ins Gedächtnis zu holen. Das schmerzte immer viel zu sehr. „Hast du ja auch nicht.“

„Ja, aber nur weil du eingeschritten bist.“ Nun schien ausnahmsweise einmal er sich als der Dumme zu fühlen.

„Du musst auch nicht immer Dinge nehmen, du kannst auch Leistungen verlangen“, erklärte ich, als wir wieder am Karren waren. Ich zog die Kiste mit den Lebensmitteln an den Rand und verstaute die Minze darin.

„Leistungen?“ Sein Gesicht verzog sich skeptisch.

Bei dem Gesichtsausdruck kam ich nicht umhin mich zu fragen, was er dachte. Obwohl ich es eigentlich gar nicht so genau wissen wollte. „Du kannst dir zum Beispiel Wasser bringen lassen, oder eine Kopfmassage verlangen.“

„Ah, wie mit Lysann. Wir haben ihr mit ihrem Karren geholfen, dafür bekommen wir Essen.“

Jetzt hatte er es verstanden. „Genau.“

Gerade wollte ich mir die Leine von Trotzkopf geben lassen, als ein älterer Herr mit Halbglatze direkt auf uns zukam. Sein Mantel war lang und schmutzig, aber die Kleidung darunter war gepflegt.

Er schaute kurz zu Wolf, konzentrierte sich aber auf Killian. „Bist du der Arzt, mit den Medikamenten aus Eden?“

Na das hatte sich aber schnell herumgesprochen. „Warum willst du das wissen?“, fragte ich, bevor Killian etwas sagen konnte.

Er war wohl etwas irritiert davon, dass ich mich einmischte. Deswegen brauchte er einen Moment, um zu antworten. „Mein Bruder ist verletzt. Am Arm. Wir waren schon vor zwei Tagen bei der Heilerin und haben ihre Tinktur benutzt, aber es wird nicht besser. Ich war eben wieder bei ihr und sie sagte, ich soll dich fragen.“ Seine Augen baten Killian zu helfen. „Er braucht wirklich Hilfe.“

Killian zögerte, bevor er sagte. „Ich kann es mir einmal angucken, aber ich kann nicht versprechen, dass ich helfen kann.“

„Das ist in Ordnung.“ Er griff nach Killians Arm. „Komm, er sitzt dort hinten beim Turm.“

„Moment.“ Killian machte sich wieder von ihm los und holte seine Tasche vom Karren.

Ich stand daneben und wusste nicht recht, was ich davon halten sollte. Killian war ein erwachsener Mann und er konnte bestimmt helfen, aber er kannte diese Welt doch kaum. „Bist du dir sicher, dass du das machen willst?“, fragte ich ihn leise.

Er stockte kurz und lächelte mich dann an. „Es wird bestimmt nicht lange dauern. Ich schaue es mir nur kurz an und dann komme ich zurück.“

Nein, das gab mir auch kein besseres Gefühl. Darum nahm ich mein Messer von meinem Gürtel und drückte es ihm in die Hand. „Nimm es mit“, forderte ich, bevor er widersprechen konnte.

Er wollte es trotzdem tun, ich sah es ihm an. Dann steckte er es aber einfach in seine Tasche. „Ich bin gleich wieder da.“

Das blieb abzuwarten. „Wir gehen schon mal weiter. Und denk dran, keine Geschenke für Fremde.“

Er nickte, drückte mir kurz die Schulter und folgte dem Mann.

Als ich ihn davongehen sah, überlegte ich, ob ich den Mann Schmerzen hätte androhen sollen, wenn Killian nicht heil zu mir zurückkehrte. Das wäre vermutlich übertrieben, aber ich könnte Wolf als Begleitschutz hinterherschicken.

Seufzend wandte ich mich ab und übernahm wieder Trotzkopfs Leine. Ich musste dringend aufhören, Killian wie ein Kleinkind zu behandeln. Er war ein erwachsener Mann und auch wenn er sich in der freien Welt nicht so gut auskannte, so war er doch sicher fähig, ein paar Minuten ohne mich zu überleben.

Sawyer hatte recht, ich war eine Glucke.

Genervt von mir selber, machte ich mich wieder an meine Aufgabe und begann die Händler nach Sawyers Familie zu fragen. Dabei bezog ich auch die Kunden mit ein, die gerade bei den Händlern standen, aber niemand hatte jemals etwas von Ophirs Gruppe, oder einer kleinen Siedlung im Osten gehört.

Das ließ mich zu dem Schluss kommen, dass sie schon sehr lange fort sein mussten. Wäre es erst ein paar Monate, oder gar Jahre her, müsste zwangsläufig irgendjemand etwas darüber wissen. Aber wenn sie schon kurz nach Sawyers Entführung verschwunden waren, dann wäre das bereits mehr als ein Jahrzehnt her. Und wir wussten ja auch nicht, ob sie noch dort gewesen waren, als die Siedlung niederbrannte, oder ob das erst später geschehen war, als sie schon verschwunden waren. Wir wussten gar nichts, bis auf die Tatsache, dass sie dort einmal gelebt hatten.

Mit diesen wenigen Informationen, war es schwieriger etwas herauszufinden, als ich geglaubt hatte. Trotzdem fragte ich weiter. Ich musste es für Sawyer tun. Ich hatte es versprochen und wenigstens für einen von uns, sollte es ein glückliches Ende geben.

Wir fragten einen Händler, der Weine und Spirituosen handelte und auch zu einem, der Töpferwaren und andere Keramik vertrieb. Ohne Erfolg.

Eine Frau, die Taschen und Körber anbot, schickte uns zu dem Schmied, weil der viele Menschen kannte, aber auch bei ihm hatten wir kein Glück. Allerdings nutzte ich die Gelegenheit, um mir seine Waren etwas genauer anzuschauen. Ich brauchte ein manierliches Messer und auch die Männer sollten welche besitzen, doch das Angebot war er mager. Hauptsächlich bot er Eisenwaren wie Töpfe und Werkzeuge an. Die wenigen Messer waren nicht das was ich suchte, also besorgte ich dort nur ein neues Rasiermesser für die Männer und dann gingen wir weiter.

Wir hatten das hintere Ende des Markts erreicht, als ich eine altbekannte Person an einem der wenigen Tische entdeckte. Kisten stapelten sich zu beiden Seiten seines Stands und hinter ihm stand ein halbvoller Karren.  Ein Stück weiter waren zwei Rinder an dem rostigen Skelett eines Autos festgebunden.

Der Tisch selber bog sich unter Gewürzen, Pfeffer und Salz. Eier stapelten sich in Kartons neben Brotleiben in Körben und verschiedenen Käsen. Schon beim Näherkommen, stieg mir das angenehme Aroma der Gewürze in die Nase.

Der Mann hinter dem Tisch war in den mittleren Jahren. Der Kinnbart war gepflegt, die braunen Haare sauber und die Kleidung ordentlich. Das Einzige was nicht ganz ins Bild passte, war der große Ring in seinem linken Ohr, der bei jeder Bewegung, fröhlich hin und her schwang.

Ich ging direkt auf ihn zu, Trotzkopf hinter mir.

Er bediente gerade eine Kundin, doch als er aufblickte und mich entdeckte, begann sein ganzes Gesicht zu strahlen, als hätte er einen lange vermissten Freund wiedergefunden. „Kismet, da bist du ja! Ich habe schon geglaubt, dieses Mal würdest du gar nicht mehr auftauchen.“

„Hallo Cadoc.“

Wolf gesellte sich an meine Seite und inspizierte interessiert das Angebot.

„Wie geht es dir, wo ist Marshall? Ich habe hier etwas für ihn.“ Er reckte den Hals, als glaubte er, Marshall würde sich hinter mir verstecken.

Seinen Worten entnahm ich, dass Marshall bisher noch nicht hier gewesen war. Damit stieg die Chance, dass ich ihm noch über den Weg laufen könnte. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich darüber freuen sollte, oder es doch angebrachter war, schon mal meine Wut zu schüren. Das Zweite würde vermutlich weniger wehtun.

Da Cadoc mich so erwartungsvoll anschaute, zwang ich ein Lächeln auf meine Lippen. „Ich weiß nicht wo er ist, wir … wir gehen jetzt getrennte Wege.“ Das war die höfflichste Art, wie ich es ausdrücken konnte, aber es tat trotzdem weh.

„Getrennt?“ Er wirkte schockiert. „Warum, was ist geschehen?“

Öhm, naja, erst wurde Nikita entführt, dann ich. Anschließend wurden wir nach Eden gebracht, wo man mich als menschlichen Brutkasten benutzen wollte. Ich schaffte es zu entkommen, verlor dabei aber meine Schwester und als ich zum Flugplatz zurückfand, entschied Marshall, dass ich jetzt eine Gefahr für seine Familie darstellte. Also schickte er mich hinaus in die weite Welt – ganz weit weg. „Es war einfach an der Zeit.“ Man, das war mal eine lahme Ausrede gewesen. 

So wie Cadoc mich anschaute, war er wohl der gleichen Meinung. „An der Zeit, an der Zeit!“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das ist kein Grund seine Leute zu verlassen. Bei mir auf dem Hof bleiben alle. Wir sind sogar seit dem Frühjahr zwei Leute mehr geworden. So macht man das und nicht anders. Man trennt sich nicht einfach.“

Neben mir brummte Wolf, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Auch Cadoc sah zu ihm hoch. Und hoch. Und noch höher. Dann schaute er von ihm zu mir und begann zu grinsen. „Ist er etwa der Grund?“

Öhm … klar, wenn wir das Thema damit beenden konnten, war das der Grund. „Du hast mich durchschaut“, sagte ich, nahm Wolfs Hand und verschränkte meine Finger mit seinen. „Es war an der Zeit zu gehen, weil ich ihn gefunden habe.“

Wolf zog die Augenbraue nach oben, als wollte er fragen, was der Mist sollte.

Ich schwor mir im Stillen, wenn er jetzt etwas Falsches sagte, würde ich ihm einen Tritt gegen das Schienbein verpassen. Oder naja, tat, wenn er etwas Falsches tat.

„Ah, ich wusste es.“ Er tippte sich an die Schläfe. „Mir entgeht nichts, merk dir das, ich bekomme alles mit.“

Na das bezweifelte ich doch stark.

„Und du passt hoffentlich gut auf unsere hübsche Kismet auf. Marshall würde dich wie Vieh jagen, wenn ihr etwas passieren würde.“

Ein amüsiertes Funkeln trat in Wolfs Augen. Er hob unsere verschränkten Finger an die Lippen und hauchte einen Kuss auf meinen Handrücken.

Ähm … ja. Hätte er nicht einfach nicken können, oder so? „Er hat immer ein Auge auf mich“, sagte ich, um das Thema abzukürzen.

„Kann ich mir vorstellen. Bei deiner Größe, brauchst du andere nur finster anzuschauen, um sie in die Flucht zu schlagen.“

Er zuckte nur mit den Schultern.

Cadoc zog die Augenbrauen ein wenig zusammen. „Besonders gesprächig bist du ja nicht.“

Wenn ich nicht langsam zu meinem eigentlichen Anliegen kam, würde ich vermutlich morgen noch hier stehen. „Ich wollte dich etwas fragen“, wechselte ich rasch das Thema und überlegte, ob ich Wolf unbemerkt auf den Fuß treten konnte. Jetzt schaukelte er unsere verschränkten Hände auch noch hin und her. Das machte ihm eindeutig zu viel Spaß.

Cadoc beugte sich leicht vor. „Na jetzt bin ich aber gespannt.“

„Ich suche jemanden, oder besser gesagt, ein … Freund von mir sucht etwas.“ Oh Gaia, war das befremdlich, Sawyer als Freund zu bezeichnen. „Er sucht seine Familie. Wir wissen, dass sie vor sechzehn Jahren in einer kleinen Siedlung im Osten gelebt haben. Ihr Anführer hieß Ophir. Die Familie hatte viele Kinder und jetzt ist die Siedlung völlig abgebrannt. Hast du mal etwas davon gehört?“

Bedauernd schüttelte er den Kopf. „Nein, tut mir leid, davon höre ich gerade zum ersten Mal. Sechzehn Jahre ist das her, sagst du?“

Ich nickte.

Die Frau, die vor uns hier gewesen war, zog eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit aus ihrer Tasche und legte sie Cadoc auf den Tisch.

Er nickte und überreichte ihr einen Korb mit Brot, Eiern und Käse. „Damals war ich noch unten im Süden. Du weißt schon, am Meer. Ich liebe das Meer. Es ist so wunderschön.“

Ja, das war es und ich selber würde auch mal gerne dorthin reisen, aber das war hier gerade nicht Thema. Dieser Mann schweifte so leicht ab, dass war manchmal wirklich zum Verzweifeln. „Kennst du vielleicht jemanden, der etwas wissen könnte?“

„Lass mich kurz überlegen.“ Nachdenklich tippte er sich mit dem Finger ans Kinn.

Als die Frau an unserem Karren vorbeiging, beugte sich Salia über den Rand, um zu schauen, was sie in ihrem Korb hatte.

Mit einem mahnenden Blick machte ich ihr deutlich, dass sie bleiben sollte wo sie war.

„Am Besten fragst du da mal bei den älteren Stämmen im roten Riesen. Die könnten vielleicht etwas wissen.“ Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite und entdeckte Salia. „Du hast ein Kind.“

„Sie ist nicht handelbar“, sagte ich schnell, bevor er auf komische Gedanken kam, doch er lachte nur herzlich.

Wolf nahm das zum Anlass, meine Hand loszulassen und um den Karren herumzugehen. Meine gluckenhaften Tendenzen schienen abzufärben.

„Und?“ Cadoc klatschte in die Hände und rieb sie aneinander. „Bist du nur hier um zu reden, oder kann ich dich für meine Sachen begeistern?“

Ja, das konnte er. „Ich will Brot und Käse. Und ein Glas mit deinen Gewürzen.“

Ein Glitzern trat in seine Augen, wie immer, wenn er ein gutes Geschäft roch. „Ich will die Kette.“

„Die Kette?“

„Die Kette von dem Mädchen.“ Als er die Hand Richtung Salia ausstreckte, schaute auch ich zu der Kleinen.

Die Kette, mit dem rosa Schaf, die sie von Sawyer zu ihrem Geburtstag bekommen hatte, baumelte vor ihrer Brust.

Das konnte er ja mal sowas von vergessen. „Ich habe Straußenfleisch.“

„Ich will aber die Kette.“

„Straußenfleisch oder gar nichts.“ Ich hielt ihm die Hand hin. „Schlag ein.“

Er dachte nach. „Wie viel Fleisch?“

„Fünf Kilo, gepökelt.“

Sein Blick glitt wieder zu der Kette. „Na gut“, sagte er dann und schlug ein. Dann bereitete er mir einen Korb zu, mit einem Leib Brot, ein wenig Käse und ein Glas von seinen Gewürzen. 

Ware wechselte seinen Besitzer.

Ich steckte Salia die Kette zurück unter ihr Hemd und verabschiedete mich.

Er bat mich zum Abschied noch, Marshall von sich zu grüßen und wandte sich dann schon dem nächsten Kunden zu.

Marshall grüßen. Pah. Ich hoffte diesem Mann nie wieder über den Weg laufen zu müssen. Gleichzeitig wünschte ich mir aber, dass genau das geschah.

Mir war wirklich nicht mehr zu helfen.

Da wir weiterhin erfolglos geblieben waren, versuchten wir unser Glück bei anderen Händlern. Leider bekamen wir überall ähnliche Aussagen. „Nie gehört.“, „Kenn ich nicht.“, „Versuch es mal bei dem.“ Und mein Favorit: „Kauf etwas, oder verschwinde.“ Je mehr Leute wir abklapperten desto mutloser wurde ich.

Insgeheim hoffte ich, dass Sawyer mehr Erfolg hatte. Aber wenn er etwas erfahren hätte, wäre er in der Zwischenzeit sicher wieder bei uns, oder? Das ließ vermuten, dass er bisher genauso viel Glück hatte, wie wir.

Wir hatten ein halbes Dutzend weiterer Händler abgeklappert, als ich zu dem Stand des Waffenhändlers kam.

Hier hatte ich unbedingt hergewollt und da mir die Suche nicht weglaufen würde, führte ich Trotzkopf an den Stand und zog die Bremse an. Dann begutachtete ich seine Auslagen.

Ich brauchte keine zwei Sekunden, dann hatte ich genau das gefunden, was ich suchte. Ein Messer in einer Lederscheide. Ein wenig länger als mein Unterarm, gerade Klinge.

Vorsichtig nahm ich es zur Hand und schaute es mir an.

„Gute Wahl“, sagte der Händler sofort. „Stabile Klinge. Gut als Hieb- und Stichwaffe.“

Als Hiebwaffe würde ich sie nun nicht gerade einschätzen. Meine Machete war eine Hiebwaffe gewesen. Ich trauerte ihr hinterher. Nicht weil sie eine hervorragende Waffe war, die mir schon so manches Mal aus der Patsche geholfen hatte. Nein, ich trauerte ihr hinterher, weil sie das einzige Andenken an meine Eltern war. Ein Erbstück, alles was mir von ihnen geblieben war. Aber ich hatte sie in Eden zurücklassen müssen.

„Willst du sie?“

„Ja.“ Ich legte sie zurück und schaute mir noch den Rest an. „Aber ich brauche mehrere Messer und ein Schleifstein.“ Hinter dem Tisch, angelehnt an einigen Kisten, bemerkte ich einen kleinen Bogen. Von der Größe her würde er zu Salia passen. „Und den will ich auch.“

Er folgte mit dem Blick meinem ausgestreckten Finger. Ein verschlagenes Lächeln trat auf seine Lippen. „Das ist ziemlich viel.“

„Wir sind auch viele Leute.“ Und ich fand es wichtig, dass auch die Männer ihre eigenen Messer bekamen. Es war sicherer. Ein Messer konnte in vielen Situationen hilfreich sein.

Ein Mädchen in Nikitas Alter kam zum Tisch und schaute sich die Ware an. Ihr kurzes, braunes Haar, war zu Dreadlocks geflochten und stand ihr vom Kopf ab, das Gesicht rundlich und die Hüfte ein wenig ausladend. Sie war nicht dick, nur kurvig.

In ihrem Gesicht trug sie Schmuck. Es waren Drähte, die an manchen Stellen eckig gebogen waren. Der Draht führte von ihrem rechten Ohr, über ihren Wangenknochen, zu ihrer Nase. Dann ging er steil nach oben über ihrem Kopf und verschwand in ihrem Haar. Aber er führte auch von ihrem Ohr an ihrer Kinnlinie entlang und endete dort an ihrem Kinn. An ihrer Stirn und am Ohr, waren an den Draht kleine Vierecke angeschweißt. Es wirkte futuristisch.

Sie trug Hose und Schuhe aus schwarzem Leder und ein Hemd aus Leinen. Aber darüber hatte sie noch eine Lederweste mit Pelz am Kragen an. An ihrer Hüfte steckte ein kurzes Messer in einer Scheide.

„Was bietest du dafür?“, fragte der Händler und zog damit meine Aufmerksamkeit wieder auf sich.

„Etwas ganz Außergewöhnliches.“ Ich ging zum Karren und zerrte die Kiste mit den Sachen aus Eden hervor. Dort waren die Uniformen und auch die Waffen verstaut.

„Ich will das Kind“, sagte der Händler plötzlich.

Ich erstarrte. „Nein.“

„Dann verschwinde.“

Ruhig Blut. „Du willst nicht, dass ich verschwinde, du willst wissen, was ich anbiete“, sagte ich so ruhig ich konnte, obwohl ich ihm am liebsten eine runtergehauen hätte. Wie kamen die Menschen nur darauf, dass Kinder Handelsware waren? Bei denen stimmte doch irgendwas nicht.

„Das will ich nicht.“

Ich ließ mich nicht beirren und zog die beiden Waffen aus Eden aus der Kiste. Damit ging ich zu dem Händler und zeigte sie ihm. „Schusswaffen.“

Die Gier kehrte zurück in seine Augen. Trotzdem sagte er: „Waffen aus der Stadt sind wertlos, man kann sie nicht abfeuern.“

Das Mädchen schaute neugierig zu uns rüber.

„Diese hier schon. Schau nur, das Lämpchen ist grün, nicht rot.“ Ich tippte auf den kleinen leuchtenden Punkt. „Wenn du mir nicht glaubst, kann ich es dir beweisen.“

Er dachte nach. Dann sagte er: „Du kannst dir eins aussuchen.“

„Eins? Ein Messer? Es sind zwei Waffen, Waffen aus Eden. Die sind viel mehr wert.“ Wertvoll genug, um dafür alles zu bekommen, was ich haben wollte.

„Vielleicht, wenn sie funktionieren.“

„Aber sie funktionieren doch. Hier, das grüne Lämpchen leuchtet.“

Er winkte ab, als sei es unbedeutend. „Es ist egal ob es leuchtet, ich muss auch noch die richtigen Kunden dafür finden. So gut wie niemand will Waffen aus Eden. Ein Messer. Such dir eins aus, oder verschwinde.“

So ein verdammter Halsabschneider. Leider hatte er recht. Die Waffen waren nur für jemanden interessant, der Strom hatte und sich ein wenig mit Technik auskannte. Davon gab es nicht viele Menschen. Darum wollte ich sie ja auch eintauschen. Sobald der Akku von den Dingern leer war, wären sie für uns nutzlos. Mit einem Messer konnte ich nicht nur mehr anfangen, ich wusste es auch besser zu führen. „Aber ein Messer ist zu wenig. Gib mir wenigstens …“

„Nein, warte“, mischte sich das Mädchen neben mir ein. Sie wedelte sogar mit den Händen, als könnte sie mich so aufhalten. „Gib ihm die Waffen nicht.“  

Verärgert runzelte der Mann die Stirn. „Misch dich nicht in die Geschäfte anderer ein. Scher dich weg, du Göre.“ Er machte eine Handbewegung, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen.

Das Mädchen beachtete ihn gar nicht. „Gib sie ihm nicht, in Ordnung? Warte bitte, nur einen Moment, ja?“ Sie hob einen Finger in die Luft. „Nur einen Moment, ich bin gleich wieder da.“ Sie machte zwei Schritte rückwärts und beschwor mich mit den Augen. Dann drehte sie sich eilig herum und hastete auf die andere Seite zu einem Händler, der verschiedene Kräuter anbot. Aber nicht der Händler war ihr Ziel, sondern die beiden Frauen die dort standen und sich das Angebot anschauten.

Als das Mädchen zu ihnen kam, wandten sie sich ihr zu. Sie waren ganz Ähnlich gekleidet, wie die Kleine und in ihren Gesichtern trugen sie auch diesen Gesichtsschmuck aus Drähten und Blechplättchen. Offensichtlich gehörten sie zusammen.

Die Kleine redete auf die Frauen ein und zeigte dann in meiner Richtung.

Beide drehten sich zu mir um.

„Willst du wirklich mit einem Kind handeln?“, fragte mich der Händler. „Hier, du bekommst zwei Messer, eins für jede Waffe.“

Aha, er wollte die Waffen also doch und hatte nur versucht mich übers Ohr zu hauen. Vielleicht wusste er sogar schon, an wen er sie verscherbeln konnte. Und jetzt, wo er seine Felle davonschwimmen sah, versuchte er schnell einzulenken.

„Du kannst aussuchen, welches du willst.“ Er hielt mir die Hand hin. „Hier, schlag ein.“

Das tat ich nicht. Stattdessen beobachtete ich das Mädchen, das nun mit den beiden Frauen zu mir rüberkam.

Die linke Frau hatte helles, blondes Haar. Es war so hell, dass es fast weiß wirkte. Sie war groß und schlank, mit einem sehr ebenmäßigen Gesicht. Ihr Alter schätzte ich so um die Dreißig. Auch ihre Haare waren zu Dreadlocks geflochten. Sie waren so lang, dass sie ihr bis zum Po reichten. Doch das Auffälligste an ihr, waren wohl ihre Augen, sie waren violett. Solche Augen hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.

„Ach, dann eben nicht“, sagte der Händler und warf mir einen bitterbösen Blick zu.

Die andere Frau war die älteste von den dreien. Sie musste um die vierzig sein. Wie die beiden anderen, trug auch sie Dreadlocks in blond, wenn auch ein dunklerer Ton. Sie war kräftiger und etwas kleiner, als ihre beiden Begleiterinnen. Braune Augen. Der Schmuck in ihrem Gesicht war ein wenig ausgefallener, fast wie eine Halbmaske. Am Kinn, halb verdeckt von den Drähten, hatte sie ein bohnenförmiges Muttermal.

Irgendwie kam sie mir bekannt vor.

Sie war es, die vor mich trat und mich genauso gründlich musterte, wie ich sie zuvor. Dann glitt ihr Blick über Salia und blieb dann einen Moment an Wolf hängen. Aber es war nicht seine Größe, oder seine Präsenz, die sie interessierte, wurde mir schnell klar. Sie schaute sich seine Kleidung an. Heute trug er Stiefel, Hose und Hemd von der Gardistenuniform. Ihr Blick blieb einen langen Moment auf dem Emblem von Eden kleben, dass auf der Brust von Wolfs Hemd prangte.

Wolf schien das gar nicht zu bemerken, sein Blick klebte auf der Frau mit dem hellen Haar. Sie bedachte ihn jedoch nur mit kühlem Desinteresse.

Der Blick der älteren Frau glitt kurz über unseren Karren und Trotzkopf, dann landete er wieder bei mir. „Ich bin Sam, das sind meine Begleiter.“ Sie zeigte auf das Mädchen und die Frau. „Skade sagt, du möchtest Waffen eintauschen.“

Und da sie nun hier waren, wollten sie sie wohl haben. „Ja. Hast du Interesse?“

Der Händler erdolchte uns mit Blicken. „Müsst ihr das unbedingt hier machen? Ihr verschreckt mir alle Kunden“, beschwerte er sich.

Da keine der drei darauf reagierte, entschloss ich mich, ihn auch zu ignorieren.

„Vielleicht.“ Sam beäugte die Waffen in meinen Händen. „Wenn sie funktionieren.“

„Sie funktionieren.“ Ich drehte die Waffen so, dass die Lämpchen zu sehen waren. „Siehst du das grüne Licht? Sie funktionieren und sind schussbereit.“

„Ich habe es doch gesagt“, murmelte Skade.

Sam mahnte sie allein durch einen Blick, dann hielt sie mir die offene Hand hin. „Darf ich?“

Ich gab ihr nur eine. Wenn sie versuchen sollte, mit der abzuhauen, konnte ich mit der anderen immer noch auf sie schießen.

Sobald sie die Waffe in der Hand hielt, vermittelte sie das Gefühl, sowas nicht zum ersten Mal zu halten. Sie untersuchte den Lauf und die Kammer für die Patronen. Dann drehte sie die Waffe und entdeckte den Keychip, den ich mit etwas Baumharz daran festgeklebt hatte. Diese Chips waren winzig klein und gingen leicht verloren, wenn man sie mit sich herumtragen musste und die Waffen funktionierten ohne diese Chips nicht. Es war ein ziemlich guter Einfall von mir gewesen, fand ich.

Als Sam jedoch plötzlich „Ein Keychip“ murmelte, war ich nicht nur überrascht, sondern auch ein kleinen wenig erschrocken. Ich wusste, was ein Keychip war, weil ich in Eden gewesen war, aber woher wusste sie es?

Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Wolf und fragte mich, ob er das mitbekommen hatte, doch sein ganzes Interesse schien zur Zeit der hellblonden Frau zu gelten. Als sie ihn anschaute, lächelte er sogar vorsichtig, doch der Ausdruck auf ihrem Gesicht, wurde nur noch kühler. Wenn er nicht aufpasste, würde er sich bei dieser Frau die Eier abfrieren.

Sam betrachtete den Keychip noch einen Moment und ließ die Waffe dann sinken. Sie machte nicht den Eindruck, als wollte sie sie wieder hergeben. „Funktioniert die andere auch?“

„Ja.“ Ich hielt sie hoch, so dass sie auch an dieser den angeklebten Chip und das grüne Licht sehen konnte. „Zwei Waffen, zwei Keychips.“ Die Chips betonte ich besonders, weil ihr Interesse offenbar dort lag.

Sie zögerte einen Moment, dann fragte sie: „Von wem sind die Keychips?“

Es war wirklich seltsam, mit jemanden auf dem Markt über diese Chips zu sprechen. „Der hier ist von einem Gardisten in Ausbildung.“ Ich hielt meine Waffe ein wenig höher.

Bei dem Wort Gardist, ging ihr Blick zu Wolf und seiner Kleidung. Der bekam aber auch davon nichts mit. Seine Körperhaltung war ein wenig seltsam und ich brauchte einen Moment, um zu verstehen warum. Er spannte seine Muskeln an, als wollte er die Blondine damit beeindrucken. Schau her Schatz, ich bin ein großer, starker Mann, der dich beschützen kann.

Ob es seinem Treiben ein Ende setzten würde, wenn ich ihm kräftig auf den Fuß trat? Wahrscheinlich. Aber solange er Spaß daran hatte, ging mich das nichts an.

„Und der andere?“, wollte Sam wissen und sofort rückte Wolfs Liebeswerbung in den Hintergrund.

„Der gehörte der Anführerin von Eden.“

„Agnes?“ Sam fragte das so überrascht, dass ich mir sicher war, dieser Ausruf war nicht beabsichtig. Ich hatte sie mit dieser Aussage wohl einfach verblüfft.

Wenn man sich ein wenig mit Eden auskannte, war diese Frage auch gar nicht befremdlich. Agnes war die bestgeschützteste Person in der ganzen Stadt. Um an sie und diesen Chip heranzukommen, hatte ich eine List und den richtigen Zeitpunkt gebraucht.

Trotz alledem wurde ich beim Nennen dieses Namens ziemlich misstrauisch. Einen Moment musste ich sogar gegen meinen Fluchtreflex ankämpfen. Woher kannte sie Agnes? Hatte sie vielleicht mal einen ähnlichen Zusammenstoß mit der Stadt gehabt wie ich? Das würde zumindest ihr Wissen erklären.

Aber nicht nur mein Misstrauen war geweckt, auch Sam wirkte mit einem Mal nicht mehr so zugänglich. „Woher hast du diese Sachen?“, wollte sie wissen.

Da ich nicht antworten wollte, weil es sie nichts anging und ich auch keine Lust hatte, darüber zu reden, stellte ich eine Gegenfrage: „Woher weißt du, wer die Despotin von Eden ist?“

Wir lieferten uns einen Starrwettbewerb und versuchten die jeweils andere mit Blicken zu zwingen, unsere Fragen zu beantworten. Aber scheinbar hatte sie genauso wenig Lust mich aufzuklären, wie ich sie.

Das Mädchen, diese Skade, schaute zwischen uns beiden hin und her. Nur die Blondine schenkte unserem stummen Duell keine Beachtung. Mit kühler Fassade, behielt sie Wolf im Auge.

Während um uns herum das Leben tobte und die Menschen ihren Geschäften nachgingen, begann Sam zu lächeln. Erst war es kaum erkennbar, doch dann kletterten ihre Mundwinkel langsam immer höher und ihre Augen begannen belustigt zu funkeln. „Du bist eine sehr interessante Frau.“

Ich hätte ja geheimnisvoll bevorzugt, aber das war auch in Ordnung. „Das gleiche könnte ich über dich sagen.“ 

Ihr Lächeln wurde breiter, als sie den Kopf leicht neigte. Sie fasste die Waffe mit beiden Händen, musterte sie noch einen Moment und fragte dann: „Was willst du für die beiden Waffen?“

„Ich will das große Messer.“ Ich zeigte ihr, welches ich meinte. „Und noch drei weitere.“

Mit einem Brummen, machte Wolf auf sich aufmerksam. Er zeigte auf eine andere Klinge mit Lederscheide, breit, scharf und mit gezacktem Rücken.

Es erstaunte mich ein wenig, dass er mitbekommen hatte, an welcher Stelle der Verhandlungen wir waren. Scheinbar war er aufmerksamer, als ich ihm zugetraut hatte und das Messer war ihm wichtig genug, um seine Flirtversuche einen Moment zu unterbrechen.

„Er will das Messer“, erklärte ich, damit sie auch verstand. „Dann brauche ich noch einen Schleifstein. Und einen Bogen für das Mädchen.“

Sam dachte darüber nach. „Das ist ziemlich viel für zwei Waffen.“

Da konnte ich nicht widersprechen. Aber diese Waffen waren auch ziemlich selten und den Preis wert. Da sie aber gewillt war, dieses Angebot in Betracht zu ziehen, verlangte mein Ehrgefühl, ihr noch etwas anzubieten. „Ich habe noch andere Dinge zum Tauschen. Fleisch und Straußenfedern. Und ein bisschen Minze.“ Obwohl ich die eigentlich gerne behalten wollte.

„Sowas brauche ich nicht“, sagte sie, ohne lange darüber nachzudenken.

Das war ärgerlich. Natürlich gab es da noch etwas, dass ich ihr anbieten konnte, obwohl ich das eigentlich gegen Stoffe und Felle hatte eintauschen wollen. Doch Stoffe und Felle konnte ich notfalls auch selber herstellen und die Messer brauchten wir. „Dann … wie wäre es mit Uniformen aus Eden?“

Ihre Augen blitzten interessiert auf, auch wenn sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. „Was für Uniformen?“ Ihr Blick huschte kurz zu Wolf.

„Ich habe eine von einem Tracker und eine von einem Gardisten.“ Die zweite Gardistenuniform konnte ich nicht weggeben, da Wolf sie brauchte. Er besaß nicht viel Kleidung und die wenige, die er hatte, konnte ich ihm nicht einfach wegnehmen.

„Ich will sie sehen“, verlangte Sam.

Das war nur fair. Ich wollte mich umdrehen, um sie vom Karren zu holen, doch da hatte Wolf sie sich schon geschnappt und stellte sie zwischen uns ab.

Sam übergab die Waffe an die Blondine, mit den faszinierenden Augen, hockte sich dann hin und untersuchte den Inhalt der Kiste. „Die Helme zu den Gardistenuniformen fehlen. Und auch die Gürtel.“

Das war korrekt. Meinen Helm hatte ich bei unserer Flucht aus Eden einfach weggeworfen und Wolf hatte seinen später in dem Fahrzeug, mit dem wir geflohen waren, zurückgelassen. Der war mittlerweile sicher nur noch ein Haufen Asche und geschmolzenes Plastik.

Den Gürtel hatten mir die Tracker abgenommen, als sie mich wieder eingefangen hatten. Sie sahen es einfach nicht so gerne, wenn Gefangene Schlagstöcke und Handschellen hatten, mit denen sie sich verteidigen konnten. „Die Trackeruniform ist vollständig.“

„Ja, sieht so aus.“ Sie erhob sich wieder.

„Also, sind wir im Geschäft?“

Sie überlegte kurz. „Die Waffen, die Keychips und die Trackeruniform. Die Gardistenuniform ist unvollständig, die kann ich nicht gebrauchen.“

Damit konnte ich leben. „Vier Messer, ein Schleifstein und der kleine Bogen.“ Ich hob die Hand. „Schlag ein.“

Sie schlug ein. Damit war der Deal besiegelt. Als sie meine Hand wieder losließ, wirkte sie sehr zufrieden. Sie wandte sich mit den Worten: „Nehmt unsere Sachen“ an ihre Begleiter und sagte dann zu mir: „Bin gleich wieder bei dir.“ Damit gingt sie zu diesem Halsabschneider von Waffenhändler. „Gib dem Mädchen was sie will. Du bekommst fünf Kilo mehr, mit der nächsten Lieferung.“

Der Mann schaute sie an, als würde er etwas berechnen. „Ich will zehn.“

„Fünf.“

Die Blondine ging an die Kiste und begann damit, die Teile der Trackeruniform herauszusuchen. Wolf war sofort zur Stelle, um ihr zu helfen.

Skade nahm von mir die zweite Waffe entgegen.

„Sieben“, versuchte der Händler weiter zu handeln.

„Fünf. Und wenn du jetzt nicht aufhörst mit mir zu feilschen, werde ich mit dem Boss sprechen und wir werden in Zukunft unsere Geschäfte mit einem anderen Schmied machen.“

Aha, die beiden kannten sich offensichtlich.

Die Augen des Händlers wurden zu verärgerten Schlitzen. „Ihr werdet niemanden finden, der so gut ist wie ich.“

„Vielleicht nicht, aber sag mir, wie lange wirst du noch gute Arbeit leisten können, wenn du von uns kein Material mehr bekommst?“

Da zog er einen Flunsch. „Na gut“, knurrte er und funkelte mich böse an, als sei das alles meine Schuld. „Fünf Kilo. Komm her Mädchen, nimm deine Sachen.“

Genau das tat ich auch. Der Schleifstein und die Kiste mit der verbleibenden Uniform, landeten auf dem Karren. Das lange Messer schnallte ich sofort an meinem Gürtel und auch Wolf nahm seines direkt an sich.

Salia freute sich riesig über ihren eigenen Bogen. „Damit werde ich Papa jetzt immer schlagen“, verkündete sie aufgeregt und hüpfte auf dem Karren auf und ab.

Ich verstaute die Messer für Sawyer und Killian in einer der Kisten und wandte mich dann wieder zu Sam um. „Danke.“

„Ich habe zu danken.“ Als sie lächelte, verrutschte ihre Drahtmaske ein wenig und wieder bemerkte ich das Muttermal an ihrem Kinn. Ich wusste, ich hatte das schon mal gesehen, nur wo? Und warum war es mir so in Erinnerung geblieben? „Vielleicht sieht man sich ja mal wieder“, sagte sie noch und hob zum Abschied die Hand.

„Vielleicht“, erwiderte ich schlicht, immer noch mit der Frage beschäftigt, warum sie mir so bekannt vorkam. Ich wusste genau, dass ich ihr noch nie begegnet war. Das war paradox.

Sam und ihre beiden Begleiterinnen, kehrten uns den Rücken und gingen ihrer Wege, doch kurz bevor sie in der Menge verschwanden, schaute die Blondine, mit dem fast weißen Haar, noch einmal zu uns zurück. Nein, nicht zu uns, zu Wolf. Sie zwinkerte ihm aufreizend zu und dann war sie verschwunden.

„Nicht schlecht“, sagte ich zu Wolf. „Du scheinst sie doch noch beeindruckt zu haben.“

Mit einem Mal wirkte Wolf sehr zufrieden.

 

oOo

Kapitel 22

 

„Nein, tut mir leid“, entschuldigte sich der Händler und schüttelte dabei bedauernd den Kopf. „Ich habe noch nie etwas von einem Ophir gehört.“

Mist, noch ein Fehlschlag. Irgendjemand auf diesem Markt, musste doch etwas wissen. Sechzehn Jahre waren ja nun auch keine Ewigkeit und weit über die Hälfte der Marktbesucher, waren vor sechzehn Jahren auch schon erwachsen gewesen. Warum also konnte niemand etwas mit diesem Namen anfangen? Das war zum Verrücktwerden. „Trotzdem, vielen Dank“, bedankte ich mich bei dem Mann.

„Keine Ursache.“

Ich gesellte mich wieder zu Wolf, der gerade schwer damit beschäftigt war, Trotzkopf davon abzuhalten, die Waren einer Frau zu fressen. Die Karotten in der Kiste sahen aber auch appetitlich aus. „Wieder kein Glück“, informierte ich ihn.

Er wiegte den Kopf hin und her und seufzte lautstark.

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was er mir damit sagen wollte. „Sobald wir mal einen ruhigen Moment haben, bringst du mir Zeichensprache bei. Das nervt mich wirklich.“

Er hob einen Daumen.

Das war ein Zeichen, dass ich verstand.

„Papa!“

Salias freudiger Ruf, veranlasste mich dazu, mich herumzudrehen.

Sawyer tauchte neben einer Gruppe von Männern und Frauen auf, die sich um einen Händler scharten, der seine Waren lautstark anpries. Gerade als er an den Leuten vorbeigehen wollte, trat eine der Frauen auf einmal einen Schritt zurück, sodass Sawyer nicht mehr ausweichen konnte und in sie hineinlief.

„Hast du keine Augen im Kopf?!“, schnauzte er sie an.

Erschrocken wich die Frau vor ihm zurück und legte sich eine Hand auf die Brust.

Sein Blick spießte sie förmlich auf, bevor er an ihr vorbeirauschte.

„Wenn ich seine Laune richtig deute, hatte er genauso viel Erfolg wie wir.“

Von Wolf kam ein zustimmendes Brummen.

Salia breitete erwartungsvoll die Arme aus, als ihr Vater sich dem Karren näherte und sprang ihm mit einem Jauchzen um den Hals, sobald er in Reichweite war.

Sawyer ächzte ein wenig, als er sie auffing, ließ sie aber nicht fallen. Und das trotz Armschlinge. Eine Glanzleistung.

„Ein Mann wollte meine Kette haben“, erzählte sie sofort aufgeregt. „Aber Kismet hat nein gesagt. Und dann war da noch ein Mann, der wollte mich haben, aber da hat Kismet auch nein gesagt. Deswegen habe ich einen Bogen bekommen. Jetzt können wir zusammen Schießen üben.“

Sein Blick huschte von ihr zu mir und wieder zurück. „Du scheinst eine aufregende Zeit gehabt zu haben“, murmelte Sawyer.

„Hmh.“ Sie kuschelte sich an seinen Hals, riss den Kopf dann aber gleich wieder zurück und verfehlte sein Kinn nur um Haaresbreite. „Und Trotzkopf hat versucht Karotten zu klauen, da.“ Sie Zeigte auf die Frau neben uns, die Trotzkopf und ihre Karotten wachsam im Auge behielt.

„Man könnte meinen, sie hätte dich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen“, schmunzelte ich und bückte mich, um Wölkchen vom Boden aufzuklauben. Sie war bei Salias waghalsigem Sprung heruntergefallen.

Mit einem mürrischen Blick in meine Richtung, stellte er Salia auf dem Boden ab und nahm sie an die Hand. „Sag mir, dass du etwas herausgefunden hast, bevor ich noch jemanden ermorde.“

„So gut ist es bei dir gelaufen?“

Seine Augen wurden ein wenig schmaler.

Na gut, in Ordnung, dann eben keine Witze. „Bis jetzt wusste niemand etwas, aber wir sind ja noch nicht durch.“ Ich reichte Salia das Plüschtier, dass sie sich sofort an ihre Brust drückte. „Und im roten Riesen gibt es ja auch noch ein paar Händler die wir fragen können.“

Der mürrische Ausdruck verwandelte sich in Resignation. „Dann lass es uns hinter uns bringen, damit wir hier abhauen können.“

Sein Funke der Hoffnung war dabei zu verlöschen und ich wusste nicht, wie ich das verhindern sollte. Nein, streicht das, ich wusste es durchaus. Ich musste nur jemanden finden, der all die Antworten auf unsere Fragen besaß. Leider begannen genau an dieser Stelle die Schwierigkeiten, weil ich nicht die geringste Ahnung hatte, wo dieser Jemand war.

Trotzdem musste ich weitermachen. Es war wichtig für Sawyer und ja, auch für mich. Ich brauchte eine Aufgabe im Leben, um mich nützlich zu. Darum würde ich auch nicht aufgeben. Doch bevor wir weitermachten, ging ich erstmal an den Karren und holte eine der neuen Klingen aus der Kiste. Sie ähnelte der von Wolf, war aber ein wenig kürzer. Auch sie hatte eine passende Lederscheide. „Hier, das ist deine.“

Sawyer schaute sie an, als wüsste er nicht, was er damit machen sollte. Dann ließ er Salias Hand los, nahm sie und befestigte sie sich ein wenig umständlich an seinem Gürtel. Die Schlinge war wirklich hinderlich. „Es ist ziemlich umsichtig von dir, mir ein Werkzeug in die Hand zu geben, mit dem ich alle niederstechen kann, die mich nerven.“

Ähm … ja, dass ließ ich jetzt einfach mal so stehen. Es gab nämlich noch etwas anderes, was mich beschäftigte. „Hast du Killian irgendwo gesehen?“ Ich hatte ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen, seit er mit diesem Mann abgezogen war. Das war nun schon ein Weilchen her und langsam machte mich seine Abwesenheit unruhig. Nicht das ich glaubte, ihm wäre etwas geschehen, aber ich würde mich einfach wohler fühlen, wenn ich ihn wieder im Blick hatte.

Seine Maske der Herablassung kehrte an seinen angestammten Platz zurück. „Der sitzt bei der Kathedrale und eröffnet gerade eine neue Praxis.“ Er nahm Salia wieder an die Hand, damit sie nicht verlorengehen konnte.

Bitte was? „Was meinst du damit?“

„Das er da herumsitzt und die Leute behandelt.“ Er fragte nicht, wie es dazu gekommen war. Offensichtlich ärgerte er sich einfach nur über den Arzt, dass er das machte, anstatt bei der Suche zu helfen.

Ich konnte es ihm nicht wirklich verdenken, wenn man bedachte, wie gerne Sawyer auf ihm herumhackte. Allerdings behielt ich das für mich. „Dann lass uns ihn holen gehen, damit wir weiter machen können.“

Das taten wir dann, doch auf dem Weg dorthin, klapperten wir noch alle Händler ab, die wir bisher nicht gefragt hatten. Mit ein paar von ihnen war ich noch von den letzten Jahren bekannt, aber niemand von ihnen wusste etwas, dass uns weiterhelfen konnte.

Mit jedem weiteren Fehlschlag, wurde Sawyers Laune ein wenig schlechter, wobei das nach meiner Auffassung nur ein Schutzmechanismus war, hinter dem er seine Enttäuschung versteckte. Es musste schlimm für ihn sein, nicht zu wissen, was aus der eigenen Familie geworden war. Andererseits war es manchmal auch sehr schwer zu wissen, was mit ihr passiert war. Ich sprach da aus eigener Erfahrung.

Als wir an einer Frau vorbeikamen, die eingemummelt in einer Decke, auf einer Kiste hockte, hielt ich kurz bei ihr an. Sie hatte Federkiele, Tinte und Papier im Angebot. Ich wusste, dass Wolfs kleiner Schreibblock fast voll war und auch, dass sein Stift nicht mehr lange halten würde, also begann ich mit der Frau zu feilschen.

Auf meine Frage, ob sie auch richtige Stifte wie in der Stadt im Angebot hatte, begann sie munter zu lachen, zeigte mir dann aber ein paar Kohlestifte und einfache Bleistifte.

Wolf wählte die Bleistifte und ich nahm noch einen Stapel Papier dazu. So einen kleinen Block, wie er ihn benutzte, hatte sie leider nicht.

Als Gegenleistung bekam sie von mir ein Dutzend großer Schwungfedern, die ich unserer Jagd auf den Strauß zu verdanken hatte. Danach ging es weiter.

Da Sawyer wusste, wo wir nach Killian suchen mussten, bereitete uns das Finden keine Schwierigkeiten. Er saß in der Nähe des Portals, dass in den roten Riesen führte. Irgendjemand musste ihm zwei stabile Kisten besorgt haben. Auf einer davon saß er, auf der anderen hatte ein junger Mann Platz genommen.

Als wir dazukamen, schaute Killian sich gerade den Knöchel des jungen Mannes an. Er war grün und blau und ziemlich geschwollen. Wenn ich wetten müsste, würde ich behaupten, er hatte sich auf dem Weg zum Markt irgendwo den Knöchel verknackst.

Killian schaute sich die Verletzung sehr genau an und redete ruhig auf den Mann ein. Sawyer hatte recht, Killian verhielt sich genauso, als wäre er in seiner Praxis in Eden. Er sah aus, als wäre er ganz in seinem Element. Das war schon ein wenig … bizarr. Wundern tat dieser Anblick mich aber nicht. Ein Arzt mit hochwertigen Medikamenten aus Eden? Sowas machte eben schnell die Runde.

Neben Arzt und Patient standen zwei Frauen. Die eine war bereits ein wenig betagt, die andere war sogar noch älter. Die beiden warteten offensichtlich darauf, dass sie an die Reihe kamen. Wen ich hingegen nicht sah, war der Mann mit der Halbglatze, der ihn vorhin weggeholt hatte.

Ich wusste nicht, ob ich stolz darauf sein sollte, dass er so gut alleine klarkam, oder ob das ein Grund zur Besorgnis war. Wenn er mich irgendwann nicht mehr brauchte, was hielt ihn dann davon ab, seinen eigenen Weg zu gehen? Und was sollte ich tun, wenn dieser Weg ihn zurück nach Eden führte? Ich konnte dann gar nichts tun, außer ihm viel Glück für die Zukunft zu wünschen.

Dieser Gedanke stimmte mich nicht gerade glücklich. Aber ich verspürte deswegen keinen Ärger, wirklich nicht. Ich knallte die Handbremse des Karrens nur mit so viel Wucht fest, um sicher zu gehen, dass sie auch wirklich hielt.

Wolf zog eine Augenbraue nach oben, doch ich beachtete ihn gar nicht. Es war an der Zeit Killians Sprechstunde zu beenden, wir mussten weiter.

Er lächelte mich an, als er mich kommen sah, unterbrach seine Arbeit aber nicht.

„Hey, nicht vordrängeln, stell dich hinten an!“, beschwerte sich die betagte Frau, als ich an ihr vorbeigehen wollte.

Ich hatte für sie nur einen mürrischen Blick übrig. „Ich will nichts von ihm, er gehört zu mir.“

So wie die Frau mich anschaute, machte das für sie keinen großen Unterschied. Es passte ihr trotzdem nicht, dass ich an ihr vorbeimarschierte und mich hinter Killian stellte.

„Tragen sie drei Mal am Tag diese Salbe auf“, sagte er gerade zu dem jungen Mann und überreichte ihm eine kleine Tube. „Das lässt die Schwellung zurückgehen. Und versuchen sie den Fuß so wenig wie möglich zu belasten, dann müsste es ihnen bald besser gehen.“

Anstatt zu nicken, oder irgendwie anders auf die Worte einzugehen, starrte der Kerl mich an, als hätte er noch nie im Leben eine Frau gesehen.

Auch Killian bemerkte seinen Blick und drehte sich kurz zu mir um. Dann verfinsterte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht. „Sie können dann gehen“, sagte er zu dem jungen Mann.

Der Mann schaute ihn nur kurz an, dann schenke er mir ein Lächeln. „Wer bist du?“

Ich zog eine Augenbraue nach oben. „Warum sollte ich dir das sagen?“

„Weil ich dich gefragt habe?“ Er zog den Sack neben sich heran und begann darin herumzusuchen. Ein Umschlag mit getrockneten Kräutern kam zum Vorschein. Er übergab sie Killian, ohne diesen zu beachten.

„Ich bin die, mit dem langen und scharfen Messer“, erwiderte ich und tätschelte die Waffe an meiner Hüfte.

Sein Grinsen wurde breiter, aber offensichtlich hatte er den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden, denn er erhob sich und humpelte davon. Vorher lächelte er mir aber nochmal zu.

Leicht verärgert, winkte Killian die betagte Dame zu sich heran und begann sie zu behandeln.

Ich spielte in der Zeit seinen Schatten und verscheuchte jeden, der dazukommen wollte, um sich von Killian behandeln zu lassen. Insgesamt waren es drei Leute. Zwei verschwanden einfach wieder, doch der dritte begann mit mir zu diskutieren, bis sich Wolf einschaltete. Der Riese stellte sich einfach zu mir, schaute den Kerl böse an und dieser entschied dann, dass es nicht in seinem Interesse lag, weiteren Streit zu provozieren.

Als dann auch Killians letzte Patientin verschwunden war, schaute ich mir seine Ausbeute an. Da waren zwei Kerzen, drei Flaschen aus Glas und der Umschlag mit den Kräutern, von dem jungen Mann. Außerdem noch ein Dutzend Pfeile, ein Töpfchen mit Honig, bei dem meine Augen zu glänzen begannen und eine Halskette mit einem kunstvoll gearbeiteten Anhänger aus Silber. Und dann waren da auch noch drei kleine Fläschchen mit Bernstein.

„Von der Heilerin“, erklärte Killian mir, als ich sie in die Hand nahm. „Sie wollte etwas von ihrer Medizin gegen meine eintauschen.“

Bei Gaias Güte, wie hatte er nur all das in der kurzen Zeit bekommen? Er musste ja einen Patienten nach dem anderen behandelt haben. „Hast du eigentlich eine Ahnung, wie viel das wert ist?“, fragte ich ihn.

„Ähm.“ Er schaute von den Fläschchen in meiner Hand zu mir. „Du hast gesagt, es ist egal was ich nehme, Hauptsache sie geben mir etwas.“

Ich lachte auf und drückte ihn mit einem Arm kurz an mich. Bernsteinmedizin war richtig wertvoll. Damit würde ich alles bekommen, was uns noch fehlte und sogar noch etwas übrigbehalten. „Ich glaube, ich behalte dich“, lächelte ich.

Der Ausdruck auf seinem Gesicht wurde weicher. „Dir gefallen die Sachen also.“

„Sie sind alle nützlich und einiges davon kann ich gut eintauschen.“ Mit seiner Hilfe verstaute ich das ganze Zeug auf unserem Karren. Dabei zog ich das Messer hervor, dass ich ihm besorgt hatte. „Hier, das ist für dich. Schnall es dir an deinen Gürtel.“

Er schaute es an, als sei es eine Schlange, die ihn beißen wollte. „Du hast mir vorhin schon ein Messer gegeben.“ Seine Arzttasche landete bei unserem anderen Zeug.

„Das hier ist besser.“ Ich drückte es ihm gegen die Brust, sodass er zugreifen musste. „Trag es immer bei dir, es kann dir eines Tages das Leben retten.“

Er wirkte nicht begeistert, von der Aussicht, eine Waffe mit sich herumzutragen. Als er es dann auch noch zu dem anderen Messer in seine Arzttasche steckte, runzelte ich die Stirn.

„So hast du es aber nicht griffbereit.“

„Wenn ich es brauche, hole ich es heraus“, versprach er.

Offensichtlich verstand er den Sinn einer Waffe nicht. Darum holte ich es wieder heraus und befestigte es selber an seinem Gürtel. „Trag es bei dir“, forderte ich. Als ich zu ihm aufblickte, schaute er mich auf eine Art an, auf die ich nicht angeschaut werden wollte, weil das viel zu viele Komplikationen zufolge hätte. Darum trat ich auch hastig einen Schritt von ihm zurück.

„Können wir dann endlich weiter?“, fragte Sawyer. „Oder braucht ihr noch etwas Zeit, um euch selenvoll in die Augen zu sehen?“

Wie schaffte der Kerl es eigentlich, immer genau ins Schwarze zu treffen? Wie hatte er das überhaupt mitbekommen können? Das hatte doch gerade mal eine Sekunde angehalten.

Ich würde ihn sicher nicht fragen, um das herauszubekommen. „Wir sind hier fertig.“ Ich ging zu Trotzkopf, der den Eindruck machte, gleich vor Langeweile einzuschlafen, schnappte mir seine Leine und löste die Bremse. Dann führte ich ihn in einem großen Bogen herum, um den Karren zu wenden. Unser nächstes Ziel war der rote Riese und um durch das Portal zu kommen, musste ich frontal darauf zugehen.

Killian wartete, bis ich gedreht hatte, bevor er zu mir aufschloss. „Ich habe alle meine Patienten nach Ophir gefragt, aber niemand wusste etwas.“

„Welch Überraschung“, kam es mürrisch von Sawyer.

„Wir werden schon noch jemanden finden, der etwas weiß“, sagte ich zuversichtlicher, als ich mich fühlte. Zwar war das Ganze meine Idee gewesen und auch wenn ich von Anfang an nicht daran geglaubt hatte, einen Volltreffer zu landen, so hatte ich nicht damit gerechnet, überhaupt nichts zu erfahren. So viele Menschen gab es doch gar nicht mehr, irgendjemand musste also etwas wissen, sie konnten sich ja nicht einfach in Luft aufgelöst haben. Sowas gab es einfach nicht.

Hinter mir schnaubte Sawyer äußerst abfällig, aber ich würde trotzdem nicht aufgeben.

Da das fordere Portal in die Kathedrale schon vor langer Zeit eingestürzt war, mussten wir das seitliche nehmen. Auch dieses war nicht mehr intakt, aber zumindest war eine Öffnung vorhanden, durch die man ins Innerste gelangen konnte. Es war bestimmt fünfzehn Fuß hoch und fast genauso breit und damit es nicht auch noch einstürzen konnte, hatte man alle Seiten mit Stützbalken, Ziegelsteinen und Metallschrott gestützt.

Früher hatte es hier vermutlich einmal eine Treppe gegeben, doch die war schon lange weg. Jetzt lagen dort stabile Holzplanken, die eine Rampe bildeten. So fiel es mir nicht schwer, den Karren in das Gebäude zu bekommen. Naja, nachdem ich Trotzkopf davon überzeugt hatte, dass die Bretter völlig harmlos waren und er nicht von den Untiefen der düsteren Abgründe verschlungen wurde, wenn er einen Huf daraufsetzte. Manchmal war dieses Dromedar wirklich melodramatisch. 

Im Inneren des roten Riesen, war es kühl und roch ein wenig staubig. Alte Steinsäulen, aus der Zeit vor der Wende, reichten vom Boden bis zur Decke und überall hingen Skulpturen von Menschen an den Wänden. Manche von ihren waren mit der Zeit auch hinuntergefallen und lagen nun in Einzelteilen auf dem Boden verstreut.

Früher musste dieser Bau bunte Fenster gehabt haben. Noch heute, waren ein paar verdreckte Reste davon in den überirdisch hohen Fensterahmen zu finden, doch das meiste Glas war schon vor langer Zeit verschwunden, sodass niemand jemals erfahren würde, wie dieser Ort einst ausgesehen hatte.

Fast ein Duzend Händler hatten sich hier drinnen ihren Platz gesichert. Der Innenraum des roten Riesen war bei den Händlern sehr beliebt, denn hier waren sie vor Wind und Wetter geschützt. Leider war der Platz sehr begrenzt und es barg natürlich auch die Gefahr, dass dieses Gebäude sich nach dreihundert Jahren doch noch entschloss, über ihren Köpfen zusammenzubrechen.

Ich hoffte einfach mal, dass es heute nicht so weit war.

Als erstes wandten wir uns nach links und befragten dort ein paar Leute. Wobei ich das Fragen übernahm, da Sawyer mittlerweile so aussah, als würde er jeden fressen, der ihm die falsche Antwort gab.

Wir waren fast am linken Ende, als ich einen Lederer entdeckte, der auch Schuhe anbot. Nicht nur einfache Latschen, sondern richtige Stiefel.

Ich zog die Bremse am Karren fest und winkte Salia zu mir. „Komm mal her.“

Die Kleine wartete gar nicht erst auf die Erlaubnis von ihrem Papa. Sie machte sich von ihm los und kam zu mir. Dann ging ich mit ihr zu dem Mann, der inmitten mehrerer Kisten auf dem Boden saß und gerade an ein paar Schuhen arbeitete.

„Verzeihung“, sprach ich ihn an. „Ich brauche Schuhe für das Kind. Am Besten gefütterte Stiefel für den Winter. Bietest du sowas an?“ Das war eine wichtige Frage. Da Kinder sehr selten waren, bekam man alltägliche Dinge für sie auch nur schwer.

Er schaute von mir zu ihr und dann auf ihre Füße. Wenn es ihn schockierte, oder irritierte, dass sie Schuhe aus Eden trug, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. „Ich habe kleine Stiefel für Frauen. Warte.“ Er legte seine Arbeit zur Seite, erhob sich dann schwerfällig und begann in einer der Kisten zu kramen. Zum Vorschein kam ein Paar Stiefel aus Leder, die mit Fell gefüttert waren. Er reichte sie mir. „Musst schauen, ob sie ihr passen.“

Genau das tat ich auch. Leider waren sie ein wenig groß, aber kleinere hatte er nicht im Angebot.

„Ich kann sie ein wenig kleiner machen“, bot er an. „Dauert aber ein bisschen.“

Da die Kleine die Schuhe brauchte, sagte ich zu.

„Willst du auch Schuhe?“ Er beförderte ein weiteres Paar Stiefel zutage, ganz ähnlich, wie die von Salia. „Sie halten die Füße im Winter schön warm.“

Ich wollte schon ablehnen, weil ich Schuhe einfach nicht mochte und sie nur trug, wenn mir keine andere Wahl blieb, aber in den letzten Tagen hatte ich immer wieder gemerkt, wie kalt meine Füße waren. Und das viele Wandern hatte auch seine Spuren hinterlassen. Es wäre dumm nein zu sagen. „Ja, ich nehme sie. Wenn sie passen.“

„Sie passen“, erklärte er im Brustton der Überzeugung und überreichte sie mir. „Was bietest du dafür?“

Gute Frage. Ich ließ mich auf den Hintern sinken und zog die Schuhe über, während ich überlegte. „Wir haben eine Kette, fein gearbeitet. Aus Silber. Killian, kannst du sie ihm mal zeigen?“

Killian, der sich gerade zusammen mit Salia die kleinen Holzfiguren anschaute, die auf einer der Kisten standen, schaute überrascht zu mir. Er zögerte. „Eigentlich wollte ich die behalten.“

Oh. Na gut. Es war sein Lohn, also durfte er auch darüber entscheiden. Auch wenn ich nicht wusste, was er mit einer dummen Kette wollte.

„Bekomme ich die?“, fragte Salia plötzlich. Sie hielt eine der Holzfiguren in der Hand. Es war eine Schnitzerei von einem kleinen Mädchen in einem hübschen Kleid.

„Verkaufst du die?“, fragte ich den Mann und musste zu meinem Bedauern feststellen, das die Stiefel mir passten. Es war zwar ein komisches Gefühl, etwas an den Füßen zu tragen, aber sie waren angenehm warm und würden mich vor Nässe und Kälte schützen.

Der Mann nickte. „Ja, wenn du mir etwas bieten kannst.“

Und ob ich das konnte. „Was hältst du von Bernsteinmedizin?“

Seine Augen leuchteten auf.

„Ein Fläschchen Bernstein für alles“, sagte ich und stand auf, um zu schauen, wie es sich anfühlte, mit den Schuhen zu laufen. Auch nicht viel besser. Naja, ich würde mich schon daran gewöhnen, genauso wie an die Hose. Und irgendwann wäre wieder Frühling, dann konnte ich mich von diesem überflüssigen Zeug befreien. Trotzdem entschied ich mich, sie vorerst wieder auszuziehen und auf dem Karren zu verstauen. „Zwei Paar Stiefel, die für das Mädchen machst du kleiner. Und die kleine Holzfigur.“

Der Mann hielt mir die Hand hin. „Schlag ein.“

Ich schlug ein. Dann holte ich eine der drei Fläschchen und übergab sie ihm. „Wie lange brauchst du für die Schuhe?“

„Vielleicht eine Stunde, dann kannst du sie abholen.“

Ich nickte.

„Heißt das, ich darf die Figur haben?“, fragte Salia.

Ich nickte nochmal.

Sie quietschte begeistert und hüpfte ein paar Mal auf der Stelle. Dabei drückte sie ihre neue Errungenschaft glücklich an sich. In dem Moment erinnerte sie mich so sehr an Nikita, dass ich gegen den Kloß in meinem Hals ankämpfen musste. Nikita hatte sich auch immer so darüber gefreut, wenn sie einen neuen Schatz den ihren nennen durfte.

Hastig verdrängte ich jeden Gedanken an sie und schaute mich nach Sawyer um, der gerade mit einer Frau auf der anderen Seite sprach.

Ach ja, stimmte ja, da war ja noch etwas gewesen. Also fragte ich den Schuhmacher ohne große Hoffnung nach Ophir und bekam die gleiche Antwort, wie die ganzen anderen Male. Langsam wurde das wirklich frustrierend.

Ich versprach später wieder zu kommen und verabschiedete mich von ihm. Dann ging es weiter. Erst zu einem Mann, der mit Federvieh handelte, dann zu einer Frau in bunten Tüchern, die behauptete, unsere Zukunft Weissagen zu können. Ich wusste, dass das nichts als Humbug war, aber Killian war von der Idee ganz fasziniert und setzte sich zu ihr. Sie hatte sogar einen kleinen runden Tisch mit zwei Stühlen, an dem die beiden es sich bequem machen konnten.

„Was hast du zu bieten?“, fragte sie, sobald er ihr gegenüber Platz genommen hatte.

„Ich habe Kerzen.“

Kerzen schienen sie nicht sonderlich zu begeistern.

„Und Kräuter.“

Das war schon eher etwas für sie. „Gib mir die Kräuter, dann befrage ich die Geister nach deiner Zukunft.“

Für mich war das zwar Verschwendung von Ressourcen, aber die Kräuter gehörten nun einmal Killian. Also holte ich sie vom Karren und legte sie zwischen den Beiden auf den Tisch. „Ich hoffe, du wirst nichts von dem Quatsch, den sie dir gleich auftischt, glauben.“

Anstatt beleidigt zu sein, oder sich angegriffen zu fühlen, lächelte die Frau nur. „Eine Ungläubige.“

„Eine Realistin“, widersprach ich. „Was tot ist, ist tot und beantwortet keine Fragen mehr. Auch nicht aus dem Jenseits.“

„Du hast deinen Glauben, ich den meinen.“ Sie streckte Killian über den Tisch hinweg die offene Hand hin. „Gib mir deine Hand“, forderte sie ihn auf.

„Ich bin gespannt.“ Er legte seine Hand in die ihre.

Sofort zog sie ihn näher zu sich und untersuchte seine Handinnenfläche. Sie fuhr die Linien darin mit den Fingern nach und runzelte dabei die Stirn. „Du bist ein charismatischer und einfühlsamer Mann. Die Leute kommen gerne zu dir und vertrauen sich dir an, aber gleichzeitig bringt dir diese Beliebtheit auch Neider.“

Um zu erkennen, dass Killian ein freundlicher Mensch war, brauchte man keine Wahrsagerin, man musste sich nur fünf Minuten mit ihm unterhalten.

„Bisher hattest du ein sehr ruhiges und erfolgreiches Leben, doch das Schicksal hat noch einiges mit dir vor.“

Das war so allgemein, dass ich an mich halten musste, um nicht die Augen zu verdrehen. Er konnte ihr diesen Blödsinn doch nicht wirklich abnehmen.

„Eine schwierige Zeit kommt auf dich zu. Du musst stark sein, um sie zu überstehen. Trotzdem wirst du am Ende Verluste zu betrauern haben.“

„Das hört sich ja nicht so gut an“, bemerkte Killian mit einem schiefen Lächeln.

„Das Schicksal meint es leider nicht immer gut mit uns, aber für alles, was es nimmt, gibt es auch etwas. Es wird noch ein wenig dauern, aber dir wird ein Wunsch erfüllt, den du schon lange mit dir herumträgst.“

Diese Worte machten ihn neugierig. „Was für ein Wunsch? Vielleicht eine Frau?“

Er wollte eine Frau? Ach ja, weil er nur so ein Kind bekam. Voraussetzung dafür war aber, dass er nach Eden zurückkehrte. Das würde in nächster Zeit wohl nicht geschehen.

Die Wahrsagerin zog seine Hand ein wenig näher zu sich und zog mit dem Finger verschiedene Linien nach.

Mit einem Stirnrunzeln trat Sawyer neben mich. Bis eben war er noch weiter hinten bei einem der Händler gewesen. „Was macht er da?“, fragte er.

„Er lässt sich seine Zukunft weissagen.“

„Dazu brauch er eine Hellseherin?“ Ein äußerst herablassender Zug erschien um seinen Mund. „Bei mir bekommt er eine Weissagung umsonst: Er wird als armseliger, kleiner Mann enden, der seiner Vergangenheit hinterhertrauert.“

„Pssst“, machte Wolf, der scheinbar hören wollte, was die Frau noch zu sagen hatte.

Die Wahrsagerin formte mit den Lippen ein kleines O und schüttelte dann den Kopf. „Ich sehe eine Frau in deinem Leben, aber ich sehe auch, dass sie unsicher ist, was dich betrifft. Noch ist es nicht zu spät, sie für dich zu gewinnen, doch viel Zeit bleibt dir nicht mehr. Bald wird sie sich entschieden haben.“

Killians Blick ging kurz zu mir. Es geschah so schnell, dass ich es nicht bemerkt hätte, wenn ich in dem Moment geblinzelt hätte. „Dann sollte ich mich wohl ranhalten.“

Sie ließ seine Hand sinken. „Nur wenn das wirklich dein Wunsch ist. Auch du kannst dich entscheiden. Jeder Weg hält am Ende eine Belohnung für dich bereit.“

War das ihr Ernst? „Seid ihr dann jetzt bald fertig? Wir haben noch etwas vor.“

„Oh, natürlich.“ Killian nahm seine Hand wieder an sich und erhob sich von seinem Platz. „Vielen Dank für ihre Zeit, ich werde mir ihre Worte zu Herzen nehmen.“

„Tu das. Und denk immer daran, auch du hast die Wahl, also wähle weise.“

„Ich werde es mir merken.“

Na endlich. Zeit weiter zu machen. Bevor ich jedoch einen Schritt machen konnte, schnellte die Hand der Frau nach vorne und griff nach meinem Arm. Ich war schon dabei nach meinem Messer zu greifen, als sie meine Handfläche herumdrehte und auf die Innenfläche schaute.

Ich riss meinen Arm weg und funkelte sie warnend an. „Mach das noch mal, und du kannst was erleben.“

Die Frau ließ sich nicht einschüchtern. „Dein Weg ist schwierig und voller Hindernisse. Er wird dich dorthin führen, wo alles begann und dir die Wahrheit offenbaren.“ Sie schaute mich mit einem sehr ernsten Ausdruck in den Augen an. „Du wirst etwas verlieren, was dir sehr viel bedeutet.“

Alles an mir versteifte sich und ich musste mich zwingen, gleichgültig zu bleiben. „Ich habe bereits alles verloren, was mir etwas bedeutete.“ Und es schmerzte so sehr, wenn ich daran dachte.

„Du hast noch so viel mehr zu verlieren, Kind“, beteuerte sie.

Einen Moment war ich versucht sie zu fragen, warum sie mir das sagte, oder was dieser Mist sollte, aber dann beschloss ich, dass jedes weitere Wort an die Betrügerin, nur verschwendeter Atem wäre. Also beließ ich es bei einem warnenden Blick und wandte mich von ihr ab.

Trotzdem kam ich nicht umhin mich zu fragen, warum sie das getan hatte. Nicht nur, dass ich diese Weissagung nicht hatte haben wollen, sie hatte auch nichts dafür bekommen. Vielleicht hoffte sie ja, dass irgendwas von ihren Worten wahr werden würde und sie mich damit bekehren könnte.

So ein Schwachsinn. Als wenn mich irgendwas davon überzeugen könnte.

„Eine richtige Stimmungskanone, diese Tussi“, bemerkte Sawyer und hob Salia auf den Karren. Sie ließ sich sofort in den Schneidersitz sinken und begann mit ihrer neuen Figur zu spielen.

So konnte man es auch nennen. Vielleicht würde ich einem Wahrsager glauben können, wenn ihre Worte nicht immer so kryptisch und vieldeutig wären. Ein bisschen Klartext war doch wohl nicht zu viel verlangt. So allerdings war und blieb die Frau in meinen Augen eine gewöhnliche Schwindlerin, die den Leuten ihr hartverdientes Gut aus den Taschen zog.

Ich machte mir nicht die Mühe, mich bei ihr zu verabschieden, kehrte ihr einfach den Rücken und zwang Trotzkopf sich wieder in Bewegung zu setzen.

Killian, höfflich wie er nun einmal war, nahm sich noch die Zeit, zum Abschied die Hand zu heben, bevor er sich uns anschloss.

Wir klapperten noch erfolglos zwei weitere Händler ab, bevor wir zu dem wohl größten Stand auf dem ganzen Markt kamen. Dieser Marktstand besaß nicht nur die meisten Tische, mit einer riesigen Auswahl, er gehörte auch dem größten und ältesten Stamm, in der freien Welt.

Vier große Tische bogen sich unter Bergen von Stoffen, Tüchern, Pelzen und Leder. Neben gewöhnlichen Stoffen, wie Leinen, Musselin und Baumwolle, bekam man bei ihnen auch Seide, Spitze und eine kleine Auswahl an Brokatstoffen. Ein Tisch allein war mit bereits gefertigter Kleidung bedeckt.

Hinter ihnen an der Wand hatten sie bunte Tücher aufgehängt und auf dem Boden hinter den Tischen, lagen dicke, bequeme Sitzkissen, auf denen die Händler vom diesem Stand, es sich gemütlich machen konnten.  Und Händler gab es hier reichlich. Allein auf dem ersten Blick sah ich drei Männer und fünf Frauen, von denen mehrere Kunden bedienten. Die anderen saßen auf den Kissen und unterhielten sich miteinander und die Rothaarige ordnete ein wenig die Waren. Alle Frauen dort waren verhältnismäßig jung.

Im Gegensatz zu den anderen Menschen aus der freien Welt, waren die Mitglieder dieses Stamms sehr farbenfroh. Nicht so wie die Menschen aus Eden, aber ihre Kleidung leuchtete in prächtigen Farben. Auch ihre Art der Kleidung war anders. Sie war knapp und sehr Figurbetont. Da war eine Frau mit einem langen Lendenschurz, die sich nur ein rotes Tuch stielvoll um den Oberkörper gewickelt hatte. Eine andere trug zu ihrem blauen Lendenschurz ein sehr enges Hemd, dass direkt unter ihren Brüsten endete. Der Mann neben ihr trug nur einen grünen Lendenschurz, mit gelber Stickerei, die fast golden wirkte. Alle Menschen aus diesem Stamm, trugen Lendenschurze. Und bunte, lange Mäntel. Für so knappe Kleidung, war es eben doch schon ein wenig kühl.

Ein anderes Merkmal, dass sie alle gemeinsam hatten, waren die kunstvollen Tätowierungen, am ganzen Körper. Sie ließen sie exotisch und ästhetisch wirken und zogen jeden Blick auf sich. Und genau das war auch ihr Ziel.

Dieser Stamm, die Amour, wie sie sich nannten, hatten es sich zur Hauptaufgabe gemacht, Stoffe und Kleidung herzustellen. Und mit ihrer offenen Lebensweise, möglichst viele Menschen, wie Sirenen anzulocken.  

Dass der Stamm bereits so andauernd existierte, hatte nur einen Grund: Sie vögelten gerne durch die Gegend. Oft, überall und mit häufig wechselnden Partnern. Besonders die Frauen versuchten ihr Glück bei jedem reisenden, der ihnen über den Weg lief und nicht selten konnte sowas in einer Orgie enden.

Sie taten das nicht, weil sie Sexbesessen waren, oder moralisch keine Grenzen kannten, sie machten das, um ihren Stamm am Leben zu erhalten. Und sie hatten mit dieser Strategie Erfolg. In keinem anderen Stamm oder Clan, wurden so viele Babys geboren, wie bei ihnen. Jedes Jahr bekamen sie zwei bis drei Kinder.

Allerdings musste man bei ihnen auch auf der Hut sein. Sie waren nicht nur einzigartig, sondern auch mit Vorsicht zu genießen.

Ihre Kinder durften ihr Dorf erst verlassen, wenn sie erwachsen waren und die Frauen wurden von den Männern sehr gut geschützt. Die Frauen durften so gut wie alles mit jedem machen, aber wenn sie nein sagten, sollte man das besser akzeptieren, denn ihre Männer waren ziemlich skrupellos.

Es hatte ein bisschen was von Eden, nur das hier alles auf freiwilliger Basis passieren musste. Sollte jedoch jemand versuchen etwas zu erzwingen … sagen wir einfach mal so, die Konsequenzen wären der Gesundheit nicht förderlich.

Wenn ich konnte, hielt ich mich von diesen Menschen fern, aber der Winter stand vor der Tür und wir waren fünf Leute, die warme Kleidung brauchten. Dieses Mal konnte ich mich also nicht vor ihnen drücken.

Gerade als wir uns dem Stand näherten, wurde an der Wand eines der bunten Tücher zur Seite geschoben und eine Frau kam aus einem verborgenen Raum dahinter. Sie wirkte sehr zufrieden, genau wie der Mann, der ihr folgte.

Sie gab ihm noch ein Küsschen auf die Wange und scheuchte ihn dann davon.

Bevor das Tuch wieder an seinen Platz zurückfiel, sah ich dort weitere Personen und sie alle wirkten schwerbeschäftigt.

Ich kümmerte mich nicht weiter darum, zog die Bremse vom Karren an und wollte mich gerade der Auslage widmen, als eine Frau rief: „Ein Kind!“

Schlagartig richteten sich die Blicke sämtlicher Händler an diesem Stand auf meinen Karren und bekamen bei Salias Anblick glänzende Augen. Ja sie schmolzen geradezu dahin. Tja, die Amour liebten Kinder.

Die rothaarige Frau, die bis eben noch die Ware geordnet hatte, ließ die Arbeit liegen und kam mit einem strahlenden Lächeln zum Karren. „Hallo Mäuschen, du bist ja eine richtige, kleine Schönheit.“

Als gleich darauf noch drei weitere Frauen dazu kamen, schaute Salia ein wenig unsicher zu ihrem Vater, der das ganze sehr aufmerksam beobachtete.

Aber er war nicht der Einzige, der ein wachsames Auge auf die Frauen hatte. Da war noch ein älterer Mann, der gerade einen Kunden bediente. Seiner Körperstatur nach, war er wohl ihr Wächter, der Mann, der aufpasste, dass hier niemand über die Strenge schlug.

„Ähm … danke, du bist auch sehr schön“, sagte Salia etwas zögerlich.

Drei der vier Frauen kicherten glücklich.

„Und höflich bist du auch noch.“ Die Rothaarige schien richtig begeistert von ihr zu sein. „Deine Mama ist bestimmt sehr stolz auf dich.“ Ihr Blick glitt zu mir.

Äh … da hatte wohl jemand die falschen Schlüsse gezogen. Und warum schaute der Kerl in dem grünen Lendenschurz mich plötzlich so interessiert an?

„Ich habe keine Mama“, klärte Salia sie sofort auf. „Ich habe nur einen Papa.“ Um ihre Worte zu unterstreichen, zeigte sie zu Sawyer.

Die Blicke aller Frauen richteten sich auf ihn. Nicht nur von den vieren hier vorne, auch von denen, die noch hinter dem Tischen standen.

Oh Mist.

„So, das ist also dein Papa“, schnurrte die Rothaarige.

Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, wie die Damenwelt hier plötzlich in Flirtbereitschaft verfiel. Die fröhlichen Gesichter wurden verrucht und einladend. Hüften wurden ausgestellt, Busen vorgestreckt und tief in meinem Inneren erhob etwas sehr Hässliches sein Haupt, das mordlustig die Zähne fletschte.

Doch da hatten die Ladys ihn bereits umringt, allzeit bereit, seine Gespielinnen zu werden.

„Hallo Papa“, sagte die eine mit rauchiger Stimme, während eine andere ihm über die Brust strich.

„Lass das!“, knurrte er die Damen an und versuchte zurückzuweichen, aber da stand bereits eine der Frauen und strich ihm mit beiden Händen über den Rücken. In seinem Gesicht flackerte etwas auf. Unbehagen? Hass? Feindseligkeit?

Das war der Moment, in dem Sawyer explodierte. „Nehmt verdammt noch mal eure scheiß Wixgriffel von mir!“, fauchte er und stieß die Damen nicht allzu sanft von sich.

Der Wächter hinter dem Tisch richtete sich ein wenig auf.

Entschlossen setzte ich mich in Bewegung, um dazwischen zu gehen.

Sawyer wich vor den Frauen zurück. In seinen Augen spiegelten sich Abscheu und Ekel. „Wenn ihr beschissenen Schlampen mich noch einmal anfasst, reiße ich euch den Kopf ab!“

Die vier Frauen wichen schockiert vor ihm zurück. Sie waren es wohl nicht gewohnt, so behandelt zu werden.

„Ich habe die Schnauze voll, von euch gehirnamputierten Nymphomaninnen, ihr seid einfach nur widerlich!“ Sawyer schnappte sich Salia vom Karren und kehrte uns den Rücken. „Ich geh schauen, ob Salias Schuhe schon fertig sind.“ Ohne auf die betroffenen und entrüsteten Blicke zu achten, machte er sich davon.

„Was für ein Primitivling“, mokierte sich die Rothaarige und schickte ihm böse Blicke hinterher. „Ich bin noch nie so beleidigt worden.“

Die kleine Brünette neben ihm, nickte zustimmend. „Der ist so hässlich, der kann froh sein, dass wir ihn überhaupt eines Blickes gewürdigt haben.“

Die anderen waren voll und ganz der gleichen Meinung.

Das hässliche Ungetüm in meinem Inneren begann zu knurren. „Wenn ihr keine Ahnung habt, solltet ihr besser den Mund halten.“

Alle vier begannen mich hochmütig zu mustern.

„Was heißt hier keine Ahnung?“, echauffierte sich die Rothaarige. „Er hätte einfach nein sagen können, dann hätten wir ihn in Ruhe gelassen. Er hätte nicht gleich so ausfallend werden müssen.“

Sie hätten ja mal vorher fragen können. „In den letzten Jahren, hat niemand seinem Nein Beachtung geschenkt. Woher soll er wissen, dass es bei euch anders ist?“

Die kleine Brünette hob erschrocken eine Hand an den Mund. „Du meinst … er war ein Sklave?“

So hatte ihn zwar nie jemand genannt, aber wenn man es genau nahm, war diese Bezeichnung eigentlich gar nicht so verkehrt.

„Ein Sexsklave.“ Betroffen schaute die Rothaarige in die Richtung, in der Sawyer verschwunden war. „Es tut mir leid, aber das konnten wir ja nicht wissen.“

 „Das ist eine wirklich schwache Entschuldigung. Ihr regt euch auf, dass er euch beleidigt, werft aber selber schnell mit Ausdrücken um euch. Er ist weder primitiv, noch hässlich.“ Bei solchen Weibern war es wirklich kein Wunder, dass er so eine Abneigung gegen Frauen entwickelt hatte. „Er hat ganz recht, ihr seid abscheulich.“

„Das reicht jetzt“, mischte sich eine tiefe, männliche Stimme ein. Es war der Wächter, der hinter dem Tisch hervorgekommen war und nun neben mir aufragte. „Sie haben einen Fehler gemacht und ich entschuldige mich in aller Förmlichkeit bei dir und deinen Begleitern. Sowas wird nicht nochmal vorkommen. Sie waren einfach ein wenig … übereifrig.“ Er warf einen tadelnden Blick zu den Damen. „Die Aussicht auf einen zeugungsfähigen Mann, hat ihnen wohl die letzten Gehirnzellen weggebrannt.“

„Ich bezweifle doch stark, dass in diesen Köpfen noch Gehirnzellen übrig sind.“

Die rothaarige schnaubte beleidigt und widmete sich wieder ihrer Arbeit. Auch die drei anderen verschwanden wieder hinter die Tische, als sie den strengen Blick des Mannes bemerkten.

„Du bist sicher nicht hier, um zu streiten, sondern um zu kaufen“, sagte der Kerl mit ruhiger Stimme. „Wenn du etwas findest, komm zu mir, ich mache dir einen guten Preis. Als Entschuldigung.“

„Ich brauche keine Entschuldigung, aber halten sie ihre Frauen von ihm fern.“

Er neigte den Kopf leicht, um meine Forderung zu bestätigen.

Ich warf noch einen warnenden Blick zu den Damen, die ihn genauso finster erwiderten, bevor ich mich dem eigentlichen Grund meines Besuchs widmete.

Da ich genau wusste was ich brauchte, wurde ich schnell fündig. Stoffe für Kleidung und Leder für Jacken. Fünf Leute einzukleiden, war nicht billig, das würde mich einiges kosten.

Während ich alles zusammensuchte was ich brauchte, schaute Killian sich die Kleidungsstücke an. Er schien weniger Interessiert etwas zu kaufen, als vielmehr seine Neugierde befriedigen zu wollen. Wolf dagegen war mit etwas ganz anderem beschäftigt.

Als ich kurz zu ihm hinüberschaute, stand er am Rand und schien gewillt, auf die Avancen einer großen Schwarzhaarigen mit karamellfarbener Haut eingehen zu wollen. Sie war ein wenig stämmig und ihre Augen versprachen sündhaftes Vergnügen.

Sobald ich alles zusammen hatte, ging ich zu dem Wächter und begann mit ihm zu feilschen. Ich bot Federn als Füllmaterial und auch ein Fläschchen von dem Bernstein, doch erst als ich die verbliebene Uniform herausholte, erwachte sein Interesse. Es war nicht die Kleidung selber, die ihren Reiz auf ihn ausübte, es war das Material, dass ihn ansprach.

Ich war gerade dabei den Handel abzuschließen, als von Killian plötzlich ein leicht überfordertes „Kismet?“, kam.

Ich drehte mich nach ihm um und sah die Rothaarige, die ihn gerade betatschte.

„Ich fühle mich geschmeichelt“, sagte er zu der Dame. Dabei hatte er die Hände in die Luft gehoben, als wollte er sich ergeben. „Und ich möchte nicht unhöflich sein, aber …“

„Dann sei es nicht“, säuselte sie und zog einen Finger über seine Brust.

Das war doch wohl ein schlechter Scherz. Besaß diese Frau überhaupt noch eine funktionierende Gehirnzelle? „Wie war das mit dem Nein?“, knurrte ich.

Die Frau schaute zu mir rüber.

Dadurch wurde auch der Wächter auf sie aufmerksam. Verärgerung machte sich auf seinem Gesicht breit. So ein Stall williger Weiber zu hüten, war wohl nicht ganz einfach. „Fille!“, sagte er streng und sobald sie ihn anschaute, fügte er noch hinzu: „Laisse l'homme tranquille.“

Ich hatte absolut keine Ahnung, was das bedeutete, aber die Frau zog erst einen Flunsch, um dann beleidigt abzuziehen.

„Wenn du dich nicht benehmen kannst, nehme ich dich nicht mehr mit“, drohte er ihr.

Sie streckte ihm die Zunge raus, schob dann das Tuch an der Wand zur Seite und verschwand in dem Raum dahinter.

Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Ich kann mich nur für ihr Benehmen entschuldigen. Sie ist noch jung und zum ersten Mal dabei.“

Ein „Und völlig verzogen“, konnte ich mir nicht verkneifen.

Er lächelte schwach. „Das auch.“

Na wenigstens war er einsichtig.

Um nicht nochmal in eine solche Lage zu geraten, hielt Killian es für angebracht, sich an meine Seite zu gesellen.

Da er so weit in Ordnung schien, richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf den Wächter. „Sind wir im Geschäft?“

Er hob seine Hand. „Schlag ein.“

Genau das tat ich dann auch. Jetzt nur noch schnell aufladen, dann konnten wir hier endlich weg.

In dem Moment hörte ich ein lautes Pfeifen. Genau wie alle anderen um mich herum, drehte ich mich danach um. Wolf hatte es ausgestoßen – ich hatte gar nicht gewusst, dass er pfeifen konnte. Er zeigte auf die Dame, die ihn an der Hand hielt und hinter die Tische zog und bedeutete mir dann, dass er mit ihr hinter das Tuch verschwinden würde.

Dieses Mal konnte ich mir ein Augenverdrehen nicht verkneifen. „Viel Spaß“, rief ich nur und begann zusammen mit Killian unsere Sachen aufzuladen.

„Warte, ich helfe dir.“ Der Mann mit dem grünen Lendenschurz stand plötzlich neben mir, nahm mir die Sachen ab und legte sie auf meinem Karren. „Eine hübsche Dame sollte nicht so schwer heben.“

Ach bitte, wirklich? „Nein.“ Klipp und klar, bevor er mir noch ein unmoralisches Angebot machen konnte.

Seine Lippen verzogen sich zu einem einladenden Lächeln. „Du weißt nicht, was du verpasst.“

„Da magst du recht haben, aber es ist mir auch egal und wenn du die Hand nicht wieder runternimmst, dann hacke ich sie dir ab.“ Ich tätschelte mein Messer. „Ich habe mir gerade eine neue Klinge gekauft und bin begierig, sie auszuprobieren.“

Die Hand stoppte kurz vor meinem Gesicht. Sein Lächeln wurde etwas schief, was ihn frech und jungenhaft wirken ließ. „Ich habe nur Spaß gemacht. Tront wollte, dass ich dir helfe.“ Er nickte Richtung Wächter. „Obwohl ich nicht abgeneigt gewesen wäre, wenn du ja gesagt hättest.“

Natürlich nicht. „Danke, aber ich bin versorgt.“

Sein Blick glitt zu Killian, der ihn ziemlich böse anschaute. „Ah, verstehe. Dann habe ich wohl Pech gehabt.“

Ich sah keinen Grund dieses Missverständnis aufzulösen. „Scheint so.“

Killian lud die restlichen Sachen auf den Karren. Dabei behielt er den Kerl genau im Auge.

„Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“

„Nein, wir haben … Moment.“ Ich war schon im Begriff, mich von ihm abzuwenden, als ich mich wieder zu ihm umdrehte. „Sagt dir der Name Ophir etwas? Er war der Anführer einer Gruppe, die vor sechzehn Jahren weiter im Osten gelebt hat.“

Er schüttelte bereits den Kopf, bevor ich geendet hatte. „Nein, das sagt mir gar nichts, aber warte Mal.“ Er drehte sich zum Tisch um. „Tront, hast du schon mal etwas von einem Ophir gehört?“

Ich erwartete kein Ja, trotzdem war ich enttäuscht, als er den Kopf schüttelte. Es konnte doch einfach nicht sein, dass noch nie jemand etwas von Ophir gehört hatte. Selbst wenn er kein Besucher des Markts war, so musste er doch im Laufe seines Lebens mit anderen Menschen in Kontakt gekommen sein. Langsam war das wirklich ärgerlich. „Trotzdem danke.“

„Kein Problem.“ Er lächelte wieder. „Und falls du es dir noch anders überlegst, ich bin die nächsten zwei Tage noch hier.“

„Ich werde es mir merken.“ Und möglichst viel Abstand zu diesem Stand halten.

Zum Abschied schnappte sich der Kerl meine Hand und hauchte einen Kuss darauf, dann zwinkerte er mir frech zu, bevor er wieder zu seinen Leuten ging.

Ich schaute ihm kopfschüttelnd hinterher.

Killian kam um den Karren herum und stellte sich zu mir. „Diese Leute sind ziemlich …“

„Aufdringlich?“

Er lächelte. „Ich wollte unkonventionell sagen, aber aufdringlich trifft es auch.“

„Mir würden noch ein paar andere Worte für sie einfallen.“ Und keines davon wäre besonders nett. Ich ging nach vorne, schnappte mir Trotzkopfs Führleine und löste die Bremse.

„Was hast du vor?“

„Ähm … weitersuchen?“ Was sonst. Ich hatte jedenfalls noch nicht vor aufzugeben und auch wenn wir die meisten Händler mittlerweile abgeklappert hatten, so konnten wir noch immer die Besucher des Markts fragen.

„Und was ist mit Wolf?“ Er zeigte mit dem Daumen über seine Schulter zu dem Tuch an der Wand.

Ach ja. In meiner Eile, von hier fortzukommen, hatte ich den ja ganz vergessen. Ich drehte mich noch mal zu Tront um. „Wenn mein Begleiter wieder rauskommt, sage ihm doch bitte, dass wir uns noch etwas umsehen und wenn er uns nicht finden kann, soll er bei Lysann nach uns suchen.“ Ich hatte definitiv keine Lust, hier darauf zu warten, bis er fertig war. Wer wusste schon, wie lange das dauern würde.

Tront nickte, widmete sich aber sogleich einer Dame, die scheinbar gerade zu entscheiden versuchte, ob sie lieber Leinen oder Musselin erwerben sollte.

„Siehst du? Erledigt“, sagte ich zu Killian. „Und jetzt lass uns Sawyer einsammeln. Dann schauen wir mal, wen wir noch nicht gefragt haben.“

Die Aussicht darauf, Sawyer zu holen, löste bei ihm keine Begeisterungsstürme aus. Ich dagegen würde mich besser fühlen, wenn er wieder bei uns war. Ich wollte einfach wissen, dass es ihm gut ging. Die Begegnung mit den Frauen, schien ihn doch ganz schön zuggesetzt zu haben. Warum sonst hatte er so schnell das Weite gesucht, anstatt sie mit seiner einnehmenden Art in die Flucht zu schlagen?

 

oOo

Kapitel 23

 

Missmutig stocherte Sawyer in seinem Eintopf herum und starrte ihn so böse an, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn ihm plötzlich Beine gewachsen wären und er schreiend davongelaufen wäre. Im Bunker hatte er seine Enttäuschung und Wut versucht in sich einzuschließen. Jetzt jedoch sah er aus, als würde er gerne jemand mit seinem Löffel erstechen. Wahrscheinlich das Schicksal, oder Agnes Nazarova. Oder einfach den nächsten, der es wagte, einen Blick in seine Richtung zu werfen.

Ich hoffte jetzt einfach mal, dass der letzte Punkt nicht zutraf. „Der Markt läuft noch zwei Tage. Morgen werden andere Menschen hier sein. Wir können bleiben und mit ihnen sprechen.“

„Und was soll das bringen?“, fragte Sawyer bissig. Er saß mir gegenüber auf der anderen Seite des Tisches und spielte gedankenverloren mit dem seinem neuen Messer herum. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass irgendjemand von ihnen etwas über meinen Clan weiß.“

„Und du kannst nicht wissen, dass es nicht so ist“, hielt ich dagegen.

Er schwieg.

Ich konnte seine Enttäuschung und den Frust verstehen und auch, dass er nicht glaubte, noch einen Hinweis zu finden. Mir ging es ganz ähnlich, obwohl ich nicht selbst betroffen war. Doch wenn wir beide jetzt aufgaben, hatte ich nichts mehr. Kein Ziel, keine Aufgabe, keinen Nutzen. Ich konnte es hier nicht so einfach enden lassen, nicht so.

Neben Sawyer kratzte Wolf die letzten Reste aus seiner Schüssel. Er war erst vor zehn Minuten hier aufgetaucht, breit grinsend und mit einem fetten Knutschfleck am Hals. Wenigstens einer hatte heute einen Erfolg zu verzeichnen.

Nachdem Sawyer und Salia wieder zu uns gestoßen waren, hatten wir noch eine Runde über den Markt gedreht und alle die uns begegnet waren, nach Ophir und seinem Clan befragt. Niemand wusste etwas, niemand hatte etwas von ihm gehört. Es war als wäre er ein Geist.

Irgendwann hatte auch ich einsehen müssen, dass es nichts mehr brachte und da wir von dem langen Tag alle hungrig waren und dringend eine Pause brauchten, um uns zu erholen und den Kopf klar zu kriegen, waren wir zu Lysann gegangen. Eine gratis Mahlzeit, noch dazu aus einer richtigen Küche, wollte sich keiner von uns entgehen lassen. Naja, keiner außer Sawyer, dem war es ziemlich egal, da er mit anderen Dingen beschäftigt war.

Als ich das Gasthaus betreten hatte, war in Lysanns Gesicht die Sonne aufgegangen und sie hatte für uns alle eine herzhafte Suppe mit dicken Fleischstückchen in Schalen gefüllt. Mit denen waren wir rausgegangen und hatten uns an einen der Tische unter dem Vordach gesetzt. Drinnen wäre es zwar wärmer, aber ich konnte Trotzkopf und den Karren nicht aus den Augen lassen. Und die anderen hatten mich nicht allein hier draußen sitzen lassen wollen. Wobei so ein bisschen Einsamkeit mich nicht wirklich gestört hätte. 

Mittlerweile hatten wir alle aufgegessen – alle bis auf Sawyer. Der hatte nur in seinem Eintopf herumgestochert, bis dieser kalt war und ihn dann von sich geschoben.

Salia hatte sich mit ihren Spielsachen auf dem Boden niedergelassen, nachdem sie ihre Schüssel geleert hatte. Sie schien ganz in ihrer eigenen Welt zu sein, während sie die Figuren bewegte und Dialoge für sie entwarf. Wenn ich es richtig mitbekam, ging es um eine Familie, die auf einer langen Reise war, mit dem Ziel, ein schönes Zuhause zu finden.

Sie war vielleicht nur ein Kind, aber auch sie beschäftigte es, was um sie herum vor sich ging, nur brachte sie es anders zum Ausdruck.

„Ich finde, Kismet hat recht“, ließ Killian uns wissen. Er saß neben mir auf der Bank. „Wir sollten bleiben und versuchen …“

„War ja klar, dass du dich ihr sofort anschließt“, unterbrach Sawyer ihn herablassend. „Der ewige, kleine Jasager. Falls du es noch nicht gecheckt hast, es wird dir nichts bringen, also hör auf so zu tun, als würde dich das Ganze interessieren.“

Als Wolf auch das letzte Tröpfchen Suppe aus seiner Schale geleert hatte, spähte er zu der vollen Schüssel von Sawyer herüber. Die war in der Zwischenzeit zwar kalt, aber offensichtlich wollte er noch mehr. Kein Wunder, er hatte ja auch einen kalorienzehrenden Nachmittag gehabt.

„Warum glaubst du eigentlich immer, dass du mir egal bist?“, fragte Killian leicht verärgert. „Ich bin kein Unmensch und um es dir einmal klipp und klar zu sagen, es interessiert mich, was mit deiner Familie geschehen ist.“

Sawyers Augenbrauen hoben sich spöttisch. „Ach ja? Warum? Springt ja nichts für dich dabei heraus, wenn wir sie finden.“

Als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, schob Wolf seine Schüssel von sich und zog die von Sawyer zu sich heran. Er hatte wohl entschieden, dass Sawyer sie nicht mehr essen würde.

Gerade als er den Löffel in die Suppe tauchen wollte, bemerkte er, dass ich ihn beobachtete. Er grinste frech zu mir rüber und begann dann ungeniert das Essen in sich hineinzuschaufeln.

Ich ersparte mir das Kopfschütteln. Männer waren doch alle gleich. Ein bodenloses Loch, dort wo der Magen sitzen sollte.

„Für mich muss nichts herausspringen“, erklärte Killian. „Man nennt das Mitgefühl.“

„Oh, und du bist der Meinung, dass ich auf dein Mitgefühl angewiesen bin“, spottete er. „Dann habe ich hier mal ein paar ganz klare Worte für dich: Du interessierst mich einen Dreck und dein Mittgefühl kannst du dir sonst wo hinstecken.“

Langsam begann ich ernsthaft zu überlegen, ob ich sie beide nicht vielleicht auf dem Markt gegen etwas eintauschen sollte, etwas das nicht sprechen und mir den letzten Nerv rauben konnte.

„Ob es dir nun recht ist oder nicht, ich …“

„Wir könnten uns irgendwo in der Nähe einen Schlafplatz suchen und dann morgen noch mal zum Markt kommen“, quatschte ich dazwischen. Ich hatte wirklich keine Lust, auf die nächste Runde ihres Kleinkriegs. „Ich kenne ein paar Plätze, wo wir die Nacht sicher verbringen können. Morgen sind auf jeden Fall andere Besucher da und vielleicht schauen auch noch ein paar fahrende Händler vorbei. Diese Leute kommen viel herum, sie könnten etwas gehört haben.“

Sawyer schnaubte abfällig und ließ sein Messer mit der Spitze voran auf den Tisch fallen. Es blieb nicht stecken. „Könnte, würde, sollte, müsste. Alles ziemlich vage, findest du nicht?“

Aus dem Schankraum des Gasthauses, kamen drei Männer. Zwei von ihnen verschwanden nebenan in dem kleinen Schlafraum, der dritte schaute sich interessiert Trotzkopf an. Er war alt, hatte einen langen Rauschebart und nur noch ein paar wenige Haare auf dem Kopf. Er war so ungepflegt, dass Trotzkopf dagegen wie ein Edelstein glänzte. Die Kleidung war alt und verlottert und völlig verdreckt.

Ich behielt ihm aus dem Augenwinkel im Auge. „Vage ist besser, als gar nichts. Die Alternative wäre aufgeben. Willst du das etwa?“

„Es ist völlig egal was ich will. Ich glaube einfach nicht, dass es etwas bringt, noch länger hier zu bleiben.“ Er nahm sein Messer auf und begann mit der Spitze im Tisch zu bohren. „Das Ganze ist nichts als Zeitverschwendung.“

Er tat es schon wieder, er hatte die Hoffnung verloren und war bereit einfach aufzugeben, um keine weiteren Enttäuschungen ertragen zu müssen.

Der alte Mann streckte die Hand aus, als wollte er Trotzkopf berühren. In dem Moment drehte das Dromedar jedoch den Kopf, musterte den Kerl und spuckte ihn an. Der Rotz ging mitten in sein Gesicht.

Der Alte riss erschrocken die Arme hoch und stolperte zurück. Er brauchte einen Moment, um sich wieder zu fangen. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. Wer rechnete auch schon damit, von einem Tier angespuckt zu werden? Als er dann versuchte, sich den Rotz aus dem Gesicht zu wischen, stierte er meinen treulosen Begleiter verärgert an.

Ich beobachtete ihn aufmerksam, nicht dass er etwas Dummes versuchte, wie zum Beispiel Trotzkopf zu schlagen, doch er beließ es bei einem bösen Blick, wischte sich noch einmal durchs Gesicht und setzte sich dann an den Nebentisch.

„Zeitverschwendung wäre es nur gewesen, wenn wir jetzt schon aufgeben“, sagte Killian. „Niemand kann sich einfach so spurlos in Luft auflösen. Es muss jemanden geben, der Ophir kennt, oder schon mal von ihm gehört hat und weiß was mit ihm und seinem Clan geschehen ist.“

„Und wir müssen ihn nur finden“, spottete Sawyer.

„Killian hat recht“, stimmte ich ihm zu. Ich griff über den Tisch nach Sawyers Hand und hielt sie fest, als er das Messer erneut aufheben wollte. „Die Suche ist vielleicht nicht so einfach, wie wir uns das vorgestellt haben, aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie aussichtslos ist.“

Seine Lippen wurden schmal, sein Griff um das Messer festigte sich. „Ich will nicht mehr, Baby.“ In diesen Worten klang seine ganze Erschöpfung mit. Nicht nur wegen der langen Reise und der Suche nach seiner Familie, es war eine Erschöpfung, die viel tiefer ging und schon in den Jahren in Eden begonnen hatte. Was Sawyer wollte, war endlich zur Ruhe zu kommen. Und wenn der Preis dafür der Verlust seiner Familie war, dann war es eben so. Wobei er ja eigentlich nichts verlieren konnte, was er nicht hatte.

Zum ersten Mal ließ ich den Gedanken zu, es doch gut sein zu lassen. Wenn er nicht wollte, konnte ich ihn ja nicht zwingen und es war ja auch nicht so, als würde ich ihn nicht verstehen. Zwar würde er so niemals erfahren, was mit seinen Leuten geschehen war, aber vielleicht war es so ja besser. Manchmal war Unwissenheit gar nicht schlecht. Wer wusste schon, ob uns die Antworten auf unsere Fragen gefallen würden.

Völlig unpassend für diesen Moment, stieß Wolf einen Rülpser aus und verkündete damit das Ende seiner Mahlzeit. Er schob die Schale von sich und lehnte sich mit den Unterarmen gesättigt auf den Tisch.

Ich gab Sawyers Hand frei und setzte mich wieder aufrecht hin. „Wenn wir also nicht weiter …“

Ein Krachen am Nebentisch, ließ uns alle die Köpfe drehen. Der alte Mann hatte wohl versucht von der Bank aufzustehen und war dabei samt Möbelstück umgefallen. Fluchend und etwas schwerfällig, richtete er sich wieder auf, starrte die Bank einen Moment böse an und wankte dann in unserer Richtung.

Erst dachte ich, er wollte an uns vorbeigehen, doch er hatte andere Pläne. Sein Weg führte ihn direkt zu uns.

Wir alle schauten ein wenig irritiert, als er sich neben mir auf die Bank plumpsen ließ und uns mit einem zahnlosen Lächeln anstrahlte.

Ich rückte sofort ein wenig näher an Killian heran. Der Alte stank furchtbar nach Alkohol und Schweiß. Der hatte schon lange kein Wasser mehr an seine Haut gelassen.

„Hast du dich verlaufen?“, knurrte Sawyer. „Ich kann mich nicht daran erinnern, einen alten, stinkenden Sack bestellt zu haben.“

„Sawyer“, rief Killian entrüstet und wandte sich sofort mit einem entschuldigenden Blick an den alten Mann. „Tut mir leid, er meint es nicht so.“

„Natürlich meine ich es so.“

Killian ignorierte ihn. „Können wir ihnen irgendwie behilflich sein?“

Er wollte ihm behilflich sein? Also ich war da eher auf Sawyers Seite und das nicht nur, weil er sich seinen Platz direkt neben mir gesucht hatte. Man setzte sich nicht einfach uneingeladen zu anderen Leuten an den Tisch. Das war schlicht dreist und in seinem Fall auch noch Geruchsbelästigung.

„Ich will ein Bier“, verkündete er und ließ dabei seinen alkoholgeschwängerten Atem über den Tisch wehen.

So wie der roch, hatte der schon genug Bier in sich hineingeschüttet.

„Dann würde ich dir raten, du besorgst dir schnell eines“, knurrte Sawyer. Seine Geduld hing nur noch an einem seidenen Faden und der würde sehr bald reißen. „Und zwar, bevor ich dich mit einem Tritt von der Bank befördere.“

Der Mann guckte ihn an. „Ihr gebt mir ein Bier aus und ich erzähle euch von Ophirs Clan und den vielen, rotzfrechen Bälgern.“

Sawyer richtete sich ein wenig gerader auf. „Was?“

Genau das hatte ich auch gerade gedacht. „Woher weißt du, dass wir nach ihnen suchen?“ Eigentlich eine dumme Frage. Wir hatten heute den halben Markt nach ihm gefragt, da war es sicher kein Problem, es irgendwo aufzuschnappen.

„Ich habe euch zugehört.“ Er zeigte auf den Nachbartisch. Die Bank lag noch immer auf dem Boden, er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie wieder aufzustellen. Hätte er es in seinem Zustand versucht, wäre er vermutlich noch mal auf die Nase gefallen. „Ihr redet nicht gerade leise.“

Also hatte er gelauscht. Ich musterte ihn misstrauisch. „Was weißt du?“

„Erst Bier, dann reden.“ Etwas Verschlagenes trat in seine Augen. „Ich habe gehört, über was ihr gesprochen habt. Ihr seid auf der Suche nach der Familie mit den vielen Kindern und der schönen Frau.“

„Sprichst du von meiner Mutter?“

„Deine Mutter?“ Er musterte Sawyer.

Als hätte sie gespürt, dass etwas nicht stimmte, erhob Salia sich mit ihren Spielfiguren vom Boden. Das Spielzeug landete auf dem Tisch und sie versuchte zwischen Wolf und Sawyer auf die Bank zu klettern. Als sie dabei drohte abzurutschen, packte Wolf sie schnell und setzte sie neben sich.

Die Kleine griff nach ihrem Spielzeug und begann zu spielen, als wäre nichts gewesen.

„Keine Ahnung, ob sie deine Mutter ist, aber sie ist wirklich ein Augenschmaus“, ließ der alte Mann uns wissen. „Und sie hatte viele Kinder. Drei, nein vier.“

Konnten wir am Ende wirklich noch Glück haben? Da alles andere bisher erfolglos war, sollten wir es auf jeden Fall versuchen. „Was weißt du sonst noch?“

„Erst das Bier.“ Davon würde er nicht abrücken, das verriet mir seine Miene.

„Wenn du versuchst uns zu bescheißen, wirst du es bereuen.“ Denn ich würde nicht still danebensitzen und zuschauen, wenn er Sawyer noch eine Enttäuschung beibrachte.

„Ich kann auch einfach wieder gehen“, sagte er und tat so, als wollte er aufstehen.

„Bleib“, hielt ich ihn auf. „Es war nur eine Warnung gewesen.“

„Ist angekommen.“

Das hoffte ich für ihn, sonst konnte das hier ganz schnell ziemlich unschön werden. Nicht nur weil ich ihm dann wehtun würde, sondern auch, weil ich Sawyer nicht daran hindern würde, ihm wehzutun. Vielleicht würde ich sogar danebenstehen und ihn anfeuern.

„Bin gleich wieder zurück“, erklärte ich und erhob mich von der Bank. Er wollte ein Bier? Er würde eines bekommen. Und wenn er Glück hatte, dürfte er es sogar trinken.

Auf dem Weg in den Schankraum, holte ich noch eine Kerze vom Karren. Das sah Trotzkopf aus unerfindlichem Grund als Aufforderung, mir nach drinnen zu folgen. Zu seinem Pech war die Bremse angezogen und er kam nicht vom Fleck. Er blökte mir hinterher und legte sich dann beleidigt auf den Boden.

Dummes Dromedar.

Im Schankraum des Gasthauses war viel mehr los, als draußen unter dem Vordach. Jeder Platz der acht Tische war besetzt. Ein paar Gäste hatten sich sogar vor dem kleinen Kamin an der hinteren Wand niedergelassen. Der ganze Raum war warm und lebendig und trotzdem wirkte es recht schäbig. Die Wände waren alt und vergraut. Tiefe Risse zogen sich durch das Gemäuer und die Decke wurde nur durch Stützbalken oben gehalten.

Von den Tischen passte keiner zu dem anderen. Manche waren rund, andere eckig, ein paar groß und die anderen nicht. Auch die Stühle waren sehr unterschiedlich. Der Boden war alt und abgetreten und in den Ecken konnte ich Schimmel entdecken. Sowas geschah eben, wenn so ein Raum nur zwei Wochen im Jahr genutzt wurde und er das restliche Jahr über brach lag.

Während ich den Raum durchquerte, bemerkte ich mal wieder, wie eintönig und trist das Aussehen der Menschen hier doch war, wenn man sie mit den Leuten aus Eden verglich. Bisher hatte mich das nie gestört und auch jetzt tat es das nicht, es war nur eben sehr auffällig, wenn man eine Zeitlang unter Leuten gelebt hatte, die einem Regenbogen ähnlicher sahen, als einem normalen Menschen.

Aus der Ecke neben dem Kamin, schwebten herrliche Düfte von Essen und Gewürzen durch den Raum. Dort hatten Lysann und ihre Mutter eine kleine Kochnische mit einem eisernen Herd, wo sie die Mahlzeiten für die Gäste zubereiteten.

Da es hier keinen Tresen gab, so wie im Paradise, oder im NoName, ging ich direkt zu Lysann, die gerade in einem Topf mit Suppe rührte. Ich bestellte bei ihr ein Bier, tauschte es gegen die Kerze und ging wieder hinaus zu den anderen.

Während meiner Abwesenheit schien keiner der Männer auch nur einen Muskel gerührt zu haben. Killian wirkte nachdenklich. Sawyer hingegen sah aus, als wollte er seine Antworten notfalls auch mit Gewalt aus dem alten Mann herausholen. Wolf wachte aufmerksam über unsere Leute, während er den lächelnden Alten misstrauisch im Auge behielt. Nur Salia spielte entspannt mir ihren Spielfiguren, als hätte sie keine Sorgen

Irgendwie wurde ich ein kleinen wenig neidisch auf die Kleine. Es musste schön sein, so unbedarft sein zu können, ohne sich Sorgen darum machen zu müssen, wie es weitergehen sollte, oder was der nächste Tag brachte.

Ich schüttelte diesen unsinnigen Gedanken ab, ging zu den Männern hinüber und setzte mich wieder neben Killian auf die Bank – sehr dicht neben Killian, ich wollte dem Alten wirklich nicht zu nahekommen. Das Bier landete vor mir auf dem Tisch.

Der alte Mann wollte sofort danach greifen, doch ich schob den Becher hastig aus seiner Reichweite.

„Erst reden, dann Bier.“ Ich war ja nicht blöd. Zwar konnte ich mit dem Bier nichts anfangen, aber ich hatte so meine Erfahrungen mit Säufern. Er gierte geradezu nach dem Zeug. Außerdem, wer versicherte mir denn, dass er hielt was er versprach und nicht auf die Idee kam, noch mehr zu fordern, wenn ich ihm das Bier vorher gab? Wie bereits gesagt, dank Balic waren Säufer und ihr Verhalten mir nicht fremd.

So wie der Mann mich nun anschaute, wurde ihm das nun auch klar und er war nicht besonders begeistert davon. „Ich kann auch einfach wieder gehen.“

„Nur zu, wir finden sicher noch jemand anderen, der uns aufklären kann.“ Es war ein Bluff und ich konnte nur hoffen, dass ich mich damit nicht zu weit hervorgewagt hatte.

Mit einem kritischen Blick beäugte er erst mich und dann das Bier. Dann seufzte er ergeben. Wie nicht anders zu erwarten, wollte er dieses Bier unbedingt haben. „Du bist ein harter Verhandlungspartner“, warf er mir vor.

„Das höre ich nicht zum ersten Mal.“ Wirklich nicht. „Dann erzähl mal, bevor ich noch auf die Idee komme, das Bier einfach wegzukippen.“ Um meinen Worten Nachdruck zu verleihen, schob ich es näher an die Tischkante heran.

„Hey, immer schön langsam, ich erzähl ja schon.“ Er beäugte noch einmal das Bier und seufzte theatralisch, damit ich auch wusste, wie gemein er mich fand. „Also, Ophirs Clan hatte früher eine kleine Siedlung irgendwo im Osten. Ich war früher ein paar Mal da gewesen.“

Das bedeutete, dass Sawyer ihn eigentlich kennen müsste. Außer er war noch zu jung gewesen. Vielleicht hatte der Alte damals auch nicht so verwahrlost ausgesehen.

„Ein nettes Plätzchen war das gewesen. Mehrere Hütten und sogar eine eigene Esse. Und dann gab es da noch einen Bunker. Da hat Ophir mit seinem Mann drinnen gewohnt.“

„Seinem Mann?“, unterbrach ich ihn verwirrt. „Ich dachte, Ophir ist ein Mann.“ So hatte ich das bisher jedenfalls immer verstanden.

„Ist er auch“, sagte Sawyer. „Ophir ist ein Mann und er ist mit einem Mann verheiratet. Er ist schwul.“

Moment, das Wort hatte ich schon einmal gehört. Der Gardist Dante de Vries hatte das benutzt, als er mich über gleichgeschlechtliche Liebe aufgeklärt hatte. Ich verstand noch immer nicht genau, wie das funktionieren sollte, obwohl ich da ein paar Ideen hatte.

„Kann ich dann weitererzählen?“, fragte der Alte unwirsch. Er hatte keine Lust, länger als nötig auf sein Bier zu warten.

„Wir sind ganz Ohr“, ließ Sawyer ihn wissen.

„Also, wo war ich? Ach ja.“ Er räusperte sich. „In ihrem kleinen Teil der Welt, war es immer ziemlich friedlich, aber vor ein paar Jahren, ist eines von ihren Bälgern verschwunden. Wobei er nicht einfach verschwunden ist, er wurde entführt.“ Er machte eine Kunstpause, als wollte er die Spannung steigern und sagte dann: „Von den Trackern.“

Er ließ die Bombe platzen, als wollte er uns damit schockieren und wartete offensichtlich auf eine erschrockene und erschütterte Reaktion unsererseits.

Zu seinem Pech war uns diese Information bereits bekannt. Wir wussten nicht nur was damals geschehen war, das betroffene Balg, saß sogar mit uns am Tisch. Wenn ich ihm das mitteilte, wäre vermutlich er der Schockierte.

Als wir alle nur dasaßen und ihn abwartend anschauten, war er etwas ernüchtert und machte uns mit dem Ausdruck in seinem Gesicht deutlich, dass wir ihm den Spaß verdorben hatten. „Wie auch immer. Die Tracker haben das Balg eingefangen. Einer aus dem Clan hat das beobachtet und es den anderen gesagt. Der Vater soll wohl völlig ausgeflippt sein und wollte sofort losziehen, um seine Brut zu retten. Wie hieß der noch gleich? Clay? Clyde? Clayton?“

„Clarence“, verbesserte Sawyer ihn. Er war so angespannt, dass er jeden Moment zerspringen würde. Gleichzeitig war sein Gesicht aber bar jeder Emotion.

„Clarence, genau, das war es“, stimmte der Alte ihm zu. „Also, Clarence wollte sofort hinterher und sich dem Kampf mit den Trackern stellen, aber Ophir war dagegen. Wie ich gehört habe, soll es zu einem handgreiflichen Streit zwischen ihnen gekommen sein.“

„Von wem hast du das gehört?“

„Von der Frau, die Frau von Clarence. Sie und ein paar Leute aus der Siedlung kamen hier vorbei, nachdem sie alles niedergebrannt haben.“

„Was?“ Sawyers Augenbrauen krochen aufeinander zu. „Sie haben die Siedlung niedergebrannt?“

Der Alte nickte. „Ja. Die Frau konnte die beiden Streithähne wohl beruhigen, aber dann kam die Frage auf, was sie nun tun sollten. Eine Rettung stand außer Frage, viel zu gefährlich. Niemand legt sich freiwillig mit Eden und seinen Trackern an. Was ich da schon alles für Geschichten gehört habe. Angeblich kennen die da ein Mittel, durch das man ewig jung bleibt. Deswegen gibt es in der Stadt auch keine alten Menschen.“

Ewig Jung, dass ich nicht lachte. Er hatte mit Sicherheit noch nie einen Blick auf Agnes Nazarova geworfen. Na gut, das hatte er wahrscheinlich wirklich nicht.

„Aber dieses Mittel stellen sie aus Blut und Knochen her. Deswegen fangen sie die freien Menschen. Sie wollen nicht ihre eigenen Leute opfern, brauchen aber …“

„Könntest du bitte beim Thema bleiben?“, unterbrach ich ihn, konnte aber nicht verhindern, dass mir ein eiskalter Schauder über den Rücken lief. Ich war mir fast sicher, dass Eden sowas nicht tat – aber nur fast.

„Oh, ja, tut mir leid.“ Seine Finger zuckten, als wollte er nach dem Bier greifen. „Also, eine Rettung kam nicht in Frage, aber sie wussten auch nicht, was die Edener mit dem Jungen tun würden. Sie hatten die Befürchtung, dass sie ihn foltern würden, damit er ihnen verriet, wo der Rest seiner Gruppe war. Darum beschlossen sie, von dort wegzugehen.“

Meine Vermutung stimmte also, der Clan hatte die Siedlung aus eigenem Antrieb verlassen.

„Vorher haben sie aber noch alles niedergebrannt, um ihre Spuren zu verwischen und auch, damit sich dort kein anderer niederlässt, falls die Tracker wirklich kommen sollten.“

„Sie sind gegangen, einfach so.“ Sawyers Stimme klang tonlos.

„Was sollten sie denn sonst tun?“ Der Alte zuckte mit den Schultern. „Sie gingen und vergaßen den Jungen. Ein Balg weniger ist ja nicht so schlimm, die Frau hat ja noch genug andere gehabt, nicht wahr?“ Er gackerte wie ein Huhn über seinen eigenen Witz. Dabei fiel ihm nicht auf, dass niemand von uns ihn witzig fand.

Das sich Sawyers Hand fester um sein Messer schloss, gefiel mir gar nicht. Ich gab Wolf mit einem Zeichen zu verstehen, dass er ein Auge auf Sawyer haben sollte, nicht dass der noch etwas Unüberlegtes tat.

Mit einem Nicken zeigte Wolf, dass er verstanden hatte.

„Es war bestimmt nicht einfach so“, sagte ich. „Die Entscheidung muss ihnen ziemlich schwergefallen sein.“

„Und wie!“, stimmte der Alte mir zu. „Als sie ihre Siedlung verlassen haben, sind sie kurz über den Markt, um Vorräte für die Reise zu besorgen. Clarence war immer ein lustiger Kerl, aber da war er wie versteinert gewesen und seine Frau hat die ganze Zeit nur geheult. Wirklich traurig.“

Wenn er es so traurig fand, warum hatte er eben dann noch so widerlich gelacht? „Weißt du wohin sie gegangen sind?“ 

„Lass mich nachdenken.“ Er hob den Kopf und starrte zum Vordach hinauf, als würde ihm das irgendwelche Eingebungen verschaffen. „Es ist schon ziemlich lange her, müsst ihr wissen. Bestimmt schon elf oder zwölf Jahre.“

„Sechzehn“, korrigierte Sawyer ihn bitter.

„Sechzehn? Wirklich schon so lange?“ Er schüttelte den Kopf. „Mann, wie die Zeit vergeht. Ich weiß noch früher, da haben wir immer …“

„Bleib beim Thema“, wies ich ihn an.

Er warf mir einen bösen Blick zu. „Ist ja gut, musst ja nicht gleich grantig werden.“

Wenn ich grantig wäre, würde das ganz anders aussehen. „Wo ist Ophirs Clan jetzt?“

„Ich weiß nicht, hab seit damals nichts mehr von ihnen gehört und sie auch ewig nicht mehr gesehen.“ Er linste auf das Bier. „Ich weiß nur, dass sie damals in den Westen wollten. Aber ob sie das auch wirklich gemacht haben?“ Er zuckte wieder mit den Schultern.

Das waren mehr Informationen, als wir vorher gehabt hatten, aber trotzdem nichts wirklich Brauchbares. Der Westen erstreckte sich über eine breite Fläche. „Sonst weißt du nichts weiter? Nichts Genaueres?“

„Nö.“ Er beäugte wieder den Becher. „Kann ich jetzt mein Bier haben?“

„Ja, nimm es und verschwinde“, knurrte Sawyer.

Das ließ der alte Mann sich kein zweites Mal sagen. Er schnappte sich den Becher, bevor ich auch nur die Gelegenheit bekam, ihn an ihn weiterzureichen und setzte ihn sofort an. Die Hälfte kippte er gleich mit dem ersten Zug hinunter.

Sawyer verengte seine Augen leicht. „Du bist ja immer noch hier.“

„Nur nicht drängeln.“ Er stellte den Becher auf den Tisch und versuchte umständlich von der Bank herunterzukommen. Dabei stützte er sich am Tisch ab. Sobald er dann endlich stand, nahm er den Becher an sich und hob ihm zum Gruße. „War nett mit euch. Lasst euch von dieser Tragödie nicht runterziehen und vielleicht sieht man sich mal wieder.“ Er kehrte uns den Rücken und marschierte glücklich zurück in den Schankraum.

An unserem Tisch blieb es erstmal still, bis Sawyer plötzlich das Messer hob und mit der Klinge voran in den Tisch rammte. 

Salia zuckte zusammen. Wolf legte ihr sofort beruhigend eine große Pranke auf den Rücken.

„Das hat ja mal rein gar nichts gebracht“, sagte Sawyer.

Killian bewegte sich und verschränkte die Hände auf dem Tisch. „Ich sehe das nicht so. Wir wissen jetzt zumindest, dass deine Familie noch am Leben ist.“

„Du meinst, dass sie es vor sechzehn Jahren noch war“, sagte er verbittert. „Seitdem hat man schließlich nichts mehr von ihnen gehört.“

„Und wir wissen auch, dass sie in den Westen gegangen sind“, fuhr Killian fort, als hätte Sawyer nichts gesagt. „Das ist ein Anhaltspunkt, den wir vorher nicht gehabt haben.“

„Also gehen wir nach Westen“, schlussfolgerte ich.

„Und was soll das bringen?“, wollte Sawyer wissen. „Der Westen ist groß. Haben sie sich in einem Wald niedergelassen? Im Gebirge? Oder vielleicht am Meer? Westen ist kein Hinweis, Westen ist gar nichts!“

In Ordnung, das reichte jetzt. „Also langsam regt mich deine negative Einstellung wirklich auf. Verstehst du denn nicht, dass das eine Chance ist? Ich würde alles dafür geben meine Familie wieder bei mir zu haben und du willst es nicht mal versuchen, weil wir scheitern könnten.“

„Nicht könnten, werden“, korrigierte er mich. „Die Spur ist sechzehn Jahre alt. Sie könnten mittlerweile überall sein.“

Natürlich hatte er recht, aber wir durften nicht aufgeben. Ich brauchte das hier, es war alles was mir noch geblieben war. „Wie du meinst. Dann werde ich eben alleine nach deiner Familie suchen, während du keine Ahnung was tust. Wenn ich sie gefunden habe, komme ich dich holen.“

Warum bitte schaute er mich jetzt so böse an?

„Kismet hat recht“, schaltete Killian sich ein. „Wir dürfen nicht so einfach aufgeben. Du hast auch nicht geglaubt, dass wir hier etwas erfahren, aber das haben wir. Das ist doch ein gutes Zeichen.“

„Was mischst du dich da jetzt ein? Keiner hat nach deiner Meinung gefragt.“

Nein, so ging das nicht. Wenn er jetzt auch noch anfing mit Killian zu streiten, würden wir keinen Schritt weiterkommen. „Wolf, Killian, habt ihr nicht Lust mit Salia einen kleinen Spaziergang über den Markt zu machen?“

Natürlich verstanden alle am Tisch, was ich damit bezweckte, aber Sawyer erhob keinen Einspruch, als Killian und Wolf sich erhoben und sich die Kleine schnappten, um noch ein wenig herumzuschlendern. Dabei bemerkte ich sehr wohl Killians Blick, nur konnte ich nicht sagen, was er bedeutete.

Ich wartete bis die anderen außer Hörweite waren, bevor ich den Mund öffnete. „Beantworte mir nur eine Frage: Willst du deine Familie finden?“ Denn wenn er das nicht wollte, dann war all das sowieso zwecklos.

Sawyer antwortete nicht sofort. Er saß da und mahlte mit den Kiefern und schien sich selber nicht sicher zu sein, was er darauf antworten sollte.

Ich wartete einfach ab. Ihn zu einer Antwort zu drängen, würde nichts bringen und vielleicht brauchte er ja die Zeit, um sich selber darüber klar zu werden, was er eigentlich wollte.

Die Minuten flossen zähflüssig dahin, bis er schließlich sagte: „Ja, ich will sie finden, aber …“

„Kein Aber, das habe ich nicht gefragt. Ich wollte nur wissen, ob du sie finden willst.“

Einen Moment schaute er mich nur an. „Aber ich glaube nicht, dass wir sie finden werden.“

Toll, jetzt hatte er es doch getan. „Du hast auch nicht geglaubt, dass wir hier etwas herausfinden würden. Zwar wissen wir noch immer nicht wo sie nun sind, aber wir wissen wenigstens, was damals geschehen ist. Sie sind gegangen, um vor den Trackern in Sicherheit zu sein. Niemand von ihnen war jemals in Eden, was bedeutet, ihr Plan hat funktioniert, oder hast du je einen von ihnen dort gesehen?“

„Nein, aber …“

„Dann können wir sicher sein, dass sie sich irgendwo anders niedergelassen haben“, unterbrach ich ihn einfach. „Diese Leute sind ein ganzer Clan. Selbst wenn in der Zwischenzeit ein oder zwei von ihnen gestorben sind, ist es doch ziemlich unwahrscheinlich, dass sie alle einem seltsamen Unfall zum Opfer gefallen sind, was bedeutet, dass sie noch irgendwo da draußen sein müssen.“

„Klar, aber …“

„Das bedeutet, wir müssen sie einfach nur aufspüren und …“

„Darf ich jetzt auch mal was sagen?“

„Nur wenn du mir zustimmst.“

Er funkelte mich verärgert an.

Ich seufzte. „Ich weiß, dass es nicht einfach werden wird und vermutlich werden wir noch eine ganze Weile unterwegs sein, aber wir sind nicht die einzigen Menschen auf der Welt. Auf unserer Suche werden wir anderen Leuten begegnen und können sie befragen. Wir haben einen Hinweis bekommen, warum also sollten wir keinen zweiten kriegen?“ Wen versuchte ich hier eigentlich zu überzeugen? Ihn, oder mich selber?

Die gleiche Frage schien er sich auch zu stellen. „Und wie lange soll das gehen? Ein Monat? Ein Jahr? Oder gehörst du zu den Personen, die niemals aufgeben?“

Diese Frage warf mich einen Moment aus der Bahn, denn ich hatte keine Antwort darauf. Ich wusste, dass ich halsstarrig sein konnte, doch ich wusste auch, dass ich diese Suche eigentlich nicht für ihn durchzog. Wie lange würde ich brauchen, um mein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen? Und was würde geschehen, wenn es endlich so weit war?

Besser ich dachte nicht so genau darüber nach. Aber ich musste ihm etwas geben, damit wir weitermachen konnten. „In Eden war ich kurz davor gewesen aufzugeben, aber dann bist du in dem Lager aufgetaucht und hast mich in dein Haus gelockt.“

Er schnaubte abfällig.

„Du hast keinen Schimmer, was für einen Schiss ich hatte, zu dir zu gehen. Ich habe hinter jeder Ecke eine Intrige vermutet und geglaubt, du arbeitest mit Agnes zusammen, um mich zu schwängern. Es hat mich richtig Überwindung gekostet, deinen Worten zu vertrauen.“

„Und warum hast du es dann getan?“

Die Antwort darauf war ganz einfach. „Weil ich es nicht allein geschafft habe und Hilfe brauchte. Und jetzt brauchst du Hilfe.“ Ich griff über den Tisch und legte meine Hand auf seine. „Also sei nicht so dumm wie ich und lass dich von deiner Angst lenken, nur weil wir scheitern könnten.“

Danach schwieg er eine Weile. Sein Blick war auf meine Hand gerichtet und in seinem Kopf dampfte und ratterte es. „Und wenn wir sie nicht finden?“, fragte er leise.

„Wenn wir es wirklich nicht schaffen sie zu finden, dann haben wir es wenigstens versucht.“ Ich drückte seine Hand leicht. „Das ist alles was ich von dir verlange, dass du es versuchst und nicht einfach aufgibst, weil du Angst hast.“

Es war sein schweres Seufzen, das mir sagte, dass er sich geschlagen gab. „Okay, lass es uns versuchen. Mehr als scheitern können wir ja nicht.“

Das war zwar nicht das worauf ich gehofft hatte, aber besser als gar nichts. Jetzt durfte ich ihm nur nicht zeigen, wie wenig Zuversicht ich selber hatte, denn das konnte alles ruinieren.

 

oOo

Kapitel 24

 

„Seid ihr soweit?“, fragte ich und schaute an Trotzkopf vorbei, nach hinten zum Karren.

Irgendwo ganz am Ende streckte Wolf einen Daumen in die Luft.

„In Ordnung, ich zähle bis drei. Eins, zwei, drei!“ Ich zog an Trotzkopfs Halfter, damit er sich in Bewegung setzte, während die drei Männer zu schieben begannen. Killian an der linken Seite, Sawyer der rechten und Wolf hinten am Karren. Salia stand an der Seite und schaute aufmerksam dabei zu, wie wir uns abmühten, den verdammten Karren aus dem verschlammten Erdloch zu bekommen.

Drei Tage war es nun her, seit wir den Herbstmarkt verlassen hatten. Drei Tage, in denen es ständig geregnet und den verdammten Boden aufgeweicht hatte. In der letzten Nacht hatte es endlich aufgehört. Trotzdem hatten wir uns von dem weichen Waldboden ferngehalten und waren auf der Straße geblieben, nur um jetzt in diesem blöden Loch festzustecken.

Trotzkopf blökte einmal laut. Dann gab es einen Ruck und mit einem Mall rollte der Karren wieder über die überwachsene Straße.

Von links hörte ich ein lautes Platsch.

„Schhh, ruhig“, sagte ich und brachte Trotzkopf wieder zum Stehen, dann schaute ich nach links und konnte mir ein Kichern nicht verkneifen. Schnell schlug ich mir die Hand vor dem Mund, doch da war es schon zu spät, er hatte es gehört.

Offensichtlich war Killian weggerutscht und mit dem Gesicht voran im Schlamm gelandet. Jetzt kniete er im Dreck, schüttelte seine Hände aus und versuchte danach sich den Schlamm aus dem Gesicht zu wischen. Dabei warf er mir einen ziemlich bösen Blick zu, weil ich gelacht hatte.

Er sah aber auch lustig aus.

Immer noch grinsend zog ich die Bremse am Karren fest, nahm ein Tuch aus einer der Kisten und kam gerade bei ihm an, als er wieder auf den Beinen stand. „Wenn du dich sehen könntest, würdest du auch lachen“, teilte ich ihm mit und reichte ihm das Tuch.

„Ja, ha ha, sehr witzig.“ Er spukte etwas Dreck aus, nahm das Tuch und wischte sich den gröbsten Schmutz aus dem Gesicht.

Ich musste mich wirklich zusammenreißen, um mein Grinsen zu unterdrücken – mit wenig Erfolg.

Sawyer stützte sich mit den Armen auf das Seitenbrett des Karrens und schaute zu uns rüber. Seine Schlinge hatte er gestern abgenommen, weil er von ihr genervt gewesen war. „Er sieht besser aus als vorher“, bemerkte er hämisch.

Nun ging der böse Blick in seine Richtung. Dabei verschmierte Killian den Dreck nur noch mehr in seinem Gesicht.

Das konnte sich ja niemand mit ansehen. „Komm, gib mir das, ich mach das.“

Killian übergab mir ergeben das Tuch und hielt dann still, als ich damit begann, den Schlamm wegzuwischen. Dabei konnte ich es einfach nicht verhindern, zu schmunzeln.

„Wahrscheinlich hat er das mit Absicht getan, damit du ihn wieder bemuttern kannst“, bemerkte Sawyer.

Weder ich noch Killian, schenkten diesem blöden Kommentar Beachtung. Doch leider ließ sich nicht verhindern, dass ich nun Killians Blick bemerkte und mein Lächeln langsam verblasste. So intensiv wie er mich beobachtete, schien er diese Nähe wirklich ein wenig zu genießen. Aber das sollte er nicht. Und ich sollte das nicht bemerken. Das war …

Plötzlich warf Sawyer einen Blick über die Schulter und richtete sich ein wenig auf. „Was isst du da?“

Ein Blick über den Karren genügte, um mir zu zeigen, dass er mit Salia sprach. Halb in ihrem Mund steckte eine gelbe Frucht.

Als Sawyer sie ansprach, nahm sie sie wieder heraus und zeigte sie ihm. Es war eine Mirabelle.

Sawyer runzelte die Stirn. „Wo hast du die her?“

Berechtigte Frage, denn wir hatten keine Mirabellen geladen.

Salia drehte sich herum und zeigte auf einen Baum, der knapp dreißig Fuß von der Straße entfernt vor ein paar alten Hausruinen stand.

Die ganze Straße, ja sogar die ganze Gegend, war von diesen Hausruinen übersät. Links von uns verschwanden sie in einem dichten Wald, rechts jedoch gab es nur ein paar vereinzelte Bäume und wie es schien, war eine davon eine Mirabelle, die noch Früchte trug.

Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Frisches Obst. „Ich glaube, wir sollten eine kleine Pause einlegen.“ Es war bereits Nachmittag und eine kleine Pause, konnte nicht schaden. Besonders nicht, wenn sie so leckere Früchtchen versprach.

Gesagt, getan. Wir schafften Trotzkopf samt Karren von der Straße und stellten ihn zwischen die zerfallenen Ruinen. So konnte man ihn von der Straße aus nicht sehen. Wahrscheinlich war diese Vorsichtsmaßnahme wie immer völlig überflüssig, aber meine Zeit in Eden hatte mich nun einmal leicht paranoid gemacht und Vorsicht war immer noch besser als Nachsicht.

Sobald der Karren sicher untergebracht war, ging ich mit Salia an der Hand zu dem großen Mirabellenbaum und sah mir die Sache genauer an. Der Baum war groß, sicher fünfzehn Fuß hoch und der Stamm war gerade und glatt. Das würde nicht einfach werden, ohne Leiter an die Früchte zu kommen.

Natürlich konnten wir auch einfach die vom Boden aufsammeln, aber die waren dreckig und teilweise schon verfault. Nein, ich musste auf den Baum. „In Ordnung, wir machen das jetzt folgendermaßen“, sagte ich zu Salia. „Ich klettere auf den Baum und pflücke die Mirabellen und du sammelst sie dann ein.“

Sie nickte und schaute sich dann um. „Womit?“

„Womit du sie einsammeln sollst?“

Wieder ein nicken.

Ich warf einen Blick zu Sawyer, der genau wie die anderen Männer ganz in der Nähe stand und uns beobachtete. Wahrscheinlich wollten sie alle sehen, wie ich bei meinem Versuch zu klettern, herunterfiel und auf dem Hintern landete. Da konnten sie aber lange warten, denn ich war eine ausgezeichnete Kletterin. „Dein Papa ist bestimmt so nett, dir etwas von Karren zu holen.“

„Das übernehme ich“, sagte Killian und machte sich sogleich auf den Weg. In seinem Gesicht waren immer noch Schlieren vom Matsch, aber wenigstens nicht mehr so schlimm.

„Na bitte, Killian holt dir etwas und ich klettere hoch.“ Obwohl der Stamm schon ziemlich glatt war und es auch keine tiefhängenden Äste gab, an denen ich mich hochziehen konnte. Egal, ich würde das schon schaffen. „Wünsch mir Glück.“

„Viel Glück.“

Dass sie das so wörtlich nahm, fand ich einfach nur bezaubernd und konnte gar nicht anders, als zu lächeln. Ich drückte kurz ihre Hand, ließ sie dann los und begann mit dem Aufstieg.

Wie erwartet bereitete mir das einige Schwierigkeiten. Nicht dass ich herunterfiel, nein, so weit kam ich gar nicht. Die Rinde war von dem Regen der letzten Tage nass und glitschig und der unterste Ast, war zwei Fuß über meinem Kopf. Ich sprang nach ihm, doch erst beim vierten Versuch bekam ich ihn zufassen und rutschte gleich wieder ab.

Nun war mein Ehrgeiz geweckt. Ich brachte mich in Position, rieb die Hände gegeneinander und nahm Maß. Dann ging ich in die Hocke, stieß mich ab und sprang. Meine Hände schlossen sich um den untersten Ast und einen Moment baumelte ich einfach nur daran. Wassertropfen von den nassen Blättern, rieselten herunter und landeten in meinem Gesicht.

„Du schaffst es!“, rief Salia aufgeregt.

Na bei so viel Zuspruch, konnte man ja nicht versagen. Also sammelte ich meine Kraft und begann mich hochzuziehen.

Plötzlich spürte ich einen Widerstand unter meinen Füßen und merkte, wie ich hochgedrückt wurde. Als ich nach unten schaute, sah ich Wolf, der mir meine Aufgabe wohl ein wenig einfacher machen wollte. Na gut, dann eben so. Das war zwar irgendwie schummeln, aber solange unsere Bäuche am Ende gefüllt sein würden, war alles erlaubt.

Mit Wolfs Hilfe war es kein Problem in die Krone des Baumes zu gelangen. Dann saß ich oben, kletterte von Ast zu Ast und rupfte die Mirabellen vom Baum.

Unten wartete Salia mit einer kleinen Kiste und wir machten ein Spiel daraus, ob sie es schaffte, die Mirabellen mit der Kiste zu fangen, bevor sie auf dem Boden landeten. Die Hälfte ging zwar daneben, aber die Kleine hatte ihren Spaß.

Auch die Männer schienen sich zu amüsieren. Sie jubelten, wenn Salia es schaffte, eine Mirabelle zu fangen und buhten mich aus, wenn ich nicht traf.

Während unseres Spiels, riss die graue Wolkendecke über unseren Köpfen auf und erlaubte der Sonne ihre Strahlen zur Erde zu schicken.

Als die Kiste voll war und ich ohne Hilfe von Wolf herunterkam –ohne auf dem Hintern zu landen – hatte ich so gute Laune wie schon lange nicht mehr. Das hatte Spaß gemacht und der Himmel schien meine Meinung zu teilen.

Mit unserer Beute gingen wir zurück zum Karren und ließen uns dort zwischen den Ruinen nieder.

Sawyer suchte sich einen Platz auf dem Karren, Killian setzte sich auf einen Mauerbrocken daneben. Ich parkte meinen Hintern gegenüber von den beiden auf einer hüfthohen Mauer und ließ die Beine baumeln. Wolf lehnte sich neben mir an den alten Stein. Nur Salia rannte wie ein aufgescheuchtes Hühnchen von einem zum anderen und verteilte die Mirabellen, wenn sie sich nicht gerade selber eine in den Mund steckte.

„Danke“, sagte ich, als Salia mir eine weitere Mirabelle gab und dann gleich wieder zur Kiste eilte, um Nachschub zu holen.

Die nächste wollte sie Wolf geben, doch der schüttelte den Kopf und zeigte ihr, dass er noch drei hatte. Also rannte sie weiter zu Killian und gab sie ihm.

Ich beäugte Wolf. „Du scheinst Mirabellen nicht besonders zu mögen.“

Er machte eine vage Bewegung mit der Hand und biss dann vorsichtig ein kleines Stück ab, als erwartete er darin einen Wurm.

Banause. „Deine Kochkünste sind dir wohl lieber.“

Er nickte und grinste. Wahrscheinlich zog er Fleisch dem Obst einfach vor. „Wer hat dir denn das Kochen beigebracht?“

Sein Finger hob sich und zeigte auf mich.

„Ich?“, fragte ich überrascht. Ich wüsste nicht, wann ich ihm das Kochen beigebracht haben sollte. „Danke“, sagte ich zu Salia, als sie mir eine weitere Frucht in die Hand drückte und ließ sie sofort in meinem Mund verschwinden. Hm, lecker.

Wie nicht anders zu erwarten, schüttelte Wolf den Kopf. Dann formte er mit den Händen meinen Körper nach und zeigte auf sich selber.

Das war schwierig. Da er nicht mich meinte, beschrieb er offensichtlich eine Frau. Eine Frau die er gekannt hatte? Ich spuckte den Kern aus. „Deine Freundin? Partnerin?“

Wieder ein Kopfschütteln. Sein Finger deutete erst auf Sawyer, dann auf Salia. Dann formte er wieder meinen Körper nach und zeigte auf sich.

Frau war bestimmt richtig. Aber was sollte Sawyer und Salia heißen? Vielleicht Vater und Tochter? Oder nicht so wörtlich gesehen: Eltern und Kind? Dann … wenn er das Kind war und das Elternteil weiblich … „Deine Mutter.“ Eigentlich war die Lösung doch ganz simpel. Er hatte doch erzählt, dass er bei seiner Mutter aufgewachsen war.

Wolf nickte.

Wieder kam Salia an und reichte mir eine Mirabelle. „Danke.“

Sie grinste und zischte wieder ab. Dabei waren ihre Backen voller Obst.

„Was ist dein Lieblingsessen?“, wollte ich von Wolf wissen und steckte mir das nächste Früchtchen in den Mund.

 Einen Moment überlegte er. Dann stieß er sich von der Mauer ab und begann seltsame Bewegungen mit Armen und Beinen zu machen, die mich doch sehr an einen … igitt. „Frösche?“ Mein ganzer Ekel schwang in diesem einen Wort mit. Frösche waren aber auch schleimig und glupschig und einfach nur abstoßend.

Als Wolf dann auch noch nickte, schüttelte es mich. „Also das ist einfach nur … tut mir leid, das geht gar nicht. Ich glaube, wir können nicht länger befreundet bleiben.“

Von Sawyer kam ein leises Lachen. „Hier bekommt man heute ja richtig etwas geboten.“

Tja, wenn man nicht lesen konnte und keine Zeichensprache beherrschte, musste man sich eben anders helfen.

„Beim Scharadespielen wärst du sicher große Klasse.“

„Aber nur wenn Wolf in meinem Team ist. Danke.“ Das letzte Wort ging an Salia, die eine weitere Runde Mirabellen verteilte. Ich schnipste einen Krümmel herunter und ließ sie in meinem Mund verschwinden. Dann musterte ich Wolf, der immer noch an seiner ersten Mirabelle herumkaute.

Ich löste das Fruchtfleisch, spuckte den Kern aus und versuchte sein Alter zu schätzen. Er war deutlich älter als ich, aber keineswegs alt. Ach, warum lange herumrätseln. „Wie alt bist du eigentlich?“

„Fünfunddreißig“, sagte Sawyer. „Schätze ich. Nein Danke Schatz, ich möchte nicht mehr.“

Da ihr Vater ihre Gabe nicht wollte, drehte sie sie Killian an.

Wolf schaute mich an und zog erwartungsvoll eine Augenbraue nach oben.

Sollte ich raten? „Ich denke du bist siebenunddreißig.“

Beinahe empört verzog er das Gesicht. Er hob eine Hand mit drei Fingern und formte mit der anderen Hand eine Null.

„Dreißig“, sagte Killian und erst da fiel mir auf, dass er nicht hatte raten dürfen. Wir hatten ihn ausgeschlossen. Geschah das öfters, oder war das jetzt nur ein Zufall?

Wolf nickte und schaffte es endlich, seine erste Mirabelle zu vernichten, aber er sah nicht aus als wollte er eine weitere – nicht solange er nicht musste.

Als Salia mir die nächste Mirabelle brachte, bedankte ich mich pflichtbewusst und beobachtete dabei Killian. Ich wusste, dass die anderen ihn am Anfang unserer Reise immer geschnitten hatten und auch später hatten sie ihm oft das Gefühl gegeben, er gehöre nicht dazu. Ehrlich gesagt hatte ich aber nicht darauf geachtet, wie es die letzten Wochen war.

Wenn ich jetzt so darüber nachdachte, unterhielt er sich meistens nur mit mir. Wenn wir unterwegs waren, lief er neben mir. Wenn wir am Lagerfeuer saßen, saß er neben mir und wenn wir uns schlafen legten, suchte er sich ein Plätzchen an meiner Seite. Mit Sawyer stritt er sich meistens nur und eine Unterhaltung mit Wolf war auch eher selten möglich, da Wolf immer alles aufschreiben musste und das funktionierte beim Laufen halt nicht so gut.

Ich glaubte nicht, dass die beiden Männer ihn noch mit Absicht ausgrenzten, es passierte einfach. Zwar war er mit uns unterwegs, aber irgendwie doch immer noch ein Teil von Eden.

Als Killian meinen Blick erwiderte, bemerkte ich erst, dass ich ihn anstarrte. Schnell wegzugucken, wäre einfach nur albern und idiotisch, er hatte es schließlich schon bemerkt. Also lächelte ich ihn einfach ein wenig schief an.

Er lächelte nicht zurück. Stattdessen fragte er: „Können wir uns mal kurz unterhalten?“ Kurzer Blick zu Wolf. „Alleine?“

Oh, ähm, was? „Klar.“ Obwohl ich mir nicht so sicher war, ob ich mit ihm ein Gespräch unter vier Augen führen wollte. Was wenn er mich bat, ihn zurück nach Eden zu bringen? Oder er wieder mit Nikita anfing? Ich erinnerte mich noch sehr gut an unser letztes Gespräch ohne Zuhörer. Danach war es eine ganze Weile ziemlich komisch zwischen uns gewesen und das wollte ich eigentlich nicht nochmal erleben.

Trotz meiner Bedenken, sprang ich von der Mauer, als Killian sich erhob.

„Hast du etwa Geheimnisse?“, fragte Sawyer spöttisch. „Oder willst du sie mal wieder ungestört sauer machen?“

Killian beachtete ihn gar nicht. Er wirkte ungewohnt ernst, als er sagte: „Lass uns da drüben hingehen.“ Er nickte tiefer in die Ruinen hinein, weg von der Straße. Und von den anderen.

Ich schloss mich ihm schweigend an, bis wir außer Hörweite waren. Dabei fiel mir auf, dass er sein Messer mal wieder nicht trug. Das ärgerte mich. Ich hatte ihm doch gesagt, dass er es immer bei sich haben sollte. Vielleicht sollte ich es ihm ans Bein kleben, damit er es nicht ständig in seine Arzttasche stecken konnte.

Als Killian anhielt, bemerkte ich unweit von uns eine weitre Straße, an der Grenze zum Waldrand. Sie verlief quer zu der anderen. Weiter vorne musste es eine Kreuzung, oder eine einfache Kurve geben. Wir würden es merken, wenn wir weiterfuhren. Von hier aus wirkte sie auf jeden Fall passierbar, ohne Hindernisse und verschlammte Löcher. Nun gut, durch die vielen Hausruinen, oder besser gesagt, Überbleibsel der Grundmauern, war von hier aus nur ein kleiner Teil der Straße zu sehen. 

Warum denkst du über so einen Blödsinn nach? Achte lieber mal auf den Mann vor dir.

Das sollte ich vielleicht wirklich. Wir standen hier jetzt bestimmt schon eine Minute und taten nichts anderes, als zu schweigen. Das war so völlig untypisch für ihn, dass es mich ein wenig beunruhigte. „Ist mit dir alles in Ordnung?“

Da lächelte er wieder, nur wirkte es ein wenig angespannt. „Mir geht es gut.“

So sah er aber nicht aus. Ich hatte ehr den Eindruck, das mir nicht gefallen würde, was er zu sagen hatte. Schwieg er deswegen noch immer? Musste er erst die richtigen Worte finden? Nicht gut. „Dann sag mir, was ist los?“ Auch wenn ich es wahrscheinlich gar nicht wissen wollte.

Ein tiefer Atemzug, als müsste er sich selber erst überwinden, dann fragte er völlig unerwartet: „Weißt du noch, wann wir uns zum ersten Mal begegnet sind?“

„Ja.“ Das war an dem Tag, als wir in Eden angekommen waren. Nikita war gerade drinnen beim Arzt und ich hatte draußen vor dem Arztzimmer auf sie gewartet. Kit, sein Zwillingsbruder war da gewesen und als Killian dann den Wartebereich betreten hatte, hielt ich ihn erst für einen Klon. Es hatte einiges an Verwirrung gegeben, bevor mir klar wurde, dass die beiden keine Klone waren, sondern Zwillinge. In Eden gab es sehr viele Mehrlingsgeburten.

„Seit diesem Moment … haben wir viel Zeit miteinander verbracht.“

Das kurze Zögern machte mich stutzig. Hatte er erst etwas anderes sagen wollten?

„Als klar wurde, dass du eine Eva warst und man dich ins Herz bringen würde, habe ich darum gebeten, dein Arzt sein zu dürfen.“

„Aha.“ Im Augenwinkel bemerkte ich eine Bewegung. Salia hatte es offensichtlich aufgegeben Früchte zu verteilen und stromerte in ihrer jugendlichen Neugier an einer der Ruine herum. Die Mauern dort waren noch verhältnismäßig hoch, obwohl manche ein wenig abgesackt waren und schief standen.

Killian lächelte bei meiner dürftigen Erwiderung. „Ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel, aber ich habe dich unbedingt wiedersehen wollen.“

Sagten wir es doch einfach mal so: „Ich hätte es wohl weitaus schlimmer treffen können.“

Nun bekam ich endlich ein richtiges Lächeln, eines das auch seine Augen erreichte. „Deine Komplimente sind wie immer ein Schmaus für meine Ohren.“

Jetzt nahm er mich eindeutig auf den Arm. „War es das, worüber du reden wolltest?“

„Nein.“ Das Lächeln blieb, auch wenn es ein wenig verhalten wurde. „Ich wollte damit nur sagen, dass ich dich vom ersten Tag an sehr interessant fand und seitdem ist es … mehr geworden.“

Oh oh, langsam kristallisierte sich eine Bedeutung zwischen seinen Worten heraus und versetzte mich in leichte Panik. Ich war mir nicht sicher, ob ich für dieses Gespräch bereit war. Oder ob ich es überhaupt jemals führen wollte. Am besten ich schwieg erstmal.

Klar, super Strategie. Wahrscheinlich vergisst er dann einfach, was er sagen wollte.

Mit einem Ruck richtete Killian sich ein wenig gerader auf, als hätte er sich dazu entschlossen, dass es an der Zeit war, die Karten offen auf den Tisch zu legen. „Als erstes möchte ich, dass du weißt, ich glaube nicht an Übersinnliches, aber die Worte der Wahrsagerin haben mich nachdenklich gemacht.“

 „Ach so?“ War das gut oder schlecht? Und was bei Gaias Zorn, trieb Salia da eigentlich? Sie hockte ein Stück von der Mauer entfernt und starrte konzentriert auf den Boden vor sich. Dann streckte sie eine Hand aus und öffnete sie. Ein kleiner Stein fiel heraus. Sie beugte sich vor, als wollte sie von oben betrachten, wie er auf dem Boden lag.

„Ja, sie haben etwas in mir angestoßen, dass mir schon eine ganze Weile auf der Seele liegt und auch wenn das hier vielleicht nicht der passende …“

„Moment“, unterbrach ich ihn und machte einen Schritt zur Seite. „Salia, was machst du da?“ Irgendwas an ihrem Verhalten war sonderbar. Sie hatte nämlich einen zweiten Stein aufgehoben und tat es schon wieder.

Salia schaute auf und zeigte dann vor sich auf den Boden. „Ich gucke, wie tief das Loch ist.“

Das Loch? Oh scheiße. „Komm sofort da weg!“, befahl ich mit strenger Stimme und rannte los. Ein Loch im Boden, zwischen den Ruinen alter Häuser? Das konnte nur ein alter Keller sein. Und wenn ein alter Keller ein Loch in der Decke hatte, war diese Decke instabil. Salia hockte auf einer instabilen Kellerdecke, die Jederzeit einstürzen könnte.

Mein Ruf hatte auch Sawyer alarmiert. Auch er war in der freien Welt geboren worden und wusste daher auch, was ein Loch im Boden bedeuten konnte. Wahrscheinlich war er deswegen vor mir bei ihr und riss sie fast schon grob von der Ruine zurück.

„Verdammte Scheiße!“, fluchte er, sobald er sich mit ihr ein Stück von dem Loch entfernt hatte. „Mach das nie wieder!“

„Scheiße darf man nicht sagen.“

Er schaute sie an und rieb sich dann einmal übers Gesicht, vermutlich, um sich zu beruhigen. Schon in der nächsten Sekunde hatte er sich vor sie gehockt und nahm ihre kleinen Hände in seine. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war sehr ernst. „Hör mir jetzt genau zu. Solche Löcher sind gefährlich. Du könntest hineinfallen und dir wehtun, oder dich sogar schwer verletzten, darum darfst du niemals an so einem Loch spielen. Hast du das verstanden?“

Unsicher schaute sie von ihrem Papa zu mir.

Ich selber stand gerade an diesem Loch. Es war eher eine Spalte, die sich an den Rändern bereits nach innen neigte. Die Kanten waren dicht mit Grass und Gestrüpp bewachsen. Ich ging so dicht heran, wie ich es wagte und späte hinein. Es war ein Keller und zwar ein recht tiefer.

„Und warum darf Kismet da spielen?“

Sawyer feuerte einen strengen Blick in meine Richtung ab. „Kismet darf das auch nicht, auch für sie ist das gefährlich.“

Ja, schon gut, habe es verstanden, sei dem Kind ein Vorbild. Ich entfernte mich sofort und stellte mich zu Salia. „Dein Papa hat recht“, sagte ich zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie sollte nicht glauben, dass wir böse auf sie waren, aber sie musste den Ernst der Lage verstehen. „Wenn du so ein Loch findest, geh weg davon, hast du das verstanden?“

Sie nickte. „Weil ich sonst hineinfallen und mich verletzen kann.“

„Versprich es mir“, forderte Sawyer seine Tochter auf.

„Ich verspreche es“, erklärte sie mit der ganzen Integrität einer Siebenjährigen.

Sawyer atmete erleichtert auf. „Okay. Und vergiss es nicht.“

„Tu ich nicht.“

Er beugte sich vor und gab seiner Tochter einen Kuss auf die Stirn. „Dann geh wieder spielen. Aber nicht mehr zwischen den Ruinen.“

Sie nickte und eilte davon, als hätte sie uns nicht gerade fast einen kollektiven Herzinfarkt verpasst. Ihr ziel war Wolf, den sie wieder versuchte mit Mirabellen zu füttern.

Als Sawyer sich wieder aufrichtete, gesellte sich Killian zu uns. Sein Blick war auf die Kleine gerichtet.

Bei seinem Anblick fiel mir ein, worüber wir geredet hatten, bevor wir unterbrochen wurden. Darum sagte ich schnell: „Wir sollten unsere Sachen zusammenpacken und weiterziehen.“ Ja, es war feige, dem Gespräch auf diese Art aus dem Weg zu gehen, aber ich fühlte mich im Moment wirklich nicht bereit dazu, einfach weil ich selber nicht so genau wusste, wo ich stand, und was ich eigentlich wollte.

Killians Lippen wurden ein wenig schmaler. Er schien zu verstehen, was ich hier tat, nur was er darüber dachte, ließ er sich nicht anmerken.

„Ganz deiner Meinung“, stimmte Sawyer mir zu und setzte sich sofort in Bewegung.

Nein, verdammt, er konnte mich doch nicht mit Killian allein lassen. Mist. „Ähm … ich glaube, ich gehe noch mal schnell pinkeln, bevor wir wieder aufbrechen.“

Killians Blick wurde unergründlich. „Wenn du musst, dann musst du es wohl machen.“

Nein, musste ich nicht, aber jetzt hatte ich es gesagt, also musste ich es doch, obwohl ich eigentlich nicht musste. „Dann … bis gleich.“ Ob es ihm wohl auffiel, wie schnell ich das Weite suchte? Ich hoffte nicht. Ich wollte ihn ja nicht kränken, oder so, ich wollte einfach aus dieser Situation raus.

Da ich nicht in ein Loch fallen wollte, ging ich nicht tiefer zwischen die Ruinen, sondern wechselte auf die andere Straßenseite und verschwand dort im Wald. Hier gab es zwar auch ein paar Ruinen, doch sehr viel weniger und viel zerstörter. Man sah sie nur, wenn man genau hinschaute, oder wusste, wonach man Ausschau halten musste.

Ich machte einen Bogen um die Ruinen und ging ein wenig tiefer zwischen die Bäume. Und wenn ich nun schon einmal hier war, konnte ich auch wirklich eine kleine Pinkelpause machen. Ganz unpassend dachte ich dabei über Killian nach und das, was er mir hatte sagen wollen. Ich wusste ehrlich nicht, warum ich mich so vor seinen Worten fürchtete. Vielleicht hatte er ja auch über etwas ganz anderes mit mir reden wollen und ich war gerade komplett auf dem Holzweg.

Naja, erfahren würde ich es jetzt wohl erstmal nicht mehr und ehrlich gesagt, war ich dafür dankbar. Im Moment war das einfach kein Thema, über das ich nachdenken wollte.

Natürlich konnte ich trotzdem an nichts anderes denken, als ich mich auf den Rückweg machte. Ich latschte durchs lichte Unterholz und ärgerte mich über mich selber. Ich hatte die äußere Baumgrenze fast erreicht, als ich sah, wie Sawyer im Eiltempo über die Straße gerannt kam. Das letzte Mal, als ich ihn hatte so schnell rennen sehen, waren wir gerade aus Eden geflohen.

Er durchbrach die Baumgrenze, sah mich und rannte direkt auf mich zu. In seinem Gesicht standen Besorgnis und … Furcht?

„Was …“, begann ich, doch ich bekam gar nicht die Gelegenheit weiterzusprechen. Er packte mich einfach und zerrte mich hinter den nächsten Busch. Dabei war er so in Eile, dass ich schmerzhaft auf meine Knie krachte und ein Zischen unterdrücken musste. „Was soll das?“, beschwerte ich mich. „Ich …“

„Schhh“, machte er nur und klatschte mir gleichzeitig eine Hand auf den Mund. Sein Blick richtete sich wachsam auf die Straße und in dem Moment hörte ich es.

Ein Summen lag in der Luft, ein Geräusch, wie es ein ganzer Bienenschwarm machte, oder … mir wurde eiskalt. Die Fahrzeuge der Tracker. Wenn sie fuhren, dann summten sie leise.

Als mir das klar wurde, duckte ich mich sofort tiefer hinter den Busch und musste feststellen, dass es als gute Deckung gänzlich ungeeignet war. Zu zweit passten wir kaum dahinter, doch jetzt wieder aufzuspringen, wäre einfach nur dumm. Wir mussten bleiben wo wir waren und abwarten. Vielleicht fuhren die Tracker ja auch einfach an uns vorbei.

Das Summen kam näher und ich spürte, wie mein Herzschlag in meiner Brust zu rasen begann. Waren sie hier, weil sie uns suchten, oder fuhren sie nur zufällig diese Strecke entlang?

Ein Zufall war irgendwie unglaubwürdig, und trotzdem hoffte ich, dass es nur das war. Welche Erklärung gäbe es sonst für ihr Auftauchen?

Wie ein eifriger Diener, legte mir mein Kopf sofort eine plausible Antwort bereit.

Killian.

Nein.

Nein, das würde er nicht machen. Das wäre völlig unlogisch. Er hatte mich aus dem Lager der Tracker befreit, also warum sollte er mich plötzlich ausliefern?

Der Wagen kam in Sicht, aber er fuhr nicht schnell an uns vorbei, nein, er wurde immer langsamer und hielt dann ungefähr an der Stelle an, wo Sawyer im Eiltempo die Straße überquert hatte.

„Mist“, knurrte er und nahm die Hand von meinem Mund. „Die müssen mich gesehen haben.“

Bei Gaias Güte, nein, das durfte nicht sein. Wenn sie wussten, dass wir hier waren, wie sollten wir dann zu den anderen gelangen? Sie versperrten uns den Weg. Und mit Trotzkopf und dem Karren würden wir niemals schnell genug wegkommen.

„Wir müssen verschwinden.“ Sawyer warf einen Blick nach hinten in den Wald.

Verschwinden? Die Anderen im Stich lassen, so wie ich es mit Akiim getan hatte? „Aber die Anderen, wir können sie nicht …“

„Wolf ist bei ihnen, er passt auf sie auf.“

Hatte er wirklich so viel Vertrauen in den großen Mann, oder redete er sich das nur ein, um ruhig bleiben zu können und nicht durchzudrehen, weil Salia auf der anderen Straßenseite war?

Im Moment war das eigentlich ganz egal, denn wenn wir nicht schleunigst ein Versteck fanden, hätten wir gleich ganz andere Sorgen.

Hektisch schauten wir uns um, aber da waren nur Bäume, Büsche und Gestrüpp, alles viel zu lichte, um ein gutes Versteck abzugeben.

Als der Motor plötzlich abgestellt wurde und die Türen des Wagens sich öffneten, glaubte ich für einen Moment, mein Herz würde einfach den Geist aufgeben.

Es waren zwei Männer, die dem Fahrzeug entstiegen. Der eine war ziemlich schmal und klein, der andere groß und muskulös, das genaue Gegenteil. Beide steckten in der dunkelgrünen Camouflageuniform der Tracker, mit dem Emblem von Eden auf der Brust. Und beide waren mir völlig unbekannt.

Sie schauten kurz in unsere Richtung, was uns zwang tiefer in Deckung zu gehen, sahen uns aber nicht. Dann gingen sie um den Wagen herum, bis vor die Kühlerhaube, den Blick dabei auf den Boden gerichtet.

„Da“, sagte der Kurze mit den blonden Haaren und zeigte mit dem Finger vor sich auf die matschige Straße. „Frische Fußabdrücke. Die können noch nicht lange hier sein.“

„Ich habe doch gesagt, dass ich etwas gesehen habe.“

Der Blonde folgte den Abdrücken mit den Augen. „Die Spuren führen in den Wald.“

„Ich sag den anderen Bescheid, dann können wir nachsehen.“ Der muskulöse Mann, mit den schwarzen Haaren, ging zurück zum Wagen und steckte den Kopf durch die offene Tür ins Innere. Er sagte etwas, doch er sprach zu leise, um ihn verstehen zu können.

Ich war so angespannt, dass ich vor Schreck fast aus der Haut gefahren wäre, als Sawyer mir eine Hand auf den Arm legte. Er hielt sich den Finger vor die Lippen, als müsste er mich noch extra darauf hinweisen, dass ich leise sein musste. Dann zeigte er hinter sich.

Ja, wir mussten tiefer in den Wald hinein. Und zwar schleunigst.

Ich ließ mich nicht lange bitten und erhob auch keine Einwände, als er mich bei der Hand packte und tiefer ins Unterholz zog. Mein Herz trommelte wie wild, als wollte es mich antreiben, unter keinen Umständen stehen zu bleiben.

Die Stimmen der Tracker waren noch zu hören, aber sie wurden mit jedem Schritt leiser. Leider verschaffte mir das keine Erleichterung, denn ich wusste, sie waren noch immer ganz in der Nähe und würden sich mit Freuden auf uns stürzen, wenn sie die Gelegenheit dazu bekamen.

Wir konnten nicht schnell laufen, denn es galt um jeden Preis, Geräusche zu vermeiden. Aber so kamen wir nur langsam voran. Wenn wir dieses Tempo beibehielten, würde es ihnen keine Probleme bereiten, uns einzuholen. Wir brauchten ein Versteck, dringend. Und es musste ein gutes Versteck sein.

Ich könnte einfach einen Baum hinaufklettern, darin war ich ziemlich gut, wenn es nicht gerade ein Mirabellenbaum mit glatter, feuchter Rinde ging. Aber ich glaubte nicht, dass Sawyer dazu in der Lage war. Nicht nur wegen seinem verletzten Arm, er war auch größer und bei Weitem nicht so geschickt wie ich. Nein, Klettern war keine Option. Aber da war ein Erdloch unter den Wurzeln eines großen Berg-Ahorn, das in einen flachen Hügel hineinführte. Das Loch war gerade groß genug, dass ein Mensch mit einiger Anstrengung hineinkriechen konnte.

„Warte“, sagte ich zu Sawyer, als ich es entdeckte und machte mich von ihm los. So schnell ich es wagte, rannte ich zu dem Loch, legte mich auf den Bauch und schob meinen Oberkörper hinein. Dabei hoffte ich, dass der Bewohner dieses Baus schon lange ausgezogen war, oder gerade auf einem nachmittäglichen Spaziergang die Gegend erkundete.

Dreck und Erde rieselte auf mich nieder und ich musste ein paar Wurzeln wegreißen, aber das spärliche Licht reichte aus, um mir einen ovalen Innenraum zu zeigen. Es war klein, eng und ein wenig muffig, aber wenn wir uns zusammenquetschten, würde es ausreichen – hoffentlich. Und die Tracker würden ihre Beute sicher nicht in einem Loch zwischen ein paar Wurzeln vermuten.

Eilig robbte ich wieder heraus und winkte Sawyer zu mir.

„Da rein?“ Trotz der Gefahr, wirkte er alles andere als begeistert. „Da pass ich doch niemals hinein.“

„Doch, wenn du die Beine anziehst. Und du musst als erstes rein.“ Denn ich war viel gelenkiger und konnte mich ziemlich klein zusammenfalten, wenn es sein musste.

Als hinter uns wieder die Stimmen der Tracker aufkamen, gab Sawyer einen kleinen Fluch von sich und fügte sich seinem Schicksal. Er eilte zu dem Loch, legte sich davor auf den Bauch und robbte, so schnell er konnte, in die kleine Öffnung zwischen den Wurzeln.

Während erst sein Oberkörper und dann seine Beine langsam in dem Loch verschwanden, streckte ich mich nach einem tiefhängenden Ast und brach ein belaubtes Stück davon ab.

 Die Stimmen der Tracker kamen näher.

Verdammt, konnten die nicht einen anderen Weg einschlagen? Mit einem hektischen Blick über die Schulter, stürzte ich zum Loch. Sawyers Schuhe waren mittlerweile auch verschwunden.

Ich platzierte den Ast neben dem Loch, ließ mich auf den Bauch fallen und folgte Sawyer in den Bau.

Es war eng und ich war gerade mal mit dem Oberkörper drinnen, als ich mit dem Kopf auch schon gegen Sawyers Bein stieß. Ich musste mich ganz schön winden und an Sawyer festhalten, um mich hineinzuziehen.

Er griff mir unter die Arme, um mir zu helfen und zog mich hinein, bis auch meine nackten Füße in dem Bau waren. Erde und Dreck rieselten auf uns nieder, aber das war im Moment egal.

Mit einem letzten Handgriff, steckte ich meinen Arm wieder heraus, tastete nach dem Ast und zog ihn vor das Loch. Damit war der Zugang verschlossen und sollte von außen nicht mehr zu sehen sein.

Sobald das geschafft war, saß ich mit angezogenen Knien zwischen Sawyers gespreizten Beinen, mit der Schulter an seine Brust gepresst und versuchte das Atmen nicht zu vergessen.

Hier drinnen war es enger, als ich geglaubt hatte. Mein Herz schlug immer noch wie wild und wollte sich einfach nicht beruhigen.

Die Stimmen draußen wurden lauter, kamen näher, drangen aber nur gedämpft zu uns in den alten Tierbau.

„Da, noch mehr Spuren“, hörte ich einen von ihnen sagen.

In dem aufgeweichten Boden, waren die Spuren für eine geübtes Auge leicht zu erkennen. Hoffentlich ließen sie sich von dem Ast täuschen.

„Sie sind hier entlang gegangen.“

Mein Puls dröhnte in meinen Ohren und ich spürte, wie die Angst sich immer tiefer in meinen Geist fraß. Sie waren nahe, so nahe. Ich wollte nicht zurück nach Eden, konnte nicht – niemals!

„Lass uns da schauen.“

Mein Fluchtreflex setzte ein. Hätte ich gekonnt, wäre ich einfach aufgesprungen und davongelaufen, aber ich durfte mich nicht regen und musste stillhalten. Das war Folter.

„Hier ist das Laub aufgewühlt.“

Das Zittern setzte ein, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Warum verschwanden sie denn nicht endlich? Sollten sie doch woanders suchen. Der Wald war schließlich groß genug.

„Das kann auch ein Tier gewesen sein. Hier ist alles voll mit Wildhühnern und die scharren gerne im Boden. Komm, lass uns erstmal hier schauen. Die anderen müssten auch bald da sein, die können dann da lang gehen.“

Da kamen noch mehr?! Das Zittern wurde stärker. Mein Atem beschleunigte sich, genau wie mein Herzschlag. Ich spürte, wie es in meinem Kopf zu kriseln begann und konnte nichts dagegen tun.

„Ich sage es immer wieder, wir brauchen Hunde für die Suche, damit wäre es viel einfacher Flüchtlinge aufzuspüren.“

Mir wurde schwindelig. Am Rande meines Sichtfelds wurden die Ränder schwarz.

„Wir haben aber keine Hunde, also hör auf herumzumotzen und such einfach weiter. Er muss hier ja irgendwo sein. Einen so großen Vorsprung kann er nicht haben.“

Meine Kehle wurde ganz trocken. Meine Finger begannen unangenehm zu kribbeln.

Zwei Arme legten sich warm und schützend um mich und zogen mich fester an die warme Männerbrust. Sawyer brachte seine Lippen ganz nahe an mein Ohr. „Schhh, ganz ruhig“, flüsterte er so leise, dass ich ihn kaum verstand. „Sie werden uns nicht finden.“

Das konnte er nicht wissen. Sie waren da draußen. Sie mussten bloß den Ast wegziehen, dann hätten sie uns.

Ich hörte ihre Schritte, sie waren nahe.

Mein Atem wurde immer schneller. Mein Herz raste. Was war nur los mit mir?

„Bitte, Baby, beruhige dich.“

Das würde ich ja gerne, aber ich konnte nicht. Ich wusste nicht warum, aber die Panik in mir wurde immer schlimmer und machte jeden Anflug von rationalem Denken den Gar aus. Ich war kurz vor dem Durchdrehen. Aber das durfte ich nicht, weil ich sie damit auf uns aufmerksam machen würde. Ich musste ruhig werden.

Reiß dich gefälligst zusammen!

Ich konnte nicht. Ich versuchte es, aber es gelang mir einfach nicht.

Sawyer löste einen Arm von mir, griff nach meiner Hand und schob sie sich unter sein Hemd, was auf dem beengten Raum nicht ganz einfach war. Als ich versuchte sie wegzuziehen, hielt er sie fest und drückte sie sich auf seine Brust, direkt über seinem pochenden Herzen.

„Konzentrier dich auf meinen Herzschlag“, flüsterte er eindringlich. „Blende alles andere aus. Konzentrier dich einfach nur darauf.“

Meine Hand krallte sich in seine Brust. Ich kniff die Augen zusammen. Unter meinem Finger spürte ich jedes Pulsieren seines Herzens. Es schlug ein wenig zu schnell, aber bei weitem nicht so schnell wie meines.

„So ist gut.“ Er zog mich ein wenig fester an sich. „Konzentrier dich ganz auf mich und versuch langsam zu atmen.“

Wie konnte er so ruhig bleiben? Verstand er denn nicht, in welcher Gefahr wir uns befanden? Wenn sie uns fanden, würden sie uns nach Eden zurückbringen! Das stand ich nicht noch mal durch.

„Hey, bleib bei mir.“ Sein Mund war so nahe, dass seine Lippen mein Ohr beim Reden berührten. „Versuch alles auszublenden und fühl meinen Herzschlag.“

Genau, ich musste mich auf ihn konzentrieren, alles andere ausblenden. Langsam und gleichmäßig atmen.

Ich zwang mich zur Ruhe, tat genau das, was er von mir wollte und versuchte alles andere zu verdrängen.

Draußen hörte ich noch immer die Stimmen der Tracker, aber sie wurden immer leiser, so als würden sie sich von uns entfernen. Das half mir dabei, ruhiger zu werden.

Ich konnte spüren, wie mein Herzschlag sich verlangsamte und mein Atem langsam zum Normalzustand zurückkehrte.

„So ist es gut“, sagte er ruhig und diese Ruhe in seiner Stimme, half mir zu mir selber zurückzufinden. Nur leider geschah das nicht von jetzt auf gleich.

Ich begann im Kopf zu zählen, immer bis hundert und wenn ich am Ende war, begann ich von neuem. Sieben Mal tat ich das, bis ich nicht mehr das Gefühl hatte, jeden Moment einfach durchzudrehen. „Ich weiß nicht, was das war“, sagte ich sehr leise.

„Müsste ich einen Tipp abgeben, würde ich behaupten, du hattest eine kleine Panikattacke.“

Eine Panikattacke. Ich hatte noch nie eine Panikattacke gehabt, nicht mal damals, als ich den toten Körper meiner Mutter zwischen den Trackern gesehen hatte. „Sowas ist mir noch nie passiert.“ Und das sollte auch nie wieder passieren. Es hatte sich grauenhaft angefühlt, so als sei ich nicht mehr ich selber und hätte keinerlei Kontrolle, über meine Impulse.

„Konzentriere dich einfach auf mich, dann passiert das nicht nochmal.“ Um mir zu verdeutlichen, was genau er damit meinte, drückte er meine Hand ein wenig fester auf seine warme Brust. Sein Herz schlug ruhig und gleichmäßig, jetzt, wo die Tracker sich erstmal entfernt hatten.

Aber sie würden nicht wegbleiben, sie würden wiederkommen und noch mehr von ihnen mitbringen. Der Tracker hatte es doch gesagt, es würden noch andere kommen und dann würden sie damit beginnen, die ganze Gegend zu durchkämmen. Würden sie sich auf den Wald konzentrieren, oder auch auf der anderen Straßenseite nachschauen, dort wo Killian, Salia und Wolf auf uns warteten?

Mit einem Mal kam die Angst zurück, doch dieses Mal fürchtete ich nicht um mich und Sawyer, sondern um die, die auf uns warteten. „Was ist mit den anderen?“

„Sie sind sofort aufgebrochen, als wir den Wagen gesehen haben. Ich bin losgerannt um dich zu warnen.“ Sein warmer Atem kitzelte mich am Ohr.

Ich drehte den Kopf ein wenig. Es war irritierend ihn nicht sehen zu können, obwohl ich doch praktisch auf seinem Schoß saß. „Ihr habt den Wagen gesehen?“

„Killian hat ihn gesehen“, erklärte er. „Da ist noch eine Querstraße.“

An die erinnerte ich mich. Ich hatte sie eben erst entdeckt, als Killian hatte mit mir sprechen wollen.

„Er hat den Wagen dort fahren sehen und uns gewarnt. Ich habe ihnen befohlen, sofort zu verschwinden und bin zu dir gerannt.“

Hoffentlich waren sie auch wirklich sofort aufgebrochen. Wenn sie sich zwischen den Ruinen hielten, konnten sie unbemerkt verschwinden. Erst recht, wenn die Tracker auf dieser Seite den Wald absuchten. Mit ein bisschen Glück, wurden sie von den Trackern nicht mal bemerkt.

„Ich werde sie finden“, versprach ich. Egal wohin sie gingen, um sich in Sicherheit zu bringen, ich konnte ihre Spuren finden.

„Das hoffe ich doch.“ Er bewegte sich, als müsste er sich ein wenig bequemer hinsetzen. „Kannst du deine Beine irgendwie über meins legen? Das ist nämlich echt unbequem.“

Der hatte Wünsche. Trotzdem veränderte ich mit einigen Schwierigkeiten meine Position, sodass meine Beine am Ende über seinem linken Bein standen, während ich mich mit dem Rücken an sein rechtes Bein lehnte.

„Okay, das ist besser“, bedankte er sich dann. Nach einem Moment der Stille fragte er: „Wie lange müssen wir noch hier drinnen bleiben?“

Wenn ich das nur wüsste. Tracker waren nicht gerade dafür bekannt, dass sie schnell aufgaben, wenn sie eine potentielle Beute ins Visier genommen hatten. Wenn sie glaubten, dass wir hier noch irgendwo waren, würden sie die ganze Gegend durchkämmen und das konnte ein paar Stunden dauern. Wahrscheinlich würde erst die Dunkelheit sie zum Rückzug zwingen.

Allerdings besaßen sie gute Taschenlampen, mit denen sie auch bei Nacht prima sehen konnten und ihre Ausdauer war auch nicht zu verachten.

„Vielleicht ein paar Stunden“, überlegte ich. „Wir sollten auf jeden Fall bis zur Nacht warten, dann sollten wir auf der sicheren Seite sein.“

„Na prima.“ Es war fast ein Knurren.

„Vorher wäre es einfach zu …“

„Shhht!“, machte er und schnitt mir damit das Wort ab.

Ich verstummte sofort und spitzte die Ohren. Da waren wieder Schritte und Stimmen, mehrere Stimmen. Auch die von einer Frau war dabei, aber sie gehörte nicht Dascha. Auch die beiden Tracker, die wir auf der Straße gesehen hatten, waren nicht aus ihrer Gruppe. Ich hatte keinen von ihnen erkannt und ich hatte mehrere Tage unfreiwillig mit diesen Leuten in einem Bus verbracht.

Dies hier war eine andere Gruppe. Daschas Gruppe suchte nach uns, diese war nur zufällig vorbeigekommen.

So viel Glück konnte wieder nur ich haben. Ich entkam Eden und meinen Verfolgern und lief dann zufällig anderen Trackern in die Arme.

Eigentlich war es auch völlig egal, zu wem die Stimmen gehörten, ob es Daschas Gruppe war, oder auch nicht. Sie alle waren Handlanger von Eden und würden genau auf die gleiche Art mit uns verfahren. Sie würden uns einfangen, zurück in die Stadt und ins Herz bringen und uns für ihre Zwecke missbrauchen.

Nie wieder, schwor ich mir. Nie wieder würde ich mich den Leuten in Eden ergeben und unterwerfen. Sollte es ihnen wirklich gelingen mich ein weiteres Mal einzufangen, dann würde ich dafür sorgen, dass sie keinen Nutzen aus mir ziehen konnten. Vorher würde ich eher sterben.

 

oOo

Kapitel 25

 

Hell schien die Sonne vom strahlendblauen Himmel und wärmte mir mein Gesicht. Ich lag auf der smaragdgrünen Wiese und schloss die Augen, um den lauen Wind dieser Idylle zu genießen. Dabei lauschte ich den Stimmen der Männer. Wolf erzählte lustige Anekdoten aus seiner Kindheit. Aber seine Stimme kam nicht aus seinem Mund, sondern von seinen Händen die für jedes Wort eine eigene Form symbolisierten.

Neben mir rannte Salia lachend über die Wiese. Wölkchen folgte ihr, mehr Spielkamerad, als Begleiter. Ihr buntes Kleid wehte im lauen Wind. Sie rannte an Trotzkopf vorbei, der inmitten von flauschigen Wolken vor sich hindöste.

Salia rannte lachend durch die Wolken hindurch, ihr flauschiger Begleiter, war ihr dicht auf den Fersen.

Halb dösend lauschte ich ihrem Lachen und den Stimmen der Männer. Irgendwo zwitscherten ein paar Vögel. Ich schwelgte so sehr in diesem Geräusch, dass ich einen Moment brauchte, bis ich merkte, dass die Stimmen und das Lachen verschwunden waren. Ich wartete einen Moment, doch als es weiter still blieb, öffnete ich verwundert die Augen.

Das Zwitschern der Vögel verstummte und mit einem Mal war es um mich herum totenstill. Dicke, schwarze Wolken schoben sich vor die Sonne und ließen den strahlenden Tag finster wie die Nacht werden.

Ich setzte mich auf, nur um festzustellen, dass ich ganz allein war. Kein Sawyer, kein Killian. Wolf war weg und Salia verschwunden. Nicht mal Trotzkopf war noch da. Ich war ganz allein.

Ängstlich richtete ich mich auf und schaute mich in alle Richtungen um. Niemand war hier, ich war ganz alleine. „Sawyer? Killian!“

Keine Antwort.

Der laue Wind wurde stärker und brachte eine Kälte mit, die mich frösteln ließ. Wo waren denn plötzlich alle? Warum waren sie verschwunden und hatten mich allein gelassen? „Sawyer!“

Auf einmal begann der Boden unter meinen Füßen zu vibrieren.

Erschrocken wich ich zurück, aber es machte keinen Unterschied, denn die ganze Wiese bebte. Das Beben wurde so stark, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte und auf die Knie stürzte.

Plötzlich brach die Erde um mich herum auf. Erdklumpen flogen nach allen Richtungen, verfehlten mich nur haarscharf und krachten in den Boden. Das Beben wurde noch stärker und dann brachen Mauern aus dem Erdreich und sprossen wie Blumen in die Höhe.

Ich versuchte zurückzuweichen, merkte jedoch schnell, dass das sinnlos war. Das war keine einfache Mauer, das war ein Mauerring und er schloss mich ein.

„Nein!“, schrie ich und versuchte noch über die Mauer zu springen, aber sie war bereits zu hoch.

Um den ersten Ring, brach ein zweiter aus dem Boden und …

Etwas packte mich an der Schulter. „Baby, komm schon.“

„Nein!“, schrie ich, riss den Kopf hoch und knallte damit gegen eine recht feste Fläche. Schmerz explodierte in meinem Schädel und Erde riesele zu allen Seiten herunter.

„Verdammte Scheiße“, fluchte eine männliche Stimme.

Als ich meine Hände an den Kopf riss, legten sich zwei andere, größere Hände darauf. Einen Moment verstand ich nicht, was hier los war. Um mich herum war alles finster. Es war warm, eng und stickig und ich konnte mich kaum bewegen. Mein Rücken tat weh und als ich versuchte die Beine auszustrecken, traf ich sofort auf eine Wand aus Erde. Dann erinnerte ich mich daran, dass ich zusammen mit Sawyer in einem Erdloch saß. Es waren seine Hände, die sich da schützend auf meinen Kopf gelegt hatten, damit ich nicht noch mal mit der Decke auf Kollisionskurs ging.

„Willst du die Höhle zum Einsturz bringen?“

„Ich …“ Ich blinzelte, was nicht viel brachte, denn die Dunkelheit um uns herum hatte nichts mit meinen Augen zu tun. „Ich habe geträumt.“

„Ich weiß, deswegen habe ich dich ja geweckt. Es schien kein netter Traum zu sein.“

Die Worte waren nicht für ihn bestimmt, sondern für mich. Ich brauchte Klarheit, während die Fetzen der Traumbilder noch durch meine Gedanken schwebten. Das war nicht real gewesen. Die anderen hatten mich nicht verlassen und es gab keine Mauern die sich um mich schlossen. Das war einfach nur ein Gespinst meiner blühenden Phantasie. Der beste Beweis dafür war Sawyer.

„Bist du noch bei mir?“

Er war hier bei mir. Ich konnte seinen warmen Körper an meinem fühlen. Er war mit mir in diesem Loch gefangen, weil er mich vor den Trackern gewarnt hatte. Niemand war verschwunden und hatte mich zurückgelassen.

„Hallo, jemand anwesend?“

„Ja, ich … gib mir einen Moment.“ Ich musste erstmal mit meiner Welt klarkommen und mein Herz davon überzeugen, dass es keinen Grund gab, wie verrückt zu rasen.

Alpträume war ich gewohnt. Sie suchten mich seit dem Tod meiner Mutter heim. Aber normalerweise drehten sie sich um ihr Ableben und das Versagen, Akiim gerettet zu haben. Diese Art von Alptraum war neu. Und unerwünscht. Ich hatte genug Dreck in meinem Kopf, der mich des Nachts am Schlafen hinderte, ich brauchte definitiv nicht noch mehr.

Langsam ließ ich meine Hände wieder sinken und damit auch die von Sawyer. „Ich muss eingeschlafen sein.“ Offensichtlich.

„Ich weiß, du hast mich als Kissen benutzt und mich dabei vollgesabbert. Danke auch.“

„Was?“ Ich tastete seine Brust ab, konnte aber keine feuchte Stelle finden. „Das ist eine glatte Lüge.“

Er lachte leise. Doch genauso schnell wie es aufgekommen war, verklang es auch wieder. „Du hast im Schlaf geredet.“

„Ach ja?“ Ich versuchte mich ein wenig bequemer hinzusetzen, was auf diesem beengten Raum ein aussichtloses Unterfangen war. „Was habe ich denn gesagt?“

Statt zu antworten, fragte er: „Was hast du geträumt?“

Ich versuchte mich zu erinnern, aber so genau wusste ich das nicht mehr. Da war irgendwas mit einer Mauer gewesen und Wolken? Eigentlich erinnerte ich mich nur noch an das Gefühl von Angst und das war übermächtig gewesen. „Ich weiß nicht.“ Meine Hand lag noch immer auf seiner Brust, wo ich das gleichmäßige Schlagen seines Herzens spüren konnte. Genau wie vorhin, beruhigte es mich irgendwie. Ich hatte den Herzschlag eines anderen Menschen bisher noch nie als beruhigend empfunden. Doch so war es.

Schon vorhin hatte er mir damit geholfen und auch jetzt spürte ich, wie ich ruhiger wurde, nur weil ich das Pochen unter meinen Fingerspitzen fühlen konnte. „Woher wusstest du, dass das funktioniert?“

„Was?“

„Das mit deinem Herzschlag.“

„Du meinst, deine kleine Panikattacke von vorhin?“

„Hmh.“ Am liebsten hätte ich meine Hand wieder unter sein Hemd geschoben, um es noch deutlicher zu spüren, doch er wäre sicher nicht begeistert, wenn ich anfing, ihn zu betatschen.

„Das wusste ich nicht, aber ich habe es gehofft“, erklärte er. Sein Brustkorb hob und senkte sich unter einem tiefen Atemzug. „Als Salia noch ein Baby gewesen ist, hat es sie immer beruhigt, wenn ich sie auf meine Brust gelegt habe und sie meinem Herzschlag lauschen konnte.“

Er hatte bei mir eine Technik angewandt, die ein Baby beruhigte. Ich war mir nicht sicher, ob ich beleidigt, oder beeindruckt sein sollte. Da es funktioniert hatte, sollte ich vermutlich einfach dankbar sein. Und nicht nur dafür, auch dafür, dass er mich aus meinem Alptraum geholt hatte. Und vor den Trackern hatte er mich auch gewarnt. „Wenn du nicht aufpasst, wächst dir bald ein Heiligenschein.“

Dafür bekam ich ein sehr abfälliges Schnauben. „Träum weiter. Ich bin auf dich angewiesen. Ohne dich wird es ziemlich schwer, zu meiner Familie zu kommen und auf Salia aufzupassen.“  Er sagte das in einem so abfälligen Ton, dass ich aus unerfindlichem Grund einen Stich verspürte.

Eigentlich hätte mir das klar sein müssen. Es war dumm gewesen, auch nur zu glauben, er hätte das getan, weil … naja, er hätte es für mich getan. Ich war ihm nicht wichtig, ich war nur etwas, dass er brauchte. Er hatte es mir doch von Anfang an gesagt. Wir waren nicht mehr als eine Zweckgemeinschaft. Er brauchte mich, um seine Ziele zu erreichen und mehr in sein Verhalten hineinzuinterpretieren, wäre einfach nur dumm.

Wenigstens bei einem konnte ich mir bei Sawyer immer sicher sein: Er war ehrlich zu mir und würde mir nichts vorspielen. Er sagte ganz offen, wofür er mich brauchte und dass ich ihm ansonsten nichts bedeutete.

Aber warum tat das so weh? Er hatte mir immerhin nie etwas vorgespielt und immer ganz offen seine Absichten verraten.

Willst du das wirklich wissen?

Erde und Dreck rieselte auf uns nieder, als Sawyer sich ein wenig bewegte. „Wenn wir hier nicht bald rauskommen, kann man mich auch gleich lebendig begraben. Mein Hals ist steif, meine Beine sind steif und mein Rücken fühlt sich …“

„Steif an?“, fragte ich scherzhaft und versuchte damit die Gedanken in meinem Kopf zu überspielen.

Er gab ein belustigtes Geräusch von sich. „So in etwa.“

„Na wenigstens ist nichts anderes von dir steif.“

Einen Moment schwieg er, als könnte er nicht glauben, dass ich das gerade gesagt hatte. „Wenn du noch ein wenig mehr herumhampelst und dich an mir reibst, könnte sich das bald ändern.“

Augenblicklich unterbrach ich meinen Versuch, es mir etwas bequemer zu machen. „Beherrsch dich“, forderte ich mit sehr ernster Stimme. Das was er da andeutete, konnte ich im Augenblick wirklich nicht gebrauchen.

„Das hat mit Beherrschung gar nichts zu tun“, ließ er mich wissen. „Seit ich achtzehn war, hatte ich fast jeden Tag Sex. So eine lange Durststrecke wie jetzt, hatte ich noch nie.“

„Du Armer.“ Ich war neunzehn gewesen, als ich mich das erste Mal einem Mann hingegeben hatte, obwohl Junge, wohl die bessere Bezeichnung war. Tavvin war immer gut zu mir gewesen und es gab Tage, an denen ich mich nach ihm und seiner Nähe, aber vor allen Dingen, nach diesen Gefühlen, gesehnt hatte. Auch jetzt vermisste ich es. Nicht unbedingt ihn. Er war zwar ein netter Kerl und ich mochte ihn, aber mehr auch nicht. Das was mich bei ihm hauptsächlich angezogen hatte, war das, was er mir gegeben hatte.

Bei ihm war das genauso gewesen, das wusste ich, aber bei Sawyer war das etwas ganz anderes. Am Anfang hatte er es vielleicht noch toll gefunden, doch mit den Jahren war es erst zu einer Bürde und dann zu einer Qual geworden.

Wahrscheinlich sollte ich das nicht fragen, aber irgendwie war ich neugierig. „Vermisst du Sex?“

„Warum? Willst du, dass ich es dir besorge? Dann hast du dir aber echt einen blöden Zeitpunkt dafür ausgesucht.“

Warum nur musste er immer so vulgär sein? „Nein, sollst du nicht. Ich dachte nur … ach, keine Ahnung, vergiss einfach, dass ich gefragt habe.“

„Du meinst, ob es mir körperliche Qualen bereitet, auf kalten Entzug gesetzt zu sein?“

Ja, das kam der Sache nahe. „Du musst es mir nicht sagen, wenn du nicht willst.“

„Ich bin froh, nicht mehr ständig zur Verfügung stehen zu müssen und als die Weiber auf dem Markt mich angetatscht haben, hätte ich ihnen am liebsten den Kopf abgerissen.“ Er atmete einmal tief ein. „Fehlt es mir? Nein. Aber das Verlangen ist noch da.“

Das heißt, er wollte Sex. Aber nur noch zu seinen Bedingungen.

„Habe ich deine Fragen damit zufriedenstellend beantwortet?“

„Ja, ich denke schon.“

Zwischen uns wurde es wieder still. Von draußen war nichts zu hören. Keine Stimmen, keine Schritte. Wie lange saßen wir jetzt eigentlich schon in diesem Loch?

„Es müsste mittlerweile Nacht sein.“

„Hmh“, machte er.

„Wann hast du das letzte Mal etwas von den Trackern gehört?“

„Ist schon eine ganze Weile her.“

Vorhin waren ständig Schritte und Stimmen zu hören gewesen. Manchmal näher, manchmal weiter weg, aber immer wieder. Es waren viele verschiedene gewesen. Dort draußen musste ein ganzes Team nach uns gesucht haben. Jetzt aber war alles still.

„Glaubst du, es ist jetzt sicher und wir können wieder raus?“

Schwierige Frage. Es war dunkel und die Tracker würden sicher nicht die ganze Nacht nach einem freien Menschen suchen, der wahrscheinlich schon über alle Berge war – besonders dann nicht, wenn sie keine Spuren mehr finden konnten. Und wir konnten ja auch nicht ewig in diesem Loch sitzen bleiben.

„Baby?“

Mittlerweile hatte ich mich so an diesen Spitznamen gewöhnt, dass es mich nicht einmal mehr aufregte, wenn er mich so nannte. „Ich bin mir nicht sicher, aber wenn du sagst, dass du schon eine Weile nichts mehr gehört hast, dann sollten wir es vermutlich versuchen.“

„Das wollte ich hören.“ Er zog seine Beine an, als versuchte er Platz zu schaffen, damit ich rauskriechen konnte. „Dann bewegt dich.“

Immer so freundlich.

Da ich Sawyer meine Beine ins Gesicht drücken müsste, um mit dem Kopf zuerst rauszukommen, drehte ich mich ein wenig und schob mit meinen Füßen den Ast weg. Ob es nun daran lag, dass wir bereits so lange hier drinnen saßen und meine Knochen deswegen ganz steif waren, oder einfach, weil ich nichts sehen konnte, es dauerte eine ganze Weile, bis ich erst meine Beine und dann meinen Körper durch das Loch geschoben hatte. Als ich dann endlich draußen war, blieb ich einen Moment in der Hocke sitzen und tat nichts anderes als zu lauschen.

Meine Augen brauchten einen Moment, um sich an die neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Alles schien ruhig. Niemand störte die Stille der Nacht. Naja, zumindest bis Sawyer versuchte aus dem beengten Loch zu kommen. Es rumpelte und er fluchte und dann schaffte er es irgendwie festzustecken.

Kopfschüttelnd griff ich nach seinen Beinen und zog ihn mit einem Ruck heraus. Sein Hemd rutschte hoch und sein Kopf machte nähere Bekanntschaft mit einer Wurzel. Aber hey, wenigstens war er endlich draußen.

Fluchend setzte er sich auf und drückte sich eine Hand an die Stirn. „Verdammt, warum bist du immer so grob?“

„Sei nicht so ein Weichei.“ Die Nacht war dunkel und kalt, aber wenigstens schien der Herbst uns ein wenig Ruhe zu gönnen und uns nicht mit seinem Regen zu malträtieren. Selbst der Himmel war heute Nacht nur mit ein paar vorbeiziehenden Wolken bedeckt. Das Mondlicht schien hell.

„Ich gebe dir gleich mal Weichei.“ Grummelnd richtete er sich auf und zog dabei sein Hemd herunter. Dann schaute er sich nach allen Seiten um. „Scheint alles ruhig zu sein.“

„Ja.“ Auch ich konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. „Wir sollten zurückgehen und die Spuren von den anderen suchen.“ Das würde bei der Dunkelheit nicht ganz einfach werden und vermutlich würden wir sie frühstens morgen einholen, aber ich wollte noch heute so schnell und so weit wie möglich von diesem Ort weg. Hoffentlich hatten die anderen sich auch vor den Trackern in Sicherheit bringen können.

„Dann lass uns aufbrechen.“ Sawyer schaute von links nach rechts. „Du weißt nicht zufällig, wo es zur Straße geht, oder?“

Theoretisch. „Ich glaube, wir müssen da entlang.“

„Dann hoffe ich einfach mal, dass du mit dieser Vermutung richtig liegst.“

Was sollte das denn jetzt heißen? „Mein Orientierungssinn ist besser als deiner.“ Und darum wusste ich auch ganz genau, dass wir uns rechts halten mussten. Und wenn ich doch falsch lag, würde ich einfach behaupten, es sei seine Schuld. Problem gelöst.

Trotz des hellen Mondlichts, kamen wir nur langsam voran, denn die Baumkronen ließen nur wenig Licht hindurch und keiner von uns wollte in seiner Eile gegen einen Baum rennen.

Wir hatten vielleicht die Hälfte der Strecke zur Straße geschafft, als ein Geräusch mich aufhorchen ließ. Ich blieb stehen und drehte den Kopf.

„Was ist?“

„Ich weiß nicht. Ich glaube …“ Ich kniff die Augen leicht zusammen. Was war das für ein Licht? Es wischte über den Boden, immer hin und her und wieder zurück. „Was ist das?“

Sawyer riss den Kopf herum. „Verdammte Scheiße, Tracker! Das ist eine Taschenlampe.“

Meine Augen wurden riesig. „Eine Taschenlampe.“

Das Licht kam näher und jetzt konnte ich auch Stimmen hören.

„… einfach nur nervig, mitten in der Nacht bei diesem ganzen Matsch durch die Pampa latschen zu müssen.“

„Hör auf dich zu beschweren.“

„Warum denn? Was tun wir hier überhaupt? Der Streuner ist doch eh weg. Diese ganze Suche war sinnlos.“

„Deswegen wurden wir ja auch alle zurückgerufen.“

Oh Gaia, nein. Sie kamen immer näher. Was sollten wir tun? Zurück zum Loch ging nicht, sie versperrten uns den Weg. Einfach zur Seite gehen und hoffen, dass sie an uns vorbeiliefen?

„Wir müssen zur Straße“, flüsterte Sawyer eindringlich. „Jetzt. Sonst sitzen wir die nächsten Stunden wieder in irgendeinem Loch fest.“

Ich war mir nicht sicher, ob das wirklich die beste Vorgehensweise war, aber er wollte zurück zu Salia und wir konnten hier nicht länger stehen bleiben, sonst würden sie uns entdecken.

Es blieb keine Zeit sich genauer darüber Gedanken zu machen, also tat ich das, was Sawyer wollte und lief zusammen mit ihm geduckt weiter Richtung Straße. Dabei versuchten wir so viele Deckungen wie möglich zu nutzen. Leider waren das nicht allzu viele, wie wir heute schon einmal hatten feststellen müssen. Wenigstens hatten wir die Dunkelheit dieses Mal auf unserer Seite.

Schon bald wurden die Stimmen hinter uns wieder leiser, was bedeutete, dass wir uns entfernten, aber sie liefen weiter in unsere Richtung. Ich dachte überhaupt nicht darüber nach, warum das so war, bis vor uns die Straße zwischen den Bäumen auftauchte. Sawyer war so in Eile, dass er die Stimmen gar nicht bemerkte. Aber ich tat es. Darum packte ich ihn auch am Arm und hielt ihn zurück, als er hinter den letzten Bäumen hervorbrechen wollte.

Als er mich verständnislos anschaute, tippte ich mir mit dem Finger ans Ohr. Er sollte lauschen. Die Tracker liefen die gleiche Strecke wie wir, weil vor uns auf der Straße ihre Autos standen. Und an diesen Autos waren noch weitere Tracker.

Sie befanden sich nicht direkt vor uns, sondern standen ein Stück die Straße runter, doch wenn wir ins Freie liefen, standen die Chancen nicht schlecht, dass sie uns entdeckten.

Sawyer fluchte lautlos und ging dann mit mir zusammen hinter einem Baum in Deckung.

Was da auf der Straße stand, war ein ganzer Konvoi, so wie der, der mich damals eingefangen und nach Eden gebracht hatte – komplett mit einem großen Bus samt Zelle, zwei Jeeps und einem Sprinter. Ein Teil der Tracker befand sich in den Fahrzeugen, doch gut die Hälfte von ihnen standen draußen und unterhielten sich. Sie alle waren mir unbekannt.

Sie schienen im Aufbruch begriffen. Wahrscheinlich warteten sie nur noch auf ihre verstreuten Kameraden, wie die, die hinter uns im Wald genau auf uns zukamen.

Ich bekam eine Gänsehaut, wenn ich daran dachte, wie ich das letzte Mal verschnürt und gefesselt in so einem Bus aufgewacht war. Damals, als sie auch Nikita bei sich hatten.

Plötzlich machte sich in mir eine innere Unruhe breit. Was wenn sie Killian und die anderen gefasst hatten und sie genau in diesem Moment dort in dem Bus saßen?

„Wir müssen hier weg“, flüsterte Sawyer, der wohl ähnliche Gedanken hatte wie ich.

„Warte.“

„Worauf?“

„Wir müssen sichergehen, dass sie die anderen nicht gefunden haben.“

Sawyer verstand und sein Gesicht verfinsterte sich. „Ich sehe weder Trotzkopf noch den Karren.“

„Würden sie den denn mitnehmen?“

„Sie hätten ihn zumindest zur Straße gebracht, wenn sie ihn gefunden hätten.“

Wusste er das, oder hoffte er das nur, um nicht mit einer anderen Wahrheit konfrontiert zu werden? Aber ich konnte auch keinen Anhaltspunkt finden, der darauf hindeutete, dass sie den Rest unserer kleinen Reisegemeinschaft aufgegriffen hatten. Da waren nur die Tracker. Und die anderen würden doch sicher auf sich aufmerksam machen, wenn sie eingefangen worden wären, oder?

Nicht wenn man sie betäubt hat.

Verdammt!

„Wir müssen auf die andere Seite“, flüsterte Sawyer. „Ich muss zu Salia.“ Er musste sichergehen, dass sie entkommen war und nur dort würden wir die Spuren finden, die uns zu den anderen führen konnten.

Wenn wir nur ein wenig näher dran wären, um ihre Gespräche belauschen zu können. Aber das wäre einfach nur Irrsinn. Und wenn die anderen nicht bei ihnen waren, würden wir uns damit nur unnötig in Gefahr bringen.

„Kiss“, zischte Sawyer mich an.

Er hatte recht. Die Zeit wurde knapp. Die Tracker im Wald kamen immer näher und wir konnten auch auf anderem Wege herausfinden, ob die anderen sich bei den Trackern befanden, oder davongekommen waren.

Nein, so durfte ich gar nicht denken. Die anderen hatten es geschafft und nun würden wir es auch schaffen.

Ich nickte und gab Sawyer dann ein Zeichen, dass er mir folgen sollte. Hier über die Straße zu gehen, wäre idiotisch. Zurück in den Wald konnten wir auch nicht, also hielten wir uns im Schatten der Bäume und schlichen an der Straße entlang, immer weiter weg von dem Konvoi.

Wir waren erst ein kurzes Stück gelaufen, als ich wieder das Licht der Taschenlampe bemerkte und mit Sawyer hinter einer alten Mauer in Deckung ging, doch sie bemerkten uns nicht und zogen einfach an uns vorbei.

Wir warteten, bis ihr Licht nicht mehr zu sehen war, dann liefen wir weiter und kamen kurz darauf zu einer Kurve. Sobald wir die hinter uns gelassen hatten, würden wir unbemerkt die Straßenseite wechseln können. Dann brauchten wir nur noch eine Spur, der wir folgen konnten und schon wären wir weg. Was sollte da noch schiefgehen?

Als wir im Schutz der Bäume die Kurve nahmen, warf ich noch mal einen Blick auf den Konvoi der Tracker. Sie waren weit weg, doch da die Fahrzeuge gut ausgeleuchtet waren, konnte ich sie deutlich erkennen. Am liebsten wäre ich jetzt fortgelaufen, einfach so lange rennen, bis meine Beine mir den Dienst versagten, aber vorher mussten wir noch die Spur der anderen finden.

Kaum dass wir die Kurve genommen hatten, wollte Sawyer die Straßenseite wechseln.

Ich schüttelte den Kopf. „Nicht hier. Lass uns noch ein Stück gehen. Die anderen werden sich von den Trackern wegbewegt haben und das sollten wir auch tun.“

Das gefiel ihm nicht. Ich konnte spüren, wie seine innere Unruhe zunahm. Er musste sich furchtbare Sorgen um Salia machen, doch deswegen durften wir jetzt nicht unvorsichtig werden. „Dann mach.“

Ich wies ihn für seinen ruppigen Ton nicht zurecht, da ich ihn verstand. Trotzdem bedachte ich ihn mit einem mahnenden Blick, bevor ich wieder die Führung übernahm.

Wir legten noch einmal ungefähr die gleiche Strecke zurück, die wir gerade eben hinter uns gelassen hatten, bevor ich mich hinter einen Busch an die Straße kauerte und die Umgebung sondierte. Direkt vor uns standen die Überreste einer uralten Siedlung. Früher war das sicher mal ein sehr schönes Fleckchen Erde gewesen, doch jetzt bei Nacht und Dunkelheit, wirkten die zerfallenen Mauern wie unförmige Zähne, die aus dem Boden ragten. Dass es so still war, machte es nur ein kleinen wenig unheimlich.

„Die Luft ist rein“, ließ Sawyer mich ungeduldig wissen, aber ich ließ mich nicht von ihm hetzen. Erst als ich mich mit einem letzten Blick noch einmal davon überzeugt hatte, dass die Straße auch wirklich leer war, nickte ich und gab damit das Zeichen auf die andere Seite zu wechseln.

Mehr brauchte Sawyer nicht, um sich in Bewegung zu setzen. Er lief los, ich direkt hinter ihm, mit klopfendem Herzen. Den Schutz der Bäume zu verlassen und auf eine offene Fläche zu treten, wenn die Tracker ganz in der Nähe waren, war nichts für schwache Nerven und meine Nerven waren heute eigentlich schon genug belastet worden.

Wir hatten die andere Seite fast erreicht, als plötzlich ein Lichtstrahl aufleuchtete und uns direkt anstrahlte.

Ich wirbelte herum und erstarrte. Für einen Moment war ich so erschrocken, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte, während mein Herz drohte aus meiner Brust zu springen.

In der ersten Sekunde geschah gar nichts. In der zweiten erfasste ich, was hier gerade geschah.

Der Lichtstrahl kam von einer Taschenlampe und diese Taschenlampe lag in der Hand eines Trackers, der gerade mit seiner Kollegin aus dem Wald getreten war.

So überrascht wie die beiden aussahen, hatten sie mit uns wohl genauso wenig gerechnet wie wir mit ihnen. Und nur deswegen, standen sie wohl auch einfach nur da, ohne sich zu bewegen.

Das nannte man dann wohl Timing.

Ihr Anblick ließ wieder die vertraute Panik in mir aufsteigen und diese Panik fesselte mich an Ort und Stelle an den Boden. Zu meinem Glück war Sawyer an meiner Seite und der schien dieses Problem nicht zu haben.

„Lauf!“, brüllte er und versetzte mir zusätzlich noch einen Stoß, damit ich aus meiner Erstarrung erwachte und losrannte.

Damit überwanden aber auch die Tracker ihre Überraschung.

„Das müssen sie sein!“, hörte ich den männlichen Tracker rufen, doch da rannten wir auch schon. Ihre Schritte donnerten auf den Boden, das Licht der Taschenlampe tanzte hin und her und machte mir deutlich, wie dicht sie uns auf den Fersen waren.

Sobald wir die Straße hinter uns gelassen hatten, trugen unsere Beine uns durch die zerbröckelten Überreste der uralten Häuser. Sie zogen links und rechts an uns vorbei, genau wie die vereinzelten Bäume.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Alles was mich antrieb und immer schneller laufen ließ, war die Angst. Angst von ihnen gefangen zu werden, Angst wieder zurück nach Eden zu gehen, Angst meinen Schwur wahrmachen zu müssen. Ich würde ihnen kein weiteres Mal erlauben, mich zwischen die Finger zu bekommen.

„Bleibt stehen, wir euch doch nichts tun!“

War wirklich schon mal jemand so dumm gewesen, darauf hereinzufallen? Falls ja, wir würden es jedenfalls nicht tun, denn wir kannten die Wahrheit aus erster Hand. Und genau darum rannten wir. Wir rannten um unser Leben, wir rannten um unsere Freiheit und wir rannten, um dem zu entgehen, was hinter den Mauern von Eden auf uns wartete.

Immer wieder bog ich nach links, oder rechts ab, aber die Tracker wollten sich weder abhängen, noch in die Irre führen lassen. Sie klebten an uns, ohne locker zu lassen.

Ich schlug einen Haken nach rechts. Aus dem Augenwinkel sah ich Sawyer, der sich abmühte, mit mir Schritt zu halten, um nicht verloren zu gehen. Wir konnten nicht ewig so rennen und unsere Verfolger waren uns viel zu dicht auf den Fersen, um in Deckung gehen zu können. Sie würden es sofort sehen.

Und sie waren schnell, viel schneller als Sawyer. Wenn ich wollte, könnte ich ihnen wahrscheinlich entwischen. Nicht nur wegen meiner Schnelligkeit, sondern auch, weil ich mich durch meine Hautfarbe in der Dunkelheit fast unsichtbar machen konnte, aber Sawyer bremste mich aus. So würden wir ihnen niemals entkommen. Und wenn wir weiter in diese Richtung liefen, würden wir bald zwangsläufig auf die Straße mit dem Konvoi treffen. Warum nur, verdammt noch mal, war ich in diese Richtung gelaufen?

Die Panik erschwerte mir das Denken. Wir mussten dieser Situation entkommen, doch ich war im Moment zu nichts anderem fähig, als blind und ohne Verstand, davonzurennen.

Plötzlich packte Sawyer mich am Arm und riss mich nach links in den Schutz einer zerbröckelnden Hausmauer, die so dicht mit Efeu bewachsen war, dass man den Stein darunter nur noch erahnen konnte. Sein Atem ging genauso schnell wie meiner, als er mich an der Mauer entlangzerrte, hinein in den Schatten einer zerfallenen Ruine. Dort drückte er mich hinter einem großen Bruchstück zu Boden und rutschte direkt hinter mich. Dann hockten wir mit angehaltenem Atem in den dunkeln Schatten und wagten es nicht auch nur einen Muskel zu bewegen.

Mein Herz trommelte in meiner Brust und das Adrenalin jagte durch meine Adern, während ich mich zwang stillzuhalten und meinem Fluchtreflex nicht nachzugeben.

Ich hörte die hastigen Schritte der Tracker, wie sie näherkamen. Der Lichtkegel der Taschenlampe zeigte ihnen den Weg und huschte an uns vorbei. Ein zweiter Lichtstrahl folgte dem ersten. Die Frau musste auch ihre Taschenlampe eingeschaltet haben.

Als der Mann auf einmal „Wo sind sie?“ fragte, drückte ich meinen Rücken gegen Sawyer. Sie liefen an uns vorbei, doch schon nach wenigen Schritten wurden sie langsamer und blieben dann ganz stehen. „Ich habe sie doch eben noch gesehen.“

Mein Atem stockte. Sie waren genau auf der anderen Seite der Mauer, nur wenige Fuß von uns entfernt. Verdammt, warum waren sie nicht weitergelaufen?

„Sie müssen hier irgendwo sein“, versicherte die Frau.

Ich drückte mich tiefer in die Schatten, als die Taschenlampe hin und her zuckte.

„Ich rufe Verstärkung, dann werden wir sie schon finden.“

Angespannt bewegte Sawyer sich hinter mir. Diese Worte beunruhigten ihn genauso sehr wie mich. Wenn hier noch mehr Tracker auftauchten, würde es nur umso schwerer werden, ihnen zu entkommen.

„Team Delta ruft Echo“, sagte der Mann. „Echo bitte kommen.“

Es gab ein knackendes Geräusch, dass mich zusammenzucken ließ, dann antwortete eine blecherne Stimme unter statischem Rauschen: „Hier Echo, was gibt es?“

„Wir haben zwei Streuner entdeckt. Sie sind nach Süden in die Ruinen gelaufen. Wir haben sie aus den Augen verloren, aber sie müssen hier noch irgendwo sein.“

„Verstanden, ich schicke euch ein paar Leute.“

„Beeilt euch, diese beiden sind verdammt schnell.“ Er ließ das klingen, als sei es etwas Schlechtes.

„Sind schon auf dem Weg. Over and out.“

Oh Gaia, nein. Nein, nein, nein! Wir mussten hier unverzüglich weg! Aber wie sollten wir das anstellen? Sobald wir aus der Deckung kamen und uns in Bewegung setzten, würden die Tracker uns hören.

„Verstärkung ist unterwegs“, erklärte der Mann.

„Ich habe es gehört.“

Wenn sie nur endlich weggehen würden und das nach Möglichkeit sofort. In Ordnung, ich musste mich beruhigen und nachdenken. Hier jetzt komplett auszuflippen, würde uns absolut nicht helfen, auch wenn dieses Bedürfnis im Moment wirklich stark war.

„Schau mal hier“, sagte die Frau.

Ein Ablenkungsmanöver, das war es was wir brauchten, dass könnte uns genug Zeit verschaffen, um von hier zu verschwinden. Wir würden dann ein anderes Mal wiederkommen, um nach den Spuren von den anderen zu suchen.

Ich streckte den Arm aus und tastete auf dem Boden herum, bis meine Finger sich um einen handgroßen Steinbrocken schlossen.

„Das ist ein frischer Fußabdruck.“ Die Lichtkegel bewegten sich an der Mauer entlang, strichen über Gras, Unkraut und Gestrüpp. „Da ist noch einer.“

Den Blick auf den Boden gerichtet, kam der männliche Tracker in Sicht. Er war schlank und von durchschnittlicher Größe. Sein braunes Haar hatte er im Nacken zu einem Zopf gebunden und in seinem Gesicht zeichnete sich ein deutlicher Bartschatten ab.

Die Frau trat zu ihrem Kollegen, aber sie stellte sich so hin, dass ich nur den Rücken und das braune Haar sah.

Ich rückte ein Stück von Sawyer ab, um mir etwas Platz zu verschaffen, holte dann aus und warf den Stein so weit wie ich konnte. Er flog über die Mauer hinweg, aus meinem Sichtfeld. Zwei Sekunden später gab es einen leisen Knall.

Die Frau wirbelte herum. „Hast du das gehört?“

„Das kam von dahinten.“

Los, bewegt euch, geht nachsehen!

Die Brünette machte einen Schritt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.

„Warte“, sagte der Mann und ging in die Hocke. „Die Abdrücke führen in diese Richtung.“ Er hob den Blick und richtete ihn genau auf die Ruine, in der wir uns verbargen, nur waren wir viel weiter rechts. Doch als er sich dann erhob, wusste ich, dass er nun hierherkommen und uns entdecken würde. Ich wusste es einfach. Wenn wir hier tatenlos sitzen blieben, würden sie uns jeden Moment haben.

Ein Gedankenblitz zuckte durch mein Hirn. Diese Idee war waghalsig, völlig verrückt und konnte auf mehrere Arten schiefgehen, aber was hatte ich denn für eine Wahl? Eine kleine Chance war besser als gar keine und das war die einzige Möglichkeit, die ich im Moment sah.

Was ich dann tat, war nichts weiter, als eine Kurzschlussreaktion, weil ich im Moment einfach keinen anderen Ausweg sah. „Warte hier“, forderte ich Sawyer auf, ohne auf eine Erwiderung zu warten. Ich gab mir nicht die Möglichkeit, es mir noch einmal anders zu überlegen, sprang einfach auf die Füße und rannte los – direkt auf den Tracker zu.

Der Mann war von meinem plötzlichen Auftauchen so überrascht, dass er nicht reagierte, als ich direkt auf ihn zuhielt. Im letzten Moment schien er noch zu schalten, doch da war es bereits zu spät. Ich rammte den Kerl meine Schulter in die Brust, warf ihn damit zu Boden und hätte dabei fast selbst das Gleichgewicht verloren. Ich hatte keine Ahnung, wie es mir gelang, auf den Beinen zu bleiben, aber ich schaffte es, schaute mich nicht mal nach den beiden um, sondern rannte einfach.

„Hey, warte!“, rief die Frau hinter mir her, aber da ich das nicht tat, nahm sie sofort die Verfolgung auf. „Bleib stehen!“

Niemals! Im Gegenteil ich beschleunigte sogar noch ein wenig, nahm mir aber die Zeit zu überprüfen, dass sie beide hinter mir waren. Damit mein Plan funktionierte und wir sie loswurden, war es wichtig, dass beide mir folgten. Gleichzeitig konnte ich nur hoffen, dass die Verstärkung nicht eintraf, denn dann hätte ich es mit einer Übermacht zu tun und mein Plan würde scheitern.

Der Mann hatte sich von meinem Angriff ziemlich schnell erholt und war fluchend zurück auf die Beine gekommen. Er war nur wenige Fuß hinter seiner Partnerin und holte schnell auf.

Gut so, schön bei mir bleiben. So lockte ich sie nicht nur von Sawyer weg, sondern auch direkt in meine Falle.

Meine Beine trugen mich so schnell sie konnten, genau dorthin, wo wir vorhin noch glücklich gesessen und Mirabellen gegessen hatten. War das wirklich erst ein paar Stunden her? Ich hatte das Gefühl, die anderen seit Tagen nicht mehr gesehen zu haben.

Der Konvoi hatte weiter unten an der Straße gestanden und so hoffte ich, dass sie auch von dort aus kommen würden. Und dass sie sich ein wenig Zeit ließen.

Ich rannte vorbei an Ruinen, ließ die Stelle hinter mir, an der Killian sich hatte mit mir unterhalten wollen, direkt auf den Spalt im Boden zu, an dem Salia gespielt hatte. Bei der Dunkelheit war er schwer zu erkennen, darum schlug mein Herz mir auch bis zum Hals, als ich mich ihm näherte. Wenn ich da hineinfiel, dann war es aus für mich, dann hatten sie mich und es würde ihnen keine Schwierigkeiten mehr bereiten, mich nach Eden zu bringen.

Ich war fast da und sah gerade noch rechtzeitig, wie der Boden sich an der einen Stelle leicht absenkte. Entschlossen legte ich noch ein wenig an Geschwindigkeit zu und sprang über den Spalt hinweg … nur um dann in der Falle zu sitzen.

Auf der anderen Seite des Spalts, waren massive Wände. Sie waren hoch, aber ich hätte sie mit Leichtigkeit überwinden können. Nur gehörte das nicht zum Plan. Darum blieb ich wo ich war, schaute mich hektisch nach allen Seiten um, so als würde ich nach einem Ausweg suchen, während die Tracker immer näherkamen.

Als sich ihre Taschenlampen auf mich richteten, hatte ich mit einem Mal das ungute Gefühl, einen riesigen Fehler begannen zu haben. Aber nun war ich hier und sie waren dort und als sie schweratmend ihre Schritte verlangsamten, weil sie mich in der Falle glaubten, konnten sie mich mit ihren Taschenlampen zum ersten Mal richtig anleuchte.

„Das ist Kismet!“, rief die Frau überrascht.

Was, das hatten sie erst jetzt bemerkt? Ich wich zurück, bis ich den kalten Stein der Wand im Rücken spürte. Los, kommt und holt mich.

Der Mann nahm ein Gerät von seinem Gürtel und hielt es sich an den Mund. „Team Delta hier. Wir haben einen der Streuner in die Enge getrieben, es ist Kismet, die Eva.“

„Ihr habt gar nichts!“, knurrte ich sie an und hoffte, sie damit so weit zu provozieren, dass sie sich endlich in Bewegung setzten.

„Echo, verstanden. Wir sind auf dem Weg zu euch.“

„Ihr braucht Verstärkung?“, verhöhnte ich sie. „Zwei Tracker reichen nicht, um mich zu fangen?“ Jetzt setzt euch endlich in Bewegung!

„Wir wollen dir nicht wehtun“, sagte die Frau und hob die Hände, als wollte sie mir zeigen, dass sie keine Gefahr für mich war. Dabei machte sie einen Schritt auf mich zu. Gut so. „Wir wollen dich nur nach Hause bringen.“

„Ich hatte ein Zuhause, doch dank Eden habe ich alles verloren, was mir jemals etwas bedeutet hat.“

„So muss es doch aber nicht bleiben“, redete die Frau weiter ruhig auf mich ein und kam noch ein Schritt näher. Der Mann folgte ihr wachsam. „Komm einfach mit uns und wir fahren zurück nach Eden, zurück nach Hause.“

„Dieser Ort ist nicht mein Zuhause.“ Ich schob mich unruhig an der Wand entlang und schaute mich um, als würde ich nach einem Ausweg suchen. „Wenn ihr mich haben wollt, dann müsst ihr mich schon holen kommen.“

Der Gesichtsausdruck der Frau verhärtete sich. „Wenn du es auf diese Art möchtest, dann wirst du es auf diese Art bekommen. Der Wunsch eine Eva ist mir Befehl.“ Sie griff nach den Handschellen an ihrer Hüfte und machte einen großen Schritt auf mich zu, so als wollte sie sich auf mich stürzen. Zu ihrem Pech gab der Boden unter ihren Füßen in dem Moment nach, als sie ihr Gewicht verlagerte. Sie gab noch einen überraschten Laut von sich, dann war sie auch schon verschwunden.

„Kathie!“, rief der Mann, als von unten erst Poltern und dann ein schmerzverzerrtes Stöhnen zu hören war. Er stürzte zum Spalt, sorgsam darauf bedacht, nicht auch hineinzufallen. Mist, eigentlich sollte er jetzt zusammen mit ihr dort unten liegen. „Kathie, kannst du mich hören? Bist du okay?“

„Nein“, kam die weinerliche Antwort. „Mein Bein, ich glaub … es tut so weh.“

Der wütende Blick des Mannes traf mich und etwas daran kam mir bekannt vor. „Du hast uns mit voller Absicht hierhergelockt.“

Vielleicht war es im Augenblick nicht angebracht, einfach weil ich noch nicht außer Gefahr war, aber ich konnte gar nicht anders als zu lächeln. Doch es verging mir ganz schnell, als der Mann an seine Hüfte griff und die Waffe mit den Tranquilizern in die Hand nahm. Er hob den Arm und richtete die Mündung der Waffe direkt auf mich.

Oh Gaia, nein, das hatte ich nicht bedacht. Und jetzt saß ich wirklich in der Falle. Niemals wäre ich mit klettern schneller, als er abdrückte.

Hinter dem Mann bewegte sich etwas.

„Süße Träume“, wünschte er mir und in dem Moment ragte hinter ihm ein Schatten auf. Er schaffte es noch abzudrücken, doch im gleichen Moment bekam er einen kräftigen Stoß in den Rücken, der ihn direkt in den Spalt beförderte. Dabei verriss er die Waffe und der Tranquilizer flog nutzlos in die Nach davon.

Der Mann stieß noch einen Schrei aus, dann rumpelte und polterte es wieder. Die Frau schrie auf und begann zu weinen. Wahrscheinlich war er auf ihr drauf gelandet.

Ich hob den Blick und sah Sawyer auf der anderen Seite vom Spalt. Schwer atmend, aber mit einem selbstzufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht, stand er da und genoss einen Moment seinen Sieg. „Schauen wir mal, wie süß du jetzt träumst. Schwachkopf.“

Er hatte mich gerettet. Vor Freude wäre ich ihm am liebsten um den Hals gefallen. Stattdessen verlor ich keine Zeit mehr. Ich nahm Anlauf, stieß mich ab und setzte über den Spalt hinweg. Direkt neben Sawyer kam ich auf und konnte kaum glauben, dass wir es geschafft hatten. Moment, nein, wir hatten es noch nicht geschafft, hier liefen noch viel mehr Tracker rum. Wir hatten nur zwei von ihnen ausgeschaltet.

„Wir müssen hier weg“, sagte ich, als aus dem Spalt eine wüste Schimpfkanonade losgelassen wurde. Wow, wirklich kreativ der Kerl.

„Wohin?“, wollte Sawyer wissen.

„Einfach nur weg.“

„Aber was ist mit …“

Ich klatschte ihm eine Hand auf dem Mund, bevor er weitersprechen konnte. Die Tracker hatten nur mich erkannt. Sie wussten nicht, dass Sawyer der Mann war, der hier neben mir stand und sie wussten auch nicht, dass ich noch mit den anderen unterwegs war. Vielleicht war das nur wieder meine Paranoia, aber die beiden da unten konnten uns hören und ich wollte ihnen so wenig Informationen wie möglich geben. Darum zog ich Sawyer auch nach einem letzten Blick auf den Spalt, mit mir mit.

„Wir können den anderen jetzt nicht folgen“, sagte ich leise und bestimmt. „Die Tracker sind uns auf den Fersen. Wenn wir jetzt zu ihnen gehen, führen wir sie genau zu den anderen.“

„Aber was sollen wir dann machen? Ich kann Salia doch nicht im Stich lassen.“

„Du lässt sie nicht im Stich, Wolf und Killian sind bei ihr.“ Ich spitzte die Ohren. Waren das nicht eben Stimmen gewesen? „Bevor wir zu ihnen können, müssen wir die Tracker erstmal weglocken und dann von unserer Spur abbringen.“ Ja, da waren eindeutig Stimmen. Die Verstärkung rückte an.

„Und wie machen wir das?“

Gute Frage. Weglocken war nicht das Problem, ich war schnell genug ihnen zu entkommen, wenn sich mir keine Hindernisse in den Weg warfen. Aber Sawyer war ein Hindernis, er war langsamer als ich. Eigentlich blieb da nur eine Möglichkeit. „Geh, lauf in den Wald.“

„Was?“

„Du bist langsamer als ich. Die Tracker müssen sehen, wohin ich laufe, damit sie nicht auf die Idee kommen, hier nach Spuren zu suchen, sonst folgen sie vielleicht der falschen Fährte.“

„Und darum soll ich in den Wald laufen?“

„Ich bin schneller als du. Geh in den Wald, lauf immer geradeaus, ich werde dich einholen.“

„Wenn sie dich vorher nicht in die Finger bekommen.“

„Willst du jetzt wirklich hier mit mir diskutieren? Lauf endlich, du verschwendest Zeit.“

Es gefiel ihm nicht. Ehrlich gesagt, war ich von diesem Plan auch nicht besonders begeistert, aber ich hörte wie die Tracker bereits die Ruinen absuchten. Wenn er sich nicht langsam in Bewegung setzte, würden wir gleich wieder in massiven Schwierigkeiten stecken.

„Jetzt lauf schon“, fuhr ich ihn an.

Er presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf leicht. „Wehe du lässt dich von ihnen fangen, dann werde ich echt sauer.“

„Mir wird nichts passieren und jetzt verschwinde endlich.“

Zum Abschied stieß er noch einen derben Fluch aus, dann wirbelte er herum und rannte, als hinge sein Leben davon ab – was es in gewisser Weise ja auch tat.

Ich ging im Schatten einer Mauer in Deckung und wartete mit angespannten Muskeln. Entweder würde das hier mein größter Streich werden, oder mein größtes Versagen.

Ich horchte darauf, wie sich Sawyers Schritte eilig entfernten. Gleichzeitig kamen die Tracker immer näher. Ihre Stimmen wurden lauter und der Lärm, den sie machten, würde auch einen Toten wecken. Sie gingen definitiv nicht subtil vor, sondern setzten auf ihre Übermacht.

Ich zwang mich dazu ruhig zu bleiben und auf den richtigen Moment zu warten. Vorhin hatten sie mich überrascht und völlig unvorbereitet getroffen, aber nun war ich nicht nur gewarnt, ich war auch bereit – naja, so bereit wie man in meiner Situation eben sein konnte. Ich musste ruhig bleiben und mich gedulden und dann würde ich ihnen ein Schnippchen schlagen. Das Einzige worauf ich achten musste, war, dass ich mich seitlich von ihnen hielt, sodass sie mir nicht den Weg abschneiden konnten.

Es dauerte noch ein paar Minuten, bis der erste Tracker in Sicht kam. Er wurde von den Rufen seiner Leute angelockt, die durch den Boden gekracht waren. Ich wartete, bis er ein gutes Stück von mir entfernt war, bevor ich ihn mit einem Geräusch auf mich aufmerksam machte.

Der Mann wirbelte herum, suchte mit seiner Taschenlampe den Boden ab, bis der Lichtstrahl direkt auf mich fiel.

Ich sah ihm direkt in die Augen. Meine Lippen verzogen sich zu einem eiskalten Lächeln. „Wenn du mich haben willst, dann musst du mich erstmal fangen.“

Damit fiel der Startschuss. Während der Mann dieses Gerät von seinem Gürtel nahm und es sich an den Mund hielt, um zu verkünden, dass er Sichtkontakt hatte, wirbelte ich herum und rannte so schnell ich konnte.

 

oOo

Kapitel 26

 

Der graue Himmel hatte seine Schleusen geöffnet und versuchte die Welt unter Massen an Wasser zu ertränken. In dichten Schlieren prasselte der Regen auf mich herab. Dicke Tropfen klatschten mir ins Gesicht und erschwerten mir die Sicht. Donner grollte und in der Ferne zuckte ein Blitz über den düsteren Himmel.

Schneller, schneller!

Sie waren direkt hinter mir. Ich hörte wie sie meinen Namen riefen, aber ich blieb nicht stehen. Meine Beine trugen mich so schnell sie konnten, über den unebenen Untergrund, voller Trümmer und Schutt, der nur spärlich mit dem Grün der Natur überwuchert war.

Das trübe Licht des Nachmittags begann bereits zu dämmern, nicht mehr lange, dann würde die Nacht sich über diese Stadt aus Ruinen legen.

Seit gestern folgten sie mir nun schon. Zwischendurch hatten sie mich eine Zeitlang aus den Augen verloren, Stunden, die ich genutzt hatte um ein wenig Kraft zu tanken, doch nun waren sie wieder hinter mir her und schienen entschlossener den je, mich in ihre dreckigen Finger zu bekommen. Zu ihrem Pech hatten sie dieses Mal keine Ahnung, worauf sie sich da einließen. Ich schon.

Ich jagte durch die Straßen dieses verlassenen Städtchens. Die Gebäude an diesem Ort waren schon vor langer Zeit zerfallen und zerbröckelt und wurden nur noch durch die wuchernde Natur ein wenig zusammengehalten. Dieser Ort war seltsam. In den Straßen gab es tiefe Krater und ein Teil der Häuser schien vor langer Zeit durch Explosionen zerstört worden zu sein. Hier hatte einst Krieg geherrscht und die Spuren davon waren noch heute zu sehen.

Direkt vor mir war ein großes Gebäude auf die Straße gekippt und bildete eine Sachgasse, in die ich nun direkt hineinlief. Nach links oder rechts konnte ich nicht ausweichen, denn dort türmten sich die Trümmer anderer Gebäude.

Jetzt wurde es gefährlich für mich. Ich musste dafür sorgen, dass die Tracker mich nicht aus den Augen verloren, aber ich durfte sie auch nicht zu dicht an mich herankommen lassen, denn ich musste durch das umgekippte Gebäude hindurch und da gab es nur einen einzigen Weg: Einen Spalt, durch den ich mich nur seitlich und damit nicht besonders schnell, hindurchschieben konnte.

Durch den starken Regen konnte ich nicht viel sehen und trotzdem rannte ich weiter, ohne genau zu wissen, wo der Spalt war. Ich wusste nur, dass er weiter rechts lag, weil ich hier heute schon einmal durchgekommen war.

Meine Beine trommelten auf den nassen Boden. Die Außenwand des Gebäudes kam immer näher. Nur noch zehn Fuß, fünf. Mit einem scharfen Haken, schwenkte ich nach rechts, während ich hinter mir die Tracker rufen hörte, dass ich doch endlich stehen bleiben sollte.

Wo war der Spalt, wo war der verdammte Spalt? Hecktisch lief ich an der Wand entlang und wäre dann auch fast noch an ihm vorbeigelaufen. Oh Gaia, danke.

Ich warf einen Blick zurück. Die Tracker waren so nahe, dass sie mich gleich hätten. Aber nicht mit mir. Mein Herz trommelte wie wild in meiner Brust und meine Lunge schrie, dass es langsam mal genug war, als ich mich seitlich in den Spalt schob.

„Nein, bleib hier!“, brüllte einer der Männer.

Von wegen.

Der Spalt war eng, aber es würde niemanden von ihnen Probleme bereiten, dort hindurchzukommen. Das Problem war, dass hier Trümmer auf den Boden lagen, über die man hinüber klettern musste.

Ich hatte vielleicht ein Drittel der Strecke geschafft, als ich der erste Tracker hinterherschob. Ich sah wie er seine Waffe in der Hand hielt und war dankbar dafür, dass der Spalt genau in diesem Moment einen Knick machte, sodass ich schnell in Deckung gehen konnte. Dann wurde es endlich ein wenig breiter und nach ein paar weiteren schrecklichen Sekunden, war ich hindurch.

Ich blieb nicht stehen und wartete darauf, ob sie mir folgten. Ich wusste, sie würden es tun und ich musste wieder ein wenig Anstand zwischen uns bekommen, um einen Vorsprung zu haben. Also wirbelte ich herum und rannte so schnell ich konnte. Erst ein Stück geradeaus und gleich darauf nach links auf einen großen Platz, der von einer Wiese bedeckt war. Ein einsames Bäumchen stand dort und trotzte tapfer dem stürmischen Unwetter. Ganz hinten auf diesem Platz gab es einen Zugang zu den unterirdischen Tunneln und genau der war mein Ziel. Er wirkte sehr gut erhalten, auch wenn er von einer dicken Schicht Pflanzen komplett überwuchert war.

Als hinter mir wieder die Rufe laut wurden, wusste ich, sie waren mir immer noch auf den Fersen. Wenn sie mich nur endlich in ruhe ließen, dann wäre all das hier gar nicht nötig, aber sie konnten einfach nicht aufgeben und ich würde mich nie mehr von ihnen fangen lassen. Also rannte ich weiter, unaufhaltsam meinem Ziel entgegen.

Um dem Zugang zum Untergrund stand eine alte Mauer aus Beton. Ich rannte daran entlang, um auf die andere Seite zu kommen und dann hatte ich den Eingang zu einer anderen Welt erreicht. Dort, wo vormals einmal Treppen gewesen waren, hatten sich Dreck und Erde gesammelt und ein Gefälle in die Tiefe gebildet, das mit Pflanzen, Rasen und Unkraut bedeckt war. Der starke Niederschlag hatte das Gefälle in einen seichten Wasserlauf verwandelt, auf dem der Regen in die Tiefe floss und in den Schatten des Untergrundes verschwand.

Neben meiner Hand zersprang der Stein. Ein Splitter des abgeplatzten Betons streifte meine Haut, doch erst als ich den Blick senkte und den Tranquilizer in der Pfütze sah, verstand ich was geschehen war. Sie schossen auf mich. Verdammt, sie hatten gerade mit Betäubungsmitteln auf mich geschossen! Wahrscheinlich hatte ich es nur dem starken Regen zu verdanken, dass sie mich verfehlt hatten.

Ich warf einen wütenden Blick in ihre Richtung und verschwand eilig im Untergrund, dem gefährlichsten Teil einer verlassenen Stadt. Nicht nur dass dort hungrige Kreaturen lauern konnten, die es nicht besonders mochten, wenn man sie bei ihren Schönheitsschläfchen störte, diese Tunnel waren alle uralt, marode und einsturzgefährdet. Ein Großteil der kilometerlangen Strecken war bereits eingestürzt, oder von Wassermassen überflutet und dem Rest könnte es jederzeit genauso ergehen. Es war nicht ratsam sich dort aufzuhalten, aber die Tracker ließen mir keine Wahl. Irgendwie musste ich sie schließlich loswerden.

Mit jedem hektischen Schritt den ich machte, spritzte Wasser zu allen Seiten. Ich rannte das Gefälle hinunter und tauchte ein in die Welt unter der Stadt. Die rissigen Wände waren nass und glitschig. Regenwasser drang durch Ritzen und Spalten in der Decke und tropfte vielerorts in den Wasserstrom zu meinen Füßen. 

Eine kleine Kreatur ergriff eilig die Flucht, als ich an ihr vorbei auf die Zwischenebene der Untergrundtunnel rannte.

„Bleib doch endlich stehen!“, rief mir einer der Tracker hinterher. „Das hat doch keinen Zweck!“

Das glaubte auch nur er.

Meine Beine trugen mich so schnell sie nur konnten, über die Zwischenebene. Meine Füße berührten Moose und Höhlenpflanzen, bis ich zu einem weiteren Gefälle kam, das noch tiefer in den Untergrund führte. Ein Teil der Decke und der Wand waren dort heruntergekommen und in den Boden gekracht. Betonbrocken und Trümmerteile hatten sich über die ganze Fläche verteilt. Ganze Sturzbäche ergossen sich durch das Loch in der Decke und prasselten auf den Schutt. Aber wenigstens spendete das Loch in der Decke auch ein wenig Licht.

Ich rannte um die Trümmerteile herum und wäre auf dem glitschigen Untergrund fast weggerutscht. Um den Sturz zu verhindern, griff ich hastig nach einem riesigen Betonbrocken und riss mir dabei die Handfläche auf, doch mein Körper war so mit Adrenalin vollgepumpt, dass ich den Schmerz gar nicht spürte.

Ein weiterer Tranquilizer flog so dicht an meinem Ohr vorbei, dass ich den Luftzug fühlen konnte. Langsam wurde das hier wirklich riskant, sie waren viel zu dicht.

Ohne mich nach meinen Verfolgern umzusehen, stürzte ich das Gefälle nach unten. Meine Füße rutschten und schlitterten über den glitschigen Untergrund. Das Regenwasser rauschte wie ein Wasserfall, mit mir zusammen, das Gefälle hinunter und floss dann in eine große, langgezogene Halle. Die Decke dort wurde von massiven Betonpfeilern oben gehalten, die genau in der Mitte in Reih und Glied aufgereiht waren. Naja, zumindest wurde die Decke dort oben gehalten, wo die Pfeiler noch vorhanden und halbwegs intakt waren.

In der linken Deckenhälfte klaffte ein riesiges Loch und ließ so etwas Tageslicht in die Untergrundhalle. Überall in der Decke gab es Risse und Spalten. Ganze Sturzbäche von Regenwasser strömten dadurch in die Halle und rissen Dreck und Pflanzen mit sich in die Tiefe. Sie klatschten in ohrenbetäubenden Lärm auf den alten Betonboden und flossen nach allen Seiten, sodass der ganze Boden überflutet war.

Links und rechts an der Halle befanden sich zwei tiefergelegte Kanäle, mit Schienen und diese Schienen führten in die finsteren Stollen, die die ganze Stadt untertunnelten.

Die Wände waren aus Stein, auch wenn an manchen Stellen noch die Überreste von alten, grünen Fliesen klebten. Alles war voll von Dreck und Schutt der letzten Jahrhunderte.

Meine Beine trugen mich quer durch die Halle, strebten eilig der anderen Seite entgegen. Ich wich den Sturzbächen aus und zwang mich dazu noch schneller zu laufen. Die Rufe der Tracker gingen in dem Lärm fast unter, doch ich wusste wie nahe sie waren und dass sie nicht aufgeben würden.

Ich rannte bis ich das andere Ende der Halle erreicht hatte, versicherte mich, dass die Tracker mich sahen und sprang dann in den rechten Kanal, um eilig im Tunnel zu verschwinden.

Das Regenwasser sammelte sich hier, sodass ich bis zu den Knöcheln in einer widerlich stinkenden Brühe stand, aber das war im Augenblick völlig egal, solange ich am Ende nur den Sieg davontragen würde. Einen letzten Blick über die Schulter, den erlaubte ich mir noch, bevor ich eilig in dem Tunnel abtauchte.

Das Licht reichte hier nur ein paar Fuß weit, bevor es von der Dunkelheit einfach verschluckt wurde. Die Luft war modrig und roch nach Schimmel und spitze Steinchen drückten sich mir in die Fußsohlen. Wasser plätscherte bei jedem Schritt und spritzte in alle Richtungen.

Ich wollte nicht hier sein. Ich verabscheute den Untergrund. Er war gefährlich und beängstigend und ich bekam schon eine Gänsehaut, wenn ich nur daran dachte. Doch das Wissen um die Tracker, trieb mich tiefer hinein. Allerdings lief ich jetzt nur noch sehr langsam. Ich musste mich an der Wand entlangtasten, um meinen Weg zu finden.

Das alte Gemäuer war rau und nass und ich wollte gar nicht so genau wissen, was da alles klebte. Mein Atem ging immer noch hektisch und mein Puls raste, als ich mich selber zur Eile antrieb. Wo war es nur, verdammt, wo … da! Meine Hand stieß gegen ein Rohr, dass ein Stück aus der Wand ragte.

„Sawyer“, zischte ich und warf einen wachsamen Blick zurück. Nur Dunkelheit, keine Taschenlampen, aber die würden sicher nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Ein Stück über mir erklang ein schabendes Geräusch. „Das nächste Mal kannst du dich ruhig beeilen“, motzte er. „Streck deine Arme aus.“

So. Ein. Arsch! „Das nächste Mal kannst du den Lockvogel spielen, wenn dir das zu lange dauert“, knurrte ich und streckte in der Dunkelheit die Arme nach oben. Ich musste ein wenig herumtasten, aber dann fand ich zwei warme Männerhände, die sich sofort um meine Handgelenke schlossen und begannen mich hinaufzuziehen.

Jemand rief laut nach meinem Namen. Es hallte durch den ganzen Tunnel.

Alarmiert drehte ich den Kopf, doch es blieb weiterhin finster. „Komm schon, zieh mich hoch.“

„Du wiegst eine Tonne“, knurrte Sawyer, zog aber, während ich mich vom Boden abstieß. Ich versuchte mit den Füßen an der nassen Wand Halt zu finden, aber sie war zu glitschig. Erst als ich das Rohr in der Wand fand, schaffte ich es mich höher zu drücken, während Sawyer mich über eine Kante in einen Schacht in der Wand zerrte.

Sobald mein Oberkörper drinnen war, schaffte ich den Rest alleine. Ich zog die Beine hinein, und wollte weiter krabbeln, doch da hockte Sawyer noch im Weg und ich rammte mit dem Gesicht direkt gegen seine Brust.

„Pssst“, machte er in dem gleichen Moment, in dem ich es auch hörte. Das Plätschern von Schritten.

Ich hielt den Atem an und wagte es nicht mich zu bewegen.

Wieder wurde mein Name gerufen.

Waren die wirklich so dumm zu glauben, dass ich ihnen antworten würde? Die wischten sich den Hintern wohl auch mit Brennnesseln ab.

Langsam kamen die Geräusche und Stimmen näher. Durch die Öffnung des Schachts sah ich mit klopfendem Herzen das Licht von Taschenlampen über die Wände huschen. Jetzt würde es sich zeigen, ob unser Plan gelang, oder die ganze Anstrengung umsonst gewesen war.

In der letzten Nacht, nachdem Sawyer allein im Wald verschwunden war, hatte ich meine Verfolger in das dicht bewachsene Gehölz gelockt und war ihnen dann einfach davongelaufen. Es hatte einige Zeit gedauert, bis ich Sawyer gefunden hatte, da er scheinbar nicht grade laufen konnte, aber sobald wir wieder zusammen waren, hatten wir uns auf und davon gemacht. Dabei hatten wir absichtlich eine deutlich sichtbare Spur hinterlassen.

Wir waren die ganze Nacht gelaufen und hatten uns so einen kleinen Vorsprung verschafft, den wir genutzt hatten, um ein wenig auszuruhen. Leider hatten wir keinen Unterschlupf gefunden, sodass wir unter freiem Himmel hatten schlafen müssen.

Als es am Morgen zu regnen begann, waren wir erwacht und hatten uns wieder auf den Weg gemacht.

Nach vielleicht einer Stunde Fußweg war der Wald in eine Stadt übergegangen. Eine Stadt mit tausend Verstecken und Fluchtwegen. So viele Möglichkeiten, unsere Verfolger abzuhängen.

Wir waren erst ein wenig herumgelaufen, hatten den Spalt in dem umgekippten Gebäude entdeckt und dann den Zugang zu den Tunneln. Nach einigem Zögern waren wir hineingegangen, hatten uns umgesehen, den Schacht in der Wand des Tunnels entdeckt und einen Plan kreiert. Langsam wurden wir beide richtig gut im Pläneschmieden.

Bis hier hin hatte der Plan genauso funktioniert, wie wir das vorgesehen hatte. Naja, bis auf den Teil mit dem monsunartigen Regen, damit hatte ich nicht gerechnet gehabt. Doch nun hockten wir mit angehaltenem Atem in diesem Schacht und hofften, dass die Tracker einfach an uns vorbeiziehen würden.

Diese Tunnel waren unendlich lang und es gab jede Menge Zugänge – man musste sie nur finden. Wenn die Tracker uns hier vermuteten, würden sie ihre Suche entweder aufgeben, oder Monate damit verschwenden, uns hier zu finden.

Die Lichtkegel zuckten über die Wände und den überfluteten Boden.

„Ich kann sie nicht hören. Seid ihr sicher, dass sie hier entlanggelaufen ist?“

„Natürlich bin ich mir sicher, ich habe es gesehen.“

Plätschern. Das Licht wurde ein wenig heller.

„Weit kann sie bei dieser Dunkelheit nicht gekommen sein.“

Die Stimmen waren genau auf unserer Höhe, das Licht zog vorbei.

„Ich hasse diese verdammten U-Bahn-Tunnel.“

Sie gingen vorbei. Sie gingen wirklich vorbei! Ich konnte es kaum glauben, aber sie hatten den Schacht hinter sich gelassen und gingen weiter, ohne auch nur zu ahnen, dass ich direkt neben ihnen gewesen war.

Die Stimmen und das Plätschern wurden leiser, je weiter sie sich entfernten. Das Licht schwand und dann saßen wir wieder in der Dunkelheit.

Erst jetzt wagte ich es mich zu bewegen und mich auf meinen Hintern zu setzten. Dann atmete ich einmal sehr tief durch. „Wir haben es geschafft“, flüsterte ich und fühlte ein Glücksgefühl, dass ich schon einmal gefühlt hatte, an dem Tag, als wir Eden ein Schnippchen geschlagen hatten und direkt unter ihren Nasen verschwunden waren.

„Mit uns sollte sich eben keiner anlegen.“ In Sawyers Stimme schwang ein Lächeln mit. Auch er war erleichtert, dass es geklappt hatte.

„Das sollte unser Leitspruch werden.“ Ich spitzte die Ohren und horchte in die Dunkelheit. Von den Trackern war kein Laut mehr zu vernehmen. „Wir sollten verschwinden, bevor sie aufgeben und zurückkommen.“ Denn für eine weitere Verfolgungsjagt, fehlte mir im Moment einfach die Puste.

„Dann beweg dich, du versperrst den Zugang.“

Das Stimmte.

Obwohl die Tracker erstmal weg waren, versuchte ich alle unnötigen Geräusche beim Herausklettern zu vermeiden.

Der Weg aus dem Schacht war leichter, als in ihn hinein. Zumindest für mich. Sawyer landete mit einem lauten Platschen auf dem Hintern und stieß einen Wulst an Verwünschungen aus.

Ich kicherte leise.

„Ja, voll lustig.“ Wasser spritzte und traf mich, als er sich zurück auf die Beine arbeitete. „Warum verdammt noch mal, steht das jetzt so hoch?“

Da ich sowieso bereits von oben bis unten nass war, störte mich daran eigentlich nur dieser abgestandene Geruch. „Weil der Himmel seine Schleusen geöffnet hat.“

„Fantastisch, das hat uns gerade noch gefehlt. Jetzt ist der verdammte Verband nass.“

Ach ja, sein Arm. Die Attacke durch den Strauß lag bereits elf Tage zurück, aber die Wunde war noch nicht ganz verheilt. „Wie geht es deinem Arm?“

„Er tut weh.“

Er konnte noch meckern, also ging es ihm gut. „Super, dann lass uns hier schnell verschwinden.“

„Super? Hast du gerade wirklich super gesagt?“

Ich lachte nur leise und führte uns dann aus diesen Tunneln, um sie und die Tracker für immer hinter mir lassen zu können. Wenn unser Plan Früchte trug, würden die Tracker und Eden unsere Spur hier ein für alle Mal verlieren. Aber wirklich sicher sein konnten wir uns noch nicht. Im Moment wussten wir nur, dass wir sie für den Augenblick in die Irre geführt hatten, doch bevor wir zu dem anderen zurückkehren konnten, mussten wir mit Sicherheit wissen, dass sie uns nicht mehr folgten.

Darum gingen wir nicht zu dem Mirabellenbaum zurück, nachdem wir die Tunnel verlassen hatten. Vorerst würden wir uns fernhalten. Stattdessen drangen wir tiefer in die Stadt vor, suchten uns ein sicheres Versteck in irgendeinem Loch, wo wir den Regen abwarten wollten. Es dauerte nicht lange, bis die Erschöpfung ihren Tribut forderte und wir einfach einschliefen.

Die nächsten Tage waren sehr anstrengend. Es war wie am Anfang unserer Reise, als wir gerade frisch entkommen waren, obwohl wir da noch ein paar nützliche Dinge aus dem Wagen hatten mitnehmen können. Jetzt hatten wir nichts als unsere Kleidung, Messer und die wenigen Dinge, die ich immer in meinem Beutel mit mir herumtrug.

Den ganzen nächsten Tag entfernten wir uns immer weiter vom Mirabellenbaum, falls die Tracker uns doch noch folgten. Wir verwischten unsere Spuren, so gut wir eben konnten und blieben möglichst immer irgendwo in Deckung.

Tagsüber liefen wir und nachts suchten wir uns Verstecke, wo wir eng aneinander gekuschelt einschliefen, um uns vor der Kälte zu schützen. Wir hatten weder Decken noch Felle und auch wenn der Regen wieder nachgelassen hatte, schien unsere Kleidung ständig nass zu sein. Ohne die Körperwärme des anderen, wären das ziemlich frostige Nächte geworden.

Essen taten wir in dieser Zeit, alles was wir fanden, um den Motor am Laufen zu halten. Pilze, Kräuter, essbare Pflanzen und ja, auch Käfer.

Erst am Morgen des zweiten Tages fühlten wir uns sicher genug, um in einem großen Bogen zu dem Mirabellenbaum zurückzukehren, was uns fast zwei weitere Tage kostete. Ein Gutes hatte dieser Umweg aber. In einem kleinen Wäldchen fanden wir ein völlig verfallenes Haus, das von wildem Wein umgeben war. Da wir von Käfern und dem ganzen anderen Zeug die Nase voll hatten, stopften wir uns die nächste Stunde mit dicken, süßen Weintrauben voll und nahmen noch ein paar Reben als Reiseproviant mit.

Es war am Mittag des vierten Tages, seit wir uns von den anderen getrennt hatten, als wir zurück zum Mirabellenbaum fanden. Die letzten Stunden hatten wir uns sehr beeilt, weswegen wir müde und erschöpft waren, aber besonders Sawyer machte die Trennung von seiner Tochter sehr zu schaffen. Er brauchte die Sicherheit, dass es ihr gut ging und darum beschwerte ich mich auch nicht.

Die Spur zu finden war nicht sehr schwer, wenn man wusste, wonach man Ausschau halten musste. Wie bereits vermutet, hatte Wolf die anderen weiter nach Westen geführt – weg von den Trackern.

Ihnen zu folgen, erwies sich als verhältnismäßig einfach, besonders nachdem ich die Wolken entdeckte. Es waren kleine Kritzeleien, den ich Anfangs gar keine Beachtung schenkte.

Das erste Mal bemerkte ich sie, als wir an einer einsamen Mauer vorbeikamen. Es sah aus, als hätte jemand mit einem Stein versucht eine Wolke in die Ziegel zu ritzen. Das zweite Mal bemerkte ich eine seltsame Schnitzerei an einem Baum, die mich entfernt an einen Wattebausch erinnerte, doch erst beim dritten Mal war ich davon überzeugt, dass Salia sichergehen wollte, dass wir sie auch wirklich fanden. Von da an hielten wir die Augen offen und fanden öfters die kleinen Kreationen von Salia.

Es war seltsam, diese Tage mit Sawyer allein zu verbringen. Es war nicht das erste Mal, denn in Eden hatte man uns mehrere Tage zusammengesperrt, aber dieses Mal war es irgendwie anders. Vielleicht, weil wir wirklich auf den anderen angewiesen waren, um zu überleben. Oder auch, weil wir uns mittlerweile viel besser kannten.

Am Mittag des fünften Tages stand ich vor einem Baum und begutachtete eine weitere von Salias Wolken, die in den Stamm geritzt war. Die Spuren hatten uns bereits gestern in diesen Wald geführt, der kein Ende zu nehmen schien. Hier zwischen den Bäumen war es nicht ganz einfach ihrer Fährte zu folgen, darum schaute ich immer zuerst nach den Stellen, wo man Problemlos mit einem Karren hindurchfahren konnte.

„Wir kommen ihnen näher.“

Zweifelnd schaute Sawyer sich um, als suchte er nach einem Beweis für meine Aussage. „Wie kommst du darauf?“

„Die Spuren sind frischer, die Ränder noch nicht so eingetrocknet.“ Mit dem Finger strich ich über die Kerben im Baum und ließ die Hand dann wieder sinken. „Sie können nicht mehr als ein paar Stunden Vorsprung haben.“

„Das heißt, wir holen sie heute noch ein?“

„Wenn uns nichts dazwischenkommt.“ Ich setzte mich wieder in Bewegung, immer den tiefen Spuren des Karrens hinterher. Hier waren sie sehr deutlich zu sehen. „Mit ein bisschen Glück, bist du heute Abend wieder bei deiner Kleinen.“

Das Lächeln, das nach diesen Worten auf seinen Lippen erschien, ließ mein Herz in meiner Brust einen seltsamen Sprung machen.

„Das wurde ja auch langsam mal Zeit.“ Seinen Worten fehlte die Schärfe, die ihnen sonst immer anhaftete. Er schien einfach nur froh, Salia bald wieder bei sich zu wissen.

Ich wünschte, ich hätte auch etwas, auf das ich mich so freuen könnte, aber auf mich wartete nur die Fortsetzung unserer Reise. „Wenn wir die anderen gefunden haben, ruhen wir uns ein oder zwei Tage aus, dann machen wir uns wieder auf die Suche nach deinen Leuten.“

Schweigend liefen wir nebeneinander her. Der Boden war noch feucht vom letzten Regen, aber seit gestern Abend war kein Tropfen mehr vom Himmel gefallen und es sah auch nicht danach aus, als würde sich das in den nächsten Stunden ändern.

„Vielleicht wäre es für alle besser, wenn wir meine Familie nicht finden“, sagte Sawyer plötzlich.

Verwundert schaute ich ihn an. „Warum?“

Seine Lippen waren aufeinandergedrückt und seine Augenbrauen hatte er so dich zusammengezogen, dass es fast wirkte, als wären sie in der Mitte zusammengewachsen. „Die Tracker sind uns immer noch auf der Spur“, sagte er. „Wenn wir meine Familie wirklich finden, könnten wir sie allein durch unsere Anwesenheit in Gefahr bringen.“

Da konnte ich ihm leider nicht widersprechen, aber eine kleine, scheinbar unbedeutende, aber doch wichtige Kleinigkeit, hatte er dabei übersehen. „So schwer wie es ist, deine Familie aufzuspüren, gibt es keinen sichereren Platz, als bei ihnen. Wir werden nirgendwo sicherer sein. Selbst wenn die Tracker ganz gezielt nach deiner Familie suchen, werden sie sie niemals finden.“

„Klingt logisch. Doch wenn das wirklich stimmt, sind unsere Aussichten darauf, sie zu finden, auch nicht besonders gut.“

„Das sehe ich anders.“

„Ach ja?“ Er drehte mir den Kopf zu. „Auf die Erklärung bin ich ja jetzt mal gespannt.“

„Du hast eine Verbindung mit ihnen, die niemand anderes hat.“ Sie waren eine Familie und jeder hatte zu seiner Familie ein unsichtbares Band.

„Das ist deine Erklärung? Irgendein übernatürlicher Müll?“ Kopfschüttelnd umrundete er einen Baum. „Du hättest dir wenigstens etwas Glaubhaftes aus den Fingern saugen können.“

„Es ist glaubhaft. Du musst nur daran glauben.“ Die Fäden des Schicksals waren verworren, aber sie führten einen immer irgendwo hin. „Mein Vater hat früher immer gesagt, der Glaube kann Berge versetzten. Wenn man sich etwas nur doll genug wünscht, dann geht es manchmal in Erfüllung.“

Dieses Mal sagte er nichts dazu. Schweigend lief er eine ganze Weile neben mir her, als müsste er über meine Worte nachdenken. Vielleicht fragte er sich aber auch, wie er nur mit einer Verrückten wie mir in einem einsamen Wald hatte landen können.

Die Stille war nicht unangenehm, ich genoss den Frieden sogar ein wenig. Seit die Tracker mich damals geschnappt und nach Eden gebracht hatten, war ich eigentlich nie mehr wirklich allein gewesen. In der Stadt waren immer andere Menschen da gewesen, selbst dann, wenn ich sie nicht gesehen hatte. Nach unserer Flucht hatte ich zwar nur noch eine Handvoll Menschen um mich, aber sie waren eigentlich immer da. Selbst wenn ich einmal allein irgendwohin gehen wollte, folgte mir einer von ihnen. Dabei fand ich es ganz in Ordnung, auch mal für mich allein zu sein. Ehrlich gesagt, fehlte es mir manchmal sogar ein bisschen.

„Warum machst du das?“, fragte Sawyer mich. Irgendwo in den Bäumen stieß ein Vogel hohe Töne aus und flog dann davon. „Warum willst du mir unbedingt helfen?“

Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet und sie ließ ein ungutes Gefühl in mir aufsteigen. Das war etwas, dass ich nicht beantworten wollte. „Spielt das eine Rolle?“

„Ja.“

Ich schwieg.

Von meiner plötzlichen Wortkargheit aufgerüttelt, musterte er mich sehr aufmerksam. „Was, ist die Antwort wirklich so schlimm?“

Schlimm? Ja und nein. „Sie ist ziemlich egoistisch.“ Und ich war mir nicht sicher, wie er auf die Antwort reagieren würde. Irgendwie nutzte ich ihn schließlich aus und ich an seiner Stelle würde nicht benutzt werden wollen, egal aus welchen Gründen.

„Du und egoistisch?“ Seine Augenbrauen hoben sich erstaunt. Und ja, auch ein wenig spöttisch. „Ich wusste nicht mal, dass dieses Wort in deinem Wortschatz existiert.“

„Tu nicht so, als wäre ich eine Heilige.“ Denn das war ich nicht. Ich wollte es gerne sein, aber so wie sich alle von mir abwandten und die Flucht ergriffen, um möglichst weit von mir wegzukommen, musste mit mir grundlegend etwas nicht stimmen.

„Oh, keine Sorge, dass wird mit Sicherheit nicht passieren“, spottete er äußerst herablassend.

Sollte ich mich jetzt beleidigt fühlen?

Er schwieg einen Moment, als erwartete er, dass ich seine Frage nun endlich beantworten würde. Als das nicht passierte, forderte er: „Komm schon, sag es mir. Das bist du mir schuldig.“

Nein, mein Erstaunen war nicht gespielt. „Ich dir schuldig?“ Warum bitte sollte ich ihm etwas schuldig sein?

„Klar, nur dank mir, bist du nicht mehr in Eden.“

Dank ihm, aha. „Das beruht auf Gegenseitigkeit.“

Das ließ er unkommentiert. „Du weichst aus.“

Klar tat ich das, denn ich wollte sie nicht beantworten. Leider sah Sawyer im Moment nicht so aus, als wollte er lockerlassen. Entweder ich gab ihm was er wollte, oder er würde damit beginnen, sich sonst was für Gründe auszudenken. Natürlich würde er das tun, da ich so ein großes Geheimnis daraus machte. Dabei war es doch gar kein Geheimnis, sondern ein Rettungsanker. Für mich.

„Ich brauche eine Aufgabe“, sagte ich schlussendlich leise, ohne ihm dabei in die Augen zu sehen. „Ich muss mich nützlich machen.“ Denn wenn ich anfing zu verweilen und nichts mehr hatte, auf das ich mich konzentrieren konnte, müsste ich mich damit auseinandersetzen, was innerhalb weniger Monate, aus meinem Leben geworden war.

Sawyer musterte mich. Er schien zu ahnen, dass noch mehr dahintersteckte, aber seltsamerweise begann er nicht zu sticheln, oder zu provozieren, wie es sonst seine Art war. Stattdessen schien er ganz ungewohnt für ihn zu zögern. Oder vielleicht verstand er auch, dass ich ihn uns Salia benutzte, um vor meinen eigenen Problemen davonzulaufen. „Dann ist es ja gut, dass du uns am Hals hast“, sagte er ganz ruhig. „Wir sind eine Lebensaufgabe.“

Nein, das waren sie nicht, denn sobald wir seine Familie gefunden hatten, würde ich ihn und Salia bei ihnen lassen und weiterziehen. Wahrscheinlich sollte ich ihm das mitteilen, aber etwas in mir sperrte sich dagegen. Im Moment wollte ich ihm das einfach nicht sagen. Warum nur fühlte ich mich deswegen wie eine Betrügerin? Es ging ihn doch schließlich nichts an, was ich für mich geplant hatte.

„Was bedeutet dieser finstere Blick?“

„Ich schaue nicht … ahhh!“ Meine Füße rutschten weg und im nächsten Moment saß ich mit dem Hintern im Dreck.

Verdutzt blieb Sawyer stehen, begann dann aber zu grinsen. „Für den Fall gebe ich dir neun Punkte, aber der Landung fehlte die Eleganz und Anmut, darum gibt es dafür nur drei.“

Jetzt schaute ich ihn finster an und arbeitete mich dann zurück auf die Beine. Verdammte Nässe, verdammter Matsch, verdammter Herbst. „Du hältst dich wohl für unglaublich komisch.“

„Nein, eigentlich nicht, aber hin und wieder habe ich ganz brauchbare Einfälle.“

„Das glaubst auch nur du.“ Grummelnd rieb ich mir über meine schmerzende Kehrseite.

„Hast du dir den Hintern gebrochen?“ Er lehnte sich ein wenig zur Seite, um ihn genauer in Augenschein nehmen zu können. „Wenn du magst, könnte ich ihn mir mal ansehen. Das wäre wirklich kein Problem.“

„Das hättest du wohl gerne.“ Ich schüttelte die Hände aus und wischte sie dann an meiner Hose ab, um den Dreck loszuwerden.

„Hm.“ Nachdenklich musterte er mich. „Eigentlich gibt es ein paar Dinge, die mir weitaus …“ Ein Geräusch ließ ihn verstummen. Es war der Ruf eines Tieres.

Es war ein vertrautes Blöken, dass wir beide sofort wiedererkannten.

„Hast du das gehört?“

„Und ob.“

Wir schauten uns einen Moment an, dann rannten wir wie auf ein unsichtbares Zeichen los. Nur ein Wesen blökte auf diese störrische und fordernde Art: Trotzkopf. Und wenn das wirklich Trotzkopf gewesen war, mussten auch die anderen ganz in der Nähe sein.

Zum ersten Mal seit wir uns von den anderen getrennt hatten, war Sawyer schneller als ich. Er jagte voraus, wich den Bäumen im Slalom aus und stürmte vor mir auf eine kleine Lichtung, nur um dann abrupt stehen zu bleiben, sodass ich fast in ihn hineingerannt wäre. Und da waren sie. Trotzkopf stand neben seinem Karren an einen Baum gebunden. In der Mitte der Lichtung brannte ein kleines Lagerfeuer, an dem Wolf gerade mit Salias Hilfe kochte. Killian saß am Rand des Karrens, ein Bein aufgestellt, das andere hing runter. In seiner Hand hielt er etwas, dass ich von hier aus nicht erkennen konnte.  

Sawyer sah seine Tochter und sagte nur ein Wort: „Salia.“ Dann stürmte er schon wieder los.

Der Ruf nach seiner Tochter, machte die anderen auf uns aufmerksam. Sobald Salia ihren Vater sah, rief sie „Papa!“ und rannte ihm entgegen. Sofort ließ Sawyer sich auf die Knie fallen. Sie flog direkt in seine ausgebreiteten Arme, wickelte ihre Zahnstocherärmchen um seinen Hals und drückte ihn genauso fest, wie er sie. Dabei gab sie ein herzzerreißendes Schluchzen von sich.

Wolf erhob sich und betrachtete diesen herzerweichenden Moment mit einem Lächeln. Killian dagegen hatte seinen Blick auf mich geklebt. Als er sah, wie ich die kleine Lichtung betrat, schwang er seine Beine vom Karren und eilte direkt auf mich zu. Auf seinem Gesicht lagen sowohl Sorge, als auch Erleichterung.

Ich öffnete den Mund zu einer Begrüßung, doch dazu kam es gar nicht. Sobald er mich erreicht hatte, schlang er die Arme um mich und drückte mich an sich. Davon war ich so überrumpelt, dass ich einfach nur dastand und nicht wusste, was ich tun sollte.

„Du bist wieder hier“, murmelte er und ließ mich dann los, aber nur um mein Gesicht zwischen seine warmen Hände zu nehmen. Er war so nahe, dass ich einen Moment befürchtete, er würde versuchen mich zu küssen, und ich wusste wirklich nicht, was ich dann tun würde. Doch stattdessen schloss er die Augen und lehnte seine Stirn gegen meine. „Du bist wirklich hier“, wiederholte er nur.

Offensichtlich hatte er sich um mich Sogen gemacht. „Mir geht es gut“, versicherte ich ihm und umfasste seine Handgelenke. Nicht um ihn wegzustoßen, sondern einfach nur weil ich es wollte. „Mit uns ist alles in Ordnung.“

Er öffnete die Augen, blieb aber wo er war. „Als ihr nicht zurückgekommen seid … ich habe befürchtet, sie hätten euch.“

„Nein, aber wir mussten sie erst von unserer Spur abbringen, bevor wir nach euch suchen konnten.“

Der Griff seiner warmen Hände wurde ein wenig fester. Sein Daumen strich über meine Wange und erst da wurde mir wirklich bewusst, wie nahe wir uns eigentlich waren. Trotzdem hatte ich nicht das Bedürfnis, von ihm abzurücken.

Ich hatte mich geirrt, es gab doch jemanden, der hier auf mich gewartet hatte und das war ein schönes Gefühl. Doch als mir das klar wurde, verspürte ich wieder diese beängstigende Unruhe. Es sollte sich nicht gut anfühlen, denn am Ende würde es mir nur wieder Schmerzen bereiten. Und trotz dieses Wissens machte ich mich nicht von ihm los und ging auf Abstand.

Dieses Spiel war gefährlich. Für mich.

„Bist du da bald mal mit ihr fertig, oder willst du sie auch noch abknutschen?“, kam es ziemlich knurrig von Sawyer.

Killians Augen blitzten auf. „Führ mich nicht in Versuchung“, sagte er leise, löste seine Stirn aber von meiner und ließ seine Hände auf meine Schultern rutschen.

Sawyer stand wieder aufrecht, Salia auf dem Arm, die sich an ihren Vater klammerte, als wollte sie ihn nie wieder loslassen.

Wolf grinste immer noch breit.

Ich machte mich von Killian los, ging zu unserem hauseigenen Riesen und schlang die Arme um seine Mitte – höher kam ich nicht. „Schön dich zu sehen.“

Mit einem Brummen tätschelte er mir den Rücken, bevor ich mich wieder von ihm löste.

„Was ist passiert?“, fragte Killian in einem sehr fordernden Ton, wie ich ihn nicht von ihm kannte.

Ein großes Plopp aus dem Topf machte Wolf darauf aufmerksam, dass sein Essen gerade anbrannte. Eilig ging er zurück zum Lagerfeuer.

„Lass uns erstmal ankommen“, bat ich Killian und ging zum Karren. „Wir frieren uns seit Tagen den Arsch ab und haben wegen dem verdammten Wetter vermutlich schon Schimmel angesetzt.“ Ein heißes Bad wäre jetzt einfach herrlich, aber da ich das sicher nicht bekam, begnügte ich mich für den Augenblick mit warmen Decken. Ich schnappte mir gleich drei. Zwei wickelte ich um meine Schultern und die dritte reichte ich Sawyer. Dann versammelten wir uns um das Lagerfeuer und berichteten, was wir die letzten Tage erlebt hatten.

Salia klammerte sich dabei die ganze Zeit an ihren Vater und schien nicht gewillt, ihn jemals wieder loszulassen, während Wolf Schüsseln holte und begann das Essen zu verteilen. Die Schüsseln, die für Killian gedacht war, reichte der Arzt sofort an mich weiter. Er saß so dicht neben mir, dass ich jede seiner Bewegungen spürte.

„Ich dachte, die Tracker kommen nicht auf den Markt“, bemerkte er.

„Auf dem Markt waren sie ja auch nicht.“ Nur in der Nähe und damit hatten sie mir einen riesigen Schrecken eingejagt. Wenn ich das nächste Mal in einen Spiegel schaute, würde ich vermutlich weiße Haare auf meinem Kopf finden.

Ich nahm meinen ersten Löffel und musterte Killian. „Warst du in Versuchung mit ihnen zu gehen?“ Das musste ich einfach wissen.

„Zurück nach Eden?“ Als ich nickte, schüttelte er den Kopf. „Nein. Ich bin nicht mal auf die Idee gekommen.“ Er lächelte sein halbes Lächeln. „Eigentlich habe ich mir die ganze Zeit nur Sorgen um dich gemacht.“

Das zu hören erleichterte mich auf eine Art, die ich nicht zu genau analysieren wollte.

Sawyer betrachtete uns mit versteinerter Miene, wie er es eigentlich schon die ganze Zeit tat. „Schön, dass du dir um sie Sorgen gemacht hast.“

„Ich war um euch beide besorgt“, korrigierte er sich, doch das klang irgendwie nicht glaubhaft. „Als ich die Tracker entdeckt habe und Sawyer zu dir gelaufen ist, haben wir uns einfach nur den Karren geschnappt und schnell das Weite gesucht. Ich wollte nicht gehen“, versicherte er mir sofort. „Aber …“

„Es war das richtige gewesen“, versuchte ich ihn zu beruhigen.

So wie er mich anschaute, war er wohl anderer Meinung. „Als ihr am nächsten Tag noch nicht zurück wart, ist Wolf noch mal alleine zurückgegangen. Euch hat er nicht gefunden, aber dafür das hier.“ Er zog etwas aus seiner Hosentasche und zeigte es mir. Es war eines von diesen Geräten, dass die Tracker dazu benutzt hatten, um mit ihren Leuten in Verbindung zu bleiben.

„Ein Laserfunk“, sagte Sawyer.

Killian nickte. „Damit konnten wir zuhören und wussten, dass sie euch auf der Spur waren. Und auch, dass ihr ihnen immer wieder entwischt seid. Aber vor zwei Tagen ist der Akku leer geworden und seitdem wussten wir eigentlich gar nichts mehr.“

Besonders für Salia musste das sehr schlimm gewesen sein. Aber auch Killian schien auf einmal Sorgenfalten zu haben, die vor einer Woche noch nicht dagewesen waren.

„Es ist ja noch mal gutgegangen“, hörte ich mich sagen und versuchte mich an einem Lächeln. Dabei wollte ich eigentlich nur in ruhe essen und dann schlafen. Ich war einfach nur erschöpft. „Und mit ein bisschen Glück, haben wir sie jetzt endgültig abgehängt.“

Um mich herum kam zustimmendes Gemurmel auf, auch wenn keiner der Anwesenden so wirkte, als würde er daran glauben. Viel mehr erweckte es den Anschein, als bereiteten sie sich innerlich bereits auf die nächste Begegnung vor. Aber ich musste einfach daran glauben, dass es jetzt endlich vorbei war. Ich wollte nicht den Rest meines Lebens Angst haben und mich immer umschauen müssen, um von der nächsten Attacke nicht überrascht zu werden. Nein, wir hatten es hinter uns, da war ich mir sicher.

Ich nahm einen weiteren Schluck von meinem Eintopf und versicherte mir dabei immer wieder, dass es nun endgültig vorbei war. Eden und die Tracker waren nicht länger Teil meines Lebens.

 

oOo

Kapitel 27

 

„Lasst uns da lang gehen, da werden die Bäume lichter“, sagte Sawyer und zeigte einen leicht abfallenden Abhang hinunter, wo die Bäume sich nicht mehr dicht an dicht drängten.

Ich sah mir die Sache genauer an. Auf den ersten Blick wirkte der Untergrund stabil und es wäre wirklich ein Segen, den verdammten Karren nicht mehr zwischen den ganzen Bäumen hindurchnavigieren zu müssen.

Wer von uns hatte es noch gleich für eine gute Idee gehalten, quer durch einen Wald zu marschieren? Ach ja, genau, ich war das gewesen. Das bedeutete, ich durfte mich nicht einmal darüber beschweren, auch wenn ich das liebend gern getan hätte.

Seit Tagen marschierten wir nun schon durch das Gehölz. Fast eine Woche war es her, dass wir zu den anderen zurückgefunden hatten und da wir alle erschöpft waren, hatten wir beschlossen, eine kleine Ruhepause einzulegen. Die hatte aber geendet, als das Wetter wieder schlechter geworden war. Wir hatten unsere Sachen gepackt, den Wald verlassen und waren Richtung Westen gezogen. Leider war das Gelände dort mit jedem Tag unwegsamer geworden. Die Straßen waren kaum befahrbar gewesen, die Flüsse wegen des ständigen Regens unpassierbar und von dem Rest begann ich besser gar nicht erst. Als wir dann vor der Wahl standen, mit dem Karren durch eine mir unbekannte Stadt zu fahren, oder unser Glück in diesem Wald zu suchen, hatte ich mich für letzteres entschieden. Hätte ich zu diesem Zeitpunkt nur gewusst, was für eine Tortur das werden würde, hätte ich mich anders entschieden.

Nun irrten wir hier schon seit zwei Tagen herum. Es gab keine Wege, der Boden war uneben, die Bäume standen mancherorts so eng, dass wir einen Umweg nehmen mussten und um den ganzen noch die Krone aufzusetzen, hatten wir den Karren bereits dreimal aus sumpfigem Boden ziehen müssen.

Mein Highlight war aber dieser verdammte Regen. Er hatte gestern Abend begonnen und seitdem nicht mehr aufgehört. In der letzten Stunde ist er sogar noch schlimmer geworden und wenn mein Gefühl mich nicht täuschte, würde er sogar noch zulegen, bevor sich eine Besserung einstellte.

Wir waren bereits alle bis auf die Knochen durchgeweicht. Selbst Trotzkopf schien von dem Wetter langsam die Nase voll zu haben. Er trottete einfach nur vor sich hin und sah dabei aus wie ein Stück Elend.

Die Einzige, die es ein wenig besser hatte, war Salia. Die saß nämlich dick eingemummelt, zusammen mit unserer Ladung, unter der wasserfesten Plane auf dem Karren und spielte mit ihren Figuren, um sich die Zeit ein wenig zu vertreiben. Aus ein paar Ästen hatte Wolf eine Art Zelt auf dem Karren errichtet, damit die Kleine bequem darunter sitzen konnte und nicht unter der Plane begraben wurde. Die Erwachsenen dagegen mühten sich damit ab, den blöden Karren, bei dem blöden Wetter, durch den blöden Wald zu bekommen.

Da ich darauf aber keine Lust mehr hatte und selbst Killian langsam genervt davon schien, kam ich Sawyers Vorschlag nach.

Die Neigung des Abhangs stellte für den Karren kein Problem da. Mit vereinten Kräften, schafften wir ihn auf eine tiefere Ebene und damit auf den lichten Teil zu. Doch der Wald war hier nicht nur ausgedünnt, er endete wenige Minuten später und dann standen wir vor einem riesigen See, der von allen Seiten vom Wald eingeschlossen war.

Das Wasser wirkte dunkel und trüb. Die finsteren Wolkenberge darüber fast ehrfurchteinflößend. Der Regen plätscherte in eine nicht enden wollenden Kakofonie auf die Wasseroberfläche. Irgendwo weit in der Ferne zuckte ein Blitz über den Himmel. Eigentlich war es erst Nachmittag, doch die diesigen Wolken, ließen alles viel düsterer aussehen.

„Diese Aussicht hat schon etwas mystisches“, bemerkte Killian neben mir.

Ich hatte für die Aussicht nur einen kurzen Blick übrig, bevor ich mich wieder darauf konzentrierte, Trotzkopf am Ufer entlangzuführen.

„Wenn es dir so gut gefällt, kannst du ja hierbleiben“, bemerkte Sawyer spitz und wischte sich mit der Hand einmal durch das Gesicht. Das Haar klebte ihm am Kopf und auch seine Kleidung war komplett durchnässt.

Wenn wir nicht bald einen Unterschlupf fanden und aus dem Regen herauskamen, konnte einer von uns noch ernstlich erkranken. „Bevor ihr jetzt wieder anfangt zu streiten, haltet lieber Ausschau nach einem trockenen Plätzchen.“

„Was meinst du eigentlich, was wir die ganze Zeit tun?“, wollte Sawyer wissen. „Uns die Eier kraulen?“

„Das würde zumindest erklären, warum ihr so langsam seid.“

Statt einer passenden Erwiderung, warf Sawyer mir nur einen bösen Blick zu.

Ich beließ es einfach dabei. Wir waren alle hungrig und gereizt. Streit war im Moment wirklich das Letzte, was wir brauchen konnten. Ausnahmsweise schienen die anderen das auch mal so zu sehen, darum verbrachten wir die nächsten Minuten in herrlichem Schweigen.

Die Fläche zwischen See und Wald war komplett mit Gras bewachsen. Früher musste es hier mal eine Straße gegeben haben, aber die war mit der Zeit von der Natur komplett verschlungen worden. Zumindest war die halbwegs ebene Fläche zurückgeblieben, sodass wir hier schneller vorrankamen, als in den letzten Tagen. Nicht das uns das viel nutzte, wenn man kein klares Ziel vor Augen hatte.

Wenn wir nicht bald einen Hinweis auf Sawyers Familie fanden, würden wir die Suche erstmal unterbrechen müssen. Die Tage wurden kürzer und die Nächte kälter. Wir konnten nicht den ganzen Winter so umherreisen. Ein paar Wochen hatten wir noch, dann wäre bis zum Frühling aber erstmal Schluss. Für die kalten Tage brauchten wir einen festen Unterschlupf. Wir mussten Vorräte anlegen und uns auf die kalte Jahreszeit vorbereiten.

Wäre ich noch am Flugzeug, hätte ich mit diesen Vorbereitungen schon längst begonnen, doch wenn man die ganze Zeit wie Nomaden herumreiste, war das um einiges schwerer.

Ich würde mit Sawyer darüber sprechen müssen. Nicht hier und nicht jetzt, aber bald. Es wäre dumm, es bis zum Letzten hinauszuzögern, denn das konnte für uns alle gefährlich werden.

Jetzt erstmal setzte ich einen Fuß vor den anderen. Mein Blick glitt über den Waldrand und das Ufer. Killian hatte schon recht, die Aussicht war eigentlich recht hübsch. Noch besser würde sie mir allerdings gefallen, wenn es da irgendwo eine Höhle, oder eine Ruine geben würde, in der wir uns verkriechen konnten, bis das Wetter endlich besser wurde.

Am Ufer ragten Felsen aus dem Wasser. Ganze Ansiedlungen aus Schilf hatten sich darum niedergelassen. Das Wasser schwappte in rhythmischen Bewegungen gegen das Ufer und leckte an dem Treibholz, dass es angespült hatte. Der Blick auf den See hatte etwas Vertrautes, so als wäre ich schon einmal hier gewesen. Gleichzeitig bescherte er mir aber auch eine Gänsehaut. Musste an meinem Ekel vor Fröschen liegen. Ich wollte gar nicht wissen, wie viele von diesen schleimigen Viechern zwischen dem Schilf wohnten.

Sawyer richtete den Blick zum Himmel. „Der Regen wird immer schlimmer.“

„Vielleicht sollten wir doch wieder in den Wald gehen“, überlegte Killian. „Da wären wir etwas geschützter.“

Mit einem beklemmenden Gefühl, von dem ich nicht sagen konnte, woher es stammte, schaute ich zum Waldrand. Er wirkte nicht besonders einladend. „Die Bäume werden uns wieder ausbremsen.“

„Aber am Ufer gibt es nichts, wo wir uns unterstellen können“, hielt Killian dagegen. „Oder siehst du irgendwo etwas? Ich nämlich nicht.“

Nein, ich auch nicht und ich hatte ziemlich gründlich geguckt. „Sawyer?“, fragte ich. Ich wollte seine Meinung wissen.

Sawyer ließ seinen Blick noch einmal über den See gleiten und zog dann die Schultern hoch, um sich ein wenig besser gegen den Regen zu schützen. „Es fällt mir wirklich nicht leicht das jetzt zuzugeben und ich muss ehrlich sagen, es widerstrebt mir zutiefst, weil …“

„Komm zum Punkt“, forderte ich.

Mit einem amüsierten Funkeln in den Augen, grinste Sawyer zu mir rüber. „Ich glaube, ich muss unserer hübschen Lady zustimmen.“

Killian schoss einen tödlichen Blick auf Sawyer ab. „Deine Witze waren auch schon mal besser.“

„Findest du? Also ich bin ja der Meinung …“

Wolf gab ein tiefes Brummen von sich. Es war fast schon ein Knurren und es verfehlte seine Wirkung nicht. Sawyer hörte auf zu Sticheln und Killian beschloss, dass ihm sein Atem zu schade war, um ihn an Sawyer zu verschwenden.

Man musste auch für die kleinen Dinge des Lebens dankbar sein.

Ohne große Begeisterung, suchten wir uns einen Weg zurück zwischen die Bäume. Der Regen ließ sofort deutlich nach, aber der Weg wurde auch wieder schwieriger. Ein paar Mal musste Wolf von hinten schieben, damit wir weiterkamen und einmal mussten wir einen Schlenker zurück zum See machen, weil wir mit dem Karren sonst nicht weitergekommen wären, aber dann ging es schnurgerade durch den Wald.

Leider spürten wir auch hier bald, dass der Regen immer stärker wurde. Vielleicht sollten wir irgendwo einfach unsere Plane Spannen und dann darunter ausharren, bis das Wetter wieder besser war.

Wäre der Boden nicht so aufgeweicht, hätte ich diese Möglichkeit schon längst in die Tat umgesetzt, aber eigentlich wollte ich nicht die nächsten Stunden mit einem kalten und nassen Hintern irgendwo im Wald herumsitzen. Wobei der einzige Unterschied zum jetzigen Zustand eigentlich nur in meiner Haltung bestünde.

„Da scheint ein Haus zu stehen“, sagte Killian, als ich Trotzkopf gerade zwischen zwei eng beieinanderstehenden Kiefern hindurchmanövrierte.

„Warum lässt du das so klingen, als sei es etwas Besonderes?“ Häuser gab es schließlich überall, in den verschiedensten Stadien des Zerfalls.

„Weil dieses Haus ein Dach und vier Wände hat.“

Das war nicht nur etwas Besonderes, es konnte genau das sein, wonach wir die ganze Zeit gesucht hatten.

Ich späte zwischen den Stämmen der Bäume hindurch, bis auch ich es entdeckte. Tatsächlich, vier intakte Wände, mit einem scheinbar unversehrten Dach obendrauf. „Es könnte bewohnt sein“, überlegte ich laut. Bei einem so gut erhaltenen Haus, war das sogar ziemlich wahrscheinlich. Solche Bauten hielten sich schließlich nicht von allein in Schuss. Ganz im Gegenteil. Sobald sie unbewohnt waren, neigten sie ziemlich schnell dazu, sich in ihre Bestandteile aufzulösen.

„Glaubst du, wie würden uns für eine Nacht aufnehmen?“, fragte Killian.

Schwere Frage. Vielleicht. Genauso gut konnte es aber auch sein, dass sie uns davonjagten, sobald wir ihren Grund und Boden betraten. Menschen waren schwer einzuschätzen, besonders wenn sie so abgeschieden lebten, wie diese hier. Wäre einfach so jemand bei unserem Flugzeug aufgetaucht, hätte Marshall ihn erst angegriffen und anschließend Fragen gestellt.

„Kismet?“

„Ich weiß nicht, das finden wir wohl nur heraus, wenn wir uns die Sache genauer anschauen.“ Und mit ein bisschen Glück, würden wir so endlich diesem verflucht nassen Wetter entkommen.

Da niemand Einspruch erhob, zog ich an Trotzkopfs Halfter, damit er mir folgte und betete darum, mit dem Karren nicht im Dreck stecken zu bleiben.

Zwischen den Stämmen der Bäume gab es einen alten Wildwechsel, der zwar nicht direkt zu der Hütte führte, aber nahe daran vorbei. Das war nicht so gut wie ein richtiger Weg, aber immer noch besser, als aufgeschwemmter Waldboden.

Der Karren holperte über Wurzeln und Äste und Salia wurde auf der Ladefläche gut durchgeschüttelt. Doch je näher wir dem Haus kamen, desto deutlicher wurde der heruntergekommene Zustand.

Soweit der Blick zwischen den Bäumen es zuließ, schien es wirklich noch vier Wände und ein unbeschädigtes Dach zu haben, aber der allgemeinzustand war nicht sehr gut. Um das Haus herum stand ein alter Gartenzaun aus geraden Ästen, der teilweise niedergerissen, oder einfach durch die Zeit verfallen war. Alles war unter einer Schicht Laub bedeckt und von Efeu überwachsen.

Das Haus selber wirkte alt, ungepflegt und irgendwie verwunschen. Die Fenster waren dreckig und von drinnen sah man auch kein Licht. Das Ganze verbreitete nicht gerade einen einladenden Eindruck.

Wieder überkam mich dieses Gefühl von Vertrautheit, dass ich bereits am See gehabt hatte. Gleichzeitig spürte ich auch wieder diese leichte Beklemmung in mir aufsteigen. Es war mehr als eine Ahnung und es nahm mit jedem Schritt zu. Ich kannte das hier, ich war schon einmal hier gewesen.

Noch während ich versuchte einen Sinn in diesem Gefühl zu finden, entdeckte ich die alte Kinderwippe im Garten und als die Erkenntnis mich traf, blieb ich so abrupt stehen, als hätte sich direkt vor mir eine Wand aufgetan.

Nein, das konnte nicht sein, das war unmöglich, völlig ausgeschlossen. Das wäre ein viel zu großer Zufall, um wirklich wahr zu sein.

Trotzkopfs Führleine entglitt meinen plötzlich kraftlosen Fingern, als er stur weiterging. Ich merkte es kaum. Ich stand einfach nur da und starrte diese halb verrottete Kinderwippe an, an der Efeu wie gierige Finger hinaufkletterte.

Nach zwei Schritten merkte Killian, dass ich stehengeblieben war und drehte sich nach mir um. „Was ist los?“

Auch Wolf blieb stehen. Trotzkopf dagegen zog den Karren munter weiter, als würde ihn all das hier nichts angehen.

„Kismet?“

Bilder aus der Vergangenheit strömten auf mich ein. Das Lachen von spielenden Kindern und einer Mutter, die aus dem Haus kam, um ihren Nachwuchs zum Essen zu rufen. Ein Baby, das entschlossen seine ersten Schritte machte, direkt in die ausgebreiteten Arme des wartenden Vaters. Ein Junge, der seine kleine Schwester mit einem ekligen Frosch durch den Garten jagte, während sie ihm androhte, ihm eine Schlange ins Bett zu stecken, wenn er damit nicht aufhörte.

„Hey, was macht ihr?“, wollte Sawyer wissen. „Der verdammte Karren fährt weg. Was soll der Mist?“

Ich musste es wissen, jetzt sofort.

„Bleib stehen, du stinkende Flohschaukel.“

Ohne auf die anderen zu achten, setzte ich mich in Bewegung. Nicht außen rum, wo der Karren lang musste, nein, mein Weg führte mich zwischen den Bäumen hindurch, direkt auf das Grundstück zu.

„Wie hält man dieses verdammte Vieh an?“

Wie in Trance setzte ich einen Fuß vor den anderen, während Erinnerungen wie ein endloser Film durch meinen Kopf zogen. Gute Erinnerungen. Und schlechte. Die glücklichen Gesichter von Kindern und das herzzerreißende Weinen einer Frau. Ich bemerkte weder den Regen, noch die Kälte, oder wie Wolf Sawyer mit Trotzkopf zur Hilfe kam, als ich auf die Lichtung trat und das alte Häuschen zum ersten Mal seit elf Jahren in seiner ganzen Pracht sah.

Es war nicht möglich, aber es war so: Ich war wieder Zuhause.

Dieses heruntergekommene Haus, war das Haus, in dem ich geboren und aufgewachsen war. Direkt an der Außenwand befand sich ein hohes Pflanzengitter, wo im Sommer immer der Glyzinie geblüht hatte. Die Haustür hing nur noch halb in den Angeln und das Glas aus dem Fenster daneben, war bis auf einen kläglichen Rest verschwunden. Die alten, grüngestrichenen Fensterläden, knarzten leise im Wind.

Ganze Bärte von Efeu und Glyzinie wucherten an der Außenwand empor, bis hinauf aus Dach, wo sie sich nach allen Seiten ausbreiten. Es sah aus, als würde die Natur versuchen, dieses Stückchen Land zu verschlingen, um alle Spuren der früheren Bewohner zu vernichten.

Das alte Gartentor war geschlossen und intakt, wenn auch sehr vermodert. Efeu wucherte darüber hinweg und umschlang es mit seinen Zweigen. Dieses Tor würde niemand so ohne Weiteres öffnen können, aber das war auch gar nicht nötig, denn direkt daneben war der Zaun niedergerissen.

Ohne wirklich zu merken, wie ich mich bewegte, trat ich über die Grenze, auf das verwunschene Grundstück.

Da waren die steinernen Hochbeete, die mein Vater für meine Mutter gebaut hatte. Im Frühjahr hatte sie dort immer Obst und Gemüse gepflanzt, damit immer etwas Frisches und Gesundes auf dem Tisch kam.

Das kleine Klohäuschen, in dem es immer ein wenig unangenehm gerochen hatte, lag umgekippt und in Einzelteilen im Gras. Ich erkannte nur, was es mal war, weil ich es wusste. Besonders nachts hatte ich mich immer gefürchtet hinauszugehen, um es zu benutzen.

Ich sah die Zeichen von vergessenen Leben und zerstörten Träumen und spürte, wie sich in meiner Kehle ein dicker Kloß bildete. Ich war hier, ich war wirklich wieder hier, dem Ort wo meine Kindheit begann und auch endete.

Eine Berührung an der Schulter, holte mich aus meinem tranceartigen Zustand in die Wirklichkeit zurück. Überrascht und erschrocken, wirbelte ich herum und sah mich Auge in Auge Killian gegenüber. Sein Gesicht drückte Sorge aus.

Er musterte mich einen Moment, tastete mein Gesicht mit den Augen ab. „Warum weinst du?“

Ich weinte? Hastig griff ich mir ins Gesicht und wischte mir über die Wangen. „Das ist nur der blöde Regen“, sagte ich und wandte mich schnell von ihm ab. Um zu wissen, dass er mir nicht glaubte, musste ich ihn nicht ansehen.

„Du kennst diesen Ort.“

War das so offensichtlich, oder einfach nur gut geraten? 

„Hier wurde ich geboren“, sagte ich leise „Hier habe ich mit meinen Eltern gelebt, mit Akiim und Nikita, bis …“ Bis meine Welt von einem Moment auf den anderen zerbrochen und alles anders geworden war. Von diesem Punkt an, hatte es kein Zurück mehr gegeben, nur noch die Flucht in eine ungewisse Zukunft.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich Killians Überraschung und mit einem Mal schien er dieses vergessene Häuschen mit ganz anderen Augen zu sehen.

„Ich wusste nicht, wo dieses Haus steht“, sagte ich leise und tastete es mit den Augen ab. „Ich hätte nicht geglaubt, es jemals wiederzusehen.“

„Das ist … unerwartet.“

Das war es in der Tat. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit zufällig auf das Haus zu stoßen, in dem man aufgewachsen war, wenn man nicht danach suchte und nicht die geringste Ahnung hatte, wo es sich befand? Und doch stand ich nun hier und wusste nicht was ich denken, oder fühlen sollte. Einerseits war es überwältigend, andererseits aber auch beängstigend wieder hier zu sein. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich überhaupt hier sein wollte. Diesen Teil meines Lebens hatte ich schon lange hinter mir gelassen, denn irgendwann hatte ich einsehen müssen, dass es nichts brachte, sich an vergangene Dinge zu klammern und es besser war, sowas einfach zu verdrängen und zu vergessen.

Obwohl mir das dank meiner Alpträume ja nicht besonders gut gelungen war.

„Das muss ziemlich erschütternd für dich sein.“

So konnte man es auch nennen.

In der Ferne grollte der Donner über den Himmel und erinnerte mich daran, dass wir aus einem bestimmten Grund hier waren. Wir suchten Zuflucht vor dem Wetter, bevor dieser Regen noch schlimmer werden konnte.

Leider war ich mir nicht sicher, ob ich bereit war, den Geistern der Vergangenheit zu begegnen, die in diesem Haus sicher schon auf mich lauerten, um mit gierigen Klauen nach mir zu greifen. Aber in Anbetracht dessen, dass der Regen immer stärker wurde, wäre es einfach nur albern, weiter hier draußen zu stehen und langsam abzusaufen, anstatt hineinzugehen und das aufziehende Unwetter in Wärme und Sicherheit zu überdauern. Trotzdem zögerte ich.

„Wir können auch weitergehen und uns etwas anderes suchen“, sagte Killian, der meinen Zwiespalt scheinbar spürte. Vielleicht sah man ihn mir auch an.

„Allzu viele Zufluchten, wird es in diesem Wald sicher nicht geben.“ Dies hier war sogar mit hoher Wahrscheinlichkeit die einzige. Es war zumindest das erste, dass wir in den letzten Tagen gefunden hatten.

„Vermutlich nicht.“

Und wir mussten wirklich aus dem Regen raus, sonst würde am Ende noch eine von uns krank werden, nur weil ich mich davor fürchtete, ein altes Haus zu betreten.

Komm schon, reiß dich gefälligst zusammen, und geh einfach hinein!

Aber ich konnte nicht, meine Beine verweigerten mir den Dienst. Alles in mir sperrte sich dagegen, auch nur einen Schritt weiter zu gehen. An diesem Ort hatte ich alles gehabt. Und auch alles verloren.

Wieder grollte der Donner über den Himmel. Ich zählte bis zwölf, dann erhellte ein gleißender Blitz für einen kurzen Augenblick den Himmel.

Von der Seite näherten sich Sawyer und Wolf mit dem Karren. Sawyer lief voran, den Blick auf das Haus gerichtet. „Und, können wir da rein?“

„Warte“, sagte Killian in einem sehr bestimmten Ton. Dann spürte ich, wie er seine Hand in meine schob. Sein Gesicht drückte nichts als Verständnis aus. Dabei wusste er nicht einmal, welche grausamen Erinnerungen dieser Ort für mich bereithielt, denn ich hatte es ihm nie erzählt. „Es ist deine Entscheidung.“

Der Karren polterte über die Reste des Zauns hinweg und kam neben den Hochbeten zum Stehen.

Sawyer musterte erst die verschränkten Hände von Killian und mir und dann mein Gesicht. „Was gibt es für ein Problem?“

Ich schaute zu ihm rüber. Er war erschöpft und durchnässt. Wir alle waren das und wir alle wünschten uns im Moment nichts sehnlicher, als endlich im Trockenen zu sein. Ich konnte sie nicht alle wieder fortschicken, weil ich Angst vor meinen Erinnerungen hatte. „Nichts“, sagte ich deswegen. „Es gibt kein Problem.“

„Worauf warten wir dann?“

„Ich habe nur etwas überlegt“, behauptete ich und machte mich von Killian los. Dann zwang ich mich dazu, einen Fuß vor den anderen zu setzen, bis ich die Haustürschwelle erreicht hatte.

Das Haus war aus massiven Baumstämmen gefertigt. Drei Räume. Wenn man hineinkam, landete man direkt im großen Wohnraum mit dem Ofen, an dem meine Mutter immer das Essen zubereitet hatte. Rechts von diesem Raum befand sich das Schlafzimmer meiner Eltern mit den gelben Vorhängen, die immer in einer sommerlichen Brise geflattert und getanzt hatten.

Links am Wohnraum schloss sich das Kinderzimmer mit den zwei Betten an. Dort hatten Akiim und ich des Nachts geruht. Nikita hatte immer bei meiner Mutter geschlafen. Erst weil sie noch so klein war und dann, weil mein Vater gestorben war und meine Mutter es nicht verkraftet hätte, völlig allein in diesem Bett zu schlafen.

Mit einem tiefen Atemzug, verdrängte ich meine Ängste und trat nach elf Jahren zum ersten Mal in das Haus meiner Kindheit.

Der Wohnraum war dunkel, staubig und dreckig. Früher war es hier immer warm und einladend gewesen, doch nun wirkte er einfach nur noch verlassen. Der alte Ofen in der Ecke war kalt, der Boden mit Blättern und Zweigen verdreckt, die der Wind über die Jahre hineingeweht hatte und direkt hinter der Tür hatte sich eine Pfütze gebildet. Ansonsten aber schien es trocken und das Dach dicht zu sein.

Die Baukunst meines Vaters. Er hatte dieses Haus und alles was sich darin befand, mit seinen eigenen Händen hochgezogen. Manchmal hatte ich ihm dabei geholfen. Wie bei dem Regal, auf der anderen Seite, oder dem Bett, dass Akiim bekommen hatte, als er für das alte zu groß geworden war. Mein Vater war in solchen Dingen wirklich versiert gewesen.

Eine Gänsehaut überlief mich und ich begann zu frösteln, als ich meinen Blick über die Einrichtung wandern ließ. Alles war noch genauso wie damals, als ich es das letzte Mal gesehen hatte. Der Tisch mit den Stühlen vorne rechts. Der große Teppich in der Raummitte. Das Regal an der Wand, mit dem Foto meiner Mutter und den Kinderzeichnungen, die sie dort als Andenken aufgestellt hatte. Die beiden Sessel mit den Kissen, die meine Mutter genäht hatte. Ich konnte geradezu vor mir sehen, wie meine Eltern dort saßen, meine Mutter mit der neugeborenen Nikita auf dem Arm, während Akiim und ich auf dem Teppich spielten.

Der Klos in meinem Hals nahm zu und ich musste mich abwenden, weil dieser Anblick zu viel für mich war. Ich wollte das nicht sehen. Ich musste hier raus. Nur ganz kurz, dann würde ich mich zusammenreißen und endlich mit diesem unnützen Theater aufhören. Nur kurz durchatmen, das war alles was ich brauchte.

Eilig trat ich wieder aus dem Haus, verlangsamte meine Schritte aber, sobald ich draußen war.

Killian stand bei Wolf und Sawyer und redete mit ihnen. Bei meinem Auftauchen, verstummten sie aber alle und schauten in meine Richtung. Wenn ich nun vermutete, dass Killian sie gerade aufgeklärt hatte, läge ich damit wohl gar nicht so verkehrt.

Der besorgte Ausdruck auf Killians Gesicht traf mich, doch es war Sawyers wissender Blick, der mich dazu veranlasste, alle Mauern hochzuziehen. Er kannte die Geschichte, ihm hatte ich erzählt, was hier vor so vielen Jahren geschehen war. Er war der Einzige, der wirklich verstand, was es für mich bedeutete, wieder hier zu sein.

Damit wollte ich mich jetzt nicht auseinandersetzen. „Das Dach ist dicht und drinnen ist es trocken“, sagte ich daher ruppig und ging auf sie zu. Es war besser eine Maske aufzusetzen, als allen meinen inneren Aufruhe zu zeigen. „Es gibt einen Ofen, den wir nur befeuern können. Und wir müssen irgendwie die Tür und das Fenster reparieren.“

Keiner der drei Männer sagte ein Wort, als ich zu ihnen trat und Trotzkopfs Führleine übernahm. „Wir müssen unsere Sachen hineinbringen. Trotzkopf können wir ins Schlafzimmer stellen. Wir müssen ihn nur irgendwie hineinbekommen.“ Ich zog an der Leine, damit er sich bewegte.

Killian musterte mich. „Geht es dir gut?“

War die Frage ernstgemeint? Ich überging sie einfach. „Im Schlafzimmer müsste Werkzeug und so ein Zeug liegen. Mein Vater hat es da immer aufbewahrt, damit wir Kinder nicht dran gehen.“ Als keiner von ihnen auch nur einen Muskel rührte, hob ich eine Augenbraue. „Wollt ihr hier draußen absaufen, oder helft ihr mir jetzt?“

„Wenn nur die beiden Dinge zur Wahl stehen, entscheide ich mich fürs helfen“, entschied Sawyer und ließ seinen Worten sogleich Taten folgen.

Als erstes schaffte er Salia ins Haus und kümmerte sich dann darum, den Ofen in Gang zu kriegen. Wolf widmete sich sofort dem Werkzeug und begann damit, die Tür und das Fenster notdürftig zu flicken.

Ich schob derweilen mit Killians Hilfe das alte Doppelbett meiner Eltern zur Seite, um Platz für Trotzkopf zu schaffen. Das war recht einfach. Viel schwerer war es, das sture Dromedar davon zu überzeugen, dass es im Haus besser aufgehoben war, als draußen in dem immer stärker werdenden Regen.

Sobald das geschafft war, begann ich zusammen mit Sawyer unsere Sachen ins Haus zu tragen, während Killian mit ein wenig Unterstützung von Salia, den Raum ein wenig säuberte.

Als der Regen draußen heftiger wurde und langsam zu einem Sturm mutierte, schloss ich alle Fensterläden, um uns vor dem nahenden Unwetter zu schützen.

Wir brauchten bestimmt zwei Stunden, bis das Fenster vernagelt war und die Tür wieder an ihrem angestammten Platz im Rahmen hing. Als es im Raum dann langsam wärmer wurde, begann ich damit die Felle und Decken auf dem Boden auszubreiten und meine nassen Sachen abzulegen. Am Ende trugen wir alle nur noch das nötigste, während unsere nasse Kleidung auf einem Seil trocknete, das ich quer durch den Raum gespannt hatte.

Die ganze Zeit sprach ich nur sehr wenig, spürte aber die Blicke der Männer, wenn sie glaubten, ich würde es nicht bemerken. Ich versuchte es auszublenden, wie auch alles andere, was auf mich einstürmen wollte. Stattdessen schnappte ich mir irgendwann Salia, kuschelte mich mit ihr zusammen unter einer Decke vor dem Ofen und wartete darauf, dass das Essen fertig wurde, das Wolf dort gerade zubereitete.

 

oOo

Kapitel 28

 

Krachend entlud der Sturm seinen ganzen Zorn über den Himmel und ließ das Glas in den Fenstern vibrieren. Der Wind heulte um das Haus herum und rüttelte ununterbrochen an dem maroden Holz. So wie der Sturm dort draußen tobte und donnerte, würde es mich nicht wundern, wenn er das Haus einfach wegwehte. Was mich hingegen wunderte, war Salia, die selenruhig unter einem Wulst von Decken, neben ihrem Vater schief und scheinbar gar nichts von dem Sturm mitbekam. Wenn mich die schützenden Arme meines Vaters festhalten würden, hätte ich vermutlich auch keine Probleme einzuschlafen. 

Es musste schön sein, ein solches Vertrauen in andere Menschen haben zu können.

Sawyer selber lag ausgestreckt auf dem Boden, einen ganzen Berg von Kissen im Rücken.

Wolf hatte es sich mit einem Buch, das er irgendwo im Haus gefunden hatte, neben dem Ofen bequem gemacht. Er wirkte allerdings nicht so, als würde er seine Augen noch lange offenhalten können. Das wenige Licht im Raum, kam von den beiden Kerzen, die in Laternen von den Decken hingen.

Wieder donnerte und krachte es über dem Haus, als wäre der Himmel zornig und ein Blitz durchschnitt für einen Moment die nächtliche Schwärze.

Killian, der neben mir in dem Sessel saß, in dem früher immer mein Vater gesessen hatte, warf einen Blick auf Wolfs Konstruktion, als fürchtete er, der Wind würde das vernagelte Fenster und die wieder eingesetzte Tür, jeden Moment herausreißen.

Das Holz im Ofen knisterte und knackte, als es von den Flammen aufgezerrt wurde. Um den Ofen zu beheizen, hatten wir das Bett meiner Eltern auseinandergenommen. So hatte Trotzkopf mehr Platz und wir hatten es schön warm.

In diesem Bett hätte sowieso nie wieder jemand geschlafen.

Mein Blick war ins Leere gerichtet. Ich saß auf dem Sessel meiner Mutter, hatte eine Decke um mich gewickelt und schaffte es einfach nicht mit dem Denken aufzuhören. Alles hier erinnerte mich an die Vergangenheit. Doch die Erinnerungen aus meiner Kindheit waren bestenfalls schemenhafte Schatten. Nur eine Sache stach immer wieder heraus und das war der Tag, an dem meine Mutter gestorben war. Ich bekam ihn einfach nicht aus dem Kopf, ganz egal, wie sehr ich mich auch bemühte.  Dabei war es nichts als purer Zufall, dass wir hier gelandet waren. Ich hatte keine Ahnung gehabt, wo sich dieses Haus befand, war ich damals doch einfach nur gelaufen, soweit meine Beine mich getragen hatten. Ich hatte nie den Wunsch verspürt, an diesen Ort zurückzukehren, deswegen hatte ich auch nie danach gesucht.

Ich musste mit diesen Gedanken aufhören, bevor sie mich in den Wahnsinn trieben.

„Lenk mich ab“, bat ich daher niemand bestimmten.

Sowohl Sawyer, als auch Killian richteten ihre Blicke auf mich. Wolf nicht. Sein Buch war auf seine Brust gesunken und die Augen geschlossen. Da hatte die Erschöpfung wohl gesiegt.

Wieder donnerte und krachte es und der Wind rüttelte an den Fensterläden.

„Wir könnten eine Runde knutschen“, schlug Sawyer vor. „Wir können auch nach Nebenan gehen, damit wir ungestört sind.“

So verzweifelt war ich nun auch wieder nicht. „Erzählt mir etwas.“

Er überlegte, aber offensichtlich wollte ihm auf die Schnelle nichts einfallen.

„Es gibt noch andere Orte“, sagte Killian. „Städte wie Eden, in denen man gegen das Virus kämpft.“

„Noch mehr Städte?“ Ich zog die Beine an die Brust, schlang die Arme darum und legte mein Kinn auf meinen Knien ab.

„Ja, sie sind überall auf der ganzen Welt verteilt.“

„Ich weiß von keiner anderen Stadt in der freien Welt.“

„Die Alte Welt, oder die freie Welt, wie du sie bezeichnest, ist nicht die ganze Welt. Es ist nicht mal ein ganzer Kontinent. Die freie Welt ist nur der westliche Teil von Europa, aber es gibt noch viel mehr.“

Europa, dass hatte ich schon mal gehört. „Europa ist ein Land.“

„Nein, ein Kontinent, eine Landmasse. Es gibt sieben Kontinente, aber nur fünf von ihnen sind noch bewohnt.“

Wenn die freie Welt nur ein halber Kontinent war, dann verstand ich nun, wie sich auf diesem Planeten noch Achtmillionen Menschen befinden konnten. Das war wirklich … groß.

„Eden ist auch nicht die einzige Stadt, auf diesem Kontinent, ja nicht einmal die größte“, erklärte er weiter. „Sie ist nur die größte in diesem Land. Auf der anderen Seite des Meeres, in Amerika, gibt es noch weitere Städte, genau wie in Asien und Australien. Nur Afrika gilt heute als toter Kontinent, weil auch Expeditionen, in den letzten hundert Jahren, dort kein menschliches Leben gefunden haben.“

Fünf bewohnte Kontinente. „Ich habe noch nie von einer anderen Stadt als Eden in der freien Welt gehört.“

„Sie sind aber da. Eden hat Kontakt mit ihnen. Manchmal besuchen wir uns gegenseitig, um für frisches Blut zu sorgen. In seltenen Fällen ziehen Männer deswegen auch in andere Städte. Sie haben ähnliche Zuchtprogramme wie Eden, aber keiner von ihnen ist so erfolgreich wie wir. Für das, was wir in zehn Jahren geschafft haben, haben die anderen die dreifache Zeit gebraucht. Allerdings haben die meistens schon früher damit …“

„Ich glaube nicht, dass sie etwas über Zuchtprogramme hören will“, unterbrach Sawyer ihn. „Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass das absolut nicht ihr Thema ist.“

Killian warf mir einen besorgten Blick zu. „Tut mir leid, daran habe ich nicht gedacht.“

„Schon gut.“ Hauptsache er redete weiter. Wenn er sprach, konnte ich wenigstens die Gedanken in meinem Kopf eine Zeitlang zum Verstummen bringen. „Was gibt es denn sonst noch für Städte in der freien Welt?“

„Hm“, machte er und spitzte nachdenklich die Lippen. „Weit unten im Süden, gibt es eine Stadt namens Madrid. Diese Stadt hat bereits vor der Wende diesen Namen getragen. Mit fast einhunderttausend Menschen, gehört sie heutzutage wohl zu den größten Städten der Welt.“

Einhunderttausend Menschen an einem Ort?! Ich schaute Killian entsetzt an. Mir waren schon die knapp vierzehntausend in Eden zu viel gewesen. Aber einhunderttausend? Das war einfach nur Wahnsinn.

„Dann gibt es noch die Stadt Vie, sehr weit im Westen. Und natürlich die Ortschaft Amour, die …“

„Die Amour?“ Ich richtete mich ein wenig auf. „Die Textilhändler?“

Killian war überrascht. „Du kennst sie?“

„Sie waren auf dem Herbstmarkt. Das war der Stand, mit den aufdringlichen Damen.“

Ein Krachen erschütterte die Fenster. Das Trommeln des Regens wurde einen Moment stärker, als würde der Wind die Tropfen direkt gegen das Haus drücken. Aus dem Nebenraum kam ein kurzes Blöken von Trotzkopf.

Verstehen machte sich auf Killians Gesicht breit. „Du hast recht, das könnten sie sein. Du musst wissen, die Amour sind sehr … argwöhnisch. So weit ich weiß, zählt ihre Stadt ein bisschen mehr als viertausend Menschen, aber sie lassen nur sehr ungerne Fremde in ihr Reich. Und wenn doch, dann wird er mit Argusaugen bewacht.“

Das klang wirklich sehr nach den Amour. Bisher hatte ich immer angenommen, sie wären einfach ein großer Stamm, aber gleich eine ganze Stadt? Das hatte ich nicht erwartet. Und warum suchten sie zwei Mal im Jahr den Markt auf? Als so große Stadt hatten sie das doch sicher nicht nötig.

Nein, hatten sie auch nicht, wurde mir klar. Was sie zu den freien Menschen trieb, war ein ganz anderer Grund: Es war ihre Art, neues Blut in ihre Linien zu bekommen. Darum nahmen sie auch immer so viele Frauen mit.

„Diese Leute sind die Pest“, kommentierte Sawyer. „Ihre Lebensweise ist …“

„Gewöhnungsbedürftig?“, bot ich an.

„Ekelhaft.“ Er hatte es den aufdringlichen Damen wohl noch immer nicht verziehen, dass sie ihm so auf die Pelle gerückt waren.

Killian streckte seine Beine aus und überkreuzte sie an den Knöcheln. „Es gibt aber auch Ortschaften, an sehr einsamen und abgelegenen Orten. Inseln und schwer zugängliche Gebiete, abgeschnitten von der restlichen Welt, die bereits vor der Wende nichts mit der Zivilisation zu tun haben wollten, die von der Pandemie verschont geblieben sind.“

„Es gibt gesunde Menschen?“ Das erstaunte mich. Ich dachte, jeder Mensch auf dieser Welt war von Gaias Zorn betroffen.

Er nickte. „Zumindest vermuten wir das, mit Sicherheit können wir das nicht wissen, denn diese Stämme wurden schon lange nicht mehr gesehen. Und wir können uns ihnen auch nicht näheren, denn dann würden wir auch sie infizieren.“

„Und damit zum Sterben verurteilen“, fügte Sawyer düster hinzu.

Menschen, die nichts mit der restlichen Welt zutun hatten. Das klang in meinen Ohren gar nicht so schlecht. Es konnte vielleicht sehr einsam sein, aber wenigstens mussten diese Menschen sich nicht vor anderen fürchten. Die Gefahren, mit denen sie sich auseinandersetzten mussten, waren sicher ganz anderer Art.

Wieder grollte der Donner über den Himmel, aber er schien an Stärke zu verlieren. Der Regen jedoch wollte nicht nachlassen.

Aus der Ecke neben dem Ofen kam ein leises Schnarchen von Wolf. Dann schmatzte er und drehte sich auf die Seite. Das Buch fiel auf sein Lager.

Auch ich merkte, wie ich langsam müde wurde, obwohl ich bezweifelte, dass mein Kopf mich in ruhe würde schlafen lassen. Trotzdem erhob ich mich vom Sessel. „Ich werde mich hinlegen“, teilte ich den beiden mit, schnappte mir noch eine Decke und legte mich damit auf das Fell, dass ich vorhin schon auf dem Teppich ausgebreitet hatte. So war Killian hinter mir. Sawyer und Salia aber konnte ich sehen.

Ich blinzelte noch einmal müde und schloss dann die Augen.

Leider geschah dann genau das, was ich bereits befürchtet hatte. Es war ganz egal, wie erschöpft und müde ich war, mein Hirn bestand darauf, sich mit dem Tagesgeschehen zu beschäftigen. Oder besser gesagt, mit meiner Vergangenheit, die durch das Tagesgeschehen wieder an die Oberfläche gekommen war.

Wenn ich versuchte, mich an schöne Sachen zu erinnern, machte mich das nur traurig, weil es mich daran denken ließ, was ich alles verloren hatte. Und wenn die schlechten Sachen dazwischenfunkten, wurde ich nur noch trauriger. Manchmal wäre es wirklich einfacher, Dinge einfach vergessen zu können, um den Schmerz nicht ein Leben lang mit sich herumtragen zu müssen.

Trotz allem zwang ich mich liegen zu bleiben, denn ich wusste, dass der Schlaf irgendwann kommen und meine Tortur beenden würde.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, aber irgendwann spürte ich, wie meine Atmung ruhiger wurde und ich langsam wegdriftete.

„Sie so anzugaffen, wenn sie schläft, ist schon ein wenig pervers“, sagte Sawyer plötzlich und zog mich damit wieder an die Oberfläche – na vielen Dank auch. „Ist nur meine Meinung.“

Von Killian kam ein schwerer Atemzug. „Dieser Ort tut ihr nicht gut“, sagte er leise.

„Wow, du bist echt die hellste Kerze auf der Torte“, spottete Sawyer auf seine sehr herablassende Art. „Wenn ich hier hätte zusehen müssen, wie man meine Mutter umbringt, würde ich mich hier sicher auch nicht wohlfühlen.“

Kurze Stille.

„Das war hier?“ Killians Stimme klang bestürzt.

„Nicht hier im Haus, sondern irgendwo unten am See.“

Wieder kehrte für einen langen Moment die Stille zurück.

„Sie hat dir davon erzählt.“ Es war Überraschung, die da in seiner Stimme mitschwang. Und auch ein wenig Enttäuschung. Vielleicht weil ihm klar wurde, dass ich mit Sawyer darüber gesprochen hatte, mit ihm aber nicht.

„Sie erzählt mir eine Menge Dinge.“

Dieser Aussage konnte ich ohne Zweifel widersprechen.

„Liegt wohl daran, dass ich ihr nicht einzureden versuche, dass all das Schlechte in ihrem Leben, nur eine Ausgeburt ihrer blühenden Phantasie ist“, fügte Sawyer noch hinzu.

„Das habe ich mit ihr geklärt“, erwiderte Killian ein kleinen wenig angriffslustig. „Ich habe mich bei ihr entschuldigt.“

„Schön für dich, aber selbst wenn sie deine Entschuldigung akzeptiert, wird sie das niemals vergessen.“ Er verstummte einen Moment, bevor er hinzufügte: „Was mit ein Grund dafür ist, dass du sie niemals bekommen wirst.“

„Du weißt nicht, wovon du sprichst.“

„Ach nein? Du bist Eden.“

„Ich bin nicht Eden“, widersprach Killian sofort.

Mussten sie sich jetzt wirklich darüber unterhalten? Nicht nur dass ich schlafen wollte, das war auch ein Thema, von dem ich um Moment nichts hören wollte.

„Du bist Eden“, wiederholte Sawyer unnachgiebig. „Und Eden steht für alles Schlechte in ihrem Leben. Eden hat ihre Mutter getötet, Eden hat ihren Bruder auf dem Gewissen. Eden hat sie entführt und wollte sie für ihre Zwecke missbrauchen. Eden hat ihr ihre Schwester genommen. Wegen Eden hat sie ihre Mischpoche verloren und jetzt jagen sie sie wie ein Tier. Wenn sie dich ansieht, sieht sie Eden.“

Vielen Dank auch für diese Aufzählung. Warum erzählte er nicht gleich auch noch ein paar Gruselgeschichten, damit ich mal wieder Alpträume bekam?

„Nein, tut sie nicht.“ Killian klang nicht sehr sicher, eher so, als wünschte er sich, dass es nicht so war. Insgeheim quälte ihn aber die Furcht, dass es stimmen könnte.

„Du machst dir nur selber etwas vor, wenn du das glaubst.“ Sawyer blieb konsequent. „Überleg doch mal selber, wie oft hast du jetzt schon versucht mit ihr zu sprechen, aber sie ist dir immer irgendwie ausgewichen? Glaubst du nicht, wenn sie dieses bestimmte Gespräch mit dir führen wollte, wäre sie bereits von sich aus auf dich zugekommen?“

„Es ist immer etwas dazwischengekommen“, rechtfertigte Killian sich. 

Sawyer schnaubte. „Ja, rede dir das nur ein, wenn du dich dann besser fühlst. Aber du kannst es drehen und wenden wie du willst, sie wird sich nicht auf dich einlassen. Du bist nicht der Richtige für sie.“

Ach, dass hatte er für mich entschieden, ja?

„Aber du, oder was?“

„Was hat das denn jetzt mit mir zu tun? Es geht allein um dich. Sei doch wenigstens einmal ehrlich mit dir selber. Du bist zwar hier, aber wenn du an deine Zukunft denkst, siehst du dich nicht in einer kleinen Hütte, irgendwo im allerletzten Hinterland. Du siehst dich als respektierter und hochdekorierter Arzt in deiner kleinen Praxis in Eden, wo du ein sauberes Leben in deinem modernen Loft führst. Am besten noch kehrst du mit Kiss am Arm nach Eden zurück, um deine heilige Arbeit fortzuführen und die Menschheit vor dem nahenden Untergang zu retten.“

„Mit meiner Arbeit tue ich viel Gutes.“

„Gutes?“ Sawyers ganzer Hohn, lag in diesem einen Wort. „Hast du eigentlich mal darüber nachgedacht, was Kiss in den paar Wochen in der Stadt alles widerfahren ist? Man hat sie gefesselt, um sie nach Eden zu schleifen. Man hat sie in dieses Leben geschmissen, ohne ihre Angst und ihren Widerstand auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Als Agnes sie zu ihrer Fekundation in mein Haus begleitete, hat die alte Schreckschraube mir durch die Blume erlaubt, sie zu vergewaltigen, sollte sie nicht freiwillig mitmachen. Man hat versucht sie zu brechen, sie mit einem Medi-Reif ans Herz gekettet und ihr bei jeder Gelegenheit damit gedroht, ihr ihre Schwester wegzunehmen, sollte sie es wagen, aus der Reihe zu tanzen. Das war psychische Folter.“

Erstaunlich, wie laut entsetztes Schweigen klingen konnte.

„Das hat sie dir erzählt?“, fragte Killian.

Nein, hatte ich nicht, nichts davon, besonders nicht die Sache mit Nikita.

„Nein, aber das brauchte sie auch nicht. Bei mir haben sie das gleiche die letzten Jahre mit Salia abgezogen.“

Nach diesen Worten kehrte die Stille in den Raum zurück und ich glaubte – hoffte – bereits, dass sie jetzt endlich mit diesem Thema durch waren. Ich wollte schlafen und mein Kopf schien endlich bereit, die Lichter auszuschalten. Aber leider schien sie den heutigen Abend dazu auserkoren zu haben, das erste Mal ein halbwegs vernünftiges Gespräch miteinander zu führen, ohne sich gegenseitig anzukeifen.

„Ich kann nicht glauben, dass Agnes das erlaubt hat“, sagte Killian leise.

„Erlaubt? Sie hat mich praktisch dazu aufgefordert. Und jetzt überleg mal, unsere Rädelsführerin wäre bei einem anderen Adam gelandet. Der hätte es vielleicht sogar getan, weil er es als seine heilige Pflicht ansieht, um die Menschheit zu erhalten.“

So hatte ich das noch nie gesehen, aber er hatte recht. Wenn ich mich damals für einen anderen Adam entschieden hätte, einfach weil Sawyer ein Widerling war und ich nicht in seine Nähe wollte, hätte dieser andere Adam mich dann gezwungen?

Bei diesem Gedanken bekam ich eine Gänsehaut. Es gab Dinge, die tat man einfach nicht und das gehörte definitiv dazu. Wobei den Menschen in Eden das wahrscheinlich völlig egal war. Sie taten ständig Dinge, die man nicht tun sollte. Wie zum Beispiel Menschen von der Straße zu schnappen, um sie hinter ihre Mauern zu bringen.

Hinter mir raschelte Stoff, als Killian sich bewegte. „Aber sie ist zu dir gegangen.“

„Natürlich ist sie das. Bei mir wusste sie wenigstens, worauf sie sich einlässt.“

Leise grollte der Donner über den Himmel und verklang in der Ferne. Der Wind pfiff um das Haus und heulte wie ein verwundetes Tier.

„Was meinst du damit?“, wollte Killian wissen.

„Hast du das etwa immer noch nicht kapiert? Was glaubst du, warum sie mich erwählt hat?“

„Ich … weiß es nicht.“ Es klang, als könnte er es sich noch immer nicht erklären.

Ich öffnete die Augen einen Spalt. Sawyer lag noch genauso da, wie vor einer halben Stunde, nur das sein Blick nun auf Killian gerichtet war.

Er schüttelte den Kopf, als könnte er nicht glauben, dass es so viel Dummheit, in nur einem Menschen gab. „Ich habe ihr geschworen, sie nicht anzufassen. Ich wollte keine weitere Frau schwängern, ich brauchte Hilfe, um aus Eden zu verschwinden. Wir haben die Tage in meinem Haus benutzt, um einen Plan auszuarbeiten, damit wir der Stadt endlich entkommen.“

„Ihre Flucht war der Grund.“ Killian klang erstaunt.

„Na was hast du denn geglaubt? Sie konnte mich nicht ausstehen. Wahrscheinlich war ich für sie der Alptraum unter den Adams. Und trotzdem hat sie mit mir zusammengearbeitet, so dringend wollte sie dort weg.“

Als Alptraum würde ich ihn nicht unbedingt bezeichnen. Sawyer war zwar nicht sehr nett zu mir gewesen, aber wenigstens hatte er mir nie etwas vorgespielt, oder versucht mich zu Dingen zu drängen, die ich nicht wollte, so wie ein paar von den anderen. Oder, naja, eigentlich alle.

„Ich verstehe es ja“, gab Killian zu, „aber … nicht alles an dieser Arbeit ist falsch.“

Der Ausdruck auf Sawyers Gesicht verfinsterte sich. „Das kannst du auch nur behaupten, weil du nur danebenstehst und zuguckst. Du siehst es, aber du spürst es nicht. Was glaubst du, wie sehr die Frauen darunter leiden, ihre Kinder anderen Menschen anvertrauen zu müssen, meistens sogar schon direkt nach der Geburt?“, fragte er Killian, ohne eine Antwort darauf haben zu wollen. „Ich habe mehr als einmal eine Frau im Arm gehalten, die deswegen geweint hat.“ Bei dieser Erinnerung schüttelte er den Kopf.

Ich fragte mich, von welchen Frauen er sprach, da sie ihn doch normalerweise mieden wie die Pest. Sawyer war halt kein netter Zeitgenosse, deswegen hatten sie sich tunlichst von ihm ferngehalten. Naja, bis auf eine: Celeste. Ob er von ihr gesprochen hatte?

„Und glaubst du wirklich, alle Adams und Evas würden bei dem Programm freiwillig mitmachen, wenn man ihnen nicht von klein an eingetrichtert hätte, dass sie das tun müssen?“, fragte er weiter. „Das es ihre Pflicht und eine Ehre ist?“

„Nein, nicht alle“, gab er zu. „Aber …“

„Und trotz alle dem verlangst du ihr Vertrauen und ihre Zuneigung? Du gehörst zu diesem System und hast sie auf deinen Stuhl gezwungen.“

„Ich habe sie nie zu etwas gezwungen, das kannst du mir nicht vorwerfen“, empörte Killian sich. „Ich habe ihr immer die Entscheidung überlassen.“

Das stimmte. Von allen Seiten hatte ich immer nur Druck und Zwang erfahren, doch er hatte mir die Wahl gelassen, wenn er konnte. Das hatte ihn für mich so anders gemacht. Das und die Zweifel, die er am Eden-Projekt hatte.

„Aber du unterstützt das System, das sie zwingt und du hoffst immer noch darauf, dass sie einlenken wird und mit dir zurück nach Eden geht.“ Sawyer schüttelte wieder den Kopf. Dabei bemerkte er, dass meine Augen nicht ganz geschlossen waren. „Solange du dich nicht von dieser Stadt und ihren Werten lossagst, hast du nicht die geringste Chance bei ihr.“

Ob er ahnte, dass ich bereits die ganze Zeit zuhörte?

„Ich weiß, dass sie niemals freiwillig zurück nach Eden gehen wird“, gab Killian zu. Er klang niedergeschlagen.

„Dann hoffst du also einfach, dass jemand anderes sie einfängt und zurückbringt.“ Sawyers Blick war auf mich gerichtet. „Dann kannst du ihr ganz persönlicher Tröster werden. Und wer weiß, vielleicht bekommst du dann ja endlich das was du dir wünschst.“

„Nein, das will ich nicht. Ich will nicht, dass sie unglücklich ist.“

Ich sollte glücklich sein? Ich war mir nicht mal mehr sicher, ob ich noch wusste wie das ging. Am Mirabellenbaum hatte ich einen glücklichen Moment gehabt, aber dann waren die Tracker gekommen und hatten alles zerstört. So wie sie es immer taten.

Das Trommeln des Regens ließ ein wenig nach und wurde zu einem erträglichen Hintergrundgeräusch, das irgendwie beruhigend klang.

Sawyer hielt meinen Blick fest, als er zu Killian sagte: „Dann weißt du ja, was du tun musst.“

„Und das wäre?“

„Sagt dich von Eden los.“ Sawyer machte es sich ein wenig bequemer und legte sich dann eine Hand auf den nackten Bauch. „Sie ist eine starke Frau und eine sture Persönlichkeit. Du kannst sie nicht mit schönen Worten und falschen Versprechen beeindrucken, für sie zählen handfeste Taten.“

So sah er mich? Naja, wenn ich ehrlich war, hatte er damit nicht ganz unrecht. Außer mit dem Teil, dass es etwas brachte, wenn man mich beeindruckte. Es gab Dinge für mich, die viel mehr zählten.

„Du meinst also, statt ihr Blumen und Pralinen zu geben, soll ich mich lieber wie ein triebgesteuerter Neandertaler aufführen?“, fragte Killian zweifelnd.

Auf Sawyers Lippen breitete sich ein Lächeln aus. „Sowas in der Art. Aber wenn du das wirklich versuchst, pass auf deine Eier auf. Sie wird sie pürieren, wenn sie sie zu fassen bekommt.“

Und seine gleich mit, weil er Killian auf so eine bescheuerte Idee gebracht hatte. Einfach packen und dann was? Der Kerl hatte sie ja wohl nicht mehr alle.

Wahrscheinlich meinte er das gar nicht ernst und zog Killian einfach nur auf. Oder mich, denn er wusste ja, dass ich noch nicht schlief und jedes seiner Worte hörte. Was auch immer in seinem Kopf vor sich ging, ich hatte für einen Abend genug gehört und wollte jetzt endlich schlafen. Darum schloss ich die Augen, zog die Decke ein wenig höher und murmelte mich darunter ein.

Von Sawyer kam ein tiefer Atemzug. „Wie auch immer, ich werde jetzt auch pennen.“ Den Worten folgte das rascheln von Stoff und dann war endlich Ruhe. Naja, abgesehen von dem Regen, aber den fand ich beruhigend.

Die Stille hüllte mich ein. Ich war schon fast im Schlaf versunken, als ich hörte, wie Killian sich von dem Sessel erhob. Er lief durch den Raum. Dann wurde es dunkler, als er die Kerzen der Laternen ausblies. Gleich darauf hörte ich noch mal Schritte und spürte dann, wie er es sich hinter mir bequem machte. Einen Moment später spürte ich eine leichte Berührung am Rücken.

Ich regte mich nicht, lauschte nur dem unaufhörlichen Prasseln des Regens, bis meine Gedanken ruhe gaben und ich endlich in eine andere Welt davondriftete.

 

oOo

Kapitel 29

 

Mit spitzen Fingern, strich ich über den Holzrahmen meines alten Kinderbettes. Ich erinnerte mich noch genau daran, wie mein Vater es gebaut hatte. Ich hatte ihm helfen dürfen und meine Mutter hatte rote Farbe angerührt, mit der ich es angestrichen hatte. Damals war ich gerade mal sechs oder sieben gewesen und ich hatte mich so über dieses Bett gefreut.

Jetzt stand es hier, vergessen und halb verrottet. Die Farbe war verblichen und an vielen Stellen abgeplatzt. Ein trister Abklatsch von dem, was es einst gewesen war. Genauso wie das Kind, das vor langer Zeit einmal darin gelegen hatte. Nichts war mehr so, wie es einmal war.

Ich zog die Hand zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, während ich mich in dem kleinen Raum umsah. Durch das dreckige und von Spinnenweben überzogene Fenster, sah ich das spärliche Licht des Morgens. Feine Regentropfen liefen an der Scheibe hinab. Das Gewitter war vorbeigezogen, der Regen hatte nachgelassen, aber noch nicht ganz aufgehört.

Außer mir schliefen noch alle. Ich wäre auch gerne unter meiner warmen Decke geblieben, aber ein Alptraum hatte mich aus dem Schlaf gerissen und auf die Beine getrieben. Welch ein Wunder. Eigentlich hatte ich bereits vor dem Schlafen damit gerechnet. Dieser Ort war so voller Erinnerungen, dass es mich ehrlich gewundert hätte, wenn die Schatten der Vergangenheit mich heute nach nicht heimgesucht hätten.

Einschlafen hatte ich dann natürlich nicht mehr gekonnt, also war ich in mein altes Kinderzimmer gegangen, um die anderen nicht zu stören. Und jetzt stand ich hier, die Arme um mich geschlungen und wusste nicht recht, was ich tun sollte. In diesem Raum hingen so viele Erinnerungen.

Da waren die verblassten Kinderzeichnungen an der Wand, die ich in einem Augenblick der Langeweile dorthin gemalt hatte. Und der Schreibtisch daneben. Ich erinnerte mich daran, wie Akiim dort gesessen hatte, um zu lesen, oder zu … schreiben?

Ich runzelte die Stirn. Akiim konnte schreiben? Ich hatte das Bild genau vor Augen. Und ich sah auch mich selber, mit einem Buch vor der Nase. Aber warum? Ich hatte es doch nie gelernt. Ich konnte es nicht gelernt haben, sonst könnte ich es doch. Und trotzdem sah ich in meiner Erinnerung ganz genau, wie ich Zeile um Zeile ein Buch durchging, das mein Vater mir gegeben hatte.

Aber sowas konnte man doch nicht verlernen, oder? Und selbst wenn, dann müsste ich mich doch trotzdem daran erinnern, dass ich es einmal gelernt hatte.

Neben mir wurde die Zimmertür langsam aufgeschoben. Sawyer steckte seinen Kopf herein und als er mich sah, trat er ganz ins Zimmer. Die Tür schloss sich hinter ihm von ganz allein, bis auf einen kleinen Spalt. Er trug noch immer nichts weiter als eine Hose. Sein Haar war auf der einen Seite vom Schlaf plattgedrückt und rasieren könnte er sich auch mal wieder.

„Kann man lesen und schreiben verlernen?“, fragte ich ihn.

Er rubbelte sich über den Kopf und strich sich dann durch das zerzauste Haar. „Kann ich mir nicht vorstellen. Warum?“

„Ich glaube ich habe es als Kind gelernt.“ Ich strich über ein paar verstaubte Seiten, die mit einer feinen Schrift bedeckt waren. Von Akiim? „Aber ich kann mich nicht daran erinnern. Und ich kann es auch nicht.“

Sawyer ließ die Hand sinken und kratzte sich an der Brust, während er gähnte. „Dann hast du es eben nicht gelernt.“

„Aber ich weiß, dass Akiim es gelernt hat. Warum sollten meine Eltern es ihm beibringen, mir aber nicht? Das ergibt doch keinen Sinn.“

„Musst du solche Fragen direkt am frühen Morgen stellen?“ Ein leicht genervter Ausdruck erschien in seinem Gesicht. „Was machst du überhaupt hier drinnen?“

„Ich weiß nicht.“ Ich zog die Hand zurück und verschränkte sie wieder vor der Brust. „Ich bin wach geworden und wollte euch nicht stören.“

Er musterte mich und lehnte sich dann mit dem Hintern neben mich an den Schreibtisch. Das Möbelstück ächzte und knarrte unter dem Druck, hielt dem Mann aber stand. „Du hattest schon wieder einen Alptraum.“ Es war keine Frage.

Mein Schulterzucken musste ihm als Antwort genügen.

„Wir müssen dir mal so richtig das Hirn durchblasen, damit der ganze Dreck da rauskommt.“

Meine Lippen verzogen sich zu einem schmallippigen Lächeln. „Wenn das so einfach wäre, hätte ich es schon vor langer Zeit getan.“ Aber Erinnerungen ließen sich nun einmal nicht vertreiben, nur weil man sich das wünschte, das wusste ich aus Erfahrung.

Mir war bewusst, dass es Menschen gab, die viel Schlimmeres in ihrem Leben durchlitten hatten, aber das bedeutete noch lange nicht, dass ihr Schmerz schwerer wog als meiner und dieses Gewicht ließ sich nun einmal nicht so einfach abwerfen.

Vielleicht sollte ich aufhören, mich schon wieder mit solchen Gedanken zu quälen und mich stattdessen lieber produktiv betätigen. „Schlafen die anderen noch?“ Ich wandte mich vom Schreibtisch ab und drehte mich zu ihm.

„Hmh. Wie ausgeknockt, alle drei.“

„Wenn sie wach sind, sollten wir uns zusammensetzten und besprechen, wie es weitergeht. Ich würde sagen, wir warten auf jeden Fall noch den Regen ab, bevor wir uns wieder auf den Weg machen. Und wir müssen uns überlegen, wie lange wir noch warten, bevor wir einen Winterunterschlupf suchen. Also falls wir deine Familie nicht in den nächsten zwei Wochen …“ Ich verstummte, als er die Hand hob, und sie mir auf den Arm legte. Seine Haut war rau und warm und angenehm.

Warum bei Gaias Zorn, fiel mir das auf?!

„Was ist“, fragte ich irritiert von der ungewohnten Berührung und meinen seltsamen Gedanken.

Sawyer schaute mich einen langen Moment mit seinem sehenden Auge an, dann seufzte er leise. „Was tun wir hier eigentlich?“

Jetzt war ich nicht nur irritiert, sondern auch verwirrt. Was wir hier taten? Die naheliegendste Antwort wäre wohl reden, aber ich war mir sicher, dass er darauf nicht hinauswollte. „Was meinst du?“

„Die Suche nach meiner Familie.“ Sein Daumen begann kleine Kreise auf meiner Haut zu ziehen. Dabei sah er nicht mich an, sondern folgte der Bewegung seiner Hand.

Warum tat er das? Und warum unternahm ich nichts dagegen, wie einen Schritt vor ihm zurückzuweichen?

„Wir wissen doch beide, dass dieses Unterfangen zwecklos ist.“

Das er immer so negativ sein musste. „Es ist gar nicht zwecklos“, widersprach ich ihm und versuchte seine Hand zu ignorieren. Sowas hatte er noch nie getan und ich war mir nicht ganz sicher, was ich davon halten sollte. Oder warum ich mich immer noch nicht bewegte. „Wir haben doch schon jemand gefunden, der etwas wusste. Und wenn wir noch ein wenig weitersuchen …“

„Einen Dreck wusste er“, unterbrach er mich und richtete sich auf. Im nächsten Moment stand er direkt vor mir – seine Hand blieb wo sie war. „Wir sind einem alten, besoffenen Mann begegnet, der vielleicht etwas über meine Leute gewusst hat. Und selbst wenn diese Information stimmen, das Ganze liegt sechzehn Jahre zurück. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir sie finden werden, ist praktisch nicht vorhanden.“ Er legte seine zweite Hand, auf meinen anderen Arm und sah mir dabei fest in die Augen. „Du selber hast es doch gesagt, es ist kaum zu schaffen meine Familie aufzuspüren.“ Er schwieg kurz. „Sie könnten überall sein. Sie könnten aber auch tot sein.“

Ich musterte ihn, gründlich. Den müden Blick, die herabhängenden Schultern, seine Hände an meinen Armen, als müsste er sich irgendwo festhalten. Es war nicht das erste Mal, dass er die Suche abbrechen wollte, er kam immer wieder darauf zu sprechen, aber ich drängte ihn jedes Mal dazu weiterzumachen. Nicht weil ich wirklich an unseren Erfolg glaubte, sondern weil ich eine Aufgabe brauchte, bis ich mich wieder soweit gefangen hatte, dass ich weitermachen konnte.

Das war ihm gegenüber nicht fair, das wusste ich. „Und was willst du stattdessen tun? Einfach aufgeben?“

„Ja.“ Sein Griff wurde kurz ein wenig fester, bevor er mit den Händen meine Arme hinaufstrich, hoch zu meinen Schultern und dann an meinen Seiten hinunter, bis sie an meiner Taille zu liegen kamen.

Ich bekam davon eine Gänsehaut. Warum trat ich nicht endlich zurück? Nicht mal dann, als er noch näherkam?

„Ich habe bereits mein halbes Leben verloren, ich will nicht auch noch die nächste Hälfte mit einer nutzlosen Suche verschwenden.“ Er beugte sich vor, sodass ich seinen warmen Atem auf meiner Wange spüren konnte. „Du weißt genauso gut wie ich, dass das nichts bringt.“ Seine Lippen berührten beim Sprechen meine Haut und ließen die Stelle kribbeln. „Gib es zu.“

Mein Herzschlag gewann an Geschwindigkeit. Ich fragte mich nicht länger, warum ich das zuließ, ich schloss einfach die Augen und atmete seinen Geruch ein. „Und was sollen wir stattdessen tun? Einfach hierbleiben?“

Langsam rückte er noch näher, sodass ich seinen Körper an meinem fühlte. Seine Wärme, seine Nähe, die Berührung seiner Hände. Ich verstand nicht, warum ich das so intensiv spürte. Es war doch kaum mehr als eine Umarmung.

„Warum nicht?“

Weil meine Vergangenheit an diesem Ort allgegenwärtig war. Ich konnte nicht hierbleiben, das ging einfach nicht. 

„Lass uns die Vergangenheit vergessen und endlich leben“, flüsterte er und dann spürte ich seine Lippen auf meiner Halsbeuge. Erst strichen sie nur darüber, wie ein zärtliches Streicheln. Doch dann spürte ich diesen sanften Kuss, der einen Schauder über meinen Rücken trieb und mich bis hin zu den Zehenspitzen berührte.

Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug und mein ganzer Körper sich erwärmte, ohne zu wissen, wie das hatte geschehen können. „Was tust du da?“

Er war mir so nahe, dass ich sein Lächeln auf meiner Haut spüren konnte. „Dich überzeugen, oder … einfach den Moment genießen.“

„Oder dich wie ein triebgesteuerter Neandertaler aufführen?“, fragte ich in Anspielung auf seine gestrigen Worte.

Sein Griff an meiner Hüfte wurde fester. Er zog mich an sich heran, sodass mein ganzer Körper an seinen gepresst wurde. Dabei drückte er seine Lippen wieder auf meine Halsbeuge. Und dann auf die Schulter. Wie konnte ein Kuss auf die Schulter mich nur so kribbelig machen? Das hatte ich noch nie erlebt.

„Vielleicht“, sagte er und ich musste mein Hirn erst wieder in Gang setzen, um zu verstehen, was er damit meinte.

Was geschah hier gerade? Und wann hatte ich die Arme geöffnet? Ich wusste es nicht, aber meine Hände lagen auf seiner Brust. Und ich war kurz davor den Kopf zu drehen, damit er mich richtig küsste.

Es war nicht wie damals in seinem Haus. Bei meiner Fekundation, waren wir beide dank des Aphrodisiakums und der Abstinenz, voller Hormone gewesen. Eine Berührung hatte sich wie eine Explosion angefühlt und mich in einen Rausch gezogen, gegen den ich nur schwer angekommen war. Es war gierig und betörend gewesen und wie ein Zwang.

Das hier fühlte sich anders an, berauschend und sinnlich. Und es war gut, denn ich wusste, es kam alles von mir. Keine Medikamente, die einen zu unbedachten Taten zwangen, niemand der ein Auge darauf hatte, nur wir. Und dieses Wir fühlte sich neu und aufregend an, und so ganz anders, als alles was ich kannte. Dabei taten wir bisher nichts anderes, als den anderen zu berühren.

So was hatte ich noch nie erlebt und so aufregend es auch war, es war auch beunruhigend. Denn das hier war Sawyer. Sawyer, der Frauen hasste, Sawyer, der mich nur ertrug, weil er mich brauchte. Sawyer, der ein unausstehlicher Widerling sein konnte.

Aber er war auch der Sawyer, der mich aus meinen Alpträumen geweckt hatte. Er war der Mann, der mich regelmäßig zur Verzweiflung trieb, mich aber auch zum Lachen bringen konnte.

Er war so widersprüchlich und es war das erste Mal, das mir das wirklich bewusst wurde.  

Sawyer war … Sawyer.

Seine Hand schob sich auf meinen Rücken und glitt dann langsam zu meinem Hintern. Er umfasste ihn und drückte mich gegen sich, während ich weiterhin dastand und mir unsicher war, ob ich das zulassen sollte. Es fühlte sich gut an. Ich hatte diese Art von Nähe vermisst, aber das hier war irgendwie anders. Ich wusste nicht wie ich es einordnen sollte und was ihn dazu trieb. Das verunsicherte mich und das war eindeutig ein Gefühl, das ich nicht mochte.

Langsam drückte ich meine Hand gegen seine Brust und als er nicht sofort reagierte, drückte ich nachdrücklicher, damit er verstand.

Seine Lippen lösten sich von meinem Hals. Ich spürte seinen warmen Atem. Er wich nicht zurück, verharrte einfach, als wartete er auf etwas. Also drückte ich fester und schob ihn von mir weg.

Er leistete keinen Widerstand. Seine Hände lösten sich und als er zurückwich, nahm er auch dieses Gefühl und seiner Wärme mit sich.

Irgendwas in mir sperrte sich dagegen, den Kontakt mit ihm zu verlieren. Ich sollte einfach meine Hand wegnehmen, doch ich konnte nicht. Ich spürte seinen starken Herzschlag unter meinen Fingern. Sein Herz schlug ein wenig zu schnell.

So oft hatte ich dieses Herz in der letzten Zeit gespürt. Im Moment der Gefahr hatte es mich aus meiner Panik geholt. In den Tagen danach, wenn wir vor Kälte zitternd dicht beieinander gelegen hatten, um uns gegenseitig zu wärmen, hatte ich diesem Schlagen gelauscht, während ich eingeschlafen war. Noch nie hatte mich der Herzschlag eines anderen Menschen interessiert, oder so berührt. Ich verstand nicht, warum das jetzt so war.

Langsam hob ich den Blick. Seine Augen hatten sich ein wenig verdunkelt, der Ausdruck in seinem Gesicht gab nichts preis. Er war ruhig, abwartend, nichtssagend. „Sag mir, was in deinem Kopf vor sich geht.“

„Das willst du nicht wissen.“

Doch, eigentlich schon, sonst hätte ich das ja nicht gesagt. „So schlimm?“

Einen Moment zögerte er, dann sagte er sehr leise: „Es ist … beängstigend.“

Beängstigend. Es war lange her, aber sowas hatte er schon einmal zu mir gesagt. Damals war ich nicht weiter darauf eingegangen, weil ich geglaubt hatte, er machte nur wieder einen seiner makabren Witze. Aber das hier fühlte sich nicht wie ein Witz an. Nur, was war daran so beängstigend? Und für wen? „Für dich, oder für mich?“

„Für dich.“ Er hob seine Hand und legte sie auf meine. „Und für mich.“

Bedeutete das, er spürte das gleiche wie ich? Oder meinte er damit etwas völlig anderes? Aber wenn es ihn genauso beunruhigte wie mich, dann war es wohl besser, dass ich ihn weggeschoben hatte. Und darum sollte ich das hier auch einfach unter Erfahrung verbuchen und endlich auf Abstand gehen.

Meine Finger krallten sich ein wenig in seine Brust, aber dann schaffte ich es endlich, meine Hand wegzuziehen und einen Schritt vor ihm zurückzuweichen. „Dann solltest du den Neandertaler wohl besser wieder in seinen Käfig sperren.“

„Vermutlich“, war alles, was er darauf erwiderte.

Ich schaute ihn noch einen Moment an, dann drehte ich mich von ihm weg und starrte auf den Schreibtisch, ohne wirklich etwas zu sehen. Das was gerade passiert war, hätte nicht passieren dürfen, denn es gab dafür absolut keinen Grund. Und dass ich jetzt auch noch an diesen einen Kuss in seinem Haus in Eden dachte, war auch nicht wirklich hilfreich.

Was war nur los mit mir? Oder nein, das war die falsche Frage. Ich sollte besser fragen, was war nur los mit ihm? Sowas hatte er noch nie getan, nicht mal versucht. Klar, er machte ständig schmutzige Bemerkungen und anzügliche Angebote, doch das war eben seine seltsame Art von Humor. Ich wäre niemals auch nur auf die Idee gekommen, dass er sowas tun könnte.

Aber wahrscheinlich hatte das nicht mal etwas mit mir zu tun. Er hatte gerade seinem Traum abgeschworen, der ihn so viele Jahre in Eden hatte durchhalten lassen. Er hatte endgültig seine Familie aufgegeben. Dabei musste in seinem Hirn eine Sicherung durchgebrannt sein.

Ich konnte das verstehen. Die Tage nachdem ich Nikita verloren hatte, hätte ich auch fast alles getan, um mich davon abzulenken. Aber hatte er wirklich mich benutzen müssen, um seinen Verlust erträglich zu machen?

Meine Lippen wurden ein wenig schmaler. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und kam mir einfach nur dämlich vor, ihm das gestattet zu haben. Und dann stand er jetzt einfach nur da und sah nicht mal reuevoll aus. Er könnte zumindest ein wenig beschämt sein. Aber das war er nicht. Natürlich war er das nicht, er war immerhin Sawyer. Sawyer benutzte alle um sich herum, um das zu bekommen, was er wollte. Ich war die Dumme, weil ich nicht daran gedacht hatte.

Ärger stieg in mir auf. Aber ehr würde ich einen Kopfstand machen, bevor ich ihm das zeigte. Am besten ich vergaß das einfach, denn er hatte das sicher auch schon in den hintersten Winkel seines Hirns geschoben. Ich sollte einfach zum eigentlichen Thema zurückkehren, so als wäre nichts geschehen. „Und du willst wirklich einfach aufgeben?“ Mist, das war jetzt schärfer als beabsichtigt herübergekommen.

Seine Augenbraue hob sich bei meinem scharfen Ton ein wenig. „Es ist keine Aufgabe, wenn man etwas beendet, von dem man bereits weiß, dass es niemals zum gewünschten Erfolg führen wird.“

Klar, dass man mit so einer Einstellung niemals sein Ziel erreichen konnte.

Na gut, jetzt wurde ich unfair. Seine Familie zu finden, war wirklich nicht leicht und nachdem was er bereits alles durchgemacht hatte, würden selbst der Mann mit dem stärksten Durchhaltevermögen der Welt, irgendwann die Flinte ins Korn werfen. Es musste eben auch mal Schluss sein. Das ich diese Aufgabe brauchte, um weitermachen zu können, war ja nicht sein Problem.

Ich drehte mich zu ihm um und achtete dabei sorgsam darauf, reichlich Abstand zwischen uns zu lassen. „Und was willst du stattdessen tun?“

„Das habe ich dir bereits gesagt.“ Er neigte den Kopf leicht zu Seite und musterte mich kritisch, als versuchte er aus mir schlau zu werden. „Ich will endlich leben.“

„Aber nicht hier.“ Das konnte er vergessen. „Ich kann nicht hierbleiben.“ Dieser Ort gehörte der Vergangenheit an und genau da sollte er auch bleiben.

„Das habe ich auch nicht erwartet.“

Und warum hatte er das vorhin dann gesagt? Sollte noch mal einer aus diesem Mann schlau werden. Ich schüttelte nur den Kopf und ging an ihm vorbei.

„Wo willst du hin?“

„Die anderen über die Planänderung aufklären und besprechen, wie es weitergehen soll.“ Gerade als ich nach der Tür greifen wollte, stemmte er den Arm dagegen und hielt sie zu. „Was wird das?“

„Ja, das frage ich mich auch gerade.“ Seine Augen wurden ein wenig schmaler. „Hast du plötzlich ein Knoten im Höschen?“

Warum sprach er plötzlich von Unterwäsche? „Ich trage gar kein Höschen.“

Sein Blick schnellte einen Augenblick zu meiner Hüfte. „Oh glaub mir, das weiß ich.“

Warum führten wir diese Unterhaltung dann? „Würdest du mich dann jetzt bitte aus dem Zimmer lassen?“

Er dachte darüber nach. Er stand wirklich da, schaute mich an und dachte nach! Was sollte der Blödsinn?

„Muss ich noch das Zauberwort sagen?“

Langsam kletterte ein Lächeln an seinen Lippen hinauf. „Du bist wirklich anders.“

Anders als was? „Ist das gut oder schlecht?“

„Finde es heraus.“ Das war nicht nur eine Aufforderung, das war eine Herausforderung.

Ich wartete einfach, bis sich in sein Lächeln dieser arrogante Zug schlich, den ich so verabscheute. Als er dann endlich seine Hand von der Tür nahm, riss ich sie schnell auf, bevor er noch mal auf die Idee kam, sie grundlos zuzuhalten.

Dieser Mann war einfach ein Idiot und ich täte gut daran, das niemals wieder zu vergessen.

Als ich zurück in den Wohnraum kam, schliefen Wolf und Salia noch den Schlaf der Gerechten. Killian dagegen war bereits wach und auf den Beinen. Er stand an der hinteren Wand bei dem Regal und schaute sich die Dinge an, die meine Familie zurückgelassen hatte. Genau wie Sawyer, trug er nichts weiter als eine Hose. Die helle Haut, die muskulösen Schultern, das große Geburtsmal an seiner Hüfte, ich konnte alles sehen.

Als er bemerkte, wie ich durch die Tür kam, drehte er sich mit einem Lächeln zu mir um. Es verblasste allerdings ein wenig, als er Sawyer hinter mir bemerkte.

„Morgen“, grüßte ich ihn und ging in die Ecke zu unseren Sachen. Besser ich beschäftigte mich mit etwas, bevor andere meine schlechte Laune abbekamen.

„Guten Morgen“, wünschte er auch mir und musterte Sawyer mit einem undefinierbaren Blick, den dieser höchst selbstzufrieden erwiderte. Einen Moment taxierten die beiden sich auf eine Art, die ich nicht verstand. Dann wandte Killian sich wieder dem Regal zu und Sawyer machte sich daran, unsere Schlafmützen zu wecken.

Egal was da zwischen den Beiden schon wieder ablief, es war mir egal. Am besten, ich kümmerte mich einfach nicht darum. Wäre vermutlich besser für meine Nerven.

Während Sawyer seine Kleine weckte, indem er ihr liebevoll über den Kopf strich, holte er Wolf mit einem Tritt gegen das Schienbein ins Land der Lebenden. Der Riese schreckte mit einem Ruck aus dem Schlaf, schaute sich dann einmal um, als müsste er sich erstmal orientieren, und warf Sawyer dann einen griesgrämigen Blick zu.

Ich überprüfte derweilen unsere Vorräte. Viel war es nicht mehr. Wenn wir sparsam waren, würde es vielleicht noch eine Woche reichen. Vielleicht sollten wir erst morgen wieder losziehen, dann konnte ich heute noch auf die Jagd gehen. Ich könnte auch Fallen aufstellen und mit ein bisschen Glück, würden da ein paar passable Mahlzeiten hineinlaufen. Vorher allerdings mussten wir noch besprechen, wie genau es weitergehen sollte, da wir ja nun nicht mehr auf der Suche nach Sawyers Clan waren.

Am wichtigsten war vermutlich erstmal der Winter, der uns schon aus der Ferne zuwinkte. Sie alle durch die kalte Jahreszeit zu bringen, würde anstrengend werden, da wir im Grunde nichts besaßen.

Und schon eröffnete sich mir eine neue Aufgabe. Ich musste auf diese Menschen aufpassen, sie am Leben erhalten. Das war etwas, dass ich eigentlich schon die ganze Zeit tat, doch nun rückte diese Aufgabe in meinen Fokus und ich …

Mit einem „Kismet?“, unterbrach Killian meinen Gedankengang. Aber es war nicht mein Name, der mich aufmerksam machte und mich dazu brachte, meine Arbeit liegen zu lassen und mich zu ihm herumzudrehen, sondern der seltsame Ton in seiner Stimme.

Er stand noch immer bei dem Regal, hielt nun aber das alte Foto meiner Mutter in der Hand, das dort schon stand, solange ich mich zurückerinnern konnte.

„Ja?“

Wolf nutzte den Moment, um sich zu erheben und für die Morgentoilette aus dem Haus zu verschwinden. Salia nahm er mit.

„Hast du dir dieses Bild mal angesehen?“

War das eine Fangfrage? Ich hatte in diesem Haus gelebt. Natürlich kannte ich dieses Bild. „Ja, warum?“

„Nein, ich meine, hast du es dir einmal richtig angeguckt?“ Er schaute von dem alten Foto auf und drehte den Bilderrahmen dann so, dass er mir zugewandt war. „Auch den Hintergrund?“

Den Hintergrund? Ich erhob mich aus der Hocke und ging zu Killian herüber. Dabei ignorierte ich Sawyer, der gerade Salias Decke zusammenrollte. „Was ist mit dem Hintergrund“, fragte ich, als er das Bild an mich übergab.

„Schau es dir an.“

Das tat ich. Auf dem Bild war meine Mutter abgebildet. Als das Foto gemacht wurde, musste sie ein wenig jünger gewesen sein, als ich heute. Sie steckte in einem grünen Sommerkleid und lachte bei dem Versuch, den Hut auf ihrem Kopf festzuhalten. Das Kleid und ihr langes, blondes Haar wehten im Wind. Sie strahlte und war glücklich.

Aber das war es nicht, was Killian mir hatte zeigen wollen, ich sollte auf den Hintergrund achten. Sie stand auf einer grünen Wiese, die von hohen Hecken eingeschlossen war. Diese Hecken waren sehr gerade und akkurat. Ein Teil von einem Brunnen ragte in das Bild und die Skulptur von einer tanzenden Frau. Und dort am Rand war ein Bogen aus Rosen zu sehen.

Meine Augen weiteten sich vor Unglauben. Ich kannte diesen Ort. Nein, ich kannte ihn nicht nur, ich war schon ein paar Mal dort gewesen. „Das ist nicht wahr.“

„Du erkennst es also?“, fragte Killian vorsichtig.

Und ob ich es erkannte. „Das ist Sophias Brunnen.“ Der Brunen in Eden, mit der Skulptur von Sophia. Das Denkmal einer toten Frau. „Sophias Brunnen.“ Ich war so geschockt von dieser Erkenntnis, dass ich gar nicht darauf achtete, wie Sawyer sich hinter mich stellte und über meine Schulter hinweg auf das Foto spähte.

Das meine Mutter eine Zeitlang in Eden gelebt hatte, war für mich keine Überraschung, das wusste ich bereits. Was mich überraschte war die Tatsache, dass der Beweis für ihren Aufenthalt dort, seit meiner Geburt direkt vor meiner Nase gestanden hatte.

Das Bild war hier gewesen, die ganze Zeit, ich hatte nur nicht gewusst, was es bedeutete.

Und noch etwas wurde mir klar, als ich das Bild betrachtete. Dieses Foto war nicht nur in Eden aufgenommen worden, es war auch dort auf Papier gedruckt worden. Wir hatten überhaupt nicht die Möglichkeit gehabt, solche Fotos zu machen. Warum nur war mir das nie aufgefallen?

Ganz einfach, weil es nie Thema war. Es war da gewesen und damit war es das. Als Kind dachte man da gar nicht weiter darüber nach.

Meine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. „Sie hat ihr kleines Geheimnis direkt vor unseren Augen aufbewahrt“, sagte ich bitter. Was genau mich daran störte, war, dass sie Geheimnisse vor uns gehabt hatte, vor ihrer Familie.

„Willst du deinen Kindern später mal erzählen, dass du in Eden warst und was dir dort wiederfahren ist?“, wollte Sawyer wissen.

Wollte er sie jetzt in Schutz nehmen?

„Vielleicht erging es ihr aber auch einfach genau wie dir und sie wollte ihre Zeit in Eden einfach vergessen.“

Das war natürlich möglich. Es war sogar ziemlich wahrscheinlich. Wie also konnte ich meiner Mutter ihre Geheimnisse zum Vorwurf machen, wo ich doch genau jetzt in ihrer Haut steckte. Ich wusste wie sich das anfühlte und wenn ich die Wahl hätte, würde ich diesen Teil meines Lebens auch einfach herausschneiden, um nie mehr daran denken zu müssen.

„Eigentlich ist es ja auch völlig egal“, sagte ich und trat an Killian vorbei, um den Rahmen zurück an seinen angestammten Platz zu stellen. „Sie ist tot und ich werde mir ihr Andenken nicht … Mist!“ Bei dem Versuch den Rahmen zurückzustellen, knallte ich damit gegen das Brett. Er rutschte mir aus der Hand. Hastig versuchte ich noch danach zugreifen, aber leider hatte Killian im gleichen Moment dieselbe Idee.

Statt also den Rahmen zu fassen, krachten unsere Köpfe gegeneinander. Der Rahmen folgte der Schwerkraft, knallte auf den Boden und das Glas zersprang.

„Verdammt, tut mir leid“, sagte Killian sofort und bückte sich, um die Scherben aufzulesen, während ich mir über die schmerzende Stelle am Kopf rieb.

Sawyer setzte ein ziemlich gehässiges Lächeln auf. „Es hat ziemlich hohl geklungen, als dein Schädel gegen ihren geknallt ist.“

Keiner von uns beachtete ihn, als ich mich dazu hockte und ihm dabei half, die Scherben aufzusammeln. Das Bild war wirklich ungünstig gefallen, denn selbst der Rahmen war an der Ecke gebrochen, sodass das Bild halb herausgerutscht war. Aber was war das?

Ich runzelte die Stirn. Hinter dem Foto schaute eine kleine, weiße Ecke hervor. Ein Zettel?

Ich legte die Scherben auf das Bild und zog an der weißen Ecke. Nein, kein Zettel, die Rückseite von einem weiteren Foto, dass hinter dem von meiner Mutter verborgen gewesen war.

„Was hast du da?“, fragte Killian.

Ohne ihm zu antworten, richtete ich mich wieder auf und drehte das Bild dabei um. Was ich dann sah, schockierte mich wie schon lange nichts mehr.

Es war ein weiteres Foto von meiner Mutter. Darauf war sie vielleicht zwölf, oder dreizehn Jahre. Obwohl sie noch so jung war, erkannte ich sie an ihrem blonden Haar, den braunen Augen und den unverwechselbaren Gesichtszügen. Sie trug ein Hemd, das ihr viel zu groß war und auf der linken Seite von der Schulter rutschte. Ihre Beine steckten in einer langen Hose und die Füße waren in festes Schuhwerk gekleidet.

Doch das war es gar nicht, was mich so schockierte, sondern die Frau neben ihr: Agnes.

Auf diesem Bild konnte die alte Vettel gerade mal Anfang vierzig sein. Ihr heute schlohweißes Haar war damals noch braun gewesen, mit ein paar grauen Strähnen. Sie wirkte viel jünger und … fröhlich. Ihre Lippen hatten sich zu einem warmherzigen Lächeln verzogen, ihr Blick war auf meine Mutter gerichtet.

Ich konnte es kaum glauben, aber Agnes hatte ihre Arme um meine Mutter gelegt und die wiederrum, hatte ihre Arme um Agnes geschlungen. Die beiden umarmten sich und sie waren dabei glücklich. Die fröhlichen Gesichter waren nicht aufgesetzt, ihre Lächeln waren aufrichtig.

Es war mir unbegreiflich.

„Kismet?“, fragte Killian vorsichtig.

Ich schaffte es gerade mal so, meinen Blick auf ihn zu richten, zu mehr war ich nicht in der Lage.

Sawyer hatte diese Schwierigkeiten natürlich nicht. Er trat zu mir und nahm mir das Foto einfach aus der Hand, um selber einen Blick darauf zu werfen. Sofort wanderten seine Augenbrauen ein Stück nach oben. „Ich habe gar nicht gewusst, dass diese alte Schabracke lächeln kann.“ Er reichte das Bild an Killian weiter, der gerade versuchte ein Blick darauf zu erhaschen. „Ich dachte immer, ihr Gesicht würde zerbrechen, wenn sie es versucht.“

Auch Killian wirkte überrascht und erstaunt. „Das ist Agnes.“

Ach nee. „Was hat das zu bedeuten?“, wollte ich wissen.

„Na was schon?“, sagte Sawyer. „Es bedeutet, dass deine Mutter in Eden war und Agnes gekannt hatte. Das wussten wir doch schon.“

Die Tür ging auf und Salia stürmte herein. Wolf folgte ihr etwas gesitteter und schloss sie wieder hinter sich, um die Kälte und den Regen auszusperren.

„Aber siehst du nicht, was die beiden da tun?“, drängte ich, riss Killian das Foto aus der Hand und hielt es Sawyer direkt vor die Nase.

„Sie umarmen sich“, sagte er und folgte mit dem Blick Salia, die direkt zu unseren Kisten lief. „Was hast du vor?“

„Wölkchen hat Hunger.“ Was nur ein Synonym dafür war, dass Salia Hunger hatte.

„Bist du blind?“, fragte ich Sawyer und lief ihm hinterher, als er zu Salia ging, um ihr etwas zu Essen von unserem Vorrat zu geben. „Sie umarmen sich nicht nur, sie lächeln dabei. Meine Mutter mochte Agnes und Agnes mochte sie.“

„Ich würde da nicht zu viel hineininterpretieren“, sagte Sawyer und kramte den Beutel mit dem Trockenobst heraus, den er sogleich an Salia weitergab.

„Nein, sie hat recht“, stimmte Killian mir zu. Er stand noch am Regal und hob die Scherben zusammen mit dem Bilderrahmen vom Boden.

„Du stimmst ihr doch jetzt nur zu, um bei ihr zu punkten“, warf Sawyer ihm vor. „Sonst müsstest du ihr ja wieder erklären, dass sie sich da nur etwas einbildet.“

Killian überging das einfach. „Du hast es doch eben selber gesagt, du hast Agnes noch nie lächeln sehen.“ Er richtete sich auf und legte das Bild zusammen mit den Scherben im Regal ab. „Aber auf dem Bild, naja, da wirkt sie richtig mütterlich.“

Mütterlich? „Willst du damit sagen, Agnes ist meine Großmutter?!“, fragte ich und nein, das Entsetzen in meiner Stimme war weder gespielt, noch übertrieben. Ich starrte auf das Bild. Die beiden sahen sich absolut nicht ähnlich, aber das hatte nichts zu bedeuten. Auch ich sah meiner Mutter nicht ähnlich. Alle ihre Kinder kamen nach meinem Vater.

„Nein, das habe ich nicht gemeint“, sagte Killian sofort. „Ich wollte nur sagen, dass die beiden sich sehr zugeneigt sind. Offensichtlich haben sie irgendeine Art von Beziehung zueinander. Sie mögen sich.“

„Da ist überhaupt nichts offensichtlich“, erklärte Sawyer herablassend. „Nur weil sie Kismets Mutter anlächelt, bedeutet das noch lange nicht, dass sie miteinander verwand sind. Ich habe noch nie gesehen, wie Agnes eines ihrer Kinder angelächelt hat. Oder überhaupt freundlich zu ihnen gewesen wäre. Sie drückt sie nur raus, schmeißt sie in die Welt und brühtet das nächste aus.“

„Ich habe doch gerade gesagt, dass ich das nicht gemeint habe“, sagte Killian frustriert. „Obwohl … wenn es wahr wäre, würde es den Verschluss der DNA-Analyse erklären. Agnes will ihre Verwandtschaft zu Kismet geheim halten.“

„Und warum sollte sie das wollen?“, wollte Sawyer wissen. „Sonst interessiert es sie doch auch nicht, wer alles mit ihr verwand ist.“

Wolf stellte sich hinter mich, um sich über meinen Kopf hinweg das Bild anzuschauen. Scheinbar wollte er wissen, was hier los ist.

Killian fühlte sich in die Ecke gedrängt. „Keine Ahnung, ich weiß doch auch nicht alles.“

„Du weißt rein gar nichts“, korrigierte Sawyer ihn. „Du machst nur gerade unser Mädchen verrückt. Dabei brauch sie diesen Scheiß wirklich nicht auch noch.“

Er hatte recht. Aber auch Killian hatte recht. Ich konnte mit dieser schrecklichen Frau verwandt sein. Genauso gut konnte es aber auch sein, dass meine Mutter in dem Alter einfach nur naiv war und unter Geschmacksverirrung gelitten hatte.

Leider erklärte das nicht den warmherzigen Ausdruck auf Agnes Gesicht. Es machte den Eindruck, als würde sie meine Mutter lieben.

Was das zu bedeuten hatte, wusste ich nicht, aber eines war jetzt ganz offensichtlich klar. Eigentlich war es dumm gewesen, dass mir das bei den ganzen Beweisen nicht schon vorher bewusst geworden war: Agnes kannte meine Mutter. Nur leider sagte das nichts über die Beziehung der beiden aus. Konnte meine Mutter wirklich ein Kind von Agnes sein?

Moment, sowas hatte ich doch schon einmal gehört. Das war auf der Elysium-Parade gewesen. Ich hatte mit Jasper, dem Vater von Killian, in einer Kutsche gesessen, da hatte Jasper von einem Kind gesprochen, das Agnes verloren hatte. Hatte er vielleicht mit verloren gemeint, dass das Kind weggelaufen war? Konnte meine Mutter damit gemeint gewesen sein?

Aber Jasper hatte das Kind Samira genannt, nicht Hannah. War es möglich, dass ihr gleich zwei Kinder weggelaufen waren?

Da ich Agnes kennenlernen durfte, fand ich diese Überlegung gar nicht so abwegig. Vorstellen konnte ich mir es trotzdem nicht, denn die Leute dort liebten ihre Stadt und auf dem Bild war zu sehen, dass Agnes meine Mutter gemocht hatte. Warum also, war meine Mutter trotzdem gegangen?

Plötzlich wurde mir das Foto aus der Hand gerissen und Sawyer schaute mich finster an. „Hör auf dir das anzuschauen und dir irgendwelchen Blödsinn in deinem hübschen Kopf zusammen zu spinnen.“

Anstatt ihn anzufauchen, oder mir das Bild zurückzuholen, schaute ich ihn nur an. Er hatte recht, was ich hier tat war dumm. Meine Mutter war tot und hatte ihre Geheimnisse mit ins Grab genommen. Heute waren sie ohne jede Bedeutung. Sie würden mir weder helfen zu überleben, noch den Trackern zu entkommen. Ich sollte einfach vergessen, dass ich dieses Foto jemals gesehen hatte.

Wortlos ging ich zu dem Wäscheseil hinüber, über das wir unsere nasse Kleidung gehängt hatten und nahm mir meine Hose herunter. Sie war noch nicht ganz durchgetrocknet, aber das war egal, da es draußen sowieso noch leicht regnete.

Ich schlüpfte hinein, musste ein paar Mal hüpfen, damit sie über meinen Hintern ging und band sie dann zu.

Killian beobachtete mich stirnrunzelnd. „Was hast du vor?“

„Wir brauchen Vorräte“, sagte ich und ging hinüber zu unseren Sachen. „Ich gehe jagen.“ Der Bogen und der Köcher lagen griffbereit an der Seite. Ich nahm beides an mich.

„Ich finde, du solltest jetzt nicht allein sein“, sagte er.

Wolf brummte, als stimmte er ihm zu.

„Allein komme ich schneller voran“, erwiderte ich nur und ging zur Tür. „Ich weiß noch nicht, wann ich wieder da bin, aber ihr könnt euch ja schon mal mit Sawyer besprechen, er hat Neuigkeiten.“ Mit diesen Worten verließ ich das Haus und stopfte das Bild zu dem ganzen anderen Müll in meine mentale Kiste.

Ich würde nicht mehr daran denken und ich würde mich nicht damit verrückt machen. Selbst wenn Agnes mit mir verwandt sein sollte, machte das keinen Unterschied zu meiner jetzigen Lage, darum war es völlig egal. Es wurde Zeit, die Vergangenheit hinter mir zu lassen und erhobenen Hauptes meiner Zukunft zu begegnen.

 

oOo

Kapitel 30

 

„Wann brechen wir auf?“, fragte Sawyer und hielt Salia dazu an, still zu sitzen, damit er ihr die Haare manierlich kämmen konnte. Ihre lange, braune Mähne würde sich ansonsten bald in ein brauchbares Vogelnest verwandelt haben.

„Sobald ich zurück bin.“ Ich befestigte mein Messer an meinem Gürtel und warf einen Blick in den Nebenraum, wo Trotzkopf in der Ecke lag und an den alten Vorhängen zerrte. Er versuchte nicht ihn zu fressen, er zerrte einfach nur daran. Vielleicht gefielen sie ihm ja nicht. Oder ihm war einfach langweilig.

Sawyer hielt in seinem Tun kurz inne. „Wo willst du denn jetzt schon wieder hin? Du hast die Fallen doch schon kontrolliert.“

Das hatte ich in der Tat und sogar mit großem Erfolg. Drei Kaninchen und ein Dachs hatten sich darin verfangen. Mit dem Wildschwein, dass ich gestern geschossen und ausgenommen hatte, würden wir ein paar Tage gut über die Runden kommen. Das mit den Fallen sollte ich definitiv beibehalten. „Ich muss noch etwas erledigen.“

„Und was?“

Da ihr Vater sich nicht mehr mit ihrem Haar beschäftigte, nutzte Salia die Gunst der Stunde und krabbelte von ihm weg zu ihrem Spielzeug. Still musste sie oft genug sitzen, da gab sie ihrem Bewegungsdrang nach, wann immer sie konnte.

„Es wäre mir neu, dass ich dir rechenschafft schuldig bin“, sagte ich ausweichend, weil ich die Frage nicht beantworten wollte. Ich hatte nichts Schlimmes vor, aber es ging ihn nichts an. Das war eine private Angelegenheit. „Ihr könnt ja schon mal anfangen zusammenzupacken, es wird nicht lange dauern.“

Killian schien von meinem Abgang genauso begeistert zu sein, wie Sawyer. Trotzdem sagte er nur: „Pass auf dich auf.“

„Mache ich.“ Ich schnappte mir noch ein Stück von dem Wildschweinbraten, der von gestern noch übriggeblieben war und machte dann, dass ich aus dem Haus kam, bevor Sawyer seine Verhörtaktiken ausbauen konnte. Das hier war nicht nur etwas Privates, sondern auch noch sehr Persönliches und ging ihn wirklich nichts an. Das würde für mich schon emotional genug werden, dabei brauchte ich weder ihn, noch seine dummen Kommentare.

Es war ein ruhiger Vormittag. Nach dem vielen Regen der letzten Tage, war der Himmel aufgeklart. Aus den Bäumen hörte ich den Ruf einer Krähe und das aufgeregte Flattern von Flügeln. Hier im Wald war es ruhig, fast friedlich. Wäre da nicht meine innere Anspannung, könnte das hier ein ganz netter Spaziergang sein.

Schritt für Schritt, trugen meine Beine mich über den feuchten Waldboden, das Ziel immer vor Augen.

Es war lange her, seit ich diesen Weg das letzte Mal gegangen war. Schon gestern hatte ich daran gedacht, es zu tun, aber nachdem was ich erfahren hatte, konnte ich nicht. Ich musste erstmal wieder mit mir selber klarkommen.

Auch jetzt fühlte es sich … nicht falsch, aber auch nicht richtig an. Aber das war nichts Neues für mich. Es war schon früher immer seltsam gewesen.

Gestern, nachdem ich von der Jagd zurückgekommen war, hatten wir gemeinsam beschlossen, die Suche nach Sawyers Familie ruhen zu lassen. Wir würden zusammenbleiben und uns ein Plätzchen suchen, auf dem wir uns niederlassen konnten. Dazu würden wir Richtung Norden ziehen. Im Norden lag zwar auch Eden, aber wir würden uns Westlich davon halten. Außerdem würden die Tracker uns sicher eher im Süden vermuten. Dieser Plan war sowohl riskant, als auch schlau. Wer suchte schließlich schon in seinem eigenen Vorgarten, nach seinem Feind?

Zwei Wochen, so viel Zeit hatten wir uns gegeben, um einen geeigneten Ort zu finden. Erst hoch zum Meer und dann weiter nach Westen an der Küste entlang. Wenn wir in der Zeit nichts fanden, würden wir uns erstmal ein Quartier für den Winter suchen und dann im Frühjahr weitermachen.

Salia freute sich, aber das war eigentlich nichts Besonderes, da Salia sich über alles freute. Wolf war es egal, solange wir zusammenblieben, nur Killian hatte sich nicht wirklich dazu geäußert.

Das Gespräch, das er mit Sawyer geführt hatte, war mir im Gedächtnis geblieben. Wahrscheinlich fiel es ihm einfach nicht leicht, sich von Eden loszusagen. Vielleicht würde es ihm sogar niemals gelingen. Die Zeit würde es zeigen.

Im Moment war erstmal wichtig, dass wir wieder aufbrachen. Sobald ich zurück war, konnte die Reise starten, doch vorher musste ich das hier einfach noch tun, denn ich würde wahrscheinlich nie wieder die Gelegenheit dazu haben.

Mein Herz schlug ein wenig schneller, als ich den alten Baum passierte, der auf halber Höhe mit einem anderen zusammengewachsen war. Es machte fast den Anschein, als bildeten die beiden ein Tor. Dieses Tor jedoch führte nur zu Tränen. Trotzdem trat ich hindurch und damit auf die kleine, beschattete Lichtung dahinter.

Dieses Fleckchen Erde, war für sich genommen, nichts Besonderes. Es war einfach irgendein Stück in diesem Wald. Doch in der Mitte der kleinen Lichtung, stapelten sich viele Steine und Felsbrocken, um das zu schützen, was darunter begraben lag: Mein Vater.

Es sah noch fast genauso aus, wie das letzte Mal, als ich hier gewesen war. Ein paar der Steine waren verrutscht und etwas Unkraut hatte sich darauf niedergelassen, aber ansonsten merkte man kaum, dass bereits elf Jahre seit meinem letzten Besuch vergangen waren.

Ein Weilchen stand ich einfach nur da und starrte das Grabmal meines Vaters an, ohne genau zu wissen, was ich hier eigentlich wollte. Irgendwie war es ein Zwang gewesen herzukommen. Aber ich wollte auch hier sein. Gleichzeitig wollte ich aber auch wieder gehen, weil ich nicht wirklich wusste, was ich hier eigentlich sollte.

Ein Windzug fegte durch die Bäume und ließ die bunten Blätter rascheln. Er kam von hinten, so als wollte er mich auf die Lichtung treiben.

Na gut, das bildete ich mir jetzt aber wirklich ein. Trotzdem trat ich langsam darauf zu, bis ich direkt vor seinem Grabmal stand.

Ich erinnerte mich noch sehr gut daran, wie ich hier zum ersten Mal gestanden hatte. Wie viele Tränen ich damals geweint hatte und nicht begreifen konnte, dass er für immer weg war. Ich hatte geschrien und geschluchzt und war weggerannt, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, ihn niemals wieder zu sehen. Erst Tage später war ich allein zurückgekommen und vor dem Steinhaufen zusammengebrochen.

Noch heute war es mir unbegreiflich, wie ein Mensch von einem Moment auf den anderen einfach weg sein konnte, und dass, obwohl es mir jetzt schon so oft passiert war.

Wenn man genau darüber nachdachte, hatte ich in meinem Leben bereits jeden Menschen verloren, der mir etwas bedeutete. Irgendwann würde ich auch die verlieren, die im Moment bei mir waren, da war ich mir sicher. Sie verließen mich alle auf die eine oder andere Art und ich war nicht fähig, etwas dagegen zu tun.

Mit einem Kopfschütteln versuchte ich diese Gedanken loszuwerden. Sie gehörten nicht hier her. Dies war ein Ort des Andenkens und mein Besuch sollte allein meinem Vater gelten.

Ich legte zwei Finger an die Stirn und neigte meinen Kopf leicht. Ein Gruß in Gedenken und Erinnerung, an die, die von uns gegangen waren.

„Hallo Papa.“ Langsam ließ ich mich auf die Knie sinken und dachte dabei an so viele Momente meines Lebens, die ich mit ihm geteilt hatte. Und auch an all jene, die er verpasst hatte, weil er wegen einer dummen Krankheit so früh von uns gegangen war.

Fast schon zögernd, beugte ich mich ein wenig vor und wischte ein paar alte Blätter von den Steinen. „Tut mir leid, dass ich schon so lange nicht mehr hier war, aber … es ist einiges passiert“, sagte ich vage. Nicht das ich glaubte, er könnte mich hören, aber die Vorstellung war schön. Ich war früher oft hier gewesen, um mit meinem Vater zu reden. „Und ich wusste die ganze Zeit nicht, wo ich dich finden konnte.“

Ich hatte auch nicht gesucht, denn allein der Gedanke daran, an den Ort zurückzukehren, an dem meine Eltern und mein großer Bruder gestorben waren, hatte mir eine eiskalte Gänsehaut über den Rücken gejagt. Und doch saß ich nun hier, in der Hoffnung, ein wenig Ordnung in meine wirren Gedanken zu bekommen.

„In den letzten Wochen ist so viel passiert und langsam habe ich das Gefühl, mich selber zu verlieren.“ Es tat gut, das einmal laut auszusprechen. „Ich weiß nicht mehr wer ich bin, oder was ich will, oder was ich tun soll.“ Ich war wie ein Blatt in einem Sturm, das herumgeschleudert wurde, ohne die Chance sich irgendwo festzuhalten. Genauso hatte ich mich damals gefühlt, als meine Mutter gestorben war. Ich fühlte mich haltlos, allein und verlassen, wie in einem freien Fall und wusste nicht, wie es weitergehen sollte.

Ob meine Mutter sich auch so gefühlt hatte, nachdem sie Eden entkommen war? Hatte sie auch alles verloren? Und was war mit ihrer Familie, ihren Eltern? Sie hatte nie ein Wort über Verwandte verloren, genauso wenig, wie mein Vater. Es hatte immer nur uns gegeben: Papa, Mama, Akiim, Nikita und mich. Bis es Papa dann nicht mehr gegeben hatte. Und nach und nach waren auch alle anderen verschwunden, bis ich ganz allein zurückgeblieben war.

Alles dank Eden.

„Hast du es gewusst?“, fragte ich leise, obwohl ich mir geschworen hatte, nicht mehr darüber nachzudenken und es einfach zu vergessen. „Hast du gewusst, dass Mama in Eden war, oder hat sie es dir auch verheimlicht?“ Hatten wir überhaupt jemals wirklich gewusst, wer meine Mutter war, oder hatte sie all die Jahre eine Maske getragen, ohne uns jemals einen Blick auf ihr wahres Ich zu genehmigen?

Er musste es gewusst haben, die Anzeichen waren überall. Das Foto, die Kleidung und die bunten Gläser. Als Kind hatte ich sie nur nicht erkannt, weil ich nicht gewusst hatte, worauf ich achten musste und was es bedeutete.

Ich war in dem Wissen aufgewachsen, dass Eden und alles was mit der Stadt zusammenhing, gefährlich war. Meine Mutter hatte uns erzählt, dass dort schreckliche Dinge geschahen und nur böse Menschen lebten. Alle Menschen in der freien Welt wussten das, doch meine Mutter hatte diese Geschichten immer forciert und uns regelmäßig daran erinnert, damit wir es auch ja nie vergaßen und doch noch den Verlockungen der Stadt erlagen. Eden war immer der Bösewicht, in den Gute Nacht Geschichten meiner Kindheit gewesen.

Jetzt, da ich wusste, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der sie dort gelebt hatte, bekamen all ihre Warnungen ein ganz anderes Gewicht.

Was war ihr in Eden widerfahren, was sie so verängstigte, dass sie ihre Familie in einem einsamen und verlassenen Wald gründete? Warum wollte sie in einer solchen Abgeschiedenheit leben, ohne den kleinsten Kontakt zu anderen Menschen?

Klar, ich bevorzugte auch die Einsamkeit, aber ich fürchtete mich auch nicht vor der Begegnung mit Fremden – obwohl ich allen Grund dazu hätte, denn ich hatte mehr als einmal lernen müssen, dass Fremde nur selten Gutes im Sinn hatten.

Ich erinnerte mich noch sehr genau daran, wie meine Mutter mit uns Kindern immer schnell im Haus verschwunden war, wenn einmal fahrende Händler vorbeigeschaut hatten. Die Händler waren nie geblieben, um mit uns zu Essen, wie ich es von Marshall kannte und wir hatten auch immer erst wieder herausgedurft, wenn mein Vater verkündete, die Händler seien wieder weg.

Damals hatte ich mir nichts dabei gedacht, es war für uns ganz normal gewesen. Doch jetzt, nach allem was ich wusste, erschien mir dieses Verhalten, unter einem ganz anderen Licht. Wobei ich ja eigentlich gar nichts wusste, ich hatte einfach nur unendlich viele Fragen, auf die ich wohl niemals eine zufriedenstellende Antwort bekommen würde.

„Du hast uns zu früh verlassen.“ In einer unbewussten Handlung, begann ich die Steine auf dem Grab meines Vaters zu richten. „Ich vermisse dich.“ Wäre er damals bei uns gewesen, wäre vielleicht alles anders gekommen. Leider ließ sich die Vergangenheit nicht korrigieren und man musste mit dem was geschehen war leben. Und nun saß ich hier und blickte in eine ungewisse Zukunft.

„Ich werde wieder gehen“, sagte ich zu meinem Vater. Ich wischte noch ein Blatt weg, drehte einen der Steine und kniete dann wieder still vor ihm. „Ich weiß, dass hier war eure kleine Oase, aber ich kann nicht bleiben, weil … es ist zu viel passiert.“ Hier war die Vergangenheit allgegenwärtig und zerrte mit ihren Klauen an mir. „Ich weiß nicht, ob ich jemals zurückkommen werde, oder ob das hier ein Abschied für immer wird, aber ich verspreche dir, dass du für immer in meinem Herzen sein wirst.“ So wie in den ganzen Jahren, die bereits hinter mir lagen. „Du fehlst mir.“ Und das würde er auch immer tun.

Im Augenwinkel nahm ich plötzlich eine Bewegung wahr und drehte sofort alarmiert den Kopf. Eine kleine Gestalt, mit langem, braunem Haar, linste hinter einem der Baumstämme hervor. „Salia.“ Vor Erleichterung, rutschte mir das Herz fast in die Hose. Für einen kurzen Moment hatte ich befürchtet, die Tracker wären wieder hinter mir her. Wer rechnete denn auch schon damit, von großäugigen Zwergen verfolgt zu werden? „Was machst du denn hier?“

„Du bist einfach weggegangen.“ Sie kam hinter dem Baum hervor, traute sich aber nicht näher zu kommen. Befürchtete sie, sie würde Ärger bekommen? Stattdessen drückte sie Wölkchen fest an ihre Brust. „Ich wollte nur auf dich aufpassen.“

Es hatte ihr Angst gemacht, wurde mir klar. Ich hatte nicht sagen wollen, wohin ich ging und darum war sie mir gefolgt. Beim letzten Mal, als sie nicht wusste wo ich war, waren ihr Vater und ich tagelang verschwunden gewesen und sie hatte nicht gewusst, ob wir zurückkommen würden. Daran hatte ich nicht gedacht.

Manchmal vergaß ich wie klein sie eigentlich noch war, weil sie ansonsten immer so pflegeleicht war.

Ich breitete die Arme aus. „Komm her.“

Ohne zu zögern stürzte sie zu mir und warf sich in meine Arme. Ihre Streichholzärmchen wickelten sich um meinen Hals, als ich sie an mich drückte.

„Ich wäre bald zurückgekommen“, versicherte ich ihr und ließ etwas locker, als sie sich auf meinen Schoß setzte und mich anschaute. Wie tief musste ich in meinen Gedanken gefangen gewesen sein, dass ich gar nicht gemerkt hatte, wie sie mir gefolgt war? „Ich brauchte nur mal einen Moment allein für mich.“

Sie nickte ernst, als würde sie das verstehen. „Darum habe ich mich ja versteckt. Ich wollte nicht, dass du mich siehst.“

Das entlockte mir ein Lächeln. „Weiß dein Papa, dass du mir hinterhergeschlichen bist?“

Sich keiner Schuld bewusst, schüttelte sie den Kopf und musterte dann den Steinhaufen. „Was ist das?“

Oh je, hoffentlich drehte Sawyer auf der Suche nach seiner Tochter nicht gerade durch und grub den ganzen Wald um. „Das ist ein Grabmal.“

„Ein Grabmal?“

„Hmh.“ Ich schaute an ihr vorbei zu dem Steinhaufen. „Weißt du, als ich noch so klein war wie du, wurde mein Vater sehr krank und ist gestorben. Hier haben wir ihn begraben.“

Ihre Augen wurden ganz groß. „Dein Papa ist tot?“

„Ja, leider.“ Ich strich ihr über ihre Haarpracht. Irgendwie hatte das Kämmen nicht viel gebracht. Vielleicht sollte ich das später noch mal in die Hand nehmen. „Es ist schon lange her, aber bevor wir gehen, wollte ich ihn noch mal besuchen.“

„Bist du deswegen traurig?“

„Ja, manchmal.“

„Sei nicht traurig.“ Sie schlang wieder ihre Arme um mich. „Ich teile meinen Papa mit dir.“

Oh, ähm … hmm. Die Gedanken an Sawyer und mich versuchte ich bereits seit gestern zu verdrängen. Ich wusste immer noch nicht, was in mich gefahren war, oder warum ich ständig so ein Kribbeln verspürte, wenn ich daran dachte, was passiert war. Wobei ja eigentlich nichts passiert war. Es war eine Umarmung gewesen. Eine sehr intensive Umarmung, aber dennoch nichts weiter als eine Umarmung. Wir hatten uns nicht mal geküsst. Nicht dass ich ihn hatte küssen wollen. Na gut, einen kurzen Moment vielleicht, aber das zählte nicht, weil es nicht passiert war.

Bei Gaias Güte, höre sich nur einer meine Gedanken an. Zeit sich auf den Weg zu machen. „Komm, lass uns zurückgehen, dein Papa macht sich sicher schon Sorgen.“

„Okay.“ Sie ließ mich los und sprang auf die Beine. Während ich es ihr weniger enthusiastisch gleichtat, fragte sie: „Mit wem hast du die ganze Zeit geredet?“

Klar, dass sie das mitbekommen hatte, sie hatte ja gelauscht. Zu meinem Glück war sie erst sieben und hatte die Hälfte von dem was ich gesagt hatte, wahrscheinlich gar nicht verstanden. Hoffentlich. „Mit meinem Vater.“

Erstaunt schaute sie mich an. „Er kann dich hören?“

„Nein, aber manchmal hilft es, mit jemanden zu sprechen, auch wenn er nicht mehr da ist.“

„Das verstehe ich nicht.“

Ich wünschte ihr von Herzen, dass sie das auch niemals würde verstehen müssen. „Das ist nicht schlimm. Komm, lass uns gehen.“

Den ganzen Rückweg hüpfte Salia um mich herum und quasselte dabei ununterbrochen über alles, was sie in ihrem siebenjährigen Leben für wichtig erachtete.

Ich genoss es richtig. Es war schön, sich einmal nicht mit Problemen beschäftigen zu müssen und die Welt durch die Augen eines Kindes sehen zu können. Und auch Salia schien es toll zu finden, dass ich ihr zuhörte und ihre Belange ernst nahm.

Bereits mehr als einmal hatte ich bemerkt, dass die Umstellung von der Stadt zu diesem Leben nicht einfach für sie gewesen war. Für sie war diese Reise ein großes Abenteuer und sie fand es toll, mit uns unterwegs zu sein und Sachen zu machen, die sie in Eden nie gedurft hätte. Aber sie vermisste ihr altes Leben auch.

Ihr einziges Glück war es, dass sie noch so klein war. Für sie war es einfacher, sich in dieses Leben einzufinden, als für einen Erwachsenen wie Killian.

Bereits als wir uns dem alten Haus meiner Eltern näherten, hörte ich Sawyer nach Salia rufen. In seiner Stimme klang definitiv ein kleiner, panischer Unterton mit.

„Ich bin hier!“, schrie sie zurück und rannte dann los. In der nächsten Sekunde war sie schon zwischen den Bäumen verschwunden.

Ich folgte ihr ohne Eile und als ich auf das Grundstück kam, saß sie bereits auf Sawyers Arm und musste eine Standpauke von ihm über sich ergehen lassen. Seine Aufmerksamkeit richtete sich jedoch sofort auf mich, als er mich bemerkte.

„Du hast sie mitgenommen?“ Da war eindeutig ein Vorwurfsvoller Ton in seiner Stimme.

„Ich habe sie nicht mitgenommen“, sagte ich schnell, bevor er anfangen konnte, mir Vorhaltungen darüber zu machen, dass ich einfach sein Kind entführte. „Sie ist mir gefolgt, aber sie hat mir versprochen, dass sie sich nie wieder heimlich davonschleicht.“ Hatte sie zwar nicht, aber das musste er ja nicht wissen.

Sawyer machte den Eindruck, als hätte er sehr gerne noch ein bisschen gemeckert, aber ich hatte ihm den Wind aus den Segeln genommen. „Die wichtige Sache, die nicht so lange dauert, hat ganz schön lange gedauert.“

Er fand aber auch immer ein Haar in der Suppe.

„Wir haben ihren toten Papa besucht“, verriet Salia ihm. „Das macht sie immer ganz traurig.“

Der Ausdruck auf meinem Gesicht wurde ganz starr. Das hatte er nicht wissen sollen. Leider hatte ich vergessen, dass der Kleinen zu sagen und jetzt schaute mich Sawyer fast schon mitleidig an. Genau das hatte ich vermeiden wollen. „Wollten wir nicht aufbrechen?“, fragte ich kühl und ging an ihm vorbei.

Zu meinem Verdruss stand der Karren bereits vollgeladen vor dem Haus. Ja selbst Trotzkopf hatten sie schon davor gespannt. Also keine Chance sich schnell aus der Affäre zu ziehen. „Ich schaue drinnen nach, ob wir auch nichts vergessen haben“, sagte ich schnell, musste dann aber zur Seite treten, weil Wolf mit einer weiteren Kiste herauskam.

Damit hatte sich dieser Plan wohl auch in Luft aufgelöst. Trotzdem ging ich hinein und schaute mich nochmal um.

Killian war auch drinnen und hob gerade die letzte Kiste von Boden. Die Felle und die Decken waren wieder weg und es sah fast genauso aus, wie vor zwei Tagen, als wir hier eingetroffen waren. „Das ist die letzte“, sagte er und lächelte mich an. „Danach können wir los, außer …“ Er zögerte. „Möchtest du vielleicht noch einen Moment allein sein?“

„Warum?“ Ich ließ meinen Blick über die alte und vergammelte Einrichtung wandern. „Hier gibt es nichts mehr für mich.“

Sein Mund ging auf, schloss sich dann aber wieder. Beim zweiten Versuch sagte er nur: „Ich bring mal schnell die Kiste raus.“

Als er an mir vorbei ging, bemerkte ich einmal mehr, dass er sein Messer wieder nicht trug. Im Moment hatte ich aber keine Intention, ihn schon wieder darauf hinzuweisen. Wahrscheinlich würde ich das verdammte Ding an ihm festtackern müssen, damit er es nicht immer wieder in seine blöde Arzttasche stopfte.

Sobald er durch die Tür war, befand ich mich alleine im Haus und plötzlich wirkten diese vier Wände einfach nur noch verlassen und leblos. Das Leben, das hier einmal stattgefunden hatte, schien heute keinerlei Bedeutung mehr zu haben. Dieses Haus hatte viel erlebt. Die Wände konnten ganze Geschichten von Freude, Liebe, Kummer und Leid erzählen, doch ohne die Menschen, wurde das alles bedeutungslos.

Mein Blick fiel wieder auf das Regal, wo noch immer der kaputte Bilderahmen lag. Niemand hatte ihn weggeräumt.

Langsam näherte ich mich ihm und starrte auf die beiden Fotos. Sie bargen noch immer mehr Rätsel als Antworten.

Ich griff nach ihnen und schaute sie mir noch einmal an. Leider bescherte mir das keine neuen Eindrücke. Es war eine Zeit im Leben meiner Mutter, auf die ich niemals Zugriff erhalten würde. Und wenn ich einmal ehrlich war: Hätte sie gewollt, dass ich diesen Teil ihres Lebens kennenlernte, hätte sie mir davon erzählt. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, diesen Teil ihrer Geschichte einfach ruhen zu lassen.

Ich legte das Bild mit ihr und Agnes zurück ins Regal, steckte das andere aber zu meinen persönlichen Sachen in meinen Beutel. Dann ließ ich meinen Blick über all die anderen Dinge gleiten, die dort drinnen lagen. Das ganze Leben einer Familie auf einem Fleck.

Leise Schritte ließen die Bodendielen hinter mir ächzen und stöhnen, als wäre schon die kleinste Belastung eine enorme Qual für sie. Die Schritte endeten direkt in meinem Rücken. Links und rechts legten sich Hände auf meine Schultern, warmer Atem in meinem Nacken. „Wir sind dann so weit“, sagte Killian. „Oder brauchst du noch einen Moment?“

„Nein.“ Ich schaute von dem Regal, über die Wände zu dem kleinen Kinderzimmer, mit den alten Betten. „Hier gibt es nichts mehr für mich.“ Alles was es hier noch gab, waren Schatten der Vergangenheit und vernebelte Erinnerungen. „Lass uns aufbrechen.“

 

oOo

Kapitel 31

 

„Bekomme ich dann auch mein eigenes Zimmer?“, wollte Salia wissen.

„Jeder bekommt sein eigenes Zimmer“, versprach ich ihr und führte Trotzkopf, um die einsame Ruine eines alten, überwucherten Hauses herum. „Du und ich und dein Papa und …“

„Und wenn ich bei Papa schlafen will?“

Dann sollte sie hoffen, dass ich ihn bis dahin noch nicht erwürgt hatte. „Du kannst tun, wonach immer dir ist.“

Ihrem zufriedenen Gesichtsausdruck zu folge, war das genau das, was sie hatte hören wollen.

„Für dich ist auch immer ein Plätzchen in meinem Bett frei“, teilte Sawyer mir mit und schmunzelte. Seine Augen funkelten vergnügt. „Ich teile sogar meine Decke mit dir.“

Ich warf ihm einen kurzen Blick zu und fragte mich, warum er nicht hinten bei Salia lief, sondern hier vorne bei mir. „Gut zu wissen.“

Schon die ganze letzte Woche, seit dem Morgen in meinem alten Kinderzimmer, machte er immer wieder solche Anspielungen. Na gut, das hatte er vorher auch schon getan, aber die letzte Woche hatte er keine Gelegenheit verstreichen lassen und langsam machte mich das wirklich ungehalten. Ich meine, was versprach er sich von diesem Blödsinn? War ja nun nicht so, als hätte ich irgendwann auch nur mal angedeutet, dass ich darauf eingehen würde.

Naja, bis auf dem Morgen in meinem alten Kinderzimmer.

Oder den einen Abend bei ihm im Haus.

Besser, ich dachte nicht weiter darüber nach, sonst könnten mir noch andere Momente einfallen.

Die Landschaft zog an uns vorbei. Zurzeit befanden wir uns auf einer alten, rissigen Straße in einem leicht bewaldeten Gebiet, dass immer wieder von weiten Wiesen und Feldern abgelöst wurde, die bis zum Horizont zu reichen schienen. Der Himmel war leicht bewölkt, aber trocken. Leider war es die letzten Tage immer kälter geworden. Ich hatte mich sogar dazu durchgerungen, mir meine Stifel anzuziehen und eine Weste überzuwerfen. Auch die Männer trugen jetzt Jacken – alle frisch von mir genäht. Nicht mehr lange und wir würden nachts Minustemperaturen bekommen. Das waren keine guten Aussichten.

Salia turnte auf dem Karren herum. Wahrscheinlich war ihr langweilig. „Wie lange dauert es denn noch, bis wir bei unserem neuen Zuhause sind?“

Das war eine ausgezeichnete Frage. Leider hatte ich darauf keine eindeutige Antwort. „Das weiß ich nicht. Vielleicht sind wir schon in ein paar Tagen da, vielleicht brauchen wir aber auch noch ein paar Wochen. Wir müssen erst noch einen Platz finden, auf dem wir uns niederlassen können.“ Hoffentlich nur ein paar Tage. Die Herbststürme hatten bereits begonnen und ich wollte sicher nicht mehr hier draußen herumwandern, wenn der erste Kälteeinbruch kam.

„Und wo finden wir so einen Platz?“, fragte sie weiter.

„Das müssen wir schauen. Wir brauchen einen Ort, wo es Wasser gibt – einen See, oder einen Fluss. Wir brauchen Land zum anbauen und Wälder zum Jagen.“ Und dann bräuchten wir noch ein schützendes Dach über dem Kopf.

„Und wenn wir das alles haben, wohnen wir alle zusammen?“

Ich mit Sawyer unter einem Dach? Nur wenn mir keine andere Wahl blieb. „Das weiß ich nicht, vielleicht. Vielleicht wollen aber auch alle ihr eigenes Haus haben. Anfangs werden wir auf jeden Fall alle zusammenbleiben.“

„Ich will ein großes Haus, wo wir alle wohnen.“

Ich nicht. „Später vielleicht, anfangen sollten wir aber erstmal mit einem kleinen Haus.“

„Warum?“

„Ein Haus zu bauen, ist nicht ganz einfach, das braucht seine Zeit.“ Darum würden wir dieses Jahr vermutlich nicht mehr damit beginnen können, selbst wenn wir einen passenden Ort fanden. Aber zumindest einen winterfesten Unterschlupf brauchten wir.

Nicht zum ersten Mal wurde mir klar, dass es vielleicht doch ein Fehler gewesen war, das Haus meiner Eltern so überstürzt zu verlassen. Es hätte uns im Winter Schutz geboten und im Frühling hätten wir uns immer noch auf den Weg machen können. Aber ich hatte dort nicht bleiben können. Ich hatte dort nicht bleiben wollen. Das war einfach zu fiel.

Außerdem wussten die Tracker von diesem Haus. Wenn sie wirklich noch nach uns suchten, konnte es durchaus passieren, dass sie dort früher oder später auftauchten. Natürlich kannten sie das Haus, dort hatten sie meine Mutter gefunden. Und dort waren sie auch eingedrungen, nachdem sie sie getötet hatten. Die Spuren waren unverkennbar gewesen.

Ich war mir sicher, dass sie irgendwann dort auftauchen würden.

Salia stützte sich mit den Armen auf den Rahmen des Karrens und spähte hinunter auf den Boden. „Kannst du denn ein Haus bauen?“

Also heute fragte sie mir wirklich ein Loch in den Bauch. Nicht das mich das störte. Außer zu reden konnten wir sowieso nicht viel tun, wenn wir unterwegs waren. „Ähm, ich bin eine ziemlich gute Assistentin, aber ich glaube, Wolf kann sowas sehr gut.“ Die Tür und das Fenster in meinem Elternhaus hatte er zumindest recht schnell repariert. Oder naja, verschlossen. Hätte er mehr Zeit gehabt, wären sie jetzt vermutlich wieder Intakt.

„Du kannst Häuser bauen?“, fragte Salia den Riesen überaus erstaunt. „So richtige Häuser?“

Über ihren Ton grinsend, nickte er.

„Ich kann das auch“, sagte Sawyer ein wenig verstimmt.

„Wirklich?“ Nein mein Erstaunen war nicht gespielt. Und auch nicht der leicht zweifelnde Ton in meiner Stimme.

Nun war er definitiv eingeschnappt. „Ich habe früher nicht nur doof in der Gegend herumgestanden und Däumchen gedreht. Wenn in meiner Siedlung Reparaturen anstanden, oder ein neues Haus hochgezogen wurde, habe ich geholfen.“

Was für ein Zimperlieschen, da hatte ich wohl einen empfindlichen Nerv getroffen.  Aber wer sollte mir das verübeln? Bisher hatte er nicht unbedingt durch handwerkliche Fähigkeiten herausgestochen. Oder überhaupt durch irgendwelche Fähigkeiten, wenn man mal von seinem Talent zum Sticheln absah. „Du wirst schon bald die Möglichkeit haben dich zu beweisen.“

„Oh, das werde ich“, sagte er in einem Ton, der mir so gar nicht gefallen wollte. „Und dann werde ich dich schön in der Gegend herumrennen lassen, meine süße, kleine Assistentin.“

Aha. „Wenn du das so sagst, sollte ich mich wohl besser von dir fernhalten.“ So wie er sich im Moment benahm, sollte ich mich in jedem Fall von ihm fernhalten.

Er schmunzelte. „Was, fürchtest du dich etwa vor mir?“

„Nur vor deiner Arbeitsmoral.“ Und vor seiner Moral im allgemein.

Der Karren holperte über ein Schlagloch, in dem sich eine Pfütze gesammelt hatte. Killian wich ein Stück zur Seite, um nicht von dem Spritzwasser erwischt zu werden. „Da das mit dem Haus in der nächsten Stunde sicher nichts wird, sollten wir vielleicht mal eine Pause einlegen und für das leibliche Wohl sorgen.“

Als hätte mein Magen nur darauf gewartet, diese Worte zu hören, begann er lautstark zu knurren, was mir eine erhobene Augenbraue von Sawyer einbrachte.

Ich ignorierte sie.

„Dann müssen wir aber erstmal etwas Essbares besorgen.“ Unsere Vorräte waren mittlerweile nämlich ziemlich bescheiden. Es war schließlich schon eine Woche her, seit wir das Grundstück meiner Eltern verlassen hatten und bereits da hatten unsere Vorräte nicht gut ausgesehen. Das Wildschwein war vertilgt, die Kaninchen verzerrt und die Reste vom Dachs hatten gestern ihren Weg in unsere Suppe gefunden. In unseren Kisten befand sich nur noch ein wenig Trockenobst und getrocknetes Fleisch. Auch ein paar Nüsse hatte ich vor ein paar Tagen gesammelt, aber die würden auch nicht mehr lange halten. Zwei, vielleicht drei Tage, dann würde uns das Essen ausgehen.

Wolf brummte und zeigte pantomimisch, wie er einen Pfeil abschoss.

Ich nickte. „Dann lasst uns ein Plätzchen suchen. Wolf und ich werden Essen besorgen und ihr zwei könnt währenddessen schon mal das Lagerfeuer aufbauen.“

„Wow“, sagte Sawyer. „Wir bekommen mal wieder die schwere Aufgabe.“

Ich schaute ihn zweifelnd an. „Schwer?“ War das sein Ernst? Eben gab er noch damit an, ein Haus bauen zu können und jetzt beklagte er sich darüber, ein Lagerfeuer auszuheben?

„Hast du schon mal versucht, bei so einem Wetter trockenes Holz zu finden?“, fragte er mich. „Da ist es ja leichter, unserem Heiligenschein seinen Mutterkomplex abzugewöhnen.“

Das war mal ein wirklich finsterer Blick, den Killian auf Sawyer abfeuerte.

„Wenn du dir ein wenig Mühe gibst, wirst du schon fündig werden“, versicherte ich ihm und lenkte Trotzkopf in den Schutz einiger Bäume, die sich zu einem kleinen Wäldchen erstreckten.

Nach unserer letzten Begegnung mit den Trackern, war ich mehr denn je davon überzeugt, besser ein wenig paranoid, als völlig unbedarft. Das konnte uns im Notfall den Hintern retten. Darum stellte ich den Karren im Schatten der Bäume ab, zog die Bremse fest und band Trotzkopf zusätzlich an einen Ast.

„Bleibt im Schutz der Bäume“, wies ich die anderen an und holte mir einen großen Beutel vom Karren. Ich würde sammeln gehen, mal schauen, was ich so fand. „Und wenn euch etwas seltsam vorkommt, geht in Deckung.“

„Ja, Fräulein Drill Instructor, Sir.“ Sawyer salutierte übermäßig überspitzt.

Keine Ahnung, was das nun wieder zu bedeuten hatte, aber ich hatte mich an seine Seltsamkeiten gewöhnt, also beließ ich es einfach dabei.

Wolf nahm sich den Bogen und den Köcher mit den Pfeilen vom Karren und gab uns ein Zeichen, dass er schon mal losziehen würde.

Mein Blick glitt zu Killian und verfinsterte sich. „Du trägst dein Messer schon wieder nicht.“

Auf dem Karren gähnte Salia so laut, dass ihre Kiefer knackten. Sie hob die Hände und rieb sich müde die Augen. Da war wohl jemand bereit für ein kleines Schläfchen. 

„Es liegt in meiner Tasche“, erwiderte Killian mit einem milden Lächeln. Er fand es lächerlich, dass ich ihn immer wieder darauf hinwies. „Wenn ich es brauche, dann nehme ich es mir.“

Meine Mine verdüsterte sich. Er verstand einfach nicht, wie wichtig es war, es immer bei sich zu tragen. Wie auch? In Eden hatte er ein unbesorgtes Leben frei von Gefahren geführt. Dort hatten andere für seinen Schutz gesorgt. „Wenn du von einem Phantomhund angegriffen wirst, ist es dort auf jeden Fall sicher verwahrt.“ Meine Stimme triefte vor Sarkasmus.

Killian atmete einmal tief ein und entließ die Luft dann wieder. „Wir sind jetzt schon seit Wochen unterwegs, und bisher habe ich es nie gebraucht. Ich fühle mich einfach nicht wohl mit einer Waffe am Körper.“

Oh, er fühlte sich damit nicht wohl. „Und wenn du getötet wirst, weil du kein Messer hast, dann fühlst du anschließend gar nichts mehr.“ Und ich würde hier stehen, und mir Vorwürfe machen, weil ich nicht besser auf ihn aufgepasst hatte.

Er war nun schon seit Wochen mit uns unterwegs, verstand aber noch immer nicht, dass hier andere Regeln galten, als in Eden. Vielleicht sollte ich ihm das einmal deutlich machen. „Du wirst hier nicht von Mauern geschützt.“

„Das weiß ich, aber …“

„Nein, das scheinst du nicht zu wissen. Erinnerst du dich an das Nilpferd? Es ist aus dem Nichts aufgetaucht und hat uns angegriffen, einfach weil wir da waren. Sowas kann jederzeit wieder passieren und ich bin nicht immer zur Stelle, um auf deinen Hintern aufzupassen.“

„Uhhh“, machte Sawyer, hielt sich aber ansonsten zurück. Allerdings verfolgte er die Diskussion sehr genau, als er zur Ladefläche des Karrens ging, um Salia dabei zu helfen, sich hinzulegen.

„Das Nilpferd habe ich getötet“, sagte Killian mit fester Stimme. „Mit einer Waffe, die die ganze Zeit im Karren lag. Ich habe sie genommen und geschossen, dazu musste ich sie nicht am Körper tragen.“

Ich knirschte mit den Zähnen. Natürlich hatte er recht, aber das war es gar nicht, worauf ich hinauswollte. „Du willst es einfach nicht verstehen, oder?“

„Doch, ich verstehe dich, aber du musst auch mich verstehen. Vielleicht glaubst du, dass hinter jeder Ecke Gefahren lauern, aber so ist das nicht. In der ganzen Zeit in der wir unterwegs waren, haben wir nur ein einziges Mal eine Waffe gebraucht.“

„Ach so? Dann ist also die ganze Beute die ich jage von allein zu mir gekommen und hat sich tot zu meinen Füßen gelegt, damit wir sie essen können.“

Leichte Verärgerung machte sich auf seinem Gesicht breit. „Jetzt wirst du albern. Eine Jagd ist etwas völlig anderes, als angegriffen zu werden. Bei dem einen …“

„Ja, in dem einen Fall ist man der Jäger, in dem anderen der Gejagte. Weißt du, warum ich meine Beute erlege? Weil sie keine Waffen hat, um sich zu verteidigen. Aber viele von ihnen haben Krallen und Zähne. Frag mal Sawyer, wie es seinem Arm geht?“ Ich zeigte auf besagten Mann, der mittlerweile mit der Schulter am Karren lehnte und unsere kleine Auseinandersetzung wie ein interessantes Spiel verfolgte. Dabei tat er nicht mal so, als würde er nicht zuhören.

Killian hatte nur einen kurzen Blick für ihn übrig. „Ich habe nie gesagt, dass eine Jagd ungefährlich ist. Wenn ich jagen müsste, würde ich auch eine Waffe bei mir tragen.“

„Und was würde dir das bringen? Du weißt doch nicht mal, wie du damit umgehen sollst. Sawyer übt wann immer er kann mit dem Bogen. Selbst Salia kann mittlerweile schießen. Du nicht, du schaust immer nur zu.“

Der Ausdruck auf seinem Gesicht wurde verschlossen. „Jetzt wirst du unfair. Vielleicht bin ich nicht so geschickt wie du oder Wolf, aber ich trage auch meinen Teil dazu bei und helfe wo ich kann.“

„Du hast zuerst damit angefangen, vom Thema abzuschweifen.“

Seine Lippen pressten sich für einen Moment aufeinander. „Ich möchte das Messer nicht bei mir tragen. Kismet, ich bin Arzt. Ich heile, ich töte nicht. Das ist vielleicht ungerecht, weil ich so dir die Aufgabe überlasse, auf mich aufzupassen, aber meine Fähigkeiten liegen eben woanders.“

Er wollte es nicht verstehen. Bitte, dann eben nicht. „Weißt du was? Mach was du willst. Aber komm nicht heulend zu mir angelaufen, wenn du tot bist.“

„Na dieses Kunststück will ich sehen“, murmelte Sawyer.

Ich machte auf dem Absatz kehrt und stiefelte verärgert davon.

„Kismet, bitte warte“, bat Killian mich.

Von wegen. Ich würde bestimmt nicht weiter hier stehen und versuchen ihn von etwas so Simplen zu überzeugen, wenn er sich absolut quer stellte. Er wollte kein Messer tragen? Dann sollte er es eben lassen. Ich würde sicher nicht nochmal auf das Thema zu sprechen kommen

„Kismet.“

Ohne ihn, oder seinen Ruf zu beachten, verschwand ich zügig zwischen den Bäumen und versuchte meinen Ärger zu besänftigen. Leider wollte mir das nicht so recht gelingen. Er glaubte, dass die neuen Spielregeln für ihn nicht galten, weil ich immer da war, um auf ihn aufzupassen. Ich war sein Beschützer, der ihm ständig den Hintern abwischte.

In Ordnung, jetzt wurde ich wirklich unfair. Killian hatte recht, auf seine Art trug er seinen Teil bei. Ohne ihn wäre ich bereits vor Wochen wieder in Eden gelandet. Und ja, auch er war es gewesen, der das Nilpferd getötet hatte. Auch auf dem Herbstmarkt hatte er sich gut eingebracht, aber trotzdem war es dumm, sich nicht jederzeit abzusichern.

Vielleicht sprach da auch wieder nur meine Überfürsorglichkeit aus mir. Aber was, wenn ihm etwas passierte und es sich einfach hätte verhindern lassen, wenn er dieses verdammte Messer bei sich getragen hätte? Das würde ich wohl erst erfahren, wenn es soweit war. Und an dieser Stelle konnte ich nur hoffen, dass es niemals soweit kommen würde.

Warum war mir nur nie aufgefallen, was für ein Dickkopf dieser Mann sein konnte? Wahrscheinlich, weil er sonst immer so zuvorkommend und freundlich war. Vielleicht sollte ich später noch mal versuchen mit ihm ganz in ruhe über die Sache zu sprechen. Wenn er verstand, dass ich mir einfach Sorgen machte und mich besser fühlen würde, wenn er das Messer bei sich trug, würde er vielleicht einlenken. Und wenn er das nicht tat, konnte ich ihn immer noch erwürgen.

Nur mäßig zufrieden mit diesem Plan, besann ich mich auf meine Aufgabe und machte mich auf die Suche nach etwas Essbarem.

Schon nach kurzer Zeit fand ich einen Hagebuttenstrauch und begann die kleinen roten Früchte abzuernten und in meinen Beutel zu stopfen. Nach einigem suchen fanden auch Breitwegerich und Löwenzahn ihren Weg zu mir und wenig später entdeckte ich sogar ein paar Wildkarotten, die ich aus dem Boden grub. Glück musste man haben.

Mit der Zeit hatte ich mich ein ganzes Stück von den anderen entfernt, aber mein Beutel war nach meinem Geschmack noch viel zu leer. Das würde nur für eine Mahlzeit reichen und auch nur, wenn Wolf bei seiner Jagt erfolgreich war. Darum beschloss ich noch ein wenig weiter zu gehen und kam schließlich zu einem großen Kastanienbaum, der ein wenig einsam, mitten auf einer Wiese stand.

Geröstete Kastanien waren nicht unbedingt mein Leibgericht, aber sie waren immer noch besser als zu hungern, also begann ich sie vom Boden zu sammeln, bis mein Beutel gut gefüllt war.

Der Wind frischte auf und die Sonne am Himmel stand bereits ein wenig tiefer, darum beschloss ich, dass es an der Zeit war zurückzukehren. Das war vielleicht kein Festmahl, aber es würde unsere Mägen füllen.

Für den Rückweg wählte ich eine andere Strecke, was eine gute Entscheidung war. Unter ein paar Bäumen, fand ich eine Menge Pilze. Um die allerdings mitnehmen zu können, musste ich wieder ein paar Kastanien loswerden. Mit den Gewürzen, die ich auf dem Markt besorgt hatte, konnte ich daraus eine leckere Pilzpfanne zubereiten.

Sobald ich alle eingesammelt hatte, machte ich mich wieder auf den Weg. Die Mittagstunde war bereits herum. Wenn wir jetzt noch kochten und aßen, würde das ein Weilchen dauern. Bis wir uns wieder auf den Weg machen konnten, wäre sicher schon Nachmittag und mittlerweile wurde es recht früh dunkel. Vielleicht sollten wir heute nicht mehr weiterziehen und direkt unser Lager für die Nacht aufschlagen. Im Freien wäre es zwar ein wenig kühl, aber zumindest sah es nicht nach Regen aus.

Ich hatte vielleicht die Hälfte der Strecke geschafft, als ich in einem Baum einen Bienenstock entdeckte. Sofort blieb ich stehen. Bienenstock bedeutete Bienen und Bienen bedeuteten Honig. Ich liebte Honig. Allerdings sah ich keine Bienen und der Stock sah auch schon ziemlich alt aus. Außerdem hatte ich nichts dabei, wo ich den Honig abfüllen konnte. Trotzdem war ich versucht, es darauf ankommen zu lassen.

Es war die Vernunft, die mich dazu brachte, weiterzugehen. Falls da doch Bienen drinnen waren, konnte das böse für mich enden. Bienen mochten es nämlich nicht besonders, wenn man ihren Honig klaute. Aber der Gedanke daran war schön gewesen.

Da der Honig keine Option war, begann ich wieder den Boden nach Essbaren abzusuchen und fand noch ein paar essbare Pflanzen und sogar ein paar große Schnecken, die ich mit zu den anderen Sachen in meinen Beutel stopfte. Ich hatte schon ein paar Mal Schnecken mitgebracht. Sawyer und Wolf aßen sie ohne großes Murren. Killian dagegen tat sich damit ziemlich schwer und Salia hatte sich einfach nur davor geekelt.

Ich konnte es der Kleinen nicht verdenken. Wenn man überlegte, was sie in Eden zu essen bekommen hatte, und was sie hier verspeisen musste, war das schon ein enormer unterschied. Aber so würde es ja nicht immer bleiben.

Dieses Jahr würde es noch ein wenig schwierig sein, aber nächstes Jahr, sobald wir eine Heimat gefunden hatten, würde alles anders werden. Ich würde Obst und Gemüse anbauen und vielleicht sogar ein paar Hühner besorgen. Dann hätten wir immer frische Eier, oder eben auch mal ein schönes, fettes Hühnchen zum Abendessen.

Wir konnten Getreide anbauen und einen Ofen aus Stein bauen, dann konnte ich Brot backen. Meine Mutter hatte früher immer Brot gebacken und ich hatte es geliebt. Ja, ich wollte einen Steinofen haben.

Bei dem Gedanken daran, bekam ich gleich bessere Laune. Wenn das was wir uns vorgenommen hatten, wirklich funktionierte, konnten wir uns ein richtig schönes Leben aufbauen. Weit weg von Eden, irgendwo im Westen, wo uns niemand jemals finden würde. Naja, ein paar fahrende Händler dürften schon hin und wieder vorbeikommen und auch den Markt würde ich gerne weiterhin einmal im Jahr besuchen, aber mehr würde ich nicht brauchen, um ein erfülltes Leben zu führen, das hatte ich noch nie. Nicht so wie andere Menschen, nicht wie Nikita.

Sie hatte es hier draußen gehasst. Sie hatte gelogen und betrogen, um dieses Leben hinter sich lassen zu können und mich mit in ihre neue Welt zu zerren. Allein der Gedanke daran, riss alte Wunden wieder auf und brachte sie zum Bluten. Trotzdem kam ich nicht umhin mich zu fragen, wie es ihr im Augenblick ging. Genoss sie ihr neues Leben? Ging es ihr gut? Was tat sie gerade?

Wahrscheinlich spielte sie wieder mit dem elektronischen Schrott herum, der sie so begeisterte. Ob es sie überhaupt noch interessierte, was bei mir los war? Vielleicht hatte sie mich ja mittlerweile genauso aus ihrem Leben gestrichen, wie alles andere, was sie hinter sich gelassen hatte.

Trotz allem konnte ich gar nicht anders, als mir zu wünschen, dass es ihr gut ging und sie glücklich war. Sie war nicht mehr meine kleine Schwester, nicht nachdem sie mich so hintergangen hatte, aber sie war lange Zeit ein wichtiger Bestandteil meines Lebens gewesen und sie zu vergessen, war gar nicht so leicht. Es war sogar unmöglich.

Ich sollte dringend damit aufhören, mich mit diesen Gedanken zu beschäftigen, sonst bekam ich nur wieder schlechte Laune. Oder noch schlimmer, wurde traurig und brach in Tränen aus.

Bisher hatte ich es mir nur ein einziges Mal gestattet, über meinen Verlust zu trauern und dabei sollte es auch bleiben. Ich brauchte es nun wirklich nicht, den ganzen alten Ballast mit mir herumzutragen, ich hatte so schon genug Dinge, um die ich mich kümmern musste. Zusätzliches Gewicht, würde mich nur runterziehen.

Ich hob den Blick, um mich zu orientieren. Da ich für den Rückweg eine andere Strecke gewählt hatte, sah hier alles anders aus, aber wenn ich nicht komplett daneben lag, müsste ich die Anderen bald erreichen. Das war gut, denn langsam bekam ich wirklich Hunger. Hoffentlich hatten sie schon das Lagerfeuer vorbereitet. Vielleicht war Wolf ja auch schon zurück. Wenn ich nur daran dachte, lief mir bereits das Wasser im Mund zusammen.

Ich lief noch ungefähr fünf Minuten, als ich die Stimmen hörte. Eine ziemlich tiefe Stimme. Ich runzelte die Stirn. Keiner meiner Männer hatte eine so tiefe Stimme, oder lachte so hämisch – nicht mal Sawyer.

Ein ungutes Gefühl beschlich mich. War ich vielleicht vom Weg abgekommen und zufällig auf eine andere Gruppe gestoßen? Eine Überprüfung meiner Umgebung sagte eindeutig nein. Ich war genau da wo ich sein wollte. Das ungute Gefühl verstärkte sich.

Das letzte Mal, als ich mich unbekannten Männerstimmen genährt hatte, war meine Mutter tot gewesen und mein Leben, wie ich es bis zu diesem Zeitpunkt gekannt hatte, vorbei.

Vielleicht irrte ich mich ja auch, vielleicht alberte Sawyer ja herum und er war es, von dem diese Stimme kam. Leider sagte mir mein Gefühl etwas anderes.

Meine Schritte wurden langsamer. Ich duckte mich und schlich vorsichtig näher. Noch waren die Bäume im Weg und ich konnte nichts sehen, aber nun war es unerkennbar: Da sprach ein fremder Mann und eine zweite, mir unbekannte Stimme, antwortete ihm. Zwei fremde Männer, in unserem Lager. Mein Puls ging hoch.

Bleib ruhig, vielleicht sind es nur Reisende, die auf einen netten Plausch angehalten haben.

Mir würde vor Erleichterung ein ganzer Berg vom Herzen fallen, wenn es wirklich so war, doch mein Gefühl trog mich nur selten und schon beim ersten Klang der fremden Stimme, hatten alle meine Sinne Alarm geschlagen.

Sehr vorsichtig näherte ich mich meinem Ziel. Die Stimmen wurden lauter und deutlicher. Jemand lachte.

„Nicht sehr gesprächig, wie?“, sagte die tiefe Männerstimme.

„Schweigen ist nicht immer Gold“, fügte eine fiel sanftere Stimme hinzu. Sie klang einnehmend und zugänglich, als wollte sie dazu verlocken, sich einem anzuvertrauen.

Ich schlich hinter ein paar Büschen vorbei und ging dann hinter einem breiten Baum in die Hocke. Dann spähte ich vorsichtig daran vorbei. Der Anblick, der sich mir offenbarte, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. 

Der Karren und Trotzkopf standen noch genau da, wo ich sie zurückgelassen hatte. Wolf war noch nicht zurück und auch von Sawyer und Salia fehlte jede Spur – er musste die Kleine zum Holzsammeln mitgenommen haben.

Der Platz für das Lagerfeuer war bereits ausgehoben. Killian hatte sogar damit begonnen, das Loch mit Steinen zu umranden, war aber mitten bei der Arbeit gestört worden. Jetzt stand er mit weit aufgerissenen Augen neben seiner halbfertigen Arbeit. Direkt hinter ihm befand sich ein großer Mann mit breiten Schultern und hielt ihm ein sehr scharfes Messer an die Kehle.

 

oOo

Kapitel 32

 

Der Beutel entglitt meinen Fingern und fiel zu Boden. Kastanien und Pilze fielen heraus und die Schnecken machten sich sofort auf den Weg in die Freiheit. Im Moment interessierte mich das allerdings überhaupt nicht. Was waren schon volle Mägen, wenn man tot war?

Der große Mann, mit den breiten Schultern, war nicht alleine. Da war noch ein zweiter mit roten Haaren und einem geflochtenen Kinnbart. Er war ein wenig kleiner und von einer solchen Schönheit, dass er fast unecht wirkte. Doch das selbstgefällige Lächeln auf seinen Lippen war alles andere als schön. Er sah sich bereits als Sieger. Das waren Räuber.

Für Räuber wirkten sie allerdings sehr gepflegt und sauber. Ihre Gesichter waren gewaschen, die Bärte gepflegt und die Kleidung sauber und halbwegs ordentlich.

„Also“, sagte der kleinere mit dieser melodischen Stimme. „Fangen wir noch mal von vorne an. Und dieses Mal rate ich dir zu antworten, sonst werden die Konsequenzen für dich … lebensbeendend.“

Der große Mann lachte siegessicher.  

Selbst aus der Entfernung sah ich, wie Killians Adamsapfel hüpfte, als er schluckte.

Oh Gaia, sie wollten ihn töten. Ich musste etwas tun, nur was? Mit erhobenem Messer einfach aus meiner Deckung stürmen, konnte uns beide in Lebensgefahr bringen. Aber ich konnte auch nicht untätig hier sitzen bleiben und zuschauen, wie das Drama seinen Lauf nahm. Nicht noch einmal.

„Hast du das verstanden, oder müssen wir uns noch deutlicher ausdrücken?“

Ich musste etwas tun, jetzt.

Mit wild schlagendem Herzen verlagerte ich mein Gewicht und zwang mich ruhig zu bleiben. Ich musste einen kühlen Kopf bewahren, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich das wieder in Ordnung bringen sollte. Nur eines war sicher, egal was die nächsten Minuten von mir forderten, ich würde nicht zögern.

Damals, im Lager der Tracker, als ich Nikita hatte befreien wollen, hatte ich gezögert Kit umzubringen und dafür teuer bezahlt. Heute würde mir das nicht mehr passieren. Ich wollte keine kaltblütige Mörderin sein, doch wenn mich das Leben dazu zwang, würde ich mich fügen.

Von meinem Platz aus, sah ich, wie Killian nickte. Er hatte verstanden.

Ich durfte nicht mehr länger warten. Wenn Killian ihnen sagte, was sie wissen wollten, brauchten sie ihn nicht mehr und würden ihn töten. Und wenn er es ihnen nicht sagte, würden sie ihn auch töten. Es war dumm, etwas ohne Plan zu unternehmen, aber ich hatte keine Zeit um nachzudenken. Ich musste sie aufhalten, oder wenigstens ablenken, bis Wolf und Sawyer zurück waren. Zu viert könnten wir sie Problemlos vertreiben.

Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie heftig mein Herz gegen meine Rippen pochte, und die Angst die mich befiel an mir nagte, als ich aus dem Schutz der Bäume verließ. Dabei sagte ich mir, dass das hier anders war als damals. Dieses Mal war ich nicht allein und es war auch nicht ich, die in Gefahr schwebte.

Selbstsicherer, als ich mich fühlte, trat ich ins Freie und näherte mich ihnen vorsichtig. Mein Blick galt allein den Räubern. Dabei überlegte ich fieberhaft, was genau ich tun sollte. Erstmal war es wichtig, dass sie Killian an Leben ließen. „Ihr solltet ihn nicht töten, er ist wertvoll.“

Bei meiner Stimme wirbelten die beiden Männer herum und starrten mich einen Moment an, als sei ich ein Gespenst. Mit meinem Auftauchen hatten sie wohl nicht gerechnet, ich hatte sie sichtlich erschreckt.

„Er ist wertvoll“, wiederholte ich vorsichtshalber noch einmal, um sicher zu gehen, dass sie mich wirklich verstanden hatten. Dabei warf ich Killian einen kurzen Blick zu und versuchte ihm zu vermitteln, dass er mitspielen sollte.

„Ja“, ächzte Killian im Würgegriff des Größeren. „Besser sie hören auf sie, ich bin wertvoll.“

„Ach ja?“ Der Mann mit dem roten Haar, wandte sich mir zu und musterte mich mit wohlkalkuliertem Desinteresse. Meine Kleidung, mein Haar, das Messer in der Scheide an meinem Gürtel. Er machte ein paar Schritte zur Seite, weg von seinem Kumpan und legte dann eine Hand auf den Karren. „Jetzt bin ich aber mal gespannt. Was genau an diesem Arschloch ist wertvoll?“

Die Antwort darauf war ganz einfach. „Er ist Arzt“, erklärte ich mit fester Stimme und machte noch ein paar Schritte auf sie zu, bevor ich stehen blieb. Mich in ihre Reichweite zu begeben wäre dumm. Andererseits musste ich näher heran, wenn ich sie mit dem Messer ausschalten wollte. Aber ich musste aufpassen und vorsichtig dabei sein. Auch die Kerle hatten Messer und wahrscheinlich waren sie geübter darin, Menschen abzustechen, als ich. „Nicht so ein selbsternannter Stümper, sondern einer mit medizinischer Ausbildung. Er stammt aus Eden und hat dort viele Jahre als anerkannter Arzt praktiziert.“

Neues Interesse keimte in seinen Augen auf. „Ein Arzt also.“

„Ja.“ Vorsichtig näherte ich mich ein weiteres Stück. Nur noch ein bisschen mehr und ich konnte ihm mein Messer über die Kehle ziehen.  

„Bleib stehen, keinen Schritt weiter!“ Der Große drückte etwas fester zu, bis Killian röchelte. „Oder es geht dem Arzt an den Kragen.“

Verdammt!

„Wir könnten sie mitnehmen.“ Dem rothaarigen Mann lag ein Funkeln in den Augen, das mir so gar nicht gefallen wollte. „Ich habe schon lange keine Frau mehr gesehen. Und schon gar keine so blutjunge.“ Den Blick den er mir zuwarf, war nicht nur lüstern, er war geradezu ekelerregend. „Was meinst du, Ayo?“

„Ich weiß nicht.“ Er musterte mich. „Und woher kommst du?“

„Aus dem Wald.“

Verärgerung machte sich auf seinem Gesicht breit. „Nein, das meine ich nicht. Bist du auch aus Eden?“

Das Nein lag mir schon auf der Zunge, aber dann dachte ich, wenn sie mich für einen unerfahrenen Städter hielten, würden sie mich vielleicht nicht als Gefahr erkennen.

„Woher sollte ich denn sonst kommen? Es gibt keine anderen Orte mehr.“

Die Lippen des rothaarigen Kerls, verzogen sich zu einem listigen Lächeln. „Du glaubst wirklich, es gibt keine anderen Orte mehr?“

„Das ist die Arroganz der Leute aus Eden“, erklärte dieser Ayo. „Sie glauben die ganze Welt drehte sich nur um sie.“

Wenn du wüsstest, du Bastard. Ich verhielt mich unwissend und runzelte die Stirn, weil sie das an dieser Stelle vermutlich von mir erwarteten. „Heißt das etwa, es gibt noch anderenorts Menschen? Viele Menschen?“

„Worauf du einen lassen kannst, Püppchen.“

„Wir können sie dir ja zeigen“, fügte der Rothaarige hinzu. „Du musst uns nur begleiten.“

Jetzt nur nicht übereilt handeln. „Und mein Mann?“, fragte ich und nickte in Richtung Killian, der sichtlich nervös darauf wartete, was als nächstes geschah. „Darf er auch mitkommen? Ich meine, wir haben uns verlaufen. Wir wollten nur einen Ausflug machen und jetzt sind wir schon seit Wochen unterwegs und wissen nicht wohin wir gehen sollen.“

Die Idioten begannen zu grinsen. Die glaubten wirklich es mit einem naiven Dummchen aus Eden zu tun zu haben und hörten nur das, was sie hören wollten. „Natürlich darf er auch mitkommen, oder Kumpel?“ Der Größere stieß Killian an, lockerte seinen Griff aber nicht, was ein halb ersticktes Ächzen zur Folge hatte.

„In Ordnung“, sagte ich und trat wieder auf die beiden zu. Ich musste nur noch ein kleinen wenig näher heran, dann konnte ich sie ausschalten.

Meine Finger zuckten. Ich wollte nach meinem Messer greifen und musste mich zwingen ruhig zu bleiben. Hoffentlich würde Killian richtig reagieren, wenn ich zum Angriff überging.

„Wo genau sind diese Orte?“, fragte ich in dem Versuch, in meiner Rolle zu bleiben. Ich war fast da.

„Och, einer ist hier ganz in der Nähe“, sagte der Rothaarige. „Wir können schon in einer Stunde dort sein, wenn wir uns gleich auf den Weg machen.“

„Das hört sich gut an.“ Nur noch ein Stück. „Könntet ihr meinen Mann dann bitte loslassen? Ihr macht ihm Angst.“

„Aber natürlich.“ Als der Mann mit dem hübschen Gesicht den Kopf wegdrehte, um seinem Kumpan einen hämischen Blick zuzuwerfen, sah ich meine Gelegenheit gekommen. Ich riss das Messer aus seiner Lederscheide, bereit alles zu tun was nötig war, um uns zu beschützen, doch in dem Moment, als ich meine Waffe herabsausen ließ, drehte der rothaarige Kerl sich blitzschnell zu mir herum, packte mich am Handgelenk und riss mich nach vorne. Ich wurde mit der Brust voran gegen den Karren geschleudert. Gleichzeitig kam er in einer drehenden Bewegung hinter mich, und packte mich mit einer Hand im Nacken, während er mit der anderen meine Hand so heftig gegen den Karren schmetterte, dass ich gar nicht anders konnte, als mit einem Schmerzensschrei mein Messer loszulassen.

Es fiel herab und landete nutzlos neben mir im Gras.

„Kismet!“, rief Killian und bäumte sich gegen seinen Peiniger auf, doch der hielt ihn eisern fest.

„Schön hierbleiben“, befahl Ayo.

„Hast du wirklich geglaubt, wir wären so dumm darauf hereinzufallen?“, fragte der Rothaarige mich täuschend ruhig direkt an meinem Ohr. Er zog mich ein Stück vom Karren weg, nur um mich erneut dagegen zu knallen. Mein Knie krachte gegen das hölzerne Rad und begann zu pochen.

Ich versuchte mich wegzustämmen, aber er drückte sich mit seinem ganzen Körper gegen mich und hielt mich so zwischen sich und dem Karren gefangen. „Ihr müsst uns wirklich für dumm halten. Ihr seid aus Eden? Kein Städter wäre in solcher Kleidung unterwegs, oder hätte so einen alten Karren. Sie fahren Autos, du dummes Mädchen.“

„Das weiß ich selber!“, fauchte ich und versuchte mich wieder abzudrücken, doch er verstärkte den Griff in meinem Nacken und riss mir meinen Arm mit so viel Schwung auf den Rücken, dass ich vor Schmerz aufschrie.

„Du verdammter Dreckssack!“, beschimpfte Killian ihn. Dem folgte ein schmerzverzerrtes Stöhnen.

„Sei ruhig“, knurrte Ayo.

Ich stand da, bewegungsunfähig und der Panik nahe und wusste nicht, was ich tun sollte. Gleichzeitig kämpfte ich dagegen an, nicht in die Vergangenheit gerissen zu werden. Es ist nicht wie damals, sagte ich mir. Heute war ich stärker. Und ich war nicht allein. Sawyer und Wolf mussten doch bald zurück sein. Oder?

„Wo wir das nun geklärt haben“, säuselte der Rothaarige mir ins Ohr. „Was mache ich nun mit dir?“

Auf dem Gesicht von Ayo, erschien ein widerliches Grinsen. „Ich finde ja, Strafe muss sein.“

„Strafe“, wiederholte der rothaarige Kerl, als müsste er darüber nachdenken und presste sich mit seinem ganzen Körper der Länge nach unangenehm gegen mich. Dadurch wurde der Druck auf meinen verdrehten Arm erhöht.

Ich biss die Zähne zusammen, konnte aber einen kleinen Schmerzenslaut nicht unterdrücken.

„Aber was für eine Strafe soll … nanu, was ist das?“

In der Hoffnung, Sawyer, oder noch besser Wolf aus dem Wald kommen zu sehen, schaute ich zu den Bäumen. Aber da war niemand. Stattdessen sah ich mit Schrecken, wie sich der Deckenberg auf der Ladefläche bewegte. Im nächsten Moment setzte sich Salia mit müdem Blick und zerzaustem Haar auf und rieb sich verschlafen die Augen. Dann bemerkte sie den Mann, der mich gegen den Karren drückte und erstarrte.

Scheiße, sie war nicht mit Sawyer mitgegangen, sie hatte die ganze Zeit auf dem Karren geschlafen!

„Aber hallo, meine Kleine“, sagte der Rothaarige mit freundlicher Stimme. „Wer bist du denn?“

„Lass das Kind in Ruhe!“, fauchte ich und begann mich trotz meiner Schmerzen gegen ihn zu wehren. Natürlich packte der Kerl sofort fester zu, um mich ruhig zu halten. Dabei drückte er meinen Arm so hoch, dass ich auf die Zehenspitzen gehen musste, damit er ihn mir nicht auskugelte.

Unsicher schaute die Kleine von mir zu Killian und entdeckte dabei den zweiten Fremden.

„Ist doch scheißegal, wie die Kleine heißt“, sagte Ayo. In seine Stimme hatte sich ein gieriger Unterton geschlichen. „Überleg mal, was die wert ist.“

Oh Gaia, nein! „Lasst eure dreckigen Finger von ihr! Wenn ihr sie auch nur anrührt, bringe ich euch um!“

Salia rutschte ein Stück von mir weg und schaute sich unsicher nach ihrem Vater um. Aber genau wie Wolf, war der nicht hier.

„Du scheinst mir gerade nicht in der Position zu sein, Forderungen zu stellen, meine Hübsche“, bemerkte der Rothaarige und befahl dann: „Ayo, schnapp dir das Mädchen.“

Er hatte kaum ausgesprochen, da holte der Große aus und rammte Killian seine Faust gegen den Kopf. Killian wurde zu Boden geschleudert und blieb benommen liegen.

Salia stieß einen spitzen Schrei aus.

„Killian, nein! Salia, lauf!“

Salia schaute mich mit großen, ängstlichen Augen an und drückte Wölkchen an ihre Brust, während Ayo Killian einfach stöhnend auf dem Boden liegen ließ und nicht weiter darauf achtete, wie er sich mit langsamen Bewegungen auf den Bauch rollte. Unbeirrt machte er einen Schritt auf den Karren zu.

„Salia, lauf, sofort!“, brüllte ich sie an und schrie im nächsten Moment vor Schmerz auf, weil der Rothaarige meinen Kopf gegen den Karren schlug.

Der große Mann kam plötzlich ins Stolpern und wäre fast mit dem Gesicht voran in den Dreck gefallen, schaffte es aber leider sich im letzten Moment abzufangen. Verärgert wirbelte er herum und trat nach Killian, der sich an sein Bein klammerte und versuchte ihn vom Karren wegzuziehen.

„Verschwinde!“, schrie ich Salia an und trat nach hinten aus, um den Rothaarigen beschäftigt zu halten. Die Kleine musste hier weg. „Sofort!“

Salia schreckte vor mir zurück, schaute sich ängstlich um und begann dann endlich von der Ladefläche zu klettern. Gaia sei Dank.

Der große Mann versuchte Killian abzuschütteln und gleichzeitig nach Salia zu greifen, doch Killian ließ nicht zu, dass er sich mit etwas anderem, als mit ihm beschäftigte. Er kam schwankend auf die Beine, stürzte sich auf den Großen und zwang ihn damit, sich auf ihn zu konzentrieren, während Salia halb herunterkletterte, halb herunterfiel.

Die Kleine rappelte sich sofort wieder auf die Beine und musste ausweichen, als die Beiden Männer zu Boden gingen und begannen, aufeinander einzuprügeln. Sich an Wölkchen klammernd, machte sie einen Schritt rückwärts, ohne wirklich zu wissen, was sie tun sollte.

„In den Wald!“, schrie ich. „Geh in den … ahhh!“

Der Rothaarige packte mich bei meinem kurzen Haar, riss mich daran zurück und schleuderte mich zu Boden. Im nächsten Moment hatte er sich schon auf mich gestürzt, ohne mir auch nur die Chance zu geben, einmal Luft zu holen.

Ich versuchte mich zu wehren und gleichzeitig Salia im Auge zu behalten, die nun kopflos und völlig verängstigt in den Wald rannte.

Genau, so ist es richtig, bring dich in Sicherheit. Später würde ich sie suchen. Ich würde sie suchen und finden, gleich nachdem wir diese beiden Mistkerle fertig gemacht hatten, aber im Moment war es so sicherer für sie.

Von Salias Flucht abgelenkt, schaffte das rothaarige Scheusal es, sich rittlings auf mich zu hocken.

Sofort begann ich mit ihm zu ringen und versuchte ihn von mir herunter zu schupsen. Ich schlug nach ihm und wollte ihm die Augen auskratzen, doch er bekam meine Handgelenke zu fassen und drückte sie neben meinem Kopf zu Boden. Ich gab nicht auf, schrie und wehrte mich aus Leibeskräften, doch ich kam nicht gegen ihn an, er war viel stärker als ich.

Ich bockte unter ihm, warf mich hin und her, schaffte es aber nicht mal meine Handgelenke aus seinem Griff zu befreien. Der Kampf schien ihn nicht mal anzustrengen. Ganz im Gegenteil, es schien ihm Spaß zu machen, während ich hier um mein Leben kämpfte.

„Das war verdammt dumm gewesen“, knurrte der Große. Er kniete hinter Killian auf dem Boden und hatte ihn in den Schwitzkasten genommen. Dabei drückte er so stark gegen seinen Kehlkopf, dass Killian Probleme hatte, Luft zu bekommen.

Killian versuchte den Arm von seinem Hals zu ziehen, doch sein Gegner ließ nicht locker.

„Sehr dumm“, bestätigte der Rothaarige. „Habt ihr eigentlich eine Ahnung, was so ein Kind wert ist, wenn man es den richtigen Leuten anbietet?“

„Hast du eine Ahnung, was du noch wert bist, wenn ich mit dir fertig bin?“, fauchte ich und versuchte ihm mein Knie in den Rücken zu rammen, doch sofort nahm er sie zwischen seinen Beinen in die Zange und machte mich damit praktisch bewegungsunfähig.

Auf einmal begann er auf eine Art zu grinsen, bei der mir eiskalt wurde. „Ich glaube, es wird mir großen Spaß machen, dich zu bestrafen.“ Seine Augen tasteten gierig meinen Körper ab und plötzlich krallte sich die Angst aus ganz anderen Gründen an mir fest. „Oh ja, richtig viel Spaß.“ Sein berechnender Blick ging zu Killian, der sich nach Leibeskräften zu wehren versuchte, aber der Griff von Ayo war unnachgiebig. „Und dein Mann darf uns dabei zusehen.“

„Nein!“, brüllte Killian und versuchte sich gegen seinen Gegner aufzubäumen. 

Mein Herz begann zu rasen, als der Rothaarige seinen Griff so veränderte, dass er meine Handgelenke mit nur einer Hand über meinem Kopf festhalten konnte.

„Das wird Strafe genug für ihn sein und wer weiß, vielleicht lernt er ja noch etwas dabei.“ Er lachte leise. „Nicht das ihm das noch viel bringen wird, wenn wir mit euch beiden fertig sind.“ Fast schon zärtlich strich er mir mit dem Finger über die Wange, riss die Hand aber blitzschnell zurück, als ich versuchte, danach zu beißen.

„Fass mich nicht an!“, fauchte ich, während Killian brüllte: „Nimm deine dreckigen Pfoten von ihr!“

„Oh je“, sagte der Rothaarige, griff an seine Hüfte und zog sein Messer hervor. Im nächsten Moment hielt er mir die Spitze der Klinge an die Kehle.

Ich erstarrte und spürte, wie mein Puls sich beschleunigte. So hatte das nicht laufen sollen.

Langsam, fast schon zärtlich, zog er die Schneide über die empfindliche Haut, ohne sie dabei zu verletzen. Über meine Kehle, immer tiefer, bis zu meinem Halsausschnitt. Seine Augen folgten ihr dabei, als sei er von dem Anblick einer scharfen Waffe, auf zarter Haut, fasziniert.

„Geh von ihr runter, du Drecksack!“, brüllte Killian.

Der Rothaarige drehte die Klinge, schob sie unter den Stoff meines Hemdes und schlitzte es in einer einzigen Bewegung bis runter zu meinem Bauch auf.

Ich zuckte zusammen, mehr wegen dem Geräusch, als vor Schreck. Der Stoff rutschte zur Seite und kühle Herbstluft strich über meine nackte Haut. Die Angst begann mich zu lähmen. Ich wollte das nicht, er sollte das lassen. Er sollte weggehen.

Sein Blick richtete sich sofort auf meine nackte Brust. Mit der Zunge, leckte er sich begierig über die Lippen, als könnte er es kaum erwarten, zuzugreifen. „Oh ja“, raunte er und ließ die Klinge wieder in der Scheide an seiner Hüfte verschwinden.

Als er dann den losen Stoff meines Hemdes zur Seite wischte und mit gierigen Fingern nach meiner Brust grapschte, begann ich zu schreien und mich zu winden. Doch es brachte nichts. Ich wehrte mich mit allem was ich hatte, aber es gelang mir nicht ihn abzuschütteln – er war viel zu stark.

Ich fühlte, wie er mich anfasste und befummelte, ganz wie er es wollte, während ich seine wachsende Erregung an meiner Hüfte spürte und ich konnte nichts dagegen tun.

Gaia, bitte, das durfte nicht geschehen.

Übelkeit stieg in mir auf, Killian brüllte den Rothaarigen machtlos an und ich war ihm völlig ausgeliefert. „Nein, hör auf, geh weg, lass mich in Ruhe!“ Ich wandte mich und bockte unter ihm und zerrte so heftig an meinen Handgelenken, dass sie wehtaten. Es brachte nichts, aber ich gab nicht auf. Wer aufgab, hatte schon verloren. Wenn ich nur kämpfte und mich wehrte und nur genug Widerstand leistete, würde er vielleicht aufhören und das tun, was der andere damals getan hatte. Ich wollte, dass er das tat, was der andere getan hatte, denn es war bei weitem nicht so demütigend, wie das hier.

Aber er hörte nicht auf. Er begrapschte meine Brust, knetete sie und kniff in die empfindliche Spitze. Seine ekligen Hände fassten mich überall an.

Der Schmerz fraß sich in mich hinein. Doch es war kein körperlicher Schmerz, das hier war viel schlimmer. „Hör auf damit!“, schrie ich ihn an und zerrte noch heftiger an meinen Armen. Meine Schultern begannen zu schmerzen, aber ich merkte es kaum. Ich wollte nur, dass er aufhörte. „Geh weg von mir!“

„Lass sie in Ruhe!“, brüllte Killian, unfähig den Blick abzuwenden, oder mir zu helfen, doch der Rothaarige machte unbeirrt weiter.

„Dein Körper ist der Wahnsinn“, sagte er und veränderte seine Position. „Deine Haut ist so seidig und erst diese Brüste. Gaia hat dich reich beschenkt.“ Langsam, fast schon genüsslich, ließ er seine Hand an mir hinab wandern, über meine Brust, die Rippen, den Bauch.

Ich wollte mich übergeben. Es fühlte sich so falsch an, ganz anders als mit Tavvin, oder dem Fremden auf dem Markt. Es hatte keinerlei Ähnlichkeiten, mit den Brührungen von Sawyer, oder dem Kuss mit Killian. Das hier war eine Art von Folter, die schon so alt war, wie die Menschheitsgeschichte.

Als ich spürte, wie seine Finger am Bund meiner Hose entlang strichen und dann die Kordel öffnete, starb etwas in mir. „Nein!“, schrie ich, als er begann am Bund zu zerren, um mir die Hose über die Hüfte zu ziehen. Das war der Moment, in dem ich all meine verbliebenen Kräfte zusammennahm und so grob an meinen Armen riss, dass ein heftiger Schmerz durch meine Schultern schoss. Aber das war völlig egal, denn ich erwischte ihn unvorbereitet. Meine Handgelenke rutschten aus seinem Griff und ich war endlich frei.

Sofort begann ich mit Händen und Fäusten auf ihn einzuschlagen. Ich rastete völlig aus, mein Körper hatte in den Überlebensmodus geschaltet. Ich kratzte ihm durch das Gesicht, schlug ihm gegen den Kopf und versuchte ihm gegen den Kehlkopf zu boxen.

„Du kleines Miststück“, knurrte er und versuchte meine Schläge abzuwehren, aber ich schlug immer heftiger zu, kratzte und biss um mich und bockte so sehr unter ihm, dass er Probleme hatte, sich auf mir zu halten.

„Hör auf, du dreckiges … ahhh!“ Er riss den Kopf zurück, als ich ihn meine Nägel durchs Auge zog.

Panisch setzte ich noch einen Faustschlag gegen seine Stirn hinterher und brachte ihn damit aus dem Gleichgewicht.

Das war meine Chance.

Ich warf mich herum, tastete auf der Suche nach meinem Messer mit den Augen das Gras ab. Es musste hier irgendwo … da! Direkt neben dem Rad vom Karren.

„Jetzt reicht es mir aber“, knurrte der Rothaarige und packte mich genau in dem Moment an den Beinen, als ich einen Satz auf das Messer zumachte. Mit einem Ruck riss er mich zu sich zurück.

„Nein!“ Ich hatte es fast gehabt!

„Jetzt ist Feierabend.“ Der Faustschlag traf mich direkt an der Schläfe und rammte meinen Schädel ungebremst in den Boden. In meinem Kopf gab es einen Urknall und ein ganzes Universum explodierte vor meinem inneren Auge. Ich gab ein Stöhnen von mir und sackte in mich zusammen.

„Kismet!“, brüllte Killian angsterfüllt.

Benommen spürte ich, wie ich am Arm gepackt und auf den Rücken gedreht wurde.

„Du willst es nicht auf die leichte Tour? Dann kommt jetzt eben die harte.“ Der Rothaarige begann wieder sich an meiner Hose zu schaffen zu machen.

„Geh weg von ihr, du verdammter Mistkerl, lass sie in Ruhe!“

Irgendwas in meinem Kopf stimmte nicht. Schwarze Ränder behinderten mein Sichtfeld. Ich blinzelte und versuchte meinen Blick zu klären, doch die Ränder zogen sich nur langsam zurück. Schatten waren alles, was ich erkennen konnte.

Killian wehrte sich so heftig gegen den anderen Mann, dass sie begannen, miteinander zu ringen. Einer ging zu Boden, der andere stürzte sich auf ihn und schlug zu. Ich konnte nicht erkennen, wer unten lag.

Ich spürte kalte Luft, als der Rothaarige damit begann meine Hose über meine Hüfte zu zerren. Mit wild schlagendem Herzen hob ich die Arme, um den Mistkerl wegzustoßen, aber sie gehorchten mir nicht richtig. Es war als wäre all meine Kraft einfach aus mir herausgeflossen. Meine Muskeln und mein Körper versagten mir ihren Dienst. „Killian“, sagte ich, doch es war kaum mehr als ein Nuscheln, was meinen Mund verließ.

Nur langsam fiel die Benommenheit von mir ab. Mein Blick klärte sich nur allmählich. Ich begann kraftlos zu strampeln, als ich spürte, wie er mir die Stiefel auszog.

Einmal blinzeln.

Der Mann auf dem Boden war Killian. Ayo saß auf ihm drauf und hatte ihm die Hände um den Hals gelegt. Er würgte ihn und Killian hatte nicht die Kraft sich von ihm zu befreien.

Noch einmal blinzeln.

Die Stiefel verschwanden und die Hose gleich mit ihnen. Nun war ich untenrum nackt. Panik fraß sich durch meine Benommenheit und ich begann wieder mich zu wehren und zu treten, doch meine Kraft hatte sich verflüchtigt. Es war für den Rothaarigen ein leichtes, den Tritten auszuweichen und sich wieder rittlings auf mich zu setzten.

„Zeit für deine Strafe“, verkündete er und begann die Kordel an seiner eigenen Hose zu lösen.

Oh Gaia, nein, bitte nicht.

„Verpiss dich, du Scheißkerl!“

Der Ruf überraschte nicht nur mich. Das war Sawyer gewesen.

Ich riss den Kopf herum und bereute es augenblicklich. Übelkeit stieg in mir auf und ich spürte, wie mir die Galle in die Kehle schoss.

Sawyer stürmte zwischen den Bäumen hervor, einen schweren Ast zwischen den Händen. Er zögerte nicht, holte noch während des Rennens aus und schmetterte ihn, wie eine Keule, gegen Ayo.

Da der ihn kommen sah, versuchte er noch auszuweichen, schaffte es aber nicht ganz. Sawyer traf ihn mit voller Wucht an der Schulter und schleuderte ihn von Killian herunter.

Killian drehte sich sofort hustend und würgend auf die Seite und versuchte wieder Luft in seine Lungen zu bekommen.  

Sawyer warf nur einen kurzen Blick auf ihn, bevor er an ihm vorbeirannte, direkt auf mich zu, bereit, dem Rothaarigen auch eine überzubraten. Doch so weit kam es gar nicht erst. Ayo war nicht ausgeschaltet und als Sawyer an ihm vorbei wollte, griff der große Mann nach Sawyers Bein und riss ihn daran zu Boden.

Nein!

Sawyer schlug hart auf und schaffte es gerade noch sich auf den Rücken zu drehen, da hatte Ayo sich auch schon auf ihn gestürzt und begann mit Fäusten auf ihn einzuprügeln.

Der Rothaarige begann zu grinsen. Das Auge, an dem ich ihn erwischt hatte, war rot und tränte. „Die Männer mit denen du unterwegs bist, taugen nichts.“ Sein Blick richtete sich auf mich. „Aber das soll uns nicht kümmern. Wir amüsieren uns jetzt ein wenig, während Ayo sich austobt.“ Er öffnete seine Hose und holte sein steifes Glied hervor.

Panisch begann ich wieder nach ihm zu schlagen, doch meine Arme und Beine wollten immer noch nicht richtig funktionieren. Es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, mich wieder bei den Handgelenken zu packen. Mit einer Hand kreuzte er sie auf meiner Brust und drückte mich runter. Ich schaffte es nicht den Oberkörper vom Boden zu heben, denn mit seinem Griff, hielt er auch den unten.

Sein widerlicher Penis hüpfte auf und ab, als er begann meine Beine auseinanderzudrücken. Ich versuchte ihn aufzuhalten und mich zu wehren, als er sich mit Gewalt zwischen meine Beine drängte.

„Bitte nicht“, flehte ich und spürte, wie mir in meiner Verzweiflung die Tränen in die Augen stiegen. „Hör auf.“ Verstand er meine genuschelten Worte überhaupt?

Nur am Rande nahm ich Sawyers Stöhnen wahr, als Ayo auf ihn einschlug. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, den rothaarigen Kerl abzuwehren, aber es brachte nichts. Er griff mir in den Schritt, berührte mich und nahm seinen eigenen Schwanz in die Hand, um ihn in Position zu bringen. Dann erstarrte er plötzlich.

Die Augen des hübschen Mannes waren weit aufgerissen. Seitlich in seinem Hals steckte mein Messer und hinter ihm ragte Killian auf. Das Gesicht vor Hass verzerrt, riss er das Messer wieder aus dem Hals meines Peinigers.

Rotes, warmes Blut spritzte in mein Gesicht. Killian hatte die Halsschlagader getroffen.

Der rothaarige Mistkerl, griff sich röchelnd und panisch an den Hals und kippte dann von mir runter. Er fiel neben mir ins Gras und begann mit seinem Todeskampf.

Ich lag einen Moment einfach nur da, unfähig zu handeln, oder zu denken. Mein Herz raste, mein Atem ging stoßweise. Ich konnte nur Killian anstarren. Er hatte mich gerettet, er hatte diese Tortur beendet. Doch jetzt stand er da und regte sich nicht. Der Hass in seinem Gesicht wandelte sich in Entsetzen, als könnte er nicht glauben, was er da gerade getan hatte.

Dann hörte ich wie Sawyer einen Schmerzenslaut ausstieß.

Schwerfällig drehte ich mich auf die Seite. Mir war übel und in meinem Kopf drehte sich alles. Ayo hockte immer noch auf Sawyer und würgte nun ihn, wie er es vorher mit Killian getan hatte. Er saß mit dem Rücken zu mir und hatte noch gar nicht bemerkt, dass sein Kumpel gerade in den letzten Zuckungen lag.

„Sawyer“, sagte ich. Er brauchte Hilfe – dringend.

Killian reagierte nicht.

„Killian, Sawyer“, versuchte ich es noch einmal, aber er regte sich nicht. Stocksteif stand er da, mit dem blutigen Messer in der Hand und schien mich nicht mal zu hören. Er hatte einen Schock, wurde mir bewusst. Er kam nicht damit klar, jemanden ein Messer in den Hals gerammt zu haben.

Scheiße.

Ihn da rauszuholen würde viel zu lange dauern, Sawyer brauchte jetzt Hilfe. Ich musste das selber in die Hand nehmen. Also begann ich mich schwerfällig herumzudrehen und auf die Füße zu kommen. Meine Arme waren wackelig und meine Beine wollten mich nicht tragen, sodass ich sofort zurück auf die Knie fiel. In meinem Magen schwappte die Säure und ich spürte erneut, wie die Galle sich einen Weg meine Kehle hochbahnte. Ich versuchte zu schlucken, doch in dem Moment nahm die Übelkeit überhand und ich übergab mich. Mein gesamter Mageninhalt bahnte sich seinen Weg ins Freie. Hustend und spuckend kniete ich im Gras, während Sawyer um sein Leben kämpfte. Ich musste ihm helfen.

Entschlossen kratzte ich all meine Kräfte zusammen und schaffte es sogar auf die Beine, doch nach einem Schritt stürzte ich wieder auf die Knie. Verdammt, was war nur los mit mir?

In diesem Moment stürmte ein Riese von einem Mann mit lautem Wutgebrüll zwischen den Bäumen hervor, holte aus und schlug seine geballte Faust direkt in das überraschte Gesicht von Ayo. Der große Mann kippte wie ein gefällter Baum um. Aber das reichte Wolf noch nicht. Er machte einen Satz über Sawyer hinweg und drosch ein weiteres Mal auf Ayo ein. Und noch einmal. Dann trat er ihm mit seinem Stiefel direkt in den Magen.

Ayo krümmte sich und versuchte wegzukrabbeln, doch Wolf trat wutentbrannt ein weiteres Mal nach ihm und traf ihn mit voller Wucht in die Rippen. Er prügelte immer weiter auf Ayo ein, bis der es endlich schaffte auf die Beine zu kommen.

Blut tropfte ihm aus der Nase und von der Schläfe. Seine Augen fanden seinen toten Kumpan und weiteten sich entsetzt. Hecktisch schaute er zurück zu Wolf, der schon wieder zum Angriff überging und nahm dann die Beine in die Hand.

Ayo rannte so schnell er konnte, während Wolf hinter ihm herjagte. Aber er verfolgte ihn nur, bis der Räuber zwischen den Bäumen verschwunden war, dann wirbelte er zu uns herum und ließ seinen besorgten Blick über uns wandern. Sawyer, der sich hustend aufgesetzt hatte. Killian, der immer noch stocksteif dastand, nun aber Wolf anstarrte. Und ich, die praktisch nackt und mit der Übelkeit ringend auf dem Boden kauerte.

Nachdem er dem Leichnam des rothaarigen Mannes einen verächtlichen Blick zugeworfen hatte, ging er zum Karren, schnappte sich eine Decke und legte sie mir behutsam um die Schultern.

„Salia.“ Sawyer hustete, schaffte es aber geschunden und mit blutiger Lippe auf die Beine zu kommen. Er humpelte zum Karren und suchte panisch zwischen den Decken nach seiner Tochter. „Wo ist Salia?!“

„Im Wald.“ Ich zog die Decke fest um mich und wischte mir mit der Hand über den Mund. „Die Kerle wollten sie haben, ich habe sie in den Wald geschickt.“ Oh Gaia, warum war mir nur so schlecht? Und warum drehte sich in meinem Kopf alles?

Sawyer wirbelte herum und starrte in das Wäldchen hinein. Angst stand in seinem Gesicht. Nicht um sich selbst, sondern um seine Tochter.

„Ich wollte nicht, dass sie sie anfassen“, sagte ich. Er musste wissen, dass ich das nur getan hatte, um sie zu schützen.

Ganz kurz ging sein Blick zu mir, dann griff er nach dem Messer an seine Hüfte und wollte losstürmen, um seine Tochter zu suchen, doch bevor er auch nur einen Schritt gemacht hatte, stellte Wolf sich ihm in den Weg.

„Verschwinde, ich muss sie finden.“ Er versuchte sich an Wolf vorbeizudrängeln, doch der packte ihm am Arm und hielt ihn fest. „Lass mich sofort los!“

Wolf knurrte, zeigte dann mit ernstem Gesicht erst auf Sawyer und anschließend auf dem Boden. Er sollte genau hier stehen bleiben. Dann holte er seinen Block und seinen Stift aus seiner Hosentasche.

Sobald er sicher war, dass Sawyer ihn verstanden hatte, ließ er ihn los, und begann hektisch in seinen Block zu schreiben.

Ungeduldig verfolgte Sawyer jedes Wort und schaute dann überrascht auf. „Du weißt wo sie ist?“

Wolf nickte.

„Dann los.“ Nun war er es, der Wolf packte und ihn mit sich zog.

Wolf warf noch einen kurzen Blick zu uns, als wollte er sichergehen, dass wir während seiner Abwesenheit klarkamen und ließ sich dann mitziehen. Schon in der nächsten Minute waren beide verschwunden.

Fröstelnd zog ich die Decke ein wenig fester um mich. Mir war nicht wegen dem Wetter kalt, sondern wegen dem, was fast passiert wäre. Außerdem schmerzte mein Kopf von dem heftigen Schlag und mein Magen wollte sich einfach nicht beruhigen. Ich musste kein Heiler sein, um zu wissen, dass ich eine Gehirnerschütterung hatte.

Ich sollte dankbar sein, dass das alles war. Ohne Killian … ich wollte mir gar nicht vorstellen, was geschehen wäre. Und jetzt litt er darunter. Er stand immer noch da und starrte auf den toten Körper. Es war ihm unmöglich zu begreifen, was er getan hatte. Noch vorhin hatte er mir gesagt, er war Heiler. Das passte nicht in sein Weltbild.

Trotzdem sollte er aufhören, diesen Widerling anzustarren, das tat ihm nicht gut. „Killian?“

Als hätte der Klang meiner Stimme ihn erschreckt, zuckte er am ganzen Körper zusammen. Dann erst schien er zu begreifen, dass er noch immer das blutige Messer in der Hand hielt. Als wäre es plötzlich glühend heiß, öffnete er die Finger und riss die Hand zurück. Das Messer fiel zu Boden und blieb mit der Klinge voran in der Erde stecken.

Killian starrte es einen Moment an. Sein Blick glitt von dem Messer zu der entblößten Leiche des rothaarigen Mannes und dann weiter zu meinem Gesicht. „Salia sollte das nicht sehen“, murmelte er und drehte sich mit einem Ruck zum Karren herum. Von der Ladefläche nahm er sich ein Laken, das er hektisch über meinen Peiniger ausbreitete, so als könnte er seine Tat ungeschehen machen, wenn er es nur nicht sehen musste.

Seine Hände zitterten, als er damit begann die Kisten zu durchwühlen, bis er einen Lappen und einen gefüllten Wasserschlauch in den Händen hielt. Er tränkte den Lappen mit so viel Wasser, dass die Hälfte herunterfloss und auf den Boden tropfte. Als er ihn mir dann mit zittrigen Händen hinhielt, wurde ich von ein paar Wassertropfen erwischt. „Dein Gesicht, es ist voller Blut. Du musst es wegwischen, Salia sollte das nicht sehen.“

Nein, sollte sie nicht und ihm würde es vermutlich auch besser gehen, wenn er die Beweise seiner Tat nicht die ganze Zeit direkt vor Augen hatte. Also nahm ich den Lappen und begann damit, mir grob über das Gesicht zu wischen. Dabei achtete ich peinlichst genau darauf, dass meine Decke nicht verrutschte.

Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie ein Problem mit Nacktheit, oder meinem Körper gehabt, doch im Moment fühlte ich mich so entblößt und beschmutzt, dass ich die Decke als Schutz gegen die Welt brauchte, um mich wenigstens halbwegs sicher zu fühlen.

Ich konnte immer noch nicht richtig erfassen, was hier passiert war, so unwirklich erschien es mir. Jetzt wo es vorbei war, hatte ich das Gefühl, als würde ich neben mir stehen und alles durch ein Fenster beobachten. Ich fühlte mich fremd in meinem eigenen Körper. Und ohne Killian wäre es noch viel schlimmer geworden. Hätte er nicht eingegriffen, hätte dieser widerliche Kerl es wirklich getan. Sein Kumpel hatte sich neben ihm mit zwei Männern geprügelt und er war entschlossen und bereit gewesen, es durchzuziehen, um seine Gier zu befriedigen.

Als mir das wirklich bewusst wurde, begann ich am ganzen Körper zu zittern. Wie krank musste ein Mensch sein, um sowas überhaupt in Erwägung zu ziehen? Das war mir unbegreiflich.

Ich hatte früh lernen müssen, dass die Menschen unberechenbar waren, hatte es schon oft am eigenen Leib erfahren müssen und dennoch erschütterte es mich immer wieder, wenn mir die Abgründe der Menschheit direkt vor Augen geführt wurden.

Ich konnte einfach nicht verstehen, warum der Wille und die Wünsche des einzelnen nichts mehr wert waren, wenn jemand anderes etwas anderes wollte. Langsam begann ich die Menschen wirklich zu hassen.

Zu meiner Überraschung dauerte es nicht lange, bis unsere Männer zurück waren. Ich nahm die Bewegung zwischen den Bäumen war, bevor ich sie erkannte und fürchtete einen Moment schon, dass dieser Ayo zurückkam, um sich zu rächen, doch es war Wolf, mit unserem Bogen in der Hand. Eben hatte er ihn nicht dabeigehabt. Hatte er ihn bei Salia gelassen?

Sawyer kam direkt hinter ihm aus dem Wald. Salia trug er auf dem Arm. Die Kleine klammerte sich an ihren Vater und hatte ihren Kopf schutzsuchend an seinen Hals gekuschelt. Auf ihren geröteten Wangen waren Spuren von getrockneten Tränen. Oh Gaia, sie sah so klein und verloren aus, ganz anders als sonst.

Ich hatte ihr das angetan, ich hatte sie zum Weinen gebracht, weil ich sie angeschrien und weggeschickt hatte. Oh Mutter der Erde. „Salia.“ Meine Stimme war ganz leise, trotzdem richtete sich ihr Blick sofort auf mich. Ihre Augen begannen wieder in Tränen zu schwimmen und mir brach das Herz.

Sawyer strich ihr tröstend über das Haar. „Kiss ist nicht böse auf dich, sie hatte nur Angst um dich gehabt.“

Sie schniefte. „So wie du mit der Leiter?“

„Genau, so wie ich damals, als du alleine auf die Leiter geklettert bist.“

Die Kleine schniefte noch einmal und hob dann die Hand, um sich die Tränen von den Wangen zu wischen. Dann drückte sie sich von ihrem Vater weg, damit er sie runterließ.

Mit Wölkchen an der Brust, kam sie zu mir geeilt und blieb direkt vor mir stehen, doch sobald ich einen Arm nach ihr ausstreckte, stürzte sie zu mir und kuschelte sich auf meinen Schoß.

Ich nahm sie in den Arm und schloss für einen Moment erleichtert die Augen. Zwar hatte ich sie mit meinem Geschrei verletzt, aber wenigstens war sie mit dem Schrecken davongekommen. Wenn diese Kerle sie in die Finger bekommen hätten … ich wollte mir gar nicht vorstellen, was dann mit ihr geschehen wäre. Da war es doch besser gewesen, sie hatten ihren Frust und ihren Ärger an mir ausgelassen.

Ein Weilchen saßen wir einfach nur da, beobachtet von den Männern. Doch dann hob sie den Kopf und sah mich aus traurigen Augen an. „Hat der böse Mann dir schlimm wehgetan?“

Oh Gaia, gleich würde mein Herz nochmal brechen. „Es war nicht so schlimm“, log ich und drückte sie ein wenig fester an mich. „Wichtig ist nur, dass mit dir alles in Ordnung ist.“

„Mir geht es gut.“

Wenigstens einen von uns beiden.

Sawyer verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Ausdruck auf seinem geschundenen Gesicht war grimmig. „Es freut mich, dass es uns allen so gut geht, aber könnte mir jetzt mal jemand erklären, was für eine verdammte Scheiße das hier war? Ich gehe nur kurz Holz holen und finde bei meiner Rückkehr das hier vor.“ Er machte eine ausladende Handbewegung zur Leiche hin.

Kurz? „Du warst länger weg als ich.“

„Nein, war ich nicht“, widersprach er. „Bevor ich losgezogen bin, hatte ich hier noch eine etwas längere … Diskussion.“ Sein Blick ging kurz zu Killian. „Ich habe mich erst ein ganzes Weilchen nach dir auf den Weg gemacht.“

Dann war er wohl doch nicht so lange fort gewesen. Ich seufzte. Eigentlich wollte ich nichts erzählen, sondern einfach nur vergessen. „Als ich zurückgekommen bin, waren die Männer schon hier“, sagte ich und strich beruhigen über Salias Rücken. Ich wusste nur nicht, ob ich sie oder mich selber damit beruhigen wollte. Außerdem tat mein Kopf mir fürchterlich weh und machte mir das Denken schwer. „Sie haben Killian bedroht. Ich habe versucht ihm zu helfen.“ Und versagt. Die Geschichte meines Lebens.

Wolf und Sawyer richteten ihre Aufmerksamkeit auf Killian. „Na los, Sonnentropfen, spuck es schon aus, was war hier verdammt noch mal los?“

Killians Blick zuckte kurz zu ihm, bevor er sich wieder auf das Laken richtete, das den Leichnam verbarg. „Du warst erst ein paar Minuten weg, als sie aus dem Wald kamen. Sie dachten ich wäre allein und wollten wissen, woher ich kam und wohin ich wollte.“

Bei diesen Worten wurde mir eiskalt. Sowas hörte ich nicht zum ersten Mal. „Räuber. Sie wollten unsere Sachen und Informationen für weitere Beute.“ Und sobald sie alles gehabt hätten, was sie wollten, hätten sie uns getötet.

Wolf atmete einmal tief durch. Dann sammelte er meine Hose und meine Stiefel vom Boden auf und reichte sie mir.

„Ja, du hast recht, wir sollten hier verschwinden.“ Und dieses Grauen hinter uns lassen. „Ich ziehe mich nur kurz an, dann können wir los.“

Als ich mich bewegte, erhob Salia sich von meinem Schoß und ging zurück zu ihrem Vater. Die Decke fest um meine Schultern gezogen, raffte ich meine Sachen zusammen, erhob mich und holte mir noch ein halbwegs sauberes Hemd vom Karren.

Währenddessen schrieb Wolf etwas in seinen Block und reichte ihn an Sawyer.

„Wolf sagt, er muss noch mal los seine Beute holen. Wir sollen aber schon mal losziehen, er holt uns dann ein.“ Er reichte Wolf den Block zurück.

„Und was machen wir mit ihm?“, wollte Killian wissen und zeigte auf den toten Mann. Dort wo er ihn erstochen hatte, prangte ein leuchtend, roter Fleck auf dem Laken.

Meine ganze Abscheu spiegelte sich in meinem Gesicht wider. „Lass ihn liegen, sollen die Tiere ihn haben.“ Wenn sein Leib ein paar leere Mägen füllen konnte, hatte seiner erbärmliche Existenz wenigstens noch einen Sinn gehabt. Wie konnte so etwas Schönes, nur so hässlich sein?

Mit einem Ruck drehte ich mich herum und entfernte mich vom Karren. „Bin gleich zurück“, sagte ich und verschwand zwischen den Bäumen, ohne die verwunderten Blicke der Männer zu beachten.

Normalerweise hätte ich mich beim Karren angezogen, aber im Moment konnte ich es nicht ertragen, von den anderen angeschaut zu werden. Ich brauchte einfach einen Augenblick für mich allein, weg von neugierigen Blicken.

Sobald ich sicher war, dass die Männer mich nicht mehr sehen konnten, hielt ich an. Ich konnte ihre Stimmen noch hören, aber sie sprachen zu leise, um einzelne Worte zu verstehen. Vielleicht sprachen sie über mich, oder über das, was geschehen war. Ich wollte es gar nicht wissen, ich wollte das nur so schnell wie möglich hinter mir lassen.

Plötzlich hatte ich das Gefühl, etwas Schmieriges würde über meine Haut kriechen. Ich warf die Decke ab und riss mir das kaputte Hemd vom Leib, doch das Gefühl wollte nicht verschwinden. Ich spürte noch immer seine ekelerregenden Hände auf meinem Körper, wie sie mich betatschten und streichelten. Sein Gewicht war fort, doch ich spürte, wie es mich weiterhin niederdrückte. Er war tot, aber etwas von ihm war auf mir zurückgeblieben.

Ich wollte ihn von mir abwaschen, aber ich hatte kein Wasser. Darum begann ich mit dem kaputten Hemd über meine Haut zu reiben. Es war mir egal, dass ich vom kalten Wind eine Gänsehaut bekam. Das Zittern und der Schmerz in meinem Kopf kamen nicht vom Wetter. Ich musste dieses Gefühl loswerden, aber es ging nicht. Egal wie stark ich auch rieb, es wollte einfach nicht verschwinden.

Tränen stiegen mir in die Augen. Meine Haut war schon ganz rot und ich spürte, wie ein Schrei meine Kehle hinaufkroch. Dabei war es weniger der Schmerz, sondern die Machtlosigkeit und die Demütigung, die ich hatte ertragen müssen. Ich hatte mich so unendlich schwach gefühlt, dabei wollte ich mich doch nie wieder so fühlen.

All diese Gefühle, das war zu viel, ich konnte es nicht länger ertragen. Ein Wimmern kam über meine Lippen und dann schaffte ich es nicht länger den Schrei zu unterdrücken. Ich schlug mir die Hände vor den Mund, ging auf die Knie und brach förmlich zusammen. Ich kauerte dort, nackt und allein und biss in meine Hand, um den Schrei zu unterdrücken, während mir Tränen über die Wangen liefen.

 

oOo

Kapitel 33

 

Killian saß am Lagerfeuer und starrte regungslos in die orangenen Flammen, die die Nacht ein wenig erhellten. An sich würde mir das keine Sorge bereiten, schließlich war er heute zum ersten Mal mit der menschlichen Grausamkeit der freien Welt konfrontiert worden. Aber leider hatte er keinen Ton mehr von sich gegeben, seit wir den Ort des Geschehens verlassen hatten und das lag nun schon mehrere Stunden zurück.

„Versuchst du ihm mit deinem Blick ein Loch in den Schädel zu bohren?“ Sawyer saß neben mir auf einem der Felle, die wir auf dem erdigen Boden der alten Ruine ausgebreitet hatten und ließ meine sehr eingeschränkten Heilerfähigkeiten über sich ergehen. Im Klartext bedeutete das eigentlich nur, dass ich ihm seine Wunden im Gesicht säuberte und ihm mit einer Salbe den Hals bestrich. Er hatte eine Platzwunde am blinden Auge, eine blutige Lippe, ein paar Kratzer auf der Wange und eine Einblutung im Auge.

Viel schlimmer hatte es seinen Hals erwischt. Die Würgemale auf der Haut waren dunkelviolett und auch wenn er blöde Sprüche riss, seine Stimme hörte sich nicht sehr gesund an.

Wäre Wolf nicht rechtzeitig aufgetaucht … ich hätte ihn verlieren können. Mit Killian hatte Ayo gespielt, aber bei Sawyer hatte er es ernst gemeint. Es war ein Wunder, dass er sich sofort hatte auf den Weg machen können, um Salia zu suchen.

Ein Ellenbogen auf dem Knie, den Kopf in die freie Hand gestützt, ließ er meine Behandlung, anstandslos über sich ergehen. „Mit einem Stein würde das vermutlich besser funktionieren.“

Mehr als einen kurzen Blick bekam er von mir nicht. Killians Verhalten machte mir zu große Sorgen. Seit er sich an das Feuer gesetzt hatte, spielte er mit dem Messer herum, über das wir uns vorhin noch gestritten hatten. Ich hatte nicht mal mitbekommen, wie er es aus der Tasche geholt hatte. Aber jetzt hielt er es in der Hand, drehte und wendete es immer wieder und betastete es, als wollte er sich damit vertraut machen. Oder sich beruhigen.

„Wenn du das nicht willst, kann ich dir ganz genau sagen, was unser armer, kleiner Liebling denkt, jetzt wo die große, böse Welt ihr wahres Gesicht gezeigt hat und …“

„Halt die Klappe“, schnappte ich und verteilte die Creme etwas zu grob auf seinem Hals. Ja, ich war ein wenig gereizt. Mein Kopf schmerzte immer noch, auch wenn es sich mittlerweile auf ein erträgliches Maß abgeschwächt hatte. Ich hatte definitiv eine Gehirnerschütterung.

„Au! Hey, sei mal ein wenig einfühlsamer, das tut weh.“

„Tut mir leid.“ Tat es nicht, aber ich hatte jetzt keine Lust auf eine Diskussion mit ihm. Ich schmierte die restliche Creme einfach an seinem Kinn ab, verschloss den Tiegel und erhob mich.

Wolf saß auf der anderen Seite des Lagerfeuers. Er war von uns allen noch am Besten weggekommen. Ein paar aufgeplatzte Knöchel und einige Schrammen, waren alles was er hatte. Salia hatte sich in seinen Schoß gekuschelt und war dort schon vor einer ganzen Weile eingeschlafen.

Nachdem ich sie fortgeschickt hatte, war sie weinend und verstört in den Wald gerannt. Es war mehr Zufall als alles andere gewesen, dass Wolf sie gehört und aufgespürt hatte. Als sie ihm weinend berichtet hatte, was geschehen war, hatte er sie zusammen mit seinem Bogen in einen Baum gesetzt und ihr sehr deutlich gemacht, dass sie dort auf ihn warten sollte. Dann war er zu uns geeilt und hatte dieser schrecklichen Marter ein Ende bereitet.

Ich schnappte mir eine von den Decken, wickelte die Kleine darin ein und suchte mir dann einen Platz direkt neben Killian. Eigentlich war ich dabei nicht leise, doch er schien mich weder zu hören, noch zu merken, dass ich mich direkt neben ihm befand. „Killian?“

Als ich ihm eine Hand auf die Schulter legte, zuckte er so heftig zusammen, dass seine Zähne aufeinanderschlugen, bevor er sich panisch zu mir umdrehte und dabei auch noch fast mit den Flammen des Lagerfeuers Bekanntschaft schloss.

Seine weit aufgerissenen Augen veranlassten mich dazu, den Kopf etwas zu neigen, in der Hoffnung dadurch harmloser zu wirken. „Alles in Ordnung mit dir?“

„Ja, ich …“ Sein Blick fiel auf meine Hände und ließ ihn sofort wieder verstummen. Ich hatte dort mehrere Abwehrverletzungen, aber das war mir erst später aufgefallen.

War wohl doch nicht so in Ordnung. „Möchtest du darüber reden?“

„Nein.“ Er senkte den Blick wieder auf sein Messer und tauchte damit sein Gesicht in Schatten. Seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich.

Er verkraftete das nicht. Er kam nicht damit klar, was er hatte tun müssen. Dabei war es völlig unerheblich, dass er mich damit geschützt hatte. Es war eine Kurzschlusshandlung gewesen, er hatte nicht darüber nachgedacht, bis es zu spät war. Und jetzt saß er da und machte sich Vorwürfe, weil er den Kerl vielleicht auch hätte ausschalten können, ohne ihn zu töten.

„Du hast nichts falsch gemacht“, erklärte ich ihm und hoffte, dass er verstand. „Diese Männer hätten nicht aufgehört, bis sie hatten, was sie wollten. Sie hätten …“ Ich verstummte kurz. „Am Ende hätten sie uns getötet.“

„Das weißt du nicht“, sagte er leise und schloss die Hand um den Griff des Messers.

„Sie waren Räuber. Sie wollten was wir haben, wir waren ihnen völlig egal.“

„Es hätte einen anderen Weg geben müssen.“ Sein Blick war starr und beinahe leblos. „Kein Mensch hat es verdient zu sterben.“

„Doch“, widersprach Sawyer mit eiskalter Stimme. „Es gibt Menschen, die verdienen den Tod. Und Schlimmeres.“

Das mochte stimmen, aber leider war das im Moment nicht sehr hilfreich. „Vielleicht, aber niemand sollte mit der Schuld leben müssen, einen anderen Menschen getötet zu haben.“ Nur leider ließ einem das Leben manchmal keine Wahl.

„Aber ich habe jemanden getötet.“ Er hob die Hand und rieb sich über die Stirn, als könnte er dieses Erlebnis so aus seinen Erinnerungen radieren. „Ich wusste was ich tat. Ich wusste, wenn ich die Halsschlagader erwische, dann wäre es vorbei mit ihm und dann habe ich zugestochen.“

„Und mich damit gerettet, bevor er sich an mir vergehen konnte.“

Das schien ihn nicht groß zu trösten. „Das hat er doch schon längst. Ich habe gesehen, was er getan hat und das hat mich so wütend gemacht, dass ich nicht mehr klar denken konnte.“

Wenigstens hatte er etwas tun können. Ich war ihm einfach nur hilflos ausgeliefert gewesen und das war ein wirklich schlimmes Gefühl.

„Ich weiß nicht, ob ich das kann“, sagte er leise.

„Was?“

„Das hier. Ihr, ich.“ Er schüttelte den Kopf. „So viel Grausamkeit habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.“

Meinte er damit etwa, das was ich glaubte, was er meinte? Wollte er uns verlassen und zurück nach Eden? „Aber in Eden ist es doch genauso“, sagte ich. „Dort finden jeden Tag Grausamkeiten statt, nur verstecken sie sich hinter Regeln, Gesetzen und Erziehung. Denk doch nur mal daran, was sie dort seit Jahren mit deiner Mutter tun. Das ist grausam, und das weißt du auch.“

Er begann wieder damit das Messer zu drehen und beobachtete dabei, wie sich das Licht des Feuers in der blanken Klinge spiegelte.

„Wenn es dir hier nicht passt“, sagte Sawyer ein wenig angriffslustig, „dann geh doch in dein tolles Eden zurück.“

Ein selbstironisches Lächeln erschien auf Killians Lippen. „Ich kann nicht nach Eden zurück, niemals. Ich habe Kismet befreit und damit Hochverrat begannen. Im schlimmsten Falle könnte ich hingerichtet werden.“

Das klang so, als würde er nur bei uns bleiben, weil es keine andere Wahl gab und das zu hören tat weh. Darum sagte ich auch etwas schnippischer als beabsichtig: „Und da behauptest du noch, Eden sei nicht so grausam?“

Seine Lippen wurden schmal.

„Die ganze Welt ist grausam. Ganz egal wo du bist.“ Und ich wollte nicht das er ging, besonders nicht wegen so einem Erlebnis. Er musste doch verstehen, dass wir zusammen sicherer waren.

Wahrscheinlich meinte er es gar nicht so. Das war einfach seine Art, um das Erlebte zu verarbeiten.

Das Holz im Lagerfeuer knackte. Ein Funke sprang zur Seite, direkt in die Schüssel mit dem Abendessen.

Wolfs Jagd war mehr als nur erfolgreich gewesen. Er hatte mehrere Kaninchen und ein Eichhörnchen geschossen, bevor er auf ein Muffel getroffen war und es erlegte. Zusammen mit dem, was ich gefunden hatte, wäre es ein sehr gutes Abendessen geworden, nur leider hatte das Erlebte uns allen den Appetit verdorben.

Bis auf Salia hatte niemand aufgegessen und Killians Teller stand unangerührt vor ihm.

Ich musste etwas tun, um ihn aus diesem Loch zu holen. Ich musste ihm deutlich machen, dass er nichts falsch gemacht hatte. Nicht er war schuld, sondern unsere Angreifer. Er wäre doch niemals von sich auf die Idee gekommen, einen Fremden einfach so ein Messer in den Hals zu jagen.

Im Moment verstand er das jedoch nicht und suchte deswegen dem leichtesten Ausweg.

Vielleicht …

Ich biss mir auf die Lippen, weil ich mich nicht daran erinnern wollte. Über die Jahre hinweg hatte ich gelernt, es so gut zu verdrängen, dass ich mir selber einreden konnte, es sei niemals geschehen. Und wenn ich es jetzt wieder an die Oberfläche zerrte, würde es mich wieder verfolgen, auch wenn es nicht meine Schuld gewesen war.

Doch wenn es ihm half, wenn er verstand, dass er nicht alleine war und ich ganz genau wusste, wie er sich fühlte, sollte ich dann wirklich schweigen? Er hatte das getan um mir zu helfen und jetzt war ich es ihm schuldig, auch ihm zu helfen.

Ich atmete tief ein. Es kostete mich viel Überwindung, mich zu erinnern und die Worte über meine Lippen zu bringen – tat ich doch gerne so, als wäre das niemals passiert. „Ich habe auch mal einen Menschen getötet.“

Nicht nur Killian richtete seinen Blick auf mich, doch ich konzentrierte mich auf die zuckenden Flammen im Lagerfeuer, als dieser schreckliche Tag, aus den finstersten Winkeln meines Gedächtnisses, an die Oberfläche geschwemmt wurde. „Ich tat es, weil er mich dazu zwang und ich kann es nicht vergessen.“

Knisternd fraß sich das Feuer über die Äste und spuckte leuchtende Funken in den nachtschwarzen Himmel.

„Ich kann seine Augen nicht vergessen.“ Den Moment der Erkenntnis, als er verstand, dass er nun sterben würde und das Leben aus seinen Augen gewichen war. Manchmal träumte ich noch davon. Es waren keine schönen Träume. „Damals war ich erst sechzehn. Es war Frühling und ich war mit Marshall gerade auf dem Markt gewesen. Wir waren auf dem Rückweg nach Hause.“ Wir waren gut gelaunt gewesen. Nicht nur, dass wir all unsere Waren losgeworden waren, wir hatten auch alles bekommen, was wir brauchten. Ich hatte sogar noch eine Kleinigkeit für Nikita und ihre Schatztruhe ergattert und mich darauf gefreut, es ihr zu geben.

Es war ein guter Tag gewesen. Bis er es dann nicht mehr gewesen war.

„Am Nachmittag beschlossen wir eine Pause einzulegen. Marshall begann das Lager für die Nacht aufzubauen. Ich wollte noch etwas fürs Abendessen besorgen und bin auf die Jagd gegangen.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nicht geahnt, dass sie uns bereits eine ganze Weile beobachteten und auf der Lauer lagen. Ich war losgezogen, ganz alleine, ohne auch nur zu ahnen, was für ein Grauen mich erwartete.

Die Sonne stand bereits tief am Himmel, als ich geduckt durch das hohe Gras schlich. Immer näher an die pickenden Wildhühner heran, die nicht weit entfernt im Boden nach Samen und Würmern scharten. Halb geschützt, zwischen ein paar Bäumen und Büschen, gingen sie unachtsam ihrem Instinkten nach.

Leise und ohne ein Geräusch zu machen, ging ich in die Hocke, nahm einen Pfeil aus dem Köcher auf meinem Rücken und legte ihn auf meinen Bogen. Wie Marshall es mich gelehrt hatte, spähte ich mir ein Ziel aus, spannte dann den Bogen und visierte meine Beute an. Das würde ein leckeres Abendessen abgeben.

Die Hühner pikten sorglos weiter, nicht wissend, in welcher Gefahr sie schwebten.

Gerade als ich den Pfeil von der Sehne schnellen lassen wollte, bemerkte ich im Schatten des Baumes hinter den Hühnern, einen Lumpenhaufen. Nein, das war kein Haufen aus Lumpen, das war eine Frau und sie bewegte sich nicht.

Ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken, sprang ich auf die Beine und eilte durch das hohe Gras direkt auf sie zu. Die Hühner, von meinem plötzlichen Auftauchen überrascht und schockiert, stoben erschrocken und gackernd in alle Richtungen davon und verschwanden im hohen Gras.

Kurz bevor ich die Frau erreichte, verlangsamte ich meine Schritte und begann sie zu mustern. Ihre Kleidung wirkte abgetragen, löchrig und verlottert. Die Wangen waren eingefallen, das braune Haar stumpf und verfilzt und das Gesicht so verdreckt, dass die Haut darunter kaum noch zu erkennen war.

Soweit ich das sehen konnte, wies sie keine sichtbaren Verletzungen auf. Vielleicht schlief sie ja nur, obwohl dieser Platz dann wirklich eine merkwürdige Wahl wäre. Viel zu offen und ungeschützt.

„Hallo?“ Keine Regung. Ich ging einen Schritt näher heran. „Geht es dir gut?“ Immer noch keine Reaktion. Sie lag da wie tot.

Ich näherte mich ihr vorsichtig, hockte mich vor sie und legte meinen Bogen zur Seite. Dann hielt ich ihr meine Hand vor die Nase, um zu überprüfen, ob sie noch atmete. Ein schwacher Lufthauch traf meine Finger. Vielleicht war sie ja bewusstlos.

Ich hob die Hand, um sie an der Schulter zu rütteln.

Plötzlich traf mich etwas mit so viel Wucht am Kopf, dass ich zur Seite geschleudert wurde und mit der Schulter zu Boden krachte. Schmerz explodierte in meinem Schädel und machte mich für einen Moment blind.

Ein zweiter Schlag traf mich am Rücken und presste mir die Luft aus den Lungen. Dann wurde ich am Arm gepackt und so heftig herumgerissen, dass ich vor Schmerz aufschrie.

Mein Kopf pochte, mein Herz raste vor Angst. Was bei Gaias Zorn war hier los?

Ich blinzelte und sah gerade noch, wie eine Faust direkt auf mein Gesicht zuflog. Im letzten Moment riss ich den Arm hoch, um mich zu schützen, gerade noch rechtzeitig, um den Schlag abzufangen. Es schmerzte trotzdem. Oh Gaia, es tat so weh. Tränen schossen mir in die Augen.

„Das reicht jetzt, hör auf, du bringst sie ja noch um“, drang die Stimme einer Frau an meine Ohren. „Tot nützt sie uns nichts.“

Ich spürte ein Gewicht, dass sich auf mir niederließ, ein Mann, der sich rittlings auf mich setzte und nach meinen Armen griff.

Mit panisch schlagendem Herzen, begann ich mich zu wehren. Ich verstand nicht was hier los war. Wo kam der Mann plötzlich her? Warum hielt er mich fest? Und warum stand die bewusstlose Frau auf einmal neben uns und beobachtete uns teilnahmslos, ohne mir zu helfen?

Ich schaffte es nicht, den Kerl von mir zu stoßen und als ich versuchte nach meinem Messer zu greifen, schnappte er mich an den Handgelenken und drückte sie auf den Boden. Mit seinem gesamten Gewicht, hielt er mich auf dem Boden fest.

Oh nein, was sollte das werden, was hatte er vor? Ich wollte das er verschwand, jetzt sofort.

„Das wird jetzt folgendermaßen laufen“, sagte der Mann und drückte meine Handgelenke schmerzvoll auf den Boden, als ich mich weiter gehen ihn wehrte – meine Knochen knirschten. Er roch unangenehm und sah genauso verlottert aus wie die Frau. Die Zähne in seinem Mund waren vergammelt und er schien krank zu sein. Seine Haut war fleckig, gerötet und teilweise wund und das Haar auf seinem Kopf fehlte büschelweise. „Ich stelle dir jetzt ein paar Fragen. Wenn du sie zu meiner Zufriedenheit beantwortest, wird das hier für dich wahrscheinlich gut ausgehen. Wenn nicht, wirst du es bereuen. Verstanden?“

Ich nickte hastig, obwohl ich nicht wusste, was mich erwartete. In diesem Moment hatte ich einfach nur Angst und hätte allem zugestimmt, nur damit er nicht nochmal zuschlug.

„Schön das wir uns verstehen.“ Mit einem widerlichen Lächeln, tätschelte er meine Wange. „Romy, gib mir die Seile.“

Die verlotterte Frau holte aus ihrem Hemd ein paar fleckige Stricke und reichte sie dem Mann.

Nackte Angst packte mich.

Das war erst der Anfang meines Martyriums gewesen.

Er hatte gelogen. Selbst wenn ich auf seine Fragen antwortete, war ihm die Hand ausgerutscht. Immer und immer wieder hatte er zugeschlagen. Es hatte ihm Spaß gemacht, er mochte es mit seinen Fäusten zu arbeiten.

„Die Frau und der Mann gehörten zusammen. Sie hatten mir eine Falle gestellt und ich war in meiner maßlosen Naivität direkt hineingelaufen. Das ist mir aber erst klar geworden, als es zu spät war.“ Schon lange hatte ich mich nicht mehr so jung und verletzlich gefühlt gehabt, wie in diesem Moment, als ich ihnen hilflos und allein ausgeliefert gewesen war.

Das was ich damals gefühlt hatte, diese Art der Angst, hatte ich noch nie in meinem Leben gespürt. Bis zu diesem Zeitpunkt, hatte ich nicht einmal gewusst, dass es verschiedene Arten von Angst gab.

„Sie wollten Informationen von mir“, erklärte ich. „Sie waren uns vom Frühlingsmarkt aus gefolgt, weil sie glaubten, wir seien wohlhabend und leichte Beute. Wir waren schließlich nur zu zweit, waren trotz des gerade erst überstandenen Winters wohlgenährt, sauber und besaßen einen vollgeladenen Karren mit Zugtier. Sie glaubten, wenn sie uns überfallen, würden sie reiche Beute machen.“

Es war Gier gewesen, nichts als reine, unverfälschte Habgier, die sie zu dieser Tat getrieben hatte. „Sie wollten von mir wissen, wo sie meine Mischpoche finden konnten und drohten damit, mich zu töten, wenn ich es ihnen nicht sagte. Dabei schlugen die beiden immer und immer wieder zu.“

Stundenlang war ich ihnen ausgeliefert gewesen, nachdem sie mich gefesselt in den Keller einer alten Ruine geschleift hatten. Die ganze Zeit hatte ich all die Schläge, Tritte und Beschimpfungen ertragen müssen. Aber ich hatte ihnen nicht gegeben, was sie wollten, denn ich hatte gewusst, dass sie mich so oder so töten würden. Und hätte ich ihnen gesagt, was sie wissen wollten, hätte ich damit Nikita in Gefahr gebracht. Das hatte ich nicht gekonnt, nicht mal um mein eigenes Leben zu schützen.

„Stundenlang prügelten sie abwechselnd auf mich ein.“ Ich hatte noch nie solche Angst um mein Leben gehabt. Sie hatten mir den Arm gebrochen, die Rippen geprellt und das Schlüsselbein angeknackst, während ich im Stillen flehte, jemand würde kommen und mich retten.

Aber es war niemand gekommen, ich war auf mich alleingestellt gewesen.

„Das ich seine Fragen nicht beantwortet habe, hat den Mann mit der Zeit unheimlich wütend gemacht und irgendwann hat er dann die Geduld mit mir verloren.“ Ich hatte es in seinen Augen gesehen, den Moment erkannt, als er genug von meinem Schweigen hatte und aus dem Spiel ernst geworden war. Es war der Moment gewesen, in dem er begriffen hatte, dass ich nichts verraten würde, ganz egal was er tat.

Meine Wangen waren tränennass und alles schmerzte. Es tat so weh, dass ich mir das Ende dieser Tortur einfach nur noch herbeisehente, ganz egal wie es ausgehen mochte. Warum nur traf es mich? Ich wollte doch nur helfen und wurde jetzt auch noch dafür bestraft.

„Sprich endlich!“, brüllte der Mann mich an und versetzte mir einen Tritt in den Magen.

Ich schnappte nach Luft, und krümmte mich zusammen. Es sollte einfach nur noch aufhören. Wenn ich nur den Mund aufmachte, dann wäre es endlich vorbei. Aber ich konnte nichts sagen. Ich konnte ihnen nicht verraten, wo unsere Mischpoche war, denn Nikita war dort und bevor ich sie in Gefahr brachte, würde ich lieber sterben. Niemals würde ich meine kleine Schwester einem solchen Monster ausliefern.

„Verdammt, mach endlich das Maul auf, du Miststück!“ Er trat eine Kiste zur Seite, die mit lautem Krach zersplitterte.

Die verlotterte Frau zuckte zusammen und ging vorsichtshalber einen Schritt zurück, um vor seiner Wut geschützt zu sein. Da hätte sie sich keine Sorgen machen müssen, galt die doch alleine mir.

Als er wieder zu mir herumwirbelte, wurde mir klar, dass es nun so weit war. Seine Geduld war am Ende und er hatte endgültig genug von mir.

„Wie du willst“, sagte er nur. Seine Stimme war eiskalt. „Romy, gib mir das Messer.“

Ich kniff die Augen zusammen, in dem Bewusstsein, was nun kommen würde. Ich wollte es nicht sehen, ich wollte nur, dass es endlich zu Ende war. Doch die Pläne des Mannes sahen ganz anders aus.

Ich hörte wie er sich durch den Raum bewegte. Eine Hand griff in mein Haar und riss meinen Kopf nach hinten. Ich schrie auf und meine Augen öffneten sich wieder. Eine rostige Klinge schwebte direkt vor meinem Gesicht.

„Vielleicht bringt es ja etwas, wenn ich anfange, Stücke von dir abzuschneiden.“

Ich hatte nicht geglaubt, dass es noch schlimmer kommen konnte, aber nun wurde ich eines Besseren belehrt.

Er kniete neben mir, meine Haare fest im Griff und grinste hämisch auf mich herab.

In meiner Kehle stieg ein Wimmern auf, als er die Klinge an mein Auge führte. Er würde zustechen. Er würde mir das Messer ins Auge rammen, oder mir die Nase abschneiden, einfach weil er es konnte.

Bis zu diesem Moment war ich mir sicher gewesen, keine Kraft mehr zu haben, um mich gegen ihn zu wehren, aber beim Anblick der Klinge, ging mein Puls hoch und ein Adrenalinschub raste durch meinen geschundenen Körper. Es war nichts als reine Panik, als ich meinen unverletzten Arm hochriss und damit zuschlug.

Meine Hände waren noch immer gefesselt, der Schmerz im gebrochenen Arm explodierte und machte mich für einen Moment blind, aber ich traf mein Ziel und schmetterte ihm meine Faust mitten ins dreckverschmierte Gesicht.

Er war zu überrascht, um rechtzeitig reagieren zu können, hatte nicht geglaubt, dass ich noch die Stärke besaß, mich zur Wehr zu setzten und war deswegen unvorsichtig geworden.

Er jaulte auf, als ich ihn mitten im Auge traf, kippte zur Seite und riss mir dabei ein paar Haare aus. Das Messer fiel klappernd zu Boden.

Ich zögerte keinen Moment danach zu greifen, ignorierte all meine Schmerzen und schloss die Finger darum. Ich schaffte es gerade rechtzeitig auf die Knie, als er mit wütender Mine zur mir herumfuhr, aber das war sein nächster Fehler.

In diesem Moment war ich nur aufs Überleben gepoolt. Ich riss das Messer einfach zur Seite und schnitt ihm einmal quer über die Wange. Er schrie auf, als die klaffende Wunde sich öffnete und Blut herausquoll. Aber das war mir noch nicht genug, darum stach ich nochmal zu und versenkte das Messer tief in seiner Schulter. Wieder Schrie er und versuchte mich wegzustoßen, doch ich wollte ihn für all den Schmerz, den er mir zugefügt hatte, leiden lassen. Ich wollte ihm wehtun und ihn Stück für Stück auseinandernehmen und ihn die gleiche Angst spüren lassen, die ihre Klauen in mich geschlagen hatte.

Immer und immer wieder stach ich auf ihn ein. Blut spritzte zu allen Seiten und färbte die Welt rot. Ich war wie im Rausch, sah was ich da tat und stand doch neben mir.

Am Anfang versuchte er noch sich zu wehren, doch je mehr Blut floss, desto schwächer wurde er, bis er auf einmal in sich zusammensackte und schwer atmend liegen blieb. Er röchelte und hustete Blut. Alles war voller Blut.

Mit einem letzten hasserfüllten Blick, schaute ich ihm in die Augen. In dem Moment, in dem er verstand, dass sein Ende gekommen war, hob ich das Messer und stach es ihm direkt in sein verdorbenes Herz. Dann kniete ich da, schwer atmend, die Hand immer noch um den Griff des Messers geschlungen und verstand erst jetzt, was ich da getan hatte.

Der Mann war tot.

Ich hatte gerade einen Menschen getötet.

Ich hatte es tun müssen, aber trotzdem hatte ich gerade …

Ein Geräusch im Keller, ließ meinen Blick hochschnellen. Die Frau, diese Romy, stand mit schockiertem Gesichtsausdruck verängstigt am anderen Ende des Kellers und starrte mich aus großen Augen an.

Oh nein, sie hatte ich ja ganz vergessen. Wie sollte ich das jetzt auch noch schaffen? Ich war doch jetzt schon am Ende meiner Kräfte angelangt.

Als sie sich bewegte, riss ich drohend die Klinge aus dem Leib ihres Partners. „Willst du auch?“, krächzte ich und versuchte dabei so bedrohlich wie möglich auszusehen. Das viele Blut in meinem Gesicht war dabei sehr hilfreich. „Komm nur her, mit dir nehme ich es auch noch auf.“

Sie warf einen Blick auf den toten Mann, schaute dann wieder mich an und schüttelte den Kopf. Im nächsten Moment wirbelte sie herum und rannte so schnell sie konnte aus dem Keller.

Ich kniete da und konnte kaum glauben, dass sie einfach so verschwunden war. In meinem Kopf begann sich alles zu drehen. Das Messer fiel mir aus der Hand. Ich kippte zur Seite und verlor das Bewusstsein.

„Sie ist nicht zurückgekommen“, hörte ich meine eigene tonlose Stimme sagen. „Ich bin einfach umgekippt und lag wehrlos dort, aber sie ist nicht zurückgekommen, um sich an mir zu rächen.“ Anfangs hatte ich versucht mir einzureden, dass sie froh gewesen war, von diesem Mann befreit worden zu sein, dass ich ihr einen Gefallen getan hatte, aber ich wusste es besser. Sie hatte das ganze mitgemacht, freiwillig. Sie war nicht besser gewesen als er.

„Ich habe die halbe nach bewusstlos in diesem Keller gelegen, bevor ich wieder zu mir gekommen bin.“ Es war das Zwitschern der Vögel am Morgen gewesen, was ich nach meinem Erwachen als erstes wahrgenommen hatte. Das zweite war die Leiche gewesen. Und dann war mir klar geworden, dass ich allein war und ohne Hilfe nicht aus diesem Keller kommen würde.

Ich hatte solche Schmerzen gehabt und war so verängstigt gewesen. Ich hatte überlebt und glaubte, trotz der überstandenen Qual sterben zu müssen. „Den ganzen Tag habe ich dort neben dieser Leiche gelegen, weil ich es einfach nicht geschafft habe aufzustehen. Und mit jeder Stunde die vergangen ist, bin ich schwächer geworden.“ In diesen Stunden dort unten, war mein Sieg über das Monster nur ein schwacher Trost gewesen. „Ich habe geglaubt, dort unten wäre mein Grab.“

„Aber das war es nicht“, sagte Killian leise. Es war das erste Mal, dass jemand außer mir sprach, seit ich meine Geschichte begonnen hatte. „Du hast überlebt.“

„Marshall hat mich gefunden und nach Hause gebracht.“ Als ich am Abend nicht zurückgekehrt war, hatte er sich Sorgen gemacht, aber bei Nacht auf unbekanntem Gelände nach mir zu suchen, noch dazu wo er Trotzkopf und den Karren bei sich gehabt hatte, war unmöglich gewesen. Erst als der Morgen gegraut war, konnte er sich auf den Weg machen. Er suchte nach mir und war meinen Spuren gefolgt, bis er mich dort unten im Keller entdeckt hatte.

Beim ersten Blick auf mich, glaubte er, ich sei tot. Aber dann hatte ich die Augen geöffnet und nur ein einziges Wort gesagt. Hilfe. Er hatte meine schlimmsten Wunden versorgt, mich auf den Karren geladen und nach Hause gebracht, wo es Wochen gedauert hatte, bis ich so weit geheilt war, dass ich mich wieder halbwegs normal bewegen konnte.

Aber die seelischen Schäden hatten mich noch viel länger gequält. Es hatte mehr als zwei Jahre gedauert, bis ich mich wieder stark genug gefühlt hatte, um mit ihm zum Markt zu gehen. „Ich habe nicht darüber nachgedacht, was ich da tat. Ich habe einfach nur zugestochen, um mich selber zu schützen. Er hat mich dazu gezwungen.“ Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was er sonst noch alles mit mir angestellt hätte. „Er war tot, aber ich war es, die darunter gelitten hat und mit dieser Tat leben musste.“ Es war richtig gewesen, auch wenn es sich noch heute falsch anfühlte.

Killian löste die Hand von seinem Messer und legte sie mir auf den Arm, als wollte er mich trösten.

Ich riss meinen Arm weg, als hätte er mich verbrannt und starrte ihn erschrocken an. Einen Moment wusste ich nicht mal warum ich das getan hatte, es war einfach ein Reflex gewesen. Mein Körper war zurückgeschreckt. Nicht vor Killian, sondern vor der Berührung selber. Mein Puls war in die Höhe geschossen und mein Herz pochte hektisch in meiner Brust. Es hatte sich angefühlt … es hatte sich angefühlt, als würde er mich wieder anfassen.

Plötzlich kehrte das eklige Gefühl zurück und ich spürte ihn wieder überall auf meiner Haut. Wie er mich angefasst und bedrängt hatte. „Ich … tut mir leid.“

Ohne auf Killians gekränkten Blick zu achten, rappelte ich mich hastig auf, ging an ihm vorbei und entfernte mich vom Lagerfeuer. Ich brauchte nur wenige Schritte, um die alte Ruine zu verlassen.

„Kismet, warte.“

„Bleib sitzen“, verlangte Sawyer.

„Nein, ich werde …“

„Du weißt nicht, was sie grade durchmacht. In deiner kleinen, heilen Welt existieren diese Gefühle nicht, also setz dich wieder hin und lass mich das machen.“

Killians Antwort verstand ich nicht, dafür entfernte ich mich zu schnell von ihnen. Ich verstand mich nicht, ich verstand meinen eignen Körper nicht. Das war nur eine einfache Berührung gewesen. Von Killian. Killian hatte mir noch nie etwas getan.

Das war nicht richtig, das sollte nicht so sein. Und trotzdem schlug mir mein Herz bis zum Hals und ich rannte davon. Denn genau das war es, was ich hier gerade tat, ich flüchtete.

Als mir das klar wurde, blieb ich abrupt stehen. Meine Hände schlossen und öffneten sich, wieder und wieder. Ich kniff die Augen zusammen.

In Ordnung, beruhig dich, dir droht keine Gefahr.

Leider sah mein Körper das ganz anders. Ich musste mich zwingen, kontrolliert zu atmen und meinen Herzschlag zu beruhigen. Es half niemanden, wenn ich hier jetzt ausflippte, ganz besonders nicht mir.

Würde das jetzt immer so sein, wenn mich jemand berührte, oder war das nur, weil es gerade erst passiert war? Warum wurde ich schon wieder für die Taten eines anderen bestraft? Das war ungerecht. Nein, das war nicht nur ungerecht, das war völlig falsch. Ich hatte doch wirklich schon genug gelitten.

Als ich hinter mir Schritte hörte, riss ich die Augen wieder auf und wirbelte herum, doch es war nur Sawyer, der sich mir langsam näherte.

Er sagte kein Wort, als er direkt vor mir stehen blieb, stand einfach nur da und schaute mich an, als wisse er genau, was in meinem Kopf vor sich ging.

Vermutlich konnte er es wirklich nachvollziehen.

Meine Lippen wurden schmal und ich verschränkte die Arme vor der Brust, damit er das Zittern meiner Hände nicht bemerken konnte. Ich war heute schon einmal zusammengebrochen, mehr musste es nun wirklich nicht sein.

„Er ist tot, er kann dich nie wieder anfassen.“

Diese wenigen Worte reichten, um mir die Tränen in die Augen zu treiben. Ich kniff sie zusammen und lehnte meine Stirn an seine Brust, einfach damit ich ihn nicht ansehen musste und er mich nicht sehen konnte. Vielleicht brauchte ich aber auch einfach die Nähe, um zu wissen, dass ich nicht allein war. Dabei fragte ich mich, wie viel Schmerz ein einzelner Mensch ertragen konnte, bevor er endgültig zerbrach. Wie viel Leid und Kummer konnte ich noch ertragen und wie viel würde ich noch ertragen müssen?

Das Universum hatte keine Antworten für mich. Mir blieb nur mein Schmerz in dieser Nacht, in der Sawyer einfach nur da war und sonst gar nichts tat, während mir die Tränen über die Wange liefen.

 

oOo

Kapitel 34

 

„Papa, ich habe Hunger.“ Wie um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, begann ihr Magen zu knurren. „Und Wölkchen hat auch Hunger.“

Der Karren holperte durch ein Loch in der Straße und ließ Salia leicht hüpfen.

„Ich weiß mein Schatz, und glaub mir, da bist du nicht die Einzige.“ Er wechselte einen grimmigen Blick mit mir. Unsere Vorräte waren vor zwei Tagen zur Neige Gegangen. Wir hatten nur noch ein paar Nüsse und ein wenig Trockenobst, aber selbst zusammen würde das nicht mal mehr für eine Mahlzeit reichen. Wir unterbrachen unsere Wanderung immer mal wieder, hielten Ausschau nach Wild und was wir sonst so Essbares auf unserem Weg fanden, aber das war bei Weitem nicht genug. Wir würden für ein paar Tage irgendwo ein Lager aufschlagen und dann erstmal intensiv nach Nahrung suchen müssen.

Das Problem dabei war, dass wir unterwegs kaum Möglichkeiten hatten, unser Essen haltbar zu machen und es deswegen gar nichts bringen würde, etwas auf großen Vorrat zu besorgen. Bevor wir es verzehren konnten, wäre es verdorben.

„Ich will Äpfel“, verkündete Salia. „Die Süßen mag ich am liebsten.“

Ich lächelte milde. „Wenn wir Äpfel finden, kannst du davon so viele Essen, wie du möchtest.“ Nur würden wir wirklich großes Glück haben müssen, um überhaupt ein paar aufzutreiben. Wenn die Tiere sie sich nicht schon von den Bäumen geholt hatten, dann hatten die Herbststürme es getan.

„Ich möchte den Roten da.“

Verwirrt schaute ich zu ihr nach hinten auf die Ladefläche. „Welchen Roten?“

„Na den da.“ Sie streckte den Arm aus und zeigte nach links zu den Bäumen, die vereinzelt am Rand der alten Straße standen. Dahinter gab es ein großes Feld mit vielen weiteren Bäumen und die hingen alle voll mit Äpfeln.

Ich war wohl nicht die einzige, der die Kinnlade bis hinunter auf den Boden fiel. Da war wirklich ein ganzes Feld voller köstlicher Äpfel und wartete nur darauf, dass wir zugriffen. „Träume ich?“

„Also wenn du träumst“, sagte Killian, „dann haben wir denselben Traum.“

„Heißt das jetzt, ich bekomme den Apfel?“

„Oh ja“, sagte Sawyer. „Den und jeden anderen Apfel, den du haben möchtest. Und auch einen Kuss.“ Er schnappte sich das Gesicht seiner Tochter und drückte ihr einen dicken Schmatzer auf die Wange.

„Ihhh, Papa!“, beschwerte sie sich und wischte sich mit dem Arm über die Wange.

Schmunzelnd wendete ich Trotzkopf mit dem Karren und führte ihn dann mitten auf das Feld.

„Ist euch schon mal aufgefallen, dass wir ohne Salia echt am Arsch wären?“, fragte Sawyer.

Meine Augenbrauen wanderten nach oben. Jetzt war ich ja mal gespannt darauf, was da kam.

„Es ist nicht das erste Mal, dass sie Essen findet.“

Da musste ich ihm zustimmen. „Dann können wir uns glücklich schätzen, sie bei uns zu haben.“

Salia nickte ernst. „Könnt ihr.“

Es war wirklich schwer nicht zu lachen, aber schmunzeln, das konnte ich, als ich den Karren zwischen den prallgefüllten Apfelbäumen abstellte und die Bremse anzog. „Lasst uns ein Spiel spielen“, sagte ich und grinste die anderen an. „Wer in der nächsten halben Stunde die meisten Äpfel sammelt, hat gewonnen.“

„Ja!“ Salia war von der Idee so begeistert, dass sie fast vom Karren purzelte, so eilig hatte sie es herunterzukommen. Wolf stand zum Glück gerade daneben und fing sie bei ihrem Abgang auf. Er brummte und machte ein ernstes Gesicht, als wollte er sie zur Vorsicht ermahnen, doch sie rannte schon davon, voller Tatendrang, als Sieger aus unserem kleinen Wettbewerb hervorzugehen.

Killian schaute ihr hinterher. „Niemand lässt einem so viele graue Haare wachsen, wie ein unbedarftes Kind.“

„Was, machst du dir etwa schon Sorgen um graue Haare?“, zog ich ihn auf und band Trotzkopfs Führleine an eine der Bäume. Sicher war sicher und ich hatte keine Lust, ihm später wieder nachzujagen.

Trotzkopf nutzte die Gelegenheit, um die Äpfel zu verspeisen, die am Fuß des Baumes verstreut lagen. Er schmatzte dabei und ließ sie sich schmecken. Sie schienen ihm zu munden.

Sawyer schnappte sich ein paar leere Jutesäcke vom Karren. „In seinem Alter sollte er sich vermutlich wirklich sorgen machen. Stell ihn dir nur mal mit weißen Haaren vor, zum Gruseln.“

Killian warf einen finsteren Blick in seine Richtung. „Was glaubst du eigentlich, wie alt ich bin?“

„Keine Ahnung, mir egal. Uralt?“ Sawyer drückte ihm einen Beutel in die Hand und verteilte die anderen an Wolf und mich.

„Ich bin einunddreißig.“

„Schön für dich. Ich bin trotzdem jünger, du alter Greis.“

Bevor das Gezänk wieder in einen handfesten Streit ausarten konnte, kam von Salia ein lautes: „Papa, du musst mir helfen!“, und Sawyer wurde abkommandiert.

Es war schon erstaunlich, wie so ein kleiner Mensch es schaffte, vier gestandene Erwachsene herumzukommandieren. Noch erstaunlicher war aber, dass jeder einzelne von uns anstandslos gehorchte. Blieb nur zu hoffen, dass ihr das niemals bewusst wurde. „Ihr solltet auch loslegen, Jungs, sonst verliert ihr noch.“

Damit begann das Spiel und wir fingen an die Bäume abzuernten, wobei niemand von uns es so ernst nahm, wie Salia.

Es war schon irgendwie niedlich, wie das kleine Mädchen ihren Vater dazu anhielt, ihren Wünschen zu folgen, damit er auch immer genau den Apfel pflückte, den sie wollte. Noch viel entzückender war es allerdings, dass dieser sonst so schwierige Mann ohne zu murren gehorchte.

Im Grunde war Sawyer ja gar kein schlechter Kerl. Wenn ich ihn brauchte, war er immer zur Stelle. Natürlich handelte er oft nur aus Eigeninteresse, wie er selber immer betonte, aber trotzdem konnte man sich im Gewissen Maße auf ihn verlassen.

Ich wusste nicht, wann das passiert war, aber ich musste mir eingestehen, dass ich mich in seiner Gegenwart mittlerweile wohl fühlte. Nicht nur wohl, sondern auch … sicher.

Dieser Gedanke war so abwegig, dass ich eine ganze Weile daran hängen blieb und versuchte ihn mir zu erklären. Sicher, bei Sawyer? Der Mann, der alles und jeden verabscheute?

Noch vor wenigen Monaten war er ein Fremder, mit einem abstoßenden Charakter gewesen, den ich nicht mal in meiner Nähe haben wollte und jetzt war er trotz aller Ecken und Kanten ein Teil meines Lebens geworden. Ein Teil der zunehmend wichtiger für mich wurde, wie ich mir selber eingestehen konnte. Er war ein Freund geworden. Wie hatte das nur passieren können?

Als Sawyer sich umdrehte und mich ansah, wurde mir erst bewusst, dass ich bereits minutenlang hier stand und nichts weiter tat, als ihn gedankenverloren anzustarren. Als er dann auch noch fragend eine Augenbraue hob, drehte ich mich hastig weg und begann damit, meinen Sack mit Äpfeln zu füllen.

Warum nur fühlte ich mich plötzlich so ertappt? Und warum hatte sich mein Herzschlag auf einmal beschleunigt? Das kam vermutlich vom Hunger. Genau. Hunger sorgte ja bekanntlich für seltsame Gemütszustände. Am besten ich aß erstmal einen Apfel, dann würde es mir gleich besser gehen.

Die nächste halbe Stunde mühte ich mich damit ab, die besten Äpfel von den Bäumen zu pflücken. Diese Früchte waren wirklich reif und lecker. Es war ein Glück für uns, dass Salia sie entdeckt hatte.

Als unsere kleine Anführerin dann verkündete, dass ihr Sack voll war, trugen wir alle unsere Ausbeute zusammen. Sie gewann natürlich mit Abstand, was sicher nichts damit zutun hatte, dass sie von Sawyer tatkräftig unterstützt worden war.

Während sie glücklich grinsend neben ihrem Vater im Gras saß und einen Apfel mampfte, begann ich damit unsere Beute zu sortieren.

„Man könnte daraus Kompott machen“, überlegte Killian. Er kniete neben mir und hielt einen der Beutel offen, damit ich die Äpfel hineinpacken konnte. „Das würde sicher länger halten.“

„Du kannst kochen?“ Da schwang eindeutig Spott in Sawyers Stimme mit. „Du kannst doch nicht mal Wasser kochen, ohne dass es anbrennt.“

„Ja, ich kann daraus Kompott machen“, sagte ich schnell, bevor hier wieder ein Zickenkrieg ausbrechen konnte. In den letzten Tagen waren die beiden mal wieder echt schlimm. „Wir sollten auch langsam anfangen, ein paar Vorräte für den Winter anzulegen.“

„Das heißt, noch mehr Äpfel pflücken?“, fragte Sawyer. „Kann deine Flohschaukel überhaupt so viel Gewicht ziehen?“

„Falls nicht, schmeiße ich einfach deine Sachen vom Karren“, erwiderte ich ganz ruhig und sortierte zwei Äpfel aus, weil die so angeschlagen waren, dass die nicht mal mehr Trotzkopf essen würde. Vermutlich hatte Salia die vom Boden gesammelt. „Oder ich schnalle dir einfach ein paar Säcke auf den Rücken. Du musst schließlich auch einen Nutzen haben.“

Sawyers Augen blitzen vor Erheiterung und ein verführerisches Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Massierst du mir abends dann auch die Schultern, damit ich mich von den Anstrengungen erholen kann?“

Warum bitte ging mein Puls hoch, bei dem Gedanken daran, meine Hände auf seinen Körper zu legen?

Seit der Umarmung in meinem alten Kinderzimmer, passierte mir das ständig. Vielleicht sollte ich mir mal einen Mann suchen, damit meine Hormone wieder ein wenig herunterfuhren. Aber nicht diesen hier. Nein, mit Sicherheit nicht. „Du kannst ja Wolf nach einer Massage fragen“, schlug ich ihm vor.

Der Riese grinste, zwinkerte Sawyer zu und schickte noch einen Luftkuss hinterher.

Sawyer tat so, als würde er ihn auffangen und drückte ihn sich ans Herz. „Wenn du doch nur ein bisschen mehr wie Wolf wärst“, sagte er zu mir.

Ha ha, sehr witzig. „Du meinst, groß und …“

„Hallo.“

Bei der fremden Mädchenstimme, fuhr ich in die Höhe, wirbelte herum und legte instinktiv die Hand auf den Griff meines Messers. Auch Killian und Wolf waren mit einem Mal auf den Füßen, während Sawyer seine Tochter schützend hinter sich schob.

Nicht weit von uns entfernt, stand ein junges Mädchen von vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahren. Ihr braunes Haar war zu dicken Dreadlocks geflochten und gestattete dadurch einen erstklassigen Blick auf ihren Gesichtsschmuck. Eckig gebogene Drähte, die quer durch ihr Gesicht und über den Kopf führten, verziert mit kleinen Stahlplättchen.

Die kurvige Figur steckte in warmer Lederkleidung und einem Leinenhemd. Eine Messerscheide hing an ihrem Gürtel, doch viel interessanter war die Armbrust in ihrer Hand, die mit der Spitze zu Boden zeigte.

Ich hatte dieses Mädchen schon einmal gesehen. „Skade?“

Killians Blick huschte kurz zu mir. Auch er hatte seine Hand auf den Griff seines Messers gelegt, bereit es jeden Moment zu ziehen. Unsere letzte Begegnung mit Fremden, vor knapp einer Woche, hatte ihn Vorsicht gelehrt. „Du kennst sie?“

„Nicht wirklich. Ich bin ihr vor ein paar Wochen auf dem Markt begegnet. Ihr und ihren Leuten, haben wir unsere Messer zu verdanken.“ Allerdings erklärte das weder, wie sie hierherkam, noch was sie hier tat. Der Besuch auf dem Markt lag immerhin bereits fast einen Monat zurück. Und leider glaubte ich auch nicht an Zufälle. „Du solltest uns besser sagen, was du hier willst.“

„Nö.“ Mit einem Lächeln hob sie die Armbrust und zielte damit direkt auf meine Brust. „Ihr solltet die Hände hochnehmen.“

Wenn sie glaubte mich damit einschüchtern zu können, hatte sie sich aber getäuscht. „Du kannst mich vielleicht erschießen, aber bevor du es schaffst deine Waffe nachzuladen, hat dich einer von meinen Leuten aufgeschlitzt.“

Ihr Lächeln wurde noch breiter. „Also ich zähle dreizehn Armbrüste. Dass heißt, wir können jeden von euch zwei oder sogar dreimal erschießen, bevor wir nachladen müssen.“

Plötzlich traten überall hinter Bäumen und Büschen Männer und Frauen aus der Deckung, die alle ähnlich gekleidet waren wie Skalde und auch diese Art von Gesichtsschmuck trugen. Sie alle hatten ihre Haare zu Dreadlocks geflochten und steckten in warmer Kleidung. Ich hatte keine Ahnung woher die auf einmal alle kamen, oder wie es ihnen gelungen war, sich auf dieser doch recht offenen Fläche an uns heranzuschleichen, aber sie waren überall. Sie hatten uns von allen Seiten eingekesselt und wir saßen in der Falle.

Gerade als ich mein Messer ziehen wollte, erklang eine tiefe Männerstimme nicht weit hinter mir. „Lass es lieber und nimm einfach die Hände hoch. Glaub mir, dass ist besser für deine Gesundheit.“

Verdammt! Mein Herz schlug mir bis zum Hals und alles in mir schrie, zum Angriff über zu gehen. Die letzte Begegnung mit Fremden, steckte mir noch tief in meinen Knochen und ich konnte es ehrlich nicht fassen, dass wir uns schon wieder in so einer Situation befanden. Trotzdem hörte ich auf meinen Verstand und nahm widerwillig die Hand von meinem Messer. Ich musste vernünftig sein, bei einem Angriff würden wir den Kürzeren ziehen und wir hatten Salia bei uns. „Was wollt ihr?“, fragte ich und schaute zu der Kleinen hinüber. Sie saß bei ihrem Papa im Rücken und schaute unsicher über seine Schulter. Auch sie hatte gelernt, dass Fremde Gefahr bedeuten konnten.

„Was werden wir wohl wollen?“, fragte der Mann hinter mir, als läge die Antwort klar auf der Hand. „Unser Eigentum beschützen natürlich.“ Ich hörte wie er sich hinter mir bewegte und so wie Sawyer sich anspannte, war er wohl nicht mehr allzu weit entfernt. „Wir mögen keine Diebe.“

Moment, glaubte er etwa, wir wollten sie bestehlen? „Wir sind keine Diebe.“

„Ach nein? Aber ich habe doch gerade gesehen, wie ihr euch an unseren Bäumen vergriffen habt. Ihr doch auch Jungs, oder?“

Zustimmendes Gemurmel.

Killians Blick huschte angespannt hin und her. Ich sah ihn schlucken und wie seine Zunge nervös über seine Lippen fuhr. Er schien nicht sicher, wie er sich verhalten sollte.

„Weißt du Mädchen, heutzutage muss man auf seine Sachen aufpassen. Und wenn du deine Hände nicht endlich hochnimmst, werde ich dich einfach erschießen. Ich stoße niemals leere Drohungen aus. “

Das gefiel mir nicht, genauso wenig wie den anderen und trotzdem streckten wir nacheinander unsere Hände in die Höhe. Ich konnte nur beten, dass dies hier nicht der Anfang einer Tragödie war.  

„Genau, schön nach oben, sodass ich sie alle sehen kann.“

Wolf spannte die Muskeln an, als bereitete er sich darauf vor, jeden Moment anzugreifen, doch ich gab ihm mit einem Kopfschütteln zu verstehen, dass er erstmal gar nichts unternehmen sollte.

„Und was passiert jetzt?“, wollte ich wissen und beobachtete einen Mann, der sich neugierig Trotzkopf näherte. „Du solltest besser von ihm wegbleiben.“

Der Mann warf mir einen Blick zu, als wollte er mich fragen, was ich tun wollte, wenn er sich dieser Anweisung einfach widersetzte und ging noch dichter heran.

Trotzkopf drehte den Kopf, kaute dabei auf seinem Apfel und schaute zu, wie der Kerl sich immer weiter näherte. Er riss sein Maul auf und zeigte dem Mann seine Zähne.

Oh oh.

Der Mann ließ sich nicht aufhalten. Er streckte die Hand aus, als wollte er Trotzkopf berühren.

„Komm her mein Hübscher, keine Angst, ich tue dir …“

Trotzkopfs Kopf schnellte nach vorne, als er versuchte den Mann zu beißen. Der riss nicht nur dir Hand zurück, sondern machte auch noch einen Satz rückwärts.

„Hey, lass das, ich …“

Ein ganzer Flatschen Dromedarspucke samt zerkauten Apfelstücken, traf den Mann mitten ins Gesicht und schnitt ihm damit das Wort ab.

„Ich habe dich gewarnt.“ Ich versuchte gar nicht erst, mein hämisches Lächeln zu unterdrücken. Doch es verging mir ganz schnell, als der Kerl sich den Rotz aus dem Gesicht wischte und dann verärgert seine Armbrust hob und auf Trotzkopf richtete.

„Das wirst du mir büßen.“

Instinktiv griff ich nach meinem Messer.

„Hey, immer schön langsam“, sagte der Kerl in meinem Rücken, während ich dem Mann bei Trotzkopf warnend zurief: „Alles was du ihm antust, bekommst du tausendfach zurück!“

„Geh weg von ihm!“, kreischte Salia und wurde von Sawyer schützend in seine Arme gerissen.

„Lass das Tier in Frieden“, kam es von dem Kerl hinter mir. „Wir töten niemanden, nur weil er dich ein wenig vollsabbert.“

„Ja“, sagte ein anderer munter. „Freu dich lieber, so nahe warst du einem Zungenkuss schon lange nicht mehr.“

Ein paar von den anderen lachten, während der Typ ihnen böse Blicke zuwarf. Aber wenigstens ließ er die Armbrust wieder sinken.

„Siehst du, er tut deinem kleinen Freund nichts“, sagte der Kerl hinter mir. „Also kannst du jetzt wieder deine Finger von deinem Messer nehmen. Langsam und vorsichtig, wir wollen schließlich nicht, dass hier ein Unglück geschieht.“

Er wollte das vielleicht nicht. Ich wünschte ihm jede Menge Unglück an den Hals. Wenn das Schicksal mir wohlgesonnen war, würde er sich vielleicht selber in den Fuß schießen. Da das aber sehr unwahrscheinlich war, nahm ich zähneknirschend die Hand von meinem Messer.

„Gute Entscheidung.“

Vorerst. „Und wie soll es jetzt weiter gehen? Raubt ihr uns aus? Wollt ihr uns umbringen? Oder habt ihr einfach nur Langeweile und findet es amüsant, uns auf den Sack zu gehen.“ Ja, ich klang als würde ich mir keine Sorgen machen, aber das war nur Show. Ich musste das tun, denn ich durfte keine Schwäche zeigen. Würden sie versuchen uns anzufassen … ich würde vermutlich einfach ausrasten. Die Begegnung mit den letzten Räubern steckte mir einfach noch zu tief in den Gliedern.

„Hätten wir euch umbringen wollen, hätten wir das wohl gemacht, ohne euch auf uns aufmerksam zu machen“, sagte der Mann in meinem Rücken. „Und glaub mir, ich habe weitaus besseres zu tun, als mich mit dummen Weibsbildern herumzuschlagen, aber ich kann es nicht gestatten, dass Fremde einfach hier auftauchen und unsere Felder abernten.“

Ihre Felder? „Das sind eure Bäume?“

Skade gab ein verächtliches Geräusch von sich, dass erstaunliche Ähnlichkeit mit Sawyers allgegenwärtiger Geringschätzung aufwies. „Habt ihr wirklich geglaubt, solche Bäume wären von alleine gewachsen?“

„Ehrlich gesagt haben wir gar nicht darüber nachgedacht“, gab ich zu und hoffte, dass das einfach nur ein dummer Zwischenfall war, aus dem wir mit einer Entschuldigung herauskamen. Sie schienen jedenfalls keine Banditen, oder Mörder zu sein, sondern einfach nur eine Gruppe, die ihr Hab und Gut beschützte. „Wir hatten Hunger und ich habe nicht damit gerechnet, dass diese Bäume jemanden gehören könnten. Können wir das Ganze mit einer Entschuldigung aus der Welt schaffen?“

„Eine Entschuldigung?“, fragte der Mann in meinem Rücken und die umherstehenden lachten. „Also ein bisschen mehr muss es schon sein. Schließlich habt ihr unser Essen gegessen und dafür brauchen wir nun eine Entschädigung.“

Natürlich war es nicht so einfach. Wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr sein zu können. Trotzdem entspannte ich mich ein wenig, da ich nicht mehr glaubte, wir würden in akuter Gefahr schweben. „Was möchtest du für die Äpfel?“, fragte ich und wollte mich drehen, da ich ihn für den Anführer hielt und von Angesicht zu Angesicht mit ihm sprechen wollte, doch sobald ich mich ein wenig regte, kam sofort ein: „Nicht bewegen, ich meine es ernst.“ 

Na gut, in Ordnung, dann würde ich mich eben mit dem Baum vor mir unterhalten. „Du hast mir noch keine Antwort gegeben.“

„Ich schätze, mit einem Ausgleich können wir uns zufriedengeben.“

„Wir haben aber kein Essen“, sagte ich sofort. „Darum haben wir ja die Äpfel genommen.“

„Dann werden wir wohl etwas anderes finden müssen, nicht wahr. Skade, wärst du so freundlich?“

Die kleine Amazone hängte sich ihre Armbrust auf den Rücken und machte sich dann auf dem Weg zu unserem Karren.

„Was soll das werden?“, wollte ich wissen. Dass wir ihnen die Äpfel ersetzten, konnte ich irgendwo noch verstehen, auch wenn ich wegen ein paar Äpfel nicht so einen Aufstand gemacht hätte, aber freie Bedienung an unseren Sachen? Das ging eindeutig zu weit.

„Wir schauen uns das Angebot an“, erklärte der Mann hinter mir. „Und dann nehmen wir, was wir haben wollten. Ihr habt schließlich auch einfach genommen, was ihr haben wolltet.“

„Wir haben ein paar Äpfel genommen und keine Reisenden bestohlen“, knurrte ich und schaute dabei zu, wie Skade auf unseren Karren kletterte und damit begann, unsere Sachen zu durchwühlen.

„Nicht genommen, gestohlen.“

„Wenn euch eure Äpfel so wichtig sind, dann hättet ihr sie vielleicht kennzeichnen sollen und du nimm deine verdammten Finger aus dieser Kiste!“, fauchte ich Skade an. Da waren Salias Sachen drinnen und ich würde fuchsteufelswild werden, wenn sie der Kleinen ihr Zeug wegnahmen.

Skade beachtete mich nicht mal, als sie die Kiste durchsuchte, sie dann aber als uninteressant abstempelte und zur Seite schob.

„Du bist ziemlich angriffslustig, für jemanden, der so tief in der Scheiße steckt“, bemerkte der Mann hinter mir.

„Du machst dir keine Vorstellungen“, murmelte Sawyer und behielt die Männer links von uns im Auge.

Hätte ich jetzt gesagt, was mir auf der Zunge lag, hätte der Mann mir vielleicht doch noch einen Armbrustbolzen in den Rücken gejagt, darum knirschte ich einfach nur mit den Zähnen, als würde ich auf altem Leder herumkauen.

„Hey, Akiim, schau dir das an“, sagte Skade und zog Killians Arzttasche vom Karren, um sie dem Mann hinter mir zu zeigen. „Medikamente aus Eden.“

Ich erstarrte und glotzte Skade mit weit aufgerissenen Augen an. Hatte sie gerade wirklich gesagt, was ich glaubte gehört zu haben? „Nein“, hauchte ich. „Das ist nicht möglich.“ Und trotzdem wirbelte ich auf dem Absatz herum, um den Mann hinter mir anzusehen.

Sofort richteten nicht nur er, sondern auch seine ganzen Leute ihre Armbrüste auf mich.

„Nein!“, rief Killian und streckte die Hand aus, als könnte er das drohende Unheil so verhindern, fing sich dann aber wieder, weil er nicht noch mehr Schwierigkeiten machen wollte.

„Glaubst du ich mache Scherze?“, fragte mich der Mann, der nun vor mir stand. „Ich habe doch gesagt, keine Bewegung.“

Ich hörte ihn kaum, schaute ihn nur an und tastete jeden Zentimeter von ihm ungläubig mit den Augen ab. Er war erwachsen, natürlich war er das, es lag immerhin schon elf Jahre zurück, aber die Hautfarbe stimmte, genau wie die seiner Haare und die Farbe seiner Augen. Der Mann war auch im richtigen Alter, nur wenige Jahre älter als ich. Auch in der Gesichtsform konnte ich Ähnlichkeiten erkennen, aber vielleicht bildete ich mir da auch nur etwas ein, durch den Kopfschmuck war das schwer festzustellen.

Er war groß, mindestens so groß wie Killian. Sein schwarzes Haar war kurz geschoren, wodurch er zwischen den anderen deutlich hervorstach und er war richtig muskelbepackt, das war selbst durch seine dicke Kleidung zu erkennen.

Mein Herz schlug bis zum Hals und das Rauschen in meinen Ohren übertönte jedes Geräusch um mich herum. Die Ähnlichkeit war vorhanden, dass ließ sich nicht bestreiten, aber es konnte unmöglich so sein.

Ich musste es wissen, jetzt sofort. „Zeig mir deine Hand“, forderte ich und wartete gar nicht darauf, dass er meiner Anweisung nachkam. Ich schnappte mir einfach seine Hand, ohne auch nur einen Gedanken an die vielen Armbrüste zu verschwenden, die auf mich gerichtet waren und drehte sie mit der Handfläche nach oben. Da war sie, eine längliche Narbe, direkt an seinem Zeigefinger.

Ich wusste noch ganz genau wie er sie bekommen hatte. Das war noch vor Nikitas Geburt gewesen, als er versucht hatte, eine Figur aus einem Stück Holz zu schnitzen. Er war abgerutscht und hatte sich mit der Klinge tief ins Fleisch geschnitten. Es hatte geblutet wie sau.

„Hey.“ Er riss die Hand genauso schnell zurück, wie ich sie gepackt hatte und richtete die Armbrust wieder auf mich. Dabei bedachte er mich mit einem warnenden Blick. „Anfassen verboten.“

„Diese Ware ist bereits besetzt“, sagte einer der Männer links und ein anderer rief: „Aber ich bin noch zu haben, Süße.“

Ich hörte ihnen gar nicht zu, ich konnte nur den Mann vor mir anstarren, als wäre er ein Geist. Er war ein Geist, er konnte nicht hier sein. „Das ist unmöglich“, sagte ich und schüttelte den Kopf langsam hin und her. Akiim, vor mir stand mein toter Bruder Akiim. Das konnte nicht sein, das war einfach nicht möglich.

Meine Augen mussten riesig sein, der Schock stand mir ins Gesicht geschrieben. Ich wich einen Schritt zurück, und noch einen, war aber nicht fähig, meinen Blick von ihm abzuwenden. „Du kannst nicht hier sein, du bist tot.“

Er zog die Augenbrauen ein wenig höher. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das nicht bin.“

„Aber ich habe es gesehen, ich habe gesehen, wie sie dich gepackt haben. Mama war tot und du hast so bitterlich geweint.“ Ich wich noch einen Schritt zurück, stolperte und landete nicht sehr sanft auf dem Hintern. Ich konnte nicht mehr klar denken, denn das was hier gerade geschah hatte mein Hirn lahmgelegt. „Du warst nicht in Eden“, warf ich ihm vor. „Die Tracker hatten dich, aber du warst nicht in Eden, du musst tot sein!“ Denn wenn er das nicht war, wenn er wirklich er war, dann hatte ich ihn damals nicht nur im Stich gelassen, sondern ihn auch noch sich selber überlassen.

Der Mann ließ seine Armbrust sinken und musterte mich mit einem tiefen Stirnrunzeln. „Woher weißt du das alles?“

„Ich habe es gesehen, darum weiß ich auch, dass du nicht hier sein kannst!“ Tränen stiegen mir in die Augen. Ich schlug die Hand vor den Mund. „Du bist tot, du kannst nicht hier sein.“

Er neigte den Kopf leicht zur Seite. Seine Stirn hatte er in Falten gelegt. „Wer bist du?“

Statt zu antworten, schüttelte ich nur den Kopf. Ich konnte es ihm nicht sagen, zu tief verwurzelt war die Angst. Davor, dass ich recht hatte. Davor, dass ich unrecht hatte. Vor der Wahrheit und der Lüge und der Schuld.

„Kismet“, sagte Sawyer und bekam damit sofort seine Aufmerksamkeit. „Ihr Name ist Kismet, aber das hast du dir schon gedacht, nicht wahr?“

Beim klang meines Namens, hatte er seine Augen vor Überraschung weit aufgerissen und jetzt starrte er mich an, als sei ich das Gespenst. Lautlos formte er meinen Namen mit den Lippen. Er fuhr sich mit der Hand über den Mund, schaute weg und dann wieder zu mir. Er schien genauso fassungslos zu sein, wie ich es war.

„Äh“, fragte einer der Männer. „Was ist hier plötzlich los?“

Skade hatte mit dem Durchwühlen unserer Sachen aufgehört und musterte mich kritisch.

„Kismet“, sagte Akiim leise. „Du bist wirklich Kismet?“

Ich schüttelte den Kopf. Nicht um die Frage zu verneinen, sondern weil ich plötzlich nicht mehr antworten konnte. Und dann sagte ich etwas völlig Bescheuertes. „Biene.“

Akiim wich einen Schritt zurück, als hätte man ihn geschlagen. Seine Armbrust fiel ihm einfach aus der Hand und landete im Gras.

„Biene?“, fragte eine Frau ein Stück hinter ihm und schaute sich dann hektisch nach allen Seiten um, als befürchtete sie einen Angriff aus dem Hinterhalt. „Wo? Wo ist sie?“

„Ein Spitzname“, sagte Akiim leise. „Zuckersüßes Honigbienchen.“

Die Tränen in meinen Augen flossen über und kullerten über meine Wangen. „Du kannst es nicht sein.“

Auch er schüttelte den Kopf, machte dann aber einen entschlossenen Schritt auf mich zu. „Ich bin ihnen entkommen“, sagte er und hockte sich vor mich. „Ich bin den Trackern entkommen.“

„Nein“, sagte ich und schüttelte wieder den Kopf. Das konnte nicht wahr sein. „Niemand entkommt den Trackern, du lügst!“

„Nein, ich lüge nicht, ich bin wirklich hier, Biene.“

Dieses alte Kosewort von seinen Lippen zu hören, gab mir den Rest. Biene, so hatte mich schon seit langer Zeit niemand mehr genannt. Die Tränen liefen über und kullerten über meine Wangen. Er war es wirklich, die Beweise waren eindeutig. Er war nicht tot. Vor mir stand mein Bruder Akiim.

Ich konnte es nicht glauben.

„Was ist hier los?“, fragte Killian und beobachtete nicht nur, wie Akiim mir eine Hand entgegenstreckte, sondern auch wie ich sie annahm, und mir von ihm auf die Beine helfen ließ.

„Das wüsste ich aber auch gerne“, kam es von Skade. Sie hatte ihre Durchsuchung mittlerweile völlig aufgegeben und sprang vom Karren herunter.

„Das ist Akiim“, sagte Sawyer und erhob sich auf die Beine. Salia schob er dabei so, dass sie zwischen ihm und Wolf stand. „Kismets scheinbar nicht so toter Bruder.“

Killian war nicht der einzige, bei dem die Augen ein wenig größer wurden.

„Schwester?“, fragte Skade ungläubig. „Das ist eine von deinen Schwestern?“

„Ja.“ Sobald ich auf den Beinen stand, ließ er meine Hand wieder los und begann mich zu mustern.

Wahrscheinlich sollten wir uns jetzt in die Arme fallen und uns freuen, den anderen nach so langer Zeit wiedergefunden zu haben, aber auch wenn das mein großer Bruder war, so war er auch ein Fremder. Akiim war für mich ein dreizehnjähriger Junge. Das hier war ein vierundzwanzigjähriger Mann. „Du bist … groß geworden“, sagte ich ein wenig befangen und wischte mir die Tränen von den Wangen.

„Du auch.“

Wir starrten uns an. Diese unerwartete Begegnung war für uns beide ein Schock, von dem wir uns erstmal erholen mussten. Konnte man sich von sowas überhaupt jemals erholen? 

„Wie warmherzig“, kommentierte Sawyer.

Ich konnte meine Augen nicht von Akiim abwenden. Plötzlich hatte ich wieder all die Bilder in meinem Kopf, die ich so dringend vergessen wollte. Wie Akiim nach meiner Mutter geschrien hatte und sie sofort runter zum See gelaufen war. Es war das letzte Mal gewesen, dass ich sie lebend gesehen hatte.

Aber, wenn ich mich bei ihm geirrt hatte, vielleicht hatte ich dann auch andere Dinge missverstanden. Ich war ein verängstigtes Kind gewesen, panisch und verunsichert durch die Fremden Männer und meinen weinenden Bruder. Ich schluckte angestrengt, traute mich kaum die Worte auszusprechen. „Mama, hat sie auch …“ Ich konnte es nicht fragen, fürchtete mich zu sehr vor der Antwort, aber Akiim verstand auch so.

Ein Schatten legte sich über seine Augen und er schüttelte bedauernd den Kopf. „Sie ist tot. Die Tracker haben sie getötet.“

Mein Herz zog sich zusammen. Hoffnung war schon ein gemeines Miststück, denn für einen kurzen Moment hatte sie mich glauben lassen, dass meine Mutter vielleicht doch noch leben könnte. Aber das tat sie nicht. Sie war fort und würde niemals zurückkehren.

„Ähm …“, machte Killian und unterbrach damit diesen Moment. „Wenn ich mal stören dürfte.“

Akiim löste seinen Blick von mir und richtete ihn auf Killian. „Was?“

„Naja, hier sind immer noch ein paar Armbrüste auf uns gerichtet und ich bin mir nicht ganz sicher ob wir unsere Arme jetzt sinken lassen können, oder wir uns noch immer in Gefahr befinden.“

Ja, der Zwiespalt war verständlich. „Ihr könnt die Arme sinken lassen“, sagte ich, immer noch viel zu überfordert mit dieser Situation. Das hier waren meine Reisegefährten und auch wenn wir noch immer etwas wegen der Äpfel zu klären hatten, so ordnete ich diese Leute nicht länger als Bedrohung ein.

Akiim jedoch sagte: „Die Arme bleiben oben.“

„Was?“ Meine Augenbrauen krochen aufeinander zu. „Aber das sind meine …“

„Diebe.“

Verwirrt wich ich einen Schritt vor ihm zurück. „Wir sind keine …“

„Ihr habt unsere Äpfel genommen.“ Er schaute zu den Männern und Salia. „Du bist meine Schwester, du gehörst zur Familie, dir kann ich das nachsehen, aber wir können nicht die ganze Welt mitversorgen. Sie werden mitgenommen und dann können sie ihre Schulden abarbeiten.“

Mir fiel die Kinnlade herunter – wortwörtlich. „Das meinst du nicht ernst.“

„Ich mache niemals Scherze, nicht in solchen Dingen.“ Er machte mit der Hand ein Zeichen und schon setzten seine Leute sich in Bewegung. „Dir steht es frei zu gehen, wenn du es wünschst, aber ich hoffe, dass du mich begleiten wirst. Ich möchte dir so viel zeigen und ich muss wissen, wo du die ganze Zeit gewesen bist.“

Ich war einfach nur fassungslos und als einer von Akiims Männer zu nahe an Killian herantrat und versuchte ihm sein Messer abzunehmen, ging ich nicht nur dazwischen, ich stieß den Kerl auch weg. „Fass ihn nicht an!“

Auch Wolf spannte sich an, als die Männer sich ihm näherten – weitaus vorsichtiger.

Mein böser Blick galt jedoch Akiim. „Wenn du uns als Gäste willkommen heißt, würde ich mit dir gehen, aber das?“ Ich machte eine ausladende Geste mit der Hand, die alle um uns herum einschloss. „Das ist fast schon ein Überfall. Nur Tracker holen sich Menschen gegen ihren Willen von den Straßen.“

Akiim wurde stocksteif. „Sie haben uns bestohlen.“

„Und wir sind bereit, für den Schaden aufzukommen, aber nicht so.“ Ich konnte es nicht glauben, dass er wirklich so ein Theater wegen ein paar blöder Äpfel abzog. Eben noch völlig überwältigt, von dem unerwarteten Wiedersehen, wollte ich ihm jetzt gerade nur gegen das Schienbein treten. Das würde ihm vielleicht ein wenig Vernunft einbläuen. „Das ist einfach nur lächerlich.“

„Nein“, widersprach er mir. „Das ist die Art, wie die Dinge funktionieren.“

Gerade als ich den Mund öffnete, um zu widersprechen, legte Killian mir eine Hand auf die Schulter. „Ist schon gut“, sagte er. „Er ist dein Bruder, du solltest mit ihm mitgehen und wir würden ohne dich doch sowieso nirgendwo hingehen.“

Akiim fixierte Killians Hand, als wollte er sie allein mit seinem Blick dort wegbrennen.

Killian hatte schon recht, trotzdem gefiel es mir nicht, wie die Dinge hier liefen. Darum drehte ich mich zu Sawyer herum, der meinen Bruder aufmerksam im Auge behielt.

„Ich glaub“, sagte er, „es geht hier mittlerweile weniger um die Äpfel, als darum, dir einen Ansporn zu geben, ihn zu begleiten. Du weißt schon, wegen der glücklichen Familienzusammenführung und so.“

Da konnte schon etwas Wahres dran sein. Akiim war schon als Kind ein kleiner Kontrollfreak gewesen, der immer das Sagen haben musste. Mit dem Älterwerden, hatte sich das scheinbar nicht groß geändert. Vielleicht führte er sich aber auch nur so auf, weil er vor seinen Leuten das Gesicht wahren musste. Es war gut möglich, dass er zugänglicher wurde, sobald wir allein waren und unter vier Augen reden konnten. Und wenn nicht, konnte ich ihm immer noch in den Hintern treten. „Na gut“, sagte ich. „Wir gehen mit und kommen für den Schaden auf.“

Akiim wirkte zufrieden. „Ladet die Äpfel auf den Karren und dann Abmarsch zurück ins Center.“

 

oOo

Kapitel 35

 

Der ferne Schrei eines Vogels und das Knarzen meines alten Karrens, waren neben unseren Schritten die einzigen Geräusche, die diese seltsam gedrückte Stille durchbrachen. Nur ein paar von Akiims Männer unterhielten sich leise. Dass sie dabei noch immer meine Männer mit ihren Waffen bedrohten, gefiel mir gar nicht. „Muss das wirklich sein?“, fragte ich deswegen irgendwann und zeigte auf die Armbrüste. „Sie sind harmlos.“

Akiim schaute von Killian, der neben mir lief, zu Sawyer, der Salia an der Hand hielt, weiter zu Wolf, der meinen Bruder breit angrinste. „Wenn sie nichts Dummes tun, haben sie nichts zu befürchten.“

Das bedeutete dann wohl, ja, es musste sein.

Nachdem die nicht gestohlenen Äpfel auf meinem Karren geladen waren und ich mich mit der seltsamen Form von Akiims Einladung abgefunden hatte, war mein Bruder mit uns und seinen Leuten, zu einer Straße in der Nähe aufgebrochen, die mitten hinein in einen dichten Wald führte.

Die Straße selber war frei und recht gut in Schuss gehalten, auch wenn der frühere Asphalt komplett zu einer Waldstraße geworden war. Keine Schlaglöcher, keine Risse, Beulen, oder Dellen. Nicht mal ein Bäumchen, dass es wagte über den Rand zu wachsen.

Der Wald um uns herum war auch sonderbar. Die Bäume standen bis dicht an den Rand der Straße, die Kronen wucherten teilweise sogar über sie hinüber, als wollten sie einen Tunnel bilden. Doch das Seltsame war das, was ich zwischen den Bäumen erkennen konnte.

Aufgeworfener und zerklüfteter Untergrund, hügelig und bergig. Überall dazwischen erkannte ich Reste von Ruinen. Manchmal nur eine vergessene Mauer, die kaum noch als das zu erkennen war. Dann wieder stand dort ein halbes Gebäude, durch das die Bäume hindurchgewachsen waren und es damit zu einem Teil des Waldes gemacht hatten.

Die zerklüfteten Überreste eines alten Hochhauses, ragten über die Spitzen der Bäume hinaus. Abgefallene Trümmerteile und Bruchstücke, lagen überall verstreut. Aber das war nicht das einzige Gebäude, das zwischen den Bäumen auftauchte. Überall ragten alte Ruinen in den Himmel, oder versteckten sich zwischen den Bäumen. An manchen Stellen, konnte man die alten Bauten noch ganz gut erkennen, an anderen waren sie völlig von der Natur überdeckt.

Ich entdeckte ein altes Schild, dass mit einem Baum verwachsen war, genau wie Reste von Zäunen und auch den Reifen eines Fahrrads. Und das da ganz hinten in dem Schatten, war ein Teil von einem Auto.

„Eine Kleinstadt“, sagte Akiim.

Fragend schaute ich ihn an. Es war immer noch seltsam ihn vor Augen zu haben, als wäre ein Toter ins Leben zurückgekehrt. Es erschütterte mein Weltbild, da Tote niemals zurückkehrten. Sie waren verloren, für immer. „Wie bitte?“

„Das alles hier war früher mal eine Kleinstadt gewesen.“ Er machte eine Bewegung mit dem Arm, die den ganzen Wald um uns herum miteinschloss. „Noch vor der Wende. Nach den Kriegen und dem Aussterben, ist der Wald einfach darüber gewachsen.“

Das erklärte zumindest, den unebenen Waldboden. Oder den eher bergigen Waldboden. Und die eingewachsenen Ruinen.

„Es gibt nur zwei Straßen, die zu unserem Stützpunkt führen. Wir halten sie gut in Schuss und überwachen sie vierundzwanzig Stunden am Tag.“

Er sprach von einem Stützpunkt, nicht von einem Zuhause. Und warum musste dieser Ort vierundzwanzig Stunden am Tag bewacht werden? Mussten sie sich vor etwas schützen? Oder wollten sie verhindern, dass ihnen jemand entkam?

Dieser Gedanke ließ mich frösteln, erinnerte er mich doch ein wenig zu sehr an Eden. Dort war man nicht nur eingesperrt, die strenge Überwachung hatte auch jeden meiner Schritte kontrolliert.

Killian folgte den Ausführungen meines Bruders sehr interessiert. Wie alles, was mit der Welt vor der Wende zu tun hatte, fesselte das seine Aufmerksamkeit. Hätte er Papier und Stift bei sich getragen, hätte er sich vermutlich Notizen gemacht. „Wie hieß diese Stadt früher?“

Mein Bruder musterte ihn kritisch und maß den Abstand zwischen ihm und mir mit den Augen. „Und wer bist du?“, wollte er von ihm wissen. Wobei er nach seinem Ton und dem Ausdruck in seinem Gesicht zufolge wohl eher wissen wollte, warum er so dicht neben mir lief.

„Oh, ähm … Killian, du kannst mich Killian nennen. Ich bin Arzt aus … ufff!“

Mein Ellenbogen traf ihn mitten im Magen und sorgte sehr effektiv dafür, dass er nicht weitersprach. Manchmal war dieser Mann wirklich kaum zu fassen. Er wusste doch, wie die Leute reagierten, wenn er erzählte, woher er kam.

„Nenn mich einfach Killian“, krächzte er. Mit der Hand rieb er sich über den Bauch und warf mir einen finsteren Blick zu, den ich genauso finster erwiderte.

Hinter uns lachte Sawyer hämisch.

Akiim aber hatte zugehört und wollte auch noch den Rest wissen. „Du bist Arzt aus?“

Killian antworte nicht, er drückte die Lippen zusammen und schaute zu mir.

Ja toll, er redete sich um Kopf und Kragen und ich sollte das wieder für ihn in Ordnung bringen.

Als könnte er meinen Gedanken folgen, zuckte er nur mit den Schultern.

„Du bist Arzt“, sagte Akiim nachdenklich. Sein Blick glitt zum Karren. „Ihr habt Medikamente aus Eden dabei. Du bist ein Arzt aus Eden.“ Neues Interesse flammte in Akiims Augen auf.

Na super, er war nicht auf den Kopf gefallen. Ich schob Killian sofort hinter mich und legte gleichzeitig meine Hand auf mein Messer, ohne auch nur einmal aus dem Schritt zu kommen.

Mein drohender Blick schien Akiim nur zu amüsieren. „Willst du etwa deine Bereitschaft demonstrieren, ihn zu schützen?“

„Wäre nicht das erste Mal“, murmelte Sawyer hinter uns. „Und vermutlich auch nicht das letzte.“

Ich verengte die Augen ganz leicht. „Stell mich besser nicht auf die Probe.“

Weder Akiim, noch seine Leute wirkten beunruhigt, was mich schon ein wenig kränkte. Keiner von ihnen schien mich als ernsthafte Gefahr einzustufen.

„Auch bei uns gibt es jemanden, der ursprünglich aus Eden stammt“, versuchte Akiim mich zu besänftigen. „Deinem Arzt wird nichts passieren, nicht solange er uns keinen Grund dazu gibt.“

Ob ich ihm glauben konnte, wusste ich nicht, trotzdem murmelte ich: „Dann haben wir das ja geklärt.“

„Außerdem wissen wir schon längst über eure Verbindung nach Eden.“

Ich war nicht die Einzige, die sich plötzlich deutlich anspannte und wachsamer wurde. Wolf schien noch ein paar Zentimeter zu wachsen, während Killians Hand zuckte, als wollte sie nach seinem Messer greifen.

Sawyer schob Salia auf seine andere Seite, weg von den Fremden und fasste die Männer und Frauen wachsam ins Auge.

Schön das ich hier nicht als Einzige ein wenig paranoid war. „Was meinst du mit, ihr wisst von unserer Verbindung nach Eden?“

„Na das was Skade erzählt hat.“ Er schaute kurz zu dem Mädchen, dass ein Stück hinter ihm lief. „Du hast meinen Leuten Waffen und Keychips auf dem Markt verkauft. Und eine Uniform. Jetzt hast du auch noch einen Arzt und Medikamente aus Eden dabei.“ Er begann wieder mich zu mustern. „Es muss also eine Verbindung zwischen dir und Eden geben, nur worin die besteht, ist mir noch nicht ganz klar.“

Ach das hatte er gemeint. Ich atmete erleichtert auf. Für einen Moment hatte ich wirklich geglaubt, er sprach von dem Adam und Eva Mist und davon, dass uns die Tracker vermutlich immer noch auf der Spur waren, um uns zurück in die Stadt zu bringen. „Wenn wir mal einen ruhigen Moment haben, erzähle ich es dir vielleicht.“

„Ich werde dich daran erinnern.“ Im Moment allerdings schien er dieses Thema nicht sonderlich interessant zu finden. Das folgerte ich zumindest aus dem Blick, mit dem er Killian beobachtete. Als wäre er ein bemerkenswertes Haustier. „Du bist also Arzt.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

Killian antwortete nicht sofort. Er warf erst mir einen Blick zu und wartete, bis ich nickte, bevor er den Mund öffnete.

„Ja.“

„Und was für ein Arzt?“

„Ich Arbeite in der Tokologie.“ Da Akiim damit offensichtlich nichts anfangen konnte, fügte er noch hinzu: „Ich bin für Vorbereitung, Durchführung, Überwachung und Nachbehandlung von Fruchtbarkeit bei Schwangerschaften und Geburten verantwortlich.“

„Was?“

„Er ist eine spezielle Art von Frauenarzt“, warf ich ein und behielt Skade aus dem Augenwinkel im Blick. Sie musterte Sawyer schon die ganze Zeit so seltsam. Aber ich wusste nicht, ob es mit ihm, oder mit Salia zu tun hatte. Auf jeden Fall gefiel es mir nicht.

Im Moment gefiel mir eigentlich nur sehr wenig an dieser Situation. Musste an den verfluchten Armbrüsten liegen, die immer noch auf meine Männer gerichtet waren.

In Akiims Augen glomm ehrliches Interesse auf. „Ein Spezialist? Für Frauen?“

„Naja, eher für Schwangerschaften und alles was dazu gehört.“

„Ja, er ist Frauenarzt“, kürzte ich die Sache ab und handelte mir damit einen etwas pikierten Blick von Killian ein.

„Stark vereinfacht ausgedrückt, ja.“

„Du kennst dich also auch mit normalen Krankheiten bei Frauen aus?“, wollte Akiim wissen.

„Nicht so gut wie in meinem Gebiet, aber ich erkenne einen Schnupfen, wenn ich ihn vor mir habe und kann ihn auch behandeln. Natürlich brauch ich dazu …“

„Wenn du das noch einmal machst“, drohte Sawyer plötzlich und funkelte den Typen hinter sich böse an, „dann reiß ich dir deine Scheißarmbrust aus der Hand und schlag dich damit nieder.“

Der Kerl hinter ihm grinste blöde. Das auf einmal die Aufmerksamkeit der ganzen Gruppe auf ihm lag, spornte ihn zu seiner nächsten Handlung wahrscheinlich auch noch an, denn er drückte Sawyer die Spitze seiner Armbrust in den Rücken. „Und was willst du jetzt tun?“

Genau das was er eben versprochen hatte. Er wirbelte herum, riss dem überraschten Kerl dabei die Waffe aus der Hand und knallte sie ihm so heftig gegen den Schädel, dass dieser einfach die Augen verdrehte und bewusstlos in sich zusammensackte.

Im nächsten Augenblick waren wieder ein Dutzend Waffen auf ihn gerichtet.

Wolf schnappte sich geistesgegenwärtig Salia und schob sie hinter sich.

„Was ist, wollt ihr mich umbringen? Vor den Augen meiner Tochter?“ Sawyer schnaubte nur und warf die erbeutete Armbrust auf den Boden. „Ich hatte ihn gewarnt.“

Und ich hätte ihm gerne ein paar geknallt. „Könntest du mit dem Mist bitte aufhören?“ Die Situation war so schon angespannt genug, da musste er nicht auch noch einen draufsetzen.

„Ich?“ Er war buff. „Du hast schon mitbekommen, was hier gerade passiert ist?“

Ja, aber vor allen Dingen hatte ich mitbekommen, dass wir von Waffen bedroht wurden. „Bitte“, sagte ich deswegen nur und hoffte, dass die Botschaft bei ihm angekommen war.

Er knurrte nur etwas, verschränkte dann die Arme vor der Brust und starrte in den Wald.

Ich schaute zu Akiim. „Er wird es nicht wieder tun. Und jetzt sorg dafür, dass deine Leute sich auch ein bisschen zusammenreißen.“

Das gefiel meinem Bruder offensichtlich nicht. Sowohl, dass ich ihm Vorhaltungen machte, als auch, dass einer seiner Männer bewusstlos am Boden lag. Sawyer musste ausgesprochen gut getroffen haben. „Legt Bence auf den Karren.“ Sein Blick ging zu dem Übeltäter. „Und machst du das noch einmal, werden meine Leute dich einfach erschießen.“

„Deine Schwester wird begeistert sein, wenn du einfach einen ihrer Leute umbringen lässt.“

Akiims Augen wurden eine Spur schmaler, aber er ging nicht darauf ein. Er beobachtete still, wie man den bewusstlosen Bence auf meinen Karren ablegte und gab dann das Zeichen zur Weiterfahrt. Sawyer war jedoch bei ihm unten durch.

Na das fing ja schon mal gut an. „Würden deine Leute endlich die Waffen senken, wäre das nicht passiert.“ Nein, ich konnte mir diesen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen.

Darauf ging er natürlich nicht ein. Stattdessen begann er mich schon wieder zu mustern, als sei ich ein Geheimnis, dass er dringend lüften musste. Also langsam kam ich mir schon ein wenig, wie unter einer Lupe vor. Was glaubte er denn zu entdecken, wenn er mich nur lange genug anstarrte?

Wahrscheinlich war ich jetzt ungerecht. Es musste für ihn genauso seltsam sein mich zu sehen, wie umgekehrt. Es war viel merkwürdiger, dass ich ihn nicht die ganze Zeit anstarrte.

„Ich würde gerne wissen …“ Er verstummte, zögerte.

Ich wartete.

„Was ist mit Nikita?“

Das war mal genau die falsche Frage gewesen. Ruckartig drehte ich den Kopf nach vorne. „Sie ist nicht hier.“

Er wartete darauf, dass noch mehr kam. Als das nicht passierte, fragte er: „Lebt sie?“

Vor uns rückte das Ende der Straße langsam näher.

„Ja.“ In Saus und Braus. „Es geht ihr gut.“

Meinem Ton entnahm er wohl, dass dies kein guter Zeitpunkt war, um nach Details zu fragen. Ich verstand natürlich warum er das wissen wollte, aber ich war nicht bereit, über diese kleine Verräterin zu sprechen. Allein ihren Namen zu denken, ließ die alten Qualen wieder aufleben.

Killian berührte mich vorsichtig an der Hand, seine stille Teilnahme.

Unter den Bäumen, am Rand der Straße, bemerkte ich eine Bewegung. Instinktiv griff ich sofort nach dem Messer in meinem Gürtel.

„Ganz ruhig, Biene, das sind nur die Wachposten.“

Ein Schatten löste sich von den anderen und trat hinaus auf die Straße. Es war ein Mann, der meinem Bruder kurz zunickte und dann wieder in seiner Deckung verschwand. Er trug ähnliche Kleidung wie Akiim, genau wie diesen Kopfschmuck mit den Drähten und Metallplättchen und den Dreadlocks, die hier scheinbar sowas wie ein modisches Statement, oder auch ein Mitgliedsausweis waren. Bevor er wieder mit den Schatten verschmolz, bemerkte ich aber noch die Waffe an seiner Hüfte. Sie sah ganz ähnlich aus, wie die, die ich aus Eden kannte. Auch die Armbrust auf seinem Rücken, entging mir nicht.

„Ziemlich schwer bewaffnet.“

„Wir schützen, was uns gehört.“

Ja, das war mir bereits bei seinem kleinen Apfelaufstand klargeworden. „Man kann wohl niemals vorsichtig genug sein.“

Als wir den Wachposten passierten, spähte ich zwischen die Bäume, konnte den Mann aber nicht mehr entdecken. In dem Moment wurde mir eines deutlich vor Augen geführt: Diese Leute wussten was sie taten und ich war mir nicht sicher, wie ich das fand.

Je näher das Ende der Straße kam, desto deutlicher sah ich, worauf wir uns zubewegten. Es war ein großer, offener Platz. Von hier aus erkannte ich die Ecke eines Holzbaus. Ein Haus? Ein Schuppen? Nein, dafür war es zu groß. Und davor stand ein großer vierrädriger Holzkarren, der mit Strohballen gefüllt war. Also wohl eher ein Stall, oder eine Scheune.

„Wir stellen euren Karren ab und dann bringe ich euch zu unserem Anführer.“

Damit hatte er mich überrascht. „Du hast hier gar nicht das Sagen?“ So wie er die Leute herumkommandierte, war ich irgendwie davon ausgegangen.

„Nein. Der Mann, der hier das Sagen hat, ist der Mann, der mich damals gerettet hat. Nur wegen ihm bin ich heute da wo ich bin.“

Hatte er ihn vor den Trackern gerettet, nachdem ich mit Nikita davongelaufen war? Oder hatte er ihn auf die gleiche Weise gerettet, wie Marshall mich und Nikita vor so vielen Jahren? Ich fragte nicht, weil hier meiner Meinung nach viel zu viele neugierige Augen und Ohren waren. Das war privat und ging die Leute eindeutig nichts an. Außerdem erreichten wir gerade das Ende der Straße.

Die Bäume wichen links und recht zurück und wir traten mit unserer ganzen Entourage auf einen großen, von Pfützen übersäten Platz. Er war Oval und bestand aus festgetretener Erde.

Wie bereits vermutet, war das Holzgebäude ein Stall. Es war groß und länglich und die Tore standen offen, was mir einen Blick ins Innerste gewährte. Ich sah eine Kuh und … „Ihr habt Pferde“, sagte ich überrascht. Dabei hatte man mir erst vor kurzem gesagt, Pferde gäbe es nur noch in Eden.

Auch Killian war überrascht.

„Ja, ein Paar. Skade, geh und hol mir Happy her.“

Sie nickte und eilte voraus in den Stall.

Mein Bruder, ein Mann, der über Höflichkeiten wie Bitte und Danke erhaben war.

Neben dem Stall standen mehrere Kutschen und Karren, die alle neuer und besser waren, als meine – wenn auch nicht so gut gepflegt. Sie hatten Metallrahmen und Dächer aus Kunststoff und Planen. Und daneben, in Reih und Glied, standen mindestens ein Dutzend Fahrzeuge. Große und Kleine.

Sie hatten hier wirklich Autos. Ich war verblüfft.

Sie waren weder so chic, noch so neu wie die aus Eden, aber sie waren eindeutig funktionstüchtig. Und sie hätten dringend mal eine Wäsche verdient, um den ganzen Schlamm loszuwerden. Der eine schien auf der Motorhaube sogar ein Muster zu haben, aber durch den ganzen Dreck war es nicht zu erkennen. Ein Kreis, mit irgendeinem Zeichen darin.

Wo bei Gaias dunkelsten Geheimnissen war ich hier gelandet? Und warum überkam mich bei dem Anblick der Autos so ein ungutes Gefühl? Die ganze Sache war mir nicht geheuer.

Auf der anderen Seite des Platzes, von allen Seiten von Bäumen eingeschlossen, stand das wohl größte, intakte Gebäude, dass ich jemals in der freien Welt gesehen hatte. Eindeutig ein Vorwendebau. Es war hoch, fast so hoch wie die Wipfel der Bäume und mindestens so groß wie das Freizeitcenter in Eden. Die Fassade war alt, vergraut und regenfleckig. Dort wo früher einmal lange Fenster über die ganze Front gewesen sein mussten, hatte man die Hohlräume zugemauert und nur ein paar kleine Fenster eingesetzt.

Viel mehr gab es von außen nicht zu sehen.

Die Bäume waren ein richtig guter Sichtschutz. Man ahnte nicht, was sich hier verbarg, bis man direkt davorstand. Das einzig verräterische an diesem Ort, war die gut erhaltene Zufahrtsstraße. Die schrie geradezu, dass sich jemand um sie kümmerte und sie instand hielt.

Akiim blieb vor dem Stall stehen, also brachte ich auch Trotzkopf zum Anhalten. Wobei er einfach versuchte weiterzugehen und als das nicht funktionierte, röhrte er mich frustriert an und versuchte mich zu schubsen.

„Lass das“, sagte ich und schubste ihn zurück.

In dem Moment kam Skade mit einer stämmigen Frau in den Fünfzigern aus dem Stall. Für eine Frau, hatte sie sehr breite Schultern, dafür aber ein ziemlich feminines Gesicht. Sie musterte uns beim Näherkommen, genauso wie wir sie, blieb mit dem Blick kurz an Trotzkopf hängen und hielt dann vor Akiim an.

„Besuch?“, fragte sie interessiert, aber auch ein kleinen wenig misstrauisch.

„Nicht ganz. Biene, das ist Happy. Sie wird sich um dein Tier und um deine Sachen kümmern, während wir hineingehen.“

Ich sollte einer Fremden Trotzkopf und unser ganzes Hab und Gut überlassen? Er war wohl vor kurzem gegen einen Baum gelaufen und hatte sich da den Kopf mächtig angeschlagen. „Nein.“

Mein Wiederspruch schien ihn zu irritieren. „Was meinst du mit nein?“

„Damit meine ich, dass ich nicht all meine Sachen irgendeiner Fremden geben werde, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe.“

„Du kannst den Karren aber auch nicht mit ins Center nehmen, der passt nicht durch die Tür.“

Oh, wie ich es hasste, wenn mir jemand mit Logik kam, besonders, wenn er auch noch recht hatte. „Dann bleibt Wolf hier und passt auf.“ Er war der einzige von meinen Leuten, dem ich es zutraute, auf fremden Terrain, auf sich selber aufzupassen.

Akiim schaute zu dem Riesen, der aus einem mir unerfindlichen Grund versuchte, grimmig zu gucken – musste wohl wieder so ein Männerding sein. Es war so lächerlich, dass es schon beinahe wieder putzig war, weil er ja auch noch Salia an der Hand hielt. Manchmal war Wolf einfach nur albern.

„Keiner deiner Leute bleibt hier, sie sind mir ein wenig zu gewaltbereit.“

Wir schauten beide zum Karren, wo zwei seiner Männer gerade den bewusstlosen Kerl von der Ladefläche holten und ihn Richtung Center trugen. Sawyer stand unbeteiligt daneben, sich keiner Schuld bewusst.

Damit stand es zwei zu null für ihn. Ich machte mich hier gerade nicht sehr gut.

„Dein Tier und deine Sachen sind hier sicher“, redete er auf mich ein.

„Dromedar.“

„Was?“

„Trotzkopf ist ein Dromedar und wenn ihm etwas nicht passt, dann beißt und spuckt er. Was würdest du machen, wenn er das tut?“, fragte ich Happy direkt.

Sie zuckte mit den Schultern. „Wenn er Pech hat, dann spucke ich zurück.“

Da würde Trotzkopf vermutlich ziemlich blöd aus der Wäsche gucken.

„Biene“, sagte Akiim. „Vertrau mir.“

Er hatte keine Ahnung, was er da von mir verlangte. Natürlich, er war mein Bruder und er gehörte zur Familie, also sollte ich ihm vertrauen können. Aber das hatte ich bei Nikita auch geglaubt. Nur, wenn ich ihm nicht vertraute, was blieben mir dann für Alternativen? Wenn ich mich nicht überwand, konnte ich eigentlich nur gehen. Gehen wollte ich nicht und das nicht nur, weil er meine Leute hierbehalten wollte, bis sie ihre Schuld beglichen hatten – worüber ich auf jeden Fall noch mal mit ihm sprechen würde.

Ohne Sawyer und die anderen würde ich nicht gehen. Und ich wollte auch nicht gehen, ohne die Möglichkeit zu haben, meinen Bruder kennenzulernen. Ob ich ihm nun vertraute, oder nicht, mir blieb eigentlich keine große Wahl. Und sollte das hier schiefgehen, konnte ich Akiim immer noch eine Schlange ins Bett stecken.

„Na gut“, sagte ich und übergab Trotzkopfs Führleine an Happy. Meine Nächsten Worte gingen an Akiim. „Lass mich das nicht bereuen.“

„Das wirst du nicht“, sagte er und nickte Happy zu.

„Keine Sorge“, sagte sie. „Bei mir ist dein pelziger Freund gut aufgehoben.“

Das würde sich noch zeigen.

„Du“, sagte Akiim und zeigte auf Killian. „Nimm deine Arzttasche mit hinein.“

„Es tut nicht weh, bitte zu sagen“, erklärte ich meinem Bruder, während Killian der Aufforderung nachkam und seine Tasche vom Karren holte.

Akiim tat so, als hätte ich nichts gesagt.

„Na los, dann komm mal mit, mein großer Junge“, forderte Happy Trotzkopf auf, als sie ihn in den Stall bringen wollte.

Natürlich blieb Trotzkopf genau dort wo er war, ohne sich zu rühren. Stattdessen sah er mich an, als wollte er fragen, wie ich ihm das nur antun konnte. Ich musste ein wenig nachhelfen, damit er sich endlich in Bewegung setzte und als er dann mit Happy und dem Karren im Stall verschwand, fiel mir noch etwas ein. „Pass gut auf ihn auf, er haut gerne ab.“ Hoffentlich hatte sie das noch gehört.

„Komm jetzt“, forderte Akiim mich auf. Meine Begleiter nahm er gar nicht zur Kenntnis, scheinbar waren die für ihn nichts weiter als unbedeutende Anhängsel. „Es wird Zeit, dass du unseren Anführer kennenlernst.“

Ich wechselte einen Blick mit den anderen. Sawyer wirkte sehr wachsam, genau wie Wolf. Nur Killian war eher neugierig. Und Salia schien überhaupt nicht zu verstehen, was um sie herum vor sich ging. Sie hielt sich so dicht an Wolf, als wollte sie in ihn hineinkriechen.

„Ich bin gespannt“, sagte ich und schloss mich meinem Bruder an.

Skade gesellte sich an seine andere Seite, während seine Leute uns wie ein Wachkommando umschlossen. „Soll ich vorlaufen und meinem Vater Bescheid geben?“

Akiim schüttelte den Kopf. „Nein, ich möchte es ihm selber sagen.“

Ihrem Vater? Hieß das, sie war die Tochter des Anführers? Trotzdem schien Akiim hier mehr zu sagen zu haben. Lag wohl daran, dass er fast zehn Jahre älter war.

Unsere kleine Gruppe hielt direkt auf das alte Gebäude zu. Es gab ein kleines Vordach aus Holz, dass die zweistufige Freitreppe aus Stein überspannte. Beides gehörte nicht zum Originalgebäude, sondern war später erst hinzugefügt, oder erneuert worden.

Ursprünglich hatte es hier wohl auch vier nebeneinanderliegende Türen gegeben, die ins Innerste führten – warum gleich vier Türen? – aber die waren bis auf eine einfache Holztür zugemauert worden.

Akiim zog sie auf und hielt sie für uns offen, damit wir hineingehen konnten.

Skade warf mir einen undefinierbaren Blick zu und überschritt die Schwelle als erstes. Irgendwie hatte ich das Gefühl, sie konnte mich nicht leiden. Da ich aber den Grund dafür nicht kannte und im Augenblick sowieso nichts dagegen tun konnte, folgte ich ihr einfach.

Hinter der Tür erwartete mich eine große Halle voller Menschen. Die Halle war quadratisch und über zwei Stockwerke hoch. Rundherum waren immer wieder Türen in die Wände eingelassen. Überall sah man, wo die Löcher in den Wänden mit Ziegelsteinen zugemauert worden waren.

Die zweite Etage war über eine offene Galerie zu erreichen, die durch Stützbalken und Säulen oben gehalten wurde. Teilweise schien diese Galerie vom Originalgebäude zu stammen, aber rechts standen Gerüste, wo fehlende Teile gerade von Arbeitern erneuert wurden. Ganz rechts in der Ecke, fehlte sie sogar komplett. Dort waren die oberen Türen durch lange Leitern zu erreichen.

Gerade hängte dort eine Frau einen Korb an ein Seil, dass oben an einer Winde befestigt war. Sie kletterte die Leiter hinauf, stieg oben durch die Tür und zog ihren Korb über die Winde nach oben. Als sie ihn vom Haken nahm, bemerkte sie mich und meine Begleiter und verharrte mitten in der Bewegung. Damit war sie nicht die einzige.

Überall in der Halle kam die Arbeit zum Stillstand und die Augen der Menschen richteten sich auf uns. Die Arbeiter auf den Gerüsten, die Frau, die gerade auf der Galerie an der Metallbrüstung entlanglief, die Leute, die bis eben noch schwatzend ihr Mahl an den vielen Tischen in der Hallenmitte zu sich genommen hatten. Sie alle starrten uns an.

Ich kam mir vor, wie bei meinem ersten Tag im Herzen von Eden. Dort war es genauso gewesen. Die Fremde, die in ihre Gemeinschaft eindrang. Nur waren mir dort neugierige und freundliche Blicke entgegengeschlagen. Hier herrschte auch Neugierde, aber vor allem Misstrauen und Wachsamkeit. Und es waren auch weitaus weniger Menschen, obwohl es nach meinem Geschmack immer noch zu viele waren. Allein hier in der Halle, waren bestimmt dreißig Leute. Dann kamen noch die dazu, die uns begleitet hatten und wer wusste schon, wie viele sich noch hinter den vielen Türen verbargen?

Sobald wir drinnen waren, gesellte Akiim sich wieder an meine Seite. „Vor der Wende war das hier ein kleines Einkaufszentrum gewesen“, erklärte er mir, als er bemerkte, dass ich mir alles sehr genau ansah. „Heute ist es eines der wenigen Gebäude in dieser Stadt, das nicht vom Wald verschlungen wurde. Und das Einzige, das gut genug erhalten ist und auch ausreichend Platz bietet, um es für unsere Zwecke geeignet zu sein.“

Ein Einkaufszentrum also. Leider hatte ich nur eine vage Vorstellung davon, was genau ein Einkaufszentrum war. Ich stellte es mir als einen überdachten Markt vor, oder einer Einkaufsstraße, wie in Eden, nur eben mit einem Dach oben drüber. Und ohne Straßen und Autos.

Akiim gab mir ein Zeichen, dass ich ihn begleiten sollte, also setzte ich mich unter den Blicken Fremder in Bewegung. „Einer unserer Leute hat diesen Ort durch Zufall gefunden, das Beste was uns seit langer Zeit passiert war.“

Zu unserer Rechten fehlte eine der Türen in der Wand. Daneben war ein großes, offenes Fenster ohne Glas, durch das man in den Raum dahinter schauen konnte. Zwei Männer und eine Frau standen darin und bereiteten Essen in einer großen Küche vor.

Die Gerüche nach Fleisch und Gewürzen umwehten meine Nase und ließen mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. „Wie lange lebst du hier schon?“

„Seit ein paar Jahren. Es gab hier viel zu tun, um alles wieder instantzusetzen. Das Dach und auch ein Teil der Wände mussten erneuert werden, aber langsam nimmt es Form an.“

Ich warf einen Blick nach oben zum Dach. Sie hatten dort sogar Fenster eingelassen, richtige Glasfenster. Wie waren sie nur an all das Glas gekommen? Sowas hatte ich noch nie gesehen. Außer in Eden.

„Komm, hier geht es entlang.“ Akiim führte uns quer durch die Halle auf die andere Seite, wo ein großer, breiter Gang tiefer ins Gebäude hineinführte. Hier gab es weder eine Galerie, noch eine zweite Etage, nur Türen zu beiden Seiten, neben zugemauerten Wänden. Eine dieser Türen wurde gerade geöffnet. Ich konnte nicht genau erkennen, was sich dahinter befand, dafür waren wir zu schnell daran vorbei, aber es schien ein großer Raum zu sein.

Dieses Gebäude war weitaus größer, als es auf den ersten Blick erschien.

Immer wieder begegneten uns Menschen, die uns misstrauisch und wachsam hinterherschauten. Es waren nicht mal annähernd so viele, wie in Eden und auch auf dem Markt gab es bei weitem mehr, aber alles was die Zahl fünf überschritt, machte mich unruhig. „Wie viele Menschen leben hier?“

„Im Moment? Hundertsiebenunddreißig, aber Nummer hundertachtunddreißig ist schon unterwegs.“

Ich brauchte einen Moment, bis ich verstand. „Eine von euren Frauen ist schwanger.“

Er nickte. „Es wird ihr drittes Kind.“

Schon wieder eine Schwangere. In meinen ersten zweiundzwanzig Lebensjahren, hatte ich genau eine schwangere Frau gesehen und das war meine eigene Mutter gewesen. In den letzten Monaten dagegen, scheinen sie aus allen Ecken und Löchern gekrochen zu kommen. Na gut, so seltsam war das nun auch wieder nicht, wenn man bedachte, dass ich gerade frisch aus Eden kam, wo man Menschen züchtete.

Nach ungefähr hundert Fuß, gabelte der Gang sich zu einer T-Kreuzung. Akiim führte uns nach links, wo eine Gruppe schwatzender Frauen stand, die bei unserem Auftauchen sofort verstummten. Mein Bruder nickte ihnen kurz zu, schenkte ihnen aber ansonsten keine Beachtung und führte uns einfach an ihnen vorbei.

Ich konnte ihre Blicke im Rücken spüren. Sie bohrten sich geradezu dort hinein, als fragten sie sich, welches Recht diese Fremden hatten, sich hier aufzuhalten. Ich mochte das nicht.

„Wir sind gleich da“, versprach Akiim. Er wirkte selbstsicher und kein bisschen nervös. Vielleicht ein wenig aufgeregt, aber das war auch schon alles. Warum sollte es auch anders sein? Das hier war seine Domäne, sein Zuhause, wir waren hier die Eindringlinge.

Nach einem weiteren Stück, machte der Gang einen Knick nach rechts und brachte uns in einen weiteren unscheinbaren Gang. Das einzig wirklich Sehenswerte hier war wohl eine Tür mit Glasfenster, ungefähr in der Mitte, die ins Freie zu führen schien. Ein Seitenausgang. Durch das Fenster ließen sich nur Bäume erkennen.

Dieser Gang war ungefähr fünfzig Fuß lang, bevor er ein weiteres Mal eine Rechtskurve machte und mit einem Mal wurde der baufällige Gang mit den schäbigen Betonwänden und geflickten Ziegelsteinen, zu einer anderen Welt. Unwillkürlich hielt ich an und ließ meine Augen langsam über die Wände wandern.

Es begann nicht direkt nach der Kurve, nein, erst ein Stück dahinter, da wurden die Wände langsam farbig. Nicht von jetzt nach gleich, sondern langsam, als wäre es ein Prozess. Erst waren es nur ein paar bunte Punkte und kleine Farbkleckse, dann wurden es mehr. Wie Schleier, die langsam an Kraft und an Farbe gewannen, bis sie begannen Formen zu bilden.

Langsam setzte ich mich wieder in Bewegung und starrte diese Farbenpracht an, die nicht nur an den Wänden, sondern auch über die Decke verlief.

Die Formen wurden zu Bildern, oder besser gesagt, einem immer fortlaufenden Bild. Es begann mit einer Wiese. Ein Stück weiter erschien darauf ein Baum. Im Hintergrund waren ferne Berge zu sehen. Der Himmel veränderte sich, wurde von sonnig zu düster. Ein ganzer Wald tauchte auf, nur um dann von einem klaren See unterbrochen zu werden. Es war unglaublich, detailliert und wahrhaft wunderschön.

„Guck mal, Papa“, flüsterte Salia ehrfürchtig und zeigte auf eines der Highlights, dieses Gemäldes. Es waren Skulpturen und Reliefs von Menschen und Tieren, die aus der Wand herauszusteigen schienen. Sie wirkten so lebensecht, dass es schon unheimlich war.

Auf halber Höhe des Ganges, badete eine Frau nackt in dem See und streckte den vorbeilaufenden Menschen die Hand entgegen.

„Die Tochter des Chefs macht das“, sagte Akiim.

Ich schaute zu Skade.

„Nicht die, eine von den anderen. Die hier kann nicht mal einen geraden Strich malen.“

Skade spießte ihn mit einem Blick auf und ging dann vor zu einer Tür, die direkt hinter dem See in der Wand war.

„Der Chef hat mehrere Töchter“, reimte ich mir zusammen.

„Drei“, bestätigte Akiim und griff gerade noch rechtzeitig nach der Tür, bevor sie wieder ins Schloss fiel. „Skade ist die jüngste. Und unhöflichste.“ Den letzten Teil rief er in dem Raum, in dem besagte Tochter gerade verschwunden war.

„Das liegt am Alter“, murmelte ich und trat an Akiim vorbei über die Schwelle in den Raum dahinter.

Das Erste was mir auffiel, war die Größe. Das reichte locker an die Suite heran, die ich in Eden bewohnt hatte. An der Seite gab es eine Treppe, die auf die nächste Etage führte. Der Raum selber war in zwei Areale aufgeteilt.

Im hinteren Teil schien der Wohnbereich zu sein. Komplett mit Küchenecke, Ofen, Tischen und Stühlen. Es gab auch eine gemütliche Sitzgarnitur mit dicken Polstern und großen Teppichen auf den Boden. An den Wänden hingen alte Gemälde und neuere Bilder. Mehrere Portraits, die einen ähnlichen Stil hatten, wie das große Wandgemälde auf dem Gang draußen.

Im Vorderen Bereich, abgetrennt durch offene Regale, die als Raumtrenner fungierten, gab es ein paar Schränke. An den Wänden hingen Karten und Papiere, die ich nicht lesen konnte. Direkt in der Mitte stand ein riesiger Tisch, an dem mehr als ein Dutzend Leute Platz fanden. Auch dort war alles voll mit Karten, Papieren und Notizbüchern. Ich entdeckte auch mehrere Geräte, die den Screens aus Eden ähnelten. Eindeutig elektronisch. Das bedeutete, die Menschen hier hatten Strom.

An der vorderen Ecke des Tisches, befanden sich abgesehen von Skade, vier Menschen.

Eine Frau, mit blondem Haar und Farbspritzern im Gesicht, saß im Schneidersitz mitten auf dem Tisch und starrte verträumt vor sich hin. Sie musste in meinem Alter sein.

Die beiden anderen Frauen waren mir bereits bekannt. Die eine war die blonde Sam, mit dem bohnenförmigen Muttermal am Kinn. Sie saß auf einem der Stühle und erklärte gerade etwas.

Die andere Frau war die überirdische Schönheit, mit dem hellblonden Haar und den veilchenfarbenen Augen, die mit Sam zusammen auf dem Markt gewesen war und für die Wolf sich so interessiert hatte. Auch jetzt richtete er sich sofort ein wenig gerader auf, als er sie sah.

Alle drei trugen diesen Kopfschmuck und die Dreadlocks.

Der Hahn im Korb war ein älterer Mann Anfang fünfzig, mit einem kahlrasierten Schädel. Er hatte breite Schultern, kräftige Arme und einen geflochtenen Backenbart. Die braunen Augen waren intelligent und wachsam und richteten sich sofort auf uns, als ich mit den anderen in den Raum trat und wir uns direkt hinter der Tür sammelten.

„Ihr könnt dann gehen“, sagte Akiim zu unseren Aufpassern und drängte sich zwischen Wolf und Killian hindurch, legte mir dann eine Hand auf den Rücken und schob mich etwas in den Vordergrund, was mir nicht sonderlich gefiel. Ich mochte es nicht im Mittelpunkt zu stehen.

Der ältere Mann drehte sich mit seinem Stuhl zu uns herum und musterte mich interessiert. Er saß in einem Rollstuhl. Seine Beine wirkten schmächtig und verkrüppelt. Er war gelähmt.

War das der große Anführer?

Auch die Frauen musterten mich. Sam wirkte überrascht, die Blondine auf dem Tisch dagegen nur neugierig. Nur die Schönheitskönigin ließ sich nicht anmerken, was in ihr vorging. Wobei sie mich gar nicht beachtete, ihr Blick war auf Wolf gerichtet.

„Wen hast du mir da mitgebracht, Akiim?“, fragte der ältere Mann. Seine Stimme klang weich und melodisch.

„Das wirst du mir niemals glauben“, sagte er und warf mir einen kurzen Blick zu. „Wir waren auf dem Apfelfeld, um ein paar Dieben eine Lektion zu erteilen.“

„Diebe?“ Der Mann lehnte sich zurück und verschränkte die muskulösen arme vor der Brust. „Du bringst Diebe zu uns?“

„Ja, aber nur wegen ihr.“ Wieder ein Blick zu mir. „Die Diebe sind ihre Begleiter.“

Wenn er mit diesem Blödsinn nicht aufhörte, würde ich ihm gleich ein paar klatschen.

Der Blick des Anführers richtete sich interessiert auf mich. „Und wer ist sie?“

„Seine Schwester“, kam es von Skade. Es klang schon ein wenig feindlich.

Die Frauen am Tisch, und der Mann, schauten erstaunt zu dem Mädchen und dann zu mir.

„Deine Schwester?“ Der Mann machte große Augen. „Aber ich dachte …“ Als sein Blick auf Sawyer fiel, klappte sein Mund zu. Kein Ton kam mehr über seine Lippen und sein Gesicht verlor deutlich an Farbe. Er starrte Sawyer an, als sehe er etwas Unbegreifliches.  

Leichte Verwirrung machte sich breit. Ein paar Blicke wurden ausgetauscht, doch niemand wagte es die Stille zu durchbrechen. Irgendwas lag plötzlich in der Luft.

Und dann begann Sawyer zu lächeln, ein Lächeln, wie ich es noch nie bei ihm gesehen hatte. „Tu mir einen gefallen, Salia“, sagte er zu seiner kleinen Tochter und ging neben ihr in die Hocke. „Geh und wünsche deinem Opa einen guten Tag.“

 

oOo

Kapitel 36

 

Die Worte hatten seinen Mund kaum verlassen, da hatte Akiim bereits seine geladene Armbrust auf Sawyers Kopf gerichtet und schien kurz davor einfach abzudrücken. „Was treibst du hier für ein Spiel?!“

Killian schreckte ein Stück zurück, während Wolf herumwirbelte, bereit meinem Bruder die Waffe aus der Hand zu schlagen. Doch da hatte ich bereits seinen Arm gepackt und zerrte ihn zur Seite. „Spinnst du? Lass das!“

„Nimm die Waffe runter!“, befahl der alte Mann.  

Akiim richtete seinen Blick unsicher auf ihn. Er zögerte.

„Sofort!“

Nur langsam kam er dem Befehl nach.

Ich dankte dem Universum und ließ ihn wieder los, schob mich aber vorsichtshalber vor Sawyer. Dabei versuchte ich herauszubekommen, was hier gerade geschah. Sawyer hatte den Mann Opa genannt, Salias Opa. Aber das würde ja bedeuten, das war Clarence, Sawyers Vater.

Ich riss den Kopf herum und starrte den Mann an.

Das war nicht möglich.

Nein, das war einfach nicht möglich.

Und doch standen wir nun alle hier.

Sobald die Waffe unten war, herrschte eine eigenartige Atmosphäre im Raum.

Die wunderschöne Blondine, hatte die Hände vor dem Mund geschlagen und ihre veilchenfarbenen Augen schwammen in Tränen.

Die blonde Frau mit den Farbklecksen im Gesicht, murmelte „Sawyer“, kletterte dann so eilig vom Tisch, dass sie die Hälfte der Papiere mit herunterriss und rannte zu Sawyer. Er schaffte es gerade noch sich aufzurichten, bevor sie ihre Arme um seinen Hals schlang und ihn ganz fest an sich drückte. Dabei war sie so stürmisch, dass sie ihn ins Stolpern brachte, aber Sawyer war stärker, als er aussah. Er fing sie auf und schlang seinerseits seine Arme um sie.

Das musste eine seiner Schwestern sein. Noor, oder Laarni? Das bedeutete … mein Blick ging zu der Schönheitskönigin. Das war bestimmt die andere Schwester. Ich hatte Sawyers Familie bereits auf dem Herbstmarkt gefunden, aber in der Aufregung hatte ich vergessen nach Ophir und seinem Clan zu fragen.

Sawyer hätte schon vor Wochen wieder mit seiner Familie vereint sein können, aber wegen mir und meiner Dummheit, war diese Chance ungenutzt verstrichen.

Ich zog mich ein Stück zurück, als mir das klar wurde. Wenigstens jetzt musste ich nicht im Weg stehen.

„Du bist es wirklich“, murmelte die Frau an Sawyers Hals, doch ihr Bruder richtete seine Augen auf den Mann im Rollstuhl. Sechzehn Jahre lag die letzte Begegnung der beiden zurück. „Hallo Papa.“

Der Rest von uns stand schweigend um sie herum und versuchte zu verstehen, was genau hier gerade geschah. Diese Szene war so surreal, dass sie nicht wahr sein konnte. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass ich erst meinen totgeglaubten Bruder fand und sich nicht mal eine Stunde später herausstellte, dass er mit Sawyers Familie unter einem Dach lebte? Der Familie, nach der wir die Suche aufgegeben hatten, weil wir nicht mehr daran geglaubt hatten, sie noch finden zu können. Und das alles nur, weil Salia einen Apfel hatte haben wollen.

Dieses Kind war nicht nur ein Glücksbringer, sie war ein Engel. Vielleicht liebte sie die Wolken ja deswegen so sehr. Nur ihretwegen waren wir aus Eden entkommen und auch ihr hatten wir diese Familienzusammenführung zu verdanken.

Auch jetzt war sie es, die nach einem prüfenden Blick auf ihren Vater, bewaffnet mit Wölkchen, zu Clarence ging und sich direkt vor ihn stellte. „Du bist mein Opa?“

Clarence schluckte sichtbar. Er warf einen schnellen Blick zu Sawyer, als könnte er immer noch nicht glauben, mit seinem Sohn im selben Raum zu sein und schenkte Salia ein zittriges Lächeln. „Ja. Ja, das bin ich.“

„Papa hat gesagt, du bist groß und stark.“ Sie musterte ihn kritisch. „So stark siehst du aber gar nicht aus, Wolf ist viel stärker.“

Die Frau in Sawyers Armen, stieß ein zittriges Lachen aus, das wie ein halbes Schluchzen klang und löste sich weit genug von Sawyer, um zu Clarence zu schauen. „Er ist ehr stur, als stark.“

Salia nickte, als wüsste sie genau, wovon die Frau sprach. „Und wo ist meine Oma? Papa sagt, sie sei die schönste Frau der Welt.“ Sie schaute zu Laarni. „Du bist schön, also bist du meine Oma?“

Mit einem Schlag veränderte sich die ganze Stimmung. Da wo eben noch die Wiedersehensfreude geglüht hatte, spiegelten die Gesichter nun Kummer und ich war mir sicher, dass Sawyer nicht gefallen würde, was sie ihm über seine Mutter zu sagen hatten.

In die Stille hinein, klopfte Sam mit den Fingerknöcheln auf den Tisch und erhob sich von ihrem Stuhl. „Los, alle raus, das hier ist eine Familienangelegenheit und geht uns nichts an.“

Akiim öffnete den Mund. „Ich finde nicht …“

„Ist mir egal was du findest. Raus mit dir, oder ich trete dir in deinen hartgesottenen Hintern.“ Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, nahm sie ihm beim Arm, drehte ihn herum und schob ihn Richtung Tür.

Mein Bruder setzte nur widerwillig einen Fuß vor den Anderen. Sein Blick war auf Sawyer gerichtet und geradezu feindlich. Nicht nur misstrauisch, sondern richtig ablehnend.

Killian folgte der Aufforderung ohne Widerspruch, Wolf jedoch musste seinen Blick erst von seiner Favoritin lösen. Selbst verweint mit Tränen in den veilchenfarbenen Augen, sah sie noch wunderschön aus.

Ich dagegen zögerte, nicht sicher, ob ich Sawyer in dieser Situation alleinlassen wollte, was einfach nur dumm war. Das hier war seine Familie, die Menschen, nach denen er sich die letzten sechzehn Jahre seines Lebens gesehnt hatte. Wer war ich schon dagegen? Kaum mehr als eine Eintagsfliege. Das Wiedersehen zwischen mir und Akiim war nicht halb so herzlich gewesen, wie zwischen diesen Menschen hier. Trotzdem fragte ich: „Du kommst klar?“

Seine Lippen verzogen sich zu einem seltsam unsicheren Lächeln, dass ich so noch nie an ihm gesehen hatte. Es ließ ihn glücklich erscheinen, machte ihn aber auch eine Spur verletzlich. „Du kennst mich doch.“

Da war ich mir nicht so sicher. „Sag Bescheid, wenn du uns brauchst.“ Das meinte ich ernst.

Sobald Sam Akiim aus dem Raum geschoben hatte und auch Killian und Wolf draußen waren, folgte ich ihnen mit einer unguten Ahnung hinaus. Es war albern, aber ich hatte das Gefühl, gerade wieder jemanden zu verlieren. Das war dumm. Sawyer hatte nie zu mir gehört. Niemand gehörte zu mir und ich tat besser daran, das nicht immer zu vergessen.

Als ich die Tür hinter mir schloss, bemerkte ich Skade, die stocksteif und mit versteinerter Mine neben ihrem Vater stand. Sie war Sawyers Schwester, eine Schwester, von der er bisher nichts gewusst hatte.

„Wie gut kennst du ihn?“

Erschrocken wirbelte ich herum. Akiim ragte direkt vor mir auf und schien bereit, irgendjemand den Kopf abzureißen. „Was?“

„Wie gut kennst du ihn?“ Er zeigte auf die geschlossene Tür.

Offensichtlich meinte er Sawyer. „Warum? Glaubst du etwa, er ist ein Betrüger?“ Warum sollte sich jemand freiwillig für Sawyer ausgeben? Das wäre ja nun wirklich unsinnig.

„Antworte mir.“

Hatte er mir gerade einen Befehl gegeben? Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Möchtest du das vielleicht noch einmal umformulieren?“

„Ich muss es wissen, wenn sich hier ein Spion einschleicht. Es ist meine Aufgabe, Clarence und die Mädchen zu schützen. Das bin ich ihnen schuldig. Also sag mir jetzt, wie gut du …“

„Entspann dich mal“, unterbrach Sam ihn. „Du hast sein Gesicht gesehen, wie viele Beweise brauchst du noch?“

„Narben kann man sich selber zufügen“, hielt Akiim dagegen. Es war, als wollte er, dass Sawyer ein falscher Sohn war, damit er sich ihm wieder entledigen konnte.

„Die Narben sind alt und nicht mal unsere Widersacher sind so Fanatisch, dass sie sich selber verstümmeln, für die vage Chance, sich bei uns einschleichen zu können.“

„Das kannst du nicht wissen.“

Sam schüttelte nur den Kopf und klopfte meinem Bruder dann auf die Schulter. Mit einem „Sei mal nicht ganz so paranoid“, ließ sie uns stehen und ging ihrer Wege.

Akiim schaute ihr hinterher. In seinem Kopf ratterte es. Er wirkte unzufrieden.

„Was ist los mit dir?“, wollte ich wissen. Ich war ja schon misstrauisch, aber er trieb das noch mal auf ganz andere Höhen.

„Gar nichts, nur …“ Ein kurzer Blick zu mir, dann schüttelte er den Kopf. „Egal, das ist jetzt nicht wichtig.“ Er drehte sich und richtete seine nächsten Worte direkt an Killian – was nicht nur ihn überraschte. „Komm mit mir, ich muss dir jemanden vorstellen.“

Da Killian scheinbar nicht glauben konnte, dass er gemeint war, schaute er sich einmal um, ob da jemand hinter ihm stand. Aber da war niemand.

„Ja, ich rede mit dir.“

„In Ordnung.“ Killian sah nicht so aus, als wäre das für ihn in Ordnung. Sein offensichtliches Misstrauen verriet ihn. „Und wen willst du mir vorstellen?“

„Deine nächste Patientin.“ Er machte einen bedrohlichen Schritt auf den Arzt zu und baute sich in beeindruckendem Maße vor ihm auf. „Und Gnade dir Gaia, wenn du ihr schadest.“

Killian schluckte so angestrengt, dass sein Kehlkopf hüpfte.

Meine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Könntest du mal damit aufhören, hier ständig den Platzhirsch zu spielen? Wenn du nicht nett zu ihm bist, dann wird er gar nichts für dich tun, verstanden?“

Als Akiim seinen Blick auf mich richtete, glaubte ich einen Moment, er wollte mich anmaulen, aber dann überlegte er es sich doch anders und sagte nur: „Komm, es geht hier entlang.“ Dann marschierte er den Gang hinunter. Nicht in die Richtung, aus der wir gekommen waren, sondern in die andere.

Einen Moment schaute ich ihm nur hinterher, bevor ich ihm folgte. Was war Akiim nur widerfahren, dass er zu so einem Mann herangewachsen war? Ich erkannte ihn nicht wieder. Früher war er nicht so gewesen. Aber es war wohl besser, wenn ich nicht vorschnell urteilte, denn mit den Jahren hatte auch ich mich verändert und das nicht nur vom Aussehen her.

Das eindrucksvolle Wandgemälde, begleitete uns noch ein Stück, bevor es endete. Nicht das es fertig war, die Künstlerin war nur einfach noch nicht weitergekommen. Direkt hinter einem unfertigen Wald, stand ein kleines Gerüst, mit dem man auch an die Decke kam. Eine große Plane war auf dem Boden ausgebreitet, wo alle möglichen Utensilien drauflagen. Pinsel und Farben, Lappen und Eimer, Spachtel und Rigips. Akiim lief daran vorbei, ohne darauf zu achten.

„Also ich finde ja, dein Bruder ist ein wenig gruselig“, flüsterte Killian mir zu. „Ein wenig so wie du.“

Dafür bekam er einen extra finsteren Blick. „Ich bin nicht gruselig.“

„Und ich habe sehr gute Ohren“, erklärte Akiim und warf einen warnenden Blick über seine Schulter.

„Siehst du? Gruselig.“

Ich wollte nicht, aber trotzdem zuckten meine Lippen. „Du bist albern.“ Und wahrscheinlich war es genau das, was er bezweckt hatte, denn er wirkte sehr zufrieden mit sich.

Wir gingen nicht sehr weit. Kurz bevor der Gang in einer weiteren Kurve endete, wandte Akiim sich einer der rechten Türen zu, die sich nicht von den anderen unterschied. Auch das musste früher einmal ein Laden gewesen sein. Dort wo einst das Schaufenster gewesen war, hatte man die Wand zugemauert und daneben eine einfache Holztür eingelassen.

„Hier wohne ich“, erklärte Akiim mir und öffnete die Tür. Wie bereits die Male zuvor, trat er zur Seite, um mir den Vortritt zu lassen. Allerdings folgte er mir direkt, sodass Killian und Wolf erst hinter ihm eintreten konnten.

Der Raum der uns erwartete, war quadratisch, praktisch und sonst nichts. An der hinteren Wand gab es zwei Fenster, durch die ein wenig Tageslicht hineinfiel. Die Aussicht dadurch war eher schlecht, denn es gab nichts als Bäume und den umliegenden Wald zu sehen. Sie standen so dicht am Gebäude, dass man nur einen schmalen Streifen vom Himmel erkennen konnte.

Der Raum selber war ein Mischmasch aus gezimmerten Möbeln, nicht zusammenpassenden Teppichen und uralten Gemälden. Zwischen den beiden Fenstern, stand ein alter Ofen. Links und rechts davon befanden halbhohe Regale, mit einer großen Waschschüssel obendrauf, die als Arbeitsfläche genutzt wurden. Davor stand ein Tisch mit vier nicht zueinanderpassenden Stühlen.

Links in der Ecke gab es zwei gepolsterte Sessel, die schon mehrere Male geflickt worden waren. Direkt neben der Tür stand eine alte Truhe und an der linken Wand ein großer Schrank.

Mittig an der rechten Wand, gab es zwei Türen. Die hintere davon war offen und das kränkliche Husten einer Frau war daraus zu hören. „Akiim?“ Die Stimme war heiser und kratzig.

„Ja, ich bin es.“ Er warf mir einen kurzen Blick zu und drängte sich dann eilig an mir vorbei. „Aber ich bin nicht allein“, fügte er noch hinzu und verschwand durch die offene Tür.

Ich wechselte einen Blick mit Killian und Wolf und folgte ihm, blieb aber an der Tür stehen, weil ich mir nicht sicher war, ob ich hineintreten durfte.

An der Wand, direkt neben der Tür, stand eine Kommode mit einer Laterne oben drauf. Der Raum war ziemlich klein und besaß nur ein kleines Fenster direkt über dem Bett. Dass Bett selber nahm die ganze Breite des Zimmers ein. Es war mit dicken Fellen und vielen Kissen gepolstert.

Darin, unter einem dünnen Laken, lag eine zierliche Frau mit glattem, kohlrabenschwarzem Haar. Sie war asiatischer Abstammung und musste in meinem Alter sein. Ihre Hände, mit den langen Fingern, lagen über dem Laken auf ihrem Bauch.

Ihre Haut war blass, sogar kränklich, die Wangen eingefallen und die dunkeln Schatten unter ihren Augen wirkten durch das wenige Licht noch dunkler.

Akiim hatte sich ans Fußende des Bettes gesetzt und eine Hand auf ihr Bein gelegt, während er ihr gerade in Kurzfassung berichtete, was geschehen war.

Sie lauschte seinen Worten, schaute dabei kurz in meine Richtung und riss die Augen auf, als er zu dem Teil mit dem überraschenden Verwandtschaftsbesuch kam. „Deine Schwester?!“, rief sie mit heiserer Stimme aus und ihr Bick huschte wieder zu mir.

Ich hob etwas unbehaglich die Hand. Diese Frau war ohne jeden Zweifel krank und sie erinnerte mich so stark an die letzten Tage meines Vaters, dass mir allein ihre Gegenwart unangenehm war.

„Ja, meine Schwester. Darf ich vorstellen? Das ist Kismet. Biene, das ist meine Frau Yi Min.“

Seine Frau? „Du bist verheiratet?“ Das hätte er ja ruhig mal erwähnen können.

„Aber wie?“, fragte Yi Min verwirrt.

„Das erzähle ich dir später“, sagte er, ohne irgendeinem von uns eine Antwort, oder eine Erklärung zu geben. „Ich habe noch mehr Neuigkeiten, aber die müssen erstmal warten. Jetzt musst du jemanden kennenlernen.“

„Noch jemanden? Wen denn?“

„Einen Arzt.“

Ihr Blick wurde mitleidig und ein gequältes Seufzen kam über ihre Lippen. „Akiim …“

„Nein, das hier ist ein richtiger Arzt, einer aus Eden, direkt für Frauen. Mit Medizin aus Eden. Er wird dir helfen können.“

Eine schmale Augenbraue hob sich. „Wo hast du den denn entführt?“

„Nicht entführt, Kismet hat ihn mitgebracht. Ich erkläre es dir …“

„Später.“ Sie nickte, wirkte aber nicht sehr zufrieden. „Na gut, dann stell mir diesen Arzt vor.“

„Hey du, Arzt, komm hier herein.“

Killians Blick verfinsterte sich. „Normalerweise höre ich nicht auf hey du“, sagte er, trat aber trotzdem an mir vorbei in den Raum. Am Fußende des Bettes blieb er stehen und begrüßte seine potentiale Patientin mit einem Lächeln. „Hallo, mein Name ist Doktor Vark, aber sie können mich auch Killian nennen.“

Sie hob schwach eine Hand. „Freut mich.“

„Sie ist krank“, sagte Akiim, als wäre uns allen das noch nicht klar. „Unser Heiler kann ihr nicht helfen, darum musst du sie wieder gesund machen.“

„Ich bin kein Wundertäter.“

Seine Stirn runzelte sich. „Was soll das heißen?“

„Das heißt, ich muss ihre Frau erstmal untersuchen, um festzustellen, was sie hat. Erst danach werde ich wissen, ob ich ihr helfen kann.“

Das war es nicht, was er hatte hören wollen. „Du hilfst ihr. Du bist mir etwas schuldig, du hast unser Essen geklaut.“

Fing er damit wieder an. Gleich würde ich ihm einen Apfel an den Kopf werfen, dann konnte er mal sehen, was er davon hatte.

„Ich werde tun, was in meiner Macht steht.“

„Das will ich für dich auch hoffen, sonst kannst du etwas erleben.“

Bevor ich mich einmischen konnte, erwiderte Killian kühl und professionell: „Es trägt nicht gerade zu einem entspannten und produktiven Arbeiten bei, wenn man den Arzt bedroht und versucht ihn in Angst und Schrecken zu versetzen.“

Mit so einer Retourkutsche hatte mein Bruder wohl nicht gerechnet und es gefiel ihm offensichtlich auch nicht. Tja, Killian war halt nicht nur hübsch anzusehen, er wusste sich auch zu wehren. Er hatte oft genug bewiesen, dass er nicht wehrlos war und sich durchzusetzen wusste, wenn er nur wollte. Er tat es nur einfach nicht oft.

„Akiim“, sagte Yi Min. „Hör auf dir Sorgen zu machen und sei nett zu dem Mann.

Killian grinste. „Ich glaube ich mag sie.“

Das schien meinem Bruder noch weniger zu gefallen. „Tu einfach, wozu du hier bist.“ Er erhob sich vom Bett, um Platz für Killian zu machen. „Und du solltest besser …“

„Akiim“, mahnte Yi Min erneut. „Wie wäre es, wenn du rausgehen und deiner Schwester etwas zu trinken anbieten würdest, während ich untersucht werde.“

So wie sich sein Gesicht verdüsterte, war er von diesem Vorschlag nicht allzu angetan.

„Bitte“, fügte Yi Min noch hinzu.

Mehr brauchte es nicht, damit sich mein störrischer Bruder geschlagen gab. Er nahm einen tiefen Atemzug, als müsste er sich selber überwinden und versuchte dabei offensichtlich, nicht ganz so grimmig auszusehen. „Na gut. Aber die Tür bleibt offen und ich bin direkt nebenan, falls du etwas brauchst.“ Sein Blick richtete sich drohend auf Killian. „Und wenn du …“

„Akiim“, mahnte Yi Min, dieses Mal mit ziemlich strenger Stimme.

Akiims Mund klappte zu. Er warf Killian noch einen finsteren Blick zu, verließ dann aber den Raum.

„Er ist ein guter Mann“, sagte ich zu ihm, als er an mir vorbeitrat. „Wenn er ihr helfen kann, wird er es tun und wenn du nicht aufhörst gemein zu ihm zu sein, dann stecke ich dir eine Schlange ins Bett.“ Wäre nicht das erste Mal.

Sein Mundwinkel zuckte, als versuchte er sich daran zu erinnern, wie man lächelte. „Das habe ich vermisst“, sagte er sehr leise und dann lauter: „Was möchtest du trinken? Wasser? Tee?“

„Nichts, danke. Wolf?“

Ein einsilbiges Brummen kam von ihm.

Das war jetzt nicht sehr verständlich gewesen, deswegen musste ich jetzt einfach mal raten. „Tee?“

Er hielt einen Daumen hoch.

„Wolf hätte gerne einen Tee.“

Akiim musterte ihn kritisch. „Kann er nicht sprechen, oder warum redest du für ihn?“

„Nein, kann er nicht.“

Akiim sah mich an.

„Er hat keine Zunge.“ Dafür aber einen ziemlich eigensinnigen Sinn für Humor.

Damit hatte Akiim nicht gerechnet – mal ehrlich, wer rechnete denn auch schon mit sowas? Unkommentiert ging er einfach zum Ofen und begann damit den Tee zuzubereiten.

Wolf und ich folgten ihm in den Raum und ließen uns an dem Tisch nieder. Mein Stuhl wackelte ein wenig.

„Ich werde den zweiten Raum ausräumen, dann kannst du darin schlafen“, sagte er zu mir, während er eine Tasse aus dem linken Regal nahm und dort ein paar Kräuter aus einer gesprungenen Porzellandose hineintat. „Wir nutzen ihn eigentlich als Abstellkammer, aber es dürfte kein großes Problem sein, ihn leerzuräumen. Wir stellen dir ein Bett hinein und vielleicht passen dir ja auch ein paar von Yi Mins alten Kleidern.“

Na das bezweifelte ich aber. Zwar hatte ich seine Frau nur im Liegen gesehen, aber sie war nicht nur zierlicher als ich, sondern mindestens einen Kopf kleiner. Das wäre, als würde Wolf versuchen, meine Kleidung zu tragen.

„Es steht auch noch ein kleiner Schrank darin, den kannst du benutzen.“ Er hob die heiße Teekanne vom Ofen und kippte Wasser in die Tasse. „Beim Bett müssen wir schauen, aber ich glaube …“

„Du brauchst dir nicht solche Umstände machen“, unterbrach ich ihn, bevor er auch noch damit anfing, mein Frühstück zu planen. „Ich weiß nicht mal ob ich bleibe.“ Denn der Plan hatte ursprünglich ja vorgesehen, dass ich Sawyer bei seiner Familie ablieferte und dann weiterzog.

Als ich diesen Plan ersonnen hatte, war mein Bruder aus offensichtlichen Gründen nicht darin enthalten gewesen, aber nur weil er jetzt hier war, wusste ich nicht, ob ich auch hierbleiben wollte. Das waren mir einfach zu viele Menschen. Ich konnte mir ja auch woanders ein Plätzchen suchen und ihn dann hin und wieder besuchen kommen.

Akiim war nicht der Einzige, der mich mit einem Stirnrunzeln bedachte. Ach ja, Wolf hatte von meinen Plänen ja auch noch nichts gewusst.

„Was meinst du damit, du weißt nicht ob du bleibst?“, wollte mein Bruder wissen „Natürlich bleibst du. Das wir uns nach so vielen Jahren wiedergefunden haben, ist ein Geschenk von Gaia, das wirst du nicht so einfach wegschmeißen.“

Das klang schon ein wenig nach einem Befehl.

Akiim kam zum Tisch und stellte den heißen Tee vor Wolf ab. Dann holte er noch einen Löffel, den er ihm reichte.

Wolf bedankte sich mit einem Brummen.

„Ich werde dieses Geschenk auch nicht so einfach wegschmeißen, aber dieser Ort … es ist dein Zuhause, nicht meines.“

„Jetzt ist es auch dein Zuhause.“ Er ließ sich mir gegenüber am Tisch nieder. „Ich habe dich schon einmal verloren und das wird mir kein zweites Mal passieren. Damals war ich schwach gewesen, heute bin ich das nicht mehr.“

Mir entging ein wenig, was das eine mit dem anderen zu tun hatte, aber ich verstand die Kernaussage hinter diesen Worten. „Akiim, ich mag keine großen Menschenansammlungen. Ich habe nie mit mehr als einer Handvoll Leuten zusammengelebt und fühle mich nicht wohl, solche Mengen um mich zu haben.“ Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. „Außerdem sind deine Leute über meine Anwesenheit nicht besonders erfreut.“

„Wie kommst du darauf?“

„Ich sehe doch, wie sie mich anschauen.“

„Das wird sich ändern, wenn sie dich erstmal kennengelernt haben. Im Moment bist du für sie noch eine Fremde, aber das wird sich mit der Zeit ändern.“

Wolf zog seine Tasse zu sich heran und begann mit dem Löffel in seinem Tee zu rühren.

Aus der Schlafkammer hörte ich Killians ruhige Stimme. Sie war zu leise, um zu verstehen, was er sagte.

„Du musst ihnen aber die Chance geben, dich kennenzulernen“, fügte Akiim noch hinzu.

Nein, musste ich nicht. „Ich habe ja nicht gesagt, dass ich sofort wieder verschwinden werde, ich habe nur gesagt, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich bleibe.“

Das schien für ihn keinen großen Unterschied zu machen. Seine Lippen wurden zu einem schmalen Strich. Er schien kurz davor, mir Stubenarrest zu geben und mich auf mein Zimmer zu schicken.

„Wir müssen doch jetzt noch nichts in Stein meißeln. Wir haben uns elf Jahre lang nicht gesehen. Du musst mich erst wieder kennenlernen, genauso wie ich dich.“ Und vielleicht würde diese unterkühlte Atmosphäre zwischen uns sich dann auch legen.

Wenn ich nur daran dachte, wie wir uns auf dem Apfelfeld begegnet waren und wie herzlich dagegen das Wiedersehen zwischen Sawyer und seiner Familie abgelaufen war, versetzte es mir schon einen kleinen Stich. Warum konnte ich mich nicht so sehr darüber freuen, ihn wiederzuhaben, wie Sawyer sich über seine Schwestern und seinen Vater gefreut hatte? Vielleicht weil ich keine Hoffnung hatte, jemals wieder mit jemand aus meiner Familie zusammen an einem Tisch zu sitzen. Von mir wollten alle immer nur weg. Akiim würde es früher oder später auch so gehen, da war ich mir sicher.

„Wir können uns aber nicht kennenlernen, wenn du jetzt schon planst, schnellstmöglich das Weite zu suchen.“

Oh Gaia. „Das habe ich doch gar nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass du dir keine Umstände machen brauchst, weil ich nicht weiß, ob ich mich hier häuslich niederlassen will.“

„Aber hier bist du sicher, hier stehst du unter meinem Schutz und unter dem Schutz meiner Leute. Wenn du hierbleibst, kann ich dich beschützen, hier kann dir nichts passieren. Wenn du weggehst, wie soll ich dann auf dich aufpassen?“

„Ich brauche keinen Beschützer.“ Aber ich brauchte einen Ort, an dem ich mich sicher fühlen konnte. Nur war ich nicht davon überzeugt, dass der hier war. „Wenn ich etwas von dir möchte, dann nur Familie.“

Akiim schüttelte den Kopf und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Du bist noch genauso unvernünftig wie früher.“

Bitte? „Ich bin nicht unvernünftig.“

„Doch, weil du immer glaubst, alles mit dir allein ausmachen zu müssen und du eine hilfreiche Hand selbst dann ausschlägst, wenn sie es nur gut mit dir meint.“

„Ich bin Einzelgänger.“

„Du bist ein Sturkopf.“

„Da spricht der Richtige.“

Der Löffel klickte gegen die Teetasse, als Wolf ihn herausnahm und auf den Tisch ablegte. Er setzte die Tasse vorsichtig an die Lippen und pustete auf das Heißgetränk.

Akiim gab sich noch nicht geschlagen. „Was würden Mama und Papa zu deinem Verhalten sagen?“

Mieser Schlag unter die Gürtellinie. Ich funkelte ihn an. „Sie würden sagen, ich solle auf mein Gefühl vertrauen.“

„Und dein Gefühl sagt dir, dass du dich aus dem Staub machen sollst?“

„Nein, es sagt mir, dass ich alles in Ruhe auf mich zukommen lassen soll.“ Und dazu gehörte nun einmal, noch keine festen Pläne zu schmieden. Weder in der Hinsicht aufs Gehen, noch aufs Bleiben.

Leider wollte Akiim sich damit nicht abfinden. „Ich werde dich bestimmt nicht mehr aus den Augen lassen.“

Als wenn ihm eine Wahl bliebe, wenn ich es nicht zuließ.

Mit einem Schmunzeln kam Killian aus der Schlafkammer. „Die fürsorgliche Ader scheint bei euch in der Familie zu liegen.“

Mit einem Schlag war ich vergessen und Akiims ganze Aufmerksamkeit lag auf dem Arzt. „Bist du fertig? Wie geht es ihr? Was hat sie?“, fiel er sofort über ihn her.

Den kleinen Finger leicht abgespreizt, nahm Wolf einen genüsslichen Schluck aus der zierlichen Teetasse und wirkte sehr zufrieden.

Killian kam weiter in den Raum hinein und stellte seine Tasche neben mir auf dem Tisch ab. „Sie hat eine bakterielle Infektion. Ich habe ihr etwas gegen die Schmerzen gegeben und auch etwas, damit sie leichter Atmen kann. Außerdem muss sie mehrmals am Tag ein Antibiotikum schlucken.“

„Wird sie wieder gesund?“ Akiims Stimme klang angespannt. In jedem Wort schwang die Sorge um seine Frau mit.

„Sie braucht Ruhe und soll viel trinken, dann sollte es ihr bald wieder gutgehen.“

Akiim versuchte es sich nicht anmerken zu lassen, aber sein ganzer Körper schien erleichtert aufzuatmen. Er öffnete den Mund, doch statt sich zu bedanken, wie man es in einem solchen Moment erwartete, sagte er nur: „Ich werde kurz nach ihr sehen, dann zeige ich euch eure Unterkunft.“ Er war so schnell im Schlafzimmer verwunden, dass man die sprichwörtliche Staubwolke sehen konnte.

„Er ist nicht unbedingt ein Mann vieler Worte“, bemerkte Killian.

So konnte man sein Verhalten auch umschreiben. „Sag doch einfach, dass er unhöflich ist.“

Wolf nahm einen weiteren Schluck seines Tees und schloss genießerisch die Augen. Er schien ihm wirklich gut zu schmecken.

 

oOo

Kapitel 37

 

Sobald wir Akiims Wohnung verlassen hatten und draußen auf dem Gang standen, bemerkte ich zwei Männer, die direkt auf uns zukamen. Sie wirkten entschlossen, als wären sie auf einer wichtigen Mission, aber Akiim war noch damit beschäftigt die Tür zu schließen, weswegen ich ihm auf die Schulter tippte, um ihn auf die beiden aufmerksam zu machen.

Er drehte sich um, wartete bis sie uns erreicht hatten und begrüßte sie mit einem Nicken. „Nevio, Furkan.“

„Wir haben gute Neuigkeiten“, sprach der ältere der beiden meinen Bruder an. „Das wird dir gefallen.“

Sie waren beide deutlich älter als Akiim, doch der hier hatte bereits weißes Haar und ging stark auf die sechzig zu. Groß, stämmig, breite Schultern. Trotz seines Alters, war er sehr gut in Form. „Das Team ist zurück, sie haben neue Informationen, die dich interessieren dürften.“

„Du wirst kaum glauben, was sie herausgefunden haben“, fügte der andere hinzu und musterte mich aus dem Augenwinkel. Er war in Killians Alter, ein bisschen größer als der andere und sah … zerstört aus – das war wohl das passende Wort. Das Gesicht war furchtbar vernarbt, als wäre die Haut dort geschmolzen und verrutscht. Die Narben zogen sich seinen ganzen Hals hinunter und verschwanden unter seinem Hemd. Auf dem Kopf waren die Hälfte seiner Haare zu Dreadlocks geflochten. Auf der anderen Seite hatte er gar keine Haare mehr und aufgrund der vernarbten Haut würden ihm dort wohl auch keine mehr wachsen. Auch seine Hände waren betroffen.

Ich hatte sowas schon einmal gesehen, nur bei weitem nicht so schlimm. Das waren Brandnarben. Er sah aus, als hätte ihn jemand mit einer brennbaren Flüssigkeit übergossen und dann angezündet. Die Heilung musste mörderisch gewesen sein. Dass er sowas überlebt hatte, zeugte von einem enormen Überlebenswillen. Dieser Mann besaß innere Stärke.

„Wann sind sie zurückgekommen?“, wollte Akiim wissen. Er schien es gar nicht in Betracht zu ziehen, uns miteinander bekannt zu machen.

„Erst vor ein paar Minuten“, sagte der verbrannte Mann.

„Wir dachten, wir geben dir sofort Bescheid.“

Ein kurzer Blick zu mir, dann war Akiims Aufmerksamkeit auch schon wieder bei den beiden Männern. Ich hatte den Eindruck, als würde er mich am Liebsten stehen lassen und mit ihnen verschwinden – wie nett. „Sag dem Team, sie sollen sich erstmal frisch machen und etwas essen. Wir setzten uns später zusammen und besprechen dann alles.“

Diese Worte schienen sie mehr als nur zu verblüffen. Damit hatte wohl keiner von beiden gerechnet.

„In Ordnung“, sagte der Ältere zögernd und begann mich ganz offen zu mustern. „Ich werde es ihnen sagen.“

„Gut, wir sehen uns dann später.“ Akiim nickte ihnen noch kurz zu und legte mir dann eine Hand in den Rücken, um mich von ihnen wegzuführen.

Sie schauten uns hinterher, als wir den Gang hinunter gingen. Nicht zurück zu Clarence, sondern in die andere Richtung. Dorthin, wo wir bisher noch nicht gewesen waren.

„Schien wichtig zu sein“, bemerkte ich und versuchte so zu tun, als würde ich die Blicke die uns folgten, nicht bemerken. Warum nur mussten mich immer alle anstarren? Sie sollten sich besser das Wandgemälde ansehen, das war bei weitem interessanter als ich.

„Ist es auch, aber du bist im Moment wichtiger.“ Er schenkte mir ein halbes Lächeln, in dem ich meinen großen Bruder aus Kindertagen wiedererkannte. „Der Rest kann erstmal warten.“

Ich wollte ihm so gerne glauben. Leider beschlich mich das Gefühl, dass er nur aus Pflichtgefühl bei mir blieb und nicht, weil er es wollte.

Vielleicht hatte ich aber auch nur dieses Gefühl, weil der Mann neben mir im Grunde ein Fremder für mich war und ich ihn deswegen überhaupt nicht einschätzen konnte. Mein Bruder Akiim, war in meinen Augen ein dreizehnjähriger Junge, den ich als junges Mädchen verloren hatte. Diesen Mann kannte ich nicht, völlig egal, ob wir das gleiche Blut teilten. Ich musste ihn erst kennenlernen. Und vor allen Dingen musste ich aufhören, so misstrauisch zu sein und hinter jeder Geste und jedem Wort etwas Negatives zu sehen.

Akiim führte uns an Ende des Ganges zu einer weiteren Kurve und mir wurde klar, die Gänge bildeten einen Kreis. Oder, naja, ein Viereck. Jedenfalls waren sie alle miteinander verbunden. Es gab nur einen Gang, der hier hinausführte und das war der in die große Eingangshalle.

Akiim brachte uns zu einer Wohnung im Ostgang. Es musste früher auch mal ein Laden gewesen sein, so wie alles hier. Das ehemalige Schaufenster hatte man zugemauert und daneben eine Tür eingesetzt, die Akiim nun für uns öffnete. Wie auch die Male zuvor, trat er zur Seite und ließ uns den Vortritt.

Die Räumlichkeiten dahinter, sahen genauso aus wie die von Akiim und Yi Min, nur dass es hier keine Möbel gab und der Raum unbeheizt war. Naja, es gab einen einzigen Stuhl links in der Ecke und einen Ofen. Außerdem roch es ein wenig muffig, so als wären diese Räumlichkeiten schon lange nicht mehr genutzt worden.

„Spartanisch“, war Killians Kommentar, als er seine Arzttasche auf dem Boden abstellte und dann alles genau unter die Lupe nahm. Nicht das es besonders viel zu sehen gab.

So konnte man es auch ausdrücken. „Wir haben mehr Zeug auf unserem Karren, als hier drinnen.“

Akiim trat herein und schaute sich einmal in dem leeren Raum um. „Ich werde ein paar Leute beauftragen, euch Möbel zu bringen. Mal schauen, was wir noch alles im Lager haben.“ Er warf einen Blick durch die eine Tür, in das kleine Zimmer dahinter und ging dann weiter zur zweiten. „Betten werden wir erst bauen müssen, das wird also ein Weilchen dauern. Aber damit müsst ihr zwei erstmal leben.“

Moment, ihr zwei? „Wieso zwei? Wir sind fünf.“

Akiim würdigte mich nicht mal eines Blickes, als er zum Ofen ging und ihn überprüfte. „Clarence Sohn und seine Enkelin werden bei ihm wohnen und du bleibst bei mir, das haben wir bereits geklärt.“ Er machte die Luke vom Ofen auf, spähte hinein und schloss sie wieder. „Ich werde auch etwas Feuerholz organisieren.“

Was hatten wir geklärt? Nichts hatten wir geklärt. „Ich bleibe bei meinen Leuten“, sagte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Sollte er nur versuchen mich von hier wegzubekommen, dann würde er etwas erleben.

„Wir haben auch noch einiges an Kleidung, die wir euch geben können“, redete er weiter, als hätte ich nichts gesagt. „Ich werde sie euch bringen lassen. Und etwas zu Essen. Dann müssen wir schauen …“

„Weißt du, nur weil du so tust, als hättest du mich nicht gehört, bedeutet das nicht, ich habe nichts gesagt.“

Er hielt inne, drehte sich zu mir herum und schien einen Moment zu überlegen, wie er das jetzt am Besten handhabte. „Ich bin dein großer Bruder, du tust was ich dir sage.“

Das hatte er ja dann wohl mit dem sprichwörtlichen Fingerspitzengefühl angefasst. Ich spürte wie der Ärger in mir zu brodeln begann. Warum war er so schwierig? Wir hatten uns seit elf Jahren nicht gesehen und nun versuchte er ständig mich herumzukommandieren. Ja, er war mein großer Bruder, aber das gab ihm noch lange nicht das Recht, so mit mir umzugehen.

Sawyer war von seiner Familie mit offenen Armen empfangen worden. Das Wiedersehen war voller Wärme und Glück gewesen, so ganz anders, als zwischen uns. Da war eine Distanziertheit, die ich nicht verstand und die er scheinbar versuchte mit Bevormundung zu überbrücken. Aber das durfte ich ihm nicht erlauben, sonst glaubte er noch, er dürfte sich das immer herausnehmen. „Ich lasse mir von dir nichts befehlen.“

Akiim atmete einmal tief ein, als müsste er sein Temperament im Zaum halten. „Biene, ich habe keine Zeit für so einen Blödsinn und weitaus wichtigere Dinge zu erledigen, als mit dir über so etwas albernes zu streiten.“

Ach, jetzt war ich auch noch albern. „Warst du es nicht, der mir gerade noch gesagt hat, ich bin weitaus wichtiger, als diese Dinge? Weißt du, wenn du mich nicht hierhaben willst, dann sag es mir einfach. Ich bin nicht auf dich angewiesen, ich kann auch wieder verschwinden.“ Es wäre nicht die erste Zurückweisung in der letzten Zeit.

Nun trat sein Ärger doch zutage. „Ich will nicht, dass du verschwindest, aber hier gibt es Regeln und die musst auch du befolgen.“

„Und diese Regeln besagen, dass ich mich deinem Wort beugen muss?“ Wenn er das wirklich glaubte, dann würde er aber noch sein blaues Wunder erleben.

„Ja. Ich bin das Familienoberhaupt, darum habe ich das Sagen.“

„Und meine Meinung, oder das was ich will, zählt gar nicht?“ Ich schnaubte. „Ich verstehe, dass es Regeln gibt, aber ich werde mir von dir nicht vorschreiben lassen …“

„Ah, wusste ich doch, dass ich dein liebliches Stimmchen gehört habe.“

Wir alle drehten uns zur Tür herum, wo Sawyer mit Salia an der Hand stand und sich mäßig interessiert im Raum umsah. „Hab schon schlimmere Bruchbuden gesehen.“

Akiim warf ihm nur einen verärgerten Blick zu, bevor seine Aufmerksamkeit wieder auf mir lag. „Diese Unterkunft ist für die beiden Männer, du wirst bei mir und Yi Min in dem anderen Zimmer wohnen.“

„Aber …“

„Nein! Du tust was ich sage, Ende der Diskussion.“ Er sagte das mit Bestimmtheit, als würde mich das vom Widersprechen abhalten. „Und wenn du dich nicht daran hältst, werde ich dich holen.“

Wie bitte? Drohte er mir jetzt etwa auch noch?

„Warte“, sagte Sawyer. „Spring ihm noch nicht ins Gesicht.“ Mit Salia an der Hand, kam er in den Raum geschlendert und stellte sich neben mich, so als konnte er von dort aus besser Mäuschen spielen. „So, jetzt kannst du loslegen.“

Wie nett, dass ich seine Erlaubnis hatte. „Du kannst mir nichts befehlen“, sagte ich zu Akiim. „Ich bin schon seit vielen Jahren selbstständig und das ändert sich nicht, nur weil du das sagst.“

„Ich bin dein großer Bruder, ich habe die Verantwortung für dich und du wirst nicht mit zwei ungebundenen Männern zusammenleben.“

Das war sein Problem? Hatte er Angst, ich könnte mit ihnen Sex haben, oder was? Ihm war scheinbar nicht klar, dass ich jederzeit zu einem Mann gehen könnte, um mich mit ihm zu vergnügen, wenn ich das nur wollte. Dabei war es egal, ob ich mit ihnen in der gleichen Unterkunft lebte, oder nicht. Aber vielleicht fürchtete er sich auch nur davor, was die Nachbarn denken könnten.

„Ich habe die letzten Monate mit diesen Männern verbracht. Wir sind zusammen gereist, haben zusammen gegessen und genächtigt. Sie werden sich nicht plötzlich auf mich stürzen, nur weil wir nicht mehr unter freiem Himmel schlafen.“

„Bist du dir da sicher?“, fragte Sawyer.

Also gleich würde ich ihn treten und zwar dorthin, wo es wirklich wehtat. „Akiim“, begann ich nochmal und versuchte dabei ruhig zu bleiben. Hier jetzt auszuflippen, würde gar nichts bringen. „Ich kann verstehen, dass du so denkst, aber …“

„Nein.“ Mit einer Handbewegung schnitt er mir das Wort ab. „Du bist jetzt hier und hier gelten meine Regeln.“

„Aber das bedeutet nicht, dass du plötzlich die Entscheidungsgewalt über mich hast. Wenn ich bei meinen Leuten bleiben will, wirst du das akzeptieren müssen.“

„Ist ja auch nicht so, als hätten wir sie nicht schon nackt gesehen“, kam es da völlig unangebracht von Sawyer.

Ich schaute ihn an, wie ein Frosch. Was bitte sollte das jetzt? Das war nicht sehr hilfreich.

„Also nicht nur ich, wir alle.“ Mit einer Handbewegung schloss er auch Wolf und Killian mit ein. „Und sie uns auch. Jeden von uns.“

Wenn ich ihm gleich eine runterhaute, wäre das seine eigene Schuld. „Bist du jetzt fertig?“

„Vorerst.“

Ich warnte ihn mit einem Blick davor, sich noch mal einzumischen. „Ich bin erwachsen, ich brauche keinen Aufpasser“, sagte ich zu Akiim. „Ich stehe auf eigenen Füßen, seit ich elf Jahre alt war.“

„Schluss mit den Widerworten, du tust was ich sage.“

Auf einmal drängte sich Salia zwischen mich und meinen Bruder. Sie drückte Akiim sehr nachdrücklich gegen die Beine, bis er ein Stück zurückwich und sagte in einem sehr strengen Tonfall: „Du darfst nicht so mit ihr reden, du musst nett sein.“

Sawyer lachte bellend auf und Wolf drehte sich weg, um sein Schmunzeln zu verbergen.

Akiim erwiderte ihren unnachgiebigen Blick und schaute dann mich an, als wäre ich daran schuld.

Ich hob nur eine Augenbraue. „Du hast es gehört, du musst nett zu mir sein.“

Das war wohl der Moment, in dem Akiim beschloss, dass jede weitere Diskussion sinnlos wäre. Darum ließ er es einfach so stehen und richtete seinen verärgerten Blick auf Sawyer. „Was willst du?“

„Von dir? Gar nichts. Aber mein Vater möchte mit dir sprechen.“

Akiim verengte die Augen leicht. „Ich mag dich nicht.“

Sawyer erweckte nicht den Eindruck, als würde ihn das großartig, oder auch nur mäßig, interessieren. „Dann habe ich mein Tagesziel ja erreicht.“

Nun hielt Akiim es wohl für unumgänglich, sich dem Sohn seines Anführers ganz zuzuwenden. „Ich weiß nicht was für eine Nummer du hier abziehst, aber ich werde dich im Auge behalten.“

„Nur zu, tu dir keinen Zwang an, wenn du dich dann besser fühlst.“

Zu mir sagte Akiim: „Ich muss jetzt ein paar Dinge erledigen, wir sehen uns nachher, in meiner Unterkunft. Dort wo du auch nächtigen wirst.“

Was zur … er tat es schon wieder. „Ich habe dir gerade gesagt …“

„Wir reden dann später, dann haben wir Ruhe.“ Ohne mich noch einmal zu Wort kommen zu lassen, drängte er sich an Sawyer vorbei, rammte ihn dabei mit der Schulter und verschwand verärgert aus dem Raum.

„Akiim“, rief ich ihm hinterher. „Akiim, verdammt!“ Ich konnte es kaum fassen. Er hatte mir wirklich einen Befehl erteilt und ging davon aus, dass ich ihn befolgte. Das war ja wie von einer Gefangenschaft in die andere zu kommen. Was war nur mit meinem Bruder geschehen? Er war doch früher nicht so gewesen.

„Er ist es gewohnt“, sagte Sawyer.

„Was?“

„Dein Bruder.“ Er zeigte zur Tür, durch die Akiim eben verschwunden war. „Als rechte Hand meines Vaters ist er es nicht nur gewohnt Befehle zu erteilen, sondern auch, dass man sie anstandslos befolgt.“

„Aber ich bin nicht irgendein dummer Esel, den er herumkommandieren kann!“

„Und ich bin sicher, dass er das früh genug bemerken wird.“ Er ließ ein perlweißes Lächeln aufblitzen. „Und er wird auch merken, dass er hier bald nicht mehr die Nummer eins ist.“

„Was soll das jetzt wieder heißen?“

„Was wohl? Der Anführer ist mein Vater, nicht seiner. Er war nur der Ersatzmann für mich. Und das weiß er auch. Deswegen reagiert er so aggressiv auf mich.“

Super, jetzt litten hier offensichtlich zwei Männer an Größenwahn. Nur warum musste ich dabei immer die Leidtragende sein? Konnten die sich keine andere suchen, die sie ärgern konnten?

Ich fixierte Sawyer. Nachdem was er hier gerade für einen Mist vom Stapel gelassen hatte, war er genau der richtige, an dem ich meinen Ärger auslassen konnte. Doch bevor mir auch nur ein Wort über die Lippen kam, bemerkte ich die Veränderung an ihm. Seine Kleidung war weg. Jetzt trug er eine schwarze Hose aus Leder, ein weißes, langärmliges Hemd und darüber eine schwarze Weste. Auch die Haare und das Gesicht waren sauber. Die Wangen rasiert und der kleine Kinnbart feinsäuberlich gestutzt.

Ein Blick zu Salia bestätigte, dass auch sie sich frisch gemacht hatte. Sie trug eine graue Tunika und eine schwarze Hose. Ihre langen Haare waren zu einem Zopf geflochten, der noch feucht war. „Ihr habt euch frisch gemacht.“

„Hmh. Es gibt hier Waschräume mit fließendem Wasser. Ich kann sie euch zeigen.“ Sein Blick richtete sich auf mich. „Wenn du es wünschst, werde ich dir sogar dabei helfen dich zu waschen.“

Oh nein, es passierte schon wieder. In meinem Kopf entstanden Bilder davon, wie er genau das tat. Dummes Gehirn, dumme Hormone. „Danke ich verzichte.“

„Du weißt nicht, was du verpasst“, säuselte er mit verführerischer Stimme.

Ich runzelte die Stirn. „Bist du schon wieder notgeil im Endstadium, oder was soll der Mist in der letzten Zeit?“

Wolf gab ein seltsames Geräusch von sich. Offensichtlich hatte er sich gerade an seinem eigenen Lachen verschluckt.

„Wer weiß, vielleicht. Du kannst ja versuchen, es herauszubekommen.“

Halt, stopp, Zeit das Thema zu wechseln, bevor die Bilder in meinem Kopf noch überhandnahmen und mich vollends in den Wahnsinn trieben. Was war in den letzten Tagen nur mit mir los? Langsam ging mir das wirklich auf die Nerven. Besonders nachdem was mit dem rothaarigen Widerling vor einer Woche passiert war, sollte ich von diesen Dingen im Moment nichts wissen wollen.

Ich atmete einmal tief durch, klärte meine Gedanken und besann mich dann aufs Wesentliche. Das mit Akiim würde ich vorerst nicht ändern können. Später würde ich mich noch mal mit ihm zusammensetzten und das klären, aber im Moment gab es noch andere Dinge, die mich interessierten und eines davon hatte mit Sawyer zu tun. „Wie ist es mit deinem Vater gelaufen?“

Die überdrehte Fröhlichkeit verschwand und mit einem Mal wirkte er einfach nur noch müde. „Es war … es gibt viel zu erzählen.“

Das konnte ich mir gut vorstellen. „Er ist sicher glücklich, dass du wieder bei ihm bist.“

„Ist er. Laarni und Noor auch. Noor hat mir die ganze Zeit die Schulter vollgeheult.“ Er klang nicht annähernd so angewidert, wie ich es von ihm gewohnt war. Auch er musste überglücklich sein, wieder mit ihnen vereint zu sein. „Skade ist … distanziert.“

„Du wusstest nichts von ihr, oder?“

„Nein, meine Mutter war gerade frisch mit ihr schwanger gewesen, als ich den Trackern in die Arme gelaufen bin.“ Seine Lippen drückten sich einen Moment fest aufeinander. „Sie ist tot“, kam es dann sehr leise über seine Lippen. „Meine Mutter ist vor neun Jahren gestorben.“

Oh nein. Der Schmerz den er jetzt gerade fühlen musste … ich kannte ihn nur zu gut und wusste genau, wie sehr er einen zerreißen konnte. Hatte er deswegen hier so eine Show abgezogen? Sawyer war kein Mensch, der seine Gefühle offen zeigte. Trauer versteckte er hinter Wut oder Gemeinheiten, mit denen er andere verletzte.

Ich wusste nicht wie er es aufnehmen würde, rechnete sogar damit, dass er meine Hand einfach wegschlagen würde, aber ich wollte ihn auch zeigen, dass er nicht allein war und ich seinen Schmerz verstand. Nur deswegen legte ich ihm eine Hand auf die Schulter.

Er schlug sie nicht weg. Er versteifte sich nur einen Moment und legte dann ganz untypisch für ihn, seine Hand auf meine. Dabei hielt er meinen Blick fest. „Sie ist gestorben, als ich hinter diesen verdammten Mauern gefangen war. Ich habe es nicht mal geahnt.“

Wie sollte er auch? Niemand saß mitten am Nachmittag da, las in einem Buch und überlegte ganz plötzlich, dass in diesem Moment vielleicht gerade seine Mutter starb.

„Es war ein Autounfall“, sagte er leise. Seine Stimme klang belegt. „Sie wollten durch einen Tunnel fahren, der über ihnen eingestürzt ist. Meine Mutter war sofort tot und mein Vater sitzt seitdem im Rollstuhl.“

Das war schlimm. Der einzige Trost, der ihm jetzt noch blieb, war die Tatsache, dass er seine Mutter bereits vor sechzehn Jahren verloren hatte. Vielleicht war sein Schmerz dadurch nicht ganz so schlimm. Ich wünschte es ihm vom ganzen Herzen.

„Egal, vergessen wir das“, sagte er plötzlich und drehte sich ruckartig von mir weg, sodass meine Hand ins Leere fiel. Offensichtlich hatte er sich daran erinnert, dass Wolf und Killian auch im Raum waren und jedes seiner Worte hören konnten.

Er ging in die Ecke, rückte den Stuhl zurecht und ließ sich dann darauf fallen. „Ich habe noch etwas erfahren und bin mir ziemlich sicher, dass es euch nicht gefallen wird. Besonders dir nicht.“ Der letzte Teil war direkt an mich gerichtet.

Oh nein, was kam jetzt wieder? „Hält dein Vater mich für einen schlechten Umgang für dich?“ Wäre ja nicht das erste Mal, dass mich jemand weghaben wollte.

Salia setzte sich in Bewegung, ging quer durch den Raum und kletterte mit Sawyers Hilfe auf seinen Schoß.

„Nein, dich hat er nicht mal richtig wahrgenommen.“ Er strich seiner Tochter über das feuchte Haar, als sie ihren Kopf an seine Schulter legte. „Ihr wisst ja, dass meine Leute nach meiner Gefangennahme die Siedlung verlassen haben, um sich selber zu schützen.“

Nicht nur das, sie hatten sogar alles niedergebrannt, damit niemand anderes auf die Idee kam, sich dort niederzulassen und den Trackern damit ein leichtes Ziel bot.

„Aber der Gedanke, dass ich hinter den Mauern von Eden gefangen war, ließ meinem Vater keine Ruhe. Darum hat er sich mit Leuten zusammengetan, die so denken wie er. Menschen, die unter Eden gelitten haben und nach Rache sinnen. Er hat sie um sich gescharrt und nun verüben sie ständig kleine Anschläge auf Eden und sabotieren sie, wo sie nur können.“

Sabotieren? Ich runzelte die Stirn. „Was meinst du damit?“

„Dass sie der Stadt schaden. Sie überfallen ihre Transporte, schalten die Konvois der Tracker aus und greifen ihre Fabriken und Werke an. Nur gegen die Stadt selber, konnten sie bisher noch nicht direkt vorgehen, die Mauern sind ihnen im Weg. Sie kommen da nicht durch.“

Was? „Sie legen sich mit Eden an?“ Warum sollten sie sowas Dummes tun?

„Anlegen, rebellieren. Jeder der hier lebt, hat auf irgendeine Art einen Verlust oder Schmerz durch Eden erfahren. Sie haben die Schnauze voll davon, was die Stadt mit den freien Menschen macht und sich in den Kopf gesetzt, Eden zu vernichten.“

Vernichten? „Moment, heißt dass, diese Leute befinden sich im Krieg mit Eden?“

„Ja.“ Klipp und klar.

Ich starrte ihn im sprachlosen Entsetzten an. Das musste ein schlechter Scherz sein.

„Und das ist noch nicht alles.“

Da kam noch mehr?!

„Mein Vater beteiligt sich nicht nur an diesem Krieg, er ist der Anführer der Rebellen. All das hier ist auf seinen Mist gewachsen.“ Er verzog die Lippen zu einer Parodie eines Lächelns. „Ich bin jetzt sozusagen der Prinz der Rebellen.“ 

Nein, dazu fiel mir gar nichts mehr ein. Ich war einfach nur entsetzt über das, was ich da hörte. Ein Krieg gegen Eden? Ich wollte alles, was mit dieser Stadt zu tun hatte, einfach nur vergessen und jetzt war ich im Hotspot gelandet? Und nicht nur das, mein Bruder war hier und das bedeutete, er beteiligte sich auch an diesem Krieg. Er war Clarences rechte Hand, wie Sawyer gesagt hatte, es musste also so sein. „Nein“, sagte ich und schüttelte den Kopf. „Nein, das kann nicht stimmen.“ Akiim konnte doch nicht wirklich so dumm sein, sich an so einem aussichtslosen Unterfangen zu beteiligen.

„Hab mir schon gedacht, dass dir das gefallen wird.“

Fassungslos schaute ich zu Wolf, der den Worten grimmig gefolgt war. Ihm schien das auch nicht viel besser zu gefallen.

„Partisanen“, kam es da von Killian.

„Was?“

„Eden leidet seit ein paar Jahren unter einer Gruppe, die immer wieder Anschläge auf die Stadt und seine Anwohner verübt“, erklärte Killian. „Wir nennen sie die Partisanen.“

Das hatte ich schon einmal gehört. An meinem letzten Tag in Eden, als ich mich bei den Gardisten eingeschlichen hatte, war die Rede von den Partisanen gewesen.

Ich lachte auf. Es war absolut nichts Lustiges daran, aber ich konnte nicht anders. Das Ganze war so verworren und unglaubwürdig, dass es schon lächerlich war. „Also fassen wir zusammen. Wir finden meinen toten Bruder, der uns zu deiner verschollenen Familie bringt, nur um dann herauszufinden, dass sie mit den Leuten Krieg führen, vor denen wir auf der Flucht sind?“ Das war nicht nur ein Zufall, das war geradezu … ich hatte keine Ahnung, was das war, dafür gab es vermutlich nicht mal ein Wort.

Sawyer veränderte seine Position. „Das Leben hat schon einen schrägen Sinn für Humor.“

Das war noch milde ausgedrückt.

Jetzt verstand ich auch, warum Sawyers Familie so völlig vom Radar verschwunden war. Als Feinde von Eden mussten sie nicht nur im Verborgenen bleiben, sie mussten geradezu zu Schatten werden. Es war ein Wunder, dass wir sie überhaupt gefunden hatten. Obwohl sie ja eigentlich uns gefunden hatten. Ganz egal wie lange wir es versucht hätten, unsere Suche wäre niemals von Erfolg gekrönt gewesen.

„Aber … was ist mit Ophir?“, wollte ich wissen. „Ich dachte, er wäre der Anführer dieser Gruppe.“

Sawyer zuckte mit den Schultern. „Er ist wohl gestorben, kurz nachdem ich entführt wurde. Mein Vater hat danach das Kommando übernommen und das alles aufgebaut.“

Das war einfach nur unglaublich und ich wusste ehrlich nicht, wie ich damit umgehen sollte. Ich hatte meinen Bruder gerade erst gefunden und wollte ihn trotz seiner herrischen Ader nicht wieder verlassen, aber ich wollte auch nicht hier sein. Das war zu gefährlich. Wenn diese Leute, die Rebellen, sich im Krieg mit Eden befanden, dann bestand jederzeit die Gefahr, wieder mit ihnen zu kollidieren und allein der Gedanke daran, machte mir eine Scheißangst.

Plötzlich fühlte ich mich klein und hilflos. Diese Situation überforderte mich. „Was machen wir denn jetzt?“

„Wir sollten bleiben“, sagte Sawyer sofort.

Natürlich wollte er, dass wir blieben, immerhin war hier seine Familie, die ihn liebte und vermisst hatte.

„Die ganze Anlage ist voll mit ausgebildeten und bewaffneten Soldaten. Nirgendwo sonst werden wir vor den Trackern so sicher sein, wie hier.“

Es ging hier also nicht um seine Familie, sondern um unsere Sicherheit. Leider hatte ich nicht so großes Vertrauen in seinen Vater und dessen Fähigkeiten, darum zog ich ernsthaft in Erwägung, so schnell wie möglich wieder von hier zu verschwinden und das Weite zu suchen. So war der Plan doch sowieso gewesen. Sawyer und Salia bei seiner Familie absetzen und dann weiterziehen. Es wäre das Vernünftigste.

Aber als ich diesen Plan geschmiedet hatte, wusste ich nichts von Akiim. Und ich war mir auch nicht sicher, dass Sawyer und Salia hier sicher waren.

„Wir sollten das alles erstmal verdauen und eine Nacht darüber schlafen“, sagte Killian. „Das war jetzt ziemlich viel auf einmal.“

Das stimmte schon, aber morgen würde sich nichts an den Tatsachen geändert haben. Wir würden immer noch im Stützpunkt der Rebellen sitzen.

Jetzt verstand ich auch die ganzen Wachposten und die versteckte Lage. Und auch die ganzen anderen Dinge, die mir aufgefallen waren. „Das ist Irrsinn.“

„Und trotzdem hätten wir es weitaus schlechter treffen können“, bemerkte Sawyer.

Da war ich mir nicht so sicher.

„Vielleicht sollten wir das Thema erstmal ruhen lassen“, sagte Killian. „Wir müssen noch unsere Sachen vom Karren holen und ich würde wirklich gerne duschen.“

Wie konnte er in diesem Moment an Körperhygiene denken? Aber er war nicht der einzige. Wolf brummte und nickte, als würde er Killian zustimmen.

Überreagierte ich? Hatten sie recht und es war gar nicht so schlimm, wie ich gerade befürchtete? Oder waren sie alle nur zu unbedacht? Sawyer hielt es hier jedenfalls für sicher. Wäre es nicht so, hätte er sich schon längst Salia geschnappt und wäre verschwunden. Trotzdem blieb dieses ungute Gefühl, dass nicht weichen wollte. Diese ganze Situation begann jetzt schon an meinen Nerven zu zerren und dabei hatte ich gerade erst davon erfahren.

Das gefiel mir nicht. Trotzdem sagte ich ein wenig grimmig: „Damit bin ich wohl überstimmt.“

Sawyer stellte Salia zurück auf den Boden und erhob sich. „Es ist das Beste, dass wir im Augenblick tun können.“

Nein, das Beste wäre es, einfach wieder zu verschwinden, nur war das gar nicht so einfach, wie sich das anhörte, nicht mit Akiim und Sawyers Familie, die genau hier lebten.

Killian kam zu mir und drückte mir kurz die Schulter. „Es wird sich schon alles finden.“

Was für ein dummer Spruch. „Lasst uns einfach die Sachen holen.“ Das würde mich wenigstens etwas ablenken.

Er drückte meine Schulter noch einmal und ging dann als erstes hinaus. Gleich hinter ihm folgte Wolf.

„Wartet auf mich“, rief Salia und rannte ihnen hinterher.

Ich presste die Lippen aufeinander und schaute zu Sawyer. Dabei schoss mir plötzlich ein ganz anderer Gedanke durch den Kopf. „Es tut mir leid.“

„Was?“, fragte er und blieb an der Tür stehen, bis ich bei ihm war.

„Dass ich nicht gefragt habe. Ich habe Laarni und Skade auf dem Markt getroffen, aber ich habe vergessen sie nach Ophir zu fragen. Du hättest schon vor Wochen wieder mit deiner Familie vereint sein können.“

„Gibst du dir jetzt wirklich die Schuld daran, nicht allwissend zu sein?“

Naja, irgendwie schon. „Es tut mir einfach leid.“

„Wenn es dich wirklich so bedrückt, fällt mir sicher eine Möglichkeit ein, wie du dich auf sehr angenehme Art bei mir entschuldigen kannst.“ Seine Augenlieder senkten sich leicht und das Lächeln auf seinen Lippen, ließ mein Herz schon wieder hüpfen.

Verdammt! „Vergiss es!“, sagte ich ganz schnell, kehrte ihm den Rücken und verließ fluchtartig den Raum. Das musste aufhören und zwar ganz dringend.

 

oOo

Kapitel 38

 

„Hier.“ Akiim stellte zwei Becher auf den Tisch. Eine Flasche mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit landete direkt daneben. Er zog sich einen Stuhl hervor und ließ sich mit einem Ächzen darauf nieder.

Ich beäugte die Flasche misstrauisch. Das war mit Sicherheit weder Wasser noch Tee. „Wenn du mich vergiften willst, dann sag es lieber gleich.“

Er grinste nur und schenkte uns die Becher voll. „Das ist nur Schwarzgebrannter.“

Immer noch argwöhnisch, nahm ich meinen Becher entgegen und roch daran. Allein der Geruch ätzte mir schon die Nasenschleimhäute weg. Trotzdem nahm ich tapfer einen Schluck und bereute es auf der Stelle. Das Zeug war fast so schlimm, wie das von Balic. „Ich habe doch gesagt, du sollst mich vorwarnen, wenn du mich vergiften willst.“

Akiim schnaubte nur und nahm dann selber einen ordentlichen Schluck aus dem anderen Becher. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper. Der Mann musste einen Magen aus Stahl haben. Oder er hatte das Zeug schon so oft getrunken, dass bei ihm bereits sämtliche Nerven abgestorben waren.

Ich schob meinen Becher vorsorglich ein Stück von mir weg. Nicht dass ich auf die Idee kam, noch ein Schluck von dem Zeug zu trinken.

Es war spät. Draußen war es schon lange dunkel und Yi Min schlief bereits tief und fest.

Ich hatte den Rest des Tages damit verbracht, mit den andere unsere Sachen vom Karren zu holen und sie in die Unterkunft von Killian und Wolf zu bringen. Dabei hatte ich mich versichert, dass Trotzkopf gut untergebracht war.

Happy hatte ihn in eine Stallbox gesperrt, umringt von einem halben Dutzend Pferde, die er äußerst interessant fand. Immer wieder hatte er neugierig seinen Kopf nach ihnen ausgestreckt und sie angeblökt, was die Pferde sehr skeptisch aufgenommen hatten. Solange er sicher und gut versorgt untergebracht war, sah ich darin kein Problem.

Danach hatte ich mir eine herrliche Dusche gegönnt und meine letzte saubere Kleidung angezogen. Ich würde Akiim fragen müssen, wo ich unsere Sachen waschen konnte, sonst würden wir demnächst alle nackt durch die Gegend laufen müssen.

Zwischendurch waren auch noch ein paar Leute aufgetaucht, die Möbel, Feuerholz, Kleidung und Essen gebracht hatten.

Bis zum Abend hatten wir in der Unterkunft der Männer gesessen und uns über alles unterhalten, was heute geschehen war. Mein Bruder, Sawyers Familie, die Tatsache, dass wir uns im Stützpunkt der Rebellen befanden.

Die Männer waren sich einig, wir sollten bleiben, denn hier war es sicher. Ich hatte die ganze Zeit mit leisen Zweifeln zu kämpfen. Es stimmte schon, hier gab es Soldaten, die bewaffnet und ausgebildet waren, was uns einen gewissen Schutz bot. Außerdem hatten wir hier ein Dach über den Kopf, was nicht zu verachten war, da der Winter praktisch schon an die Tür klopfte. Außerdem waren hier unsere Verwandten, nur … da war einfach dieses ungute Gefühl, das einfach nicht verschwinden wollte. Und dann auch noch diese vielen Menschen. Ich fühlte mich hier einfach nicht wohl. Vielleicht sollte ich doch an meinem ursprünglichen Plan festhalten und wieder gehen.

Am Abend, als unsere Mägen lautstark nach Essen verlangt hatten, war Sawyer mit Salia zurück zu seiner Familie gegangen, während Wolf sich an den Ofen gestellt und eine Kleinigkeit für uns zubereitet hatte.

Der volle Magen und die wohlige Wärme, hatten mich schläfrig gemacht und wäre Akiim nicht aufgetaucht, um seine Regeln durchzusetzen, würde ich nun vermutlich bereits tief und fest bei den Männern schlafen.

Leider hatte mein überfürsorglicher Bruder auch beim zweiten Mal nicht mit sich reden lassen wollen, also hatte ich mich vorerst in mein Schicksal gefügt und war mit ihm zu seiner Wohnung gegangen. Zum diskutieren war ich einfach viel zu erschöpft.

Kaum dass wir Akiims Quartier erreicht hatten, musste ich feststellen, dass sich auch hier etwas geändert hatte. Wie Akiim angekündigt hatte, war der kleine Kabuff nun größtenteils freigeräumt, um Platz für ein schmales Bett und ein Regal zu schaffen. Da der Raum kleiner war, als die Schlafkammer, passte dort auch nicht viel mehr hinein. Nicht mal ein Fenster hatte der kleine Raum. Es hatte ein wenig was von Grabkammer.

Und nun saß ich hier an diesem Tisch mit meinem totgeglaubten Bruder, trank mit ihm einen Schnaps und versuchte vor Müdigkeit nicht vom Stuhl zu kippen, denn es war an der Zeit ein Gespräch zu führen. Wir wollten beide Antworten auf Fragen, die wir uns schon seit einem Jahrzehnt stellten. Was war geschehen?

„Soll ich anfangen, oder du?“, fragte ich.

„Erzähl du zuerst“, bat er mich. „Was ist passiert, nachdem die Tracker kamen? Wo warst du die ganze Zeit? Warum ist Nikita nicht bei dir? Wie hast du Sawyer gefunden? Du warst in Eden, oder?“

Das waren eine Menge Fragen über Dinge, über die ich eigentlich nicht sprechen wollte, da es einfach nur schmerzhaft war, sich all das wieder in Erinnerung zu rufen. Vieles davon wollte ich hinter mir lassen und vergessen. Schon ziemlich traurig, war es doch praktisch mein halbes Leben.

Aber nachdem ich in damals sitzen gelassen hatte, war ich es ihm schuldig, für ein wenig Klarheit zu sorgen. Er hatte es verdient, alles zu erfahren, also begann ich zögernd zu sprechen. Ich erzählte ihm, wie ich ihn damals am See hatte schreien hören und Mama zu ihm geeilt war. Was ich gesehen hatte und wie ich mit Nikita total verängstigt in den Wald geflohen war. Von dem Leben allein, ohne Erwachsenen, der auf uns aufpasste und uns versorgte. Die Angst und die Schuld, die mich für mein Leben geprägt hatten.

Ich erzählte ihm von Marshall und meiner Mischpoche, von Eden und wie ich Sawyer dort kennengelernt hatte. Ich erzählte ihm alles, bis auf zwei Dinge, die einfach noch zu frisch und zu schmerzhaft waren, um darüber zu sprechen.

Ich verschwieg ihm Nikitas Machenschaften und ihren heimtückischen Verrat, der mich so tief getroffen hatte, dass ich wohl ein Leben lang Narben davon mit mir herumtragen würde. Ich sagte ihm auch nicht, dass meine Mischpoche mich praktisch davongejagt hatte, weil sie mich nach meiner Rückkehr als Gefahr für sich eingestuft hatten. Ich ließ es so aussehen, als wäre Nikita von dem Luxus der Stadt verführt worden und als wären meine Leute nach meiner Rückkehr unauffindbar gewesen.

Es war ja auch nicht wirklich eine Lüge. Nikita hatte das leichte Leben verlockt und die Menschen, zu denen ich nach meiner Flucht zurückgekehrt war, waren nicht die gleichen, die ich zurückgelassen hatte. Diese Menschen waren verschwunden gewesen, vertrieben von der Furcht.

Die Begegnung mit den Trackern hatte unser aller Leben verändert und uns zu Menschen gemacht, die wir vorher nicht gewesen waren.

Als ich verstummte, weil ich nichts mehr zu erzählen hatte, breitete sich Stille um uns herum aus.

Akiim saß mit gesenktem Kopf auf seinem Stuhl. Die ganze Zeit hatte er mich nicht einmal unterbrochen, sondern nur meinen Worten gelauscht. Seine Hand lag auf dem Tisch und hatte sich während meiner Erzählungen über Eden zu einer Faust geballt. In seinen Augen stand so viel Hass, dass sie beinahe schwarz wirkten.

„Es ist vorbei“, sagte ich in der Hoffnung, ihn ein wenig zu beruhigen.

„Es ist niemals vorbei.“ Seine Stimme vibrierte vor Feindseligkeit. „Sie geben erst ruhe, wenn sie vernichtet wurden.“

Da ich das selber schon gedacht hatte, schaffte ich es nicht ihm zu widersprechen. Es wäre nichts als eine Lüge. „Wie war es für dich?“, fragte ich. Das würde ihn zwar nicht vom Thema ablenken, oder ihn besänftigen, aber ich wollte es wissen. Nein, ich musste es wissen. „Was ist damals passiert und wo bist du die ganze Zeit gewesen?“

So weit es möglich war, verdüsterte sich der Ausdruck in seinem Gesicht noch mehr. Er musste sich zwingen, seine Hand zu entspannen und seinen Kiefer zu entriegeln. „Ich bin nach unten zum See und habe Steine übers Wasser springen lassen, so wie Papa es uns früher gezeigt hatte.“

Daran erinnerte ich mich noch gut. Meine Steine waren immer unendlich lange über die Oberfläche gesprungen, während Akiims fast immer direkt untergegangen waren. Er hatte den Dreh einfach nie herausbekommen. Erst nach dem Tod unseres Vaters war er besser geworden.

„Auf einmal war da dieses Summen in der Luft gewesen. Es wurde immer lauter und kam schnell näher. Ein Fahrzeug fuhr am Ufer entlang und kam schnell auf mich zu. Ich weiß bis heute nicht, woher sie auf einmal kamen, sie waren plötzlich einfach da und hielten direkt auf mich zu. Als ich die Gefahr erkannte, versuchte ich noch schnell abzuhauen, doch sie schnitten mir mit ihrem Wagen den Weg ab. Alle Türen gingen gleichzeitig auf und dann waren sie plötzlich da und versuchten mich zu fangen. In diesem Moment habe ich nach Mama gerufen.“

Das war ein Moment, den ich auch nie hatte vergessen können. Er hatte nicht nur gerufen, er hatte geschrien und uns damit einen Heidenschrecken eingejagt. Meine Mutter war sofort auf die Beine gesprungen und zu ihm geeilt. Danach hatte ich sie nicht lebend wiedergesehen.

Seine Lippen drückten sich einen Moment aufeinander. „Hätte ich doch nur nicht nach ihr gerufen, dann wäre das alles vielleicht anders gekommen.“

Mir wurde klar, dass ich hier nicht die Einzige war, die mit Schuldgefühlen für eine Tat kämpfte, für die sie nicht verantwortlich war. Die eigentlichen Täter dagegen, lebten vermutlich noch glücklich und wohlauf in Eden und erfreuten sich bester Gesundheit.

Manchmal war das Leben einfach nur ungerecht.

„Ich habe versucht zu entkommen, aber ich war nicht schnell genug. Sie haben mich geschnappt.“ Seine Kiefer mahlten, als sei er wütend auf den kleinen Jungen, der er einmal gewesen war. „Ich habe versucht loszukommen und einen von ihnen sogar gebissen, aber sie waren einfach zu stark. Und dann ist Mama aufgetaucht. Ich weiß noch genau, wie sie mit ihrer Machete in der Hand auf uns zugelaufen ist und direkt angegriffen hat.“

Sie wollte ihr Kind vor den Monstern aus ihrer eigenen Vergangenheit schützen. Es war das letzte gewesen, was sie getan hatte.

„Die Tracker versuchten sie aufzuhalten. Es kam zu einem Handgemenge und plötzlich erstarrte sie. Von einem Moment auf den anderen hat sie einfach aufgehört sich zu wehren. Ich weiß noch genau, wie sie zurückgestolpert ist und auf einmal alles voller Blut war.“ Seine Faust öffnete und schloss sich wieder. „Ich kann das Blut nicht vergessen. Es verfolgt mich bis heute in meine Träume.“

Ich wusste genau, wovon er sprach.

„Und dann fiel sie einfach um und bewegte sich nicht mehr.“

Nun war ich es, die mit ihren Gefühlen kämpfte. Ein Unfall, es war nichts als ein dummer Unfall gewesen. Sie hatten sie nicht mit Absicht getötet, sondern nur aus Versehen. Irgendwie machte es das noch viel schlimmer. Warum nur hatte es so kommen müssen? Wären die Tracker nicht dort gewesen, hätten sie uns einfach in Ruhe gelassen, wäre nichts von dem geschehen.

Aber sie waren gekommen und hatten alles verändert.

„Sie begannen zu streiten und wurden unachtsam. Ich schaffte es mich loszureißen und bin gerannt, so schnell ich konnte. Sie haben sofort die Verfolgung aufgenommen, aber ich habe mich in dem alten, hohlen Baum versteckt.“

Auch an den konnte ich mich erinnern. Meine Mutter hatte uns verboten dort zu spielen, weil er alt und morsch war.

„Ich hörte sie, als sie nach mir suchten, aber sie fanden mich nicht. Als es dunkel wurde, gaben sie endlich auf, aber ich blieb die ganze Nacht in dem Baum sitzen, aus Angst, dass sie doch noch irgendwo da draußen waren.“

Dieses Gefühl kannte ich nur zu gut. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich selber mit Sawyer in einem Loch im Boden gehockt, und mich davor gefürchtet, es zu verlassen.

„Ich bin erst am nächsten Morgen herausgekommen. Mama war weg, sie hatten sie mitgenommen und du und Nikita, ihr wart auch verschwunden, also bin ich nach Hause gelaufen. Aber als ich mich dem Haus näherte, waren die Tracker dort. Ich hatte solche Angst, dass ich einfach fortlief.“

Und das machte er sich vermutlich heute noch zum Vorwurf.

Akiim tippte mit dem Finger auf dem Tisch. Sein Blick war ins Leere gerichtet. „Anfangs glaubte ich, sie hätten dich und Nikita geschnappt. Dann redete ich mir wieder ein, dass ihr ihnen entkommen seid und irgendwo allein da draußen wart. Ich müsste euch nur finden, dann würde wenigstens einiges wieder in Ordnung kommen. Also machte ich mich auf die Suche nach euch.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. „Ich konnte euch nicht finden. Ich habe gesucht und gesucht, aber ich habe nicht eine Spur von euch entdeckt, darum war ich davon überzeugt, dass ihr den Trackern doch in die Hände gefallen seid. So musste es einfach sein, es gab keine andere Möglichkeit. Wäre es nicht so, hätte ich euch doch finden müssen.“

Waren wir ja auch, nur erst viele Jahre später.

„Ich schwor Rache.“ Seine Hand ballte sich wieder zur Faust. „Aber um mich rächen zu können, musste ich Mamas Mörder erstmal finden.“

Und das war gar nicht so einfach, wenn man nicht wusste, wo und nach wem man suchen musste. Was Tracker waren, hatten wir damals noch nicht gewusst. Und als wir dann wussten, was Tracker waren, hatten wir nicht geahnt, dass sie die gleichen Monster waren, die unsere Familie zerstört hatten. Zumindest war es bei mir damals so gewesen. Ich hatte erst Jahre später verstanden, dass das ein und dieselben Personen waren.

„Drei Jahre war ich allein unterwegs gewesen, folgte Gerüchten, wenn mir welche zu Ohren kamen und beklaute andere Menschen, um mich selber am Leben zu erhalten. Es war eine harte Zeit.“

Das konnte ich mir gut vorstellen. Für mich war diese Zeit auch nicht einfach gewesen, aber ich hatte wenigstens noch Nikita gehabt. Akiim war ganz allein, nur erfüllt und angetrieben, von seinem Durst nach Vergeltung. Das war sicher nicht gut für die Psyche eines Kindes.

„Eines Tages beobachtete ich eine Gruppe von Männern und Frauen, die mit Autos unterwegs waren. Zuerst glaubte ich, das wären die Mörder, doch diese Fahrzeuge waren alt und rostig.“

Und die Fahrzeuge aus Eden waren vielleicht mal dreckig, aber niemals alt und erstrecht nicht rostig.

„Ich beobachtete, wie sie ihre Wagen anhielten und ein Lager für die Nacht aufbauten und beschloss, mir bei ihnen meine nächste Mahlzeit zu besorgen. Ich hatte seit Tagen nichts gegessen. Darum wartete ich, bis es Nacht wurde und schlich zu ihnen. Ich dachte, sie würden alle schlafen, aber da hatte ich mich getäuscht.“ Ein selbstironisches Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Gerade als ich dem einen Mann die Tasche klauen wollte, schlug er die Augen auf und packte mich am Arm. Natürlich versuchte ich mich sofort zu befreien, doch durch den Lärm, weckte ich auch noch die anderen auf.“

„So war das wohl nicht geplant gewesen.“

„Nein. Damals dachte ich, jetzt hätte mein letztes Stündchen geschlagen, doch der Mann hielt mir nur eine ordentliche Standpauke darüber, dass es unrecht sei zu klauen, dass andere Menschen hart für dieses Essen gearbeitet hatten und dass man fragen konnte, wenn man Hunger hatte.“

Ein Konzept, dass in der Realität leider nur selten funktionierte. Die wenigsten gaben freiwillig etwas, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten.

„Dann drückte der Kerl mir einfach so, völlig ohne Bedingungen, etwas zu Essen in die Hand und ließ mich los. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Er hatte da einen völlig verwahrlosten Jungen vor der Nase, der ihn gerade hatte beklauen wollen und gab ihm etwas zu Essen.“

Das war wirklich ungewöhnlich.

„Das war meine erste Begegnung mit Clarence gewesen. Damals habe ich noch nicht geahnt, was das für meine Zukunft bedeutet. Ich hatte mir einfach nur das Essen gekrallt und mich schnellstmöglich aus dem Staub gemacht. Aber ich bin in der Nähe geblieben und habe sie aus sicherer Entfernung weiter beobachtet.“

Ein misstrauischer Junge, dem seit Jahren nichts Gutes widerfahren war? Ich konnte ihn verstehen.

„Am nächsten Morgen sah ich ihnen dabei zu, wie sie ihre Sachen packten und weiterfuhren. Ich weiß bis heute nicht genau warum ich es getan habe, aber ich beschloss ihnen zu folgen. Natürlich waren sie viel schneller als ich, aber ihre Fahrzeuge hinterließen eine deutliche Spur, der ich mit Leichtigkeit folgen konnte.“

Auf die gleiche Art, hatte ich damals Nikita gefunden.

Denk jetzt nicht daran.

„Sie waren nicht weit gefahren. Als ich sie einholte, überfielen sie gerade einen Konvoi der Tracker und befreiten einen Gefangenen. Ich habe die Uniformen wiedererkannt und … keine Ahnung, mein Hirn hat ein Kurzschluss erlitten. Die Wut vernebelte mir das Hirn und ich rannte mitten hinein in das Getümmel, um mich endlich an den Bestien zu rächen, die mir meine Familie genommen hatten.“

„Das hat bestimmt Eindruck gemacht“, sagte ich und griff nun doch wider besseren Wissens nach meinem Becher. Ich wusste es war keine gute Idee, aber ich nahm einen Schluck, der sich meine Kehle hinunterbrannte und mich einmal kräftig durchschüttelte.

Von Akiim kam ein Schnauben. „Es war wohl das Dümmste, was ich je in meinem Leben getan hatte. Ich bin schreiend in die Meute gerannt und wollte mich auf den nächsten Tracker stürzen, den ich gesehen hatte. Mir war es völlig egal gewesen, dass er einen Schlagstock hatte, mit dem er auf meinen Kopf zielte. Ohne Sam hätte der Kerl mir vermutlich meinen Schädel eingeschlagen.“

„Sam war dabei?“

„Sie hat mich zur Seite gestoßen, den Tracker ausgeschaltet und mich dann angeschrien, dass ich mich gefälligst da raushalten soll. Natürlich habe ich nicht auf sie gehört. Ich war blind vor Zorn.“

Wäre ich an seiner Stelle wahrscheinlich auch gewesen.

„Viel ausrichten konnte ich dann aber nicht mehr, weil mich ein Tranquilizer der Tracker getroffen hat und ich einfach umgekippt bin.“

Auch mit diesen Dingern hatte ich bereits Bekanntschaft geschlossen.

„Als ich wieder erwachte, lag ich auf der Rückbank eines Autos. Sam saß am Steuer und fuhr, Clarence saß neben ihr. Sie haben mit mir gesprochen, mir gesagt wer sie sind und was sie tun und ich habe mich ihnen angeschlossen.“

„Um in den Krieg gegen Eden zu ziehen.“

Wenn er überrascht war, dass ich es wusste, ließ er sich das zumindest nicht anmerken. „Eden muss besiegt werden. Wir können nicht erlauben, dass sie einfach so weitermachen und als Clarence mich unter seine Fittiche genommen hat, habe ich gelernt, auf die richtige Art gegen sie zu kämpfen und nicht einfach blind darauf loszustürmen.“

„Das kann nicht gut enden“, prophezeite ich ihm.

Das erste Mal, seit wir dieses Gespräch begonnen hatten, schaute er mich an. „Doch, das wird es. Wir haben schon viel Gutes geleistet. Wir haben Menschen gerettet. Ich habe Yi Min gerettet, sie war eine der Gefangenen, die die Tracker nach Eden hatten bringen wollen. Ich habe sie befreit und in Sicherheit gebracht.“

Aber nur weil bisher alles gut verlaufen war, bedeutete das noch lange nicht, dass sie immer so viel Glück haben würden. Wenn er weiter auf diesem Weg blieb, könnte ich ihn wieder verlieren. „Es ist gefährlich.“

„Natürlich ist es das. Alles wofür es sich zu kämpfen lohnt, ist anstrengend und gefährlich, aber wir sind auch nicht allein. Wir haben sechs Rebellenzellen, die gegen Eden arbeiten, das sind mehr als tausend Menschen. Wir müssen nur einen Schwachpunkt finden, dann können wir sie für immer ausschalten.“

Sechs? Es gab noch fünf weitere Stützpunkte, in denen die Rebellen daran arbeiteten, Eden zu Fall zu bringen? „An meinem letzten Tag in Eden, habe ich die Gardisten über euch sprechen gehört“, sagte ich leise. „Sie haben euch als lästiges Ungeziefer bezeichnet, die mit ihrer Sabotage nichts ausrichten können.“

Der Ausdruck in seinem Gesicht verdüsterte sich.

„Sie haben gesagt, ihr nervt einfach nur.“ Ich schaute ihn eindringlich an. „Verstehst du was ich sagen will? Im Moment nehmen sie euch nicht mal als richtige Gefahr wahr. Was glaubst du wird geschehen, wenn sich das ändert?“

Akiim setzte seinen Becher wieder an seine Lippen und leerte ihn in einem Zug. Dann ließ er ihn etwas zu laut auf den Tisch knallen. „Du weißt nicht wovon du da sprichst. Natürlich reden sie uns klein, nur so fühlen sie sich sicher.“

Glaubte er das wirklich?

„Wenn du erstmal ein Teil von uns bist und verstehst was wir hier machen, dann wirst du auch …“

„Das wird nicht passieren“, unterbrach ich ihn. Ein Teil von diesem Wahnsinn werden? Allein bei dem Gedanken daran, krampfte sich alles in mir zusammen. „Ich will nichts damit zu tun haben. Ich habe Eden hinter mir gelassen und will da nicht mit hineingezogen werden.“ Das würde nur zu noch mehr Schmerz und Verlust führen.

Akiims Augen verengten sich leicht. „Das ist feige. Du selbst bist von den Machenschaften dieser Stadt betroffen, in mehrfacher Hinsicht sogar und trotzdem willst du nichts gegen sie unternehmen?“

„Würde es einen Weg geben, doch, aber dieser Kampf ist aussichtlos. Ich habe die Despotin der Stadt kennengelernt. Sie ist eine skrupellose Frau. Sie wird euch wie eine Kakerlake zerquetschen, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommt.“

„Sie wird diese Gelegenheit aber nicht bekommen.“

„Das kannst du gar nicht wissen“, widersprach er sofort. Er war verärgert darüber, dass ich mich seiner Mission nicht anschließen wollte. „Wir tun hier Gutes und am Ende werden wir gewinnen.“

War er wirklich so blind? „Wie lange kämpft ihr jetzt schon gegen die Stadt? Ein Jahrzehnt? Länger? Was glaubst du, was wird nächste Woche anders sein, als die letzten zehn Jahre?“ Ich griff über den Tisch und legte meine Hand auf seine. Es fühlte sich seltsam an, unvertraut. „Wir haben uns gerade erst wiedergefunden und ich will dich nicht nochmal verlieren.“

Er schaute auf unsere Hände. Meine Haut war dunkler als seine. „Ich habe gelernt, besonnen vorzugehen. Ich weiß was ich tue, mir wird nichts passieren.“

„Das zu glauben, ist einfach nur dumm“, sagte ich und zog meine Hand wieder zurück. Ich nahm meinen Becher und kippte den Rest herunter. Die Flüssigkeit brannte, aber das war mir egal.

„Was erwartest du von mir?“, wollte er wissen. „Soll ich das alles aufgeben und Eden einfach den Sieg überlassen? Das kann ich nicht.“

„Und ich kann kein Teil dieses Krieges werden, dafür habe ich schon zu viel verloren.“

Seine Lippen pressten sich aufeinander und er wandte den Blick ab. Zwischen uns breitete sich Stille aus.

Es war ja nicht so, dass ich ihn nicht verstand. Wenn es nur einen sicheren Weg gäbe, der ganzen Sache ein Ende zu bereiten, würde ich ihn tatkräftig unterstützen, aber den gab es nun einmal nicht. Eden war zu stark. Sie hatten mehr Leute, bessere Waffen und Mauern, die als unüberwindbar galten. Es war unglaublich schwer gewesen, aus der Stadt hinauszukommen. Hineinzukommen war noch mal um ein Vielfaches schwerer. Und sie mussten in die Stadt hinein, denn von außen war sie nicht zu besiegen.

Ich hatte das verstanden, genauso wie Mama. Auch sie war geflohen und hatte sich im tiefsten Wald versteckt. Genau wie ich hatte sie gewusst, dass sie im Kampf gegen Eden verlieren würde, also hatte sie sich soweit es ging zurückgezogen, in der Hoffnung, von ihnen vergessen zu werden. Leider hatte ihr das am Ende nicht geholfen.

Vielleicht sollte ich ihm genau das erzählen, dann würde er es sicher verstehen. Wusste er überhaupt, dass sie dort gewesen war und eine Eva werden sollte? Wahrscheinlich nicht. Aber er sollte es wissen. „Es gibt da noch eine Sache, die ich dir erzählen muss.“

„Was denn?“ Er klang nicht so, als wäre er besonders erpicht darauf, noch mehr von mir zu hören.

„Als ich in Eden war, habe ich etwas herausgefunden. Über Mama.“

Sein Blick richtete sich wieder auf mich, aber er schwieg.

Das musste ich jetzt vorsichtig angehen. Er war nicht bester Stimmung und ich wusste noch genau, wie ich ausgeflippt war, als ich die Wahrheit erfahren hatte. „Ich habe Bilder von ihr gefunden, in den Archiven der Stadt, sie war dort gewesen.“

Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Was erzählst du da für ein Unsinn?“

„Kein Unsinn, die Wahrheit. Ich habe Fotos gesehen, von ihr als Kind, in den Straßen von Eden. Sie war dort und sie sollte eine Eva werden. Ich habe auch in unserem alten Haus Bilder von ihr und Eden gefunden, Fotos, auf denen sie zusammen mit Agnes Nazarova zu sehen ist. Sie war dort gewesen.“ Ich hätte ihm das Foto als Beweis vorlegen können, doch da er selber nie in Eden gewesen war und Sophias Brunnen nicht kannte, würde er ihn nicht wiedererkennen.

„Das kann nicht sein. Unsere Mutter war ein freier Mensch.“

„Das bin ich auch und trotzdem war ich in Eden. Sie muss von dort geflohen sein, genau wie ich und sie ist danach nicht in den Krieg gegen die Stadt gezogen. Sie wusste, dass es sinnlos wäre.“

Er starrte mich an, ungläubig und zweifelnd. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, was du glaubst zu wissen, aber was du da sagst, ist völliger Unsinn. Unsere Mutter hat sich den Trackern gestellt, sie ist mit erhobener Waffe auf sie zugelaufen. Niemals hätte sie sich vor diesen Unmenschen versteckt.“

„Sie hat angegriffen, weil sie dich retten wollte.“

„Sie hat angegriffen, weil es das Richtige war, weil sie für eine gute Sache kämpfen wollte.“

Das konnte doch nicht sein Ernst sein. Egal was ich sagte, er verdrehte es. „Akiim, unsere Mutter hat sich vor Eden versteckt. Sie …“

„Schluss jetzt!“, fuhr er mich an und schlug mit der Hand auf den Tisch, sodass die Becher hüpften.

Ich zuckte vor ihm zurück.

Er funkelte mich an. „Ich will von diesem Schwachsinn nichts mehr hören, hast du das verstanden?“

Es war sinnlos. Er würde nicht einlenken und er würde mir auch nicht glauben. Sein Hass gegen die Stadt war so tief in ihm verwurzelt, dass er die Wahrheit nicht mal dann erkennen würde, wenn man sie ihm direkt ins Gesicht schlug.

An dieser Stelle war es wohl das Beste, wenn ich mich zurückzog. Jedes weitere Wort wäre überflüssig. Darum schob ich meinen Stuhl zurück und stand auf.

Akiim beobachtete schweigend, wie ich mich abwandte und zu dem kleinen Kabuff ging.

„Biene, warte.“

Ich blieb nicht stehen, verschwand einfach in den Raum und schloss die Tür leise hinter mir. Einen Moment lehnte ich mich von innen dagegen und schloss die Augen. Das war nicht mehr der kleine Junge, den ich vor so vielen Jahren verloren hatte. Dieser Mann war ein Fremder, ein Fanatiker und ich war mir nicht sicher, ob ich ihn kennenlernen wollte.

Langsam ließ ich mich an der Tür hinabrutschen, bis ich auf dem kalten Boden saß und schlang meine Arme um meine angezogenen Beine. Um mich herum herrschte nichts als Dunkelheit und drückende Stille. Ich fühlte mich allein, unverstanden und gefangen. Dieser Tag hatte eigentlich so viel Gutes gebracht und doch verspürte ich im Moment nichts als eine tiefe Leere.

Akiim wiederzutreffen, war ein Wunder. Sawyers Familie zu finden nur unglaublich. Ich sollte glücklich sein und mich freuen, aber ich fühlte mich einfach nur verloren.

Den ganzen Tag hatte ich immer wieder Zweifel gehabt, ob es das Richtige für mich wäre zu bleiben. Jetzt aber fragte ich mich, wann es an der Zeit war zu gehen.

 

oOo

Kapitel 39

 

„Du kannst dich im ganzen Center frei bewegen“, erklärte Akiim mir und reichte Yi Min eine Schale mit einer trüben Flüssigkeit ins Bett, bei deren Anblick sie das Gesicht angewidert verzog. „Ich möchte dich nur bitten innerhalb des Gebäudes zu bleiben, oder mit mir zu sprechen, bevor du das Gelände verlässt.“

Das klang ja fast so, als wäre ich eine Gefangene, oder als würde ich unter Aufsicht stehen. „Ich bin ein selbständiger Mensch, weißt du? Und das schon seit Jahren.“

Er warf mir einen genervten Blick zu. „Würdest du bitte aufhören, über jede Kleinigkeit mit mir zu diskutieren? Sag es mir einfach, wenn du irgendwohin gehst.“

„Selbst wenn ich nur einen Spaziergang durch den Wald machen will?“

„Sogar, wenn du nur vor die Tür gehst, um frische Luft zu schnappen.“

Yi Min nahm einen Schluck von der trüben Flüssigkeit. Der pure Ekel stand ihr ins Gesicht geschrieben. 

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Ist diese Regel nur für mich, oder müssen sich alle daran halten?“

„Die Regel gilt für jeden, sogar für Clarence. Wir müssen zu jeder Zeit wissen, wo jeder ist, um im Notfall richtig reagieren zu können.“ Er schaute zu mir auf. „Biene, ich mache das doch nicht, um dich zu ärgern, ich will nur …“ Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn.

Wir schauten alle drei in den Wohnraum, als erwarteten wir von Zauberhand zu erfahren, wer uns da noch vor dem Frühstück störte.

„Kannst du mal schauen, wer da ist?“, bat Akiim mich.

„Klar.“ Auch wenn das hier seine Unterkunft war und der Besucher daher höchstwahrscheinlich zu ihm wollte. Aber wer war ich schon, dass ich hier mit Logik kam?

Ich verließ die Schlafkammer und war schon fast an der Tür, als es ein zweites Mal klopfte. Da war aber jemand ungeduldig. Und wie sich herausstellte, war dieser jemand Sawyer.

Heute trug er wieder eine schwarze Hose aus Leder, dazu aber ein lockeres, schwarzes Hemd, das man am Halsausschnitt schnüren konnte. Allerdings hatte er sich diese Mühe nicht gemacht, weswegen ich einen erstklassigen Blick auf einen Teil seiner Brust hatte. Dieses Stück nackter Haut, sollte nicht so anziehend auf mich wirken. Besser ich senkte schnell den Blick auf seine schwarzen Stiefel. Die waren neu.

Sawyer hob eine Augenbraue. „Versteh mich nicht falsch, Baby, die Aussicht gefällt mir, aber hast du deine Hose verloren?“

Ich schaute an mir hinab. Ich trug eine dunkelblaue Tunika und sonst nichts. „Willst du etwas Bestimmtes, oder bist du nur hier, um mich zu ärgern?“

Seine Augen blitzten vergnügt. „Mein Vater schickt mich, er würde sich gerne mit dir unterhalten.“

War das jetzt gut oder schlecht? „Ich gehe nur kurz mein Messer holen, dann können wir los.“ Und so kam ich auch endlich von Akiim weg. Nach dem gestrigen Abend, der unruhigen Nacht und dem doch recht unbehaglichen Morgen, kam mir das ganz gelegen.

„Und eine Hose.“

„Und eine Hose.“ Wenn er sich dann besser fühlte. Es war zwar ein wenig kühl, aber nicht kalt. Trotzdem ging ich in meinen kleinen Kabuff, durchsuchte die Kleidung, die Akiim mir hingelegt hatte, nach einer Hose und zog sie über.

Das weiche, schwarze Leder, schmiegte sich wie eine zweite Haut an meine Beine. Ich zog auch noch eine Lederweste über, schnallte mir einen Gürtel um und befestigte mein Messer und meinen Beutel daran. Ich war überrascht, wie wohl ich mich in dieser Kleidung fühlte, nur die schwarzen Stiefel beachtete ich nicht. Es gab eben Grenzen.

Als ich wieder herauskam, stand Sawyer halb im Wohnraum und musterte mich kommentarlos.

„Was will dein Vater denn von mir?“, fragte ich, als ich zu ihm ging.

Bevor er darauf antworten konnte, tauchte Akiim aus der Schlafkammer auf. Er bedachte mich mit einem prüfenden Blick und schien sich dann zu fragen, was verdammt noch mal Sawyer in seiner Bleibe zu suchen hatte. „Was ist hier los?“

Statt zu antworten, hob Sawyer nur eine Augenbraue. „Wie kommst du darauf, dass dich das etwas angeht?“

„Clarence will mich sehen“, sagte ich schnell, bevor Akiim auf die Provokation eingehen konnte.

„Da komme ich mit. Warte kurz, ich sage Yi Min nur schnell bescheid.“ Und schon war er wieder in der Schlafkammer verschwunden.

Sawyers Lippen kräuselten sich verächtlich. „Ist er dein Bruder, oder dein Gebieter?“

„Sei nicht so.“

„Wie bin ich denn?“

Wie in Eden. „Feindlich.“

Seine Augenbrauen hoben sich noch ein wenig, was ihm den Ausdruck eines erstaunten Frosches gab. „Er ist auch nicht gerade eine Ausgeburt an Freundlichkeit. Und jetzt erzähl mir nicht, dass es für dich okay ist, von ihm so bevormundet zu werden.“

Nein, das war es nicht, aber ich verstand Akiim auch. Wir hatten uns bereits einmal verloren, jetzt mussten wir erst wieder lernen, miteinander umzugehen – auch wenn er es mir nicht gerade einfach machte.

„Ich bevormunde sie nicht“, knurrte Akiim verärgert, als er zurück in den Raum kam und schnappte sich seine Waffe vom Regal, bevor er zu uns trat. „Ich muss auch zu Clarence. Im Gegensatz zu dir, habe ich einige Pflichten, um die ich mich kümmern muss.“

„Besorg dir vorher aber ein wenig Gleitmittel, dann fällt es dir sicher einfacher, meinem Vater in den Arsch zu kriechen.“

Akiims Hand zuckte und ich hatte die Vermutung, dass er Sawyer gerne eine reingehauen hätte.

„Gut, wo wir das jetzt geklärt haben, sollten wir uns wohl besser auf den Weg machen.“ Ich schob Sawyer hinaus auf den Gang und achtete dabei sorgsam darauf, zwischen den beiden Männern zu bleiben. Warum musste ich eigentlich ständig den Puffer spielen?

Akiim kam als letztes heraus und schloss die Tür leise hinter sich. „Ich wollte dich noch fragen, was du alles über das Sicherheitssystem in Eden herausgefunden hast.“

Wie kam er denn jetzt auf einmal darauf? „Nicht viel. Ich glaube, da solltest du besser Sawyer fragen. Oder Killian. Die waren viel länger dort.“

Akiim sah nicht aus, als würde er Sawyer irgendwas fragen wollen, oder als würde er seine Existenz überhaupt anerkennen. „Du hast Agnes Keychip gestohlen.“

„Aber auch nur, weil Agnes Angst vor Männern hat und Sawyer deswegen nicht an sie herangekommen ist.“

Wir setzten uns in Bewegung und ich achtete weiter darauf, dass ich zwischen den beiden blieb.

„Du warst zwei Monate dort, du hast es geschafft ihren Mauern zu entkommen, du musst doch irgendwas wissen.“

Was sollte das denn jetzt? „Ich habe diese Zeit dort damit verbracht einen Fluchtweg zu finden und nicht schwanger zu werden.“

„Ich habe ihr dabei geholfen“, brüstete Sawyer sich. „Also mit dem nicht schwanger werden. Aber es war knapp gewesen.“

Den finsteren Blick hatte er verdient und sein Zwinkern, wurde schon aus Prinzip ignoriert. Er musste mich nun wirklich nicht daran erinnern, was in seinem Haus unter dem Einfluss des Aphrodisiakums fast geschehen wäre.

„Ich habe nicht herumgeschnüffelt und versucht Informationen zu bekommen.“

„Das hättest du aber tun sollen“, sagte Akiim in einem vorwurfsvollen Ton.

Also gleich würde ich ihm eine klatschen.

„Du musst verstehen Biene, wir brauchen neue Informationen, wenn wir vorwärtskommen wollen. Also denk nach, irgendwas musst du doch aufgeschnappt haben.“

Jetzt reichte es mir aber. Ich blieb stehen und brachte damit auch ihm zum Anhalten. „Du hast keine Ahnung, wie es ist, hinter ihren Mauern gefangen zu sein. Es hieß, nicht auffallen, oder untergehen. Jeder Tag dort war ein Kampf für mich. Darum …“

„Aber genau darum geht es doch“, unterbrach er mich. „Nicht nur du kämpfst. Viele Menschen in der Stadt tuen das. Menschen wie du, die nicht freiwillig dort sind und auch Menschen hier draußen, die etwas verändern wollen, damit sowas nicht mehr passieren kann.“

„Das ist nicht mein Kampf, das habe ich dir bereits gesagt.“ Und davon würde ich auch nicht abrücken, ganz egal was er sagte.

Er schüttelte den Kopf, als könnte er nicht glauben, was er da hörte. „Hast du dir jemals überlegt, was mit den Menschen passiert, die nicht dortbleiben wollen und sich nicht einfügen? Sowohl freie Menschen, als auch Anwohner der Stadt? Oder alte Leute, die keinen Nutzen mehr für die Gesellschaft haben? Unheilbar Kranke?“

Um ehrlich zu sein, nein, hatte ich nicht. Bisher hatte ich immer angenommen, Verweigerer würden im Aufnahmeinstitut bleiben, bis man sie gebrochen hatte. Und der Rest musste sich den Regeln von Eden beugen, notfalls auch unter Zwang. Aber so wie er das sagte, bekam ich nun den leisen Verdacht, dass ich mich da bisher getäuscht hatte.

Er schien meine Gedanken auf meinem Gesicht ablesen zu können. „Wer keinen Nutzen für die Gesellschaft hat, wird getötet. Und die Gesellschaft weiß es nicht nur, sie lässt es auch zu. Sie billigen es, um ihr komfortables Leben nicht aufgeben zu müssen. “

Getötet? „Ich glaube du verrennst dich da in etwas, Akiim. Ich will sie ja nicht in Schutz nehmen, aber …“

„Kein Aber. Genauso ist es. Oder glaubst du etwa die Unwilligen werden einfach in die freie Welt hinausgelassen? Nein, sie leben nach dem Motto, wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Das Leben dort ist auf Blut aufgebaut.“

Ich konnte das nicht glauben. Zwar wusste ich von einer Gruppe in Eden, die es befürwortete, genau nach diesen Regeln zu leben, aber das war nur ein kleiner Teil, nichts was sich etabliert hätte.

„Wenn du mir nicht glaubst, dann frag ihn doch.“ Akiim zeigte auf Sawyer.

Ich drehte mich zu ihm herum.

Sawyer erwiderte meinen Blick ruhig. „Er hat recht“, sagte er schlicht. „Du hattest Glück, als Eva warst du wertvoll für Agnes und damit in gewisser Hinsicht unantastbar. Wärst du unfruchtbar gewesen, hätte sie sich deinen Mist keine Woche bieten lassen. Sie hätte dich schlicht als Gefahr für die Stadt eingestuft und eliminieren lassen.“

Ich schüttelte den Kopf, das konnte nicht stimmen. Ja, die Regeln in Eden waren streng und die Menschen dort konnten grausam sein, aber viele der Gerüchte über Eden waren maßlos übertrieben. Ich hatte dort auch ein paar anständige Menschen kennengelernt, nicht alle waren Monster. Leider waren sie nur wenig besser als der Rest, da sie sich weiterhin anstandslos dem Regime unterwarfen. Doch es war auch gar nicht so einfach, sich gegen die Menschen dort aufzulehnen, denn die Despotin war ein Monster. Wenn man ihr nicht folgen wollte, waren Zwang und Erpressung eine gängige Methode, um einen wieder auf Spur zu bringen – genauso wie Gewalt. Ich hatte eine Narbe an der Schläfe, die das bewies. Die Edener fanden immer einen Weg, um ihren Willen durchzusetzen.

Aber Völkermord? „Eden hat sich dem Erhalt der Menschheit verschrieben. Es wäre kontraproduktiv, die Leute umzubringen. Damit würden sie doch genau gegen ihre eigenen Ziele arbeiten.“

„Nein, würden sie nicht“, widersprach Akiim mir. „Es ist wie mit einer Pflanze, die schlechten Teile werden weggeschnitten, damit der Rest zu voller Pracht erblühen kann.“ Mit einem Mal begann von ihm eine unruhige Energie auszugehen. Er strich sich übers Kinn und verlagerte sein Gewicht ruhelos von einem Bein aufs andere. „Darum ist der Kampf gegen Eden auch so wichtig. Wenn wir jemals wieder in Frieden leben wollen, müssen wir sie besiegen.“ Er sprach fast fanatisch davon, als gäbe es nur diesen einen Weg. Dabei schien er die ganzen Gefahren die ihm drohten, einfach auszublenden.

„Du kannst Eden nicht besiegen“, sagte ich und wiederholte damit etwas, dass ich ihm bereits gestern gesagt hatte. „Die Stadt ist zu stark. Wenn du es versuchst, wirst du dabei untergehen.“

Er funkelte mich an. „Hast du schon mal von David und Goliath gehört?“

„Das ist ein Märchen für Kinder.“

„Es ist viel mehr als ein Märchen, es ist ein Wegweiser. Der Riese kann besiegt werden.“

Es war, als würde man gegen eine Wand sprechen. „Und wie willst du das machen? Der Riese Eden hat tausende von Köpfen. Willst du sie alle abschlagen?“

„Wenn es sein muss.“

Wie er das sagte … es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. „Das kannst du nicht machen, du bist doch kein Mörder.“

„Wenn es sein muss, dann werde ich einer sein. Ich würde die ganze Stadt niederbrennen, wenn uns das den Sieg brächte.“ Kalt, er war absolut kalt, als er das sagte. Er meinte jedes Wort.

Ich konnte es nicht glauben, das ging weit über mein Verständnis hinaus. „Aber … dort leben auch Unschuldige – Kinder.“

„Niemand dort ist unschuldig.“

„Du machst die Kinder dort verantwortlich?“

„Das sind keine normalen Kinder, das sind Züchtungen.“ Er klang einfach nur angewidert.

„Aber nichts desto weniger sind es Kinder.“ Das musste er doch verstehen. „Auch Nikita ist dort.“

Akiim wich einen Schritt zurück, als wollte er sich von diesem Namen distanzieren. „Nikita hat ihre Wahl getroffen, jetzt bist du an der Reihe.“

Das konnte er nicht ernst meinen.

„Du musst dich entscheiden, Biene, entweder bist du für uns, oder gegen uns.“

Sawyer stand ungläubig neben mir. Er konnte das was er da hörte genauso wenig fassen wie ich. „Wie lange hast du deine Schwester jetzt nicht mehr gesehen? Elf Jahre? Und dir fällt nichts Besseres ein, als ihr zur Feier des Tages ein Ultimatum zu stellen?“

Das mein Bruder ihn einfach ignorierte, wunderte mich gar nicht. „Denk darüber nach“, sagte er zu mir und machte sich dann wieder auf den Weg.

Ich stand einfach nur da, ohne zu verstehen, was hier gerade passiert war. Was war nur aus Akiim geworden? Wo kam dieser ganze Hass her? Ich selber verabscheute Eden, aber das was Akiim vorhatte, ging einfach zu weit. Das war unmenschlich. Wenn er das wirklich durchzog, was unterschied ihn dann noch von den Monstern aus Eden?

Nichts, wurde mir klar, absolut gar nichts und das war es wohl, was mich so schockierte. Akiim war bereit selber ein Monster zu werden, um seine Ziele zu erreichen.

„Mein Vater wird das nicht erlauben“, sagte Sawyer.

Wusste er das mit Sicherheit, oder glaubte er das nur? Er hatte seinen Vater seit sechzehn Jahren nicht gesehen und in dieser Zeit konnte ein Mensch sich sehr verändern. Akiim war das beste Beispiel dafür.

„Glaub mir“, fügte er noch hinzu.

Das würde ich sehr gerne, aber im Augenblick wusste ich wirklich nicht mehr, was ich noch glauben sollte.

„Na komm.“ Mit dem Kopf machte Sawyer eine Bewegung Richtung des Quartiers des Anführers der Rebellen. „Mein Vater wartet auf uns.“

Wenn er glaubte, dass das in meinen Ohren verlockend klang, hatte er sich aber getäuscht. Trotzdem begleitete ich ihn, als er sich wieder auf den Weg machte.

Akiim war bereits vor uns an Clarences Unterkunft und hielt mir wie immer die Tür auf. Diese Höflichkeit stand im starken Kontrast zu allem, was er gerade gesagt hatte. Ich verstand diesen Mann wirklich nicht. Im Moment allerdings, würde ich an der Situation nichts ändern können, also konnte ich auch hineingehen um zu erfahren, was der große Boss von mir wollte.

Genau wie gestern, saß Clarence auch dieses Mal in seinem Rollstuhl am Tisch und brütete über ein paar Papieren. Heute war er jedoch alleine, keine Spur von Sam oder seinen Töchtern.

Als wir hereinkamen, schaute er auf und begrüßte uns mit einem freundlichen Lächeln. „Ah, Akiim, gut dass du schon hier bist. Sawyer, ihr könnt euch schonmal nebenan hinsetzen, ich komme dann gleich dazu.“

Sawyer schenkte Akiim noch einen abschätzigen Blick, dann nahm er meine Hand und zog mich an seinem Vater vorbei. „Komm.“

Von der plötzlichen Berührung war ich so überrascht, dass ich mich einfach mitziehen ließ. Sowas hatte er noch nie gemacht.

Während Akiim sich zu Clarence gesellte und scheinbar wichtige Dinge besprach, brachte Sawyer mich in den abgetrennten Wohnbereich.

Schon bevor wir die Regale passierten, hörte ich die Stimmen von Sawyers Schwestern. Sie saßen alle zusammen auf der gepolsterten Garnitur und schwatzten leise miteinander. Die beiden älteren hatten es sich auf der Couch bequem gemacht, Skade saß im Schneidersitz auf dem Boden neben Salia und schaute ihrer Nichte beim Malen zu.

Als die Kleine uns kommen sah, ließ sie ihren Stift fallen, sprang wie eine Sprungfeder auf die Beine und rannte mit ausgebreiteten Armen direkt auf mich zu. „Kiss!“ Im nächsten Moment schlangen sich zwei Streichholzärmchen um meine Beine und brachten mich fast zu Fall. „Ich muss dir so viel erzählen. Da war ein ganz großer Käfer an der Wand, als ich aufgewacht bin, der hat mich direkt angesehen, da hat Wölkchen ganz große Angst bekommen. Und ich habe einen Wackelzahn, willst du ihn sehen?“ Sie öffnete den Mund und präsentierte mir ihren Zahn, doch in der nächsten Sekunde redete sie schon weiter. „Und beim Frühstück hat Noor sich auf den Finger gebissen, weil sie taggeträumt hat und danach haben …“

„Hol zwischendurch auch mal Luft“, unterbrach Sawyer sie. „Und lass Kiss erstmal ankommen, du kannst ihr später alles erzählen.“

Die Kleine holte übertrieben tief Luft und stieß sie dann geräuschvoll in einem Schwall wieder aus. „Okay“, sagte sie, gab mich frei und eilte zu ihrer Zeichnung zurück, wo Wölkchen tapfer ihrer harte.

Derweil entging mir nicht, wie Sawyers Schwestern mich von oben bis unten musterten und an meinen nackten Füßen hängen blieben.

Auch Sawyer bemerkte es. „Wie ihr sicher schon erraten habt, das ist Kismet. Baby, ich möchte dir meine Schwestern vorstellen. Skade kennst du ja schon.“

Die jüngste der Schwestern schaute mich beinahe gleichgültig an. Nein, nicht mich, sondern meine Hand, die Sawyer immer noch festhielt.

Keine Ahnung, warum ich mich plötzlich peinlich berührt fühlte, aber ich entzog sie ihm und winkte ihr damit halbherzig zu. Dann verschränkte ich sie vor dem Bauch, damit er nicht nochmal danach greifen konnte.

„Das ist Noor“, sagte er und zeigte auf die Blondine, mit dem leuchtend roten Farbklecks auf der Wange.

Als hätte sie nur auf dieses Stichwort gewartet, sprang sie auf die Beine und reichte mir quer über den Tisch ihre farbverschmierte Hand. „Ich wollte schon gestern hallo sagen, aber Papa meinte, ich sollte dich erstmal ankommen lassen und dich nicht sofort belagern“, begann sie, während sie meine Hand schüttelte. „Aber ich muss dir einfach danken. Du hast Sawyer geholfen und damit unsere Familie ein kleinen wenig heilen lassen.“ Ihr Griff wurde ein wenig fester und Tränen sammelten sich in ihren Augen. „Nur wegen dir kann ich meinen Bruder wieder in die Arme schließen und ihn …“ Sie ließ mich los und begann sich über die Wange zu wischen. „Tut mir leid“, entschuldigte sie sich. „Ich kann einfach nicht aufhören zu heulen.“

„Wie wahr“, murmelte Skade und verdrehte die Augen.

Sawyer ging zu einem Regal und holte ein Tuch, das er Noor reichte.

„Danke.“ Sie tupfte sich das Gesicht ab und ließ sich dabei wieder auf die Couch sinken. „Ich bin einfach so unendlich dankbar“, schniefte sie. „Ich hatte nicht mehr daran geglaubt, meinen großen Bruder jemals wieder zu sehen und dann steht er einfach da und …“ Ihre Stimme brach weg.

Die Schönheit neben ihr, legte ihr beruhigend eine Hand aufs Bein. „Tief durchatmen.“

Noor schniefte wieder.

„Das ist Laarni“, stellte Sawyer mir die letzte in der Reihe vor. „Meine große Schwester.“

Ihre seltsamen, veilchenfarbenen Augen richteten sich direkt auf mich und es war, als würde sie mich mit diesem Blick durchleuchten. „Wie heißt es so schön? Man sieht sich immer zwei Mal im Leben.“

Na hoffentlich nicht. Es gab Menschen, bei denen legte ich absolut keinen Wert darauf, ihnen jemals wieder über den Weg zu laufen. „Hätte ich auf dem Markt gewusst wer du bist, hätte ich dir von Sawyer erzählt.“

„Die Dinge laufen nur selten so, wie wir sie uns wünschen, aber am Ende kommt alles so, wie es sein soll.“

Sie sprach von Vorherbestimmung, ein Konzept, dass ich nicht unterstützen konnte, denn das würde bedeuten, dass all die schlechten Dinge, die mir widerfahren waren, unumgänglich gewesen waren. Aber so war es nicht. Es waren immer die Entscheidungen der Menschen gewesen, die meine Welt ins Chaos gestürzt hatten. Meine Mutter starb, weil die Tracker sich entschieden hatten, einen kleinen Jungen zu fangen. Nikitas Verrat war ihrer Gier entsprungen. Meine Mischpoche dagegen, hatte aus Furcht gehandelt. Sie alle hatten die Möglichkeit gehabt, sich anders zu entscheiden, aber sie hatten es nicht getan.

„Du siehst das nicht so“, erkannte Laarni ganz richtig. „Du glaubst nicht an Schicksal?“

Sawyer war des Stehens müde, umkreiste den Tisch und ließ sich auf den linken Sessel nieder.

„Nein, es gibt keine höhere Macht mit einem Plan. Jeder ist für seine eigenen Taten verantwortlich.“

„Aber äußere Einflüsse, können unseren Weg bestimmen“, widersprach sie.

„Wir sind es jedoch, die bestimmen, wie wir darauf reagieren“, erwiderte ich ruhig. „Man nennt das freien Willen.“

Laarnis Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Ich glaube, ich mag dich. Mein Bruder hat Glück gehabt, dich zu finden.“

Ich schaute zu besagtem Bruder, dem das Gespräch nur mäßig interessierte. Er wirkte zufrieden, etwas dass ich nur selten an ihm wahrnahm. „Eigentlich war es eher so, dass ich in ihn hineingelaufen bin.“

Noor begann zu grinsen, doch bevor sie etwas dazu sagen konnte, erschien Akiim beim Raumtrenner. „Skade, hoch mit dir, Zeit fürs Training.“

Die jüngste der drei Schwestern sprang auf, als könnte sie es kaum erwarten, von uns wegzukommen und verschwand ohne ein Wort.

„Biene, wir sehen uns später.“

„Immer diese Drohungen“, murmelte Sawyer laut genug, damit Akiim ihn hören konnte.

Mein Bruder hatte nur einen verächtlichen Blick für ihn übrig, bevor er uns den Rücken kehrte und wieder verschwand.

Ich schaute ihm mit gemischten Gefühlen hinterher. Nach allem was er eben noch zu mir gesagt hatte, fand ich Sawyers Kommentar gar nicht so verkehrt.

Salia schaute interessiert zu mir auf. „Warum nennt er dich immer Biene?“

„Das ist ein Spitzname aus meinen Kindertagen, den ich bekommen habe, weil ich Honig so gerne mag.“ Eigentlich war es meine Mutter gewesen, die mich immer so genannt hatte. Akiim hatte den Namen immer nur benutzt, um mich zu ärgern. Zuckersüßes Honigbienchen, hatte er immer gesagt. Ich hatte das nicht besonders gemocht, doch jetzt vermisste ich diese kleine Stänkerei. Dieser Akiim würde mich sicher nicht mehr so nennen.

„Darf ich dich auch Biene nennen?“, wollte Salia wissen.

„Wenn du möchtest.“

Sie überlegte kurz. „Nein, will ich nicht.“ Damit widmete sie sich wieder ihrem Bild.

Kinder, mehr gab es dazu nun wirklich nicht zu sagen.

Vorne waren Stimmen zu hören, gleich darauf rollte Clarence mit seinem Rollstuhl in den Wohnbereich. Er fuhr direkt zu uns und begrüßte mich mit einem herzlichen Lächeln, dass seine Augen strahlen ließ. „Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, doch das hat leider nicht warten können.“ Er schaute zu mir auf. „Aber setzt dich doch bitte. Möchtest du etwas zu trinken? Oder zu essen?“

„Nein, danke.“ Und setzten wollte ich mich eigentlich auch nicht, aber für Clarence war es sicher nicht sehr angenehm, zu mir aufblicken zu müssen, deswegen parkte ich meinen Hintern auf dem rechten Sessel. Dann musste ich eine weitere intensive Musterung über mich ergehen lassen, die an meinen nackten Füßen endete.

Das war ein weiterer Grund, warum ich mich unter vielen Menschen so unwohl fühlte. Ständig begutachteten sie einen und glaubten dann auch noch sich ein Urteil erlauben zu dürfen.

„Danke“, sagte Clarence schlicht und in diesem kleinen Wort, schwang eine Erleichterung mit, die die Jahre des Schmerzes und des Kummers kaum ausdrücken konnte. „Als ich damals Sawyer verlor … du kannst dir nicht vorstellen wie das ist, wenn das eigene Kind plötzlich verschwunden ist und du das machtlos akzeptieren musst.“

Nein, das konnte ich nicht und das wollte ich auch nicht. Ich hatte Menschen verloren und wusste wie schrecklich das war. Doch ein Kind zu verlieren, war eine ganz andere Art von Schmerz.

„Nachdem das geschehen war, habe ich mein Leben dem Kampf gegen Eden gewidmet, in der vagen Hoffnung, meinen Sohn irgendwann wieder in die Arme zu schließen. Bis heute habe ich leider nicht annähernd das erreicht, was ich mir erhofft hatte, aber dank dir ist mein Sohn wieder bei mir und dass ist im Augenblick das Wichtigste. Du machst dir keine Vorstellung, wie unendlich dankbar ich dir bin.“

„Es war Sawyers Plan, ich habe ihm nur ein wenig geholfen“, fühlte ich mich genötigt zu sagen. 

Clemens Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. Sein Backenbart ging dabei mit hoch. „Also nachdem was Sawyer mir erzählt hat, war da schon ein wenig mehr. Du hast Agnes ihren Keychip abgenommen und dich anschließend bei den Gardisten, ihrer Eliteeinheit, eingeschlichen. Das erfordert nicht nur Mumm, sondern auch Courage. Ich kenne nicht viele Menschen, die einen solchen Mut besitzen.“

So viel Lob, gleich würde ich anfangen mich vor Verlegenheit zu winden. Ich glaubte einfach nicht, dass ich etwas Besonderes geleistet hatte. Ich hatte einfach nur meine Freiheit wiederhaben wollen.

„Kismet, ich bin dir zu größtem Dank verpflichtet und solltest du irgendwann mal etwas brauchen, zögere nicht, dich an mich zu wenden.“

„Ähm …“ Ich warf einen Blick zu Sawyer, der äußerst zufrieden wirkte. Nein, von dieser Seite würde ich keine Hilfe bekommen, die mich aus meiner Verlegenheit befreite. „Ich werde daran denken.“

„Schön.“ Clarence strahlte mich an. Er hatte ein herzliches Lächeln. „Dann haben wir jetzt nur noch eines zu tun: Feiern! Heute Abend wird es ein großes Fest geben. Wir feiern die Rückkehr meines Sohnes.“ Er schenkte mir einen verschmitzten Blick, in dem ich zum ersten Mal eine gewisse Ähnlichkeit mit Sawyer erkannte. „Und natürlich die Wiedervereinigung von Akiim und seiner verlorenen Schwester.“

„Das ist nicht nötig, also nicht für mich.“ Ich erinnerte mich noch gut an das letzte Fest, das mir zu Ehren stattgefunden hatte. Am nächsten Morgen hatte Marshall mich davongejagt. Davon brauchte ich nun wirklich keine Wiederholung.

„Ach, papperlapapp“, er winkte ab, als sei mein Einwurf unbedeutend. „Heute wird gefeiert und morgen widmen wir uns wieder unseren Geschäften.“

Geschäfte, aha. Die Art von Geschäften, von denen Akiim gesprochen hatte? „Du meinst Eden.“

Sein Lächeln wurde milde. „Mein Sohn ist zwar zurück, aber die Stadt ist noch immer eine Festung, die es zu erobern gilt, um die Gefahr die von ihr ausgeht, ein für alle Mal zu neutralisieren.“

„Indem man sie niederbrennt?“ Es sollte keine Herausforderung sein, auch wenn es wie eine klang. Akiims Worte gingen mir einfach nicht aus dem Kopf.

Clarence zögerte einen Moment und warf dann einen Blick auf Salia. „Ich bin mir nicht sicher, ob wir das in der Gegenwart von Kindern besprechen sollten.“

Die Kleine kritzelte munter weiter. Offensichtlich fühlte sie sich nicht angesprochen.

Noor erhob sich von ihrem Platz und ging um den Tisch herum. „Komm Salia, ich zeige dir, wie man Farben herstellt.“

Sie schaute auf, in ihren Augen leuchtete die Faszination. „Wirklich?“

„Na klar. Das wird gigantisch.“

In einer Bewegung kam sie auf die Beine und wirbelte zu Sawyer herum. „Darf ich Papa? Bitte.“

Ihr kläglicher Tonfall ließ ihn schmunzeln. „Aber treib es nicht zu wild.“

Sie hob die Hand und hielt Zeigefinger und Daumen ein kleines Stück auseinander. „Nur ein kleines Bisschen.“

Aus dem Schmunzeln wurde ein Lächeln. „So ist es richtig.“

„Ja!“ Sie schnappte sich Wölkchen und eilte zu Noor, um sie an der Hand aus dem Wohnraum zu ziehen. Dabei erzählte sie, dass Weiß ihre Lieblingsfarbe war und sie lernen wollte, wie man die machte.

Clarence schaute den beiden gutmütig hinterher, bevor er sich wieder mir zuwandte. „Sawyer hat mir bereits erzählt, dass du dich in der gleichen prekären Situation wie er befunden hast.“

„Du meinst, Babys in die Welt zu setzen?“

Er nickte. „Um das alles zu verstehen, auch warum wir tun was wir tun, muss man die Geschichte von Eden kennen. Weißt du, früher haben die Edener sich nicht für die Menschen außerhalb ihrer Stadt interessiert. Natürlich, wenn sie einem von uns begegnet sind, dann haben sie uns geholfen, oder wenn wir uns ihnen anschließen wollten, haben sie uns mit offenen Armen empfangen, aber ansonsten haben sie uns in Ruhe gelassen. Sie waren nichts weiter als gute Nachbarn. Vor ungefähr vierundzwanzig Jahren hat sich das geändert. Eden machte seine Tore dicht und begann die Jagd auf uns zu eröffnen.“

„Warum?“

„Das ist die Frage. Ich weiß dass Agnes damals einen Schicksalsschlag erlitten hat, der sie zu einem solch radikalen Umdenken gebracht hat. Allerdings hilft mir dieses Wissen nur wenig, diese Frau wirklich zu verstehen.“

Nur vierundzwanzig Jahre? „Aber das Projekt Eden läuft bereits seit siebzig Jahren.“ Da war ich mir sicher. Ich wusste nicht mehr wer mir das erzählt hatte, aber ich hatte es in Eden gehört.

„Das ist richtig, aber die Tore von Eden wurden erst vor vierundzwanzig Jahren geschlossen und damals begann auch die Jagd auf die freien Menschen. Dabei beschränken sie sich auch nicht auf junge Menschen im gebärfähigen Alter, nein, sie sammeln jeden ein, der ihnen über den Weg läuft – selbst die Alten. Auch alte Menschen können noch Kinder bekommen. Sollte sich jedoch herausstellen, dass diese Leute nicht fruchtbar sind und man sie auch zu nichts anderem mehr gebrauchen kann, ist es üblich, sie zu neutralisieren, damit sie zu keiner Belastung für die Stadt werden können.“

Sowas ähnliches hatte Akiim bereits gesagt, doch ich konnte es immer noch nicht recht glauben. „Du tust so, als wären alle Menschen in Eden Monster.“

„Nein, sie sind keine Monster. Die Edener glauben wirklich an das was sie tun. Sie wollen die Menschheit retten. Die meisten von ihnen meinen es ehrlich, wenn sie dir sagen, dass sie nur helfen wollen. Es gibt aber auch andere Individuen. Sie haben das gleiche Ziel, doch verfolgen sie es rücksichtslos und nehmen auch Verluste in Kauf.“

„Wie Agnes.“

„Wie Agnes“, stimmte er mir zu. „Alles für ein übergeordnetes Wohl.“ Er seufzte und lehnte sich in seinem Rollstuhl zurück. „Leider versteht sie nicht, dass es kein übergeordnetes Wohl gibt. Wir leben alle im Hier und Jetzt und eine Zukunft, die auf Gräueltaten und den Leben anderer Menschen aufgebaut wird, ist falsch, ganz egal wie edel und hehrer die Ziele auch sein mögen.“

„Und darum willst du sie aufhalten.“

„Es geht nicht ums wollen, es geht ums müssen. Wie lange werden Leute wie ich überleben, wenn wir eine Herrschaft wie ihre zulassen? Ich mag alt sein und bin vielleicht nicht mehr zu viel zu gebrauchen, aber auch ich hänge am Leben und finde, dass ich ein Recht darauf habe. Oder siehst du das anders?“

„Nein.“

„Das habe ich auch nicht erwartet. Besonders du hast am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet einer Frau wie Agnes Nazarova Untertan sein zu müssen.“

Untertan war ein passendes Wort, wenn man bedachte, dass Agnes sich für die Königin von Eden hielt.

„Du hast in der Zwischenzeit sicher schon längst erkannt, wie trügerisch der erste Anschein sein kann. Wenn man Eden betritt, glänzt die Stadt wie ein Diamant, doch wenn man nur etwas tiefer gräbt, erkennst du schnell den Kern der Wahrheit.“

„Und was erwartest du jetzt von mir? Willst du auch etwas über das Sicherheitssystem erfahren, um anschließend kleine Kinder abzuschlachten?“

Clarence ließ ein herzliches Lachen hören. „So sehr ich Akiims Einstellung und seinen Ehrgeiz auch zu schätzen weiß, ich werde niemals erlauben, dass er unschuldige Kinder hinrichtet.“

Aha, er hatte also sofort gewusst, dass ich nur Akiims Worte wiedergab. Er schien meinen Bruder sehr gut zu kennen. „Und du glaubst er hört auf dich?“ Der leise Zweifel in meiner Stimme ließ sich nicht vermeiden.

„Er wird tun was ich sage. Und was die Sicherheitsfrage von Eden angeht … wenn ich diesbezüglich Fragen habe, werde ich mich an Sawyer wenden. Du brauchst zu dem Thema überhaupt nichts zu sagen.“

„Und was soll ich stattdessen tun?“

„Gar nichts. Gewöhn dich ein, lebe, genieß deine Freiheit. Und lass dir von Akiim nicht zu sehr auf der Nase herumtanzen.“

„Eingewöhnen?“

„Ja, eingewöhnen. Du und deine Begleiter seid herzlich dazu eingeladen bei uns zu leben. Das ist das Mindeste was ich euch anbieten kann, nachdem ihr mir meinen Sohn zurückgebracht habt.“

„Auch Killian?“ Die meisten Leute hatten ein Problem mit Leuten aus Eden. Besonders bei dieser Gruppe hätte ich mit Ablehnung gerechnet.

„Der Arzt?“ Er nickte. „Wenn es sein Wunsch ist, ist er herzlich willkommen. Er ist weder der erste, noch der einzige Mensch aus Eden, der der Stadt den Rücken gekehrt hat. Man sollte einen Menschen nicht nach seinem Geburtsort beurteilen, sondern nach dem, wer er ist. “

Also wollte auch der große Boss, dass ich blieb. Leider war ich mir nach Akiims kleiner Ansprache weniger den je sicher, ob dies ein Ort für mich war. „Das ist sehr nett, aber ich weiß noch nicht, ob ich bleiben möchte.“

Damit hatte ich nicht nur ihn überrascht. Laarni erhob eine Augenbraue, wohingegen Sawyer sie bei meinen Worten so weit zusammenzog, dass es aussah, als besäße er eine Monobraue.

Clarence neigte seinen Kopf leicht zur Seite. „Darf ich fragen warum?“

„Wegen dem was ihr hier tut“, sagte ich schlicht, fühlte mich aber gezwungen, eine etwas bessere Erklärung abzugeben, denn Sawyer wirkte mit einem Mal gar nicht mehr so zufrieden und entspannt. „Ihr befindet euch im Krieg mit Eden und ich will damit nichts zu tun haben. Ich will dieses ganze Kapitel einfach nur hinter mir lassen und nicht mit hineingezogen werden, denn ich glaube nicht, dass ihr gewinnen könnt.“

Clarence nickte, als würde er genau verstehen, was ich ihm damit sagen wollte. „Das musst du natürlich für dich selber entscheiden. Allerdings solltest du verstehen, dass ich dich eingeladen habe bei uns zu leben, nicht dich an unserem Krieg zu beteiligen.“

Aber wenn der Krieg nach hinten losging, würde er trotzdem auf mich zurückfallen.

„Spar dir die Mühe, Papa, wenn sie nicht bleiben will, lass sie gehen.“ Sawyers Augen waren kalt und plötzlich war da ein Ausdruck, den ich schon lange nicht mehr gesehen hatte. So hatte er mich damals angesehen, als wir uns kennengelernt hatten. So voller Abneigung. „Glaub mir, wir brauchen sie nicht.“

Ich versteifte mich. Wie bitte?

„Schade nur, dass dir das nicht früher klargeworden ist, dann hätten wir es uns sparen können, deinen Schrott vom Karren zu holen.“

Was bei Gaias Zorn … was war denn auf einmal in ihn gefahren?

Seine Lippen verzogen sich zu diesem widerlich arroganten Lächeln, dass ich schon vom ersten Moment an gehasst hatte. „Und du solltest dich beeilen, du weißt schon, der Winter steht vor der Tür.“

Irritiert schaute Clarence zwischen uns beiden hin und her. Laarni hatte die Stirn gerunzelt.

Ich dagegen spürte, wie der Ärger in mir zu brodeln begann. Eben noch hielt er meine Hand und jetzt auf einmal brauchte er mich nicht mehr? Vielleicht war es wirklich an der Zeit von hier zu verschwinden. „War es das denn, kann ich gehen?“, fragte ich so kalt, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn plötzlich Eiszapfen an der Decke erschien wären.

Sawyer bedachte mich mit einem spöttischen Blick. „Na was hast du denn noch erwartet? Einen roten Teppich und einen Geschenkkorb?“

So das reichte, dass musste ich mir nun wirklich nicht bieten lassen. Wortlos erhob ich mich aus dem Sessel und kehrte ihnen allen den Rücken.

„Und vergiss deinen guten Samariter nicht, wenn du verschwindest“, rief Sawyer mir noch hinterher. „Den wollen wir hier auch nicht.“

Ich biss die Zähne zusammen und ging.

 

oOo

Kapitel 40

 

Er brauchte mich nicht.

Die Tür fiel hinter mir mit einem Klicken ins Schloss. Ohne ein Ziel vor Augen, setzte ich mich in Bewegung, zu wütend, um einen klaren Gedanken zu fassen. Jetzt gerade wollte ich einfach nur weg, sowohl von Sawyer, als auch von seinen Worten.

Er brauchte mich nicht. Wochenlang hatte ich seinen wertlosen Arsch am Leben erhalten und durch die Weltgeschichte geschleppt. Ich hatte ihm geholfen Eden zu entkommen, ich hatte ihn angehalten, nicht aufzugeben, als es schwierig wurde. Ich hatte dafür gesorgt, dass er Kleidung hatte, dass Essen auf den Tisch kam und ihn mit Salia unterstützt und jetzt brauchte er mich nicht mehr?! „Verdammter Mistkerl!“

Aber natürlich brauchte er mich nicht mehr. Er war jetzt in Sicherheit, bei seiner Familie. Nun konnten sich andere um seine Bedürfnisse kümmern. Ich war damit zum überflüssigen Ballast geworden, den man einfach wegwerfen konnte.

Das machte mich wütend. Nein viel schlimmer, es machte mich wütend, weil es mich verletzte. Ich hatte ihm vertraut. Dabei hätte ich es doch besser wissen müssen. Hatte ich nach Nikita und Marshall denn nichts dazugelernt?

Dumm, einfach nur dumm.

Als ich bemerkte, wohin meine Beine mich trugen, blieb ich abrupt stehen. Vor mir öffnete sich der Gang zur großen Eingangshalle, wo bereits reger Betrieb herrschte. Auf den Gerüsten standen die Arbeiter, um die Galerie in Ordnung zu bringen. In der Hallenmitte waren die langen Tische mit den Bänken gut gefüllt. Stimmengemurmel erfüllte die Luft.

Ich musste diese Halle nur durchqueren, um sie zu verlassen. Einfach auf die andere Seite gehen und dann zur Tür hinausspazieren. Aber was dann? Wollte ich wirklich verschwinden, weil Sawyer ein riesiger Dummkopf war, dem es egal war, was er mit seinen Worten anrichtete? Dabei war doch eigentlich ich hier der Dummkopf, weil ich es mir so zu Herzen nahm.

Akiim war hier. Und ich konnte auch Wolf und Killian nicht einfach so zurücklassen. Jetzt zu verschwinden, wäre genauso dumm. Wenn ich ging, dann bestimmt nicht so kopflos und unvorbereitet. Und ganz sicher würde ich mich von Sawyer auch nicht vertreiben lassen. Wenn ich ging, dann würde das meine Entscheidung sein und ich hätte einen guten Grund.

„Kismet!“

Beim Klang meines Namens, drehte ich mich herum und sah Killian, der den Gang herunterkam. Er trug ganz ähnliche Kleidung wie Sawyer, nur das sein Hemd zugeschnürt war. Mit dem sauber rasierten Gesicht, erinnerte er mich wieder mehr an den hübschen Mann, den ich damals in Eden kennengelernt hatte – obwohl Killian immer hübsch aussah, nichts konnte ihn wirklich verschandeln.

Mit einem Lächeln kam er auf mich zu, doch mit jedem weiteren Schritt, den er sich mir näherte, verblasste es ein wenig mehr. Als er bei mir ankam, hatte es sich komplett in Luft aufgelöst. „Ist etwas passiert?“

War es wirklich so offensichtlich, dass etwas nicht stimmte? „Nein, nichts, nur … egal.“ Ich strich mir mit einer Hand über die Stirn, als könnte ich das Gehörte so einfach wegwischen. „Sawyer hat nur etwas Dummes gesagt. Nichts besonderes also.“ 

Sein Gesicht verdüsterte sich. „Was hat er jetzt schon wieder angestellt?“

„Nicht so wichtig.“

Das nahm er mir nicht ab, vielleicht weil er mich in der Zwischenzeit dafür einfach zu gut kannte. Aber er verstand auch, dass ich nicht darüber sprechen wollte. „Egal was los ist, du solltest dir darüber nicht zu sehr den Kopf zerbrechen. Du kennst Sawyer doch, er redet ohne vorher nachzudenken. Meistens meint er es nicht so.“

Das mochte stimmen, trotzdem hatte es mich verletzt. Aber das sollte es nicht. Der Mann sollte mir egal sein, genauso wie all die dummen Worte, die aus seinem Mund kamen.

„Bist du gerade mit etwas beschäftigt?“

Außer damit mir selber in den Hintern zu treten? Ich schüttelte den Kopf.

„Würdest du mich ein Stück begleiten?“

Wohin? Eigentlich war das auch egal, Hauptsache mein Hirn konnte sich mit etwas anderem beschäftigen, als mit diesem miesen Kerl. „Klar“, sagte ich und wartete, bis er eine Richtung vorgab, bevor ich mich ihm anschloss.

Er wandte sich in die Richtung, aus der er gerade gekommen war, schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und wartete, bis ich mich zu ihm gesellt hatte. Ein paar Schritte schlenderten wir schweigend nebeneinander her. Das Stimmengewirr von den Menschen aus der Halle wurde langsam leiser.

„Und wie hast du geschlafen?“

„Nicht so gut.“ Die meiste Zeit hatte ich auf dem schmalen Bett gelegen und mich von einer Seite auf die andere gewälzt. Mir war so viel im Kopf herumgegangen, dass ich einfach nicht zur Ruhe gekommen war. Außerdem war es zu still gewesen, zu einsam. Ich hatte noch nie gut schlafen können, wenn ich alleine war. Das war ein ziemlicher Widerspruch dazu, dass ich sonst ziemlich gerne allein war, aber seltsamerweise nur im Wachzustand. „Und du? Konntest du wenigstens gut schlafen?“

Er machte eine vage Bewegung mit der Hand. „Es ging. Ich scheine mich daran gewöhnt zu haben, unter freiem Himmel zu schlafen.“

Wir kamen zu der T-Kreuzung und bogen nach links ab.

„Es war komisch, in einem geschlossenen Raum zu schlafen, in dem es nicht zieht. Es war sehr still und auch ziemlich … einsam.“

Er hatte also die gleichen Probleme gehabt wie ich. Wer hätte gedacht, dass der Mann aus der Stadt irgendwann einmal die Einsamkeit vorziehen würde? „Man gewöhnt sich schnell daran, vertraute Menschen in seiner Nähe zu haben.“

Links von uns ging eine Tür auf und eine ältere Frau mit einem Kopftuch trat auf den Gang. Sie begutachtete uns einen Moment kritisch und verschwand dann in die Richtung, aus der wir gerade gekommen waren.

„Ja, wahrscheinlich.“ Er warf mir aus dem Augenwinkel einen kurzen Blick zu. „Wie kommst du damit zurecht, plötzlich wieder einen Bruder zu haben? Das ist schon ziemlich außergewöhnlich.“

Wie ich damit klar kam? Im Moment eigentlich gar nicht. Ein Teil von mir konnte immer noch nicht richtig begreifen, dass er noch lebte und wieder bei mir war. Ein anderer versuchte ihn mit dem kleinen Jungen in Einklang zu bringen, den ich verloren hatte. Beide hatten mit der Realität zu kämpfen. „Es ist schwierig. Ich erkenne ihn kaum wieder und das liegt nicht nur daran, dass er erwachsen geworden ist. Er ist so …“ Ich versuchte das richtige Wort zu finden.

„Bestimmend?“, bot Killian an.

„Ja, bestimmend. Und Herrisch. Und bevormundend. Er ist fanatisch, uneinsichtig, sturköpfig und so … so …“ Ich suchte nach weiteren Adjektiven, aber mir fielen auf die Schnelle keine mehr ein. „Er ist dumm.“ Da, das war passend. „Wir haben gestern Abend noch geredet. Er hat mir erzählt, was mit ihm passiert ist, nachdem wir getrennt worden waren. Und jetzt ist er zu diesem hasserfüllten Mann geworden. … sein einziger Lebensinhalt besteht aus Rache. Er hasst Eden und ist besessen vom Kampf gegen die Stadt. Er hat mir gesagt, er würde gerne alles niederbrennen und dabei ist es ihm völlig egal, wer zu Schaden kommen würde.“

Killian dachte über diese Worte kurz nach, bevor er sagte: „Er macht die Stadt für sein Leid verantwortlich. Er hat geglaubt, Eden hätte ihm alles genommen. Die Menschen die er liebt, sein Zuhause. Das ist seine Art, mit diesen Dingen umzugehen.“

Wir bogen an der Kurve nach rechts in den westlichen Gang ein.

„Du bist jetzt zwar wieder da, aber das zwischen euch ist noch neu und frisch. Er muss sich auch erstmal an den Gedanken gewöhnen, wieder eine Schwester zu haben.“

„Es ist viel mehr als das. Ich habe ihm erzählt, was ich über Mama herausgefunden habe und er hat mir nicht geglaubt. Und es war nicht so, dass er mir nicht glauben konnte, weil es einfach zu abwegig ist, er wollte nicht. Er hat sich strikt geweigert, auch nur in Betracht zu ziehen, dass ich die Wahrheit sage. Am Ende hat er mir sogar den Mund verboten, weil er es nicht hören wollte.“ Und dass er sich für seinen Ausbruch nicht bei mir entschuldigt hatte, nahm ich ihm schon ein wenig übel.

„Du musst verstehen, dass dieser Kampf sein Weg ist, das Erlebte zu verarbeiten. Plötzlich zu erfahren, dass etwas nicht so ist, wie er es seit Jahren glaubt, ist schwer für ihn, weil er es gar nicht mehr anders kennt. Du rüttelst an seinem Weltbild, das verdaut man nicht so einfach. Solche Dinge brauchen Zeit.“

Nein, es war viel mehr als das gewesen. Es war schwer zu verstehen, wenn man nicht selber dabei gewesen war, aber er hatte mir das Gefühl gegeben, dass meine Meinung nicht zählte, solange ich nicht seiner Meinung war.

Nachdem ich ihm gesagt hatte, dass ich mich seinem Kampf nicht anschließen wollte, war es mit dem Gespräch steil bergab gegangen. Wie er heute Morgen gesagt hatte, entweder war ich für sie, oder ich war gegen sie, ein Zwischending gab es für ihn nicht. Dass ich keine der beiden Seiten angehören wollte, hatte er nicht verstanden.

„Gib ihm Zeit, er muss sich an die neue Situation erst gewöhnen, genauso wie du. Es wird bestimmt besser werden.“

„Und wenn nicht?“ Was sollte ich dann tun? Einfach gehen und vergessen, dass ich einen Bruder hatte? Das war sicher nicht das, was unsre Eltern sich für uns gewünscht hatten. Ich hatte das schon mit Nikita durchlebt, ich wusste nicht, ob ich diesen Schmerz ein weiteres Mal ertragen konnte.

„Sieh es doch mal so: Sollte das mit euch beiden wirklich nicht funktionieren, dann hast du nichts verloren.“

„Also bleibt entweder alles beim Alten, oder ich gewinne einen Bruder dazu.“ Denn die letzten Jahre war er für mich ja schon tot gewesen. Auf eine makabrere Art ergab das sogar Sinn.

„Genau.“

Das war auch nicht unbedingt besser.

Wir bogen um die nächste Kurve, auf den Gang mit dem großen Wandgemälde, dem die Figuren zu entsteigen schienen. Dieses Stück Kunst, faszinierte mich immer noch. Es war fast, als betrete man eine andere Welt. Noor besaß wirklich ein außergewöhnliches Talent. Ich war schon froh, wenn ich einen geraden Strich hinbekam.

Ein Weilchen liefen wir schweigend nebeneinander her und hingen unseren Gedanken nach. Die Tür hinter der Clarence und seine Familie lebte, kam näher und zog an uns vorbei.  Hinter dieser Tür war Sawyer.

Meine Lippen wurden ein wenig schmaler.

Dieser Mistkerl.

Gestern noch war es unser gemeinsames Ziel gewesen, einen Ort zu finden, an dem wir uns niederlassen, oder wenigstens überwintern konnten. Jetzt hatte sich alles verändert und ich wusste nicht einmal was die nächste Stunde bringen würde. Das, was uns alle die letzten Wochen verbunden hatte, schien sich mit jeder weiteren Minute an diesem Ort in Luft aufzulösen und nichts konnte daran etwas ändern. Eine weitere Verbindung, die einfach verschwinden würde.

Als das Wandgemälde endete und wir uns der Unterkunft meines Bruders näherten, tauchte Sam am anderen Ende des Ganges auf. Sie wirkte sehr geschäftig und hatte es offensichtlich eilig. Im Vorbeigehen nickte sie uns einmal zu, hielt aber nicht an. Kurz darauf war sie im Wohnquartier des Anführers verschwunden.

Ich beobachtete sie über die Schulter hinweg, schaute dann aber wieder nach vorne, bevor ich noch über meine eigenen Füße stolperte. „Immer wenn ich sie sehe, habe ich das Gefühl, dass ich sie kennen müsste.“

„Wen? Die Frau eben?“

Wir passierten Akiims Quartier, ohne auch nur darauf zu achten.

„Sam, ja. Schon bei unserer ersten Begegnung kam sie mir bekannt vor, aber ich komme einfach nicht drauf warum das so ist. Es ist wie ein Juckreiz im Hirn, an dem ich nicht kratzen kann.“ Wirklich nervig.

Killian schmunzelte. „Sag mir Bescheid, wenn du das Rätsel gelöst hast.“

„Mache ich.“

Wir nahmen die nächste Kurve und landeten damit im Ostgang, dort wo Killian und Wolf ihre Unterkunft hatten.

„Möchtest du noch eine Runde laufen?“, fragte Killian.

Ich schaute ihn irritiert an.

„Wenn du aufgebracht bist, oder einfach mal nachdenken musst, dann bewegst du dich. Darum laufen wir gerade durch die Gänge. Ich habe gedacht, das würde dir gefallen.“ Er lächelte sein schiefes Lächeln. „Wir können uns aber auch in meine Unterkunft setzten und dort weiterreden.“ Er zeigte auf seine Tür. „Ganz wie du möchtest.“

Damit hatte er mich überrascht. Er hatte etwas bei mir erkannt, dass mir selber nicht einmal bewusst gewesen war und er hatte damit auch noch recht. „Nein“, sagte ich ein wenig verwundert. Ich fand es erstaunlich, wie gut er mich in der Zwischenzeit kannte und worauf er alles achtete. „Wir können zu dir gehen.“ So waren wir wenigstens vor neugierigen Blicken geschützt, wie von denen, die wir gerade von den beiden Männern am anderen Ende des Ganges bekamen.

„Na dann komm.“ Er ging voran.

Ich folgte ihm, immer noch mit diesem Gedanken beschäftigt. Wie lange kannte ich Killian jetzt? Es waren knapp vier Monate. Anfangs hatten wir zwar nicht viel Zeit miteinander verbracht, aber seit meiner Flucht waren wir jeden Tag zusammen gewesen. Es war also nicht verwunderlich, dass er so einiges aufgeschnappt hatte. Er war immer bemüht und kümmerte sich. Allerdings kannte ich ihn nicht mal annähernd so gut wie er mich. Das war … traurig.

Immer ging es um mich und meine Probleme. Natürlich achtete ich auch auf ihn, aber trotzdem schien er auf der Strecke zu bleiben. Dabei war ich doch sonst nicht so egoistisch und selbstbezogen.

Killian öffnete die Tür und ließ mich als erstes hinein. Da ich bereits gestern hier gewesen war und alles mit eingeräumt hatte, wusste ich, dass ein paar Möbel hinzugekommen waren, trotzdem hatte sich eine Kleinigkeit verändert.

Die Nachtlager für Killian und Wolf, hatten wir in den kleinen Zimmern aufgeschlagen, aber nun lag eines davon hier im Wohnraum, dort wo gestern noch der einsame Stuhl gestanden hatte.

„Wer schläft hier?“

„Ich.“ Killian trat hinter mir in den Raum und schloss die Tür.

Etwas verwundert drehte ich mich zu ihm um. „Du hast dein Lager hier vorne aufgeschlagen?“

„Mir war nicht so danach, in einer kleinen, düsteren Kammer zu schlafen, in der es seltsam riecht und nicht mal ein Fenster gibt.“

Das konnte ich verstehen, auch ich war von meinem Quartier nicht besonders angetan. Und wieder musste ich feststellen, dass Killian zurücksteckte, damit es den anderen gut ging. Hätte er das andere Zimmer bekommen, würde er jetzt sicher nicht hier schlafen.

„Willst du etwas trinken? Oder Essen?“

„Nein, danke.“ Ich schaute dabei zu, wie er zu dem kleinen Schrank neben dem Ofen ging und sich dort ein Glas Wasser einschenkte. „Wo ist Wolf?“

„Ich weiß nicht, er ist direkt nach dem Aufstehen verschwunden.“

Vielleicht stellte er ja Laarni nach. „Wie kommst du eigentlich mit all dem klar?“

„Du meinst mit deinem Bruder?“ Er stellte den Wasserkrug zur Seite, direkt neben die Schnapsflasche, die Balic mir zum Abschied gegeben hatte und nahm den Becher zur Hand. „Ich weiß nicht. Er scheint ein Mann mit Prinzipien zu sein.“ Er setzte sein Becher an und trank sein Wasser in einem Zug leer.

„Nein, ich meine mit allem.“ Ich ging zu seinem Lager und ließ mich im Schneidersitz darauf nieder. „Die Reise, deine Unterkunft hier.“ Fast hätte ich ihn auch noch nach Eden gefragt, aber das wollte ich eigentlich gar nicht so genau wissen.

Mit einem prüfenden Blick auf mich, stellte er den Becher zurück. „Mir geht es gut.“

„Das sagst du immer.“

„Na was soll ich denn sonst sagen? Ich kann ja nicht behaupten, es geht mir schlecht, wenn es nicht so ist.“ Er kam zu mir herüber und setzte sich neben mich, mit dem Rücken an die Wand. „Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass es nicht manchmal schon ein wenig schwierig ist. Das Essen war in Eden auf jeden Fall besser und manchmal, wenn es regnet, würde ich lieber in einem trockenen Raum sitzen, aber ich habe auch viele interessante Dinge zu sehen bekommen, die Eden nicht bieten kann.“

„Du findest dieses neue Leben also gut?“

Dieses Mal antwortete er nicht gleich, sondern überlegte erst. „Es gibt Aspekte, die ich vermisse. Und auch einige, die ich fürchte.“

„Was fürchtest du denn?“

Die sanfte Mimik verschwand und sein Blick glitt an mir vorbei. Die Hände auf seinen Beinen verkrampften sich, als erinnerte er sich an etwas Schlechtes. „Ich fürchte mich vor dem, was aus mir werden könnte“, sagte er leise. „Als diese Banditen uns überfallen haben … ich habe nicht geglaubt, dass ich zu sowas fähig wäre.“

Er sprach davon, dass er den rothaarigen Mann getötet hatte, um mich zu retten. Das war etwas, an das auch ich mich nicht gerne erinnerte.

Die ersten Tage nach dem Vorfall, hatte ich jede Art von Berührung gescheut, ganz egal von wem sie gekommen war. Selbst bei Salia war es mir schwergefallen, mich von ihr anfassen zu lassen. Erst die letzten Tage zuckte ich nicht mehr jedes Mal zusammen, wenn mich jemand absichtlich, oder unabsichtlich anfasste. „Jeder ist zu so etwas fähig, wenn es die Situation erfordert, das macht einem noch lange nicht zu einem schlechten Menschen.“ Ich legte meine Hand auf seine und schloss meine Finger darum. „Und du hast es getan um mir zu helfen. Ich glaube, ich habe mich dafür noch gar nicht bei dir bedankt.“

Er drehte seine Hand und verschränkte seine Finger mit meinen. „Ich habe es tun müssen, ich konnte das nicht zulassen.“

Genau wie ich nicht hatte zulassen können, dass die Kerle ihm etwas taten. Nur leider war ich im Gegensatz zu ihm gescheitert. „Auch wenn es sich so anfühlt, du hast nichts Falsches gemacht.“

„Da bin ich mir leider nicht so sicher wie du. Ich meine, ich hätte auch versuchen können ihn anders auszuschalten. Ich bin Arzt, ich rette Leben und beende sie nicht, aber als ich sah, was dieser Kerl dir antun wollte … ich habe einfach nicht nachgedacht.“

Das hätten die wenigsten in so einer Situation getan. „Eine Tat macht keinen Menschen aus. Du bist immer noch Arzt und kannst viel Gutes tun. Denk doch nur mal daran, wie vielen Menschen du auf dem Markt geholfen hast.“

Ein ironisches Lächeln zupfte an seinem Mundwinkel. „Bin ich das wirklich noch?“ Er schaute mich wieder an. „Ich meine, ich liebe diese Arbeit und war auch immer gerne Arzt, aber hier kann ich es nicht sein.“

„Warum denn nicht? Du könntest doch Arzt bei den Rebellen werden. Nach einem aussichtlosen Kampf brauchen die sicher jemanden, der sie wieder zusammenflickt.“

„Ich glaube nicht, dass sie mich hier haben möchten.“ Geistesabwesend begann er mit dem Daumen kleine Kreise auf meinem Handrücken zu ziehen. „Du weißt doch, uns Menschen aus Eden vertraut man hier draußen nicht.“

„Da täuschst du dich.“

Er hob eine Augenbraue, ein eindeutiges Zeichen, seines Unglauben.

Da sollte ich wohl ein wenig genauer ins Detail gehen. „Ich war vorhin zu einem Gespräch bei Clarence. Er hat mich kennenlernen und sich bei mir bedanken wollen – du weißt schon, weil wir diesen Mistkerl Sawyer zurückgebracht haben.“

Nun verzogen sich seine Lippen zu einem Schmunzeln. „Ich wüsste wirklich zu gerne, was er schon wieder angestellt hat.“

Darauf ging ich gar nicht ein. „Er hat mir – und auch dir und Wolf – angeboten, hier zu bleiben und bei ihnen zu leben.“

Damit hatte ich ihn überrascht.

„Wenn wir wollen, können wir bleiben und wir müssen uns auch nicht an diesem sinnlosen Krieg beteiligen. Wir dürfen einfach nur hier, naja, leben.“

„Das hat er gesagt?“

Ich nickte. „Sawyer wird auf jeden Fall bleiben, seine Familie ist schließlich hier. Was Wolf machen wird?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich denke, er wird sich mir anschließen, ganz egal, wofür ich mich entscheide. Bei dir? Ich weiß nicht, das musst du für dich selbst entscheiden, aber du sollst wissen, dass du hier willkommen bist.“

Er neigte den Kopf und musterte mich, als suchte er etwas. „Was möchtest du denn?“

„Ich?“ Das war eine Frage, die ich mir schon mehrmals gestellt hatte, ohne eine klare Antwort darauf zu finden. Es gab dabei so viel zu bedenken. Akiim war hier und er war Familie, darum sollte ich wohl erstmal bleiben. Wenn ich allerdings an sein Verhalten dachte, oder auch an Nikita, musste ich mir eingestehen, dass Familie nicht viel bedeutete. Vielleicht wäre es wirklich besser, nur hin und wieder zu Besuch zu kommen.

„Möchtest du, dass ich bleibe und einer von ihnen werde?“

Er wollte gar nicht wissen, wie ich mich entschieden habe, er wollte, dass ich entschied, ob er bleiben und Eden für immer den Rücken kehren sollte. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich das Angebot annehmen konnte, wie sollte ich das da für ihn entscheiden?

Als Killian sich ein wenig drehte und mich dabei eindringlich ansah, wurde mir mit einem Mal klar, dass seine Frage auf etwas ganz anderes abzielte. Es war nicht nur die Berührung, es war auch die Art, wie er mich auf einmal anschaute.

„Willst du, dass ich bei dir bleibe?“

Meine Augen wurden ein wenig größer. Oh Gaia, er wollte gar nicht wissen, ob ich hierbleiben wollte, oder ob er hierbleiben sollte, er wollte wissen, ob ich ihn wollte. Damit überraschte er mich so sehr, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Der Gedanke, ihn allein für mich zu haben, hatte etwas Verführerisches. Dagegen ließ der Gedanke, ihn irgendwann wieder an Eden, oder jemand anderen zu verlieren, mein Herz bedrohlich schneller schlagen.

War das vielleicht schon die Antwort, die er suchte?

„Ich …“ Ja was ich?

Killian beobachtete mich ganz genau und auf einmal veränderte sich die Stimmung zwischen uns. Seine Hand löste sich von meiner, fuhr mit zarten Fingern meinen Arm hinauf, strich mir über den Hals und legte sich auf meine Wange. „Du musst jetzt keine Antwort darauf haben“, sagte er leise. Sein Gesicht kam näher, sein warmer Atem traf meine Haut und mit einem Mal beschleunigte sich mein Puls.

Meine Augenlider senken sich, als seine Lippen meinen Wangenknochen streiften und eine brennende Spur hinterließen.

„Aber du solltest darüber nachdenken.“

Noch nie hatte er so deutlich seine Absichten gezeigt. Er drängte mich nicht, aber er wollte mehr. Er wollte eine Entscheidung. Leider wusste ich im Moment nicht, wie diese Entscheidung ausfallen würde, denn seine Nähe vernebelte mir gerade ein wenig das Hirn.

„Versprich mir, dass du darüber nachdenken wirst“, verlangte er. Er war so nahe.

Mit jedem Atemzug, sog ich seinen Geruch tief in meine Lungen. Mir wurde schwindelig, aber auf die gute Art und meine Hormone begannen eine Party zu feiern.

„Versprich es mir.“

„Ich verspreche es“, hauchte ich.

Als sei dies das Zeichen, auf das er gewartet hatte, überwandte er die Lücke zwischen uns und verschloss meinen Mund mit seinen Lippen.

Diese erste Berührung war weder samtweich noch zärtlich. Er küsste mich, als würde er sich schon lange danach sehnen und weckte damit eine Begierde, die tief in mir geschlafen hatte. All meine Sinne erwachten und blühten auf. Es war genauso wie damals in seiner Praxis. Auf einmal war da nur noch er und der Wunsch, das Gefühl seiner Nähe nicht mehr zu verlieren.

Es war so lange her, dass ich einen Mann auf diese Art gespürt hatte und ich hatte das vermisst. Ich sehnte mich nach körperlicher Nähe und er war hier und bereit sie mir zu geben.

Sein Kuss nahm mich gefangen. Dabei hielt er mich fest, als hätte er Angst, ich könnte einfach verschwinden. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte das hier so dringend, wie schon lange nichts mehr. Einfach einen Moment, in dem ich mich gut fühlen und all meine Probleme vergessen konnte. Hier und jetzt wollte ich mich in ihm verlieren.

Ich erwiderte den Kuss mit gleicher Intensität, hob die Hände, um ihn zu berühren, spürte die kleinen Stoppeln auf seinen Wangen. Meine Augen schlossen sich, denn ich wollte ihn noch viel intensiver fühlen, doch in diesem Moment drängte sich ungefragt das Bild von einem ganz anderen Mann vor mein inneres Auge, einem rothaarigen Mann, der sich einfach nehmen wollte, was er begehrte.

Ich erstarrte und riss die Augen wieder auf. Plötzlich schlug mein Herz aus einem ganz anderen Grund so schnell und seine Nähe wurde von etwas Abscheulichem überschattet. Kurz war ich versucht mich von ihm loszureißen.

„Schhh“, machte Killian, schob seine Hand in meinen Nacken und strich mit den Fingern durch mein kurzes Haar. Ob ihm klar war, was gerade geschah, wusste ich nicht, doch sein Kuss wurde sanfter, ließ die Stellen, die er berührte, kribbeln. Er biss mir verspielt in die Unterlippe, berührte sie mit der Zunge, als wollte er mich zum Spielen auffordern.

Sowas hatte der rothaarige Kerl nicht gemacht. Das hier war Killian und Killian würde niemals etwas gegen meinen Willen tun. So war er nicht. Ich konnte ihm vertrauen, konnte das hier genießen und mich gehen lassen.

Trotz dieses Wissens, dauerte es ein wenig, bis die Gedanken an den Widerling aus meinem Kopf verschwanden und ich mich im hier und jetzt wiederfand. Ich konzentrierte mich auf seine Berührungen, darauf wie nahe er war und wie er schmeckte. Ich wollte das hier, wollte ihn und blendete alles andere aus.

Meine Hände griffen nach seiner Brust, strichen daran hinauf und schlangen sich um seinen Hals. Ich zog ihn näher an mich, beobachtete ihn unter halbgesenkten Augenlidern und fand in seiner Nähe zu den Gefühlen zurück, die ich so begehrte.

Seine Hand fuhr meinen Hals hinab, streifte meine Brust, als wäre es nur ein Zufall und legte sich auf meine Taille. Seine Lippen zogen einen Pfad über meinen Hals und drückten einen Kuss auf meinen schnell schlagenden Puls. Ich spürte wie diese Berührung meine Haut kribbeln ließ.

„Davon habe ich geträumt“, murmelte er und beanspruchte meine Lippen wieder für sich. Seine Hände glitten an mir hinauf und versuchten mir die Weste von den Schultern zu schieben.

Ich wollte die Arme eigentlich nicht von ihm nehmen, aber ich war der gleichen Meinung wie er: Wir hatten eindeutig zu viel an. Also riss ich sie mir kurzerhand alleine von den Schultern, schlang meine Arme dann wieder um seinen Hals und vergrub meine Hände in seinem Haar. Gleichzeitig beschloss ich, das letzte Stück zwischen uns zu schließen, indem ich ein Bein über seine Hüfte schwang und mich rittlings auf seinen Schoß setzte.

Killian stöhnte, als ich mein Becken dabei gegen seine bereits steife Erektion drückte. Er griff nach meiner Taille, schob seine Hände an mir hinauf und wanderte dann wieder nach unten. „Seit ich dich kennengelernt habe, verfolgst du mich bis in den Schlaf.“

Ich schob meine Hände über seine Brust, küsste seinen Hals, sodass er den Kopf heben musste und atmete mit jedem Atemzug seinen männlichen Duft ein. Er benebelte meine Sinne und vertrieb alle bösen Gedanken.

„Dieser Tag in meiner Praxis, ich bekomme ihn nicht aus dem Kopf. Er verfolgt mich, sobald ich dich sehe.“ Langsam schob er seine Hände unter meine Tunika, berührte die nackte Haut an meinem Rücken und hinterließ brennende Spuren. „Sag mir, dass du auch immer daran denken musst.“

„Ja.“ Zumindest am Anfang hatte ich das häufig getan, in der letzten Zeit nicht mehr so. Aber ich wusste genau, dass würde sich nun wieder ändern. Killian wusste was er tat und genau wie beim letzten Mal, würde das einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen.

Als ich ihm nicht allzu sanft ins Schlüsselbein biss, keuchte er und drückte mich ein wenig fester an sich. Ich stöhnte, als er sich an mir rieb und kleine Blitze durch meinen Körper schossen. Das fühlte sich so gut an.

Ich griff nach dem Saum seines Hemdes. Ich wollte seine Haut spüren, aber dieses Ding war eindeutig im Weg. „Zieh das aus“, verlangte ich und zog daran.

Er leistete keinen Widerstand, half mir dabei, ihn von diesen störenden Stück Stoff zu befreien, wollte diesen Kontakt genauso sehr wie ich.

Das Hemd landete achtlos irgendwo neben dem Lager und unsere Lippen fanden wieder zueinander.

Das Herz in meiner Brust schlug wie wild, als ich spürte, wie er sich hart gegen meine Mitte presste und ein Blitz der Erregung zuckte durch meinen ganzen Leib. Ich stöhnte, was ihn dazu brachte, die Bewegung zu wiederholen.

Mit einer Hand hielt er mich gegen sich gepresst, während er sein Becken bewegte. Sein Begehren war mehr als deutlich.

„Oh Gaia“, stöhnte ich. Das fühlte sich fantastisch an. Ich begann mich im gleichen Rhythmus zu bewegen, hielt mich an ihm fest, während unsere Lippen miteinander tanzten.

Seine Hand glitt wieder unter meine Tunika, schob sich vorne an mir hinauf und strich über meine Brust. Erst nur vorsichtig, als sei es unbeabsichtigt, aber dann umkreiste er sie, legte seine große Hand darauf und begann sie zu massieren.

Meine Brustwarzen richteten sich auf und drückten sich gegen das Hemd. Die leichte Reibung ließ sie auf angenehme Art schmerzen.

Blitze der Erregung ließen meine Haut enger werden. Ich spürte wie mein Herzschlag sich beschleunigte und Hitze in mir aufstieg. Der Kuss wurde drängender, intensiver und verband uns. Ich wollte, dass es niemals wieder aufhörte. Er sollte mir gehören. Hier und jetzt war er mein und ich wollte alles, was er zu geben hatte.

„Hör nicht auf“, keuchte ich, als seine Lippen sich von meinen lösten und erneut einen Pfad über meinen Hals zogen. Ich warf den Kopf in den Nacken, als er tiefer ging und seine Lippen sich über dem Stoff um meine Brustwarze schlossen. Gleichzeitig drückte er seine Härte gegen meine Mitte und ließ mich stöhnen. „Killian.“

Sein Name aus meinem Mund schien ihn anzuspornen.

Ich spürte den Sog und seine Zunge und schloss die Augen, um es noch intensiver zu fühlen, doch sofort stand mir wieder das Bild vom dem rothaarigen Widerling vor Augen, sodass ich sie wieder aufriss und meinen Blick auf Killian richtete. Ich durfte sie nicht schließen, ich musste mich unter Kontrolle halten und auf ihn konzentrieren. Wenn ich wegdriftete, versuchte die Vergangenheit in meinen Kopf einzudringen.

Darum hielt ich mich an ihm fest, blieb mit meinen Gedanken ganz bei ihm. Im Moment zählte nur er, seine Nähe, sein Geruch, das Gefühl seine Hände und seines steifen Glieds. Er war hier, bei mir, mehr wollte ich nicht. Meine Haut erhitzte sich, mein ganzer Körper schien aus einem tiefen Schlaf zu erwachen. Er lechzte geradezu nach diesem Mann.

All meine Gedanken verflüchtigten sich aus meinem Kopf. Da war nur noch dieser männliche Körper, der sich so gut anfühlte, wie schon lange nichts mehr. Das Bedürfnis nach mehr wurde immer stärker, deswegen konnte ich auch gar nicht anders, als einen enttäuschten Laut von mir zu geben, als er seine Lippen von meiner Brust löste und den feuchten Fleck auf meiner Tunika anstarrte. Nein, nicht den Fleck, die Brustwarze, die sich deutlich unter dem Stoff abzeichnete. Seine Pupillen hatten sich erweitert, der Blick war verschleiert

„Nicht aufhören.“ Meine Stimme klang rau. Ich drückte mich wieder gegen ihn, was ihm ein Ächzen und mir ein kleines Lächeln entlockte.

„Wenn du nicht ein wenig langsamer machst, ist das hier ganz schnell vorbei“, murmelte er, hob sein Gesicht wieder zu meinem und küsste mich erneut. Sein Daumen begann über meine Brustwarze zu reiben, die andere Hand schob er hinten in meine Hose und packte meinen Hintern. Gleichzeitig stellte er ein Bein auf, wodurch ich meine Position verändern musste und plötzlich fühlte ich ihn noch intensiver.

Ich stöhnte in seinem Mund, strich über seinen Bizeps, der muskulösen Brust, den Bauch hinunter. Seine Haut zuckte unter meinen Berührungen, als ich am Saum seiner Hose entlangstrich. Ich wollte hineingreifen, wollte ihn umfassen, aber dazu hätte ich ein Stück abrücken müssen und das wollte ich nicht. Also tat ich das, was ich konnte. Ich löste meinen Mund von seinem und begann seine Brust zu küssen, zog eine Spur mit meinen Lippen und genoss seine Reaktion. Die abgehakten Atemzüge, den schnellen Herzschlag und wie der Griff um meinen Hintern immer fester wurde.

Er ließ von meiner Brust ab und packte mich an der Taille, während er mich beobachtete. Seine Lippen waren von unseren Küssen leicht geschwollen, sein Haar hatte ich zerzaust und sein Becken drängte nach wie vor gegen mich, obwohl er versuchte sich etwas zurückzunehmen.

Zu seinem Pech wollte ich das aber nicht. Ich wollte ihn wild und ungezügelt, wollte mich einfach fallen lassen und frei fühlen. Darum zwickte ich ihm mit den Zähnen vorsichtig in die Brustwarze – bei Tavvin hatte das immer gut funktioniert.

Er erstarrte.

Plötzlich setzte er sich auf, griff nach dem Saum meiner Tunika und riss sie mir ohne Rücksicht auf Verluste, über dem Kopf. Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, wie er mich in meinem Kreuz und am Bein packte. Im nächsten Moment lag ich auf dem Rücken und seine Lippen drückten sich gierig auf meine.

Ich hatte ihn ja wild und ungezügelt gewollt.

Meine Arme schlangen sich um seinen Nacken, meine Beine öffneten sich für ihn, damit er dazwischen rutschen konnte. Als ich sein Gewicht auf mir spürte, wurde der Kuss drängender. Ich spürte seine Hände auf meinem Körper, fühlte seinen Hunger nach mir und seine heiße Haut, die sich gegen meine presste.

Seine Lippen lösten sich von meinen, küssten mein Kinn, mein Hals, mein Schlüsselbein. Seine Hand strich zwischen meinen Brüsten entlang, ohne sie zu berühren. Es war eine süße Qual.

„Hiervon habe ich geträumt“, hauchte er direkt an meiner Haut. Seine Lippen berührten meine Brustwarze, meine Augen schlossen sich halb und ich bog den Rücken durch.

Unwillkürlich griff ich nach seinen Schultern, denn ich brauchte etwas an dem ich mich festhalten konnte.

„Ich habe geträumt dich so zu berühren, nur um dann aufzuwachen und festzustellen, dass es nicht real ist.“ Er küsste auch meine andere Brust. Sein heißer Atem strich über meine Haut, als er auf die feuchte Brustwarze pustete. „Aber das hier ist kein Traum.“

Er rieb sein Gesicht daran, setzte einen Kuss zwischen meine Brüste, dann einen auf meinen Bauch. Er ging immer tiefer. Kühle Luft strich über meine erhitzte Haut, fühlte die zarten Berührungen seiner Lippen.

Seine Hände glitten tiefer, nestelten am Verschluss meines Gürtels, bis er sich löste. Er warf ihn achtlos zur Seite, liebkoste die Haut an meinem Bauch, während er nach dem Bund meiner Hose griff und begann das Band zu lösen. Jede seiner Berührungen, sandte kleine Stromstöße in mich hinein. Das Band öffnete sich. Er zog den Bund meiner Hose ein kleinen wenig hinunter, küsste die freigewordene Stelle und ließ sie kribbeln.

Wieder bog ich den Rücken durch, streckte die Arme über meinen Kopf aus und versuchte irgendwo halt zu finden. Meine Mitte begann verlangend zu pochen. Meine Beine zitterten leicht. Gleich würde er mich dort berühren. Oh Gaia, bitte, ich wollte dass er mich dort berührte, um mich in dieser wundervollen Qual zu verlieren.

„Du bist so wunderschön.“ Fast schon ehrfürchtig, zog er den Bund meiner Hose tiefer. Ein vorsichtiger Biss, ein sanfter Kuss. Mein Atem wurde schneller.

Meine Zehen krümmten sich in Erwartung auf das was folgen würde.

„Verschwinde!“

Überrascht und verwirrt von Killians Ausruf, richtete ich meinen Blick genau in dem Moment auf ihn, als mir der Ärmel meiner Tunika mitten ins Gesicht schlug.

Was zur …

Ich richtete mich ein wenig auf, während Killian hektisch versuchte, meine Blöße mit dem Kleidungsstück zu bedecken. Seine plötzliche Verärgerung galt jedoch nicht mir, sondern der offenen Tür, in der Sawyer mit versteinerter Mine stand.

Das konnte doch wohl nicht wahr sein!

Sawyers Blick war starr auf uns gerichtet. Seine Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Lächeln, doch seine Augen blieben kalt. „Störe ich etwa?“

„Ja, tust du“, knurrte Killian und versicherte sich mit einem kurzen Blick auf mich, dass ich auch bedeckt war. Dann funkelte er Sawyer wieder an. „Also sieh zu, dass du wegkommst.“

Ich ließ mich zurück auf den Rücken fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Das konnte nur ein schlechter Scherz sein. Ich lag hier mit erhitzter Haut, begierig und erregt und wollte nichts sehnlicher, als mich in diesen Gefühlen zu verlieren und schon wieder wurden wir unterbrochen. Und das ausgerechnet von Sawyer. Das Universum war wirklich ein Arsch.

„Nein“, sagte Sawyer nonchalant, kam hereingeschlendert, ohne die Tür wieder zu schließen und setzte sich auf den einzigen Stuhl im Raum. So hatte er einen super Zuschauerplatz. „Ich muss mit Kiss sprechen. Aber macht ruhig weiter, ich warte hier solange, bis ihr fertig seid. Ich werde mir auch kein Urteil erlauben, versprochen.“ Er überlegte kurz. „Naja, vielleicht doch, aber ich werde es für mich behalten.“

Killian vibrierte praktisch vor Ärger und wäre er dazu in der Lage, hätte er in diesem Moment wohl einen Blitz auf Sawyer niederfahren lassen. Da ihm das aber nicht möglich war, sprang er auf die Beine und marschierte ungeachtet der Beule in seiner Hose, direkt auf Sawyer zu.

Dieser erhob sich in dem Moment wieder, sodass sie sich Auge in Auge gegenüberstanden. Der eine wütend, der andere eiskalt.

„Entweder du gehst freiwillig, oder ich werde dich zwingen“, drohte Killian.

„Na das will ich sehen.“ Sawyers Stimme war leise, doch die Herausforderung darin war nicht zu überhören.

Killians Hände ballten sich zu Fäusten.

„Verdammt noch mal!“ Verärgert setzte ich mich auf und zog mir meine Tunika über den Kopf. Ein einziger Moment mit diesem Mann im selben Raum und meine ganze Stimmung war dahin. Dass die beiden kurz davor waren sich zu prügeln, half da auch nicht gerade.

Sawyer beobachtete beinahe gleichgültig, wie ich aufstand und meine Hose wieder zuband, Killian dagegen ziemlich ernüchtert. Er kam zu mir, als ich meine Weste und mein Gürtel mit dem Messer vom Boden aufklaubte.

„Nein, warte, geh nicht. Wir …“

„Tut mir leid, mit diesem Mistkerl bleibe ich nicht freiwillig in einem Raum.“ Ich funkelte Sawyer wütend an. „Da gehe ich doch lieber zurück zu den Trackern.“

Kurz flackerte ein Gefühl in Sawyers Augen auf, verschwand aber wieder, bevor ich es deuten konnte.   

„Kismet.“ Killian versuchte mich am Arm zu greifen, aber ich wich ihm aus. Plötzlich wollte ich nur noch raus hier und zwar ganz schnell.

Leider war ich nicht schnell genug, denn gerade als ich durch die Tür treten wollte, verstellte Sawyer mir den Weg. Direkt vor ihm blieb ich stehen und spürte wieder die Enttäuschung in mir aufsteigen, als ich ihm ins Gesicht schaute. Was er gesagt hatte, tat immer noch weh. „Lass mich durch.“ Sonst würde ich ihn genauso verletzten, wie er es mit mir getan hatte.

Er ließ mich nicht durch, er schüttelte nur den Kopf. „Glaubst du wirklich, dass du mit diesem Kerl glücklich werden kannst?“

„Was geht dich das an? Du brauchst mich ja nicht mehr.“ Ich versuchte mich an ihm vorbeizudrängeln, doch er griff nach meinem Arm und hielt mich fest. „Nimm deine Pfoten von mir.“

„Lass sie sofort los“, knurrte nun auch Killian und kam drohend auf uns zu.

Sawyer beachtete ihn gar nicht, aber in seinem Gesicht veränderte sich etwas. Die Kälte wich und ein fast entschuldigender Ausdruck erschien darin. „Es tut mir leid“, sagte er eindringlich. „Ich hätte das nicht sagen sollen, es war einfach nur bescheuert gewesen. Ich habe es nicht so gemeint.“

„Aber du hast es gesagt.“ Ich riss mich von ihm los. „Und hör auf, mich ständig anzutatschen.“

In dem Moment war Killian neben uns. Er stieß Sawyer vor die Brust, sodass der mit dem Rücken gegen den Türrahmen knallte.

Nun wurde auch Sawyer wütend. Er schlug Killians Arme weg und gab ihm seinerseits einen groben Stoß vor die Brust.

Bevor Killian zurückschlagen konnte, griff ich nach seinem Arm und hielt ihn fest. „Nicht.“ Ich wollte nicht, dass die beiden sich prügelten, so sehr Sawyer eine Abreibung auch verdient hätte. „Bitte, mach das nicht.“

Killians Fäuste öffneten und ballten sich, der Zug um seine Lippen war verkniffen und seine Augen zeigten mir, wie sauer er war, doch dann trat er einen Schritt zurück.

Sawyer starrte auf meine Hand, die Killian festhielt und seine Lippen pressten sich aufeinander.

Ich hatte genug von ihm. Ich hatte genug von allem hier. Darum ließ ich Killian los und verschwand mit einem „Wir sehen uns später“, aus dem Raum. Aber nur weil ich ihn jetzt nicht mehr sah, bedeutete das noch lange nicht, dass meine Wut einfach verrauchte. Es tat ihm also leid, ja? Und das sollte ich ihm glauben? Wahrscheinlich hatte sein Vater ihm einfach nur gesagt, wie fies er gewesen war und ihn gezwungen, sich bei seiner Retterin zu entschuldigen. Das würde jedenfalls viel eher …

„Ufff.“ Ich rannte gegen eine feste Männerbrust und stolperte einen Schritt zurück. Vor mir stand Akiim und hob eine Augenbraue. Dann sah er meinen Gesichtsausdruck und sie zogen sich zusammen.

„Geht es dir gut?“

Ich warf einen Blick über die Schulter. Killian stand im Türrahmen seiner Unterkunft. Sawyer marschierte gerade in die entgegengesetzte Richtung davon. „Bestens“, knurrte ich.

Mein Bruder musterte mich, schaute dann zu Killian und anschließend weiter zu dem sich entfernenden Sawyer. Ihm musste klar sein, dass gerade etwas vorgefallen war, aber er war schlau genug, meine Geduld nicht auf die Probe zu stellen und nachzubohren. „Ich habe dich gesucht.“

„Du hast mich gefunden.“

Mit zusammengepressten Lippen, ging Killian zurück in sein Quartier. Jeder andere hätte die Tür hinter sich ins Schloss geschmissen, nicht so Killian. Er schloss sie ganz leise.

„Wenn du gerade nichts zu tun hast, könnte ich deine Hilfe gebrauchen.“

Eigentlich war mir im Moment nicht danach, irgendwem zu helfen. Ich wollte viel lieber etwas in Stücke hauen, aber das wäre bei den Leuten hier sicher nicht gut angekommen. „Na dann, ich bin dein Mann.“ Oder seine Frau. Wie auch immer, ein wenig Ablenkung konnte sicher dabei helfen mich abzureagieren. Und wenn nicht, konnte ich mich noch immer auf die Suche nach Sawyer machen und ihm kräftig den Hintern versohlen.

„Dann komm, wir müssen ins Lager ein paar Sachen holen.“

„Geh voran.“

Er schien noch etwas sagen zu wollen, behielt es dann aber doch für sich und schlug die Richtung ein, in die auch Sawyer gerade verschwunden war.

Sawyer der Mistkerl, dem es leidtat.

Von wegen.

 

oOo

Kapitel 41

 

Mit einem unheimlichen Knarzen, wie es in jede Gruselgeschichte gehörte, zog Akiim die rostige Tür des Lagers auf. Leider bewegte sie sich schon nach einem Fuß nicht mehr, sodass er sich mit der Schulter dagegenstemmen musste, aber selbst dann ließ sie sich nur widerwillig aufdrücken.

„Warte draußen“, forderte er mich auf, als er hinein ging. „Hier steht so viel Gerümpel herum, dass … Au!“ Fluchend rieb er sich über das Knie, mit dem er gerade gegen die Holzkiste gestoßen war.

Ich grinste. „Ich glaube, ich verstehe, was du mir sagen wolltest. Eine einfache Warnung hätte aber auch gereicht.“

„Sehr witzig“, grummelte er und schob die Kiste mit dem Fuß zur Seite.

Ich blieb in der Tür stehen und beobachtete von meinem sicheren Platz aus, wie er sich in den großen Raum zu dem Gerümpel an der hinteren Wand durchkämpfte und dort einige große Holzplatten von Spinnenweben befreite. „Eure Putzfrau hat wohl gekündigt.“

„An dir ist wohl ein Komiker verloren gegangen.“ Er schnappte sich eine der großen Platten und kam damit zu mir. „Hier, mach dich nützlich“, sagte er und drückte sie mir in die Hand.

Da ich nicht wusste, was ich sonst damit anfangen sollte, lehnte ich sie neben der Tür an die Wand und sah dabei zu, wie er die nächste holte.

Drei Stück schleppte er nach vorne. „Die Bänke holen wir danach, die Tische sind schon schwer genug.“

Das waren Tische? „Da fehlen die Beine.“

„Nein tun sie nicht, die Beine kann man ausklappen.“ Er schob ein paar Säcke zur Seite und nahm dann eine Kiste aus einem Regal, mit der er herauskam. „Die kannst du tragen“, sagte er und drückte sie mir in die Hand. Darin waren alle möglichen Werkzeuge.

Nachdem er die Tür wieder geschlossen hatte, hievte er sich mit einiger Anstrengung alle drei Tische gleichzeitig auf den Rücken und marschierte über den matschigen Vorplatz des Centers auf den Eingang zu.

„Weißt du, wir können auch zwei Mal gehen, so weit ist der Weg nicht.“

„Geht schon“, ächzte er irgendwo unter seiner Last.

Das war wohl wieder einmal das männlicher-Ego-Syndrom, eine eigenartige Wesenheit, die in jedem Mann wohnte. Sie kannte nichts anderes als protzen und kühn durch die Gegend zu stolzieren, damit alle sie bewunderten.

Mir sollte es egal sein, war ja nicht mein Rücken, der dabei zu Bruch ging.

Die Zeit die wir brauchten, um in die Halle zu gelangen, hätte auch gereicht, um jeden Tisch einzeln zu tragen. Ständig mussten wir anhalten und die Tische wieder neu ausrichten und davon, dass ich ihm einen abnehmen konnte, wollte er nichts hören. Doch am Ende erreichten wir die Halle, schleppten die Tische und das Werkzeug in die Mitte und ich half ihm dabei, sie von seinem Rücken zu bekommen.

Als er sich mit einem Ächzen wieder aufrichtete, enthielt ich mich jeglichen Kommentars – die wären sicher nicht gut bei ihm angekommen.

Seit dem Morgen hatte sich in der großen Eingangshalle eine Menge verändert. Die Bänke und Tische aus der Mitte wurden gerade rechts und links in der Halle zu großen Halbkreisen angeordnet, sodass in der Mitte eine große, runde Fläche entstand. Überall in der Halle herrschte geschäftiges Treiben.

Da waren einige Leute, die eine große elektrische Anlage aufbauten. Ich hatte keine Ahnung, für was die gut war, aber etwas wurde mir klar und erstaunte mich. „Ihr habt Strom.“ Denn ohne Strom wäre das nur eine ziemlich hässliche Dekoration.

„Ja, ein bisschen“, sagte Akiim und machte sich daran, den ersten Tisch aufzustellen. „Wir besitzen einige Solarpaneele, von unseren Einsätzen gegen Eden.“

War das eine nette Umschreibung dafür, dass sie die Städter erst überfielen und beklauten und dann noch ihre Technologien benutzen? „Ihr seid Diebe.“

So böse wie Akiim mich anschaute, hätte es mich nicht gewundert, wenn er einen Tisch nach mir geschmissen hätte. „Das nennt man Kriegsbeute. Wir benutzen ihre eigenen Waffen gegen sie, um die Kräfte auszugleichen.“

Was meine Aussage nicht unbedingt widerlegte, aber das behielt ich besser für mich, nicht dass er mir wirklich noch etwas an den Kopf warf.

Drei Frauen mit Kisten voller Lebensmitteln liefen an uns vorbei und verschwanden damit in der offenen Küche, aus der bereits herrliche Gerüche herauswehten und die ganze Halle erfüllten.

Von der Seite kam ein Mann, schnappte sich wortlos die Kiste mit dem Werkzeug und ging einfach mit ihr davon.

Na gut.

Eine Gruppe von fünf Leuten, brachte mithilfe einer langen Leiter, Laternen unterhalb der Galerie an. Zu meiner Überraschung war Wolf einer von ihnen. Er war der, der oben auf der Leiter stand. Ich entdeckte auch Killian, der ein paar Frauen dabei unterstützte, die Stützpfeiler zu dekorieren. Dabei unterhielt er sich mit einer Frau und egal was er zu ihr gesagt hatte, es brachte sie dazu, unnatürlich laut zu lachen.

Killian lächelte nur milde, was sich jedoch änderte, als er den Kopf drehte und meinem Blick begegnete. Sein Lächeln verblasste, doch der Augenkontakt wurde intensiver.

Mit einem Mal lag ich wieder auf seinem Nachtlager und spürte seine Hände auf meinem Körper. Doch etwas fehlte. Es fehlte das Verlangen zu ihm zu gehen und dort weiterzumachen, wo wir unterbrochen worden waren.

Damals in seiner Praxis hatte ich hinterher bereut, was geschehen war. Dieses Mal tat ich es nicht, trotzdem fühlte sich an der ganzen Situation etwas falsch an, als hätte ich einen Fehler gemacht. Nur war ich mir nicht ganz sicher, worin genau der Fehler bestand. Hätte ich Sawyer fortjagen und bleiben sollen? Oder hätte ich es erst gar nicht so weit kommen lassen dürfen?

Ich wusste es wirklich nicht und hier und jetzt war ich mir plötzlich unsicher, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Dieser Blick … so wie er mich ansah … es schien sich etwas zwischen uns verändert zu haben. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte, dass alles so blieb wie es war.

„Biene, kannst du mir hier mal bitte helfen?“

Da ich ja schlecht nein sagen konnte, unterbrach ich den Blickkontakt mit Killian und ging meinem großen Bruder zur Hand.

Sobald die Tische standen, besorgten wir die fehlenden Bänke und halfen dann dabei, alles richtig hinzustellen. Anschließend wurden wir dazu abkommandiert, einen wackelnden Tisch zu reparieren. Also saß ich irgendwann neben Akiim auf dem Boden und reichte ihm das Werkzeug, während er unter dem Tisch hockte und damit beschäftigt war, das wackelnde Bein zu befestigen.

„Schlag doch einfach einen Nagel von oben hinein.“

„Dann kann ich das Bein aber nicht mehr einklappen.“

Das nicht, aber sobald wir hiermit fertig waren, konnte ich einer sinnvollen Aufgabe nachkommen und würde hier nicht nutzlos herumsitzen. So weit ich es sehen konnte, gab es hier im Moment Aufgaben in Hülle und Fülle, doch Akiim bestand darauf, dass ich ihm assistierte.

Die Langeweile trieb mich immer wieder dazu den Blick schweifen zu lassen und wie auch schon die Male zuvor, landete er wieder bei Killian. Mittlerweile half er dabei, die Tische zu dekorieren. Ein richtiges, kleines, fleißiges Bienchen.

Da kam mir ein Gedanke. „Sie arbeiten.“

„Was?“

„Wolf und Killian. Sie helfen bei den Vorbereitungen. Damit sind wir wegen der Äpfel quitt.“

„Das hat sich schon längst erledigt. Da ihr alle zu Sawyer gehört, hat Clarence beschlossen, dass es kein Diebstahl, sondern ein Picknick war.“ Warum klang er dabei, als ärgere er sich darüber? „Der kleine Prinz hat sich dafür eingesetzt.“

Sawyer hatte sich dafür eingesetzt, dass diese lächerliche Strafe wegfiel? Damit hatte er mich jetzt doch überrascht. Was versprach er sich davon? Er war doch sonst nicht so uneigennützig.

Als hätte der Gedanke an ihn, ihn heraufbeschworen, trat Sawyer zusammen mit Laarni und Salia in die große Halle. Meine Stimmung verschlechterte sich augenblicklich. Zwar hatte er sich vorhin halbherzig entschuldigt, aber ich glaubte immer noch nicht, dass er es ernst gemeint hatte. Keine Ahnung, warum er es gesagt hatte, aber sicher nicht, weil es ihm leidtat.

Ehrlich gesagt interessierte es mich auch gar nicht mehr. Ich hatte mir vorgenommen, mich nicht mehr auf seinen Scheiß einzulassen. Er wollte gemein zu mir sein? Mir egal. Er war nett? Auch egal. Ab jetzt war mir alles egal, was mit diesem Mann zu tun hatte, ich würde es einfach nicht mehr an mich heranlassen. Damit wäre ich zumindest auf der sicheren Seite.

In sein Gespräch vertieft, bemerkte Sawyer mich hier auf dem Boden gar nicht, zumindest nicht, bis Salia aufgeregt auf mich zeigte und dann in meine Richtung gerannt kam. Er selber schaute mich zwar mit einem sehr seltsamen Blick an, ging aber mit Laarni zur Küche und stellte sich dort an die Durchreiche.

Als Salia bei mir ankam, hatte sie so viel Schwung drauf, dass ich eilig nach ihr griff, damit sie bei ihrem Bremsmanöver nicht in mich hineinstolperte.

Sie grinste mich an. „Hast du mich vermisst?“

„Ja“, sagte ich ganz ernst. „Dich und Wölkchen.“

Sie grinste noch breiter. „Weißt du was wir gleich machen?“

„Nein.“ Woher auch, ich war ja kein Hellseher.

„Laarni zeigt mir Babykaninchen. Ich habe noch nie Babykaninchen gesehen.“ Sie strahlte mich an.

Ob ich ihr sagen sollte, dass ich schon welche gegessen hatte? Wohl eher nicht. „Du kannst mir ja später erzählen, wie es war.“

„Mache ich.“ Sie lugte unter den Tisch. „Was machst du da?“

Akiim hielt kurz inne und erklärte ihr: „Ich versuche das Bein festzuschrauben, damit der Tisch nicht so wackelt.“

Das musste sie sich natürlich sofort genauer anschauen.

Während sie unter den Tisch kroch, beobachtete ich, wie eine der Damen in der Küche eine gefüllte Schale an Sawyer reichte. Laarni wartete, bis er auch noch zwei Stäbchen bekommen hatte, dann drehten die beiden sich um und kamen in unsere Richtung.

Kurz war ich versucht die Flucht zu ergreifen, entschied mich dann aber für eine neutrale Mine und höffliches Dessinteresse. Ich würde diesem Kerl kein weiteres Mal gestatten, mich zu verletzen, oder sich in meine Angelegenheiten einzumischen.

Schon während sie näher kamen, begann Sawyer den Inhalt seiner Schüssel zu leeren. Ja, ein gemeiner Idiot zu sein, machte sicher hungrig.

Als er näherkam, funkelten seine Augen vergnügt und als er neben mir stehen blieb, grinste er auf mich hinunter. „Genau die richtige Höhe“, sagte er und versuchte meinen Kopf zu tätscheln.

Ich schlug nach ihm, aber damit hatte er bereits gerechnet und wich problemlos aus. Grinsend fischte er mit seinem Besteck, ein weiteres Stück seines Essens aus seiner Schüssel und ließ es in seinem Mund verschwinden.

Einen Moment schaute ich ihn nur an. Ich wusste, ich sollte es nicht fragen, es kam bestimmt nur wieder irgendwas Dummes dabei heraus und hinterher würde ich mich nur wieder über ihn, oder mich selber ärgern. Trotzdem konnte ich es einfach nicht lassen und fragte: „Was ist auf der richtigen Höhe?“

Jetzt wurde sein Grinsen richtig dreckig. Er schaute zu Salia, die noch halb unterm Tisch saß, zeigte dann auf mein Gesicht und deutete mit einer Handbewegung an, dass es auf gleicher höhe mit seinem Schritt befand.

Jup, ich hatte recht gehabt, die Frage hätte ich mir sparen können. Und damit dieser dreckige Gedanke ganz schnell aus seinem Hirn verschwand, richtete ich mich auf – das musste ich definitiv nicht auch noch provozieren. „Du scheinst ja super Laune zu haben.“ Und das nach dem ganzen Mist, den er bereits fabriziert hatte. Ich klopfte mir den Dreck vom Hintern und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Du nicht? Liegt vermutlich am fehlenden Spannungsabbau. Sag Bescheid, wenn ich zu Ende bringen soll, was andere nicht hinbekommen haben.“

Also gleich würde ich ihm ein paar scheuern und das nicht nur, weil mein Bruder und seine Schwester jedes seiner Worte hörten. Nein, das würde ich nicht. Ruhig und besonnen, ich würde mich nicht von ihm provozieren, oder zu einer unüberlegten Handlung verleiten lassen. Das wollte er doch nur, aber darauf konnte er lange warten. „Glaub mir, ich weiß mir selber zu helfen. Und sollte ich Hilfe von jemand anderem wollen, dann sicher nicht von dir. Denn ich brauche dich auch nicht.“

Ein Muskel in seinem Gesicht zuckte. „Nur kann ich mit einer Erfahrung aufwarten, die hier kein anderer zu bieten hat.“

Das stimmte wahrscheinlich sogar. Nicht dass das irgendetwas ändern würde. „Dann solltest du deine grandiosen Erfahrungen mit jemand anderem teilen, ich habe nämlich kein Interesse daran.“

„Wenn du mich lässt, kann ich dafür sorgen, dass sich das ändert.“ Er zwinkerte mir zu, fischte mit seinen Stäbchen in seiner Schüssel und steckte sich etwas in den Mund.

Warum bitte war er so gut gelaunt? Heute Morgen hatte er mich praktisch davongejagt und nachdem er Killian und mich gestört hatte, war er schlechtgelaunt abgezogen. Das passte nicht zusammen.

Laarni schaute nachdenklich von mir zu ihm. „Will ich wissen, worum es hier geht?“

„Nein“, sagte ich sofort und versuchte den leckeren Geruch aus seiner Schüssel nicht zu beachten. Leider knurrte in dem Moment mein Magen. Jetzt rächte es sich, dass ich heute noch nichts gegessen hatte.

„Schwesterchen, es gibt Dinge, die dich definitiv nichts angehen.“ Sawyer bemerkte, wie ich in seine Schüssel schielte.

Akiim tauchte mit dem Kopf unter dem Tisch auf. „Ach wirklich? Und was sind das für Dinge?“

Würstchenscheiben. Kartoffeln. Und das bunte Zeug musste Gemüse sein.

„Dinge von denen große Brüder nichts wissen sollten, weil sie sonst vielleicht auf die dumme Idee kämen, mir eine runterzuhauen. Aber geh ruhig zu Killian, der hatte einen interessanten Vormittag. Vielleicht hat er ja Lust dir davon zu erzählen.“ Sawyer fischte ein Stück Würstchen aus seiner Schüssel und hielt es mir dann vor die Nase.

Ich sollte es ignorieren, egal wie herrlich es duftete. Wenn ich wollte, konnte ich mir schließlich selber eine Schüssel holen. Und doch öffnete ich den Mund und schnappte mir das Würstchenstück von den Stäbchen. So viel zum Thema Selbstbeherrschung und neutrale Distanz. Aber es hatte sich gelohnt, es schmeckte noch besser als es roch und ich wollte noch eines haben.

Akiim stand auf und erhob sich zu seiner ganzen eindrucksvollen Erscheinung. „Jetzt will ich es aber unbedingt wissen“, sagte er mit einem drohenden Unterton.

„Nein, willst du nicht“, sagte ich sofort und warnte ihn mit einem Blick davor, noch einmal nachzufragen.

Sawyer lachte leise in sich hinein, während er sich die Schüssel an die Lippen hielt und das Essen in seinen Mund schob.

Akiim runzelte die Stirn und schaute misstrauisch von mir zu Sawyer.

Zeit das Thema zu wechseln. „Salia sagt, du willst ihr Kaninchenbabys zeigen“, sagte ich zu Laarni. Nur weil ich Sawyers Essen aß, musste ich mich noch lange nicht mit ihm unterhalten. Oder, naja, noch weiter unterhalten.

„Ja, wir züchten sie das ganze Jahr.“ Auch sie schaute irgendwie misstrauisch. „Wir haben viele Mäuler und die müssen gestopft werden.“

Salia lugte unter dem Tisch hervor. Sie schaute sich das Werkzeug auf dem Boden an, nahm sich einen Hammer und tauchte damit wieder ab. In der nächsten Sekunde begann sie zu hämmern.

„Kaninchen waren vor der Wende sehr fruchtbar gewesen“, erklärte Laarni weiter, als wüsste ich das nicht. „Auch jetzt vermehren sie sich verhältnismäßig noch recht gut.“

Ich trat einen Schritt näher an Sawyer heran und spähte unauffällig in seine Schüssel. Er hatte sie schon zur Hälfte geleert. Vielleicht sollte ich mir wirklich eine eigene holen. So kam ich wenigstens von ihm weg.

„Ansonsten haben wir noch sehr viel Geflügel. Und ein paar Rinder. Sie geben Milch.“

Ein Stück Kartoffel tauchte vor meiner Nase auf. Ich zögerte, aber dann dachte ich nur: Scheiß drauf und schloss meine Lippen darum. Sawyers zufriedener Gesichtsausdruck wurde schon aus Prinzip ignoriert.

Als das Hämmern aufhörte, schaute Akiim mit einem Stirnrunzeln zum Tisch. Die kleine Hand tauchte wieder auf, nahm sich einen Schrauber und verschwand dann gleich wieder.

„Milch kenne ich aus Eden. Sie schmeckt ein wenig süßlich. Ich mag süße Dinge.“

Sawyers Mundwinkel zuckte. „Mögen? Du bist geradezu besessen davon. Ich weiß noch genau, wie ich mit dir um meine Pfannkuchen kämpfen musste.“

„Das war kein Kampf gewesen.“

„Oh doch“, widersprach er mir. „Du hast doppelt so viele verdrückt wie ich.“

Na und? Die waren halt lecker gewesen. Genau wie sein Essen. Ich spähte wieder in die Schüssel. Ob ich mir noch unbemerkt ein Stück von dem Würstchen klauen konnte?

„Und dabei warst du nur so eine halbe Person.“

„Was meinst du mit halbe Person?“, wollte Akiim wissen.

Ich streckte die Hand aus, um von seinem Teller zu mopsen, doch er merkte es und schlug mir mit den Stäbchen auf die Finger. Dafür bekam er einen bösen Blick.

„Dass sie nicht besonders gut genährt war, als sie Nach Eden kam.“ Er schob sich noch etwas von seinem Essen in den Mund und reichte die Schüssel samt Stäbchen dann an mich weiter. „Sie war wirklich dürr gewesen.“

„Ich war gar nicht dürr“, beschwerte ich mich. Die Schüssel behielt ich aber.

„Oh doch, du warst ein halbes Skelett.“

Sollte ich jetzt beleidigt sein? So schlimm hatte ich gar nicht ausgesehen.

Sawyer bückte sich, um unter den Tisch gucken zu können. „Komm, die Kaninchen warten auf uns.“

„Ja!“ Salia sprang auf. Leider vergaß sie dabei, dass sie unter dem Tisch saß und knallte mit dem Kopf dagegen. Alle Erwachsenen, einschließlich mir, zuckten bei dem dumpfen Geräusch zusammen, aber Salia kroch einfach darunter hervor, rieb sich dabei den Kopf und griff nach Sawyers Hand. „Komm schon Papa, lass uns endlich gehen.“ Sie begann mit vollem Körpereinsatz an ihm zu ziehen, was Sawyer zumindest ins Straucheln brachte.

„Wir sehen uns später“, drohte er mir. „Halt mir einen Tanz frei.“

„Bestimmt nicht“, grummelte ich, setzte die Schale an meinen Mund und begann mir das Essen in den Mund zu schaufeln.

Sawyer grinste nur und ließ sich von seiner Tochter wegziehen.

Laarni hob die Hand zum Abschied und schloss sich ihnen an.

Tanzen. Als wenn ich mit ihm tanzen würde. Nachdem was er heute abgezogen hatte, konnte er froh sein, wenn ich seine Existenz noch zur Kenntnis nahm. 

„Du hast dich von ihm füttern lassen.“

Verwirrt nahm ich meinen finsteren Blick von Sawyers Rücken und richtete ihn auf Akiim. „Ich habe was?“

„Du hast dich von ihm füttern lassen“, sagte er erneut und ließ es wie einen Vorwurf klingen. „Was läuft da zwischen euch?“

„Ich habe mich nicht von ihm füttern lassen.“ Auf den zweiten Teil seiner Frage ging ich gar nicht erst ein. Nicht nur, weil es ihn nichts anging, sondern auch, weil da gar nichts lief. „Er hat mir seine Schüssel gegeben.“

„Vorher aber nicht. Er hat dich gefüttert.“

Oh Gaia, war es früher schon so anstrengend gewesen, einen großen Bruder zu haben? „Wir sind monatelang zusammen gereist und natürlich haben wir da auch unser Essen geteilt. Das hier ist genau das gleiche.“ Wie um meine Worte zu bestätigen, kippte ich die restlichen Stücke alle zusammen in meinen Mund.

So wie er aussah, wollte er widersprechen, stattdessen wurden seine Augen aber ein wenig schmaler. Es machte den Anschein, als versuchte er in meinen Kopf zu gelangen. „Was ist da zwischen euch?“

Wirklich, er fragte es nochmal? Ich ließ mich mit dem Kauen nicht hetzen und sobald ich heruntergeschluckt hatte, sagte ich sehr deutlich, damit es auch ja in seinen Sturschädel hineinging: „Erstens, ist da gar nichts zwischen uns beiden.“ Was in meinem alten Kinderzimmer geschehen war, unterschlug ich einfach mal. Oder in seinem Haus in Eden. „Zweitens, selbst wenn es so wäre, würde es dich nichts angehen.“

„Ich bin dein großer Bruder und trage die Verantwortung für dich.“

Ging das schon wieder los.

„Darum geht es mich sehr wohl etwas an, wenn du mit …“

„Stopp“, sagte ich und stellte die Schüssel mit etwas zu viel Wucht auf dem Tisch ab. „Es ist völlig egal, ob du mein Bruder bist, mein Vater, oder meine gute Fee. Es geht dich absolut nichts an, was ich mit wem mache, oder auch nicht. Das ist meine Privatsache. Ich frage dich doch auch nicht, ob du neben Yi Min noch andere Frauen vögelst. Oder Männer.“

So wie er mich anschaute, sah er das ganz anders. „Und die beiden anderen Männer, was ist mit denen?“

Das hatte er jetzt nicht wirklich gefragt, nicht nachdem er gerade bereits eine Abfuhr bekommen hatte.

Wie kam er überhaupt darauf, mir solche Fragen zu stellen? Selbst wenn wir die letzten Jahre zusammen verbracht hätten, sollte ihn das nicht interessieren.

Ich war wirklich so fassungslos, dass ich nicht wusste, was ich dazu sagen sollte. Aber ich hatte genug davon. Darum kehrte ich ihm den Rücken und marschierte davon.

„Wo willst du hin?“

„Keine Ahnung, irgendwohin, Hauptsache weg von dem männlichen Patriachat.“

„Achtung!“, erklang irgendwo über mir ein Warnruf.

Bereit mit einem Hechtsprung auszuweichen und mein Leben in Sicherheit zu bringen, ganz egal, was da von Oben auf mich niederkam, schaute ich auf und entdeckte einen flachen Weidenkorb, der von der Galerie herabstürzte. Ich machte schnell einen Ausfallschritt nach vorne, um ihn aufzufangen, bevor er auf den Boden knallte.

Meine Mission gelang leider nur zum Teil. Den Korb fing ich, der Inhalt jedoch bestand aus vielen kleinen, weißen Blüten, die viel langsamer herabregneten. Ich versuchte sie mit dem Korb aufzufangen – mit mäßigem Erfolg. Die Hälfte landete auf dem Boden, meinem Kopf, meinem Gesicht und wo sie sonst noch überall auf meinem Körper Platz fanden. Ich stand inmitten eines Blütenregens. Sowas war mir ja auch noch nicht passiert.

Als es vorbei war, blickte ich zur Galerie empor, wo Skade und Noor ihre Köpfe über die Metallbrüstung steckten.

„Hübsch.“ Noor lächelte mich an. „Bringst du sie mir bitte wieder hoch?“ Ihr Kopf verschwand, ohne meine Antwort abzuwarten.

Skade schaute ihrer Schwester hinterher, warf dann noch einen kurzen Blick zu mir hinunter, bei dem sie das Gesicht grässlich verzog und schwupp, war auch ihr Kopf verschwunden.

Ich stand da und fragte mich, in was ich da jetzt schon wieder hineingestolpert war. Naja, wenigstens würde ich so Akiim und seinem bohrenden Blick entkommen. Also klopfte ich mir die getrockneten Blüten vom Körper und begann sie vom Boden zu sammeln.

Als ich so ziemlich alle beisammenhatte, schaute ich mich suchend nach einem Weg nach oben um.

„Die Treppe ist links im Durchgang“, erklärte Akiim. „Geh durch die erste Tür, so kommst du ins Treppenhaus.“

Ich bedanke mich nicht für seine Hilfe, sondern machte mich einfach auf den Weg.

Der Zugang zum Treppenhaus war leicht zu finden. Es war ein leerer Türrahmen, hinter dem Treppen waren – logischerweise. Außen an der Wand hing ein Handhebel. Es war nicht das erste Mal, dass ich hier im Center so einen Hebel bemerkte, ich hatte schon mehrere gesehen, allerdings war nicht ersichtlich, wofür sie gedacht waren.

Das Treppenhaus war eindeutig neu und gehörte nicht zum ursprünglichen Gebäude. Über noch recht neue Holzstufen und nackte Ziegelwände, gelangte ich hinauf auf einen alten Teil der Galerie. Hier oben, direkt über den Durchgang, gab es einen langen Flur mit einem guten Dutzend Türen, von denen die Hälfte offen standen. Dieser Teil schien komplett neu zu sein. Keine alten Geschäfte, bei denen man die Schaufenster zugemauert hatte, nur saubere Ziegelwände mit eingepassten Holztüren.

Die Galerie schloss direkt an den Flur an und dort fand ich auch zwei der drei Schwestern.

Noor lag gerade auf dem Bauch, den Kopf und den halben Oberkörper durch die Metallbrüstung geschoben und halb runterhängend, fummelte dort an irgendwas herum. Was das war, konnte ich aber nicht erkennen.

Skade saß im Schneidersitz mitten auf der Galerie, einen weiteren Korb mit Blüten vor sich und fädelte diese mit einer Nadel auf einen dünnen Faden. Als sie mich kommen sah, verzog sie gequält das Gesicht. „Lasst die, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren.“

„Welch düstere Begrüßung.“

Mit einem schnellen Blick auf ihre Schwester, beugte sie sich in meine Richtung und sagte in einem Bühnenflüstern: „Schnell, lauf, solange du noch kannst.“

„Ich kann dich hören“, erklärte Noor, wackelte mit dem Hintern, beim Versuch aus der Brüstung zu kriechen und setzte sich dann auf. Ihr Blick fiel auf mich und sie begann zu lächeln. „Toll, noch eine helfende Hand. Komm, setzt dich einfach dazu, Skade zeigt dir wie es geht.“

„Und da ist ihr die nächste, arme Seele ins Netz gegangen, ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, sich in endlosen Qualen nach der Erlösung sehnend.“ Sie wich zur Seite aus, als Noor eine Handvoll Blüten nach ihr warf. „Und gewalttätig ist sie auch noch.“

Diesen Moment zwischen den Schwestern zu erleben, ließ hunderte von Erinnerungen in mir aufsteigen. Wie oft war Nikita mir zur Hand gegangen und hatte sich ganz ähnlich verhalten? Das musste eine Krankheit sein, von der nur kleine Schwestern befallen wurden.

Ich schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben, stellte meinen Korb zu dem anderen und setzte mich zu Skade auf den Boden. „Was soll ich tun?“

„Blumen auffädeln, um fröhliche Girlanden für eine zauberhafte Atmosphäre zu schaffen.“ Skade sagte das, als wäre es etwas Schreckliches und zeigte mir dann was ich tun musste.

Im Grunde war es ganz einfach. Man fädelte eine Schnur auf eine Nadel, stach sie durch die Blüten und knotete diese in einigem Abstand fest. Voilà, schon entstand eine Girlande aus Blüten.

Es war eine Geduldsaufgabe. Die Blüten waren klein und getrocknet und ich musste aufpassen, dass sie nicht beschädigt wurden. Zu meinem Glück war ich in solchen Sachen sehr begabt.

Als Noor sich zu uns setzte, nahm sie sich selber eine Nadel und begann ein paar Blüten aufzufädeln.

„Wie ist der Korb heruntergefallen?“, wollte ich wissen.

„Skade hat ihn heruntergeworfen, um ihrem jugendlichen Unmut Ausdruck zu verleihen.“ Sie warf ihrer kleinen Schwester einen bösen Blick zu.

„Bastelstunden sind etwas für kleine Mädchen“, sagte Skade. „Ich sollte eigentlich für den Kampf gegen Eden trainieren, das ist viel wichtiger.“

Mit meinem „Du bist doch noch ein kleines Mädchen“, verdiente ich mir bei ihr wohl keine Pluspunkte. Ich kassierte nur einen giftigen Blick.

„Ich bin Sechzehn.“

Ich verkniff es mir, sie darauf hinzuweisen, dass man mit sechzehn vieles war, aber sicher noch nicht erwachsen. Ich war zweiundzwanzig und war mir manchmal noch nicht sicher, ob ich erwachsen war.

„Sawyer ist zu uns zurückgekehrt“, sagte Noor. „Heute gibt es nichts Wichtigeres als das. Trainieren kannst du morgen wieder.“

„Training ist immer wichtig“, widersprach sie ihr. „Die Tracker machen auch keine Pause, nur weil eine Feier ansteht.“

Also, genaugenommen taten sie das schon. Ein paar von ihnen nahmen an diesen Feierlichkeiten sogar teil. Auf der Elysium-Parade in Eden, war Kit auf seinem Pferd mitgelaufen und Dascha hatte hinter ihrer Mutter Agnes, in einem hübschen Kleid, auf der Bühne gestanden. Ich betrachtete das Küken der Familie. „Es muss komisch für dich sein, plötzlich einen Bruder zu haben. Du hast ihn ja vorher nicht gekannt.“

Sie zuckte nur mit den Schultern. „So komisch ist das gar nicht. Ich habe ja von ihm gewusst und mein Leben lang trainiert, um ihn irgendwann aus Eden zu befreien. Er ist eben nur ein wenig früher aufgetaucht.“ Sie hob den Blick zu mir. „Für dich muss es viel seltsamer sein, immerhin hast du geglaubt, dein Bruder ist tot.“

Da war etwas Wahres dran.

„Ich finde diese Familienzusammenführungen einfach nur klasse“, begeisterte sich Noor. „Das ist fast wie im Märchen, einfach unglaublich.“

Ja, das war es wirklich. Ich griff wieder in den Korb und fischte die nächste Blüte heraus. Schon seltsam, dass sie um diese Jahreszeit so viele davon besaßen. Sie hatten ja nicht ahnen können, dass Sawyer auftauchte. „Wo hast du so viele getrocknete Blumen her?“

„Ich habe sie gepflückt, im Sommer“, sagte Noor. „Ich wollte daraus eigentlich Farbe machen, aber jetzt wo Sawyer zurück ist …“ Ihre Stimme brach und plötzlich schwammen ihre Augen wieder in Tränen. Im nächsten Moment hatte sie sich auf mich gestürzt und umarmte mich so fest, dass mir fast die Luft wegblieb. „Danke“, sagte sie mit verschnupfter Stimme. „Danke, dass du ihn uns zurückgebracht hast.“

Ich wusste nicht so recht, wie ich reagieren sollte und ein wenig unangenehm war mir diese Zuneigungsbekundung auch, deswegen tätschelte ich ihr ein wenig unbeholfen den Rücken und murmelte: „Ähm bitte, ich hatte ja nicht vorgehabt ihn zu behalten.“ Seit wir Marshalls Flugzeug verlassen hatten, war ich sogar davon ausgegangen, ihn einfach nur abzuliefern und dann wieder meiner Wege zu gehen.

Doch jetzt … ich war immer noch hin und her gerissen. Es gab gute Gründe ganz schnell wieder zu verschwinden. Aber genauso gute zu bleiben. Ich wusste wirklich noch nicht, was ich tun sollte und Sawyers dumme Worte waren da keine große Hilfe gewesen.

Da Noor offensichtlich nicht vorhatte, mich demnächst aus meiner misslichen Lage zu entlassen, bewarf Skade sie mit einer der Blüten. „Wenn du sie erwürgst, kann sie uns nicht mehr helfen.“

Noor ließ von mir ab und wischte sich mit den Händen durch das Gesicht. „Ich habe sie gar nicht erwürgt.“

„Nein, hat sie nicht“, stimmte ich ihr zu. „Aber es war sehr knapp gewesen.“

Skade grinste.

Ein lauter Schrei ließ mich so heftig zusammenzucken, dass ich mir mit der Nadel in den Finger stach. Ich wirbelte herum und starrte in den Flur, mit den gemauerten Ziegelwänden, aus dem noch ein Laut des Schmerzes drang. Das kam eindeutig von einer Frau. „Was ist da los?“

Weder Skade noch Noor wirkten beunruhigt. Seelenruhig gingen sie ihrer Arbeit nach.

„Das ist nur Aurora“, sagte Skade beinahe gleichgültig. „Sie hat sich vorhin eine Kiste auf den Fuß fallen lassen und sich dabei vermutlich den Zeh gebrochen. Das war ein Geschrei gewesen.“

Wieder ein Schrei, dieses Mal endete er in einem schmerzvollen Wimmern.

„Vermutlich richten sie den Bruch gerade.“

Noor tätschelte mir das Knie, als wollte sie mich beruhigen. „Keine Sorge, Aurora übertreibt immer. Letzte Woche hat sie sich den Fingernagel eingerissen und so getan, als hätte ihr jemand die ganze Hand abgehackt.“

Naja, ein eingerissener Fingernagel tat schon weh.

Skade schüttelte nur den Kopf. „Völlig übergeschnappt, diese Frau.“

„Sie ist praktisch Dauerpatientin auf unserer Krankenstation und nimmt damit den richtigen Patienten den Platz weg.“

Ich wusste gar nicht, dass es sowas wie falsche Patienten gab. Wieder etwas dazugelernt. „Ihr müsst hier ziemlich viele Verletzte haben.“ So ein Krieg brachte das mit sich.

Noor schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht. Unsere Leute sind gut ausgebildet. Meistens ist die Krankenstation von Leuten besetzt, die wir vor den Trackern retten.“

Wie das? Tracker verletzten die Leute doch nicht. Sie fesselten und knebelten sie nur, bis sie sich nicht mehr bewegen konnten.

„Im Moment liegen dort nur zwei Frauen und ein Mann.“

„Und Aurora“, sagte Skade.

„Und Aurora“, stimmte Noor ihrer kleinen Schwester zu. „Zwei von ihnen wurden von Akiim und seiner Gruppe bei ihrem letzten Einsatz befreit.“

„Wir haben die Tracker richtig platt gemacht“, erklärte Skade stolz.

Die Blumengirlande sank in meinen Schoß. Akiim nahm Kinder mit auf seine Missionen? Im Kampf gegen die Tracker? Und Clarence erlaubte das?

„Die andere Frau hat es allein geschafft ihnen zu entkommen“, erklärte Noor weiter, ohne etwas von meinen Gedanken zu ahnen. „Hat sich bei der Flucht aber schwer verletzt. Ein paar fahrende Händler haben sie gefunden und zu uns gebracht. Sie ist ziemlich fertig.“

Das konnte ich mir vorstellen. Ich wusste nur zu gut, wie belastend eine Begegnung mit den Trackern war „Und was passiert mit diesen Leuten, wenn sie wieder gesund sind?“

„Was sie wollen. Manche schließen sich uns an, andere kehren in ihr altes Leben zurück und einige laufen so weit wie möglich fort, um nie wieder mit Eden in Kontakt zu kommen.“

Oder sie wanderten einfach ziellos umher, verlassen und entwurzelt, auf der Suche nach Halt, um sich nicht völlig verloren zu fühlen. Vielleicht war ich aber auch eine Ausnahme. Es gab schließlich nicht viele Menschen, die von sich behaupten konnten, der Stadt entkommen zu sein und seitdem von den Trackern durch das ganze Land gejagt wurden.

Aurora schrie wieder und langsam fragte ich mich, ob sie ihren Zeh versorgten, oder gerade dabei waren, das ganze Bein ohne Schmerzmittel zu amputieren.

 

oOo

Kapitel 42

 

„Hier kommt der Nachschub.“ Mit ein wenig zu viel Schwung, stellte Akiim drei Holzbecher mit Bier auf dem Tisch und schob sich dann wieder mir gegenüber auf die Bank. Etwas von der Flüssigkeit schwappte über.

Wolf brummte zum Dank, nahm sich einen Becher und setzte ihn direkt an seine Lippen. Dabei wippte sein Fuß die ganze Zeit im Takt der lauten Musik.

Die Party war im vollen Gange und schien bereits jetzt ein großer Erfolg zu sein. Überall saßen und lachten die Menschen. Immer wieder liefen sie zu der Küche und holten sich Getränke und frisch zubereitetes Essen. Ich selber hatte auch schon einen Teller verdrückt und spülte nun ordentlich mit Bier und Schnaps nach.

Die Atmosphäre im Raum war … anders. Es war eine kunterbunte Mischung aus bunten Lichtern, lauter Musik und herrlich duftendem Essen.

Farbige Lichterketten hingen zusammen mit den Blumengirlanden von der Galerie und blinkten zwischen den Laternen in einem stetigen Rhythmus. Die große, technische Anlage, hatte sich als Gerät zum Abspielen von Musik herausgestellt. Sie war laut genug, dass man die Stimme erheben musste, um sich verständlich zu machen und die tiefen Töne dröhnten so sehr, dass ich sie in den Knochen spüren konnte.

Die halbkreisförmigen Tischreihen in der Halle, waren voll besetzt. Die Anwesenden aßen und tranken und lachten. Die Stimmung war fröhlich und ausgelassen. Aber die Leute saßen nicht nur an den Tischen, mindestens die Hälfte von ihnen tanzte übermütig auf der freien Fläche in der Hallenmitte. Ich war sogar der Meinung, dass sich einige der Leute zur Feier des Tages, umgezogen und aufgestylt hatten. Es wurde getanzt, gelacht, gegessen und sehr ausgiebig gefeiert.

Jeden einzelnen Rebellen aus diesem Stützpunkt, schien es heute hier her gezogen zu haben und das nur, um die Rückkehr des verlorenen Sohnes zu feiern. So eine Rückkehr war ja auch ein großes Ereignis, besonders wenn man bedachte, wo Sawyer gewesen war.

Der Vater des besagten Sohnes, saß zusammen mit Laarni und Skade an einem etwas größeren Tisch, vorne beim Eingang. Noor befand sich mitten auf der Tanzfläche und tanzte gut gelaunt in einer Gruppe aus mehreren Männern und Frauen. Obwohl ich das weniger als Tanzen, sondern vielmehr als Zappeln interpretieren würde. Egal, wichtig war nur, dass sie ihren Spaß hatte.

Aber sie war nicht die einzige der Geschwister, die sich auf der Tanzfläche amüsierte. Nicht weit von ihr entfernt tanzte Sawyer mit Salia auf dem Arm. Die Kleine lachte begeistert, als er sich mit ihr überschwänglich im Kreis drehte. Auch auf seinem Gesicht lag ein Lächeln, bei dem mein Herz einen kleinen Hüpfer machte.

Sofort verdüsterte sich meine Stimmung. Nachdem was er sich heute bereits geleistet hatte, sollte mein Herz bei seinem Anblick keinen Hüpfer machen. Nein, falsch, es war völlig egal, was er tat, oder auch nicht, ich sollte überhaupt nicht auf ihn reagieren. Besonders nicht nach so einem Tag. Dabei war es völlig egal, ob er sich für sein Verhalten bei mir entschuldigt, oder sein leckeres Essen mit mir geteilt hatte.

Ich sollte dringend aufhören mir darüber Gedanken zu machen, bevor ich noch damit begann, an meinem eigenen Verstand zu zweifeln.

Als er sich drehte und ich in Gefahr geriet, beim Starren erwischt zu werden, wandte ich hastig den Blick ab. Leider geriet so der andere Mann in mein Blickfeld, der schon den ganzen Tag immer wieder durch meine Gedanken spukte. Besonders nach dem heutigen Vormittag, war er ständig in meinem Kopf.

Killian.

Er saß mir praktisch gegenüber, auf der anderen Seite der Halle, umringt von einem halben Dutzend Frauen, die ihn unablässig belagerten. Immer wenn sich zwischen den Tanzenden eine Lücke auftat, kamen er und die Damenwelt in mein Sichtfeld.

Das Seltsame daran war, dass es mich nicht störte, wie sie ihn umschwirrten. Aber das sollte es. Es wäre ganz normal wenigstens einen kleinen Stich der Eifersucht zu verspüren, nachdem was heute fast geschehen war. Er war ein Mann und ich war nicht so dumm zu glauben, er würde nicht darauf eingehen, wenn die Richtige vor ihm stand. Warum also machte ich mir mehr Sorgen darum, dass er an die Falsche geriet, als dass er mit einer von ihnen mitgehen könnte?

Das sollte nicht so sein.

Killian war mir wichtig. Er war ein guter Mann und bei ihm fühlte ich mich wohl. Dennoch wollte sich ein Gefühl der Eifersucht nicht einstellen. Vielleicht lag es daran, dass er seinen Traum von Eden, trotz allem, immer noch nicht aufgegeben hatte. Nach wie vor sehnte er sich nach seinem Zuhause, wollte sich wieder zugehörig fühlen und ich konnte es ihm nicht mal verdenken. Könnte ich zurück in eine Zeit und an einen Ort, wo die Welt für mich noch in Ordnung gewesen war, ich würde sofort zugreifen. Doch im Gegensatz zu ihm, waren mir nichts als Erinnerungen geblieben.

Direkt vor meinen Augen tauchten ein paar Finger auf und schnipsten, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich zuckte davor zurück und funkelte Akiim an.

„Ah, du bist also doch anwesend.“

„Ja, natürlich, ich sitze direkt vor dir.“

„Natürlich? Was habe ich gerade gesagt?“

Ich machte mir gar nicht erst die Mühe den Mund zu öffnen, denn ich hatte nicht die geringste Ahnung und der Blödmann wusste das ganz genau.

Neben mir grinste Wolf in seinen Becher und verdiente sich damit einen Hieb mit dem Ellenbogen in die Rippen.

Er grunzte und grinste dann nur noch breiter.

„Ich war in Gedanken.“ Warum bitte rechtfertigte ich mich schon wieder? Das war ja wie eine Krankheit.

Ein kleiner Junge, von vier oder fünf Jahren, rannte lachend an unserem Tisch vorbei. Ihm dicht auf den Fersen, folgte eine hochschwangere Frau, mit einem etwa zweijährigen Mädchen auf dem Arm, die sicher nicht mehr lange auf Kind Nummer drei warten musste. Sie rief nach dem Jungen, doch der Kleine lief einfach weiter, ungeachtet der Probleme, die seine Mutter hatte, ihn einzuholen.

„Irgendwas stimmt mit dem Kerl doch nicht“, bemerkte Akiim.

Ich folgte seinem Blick auf die Tanzfläche, aber da waren so viele Kerle, dass ich nicht mit Sicherheit sagen konnte, wen genau er gerade mit diesem grimmigen Blick bedachte. „Wen meinst du?“

„Na wen schon? Sawyer.“ Er drehte sich auf der Bank wieder zu mir herum. „Hättest du seine Geschichte nicht bestätigt, ich würde ihm kein Wort davon glauben.“

Ja gut, die Geschichte klang schon ein wenig unglaubwürdig, aber ehrlich gesagt glaubte ich nicht, dass da das Problem lag. Akiim hatte ihn vom ersten Moment an nicht besonders gemocht und noch schlimmer war es geworden, als sich herausgestellt hatte, dass er Clarence Sohn war. „Ich habe eher den Verdacht, du bist eifersüchtig.“

„Eifersüchtig?“ Dieses eine Wort triefte nur so vor Hohn. „Worauf sollte ich denn eifersüchtig sein?“

„Naja, nicht eifersüchtig“, korrigierte ich mich und wedelte auf der Suche nach den richtigen Worten mit der Hand. „Du fürchtest dich.“

„Jetzt habe ich also auch noch Angst vor ihm?“, spottete er.

„Nicht vor ihm, sondern davor, was seine Anwesenheit für dich bedeutet.“

Neben mir reckte Wolf den Hals, als Laarni sich von ihrem Platz am großen Tisch erhob und hinüber zur Küche ging. Er behielt sie schon den ganzen Abend im Auge. Wie lange er wohl noch brauchte, bis er sich traute, zu ihr zu gehen?

„Als Clarence dich unter seine Fittiche genommen hat, bist du nicht nur seine rechte Hand geworden, du hast auch irgendwie Sawyers Platz als Sohn angenommen. Du bist Clarence Ziehsohn und befürchtest insgeheim, dass Sawyer dich jetzt verdrängt.“

„Das ist lächerlich.“

Gut, wenn er meinte, dann war das eben lächerlich. Nicht mein Problem, wenn er sich der Wahrheit nicht stellte. Ich nahm meinen Becher und trank ein paar Schlucke.

„Selbst wenn er wollte, könnte Sawyer mir nicht das Wasser reichen. Er ist ein verweichlichter Städter geworden.“

Ich schaute ihn über meinen Becher hinweg an und zog eine Augenbraue nach oben. „Worüber machst du dir dann solche Sorgen?“

Hätte Akiim jetzt Pfeile aus seinen Augen auf mich abgeschossen, wäre ich schnell in Deckung gegangen – gewundert hätte mich das aber nicht.

Wolf stieg über die Bank, stieß sich dabei auch noch das Knie am Tisch und machte sich dann auf dem Weg zur Küche. Aha, war es jetzt soweit?

„Ich mache mir keine Sorgen“, erklärte Akiim. „Ich mag ihn nur einfach nicht.“

Wer sollte es ihm verübeln? Als ich Sawyer kennenlernte, hatte ich ihn auch nicht gemocht. Er war ein schwieriger und launischer Mensch, der es einem nicht einfach machte ihn zu mögen. Das hatte sich erst mit der Zeit ein wenig geändert. Und jetzt … jetzt mochte ich ihn erstrecht nicht.

Ich setzte meinen Becher erneut an und nahm noch einen großen Schluck.

„Er ist wie ein verhätschelter Prinz, der sich ins gemachte Nest setzt.“

„Sawyer ist vieles, aber sicher nicht verhätschelt“, verteidigte ich ihn. „Du weißt nicht, was er in Eden durchmachen musste, also urteile nicht über Menschen, die du nicht kennst.“ Hatte ich das wirklich gerade gesagt? Mir war doch wirklich nicht mehr zu helfen. Ich sollte ihn verfluchen und an den Pranger stellen und nicht sein Fürsprecher sein.

„Alle Menschen in Eden sind verhätschelte Kleinkinder. Sawyer wurde zwar als freier Mensch geboren, aber er …“

„Akiim!“

Eine üppige Frau mit olivfarbener Haut und langen, dunkelbraunen Dreadlocks, warf sich neben meinem Bruder auf die Bank. Sie hatte eine wirklich beeindruckende Oberweite, mit der nicht mal ich mithalten konnte, eine Wespentaille und ein sehr gebärfreudiges Becken. Ihr Gesichtsschmuck ging über die rechte Seite ihres Gesichts und ließ sie mysteriös erscheinen.

„Echo.“ Er rutschte ein wenig, um ihr Platz zu machen und zeigte dann auf mich. „Kennst du schon meine Schwester Kismet?“

Sie warf mir nur einen kurzen Blick zu. „Ich habe sie schon gesehen“, war alles was sie dazu sagte. Ihr Interesse an mir hielt sich in Grenzen. „Ich war gerade bei Yi Min.“

Akiim richtete sich sofort alarmiert auf. „Ist was mit ihr?“

„Nein. Ich wollte nur sagen, ich war gerade bei ihr und habe ihr etwas Gesellschaft geleistet. Sie sagt, du sollst sie heute Abend mal vergessen und ein wenig feiern. Sie schläft jetzt.“

Mein Bruder entspannte sich wieder. „Danke.“

„Nichts zu danken.“ Sie beugte sich vor, und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Wir sehen uns später.“ Damit sprang sie wieder auf und verschwand zwischen den Tanzenden.

„Wie geht es Yi Min?“, wollte ich wissen. Ich hatte sie seit heute Morgen nicht mehr gesehen. Da hatte sie zwar nicht mehr so schlimm, wie gestern bei unserer Ankunft, ausgesehen, aber sowas konnte sich ja schnell ändern.

„Besser“, sagte Akiim und nahm sich seinen Becher. „Die neuen Medikamente helfen. Dein Arzt war vorhin noch mal bei ihr gewesen und hat nach ihr geschaut. Er sagt, dass sie in ein paar Tagen wieder das Bett verlassen darf.“

Killian war bei ihr gewesen? Wann? „Er ist nicht mein Arzt.“

Bei meinem Ton fasste Akiim mich sofort scharf ins Auge. „Warum gleich so defensiv?“

Das konnte und wollte ich nicht beantworten und eine Antwort blieb mir zum Glück auch erspart, weil in dem Moment der verbrannte Mann bei uns auftauchte. Er stellte einen Becher und einen Teller mit einem großen Stück Fleisch neben Akiim auf den Tisch und setzte sich dann zu meinem Bruder auf die Bank.

Ein Lächeln verzerrte seine entstellten Gesichtszüge, als er mir über den Tisch hinweg die Hand entgegenstreckte. „Hi, wir wurden uns noch nicht vorgestellt. Ich bin Nevio.“

Ich starrte seine Hand an und fragte mich mal wieder, warum die Leute immer wollten, dass man sie anfasste. „Kismet“, sagte ich, ohne die Geste zu erwidern.

Er zögerte einen Moment, ließ die Hand dann aber wieder sinken. „Freut mich dich kennenzulernen.“

Akiim verengte die Augen leicht. „Ich hoffe für dich, dass du nicht gerade versuchst, dich vor meinen Augen an meine kleine Schwester heranzumachen.“

Nevio riss erstaunt die Augen auf. „Soll ich das etwa hinter deinem Rücken machen? Ich meine, das geht natürlich auch und wenn dir das lieber ist, werde ich deinem Wunsch natürlich gerne nachkommen.“

„Ich schwöre dir, irgendwann bekommst du von mir noch mal eine richtige Abreibung.“

Lachend warf Nevio den Kopf in den Nacken.

Keine Ahnung, was daran so witzig war, aber mir war das zu blöd. Darum leerte ich meinen Becher und ließ den Blick auf der Suche nach Wolf schweifen. Ihn fand ich nicht, aber Laarni saß wieder am großen Tisch. Genau wie Sawyer, der sich gerade mit dieser Echo unterhielt. Wie war die nur so schnell zu ihm gekommen?

„Und, hast du dich schon ein bisschen eingelebt?“

Ich brauchte einen Moment um zu realisieren, dass ich gemeint war. „Ähm …“ Was sollte ich dazu sagen? „Ich bin noch dabei.“ Na bitte, das war doch gar nicht so schlecht.

„Ist sicherlich ein riesiger Unterschied zu deinem Leben in Eden.“ Er schnitt sich ein Stück von seinem Fleisch ab und steckte es sich in den Mund.

Es war ein Unterschied zu allem, was ich bisher gekannt hatte. „Ich war nur zwei Monate in Eden. Man kann also nicht wirklich behaupten, ich hätte dort gelebt.“

„Besser so, sonst würde es dir vielleicht schwerfallen, gegen die Leute da zu kämpfen. Frauen sind bei sowas ja immer sehr Gefühlsbetont.“

Bitte? „Ich werde nicht gegen Eden kämpfen.“ Ich war doch nicht völlig verrückt geworden.

Überrascht ließ er das Besteck sinken. „Aber ich dachte du bist gegen die Stadt.“

Beladen mit zwei großen Bechern, kam Wolf zurück an unseren Tisch. Einen davon stellte er direkt vor meine Nase, mit dem anderen ließ er sich wieder neben mir auf die Bank sinken.

„Bin ich auch, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich lebensmüde bin.“ Ich nahm den Becher, setzte ihn an und trank einen großen Schluck, nur um im nächsten Moment hustend und keuchend zu versuchen, meine Innereien bei mir zu behalten. Das war kein Bier, das war Schnaps. „Das nächste Mal kannst du mich vorwarnen“, sagte ich mit tränenden Augen.

Wolf grinste nur.

Als die Anlage plötzlich verstummte, schauten die Anwesenden sich verwirrt um. Die Tanzenden auf der Tanzfläche hielten mitten in der Bewegung inne und verwundertes Stimmengewirr kam auf. Das plötzliche Fehlen der lauten Musik, verursachte ein Klingeln in meinen Ohren.

Ich war nicht die Einzige, die den Hals streckte, um herauszufinden, was los war. Vielleicht ein Fehler in der Technik? Es hatte jedenfalls ziemlich kompliziert ausgesehen, was die Leute da vorhin aufgebaut hatten.

Auf einmal begannen die Leute zu Johlen. Sie klatschten in die Hände, trampelten mit den Füßen auf den Boden und pfiffen laut.

Akiim bemerkte meine Verwirrung. Er hob die Hand und zeigte nach vorne zum Rebellenführer, um mich auf ihn aufmerksam zu machen.

Clarence saß in seinem Rollstuhl vor dem großen Tisch und ließ den Jubel gutmütig über sich ergehen. Doch dann hob er die Arme und die Rebellen verstummten nach und nach, begierig zu hören, was ihr Boss zu sagen hatte. „Freunde!“, begann er laut genug, dass es in der ganzen Halle zu hören war. „Ich freue mich, dass ihr es heute alle hergeschafft habt, um mit mir und meiner Familie diesen besonderen Tag zu feiern.“

„Ich bin nur wegen dem Essen hier“, rief irgendwo aus der Menge ein Mann und alle lachten.

Clarence hielt sich die Hand an den Mund und tat so, als würde er flüstern. „Ich auch, aber verratet es nicht meinen Töchtern.“

Wieder lachten alle.

Die Mittlere der besagten Töchter, saß zusammen mit ihren Schwestern und Sawyer am großen Tisch und reckte ihrem Vater mahnend die Hand entgegen. Von der Seite kam Salia mit einem Teller angelaufen und kletterte damit neben ihrem Vater auf einen Stuhl.

Um sich Gehört zu verschaffen, erhob Clarence wieder die Stimme. „Aber nun Spaß beiseite, lasst uns einmal über ein ernstes Thema sprechen.“ Er wartete, bis auch der letzte verstummt war und ihm wieder seine Aufmerksamkeit schenkte. Naja, alle bis auf den kleinen Jungen, der rannte nämlich schon wieder an uns vorbei, nur war dieses Mal ein Mann hinter ihm her und versuchte ihn einzufangen. Sein Vater?

„Es ist nun fast zwei Jahrzehnte her, dass meine Familie von einem Schicksalsschlag getroffen wurde, der uns zutiefst erschüttert und unser ganzes Leben verändert hat. Nachdem wir Jahre zuvor bereits meine geliebte Tochter Maela verloren hatten, zerbrach ich fast an dem Verlust meines einzigen Sohnes.“

Bei dem Begriff einziger Sohn, verzog Akiim leicht säuerlich das Gesicht.

Von wegen, er war nicht eifersüchtig.

Clarence ließ seinen Blick über seine Leute schweifen. „Über diese Tragödie gibt es nur ein Gutes zu sagen: Sie hat mir die Augen für die Gefahr geöffnet, die von Eden und den Menschen dort ausgeht.“

Ein paar Leute nickten zustimmend. Einer von ihnen war Akiim, der den Worten seines Anführers sehr genau lauschte.

„In den Jahren danach fand ich Gleichgesinnte, starke Männer und kluge Frauen, die genau wie ich erkannt haben, dass Eden und seine Matriarchin aufgehalten werden müssen, damit wir alle in Frieden leben können.“

Aus dem Publikum kamen zustimmende Laute.

„Über die Jahre hinweg sind wir gewachsen. Wir haben viel geleistet und viele Menschen vor dem unliebsamen Schicksal bewahrt, dass Eden für sie im Sinn hatte, doch unsere Arbeit endet erst dann, wenn wir den Feind niedergeschlagen haben und unsere Angehörigen und Freunde wieder in die Arme schließen können. Darum tun wir das, nur deswegen stellen wir uns jeden Tag wieder dem Kampf. Wir tun es für die Menschen die wir lieben und für eine Zukunft, in der wir ohne Angst leben können.“

Der Mann, der eben noch dem kleinen Jungen hinterhergejagt war, kam wieder an unsrem Tisch vorbei. Das Kind saß glücklich auf seinen Schultern und hielt sich an seinen Haaren fest.

„Auch ich stellte mich diesem Kampf, um meinen Sohn aus dem Griff des Feindes zu befreien. Konnte ja keiner ahnen, dass der kleine Frechdachs allen ein Schnippchen schlägt und seinen Weg allein zu mir zurückfindet.“ Er zwinkerte der Menge zu und bekam ein paar Lacher.

Frechdachs? Sawyer?

„Aber nur weil mein Sohn wieder bei mir ist, bedeutet das noch lange nicht, dass mein Kampf zu Ende ist. Es ist viel mehr ein Zeichen, ein Zeichen dafür, dass ihre schützenden Mauern nicht so unüberwindbar sind, wie sie glauben!“ Der Ton in seiner Stimme, stachelte die Leute an. Selbst ich wurde ein kleinen wenig mitgerissen.

„Wir können sie besiegen!“, rief Clarence. „Nein, wir werden sie besiegen! Wir werden uns ihnen stellen, ihre Festung erstürmen und diese Gefahr vom Antlitz der Erde tilgen!“

Zustimmende Rufe und Jubel wurde laut.

„Die Rückkehr meines Sohnes ist ein Zeichen von Gaia, die Herrschaft der Matriarchin wird schon bald zu Ende gehen und wir werden es sein, die sie zu Fall bringen wird! Wir werden die Stadt stürmen!“

„Ja!“, erwiderte ein Chor aus weit über hundert Stimmen.

„Wir werden die Städter besiegen!“

„Ja!“

„Und wir werden die Matriarchin von ihrem turmhohen Thron stoßen und den Sieg über Eden davontragen, um die Straßen für uns und unsere Familien wieder sicher zu machen!“

Die Menge rastete bei diesem kämpferischen Appell völlig aus. Sie pfiffen und jubelten und klatschten. Der Lärm war ohrenbetäubend.

„Für eine bessere Zukunft!“, übertönte Clarence sie alle und stieß seine Faust in die Luft.

„Für eine bessere Zukunft!“, erklang ein vielstimmiger Chor zustimmend und soweit es möglich war, flippten die Leute noch mehr aus. Die Musik setzte wieder ein und vermischte sich mit dem Trubel. Die Leute begannen wieder zu tanzen und zu trinken, doch die ganze Stimmung hatte sich grundlegend geändert. Auf einmal war die Atmosphäre viel energiegeladener.

Wie Clarence die Leute angestachelt und auf seine Seite gezogen hatte, war schon unheimlich. Klar, einem charismatischen Lächeln konnte man nur schwer widerstehen, aber das? Er hatte sie praktisch in seinen Bann gezogen. Sie hatten förmlich an seinen Lippen gehangen und jedes seiner Worte in sich aufgesogen und das lag sicher nicht nur daran, dass er genau das gesagt hatte, was sie hören wollten. Agnes hatte es mit ihren Ansprachen nie geschafft, die Menge so mitzureißen.

„Genau das werden wir tun“, sagte Akiim. Seine Augen leuchteten und er glühte praktisch vor Energie. Er vermittelte den Eindruck, als wollte er sofort losstürmen und die Stadt als ein-Mann-Armee in die Knie zwingen, was nicht nur lächerlich, sondern auch noch waghalsig wäre. Oder einfach nur dumm.

Akiim wandte sich mir zu. „Verstehst du jetzt? Verstehst du warum dieser Kampf geführt werden muss?“

Vor allen Dingen verstand ich, dass es in Clarence Rede weniger um die Rückkehr seines Sohnes gegangen war, als vielmehr darum, seine Leute für den Kampf anzustacheln. „Ich habe es bereits vorher verstanden. Aber du scheinst nicht zu verstehen, wie gefährlich es ist. Sawyers Flucht ist kein Zeichen, es war Jahrelange Planung und eine Menge Glück.“

„Und genau darum musst du uns helfen.“

„Ich?“ War er verrückt geworden?

„Du hast bereits einmal diese Mauern überwunden, etwas das angeblich unmöglich ist. Ich weiß genau, du würdest es ein zweites Mal schaffen. Du musst es nur wollen.“

Ja, eindeutig, er war verrückt geworden. Oder er hatte sich bei Yi Min angesteckt und befand sich nun im Fieberwahn. „Ich habe dir bereits gesagt, dass ich mich an diesem Kampf nicht beteiligen werde. Ich will da nicht mit hineingezogen werden.“

Auf der Tanzfläche brachen Jubelrufe aus, als die Leute mit einem Mal begannen, sich in Formation aufzustellen. Erst waren es nur einige Wenige, aber die anderen schlossen sich ihnen schnell an.

„Du steckst doch schon mittendrinnen. Erzähl mir nicht, dass dein Leben nicht von dem Tag geprägt ist, als die Tracker bei unserem Haus aufgetaucht sind.“

Ich versuchte ihn zu ignorieren. Ich wollte nicht darüber nachdenken und schon gar nicht darüber sprechen. Darum konzentrierte ich mich auf die wogende Menge in der Mitte. Es war eine Art Gruppentanz, bei dem man hin und wieder seinen Partner wechselte. Ein paar der Tanzenden gingen sogar dazu über, die Leute von den Bänken zu pflücken und sie mit auf die Tanzfläche zu ziehen.

„Kismet!“, forderte Akiim meine Aufmerksamkeit zurück.

„Was?“, fuhr ich ihn an, verärgert, dass er mich mit diesem Thema nicht endlich in Ruhe ließ.

„Das ist wichtig.“ Er stützte sich mit den Unterarmen auf den Tisch und lehnte sich ein wenig zu mir rüber. „Wenn wir alle zusammenarbeiten, können wir das beenden.“

Kauend zeigte Nevio mit seinem Besteck auf Akiim. „Da hat er recht.“

Super, jetzt fielen sie schon zu zweit über mich her.

Wolf erhob sich von der Bank, dieses Mal ohne sich das Knie zu stoßen und hielt mir seine Hand hin.

Keine Ahnung was er vorhatte, aber solange ich von diesem Gespräch wegkam, würde ich sogar raus in den Stall gehen und mich in einen Misthaufen setzten. Also legte ich meine Hand in seine riesige Pranke und ließ mich von ihm auf die Beine ziehen.

Seine Finger schlossen sich um meine, um sicher zu gehen, dass ich mich nicht losreißen konnte und dann zog er mich grinsend Richtung Tanzfläche.

„Hey, Moment mal.“ Ich versuchte mich loszumachen, als er uns zwischen die Leute zog. „Wolf, ich kenne die Schritte doch gar nicht.“

Er zuckte nur die Schultern, wirbelte mich herum, bis ich in der richtigen Reihe stand und ahmte dann die Schritte der anderen Männer nach.

Oh Gaia, das konnte doch nur in die Hose gehen.

Als ich von der Seite angerempelt wurde, weil ich im Weg stand, war ich schon versucht die Flucht zu ergreifen, aber Wolf nahm mich an die Taille und drehte mich einmal im Kreis. Dann wich er einen Schritt zurück und drehte sich selber, genau wie die anderen es taten. Dabei grinste er wie ein kleiner Junge. Zwei Mal in die Hände klatschen, Schritt nach links.

Na gut, warum eigentlich nicht, mehr als schiefgehen konnte es ja nicht. Einen Moment schaute ich mir an, was die anderen Frauen machten und versuchte sie dann zu kopieren. Wie nicht anders zu erwarten, misslangen mir meine ersten Versuche, aber ich schaffte es mich an den Rhythmus zu halten und dem Ganzen zumindest ein wenig zu folgen. Dann wurde mir klar, dass es völlig egal war, wie gut oder schlecht ich war. Es machte Spaß und das war alles was zählte.

Als ich begann zu lächeln, stieß Wolf einen Pfiff aus und wurde noch ausgelassener. Im Gegensatz zu mir machte er das richtig gut. Entweder er hatte sowas schon einmal getanzt, oder er war ein Naturtalent. Er drehte sich und sprang und packte mich, um mich im Kreis zu drehen, während ich selber nach links und nach rechts schritt und mich bemühte, nicht aus dem Takt zu geraten.

Auf einmal jubelten alle und die Männer drehten sich nach rechts, wogegen die Frauen einen Schritt nach links taten und auf einmal stand ich einem anderen Tanzpartner gegenüber. Es war der Mann, der gestern von Sawyer KO geschlagen worden war, dieser Bence. Er lächelte, ohne aus dem Schritt zu geraten, tat das gleiche wie Wolf zuvor und schien einfach nur Spaß zu haben.

Ich ließ mich darauf ein, folgte seinem Beispiel und amüsierte mich dabei, wie schon lange nicht mehr.

Beim nächsten Wechsel war ich schon sicherer und ließ mich davon nicht mehr aus dem Konzept bringen. Dieses Mal tanzte ich mit einem Mann, den ich bisher noch nicht kennengelernt hatte, aber das war völlig egal. Es machte Spaß hier herumzuspringen und sich auf die Musik einzulassen. Einfach mal alle Probleme loslassen und sich auf nichts anderes konzentrieren, als auf den nächsten Schritt, oder die nächste Drehung.

Es war … befreiend.

Warum nur war ich nicht schon früher auf die Tanzfläche gegangen? So ausgelassen war ich schon seit Jahren nicht mehr gewesen und das lag sicher nicht nur am Alkohol – obwohl ich mir sicher war, dass der auch ein wenig hineinspielte.

Als die Männer wieder jubelten und damit das Zeichen zum Partnerwechsel gaben, jubelte ich mit, drehte mich und … stand plötzlich vor Killian. Im ersten Moment überraschte mich sein Auftauchen und das nicht nur, weil ich nicht mit ihm gerechnet hatte. In den letzten Wochen hatte er sich so sehr verändert. Er sah überhaupt nicht mehr aus wie ein Städter, doch niemals hatte er so anders gewirkt, wie in diesem Moment. Es war nicht nur die Kleidung der Rebellen. Irgendjemand hatte ihm Perlen in die Haare geflochten und ihm diesen Kopfschmuck gegeben, den hier alle trugen.

Er war nicht mehr der Killian, den ich kennengelernt hatte.

Ich merkte erst, dass ich aus dem Takt geraten war, als mir die Frau rechts neben mir auf den Fuß trat.

Killian lächelte milde, doch in seinen Augen sah ich etwas, das mir nicht fremd war. Erst heute Morgen hatte ich es gesehen, in den Augenblick, in dem wir die Welt um uns herum ausgesperrt hatten. Naja, zumindest bis Sawyer hereingeplatzt war.

Nun stand diese letzte Begegnung zwischen uns. Er dachte daran, genauso wie ich. Ich fühlte mich befangen und unsicher, etwas das ich überhaupt nicht von mir kannte. Er jedoch ließ meinen Blick nicht los.

Der Tanz wurde zur Nebensache, obwohl wir ihm weiter folgten. Jedes Mal, wenn er mich berührte, erinnerte er mich damit an eine andere, viel intensivere Berührung. Doch es war nicht wie heute Morgen, das hier war nur ein schwacher Abklatsch dessen was wir getan hatten.

Als er mich das nächste Mal an sich heranzog, rutschte seine Hand unter mein Hemd und berührte die Haut an meinem Rücken. Er drückte mich gegen sich und hielt mich fest, während sein Blick sich in meinen bohrte.

Um uns herum tanzten die Leute weiter, doch wir bewegten uns nicht mehr.

Die Männer stießen wieder einen Ruf aus, doch es gab keinen Partnerwechsel mehr. Das Lied war vorbei, alle um uns herum brachen in lauten Jubel aus, pfiffen und klatschten. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich wusste, ich sollte es, aber sein Blick hielt mich gefangen. Die Wärme seiner Hand ließ meine Haut kribbeln.

Als er sich vorbeugte, wusste ich, dass er mich küssen würde. Ich wusste es, war mir aber nicht sicher, ob ich das wollte. Ich wusste nicht, ob ich es geschehen lassen sollte, oder es doch besser war, schreiend in die Nacht davon zu laufen, bis sich dieses Chaos in meinem Kopf endlich auflöste.

Letztendlich blieb ich einfach stehen. Während um uns herum wieder Musik gespielt wurde und die Leute einen neuen Tanz begannen, schloss ich die Augen und spürte, wie seine Lippen einen federleichten Kuss auf meine Hauchten. Ich spürte seine Wärme und Nähe und all das, was ich in einem solchen Moment fühlen sollte und doch erwiderte ich den Kuss nicht. Stattdessen schaffte ich es endlich unter Aufbietung meines gesamten Willens einen Schritt vor ihm zurück zu weichen. Seine Hand fiel hinab, sein Kuss ging ins Leere, seinen Blick würde ich nie vergessen. Diese Enttäuschung und ja, auch Kränkung. Meine Zurückweisung schmerzte ihn.

„Wovor hast du solche Angst?“, fragte er so leise, dass ich ihn über den Lärm der Feierenden kaum verstand.

Mein erster Impuls war es sofort zu behaupten, dass ich vor nichts und niemanden Angst hatte, doch etwas in seinem Blick hinderte mich daran. Und plötzlich musste ich mich selber fragen, warum mich der Gedanke an Intimität mit ihm zurückschrecken ließ. War es, weil er mit Herz und Seele ein Edener war und damit eigentlich zu meinen Feinden gehörte? Aber er gehörte doch nicht mehr der Stadt. Er war jetzt hier, bei mir. Und er war ein guter Mann. Ich war mir nur einfach nicht sicher, ob das hier, das war, was ich wollte.

Da ich keine Antwort auf diese Frage hatte und mich im Moment auch nicht näher damit beschäftigen wollte, hielt ich Rückzug für eine clevere und brauchbare Strategie. Doch als ich mich wortlos abwandte, bereit zur Flucht, begegnete ich, quer durch den Raum, Sawyers Blick. Noor stand bei ihm und redete grinsend und wild gestikulierend auf ihn ein, doch seine Aufmerksamkeit schien mir zu gelten. Sein Gesicht war wie ein Granitblock, bar jeder Emotion.

Mit einem Mal kam mir der Gedanke, dass mein Problem weniger das Warum war, als viel mehr das Wer.

Nein, das konnte nicht sein, denn das wäre einfach nur dumm. Ich spann mir hier gerade etwas zusammen, um eine Erklärung für etwas zu haben, dass ich mir nicht erklären konnte. Das war lächerlich. Ich verhielt mich lächerlich und ich wollte einfach nur aus dieser Situation heraus. Also tat ich das Einzige was ich in diesem Moment tun konnte: Ich floh von der Tanzfläche. 

 

oOo

Kapitel 43

 

Drei, oder vier? Vielleicht waren es auch schon fünf? Eigentlich war es ziemlich egal. Ich hatte heute nichts mehr vor, also konnte ich auch Nummer … keine Ahnung wie viel, wegkippen und auf das Beste hoffen. Interessierte doch sowieso niemanden, also warum sollte es mich interessieren? Außerdem gaben meine Gedanken so endlich Ruhe. Und so war es auch einfacher, den missbilligenden Blick von meinem großen Bruder zu ignorieren.

Der Schnaps brannte sich durch meine Speiseröhre und hinterließ ein herrlich warmes Gefühl in meinem Magen. Außerdem hatte ich Trinken bei Balic gelernt, da würden mich so ein paar Schnäpse sicher nicht umhauen.

Wie es ihm wohl gerade ging? Hoffentlich waren er und Marschall und Azra in Sicherheit und … nein, das würde ich jetzt nicht machen. Ich würde meinen Gedanken auf keinen Fall erlauben, sich in diese Richtung zu begeben, sonst müsste ich mir noch ein paar Schnäpse holen, um die Vergangenheit zu betäuben. Besser war es, meine Aufmerksamkeit wieder auf die Tanzfläche zu richten.

Wo Killian abgeblieben war, wusste ich nicht. Nach unserem Kuss hatte ich ihn aus den Augen verloren. Da sich die Halle mittlerweile ein wenig geleert hatte und nur noch wenige Leute tanzten, konnte ich nur mit Sicherheit sagen, dass er nicht mehr hier war. Auch Sawyer war verschwunden. Vor einer halben Stunde hatte er sich mit der schläfrigen Salia auf dem Arm von seinem Stuhl erhoben und die Halle verlassen. Wahrscheinlich hatte er die Kleine ins Bett gebracht und da er danach nicht mehr aufgetaucht war, hatte er sich wohl selber hingelegt.

Der Einzige der sich heute prächtig amüsierte, war Wolf. Er war noch immer auf der Tanzfläche und wirbelte gerade Laarni herum, die ausgelassen lachte, als er sie wieder zu sich heranzog und dabei gegen seine massive Brust fiel. So lebhaft hatte ich den Riesen noch nie erlebt. Und Laarni hatte ich bisher eher introvertiert eingeschätzt. Da war ich wohl einem Irrtum unterlegen. Wie bei so vielen Dingen in meinem Leben.

Oh nein, jetzt dachte ich schon wieder nach. Das musste aufhören. Also griff ich über den Tisch hinweg und schnappte mir den fast vollen Becher von Akiim.

Er ließ ihn mir, aber sein Stirnrunzeln wurde noch tiefer. „Ich weiß nicht wo dein Problem liegt, aber vielleicht solltest du ein wenig kürzer treten.“

Ich schaute ihn über den Becher hinweg an, setzte ihn mir an die Lippen und schüttete mir die Hälfte davon in die Kehle. Meine Speiseröhre war schon so betäubt, dass ich das Brennen kaum noch spürte. Leider war es nur Bier, kein Schnaps.

Mit einem Knall stellte ich den Becher zurück auf den Tisch und ignorierte seinen nonverbalen Tadel.

„Willst du mir sagen was los ist?“

„Wie kommst du darauf, dass etwas los ist? Das hier ist eine Feier und ich feiere einfach nur. So macht man das doch, oder nicht?“

„Wie du meinst.“ Er erhob sich von der Bank. „Ich muss noch kurz mit Clarence sprechen. Danach gehe ich nach Hause. Yi Min ist schon den ganzen Abend alleine.“

Die Glückliche. Sie musste sich nicht mit anderen Menschen herumärgern. Vielleicht sollte ich mir auch einen Infekt zulegen.

Akiim beugte sich zu mir vor. „Wenn du mich brauchst, du weißt wo du mich finden kannst.“

„Ich bin erwachsen, ich komme schon allein zurecht.“

Seinem Blick zu urteilen, sah er das ganz anders. Dennoch ließ er mich inmitten seiner Leute allein zurück und ging zum großen Tisch, wo Clarence mit Sam saß. Seine Kinder hatten sich alle verstreut. Außer Laarni hatten sich alle von dem Fest verabschiedet. Wahrscheinlich brauchten sie ihren Schönheitsschlaf.

Ich wollte nicht gehen. Wenn ich ging, müsste ich zurück in meinen kleinen Kabuff, wo es seltsam roch. Dort konnte ich nichts anderes tun, als in der Dunkelheit zu liegen und nachzudenken und genau das wollte ich ja vermeiden.

Wann genau war das Leben eigentlich so kompliziert geworden? Vielleicht war es das ja schon immer gewesen, nur hatte ich das nie bemerkt, da ich mich selten außerhalb meiner kleinen, sicheren Welt bewegt hatte. Damals jedenfalls waren meine größten Probleme gewesen, Nikita ein wenig im Zaun zu halten und zu verhindern, dass Marshall das von mir und Tavvin herausbekam.

Es schien so lange her, wie aus einem anderen Leben, dabei war es erst im letzten Sommer gewesen. Seitdem hatte sich viel geändert. Die Menschen um mich herum, mein Leben und auch meine verdammte Gefühlswelt, mit der ich langsam nicht mehr klarkam.

Bei Gaias unendlichen Geheimnissen, ich verstand einfach nicht, was das zwischen Killian und mir war. Ich mochte ihn, ich mochte es wie ich mich bei ihm fühlte und auch von ihm berührt zu werden. Wenn ich mit ihm zusammen war, dann war es, als wäre ich wieder bei Tavvin.

Dieser Gedanke ließ mich stocken. Ich hatte Tavvin immer gerngehabt und mit ihm zusammen zu sein hatte mir immer Freude bereitet, aber eines wusste ich mit absoluter Sicherheit: Ich liebte Tavvin nicht. Er war ein Freund und manchmal auch ein netter Zeitvertreib, mehr aber auch nicht. Und jetzt hatte Killian seinen Platz eingenommen.

Konnte es wirklich so einfach sein? Aber warum fiel mir mit Killian dann alles so viel schwerer? Diese Probleme hatte ich mit Tavvin nie gehabt.

Die Antwort war genauso simpel wie ernüchternd. Tavvin liebte mich nicht, Killian dagegen hatte mehr als nur angedeutet, dass er Gefühle für mich hegte. Tavvin hatte ich nur selten gesehen, mit Killian war ich jeden Tag zusammen. Ich mochte Killian, ich hatte ihn sogar sehr gerne und darum wollte ich ihn nicht verletzen. Würde ich ihm die Wahrheit sagen, würde ich ihn verlieren und das wollte ich nicht. Ihm diese Erkenntnis zu verschweigen war aber falsch.

Langsam wurde das wirklich kompliziert und ich wollte nicht länger darüber nachdenken, also nahm ich einen weiteren Schluck von Akiims Becher und schaute zu Clarence hinüber. Mein Bruder verabschiedete sich gerade vom großen Meister und verließ die Halle. Auf dem Weg nach draußen warf er mir noch einen Blick zu, war dann aber auch ziemlich schnell verschwunden. Wahrscheinlich wollte er unbedingt zu Yi Min.

Es musste schön sein, so geliebt zu werden.

Super, jetzt wurde ich auch noch melancholisch.

Um mich abzulenken, schaute ich wieder zu Clarence, der in einem angeregten Gespräch mit Sam vertieft war. Leider wurde das schnell langweilig. Da war es doch interessanter, Wolf zu beobachten. Er war ein guter Tänzer, was auch Laarni schon bemerkt haben musste. Die beiden bewegten sich über die ganze Tanzfläche und nahmen auch keine Rücksicht darauf, wenn vorbeikommende Leute ihnen im Weg standen.

Einmal jedoch tanzten sie fast eine ältere Dame über den Haufen, was zu einer Schimpfkanonade führte, die auch die Aufmerksamkeit von ein paar anderen Leuten auf sich zog. Nachdem die Frau dann wutschnaubend weiterzog, drehte Laarni sich zu Wolf herum und lockte ihm mit einem Finger näherzukommen.

Als er sich weitgenug heruntergebeugt hatte, flüsterte sie ihm etwas ins Ohr, was ihn grinsen ließ. Ohne viel Federlassen, schnappte er sich ihre Hand und die beiden verschwanden so schnell, dass nur noch die sprichwörtliche Staubwolke von ihnen übrigblieb. Wenn ich nun vermutete, dass dem Mann eine aufregende Nacht bevorstand, lag ich damit vermutlich nicht ganz falsch. Hoffentlich bedachte er dabei, dass sie die älteste Tochter des Häuptlings war.  

Damit waren nun alle weg und mir blieb nichts, als mehr oder weniger fremde Gesichter.

Was tat ich hier eigentlich noch? Klar, ich konnte mir noch ein paar Drinks besorgen, bis ich irgendwann bewusstlos unterm Tisch lag, aber eigentlich hatte ich keine Lust darauf. Es war höchste Zeit für mich den Abend zu beenden und ins Bett zu verschwinden. Aber meinen Becher leerte ich vorher noch. Erst dann erhob ich mich von der Bank und bekam prompt Schlagseite. Ich musste mich am Tisch festhalten, um nicht umzukippen.

Vielleicht hätte ich den letzten doch nicht trinken sollen. Oder die letzten drei. Egal, dann würde ich heute Nacht wenigstens mal wieder gut schlafen können. Oder auch einfach ins Koma fallen. Wäre als Abschluss dieses beschissenen Tages, auch nicht unbedingt das schlechteste Szenario.

Sobald ich mein Gleichgewicht zurückhatte und mir sicher war, dass meine Beine ihrer Arbeit nachkommen würden, stieg ich über die Bank. Von den Rebellen beachtete mich keiner, als ich mich von dem Tisch entfernte und im Gang verschwand. Warum sollten sie auch? Ich war keine von ihnen, nur eine Fremde, die von ihnen geduldet wurde, weil Akiim mein großer Bruder war. Ja ich war nicht mal bereit, mich ihrem Kampf anzuschließen und damit unwichtig.

Oh Gaia, was war nur los mit mir? Schluss jetzt mit dem Selbstmitleid, das war ja kaum auszuhalten. Langsam ging ich mir selber auf die Nerven.

Hinter mir wurde die Musik leiser und die Stimmen der Menschen verschmolzen zu einem Rauschen, das langsam in den Klängen der Melodie unterging. Mechanisch setzte ich einen Fuß vor den anderen. Einfach immer weiterlaufen und nach Möglichkeit gerade halten, irgendwann würde ich schon an meinem Ziel eintreffen.

Zwei Männer kamen mir entgegen und liefen an mir vorbei, ohne mich zu beachten. Sie waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie mich wahrscheinlich nicht mal bemerkt hatten. Oder ich war ihnen einfach egal.

Moment, beschwerte ich mich gerade wirklich darüber nicht beachtet zu werden? In Eden hatten mich immer alle angestarrt und auch hier konnten die Leute nach meiner Ankunft ihre Augen nicht von mir und meinen Reisegefährten lassen. Es sollte mich freuen, unbeachtet zu sein und nicht in tiefe Depressionen stürzen.

Heute war Alkohol wirklich kein Freund. Bei der nächsten Feier sollte ich mich dringend von dem Zeug fernhalten.

An der T-Kreuzzug wollte ich nach rechts abbiegen, einfach weil das der kürzeste und schnellste Weg zu Akiims Wohnung war, doch schon nach zwei Schritten blieb ich abrupt stehen. Na toll, das hatte mir jetzt gerade noch gefehlt.

Sawyer war nicht schlafen gegangen, nachdem er Salia ins Bett gebracht hatte. Nein, er lehnte auf halber Höhe des Ganges mit verschränkten Armen lässig an der Wand, ein leicht gelangweiltes Lächeln auf den Lippen und lauschte der exotischen Echo.

Mit leicht ausgestellter Hüfte, stand sie direkt vor ihm, warf die Dreadlocks in den Nacken und hatte die Augenlider verführerisch gesenkt. Als sie den Kopf bewegte, funkelte ihr Kopfschmuck im Licht der Lampen. Noch deutlicher hätte sie ihre Absichten eigentlich nur kundtun können, wenn sie ihn direkt an Ort und Stelle besprungen hätte.

Na gut, vielleicht interpretierte ich in dieses Gespräch auch ein wenig zu viel hinein, trotzdem störte es mich wie sie ihn anlächelte. Ärgerte ich mich gerade wirklich darüber, dass Sawyer sich mit einer Frau unterhielt? Ich war wirklich nicht mehr bei Sinnen. Aber ich tröstete mich ein wenig damit, dass Sawyer gelangweilt aussah, so als wollte er eigentlich gar nicht hier sein.

„Deine Flucht aus Eden, als ich davon gehört habe, ich konnte es gar nicht glauben. Sowas ist bisher noch niemanden gelungen.“ Ihre Stimme drang nur leise bis an meine Ohren.

Das war nicht seine Flucht, das war unsere Flucht. Ohne mich hätte ihm der Geburtstagsausflug auf die vierte Ebene gar nichts gebracht, außer vielleicht ein paar Wollfusseln auf seiner Kleidung.

„Hmh“, war alles was er darauf erwiderte.

„Das ist wirklich eine eindrucksvolle Leistung“, fügte sie noch hinzu und legte Sawyer eine Hand auf den Arm. „Ich glaube nicht …“

„Lass das!“, fuhr er sie verärgert an und schüttelte sofort ihre Hand ab, als sei sie etwas Wiederwertiges. Zur Sicherheit wich er auch noch zur Seite weg, damit sie ihn nicht noch mal anfassen konnte.

Das verführerische Lächeln fiel ihr aus dem Gesicht. „Tut … tut mir leid“, stotterte sie betroffen und legte sich die Hand auf den tiefen Ausschnitt.

Da hatte wohl jemand nicht gewusst, dass Sawyer ungewollte Berührungen von Frauen verabscheute. Ich sollte das nicht so hämisch denken, aber ehrlich gesagt gefiel es mir nicht besonders, dass sie ihn einfach antatschte.

„Ich wollte dir nicht zu nahetreten.“

Und ich wollte eigentlich nur ins Bett. Aber an Sawyer wollte ich nicht vorbeigehen – besonders nicht, wenn er mit Miss-betatsch-mich dastand.

„Ja, egal, vergiss es einfach.“ Er rieb sich über den Arm, als wollte er die Berührung wegwischen.

Etwas verlegen, strich sie sich das Haar hinter das Ohr.

Das war der Moment, in dem Sawyer bemerkte, wie ich im Gang stand und ihn beobachtete. Sein Blick bohrte sich in meinen und mein Herz machte wieder diesen dummen, kleinen Hüpfer in meiner Brust. Obwohl es eigentlich ja sogar zwei Hüpfer direkt hintereinander waren. Ein Doppelhüpfer sozusagen.

„Alsooo“, sagte sie langezogen, um die Situation wieder zu entspannen. „Wollen wir zurückgehen und vielleicht noch eine Kleinigkeit trinken? Das Fest wird sicher noch eine Weile laufen.“

Damit war es offiziell, mit diesem hüpfenden Herzen, würde ich sicher nicht an den beiden vorbeigehen. Schlaf wurde sowieso völlig überbewertet.

Als Echo bemerkte, dass Sawyer sie gar nicht beachtete, sondern auf etwas hinter ihr starrte, drehte sie sich mit einem Stirnrunzeln zu mir um.

Zeit für einen Abgang.

Ich machte auf dem Absatz kehrt, stolperte bei diesem Manöver auch noch über meine eigenen Beine und ging in die entgegengesetzte Richtung davon. Zurück zur Feier wollte ich aber nicht, also ging ich einfach geradeaus, irgendwo würde ich schon landen. In meinem Kopf begann es sich zu drehen. Das hatte mir gerade noch gefehlt.

Ich war fast an der Ecke angekommen, als ich mich zu fragen begann, warum ich eigentlich weglief. Denn genau das war es doch, was ich hier tat. Ich hatte mir doch gar nichts zu Schulden kommen lassen. Sawyer hatte Mist gebaut, also sollte er eigentlich das Weite suchen, wenn er mich kommen sah.

Aber er hatte sich auch entschuldigt.

Die Entschuldigung war niemals ernst gemeint gewesen.

Warum sollte man sich entschuldigen, wenn man es nicht ernst meinte?

Woher sollte ich das wissen? Ich war schließlich kein Mann.

Super, jetzt führte ich schon Selbstgespräche. Wenigstens tat ich das im Stillen in meinem Kopf.

Ich hätte einfach an ihm vorbeigehen sollen. Erst vorhin hatte ich mir doch geschworen, dass er mir egal war. Es sollte mich nicht ständig so aus der Bahn werfen, ihm zu begegnen. Und wenn er sich mit einer Fummeltrine unterhielt, sollte mir das auch egal sein, es ging mich schließlich nichts an.

So ein Mist, der Alkohol vernebelte mir heute wirklich mein Hirn. Vielleicht sollte ich erstmal frische Luft schnappen, um den Kopf wieder ein wenig klar zu bekommen. Nicht das ich wirklich glaubte, das würde mir helfen, aber irgendwas musste ich ja tun und das war allemal besser, als ziellos durch die Gänge zu wandern.

Die nächste Möglichkeit das Gebäude zu verlassen, war der Seitenausgang im Westgang. Es war eine Tür mit Fenster, die ein wenig klemmte. Ich versuchte sie mit der Schulter aufzustemmen, doch erst nach mehreren erfolglosen Versuchen wurde mir klar, dass ich ziehen musste und nicht drücken.

Verstohlen schaute ich mich um, aber zu meinem Glück, hatte mich keiner gesehen. „Kein Alkohol mehr für mich“, murmelte ich und zog die Tür ohne Probleme auf.

Der Schritt ins Freie, war wie ein Sprung ins kalte Wasser. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie warm und stickig es drinnen war und wie sehr der Alkohol mir zusetzte. Hier draußen aber ließ seine Wirkung sofort ein kleinen wenig nach. Die kühle Luft war angenehm auf meiner überhitzten Haut und alles war so schön still. Keine laute Musik, keine hundert Stimmen und Menschen, die überall waren, ganz egal, wohin man sah. Die Nacht war einfach wunderbar.

Trotzdem fragte ich mich, warum ich nicht einfach den längeren Weg zu Akiims Wohnung genommen hatte – so hätte ich Sawyer auch nicht passieren müssen.

Super, die kalte Luft half schon, mein Hirn funktionierte wieder. Einigermaßen zumindest.

Mit einem tiefen Seufzen trat ich an die Balustrade, die das kleine Podest vor der Tür umschloss und starrte in den finsteren Wald. Rechts gab es eine Treppe, die irgendwo zwischen den Bäumen endete. Ich hatte keine Ahnung, wohin sie führte und im Moment war es mir auch herzlich egal.

Die Stille war wohltuend und zum ersten Mal an diesem Tag konnte ich richtig durchatmen.

Ich stützte meine Hände auf die hüfthohe Mauer und ließ den Kopf hängen. Dann stand ich einfach nur in der Stille und genoss die kühle Herbstnacht.

Wie ich es schon früher getan hatte, schloss ich einfach die Augen und lauschte den Wind, der Gräser und Laub rascheln ließ. Irgendwo in der Ferne, machte eine Eule auf sich aufmerksam und von den Ställen konnte ich das Scharren und Wiehern der Pferde hören.

Es war so schön ruhig hier … zumindest bis das leise Quietschen hinter mir mich darauf aufmerksam machte, dass jemand durch die Tür kam. Zwei Schritte, dann wieder Stille.

Ich hoffte darauf – betete darum – dass es nur ein Feiernder war, der ebenfalls ein bisschen raus an die frische Luft wollte. Bitte, bitte.

„Löckchen.“

Meine Schultern spannten sich an. Sawyer, natürlich. Warum nur wunderte mich das nicht?

Ich drehte den Kopf ein wenig. Sawyer stand mit verschränkten Armen hinter mir und hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt. „Wie meinen?“

„Löckchen“, wiederholte er. Als ich nicht noch einmal nachfragte, löste er seine Arme und schlenderte zu mir hinüber. „Als ich dich das erste Mal sah, waren deine Haare raspelkurz.“ Er blieb direkt hinter mir stehen. Ich spürte, wie er vorsichtig an meinem Haaren zupfte. Davon bekam ich eine Gänsehaut. „Jetzt sind es kleine Löckchen.“

Und wenn ich ihnen erlaubte sich weiter frei zu entfalten, würde ich irgendwann einen richtigen Wuschelkopf haben. Nicht so extrem wie bei Nikita, aber nahe dran.

Meine Finger krampften sich bei dem Gedanken an sie ganz leicht zusammen. Ich wollte jetzt nicht an sie denken, es tat immer noch zu sehr weh.

„Was machst du hier draußen?“ Er kam näher. Ich spürte seine Körperwärme im Rücken. Er war so nahe, dass er mich fast berührte und den Effekt der kalten Luft verdrängte. „So ganz allein.“

„Ein wenig die frische Luft genießen.“

Seine Hände legten sich links und rechts neben meinen auf die Mauer. Sein warmer Atem kitzelte meinen Nacken. „Luft ist wichtig“, murmelte er. Seine Nase strich über die empfindliche Haut und plötzlich war nicht mehr nur der Alkohol daran schuld, dass mir so warm war.

Eigentlich sollte ich ihn wegschubsten, auf Abstand gehen, oder über die Mauer springen und in den Wald flüchten, um von ihm wegzukommen, aber ich blieb einfach stehen. Und das nicht nur, weil ich beim Versuch über die Mauer zu springen, wahrscheinlich mit der Nase im Dreck gelandet wäre.

Ich spürte, wie seine Lippen hauchzart über meine Haut strichen und wie er meinen Geruch einatmete. Seine Körperwärme hüllte mich ein, doch außer in meinem Nacken, berührte er mich nirgendwo. Ein angenehmer Schauder rieselte über meinen Rücken und kribbelte bis in meine Fingerspitzen. Der Alkohol schien diese Empfindungen noch zu verstärken, doch ich wusste, nicht er war dafür verantwortlich, dass ich blieb wo ich war. Allerdings war ich im Moment auch nicht bereit mir einzugestehen, warum ich es zuließ, dass er einen weiteren Kuss auf meinen Nacken hauchte und meine Nervenenden damit zum Summen brachte. Genauso wie ich das zugelassen hatte, was in meinem alten Zimmer geschehen war.

„Und was willst du hier?“, fragte ich, um mich ein wenig abzulenken. Dann fiel mir wieder ein, wo ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Diese Erinnerung schmeckte mir nicht besonders. „Solltest du nicht bei diesem Weib sein?“

Er lachte leise. „Eifersüchtig?“

„Nein.“ Und das stimmte auch. Es gab keinen Grund eifersüchtig zu sein, denn ich hatte kein Interesse an Sawyer. Außerdem hatte ich gesehen, wie er dieser Frau ausgewichen war. Er hatte von ihr nicht anfassen lassen, was ich bei seiner Vergangenheit sehr gut verstehen konnte. Ich an seiner Stelle würde mich auch von niemanden mehr anfassen lassen wollen. Nur warf das die Frage auf, warum er jetzt hier bei mir war und mich berührte.

„Schade“, murmelte er, ohne zu wissen, in welche Richtung meine Gedanken gerade abdrifteten. Er zwickte mich leicht in die Haut, was sich nicht gut hätte anfühlen sollen, es aber tat. Ich spürte es selbst zwischen meinen Beinen und es wurde auch nicht besser, als er einen Schritt näherkam und sich mit seinem ganzen Körper an meinen Rücken schmiegte.

Eine Hand, griff an meine Hüfte und drückte mich an ihn. Sein Atem fuhr heiß über meine Haut und ich spürte, dass diese Nähe auch an ihm nicht Spurlos vorbeiging.

An diesem Punkt hätte ich eigentlich Schluss machen müssen und die Flucht über die Mauer, doch in Erwägung ziehen sollen. Stattdessen ließ ich es nicht nur zu, dass er seine Hand unter mein Hemd schob, sondern legte den Kopf auch noch gegen seine Schulter.

Sein Atem war eindeutig nicht mehr so ruhig, wie am Anfang und auch meiner beschleunigte sich ein wenig, als seine Finger über die Haut an meinem Bauch strichen und er dabei die Unterseite meiner Brust streifte.

Das war nicht gut. „Vielleicht solltest du wieder hinein gehen, das Fest ist schließlich für dich.“

„Vielleicht will ich ja viel lieber mit dir feiern.“ Wieder bewegte er die Finger. Langsam umkreisten sie meine Brust.

Ich spürte, wie die Spitzen hart wurden und schloss die Augen, als er mit dem Daumen darüberstrich. Hoch, runter. Seine Lippen strichen über meine Wange, sein Atem roch nach Alkohol.

Ich sollte das nicht zulassen. Ich hatte bereits genug Probleme mit Männern und das hier würde zu nichts führen. Ich verstand nicht mal warum es geschah. Warum war er mir nach draußen gefolgt? Noch heute Morgen hatte er mir erklärt, dass er mich nicht brauchte. Doch unter seinen Berührungen, war das plötzlich egal.

Das sollte es nicht sein. Ich sollte das hier aufhalten, doch alles was ich über die Lippen brachte, war ein bedeutungsloses: „Du hast getrunken.“

„Du doch auch.“

Mit einem Mal riss er mich herum und drängte mich gegen die halbhohe Mauer. Ich hielt mich mit den Händen an seiner Hüfte fest, um nicht nach hinten zu kippen. Sein Gesicht war direkt vor meinem, seine Augen dunkel und in Schatten gehüllt. Die Nacht war so finster, dass ich nicht viel erkennen konnte. Das einzige Licht kam von dem Fenster in der Tür und war in seinem Rücken.

Mein Herz begann wie wild gegen meine Rippen zu trommeln und plötzlich machte mir diese Nähe aus unerfindlichem Grund Angst. Als er sich vorbeugte, lehnte ich mich zurück, damit er mich nicht küssen konnte, obwohl sich etwas tief in mir danach sehnte. „Nicht“, bat ich ihn leise.

Er verharrte sofort.

Ich konnte seine Augen nicht sehen, spürte aber, wie er mich musterte. Als er sich dann doch wieder vorbeugte, schloss ich die Augen und krallte meine Hände in sein Hemd. Ich spürte seinen Atem an meiner Wange, spürte, wie er seine Stirn an meine lehnte und seine Lippen meine Haut berührten.

„Ich will dir nur gute Nacht sagen“, flüsterte er. Seine Hand schob sich meinen Rücken hinauf, bis in meinen Nacken und zog mich an ihn. „Gute Nacht, Baby“, raunte er und legte seine Lippen auf meine.

In meinem Kopf schrillte eine Alarmglocke, wurde aber schnell von dem Rausch ersetzt, der über mich hinwegschwemmte und alle Gedanken mit sich fortriss. Es war wie damals in seinem Haus, nur noch besser.

Dieses Mal zögerte ich nicht, sondern erwiderte seinen Kuss. Er war sanft, zärtlich, fast schon zurückhaltend, doch das Gefühl dabei war delikat. Ein Kuss ohne Eile und Drängen. Ein Kuss, wie ich ihn noch nie bekommen hatte. Endlich waren meine Gedanken still, da war nur Sawyer.

Meine Brust zog sich bei diesem Gefühl zusammen und plötzlich wusste ich, dass das hier absolut nichts mit Sex zu tun hatte. Es war anders und das machte mir Angst. Doch bevor ich mich näher damit befassen konnte, streiften seine Lippen ein letztes Mal über meine, dann löste er sich von mir und lehnte seine Stirn an meine.

Einen Moment standen wir so in der Nacht. Dann küsste er mich noch einmal behutsam auf die Stirn und ließ mich los.

Als er zurücktrat, spürte ich den Verlust seiner Nähe am ganzen Körper. Er blieb vor mir stehen, als wartete er auf etwas, aber da ich weder wusste, was ich tun noch sagen sollte, blieb ich einfach still.

Er machte noch einen Schritt rückwärts, dann drehte er sich herum und griff nach der Tür des Hintereingangs. Gerade, als er sie aufzog, fiel mir doch noch etwas ein, dass ich zu ihm sagen konnte.

„Gute Nacht, Sawyer.“

Er verharrte kurz, ging dann aber ohne ein weiteres Wort hinein und ließ mich allein in der Kälte zurück.

Es dauerte keine Sekunde, da waren alle meine Gedanken wieder da. Was. Hatte. Ich. Getan? Ich hatte Sawyer geküsst. Nein, er hatte mich geküsst, aber ich hatte es zugelassen. Das hätte nicht passieren dürfen. Dieser Moment hätte nicht passieren dürfen. Aber das war er. Wir hatten uns geküsst. Wir hatten gerade hier gestanden und geküsst und ich hatte es genossen.

Warum hatten wir das getan?

Langsam ließ ich mich an der Mauer herunterrutschen, bis ich auf dem Boden saß. Ich schlang die Arme um mich und zog die Beine an. Die Kälte spürte ich kaum, denn mein Kopf war mit anderen Dingen beschäftigt.

Was war nur los mit mir? Ich hob die Hand und strich mit dem Finger über meine Lippen. Seinen Kuss konnte ich noch immer spüren und ein kleiner Teil von mir wollte, dass er zurückkam. Dieser Teil fragte sich auch, warum ich ihn hatte gehen lassen. Doch ein viel größerer Teil hatte Angst vor dem, was dann geschehen würde, denn hier draußen, allein in der Kälte, überkam mich die Erkenntnis.

Mit einem Mal war mir klar, warum Sawyers Worte mich so verletzt hatten. Ich wusste, warum mein Herz schneller schlug, wenn er in meiner Nähe war, oder eines von diesen offenen Lächeln in seinem Gesicht erschien. Die Erklärung war so einfach und machte alles so viel komplizierter.

Ich konnte es mir nicht eingestehen. Erkenntnis hin oder her, das durfte ich nicht erlauben. Das konnte einfach nicht funktionieren. Aber meinem Herz war das scheinbar scheißegal. Es hatte es schon eine ganze Weile gewusst, es aber versäumt, mir eine Mitteilung zu schicken.

Wann war das passiert? Warum war das passiert? Warum hatte das Schicksal beschlossen, mir mein Leben so schwer zu machen?

Auf keine dieser Fragen hatte ich eine Antwort und genauso wenig wusste ich, was ich nun tun sollte. Das wäre alles nicht geschehen, wenn ich mich nur von den Männern ferngehalten hätte. Vielleicht war das die Lösung meines Problems, ich musste das andere Geschlecht aus meinem Leben streichen. Zumindest solange bis ich wusste, was ich jetzt tun sollte.

So konnte ich es verhindern, Killian Rede und Antwort zu stehen und ihn zu verletzen und so musste ich mich nicht mit Sawyer auseinandersetzten, oder mit diesem undurchsichtigen Chaos an Gefühlen, das wegen ihm gerade durch mich hindurch tobte. Diese Entscheidung war vielleicht feige, aber sie war alles, was ich im Moment zustande brachte.

Damit blieb mir jetzt nur noch eine einzige Aufgabe: Ich musste es irgendwie von diesem feuchtkalten Steinboden in mein Bett schaffen.

 

oOo

Kapitel 44

 

Die nächsten beiden Tage waren ein Slalomlauf. Ich ging sowohl Killian, als auch Sawyer aus dem Weg und wenn ich sie irgendwo kommen sah, verschwand ich schnell in die andere Richtung. Damit machte ich mich zwar selber zu einem Feigling, aber so musste ich mich wenigstens nicht mit der Situation auseinandersetzen. Alles war so kompliziert geworden und die beiden zu meiden war eben für den Augenblick die einfachste Möglichkeit.

Außerdem gab es mir die Zeit, mich bei den Rebellen zurechtzufinden, ohne mir ständig den Kopf zu zerbrechen. Und Akiim schien diese Lösung auch sehr zu begrüßen. Jedenfalls sagte er nichts dagegen und verbrachte die nächsten beiden Tage damit, mich mit der Struktur und den Abläufen der Rebellen vertraut zu machen. Im Grunde bedeutete das einfach, dass er mich überall mit hinschleppte.

Die Gedanken an die beiden ließen mir trotzdem keine Ruhe. Ich wusste echt nicht mehr was ich hier eigentlich tat. Oder was genau ich wollte. Eben noch machte ich mit Killian rum und im nächsten Moment überwältigte Sawyers Nähe mich fast.

Das mit Killian war … berauschend. Wenn er mich anfasste, fühlte ich mich gut und wollte noch mehr, doch als Sawyer mich berührt hatte … das war etwas ganz anderes gewesen, etwas Neues, das ich so noch nie gespürt hatte und ein gewisses Suchtpotential besaß.

Ich fragte mich nur, warum das mit Sawyer überhaupt passiert war. Warum war er mir nach draußen gefolgt? Warum hatte er mich berührt, obwohl er mir noch am Morgen erklärt hatte, dass er mich nicht brauchen würde? Die viel wichtigere Frage war jedoch, warum ich eine Wiederholung wollte, obwohl ich doch genau wusste, dass es mit Sawyer nur in einem Drama enden konnte.

Das war dumm, einfach nur dumm und immer wenn diese Gedanken sich wieder in meinen Kopf schleichen wollten, verbannte ich sie so gut es ging und konzentrierte mich auf etwas anderes.

Doch selbst wenn mir dieses Meisterstück gelang, war ich noch lange nicht in Sicherheit.

Das nächste Problem das sich auftat, war Akiims Wohnung, die zwischen der von Clarence auf der einen Seite und der von den beiden Männern auf der anderen Seite lag. Egal wohin ich wollte, ich musste gezwungenermaßen an einer von beiden vorbei und lief dabei immer Gefahr, Sawyer oder Killian in die Arme zu laufen. Natürlich könnte ich mich auch in dem kleinen Kabuff bei Akiim verstecken, aber da kam ich mir vor wie in einer Grabkammer.

Eigentlich war es ganz egal wohin ich ging, seit der willkommen-zurück-Feier, kam ich mir hier überall fehl am Platz vor. Trotzdem konnte ich mich einfach nicht dazu durchringen zu verschwinden. Vielleicht weil ein kleiner Teil von mir hoffte, dass es mit der Zeit besser werden würde und ich es irgendwie schaffte, hier Wurzeln zu schlagen.

Ich würde es versuchen, zumindest über den Winter. Wenn ich mich hier bis zum Frühling immer noch nicht wohlfühlte, würde ich mein Glück irgendwo in der Ferne suchen, dort wo niemand mich kannte.

Ich konnte in den Süden ans Meer gehen. Seit ein fahrender Händler mir von Jahren einmal davon erzählt hatte, von der salzigen Luft, den endlosen Sandstränden, den hohen Wellen und der blauen Farbe des Wassers, wollte ich es sehen. Ich hatte sogar schon davon geträumt. Es wäre sicher ein guter Ort.

Jetzt jedoch würde ich es erstmal mit dem Leben hier versuchen, was bedeutete, mit Akiim zusammen zum Kampftraining der Rebellen zu gehen.

„Es ist sicherer, wenn man weiß, wie man sich wehren muss“, erklärte Akiim, als wir den kurzen Gang zur großen Eingangshalle durchquerten. „Ich zeige dir, wie du deine Gegner schnell und effizient ausschalten kannst. Du wirst dann auch wissen, wie du Angreifer überwältigen kannst, die doppelt so groß sind wie du. Oder auch bewaffnet.“

„Klingt gut.“ Und das meinte ich ernst. Ob mir Selbstverteidigung vor Monaten im Lager der Tracker geholfen hätte, wusste ich nicht, aber die Begegnung mit den Banditen wäre dann sicher anders verlaufen. „In Zukunft werde ich dann dich beschützen“, neckte ich Wolf. Wir waren ihm auf dem Weg zum Training begegnet und er hatte sich uns voller Tatendrang angeschlossen.

„Natürlich musst du die Trainingseinheiten regelmäßig wiederholen. Ziel ist es, dass du die Techniken instinktiv anwendest, ohne groß darüber nachzudenken. Das erfordert Übung.“

Ich nickte.

„Für den Anfang werde ich dir erstmal ein paar grundlegende Techniken beibringen, auf denen wir mit der Zeit aufbauen können.“

Warum nur hatte ich auf einmal den Verdacht, dass er mich insgeheim zu einem weiteren seiner Soldaten ausbilden wollte? Musste an meinem misstrauischen Wesen liegen. Vielleicht hätte ich ja erstmal über seinen Vorschlag nachdenken sollen, bevor ich zustimmte. Egal, jetzt war es eh zu spät. „Woher kannst du das alles?“ Von unsren Eltern hatte er es jedenfalls nicht gelernt.

„Sam.“

„Sam?“

Wir traten in die große Eingangshalle, wo schon einiges los war. Besonders in der Küche und an den Tischen herrschte schon reges Treiben. Es wurde geschwatzt, gelacht und natürlich gegessen. Zur Essenszeit kam man eben zusammen.

„Sam hat mich alles gelehrt.“ Er ging direkt nach links zu einer unscheinbaren Tür mit einem ziemlich abgegriffenen Knauf. „Auch andere haben mir ein paar Dinge gezeigt. Mittlerweile kann mich in diesem Stützpunkt niemand mehr schlagen. Darum führe ich das Training jetzt auch schon seit fast einem Jahr.“

Beeindruckender Aufstieg.

Wie immer öffnete Akiim die Tür und trat zur Seite, um mich als erstes eintreten zu lassen. Langsam gewöhnte ich mich an diese Geste. Auf was ich jedoch nicht gefasst war, war das, was mich auf der anderen Seite erwartete. Es war … fremdartig. Sowas hatte ich noch nie gesehen.

Der Raum war riesig. Kleine Fenster an der Wand ließen ein wenig Tageslicht hinein. Vier massive Stützpfeiler aus geflicktem Beton hielten die Decke oben und unterteilten den Raum in mehrere Bereiche.

An den Wänden waren seltsame Gerätschaften befestigt. Breite Leitern aus Holz und Stangen, die in den Raum hineinragten. In der Ecke hingen Seite von der Decke, manche hatten an ihren Enden auch Ringe. Es gab Geräte, auf denen Leute bestimmte Bewegungsabläufe immer und immer wiederholten. Kleinere Dinge wie Seile, Bälle und Gewichte schienen auch heißbegehrt.

Auf dem Boden gab es eine Vielzahl von farbigen Markierungen, deren Sinn sich mir nicht erschloss. In der Ecke standen mehrere Tische, wo die Leute konzentriert an Waffen herumschraubten. Überall waren Menschen. Sie beschäftigten sich an den Geräten, spielten mit Bällen und Gewichten, rannten außen im Kreis, oder rangen auf Matten miteinander.

Ein paar der Gesichter kamen mir bekannt vor. Da waren Echo und Nevio. Auch den alten Furkan sah ich. An einer Wand mit kleinen Kletterelementen hing Skade und versuchte mit verbissener Mine ganz nach oben zu kommen. Die Hälfte der Strecke hatte sie schon geschafft.

Wolf trat neben mich.

„Hast du sowas schon mal gesehen?“

Zu meiner Überraschung nickte er.

Ich schaute ihn an. „Du steckst voller Geheimnisse.“

Er grinste.

Akiim ging an mir vorbei und klatschte dabei laut in die Hände, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Alle zu mir in die Mitte, stellt euch in einem Kreis um die Matte auf.“

Es war schon fast unheimlich, wie schnell die Rebellen angerannt kamen. Egal was sie gerade taten, sie legten alles nieder und folgten seinem Ruf. Nur Skade brauchte ein wenig länger, weil sie erst noch die Wand hinuntermusste.

Sie reihten sich in einem lockeren Kreis, um die dünne, braune Matte, mit den vielen Flicken, auf und da ich nicht wusste was ich sonst tun sollte, schloss ich mich ihnen mit Wolf zusammen an.

Akiim wartete bis auch Skade sich bei uns eingereiht hatte, bevor er anfing zu sprechen. „Wir werden heute mit einer kleinen Vorführung beginnen, um unseren beiden Neuzugängen einen Eindruck von dem zu vermitteln, was wir hier tun.“

Und wieder waren alle Augen auf mich gerichtet. Ob ich es wohl schaffte, mich unauffällig hinter Wolf zu schieben und mich dort zu verstecken? Zweifelhaft.

„Danach paarweise Sparring. Für den Anfang brauche ich ein Paar, wer meldet sich freiwillig?“

Mindestens die Hälfte der Leute hoben die Hände, aber ich hatte so das Gefühl, dass auch jeder andere auf die Matte getreten wäre, wenn Akiim es verlangt hätte.

„Du und du.“ Akiim zeigte auf Nevio und diesen Bence und trat dann zur Seite, um den beiden Platz zu machen. Er wartete, bis sie sich gegenüberstanden und Haltung angenommen hatten, dann befahl er: „Kämpft!“

Die beiden gingen direkt und ohne Zögern aufeinander los. Bence versuchte sofort einen Schlag zu landen, doch Nevio wich geschickt zur Seite aus, packte Bence am Arm und riss ihn nach vorne. Mit einer halben Drehung gelangte er dann auch noch hinter ihn und versetzte ihm zum Abschluss einen Schlag in den Rücken.

Ich rechnete damit, dass Bence nun auf der Nase landete und Nevio damit gewonnen hätte, doch der fiel kontrolliert, landete auf den Armen und trat im gleichen Moment nach hinten aus. Er erwischte Nevio in den Kniekehlen, riss ihm damit die Beine weg und so war Nevio es, der auf den Boden klatschte.

Aus dem Publikum kamen Pfiffe und Jubel.

Das Ganze hatte nur ein paar Sekunden gedauert. Wow, ich war beeindruckt.

„Aus!“, rief Akiim und wartete, bis die beiden wieder auf den Beinen waren. Zu meiner Überraschung grinsten die Männer sich an und frotzelten miteinander, während sie wieder ihre Plätze einnahmen und Akiim ihnen erneut befahl zum Angriff überzugehen.

Dieses kleine Schauspiel zog sich über mehrere Runden hinweg. Mal gewann Nevio, mal Bence. Eins war jedoch offensichtlich: Egal wie fest die Männer zuschlugen, der Kampf blieb freundschaftlich, auch wenn es teilweise wirklich schmerzhaft aussah.

Nach der fünften Runde, als Bence stöhnend auf dem Boden lag und Nevio schweratmend auf ihn herabgrinste, rief Akiim: „Genug, ruht euch aus.“

Nevio reichte Bence die Hand und half ihm zurück auf die Beine.

„Unser Ziel ist es unseren Gegner möglichst schnell auszuschalten. Wir wollen uns nicht in einen Endloskampf hineinziehen lassen, das kostet nur Zeit und Kraft. Und je länger ein Kampf dauert, desto wahrscheinlicher ist es, dass uns ein Fehler unterläuft. Verstanden?“

Da er mich direkt anschaute, hielt ich es für nötig zu nicken.

„Gut, dann schauen wir uns doch jetzt mal an was zu tun ist, wenn wir es mit mehr als einem Gegner gleichzeitig zu tun haben. Ihr drei, würdet ihr uns die Ehre erweisen?“

Drei Damen zu seiner Linken begannen boshaft zu grinsen und traten in die Mitte. Sobald der Kampf begann, bemerkte ich sofort einen deutlichen Unterschied – von dem offensichtlichen einmal abgesehen. Die Damen waren viel gemeiner als die Männer und schenkten sich wirklich gar nichts. Da wo die Männer ein Spiel aus der Sache gemacht hatten, waren diese drei richtige Biester, die keinerlei Rücksicht kannten. Manche der Sachen taten mir schon vom Zusehen weh.

Während die Ladys versuchten sich fertig zu machen, öffnete sich im Hintergrund die Tür und Sam schlüpfte zusammen mit Laarni in den Trainingsraum. Die beiden sahen, dass sich alle in der Mitte versammelt hatten und gesellten sich still und leise dazu, ohne den Kampf zu stören.

Ich lächelte, als Wolf sich sofort ein wenig gerader aufrichtete. Sawyers Schwester hatte es ihm vom ersten Moment an angetan. Zu seinem Leidwesen bekam er nur einen kühlen Blick von dieser ätherischen Schönheit. Wüsste ich nicht, dass das einfach Laarnis Art war, hätte ich geglaubt, zwischen den Beiden sei etwas vorgefallen. Nicht das ich mich da ungefragt einmischen wollte, ich hatte genug eigenen Mist zu klären.

Applaus und Jubel kündeten vom Ende des Kampfes. Zwei der Ladys lagen am Boden, während die dritte siegreich die Arme in die Luft streckte.

„Super Leistung“, lobte Akiim sie. „Auch bei mehreren Gegnern gilt, den Kampf möglichst schnell zu beenden. Sorgt dafür, dass ihr eure Gegner vor euch habt, nicht hinter euch, damit sie euch nicht in die Zange nehmen können. Solltet ihr merken, dass ihr unterlegen seid, tretet den Rückzug an. Sorgt immer dafür, dass ihr die Rahmenbedingungen des Kampfes wählen könnt und wenn es möglich ist, versucht eine Mehrzahl von Gegnern zu trennen, damit steigt eure Chance auf einen Sieg.“

Obwohl die Anwesenden das sicher schon wussten, nickten mehrere von ihnen. Vielleicht war es auch für sie gar nicht schlecht, sich das alles einmal in Erinnerung zu rufen.

„Zu guter Letzt möchte ich noch einmal verdeutlichen, dass Größe und Kraft nicht immer ausschlaggebend sind, viel mehr geht es um die Technik. Darum bitte ich einen Mann und eine Frau auf die Matte. Wer meldet sich freiwillig?“

Wieder gingen jede Menge Hände hoch. Zu meinem Erstaunen auch die von Wolf.

Auch Akiim bemerkte es. Einen Moment überlegte er, bevor er fragte: „Bist du dir sicher, Großer?“

Wolf nickte entschlossen.

„Nun gut, dann tritt mal vor. Wer stellt sich unserem Neuling?“

Während Wolf in den Kreis trat und dabei Laarni anlächelte, hoben mehrere Frauen ihre Arme, als seien sie begierig darauf, dem großen Mann den Hintern zu versohlen.

Akiim ließ seinen Blick schweifen. Ein listiges Funkeln trat in seine Augen. Warum nur hatte ich plötzlich das Gefühl, dass mir nicht gefallen würde, was als nächstes geschah? „Skade“, wählte er und Sawyers jüngste Schwester trat ohne zu zögern auf die große Matte.

Also dieses Mann-gegen-Frau verstand ich ja irgendwo noch, aber wollte er wirklich so ein halbes Persönchen gegen Wolf in den Kampf schicken? Wolf musste sich doch nur auf sie draufsetzen und schon war sie ausgeschaltet. Dass Skade sich darauf einließ, wunderte mich dagegen gar nicht, sie war jung und unvernünftig.

Als die beiden Kontrahenten voreinander Stellung bezogen, begannen die Zuschauer zu grinsen und zu jubeln. Diese Rufe schienen allein Skade zu gelten. Ich hatte den Eindruck, keiner von ihnen glaubte an einen Sieg von Wolf. Der Riese ließ sich davon jedoch nicht beeinflussen. Völlig ruhig und gelassen stand er da und wartete einfach ab.

„Die Regeln: Keine Schläge gegen den Kopf, nicht in die Genitalien. Wenn einer auf dem Boden liegt, oder sich geschlagen gibt, ist der Kampf vorbei. Soweit verstanden?“ Als beide nickten, trat Akiim einen Schritt zurück. „Viel Glück, Großer.“

Nein, ich hatte dabei absolut kein gutes Gefühl.

„Kämpft!“

Skade ging sofort in Kampfhaltung, Wolf blieb einfach stehen und wartete ab. Sein Auftreten wirkte locker, doch ich bemerkte, wie sich seine Muskeln leicht anspannten und auch, wie genau er die Bewegungen seiner Gegnerin im Auge behielt

Skade begann den großen Mann zu umkreisen, belauerte ihn, wie ein hungriger Phantomhund seine Beute.

Fast eine Minute geschah gar nichts und ich begann mich schon zu fragen, was die beiden da trieben, dann ging das Mädchen ohne jegliche Vorwarnung zum Angriff über. Sie schlug zu, zielte auf Wolfs Niere, doch er bewegte sich schneller, als ich es so einem massigen Mann zugetraut hätte. Kurz bevor sie ihn traf, drehte er sich weg, kam so hinter sie und versetzte ihr einen Schlag zwischen die Schulterblätter, der sie nach vorne stolpern ließ.

Aus dem Publikum kamen überraschte Ausrufe. Mit so einem Manöver hatte wohl keiner von ihnen gerechnet. Einschließlich mir.

„Glückstreffer“, knurrte Skade, sobald sie sich wieder gefangen hatte und nahm wieder Angriffshaltung ein. Dieses Mal zögerte sie nicht, sondern ging direkt in den Angriff über. Sie täuschte einen Schlag an und tänzelte zur Seite, als er parieren wollte. Das wiederholte sie mehrmals, umkreiste ihn dabei, als wollte sie ihn mürbe machen. Sie war verdammt flink und die Schläge kamen sehr präzise.

Plötzlich drehte sie sich halb und versuchte ihm einen Tritt in die Kniekehlen zu versetzen, doch Wolf musste sowas geahnt haben. Er sprang in die Höhe, sodass der Tritt unter ihm hindurch sauste.

Sobald seine Füße wieder Boden berührten, packte er Skade beim Arm, verdrehte ihn ihr auf den Rücken und legte den anderen Arm wie eine Schraubzwinge um ihren Oberkörper. Als er sie dann auch noch hochhob, glaubte ich schon, er hätte gewonnen, doch Skade holte mit den Beinen Schwung und donnerte ihm ihre Hacken mit voller Wucht gegen die Schienbeine.

Wolf ging sofort ein Stück in die Knie und so wie er das Gesicht verzog, musste das mordsmäßig wehgetan haben. Trotzdem ließ er sie nicht los. Zu seinem Pech, kam sie aber nicht nur mit den Füßen wieder auf den Boden. Sie nutzte diesen Vorteil auch sofort aus, indem sie ihren Kopf nach hinten warf und ihn Wolf direkt auf die Nase donnerte.

Der Anblick allein reichte, damit auch ich zusammenzuckte.

Wolf stieß einen Schmerzenslaut aus und ließ sie los. Selbst von hier aus sah ich, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Das musste ein richtig guter Treffer gewesen sein. Aber Skade war noch nicht fertig. Sie wirbelte herum und versetzte dem großen Mann einen zielgenauen Hieb gegen das Ohr, was ihn zur Seite stolpern ließ.

„Hey!“, rief ich sofort empört. „Nicht gegen den Kopf!“

Auch ein paar der anderen Zuschauer begannen zu schimpfen.

Skade beachtete keinen von uns. Sie sah ihre Chance und wollte noch ein weiteres Mal zuschlagen, doch Wolf vereitelte ihren Versuch, indem er ihren Arm abfing und sie zurückstieß. Manchmal war rohe Kraft der Technik eben doch überlegen.

Während Skade sich wieder fing, wischte Wolf sich die Tränen aus den Augen und wirkte dabei sogar ein kleinen wenig verärgert. Als sie dieses Mal wieder auf ihn losging, wich er aus, packte dabei ihren Arm und riss ihr mit einem gezielten Tritt die Beine weg.

Skade knallte ungebremst auf den Rücken.

Ich schloss mich dem Jubel an.

Eigentlich besagte die Regel, wer auf dem Boden lag, hatte verloren, aber Skade sprang sofort zurück auf die Beine und versuchte ihr Glück ein weiteres Mal. Nur lief es absolut nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatte. Sie war gut, wirklich gut, aber zur allgemeinen Überraschung, war Wolf auch nicht schlecht. Egal was sie tat, sie schaffte keine guten Schläge mehr. Wolf wich ihr aus, parierte und gab Konter. Sie versuchte ihn an der Hüfte zu erwischen und bekam einen Schlag gegen die Schulter. Sie trat nach ihm und wurde von ihm dafür in die Zuschauer geschubst. Ein Fehlschlag folgte dem nächsten und dann begannen die Leute Wolf zuzujubeln.

Der Kampf begann Skade zu frustrieren, sodass ihre Schläge unkontrolliert und immer heftiger wurden.

„Skade, nimm dich zurück. Impulskontrolle“, rief Akiim irgendwann dazwischen, als sie ein Trommelfeuer gegen seine Arme startete. Es brachte ihr nicht viel, denn sobald sie ein wenig nachließ, schnappte Wolf sich einen Arm, drehte ihn ihr wieder auf den Rücken und stieß sie erneut zu Boden. Dieses Mal ging er aber mit hinunter und kniete sich in ihren Rücken, sodass sie gefangen war.

Die Leute begannen zu jubeln.

Einen Moment versuchte Skade noch sich zu befreien, aber dann schlug sie mit der freien Hand auf den Boden und rief äußerst verärgert. „Ich gebe auf und jetzt runter von mir!“

Wolf ließ sie sofort los und stand auf, behielt sie aber im Auge, falls sie es sich doch wieder anders überlegte.

Doch sie stand nur auf, funkelte ihn an und stürmte aus der Halle.

Da war aber jemand ein schlechter Verlierer.

Akiim trat zu Wolf, der zwar schwer atmete, aber zufrieden wirkte. „Das war nicht deine erste Trainingseinheit, du hast bereits Erfahrung.“

Wolf nickte, griff dann in seine Hosentasche und holte seinen Block heraus. Er sah ziemlich zerknittert aus. Er schrieb ein paar Worte darauf und zeigte diese Akiim.

„Garde, natürlich“, sagte mein Bruder. „Sie wollten dich in Eden zu einem Gardisten ausbilden.“

Wieder nickte Wolf.

„Wie lange warst du bei ihnen?“ Er wartete bis Wolf wieder in seinen Block gekritzelt hatte und nickte. „Damit bist du kein Anfänger mehr. Gut zu wissen.“ Er schaute auf und richtete seine nächsten Worte an alle Anwesenden. „So, findet euch zu Paaren zusammen und beginnt mit dem Training. Furkan, du trainierst mit Wolf, Kismet, du kommst zu mir.“

Bewegung kam auf. Die Leute fanden sich zu Zweierteams zusammen und begannen sich im Raum zu verteilen, während Akiim mir einige einfache Griffe und Bewegungen zeigte, mit denen ich mich vor Angreifern schützen konnte. Dabei ging es in erster Linie darum ihnen zu entkommen und nicht sie zu verprügeln. Das würde er mir erst später zeigen, versprach er mir.

Akiim war ein guter Lehrer. Er verstand es zu erklären und wurde auch nicht ungeduldig, wenn es nicht gleich beim ersten Mal klappte – oder beim zehnten. Zwischendurch gab er mir einen anderen Trainingspartner und ging selber durch die Reihen, um die anderen zu korrigieren, wenn es nötig war.

Ich war so auf meine Aufgabe konzentriert, dass ich erst merkte wie spät es war, als die Leute das Training beendeten, um sich mit knurrendem Magen auf den Weg zum Mittagstisch zu machen.

Da auch ich nach der Anstrengung etwas vertragen konnte, schloss ich mich ihnen gemeinsam mit Wolf an und holte mir eine Hähnchenkeule mit einem Haufen Gemüse. Obwohl mein Haufen sehr klein wirkte, wenn man ihn mit dem Berg auf Wolfs Teller verglich.

Wir suchten uns einen Platz ziemlich weit am Rand und ließen es uns schmecken.

Irgendwie war es angenehm, hier zu sitzen. Zwar fehlte da noch immer dieses Gefühl von Zugehörigkeit, aber wenigstens kam ich mir im Moment nicht völlig fehl am Platz vor. Vielleicht sollte ich mich selber mehr einbringen. Zwar würde ich mich nicht an ihrem Kampf beteiligen, aber es gab sicher auch noch genug andere Aufgaben zu erledigen. Und dann hätte ich auch nicht so ein schlechtes Gefühl dabei, ihr Essen zu essen, denn ich hätte ja dafür gearbeitet. „Ich werde Akiim bitten, mir einer Aufgabe zu übertragen.“

Wolf hob eine Augenbraue.

„Keine Ahnung was. Irgendwas.“

Er hob den Finger und stockte dann. Frustration machte sich auf seinem Gesicht breit. Ich hatte das Gefühl, er wollte mir etwas sagen, aber da ich nicht lesen konnte, erwies sich das als unlösbares Problem.

Da fiel mir etwas ein. „Wolltest du mir nicht mal die Zeichensprache beibringen?“

Die Frustration schwand nicht, aber er nickte.

„Dann mal los.“

Er hob die Augenbraue, als wollte er fragen: Jetzt?

„Warum nicht? Oder hast du gerade etwas Besseres zu tun?“

Er zeigte auf seinen Teller.

„Du kannst doch dabei essen.“

Mit einem Seufzen gab er sich geschlagen. Nach kurzer Überlegung zeigte er erneut auf seinen Teller und machte dann eine kreisende Bewegung über seine Hand.

Ich wiederholte die Bewegung und fragte: „Essen?“

Er schüttelte den Kopf und zeigte wieder auf den Teller.

„Teller?“

Er nickte.

„Damit kann ich mein erstes Wort.“

Er grinste und zeigte mir noch ein paar andere Zeichen. Es waren einfache Dinge, wie Essen, Kleidung, oder Messer. Alles Dinge die in Reichweite waren. Dann ließ er mich die Worte wiederholen, wobei ich mich das eine oder andere Mal verhaspelte, was ihm zum lachen brachte. Entweder weil ich mich so blöd anstellte, oder weil ich ein völlig falsches Wort zeigte. Vielleicht hatte ich aber auch einen dreckigen Witz erzählt, ohne es zu wissen, er hatte jedenfalls seinen Spaß. 

„Die Sprache der Hände.“

Bei Laarnis Stimme, drehten wir uns beide herum.

„Darf ich mich euch anschließen?“

Wolf war von der Idee so begeistert, dass er mich fast von der Bank schubste, in dem Versuch Platz für sie zu schaffen.

„Hey!“, beschwerte ich mich, doch er schien es gar nicht mitzubekommen. Er beobachtete einfach nur Laarni dabei, wie sie sich neben ihm niederließ.

Als sie dann auch noch langsam ein paar Bewegungen mit den Händen machte, so als sei sie ungeübt, begannen seine Augen zu leuchten.

Mit einem Mal kam ich mir hier ziemlich überflüssig vor. Damit war die Lehrstunde für mich wohl erstmal vorbei. Seufzend aß ich die kalten Reste meines Essens. Naja, man sollte es ja auch nicht übertreiben und heute war ich ja wirklich schon fleißig gewesen.

Ich beendete mein Essen und schob gerade meinen Teller von mir, als Laarni sagte: „Da kommt dein Freund.“

Zuerst glaubte ich, sie sprach mit Wolf, aber dann bemerkte ich, dass sowohl sie als auch Wolf mich ansahen. „Welcher Freund?“

Sie zeigte an mir vorbei, auf die andere Seite der Halle.

Dort, wo der breite Gang begann, stand Killian und schaute sich suchend um.

Oh nein. Hastig erhob ich mich. „Ich glaube, ich gehe mal schnell nach Trotzkopf schauen. Der vermisst mich sicher schon.“

Wolf bedachte mich mit einem aussagekräftigen Blick.

Das hatte mir gerade noch gefehlt, stille Kommentare von den billigen Plätzen. „Schau mich nicht so an und hör auf das zu denken. Ja, ich kann dich denken hören und ich mag nicht was du denkst, also hör auf damit.“

Wolf schmunzelte.

„Und jetzt machst du dich auch noch über mich lustig. Das ist gemein von dir und darum werde ich jetzt gehen.“ Und zwar nur deswegen und nicht weil Killian mich entdeckt hatte und jetzt genau in meine Richtung steuerte. Natürlich nicht, das wäre ja auch albern.

Ich drehte mich um und floh. Na gut, dann war ich halt feige. So war das eben. Im Moment, wo ich noch nicht mal selber wusste, was ich eigentlich wollte, konnte ich mich dieser Situation nicht stellen. Leider konnte ich diese Masche nicht ewig durchziehen, irgendwann würde ich mich damit beschäftigen müssen. Aber nicht jetzt, jetzt musste ich nach meinem treuen Flohsack schauen.

Beim Weggehen hörte ich noch, wie Laarni zu Wolf sagte: „Sie ist schon ein bisschen seltsam.“

Und dabei kratzte sie nur an der Oberfläche.

Vielleicht war es genau das was ich brauchte, einen weiblichen Freund. Das wäre bestimmt weniger kompliziert. Aber dann musste ich an Roxy denken. Sie war zwar keine Freundin, aber sie hatte es sein wollen und Roxy konnte ziemlich anstrengend sein. Na gut, Frauenfreundschaften wären sicher auch kompliziert, aber die würden wenigstens nicht ständig versuchen mich zu küssen. Zumindest ging ich davon aus.

Da eine Freundin aber leider nicht einfach vom Himmel fiel und Killian mir noch immer auf den Fersen war, verließ ich eilig die Halle durch den Eingang und trat hinaus in den Regen.

 

oOo

Kapitel 45

 

„Wo willst du hin? Das Training beginnt erst in einer halben Stunde.“

Mit der Hand an der Türklinke, hielt ich inne. Kurz überlegte ich meinen Bruder einfach nicht zu beachten, warf dann aber doch einen Blick über die Schulter. „Und das bedeutet, ich darf diese vier Wände vorher nicht verlassen? Klingt ein wenig nach Gefängnis, meinst du nicht auch?“

Akiim funkelte mich verärgert an. Er saß zusammen mit Yi Min am Tisch und löffelte Haferschleim aus einer Schüssel. „Das habe ich nicht gemeint.“

„Dann möchtest du also, dass ich dich um Erlaubnis frage, bevor ich irgendwo hingehe und dich über jeden meiner Schritte informiere.“

„Sieh es ihm nach“, bat Yi Min mich. Zwar war sie noch nicht ganz gesund, sah heute aber schon viel besser aus. Trotzdem hatte Akiim einen halben Herzinfarkt erlitten, als sie einfach aufgestanden war und sich an den Tisch gesetzt hatte. „Er ist immer ein wenig überbehütend.“

„Danke“, kam es trocken von Akiim.

Sie lächelte ihn an. „Sei nicht gleich beleidigt, du weißt doch, ich liebe diese Seite an dir. Da fühle ich mich sicher.“

Das schien ihn ein wenig zu besänftigen.

Ich sollte verschwinden, bevor sie noch damit begannen, sich ihre ewige Liebe zu schwören, so viel Kitsch am frühen Morgen wäre sicher ungesund. Also öffnete ich die Tür.

Sofort lag Akiims Aufmerksamkeit wieder bei mir. „Du hast mir immer noch nicht gesagt, wohin du willst.“

Das war ja noch schlimmer, als bei einem Verhör. „Ich will nach Trotzkopf sehen. Du weißt schon, groß, haarig, spuckt die Leute gerne an und macht ansonsten was er will.“

Auf seiner Stirn erschienen ein paar kleine Falten, als er die Augenbrauen zusammenzog. „Willst du vorher nicht noch etwas frühstücken?“

Nein, ich konnte es mir nicht verkneifen, meine Augen zu verdrehen. Ich war ja schon schlimm in solchen Sachen, aber er toppte echt alles. „Wenn ich Hunger bekomme, hole ich mir vorne etwas.“ Bevor er mich noch weiter aufhalten konnte, huschte ich schnell hinaus auf den Gang und schloss eilig die Tür hinter mir.

Geschafft, ich war ihm entkommen.

Also wenn er so weiter machte, musste sich an unserer Wohnsituation etwas ändern. Diese ständigen Kontrollen würden mich sonst noch zu einem Mord verleiten. Aber jetzt würde ich wenigstens eine Zeitlang erstmal von ihm verschont bleiben. Zum Glück.

Mit einem tiefen Atemzug wandte ich mich zum Gehen und erstarrte mitten der Bewegung. Die Tür zu Clarences Quartier stand offen und davor stand Sawyer. Wieder war er ganz in schwarz gekleidet und wieder hatte er es nicht geschafft, sein Hemd bis obenhin zu schließen. Dafür trug er heute aber einen Kopfschmuck der Rebellen und ich fand, er stand ihm sehr gut. Ein breites Stück verlief über seine Nase, teilte sich auf seinen Wangenknochen und verschwand dann über seinen Ohren im Haar. Rechts waren ein paar Blechstreifen angebracht, links jedoch waren es nur Drähte, die seine Narben offenließen.

Ein kurzer Blick, mehr war nicht nötig, um mein Herz hüpfen zu lassen und mich daran zu erinnern, was bei unserem letzten Zusammentreffen geschehen war. Und dann konnte ich einfach nicht mehr wegschauen.

Sawyers Auge war ruhig und abwartend auf mich gerichtet. Wartete er darauf, dass ich zu ihm kam? Das würde sicher nicht passieren. Mir war klar, dass ich ihm nicht ewig aus dem Weg gehen konnte, aber noch war ich dazu in der Lage. Und zu meinem Glück, musste ich auch gar nicht an ihm vorbei.

Also mobilisierte ich meine ganze Willensstärke, wandte mich von ihm ab und marschierte eilig Richtung Ostgang. Sobald ich um die Ecke verschwunden war, verschwand der bohrende Blick in meinem Rücken. Aufatmen konnte ich trotzdem nicht. Diese Situation musste bereinigt werden, denn sie war anstrengend und zerrte zusehends an meinen Nerven. Leider hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie ich das tun sollte.

Nach diesem Kuss vor drei Tagen … ich wusste einfach nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Ich könnte es ignorieren, so tun, als wäre es nie geschehen, doch das fühlte sich falsch an. Genauso verkehrt fühlte es sich aber auch an, darauf einzugehen. Vielleicht sollte ich mich ihm einfach stellen und ihm ordentlich gegen das Schienbein treten. Verdient hätte er es, nachdem er mich in dieses Gefühlschaos gestürzt hatte.

Ich war so in meine Gedanken vertieft, dass ich nicht aufpasste, wo ich langlief und fast gegen eine Tür gerannt wäre, weil diese sich unerwartet vor mir öffnete. Ich schaffte es gerade noch so eine Beule zu vermeiden, doch da kam schon der nächste Schreck. Das war nicht irgendeine Tür, dass war die Tür zu der Unterkunft von dem anderen Mann, mit dem ich mich momentan nicht auseinandersetzten wollte.

Sowas konnte auch nur wieder mir passieren.

Zu meiner Erleichterung war es Wolf, der nach draußen trat und bei meinem Anblick zu lächeln begann. Noch mal Glück gehabt.

„Auf dem Weg zum Frühstück?“

Er grinste.

Das nahm ich mal als Zustimmung. „Gehst du auch wieder zum Training?“

Er nickte und ging ein Stück zur Seite, um die Tür zu schließen, doch in diesem Moment fragte von drinnen eine Stimme: „Ist das Kismet?“, und schon in der nächsten Sekunde tauchte Killian bei uns auf.

So viel zum Thema Glück.

Als er mich sah, erschien dieses vertraute Lächeln auf seinen Lippen. „Kismet.“

Ich sagte nichts, ich stand einfach nur da, starrte ihn an und hoffte das Universum hätte erbarmen mit mir und würde mir die Fähigkeit der Unsichtbarkeit schenken. Klappte leider nicht.

„Geht es dir gut?“

Körperlich konnte ich nicht klagen, aber mental war ich mir da nicht so sicher.

Ich schaute hilfesuchend zu Wolf, doch der hob nur eine Augenbraue, als wollte er fragen, was ich jetzt von ihm erwartete. Vielleicht war er aber auch einfach selber neugierig, wie ich diese Situation meistern würde. Schöner Freund.

„Ähm … ich glaube ich habe etwas vergessen. Wir sehen uns später.“ Ich machte auf dem Absatz kehrt und ergriff eilig die Flucht.

„Warte, ich komme mit.“

Nein, nein, nein. „Brauchst du nicht“, rief ich über die Schulter, ohne in meinem Schritt langsamer zu werden. Allerdings hätte ich wohl rennen müssen, um ihm zu entkommen und selbst da war ich mir nicht sicher, ob es mir gelungen wäre ihn abzuschütteln. So hatte er jedenfalls keine Probleme zu mir aufzuschließen.

„Das ist schon in Ordnung.“

Nein, ist es nicht. „Ich mache das kurz alleine, das geht schneller.“

„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, du läufst vor mir weg.“

Was war er doch für ein schlaues Kerlchen. „Das bildest du dir ein. Ich bin einfach … beschäftigt.“ Ich versuchte etwas schneller zu laufen und bog um die Ecke, nur um mich vor meinem Fluchtvorhaben verabschieden zu können.

Sawyer stand noch immer in der offenen Tür, nur hatten sich mittlerweile auch Noor und Laarni zu ihm gesellt. Alle drei schauten in unsere Richtung, als wir um die Ecke kamen.

Verdammt, warum war der denn noch nicht verschwunden?

Killian legte mir eine Hand auf dem Arm und hinderte mich damit am Weitergehen. „Bitte, ich glaube wir sollten uns dringend unterhalten.“

„Klar, ähm … aber später, jetzt habe ich keine Zeit.“

„Kismet …“

„Ich kann das jetzt wirklich nicht.“ Ich machte mich von ihm los und eilte davon.

„Kismet, warte.“

Da Sawyer mir den Weg nach vorne abschnitt und hinter mir dank Killian kein Durchkommen war, wählte ich den einzigen Weg, der mir blieb: Die Flucht nach vorne, in Akiims Wohnung. Ich war nicht nur in Rekordzeit da, ich war auch noch nie so schnell durch eine Tür gegangen und hatte mich dabei so schlecht gefühlt.

Akiim und Yi Min schauten überrascht von ihrem Frühstück auf. Mit so einer schnellen Rückkehr hatten sie wohl nicht gerechnet.

„Was ist los?“, wollte Akiim wissen.

Als wenn ich ihm das sagen würde. „Ich habe etwas vergessen.“ Ich ging zu den Sesseln hinüber und ließ mich auf die zerschlissenen Polster fallen.

„Und was?“

Meinen gesunden Menschenverstand. „Nicht so wichtig.“ Ich zog die Beine hoch und schlang die Arme darum.

Akiim ließ seinen Löffel sinken. „Wenn du nicht mit mir redest, kann ich dir nicht helfen.“

„Wie kommst du darauf, dass ich Hilfe brauche?“ Ich brauchte nur einen Ort, an dem ich mich einen Moment verstecken konnte, bis die Kerle auf dem Gang draußen verschwunden waren.

Akiim öffnete den Mund, doch bevor er etwas sagen konnte, legte Yi Min ihm eine Hand auf den Arm. „Lass sie. Es gibt Dinge, über die redet man nicht mit seinem großen Bruder.“

„Ach ja? Und was sind das für Dinge?“

„Frauenprobleme.“

Akiim klappte seinen Mund wieder zu und ein leicht panischer Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.

Super, jetzt glaubte er wahrscheinlich, dass ich an Menstruationsproblemen litt. Na wenigstens musste ich ihm jetzt nicht mehr Rede und Antwort stehen.

„Ähm … willst du eine Wärmflasche?“

Eine Wärmflasche? „Was soll ich damit? Dich verprügeln?“

„Ich wollte ja nur nett sein“, knurrte er verärgert in seinen nicht vorhandenen Bart und machte sich dann daran, die Reste aus seiner Schüssel zu kratzen.

Ich blieb einfach wo ich war und versuchte herauszufinden, wie ich aus dieser vertrackten Situation entkommen konnte. Was ich hier tat war feige und unfair, aber in der letzten Zeit hatte ich bereits so viel verloren. Wenn ich Killian die Wahrheit sagte, würde ich ihn auch noch verlieren, da war ich mir sicher.

Vielleicht sollte ich einfach ein Weilchen Abstand halten, mit ein bisschen Glück würde sich das alles dann ganz von alleine regeln.

Was Sawyer betraf, darüber wollte ich gar nicht erst nachdenken. Ihn interessierte es sicher nicht, ob ich mich von ihm fernhielt, jetzt wo er seine Familie und sein Leben zurückhatte. Vielleicht war er ja sogar froh darüber, wenn ich wegblieb.

Klang schon irgendwie logisch, nur passte dieser Kuss auf seiner Feier absolut nicht in dieses Bild. Ich verstand immer noch nicht, was da geschehen war und auch nicht warum. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Und warum konnte ich nicht aufhören daran zu denken?

Es war so anders gewesen, so unerwartet und neu. Und ich sollte diesen Moment endlich aus meinem Kopf verbannen.

Als das Frühstück beendet war, brachte Akiim Yi Min zurück ins Bett und kündete anschließend zum Aufbruch – natürlich nur, wenn ich mich trotz meiner Frauenprobleme fürs Training bereit fühlte. Mein giftiger Blick hinderte ihn daran, noch mehr zu diesem Thema zu sagen. Er murmelte nur etwas Unverständliches über Frauen und verließ die Wohnung.

Es war das erste Mal, dass er mir nicht die Tür aufhielt und mich als erstes hinausließ. Das fand ich schon ein wenig lustig. Leider verging mein Lächeln recht schnell wieder, als ich ihm hinaus auf den Gang folgte und sah wer da auf mich lauerte.

Killian.

Er war nicht verschwunden. Er hatte sich mit den Händen in den Hosentaschen an die gegenüberliegende Wand gelehnt und wartete dort ganz offensichtlich auf mich.

Mist, so hatte ich mir das nicht vorgestellt und jetzt war ich mir nicht sicher, wie ich reagieren sollte. Schon wieder in Akiims Wohnung zu flüchten, wäre einfach nur armselig. Aber die Aussicht darauf, sich ihm zu stellen, war beunruhigend.

„Ich glaube, wir sollten uns unterhalten“, sagte er in ruhigem Ton.

„Ich …“ Ja was ich?

Akiim schaute misstrauisch zwischen uns hin und her. „Alles in Ordnung?“

Ich konnte nein sagen, dann würde er Killian entfernen, aber damit würde ich nichts besser machen. Eigentlich konnte ich nur eines tun: Den Schaden so gering wie möglich halten. „Ja, alles in Ordnung“, gab ich mich geschlagen und rieb mir über die Stirn. „Geh schon vor, ich komme nach, sobald ich hier fertig bin.“

Irgendwie schien er größer zu werden und den drohenden Blick, den er Killian zuwarf, war nicht nur unnötig, sondern auch noch albern. „Lass dir nicht zu viel Zeit, du brauchst das Training.“

„Geh.“ Also so einen großen Bruder zu haben, konnte ganz schön anstrengend sein.

Er bedachte Killian noch einen Moment mit seinem Blick, dann wandte er sich ab und ließ mich mit ihm allein. Wenigstens ein kleiner Trost war mir geblieben: Sawyer und seine Schwestern waren nicht mehr hier.

„Also, was gibt es?“, fragte ich unbehaglich und verschränkte die Arme vor der Brust. Dabei schaffte ich es nicht, ihm in die Augen zu sehen.

Sein halbes Lächeln erschien auf seinen Lippen, trotzdem wirkte er nicht glücklich. „Du weichst mir seit Tagen aus.“

„Ich habe viel zu tun.“ Damit dir auszuweichen.

„So viel, dass du immer in die andere Richtung rennst, wenn du mich kommen siehst?“ Sein Lächeln verschwand und er seufzte leise. „Ich weiß wie schwer diese Situation für dich ist, weil ich aus Eden bin und sich etwas in dir gegen den Gedanken wehrt, einem Städter …“

„Ich bereue es nicht.“ Das war die Wahrheit und das sollte er wissen. Wenigstens das hatte er verdient.

Damit hatte ich ihn aus dem Konzept gebracht. „Dann … ich verstehe nicht.“ Er schien nicht recht zu wissen, was er dazu sagen sollte. „Ich habe gedacht … warum rennst du vor mir weg, wenn du es nicht bereust?“

Weil ich dich nicht verlieren will. Was schon ein ziemliches Paradox war. Ich mied ihn, damit er bei mir blieb. Hatte man schon mal so eine dumme Erklärung gehört? „Ich bin einfach … du …“ Ich konnte es ihm nicht sagen. „Ich kann darüber jetzt nicht sprechen.“ Ich setzte mich in Bewegung. Mit ein bisschen Glück würde er mir nicht zum Training folgen. Leider war mir das Glück heute absolut nicht holt.

„Du versuchst mir schon wieder auszuweichen.“ Es bereitete ihm keine Schwierigkeiten mit mir Schritt zu halten. Wahrscheinlich, weil ich mich dieses Mal nicht so beeilte. Er sollte ja nicht glauben, dass ich vor ihm weglief.

„Das bildest du dir ein.“

„Wenn ich mir das einbilde, dann sag mir, was das zwischen uns ist.“

Verdammt, genau darüber wollte ich eben nicht reden. „Da ist nichts“, sagte ich daher kurz angebunden und marschierte um die Ecke in den Ostgang. Wenigstens musste ich mich dieses Mal nicht davor fürchten, dass er plötzlich aus seinem Quartier kam, der lief ja schon neben mir her.

Killian stieß einen leidgeprüften Seufzer aus. „Kismet, du bist eine faszinierende Frau, aber du bist auch furchtbar anstrengend.“

Das klang jetzt nicht wirklich nach einem Kompliment. „Du kannst ja einfach weggehen, wenn du mich nicht ertragen kannst“, sagte ich leicht verärgert.

„Ich will nicht weggehen, ich will mit dir sprechen, aber du machst es mir nicht gerade leicht. Könntest du bitte mal stehen bleiben.“ Er nahm mich beim Arm und brachte mich damit zum Anhalten. „Hast du darüber nachgedacht?“

Jetzt war ich ein wenig verwirrt. „Worüber?“

So wie er aussah, brachte ich ihn wohl gerade ein wenig zum Verzweifeln. „Über das, was du mir versprochen hast.“

Nein, damit war ich keinen Deut schlauer.

Er sah es mir wohl an. „Du hast mir gesagt, dass ich bleiben könnte, wenn ich wollte und ich habe dich gefragt …“

„Ob ich das möchte“, beendete ich seinen Satz.

Er nickte. „Du hattest keine Antwort, aber du hast versprochen darüber nachzudenken.“

Naja, ja, hatte ich wohl und in den letzten Tagen hatte ich wirklich über eine Menge Dinge nachgedacht, das allerdings war mir in dem ganzen Chaos irgendwie entfallen. „Du solltest es nicht von mir abhängig machen, ob du hierbleiben willst, oder nicht.“

„Das ist keine Antwort.“

„Das ist alles, was ich im Moment für dich habe.“ Ich befreite mich aus seinem Griff und setzte mich wieder in Bewegung.

Einen Moment hoffte ich, dass er einfach zurückbleiben würde und ich somit diesem Gespräch entfliehen konnte, aber heute schien er fest entschlossen, ein paar Antworten zu bekommen. Er ließ sich nicht abschütteln.

„Du weißt, was ich für dich empfinde. Ich denke, ich habe es mittlerweile sehr deutlich gemacht.“

„Und was erwartest du jetzt von mir?“

„Ein Gespräch, eine Reaktion, irgendwas.“

Nein, er erwartete von mir etwas ganz bestimmtes und das konnte ich ihm nicht geben. Ich konnte ihm aber auch nicht die Wahrheit sagen, denn das würde alles nur noch schlimmer machen. Warum nur konnte er sich nicht für eine andere Frau interessieren? Das wäre sowohl für ihn als auch für mich das Beste. Alle wären glücklich und ich würde nicht in dieser Zwickmühle stecken.

Leider schien die Welt es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, mir mein Leben so schwer wie möglich zu machen.

Wir erreichten das Ende des Gangs und bogen um die Ecke. Mit jedem weiterem Schritt, den ich schwieg, wurde Killians Mine verkniffener und ich wusste einfach nicht, wie ich die Sache bereinigen konnte, ohne ihn zu verletzen.

„Ist es für dich wirklich so schwer, mit mir zu sprechen?“, fragte er leise.

Normalerweise nicht. „Ich habe gerade einfach keine Zeit, mich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Ich muss zum Training.“ 

Er gab ein Schnauben von sich. „Wirklich? So versuchst du mich jetzt abzuspeisen?“

Wir bogen in den Gang, der in die Halle führte.

„Ich speise dich nicht ab.“

„Doch, genau das tust du. Du sagst, du bereust es nicht, gehst mir aber aus dem Weg. Du vermeidest direkte Antworten und versuchst mich stehen zu lassen. Es klappt nicht, also kommst du jetzt mit dummen Entschuldigungen. Sag mir doch einfach wo das Problem liegt, denn ich weiß nicht mehr weiter und das macht mich langsam verrückt.“

Ich presste die Lippen aufeinander, um mich am Sprechen zu hinderten. Das was er da forderte … ihm war nicht klar, was er von mir verlangte.

„Kismet, bitte, sprich doch einfach mit mir.“

Leider war das Ganze nicht so einfach, wie er sich das vorstellte. „Warum ist dir das plötzlich so wichtig?“ Ich hatte die Halle fast erreicht, ich sah schon die vollen Tische und Bänke, an denen sich die Leute an ihrem Frühstück genüsslich taten. Nur noch ein kleines Stück, dann wäre ich ihm entkommen.

„Weil ich es wissen muss. Es kann doch nicht zu viel verlangt sein, mir eine klare Antwort zu geben. Wovor hast du solche Angst?“

Davor dich zu verlieren. „Du kannst keine Antwort erzwingen, wenn ich noch nicht bereit dazu bin und wenn du es doch versuchst, wird dir nicht gefallen, was ich zu sagen habe.“ Ich trat in die Halle und was war das Erste was ich sah? Sawyer. Er saß zusammen mit Salia und seinen Schwestern ganz vorne an einem Tisch und bemerkte mein Eintreten sofort.

Natürlich, damit hätte ich eigentlich rechnen müssen. Fehlte jetzt nur noch, dass er zu uns herüberkam und sich dem Gespräch anschloss. Das würde bestimmt lustig werden.

Starker Regen prasselte oben auf das Oberlicht. Das Geräusch erfüllte die ganze Halle.

Ich wollte mich gerade nach links wenden, als Killian mich wieder am Arm ergriff und festhielt. Er wirkte leicht verärgert, aber auch irgendwie hilflos. „Aber du kannst mich auch nicht ewig in der Warteschleife halten. Das ist mir gegenüber nicht fair.“

„Fair? Ich habe nie etwas von dir verlangt und dir auch nichts versprochen. Wenn überhaupt, hältst du dich selber in der Warteschleife.“

„Und du weißt ganz genau, warum ich das tue.“

„Dann lass es doch, wenn du es nicht willst.“ Ich befreite mich sehr nachdrücklich von seinem Griff. „Und hör gefälligst …“ Ich riss die Augen ungläubig auf.

Vor der Küche stand ein junger Mann. Sein langes, blondes Haar hatte er im Nacken zu einem Zopf gebunden. Das breite, kantige Kinn trug einen Dreitagebart. Er war ein gutaussehender, sehr maskuliner Kerl mit blauen Augen. Nicht so wie die von Killian, sondern viel dunkler. Die Lederkleidung war mit Pelz besetzt.

Er war kein Rebell, aber ich kannte ihn. Zumindest wenn ich mich nicht irrte. Das war schwer zu sagen, denn er hatte die Arme nicht nur um eine Frau geschlungen, er knutschte auch gerade wild mit ihr herum. Aber ich kannte diesen Körper, ich hatte ihn berührt und gespürt. Nur hätte ich hier niemals mit ihm gerechnet.

Als Killian klar wurde, dass er meine Aufmerksamkeit verloren hatte, drehte er sich herum um zu schauen, was mich da so fesselte.

„Das kann gar nicht sein“, murmelte ich und näherte mich dem knutschenden Pärchen. Doch, er war es wirklich. „Tavvin?“

Er brauchte einen Moment, um sich von seiner Feme Fatale zu lösen. Als er mich dann erblickte, riss er sich sichtlich erschrocken von der Dame los und sprang regelrecht von ihr weg. „Kismet! Oh, ähm, was … das ist nicht das was du denkst“, stotterte er sofort los. Seine sonst so melodiöse Stimme, ging dabei ein paar Oktaven nach oben. „Das schwöre ich dir. Sie ist nur …“

„Nur?“, unterbrach ihn die Frau mit einem bedrohlichen Ton in der Stimme. Ihre Augen wurden schmal.

Sein Mund klappte zu und es war offensichtlich, dass er sich hier zwischen uns nicht wohlfühlte. Sein Schweigen war jedoch ein Fehler, denn das schien sie wirklich wütend zu machen. Aus dem Nichts verpasste sie ihm eine deftige Ohrfeige, warf mir dann noch einen giftigen Blick zu und zog beleidigt ab.

Tavvin schaute ihr betroffen hinterher und rieb sich dabei die Wange. Dann aber schien ihm wieder einzufallen, dass ich noch immer neben ihm stand und erneut ergriff Nervosität von ihm Besitz. „Das war nicht das wonach es aussah, aber du warst nicht hier und ich dachte … also, wenn ich gewusst hätte, dass du hier auftauchst, dann hätte ich nicht …“ Er verstummte, als er mein Schmunzeln bemerkte und ließ die Hand sinken. Dann atmete er einmal tief durch, um sich zu beruhigen. „Du bist gar nicht sauer.“

„Nein, aber mit ihr hast du es dir jetzt wohl gründlich verscherzt.“ Ich schaute der Frau hinterher, die gerade die Halle verließ und bemerkte dabei, dass Sawyer uns beobachtete. Ja, sollte er nur glotzen.

„Das ist nicht schlimm, sie ist nicht wichtig.“ Er begann zu lächeln, so wie ich es von ihm kannte und griff mich um die Taille, um mich zu sich heranzuziehen. „Hauptsache zwischen uns ist alles in Ordnung.“

Ähm … ja, da hatte er wohl etwas falsch verstanden. „Tavvin“, warnte ich ihn, doch er lächelte nur noch breiter.

Tavvin war der erste Mann in meinem Leben gewesen, der mich auf die Art berührt hatte, wie ein Mann eine Frau berührte. Nur leider war er mit der Zeit ein wenig zu anhänglich geworden. Ich mochte ihn, aber ich liebte ihn nicht. Außerdem war er immer ziemlich schnell beleidigt und bockte dann wie ein kleines Kind herum.

„Ich habe dich vermisst“, sagte er leise.

„Ja, ich habe gerade genau gesehen, wie sehr du mich vermisst hast.“ Ich löste seine Hände von mir, behielt sie aber in der Hand. So verhinderte ich, dass er noch einmal nach mir griff. „Was machst du hier?“

„Na was schon? Ich bin ein fahrender Händler. Ich fahre von Clan zu Clan, um meine Waren an den Mann zu bringen.“

„Du meinst wohl den Schrott, den Saad so aus den Ruinen zieht.“

Er grinste. „Lass ihn das bloß nicht hören. Er ist immer tagelang tödlich beleidigt, wenn du sowas zu ihm gesagt hast.“

Und trotzdem versuchte er mir immer wieder seinen Schrott anzudrehen, wenn wir uns begegneten.

Saad war ein alter Mann und der Ziehvater von Tavvin. Wahrscheinlich trieb er sich auch irgendwo hier rum und versuchte wieder seinen Trödel an den Mann zu bringen.

Tavvin musterte mich und sein Lächeln wurde breiter. Er schien ehrlich glücklich mich zu sehen. „Ich habe dich wirklich vermisst.“

Oh nein.

„Kismet“, rief Killian mich. Er stand nicht weit entfernt und wirkte nicht annähernd so glücklich wie Tavvin. Außerdem schien es ihm nicht zu gefallen, dass ich die Hände eines anderen hielt. „Wir haben uns gerade unterhalten.“

Heute wollte er es aber wirklich wissen. Egal was ich tat, er ließ sich nicht abwimmeln. „Können wir das nicht später …“

„Nein.“ Er presste die Lippen kurz aufeinander. „Du kannst das Gespräch nicht schon wieder abbrechen, nur weil es dir unbequem ist.“

Naja, eigentlich konnte ich das schon. „Willst du das jetzt wirklich hier besprechen?“

„Nein, aber du lässt mir ja keine Wahl, weil du immer wegläufst.“

Tavvin musterte Killian mit einem prüfenden Blick. „Wer ist der Kerl?“

Keiner von uns antwortete ihm.

„Also entweder reden wir jetzt hier, oder du kommst mit mir mit und wir reden irgendwo unter vier Augen. So oder so, wir werden uns jetzt unterhalten.“

Versuchte er mir gerade etwas zu befehlen? Er hatte wohl vergessen, wie allergisch ich auf sowas reagierte. „Du kannst das nicht erzwingen.“

„Nein, aber ich kann dich darum bitten. Also, bitte, rede endlich mit mir.“

Verdammt. Verstand er denn nicht, dass ich diesem Gespräch auswich, um ihn nicht zu verletzen? Nein, natürlich nicht, denn er wusste ja nicht, warum ich mich so verhielt. Aber ich war nicht bereit ihn aufzuklären. Ignorieren konnte ich ihn aber auch nicht, denn am Ende würde dann genau das passieren, wovor ich mich im Moment so fürchtete.

Es gab keine gute Lösung.

Vielleicht konnte ich ihn ja noch ein wenig vertrösten. Wenn ich ihm sagte, dass ich noch nicht bereit war, mit ihm darüber zu sprechen. Er würde das sicher verstehen und aufhören mich zu bedrängen. „In Ordnung“, gab ich mich geschlagen und wusste doch, dass es ein Fehler war. Egal wie das hier ausging, es konnte nicht gut enden.

Ich drückte Tavvins Hände noch mal und ließ ihn dann los. „Ich muss weg, aber wir sehen uns bestimmt noch.“ Ich trat rückwärts einen Schritt von ihm zurück. „Wir können ja später etwas zusammen essen.“

„Da bin ich dabei.“

„Dann bis nachher.“ Zum Abschied hob ich die Hand.

„Bis nachher. Ach, und bevor ich es vergesse, mein Beileid.“

Beileid? Ich war schon dabei mich von ihm abzuwenden, drehte mich aber nun wieder zu ihm um. „Wofür?“

„Na für das Flugzeug und für …“ Er verstummte und zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. „Hat Azra es dir denn nicht erzählt?“

Flugzeug? Was? „Ich habe Azra seit Wochen nicht gesehen.“

Nun war seine Verwirrung komplett. „Ich dachte, deswegen bist du hier.“

„Wegen Azra?“ Moment, verstand ich das richtig? „Azra ist hier?“

„Ja.“ Er hob den Arm und zeigte hoch zur Galerie. „Oben, auf der Krankenstation.“ Sein Arm sank wieder herab. „Wusstest du das gar nicht?“

„Nein, ich …“ Mein Blick ging nach oben. Azra sollte hier sein? Aber … „Wie?“

„Saad und ich haben sie vor ungefähr fünf Wochen hergebracht. Es ging ihr ziemlich schlecht und hier haben sie einen Heiler, der sich um sie kümmern konnte.“

„Kümmern?“ Nun verstand ich gar nichts mehr. Warum musste sich ein Heiler um Azra kümmern und wo waren Balic und Marshall?

Etwas wie Bedauern zeigte sich auf Tavvins Gesicht. „Ich glaube, du solltest dich mit ihr unterhalten.“

„Worüber?“

„Über …“ Er zögerte. „Geh und sprich mit Azra.“

So wie er das sagte, bekam ich ein sehr mulmiges Gefühl. Irgendwas stimmte hier nicht. Azra sollte hier sein? Meine Azra? Wie war das möglich? Erst fand ich hier meinen totgeglaubten Bruder, dann wurde Sawyer auch noch mit seiner Familie wiedervereint und jetzt das? Das war einfach zu viel des Zufalls. Und trotzdem wirbelte ich herum und ließ ihn stehen, denn ich musste es wissen.

 

oOo

Kapitel 46

 

Das Geräusch von dem prasselnden Regen auf dem Oberlicht, begleitete mich durch die Halle. Es gab nur einen Grund, warum man auf einer Krankenstation liegen musste und laut Tavvin tat Azra das nun schon seit fünf Wochen. Sie war hier gewesen, die ganze Zeit. Ich war vor fast einer Woche hier angekommen und hatte es nicht einmal geahnt. Mit Noor und Skade hatte ich sogar noch über sie gesprochen, wäre aber niemals auf den Gedanken gekommen, dass es dabei um sie gehen könnte.

Diese unmöglichen Gedanken trieben mich quer durch die Halle. Vorbei an den Rebellen, vorbei an Sawyer und seinen Schwestern, hinüber zu der Treppe, die hinauf zur Galerie führte.

Killian blieb mir dicht auf den Fersen.

Ich hatte es so eilig, dass ich im Treppenaufgang fast noch eine Frau über den Haufen rannte. Sie wich schnell zur Seite und schimpfte, dass ich hier nicht so herumrennen sollte, aber ich beachtete sie gar nicht. Mein Kopf war im Moment viel zu abgelenkt, um es überhaupt zu bemerkten. Ich stürmte die Treppe hinauf, in den Flur mit den Ziegelwänden.

Wie beim letzten Mal waren ein Teil der Türen geöffnet, aber ich wusste nicht wo genau ich nach Azra suchen sollte, also schaute ich auch in die Zimmer mit den geschlossenen Türen.

In dem ersten fand ich nur zwei leere Betten, in dem zweiten lag eine ältere Frau, die bei meinem plötzlichen Auftauchen erschrocken aufschaute und sich eine Hand auf die Brust legte.

„Vielleicht sollten wir jemanden fragen“, bemerkte Killian, als ich gerade die dritte Tür öffnen wollte.

In dem Moment trat aus einem offenen Zimmer am Ende des Korridors eine magere Gestalt mit gebeugtem Rücken und einer Halbglatze. Das war Saad, Tavvins Ziehvater.

Ich war mir sicher, dass es nur einen Grund geben konnte, warum er hier oben war, deswegen ließ ich den Türknauf wieder los und eilte den Flur hinunter.

Als Saad mich auf sich zukommen sah, erkannte er mich und begann zu grinsen. Er breitete die Arme aus, als wollte er einen guten Freund begrüßen. „Kismet! Mit dir hätte ich hier ja nicht gerechnet. Wie geht …“

Ohne auf ihn zu achten, rannte ich einfach an ihm vorbei, hinein in das Zimmer, aus dem er gerade gekommen war und erstarrte auf der Türschwelle.

Sie war es, sie war wirklich hier. Bis zu diesem Moment hatte ich es nicht richtig glauben können, aber da lag sie, in dem rechten der beiden Betten, auf ihrer Decke. Sie lag einfach da, mit Strickzeug in der Hand und einem großen Wollknäul im Schoß.

Eine schmale Gestalt mit langem, brauen Haar und diesen vertrauten Augen. In der Kleidung der Rebellen sah sie fremd aus. Ihr linkes Bein war geschient und dick verbunden. War es etwa gebrochen? Wie war das passiert?

„Du musst mir schon ein bisschen Zeit geben“, sagte sie und schaute auf. „So schnell bin ich …“ Bei meinem Anblick entglitten ihr alle Gesichtszüge. Ihr Gesicht wurde kalkweiß und sie starrte mich an, als sei ich ein Geist.

Ich konnte mich nicht bewegen. Ich stand einfach nur da und starrte zurück. Selbst meine Gedanken waren verstummt, denn ich konnte mit dieser unerwarteten Begegnung nicht umgehen. Was war geschehen? Wie war sie hierhergekommen? Und wo waren Marshall und Balic?

Ihre Augen begannen in Tränen zu schwimmen. „Kismet.“

Es war nur ein Flüstern, doch bei ihrer Stimme zog sich alles in mir zusammen.

„Es tut mir leid.“ Sie schlug sich eine Hand vor den Mund und versuchte einen Schluchzer zu unterdrücken. „Es tut mir so leid“, wiederholte sie und ihre Stimme brach.

Ich konnte mich nicht bewegen. Plötzlich war der ganze Schmerz über das Geschehende wieder da. Sie hatte mich nicht davongejagt, aber Marshall hatte ihr mit seinem Gerede so viel Angst gemacht, dass sie es einfach zugelassen hatte. Nach all den Jahren, in denen wir zusammengelebt hatten, nach meiner Rückkehr zu ihnen, war sie mir nicht zur Hilfe gekommen und hatte untätig dabei zugesehen, wie ich fortgegangen war. Die Narbe dieser Zurückweisung brach nun wieder auf und begann sehr schmerzhaft zu eitern.

Ich sollte hier verschwinden, sollte sie so im Stich lassen, wie sie es mit mir getan hatte, aber als sie die Hand nach mir ausstreckte, setzten meine Beine sich von ganz alleine in Bewegung. Es war kaum mehr als ein Automatismus, der mich an ihr Bett brachte und in dem Moment, als sie meine Hand ergriff, gaben meine Beine unter mir einfach nach. Ich sank neben ihr auf die Bettkante und fand mich im nächsten Augenblick in ihrer Umarmung wieder. Sie krallte ihre Hände in meinen Rücken, als ich das Gesicht an ihrer Brust vergrub.

„Ich war so unendlich dumm gewesen“, flüsterte sie mit brüchiger Stimme.

Ich wusste noch genau, wie sie mich das erste Mal in ihre Arme genommen hatte, damals, als ich noch ein junges, argwöhnisches Mädchen gewesen war, das erst noch Vertrauen zu diesen Menschen fassen musste, die ihr Haus und ihr Herz für zwei Waisen geöffnet hatten. Damals hatte ich gelernt, dass Umarmungen wichtig waren und heilen konnten.

Man brauchte keine ganze Stadt um glücklich zu sein, ein paar wenige Menschen waren mehr als genug. Doch wenn diese Menschen von jetzt auf gleich einfach verschwanden, schrie nicht nur der Geist in seiner Not, es war ein körperlicher Schmerz, gegen den es keine Medizin gab. Sowas hinterließ eine Wunde, die niemals richtig verschwand, nicht mal dann, wenn diese Menschen dich doch wieder in ihre heilende Umarmung nahmen.

Ich sollte einfach weggehen. Ich war wütend und enttäuscht und der Vertrauensbruch schmerzte noch wie am ersten Tag. Und trotzdem wollte ich, dass sie mich festhielt und mich nicht mehr losließ, denn hier in dieser vertrauten Umarmung konnte ich für einen Moment so tun, als wäre meine Welt in Ordnung.

Azra schluchzte leise, als sie sich an mich klammerte.

Ich spürte einen Kloß im Hals und Druck hinter meinen Augen, aber es wollten keine Tränen kommen. Die Gefühle schnürten mir die Kehle zu.

Warum hatte Akiim mir nicht von Azra erzählt? Hatte ich ihren Namen ihm gegenüber überhaupt erwähnt? Ich hatte von Marshall und meiner Mischpoche gesprochen, aber von den anderen? Ich war mir nicht sicher.

Als Azra ihre Hand hob und mir behutsam durch mein kurzes Haar strich, drehte ich den Kopf und lauschte ihrem schnellen Herzschlag.

Killian stand mitten im Raum und beobachtete uns mit ruhigem Blick. Aber er war nicht unser einziger Zuschauer. Ein Stück hinter ihm im Türrahmen stand ein perplexer Sawyer. Er musste uns gefolgt sein, als ich so kopflos zur Krankenstation gelaufen war.

„Wusstest du es?“, fragte ich ihn. Hatte er die ganze Zeit gewusst, wer hier auf der Krankenstation lag?

„Nein“, sagte er sofort und schüttelte zusätzlich den Kopf, was den Schmuck in seinem Gesicht im Licht glänzen ließ. „Ich hatte keine Ahnung.“

So verdattert, wie er wirkte, war ich geneigt ihm zu glauben. Und er schien auch nicht sehr glücklich sie hier zu sehen.

„Es tut mir leid“, sagte Azra wieder. „Wir hätten mit euch gehen sollen. Wenn wir dich nur begleitet hätten, dann wäre alles anders gekommen.“

„Was meinst du?“ Ich löste mich aus ihrer Umarmung und setzte mich aufrecht hin.

Ihre Arme rutschten von mir und der Versuch ihren Tränen mit ihren Händen Einhalt zu gebieten, scheiterte kläglich.

„Was ist passiert?“, wollte ich wissen. „Und wo sind Marshall und Balic?“

Meine Fragen lösten einen neuen Strom von Tränen aus.

Killian ging quer durch den Raum zu dem halbhohen Regal und nahm sich dort eines der sauberen Tücher. Er brachte es zum Bett und reichte es Azra.

„Danke“, schniefte sie und begann sich das Gesicht abzutupfen. Es war vom Weinen schon ganz fleckig. „Es war ein Fehler gewesen“, sagte sie dabei leise. „Uns zu trennen war die dümmste Entscheidung gewesen, die wir jemals getroffen haben.“

„Nicht wir haben diese Entscheidung getroffen“, warf Sawyer sofort verärgert ein. „Das waren du und diese Feiglinge aus deiner Mischpoche. Ihr hab Kiss im Stich gelassen.“

„Sawyer!“, rief ich empört. Dass er über ihre Anwesenheit nicht glücklich war, sei mal dahingestellt, aber so hatte er nicht mit ihr zu sprechen.

Azra sagte jedoch: „Schon gut, er hat ja recht.“ Sie wischte sich mit dem Tuch die Tränen fort und ließ ihre Hände auf ihren Bauch sinken. „Wir hatten Angst und das ist uns zum Verhängnis geworden.“

Ja, so viel hatte ich bereits verstanden. Ich legte eine Hand auf ihre. „Sag mir was passiert ist.“

Sie schaute mich mit verweinten Augen an, senkte den Blick aber schnell wieder auf ihre Hände. „Du bist gegangen und … ich glaube das war der Moment, in dem Marshall sein Fehler richtig bewusst wurde. Balic und ich begannen zu packen, aber er verschwand.“ Sie schüttelte langsam den Kopf, als könnte sie es noch immer nicht fassen. „Als wir fertig waren, ging ich ihn suchen und fand ihn in Balics Brennerei. Hackedicht bis obenhin. Er war so besoffen, dass ich ihn nicht mal ins Flugzeug bekommen habe. So konnten wir nicht aufbrechen. Ich musste ihn liegenlassen und warten, bis er wieder halbwegs nüchtern war. Das war der nächste Fehler.“

Ihre Finger krampften sich um das Stofftuch. „Am nächsten Morgen bin ich durch Marshalls Gebrüll aufgewacht. Ich bin aus dem Flugzeug gerannt, um nachzusehen was los ist. Sie waren schon in der Vorhalle und haben mich sofort gepackt.“

„Wer?“, fragte ich und bekam dabei wieder dieses ungute Gefühl. „Wer war da?“

„Die Tracker.“

Bei diesen Worten wurde mir eiskalt. Die Tracker waren zum Flugzeug zurückgekehrt. Sie hatten nach mir gesucht, aber nur meine Mischpoche gefunden. „Azra, wo sind Marshall und Balic?“ Sag mir nicht die Tracker haben sie. Bitte, sag mir nicht sie sind bei ihnen. Meine Hand krampfte sich um ihre.

Sie schniefte und neue Tränen kullerten über ihre Wangen. „Wir haben versucht uns zu wehren, aber es waren zu viele, wir kamen nicht gegen sie an.“

Oh Gaia, bitte, nein.

„Sie haben uns gefangen genommen und dann das Flugzeug angezündet, damit wir nie wieder dorthin zurück konnten. Alles ist verbrannt, es ist nichts mehr übrig.“

Dreckssäcke.

„Wir haben hilflos mitansehen müssen, wie alles von dem Feuer verzerrt wurde, unser ganzes Leben. Das war zu viel für Balic, sein Herz hat das nicht verkraftet.“

Entsetzten packte mich. Ich traute mich kaum die nächste Frage zu stellen. „Was willst du damit sagen?“

„Ein Herzinfarkt, er ist einfach zusammengebrochen.“ Bei der Erinnerung schlug sie eine Hand vor den Mund und versuchte ein Schluchzer zu unterdrücken. „Die Tracker, sie haben versucht ihm zu helfen, aber … es ging nicht, sie konnten nichts für ihn tun.“

Nein.

„Er hat es nicht geschafft, Balic ist tot.“

Etwas tief in mir zerbrach. Balic, sie hatten Balic getötet. Er war ein harmloser, alter Kauz gewesen, der niemanden etwas zuleide getan hatte. Er war lustig, eigenwillig und hatte gern gelacht. Aber jetzt würde ich sein Lachen nie mehr hören und das nur wegen der unersättlichen Gier der Edener.

Das Entsetzen verwandelte sich in schwelenden Hass. Sie hatten es schon wieder getan, sie hatten einen Menschen getötet, der mir etwas bedeutete. Dabei war es egal, dass er an einem Herzinfarkt gestorben war, es wäre niemals dazu gekommen, wenn sie uns einfach in Ruhe gelassen hätten.

Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Die Tracker waren schuld, Eden war schuld.

„Es tut mir so leid“, flüsterte sie und verknotete ihre zitternden Hände miteinander. „Ich konnte nichts machen.“

Killian trat näher und legte ihr tröstend eine Hand auf die knochige Schulter. „Du hast nichts falsch gemacht.“

Sie nickte, sah aber nicht aus, als würde sie ihm glauben. „Danach haben sie uns in ihr Lager gebracht“, erzählte sie weiter, ohne zu ahnen, wie der Hass und die Wut in meinem Inneren sich zu einem brodelnden Gemisch vermengten, das kurz vor dem Ausbruch stand. „Sie fingen an uns zu befragen. Sie wollten wissen, wo du und deine Begleiter sind, aber wir wussten es ja nicht. Sie haben immer und immer wieder gefragt, aber wir konnten ihnen keine Antworten geben.“ Sie schniefte wieder. „Wir haben ihnen erzählt, dass ihr beim Flugzeug wart, ihr alle.“

„Na das habt ihr ja gut gemacht“, bemerkte Sawyer ironisch.

Sie blinzelte. „Es tut mir leid, aber wir hatten Angst. Und sie konnten mit diesen Informationen ja auch nicht viel anfangen. Sie wissen nur, dass ihr alle zusammen gegangen seid. Freiwillig.“ Bei dem letzten Wort schaute sie Killian an. „Aber sie haben uns nicht geglaubt. Der Mann, der so aussieht wie du wurde richtig sauer und hat behauptet, dass wir lügen. Er wollte nicht glauben, dass du freiwillig bei Kismet geblieben bist. Er ist richtig wütend geworden.“

„Kit“, sagte Killian leise und nahm seine Hand von Azras Schulter, um sie vor der Brust zu verschränken.

War sein kleiner Bruder wirklich so dumm zu glauben, dass wir Killian unter Gewaltandrohungen mit uns herumschleppten, oder wollte er die Wahrheit nur einfach nicht sehen? Ich tippte auf die zweite Möglichkeit, da die Städter sich ja gerne alles so zurechtlegten, wie es am besten in ihre kleine, heile Welt passte. „Was ist dann passiert?“

Azra schniefte wieder. „Sie wollten uns nach Eden bringen. Sie hatten uns in ihre Autos gesetzt und sich auf den Weg in die Stadt gemacht. In den Pausen fragten sie uns immer wieder aus. Dann verkündeten sie, dass wir morgen unser Ziel erreichen würden.“ Ihre Hände nestelten nervös an dem Tuch. „Die Nacht verging und der Morgen brach an. Sie hatten ihr Lager in der Nähe eines Flusses aufgebaut. Sie räumten bereits zusammen, als ich noch einmal austreten wollte. Sie glaubten wohl nicht, dass ich Probleme machen würde, deswegen schickten sie nur eine Frau mit mir mit.“

Das wunderte mich gar nicht. Azra wirkte harmlos, nur wer sie näher kannte wusste, was für ein hinterlistiges Biest sie sein konnte.

„Gerade als ich mich hinhocken wollte, gab es im Lager einen großen Knall. Ich weiß nicht was passiert ist, aber die Frau hat sich davon ablenken lassen. Ich habe meine Chance genutzt und bin sofort losgerannt.“ Sie schaute mich mit verweinten Augen an. „Ich bin einfach weggerannt und habe Marshall bei ihnen gelassen.“

Ich könnte jetzt sagen, er hatte es nicht besser verdient, aber niemand verdiente es, den Menschen in Eden ausgeliefert zu sein. Auch er nicht, egal wie er mich behandelt hatte. Besonders nicht er.

In den vergangenen Jahren hatte er so viel für Nikita und mich getan. Seine Dummheit konnte all das Gute nicht auslöschen, egal wie weh es noch immer tat.

Killian verlagerte sein Gewicht. „Sie haben dich nicht verfolgt?“

„Doch, haben sie. Die Frau ist mir sofort hinterhergelaufen, aber ich bin zum Fluss gerannt und hineingesprungen.“ Sie biss sich einen Moment auf die Lippen. „Ich habe nicht nachgedacht, ich wollte einfach nur weg, aber durch die Herbststürme war die Strömung so stark, dass ich sofort mitgerissen wurde. Wegen der Handschellen habe ich es kaum geschafft mich an der Oberfläche zu halten. Die Strömung hat mich gegen die Steine geworfen. Daher stammen auch meine Verletzungen. Ich wäre fast ertrunken.“

Sie also auch. Wegen den Trackern wäre sie auch fast gestorben. Mein Hass wuchs.

„Der Fluss hat mich viele Kilometer mitgerissen und mich dann irgendwann ans Ufer geschwemmt. Ich war verletzt und kraftlos und hatte keine Ahnung wo ich war. Ich lag einfach nur da, weil ich mich nicht bewegen konnte.“

Mit einem gebrochenen Bein war das kein Wunder. Noch dazu war sie bereits seit fünf Wochen hier und die meisten ihrer Verletzung sicher schon längst geheilt. Ich wollte gar nicht wissen, wie schlecht es ihr ergangen war, als der Fluss sie ans Ufer spuckte.

„Mehrere Tage lag ich da und dachte schon, ich würde dort sterben. Dann tauchten auch noch Phantomhunde auf.“

Meine Augen wurden groß.

„Aber sie waren nicht allein. Ihnen folgte fluchend und schimpfend Saad. Ich konnte mein Glück kaum fassen, es waren Saads Hunde gewesen.“

Das war wirklich kaum zu glauben. „Wie?“

„Saad und Tavvin waren in der Nähe unterwegs, als die Hunde auf einmal begannen verrückt zu spielen. Saad meinte, sie müssen mich gerochen haben. Er ist ihnen gefolgt und so haben sie mich gefunden.“

Das war mehr als nur Glück gewesen, das war geradezu ein Wunder. Irgendwie mehrten sich die Wunder in der letzten Zeit.

„Sie haben versucht mir die Handschellen abzunehmen, aber das ging nicht. Darum haben sie mich auf ihren Karren geladen und hierhergebracht. Sie kannten diesen Clan und wussten, dass es hier einen Heiler gab. Hier hat man sich um mich gekümmert und jetzt … jetzt bin ich hier.“ Ihr verweinter Blick richtete sich wieder auf mich. „Es tut mir so leid. Hätte ich doch nur den Mut gehabt Marshall zu widersprechen, es wäre alles anders gekommen.“ Eine einzelne Träne der Reue kullerte über ihre Wange.

Ein ganzer Ozean, könnte das Inferno der Enttäuschung und des Zorns in mir nicht löschen, doch eine Träne der Reue hatte die Macht dazu. Zumindest ein bisschen, denn das gebrochene Vertrauen und der Schmerz hatten eine Narbe hinterlassen, die niemals ganz verschwinden würde.

Trotzdem drückte ich ihre Hand. „Es lässt sich jetzt sowieso nicht mehr ändern.“ Das war die traurige Wahrheit.

Sie nickte. „Aber Marshall ist noch immer bei ihnen. Sie werden ihn nicht gehen lassen.“ Sie senkte den Blick auf ihre Hände. „Ich habe ihn einfach zurückgelassen.“

Von Sawyer kam ein abfälliges Schnauben. „Und das kümmert dich? Als wenn er es anders gemacht hätte, wenn eure Rollen vertauscht gewesen wären.“

Da hatte er nicht unrecht, aber dass Marshall sich nun in ihrer Gewalt befand war falsch. Niemand hatte das Verdient. Marshall war vielleicht ein Feigling, aber er war kein schlechter Mensch.

Wieder hatte Eden Spuren in meinem Leben hinterlassen. Das war zu viel, das war der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte. Seit meiner Kindheit vergriff Eden sich an den Menschen die mir wichtig waren. Sie hatten mir jeden genommen, hatten sie getötet, verletzt und sie in ihre Gewalt gebracht. Jetzt war Schluss, ich würde das nicht länger zulassen.

Ich würde Mama und Balic Rächen, ich würde Vergeltung für Azra fordern. Ich würde Marshall befreien und auf meinem Weg alles niederbrennen, denn Akiim hatte recht: Sie würden nicht aufhören, bis man sie dazu zwang.

„Ruh dich jetzt aus, ich kümmere mich um alles.“ Ich erhob mich vom Bett und ließ mich von meinem Hass leiten. Ich würde das nicht länger hinnehmen, jetzt war Schluss.

Azra runzelte die Stirn. „Was meinst du damit, worum kümmerst du dich?“ Sie sah mir hinterher, als ich mich abwandte und zur Tür ging. Bestürzte Erkenntnis zeigte sich auf ihrem Gesicht. „Kismet, du wirst nicht nach Eden gehen und versuchen Marshall zu befreien, hast du mich verstanden?“

Killian und Sawyer schauten mich mit dem gleichen Blick an, schockiert und ungläubig, aber ich würde mich nicht aufhalten lassen, von niemanden.

„Es wird alles gut werden“, versicherte ich ihr, ohne mich noch einmal nach ihr umzudrehen.

„Kismet, ich verbiete es dir!“

An der Tür blieb ich noch einmal stehen. Ich schaute über die Schulter zu ihr zurück. „Du kannst mir nichts mehr verbieten.“ Dieses Privileg hatte sie verloren, als sie tatenlos dabei zusah, wie Marshall mich fortjagte. Jetzt war ich an der Reihe.

 

oOo

Kapitel 47

 

„Wo willst du hin?“

Ich antwortete Killian nicht, denn entweder er würde versuchen mich aufzuhalten, oder … nein, es gab kein Oder. Er würde versuchen mich an meinem Vorhaben zu hindern und das konnte ich nicht zulassen, denn ich war fest entschlossen. Darum schwieg ich eisern, als ich den Korridor entlanglief, weg von Azra und hin zur Treppe.

„Warte, Kismet, was hast du vor?“

„Das was nötig ist.“

„Klingt düster“, bemerkte Sawyer. Allerdings sah er nicht im Mindesten so belustigt aus, wie er klang.

Hätte ich gewusst wie, hätte ich sie abgeschüttelt, aber so konnte ich nichts tun, als sie mir die Treppe hinunter folgten. Sie waren nur eine unnötige Komplikation, die ich jetzt gerade wirklich nicht gebrauchen konnte. Das zeigte sich auch sofort, als wir den Treppenaufgang verließen und hinaus auf den Gang traten. Killian verlor keine Zeit. Er umrundete mich eilig und stellte sich mir in den Weg.

„Hör mir zu: Das was du gerade erfahren hast ist erschütternd und hat dich aufgewühlt, darum kannst du im Moment nicht klar denken. Es hat dich völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Du solltest auf keinen Fall …“

„Was, willst du mir schon wieder einreden, dass ich mir nur etwas vormache und das Ganze in Wirklichkeit gar nicht so schlimm ist, weil es ja nur um ein paar dreckige Streuner geht?“ Das Schimpfwort schmeckte bitter.

„Nein, aber du sollst nicht überstürzt handeln, sondern erstmal nachdenken.“

Nachdenken? Nachdenken?! „Ich soll mich hinsetzen und nachdenken, während diese widerlichen Dreckskerle Marshall in ihrer Gewalt haben und ihm weiß ich was antun?!“

Mein Geschrei machte ein paar Leute auf uns aufmerksam, aber es war mir egal. Ich hatte ein Ziel vor Augen und allein das zählte. Sollten die Leute doch denken was sie wollten.

„Genau deswegen musst du nachdenken.“ Er versuchte nach meinen Händen zu greifen, doch ich wich sofort vor ihm zurück. Ich wollte in diesem Moment nicht angefasst werden. Leider ließ er sich davon nicht aus dem Konzept bringen. „Hat Azra recht? Willst du wirklich losziehen und Marshall retten? Das kannst du nicht machen, das ist Wahnsinn.“

Sawyer nickte. „Ich glaube einfach nicht, dass du mich jetzt dazu zwingst das zu sagen, aber unser Strahlemann hat recht. Du kannst unmöglich so dumm sein, eine Rückkehr ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Das wäre dann wohl der größte Schwachsinn, den du jemals verzapft hast.“

Also so hatte Killian das ganz gewiss nicht ausgedrückt. „Ich habe keinen von euch um seine Meinung gebeten.“

An den Tischen streckten ein paar Leute die Hälse, um zu sehen, was hier los war. Noor und Laarni zählten zu ihnen. Sie saßen noch immer mit Salia beim Essen. Ein paar Tische weiter stand Akiim, kam nun aber mit einem Stirnrunzeln auf uns zu. Sollte der nicht eigentlich beim Training sein?

„Die gibt es kostenlos“, erklärte Sawyer mir.

„Sie interessiert mich aber nicht. Euch betrifft das sowieso nicht, also lasst mich gefälligst in Ruhe.“ Ich wollte an ihnen vorbei, aber Killian bewegte sich einfach mit mir mit. Das machte mich echt sauer.

„Was ist hier los?“ Na super, Akiim, der hatte mir jetzt gerade noch gefehlt. „Wo warst du?“, fiel er auch sofort über mich her. „Wir haben beim Training auf dich gewartet und ich habe nicht die Zeit hinter dir herzulaufen und dich zu suchen.“

„Ich kann mich nicht daran erinnern, dich darum gebeten zu haben.“ Ich durchbohrte ihn mit einem Blick. „Azra ist hier.“

„Azra?“ Verwirrt zog er die Augenbrauen zusammen. „Die Frau von der Krankenstation?“

„Die Frau aus meiner Mischpoche. Die Frau, die mich die letzten zehn Jahre aufgezogen hat. Diese Frau.“

Überrascht hob er den Blick, als könnte er durch die Decke hindurch in ihr Zimmer schauen. Als er den Blick wieder senkte, schien er die Welt nicht mehr zu verstehen.

Offensichtlich hatte ich ihren Namen wohl doch nicht erwähnt. „Wo ist Clarence?“

„Vermutlich in seinem Quartier.“ Er bedachte mich mit einem prüfenden Blick. „Warum?“

Die Antwort blieb ich ihm schuldig. Ich schlüpfte einfach schnell an Killian vorbei, wich seinem Arm aus, als er versuchte nach mir zu greifen und machte mich auf den Weg. Dabei kam ich mir wie eine stolze Entenmama vor, denn die drei Männer hefteten sich sofort wie artige Küken an meine Fersen.

„Könntest du uns dann wenigstens sagen was du vorhast?“, wollte Killian wissen. „Hat Azra mit ihrer Vermutung recht?“

Nur ein bisschen. „Du musst dir keine Sorgen machen. Ich werde sicher nicht nach Eden gehen und an ihre Tore klopfen, um Marshall zurückzufordern.“ Nein, es würde viel schlimmer werden.

„Eden?“ Akiims Blick wechselte von einem zum anderen. „Was geht hier vor sich?“

Sawyer kräuselte die Lippen. „Wenn ich mich nicht irre, folgt nun die Erfüllung deiner feuchten Träume.“

Etwas befremdet verzog Akiim das Gesicht. Er hatte keine Ahnung, wovon Sawyer sprach. Ich jedoch wunderte mich wie scharfsinnig er sein konnte. Er wusste zwar nicht was in meinem Kopf vor sich ging, aber er musste zumindest eine Ahnung haben.

Im Moment war ich nicht bereit darüber zu sprechen, also schwieg ich den ganzen Weg über, egal wie sehr sie auf eine Erklärung drängten. So vermied ich es auch mich zu rechtfertigen. Ich hatte einen Plan, ich würde Eden für seine Taten bezahlen lassen und niemand würde mich aufhalten. Zur Not würde ich es auch ganz alleine mit der Stadt aufnehmen, ganz egal wie töricht das auch sein mochte. Die Menschen dort hatten mir bereits alles genommen, ich hatte nichts mehr zu verlieren. Ich würde den Kessel an Wut und Hass nicht länger unterdrücken.

Heute hatte ich keinen Blick für das eindrucksvolle Wandgemälde, lief einfach daran vorbei zu Clarences Quartier. Ich vergoldete meine Zeit auch nicht mit Anklopfen, sondern ging einfach unaufgefordert hinein.

Wie auch schon die Male zuvor, fand ich Clarence in seinem Rollstuhl an dem großen Tisch. Sam war bei ihm, genau wie der alte Furkan. Sie alle brüteten über einer großen Karte, schauten bei meinem Überfall aber auf. Allerdings war nicht ich es, auf die sie ihre Blicke richteten, sondern Akiim. Clarence drehte seinen Rollstuhl sogar ein wenig, um ihn besser anschauen zu können.

„Was ist los?“

„Ich weiß es nicht.“ Mein Bruder richtete seinen Blick auf mich. „Kismet wollte mit dir sprechen. Es scheint dringend.“

Mildes Interesse flackerte in Clarences Augen auf. „So? Was kann ich für dich tun?“

Für vorsichtiges Herantasten und langes um-den-heißen-Brei-herumreden hatte ich keine Zeit, darum kam ich sofort auf den Punkt. „Du hast mir gesagt, wenn ich etwas brauche, soll ich nicht zögern und zu dir kommen.“

Er musste nicht überlegen, er wusste sofort wovon ich sprach. „Ja, das ist richtig und ich stehe zu meinem Wort“, versicherte er mir. „Was brauchst du?“

„Die Rebellen. Ihr müsst mir helfen in Eden einzudringen und einen Mann zu befreien.“

Die Bombe war geplatzt und alle schauten mich an, als wäre mir auf einmal ein Geweih aus dem Kopf gewachsen. Ein paar wirkten überrascht, andere sahen sich in ihrer Vermutung bestätigt. In Akiims Augen trat ein aufgeregtes Glänzen. Clarence dagegen ließ sich nicht anmerken, was er dachte. Er blinzelte nur einmal, was wohl seine Überraschung ausdrücken sollte.

„Nun mal langsam“, sagte er. „Was genau ist passiert? Wen müssen wir befreien?“

„Marshall. Er gehört zu meiner Mischpoche. Die Tracker haben ihn gefangen, als sie nach mir gesucht haben und jetzt ist er in Eden. Wir müssen ihn vor Agnes retten.“ Denn diese Frau war zu grausamen Taten fähig und ich wollte mir gar nicht vorstellen, was sie ihm alles antat, in der vagen Hoffnung, mich wieder zwischen ihre Finger zu bekommen.

Clarence atmete lange und ausgiebig aus. „Puh, das ist eine ziemlich große Forderung und ein Unterfangen, dass gründlich durchdacht werden muss.“

„Ich weiß, dass es nicht einfach werden wird, aber ich werde helfen. Ich werde mich auch den Rebellen anschließen, wenn du das willst. Hauptsache wir befreien ihn.“

Sam regte sich auf ihrem Stuhl. „Woher weißt du so plötzlich, dass dieser Mann in Eden ist?“

„Azra hat es mir gesagt.“ In einer kurzen Zusammenfassung berichtete ich ihnen, wer Azra war und woher ich sie kannte. Und auch was sie mir erzählt hatte. Allerdings ließ ich unerwähnt, dass sie und Marshall mich fortgeschickt hatten, denn das wäre sicher nicht hilfreich bei meinem Versuch, sie von meinem Vorhaben zu überzeugen.

Auch Killian und Sawyer äußerten sich nicht dazu. Allerdings verfolgten sie die Unterredung sehr aufmerksam.

„Er hat mir in der schwersten Zeit meines Lebens beigestanden“, erklärte ich und hoffte, dass meine Worte zu ihm durchdringen würden. „Ich kann ihn nicht im Stich lassen.“

Clarence seufzte leise. „Wir haben hier viele Menschen, die Angehörige in Eden haben und so gut wie keiner dieser Leute ist freiwillig dort. Darum führen wir diesen Kampf. Wir hoffen sie irgendwann wieder zurückholen zu können, aber leider ist das nicht so einfach. Es gibt viele Dinge, die dabei zu bedenken sind. Es sind nicht nur ihre Mauern, die uns auf Abstand halten. Ihre Waffen sind uns auch überlegen und sie haben dort viele Kämpfer. Die Gardisten sind dabei nur ein kleiner Teil, der einzig dazu genutzt wird die Adams und Evas zu beschützen. Die Yards sind das viel größere Problem. Sie haben davon bestimmt sechs- oder siebenhundert und im Notfall wissen auch noch die Tracker mit einer Waffe umzugehen.“

Alles Ausreden. „Du hast es doch selbst gesagt, Sawyers Rückkehr ist ein Zeichen dafür, dass ihre Mauern nicht so unüberwindbar sind, wie sie glauben und dafür, dass die Zeit des Umbruchs gekommen ist.“

Er nickte. „Ja, das habe ich gesagt und ich habe es auch so gemeint. Aber es bedeutet nicht, dass ich meine Leute sofort mobilisiere und gegen ihre Mauern rennen lasse. Wir müssen planen und uns vorbereiten. So ein Unterfangen ist kein Spaziergang.“

Planen? Was gab es da denn noch groß zu planen? Sie arbeiteten seit Jahren auf dieses Ziel hin, darum konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie noch keinen ausgeklügelten Plan entwickelt hatten. Sie waren nur zu feige, ihn in die Tat umzusetzen, weil sie die Konsequenzen nicht absehen konnten.

Ich musste sie überzeugen, ohne sie wäre es kaum zu schaffen. „Akiim sagt, du hast sechs Stützpunkte, mehr als tausend Menschen.“

Mit dem Finger tippte Sam auf den Tisch. „Aber nur etwas mehr als die Hälfte von ihnen sind zum Kampf ausgebildet. Der Rest sind Alte, oder Kranke. Traumatisierte Familienangehörige. Du selber hast dich diesem Kampf nicht anschließen wollen, weil du ihn als – wie hast du es ausgedrückt? – aussichtsloses Unterfangen ansiehst.“

Woher wusste sie das? Wahrscheinlich hatte Akiim es ihr erzählt. Trottel. „Ich habe es mir anders überlegt.“

„Du glaubst also jetzt, dass wir gewinnen können?“, fragte Furkan.

„Ich glaube, dass wir es nur erfahren, wenn wir es versuchen.“ Selbst wenn wir nicht gewannen, könnten wir der Stadt einen herben Schlag versetzen und wenigstens die zurückholen, die man uns genommen hatte. Das würde sie schwächen und vielleicht dafür sorgen, dass sie in Zukunft die Finger von den freien Menschen ließen. „Solange wir nur hier sitzen und darüber reden, wird gar nichts besser werden, wir müssen handeln.“

„Was für ein kämpferischer Apell“, bemerkte Sam.

Ich ignorierte sie. „Was habt ihr denn schon zu verlieren?“

„Menschen“, erwiderte Clarence schlicht. „Selbst wenn wir nicht getötet werden, können meine Leute ihnen in die Hände fallen und damit das Schicksal erleiden, wovor du deinen Mann, diesen Marshall, retten willst. Findest du es gerecht, hunderte von Menschen an die Stadt zu verlieren, nur um einen Mann zu bekommen?“

„Nein“, musste ich eingestehen und senkte den Kopf. Meine Hände ballten sich. Langsam gingen mir die Argumente aus. Aber ich musste sie überzeugen. Alleine wäre es sehr viel schwieriger gegen Eden anzukommen.

„Ich verstehe dich ja“, sagte Clarence mit sehr einfühlsamem Ton. „Es ist immer schwer jemanden zu verlieren, aber deswegen …“

„Alle“, unterbrach ich ihn.

„Bitte?“

„Nicht jemanden, ich habe alle in meinem Leben verloren. Jeden einzelnen Menschen und du hast mir dein Wort gegeben, mir zu helfen, wenn ich dich darum bitte. Willst du es jetzt brechen?“

„Das hat nichts mit wollen zu tun. Was du da verlangst, erfordert nicht nur sehr viel Aufwand. Ich bin das Oberhaupt dieser Menschen, aber das bedeutet nicht, dass ich mit ihnen machen kann was ich will. Es bedeutet Verantwortung zu tragen und dafür zu sorgen, dass es ihnen gut geht. Bei all meinen Entscheidungen ist es meine Pflicht, das Wohl meiner Leute im Auge zu haben und sie in einen Kampf mit ungewissem Ausgang zu schicken, ist nicht zu ihrem Besten.“

Ich schüttelte den Kopf. Das alles konnte doch nicht sein Ernst sein. „Ausreden. Ihr seid Rebellen, ihr habt genau für diesen Kampf trainiert. Wie lange wollt ihr noch warten und auf eure Gelegenheit hoffen? Es wird Zeit zu handeln.“

Clarence richtete sich in seinem Stuhl ein wenig auf. „Diese Situation ist für dich zwar sehr aufwühlend und ich kann das nachvollziehen, aber ich glaube du vergreifst dich gerade ein wenig im Ton, junge Dame.“

„Nein, sie hat Recht“, unterstützte Akiim mich. Bisher war er sehr still gewesen und hatte nur zugehört, doch jetzt stürzte er sich voller Feuereifer in diese Diskussion. „Seit Jahren schieben wir diesen Schritt immer vor uns her. Vielleicht ist es wirklich an der Zeit endlich zu handeln.“

„Dass du dem sofort zustimmst, war nicht anders zu erwarten“, bemerkte Sam leicht spöttisch.

Akiim ignorierte sie. „Wir könnten den Plan mit den Generatoren umsetzen.“

„Aber bei einem Komplettausfall verriegeln sich die Türen“, sagte Furkan, als hätten sie dieses Gespräch schon tausendmal geführt. „Dann kommen wir nicht mehr in die Stadt.“

„Wir haben Sprengstoff. Notfalls können wir uns auch ein eigenes Tor direkt durch ihre Mauern sprengen. Und bevor du mir jetzt wieder mit deinem Unsinn kommst, dass wir nicht wissen, was uns hinter diesen Mauern erwartet, wir haben jetzt etwas, das wir vorher nicht hatten.“

„Ach ja?“ Furkan zog die weißen Augenbrauen zusammen. „Und das wäre?“

„Wir haben jemanden, der weiß wie die Stadt aufgebaut ist und zwar auf jeder einzelnen Ebene.“ Zur allgemeinen Überraschung zeigte er weder auf mich, noch auf Sawyer, sondern auf Killian, der sofort einen unsicheren Schritt zurückwich.

„Ähm …“, machte er nur.

„Er ist dort Arzt gewesen, er war nicht auf das Herz beschränkt, sondern konnte sich in der ganzen Stadt über alle Ebenen bewegen. Er kennt sich dort bestens aus und seine Informationen sind aktuell.“

„Dann bleibt aber immer noch das Problem, dass ihre Streitmacht uns zwei zu eins überlegen ist“, sagte Clarence.

„Sie sind aber nicht bereit zu töten“, erwiderte Akiim sofort. „Wir schon.“

„Schließ nicht von dir auf andere“, kam es von Sam. „Du willst es nicht wahrhaben, aber die meisten Anwohner der Stadt sind Unbeteiligte, die nichts mit diesem Krieg zu tun haben.“

„Sie unterwerfen sich dem System und unterstützen es damit. Keiner von ihnen ist unschuldig.“

„Und du hast unrecht“, kam es nun wieder von Clarence. „Wenn es sein muss, sind die Menschen in Eden sehr wohl bereit zu töten. Erinnere dich nur an deine Mutter.“

Akiims Mine wurde völlig ausdruckslos. Das war ein Schlag unter der Gürtellinie gewesen.

Clarence seufzte. „Es bleibt dabei, einfach so mobil zu machen und gegen Eden zu stürmen, wäre töricht.“

„Also wollt ihr einfach weiter hier herumsitzen und Pläne schmieden, die ihr niemals in die Tat umsetzen werdet?“ Ich konnte es nicht glauben. Die ganze Zeit große Töne spucken und wenn es dann ernst wurde, den Schwanz einziehen. Die Wut in mir begann wieder zu brodeln. „Ja, ihr wachst und werdet immer größer, aber das wird Eden auch. Für jeden Kämpfer den ihr gewinnt, bekommen sie drei dazu. Es wird nicht einfacher werden, je länger ihr wartet, ganz im Gegenteil sogar.“

„Ich habe nicht nein gesagt“, erklärte Clarence. „Damit meine ich nur, dass ich nicht sofort eine Entscheidung treffen werde. Ich muss erst gründlich über alles nachdenken.“

Nachdenken, immer nur nachdenken. Taten diese Leute hier eigentlich noch etwas anderes?

„Wir sollten nicht nachdenken, sondern endlich zur Tat schreiten“, sagte Akiim.

Clarence sah ihn beinahe mitleidig an. „Dein Bedürfnis nach Rache steht deinem klaren Blick im Weg.“

„Ich sehe sehr klar, du jedoch scheinst nicht mehr sehr erpicht auf unsere Mission, jetzt nachdem du Sawyer wiederhast.“

Damit trieb er Clarence in die Defensive. „Pass auf, Akiim, auch von dir lasse ich mir nicht alles gefallen.“

Das war sinnlos. Er besaß eine kleine Armee und hatte sie nicht mal gegen Eden geschickt, um seinen einzigen Sohn zu retten. Warum sollte er es also für einen Fremden tun, zu dem er keinerlei Beziehung hatte?

Er würde es nicht tun. Sein Versprechen war wertlos, nichts als leere Worte, die er an ein naives Mädchen gerichtet hatte. Es war einfach nur dumm gewesen etwas anderes zu glauben und jemanden vertrauen zu wollen. Ich hatte mittlerweile doch zur Genüge gelernt, dass Vertrauen nichts für mich war und nur zu Schmerz und Enttäuschung führte.

Das brachte nichts. Noch länger hier herumzustehen, wäre nichts weiter als Zeitverschwendung. Zeit die ich besser nutzen konnte.

Während die Diskussion immer heftiger wurde, zog ich mich langsam zurück. Keiner von ihnen merkte, wie ich mich von ihnen entfernte. Sie waren so mit sich beschäftigt, dass sie es wohl nicht mal gemerkt hätten, wenn plötzlich die Decke über ihnen in Flammen aufgegangen wäre. Bevor ihnen irgendwann klar werden würde, dass ich mich aus dem Staub gemacht hatte, wäre ich bereits über alle Berge. Sie waren keine Hilfe, sie waren nur ein Hindernis und noch mehr Hindernisse konnte ich nicht gebrauchen, davon würden sich mir schon noch genug in den Weg stellen. Ich hatte keine Zeit zu verlieren, denn Marshall brauchte mich.

Ich hatte die Tür fast erreicht, als sich eine große Hand mit festem Griff um meinen Oberarm legte. Überrascht schaute ich zu Sawyer auf.

Er erwiderte meinen Blick, schaute dann kurz zu der lauterwerdenden Diskussion. Niemand von den Leuten bemerkte, wie er mir ein Zeichen gab, ihm zur Treppe zu folgen, die in die erste Etage führte. Als ich nicht reagierte, weil ich nicht wusste was das sollte, zog er an mir. „Nun mach schon, komm mit.“

„Warum?“ Ja ich war misstrauisch, aber das sollte nun wirklich niemanden wundern.

Wieder ein kurzer Blick zum Tisch, so als würde er befürchten die anderen könnten etwas mitkriegen. Oder befürchtete er nur, Killian würde es merken? „Komm einfach, los jetzt.“

Wollte er mir helfen? Hatte er vielleicht einen Plan? Warum sollte er sich sonst so seltsam verhalten?

Ich zögerte, aber als er ungeduldig wurde und an mir zog, ließ ich mich einfach mitnehmen.

Keiner von den Anwesenden bemerkte, wie wir zur Treppe gingen und die Stufen nach oben eilten – ja nicht einmal Killian. Sie waren alle viel zu sehr von ihrem Gespräch vereinnahmt.

In der ersten Etage erwartete mich ein Ozean. Der Boden war blau, über die Wände schwammen, zwischen imposanten und fremdartigen Wasserpflanzen, Kreaturen des Meeres, von denen ich die meisten nicht kannte. Sie sahen für mich aus wie Fabelwesen aus der Tiefe. Viele dieser Kreaturen schienen aus den Wänden hervorbrechen zu wollen. Flossen und Köpfe von Fischen, ragten in den Raum, wie ein lebensechtes Relief. Ein Wesen mit acht Armen streckte seine Tentakeln nach mir aus und Pflanzen und Geröll schienen am Boden in den Raum zu wachsen.

Über uns schimmerte die Decke in einem satten Blau. Es sah aus als würde sich die Sonne auf der Wasseroberfläche brechen, allerdings aus der Unterwasser-Perspektive. Es war ein atemberaubender Anblick. Noor hatte sich hier gründlich ausgetobt. Zu schade, dass ich das im Moment nicht zu würdigen wusste.

Der Korridor war quadratisch und recht groß. Zu beiden Seiten und gegenüber der Treppe waren jeweils zwei Türen in die Wände eingelassen. Sawyer zog mich zu der linken an der hinteren Wand. Darüber schwamm ein riesiger Fisch mit kleinen Augen und gefährlichen Zähnen. Die große Rückenflosse war scharf geschnitten. Dieser Fisch war ein Raubtier der Meere.

Sawyer öffnete die Tür, schob mich hindurch und schloss sie wieder, sobald er selber drinnen war.

Dieser Raum war nicht besonders groß. An der hinteren Wand stand ein schmales Bett mit einer beschlagenden Holztruhe am Fußende. Auf einem kleinen Nachttisch stand neben einem Stapel Bücher eine einsame Kerze. Auch zwei von Salias gemalten Bildern hatten dort ihre Heimat gefunden. Über dem Bett gab es zwei Fenster, an denen der Regen prasselte.

Über die komplette rechte Wand stand ein deckenhohes Regal, dass nur zu einem kleinen Teil gefüllt war. Direkt davor auf dem Boden hatte sich ein kleiner Haufen Schmutzwäsche angesammelt. Ansonsten gab es hier nicht viel zu sehen. Kahle Wände und nackter Boden. Das war wohl Sawyers Zimmer.

„Was wollen wir hier?“, fragte ich und schaute mich nach Sawyer um. Er fummelte am Türschloss herum und ließ dann etwas in seiner Hosentasche verschwinden. „Was tust du da?“

„Ich verhindere dumme Entscheidungen.“

Meine Augenbrauen zogen sich zusammen. Hatte er uns etwa hier eingeschlossen? Ich drängte mich an ihm vorbei, packte den Knauf und zog daran. Nichts passierte. Ich drehte daran herum und rüttelte sogar kräftig, aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Ich versuchte es ein zweites und ein drittes Mal, nur um zu demselben Ergebnis zu kommen. Die Tür war abgeschlossen.

Wütend fuhr ich zu Sawyer herum. Der Kessel in meinem Inneren begann stärker zu brodeln. „Mach sie sofort wieder auf!“

Völlig unbeeindruckt schlenderte er zu seinem Bett und ließ sich auf die Kante fallen. „Nö.“

„Nö? Was meinst du mit nö?“

„Ich denke es ist ziemlich klar was ich damit meine, aber wenn du wirklich eine Erklärung brauchst: Es bedeutet, die Tür bleibt zu.“

„Das kannst du nicht machen!“, rief ich fassungslos. Was sollte dieser Mist? „Du kannst mich hier doch nicht einfach einsperren!“

„Doch kann ich. Wenn man es genau nimmt, habe ich das sogar schon getan.“

„Du Mistkerl.“ Ich wirbelte herum, zog und zerrte an dem Knauf und begann gegen die Tür zu hämmern. „Hallo? Hilfe, holt mich hier raus!“ Ich schlug mit der flachen Hand so fest gegen das Holz, dass die Tür im Rahmen wackelte. „Hallo!“

„Du kannst hier herumbrüllen so viel du willst, die sind so mit ihrer Diskussion beschäftigt, dass sie dich sicher nicht hören. Und selbst wenn, sie kommen hier nicht rein.“

Wütend fuhr ich zu ihm herum. „Lass mich hier sofort raus!“

„Das kannst du vergessen.“

„Aber du hast kein Recht mich hier festzuhalten!“ In der Hoffnung, dass doch noch jemand auf mich aufmerksam wurde, schlug ich wieder gegen die Tür. „Hallo? Hört mich jemand? Hallo?“ Zwecklos, Entweder wollten, oder konnten sie mich nicht hören. Der Einzige der mich hörte war Sawyer und der weigerte sich die Tür zu öffnen. Und ohne Schlüssel würde ich auch nicht weit kommen.

Natürlich, der Schlüssel. Ich drehte mich wieder zu ihm herum. Er hatte den Schlüssel in seine Hosentasche gesteckt. Ich musste ihn mir nur holen, dann konnte ich mich selber herauslassen.

Als ich ihn nur anstarrte, hob er unter seinem Kopfschmuck eine Augenbraue, als erwartete er einen neuerlichen Ausbruch. Stattdessen ging ich auf ihn los, versetzte ihm einen Stoß vor die Brust und griff gleichzeitig nach seiner Hosentasche. Zu meinem Pech musste er mit sowas bereits gerechnet haben. Ich schaffte es weder ihn umzustoßen, noch bekam ich die Hand in seine Hose. Er wehrte mich einfach ab und gab mir dann auch noch einen Schubs, der mich zurückstolpern ließ.

„Hey, hör auf mich zu begrapschen.“

„Dann lass mich hier raus!“, schrie ich ihn an.

„Damit du zu deinem idiotischen Vorhaben aufbrechen kannst? Bestimmt nicht.“ Er kam wieder auf die Beine. „Hätte ich dich nicht aufgehalten, hättest du dich einfach davon gemacht.“

„Das geht dich gar nichts an!“ Ich begann wieder auf die Tür einzuschlagen. Ich musste hier raus, Marshall brauchte mich. Außer mir gab es niemanden den das kümmerte. „Mach die verdammte Tür auf, ich will hier raus!“ Meine Hände begannen von den Schlägen zu schmerzen, aber ich hörte nicht auf. Irgendwann würde mich bestimmt jemand hören. Killian war sicher schon auf der Suche nach mir und wenn nicht, dann würde ich diese Tür solange bearbeiten, bis sie aus den Angeln flog.

Sawyer packte mich an den Schultern und zog mich mit einem Ruck von der Tür weg.

Ich riss mich sofort von ihm los. „Fass mich nicht an!“

„Willst du dich selber verletzten, oder was soll der Scheiß?“

„Ich will hier raus!“

„Warum? Um dich kopflos in ein auswegloses Unterfangen zu stürzen? Und das für einen Mistkerl, der deine Loyalität nicht mal verdient hat?“

„Weil es meine Schuld ist!“, schrie ich ihm ins Gesicht und spürte wie meine Augen zu brennen begannen. „Die Tracker waren wegen mir da! Nur wegen mir ist Balic tot! Und nur wegen mir ist Marshall jetzt in ihren Händen! Ich kann das nicht einfach ignorieren!“ Denn es war meine Schuld, meine ganz allein. Nur weil ich ein Teil ihres Lebens gewesen war, hatten sie meine Mischpoche auf dem Radar.

Ohne mich wäre all das niemals geschehen. Ich war dafür verantwortlich.

„Das ist nicht deine Schuld“, widersprach er mir und versuchte dabei ruhig zu bleiben. „Wenn hier überhaupt jemand Schuld hat, dann ist es Nikita. Sie hat den Trackern verraten, wo sie deine Mischpoche finden konnten.“

„Aber das konnte sie nur, weil ich sie zurückgelassen habe!“ Oh Gaia, ich hatte meine kleine Schwester einfach im Stich gelassen.

Plötzlich begannen all die Gefühle, die ich in den letzten Wochen so tief in mir vergraben hatte, an die Oberfläche zu steigen. Die Angst und die Hoffnungslosigkeit, die ich immerzu in Eden gespürt hatte. Der tiefe Schmerz über Nikitas Verrat, der Kummer über die Zurückweisung meiner Mischpoche und das Entsetzen, als ich feststellte, dass Akiim noch lebte. Ich hatte ihn damals, als er kaum mehr als ein kleiner Junge gewesen war, einfach zurückgelassen, um meine eigene Haut zu retten. Ich war weggerannt, als er mich am meisten gebraucht hatte.

Ich spürte wie ein Schluchzen meine Kehle heraufkroch und mir die Tränen über die Wangen liefen. „Was mache ich falsch? Warum wollen alle das ich verschwinde?“

„Was?“

„Du hast es doch auch gesagt, du brauchst mich nicht!“ Ich schlug die Hand vor den Mund und wich vor ihm zurück. „Keiner will mich. Egal was ich tue, alle verlassen mich.“ Und trotzdem war ich nicht fähig sie im Stich zu lassen. Ich wollte Nikita wieder in die Arme schließen, ich wollte mein altes Leben zurück. Ich wollte Balic wieder lachen hören. Aber nichts davon würde geschehen. Ich hatte wirklich alles verloren.

Ein Schluchzer entrang sich mir. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte den Tränen Einhalt zu gebieten, aber es wurden immer mehr. Dieser Schmerz, es tat so weh. Ich hatte das Gefühl daran zu ersticken.

Warum nur war die Welt so grausam zu mir? Ich bemühte mich, ich versuchte es wirklich, aber trotzdem verlor ich jeden Menschen der mir etwas bedeutete.

Als sich auf einmal zwei Arme um mich legen wollten, begann ich um mich zu schlagen. „Nein!“, schrie ich und versuchte Sawyer von mir wegzustoßen. „Geh weg!“ Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht das Gefühl haben, dass da jemand war, der sich um mich kümmerte, nur um es wieder zu verlieren. Ich wollte nicht mehr hoffen, nur um am Ende wieder enttäuscht zu werden. Ich ertrug das einfach nicht mehr. Noch mehr würde ich nicht verkraften, es zerriss mich jetzt schon.

Aber Sawyer ließ sich nicht vertreiben. Er ließ sich weder von meinem Schlag noch von meinen Tränen beeindrucken. Er packte mich einfach an den Handgelenken und riss mich zu sich heran.

„Nein, bitte“, weinte ich.

Er legte erst den einen Arm um mich, dann den anderen. Ich konnte mich nicht gegen ihn wehren, denn er klemmte meine Arme einfach zwischen uns ein und drückte mich fest an sich. „Ich verlasse dich nicht“, sagte er leise und das war der Moment, in dem ich endgültig zusammenbrach. Ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust und krallte mich in sein Hemd. Meine Beine gaben einfach unter mir nach und ich sank in seinen Armen zu Boden, während der Schmerz, die Angst und die Hoffnungslosigkeit in meinem Inneren tobten.

 

oOo

Kapitel 48

 

Ein leises Klopfen erklang an der Tür.

„Verpiss dich!“ Sawyers Worte waren grob, doch seine Umarmung war es nicht.

Abgesehen von dem prasselnden Regen an den Fenstern, blieb es für einen Moment ruhig. Dann hörte ich ein leises Seufzen und wie sich Schritte auf der anderen Seite der Tür langsam entfernten.

Eigentlich hätte ich sofort aufspringen und nach Hilfe rufen sollen, doch im Moment verspürte ich nicht mal den Impuls dazu. Meine Tränen waren versiegt, der Schmerz zu einem Echo in der Ferne geworden. Ich ruhte mit dem Ohr an Sawyers Brust und lauschte dem stetigen Pochen seines Herzens. Das beständige Geräusch beruhigte mich und ich hatte Angst, dass der Schrei meiner Seele zurückkehren würde, wenn ich mich davon entfernte. Ich wollte diesen Schmerz nicht mehr fühlen.

Meine Hand grub sich in Sawyers Hemd, während er beruhigende Kreise und Schnörkel auf meinen Rücken zeichnete.

Für Sawyer konnte das hier nicht sehr bequem sein. Zwar lehnte er in der Zwischenzeit mit dem Rücken an der Wand, aber ich saß halb auf seinem Schoß. Trotzdem beschwerte er sich nicht. „Willst du darüber sprechen?“ Es waren die ersten Worte, die seit einer gefühlten Ewigkeit die Stille durchbrachen. Naja, wenn man von seinem kleinen Ausbruch eben absah.

„Nein.“ Ich wollte das verdammte Zeug einfach nur zurück in die Kiste in meinem Kopf stopfen und es für immer vergessen. Ganz bestimmt wollte ich nicht darüber reden und damit wieder alles nach oben schwämmen. Es tat einfach nur weh und raubte mir meine Kraft. Außerdem gab es auch viel wichtigere Dinge, um die ich mich kümmern musste.

Ungeachtet meines kleinen Zusammenbruchs, war ich noch immer in diesem Raum eingesperrt, obwohl ich eigentlich schon längst auf den Weg nach Eden sein sollte. „Lässt du mich hier irgendwann wieder raus?“

„Kommt darauf an, hast du in der Zwischenzeit dein unterentwickeltes Hirn wieder eingeschaltet?“

„Es war niemals aus gewesen.“

Er schnaubte nicht sehr schmeichelhaft.

Das ärgerte mich. Ich löste mich von ihm und setzte mich auf. „Wie kommst du eigentlich dazu, diesen Mist mit mir abzuziehen?“

„Ich revanchiere mich.“

„Du revanchierst dich?“ Wofür?

„Du hast auf Salia und mich aufgepasst, als wir dich brauchten.“ Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Darum behalte ich dich jetzt im Auge. Sieh es einfach als Dankeschön.“

„Ich will aber nicht, dass du mich im Auge behältst.“ Ich brauchte nun wirklich keinen Aufpasser. Wie er eben bereits gesagt hatte, war das meine Aufgabe.

„Tja, Pech gehabt, das Leben ist nun einmal kein Wunschkonzert.“

Vielen Dank, dass hatte ich schon vor langer Zeit gelernt. Aber nett, dass er mich daran erinnerte, wie machtlos man sich neben anderen Menschen fühlen konnte.

Verärgert stand ich auf und begann unruhig im Raum umherzulaufen. Er konnte mich ja nicht für den Rest meines Lebens hier einsperren, natürlich konnte er das nicht, aber das bedeutete nicht, dass er es nicht bis zum Äußersten ausreizen konnte. Wie lange würde das dauern? Den ganzen Tag, oder auch noch die Nacht? Noch länger? Spätestens wenn einer von uns aufs Klo musste, würde diese Situation hier sehr ungemütlich werden. Vielleicht sollte ich ihm genau das sagen. Aber wahrscheinlich würde er dann einfach nur einen Nachttopf unter seinem Bett hervorziehen.

Igitt.

Schwungvoll drehte ich mich herum und starrte ihn dann böse an. „Du kannst mich hier nicht ewig einsperren.“

Er wiegte den Kopf leicht hin und her, völlig unbeeindruckt von meinem Ärger. Sein Kopfschmuck schimmerte dabei in dem schwindenden Tageslicht. „Nicht ewig, nur bis du die magischen Worte sagst.“

Die magischen Worte? Ich verengte die Augen leicht. „Und wie lauten die?“

„Ach, die sind ganz leicht, sprich mir einfach nach.“ Er räusperte sich und sagte dann laut und deutlich: „Sawyer, ich verspreche dir meinen ewigen Gehorsam. Ich werde treu und loyal sein und dir jeden morgen Frühstück ans Bett bringen.“

Warum hatte ich eigentlich gefragt? Mir hätte doch klar sein müssen, dass da nichts Gescheites bei herauskam. „Mit dir kann man einfach kein vernünftiges Gespräch führen.“ Ich hätte doch um Hilfe rufen sollen, als es an der Tür geklopft hatte.

Genervt und verärgert, ging ich zu seinem Nachttisch und schaute mir die Bilder von Salia an. Ich musste mich mit etwas ablenken, sonst käme ich vielleicht noch auf die Idee ihm den Kopf abzureißen.

Sawyer erhob sich vom Boden und trat direkt hinter mich. Er berührte mich nicht, aber ich spürte wie nahe er stand. Seit diesem Tag in meinem alten Kinderzimmer konnte ich es einfach nicht mehr ausblenden, wenn er sich mir näherte. Und seit dem Gutenachtkuss draußen vor dem Nebeneingang, war das noch schlimmer geworden. Dabei versuchte ich es. Wirklich.

„Dann versprich mir wenigstens, dass du nicht im Alleingang nach Eden gehen wirst, um diesen Idioten zu retten.“

Über die Schulter hinweg, warf ich ihm einen finsteren Blick zu. „Marshall ist kein Idiot.“

„Mit dieser Meinung stehst du ziemlich allein da.“

Ich ignorierte ihn, nahm mir das oberste Bild und schaute es mir etwas genauer an. Es war mit Farbe gemalt und zeigte fünf Personen und ein großes, haariges Tier. Wenn ich raten müsste, würde ich behaupten, Salia hatte unsere kleine Gruppe gemalt. Allerdings fehlte ihr das Talent von Noor. Oder Wolf.

Sawyer beobachtete mich einen Moment still, bevor er sagte: „Du kannst das hier sofort beenden, du musst mir einfach nur dein Wort geben, dass du nicht allein nach Eden gehen wirst.“

Aha, er hatte wohl auch keine Lust mehr hier eingesperrt zu sein. „Ach und was soll das bringen?“ Ich legte das Bild von Salia zurück und drehte mich zu ihm um. „Ich könnte mein Wort einfach brechen.“

„Das wirst du nicht.“ Er klang sehr überzeugt.

„Wie kommst du darauf?“

„Gegenfrage: Warum versprichst du es mir nicht einfach? Nur drei Wörter: Ich verspreche es und schon bist du vogelfrei.“ Er machte eine Kunstpause, in der er mich herausfordernd anschaute. „Ich sage dir warum. Du bist einer von diesen Menschen, denen ein Versprechen noch etwas bedeutet. Du gibst dein Wort nicht leichtfertig und wenn du es tust, dann hältst du dich auch daran. Gut für mich, schlecht für dich.“

Mistkerl.

Seine Lippen verzogen sich zu einem siegessicheren Lächeln. „Ja schon blöd, wenn man noch Werte hat, nicht wahr?“

Jetzt machte er sich auch noch über mich lustig. Aber gleich würde er nicht mehr lachen. Ich hatte keine Lust noch länger mit ihm hier eingesperrt zu sein und mich verhöhnen zu lassen. Und da er sich wie ein Arsch benahm, würde ich das jetzt auch tun.

„Ich kann das nicht versprechen“, sagte ich leise und legte meine Hände flach auf seinen Bauch. Dabei beachtete ich sein plötzliches Misstrauen nicht. Der Mann hatte gute Instinkte, denn ich hatte nichts Gutes im Sinn. Leider würden die ihm jetzt auch nichts bringen. „Marshall braucht mich.“

„Der Feigling hat deine Hilfe nicht verdient.“

Ich legte den Kopf an seine Brust und schlang die Arme um ihn. Es sollte sich nicht so gut anfühlen, besonders nicht, da ich das hier nur tat, um ihn auszutricksen. „Das hast du nicht zu entscheiden.“

Er hielt ganz still. Vermutlich, weil er nicht wusste, was das werden sollte. Vielleicht war es ihm auch unangenehm. Ich jedenfalls nutzte seine Verwirrung, um meine Hand langsam und vorsichtig in seine Hosentasche gleiten zu lassen.

„Verdamm, was machst du da?“, knurrte er in dem Moment, als meine Finger sich um den Schlüssel schlossen. Er wollte meinen Arm packen, aber ich wich hastig vor ihm zurück und verbarg meine Hände hinter meinem Rücken.

Sawyer griff sofort in seine Hosentasche, aber die war nun leer. Verärgert funkelte er mich an. „Gib ihn sofort wieder her.“

„Nein.“

Als er nach mir greifen wollte, tauchte ich blitzschnell unter seinem Arm hindurch und rannte zur Tür. Ich würde jetzt hier rauskommen und dann schnellstens das Weite suchen. Hastig steckte ich den Schlüssel ins Schloss, doch bevor ich ihn drehen konnte, packte Sawyer mich um die Taille und hob mich einfach hoch.

„Lass das!“, schrie ich und begann wie verrückt in seinem Griff zu strampeln.

Er drehte sich um, stellte mich wieder auf den Boden und gab mir einen Schups, der mich nach vorne stolpern ließ. Ich brauchte einen Moment, um mich zu fangen und als ich wütend zu ihm herumfuhr, zog er gerade den Schlüssel aus dem Schloss.

Oh nein. „Das lässt du!“ Ich stürzte zu ihm, packte seine Hand und versuchte ihm den Schlüssel wieder wegzunehmen. Es entstand ein Gerangel. „Lass los!“, forderte ich, während er knurrte: „Kannst du mit diesem Scheiß jetzt mal aufhören?“

„Dann gib mir den Schlüssel!“

„Vergiss es!“ Er versuchte seinen Arm wegzuziehen, aber ich riss ihn an seinem Ärmel zurück. Bei dem Versuch mich abzuschütteln, riss der Stoff ein, wodurch er die Hand mit dem Schlüssel in die Luft strecken konnte.

„Gib ihn her!“ Ich sprang an ihm hinauf und packte ihm am Arm. Kurzerhand holte er aus und warf den Schlüssel quer durch das Zimmer. Er landete irgendwo in der Ecke neben dem Regal.

Ich wollte sofort hinterher, doch er schlang einen Arm um mich, zog mich zurück und warf mich nicht allzu sanft mit dem Rücken gegen die Wand. In der nächsten Sekunde hatte er meine Handgelenke gepackt, drückte sie an die Wand und presste sich mit vollem Körpereinsatz gegen mich, damit ich mich nicht abdrücken konnte.

Gefangen. Dieser Mistkerl. „Geh weg und lass mich los!“, knurrte ich und versuchte mich von ihm zu befreien, doch nicht zum ersten Mal musste ich feststellen, wie stark er war. Was aß dieser Kerl bloß zum Frühstück?

„Hör jetzt endlich mit diesem Unsinn auf!“, fuhr er mich an.

„Dann lass mich doch endlich hier raus!“

„Das kann ich nicht und das weißt du!“

„Und ich kann nicht einfach hier herumsitzen, wenn Marshall mich braucht!“, schrie ich ihm ins Gesicht.

„Und was ist mit den anderen Menschen, die dich brauchen?!“, brüllte er zurück.

Diese Worte brachten mich so sehr aus dem Konzept, dass ich aufhörte mich zu wehren und ihn irritiert anstarrte. „Was?“

Seine Augen funkelten verärgert – warum bitte war er jetzt sauer? „Es gibt noch mehr Leute die dich brauchen, Leute die sich auf dich verlassen und die dich nicht im Stich gelassen haben. Menschen die bereit sind dir zu helfen, wenn du sie nur lässt.“

„Aber von diesen Menschen ist niemand in Gefahr, Marshall schon.“

„Er ist ein erwachsener Mann und es waren seine eigenen Entscheidungen, die ihn in diese Situation gebracht haben.“

„Und darum soll ich ihn jetzt einfach vergessen?“ Das konnte ich nicht, warum verstand er das denn nicht?

„Das habe ich nicht gesagt.“ Er versuchte ruhig zu bleiben, schloss für einen Moment sogar die Augen und atmete einmal tief durch, bevor er weitersprach. „Vertrau meinem Vater“, sagte er leise. „Er braucht nur etwas Bedenkzeit. Er wird sich richtig entscheiden.“

„Vertrauen?“ Ich schnaubte. „Ich kenne deinen Vater nicht gut genug um ihm zu vertrauen.“

„Dann vertrau mir.“

Das wurde ja immer besser. „Dich kenne ich in der Zwischenzeit zu gut um dir zu vertrauen.“ Viel zu gut. „Du bist ein arroganter Egoist. Nichts von dem was du machst, tust du ohne Hintergedanken. Du schaust immer was für dich dabei herausspringt, bevor du auch nur in Erwägung ziehst, etwas für andere zu tun.“

Einen Moment musterte er mich schweigend. Ein Lächeln zupfte an seinem Mundwinkel. „Jeder muss eben sehen, wo er bleibt.“

Diese Einstellung war so grundlegend falsch, dass ich ihm am liebsten geschüttelt hätte – naja, zumindest wenn ich eine Hand frei gehabt hätte.

Dass er so dachte, wunderte mich allerdings nicht, denn ein Großteil seines Lebens hatte er in Eden verbracht und dort waren nur die wenigsten Menschen selbstlos. Aber ich wollte mich jetzt nicht von Logik einwickeln lassen und ihm am Ende vielleicht sogar noch für sein schweres Leben bedauern. Ich wollte wütend bleiben und toben und brüllen. Aber vor allem Dingen wollte ich von ihm weg, weil seine Gegenwart mich einfach nur noch immer tiefer in meine Verwirrung stürzte.

„Warum interessiert es dich überhaupt?“, fragte ich deswegen angriffslustig. „Du hast deine Familie doch zurück und brauchst mich jetzt nicht mehr.“

Sein Gesicht verfinsterte sich. „Bist du deswegen immer noch sauer? Ich habe mich doch bereits dafür entschuldigt. Außerdem hast auch du hier Familie und trotzdem wolltest du einfach verschwinden.“

„Ich habe es nur überlegt“, widersprach ich sofort. „Und Akiim ist ein Fremder für mich.“

„Was soll ich dann erst sagen? Du hast deinen Bruder vor elf Jahren verloren, ich meine Leute vor sechzehn. Ich bin dir also um fünf Jahre voraus, Baby. Auch ich muss sie erst wieder kennenlernen. Außerdem hast du Menschen denen du wichtig bist. Du hast Wolf und den netten Onkel Doktor.“ Sein Blick wurde eindringlich. „Und Salia hast du auch“, fügte er noch mit sanfter Stimme hinzu.

Aber dich habe ich nicht. Ich konnte gerade noch so verhindern, dass mir diese Worte über die Lippen kamen.

Bei Gaias Güte, was dachte ich da nur? Auf einmal schaffte ich es nicht mehr seinem Blick standzuhalten. Ich schloss die Augen, aber so wurde es nur noch schlimmer. Plötzlich wurde ich mir viel zu bewusst, wie nahe wir uns waren. Sein ganzer Körper presste sich gegen meinen und all das was ich in den letzten Tagen zu verleumden versuchte, stand mir plötzlich wieder klar vor Augen.

Der Kuss, dieser verdammte Kuss, der mich bis in meine Träume verfolgte und mich unruhig und einsam erwachen ließ.

Es war richtig, ich hatte ihn nicht und ich würde ihn auch niemals haben, aber jetzt und hier, in diesem Augenblick, stand er genau vor mir. Vielleicht konnte ich ihn ja doch haben, wenn auch nur für ein paar gestohlene Momente. Ich sehnte mich nach dieser Art von Nähe, denn ich wollte mich nicht mehr so allein und verlassen fühlen.

Als ich die Augen wieder öffnete, veränderte sich die Atmosphäre zwischen uns. Er spürte es genauso wie ich.

Es war nicht das erste Mal, dass sowas zwischen uns geschah. Schon damals in seinem Haus hatte es mehr als nur einen Moment gegeben, in dem irgendwas zwischen uns erwacht war und mich wie einen Magneten zu ihm hingezogen hatte. Damals hatte ich es auf das Aphrodisiakum geschoben, doch dieses Mal hatte ich keine solche Ausrede. Da waren nur wir beide, er und ich und ich wollte das.

Ich hob meinen Fuß und begann damit langsam an seinem Bein hinaufzufahren.

Irritiert warf er einen kurzen Blick zur Seite. Seine Augenbrauen zogen sich ein wenig zusammen, als er mich wieder anschaute.

„Was tust du da?“, fragte er mich leise, so als fürchtete er sich vor der Antwort.

„Ich glaube nicht, dass ich dir das erklären muss“, erwiderte ich genauso leise und schob meinen Fuß höher. Einen kurzen Moment fragte ich mich, ob ich nicht vielleicht zu weit ging, denn immerhin wusste ich doch, wie er auf Frauen reagierte und wenn ich Pech hatte, würde ich gleich die Abfuhr meines Lebens bekommen. Aber dieser Zweifel war nur ein kurzes Aufflackern, der sich sofort wieder verflüchtigte, denn Sawyer trat weder fluchtartig den Rückzug an, noch schrie er mich an, dass ich mit dem Scheiß aufhören sollte. Er stand einfach nur da und beobachtete mich mit einer Intensität, unter der sich meine Haut erwärmte.

„Ich bin mir nicht sicher, ob wir das tun sollten.“

Ich schlang mein Bein um seine Hüfte und presste ihn gegen mich. „Dann sag nein.“

Er sagte nicht nein. Sein Blick huschte zu meinem Mund, seine Lippen teilten sich, aber er kam mir nicht entgegen. In seinen Augen las ich seine Zweifel. Aber Zweifel hatten hier und jetzt keinen Platz.

Der Griff um meine Handgelenke wurde fester.

Ich spürte seinen warmen Atem in meinem Gesicht, beugte mich vor und streifte seine Lippen mit meinen. Diese leichte Berührung elektrisierte mich und ließ all meine Sinne aus einem tiefen Schlaf erwachen. Ich wollte mehr davon, viel mehr, ich wollte alles. In diesem Moment wollte ich ihn, also presste ich meine Lippen auf seine und küsste ihn.

Mehr brauchte es nicht, um seine Zweifel fortzuwischen. Egal was ihn daran gehindert hatte sich mir zu nähern, es ertrank in dem Gefühl unseres Kusses. Wir ertranken darin. Diese Berührung, sie schlug ein wie ein Blitz und durchzuckte meinen ganzen Körper.

Ich presste ihn ein wenig fester an mich, genoss den Kuss mit all meinen Sinnen, roch ihn, schmeckte ihn, spürte seine Nähe. Es war, als könnte ich ihn mit all meine Sinnen. Es war elektrisierend. Und es endete viel schneller, als es begonnen hatte.

Sawyer löste sich von mir, nur ein ganz kleinen wenig, aber es reichte, um dem Kuss ein Ende zu setzten. Er starrte mich genauso an wie ich ihn, überrascht und auch etwas sehnsüchtig. Der Braunton seines Auges hatte sich verdunkelt.

Am Liebsten hätte ich ihn gefragt, warum er aufgehört hatte, doch ich spürte instinktiv, dass jedes Wort in diesem Moment zu viel wäre. Irgendwas geschah da zwischen uns, irgendwas, für das ich keinen Namen hatte. Ich wusste nicht mal, ob es gut oder schlecht war, ich wusste nur, dass es bedeutend war. Und dass ich mehr davon wollte – viel mehr.

Seine Lippen, ich war wie hypnotisiert von ihnen. Was er eben getan hatte … es hatte mir gefallen. „Vielleicht sollten wir …“ Was? Loslassen? Weitermachen? So tun als wäre das Ganze niemals passiert?

„Ja.“

War das eine Frage oder eine Zustimmung gewesen?

Eigentlich war das auch völlig egal, denn als er sich bewegte, rieselte ein solch heißer Schauder über meinen Rücken, dass mein Körper einfach das Ruder übernahm. Und plötzlich lagen unsere Lippen ein weiteres Mal aufeinander, begegneten sich mit einem Verlangen, dass ich so noch nie erlebt hatte. Er wollte das genauso sehr wie ich es brauchte. Oh Gaia, ich glaubte nicht, dass ich in meinem Leben schon mal etwas so sehr gebraucht hatte, wie ihn in diesem Moment.

Er schien immer genau zu wissen, was ich wollte und ich konnte fast spüren, was er erwartete. Es war eigenartig, aber nicht seltsam.

Meine Lippen teilten sich, als er sie mit der Zunge berührte und so wurde der Kuss zu etwas noch Tieferem. Ich drückte das Becken gegen seines und konnte spüren, wie seine Erregung erwachte. Die Lust begann tief in mir zu erblühen und ihre Fühler in alle Richtungen auszustrecken.

Mein Denken wurde schwerfällig, denn ich konnte mich nur noch auf ihn konzentrieren. Auf diesen Kuss, auf seinen männlichen Körper, der sich gegen meinen presste und die ansteigende Hitze zwischen uns.

Meine Brüste begannen zu kribbeln, die Brustwarzen stellten sich auf und das alles nur wegen eines Kusses. Aber das reichte mir nicht, ich wollte noch viel mehr.

Ich wollte ihn berühren, seine Haut unter meinen Fingern spüren, doch sein Griff an meinen Handgelenken war unnachgiebig. Ich zog an ihnen, nur schien er es nicht mal zu bemerken. „Lass mich los“, sagte ich und zog erneut, damit er auch verstand, was ich meinte. „Ich will dich anfassen.“

In dem Moment biss er mir vorsichtig in die Unterlippe.

Ein heißer Schauder rieselte mir den Rücken hinunter. Der Griff an meinem Handgelenk löste sich.

Seine Hand packte nach meinem Schenkel, den ich um ihn gewickelt hatte, sein Becken drückte sich gegen mich und ich konnte spüren, wie seine Erregung mit einem Schlag zunahm.

Ich schob meine Hand in seinen Nacken, vergrub meine Finger in seinem Haar, berührte dabei seinen Kopfschmuck und drängte mich fest gegen ihn. Ihn so nahe bei mir zu spüren, fühlte sich unglaublich gut an. Ich konnte nicht genug davon bekommen. Die Intensität dieses Kusses war wie ein Rausch und sein Geruch stieg mir bis in den Kopf.

Ich ließ meine Hand zu seiner Brust wandern, strich dabei über das Stück nackter Haut an seinem Halsausschnitt, das schon mehr als einmal meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Es war so verlockend, dass ich einfach nicht widerstehen konnte.

Sawyer gab ein leises Geräusch von sich, als ich sein Schlüsselbein berührte. Seine Hand griff fester zu. Er schob sie meinen Schenkel hinauf, umfasste meinen Hintern und hielt ihn fest, während er sich gegen mich presste.

Ich löste meine Lippen, drückte einen Kuss auf sein Kinn, seine Kehle, das Stück nackter Brust, kam nicht gegen diese Verlockung ab. Aber das war mir nicht genug. Ich wollte mehr, ich wollte ihn berühren, Haut an Haut und mich an ihm berauschen.

Ich zog an seinem Hemd, aber so funktionierte das nicht, also griff ich nach seinem Saum, schob meine Hand unter sein Hemd und spürte die warme Haut unter meinen Fingern.

Sein Griff an meinem Po wurde fester, als meine Hand köstlich langsam an ihm hinauf glitt und dabei sein Hemd immer höher schob. „Zieh es aus“, forderte ich und kostete noch einmal an diesem verlockenden Stückchen nackter Haut.

Er zögerte nicht, ließ mich sofort los und zog sich das Hemd über den Kopf. Im nächsten Moment flog es schon zu Boden.

Mein Herz schlug wie wild gegen meine Rippen, als ich ihn dabei beobachtete.

Es war nicht das erste Mal, dass ich seine bloße Brust sah. Ich hatte ihn sogar schon mehrmals nackt gesehen, aber es war das erste Mal, dass ich ihn so berührte und meine Hände so auf seine nackte Brust legte. Ich spürte seinen schnellen Herzschlag unter meinen Fingerspitzen, ließ meine Hände tiefer wandern und drückte die Lippen auf die warme Haut. Ich spürte die Hitze, die er abstrahlte.

Sein Duft war berauschend und vernebelte mir die Sinne. Ich konnte gar nichts andres mehr denken als Sawyer, Sawyer, immer nur Sawyer. Sowas hatte ich noch nie erlebt.

Ich küsste die Haut, rieb mein Gesicht an ihr und ließ mich von seinem Geruch betören. Dieser Duft, was war das nur? Er wirkte wie ein Aphrodisiakum auf mich.

Sawyer legte Daumen und Zeigefinger um mein Kinn und hob mein Gesicht. Seine Lippen verschlangen mich, während er einen Arm um meine Taille wickelte und mich fest an sich zog.

Ich stöhnte als er seine Hand in meine Hose schob und meinen Hintern knetete, ließ eine Hand tiefer gleiten, über seinen Bauch zum Bund seiner Hose. Ich spürte die Muskeln unter meinen Fingern zucken, als ich dem Pfad von feinen Härchen unter seinem Bauchnabel folgte, fand die Kordel an seiner Hose und zog sie auf.

Sein Atem stockte in dem Moment, als ich meine Hand hineinschob und seinen harten Schaft damit umschloss. Er keuchte direkt in meinen Mund und faste ein wenig fester zu.

Langsam bewegte ich meine Hand auf und ab, fuhr die ganze Länge nach und strich über die Eichel, was seinen Penis zucken ließ. Ich schaffte es kaum meine Hand um ihn zu schließen.

Das Prasseln des Regens am Fenster wurde stärker, die Wolken hatte sich verdunkelt. Donner grollte und in der Ferne zuckte ein Blitz über den Himmel.

Eine große Hand legte sich auf meine Kehle, glitt langsam an ihr hinab, zwischen meinen Brüsten hindurch. Ich sehnte mich danach, dort von ihm berührt zu werden, doch er schob die Hand immer tiefer, bis zum Saum meines Hemdes. „Nimm die Arme hoch“, verlangte er.

Es dauerte einen Moment, bis sein Befehlt die Nebel in meinem Kopf durchdrungen hatte und dann tat ich es auch nur, wegen der freudigen Erwartungen.

Ein leises Stöhnen kam von ihm, als ich meine Hand aus seiner Hose nahm und sie über den Kopf ausstreckte. Er unterbrach den Kuss erst, als er das Hemd bereits so hochgeschoben hatte, dass ihm keine Wahl mehr blieb.

Kühle Luft strich über meine erhitzte Haut und meine Brüste reckten sich ihm erwartungsvoll entgegen. Doch er griff nicht sofort zu, wie ich gehofft hatte. Er zog das Hemd aus, warf es zur Seite und legte seine große Hand dann wieder an meine Kehle.

Ich spürte wie schnell mein Herz gegen meine Rippen pochte, als er nur mit den Fingern langsam über meine Haut strich. Seine gebräunte Haut auf meiner viel Dunkleren war ein Unterschied wie Tag und Nacht und erregte mich aus unerfindlichem Grund noch mehr. Vielleicht war es aber auch sein Blick, mit dem er seinen eigenen Bewegungen folgte.

Er strich an mir hinab, hinunter zu meinem Bauch, nur um seine flache Hand darauf zu legen und damit wieder nach oben zu wandern.

Ich schloss die Augen, als er sich meiner Brust näherte, doch er fuhr nur wieder zwischen ihnen hindurch, umkreiste sie und reizte mich damit, dass er sie nicht berührte. Es war eine süße Qual.

Als er sich vorbeugte und erst einen Kuss auf meine Schulter, und dann auf mein Dekolleté setzte, hielt ich es kaum noch aus. Ich wollte endlich von ihm angefasst werden. Also griff ich nach seinem Handgelenk und wollte ihm zeigen, was er tun sollte, doch er ließ sich von mir nicht lenken.

„Nicht so schnell“, murmelte er, ließ seinen Atem an mir hinauf wandern und hauchte einen flüchtigen Kuss auf meine Lippen. „Vorfreude ist doch die schönste Freude.“

Also ich hatte definitiv genug Vorfreude gehabt, doch bevor ich ihm das mitteilen konnte, drückte er seinen Mund wieder auf meinen, schlang seine Arme um mich und zog mich fest an sich heran.

Meine Brüste drückten sich gegen ihn, was mir nur wenig Erleichterung verschaffte, aber sein Kuss begann mir wieder die Sinne zu rauben, also ließ ich ihm das für den Moment durchgehen.

Als er begann sich rückwärts zu bewegen, ließ ich mich von ihm mitnehmen. Ich merkte kaum, wie ich einen Fuß vor den anderen setzte, nur um den Kontakt zu ihm nicht zu verlieren. Ich konnte einfach an nichts anderes denken, als an ihn. Es fühlte sich einfach so wunderbar an, ich war wie entrückt. Wie war das überhaupt möglich? Wie konnte ein Mensch nur solche Gefühle in einem anderen erwecken? Ich fühlte mich kaum noch wie ich und doch war ich in diesem Moment mehr ich selbst, als jemals zuvor in meinem Leben.

Plötzlich riss Sawyer sich mit einem überraschten Geräusch von mir los und war so schnell verschwunden, dass der Verlust seiner Nähe fast wie ein körperlicher Schmerz war. Nein, Moment, er hatte sich nicht losgerissen. Wir hatten unerwartet das Bett erreicht. Er war gestolpert und draufgefallen. Jetzt saß er da, leicht verdutzt, mit geöffneter Hose, die sehr tief saß und den Blick auf dunkles Gekräusel offenbarte. Dieser Anblick war einfach nur verführerisch.

So war das offensichtlich nicht geplant gewesen, aber das war schon in Ordnung. Ich war durchaus fähig, mich der Situation anzupassen und das Beste daraus zu machen.

Langsam und ohne ihn auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen, öffnete ich das Band an meiner Hose und ließ sie dann einfach an meinen Beinen hinabgleiten. Mit einem Schritt war ich aus ihr herausgetreten und stand nun nackt direkt vor ihm.

Sein sehendes Auge tastete meinen ganzen Körper ab. Fast ehrfürchtig streckte er die Hand nach mir aus, legte sie auf meine Taille und zog mich zwischen seine Beine. Er drückte das Gesicht gegen meinen Bauch, küsste und knabberte an der weichen Haut und schien sich in meinem Geruch zu verlieren.

Ich spürte wie die Hitze in mir anstieg, als er sich langsam meinem Venushügel näherte, doch wie schon bei meiner Brust, gab er der Versuchung nicht nach und sparte diesen Bereich aus. Das war schon ein wenig frustrierend. Aber so von ihm berührt zu werden, barg eine Intimität, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Trotzdem würde ich bald platzen, wenn nicht endlich mehr geschah. Darum entschied ich, dass es an der Zeit war das Ruder zu übernehmen.

Ich beugte mich vor und küsste ihn mit einer Dringlichkeit, die mich selber überraschte. Dabei ging ich vor ihm auf die Knie. Meine Hände landeten auf seinen Schenkeln und strichen langsam daran hinauf. Ich hatte das erst einmal gemacht, aber Tavvin schien es damals gefallen zu haben und so konnte ich nur hoffen, dass das bei Sawyer auch so war.

Er hielt mich nicht auf, als ich nach seinem Hosenbund griff, half mir sogar, ihm den störenden Stoff weit genug herunter zu ziehen, um an seine Erektion heranzukommen. Sie war lang und hart und schien förmlich nach Aufmerksamkeit zu lechzen.

Seine Augenlider waren halb herabgesunken, als er mich dabei beobachtete, wie ich an ihr hinauf und hinab strich. Als sich meine Lippen darum schlossen, fielen sie ihm ganz zu. Er stöhnte und griff in mein kurzes Haar, als müsste er sich irgendwo festhalten.

Sobald mein Kopf begann sich zu bewegen, bewegte sich auch sein Becken. Er schien völlig machtlos dagegen, als sei er mir ausgeliefert. Es war schon ein wenig verstörend, wie machtvoll ich mich in diesem Moment fühlte und auch wie sehr es mich selber erregte.

Anfangs bewegte ich mich nur langsam, doch zwischendurch erhöhte ich das Tempo, versuchte herauszufinden, was ihm am Besten gefiel.

Der Griff in meinen Haaren wurde fester und er begann mich zu führen. Drückte sich tiefer in mich hinein. Ich spürte, wie er zu pochen begann und in meinem Mund noch ein wenig anschwoll. 

„Okay, das reicht jetzt “, ächzte er und hielt meinen Kopf fest. „Wenn du weiter machst, ist der Spaß gleich vorbei.“

Nur langsam entließ ich ihn aus meinem Mund, sah wie er zuckte und begierig nach mehr verlangte, doch Sawyer nahm mein Gesicht zwischen seine Hände und küsste mich wieder. Er verschlang mich geradezu, als er mich rittlings auf seinen Schoß zog und einen Arm um meine Hüfte legte.

Ich griff zwischen uns, packte seine Härte und brachte mich in Position, doch bevor ich mich auf ihn sinken lassen konnte, griff er fester zu und hielt mich auf.

„Nein, noch nicht.“

Ich blinzelte, nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte. Das war doch der Teil, auf den die Männer besonders begierig waren – so jedenfalls waren meine Erfahrungen. Gut, ich hatte bisher nur ein Dutzend Mal Sex gehabt, aber immer war es dieser Teil gewesen, auf den sie hingearbeitet hatten. Dass er mich jetzt aufhielt, verunsicherte mich ein wenig. Hatte ich etwas falsch gemacht? „Du … willst nicht?“

„Baby, du hast keine Ahnung, wie sehr es mich im Moment nach dir verlangt.“ Er ließ seine Hand wieder zwischen meinen Brüsten hinaufgleiten, doch dieses Mal streifte er dabei wie zufällig die Brustwarze und ein heißer Blitz durchzuckte meinen Körper. „Aber du bist noch nicht so weit.“

„Doch, bin ich“, widersprach ich sofort.

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Bist du nicht.“ Er küsste mein Schlüsselbein, knabberte leicht daran. „Aber du wirst es sein, dafür werde ich sorgen.“ Seine Lippen glitten tiefer, berührten meine Brust. Seine Zunge schnellte heraus und leckte über die schmerzende Spitze.

Der nächste Blitz schlug direkt in meine Mitte ein. Ich stöhnte und musste mich an Sawyers Schultern festhalten, um nicht herunterzufallen. Dabei spürte ich, wie er eine Hand zwischen meine Beine schob.

Erwartungsvoll und sehnend nach seinen Berührungen, spreizte ich sie ein wenig weiter, doch seine Finger glitten an meiner Mitte vorbei, strichen über die Innenseite meiner Schenkel, umkreisten diesen Punkt, der sich so sehr nach ihm verzerrte, aber berührte ihn nicht. Ich begann mich zu bewegen, versuchte ihn so dazu zu bekommen, die pochende Stelle anzufassen – wenigstens ein kleines Bisschen – doch er glitt immer daran vorbei.

Gleichzeitig verwöhnte er nun aber meine Brüste mit seinen Lippen. Als er vorsichtig in die aufgerichtete Spitze biss, konnte ich ein Stöhnen nicht unterdrücken.

„So ist es gut“, murmelte er. „Zeig mir was dir gefällt.“

Meine Augen schlossen sich flatternd, meine Hände krallten sich in seine Schultern. Seine Berührungen lockten mich wie eine Sirene und die Welt um mich herum verblasste im Nebel. Und dann berührte er plötzlich die Stelle, die sich so sehr nach ihm verzerrte. Hätte ich mich nicht an ihn geklammert, wäre ich wohl einfach an die Decke gesprungen.

Meine Hüften begannen sich schneller zu bewegen. Seine Finger taten etwas Sündhaftes und entlockten mir ein weiteres Stöhnen.

„Ja, genau so.“

Oh ja, hätte ich am liebsten gesagt. Leider schien mein Wortschatz sich einfach in Luft aufgelöst zu haben. Es war schon schwer genug einen klaren Gedanken zu fassen, wenn er mich so berührte.

Mein Atem wurde schneller und als seine Finger plötzlich in mich eindrangen, spürte ich wie die Lust in mir ein neues Stadium erreichte. Es fühlte sich anders an und fremd, so wie ich es noch nie gespürt hatte. Ich wollte weg und gleichzeitig wollte ich noch viel mehr davon.

Er bewegte seine Finger schneller, drückte dabei seinen Handballen gegen meine Scham und reizte mich so doppelt. Mein Herz schlug wie wild, mein Atem wurde schneller und kam nur noch stockend über meine Lippen.

Ich spürte, wie sich in mir der Druck aufbaute und strebte dem Ziel entgegen. Meine Bewegungen wurden hektischer. So nahe, ich war so kurz davor, ich konnte spüren, wie …

Plötzlich nahm er seine Hand weg.

„Nein!“ Der Ausruf entkam mir, ohne mein Zutun. „Sawyer.“ Es war sowohl eine Bitte, als auch eine Beschwerde. Ich beugte mich vor und biss ihm in die Schulter.

„Verdammt Baby, du bringst meine Selbstbeherrschung ganz schön ins Wanken.“

Sollte ich mich deswegen jetzt schlecht fühlen? „Warum hast du aufgehört?“ Ich war so kurz davor gewesen.

„Ganz ruhig.“ Er zog mein Gesicht zu sich und küsste mich, als wollte er mich besänftigen. Dabei spürte ich seine Hand zwischen uns. Sein Penis streifte meine Mitte und schickte damit eine neue Welle der Lust durch meinen Körper.

Ich fühlte seine Eichel, spürte wie sie langsam in mich eindrang und stöhnte wieder.

„Mach langsam“, mahnte er mich, als ich ihm entgegenkam.

Unsere Blicke verhakten sich miteinander, als er in mich eindrang. Ich berührte sein Gesicht, nahm ihm den Kopfschmuck ab und ließ ihn achtlos aufs Bett fallen. Ich wollte ihn so sehen, wie er war. Sein Gesicht war mir mittlerweile so vertraut. Die Form seiner Augen, der Schwung seines Mundes, das kleine Grübchen an seinem Kinn. Ich kannte jede Narbe darin, doch es war das erste Mal, dass ich sie berührte. Sie fühlten sich fest an, leicht erhaben. Es barg eine Intimität, die ich so noch nie erlebt hatte.

Ich wollte ihn noch tiefer in mir spüren, wollte eins mit ihm werden und versuchte mich dabei nicht in den Gefühlen unserer Vereinigung zu verlieren. Hatte ich vorher schon geglaubt, von ihm berauscht zu sein, so war das gar nichts gegen das, was ich nun fühlte. Er füllte mich nicht nur aus, er weckte bisher ungekannte Gefühle in mir. Nicht nur wegen dem was wir hier taten, sondern weil er Sawyer war. So hatte ich mich noch nie gefühlt, bei niemanden und für einen Moment ängstigte mich das.

Doch dann begann er sich vorsichtig zu bewegen und diese Gedanken verflüchtigten sich so schnell, wie sie gekommen waren. Mein ganzes Denken schien sich einfach zu verabschieden und ich konnte nur noch fühlen.

Sawyer eroberte meine Lippen zurück und begann sich rhythmisch gegen meine wiegenden Hüften zu bewegen. Anfangs nur langsam, doch mit jedem Stoß wurde er ein kleinen wenig schneller.

Ich spürte ihn so tief in mir, wie noch keinen anderen zuvor. Das was ich vorher gespürt hatte, war nur ein schwacher Abklatsch gegen die Lust, die sich nun in mir aufbaute. Es war, als würde sich ein tobender Sturm in mir anbahnen, vor dem es kein Entkommen gab. Ehrlich gesagt wollte ich ihm auch gar nicht entkommen. Ich wollte, dass er sich in mir entlud, wollte alles und ihn. Immer nur ihn.

Sawyer.

Mein Herz pochte wie wild, meine ganze Haut kribbelte. Unsere Bewegungen wurden immer schneller und wir verloren den Rhythmus. Unsere Lippen lösten sich.

Sawyer lehnte sich ein Stück zurück und stützte sich mit einem Arm auf dem Bett ab. Seine Hüfte stieß heftiger zu und mit jedem Stoß entlockte er mir ein Stöhnen. Sein Atem ging genauso schnell wie meiner, während er mich unter halbgeschlossenen Augenlidern beobachtete. Meine bebenden Brüste, die wiegende Hüfte und die Stelle, die uns miteinander verbannt.

Die Hitze in mir wurde stärker. Ich spürte wie die Lust sich unaufhaltsam ihrem Höhepunkt näherte, sehnte sie herbei und wollte dennoch, dass es niemals aufhörte. Ich wollte dieses Gefühl nicht verlieren, wollte nicht, dass es endete, aber ich konnte auch nicht aufhören mich zu bewegen.

Alles in mir strebte nur einem Ziel entgegen: Der Erlösung.

Sawyer.

Es dehnte sich aus, dieses Gefühl, das mich drohte zu verschlingen. Ich konnte nicht mehr denken, ich war zu nichts anderem mehr fähig, als zu fühlen und meinem Körper die Kontrolle zu überlassen. Ich war gefangen in diesen Empfindungen.

Schweiß perlte über meinen Rücken. Meine Haut fühlte sich zu eng an. Alles konzentrierte sich auf diesen einen Punkt und dann geschah es: Sawyer stieß zu und eine Woge der Lust überschwemmte mich und riss mich mit sich.

„Sawyer!“ Ich klammerte mich an ihn, hielt mich in diesem Sturm an ihm fest, um nicht fortgetragen zu werden, während eine Welle der nächsten folgte.

„Oh verdammt, Baby.“ Statt langsamer zu werden, drückte Sawyer mich nur fester an sich und beschleunigte sein Tempo noch einmal. Er stieß immer wieder zu, reizte und trieb die Woge zu neuen Höhen, bis ich kurz davor war ihn anzuflehen. Dabei war ich mir nicht sicher, worum ich flehen wollte. Aufhören? Weitermachen? Mich niemals wieder loszulassen?

Auf einmal versenkte er sich tief in mir und wurde ganz starr. Er ächzte und ich spürte ein Pulsieren tief in mir, das von der Erfüllung seiner Lust sprach.

Was dann über mich kam, war eine tiefempfundene Ruhe, wie ich sie noch nie verspürt hatte. Wir saßen einfach da, schwelgten in den Nachwirkungen unserer Vereinigung und lauschten den Atemzügen des jeweils anderem. Das was wir hier gerade getan hatten, das was ich gespürt hatte, es ließ mich nicht alles bisher erlebte vergessen, aber es stellte es weit in den Schatten und ließ meine bisherigen Erfahrungen wie einen kleinen Vorgeschmack auf wahres Vergnügen aussehen.

Draußen prasselte der Regen noch immer kräftig gegen das Fenster, doch genau wie wir, begann er sich ein wenig zu beruhigen. Leider kehrten mit der Ruhe auch meine Gedanken zurück und mit den Gedanken kam die Ernüchterung. Ich hatte Sex mit Sawyer gehabt, dem Mann, der jede Frau verachtete, die ihn jemals berührt hatte. Ich hatte ihn berührt. Ich hatte viel mehr getan als das.

Plötzlich war es mit der Ruhe in mir vorbei. Würde er jetzt auch nur noch eine von diesen Frauen in mir sehen? In den letzten Wochen waren wir Reisegefährten gewesen, vielleicht sogar Freunde, aber das hier veränderte alles. Ich würde ihn nie mehr mit den gleichen Augen sehen und er mich auch nicht.

„Lebst du noch?“

„Ja, klar.“ Vermutlich wollte er mich einfach schnell loswerden. Ich setzte mich auf und spürte ihn dabei noch immer tief in mir. Ich sollte es nicht tun, aber ich konnte nicht anders, als ihn anzusehen. Dort war keine Spur von Verachtung in seinem Gesicht. Aber die würde kommen, da war ich mir sicher.

Sein Blick tastete mein Gesicht ab. „Kiss, Baby“, flüsterte er.

Ich schaute schnell zur Seite. „Machen wir nicht mehr daraus, als es war.“

Der Ausdruck in seinem Auge flackerte einen Moment und dann geschah es. Auf seinen Lippen erschien dieses herablassende Lächeln, das in Eden sein Markenzeichen gewesen war. Es tat weh, dass er mich nun so ansah. „Schön, dass wir einer Meinung sind.“

Ein Stich traf mich direkt in meinem Herzen. Eilig stieg ich von ihm hinunter und versuchte das Gefühl des Verlusts zu ignorieren. Das hier war nur Sex gewesen. Ich hatte schon öfters Sex gehabt. Es war schön solange es anhielt, aber danach machte man einfach weiter. Nichts Besonderes.

Das und vieles mehr sagte ich mir, als ich mein Hemd vom Boden aufhob und es hastig über meinen Kopf zog. Ich hatte noch nie ein Problem mit meinem nackten Körper gehabt, aber im Moment war es wie nach dem Übergriff der Banditen. Nicht das ich mich schmutzig und befleckt fühlte, doch ich brauchte dieses Stück Stoff wie eine Rüstung zum Schutz. Es war albern und völlig sinnlos, doch noch nie in meinem Leben hatte ich mich unbekleidet so nackt und schutzlos gefühlt.

Da ich so aber nicht in meine Hose steigen konnte, ging ich zu dem Haufen mit der dreckigen Wäsche und wischte mich mit einem getragenen Hemd notdürftig ab. „Lässt du mich jetzt endlich hier raus?“ Ich wagte einen kurzen Blick zu ihm, bevor ich das Hemd zurück auf den Haufen warf.

Er stand vor dem Bett und band seine Hose zu. Dieses widerliche Lächeln lag noch immer auf seinen Lippen. „Gibst du mir dein Versprechen, nicht einfach alleine loszuziehen?“

Ich presste die Lippen aufeinander und stieg in meine eigene Hose. Ich wollte nicht schon wieder mit dieser Diskussion anfangen, denn er hatte recht: Wenn ich mein Wort gab, dann würde ich mich daran halten.

Er seufzte genervt, als sei ich ein Problem, mit dem er sich eigentlich gar nicht befassen wollte. „Dann versprich mir wenigstens, dass du nichts unternehmen wirst, bevor mein Vater seine Entscheidung getroffen hat.“

Wie lange würde das dauern, einen Tag? Eine Woche? Was konnte Marshall in dieser Zeit noch alles zustoßen?

Die viel wichtigere Frage war wohl, ob ich es riskieren konnte, ohne Verstärkung nach Eden zurückzukehren. Ganz allein waren meine Chancen verschwindend gering, nur deswegen war ich ja überhaupt zu Clarence gegangen. Dann sollte ich mich jetzt wohl auch ein wenig in Geduld üben und auf seine Antwort warten – ganz egal wie schwer mir das fiel. Ich hatte zwei Monate in Eden überstanden, da würde Marshall doch wohl noch ein paar Tage durchhalten.

Außerdem wollte ich ganz dringend von Sawyer weg, um etwas Ruhe in meine Gedanken zu bekommen. Daher konnte es nur eine Antwort geben. „Ich verspreche es.“

 

oOo

Kapitel 49

 

Seine Nähe auszublenden, während mein Körper von der Vereinigung noch summte und sich an die Berührungen und intensiven Sinnesreize erinnerte, erwies sich als unmöglich. Das ärgerte mich, denn es war schließlich nur Sex gewesen, kein weltbewegendes Ereignis. Ich sollte einfach zur Tagesordnung übergehen und nicht darüber nachdenken, warum es sich dieses Mal so anders angefühlt hatte. Einbildung, sagte ich mir. Ich bildete mir einfach nur etwas ein und beschäftigte mich mit etwas so unwichtigem, um mich nicht mit meinen wahren Problemen auseinandersetzen zu müssen. Ich wusste das und trotzdem konnte ich damit nicht aufhören.

Mittlerweile war es Abend. Ich wusste nicht wie lange ich mit Sawyer in seinem Zimmer gewesen war, aber es mussten mehrere Stunden vergangen sein. Ich war erschöpft, gleichzeitig aber auch unruhig und ein wenig hungrig. Hatte ich heute überhaupt schon etwas gegessen? Ich konnte mich jedenfalls nicht daran erinnern. Aber das war nicht so schlimm, ich konnte mir ja noch eine Kleinigkeit bei Akiim nehmen.

Was ich dagegen schlimm fand, war diese Situation. Anstatt mich einfach aus seinem Zimmer zu lassen, war Sawyer mir auch noch nach unten gefolgt. Leider waren sowohl sein Vater, als auch die anderen verschwunden gewesen und so hatte er sich aus unerfindlichem Grund dazu entschlossen, mich zu Akiims Wohnung zu begleiten.

Ich verstand ehrlich gesagt nicht warum. Er sagte nichts, guckte mich nicht mal an und achtete peinlichst genau darauf, einen gewissen Abstand zu mir einzuhalten. Nachdem was wir gerade noch getan hatten, war das schon irgendwie lächerlich, denn eben noch hatte es keine Barrieren zwischen uns gegeben, keine Zurückhaltung, nichts als die Verschmelzung zweier Körper, die sich ihrer Lust ergeben hatten.

Die Erinnerung trieb einen Schauder über meinen Rücken.

Oh Gaia, ich musste dringend aufhören daran zu denken und diese Bilder aus meinem Kopf bekommen.

Trotzdem war es albern. Er hatte mich nicht einmal angesehen, seit wir sein Zimmer verlassen hatten. Vielleicht wollte er ja einfach nur sichergehen, dass ich auch bei Akiim ankam und mich auf dem Weg dorthin nicht nach Eden verlief. Er vertraute meinen Worten wohl doch nicht so sehr, wie er behauptete.

Aber ich wollte, dass er wegging. Seine Gegenwart war im Moment einfach zu viel. Ich konnte nicht nachdenken, solange diese Bilder von uns in meinem Kopf herumspukten. Ich sah es immerzu vor mir. Allein ein Gedanke an ihn reichte, um das Echo dieser intensiven Gefühle in mir zu spüren und mir zu wünschen, wieder mit ihm in dieses Zimmer zurückzukehren.

Ich wollte all das noch einmal fühlen, wollte ihn spüren. Ich hätte das nicht tun sollen, es war ein Fehler gewesen und trotzdem bereute ich es nicht. Ich wollte sogar noch einen Nachschlag haben. Dabei ging es gar nicht um den Sex, sondern allein um Sawyer.

Das war nicht gut, denn ich wusste, dass das zu nichts führen konnte. Dieser Blick am Ende, dieses Lächeln, das hatte mir schon alles gesagt.

Ich war so am Arsch.

Als wir Akiims Unterkunft erreichten und ich nach dem Türknauf griff, atmete ich einmal tief durch, bevor ich mich Sawyer zuwandte. „Du willst bestimmt nicht mit reinkommen.“

Seine Augenbrauen hoben sich höhnisch. Er hatte seinen Kopfschmuck nicht wieder aufgesetzt. Vermutlich lag der noch irgendwo in seinem Bett. „War das eine Einladung?“

War ja klar, dass er das so auslegte und auch wenn ein kleiner, begieriger Teil von mir begeistert „Ja!“ rufen wollte, so schüttelte doch der viel vernünftigere und weitaus größere Teil mit strenger Mine den Kopf. „Es war eine höffliche Art dir mitzuteilen, dass du jetzt gehen kannst.“

„So, kann ich das, erlaubst du mir das?“

Ob er es spüren würde, wenn ich ihm eine Ohrfeige gegen seinen Holzkopf verpasste? Wahrscheinlich nicht. Darum öffnete ich einfach die Tür und hoffte, dass er den Wink mit dem Zaunpfahl verstand.

„Kannst du mir mal sagen, wo du gesteckt hast?“, fiel Akiim über mich her, kaum dass ich über die Türschwelle getreten war. Er stand mit verschränkten Armen neben dem Tisch und er war nicht allein. Yi Min saß an dem Tisch und trank zusammen mit Killian einen Tee. „Ich habe mich für dich eingesetzt und du verschwindest einfach. Du hättest dableiben müssen, um mich dabei zu unterstützen, Clarence zu überzeugen.“ Verärgert schüttelte er den Kopf. „So hast du ihm einfach nur gezeigt, dass es dir nicht wirklich wichtig ist. Das hast du wirklich gut hinbekommen.“

Nicht wirklich wichtig? War das sein verdammter Ernst? Die Wut begann erneut in mir zu brodeln. „Dableiben? Um was zu tun? Weiter zuzuhören, wie ihr das Thema totquatscht? Es war ziemlich deutlich, dass niemand an meiner Meinung interessiert war.“

„Und das wundert dich bei deinem Verhalten?“

„Akiim“, mahnte Yi Min, während Killian bei seinen Worten die Stirn runzelte.

„Was denn? Es ist doch wahr.“

Wow, einfach nur wow. Er hielt es mir jetzt wirklich vor, dass ich mich nicht von der ersten Minute an, bei seinem Kampf gegen Eden angeschlossen hatte, weil ich Zweifel an diesem Unterfangen hatte. Das machte mich ehrlich sprachlos.

„Sag mal, bist du eigentlich ein Vollzeitarschloch, oder begegnen wir uns immer nur in den richtigen Momenten?“, fragte Sawyer.

Überrascht, dass er immer noch hinter mir stand und sich nicht schon längst aus dem Staub gemacht hatte, trat ich einen Schritt zur Seite. Er nahm das sofort zum Anlass, hereinzukommen und sich nach allen Seiten kritisch umzuschauen. Dabei verzog er das Gesicht, als wäre es hier eklig.

Das war nichts als Show. Sawyer war schon hier gewesen und auch wenn es hier ein wenig beengt und zusammengewürfelt war, es war nicht dreckig. Warum also tat er das?

Langsam richtete Akiim seinen Blick auf Sawyer.

„Vielleicht solltest du es ja mal mit einer Therapie versuchen. Hab gehört, das soll helfen, wenn bei einem im Kopf nicht mehr alles richtig läuft. Und bei deiner Vergangenheit, da läuft sicher so einiges falsch. Vielleicht würde bei dir auch ein Anti-Aggressionstraining helfen.“

Hätte mein Bruder Sawyer jetzt eine reingehauen, hätte mich das nicht gewundert. Aber er beließ es dabei, sich in seiner ganzen beeindruckenden Pracht vor ihm aufzubauen und ihn mit Blicken zu erdolchen. „Weißt du, nur weil du Clarences Sohn bist, bist du nicht unantastbar.“

Sawyer ließ sich von der imposanten Gestalt, die ihn um fast einen Kopf überragte, weder beeindrucken, noch einschüchtern. Er trat sogar noch ein Stück näher. „Du magst ein aufgeblasener Muskelprotz sein, aber trotzdem bist du nichts weiter als ein verängstigter Schwächling, der sich hinter einer Aufgabe versteckt, an die er nicht mal glaubt. Du kämpfst nur gegen Eden, weil man es dir sagt und du sonst nicht weißt, was du tun sollst. Kein Hirn, nur Muskeln.“

Akiim spannte eben erwähnte Muskeln an.

„Sollte die Stadt dich jemals zwischen die Finger bekommen, wird sie dich schlucken, durchkauen und halbverdaut wieder ausscheißen.“

Igitt.

„Mich hat die Stadt nicht klein bekommen. Genau wie deine Schwester, verfüge ich über eine mentale Stärke, von der du nur träumen kannst. Aber das weißt du, nicht wahr? Du weißt wie stark sie ist.“ In seine Augen trat ein berechnender Blick. „Darum versuchst du auch sie so an die Kandare zu nehmen. Du weißt, sie brauch dich nicht, um ihren Weg zu finden.“

„Du weißt gar nichts über mich und meine Familie.“

„Wollen wir wetten?“

In die folgende Stille war der prasselnde Regen an den Fenstern besonders laut zu hören.

„Akiim …“, begann Yi Min, doch er brachte sie mit einem einzigen Blick zum Schweigen. Sie seufzte leise, als er sich wieder auf Sawyer konzentrierte.

„Ich weiß genau wer Kismet ist und was sie braucht“, knurrte er Sawyer an.

Na das bezweifelte ich aber stark.

Was würde Akiim wohl tun, wenn er wüsste, dass ich mit seinem selbsternannten Erzfeind im Bett gewesen war, während er für meine Sache gekämpft hatte?

Oh verdammt noch mal, es wäre wirklich nett, wenn ich mal für ein paar Minuten nicht daran denken müsste.

„Und jemanden wie dich brauch sie sicher nicht. Genaugenommen brauch niemand jemanden wie dich. Selbstbezogen, immer auf seinen Vorteil bedacht und störrisch wie ein kleines Kind, dass seinen Willen nicht bekommt.“

Sawyers Augen blitzten gefährlich auf. „Und trotzdem ist mir im Gegenteil zu dir bewusst, dass sie kein kleines Mädchen mehr ist. Vor Elf Jahren hätte sie dich gebraucht, heute steckt sie dich locker in die Tasche.“

Warum bitte stritten die beiden sich jetzt wegen mir? Eben war es doch noch um das Gespräch mit Clarence gegangen. Eigentlich war das auch völlig egal. Ich wollte mir das nicht länger anhören. Für heute hatte ich genug von Männern und Brüdern und Menschen im Allgemein. Ich wollte meine Ruhe haben und sehnte mich nach Einsamkeit. Wenn ich nur gekonnt hätte, wäre ich jetzt einfach zu meiner Brücke verschwunden, aber die war leider weit weg und so konnte ich nichts anderes tun, als in den fensterlosen Kabuff zu schlüpfen, in den Akiim mich einquartiert hatte.

Da die Männer ihre Anfeindungen nicht unterbrachen, bemerkten sie meine Abwesenheit wohl nicht mal. Wann genau war ich eigentlich unsichtbar geworden?

Ohne Licht zu machen, ging ich durch den Raum, sank auf die Kante meines Bettes und versuchte meinen Kopf zur Ruhe zu zwingen. Ich wollte nicht mehr nachdenken, nicht über das was geschehen war und auch nicht über das was sein könnte, wenn die Dinge nur ein wenig anders lägen. Für einen Moment wollte ich einfach nur existieren und meine Sorgen und Probleme vergessen.

So wie beim Zusammensein mit Sawyer.

Diese Momente, er hatte nicht nur dafür gesorgt, dass ich mich gut fühlte, er hatte auch meinen Kopf leergefegt und mich nur für den Augenblick leben lassen.

Sawyer.

Allein an ihn zu denken, ließ mein Herz schneller schlagen. Was sollte ich jetzt nur tun? Ich wollte nicht an ihn denken, ich wollte nicht so fühlen. Noch heute Morgen hatte ich gehofft, dass diese Gefühle einfach wieder verschwinden würden, aber nachdem was zwischen uns geschehen war, hatte sich diese Hoffnung nun in Luft aufgelöst.

Und noch schlimmer, ich konnte mir nicht länger etwas vormachen. Das was ich gefühlt hatte, sowas hatte ich noch nie erlebt. Es war neu und berauschend und fremd. Es war so völlig anders, als alles was ich kannte. Es war nicht wie mit Tavvin und auch nicht wie mit dem Fremden auf dem Markt. Es war auch nicht wie die kurzen Momente mit Killian. Und dafür konnte es nur eine Erklärung geben: Ich hatte mich in Sawyer verliebt.

Ich war wirklich so blöd gewesen mich in einen Mann zu verlieben, der eine tiefe Abneigung gegen Frauen hegte, ja sie teilweise sogar richtig verabscheute. Wie hatte mir das nur passieren können? Ich wollte das nicht und er wollte das mit absoluter Sicherheit auch nicht. Aber jetzt war es so und ich hatte absolut keine Ahnung, was ich dagegen tun konnte.

Draußen wurden die Stimmen ein wenig lauter. Ich verstand nicht was sie sagten, aber hörte deutlich Sawyers verachtenden Ton heraus.

Ich schloss die Augen und versuchte sie auszublenden, doch dabei wurde mir nur bewusst, dass ich die Augen auch in einer ganz anderen Situation geschlossen hatte. Beim Sex waren sie einfach zugefallen und trotzdem waren meine Gedanken ganz bei ihm geblieben. Nicht bei dem rothaarigen Mann, nicht bei Killian oder Tavvin, nur bei Sawyer. Seine Nähe hatte alle anderen aus meinem Kopf vertrieben. Ich hatte keine Angst gehabt, nicht vor ihm und auch nicht vor seinen Berührungen. Es hatte sich alles ganz natürlich und richtig angefühlt.

Und ich dachte schon wieder darüber nach, obwohl ich doch eigentlich hatte damit aufhören wollen.

Genervt von mir selber, schlug ich die Augen wieder auf. Nicht dass ich viel mehr sah als vorher.

Als sich auf einmal die Tür öffnete, wurden die Stimmen von draußen für einen Moment lauter. Die Dunkelheit wurde vom Licht verscheucht und ließ mich blinzeln. Kurz bevor die Tür sich wieder schloss, erkannte ich Killian, der zu mir in den kleinen, finsteren Kabuff schlüpfte. Dann war wieder alles in Dunkelheit gehüllt.

Na gut, das kam jetzt ein wenig unerwartet.

Killian war auch noch so eine Komplikation, um die ich mich kümmern musste. Aber nicht jetzt, heute hatte ich wirklich keine Kraft mehr dafür, darum hoffte ich für ihn jetzt einfach mal, dass er unser Gespräch von heute Morgen nicht fortführen wollte.

Da ich einfach nur still blieb und abwartete, sagte Killian irgendwann leise: „Ich wollte dich nicht stören, ich wollte nur sichergehen, dass mit dir alles in Ordnung ist.“

„Du störst nicht.“ Zwar hatte ich die Einsamkeit gesucht, doch hatte die mir nur kreisende Gedanken geschenkt. Außerdem würde ich mit diesen beiden Streithähnen dort draußen in der nächsten Zeit sowieso nicht zur Ruhe kommen. Und vielleicht konnte er mich ja auch ein wenig von Sawyer ablenken, das würde mir sicher guttun. Naja, solange er nicht wieder eine Entscheidung von mir verlangte.

„Du warst bei Sawyer gewesen.“

Da schwand sie hin, meine Ablenkung.

Seufzend streckte ich mich auf meinem Bett aus. Es quietschte ein wenig. „Nicht freiwillig.“ Zumindest einen Teil der Zeit nicht. „Er hat mich in sein Zimmer eingesperrt.“

„Er hat was?“ Diese Worte stieß er wie ein Knurren aus. Es hätte jedem Phantomhund zur Ehre gereicht.

„Er wollte verhindern, dass ich einfach losziehe und etwas Unvernünftiges tue – seine Worte.“ Und dann hatte ich etwas sehr Unvernünftiges getan. Und jetzt musste ich mit den Konsequenzen leben.

Killian atmete einmal tief ein, als müsste er sich wieder beruhigen. Der Gedanke von Sawyer irgendwo eingesperrt worden zu sein, gefiel ihm wohl nicht besonders. „Na dann hatte er zumindest einen guten Grund.“

Wie nett. Die beiden begannen bei Sonnenaufgang miteinander zu zanken und hörten damit erst auf, wenn sie schlafen gingen, aber jetzt waren sie plötzlich einer Meinung? Männer!

Einen Moment blieb es ruhig, dann hörte ich, wie er sich vorsichtig durch den Raum bewegte. Das Bett fand er, indem er mit dem Knie gegen das Fußende stieß. Sein unterdrückter Fluch ließ mich lächeln. Kurz darauf sank er neben mir auf die Bettkante.

„Wie geht es dir? Also … mit allem.“

Mit allem, das schloss wirklich viel mit ein. „Du meinst, damit dass Azra verletzt ist, Marshall gefangen und Balic …“ Ich verstummte, bevor ich es aussprechen konnte. Ich wollte es nicht einmal denken, es tat einfach zu sehr weh. Irgendwie hatte ich es immer noch nicht richtig realisiert. Es war viel einfacher zu glauben, dass er noch irgendwo da draußen war, als sich mit dem Gedanken abzufinden, dass ich ihn bereits vor Wochen endgültig verloren hatte. Balic war nicht mehr unter uns.

Ich biss mir auf die Lippen und blinzelte hektisch. Tränen würden gar nichts bringen.

„Ja.“

Scheiße. Richtig und absolut scheiße. Ich räusperte mich. „Eigentlich will ich gerade nicht darüber sprechen.“

„Das ist okay, nur …“ Seine Kleidung raschelte, dann spürte ich seine Hand auf meinem Bein.

Es fühlte sich ganz anders an als die Berührungen von Sawyer. Wie hatte ich die ganze Zeit nur so blind sein können? Auf einmal schien alles so klar.

„Wenn du doch noch reden willst, ich bin da und höre dir zu.“

„Danke.“ Auch wenn ich sein Angebot nicht annehmen würde. Nicht weil ich ihm nicht vertraute, es tat einfach zu sehr weh sich damit zu beschäftigen.

Wieder wurde es zwischen uns still. Es störte mich nicht, doch Killian schien noch etwas auf der Seele zu liegen.

„Spuck es einfach aus.“

Stille.

„Woher weißt du …“ Er ließ den Satz verklingen.

„Ich habe gute Ohren. Du hast den Mund geöffnet und geschlossen. Zwei Mal. Und wenn du nicht plötzlich an Schnappatmung leidest, dann liegt dir etwas auf der Zunge, doch du traust dich nicht es auszusprechen.“

Es raschelte, als er sich anders hinsetzte. „Ich bin nur neugierig und eigentlich geht es mich auch gar nichts an.“

„Das hat dich bisher noch nie an etwas gehindert.“

Draußen erhob Akiim plötzlich die Stimme. „Verschwinde!“, brüllte er, dann kehrte einen Moment Ruhe ein. Es folgte ein hämisches Murmeln, dass nur von Sawyer stammen konnte, dann knallte eine Tür und es war ruhig. Schritte und dann nichts mehr.

„Sawyer ist wohl gegangen“, bemerkte Killian.

Es hatte sich zwar eher angehört, als hätte Akiim ihn rausgeschmissen, aber ja, Sawyer schien nicht mehr da zu sein.

Da ich im Moment aber nicht an ihn denken und schon gar nicht über ihn reden wollte, bemerkte ich: „Du wolltest mich gerade etwas fragen.“

Da er nicht sofort darauf reagierte, musste er wohl erstmal darüber nachdenken. „Dieser Mann“, begann er dann langsam. „Der, der dir von Azra erzählt hat …“

„Tavvin?“

„Ja, Tavvin. Er … ihr scheint euch nahe zu stehen.“

Ah, jetzt verstand ich, was er eigentlich fragen wollte. „Er ist der fahrende Händler, von dem ich dir bereits erzählt habe. Der erste Mann, mit dem ich zusammen war.“ Doch jede intime Berührung, die ich mit ihm geteilt hatte, war nur ein kläglicher Abklatsch von dem, was ich zusammen mit Sawyer erlebt hatte. Selbst jetzt noch überlief mich ein wohliger Schauder, wenn ich nur daran dachte.

Verdammt, ich tat es schon wieder.

„Er ist also … ein Freund?“

„Er war mein Spielgefährte. Er ist ein netter Kerl, doch es gibt eigentlich nichts, was uns beide verbindet.“ Momentan verstand ich nicht mal, wie es zwischen uns überhaupt jemals soweit hatte kommen können. Vielleicht weil er einfach verfügbar gewesen war.

Oh Gaia, ich war wirklich am Arsch. Und erschöpft. Der Tag hatte an mir gezerrt, die Stunden mit Sawyer hatten mich ausgelaugt und die Dunkelheit und das Bett taten ihr Restliches. Meine Kiefer knackten richtig, als ich laut gähnte.

„Müde?“

„Hmmm.“

„Dann sollte ich jetzt wohl besser gehen.“

Was? Nein, das konnte er nicht machen! Dann würde mein Kopf nur wieder anfangen sich im Kreis zu drehen, bis ich am Ende einfach durchdrehte. „Nein, bleib. Bitte.“ Es war falsch darum zu bitten, denn ich wusste, für ihn hatte es eine andere Bedeutung als für mich, doch im Moment brauchte ich ihn. War das egoistisch? „Erzähl mir etwas, ich will nicht nachdenken.“

Er zögerte. „Was willst du denn hören?“

„Keine Ahnung, irgendwas.“

„Irgendwas.“ In seiner Stimme lag ein kleines Lächeln. „Na gut, ähm … soll ich dir etwas Spannendes zum Zuhören erzählen, oder doch lieber etwas Langweiliges zum Einschlafen?“

Na wenn ich die Wahl hatte: „Etwas Langweiliges.“ Sonst würde ich trotz der größten Erschöpfung wahrscheinlich niemals ein Auge zu tun. Mein Kopf weigerte sich einfach, seine Arbeit hin und wieder für ein paar Stunden einzustellen.

„Dann rutsch mal, das hier ist nicht besonders bequem.“

Rutschen? Der Kerl war ja lustig. Das Bett war kaum breit genug um eine Person zu fassen. Als er nun über mich rüber kletterte und sich neben mir an der Wand ausstreckte, musste ich mich eng an ihm kuscheln und an ihm festhalten, um nicht herauszufallen und trotzdem hing mein Hintern über die Kante.

Killian schob sich noch das Kissen in den Nacken, dann atmete er einmal tief durch. „Wusstest du, dass ein Baby mit dreihundertfünfzig Knochen geboren wird?“

So viel? Wo brachte es die alle unter? „Nein.“

„Ist aber so, doch im Laufe der Zeit, verwachsen sich einige der Knochen miteinander, sodass man als Erwachsener nur noch zweihundertsechs hat.“ Und dann begann er jeden einzelnen Knochen im menschlichen Körper namentlich auszuzählen.

Anfangs hörte ich noch einigermaßen interessiert zu, doch dann begann er bestimmte Knochen auch noch einzeln zu nummerieren. Bei Wirbel C5 fielen mir die Augen zu und bei irgendeinem Brustwirbel entschwand mein Geist in eine fremde Welt, in der nur ich zutritt hatte.

Er hatte recht, das war wirklich langweilig.

 

oOo

Kapitel 50

 

Es war eigentlich nur ein sehr leises Klicken des Schlosses und ein etwas lauteres Quietschen der Türangeln, doch es reichte um mich aus dem Schlaf zu holen und blinzelnd die Hand vor die Augen zu halten. War es etwa schon Morgen? Ich hatte das Gefühl so gut wie gar nicht geschlafen zu haben.

Der Lichtschein, der von draußen durch den Rahmen fiel, blendete mich nicht nur, sondern präsentierte mir außerdem noch zwei großgewachsene Silhouetten.

Akiim und Sawyer. Zusammen. Hatten sie nicht gestern Abend noch versucht, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen? „Was wollt ihr?“

Hinter mir regte sich Killian, wachte aber nicht auf. Irgendwann in der Nacht hatte ich mich mit dem Rücken zu ihm gedreht und mich in seine Arme gekuschelt.

„Dir ist schon klar, dass Haustiere im Bett nichts zu suchen haben?“, fragte Sawyer. Wieder trug er den Kopfschmuck der Rebellen.

Oh, du kleiner … „Neidisch?“

„Natürlich. Ich würde sehr gerne mit dir tauschen. Ich liebe Haustiere.“

Ich funkelte ihn an. Das hatte ich nicht gemeint und das wusste er ganz genau.

„Steh auf, Biene, Clarence möchte mit dir sprechen. Wegen Marshall.“

Ich richtete mich halb auf. Hatte er eine Entscheidung getroffen? So schnell?

Durch die Bewegung begann nun auch Killian sich zu regen. Er schlang seinen Arm ein wenig fester um mich und wollte sich wieder an mich kuscheln. „Was ist los?“, nuschelte er verschlafen.

Sawyers Augen verengten sich ein ganz kleinen wenig.

„Wir müssen aufstehen, Clarence will mit uns sprechen.“ Ich schob seinen Arm weg und schwang die Beine aus dem Bett. Dabei hatte ich so wenig Platz, dass ich fast herausgefallen wäre.

„Dich“, verbesserte Sawyer sofort. „Mein Vater will dich sehen. Von unserem Wunderknaben war nie die Rede gewesen.“

Bei Sawyers Stimme richtete sich nun auch Killian blinzelnd auf. Er sah die beiden Männer im Türrahmen stehen, rieb sich einmal müde über das Gesicht und ließ sich mit einem Seufzen zurück in die Kissen sinken.

Ich konnte es ihm nachfühlen, so hatte ich mir das Aufwachen auch nicht vorgestellt.

„Los, beeil dich“, forderte Akiim und verschwand dann irgendwo in der Wohnung. Sawyer jedoch rührte sich nicht vom Fleck.

„Kannst du da mal weggehen?“

„Klar, kein Problem.“ Er machte einen Schritt nach rechts, in mein Zimmer hinein.

Ich schaute ihn finster an, sagte mir dann aber, dass es das nicht wert war und versuchte seine Anwesenheit einfach auszublenden. Direkt nach dem Aufstehen fehlte mir einfach die Energie, ihn in die Schranken zu weisen.

„Konntest du ein bisschen schlafen?“, fragte ich Killian, als ich aufstand und in die Ecke ging, um mir ein sauberes Hemd vom Stapel zu nehmen. Dabei fiel mir auf, dass ich gestern Abend vergessen hatte mein Messer abzunehmen. Kein Wunder, dass es die Nacht immer wieder gedrückt hatte.

„Ja.“ Auch er richtete sich auf und schwang die Beine auf den Boden, blieb aber erstmal auf der Bettkante sitzen. „Aber wahrscheinlich sollte ich diese Frage eher an dich richten.“

Ich kehrte Sawyer den Rücken, schnallte meinen Gürtel ab und zog mein Hemd aus. Dabei versuchte ich mir einzureden, dass er mich nicht beobachtete, auch wenn ich spürte, wie seine Blicke sich in meinen Rücken bohrten. Er tat wirklich alles, um mir diesen Morgen so unangenehm wie möglich zu machen. Dabei wusste ich nicht mal, warum mir das unangenehm war, schließlich hatte er gestern noch ganz andere Dinge gesehen und mit mir getan. „Ich bin irgendwann bei der Wirbelsäule eingeschlafen.“

„Dann hast du den besten Teil ja verpasst.“ In seiner Stimme schwang ein Lächeln mit.

Ich zog mir das saubere Hemd über den Kopf und schnallte mir meinen Gürtel samt Messer wieder um die Hüfte. „Ich glaube, der beste Teil deiner Aufzählung wäre das Ende gewesen.“

Killian lachte leise, aber es verging ihm recht schnell, als Sawyer sich einmischte.

„Och, Bettgeflüster am Morgen. Das ist wirklich niedlich. Lackiert ihr euch gleich auch noch gegenseitig die Fußnägel?“

Ich warf ihm einen gereizten Blick zu, ließ mich aber nicht von ihm provozieren, denn genau das war es doch was er wollte. Nein, auf dieses Spielchen würde ich mich mit Sicherheit nicht einlassen. „Du kommst mit, oder?“

Killian nickte. „Gib mir nur noch ein Moment um wach zu werden.“

„Klar, ich muss vorher sowieso noch wohin.“ Ich warf das dreckige Hemd zu den anderen Sachen auf die Kommode und wollte aus dem Raum. Leider kam ich nicht weit, denn Sawyer versperrte mir den Weg. „Kannst du mich mal durchlassen?“

Er verschränkte herausfordernd die Arme vor der Brust. „Nein, aber nett das du fragst.“

Also gleich würde mir der Kragen platzen. Was sollte dieser Mist? Die ganzen Wochen, in denen wir zusammen unterwegs waren, war er … naja, er war noch immer Sawyer gewesen, aber irgendwie zugänglicher. Doch seit wir hier waren, benahm er sich immer öfter wie der Mann, der er in Eden gewesen war. Eben wie ein Arsch. Doch heute Morgen schien er unbedingt noch einen draufsetzen zu wollen.

Am liebsten hätte ich ihm eine verbale Abreibung verpasst. Oder noch besser, ihn einfach vermöbelt. Doch ich beschloss die Klügere zu sein und ihn mit Blicken zu strafen. Und mich einfach an ihm vorbeizudrängeln. Selber schuld, wenn er den Weg nicht freimachen wollte. Womit ich nicht gerechnet hatte, war das Kribbeln auf meiner Haut, als ich ihn streifte. Ungebeten überlief es meinen ganzen Körper und ließ alles was wir gestern getan hatten, wieder aufsteigen.

Oh nein.

Hastig entfernte ich mich von ihm und rieb mir dabei über den Arm, um das Gefühl seiner Berührung loszuwerden. Das war im Moment wirklich das Letzte, woran ich denken wollte.

Als Sawyer bemerkte, was ich da tat, wurde sein Gesicht völlig ausdruckslos.

Keine Ahnung was er dachte, war mir auch egal. Sollte er doch denken was er wollte. „Bin gleich wieder da.“

Akiim, der gerade einen Apfel aus der Schale auf dem Tisch vertilgte, hielt mitten im Kauen inne. „Wo willst du denn jetzt hin? Clarence erwartet uns.“

Ach, und deswegen musste ich jetzt all meine Bedürfnisse unterdrücken? „Aufs Klo. Oder soll ich mich neben Clarence auf einen Stuhl setzen und da drauf pinkeln?“

Sein Mund klappte zu.

Besser so. Ich war noch keine zehn Minuten wach und diese Kerle zerrten jetzt schon an meinen Nerven. Wenn sie so weiter machten, würde ich einem von ihnen noch vor dem Frühstück den Hals umdrehen.

Da Mord am Morgen aber nicht auf meiner Agenda stand, machte ich mich einfach vom Acker und ging in die Waschräume. Ich ließ mir dabei extra viel Zeit, um mich wieder zu beruhigen.

Sawyers Auftritt ärgerte mich immer noch, aber eigentlich wunderte er mich nicht. Wir hatten Sex gehabt und das hatte etwas grundlegend zwischen uns geändert. Ich war jetzt nur eine weitere von den Frauen, die mit ihm geschlafen hatten. Nur noch eine Eva, nichts was von Bedeutung gewesen wäre.

Dieser bittere Gedanke fraß sich mit scharfen Zähnen direkt in mein Herz und ließ es schmerzen. Aber davon durfte ich mich jetzt nicht vereinnahmen lassen. Das Gespräch mit Clarence war zu wichtig, Marshalls Leben hing davon ab. Mit der Hilfe der Rebellen konnte ich ihn retten und vielleicht würde dann alles wieder gut werden.

Dazu musste ich mich aber erstmal zusammenreißen und das bedeutete, Sawyer und seine Sticheleien aus meinem Kopf zu verbannen.

Als ich endlich so weit war die Waschräume wieder zu verlassen, rechnete ich damit, dass die Männer bereits drinnen bei Clarence waren und auch mich warteten. Daher war ich ein wenig überrascht, sie aus Akiims Unterkunft kommen zu sehen, gerade als ich mein Ziel erreichte.

Kurz überlegte ich, schon ohne sie hineinzugehen, entschied mich dann aber zu warten. Ich wollte da nicht allein hinein. Akiim und Sawyer konnten mir im Moment zwar gestohlen bleiben, aber zumindest Killians Unterstützung war mir wichtig.

Akiim führte die kleine Gruppe an, Killian lief ganz am Ende und wirkte gereizt und verärgert – so ganz untypisch für ihn. Immer wieder funkelte er Sawyer an.

Mich beschlich das Gefühl, dass während meiner Abwesenheit irgendwas zwischen ihnen geschehen war. Dieses Gefühl verstärkte sich sogar noch, als sie bei mir ankamen und ich Killians Hemd sah. Es war am Halsausschnitt eingerissen, als hätte jemand daran gezerrt.

Ich ging zu ihm und zupfte daran, um mir die Sache genauer anzuschauen. „Was ist passiert?“

„Nichts.“ Er warf noch einen bösen Blick zu Sawyer. „Nur eine kleine Meinungsverschiedenheit.“

„Aha.“ Nein, ich würde jetzt nicht genauer nachfragen, ich hatte jetzt anderes im Kopf, als ihr ständiges Gezänk. „Ich hoffe ihr könnt euch jetzt ein wenig beherrschen, sonst wartet ihr draußen.“

Sawyer grinste, doch seine Augen funkelten boshaft. „Der Wunsch einer … Frau, ist mir Befehl.“

Das hatte er jetzt nicht gesagt. Mein Gesicht wurde völlig ausdruckslos, während mein Herz sich schmerzhaft zusammenzog. Er tat es wirklich, er versuchte mich dafür zu bestrafen, was zwischen uns geschehen war. Ich war keine Freundin mehr, ich war jetzt nur noch eine von diesen Frauen.

Ich biss meine Zähne so fest zusammen, dass es wehtat, reagierte ansonsten aber nicht darauf. Sonst müsste ich ihm nämlich eine scheuern und dann wäre das Gespräch gelaufen, bevor es überhaupt begonnen hatte.

„Gut zu wissen“, brachte ich mit einiger Mühe über die Lippen, drehte mich abrupt um und riss die Tür zu Clarence Quartier auf. Ich ging einfach hinein, ohne vorher überhaupt auf die Idee zu kommen, anzuklopfen und fand Clarence zusammen mit Sam und Laarni an dem großen Tisch vor. Sie sprachen leise miteinander, unterbrachen sich aber sofort, als wir hintereinander hereinkamen. Alle drei wirkten sehr ernst, nicht mal bei Clarence sah ich eine Spur seiner sonstigen Herzlichkeit.

Das sah nicht nach guten Neuigkeiten aus. Vielleicht wollte er damit aber auch einfach den Ernst der Lage deutlich machen.

Sawyer drängte sich an mir vorbei und streifte damit wieder meinen Arm. Das tat er doch mit voller Absicht. „Ich habe Dornröschen und ihre böse Hexe direkt aus dem Bett geholt“, verkündete er. „Aus dem gleichen Bett, wie ich betonen möchte.“

Was sollte das denn jetzt? „Hör auf damit“, knurrte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. Ich hasste sein herablassendes Gequatsche. „Lass deine Eifersucht einfach stecken, das nervt nämlich.“

„Eifersucht?“ Mit übertrieben gespieltem Erstaunen, drehte er sich zu mir herum. „Worauf sollte ich denn eifersüchtig sein? Auf den?“

Killians Mundwinkel sanken ein Stück herab.

Leicht genervt schaute Clarence zwischen uns hin und her.

„Hör einfach auf damit“, sagte ich. Ich hatte für dieses Benehmen jetzt wirklich keine Geduld übrig. Natürlich wusste ich, dass er nicht eifersüchtig war, keine Ahnung, warum ich das gesagt hatte.

„Nein, das würde ich jetzt gerne klären.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Du glaubst ich bin eifersüchtig, weil er bei dir schlafen und mit dir kuscheln durfte und ich nicht? Dann sag ich dir mal ganz ehrlich: So eine große Nummer in Bett bist du nun auch wieder nicht.“

Diese Überheblichkeit und Herablassung in seinen Worten tat weh, trotzdem würde ich mich von ihm nicht provozieren lassen. Das wollte er doch nur. Er wollte mich aus der Reserve locken und miterleben wie ich die Fassung verlor. Einfach weil er es amüsant fand mich zu demütigen und mir unsere gemeinsamen Stunden heimzahlen wollte. Vielleicht holte er sich damit aber auch seinen Kick. Bei der Menge an Zuschauern war diese Vermutung wahrscheinlich nicht weit hergeholt. „Da habe ich aber etwas ganz anderes in Erinnerung.“

„Dann sollte ich deine Erinnerung wohl einmal auffrischen.“ Das was in seinem Blick lag, war mehr als nur eine Provokation, es war reine Bosheit. „Du bist über mich hergefallen, nicht umgekehrt. Und das war … naja.“ Er machte eine vage Bewegung mit der Hand.

Oh du mieser kleiner Bastard! „Hör auf Sawyer.“

„Nein, ich denke …“

„Das reicht jetzt“, unterbrach Clarence diese kindische Diskussion. „Ich dachte wir hätten etwas Wichtiges zu besprechen.“

„Ich habe damit nicht angefangen“, erklärte Sawyer und ließ sich auf den nächsten freien Stuhl am Tisch fallen.

Ich musste mich wirklich zusammenreißen, um ihn nicht anzuschreien und zu schlagen. Ich hatte ihm nichts Unrechtes angetan. Er hätte vom ersten Moment an nein sagen können, aber das hatte er nicht getan. Dieses Verhalten verdiente ich nicht.

Clarence seufzte schwer. „Kommt, setzt euch, wir haben einiges zu besprechen.“

Wäre es nicht so wichtig gewesen, hätte ich einfach kehrt gemacht und wäre gegangen, aber hier ging es nicht um mich und meine verletzten Gefühle, sondern um Marshall. Also zwang ich mich einen Fuß vor den anderen zu setzen und zum Tisch zu gehen.

Da Laarni und Sam rechts von Clarence am Tisch Platz genommen hatten und Sawyer sich den Stuhl links geschnappt hatte, setzte ich mich ans andere Ende des Tisches. Ich hatte absolut kein Interesse daran, auch nur in die Nähe von Sawyer zu kommen. Dass ich an ihm vorbeimusste, um zu meinem Stuhl zu kommen, war fast schon zu viel. Er konnte froh sein, dass ich ihm im Vorbeigehen keine runterhaute.

Akiim setzte sich neben Laarni, Killian nahm neben mir Platz und errichtete damit eine Barriere zu Sawyer, für die ich sehr dankbar war. Allerdings bemerkte ich erst jetzt seinen seltsamen Gesichtsausdruck. Allerdings musste ich nicht lange nachdenken, um zu erfahren, warum er so schaute. Er hatte gehört, was Sawyer gesagt hatte und ihm musste klar sein, dass ich mit ihm im Bett gewesen war. Sawyer und ich hatten Sex gehabt, während ich ihm ein einfaches Gespräch verweigerte.

Verdammt Sawyer! Das hatte er mit Absicht getan. Er hatte gewollt, dass Killian es wusste und auch wenn es im Grunde richtig war, so hätte ich es ihm doch schonender beigebracht. Das war einfach nur eine miese Aktion gewesen.

„Dann wollen wir mal zum Thema kommen.“ Clarence lehnte die Unterarme auf den Tisch und verschränkte die Hände miteinander. Sein Blick war ruhig auf mich gerichtet. „Deine Bitte ist … groß und ich habe sehr intensiv über die ganze Sache nachgedacht. Es gibt viel zu bedenken und ich bin noch zu keiner endgültigen Entscheidung gekommen. Darum wollte ich noch mal mit dir reden. Es gibt ein paar Aspekte, die wir noch klären müssen, bevor ich zu einer endgültigen Entscheidung kommen kann.“

Das war zwar kein Ja, aber auch kein nein. Noch bestand also Hoffnung. „Was willst du wissen?“

„Dieser Mann den du retten möchtest …“

„Marshall.“

„Ja, Marshall, könnte er durchs Raster fallen?“

„Raster?“ Ich runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht was du damit meinst.“

„Das System der Aussiebung.“

Auch das brachte mir keine neuen Erkenntnisse.

Akiim lehnte sich ein wenig vor. „Er redet von dem Wertesystem in Eden, nach dem die Menschen dort bewertet werden. Fruchtbare Menschen und auch junge und gesunde helfen dabei die Stadt aufzubauen und alles am Laufen zu halten, aber es gibt auch Menschen, die der Gemeinschaft ehr hinderlich sind.“

„Unheilbar kranke Menschen“, erklärte Laarni. „Alte Menschen, Leute die sich dem System nicht Unterwerfen wollen und Schwierigkeiten machen. Halt alle Menschen, die in irgendeiner Weise zur Belastung werden können. Sie alle fallen durchs Raster und werden damit ausgesiebt.“

„Du meinst …“ Ich zögerte.

„Wer durchs Raster fällt“, sagte Clarence eiskalt, „wird getötet. So trenne sie die Spreu von Weizen.“

Das hörte ich nicht zum ersten Mal. Akiim und Clarence hatten es mir bereits vor ein paar Tagen gesagt, aber ich konnte es immer noch nicht glauben. Ich wusste, dass es in Eden eine Gruppe gab, die sich genau für so etwas einsetzte, aber nur weil einer sich für eine grausame Idee begeistern konnte, zogen die anderen sie doch nicht durch. Allerdings hatte auch Sawyer das bestätigt. „Ich habe die Menschen in Eden kennengelernt“, sagte ich. „Sie sind alle ziemlich verblendet, aber nur die wenigsten von ihnen sind Monster. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dort so ein Wertesystem haben.“

„Ob du es dir nun vorstellen kannst oder nicht, es ist so“, sagte nun auch Sam. „Dieses System existierte bereits, als ich damals noch in Eden gelebt habe und ich kann mir nicht vorstellen, dass Agnes plötzlich zur Besinnung gekommen ist und den Wert der Menschen erkannt hat.“

Moment, hatte ich das gerade richtig verstanden? „Du stammst aus Eden?“

„Bin dort geboren und aufgewachsen. Und sobald mir die Tragweite dessen bewusstwurde, was dort ablief, habe ich ganz schnell das Weite gesucht.“

Nicht nur ich schaute sie erstaunt an. Akiim hatte zwar gesagt, dass es hier noch einen Menschen aus Eden gab, aber ich wäre nicht im Traum darauf gekommen, dass es sich dabei um Sam handelte. Kam sie mir deswegen vielleicht immer so bekannt vor? Hatte ich sie vielleicht irgendwo mal auf einem Foto gesehen? Das würde es zumindest erklären.

Auch Killian schien zu versuchen herauszufinden, wer genau sie war, hatte dabei aber wohl nicht mehr Erfolg als ich.

„Ich habe dich da nie gesehen“, bemerkte nun auch Sawyer.

„Das wundert mich nicht. Ich bin schon vor einundzwanzig Jahren dort weg. Das war ein paar Jahre, nachdem Agnes diese komplette Kehrtwende hingelegt hatte und es richtig schlimm wurde.“

„Etwas ist geschehen.“ Ich erinnerte mich daran, wie Cameron mir davon erzählt hatte. „Agnes soll früher mal ein richtig netter Mensch gewesen sein, aber plötzlich war sie es nicht mehr.“

„Sie hat ein Kind verloren“, sagte Sam. „Das hat sie verändert. Danach wurde es sehr schwierig mit ihr und sie begann mit den grausamsten und unmenschlichsten Dingen. Ich hatte nicht die Kraft mir das mit anzusehen.“

Auch davon hatte ich gehört. Killians Vater hatte mir davon erzählt. Samira, das verlorene Kind. „Wie kann der Verlust eines Kindes ein zu solchen Dingen treiben?“

„Rache“, sagte Clarence. „Selbstschutz. Der Verlust eines Kindes ist ein Schmerz, den du dir nicht vorstellen kannst und er verändert die Menschen.“

Er musste es ja wissen. Er hatte nicht nur eine Tochter verloren, sondern für viele Jahre auch seinen Sohn. „Aber deswegen wird man doch nicht zum Massenmörder.“ Und genau das war sie, wenn es stimmte, was sie hier alle behaupteten.

„Menschen haben schon aus weitaus niederen Motiven gemordet. Gier, Neid. Liebe.“ Clarence drückte die Lippen kurz aufeinander. „Agnes hat ein Weltbild erschaffen, in dem sie sich wohlfühlt und nach dem sie handelt. Ob sie wirklich daran glaubt, oder es einfach nur Machthunger ist, weiß ich nicht, aber dieses Weltbild macht sie zu einer Gefahr für uns alle. All diese Taten begeht sie im Namen eines übergeordneten Wohls. Damit rechtfertigt sie ihr Handeln. Was sie dabei nicht versteht, es gibt kein übergeordnetes Wohl. Es gibt nur das, was wir tun und das, womit wir leben können. Und darum ist es unsere Pflicht sie aufzuhalten.“

„Aber genau deswegen sitzen wir doch hier, oder nicht?“ Das war doch schließlich der Grund für unsere kleine Versammlung. Wenn er doch dafür war, warum diskutierten wir dann überhaupt noch darüber?

„Das etwas geschehen muss steht außer Frage. Im Moment allerdings sitzen wir hier um zu entscheiden, ob wir es jetzt schon riskieren können.“

„Du meinst, ob es dringend genug ist.“ Denn wenn Marshall nicht durchs Raster fiel, dann schwebte er nicht in akuter Gefahr und wenn er nicht in akuter Gefahr schwebte, konnte man diesen Schritt ja noch ein wenig hinauszögern.

Clarence atmete einmal tief ein. „Du musst verstehen, meine Leute bedeuten mir viel. Ich kann sie nicht einfach als Kanonenfutter in einen Kampf schicken. Agnes ist die wohl rücksichtsloseste Person, die ich kenne. Sie wird nicht zögern meine Leute auszuschalten.“

„Aber sie wird doch kein Massenmord begehen.“ Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit waren eine Sache, aber ein Massenabschlachten? Das würde allem wofür sie stand widersprechen.

Sam schnaubte über meine Naivität. „Agnes ist ein Monster, dass immer und überall die absolute Herrschaft braucht. Sie lässt sich von nichts und niemanden aufhalten und tut alles um ihre Ziele zu erreichen. Sie weiß es zu verhindern, dass sich die Dinge ihrer Kontrolle entziehen. Als ich noch in Eden lebte, gab es eine Frau, die sich nicht an dem Zuchtprogramm beteiligen wollte. Darum inszenierte Agnes einen schweren Badeunfall, der bei der Frau einen bleibenden Hirnschaden verursachte. Nun ist sie geistig nicht mehr dazu in der Lage, sich gegen sie zu wehren. Ich habe nur durch Zufall davon erfahren, als ich ein Gespräch mit ihrer Assistentin belauscht habe.“

Killian richtete sich kerzengerade auf. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Schock ab. „Sprichst du von Olive Vark?“

Du gütige Gaia, nein, das konnte doch nicht sein.

„Ja, genau so hieß sie. Sie hatte keine Lust ihr Leben als Brutkasten zu fristen, aber Agnes wollte sie nicht gehen lassen.“

Killian wurde merklich blasser.

Das machte mich sprachlos. Ich schaute zu Killian, aber der schien auch nicht fassen zu können, was er da hörte. Agnes sollte für Olives Zustand verantwortlich sein? Sie hatte ihr das angetan, weil sie keine von ihren Mädchen sein wollte? Das fand ich fast noch schockierender, als das Wissen, dass sie einen Völkermord begehen würde, um ihre Herschafft zu schützen.

Sie hatte einen Menschen geistig verstümmelt, um ihn benutzen zu können, als wäre er nur irgendein Ding. Gab es eigentlich irgendwas in dieser Welt, das für diese Frau einen Wert hatte? Plötzlich kam mir das Bild mit ihr und meiner Mutter wieder in den Sinn. Darauf hatte sie glücklich gewirkt. Aber wahrscheinlich war das auch nur eine Maske gewesen.

„Wenn sie wirklich sowas tut“, sagte ich und ballte meine Hände in meinem Schoß zu Fäusten, „warum habt ihr dann immer noch nichts gegen sie unternommen? Warum sitzen wir hier und reden nur, anstatt endlich zu handeln.“

„Weil sie stärker sind als wir.“ Laarnis Antwort war schlicht und brachte es dennoch auf den Punkt. „Bei einem direkten Angriff würden wir unterliegen. Es gibt hunderte von ausgebildeten Yards in der Stadt und auch die Gardisten und Tracker können im Notfall zur Waffe greifen. Wir müssten jeden einzelnen unserer Leute mobilisieren und nicht mal dann hätten wir Gleichstand.“

Sam nickte. „Ein Frontalangriff kommt auf keinen Fall in Frage. Wir müssten mit List und Tücke vorgehen.“

„Aber das tun wir nicht“, sagte Akiim. „Ich habe schon mehr als einmal gesagt, wir sollten den Plan mit den Generatoren umsetzen, oder gleich den ganzen Staudamm sprengen.“

„Hier wird gar nichts gesprengt“, sagte Clarence sofort. „Damit könnten wir die ganze Stadt vernichten und das ist nicht unser Ziel.“

Akiims Lippen pressten sich aufeinander. Das war vielleicht nicht Clarences Ziel, aber meinem Bruder war egal was er tun musste, Hauptsache die Mauern von Eden würden fallen. In diesem Punkt war er wirklich unmenschlich.

„Unser Ziel ist es Agnes zu stürzen und die Stadt zu übernehmen“, fügte Clarence noch mit festem Blick auf meinen Bruder hinzu, als müsste er ihn daran erinnern. „Wir wollen unsere Leute befreien und wieder Ordnung in das Leben dort bringen. Wir wollen die Menschen dort daran erinnern, was Menschlichkeit bedeutet und das tun wir nicht, indem wir unmenschliche Dinge tun. Vergiss das nicht.“

Sie wollten Eden übernehmen? Davon hörte ich zum ersten Mal. Allerdings war das vermutlich die einzige Möglichkeit, die Machenschaften dort zu beenden und die Kontrolle über die Situation zu erlangen. Wenn sie Agnes einfach nur stürzten, konnte der nächste machthungrige Arsch auf ihrem Thron platz nehmen. Annett Gersten wäre sicher begierig darauf. Oder auch Dimitri Nazarova, der Sohn von Agnes. Beides kein gutes Anführer-Material.

„Hast du mich verstanden, Akiim?“

„Ja“, knurrte er verärgert.

Clarence seufzte. „In Ordnung, vergessen wir das. Wir sind eindeutig vom Thema abgekommen. Das Raster.“ Er richtete seinen Blick auf mich. „Marshall, was ist das für ein Mann?“

Keine Ahnung, was sollte ich darauf antworten? Marshall war Marshall. „Er ist … ich weiß nicht, gesund?“

„Wie alt ist er?“, fragte Sam etwas präziser. „Hat er Beschwerden? Behinderungen? Ist er vielleicht besonders dumm, oder sehr aggressiv? Stur?“

Nein, er war nichts von alledem. Er näherte sich zwar schon den Fünfzigern, war aber noch topfit. Klar war er hin und wieder ein wenig stur, aber wer war das nicht? Und aggressiv wurde er nur wenn seine Familie bedroht wurde.

„Nein“, kam es zu meiner Überraschung von Sawyer. „Er würde nicht durchs Raster fallen. Marshall ist ein gesunder Mann mit Fähigkeiten, die sie sicher gut gebrauchen können. Er kann hart arbeiten und ist auch nicht besonders dumm.“

Er hatte recht. Nur warum störte es mich, dass er es ihnen sagte?

Clarence nickte, als hätte er sowas bereits erwartet. „Dann schwebt er, zumindest im Moment, nicht in Lebensgefahr.“

Ich runzelte die Stirn. „Das kannst du nicht wissen. Nur weil er nicht durch das Raster fällt, bedeutet das noch lange nicht, dass er dort sicher ist. Die Tracker haben ihn nicht einfach so irgendwo aufgesammelt, sie haben ihn gezielt eingefangen und das nur aus dem Grund, dass er wissen könnte wo ich bin. Sie brauchen ihn für Informationen, nicht für den Aufbau ihrer Stadt. Aber er kann ihnen diese Informationen nicht geben, weil er gar nicht weiß wo ich bin.“

„Damit befindet er sich außerhalb des Rasters“, erklärte Sam. „Solange Agnes glaubt, dass er ihr von Nutzen ist, wird sie ihn behalten.“

Neben mir regte Killian sich. „Selbst wenn er nichts weiß, kann sie ihn als Druckmittel gegen Kismet einsetzen. Sie weiß, dass er ihr etwas bedeutet.“

Laarni nickte zustimmend. „Aber solange Kismet bei uns ist, hat das keine Bedeutung. Agnes kann sie nicht unter Druck setzen, wenn sie nicht an sie herankommt und im Moment hat sie keine Ahnung, wo sie Kismet finden kann.“

„Außerdem ist Eden eine Festung“, fügte Sam noch hinzu. „Selbst wenn wir sie belagern würden, könnte es Jahre dauern, bis wir ins Innerste gelangen, denn alles was sie brauchen, haben sie innerhalb der Mauern. Wasser, Nahrung. Sie bauen alles innerhalb an. Und dann sind da noch ihre Waffen, die unseren weit überlegen sind.“

Akiim tippte unruhig mit den Fingern auf den Tisch. „Diese Festung wird ihnen aber nichts bringen, wenn wir endlich zur Tat schreiten würden. Wir sind so viele wie nie zuvor und mit der richtigen Strategie können wir sie in die Knie zwingen. Wir müssen uns nur endlich trauen.“

Clarence saß still da und hörte sich all die Argumente an. Er hatte den Kopf leicht gesenkt und dachte intensiv über alles nach. Am liebsten hätte ich ihn angeschrien, dass er endlich seinen Hintern in Bewegung setzten sollte, aber das wäre sicher nicht hilfreich.

„Alles was ihr sagt ist richtig, aber so wie die Dinge im Moment liegen, bin ich nicht bereit meine Leute auf ein Selbstmordkommando zu schicken. Schon gar nicht für einen Mann, der ein Mädchen, das wie eine Tochter für ihn ist, in einer solch brisanten Situation fortschickt, weil er sich von den Umständen bedroht fühlt.“ Er schaute mich direkt an. „Es tut mir leid, aber ich werde deiner Bitte nicht nachkommen.“

„Was?!“ Ich sprang so schnell auf, dass mein Stuhl mit einem Krachen umkippte. Das konnte er nicht machen. Nach allem was er gerade gehört hatte, sagte er nein? Er sagte nein, weil Marshall aus Angst eine dumme Entscheidung getroffen hatte? Woher wusste er überhaupt davon? Weder Killian noch ich hatten jemanden davon erzählt. Auch Akiim gegenüber hatte ich es nicht erwähnt.

Doch wir waren nicht die einzigen in diesem Raum, die die ganze Geschichte kannten. Wütend wirbelte ich zu Sawyer herum. „Das hast du ihm eingeredet, du mochtest ihn ja noch nie!“ Nur er konnte es gewesen sein. Sawyer tat doch alles um mir Steine in den Weg zu legen.

„Ich habe ihm gar nichts eingeredet“, verteidigte sich Sawyer sofort.

„Nur von dir kann er es haben! Wie kannst du sowas nur behaupten?“

„Ich habe gar nichts behauptet, ich habe meinem Vater nur erzählt was geschehen ist. Woher sollte ich denn wissen, dass er es dafür benutzen würde?“

„Vielleicht solltest du hin und wieder einfach mal den Mund halten, besonders wenn es um Dinge geht, die dich gar nichts angehen!“

„Es geht mich nichts an?“ Verärgert funkelte er mich an. „Der Feigling hat dich von jetzt auf gleich fortgejagt und jetzt bin ich plötzlich der Böse?“

„Dir kam das doch nur gelegen! Nur deswegen haben wir uns auf dem Weg gemacht, um deine Familie zu suchen! Und Marshall hat das getan, um mich zu beschützen und nicht um seine eigene Haut zu retten! Er wusste, dass ich dort in Gefahr bin und wenn ich dortgeblieben wäre, wäre ich heute nicht hier! Dann wärst auch du nicht hier, wir wären alle nicht hier! Er hat auch dich gerettet! Ich hasse dich!“ Ich stieß mich vom Tisch ab und rannte aus dem Raum.

Sawyer versuchte im Vorbeigehen nach mir zu greifen, doch ich wich ihm aus. Ich wollte nicht von ihm angefasst werden. Ich wollte gar nichts mehr von diesem Mann, außer dass er mich in ruhe ließ.

 

oOo

Kapitel 51

 

Die Tür fiel hinter mir ins Schloss. Um so viel Abstand wie möglich zwischen mich und diese Menschen zu bringen, lief ich eilig den Gang hinunter.

Wenn mir niemand helfen wollte, dann würde ich es eben alleine machen. Es war schließlich nicht das erste Mal in meinem Leben, dass ich auf mich alleingestellt wäre und bisher hatte ich es immer irgendwie geschafft. Ich brauchte sie nicht, ich brauchte niemanden. Und ganz besonders brauchte ich Sawyer nicht.

Eigentlich hätte mir dieser Ausgang von Anfang an klar sein müssen. Wie hatte ich nur so dumm sein können diesen Menschen zu vertrauen und meine Hoffnungen in sie zu setzen? Zeitverschwendung, mehr war das nicht gewesen. Ich hätte schon gestern gehen sollen, doch stattdessen hatte ich mich bequatschen lassen und gehofft, dass diese Menschen wirklich helfen würden. Ich hatte mich geirrt. Mein Fehler, das würde mir sicher nicht noch einmal passieren.

Ich hatte die Hälfte des Wegs zu Akiims Wohnung geschafft, als sich die Tür zu Clarences Quartier erneut öffnete und Killian eilig herauskam. „Kismet.“

Ich blieb nicht stehen. Ich wollte mich nicht unterhalten, die Zeit zum Reden war vorbei, jetzt hieß es handeln.

„Kismet, warte.“ Er rannte los, um mich einzuholen, doch als er versuchte nach meinem Arm zu greifen, wirbelte ich herum und schlug seine Hand weg.  

„Nein!“ Ich wollte nicht von ihm angefasst werden.

Betroffen wich er vor mir zurück. „Ich wollte nur …“

„Ist mir egal, lass mich einfach in Ruhe!“ Ich wusste meine Wut traf den Falschen, denn eigentlich war ich sauer auf Sawyer. Nein, viel schlimmer, ich war enttäuscht. Er hatte Dinge ausgeplaudert, die niemanden etwas angingen und damit meine eh schon geringe Chance auf Erfolg zunichte gemacht.

Unsicher schaute Killian mich an. „Was hast du jetzt vor? Wo willst du hin?“

„Spielt das eine Rolle?“ Ich wandte mich ab und machte mich wieder auf den Weg.

„Für mich tut es das.“ Killian ließ sich nicht abhängen. Natürlich nicht, er war ja mittlerweile Profi im Verfolgen. „Bitte, sag mir was du vorhast, ich will mich nicht unnötig sorgen.“

Dann lass es!, hätte ich ihn am liebsten angefahren. Stattdessen riss ich mich zusammen. „Ich gehe in Akiims Wohnung.“ Das war keine Lüge, nicht direkt. Ich war auf dem Weg dorthin, denn ich musste für meine Reise noch ein paar Sachen holen. Proviant, Kleidung, Decken.

„Bitte tu nichts Unüberlegtes.“

Oh, das würde ich nicht. Ich hatte mir ganz genau überlegt, was ich nun tun würde. Schritt eins: Sachen packen. Schritt zwei: Trotzkopf holen. Schritt drei: Nach Eden reiten und einen Weg finden Marshall aus der Stadt herauszuholen, ohne dabei in mein eigenes Verderben zu rennen.

Wenn ich ihn ließ, würde Killian mich sicher begleiten. Er wäre sicher ganz hingerissen von der Aussicht darauf, nach Eden zurückkehren zu können und einen kurzen Augenblick zog ich daher in Erwägung, ihn in meinen Plan einzuweihen. Aber was dann? Er würde sicher versuchen mich aufzuhalten. Oder er würde es nicht tun und dann würde ich ihn an die Stadt verlieren. Das konnte ich nicht, nicht heute und nicht in dieser Situation. Außerdem war ich alleine viel schneller.

Nein, ich würde nichts sagen, ich würde einfach gehen.

„Kismet, bitte …“

„Wir sehen uns“, sagte ich ruppig, als wir Akiims Unterkunft erreichten. Ich riss die Tür auf und schlug sie ihm direkt vor der Nase wieder zu. Es tat mir schon ein wenig leid, denn dieses Verhalten hatte er nicht verdient, aber ich wollte mich nicht erklären und damit noch weitere Zeit verschwenden. Mein Plan stand und ich würde mich nicht davon abbringen lassen.

Als erstes verschwand ich in meinem kleinen Kabuff und suchte dort alles Notwendige zusammen. Einen Beutel, etwas Kleidung, den Bogen mit den Pfeilen. Meine Decke rollte ich zu einem kleinen Bündel zusammen, dann nahm ich alles und trug es nach nebenan auf den Tisch.

Während ich damit begann ein paar Vorräte in meinen Beutel zu packen, steckte ich mir einen Apfel in den Mund und aß ihn nebenbei. Ich hatte seit fast zwei Tagen nichts mehr gegessen und ich brauchte die Kraft für die bevorstehende Reise.

„Was machst du da?“, fragte Yi Min mich.

Überrascht schaute ich mich um. Der Radau musste sie aus dem Bett gelockt haben. Sie sah schon viel besser aus, als bei unserer ersten Begegnung. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, sie war wieder gesund, aber Akiim bestand darauf, dass sie sich noch ein wenig ausruhte.

„Ich habe etwas zu erledigen“, war alles was ich sagte, steckte noch zwei Äpfel in meinen Beutel und zog ihn zu.

Yi Min beobachtete verwundert, wie ich zurück in meinen Kabuff huschte und mir erst meine Stiefel und dann noch eine Lederjacke überzog. „Wo willst du hin?“

„Ich habe es dir doch schon gesagt, ich habe etwas zu erledigen.“ Ich würde die Dinge wieder in Ordnung bringen und ich würde das alleine schaffen.

Ich nahm noch einen letzten Bissen von dem Apfel, legte den Griebsch dann einfach auf die kleine Kommode und ging zurück in den Hauptraum.

„Hast du Akiim bescheid gesagt?“

Aber sicher doch. „Er wird es schon früh genug merken.“ Der Köcher und mein Bogen landeten auf meinen Rücken, mein Bündel und den Beutel nahm ich zur Hand, dann ließ ich die verdutzte Yi Min einfach stehen und verließ die Wohnung. Dieses Mal würde ich mich nicht aufhalten lassen, von niemanden.

Entschlossen und mit einem klaren Ziel vor Augen, machte ich mich auf den Weg zu den Ställen. Ich hatte keinen Blick für die anderen Menschen um mich herum. Ich wollte nichts hören, ich wollte nichts sehen und vor allen Dingen wollte ich nicht denken, denn meine Gedanken würden nur wieder zu Enttäuschung und Wut führen.

Als ich die große Halle erreichte, wo viele der Rebellen zusammensaßen und gemeinsam ihr Frühstück genossen, überlegte ich für einen kurzen Augenblick, ob ich noch einmal zu Azra gehen sollte, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Auch sie würde nur versuchen mich aufzuhalten. Sie würde nicht verstehen, warum ich das tun musste, keiner konnte das und der Versuch einer Erklärung würde einfach zu lange dauern. Für so einen Mist hatte ich keine Zeit. Wir würden reden, wenn ich Marshall gerettet hatte und hierher zurückgekehrt war.

Ich hatte den Eingang fast erreicht, als ich eine vertraute Stimme hörte.

„Kismet!“

Es war nichts weiter als ein Reflex, dass ich stehen blieb und mich umdrehte.

Tavvin kam mit einem Lächeln eilig auf mich zu. „Hey, ich habe dich gestern gar nicht mehr gesehen.“ Sein Blick fiel auf mein Bündel. „Willst du irgendwo hin?“

„Ich kann gerade nicht reden.“ Ich wollte mich abwenden, aber Tavvin stellte sich mir in den Weg.

„Was ist denn los? Ich reise morgen schon ab und dachte wir …“

„Es gibt kein Wir“, unterbrach ich ihn rüde. Langsam ärgerten mich diese ständigen Verzögerungen. „Es gab nie eines und es wird auch nie eines geben.“

Mit einem Mal war sein Lächeln wie weggewischt und er wirkte einfach nur noch wie ein kleiner, gekränkter Junge.

Wahrscheinlich hätte ich ihm das schonender beibringen sollen, aber im Moment war mir das einfach nicht wichtig. „Weißt du was? Tu dir selber einen Gefallen und vergiss mich einfach. Glaub mir, wenn ich dir sage, das ist das Beste für dich.“

„Aber …“

Ich gab ihm nicht die Gelegenheit noch mehr zu sagen, ließ ihn einfach stehen und eilte aus der Halle hinaus in den Nieselregen. Na Bestens, dieses Wetter hatte mir gerade noch gefehlt.

Der Himmel war mit dicken Wolken behangen und der ganze Boden war übersät mit Pfützen und tiefen Fahrzeugspuren im Matsch.

Neben dem Eingang stand ein Handkarren, bis oben hin voll mit altem Schrott. Unter dem Karren drängten sich drei Phantomhunde zum Schutz vor dem nassen Wetter zusammen. Das waren die Hunde von Saad und Tavvin.

Bisher hatte ich beim Anblick dieser Biester immer nur eine Gänsehaut bekommen, doch nun war ich zum ersten Mal in meinem Leben froh darüber, dass es sie gab. Nur ihnen war es zu verdanken, dass Azra noch lebte und ich sie nicht auch noch verloren hatte. „Ihr seid also doch ganz nützlich.“

Die Hunde antworteten natürlich nicht, behielten mich aber genaustens im Auge, als ich an ihrem Karren vorbeiging.

Vor dem Stall stand eine Kutsche mit zwei Pferden, vor der ein kleiner Mann mit schütterem Haar Kisten ablud und hineintrug.

Schon als ich mich ihnen näherte, drangen mir die Gerüche von Vieh und Stroh in die Nase.

Der Mann schaute mich zwar kurz an, beachtete mich aber nicht weiter, als ich an ihm vorbei direkt in den Stall marschierte und meine Sachen am Tor ablegte.

Rechts standen einige Kühe und die Verschläge mit den Kaninchen. Links waren die Boxen für die Pferde und in einer von ihnen stand Trotzkopf. Da es aber ziemlich unbequem war, einfach so auf den Rücken meines treuen Begleiters zu klettern, holte ich erstmal seinen Sattel von meinem Karren.

Es war schon ein ganzes Weilchen her, seit ich ihn das letzte Mal benutzt hatte, darum musste ich ihn erstmal ein bisschen sauber machen. Dann ging ich damit nach hinten, wo Trotzkopf in einer der Boxen stand und meine Ankunft nicht mal bemerkte. Er war viel zu sehr damit beschäftigt den Hals über die Abtrennung zu strecken, um an dem Pferd in der Nachbarbox zu schnüffeln.

Das Pferd schien von seinen Avancen nicht besonders begeistert – erst recht nicht, als er es dann auch noch aufgeregt zu blubbern begann.

„Wenn es dich gleich beißt, bist du auch noch selber schuld“, teilte ich ihm mit und hängte den Sattel über das Gatter. Ich schnappte mir sein Zaumzeug und schlüpfte zu ihm in die Box. Da er sich aber von seiner neuentdeckten Liebe nicht trennen wollte, dauerte es ein wenig, bis ich es ihm angelegt hatte und ihn aus der Box führen konnte. Als ich ihn dann anband, um ihm den Sattel aufzulegen, war er auch noch beleidigt.

„Planst du einen Ausflug?“

Nein, ich zuckte nicht zusammen, aber es war knapp. Warum mussten die Leute sich in der letzten Zeit nur immer so an mich heranschleichen?

Hinter mir stand Happy und kassierte von mir einen bösen Blick. „Das geht dich nichts an.“ Ich zog die Gurte fest, holte dann meine Sachen vom Tor und befestigte alles am Sattel.

Happy beobachtete mein Tun aufmerksam. „Wann bist du wieder da?“

„Ich habe keine Lust mit dir zu reden.“ Das würde mich nur aufhalten und im Moment wollte ich einfach nur hier weg. Weg von Menschen, die ihre wahren Gesichter hinter Masken verbargen. Weg von komplizierten Männern und bevormundenden Brüdern und gebrochenen Versprechen. Mein Leben war noch nie eine so große Enttäuschung gewesen, wie in den letzten Monaten und ich hatte ein für alle Mal genug davon.

Vielleicht wäre es besser gewesen in den Süden zu gehen, anstatt sich direkt vor den Augen von Eden verstecken zu wollen. Leider war es dafür jetzt zu spät. Der Stein war ins Rollen geraten und ließ sich nun nicht mehr aufhalten.

Ich band Trotzkopf los und führte ihn nach draußen in den Nieselregen.

Happy blieb mir dicht auf den Fersen. Offensichtlich gab sie nicht so schnell auf. „Du scheinst es ziemlich eilig zu haben, bist du auf der Flucht?“

Auf der Flucht war ich seit dem Moment, als wir Eden verlassen hatten. Jetzt jedoch war ich auf einer Mission. Aber ich hatte keine Lust ihr den Unterschied zu erklären, darum kümmerte ich mich nicht um sie, sondern gab Trotzkopf das Kommando sich hinzulegen.

Happy staunte nicht schlecht, als er auf die Knie sank und mich aufsteigen ließ. Ihre Augen wurden sogar noch ein wenig größer, als er auf mein Schnalzen hin, mit mir auf dem Rücken, wieder aufstand.

„Und ich habe mich schon gefragt, wie du auf ihn raufkommen willst.“

„Er ist kein Pferd.“

„Ja, das wird mir jetzt auch bewusst.“

Trotzkopf blökte.

Ich ersparte mir einen Abschied und wendete mein edles Reittier, nur um zu sehen, wie Akiim eilig aus dem Center gestürmt kam. Er brauchte keine Sekunde um mich zu lokalisieren. „Biene, warte.“

Na großartig, diese Komplikation brauchte ich jetzt unbedingt. „Ich kann jetzt nicht.“

Das war ihm ziemlich egal. Er rannte praktisch über den Vorplatz, um mir in den Weg zu springen. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als stehen zu bleiben, wenn ich ihn nicht niedertrampeln wollte. Als er dann auch noch nach den Zügeln griff und Trotzkopf blökte, wurde ich ziemlich ungehalten.

„Akiim!“

„Ich weiß, dass es nicht so gelaufen ist, wie du es dir erhofft hast, aber jetzt einfach abzuhauen ist auch keine Lösung.“

„Und was soll ich stattdessen tun? Mich in eine Ecke setzen und bitterlich weinen, weil einfach alles scheiße ist?“

„Nein, ich will das du mir zuhörst.“ Er warf einen kurzen Blick zu Happy, die uns aufmerksam beobachtete. „Noch ist nicht alles verloren. Wenn du mir noch ein wenig Zeit gibst …“

„Was dann? Geschieht ein Wunder und Clarence wird es sich anders überlegen?“ Ich schnaubte. „Wir wissen doch beide, das wird nicht geschehen. Er hat seine Entscheidung getroffen und die ist endgültig. Er wird mir nicht helfen.“ Denn er war auch nur ein Feigling.   

„Das habe ich auch nicht gemeint, aber ich habe ein paar Leute, die genau wie ich der Meinung sind, dass wir endlich etwas unternehmen müssen. Schluss mit herumsitzen und nichts tun.“ Er trat etwas näher und senkte die Stimme. „Ich werde dir helfen deinen Mann zu befreien, wenn du mir hilfst in die Stadt zu kommen.“

Er wollte mir helfen Marshall zu befreien? „Was ist mit Clarence?“

Akiims Blick wurde entschlossen. „Manchmal ist es einfacher, hinterher um Verzeihung zu bitten, als vorher um Erlaubnis.“

Er wollte hinter Clarences Rücken handeln. So viel zu dem Thema, dass mein Bruder nichts ohne seine Erlaubnis tun würde. „Willst du immer noch die Stadt niederbrennen?“ Denn ich würde sicher nicht an einem Massenmord mitwirken. Und genau das war es, was Akiim im Sinn hatte – die Auslöschung der ganzen Stadt.

„Nein.“

„Versprich es mir. Versprich mir, dass du keinem Unschuldigen etwas zu leide tun wirst“, forderte ich.

„Ich verspreche es dir.“

Ich wollte ihm so gerne glauben. Ich wollte seine Hilfe annehmen, denn alleine würde es deutlich schwerer werden, aber ich wusste nicht ob ich ihm vertrauen konnte, denn unsere Ziele und Werte waren sehr unterschiedlich und die Menschen bewiesen mir immer wieder, dass man ihnen nicht trauen durfte.

Unsicher kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Wenn ich jetzt nicht los ritt, würde sich nur wieder alles verzögern. Und was wenn es am Ende doch wieder ein Fehlschlag war? Dann hätte ich nur unnötig Zeit verschwendet.

„Komm schon, Biene, vertrau mir.“ Er sah mich eindringlich an. „Wir können uns gegenseitig helfen.“

„Wie lange?“, wollte ich wissen. „Wann können wir aufbrechen?“

„Zwei, maximal drei Tage. Ich muss vorher noch ein paar Sachen organisieren und meine Leute mobilisieren. Allerhöchstens vier Tage.“

Das wurde ja immer mehr. Am Ende würde ich dann hier eine Woche vergolden, nur um eine weitere Pleite erfahren zu müssen. Nein, so viel Zeit würde ich ihm nicht geben. „Morgen“, sagte ich. „Wir brechen morgen auf, oder ich gehe alleine.“

„Das ist ziemlich kurzfristig. Wir brauchen …“

„Morgen“, wiederholte ich. „Oder ich reite jetzt direkt.“

Er dachte darüber nach. Es gefiel ihm nicht, von mir ein Ultimatum gestellt zu bekommen, trotzdem nickte er. „In Ordnung, morgen.“ Er hielt mir die Hand hin. „Und jetzt komm da runter, wir müssen noch einiges vorbereiten und Planen und die Zeit ist knapp.“

In der Tat. Doch seine Hand brauchte ich nicht. Ich gab Trotzkopf einfach das Kommando sich hinzulegen und musste mich dann nur gut festhalten, als er in die Knie ging.

Akiim wich erstaunt zurück und schaute mir dabei zu, wie man von einem Dromedar abstieg. „Wie praktisch.“

Das war es wirklich. Allerdings war es ein wenig schwierig ihn wieder auf die Beine zu bekommen, denn er hatte keine Lust mehr aufzustehen. Am Ende drohte ich ihm mit einem kräftigen Tritt in den Hintern, als er entschied, dass es in seinem eigenen Interesse lag, sich wieder auf seine langen Stelzen zu erheben.

Als ich ihn wendete, um ihn zurück in den Stall zu bringen, runzelte Akiim die Stirn.

„Was hast du denn jetzt wieder vor?“

„Äh … ihn absatteln?“ Ich formulierte es als Frage, auch wenn es ziemlich offensichtlich war.

„Dafür haben wir keine Zeit. Happy?“

Die Frau, die mittlerweile dem kleinen Mann dabei half, die letzten Kisten von der Kutsche zu laden, hielt in ihrer Arbeit inne. Scheinbar war es ihr zu langweilig geworden uns zu belauschen, besonders da wir zu leise gesprochen hatten, um etwas zu verstehen. „Ja?“

„Kannst du das Tier zurück in den Stall bringen?“

Ich ersparte es mir ihn erneut darauf hinzuweisen, dass Trotzkopf ein Dromedar war und holte stattdessen meine Sachen vom Sattel.

Happy stellte ihre Kiste auf den nassen Boden und kam zu uns rüber. „Ausflug abgesagt?“

„Auf unbestimmte Zeit verschoben“, sagte ich und übergab ihr die Zügel.

„Also konnte Akiim dich zur Besinnung bringen.“ Sie schaute sich den seltsamen Sattel an. „Wie bekomme ich den runter?“

„Du musst …“ Ich verstummte, als Akiim sich zwischen uns drängte und begann ungeduldig an den Gurten zu zerren. Der Sattel löste sich, Akiim zog ihn runter und warf ihn achtlos hinter sich in die Kutsche.

„Können wir dann jetzt endlich?“

„Da hat es wohl jemand eilig“, kommentierte Happy, hob aber gleich darauf ergeben die Hände, als sie von seinem gereizten Blick getroffen wurde. „Na gut, schön, ich habe nichts gesagt. Komm mein Hübscher, lass uns ins Trockene verschwinden.“

Trotzkopf blökte, als wollte er ihr zustimmen und folgte ihr zurück in den Stall.

Ich dagegen ging an Akiims Seite wieder ins Center. Hoffentlich begann ich nicht schon wieder einen Fehler.

 

oOo

Kapitel 52

 

„Was wollen wir hier?“, fragte ich, als Akiim die Unterkunft von Killian und Wolf ansteuerte. „Ich dachte, wir wollten planen.“ Und nicht die nächste Episode im Drama meines Lebens beginnen.

„Aber dazu brauchen wir einen unauffälligen Platz. Wir können uns dafür ja nicht zu Clarence an den Konferenztisch setzen.“

Das war mir auch klar. „Und warum gehen wir dann nicht zu dir?“

Er blieb stehen und drehte sich zu mir um. „Weil ich Yi Min nicht beunruhigen will.“

Aha, nicht beunruhigen, ja? „Du meinst, du willst es vor ihr verheimlichen.“

„Ich habe keine Geheimnisse vor meiner Frau, ich will sie nur nicht unnötig aufregen. Sie wird noch früh genug alles erfahren.“ Er setzte sich wieder in Bewegung, direkt auf die Unterkunft der Männer zu.

Verstanden, er würde es ihr erzählen, aber erst dann, wenn ihm keine andere Wahl mehr blieb. Sollte er nur, es war seine Ehe, ich würde mich hüten, mich da einzumischen. „Aber warum hier?“ Es gab doch sicher noch ein Dutzend anderer Orte, an die wir gehen konnten – notfalls auch in den Wald. Irgendwo wo ich Killian nicht gegenübertreten musste, nicht nachdem ich ihn gerade erst wieder so vor den Kopf gestoßen hatte. Das würde mich nur unnötig ablenken und das brauchte ich jetzt wirklich nicht. Marshalls Rettung war wichtig.

„Weil dein Arzt helfen will und wir hier ungestört sind.“ Ohne vorher anzuklopfen, zog er die Tür auf und trat zur Seite, um mich als erstes hinein zu lassen. Allerdings blieben sowohl er, als auch ich sofort wieder stehen, sobald wir über die Türschwelle getreten waren.

Killian und Sawyer standen mitten im Raum so dicht voreinander, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Sie sahen aus, als seien sie nur einen Schritt davon entfernt, aufeinander loszugehen.

„Nimm dich in acht“, knurrte Killian, der nette Kerl war völlig verschwunden. Er überragte Sawyer um einen halben Kopf. „Ich bin nicht so harmlos, wie du immer tust.“

Sawyers Augen wurden ein kleinen wenig schmaler. Er war so angespannt, dass die Narben in seinem Gesicht deutlich hervorstachen. „Oh keine Sorge, das ist mir nicht entgangen.“

Wolf saß gelangweilt hinter ihnen am Tisch und schaute dem drohenden Desaster nur mäßig interessiert zu. Fehlte eigentlich nur noch, dass er gähnte.

Akiims Gesicht verfinsterte sich. „Was macht er hier?“, fragte er mit Blick auf Sawyer.

Seinem Ton entnahm ich, dass er kein geladener Gast war. „Was schon? Er spioniert, um anschließend bei seinem Papi zu petzen.“ Das konnte er doch schließlich so gut.

Alle drei Männer richteten ihre Blicke auf uns. Sawyers Lippen wurden ein wenig schmaler.

„Wo warst du?“, fragte Killian mich, als sei ich ihm eine Rechenschaft schuldig, was mich sofort in die Defensive trieb. Was bitte war ihm denn für eine Laus über die Leber gelaufen?

„Ich habe sie bei den Ställen gefunden“, antwortete Akiim an meiner Stelle und schloss die Tür, damit wir ungestört waren. „Sie wollte gerade wegreiten und im Alleingang gegen Eden antreten.“

Warum bitte schauten mich jetzt alle so böse an? Ja selbst in Wolfs Blick lag ein kleiner Vorwurf. Hatten sie etwa geglaubt, ich würde mich still in eine Ecke setzen und über die Ungerechtigkeiten des Lebens nachdenken? Das hatte ich bereits oft genuggetan und darum wusste ich, dass es nichts brachte.

„Hatten wir nicht etwas zu tun?“ Ich ging an Akiim vorbei und setzte mich in die Ecke auf Killians Nachtlager, doch erst als ich Sawyers Blick bemerkte, erinnerte ich mich daran, was geschehen war, als ich mich das letzte Mal hier niedergelassen hatte. Nicht dass es noch etwas bedeutete. „Also, was ist nun?“

Statt zu antworten, wandte Akiim sich Sawyer zu. „Ich glaube, du gehst jetzt.“

„Damit euer kleiner Club von Superhelden blind in sein Verderben rennen kann?“ Er schnaubte und lehnte sich mit verschränkten Armen hinter sich an den Tisch. Er forderte uns geradezu dazu heraus, ihn vor die Tür zu setzten. „Wenn ihr das schon durchziehen wollt, dann sollte wenigstens einer mit Verstand dabei sein.“

„Du sprichst hoffentlich nicht von dir“, sagte Killian und ich konnte ihm nur zustimmen.

Sawyers Blick wurde hart. „Ihr habt jetzt die Wahl. Entweder ich werde exklusives Mitglied eures kleinen Untergrundvereins, auf der dümmsten Mission seit Menschengedenken, oder ich werde direkt zu meinem Vater gehen und die Petze spielen. Eure Entscheidung.“

Woher wusste er überhaupt davon? „Was willst du petzen? Wir sitzen hier doch nur ein wenig zusammen.“

„Beleidige nicht meine Intelligenz, besonders nicht wenn Dumm und Dümmer hier, beim schmieden geheimer Pläne, verdächtig flüsternd in der Ecke stehen und sich für unsichtbar halten.“

Aha. „Du hast also gelauscht, als die beiden sich unterhalten haben.“

Er zuckte nur mit den Schultern.

„Das erklärt aber noch lange nicht, warum du helfen willst Marshall zu befreien“, bemerkte Killian. „Du kannst den Mann nicht mal leiden.“

„Ich wollte es einfach mal mit Aufopferung und Nächstenliebe versuchen.“

Selbst Wolf gab ein ungläubiges Geräusch von sich. Umso verblüffter waren wir alle, als Akiim sagte: „In Ordnung, du bist dabei.“

„Was?“ Ich glaubte mich verhört zu haben. „Das kann nicht dein Ernst sein.“ Sawyer war der Letzte, den ich im Moment in meiner Nähe haben wollte.

„Er kennt sich in Eden aus“, erklärte Akiim. „Und wir können nicht riskieren, dass er zu Clarence geht. Außerdem geht es hier nicht um dich oder den kleinen Prinzen, sondern darum diesen Mann zu retten. Oder täusche ich mich da?“

Nein, das tat er nicht und er hatte Recht. Sawyer kannte sich mit Edens Technologie viel besser aus als ich. Es war auch sein Plan gewesen, der uns aus der Stadt herausgeholt hatte. Wenn jemand es schaffte uns rein und wieder rauszubringen, dann vermutlich er. Blieb nur zu hoffen, dass er dafür nicht wieder sechzehn Jahre brauchte.

„Meinetwegen“, knurrte ich. Ich war immer noch alles andere als begeistert, aber Akiim hatte recht, hier ging es nicht um mich. Ich tat es für Marshall, dem Mann, der mich und Nikita aus den Ruinen gefischt hatte. Ich war es ihm schuldig und die Zusammenarbeit mit Sawyer war ein Preis, den ich bezahlen konnte.

Ob die anderen es genauso sahen, wusste ich nicht, jedenfalls schien keiner der Anwesenden zufrieden, aber die Entscheidung war gefallen.

„Nun gut“, sagte Akiim und setzte sich auf den einzigen anderen Stuhl im Raum. Ich war ein wenig erstaunt, dass sie nun endlich einen zweiten Stuhl am Tisch hatten. „Ich werde ein paar Leute zusammentrommeln, die uns nach Eden begleiten werden. Allerdings erwarten die von mir mehr als ein Lasst-uns-die-Stadt-stürmen, wir brauchen also einen durchführbaren Plan.“

„Und du hast natürlich auch schon einen parat“, kam es herablassend von Sawyer.

„Ja, habe ich. Der Staudamm ist der Schwachpunkt der Stadt. Von ihm erhält Eden die meiste Energie, die die Stadt am Laufen hält. Wenn wir den zerstören, dann legen wir die ganze Stadt für sehr lange Zeit lahm.“

Killian runzelte die Stirn. „Wenn du den zerstörst, zerstörst du auch die Lebensgrundlage von tausenden von Menschen.“

Sowas in der Art hatte Clarence vorhin auch schon gesagt. „Du hast es mir versprochen“, erinnerte ich ihn. „Keine Unschuldigen.“

„Aber wir müssen die Stadt schwächen, wenn wir eine Chance haben wollen“, widersprach er mir sofort.

„Aber nicht so“, sagte Killian.

Akiim richtete seinen Blick direkt auf ihn. „Dein Nachname ist Vark, nicht wahr? Genau wie die Frau, von der Sam vorhin gesprochen hat. Es ist deine Mutter, die unter den Machenschaften der Despotin leidet.“

Killians Gesicht wurde völlig ausdruckslos.

„Und trotzdem willst du das nicht beenden?“

„Nicht so. Für dich sind die Leute in der Stadt vielleicht nur gesichtslose Monster, doch für mich sind es Freunde, Vertraute, Familie. Sie sind geblendet, aber keiner von ihnen hat es verdient deswegen zu sterben.“

„Killian hat recht“, stimmte ich ihm zu. „Wir können nicht alle Menschen dort für die Taten von ein paar einzelnen büßen lassen.“

Daran hatte Akiim einen Moment zu kauen. „Dann eben nur die Generatoren“, sagte er dann. „Wenn wir die zerstören …“

„Das ist doch genau das gleiche“, sagte Killian sofort. „Wir wollen einen Mann befreien und nicht die Stadt torpedieren.“

„Doch“, widersprach ich und ließ meinen Bruder nicht aus den Augen. „Genau darum geht es ihm. Marshall ist ihm egal. Er will der Stadt schaden.“

„Das ist nicht ganz richtig. Ich werde nicht bestreiten, dass der Untergang von Eden mich erfreuen würde, aber es geht um viel mehr. Es ist nicht nur dein Marshall. Es sind so viele freie Menschen eingefangen worden. Die Gefahr die von der Despotin und ihrem Gefolge ausgeht muss beseitigt werden. Und dazu lasse ich keine Chance verstreichen. Wenn wir schon einmal da sind, dann werde ich alles Erdenkliche tun, was in meiner Macht steht. Und die Stadt zu schwächen, wird uns allen helfen.“

„Ach ja? Inwiefern?“

„Wenn wir die Generatoren zerstören, verursachen wir damit nicht nur ein riesiges Chaos, sondern auch ein Ablenkungsmanöver, das uns die Zeit gibt deinen Mann zu retten.“

„Aber dazu müssten wir erstmal wissen, wo wir ihn finden können.“

„Er ist ein freier Mensch“, sagte Sawyer. „Noch dazu einer der nicht freiwillig in die Stadt gekommen ist. Vermutlich befindet er sich noch in Aufnahmeinstitut. Dort verpassen sie den Leuten gerne eine Gehirnwäsche, wenn sie nicht sputen.“

„Gehirnwäsche?“

„Sie bearbeiten die Leute so lange, bis sie genau das tun, was sie von ihnen wollen, damit sie sie in die Gemeinschaft einführen können. Billige Hilfskräfte. Oftmals auch mit Drogen und Foltermethoden. Was man halt alles so brauch, um ein paar folgsame Lemminge zu erschaffen.“

Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was die Leute erleiden mussten, die ihnen nicht freiwillig folgen wollten. „Und wie lange wird er dort festgehalten?“

„Wenn er kooperiert?“, fragte Akiim. „Dann ist es wie bei dir und er wird so schnell wie möglich seinem Posten zugeteilt werden und einen eigenen Wohnraum beziehen. Sollte er sich querstellen, geben sie ihm bis zu drei Monaten Zeit es sich anders zu überlegen. Falls nicht …“ Den Rest des Satzes ließ er offen, aber wir konnten uns alle denken, was er sagen wollte.

Dann wäre Marshall nur noch eine Erinnerung, die von der Zeit nach und nach ausradiert wurde.

Killian war es scheinbar müde zu stehen. Er durchquerte den Raum und ließ sich neben mir auf seinem Lager nieder. Dabei setzte er sich nahe genug neben mich, dass Sawyer die Augen ein wenig verengte.

„Drei Monate sind mehr als genug Zeit“, erklärte Akiim. „Es reicht nicht nur um etwas auf die Beine zu stellen, sondern auch es durchzuziehen. Glaubst du, dass er sich quer stellt?“, fragte er mich.

„Marshall hasst Eden, denn er fürchtet sich vor ihnen. Er hat Nikita und mich an sie verloren. Sie haben Balic getötet und sein Heim in einen Haufen Asche verwandelt. Er würde ihnen niemals freiwillig folgen.“

„Dann können wir also davon ausgehen, dass er sich weiterhin im Aufnahmeinstitut befindet.“ Akiim nickte, als hätte er damit gerechnet.

„Damit bleibt aber noch immer die Frage offen, wie wir hinter die erste Mauer gelangen“, bemerkte Sawyer und maß den Abstand zwischen Killian und mir mit den Augen. „Mit einer Leiter werden wir nur schwerlich rüberkommen, genau wie mit Enterhacken.“

„Vielleicht …“ Ich blickte zu Killian. „Wir könnten es so machen wie an der Stadtgrenze. Wir besorgen uns einfach ein paar Uniformen und die passenden Keychips. Und du spielst wieder Kit. Nicht mal Dascha hat gemerkt, wer du bist.“

Damit hatte ich ihn überrumpelt. „Ähm …“

„Und was soll das bringen?“, fragte Sawyer. „Damit das funktioniert, bräuchte er den Keychip seines Bruders, was bedeutet, wir müssen auf der Lauer liegen, seinen Bruder abpassen und einen ganzen Konvoi an Tracker ausschalten, um an genau diesen Keychip zu gelangen.“

„Das wäre kein Problem“, sagte Akiim sofort.

„Und ob das ein Problem ist“, widersprach Sawyer sofort. „Selbst wenn dir diesen Keychip zwischen die Finger bekommen, was sollen wir dann damit machen? Außerhalb der Mauern sind die Tracker niemals alleine unterwegs. Er bräuchte also entweder einen Konvoi an Trackern, die ihn begleiten, oder eine verdammt gute Erklärung, warum er allein in die Stadt zurückkehrt.“

„Aber er wäre ja nicht allein“, sagte ich. „Wir würden uns auch verkleiden und ihn begleiten.“

„Wir“, höhnte Sawyer. „Du und ich, wir können uns nicht als Tracker ausgeben. Jeder in dieser Stadt kennt unsere Gesichter – selbst die Kinder. Sobald man uns sieht, wird man uns erkennen und sofort wieder einkassieren. Und auch kein anderer würde auf die Art hineinkommen. Es gibt wie viele Tracker? Zweihundert? Vielleicht ein bisschen mehr? Auch deren Gesichter sind bekannt. Wenn da plötzlich ein Fremder auftaucht, werden sie das sofort merken.“

Ich wollte es nicht zugeben, aber er hatte recht. Der Einzige, der eine Chance hatte, auf die Art hineinzukommen, war Killian und wie Sawyer bereits gesagt hatte, bräuchte der dann eine verdammt gute Ausrede, warum er allein war.

Ich hatte es damals nur aus einem einzigen Grund geschafft, mich bei den Gardisten einzuschleichen: Die Gardisten trugen Helme, ihre Gesichter waren hinter den Visieren verborgen. Natürlich könnte Killian auch einfach den Platz mit Kit tauschen, aber dann wäre er ganz auf sich allein gestellt und ich glaubte nicht, dass er das hinbekommen würde. Dafür war er einfach nicht gemacht. „Aber es muss doch einen Weg geben.“

Sawyer schüttelte den Kopf. „So viele Gehirne und trotzdem kommt ihr hier mit einer schwachsinnigen Idee nach der anderen.“

Also langsam bekam ich wirklich Aggressionen. „Anstatt hier die ganze Zeit den Besserwisser heraushängen zu lassen, könntest du ja vielleicht auch mal einen Beitrag leisten. Von dir ist bisher nämlich auch nichts Produktives gekommen.“

Seine Augen funkelten. „Du willst etwas Produktives?“

„Ja, möchte ich. Komm schon, lass uns an deiner Brillanz teilhaben.“

Der Stuhl schabte über den Boden, als Wolf sich von seinem Platz erhob und zum Ofen ging. Er nahm sich die Kanne und setzte Wasser auf.

„Reinschleichen, Marshall schnappen, rausschleichen.“

Das war sein toller Plan? „Du hast das Wie vergessen.“

„Ganz einfach. Wir müssen die Lieferungen aus den Werken nutzen.“

Akiim richtete sich ein kleinen wenig auf. „Was meinst du damit?“

„Die Idee mit den Keychips und den Uniformen ist ganz brauchbar, allerdings bringt sie uns nicht nach Eden. Was wir brauchen, ist eine Möglichkeit unbemerkt die Stadt zu betreten. Darum müssen wir folgendes tun. Als erstes besorgen wir uns die Uniformen und die Chips von den Trackern. Wenn wir dabei den Doppelgänger von unserem Adonis hier erwischen, umso besser. Wichtig dabei ist, dass wir Keychips von Trackern bekommen und die Tracker dann für eine Weile außer Gefecht setzen, damit sie Eden nicht warnen können.“

Killian runzelte die Stirn. Offensichtlich gefiel es ihm nicht, dass Sawyer Kit in die ganze Sache mit hineinziehen wollte.

„Als nächstes gehen wir zu dem Industriedorf. Dieser Standort ist weit weniger gesichert als die Stadt. Wir schleichen uns in einen der Transporter und lassen uns von ihm nach Eden schmuggeln.“

„Was ist das Industriedorf?“ Davon hatte ich noch gar nichts gehört.

„Dort stellen sie Dinge für die Stadt her“, erklärte Akiim. „Und bauen auch Rohstoffe ab. Viele Fabriken. Alles was sie in Eden nicht haben wollen, weil es ihre schöne Stadt verdrecken könnte.“

„Genau.“ Sawyer nickte. „Wir schleichen uns also mithilfe der Transporte in die Stadt ein und auch ins Aufnahmeinstitut. Die Chips gestatten uns Zutritt zu allen Räumen dort. Sobald wir da sind, müssen wir nur noch Marshall finden und ihn herausholen. Dann müssen wir uns von einem anderen Transporter wieder herausbringen lassen.“

Das klang durchführbar, obwohl eine Menge dabei schiefgehen konnte. „Das ist riskant, wir begeben uns mitten in die Höhle des Löwen.“

„Diese ganze Aktion ist völlig bescheuert“, sagte Sawyer sofort. „Aber nur so bekommst du deinen heißgeliebten Feigling wieder.“

Es fehlte nicht mehr viel, dann würde ich ihn schlagen. Einfach aufspringen und ihm eine kräftige Backpfeife verpassen, dann würde er mit dem Mist vielleicht endlich aufhören.

 „Das ist gar keine so schlechte Idee“, sagte Akiim. Seine Augenbrauen waren zusammengezogen und das Rattern in seinem Kopf konnte ich bis hierher hören. „Wir gehen mit einer kleinen Gruppe rein und holen den Mann und sobald wir wieder draußen sind, können meine Leute euch wegbringen.“

Euch? „Meinst du nicht uns? Oder was hast du noch vor?“ Ich war mir nicht sicher, ob ich eine Antwort auf diese Frage haben wollte. Dass es ihm in erster Linie nicht darum ging Marshall zu retten, wusste ich ja nun schon, aber was wenn er diese Besprechung nur nutzte, um endlich einen Weg in die Stadt zu finden? Was würde er tun, wenn es wirklich klappte?

Der Kessel auf dem Ofen begann zu pfeifen und riss uns alle damit aus unseren Überlegungen. Seelenruhig nahm Wolf ihn herunter und schenkte sich etwas heißes Wasser in eine Tasse. Er packte ein paar Kräuter dazu, rührte das ganze mit einem Löffel um und drehte sich dabei zu uns um.

Erst jetzt merkte er, dass wir ihn alle anstarrten. Er hob eine Augenbraue, als wollte er fragen: Was ist?

Ich schüttelte nur den Kopf. „Also steht der Plan?“

Akiim nickte. „Ich werde noch an den Feinheiten arbeiten und mit meinen Leuten durchsprechen, wie genau wir das alles hinbekommen, aber ja, ich denke das lässt sich machen.“

Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass Sawyer nun sehr selbstzufrieden wirken würde, aber er sah alles andere als glücklich aus. „Dann kann ja nichts mehr schiefgehen.“

Warum nur klang das in meinen Ohren wie ein schlechtes Omen? Ich sollte froh sein, dass endlich Bewegung in die Sache kam, doch stattdessen fühlte ich nur eine innerliche Beklemmung.

Akiim erhob sich von seinem Stuhl. „Wir kennen die Routen der Tracker, es wird also nicht schwer werden, einen der Konvois auswendig zu machen. Wenn wir das Ganze zeitlich gut abpassen, könnten wir in einer Woche wieder zurück sein.“

Eine Woche. Die Aktion selber würde höchstens ein paar Stunden dauern, aber der Weg nach Eden würde schon mehrere Tage in Anspruch nehmen – selbst mit den Fahrzeugen der Rebellen. Eine Woche war da wirklich sehr knapp bemessen. Trotzdem könnte bald alles vorbei sein. An diesem Gedanken hielt ich mich fest. „Wann brechen wir auf?“

„Morgen früh. Wir werden weg sein, bevor die anderen aufstehen und unser Verschwinden bemerken können. Wenn ihr also noch irgendwas zu erledigen habt, dann tut es heute, morgen werdet ihr dafür keine Zeit mehr haben.“

Damit stand der Plan, doch für mich bedeutete das, ich konnte die nächsten Stunden nur rumsitzen und darauf warten, dass es endlich losging. Ein halber Tag und eine ganze Nacht und dann würden wir Eden ein weiteres Mal ein Schnippchen schlagen.

Akiim erklärte, er müsste noch einiges vorbereiten und verschwand als erstes. Ich folgte ihm ziemlich schnell, da ich mich nicht länger als nötig mit Sawyer im selben Raum aufhalten wollte.

Da ich nichts Besseres zu tun hatte, beschloss ich Azra zu besuchen und verbrachte die nächsten Stunden bei ihr. Erst redeten wir eine ganze Weile und ich erzählte ihr, was in den letzten Wochen alles geschehen war, verschwieg ihr aber, was wir vorhatten. Sie hörte mir die ganze Zeit aufmerksam zu, aber durch ihre Verletzungen erschöpfte sie noch immer sehr schnell und schlief irgendwann ein.

Ich blieb da und beobachtete sie im Schlaf. Ich dachte über den Plan nach, über Marshall und Azra und wie das alles hatte so weit kommen können. Ich dachte über Killian nach und darüber ihm reinen Wein einzuschenken und am Ende landeten meine Gedanken natürlich wieder bei Sawyer. Wie es mit ihm gewesen war und wie er mich nun behandelte. Dass er mich nun verachtete, könnte er nur noch deutlicher machen, wenn er es mir direkt ins Gesicht sagte. Und trotzdem spürte ich diese Sehnsucht nach ihm, ein völlig ungewohntes Gefühl für mich. Und auch ein ungebetenes.

Es war mir unbegreiflich, wie er nach diesen schönen Stunden wieder zu diesem Mistkerl werden konnte. Ich hatte geglaubt, wir wären in den letzten Wochen Freunde geworden. Aber Sawyer hatte keine Freunde und ich war einfach nur dumm, weil ich das immer wieder vergaß.

Als die Zeit zum Abendessen kam, war ich so genervt von mir selber, dass ich kurz in Akiims Unterkunft ging, mir dort einen Satz frischer Kleidung besorgte und damit zu den Waschräumen marschierte. Ich brauchte eine Beschäftigung, sonst würde ich noch durchdrehen. Warum nur dehnte sich die Zeit immer so unendlich aus, wenn man auf etwas wartete? Das entbehrte jeder Logik.

Als ich den kleinen Vorraum mit den langen Bänken betrat, hörte ich Stimmen und das Kichern von Salia aus den Duschen. Auf den Bänken lagen drei Bündel mit Kleidung – auf einem thronte Wölkchen – keines davon konnte einem Mann gehören. Das schloss zumindest aus, dass Sawyer mit unter der Dusche stand. Zum Glück, einen Moment hatte ich schon befürchtet, das Weite suchen und mich wieder meinen Grübeleien hingeben zu müssen. Aber solange es nicht Sawyer war, mit allem anderen kam ich klar. Also entkleidete ich mich, legte meine Sachen ans Ende der Bank und trat in die kleine Gemeinschaftsdusche.

Es war ein gefliester Raum mit vergilbten Fliesen und einem langen Abfluss in der Raummitte. Links und rechts an den Wänden gab es jeweils fünf Duschköpfe. Alles war ein wenig schäbig und heruntergekommen, aber zweckdienlich.

Salia stand kichernd unter einem Wasserstrahl und bespritzte Noor, die so tat, als müsste sie schnell ausweichen, um nicht nass zu werden – was ein wenig albern war, da sie selber unter einem Duschkopf stand.

Ein Stück weiter stand Laarni und wusch sich völlig unbeeindruckt von den Beiden die Haare.

„Kiss!“, rief Salia aufgeregt, als ich in den Raum kam und quietschte dann auf, weil Noor ihre Unachtsamkeit sofort ausnutzte und eine Ladung Wasser nach ihr warf. „Hey, das war gemein.“

Noor grinste. „Dann pass halt besser auf.“

Ich stellte mich neben Noor unter den Duschkopf, streckte den Arm zur Seite und stellte ihr Wasser auf eiskalt.

Nun war sie es, die mit einem Schrei unter dem Strahl hervorsprang und mich entgeistert anschaute. „Was sollte das denn?“

„Nichts.“ Seelenruhig schaltete ich die Dusche ein, überprüfte mit der Hand die Temperatur und stellte mich unter das prasselnde Wasser. Herlich. „Du hättest halt besser aufpassen müssen.“

Salia kicherte.

Ich zwinkerte ihr zu.

Noor grummelte etwas Unverständliches, stellte ihr Wasser wieder richtig ein und begab sich erneut darunter. Dabei behielt sie mich ganz genau im Auge, als fürchtete sie, ich könnte sie ein weiteres Mal hinterrücks überfallen. „Was hast du da am Bein?“

Ich schaute an mir runter. „Was meinst du?“

„Diese Delle.“ Sie zeigte auf meinem Oberschenkel. „Das sieht komisch aus.“

Salia spähte an ihr vorbei um zu sehen, was ihre Tante meinte.

Ach das. „Ich war jagen und habe mich dabei verletzt. Die Wunde hat sich entzündet und ein Heiler musste mir ein Stück dort herausschneiden, um das infizierte Gewebe zu entfernen.“ Andernfalls wäre ich damals gestorben.

Salia machte große Augen. „Jemand hat was von deinem Bein weggeschnitten?“

„Es war nötig, damit ich nicht krank werde.“ Ich reckte mein Gesicht dem warmen Wasser entgegen und zum ersten Mal an diesem Tag begann ich mich ein wenig zu entspannen. Bis jetzt hatte ich gar nicht richtig gemerkt, wie sehr die letzten Stunden an meinen Nerven gezerrt hatten.

„Du hast auch eine Narbe an der Stirn“, sagte Noor. „Genau wie ich.“

„Ein Tracker hat mich dort mit einem Schlagstock getroffen.“

„Eine Kampfnarbe.“ Sie verzog das Gesicht. „Ich habe meine von einem Kampf mit einem Tisch.“

Salia runzelte die Stirn. „Du hast mit einem Tisch gekämpft?“

Aus der Ecke kam von Laarni ein Schnauben. „Sie hat nicht mit ihm gekämpft. Sie hat nicht aufgepasst wo sie hinläuft und ist dagegen gerannt. Damals war sie noch ganz klein und die Tischkante genau auf ihrer Höhe. Sie hat alles vollgeblutet, es war eine riesige Schweinerei gewesen.“

„Na wenigstens habe ich mich nicht auf mein eigenes Messer gesetzt und es mir selber in den Hintern gerammt.“ Sie zeigte auf besagten Hintern. „Da siehst du, die Narbe sieht man immer noch.“

„Ich habe auch eine Narbe“, verkündete Salia und zeigte auf ihren Oberarm. „Ein Streifschuss. Das hat ganz doll wehgetan und ganz viel geblutet.“

Laarni hielt in ihrem Tun inne und schaute zu ihrer kleinen Nichte. „Wann wurde denn auf dich geschossen?“

„Als wir vor den bösen Männern geflohen sind“, erklärte die Kleine. „Und ich habe noch eine Narbe, hier, siehst du?“ Sie zeigte ihr die offene Handfläche, wo wir ihr vor ein paar Wochen den Keychip herausgeholt hatten. Killian hatte ihre Hand dazu betäubt. „Kiss hat da auch eine Narbe. Zeig mal.“

Pflichtbewusst zeigte ich den anderen die wulstige Narbe an meinem Handballen und fragte mich, warum ich hier gerade all meine Narben vorführte. „Ich hatte da einen Keychip.“

„Sieht eklig aus“, kommentierte Noor und zeigte mir dann ihr Handgelenk, über das sich eine gezackte Narbe zog. „Ich habe ein Fenster eingeschlagen.“

„Warum?“

„Weil es mir im Weg war.“

Ja, das erklärte natürlich alles.

„Ha, aber was einen nicht umbringt, macht einen stärker.“ Sie streckte den Arm in die Luft. „Wir sind Powerfrauen!“

Salia machte sie nach. „Powerfrauen!“

Langsam hatte ich die Vermutung, dass bei ihr die eine oder andere Schraube locker war.

Am anderen Ende des Raumes stellte Laarni den Duschkopf ab. „Seht zu, dass ihr fertig werdet, ihr Powerfrauen, das Abendessen wartet und ich habe Hunger.“

„Ich auch!“, verkündete Salia und stürmte an ihrer Tante vorbei als erstes aus dem Raum. Offensichtlich war sie auch fertig.

„Hey, wartet auf mich.“ Noor beeilte sich und folgte den beiden.

Ich ließ mir extra viel Zeit, lauschte dabei den dreien im Nebenraum und genoss es einfach nur mir das warme Wasser über den Körper laufen zu lassen. Das war purer Luxus und außer in Eden hatte ich sowas auch noch nie gehabt. Aber leider sorgte das Alleinsein dafür, dass mein Kopf wieder fleißig seiner Aufgabe nachkam und mich mit allen möglichen Gedanken bombardierte. Daher beendete ich meine Dusche schneller als geplant.

Als ich in den Nebenraum kam, waren die anderen immer noch da. Laarni war bereits fertig angezogen, Noor war noch nackt, weil sie damit beschäftigt war eine zappelnde Siebenjährige in ihre Kleidung zu bekommen.

„Du musst sie festbinden“, empfahl ich ihr und trocknete mich selber ab.

Trotz dass die anderen vor mir hier waren, war ich bereits fertig angezogen, als Noor in ihre Hose stieg.

„Kommst du mit?“, fragte Salia mich. „Wir wollen Abendessen.“

„Ähm … klar.“

„Ja!“ Sie schnappte sich Wölkchen und stürmte aus dem Raum. Gleich darauf kam von ihr ein aufgeregtes: „Papa!“

Alles in mir spannte sich an. Das hatte mir gerade noch gefehlt, Sawyer war da draußen. Vermutlich wartete er auf die Kleine, um mit ihr zum Abendessen zu gehen. Natürlich würde er das, er war ihr Vater. Und ich Dummkopf hatte gerade zugestimmt ihn zu begleiten, wie Salia ihm auch gerade brühwarm erzählte. Super, jetzt musste ich irgendwie wieder aus dieser Nummer herauskommen und das, ohne die Kleine vor den Kopf zu stoßen. Sie konnte schließlich nichts dafür, dass ihr Vater ein Idiot war.

Na gut, ich würde das schon hinbekommen.

Laarni wartete noch auf ihre kleine Schwester, als ich schon durch die Tür ging. Besser ich brachte es einfach schnell hinter mich, dann konnte ich diesen Mann und seine Existenz wieder im Stillen verfluchen.

Sawyer stand direkt vor der Tür. Sein Haar war nass und seine Kleidung sauber. Er musste auch duschen gewesen sein. Gab es hier noch mehr Gemeinschaftsduschen? Sein Blick traf mich und ich verspürte wieder diesen schmerzhaften Stich.

„Salia, wegen dem Essen“, begann ich und versuchte Sawyer auszublenden. „Ich glaube nicht, dass ich …“

„Mach das nicht“, unterbrach Sawyer mich und ließ mich damit verstummen. Er schien zu wissen, was ich vorhatte.

Wollte er etwa, dass ich mit ihm zu Abend aß? Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

Er strich Salia über das nasse Haar und senkte seinen Blick auf sie. „Schatz, ich kann nicht mitkommen, ich muss noch etwas erledigen. Aber wir sehen uns dann später.“

Ich runzelte die Stirn, was sollte das denn jetzt?

„Liest du mir dann wieder etwas vor?“

„Versprochen.“

Noor kam aus dem Vorraum geschlittert und streckte die Faust in die Luft. „Powerfrauen!“

Salia hüpfte sofort herum und tat es ihr gleich. „Powerfrauen!“

Augenverdrehend kam auch Laarni heraus und schien sich zu fragen, ob sie wirklich mit diesen Menschen verwandt war.

Noor zeigte auf Sawyer. „Keine Männer erlaubt.“ Dann drehte sie sich um und marschierte los.

„Keine Männer erlaubt“, wiederholte Salia und tat es ihrer Tante gleich. Nach zwei Schritten lief sie aber wieder zu ihrem Vater zurück, forderte einen Kuss ein und lief dann eilig ihrer völlig durchgeknallten Tante hinterher.

Laarni, die Ruhe selber, folgte ihnen.

Ich stand etwas unschlüssig da. Ich war mir sicher, dass Sawyer wegbleiben wollte, damit ich Salia begleiten konnte. Er tat es für sie, aber ich war mir nicht sicher, ob das richtig war.

„Sei kein Arsch“, sagte er zu mir.

Mir stellten sich die sprichwörtlichen Stacheln auf. Ich sollte kein Arsch sein? Ich?! Mistkerl. Ich versuchte mich gleichgültig zu geben. „Warum, verträgst du die Konkurrenz nicht?“

Einen Moment tat er gar nichts, dann erschien auf seinen Lippen wieder dieses widerliche Lächeln. Es war eine Maske, dass wusste ich mittlerweile und trotzdem hasste ich es, das zu sehen, denn es bedeutete nie etwas Gutes.

Geschmeidig trat er auf mich zu und blieb dann direkt vor mir stehen. Ich konnte ihn riechen und das ließ mein Herz sofort schneller schlagen.

„Baby, um meine Liga zu erreichen, brauchst du noch eine Menge Übung.“ Er hob die Hand und strich fast schon zärtlich mit dem Daumen über meine Unterlippe.

Ich war von der Geste so überrascht, dass ich mich nicht bewegte. Auf einmal stand mir der Nachmittag wieder so deutlich vor Augen, als wäre es gerade erst geschehen.

Seine Lippen verzogen sich abschätzig. „Spar besser deine Energie und geh schön spielen.“ Er ließ die Hand sinken, drehte sich weg und ging in die andere Richtung davon.

In mir begann die Wut zu köcheln. Wollte er damit andeuten, ich sei ihm nicht gewachsen? Dieser kleine, missratene, arrogante, egozentrische, wichtigtuerische …

„Kiss!“ rief Salia und winkte mir hüpfend zu. „Kommst du?“

Ich würde ihm den Hals umdrehen. Gaia sei meine Zeugin, irgendwann würde ich ihn für den ganzen Mist büßen lassen. Und hinterher würde ich mich vermutlich schrecklich fühlen. Mit verkniffener Mine wandte ich mich ab und folgte den anderen zum Abendessen. Leider war mir der Appetit vergangen.

 

oOo

Kapitel 53

 

Als meine Zimmertür sich öffnete und Akiims Silhouette mit einer Kerze im Rahmen erschien, richtete ich mich in meinem Bett sofort auf.

„Du bist schon wach?“

„Schon wach?“ Ich schnaubte. „Das würde voraussetzen, ich hätte geschlafen.“

„Du kannst ja im Wagen noch ein wenig schlafen. Aber jetzt steh auf, wir müssen los. Und sei leise, Yi Min schläft noch.“

Als wenn ich vorgehabt hätte wie ein Trampeltier durchs ganze Center zu marschieren und alle darauf aufmerksam zu machen, wie wir uns heimlich hinausschlichen. Ich verkniff es mir etwas in der Richtung von mir zu geben und schwang stattdessen meine Beine aus dem Bett.

Akiim verschwand wieder irgendwo nebenan, während ich mich anzog. Hose, Stiefel, Jacke. Wir hatten zwar noch keine Minustemperaturen, aber kalt war es trotzdem und ich wollte gerne alle meine Zehen behalten.

Ich band mir noch meinen Gürtel um, schnallte meinen kleinen Beutel und das Messer daran fest und verließ mit einem lauten Gähnen den kleinen Kabuff. Diese Nacht war wirklich furchtbar gewesen. Ständig hatte ich mich von einer Seite auf die andere gedreht, viel zu sehr mit den Gedanken bei all den Dingen, die schiefgehen konnten.

Mittlerweile war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob die leise und heimliche Methode wirklich die beste Idee war, die wir hatten. Hätten die Rebellen die Stadt übernommen, wäre es ein Leichtes gewesen, Marshall zu befreien, aber so mussten wir agieren ohne aufzufallen. Das war sehr viel kniffliger.

Draußen war es noch so dunkel, dass man kaum die Bäume vor den Fenstern sah.

Akiim stand im Licht einer Kerze am Tisch und packte ein paar Dinge in einen Rucksack.

Ich trat zu ihm und nahm mir den letzten Apfel aus der Schale. „Soll ich meinen Bogen mitnehmen?“

„Nein, wir haben genug Waffen.“ Er schloss den Rucksack und schulterte ihn auf seinem Rücken. „Los, lass uns gehen.“

„Was hast du Yi Min erzählt?“ Der würde es schließlich als erstes auffallen, wenn ihr Mann plötzlich unauffindbar war.

„Das ich zu einer geheimen Mission aufbrechen muss und ihr alles genau erzähle, sobald ich wieder zurück bin.“ Er ging quer durch den Raum und hielt mir die Tür auf. „Das kennt sie schon.“

Auf wie vielen geheimen Missionen war er denn schon gewesen? Und was trieb er da so? Ich wollte es nicht wissen, mein Kopf war schon voll genug. Daher biss ich einfach in mein Frühstück und trat hinaus auf den Gang.

Killian und Wolf standen bereits draußen und warteten auf uns. Dem Arzt schien der Schlaf genauso ferngeblieben zu sein wie mir, Wolf dagegen wirkte putzmunter. Er lächelte mich sogar zur Begrüßung an.

Ich hatte für die beiden nur einen mürrischen Blick übrig. „Morgen“, murmelte ich und ein weiteres Stück von meinem Apfel verschwand in meinem Mund.

Irgendwas daran ließ Wolf sogar noch breiter grinsen. Genau wie Killian sah er in seiner Kleidung heute aus wie ein waschechter Rebell. Eigentlich fehlte den beiden nur noch dieser Kopfschmuck, den hier alle trugen. Aber den bekam man wohl erst, wenn man Mitglied dieses kleinen Heldenaufstands wurde.

Akiim begrüßte die beiden mit einem Nicken, dann folgten wir ihm den Gang hinunter. Ich wurde ein wenig nervös, als wir an Clarences Quartier vorbeikamen, aber das war völlig unnötig. Niemand stürmte heraus und beschuldigte uns etwas Verbotenes und Dummes zu tun. Auch wenn es genau das war, was wir vorhatten.

Schweigend folgten wir meinem großen Bruder zu dem Ausgang auf der Westseite. Niemand begegnete uns. Es war schon fast unheimlich, wie leer und ausgestorben dieses Gebäude wirkte, wenn alle schliefen. Sonst konnte man keine zehn Fuß gehen, ohne über irgendeinen Menschen zu stolpern.

Als wir das Gebäude verließen und auf die kleine Terrasse traten, versuchte ich nicht daran zu denken, was geschehen war, als ich mit Sawyer hier draußen gestanden hatte und prompt waren die Erinnerungen da und ließen sich nicht mehr verscheuchen.

Vielen Dank auch liebes Gehirn.

Ich konnte praktisch hören, wie es leise und hämisch kicherte.

Super, jetzt gestand ich meinem Hirn auch noch ein eigenes Bewusstsein zu. Fehlte eigentlich nur noch, dass ich mit Selbstgesprächen begann. Der Wahnsinn hatte bereits begonnen.

Es war noch dunkel. Der Mond stand am Himmel und die Sterne leuchteten. Der Tag schien noch weit entfernt.

„Ist nicht weit“, erklärte Akiim und führte uns die Treppe hinunter in den Wald. Daran schloss ein kleiner Trampelpfad an, der uns zwischen den dichten Nadelbäumen entlangführte. Er endete ein paar Minuten später auf einer großen Lichtung – obwohl es schon eher ein Parkplatz war. Hier gab es kein Gras, nur festgetretene Erde, die mit Pfützen übersät war. In den letzten Tagen hatte es viel geregnet. Zwar war der Himmel im Moment klar, aber das bedeutete noch lange nicht, dass es so bleiben würde.

Von der Lichtung führte eine schmale Straße tiefer in den Wald hinein und wurde ziemlich schnell von den Bäumen verschluckt.

Auf der Lichtung standen ein gutes Dutzend Fahrzeuge, drei davon waren große Busse. Sie alle sahen verdächtig nach den Fahrzeugen eines Tracker-Konvois aus. Wenn ich jetzt annahm, dass sie ursprünglich aus Eden stammten, lag ich damit vermutlich gar nicht so falsch.

Diebesbeute von ihren Überfällen. Obwohl Akiim ja behauptete, sie seien keine Diebe. War wohl alles eine Sache der Auslegung.

Alle Fahrzeuge waren irgendwo am Rand geparkt, nur drei nicht. Ein normales Auto, ein großer Jeep und ein Zweisitzer mit einer großen, offenen Ladefläche. Dieser Fahrzeugtyp hatte sicher auch einen Namen, aber den kannte ich nicht. Sie waren ziemlich verdreckt und auch stark angerostet. Todesfallen auf vier Rädern, die nicht so aussahen, als wenn sie noch fahren könnten. Was hatten die Rebellen nur damit angestellt? In Eden sahen die nie so aus.

Daneben standen mehrere Kisten, die bis zum Rand mit Armbrüsten und Bolzen gefüllt waren. Jede Menge Waffen. Bei dem Anblick wurde mir schon ein wenig mulmig.

Ich entdeckte auch eine Kiste ohne Waffen. Darin schien Kleidung zu sein und wenn ich mich nicht täuschte, dann war das die Trackeruniform, die ich auf dem Markt an Sam verkauft hatte. Auch Säcke voller Proviant, Decken und weiterer Ausrüstung stapelte sich dort.

Zwischen den Fahrzeugen standen acht Leute. Nevio gehörte zu ihnen. Er lud zusammen mit einer schwarzhaarigen Frau die Kisten und Säcke auf die Ladefläche des Wagens. Aber Nevio war nicht das einzige bekannte Gesicht. Sawyer stand mit den anderen zusammen und sah zwischen ihnen mehr denn je aus wie ein Rebell.

Es war nicht nur seine Kleidung und sein Kopfschmuck, es war seine ganze Ausstrahlung. Er war bereit, wofür auch immer.

Als man unsere Ankunft bemerkte, drehte auch er sich zu uns um. Sein Blick begegnete meinem und mein Herz machte einen freudigen Hüpfer. Ich sorgte sofort dafür, dass mein Gesicht völlig ausdruckslos wurde und man mir meinen inneren Aufruhe nicht ansah. Dabei bemerkte ich zwischen all den gestandenen Männern und Frauen eine kleine Gestalt. Skade.

Skeptisch drehte ich mich zu Akiim um. „Du nimmst ein Kind mit?“

Das hatte sie gehört. Ihre Mundwinkel sanken beleidigt herab. „Ich weiß was ich tue.“

Ach wirklich? „Ich habe dich beim Training gesehen, ich bin besser als du und nicht mal ich weiß genau, was ich hier tue.“

Sawyers Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. „Der Spruch hätte von mir kommen können.“

Nicht in hundert Jahren. Es gab nur einen weiteren Anwesenden, der für diese Mission noch ungeeigneter war als er und das war Killian.

Das wollte Skade nicht auf sich sitzen lassen. „In einem direkten Kampf hättest du niemals eine Chance gegen mich.“

„Das würde ich so nicht sagen. Du bist gut, aber du verlierst schnell die Geduld und wirst dann unvorsichtig. Wenn ich dich nur genug in Rage versetze, könnte ich dich ohne Probleme schlagen.“ Wobei ich es erst gar nicht so weit kommen lassen würde. Ich würde mich anschleichen und sie hinterrücks überfallen. Sie konnte kämpfen, aber in der Jagd war sie mir weit unterlegen.

„Skade ist gut geschult, ich selber habe sie ausgebildet“, warf Akiim ein. Scheinbar fühlte er sich gezwungen, sie in Schutz zu nehmen. „Sie kommt mit.“

Gut das wir darüber gesprochen hatten. „Aber sie geht nicht mit in die Stadt.“

„Biene, zerbreche dir darüber nicht den Kopf, ich weiß schon was ich tue.“ Mit diesen Worten ließ er mich einfach stehen und ging hinüber zu Nevio.

Schönen Dank auch fürs Gespräch. Verärgert verschränkte ich die Arme vor der Brust. „Sind Brüder immer so ätzend?“

Killian lächelte schwach. „Ja, immer.“

Gut zu wissen. Ich atmete einmal tief durch und wandte mich ihm zu. „Du bist heute so still.“

„Es ist nur … diese ganze Sache … ich verstehe warum wir es tun, aber ich fühle mich nicht wohl dabei.“

„Weil du glaubst, dass es nicht funktioniert?“ Ich zögerte. „Oder … willst du dortbleiben?“ Das war immerhin seine Chance. Wir fuhren nach Eden, zu seinem Zuhause. Das war die beste Gelegenheit für ihn wieder dorthin zu gelangen.

Das kleine Lächeln bekam einen bitteren Zug. „Du weißt doch, selbst wenn ich wollte geht das nicht. Ich habe dich vor den Trackern gerettet.“

Und damit Hochverrat begannen. Aber das löschte seinen Wunsch nach einer Heimkehr nicht aus. „Es tut mir leid, dass du wegen mir …“

„Worüber reden wir?“ Sawyer trat zu uns. Sein Blick glitt von Killian zu mir und etwas Hässliches trat in seine Augen. „Warum so schlechte Laune? Hat dein kleines Haustier letzte Nacht nicht genug Streicheleinheiten bekommen?“

Kurz war ich versucht ihm einfach aus dem Nichts gegen das Schienbein zu treten. Da würde er bestimmt blöd aus der Wäsche gucken. Aber genau das war es ja, was er wollte. Er wollte eine Reaktion von mir und darum würde er sie nicht bekommen.

„Was, redest du jetzt nicht mehr mit mir?“, fragte er, als ich ihn nur stumm anschaute.

Killian atmete einmal schwer ein. „Sawyer, wie wäre es zur Abwechslung einmal, wenn du dich ein wenig zurücknimmst?“

„Warum sollte ich?“

Bevor Killian darauf antworten konnte, machte Akiim mit einem „Hört mal alle her“ auf sich aufmerksam. „Wir werden Strecke B nehmen und uns in zwei Tagen mit den anderen am alten Steinbruch treffen. Wenn es ein Problem gibt, meldet euch über Funk. Die Tracker nehmen wir uns vor, sobald die anderen zu uns gestoßen sind. Dann macht euch mal fertig, wir wollen gleich aufbrechen.“

„Jetzt gibt es kein Zurück mehr“, murmelte Sawyer.

Ich beachtete ihm nicht und sah Akiim entgegen, als er auf uns zukam. Ich hatte noch eine Frage an ihn. „Wie lange werden wir nach Eden brauchen?“

„Ohne Zwischenfälle? Wir sollten den Treffpunkt morgen Abend erreichen. Von da aus ist es nur noch ein Katzensprung zur Stadt.“ Er schaute zu Nevio, der die letzten Kisten verlud. „Aber wir müssen uns noch die Sachen von den Trackern besorgen. Ich denke, dass wir so in vier oder fünf Tagen deinen Mann aus Eden rausholen können.“

Fünf Tage, dann winkte die Freiheit.

„Akiim.“ Ein großgewachsener Mann, mit einer kleinen Narbe unter dem linken Auge, kam auf uns zu und drückte meinem Bruder ein kleines Gerät in die Hand. „Frisch geladen.“

„Danke.“ Er drehte es einmal in der Hand und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden.

Es war ein Laserfunk. Noch mehr Technik aus Eden. Noch mehr von ihrem nicht-Diebesgut.

Akiim klatschte in die Hände. „So Leute, einsteigen und Abfahrt, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Biene, du fährst mit mir mit.“

Also über diese ständigen Befehle würden wir uns noch mal dringend unterhalten müssen. Im Moment war es mir allerdings nicht wichtig genug, um deswegen ein Fass aufzumachen.

Bewegung kam unter die Leute und sie begannen sich auf die Fahrzeuge zu verteilen. Akiim steuerte den Kleinsten der drei Wagen an und setzte sich dort hinters Lenkrad. Ich rutschte mit Killian zusammen auf die Rückbank und versuchte grade meine Beine unterzubringen, als die Beifahrertür aufging und Sawyer sich direkt vor mir in den Sitz fallen ließ.

Das war doch wohl ein schlechter Scherz. Es gab drei Fahrzeuge und er musste ausgerechnet hier einsteigen? War ihm denn nicht bewusst, dass wir den ganzen Tag in dieser Metallkiste zusammengepfercht sein würden, ohne die Chance uns aus dem Weg zu gehen? Drüben auf der Ladefläche war doch sicher noch ein Plätzchen für ihn zu finden.

Als Sawyer den Hebel unter dem Beifahrersitz betätigte um für seine Beine mehr Freiheit zu erlangen, rammte er den Sitz nicht nur gegen meine Knie, sondern klemmte meine Beine damit auch noch ein.

„Au! Verdammt Sawyer!“

„Ah, es spricht wieder mit mir.“

Dieser Kommentar war keiner Erwiderung wert. „Kannst du mal wieder nach vorne rutschen?“

„Nur wenn du ganz lieb bitte bitte sagst.“

Von wegen. Stattdessen drückte ich mich in den Sitz und rammte meine Knie so gut es ging nach vorne, um sie in seinen Rücken zu bohren.

„Das war kein Bitte. Versuch es noch mal.“

Killian, der neben mir auf dem Sitz saß, schaute etwas irritiert zwischen uns hin und her.

„Dein Bitte kannst du dir sonst wo hinstecken und jetzt rutsch endlich nach vorne!“ Ich stieß meine Knie ein weiteres Mal in seinen Rücken.

„Nö. Aber ich kann den Sitz noch etwas nach hinten lehnen.“ Wie zum Beweis griff er neben den Sitz und die Lehne begann sich langsam nach hinten zu biegen.

„Bei Gaias Zorn, was treibt ihr beide da eigentlich?“, wollte Akiim wissen.

„Wir? Du meinst wohl er!“

„Ist mir völlig egal, hört auf damit, ihr seid doch keine kleinen Kinder mehr.“

Da war ich mir bei ihm nicht so sicher.

„Ah, das ist echt bequem“, sagte Sawyer, als der Sitz so weit zurückgelehnt war, dass er mir fast auf dem Schoß lag. Ich versuchte ihn wegzudrücken, aber das brachte natürlich rein gar nichts.

Genervt griff Akiim unter Sawyers Sitz und zog ihn nach vorne.

Mir reichte es, ich hatte die Nase voll von ihm und seinem ganzen Mist. Ich würde keine Minute länger in seiner Nähe bleiben, geschweige denn ganze Stunden.

Mit grimmiger Entschlossenheit stieß ich die Wagentür auf und stieg aus.

„Biene?“ Akiim drehte sich mit gerunzelter Stirn zu mir herum. „Wo willst du hin?“

Ohne zu antworten, stampfte ich hinüber zu dem Jeep und riss die hintere Tür auf. Vier paar Augen richteten sich auf mich, unter ihnen auch die von Wolf. „Würde einer von euch seinen Platz mit mir tauschen?“ Sonst könnte es passieren, dass ich noch vor unserer Abfahrt einen Mord begann und das würde der ganzen Mission einen kräftigen Dämpfer verpassen.

„Klar.“ Skade erhob sich von ihrem Platz und stieg aus dem Wagen. Scheinbar nahm sie es mir nicht übel, dass ich sie nicht hatte mitnehmen wollen.

„Danke.“

„Kein Problem.“

Während sie zu Akiim und ihrem bescheuerten Bruder hinüberging, stieg ich in den Jeep und setzte mich neben Wolf. „Spar dir die Kommentare“, sagte ich, als ich seinen Blick bemerkte.

Er zog nur die Augenbrauen hoch, was mich dazu brachte, missmutig aus dem Fenster zu schauen.

Für Killian tat es mir ein wenig leid, dass er jetzt allein in dem anderen Wagen war, aber er war erwachsen und würde das schon durchstehen.

Diese ganze Situation war kaum noch auszuhalten. Vielleicht war es langsam doch an der Zeit getrennte Wege zu gehen. Aber diese eine Sache musste ich vorher noch zu ende bringen. Ja, sobald Marshall frei war und ich meine Schuldigkeit getan hatte, würde ich gehen und nicht mehr zurücksehen. Ich würde all das einfach vergessen und ein neues Leben beginnen.

Akiims Wagen setzte sich als erstes in Bewegung und gab damit den Startschuss zu der wohl größten Wagnis in meinem ganzen Leben.

 

oOo

Kapitel 54

 

Knisternd fraßen sich die Flammen über das trockene Holz im Lagerfeuer und sprühten kleine Funken in die Luft, die der Wind einfach mit sich forttrug.

Die Dämmerung des Abends hatte schon vor Stunden eingesetzt. Ein paar der Rebellen schiefen bereits rund um das Lagerfeuer, genau wie Killian. Zumindest glaubte ich, dass er schlief. Er lag dick eingemummelt neben mir, hatte sich die Decke bis ans Kinn gezogen und die Augen geschlossen. Also entweder schlief er schon, oder er war ein sehr guter Schauspieler. Wobei sich dir Frage stellte, warum er das vorspielen sollte.

Oh Gaia, ich sollte damit aufhören meinen Kopf mit so unwichtigen Gedanken zu füllen, nur um mich von meinem Leben abzulenken. Und von Sawyer. Der schlief nämlich noch nicht. Er saß seitlich von mir und bohrte mir seit einer halben Stunde mit seinem Blick ein Loch in den Kopf, weil ich mich weigerte, mit ihm zu sprechen.

Aber mal ehrlich, was hatte er denn bei seinem Verhalten erwartet? Wahrscheinlich wartete er einfach nur darauf, dass ich mich in Luft auflöste und ihn nie wieder belästigte.

Ich hasste es, dass sich bei diesem Gedanken mein Herz fast schmerzhaft zusammenzog. Ich wollte das nicht.

Missmutig warf ich einen kleinen Stein ins Feuer und zog damit Akiims Aufmerksamkeit auf mich.

Auch er hatte sich noch nicht hingelegt. Er saß neben mir und wollte Wache halten, denn Gefahren lauerten bekanntlich ja überall.

Ich war mittlerweile zu der Erkenntnis gekommen, dass mein Bruder ein kleinen wenig paranoid war. Sogar noch schlimmer als ich.

Wer konnte ihm das verdenken?

Mich dagegen hielten mal wieder meine Gedanken wach. Eigentlich war ich todmüde, aber solange das Karussell in meinem Kopf nicht aufhörte sich zu drehen, brauchte ich erst gar nicht versuchen mich hinzulegen. Das wäre nichts weiter als vergebene Liebesmüh.

„Hey.“ Akiim stieß mich mit der Schulter an. „Hör auf dich mit deinen Gedanken zu quälen. Wir werden rechtzeitig da sein.“

Rechtzeitig da sein? „Wir haben mehr als einen halben Tag verloren.“ Und das nur weil dieser Schrotthaufen, den Akiim als Jeep bezeichnete, nach zwei Stunden Fahrt beschlossen hatte den Geist aufzugeben. Es hatte Stunden gedauert ihn wieder in Gang zu setzten und es war immer noch nicht sicher, ob er sich nicht jeden Moment wieder von einem fahrenden Hilfsmittel in einen Müllberg ohne Nutzen verwandeln wollte. „Wir werden es niemals rechtzeitig zum Treffpunkt schaffen.“

„Ja, aber wir haben noch genug Zeit und die anderen werden auf uns warten. Selbst wenn wir nach Eden laufen müssten, würden wir das ohne Probleme schaffen.“

Diesen Gedanken fand ich nicht gerade hilfreich. Jede Stunde Verzögerung war eine Stunde mehr, die Marshall in Eden festsaß.

„Und wenn du mich fragst …“

„Sei mir nicht böse, aber ich glaub ich geh mir mal die Beine vertreten.“ Damit würde ich zumindest dem bohrenden Blick von Sawyer entkommen. Und Akiims guten Zureden.

„Muss das sein? Es ist schon dunkel.“

Als wenn mir das entgangen wäre. „Ich werde schon nicht verloren gehen.“ Ich erhob mich, zog meine Jacke gegen die Kälte enger um mich und entfernte mich vom Lagerfeuer.

„Mach nicht zu lange“, murrte er noch mit deutlicher Verärgerung in der Stimme, doch ich tat einfach so, als hätte ich ihn nicht mehr gehört. Wahrscheinlich würde er niemals verstehen, dass ich erwachsen war und seinen Schutz nicht brauchte, besonders nicht bei einem kleinen, nächtlichen Spaziergang.

Wir hatten unser Lager für diese Nacht an einem kleinen See aufgeschlagen, um den rundherum kleinere Ruinen verstreut lagen. Die Umgebung war ziemlich hügelig und nur vereinzelt von Bäumen und Sträuchern bewachsen. 

Die drei Fahrzeuge hatten sie im Halbkreis um das Lager geparkt, ich aber ging in die andere Richtung, hinunter zum See und spürte wie die Anspannung nach und nach von mir abfiel, je weiter ich mich von den anderen entfernte.

In der Nacht hatte ich mich schon immer wohlgefühlt. Ich wusste nicht warum das so war, aber wenn die Stille ihre schützenden Hände um mich legte, konnte ich die Sorgen und Probleme des Tages von mir schieben und einfach nur ich sein. Manchmal war das ein echter Segen.

Langsam trat ich an das Ufer des Sees. Die Wasseroberfläche lag ruhig und unberührt vor mir und spiegelte das Licht des Mondes. Es war … friedlich. So ganz anders als der ständige Krach in meinem Kopf, der mich manchmal nicht mehr klar denken ließ.

Das war es was ich mir wünschte, Frieden. Nicht nur in meinem Kopf, auch in meinem Leben. Ich wollte die Dinge einfach haben, ohne ständige Komplikationen, die alles immer nur erschwerten. Ich wollte frei atmen können, ohne Furcht vor dem was da noch kommen würde. Aber war es nicht genau das, was sich jeder Mensch wünschte? Wir alle hatten Probleme und mussten auf die eine oder andere Art damit klarkommen. Wenn nicht, würden sie uns einfach begraben.

Man war ich heute Abend philosophisch. Wahrscheinlich weil es einfacher war sich mit Nichtigkeiten zu beschäftigen, anstatt sich seinen wahren Problemen zu stellen.

Ich wickelte die Arme um mich und spazierte am Ufer entlang. Was Marshall in diesem Moment wohl tat? Vielleicht lag er gerade in einem Bett und überlegte fieberhaft, wie er der Stadt entkommen konnte, ohne zu wissen, dass Rettung bereits unterwegs war. Genauso hatte ich es jede Nacht in Eden getan. Immer nur von diesem einen Gedanken beseelt, der mein ganzes Handeln gesteuert hatte.

Ob es ihm auch so ging?

Ich konnte nur hoffen, dass sie ihn halbwegs gut behandelten und er nicht zu sehr über die Strenge schlug, damit die Edener sich nicht gezwungen sahen, Maßnahmen zu ergreifen, um ihn zur Räson zu bringen. Aber was wenn … ein schier unglaublicher Gedanke nahm in meinem Kopf Gestalt an und brachte mich für einen Moment aus dem Tritt. Was wenn Marshall bereits kleinbeigegeben und sich eingefügt hatte? Was wenn er gar nicht mehr im Aufnahmeinstitut war, sondern irgendwo in der Stadt? Oder wenn Agnes begriffen hatte, dass er ihr keinen Nutzen brachte? Was wenn er nicht mehr lebte?

Nein. Nein, so durfte ich nicht denken. Wenn ich damit erst anfing, dann würde ich mich nur selber …

Ein Knacken hinter mir ließ mich alarmiert herumwirbeln und in der gleichen Bewegung mein Messer ziehen. Mein Puls schnellte in die Höhe. Ich stand da, bereit meine Waffe einzusetzen, nur um Sawyer zu erblicken, der direkt auf mich zukam. Ich erkannte ihn in der Dunkelheit nur an seinem Kopfschmuck, der im Mondlicht schimmerte.

„Willst du mich abstechen?“, fragte er spöttisch.

Das würde ihm jedenfalls eine Lehre sein, sich nicht mehr so an mich heranzuschleichen. „Verschwinde.“ Ich steckte das Messer zurück in die Scheide und wandte mich wieder ab.

„Nein, wir müssen reden.“ Er lief ein wenig schneller, bis er an meiner Seite war.

Ich beschleunigte sofort meine Schritte. „Ich will aber nicht mit dir reden.“ Ich war hierhergekommen, um endlich mal ein wenig Ruhe zu haben.

„Es ist mir ziemlich egal was du willst.“ Er machte einen Schritt zur Seite und verstellte mir damit den Weg. Mir blieb nur die Wahl stehen zu bleiben, oder in den See zu springen und für ein Bad war es im Moment eindeutig zu kalt. „Ich habe dieses Theater satt.“

„Oh, willst du ein wenig Mitleid?“ Dann war er eindeutig an der falschen Adresse.

„Ich will, dass du mit diesem Scheiß aufhörst.“

„Ich? Ich soll aufhören?“, fragte ich fassungslos. „Du bist es doch, der sich wie der letzte Arsch benimmt.“ Und mich mit diesem Verhalten mehr verletzte, als ich zugeben würde. Das sagte ich natürlich nicht. Ich spießte ihn nur mit einem Blick auf und versuchte an ihm vorbei zu gehen, aber er vertrat mir sofort wieder den Weg. „Hör auf damit.“

„Ich benehme mich wie ein Arsch?“ Er funkelte mich an. „Was machst du dann bitte?“

„Ich versuche dir aus dem Weg zu gehen.“

„Ach so nennst du dein kindisches Verhalten also.“

„Kindisch?“ Wollte er, dass ich ihm eine runterhaute? Er musste nur so weitermachen, dann würde das gleich geschehen. „Das kommt genau von dem Richtigen. Seit wir deine Familie gefunden haben, muss ich mir ständig deine Gemeinheiten gefallen lassen. Du sagst mir wie unwichtig ich dir bin, stichelst bei jeder sich bietenden Gelegenheit und wirfst mir dumme Sprüche an den Kopf. Du verletzt die Menschen um dich herum und es ist dir völlig egal.“

„Die Menschen?“ Er verschränkte die Arme und hob die Augenbrauen. „Wen bitte habe ich verletzt?“

Mich! Ich hätte ihm dieses Wort am liebsten um die Ohren gehauen, aber er würde es nur benutzen, um mich noch tiefer zu treffen. Er hatte jetzt schon zu viel Macht, mehr durfte ich ihm nicht geben. „Du hast Killian verletzt, als du in aller Öffentlichkeit verkündet hast, dass wir miteinander geschlafen haben. Das war einfach nur hinterhältig von dir gewesen.“

„Was, habe ich dir etwa die Tour vermasselt und er lässt dich jetzt nicht mehr ran? Das tut mir aber leid.“ Die letzten Worte trieften nur so vor Sarkasmus.

Ich schüttelte den Kopf. „Wie kann ein einziger Mensch nur so bösartig sein? Du weißt, dass Killian etwas für mich empfindet und ihm das auf diese Art zu sagen, war einfach nur grausam gewesen.“

 „Ich bin weder bösartig, noch grausam, ich stelle die Dinge nur klar. Es ist nicht mein Problem, wenn er damit nicht klarkommt.“

„Natürlich nicht, du verdammter Egoist. Alles ist erlaubt, Hauptsache die anderen bekommen den Schaden. Du bist so selbstgefällig, dass du allen um dich herum die Luft zum Atmen nimmst und es nicht einmal bemerkst. Das ist die Definition von Bösartig.“ 

Wut flammte in seinen Augen auf. „Wenn ich selbstgefällig bin, was bist du dann? Bei all deinen Schmähungen scheinst du ganz vergessen zu haben, was ich bereits alles für dich getan habe.“

„Du? Für mich?“ Meine Augen wurden groß. „Du hast gar nichts für mich getan.“

„Ich habe dir geholfen aus Eden zu entkommen“, knurrte er. Er ließ die Arme fallen und beugte sich mir etwas entgegen, doch ich weigerte mich auch nur einen Schritt zurückzuweichen. „Ich habe dir ein Ziel gegeben, als deine hasenfüßige Mischpoche dich mit einem Arschtritt vor die Tür gesetzt hast. Nur wegen mir hast du wieder ein Zuhause!“

„Wegen dir?“ Ich lachte scharf auf. „Du wolltest schon aufgeben, als wir die Siedlung deines Vaters erreicht haben und es dort nichts als verbrannte Erde gab. Ich habe gesagt, wir sollen weitersuchen und das nur, wegen dem Elend in deinem Gesicht.“

Wut flammte in seinem Auge auf. „Wenn dir mein Gesicht so zuwider ist, dann verschwinde doch einfach!“

„Genau das wollte ich schon vor Wochen, aber in meinem beschissenen Leben läuft ja nie etwas so wie ich es will!“

„Was?“ Das hatte ihn unvorbereitet getroffen. Die Wut verschwand und wich Verwirrung. „Was meinst du damit, du wolltest schon vor Wochen verschwinden?“

Verdammt, er hatte mich so in Rage gebracht, dass ich nicht mehr darüber nachdachte, was ich ihm alles entgegen spie. Das hatte er nicht erfahren sollen, das war meine Sache und ging niemanden etwas an. „Ist doch egal, es hat sich erledigt.“

Ich wandte mich ab. Wenn er mich nicht vorbeilassen wollte, konnte ich auch zurück ins Lager gehen. Mit meiner Ruhe war es sowieso vorbei. Im Augenblick wollte ich einfach nur weg von ihm. Doch Sawyer wollte das Gespräch nicht so enden lassen. Er brauchte nur zwei Schritte mit seinen langen Beinen, um mir erneut den Weg zu verstellen.

„Sag es mir“, forderte er.

Ich funkelte ihn wütend an und hätte ihm am liebsten wehgetan, damit er endlich verschwand. „Warum sollte ich dir irgendwas sagen? Warum bist du überhaupt hier?“ Und damit meinte ich nicht nur hier am See, sondern auf dieser Mission. Er konnte Marshall nicht ausstehen, genauso wenig wie mich. Es gab für ihn absolut keinen Grund hier zu sein.

Sawyer mahlte angestrengt mit seinem Kiefer, als müsste er sich zurückhalten, um nicht etwas Unüberlegtes zu sagen, was einfach nur ein Witz war, wenn man bedachte, was er sonst so alles vom Stapel ließ. „Ich will, dass wir damit aufhören“, sagte er dann, wobei es eher ein halbes knurren war. „Ich will einen Waffenstillstand. So wie es gerade ist, ist es doch scheiße und ich habe das langsam wirklich satt.“

„Einen Waffenstillstand?“ Ich lachte ihm ins Gesicht. So etwas Dummes hatte ich noch nie von ihm gehört und das war wirklich eine Leistung. „Wozu? Nur um mir bei nächster Gelegenheit wieder zu zeigen, wie sehr du mich verabscheust?“

„Dich verabscheuen?“ Sawyer verzog verwirrt das Gesicht, als hätte er nicht die geringste Ahnung, wovon ich da eigentlich sprach. „Wie kommst du schon wieder auf so einen Mist?“

„Tu doch nicht so!“, brach es aus mir hervor, zusammen mit dem ganzen Schmerz der letzten Tage. Dass er jetzt so tat, als wüsste er nicht wovon ich sprach, machte mich wirklich wütend. „Du hast mit mir geschlafen und das zahlst du mir nun bei jeder sich bietenden Gelegenheit heim! Jetzt bin ich für dich doch auch nur eine weitere Celeste, Verabscheuungswürdig und nur zu ertragen, wenn ich möglichst weit weg bin!“

„Spinnst du jetzt komplett?“ Er schien wirklich fassungslos. „Du bist es doch, die sich die ganze Zeit von mir distanziert! Du hast gesagt, du willst gehen! Du hast mich nach unserem Kuss tagelang gemieden! Du hast mich gevögelt, nur um dich in der Nacht an deinen heißgeliebten Killian zu kuscheln! Du bist es, die immer wieder vor mir davonläuft, nicht ich, du!“

„Du warst doch erleichtert darüber! Du kannst es kaum ertragen, von einer Frau berührt zu werden und die letzten Tage warst du so widerlich zu mir, dass ich gar nichts anderes tun konnte, als vor dir davon zu laufen! Deutlicher kannst du mir nicht zeigen, wie sehr du mich verabscheust!“ Und das tat einfach nur weh. Es war ein Schmerz, wie ich ihn noch nie gefühlt hatte und davon konnte ich nun wirklich nicht noch mehr gebrauchen.

Ich hatte genug. Genug von ihm, genug von all meinen Problemen und genug von diesem ganzen Leben. Ich fuhr herum, wollte einfach nur noch weg von ihm, doch ich hatte noch keinen Schritt gemacht, da packte er mich am Arm und riss mich zu sich zurück. Ich prallte gegen seine Brust und im nächsten Moment drückte er seine Lippen auf meine.

Ich erstarrte. Einen Augenblick war ich so schockiert, dass ich mich nicht rühren konnte, während Verwirrung, Angst und auch Freude auf mich einströmten. Doch schon in der nächsten Sekunde wurde das alles von meiner aufsteigenden Wut in den Schatten gestellt. Ich stieß ihn so heftig vor die Brust, dass er zurückstolperte und nur nicht auf dem Hintern landete, weil er sich rechtzeitig an einem Baum festhielt.

„Was stimmt nicht mit dir?!“, schrie ich ihn an und spürte zu meinem Schrecken wie Tränen der Wut in meinen Augen zu brennen begannen. Das durfte doch jetzt nicht wahr sein!

Hastig wirbelte ich herum und lief einfach los. Ich dachte gar nicht darüber nach, als ich direkt in eine der Ruinen hineinmarschierte. Die ganzen Gefühle, die in meinem Inneren um die Vorherrschaft kämpften, vernebelten mir das Hirn und ließen mich nicht mehr klar denken.

Erst schlief er mit mir, dann behandelte er mich wie den letzten Abschaum, nur um mich dann aus heiterem Himmel zu küssen? Dem sollte mal einer …

Ich wurde an der Schulter gepackt, herumgedreht und nicht allzu sanft mit dem Rücken gegen die nächste Wand gedrückt. Es geschah so schnell, dass mir gar keine Chance zum reagieren blieb. Dann presste er seine Lippen schon wieder auf meine, grob, als wollte er mich damit bestrafen und etwas in mir wollte sofort darauf eingehen, alles vergessen und einfach mitmachen. Doch bevor ich entscheiden konnte, was ich nun tun sollte, löste er seinen Mund von mir und funkelte mich wütend an. „Ich verabscheue dich nicht, aber ich bin auch nicht aus Stein!“

Mein Herz trommelte aufgeregt gegen meine Rippen. „Was bei Gaias Zorn soll das jetzt wieder heißen?!“

„Du vögelst mit mir und sagst mir dann, ich soll nicht so ein großes Ding daraus machen! Als hätte es dich gejuckt und du hättest mich nur gebraucht, um dich zu kratzen!“ Er sagte das mit einer solchen Wut in der Stimme, dass ich plötzlich wie vor den Kopf geschlagen war.

Als hätte es mich gejuckt? So sah er es? Als wäre es für mich völlig bedeutungslos gewesen? Aber so war es nicht. Es hatte mir etwas bedeutet. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich mit einem anderen Menschen so verbunden gefühlt. Doch mit dieser Nähe war auch die Angst gekommen und es hatte für mich nur einen Ausweg gegeben: Ich wollte es ihm so leicht wie möglich machen. „Ich dachte, das ist das was du willst.“

„Pech gehabt, falsch gedacht.“

Mit einem Mal beschleunigte mein Herz aus einem ganz anderen Grund.

Sein Blick war stahlhart, doch seine Stimme fast weich, als er leise sagte: „Ich bin kein Spielzeug, Baby.“

Und mit meinem Verhalten hatte ich ihn dazu gemacht, genau wie die Frauen in Eden. Dabei hatte ich nur versucht mich selber zu schützen, ohne zu verstehen, was ich ihm damit antat.

Ich hatte alles falsch gemacht. Ich hatte geglaubt zu wissen, was in ihm vor sich ging und was er wollte, doch damit hatte ich es für uns beide unerträglich gemacht. „Du bist kein Spielzeug.“ Ich musste schlucken. Mein Mund wurde trocken und auf einmal schlug mir mein Herz bis zum Hals. Ich fürchtete mich vor den nächsten Worten und schaffte es kaum sie über die Lippen zu bringen. „Nicht für mich.“ Das was zwischen uns war verstand ich zwar nicht, aber für mich war es kein Spiel.

Seine Augen weiteten sich ganz leicht. Ich hatte leise gesprochen, aber er hatte mich gehört. Und plötzlich gab es zwischen uns kein Halten mehr.

Seine Lippen pressten sich auf meine und auch wenn ich wusste, dass es nur in einer Katastrophe enden konnte, ließ ich es nicht nur zu, ich hieß ihn sogar willkommen.

Es war, als hätte seine Maske einen Riss bekommen und durch diesen Riss sickerte nun alles, was er die ganze Zeit vor mir verborgen hatte. Er küsste mich nicht nur, er verschlang mich regelrecht und ließ mir keine andere Wahl, als mich mit Haut und Haar darauf einzulassen.

Meine Arme schlangen sich um seinen Nacken, meine Hände gruben sich in sein Haar und streiften den Kopfschmuck, während er mich bei der Hüfte packte und sich mit seinem ganzen Körper gegen mich presste.

All meine Zweifel und Sorgen lösten sich in Luft auf, den hier und jetzt gab es in meinem Kopf nur Platz für einen einzigen Gedanken: Sawyer. Mein ganzes Denken war erfüllt von ihm. Wie er sich anfühlte, wie er mich berührte, wie er roch und wie ich ihn dazu bekommen würde, niemals wieder hiermit aufzuhören. Das hier war mehr als nur ein Rausch, es war, als hätte ich etwas gefunden, von dem ich nicht mal gewusst hatte, dass es mir fehlte. Und ich wollte es nie mehr verlieren. Oh Gaia, ich wollte ihn nicht verlieren.

Ich krallte meine Finger in sein Haar, schmiegte mich an ihn und küsste ihn. In diesem Moment war er die Luft die ich zum Atmen brauchte.

Sein Griff wurde fester, seine Erregung wuchs und drückte hart gegen meinen Bauch und tief in mir erwachte meine Lust auf so viel mehr.

Ich löste meine Finger aus seinem Haar, ließ sie zum Kragen seiner offenen Jacke gleiten, hinunter zu seiner Brust und dem wild schlagenden Herzen. Dabei streifte ich das Stück nackter Haut an seinem Halsausschnitt, das ich immer so verlockend fand und spürte ihn erschaudern.

Sawyer schob seine Hände unter mein Hemd und strich langsam meinen Rücken hinauf. Kühle Luft streifte meine Haut. Ein angenehmer Schauder überlief mich. Seine Lippen folgten meiner Kinnlinie, küssten meine Kehle und hinterließen eine brennende Spur.

Meine Augen schlossen sich flatternd und sofort spürte ich seine Berührungen noch intensiver.

„Du riechst so gut“, raunte er an meiner Haut. „Ich bekomme nicht genug davon.“

Ich wusste ganz genau was er meinte. Es war wie eine Droge, von der man süchtig werden konnte und das in mehr als nur einer Hinsicht.

Meine Hand glitt an ihm hinab, immer tiefer, bis ich seine Erektion fand. Ich zögerte nicht, schloss meine Finger über seiner Hose und entlockte ihm damit ein Ächzen. Als ich dann auch noch begann, meine Hand langsam auf und ab zu bewegen, bewegte er sich rhythmisch dagegen.

Sein Atem wurde schwerer und einen Moment genoss ich es einfach nur diese Macht über ihn zu haben. Es war so einfach und so berauschend.

Ich konzentrierte mich auf ihn und darauf ihn zu reizen. Dabei entging mir aber nicht, wie seine Hand ihren Weg nach vorne fand. Dieses Mal trieb er keine Spielchen mit mir. Er umfasste meine Brust, strich mit dem Daumen über die aufgerichtete Spitze und jagte damit einen Blitzschlag in meinen Körper. Ich spürte die Lust in meiner Mitte erblühen und die Hitze in mir aufsteigen. Ein Stöhnen kroch aus meiner Kehle.

„Ich liebe dieses Geräusch“, murmelte er und eroberte gierig meinen Mund zurück. Er biss mir in die Unterlippe, leckte darüber und jagte dabei einen Stromstoß nach dem anderen in mich hinein.

„Was machst du mit mir?“, murmelte ich. „Ich verstehe das nicht.“ Ich verstand nicht, wie er es schaffte, mich so fühlen zu lassen. Wie war es gekommen, dass ich mich so nach ihm verzerrte und ich einfach nicht genug von ihm bekommen konnte? Ich wusste nicht ob das normal war und auch nicht wie ich aus diesem Strudel entkommen konnte, der mich immer tiefer in seinen Bann zog. Ich wusste nicht mal, ob ich aus diesem Strudel entkommen wollte, denn es fühlte sich einfach viel zu gut an.

Als sein Daumen meine Brustwarze umkreiste, schloss ich die Hand fester um seinen Penis. Er atmete zischend ein und presste mich gegen die kalte Steinmauer. Die kühlen Ziegel waren an meiner erhitzten Haut ein kleiner Schock, der meinen Atem für einen Moment stocken ließ.

Mein Gürtel lockerte sich und fiel zu Boden. Das Band an meiner Hose wurde gelöst und dann spürte ich seine Hand in den Löckchen meiner Scham.

„Spreiz deine Beine, Baby.“

Mein überreiztes Hirn brauchte einen Moment um seine Aufforderung zu verarbeiten und ihr nachzukommen. Dann konzentrierten sich all meine Sinne auf seine Finger, die langsam und aufreizend tiefer glitten.

Ich schnappte nach Luft, als er meine Mitte berührte und seinen Finger darum kreisen ließ, nur um anschließend tief in meine feuchte Hitze einzutauchen.

Dieses Gefühl, es war unbeschreiblich. Es überschwemmte meinen ganzen Körper. Meine Haut wurde hochsensibel und jede noch so kleine Berührung ließ sie kribbeln.

Seine Hand begann sich rhythmisch zu bewegen und entlockte mir ein Stöhnen. Seine Lippen teilten sich, als er mein Gesicht beobachtete. Er schien fasziniert von dem was er sah.

Ich spürte wie meine Lust schlagartig zunahm und musste dem Drang widerstehen, meine Beine zusammenzukneifen, um den Druck zu erhöhen. Stattdessen öffnete ich sie ein wenig weiter, damit er besser herankam. Dabei stellte ich fest, wie sehr mich die Kleidung störte, doch um sie auszuziehen, war es eindeutig zu kalt.

Als mir aufging, dass meine Hand sich schon eine ganze Weile nicht mehr bewegte, begann ich ihn wieder zu massieren. Ich war so auf mich fixiert gewesen, dass ich ihn glatt vergessen hatte, doch ich wollte, dass er das gleiche spürte wie ich. Ich wollte, dass er sich genauso in diesen Gefühlen verlor, bis er nicht mehr wusste wo oben und unten war.

„Oh verdammt“, knurrte er und vergrub sein Gesicht an meiner Halsbeuge. Seine Zähne zwickten mich leicht in die Haut und leckten dann darüber. „Ich brauche mehr“, raunte er und sog meinen Geruch tief in seine Lungen. „Ich will dich.“

Jetzt?! Nicht dass ich damit ein Problem hatte. Genaugenommen war ich genauso begierig wie er, nur … „Es ist eiskalt.“

„Ich werde schon dafür sorgen, dass du nicht frierst.“

Ich hatte keinen Grund an seinen Worten zu zweifeln, denn er sorgte jetzt bereits dafür, dass mir heiß war. Doch so sehr er es auch wollte, eilig hatte er es damit nicht. Er machte einfach immer weiter und trieb mich höher und höher, solange, bis ich fast vergessen hatte, was er vorhatte. Er brachte mich an den Punkt, an dem ich nichts mehr anderes wollte, als zu fühlen – ihn zu fühlen – und alles andere um mich herum zu vergessen.

Die Lust pulsierte in mir und ballte sich zusammen. Mein Atem wurde hektischer und alles in mir strebte diesem einen Ziel entgegen. Ich konnte spüren …

Als er mich plötzlich ohne Vorwarnung herumwirbelte, war ich davon so überrascht, dass ich fast das Gleichgewicht verloren hätte und einen Moment brauchte um zu verstehen, was hier gerade geschah. Er hatte mich mit dem Gesicht zur Wand gedreht und stand nun hinter mir. Er hatte seine Hand weggenommen. Er hatte sie einfach weggenommen!

„Stütz dich an der Wand ab“, forderte Sawyer, während ich realisierte, dass er es schon wieder getan hatte. Erst trieb er mich auf die Spitze, nur um kurz vor dem ersehnten Ziel aufzuhören. Das war frustrierend. Und erregend. Ich wollte mehr davon. Und ich wollte ihn dafür erwürgen.

Dieser Mann trieb mich wirklich noch in den Wahnsinn.

„Ein bisschen tiefer.“ Seine Stimme klang heiser. Seine Hand drückte in mein Kreuz, bis ich meine Position ein wenig veränderte. „Ja, genau so. So ist es gut.“

Während ich mich mit den Unterarmen an der Wand abstützte und versuchte meinen Atem ein wenig unter Kontrolle zu bekommen, strich Sawyer mir über die Hüfte und schob dabei meine Hose über meinen Hintern. Sie rutschte an meinen Beinen hinab und blieb an meinen Stiefeln hängen.

Die kühle Luft strich über meine erhitzte Haut, doch das war es nicht, was mich zittern ließ. Es war seine Hand, die fast anbetungswürdig über meinen Po strich und dann sehr gezielt zwischen meinen Beinen abtauchte.

Ich stöhnte, als er meine Mitte fast wie zufällig streifte und versuchte meine Beine weiter auseinanderzustellen, doch die Hose verhinderte das.

„Nein“, sagte Sawyer. „Bleib so, beweg dich nicht.“

Ich warf einen Blick über die Schulter, wollte wissen, warum ich mich nicht bewegen sollte.

Während Sawyer mich mit seinen Fingern reizte, öffnete er seine Hose gerade weit genug, um seine harte Erektion herauszuholen. Er umfasste sich selber und rieb ein paar Mal an sich auf und ab. Aus irgendeinem Grund fand ich das unglaublich erotisch. Dabei war sein Blick auf meinen Hintern gerichtet. Er schaute genau dabei zu, wie er mich reizte und dazu brachte, mich unter seinen Berührungen zu winden.

Als er bemerkte, wie ich ihn dabei beobachtete, trat ein verruchtes Funkeln in seine Augen. „Das gefällt dir.“ Das war keine Frage und als er dann auch noch anfing, sich aufreizend langsam selber zu bearbeiten, hätte ich fast gestöhnt. Nur wusste ich nicht, ob wegen des Anblicks, oder wegen seinen Fingern, die sich sündhaft zwischen meinen Beinen bewegten.

„Sawyer.“ Es war ein Flehen. Und eine Klage und er schien ganz genau zu verstehen, was ich wollte – nein, brauchte. Er packte mich an der Hüfte, brachte sich in Position und dann spürte ich, wie er mich langsam eroberte.

Wir stöhnten beide gleichzeitig. Meine Augen fielen zu, meine inneren Nerven tanzten und befeuerten meine Lust. Meine ganze Haut begann zu kribbeln. Es wurde sogar noch intensiver, als er sich langsam wieder herauszog, nur um gleich darauf wieder in mich einzudringen. Und noch mal. Und noch einmal. Immer und immer wieder. Erst nur langsam, doch mit der Zeit erhöhte er das Tempo. Dabei traf er immer genau den richtigen Punkt, steigerte dieses Gefühl mit jedem Stoß, bis meine Haut mir langsam zu eng wurde.

In meinem Kopf begann sich alles zu drehen und vor meinen Augen tanzten kleine Punkte. Meine Beine begannen zu zittern, während mein Atem immer schneller wurde und mein Blut in meinen Ohren rauschte.

Er schob eine Hand unter mein Hemd und umfasste meine Brust. Seine Finger spielten mit der harten Spitze, bis dieses Gefühl fast zu viel für mich wurde. Gleichzeitig spürte ich seine andere Hand zwischen meinen Beinen, wie sie mich reizte und mein eh schon vernebeltes Hirn war bald zu keinem klaren Gedanken mehr fähig.

Ich hatte das Gefühl den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er war das Einzige, was mich hier hielt und das Einzige, was in diesem Moment wirklich zählte.

Als er das Tempo erhöhte und das Klatschen unserer Körper die Stille der Nacht zerriss, stöhnte ich laut auf und griff nach hinten, weil ich das Gefühl hatte, mich an ihm festhalten zu müssen, um nicht verloren zu gehen.

Ich hörte seinen schnellen Atem an meinem Ohr, spürte wie er in mir anschwoll und meine Erregung ihren Gipfel erreichte. Und dann … ging ich einfach über die Klippe. Es war keine Explosion, es war eine Befreiung, die meinen Körper wie eine Welle überschwemmte. Alles was mich daran hinderte fortgeschwemmt zu werden, war seine Umarmung.

Er hielt mich fest an sich gedrückt, während er sich noch ein paar Mal tief in mich bohrte und dieses Gefühl damit nur noch verlängerte. Ich spürte wie er zu pulsieren begann und seinen Höhepunkt mit einem Stöhnen und einem letzten Stoß in mich entlud.

Dann standen wir da, schwer atmend im Nachhall des Erlebten, während die Stille der Nacht sich wie eine schwere Decke über uns legte. Es fühlte sich gut an, richtig, als sollte es genau so sein.

Seine Hand strich über meinen Bauch, als wollte er mir dabei helfen mich zu beruhigen. Seine Lippen hauchten einen Kuss auf meinen Nacken und jagten ein angenehmes Kribbeln über meine Haut.

Ich wartete darauf, dass meine Gedanken wieder zu kreisen begannen und mich in diesen Strudel rissen, bei dem nie etwas Gutes herauskam, aber das geschah nicht. Mein Kopf blieb still. Ich hielt es nicht für einen Fehler. Da war keine Reue und auch keine Angst vor dem was als nächstes kam und wie ich damit umgehen sollte. Ich fühlte mich einfach nur gut und genoss es ihm so nahe zu sein.

Ich wollte das hier. Ich wollte noch viel mehr, aber was ich nicht mehr wollte, war dieser sinnlose Streit zwischen uns. Er hatte recht gehabt, ich war vor ihm weggelaufen, aber damit würde jetzt Schluss sein. „In Ordnung“, murmelte ich, noch immer damit beschäftigt, meine Atmung und meinen Puls wieder auf ein normales Level zu bekommen.

„In Ordnung?“ Eine leichte Verwirrung klang in seiner Stimme mit.

„Ja, in Ordnung.“ Ich drehte den Kopf, um ihn ansehen zu können. Er hatte die Augenbrauen leicht zusammengezogen und wartete offenbar auf eine Erklärung. „Lass uns einen Waffenstillstand schließen.“

Verstehen machte sich auf seinem Gesicht breit und wandelte sich dann in ein selbstzufriedenes Lächeln. „So gut war ich, ja?“

Mit einem Augenverdrehen, drückte ich mich von der Wand weg und richtete mich auf. Hätte mir eigentlich klar sein müssen, dass da so was kommen würde.

Als er aus mir herausglitt, vermisste ich seine Nähe sofort, was einfach nur albern war, denn er war ja nicht fort, er stand genau hinter mir. Dann aber stand ich vor einem ganz anderen Problem. „Ähm … du hast nicht zufällig ein Tuch oder sowas dabei, oder?“ Ich mochte es nämlich nicht, wenn es die ganze Zeit klebrig zwischen meinen Beinen war.

Er schloss gerade seine Hose, zog dann aber mit einem halben Grinsen ein Tuch aus seiner Jackentasche und reichte es mir. „Hier, du kannst es behalten.“

„Danke.“ Ich säuberte mich damit so gut wie es ging und steckte es nach einiger Überlegung in meine Jackentasche. Ich konnte es später waschen.

Da es an meinem nackten Hintern langsam ein wenig kühl wurde, zog ich mir meine Hose hoch. Dabei bemerkte ich meinen Gürtel auf dem Boden. Wann hatte ich den abgenommen? Oder war er das gewesen? Ich hatte keine Ahnung. Da waren so viele Eindrücke in meinem Kopf, dass diese Kleinigkeit völlig unbedeutend war. Und da mein Körper noch immer prickelte, war Denken im Moment sowieso nicht meins.

Da ich ihn aber schmerzlich vermissen würde, wenn ich ihn zurückließ, klaubte ich ihn vom Boden und war gerade dabei die Schnalle zu schließen, als Sawyer direkt vor mich trat. Ich war ein wenig überrascht, als er mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger nahm und mein Gesicht leicht anhob.

Sein Blick in diesem Moment, er ließ meinen Atem stocken. Er hatte die Maske abgelegt und was ich da sah war weder Sehnsucht noch Furcht. Es war auch keine Verwirrung, oder Unsicherheit. Es war eine Mischung aus allem. Gleichzeitig musterte er mein Gesicht, als versuchte er herauszufinden, was ihn nun erwartete.

Ich wusste nicht ob er fand was er suchte, doch als er sich zu mir vorbeugte, schloss ich meine Augen.

Der Kuss war sanft, ruhig und so zärtlich, dass mein Herz sich fast schmerzhaft zusammenzog. Er war ganz anders als das was eben zwischen uns geschehen war.

In diesem Moment hatte ich das Gefühl, er würde all die zerbrochenen Teile von mir wieder zusammensetzten und mich ein kleinen wenig heilen. Es war ein bittersüßes Gefühl und traf mich tief ins Mark.

Ich war mir sicher, dass es ihm nicht genauso erging. Aber irgendwas musste da sein. Er hatte es doch selber gesagt, er war nicht aus Stein und er war zu mir gekommen.

Ich wusste nicht wie lange wir dort standen und diese fast schon fremde Zärtlichkeit bis zum letzten Tropfen auskosteten. Da war nichts außer wir beide und dieses Gefühl in der Dunkelheit der Nacht. Ein Kuss so süß wie Honig, der etwas so tief in mir berührte, dass es einem Angst machen konnte. Aber ich würde mich von dieser Angst nicht mehr beherrschen lassen. Ich wollte das hier.

Wir standen eine ganze Weile dort, doch als er den Kuss löste, war es trotzdem zu früh.

Nur sehr langsam öffneten sich meine Augen. Sein Gesicht war dicht vor meinen, sein Blick dunkel, seine Lippen von unserem Kuss geschwollen. Seine Finger hielten mein Kinn noch immer fest.

„Warum hast du das gemacht?“, fragte ich sehr leise. Ich musste es wissen.

In der folgenden Stille hörte ich irgendwo in den Bäumen ein Käuzchen rufen.

„Ich sage es dir, wenn ich es weiß.“ Seine Worte waren genauso leise wie meine.

Er wusste es nicht. Er entfachte dieses süße Gefühl in mir und wusste nicht mal warum er es tat. Vielleicht weil dies hier genauso Neuland für ihn war, wie für mich. Ich wusste zwar nicht, ob er für mich das Gleiche empfand wie ich für ihn, doch dass ich ihn nicht kalt ließ, hatte er mir sehr deutlich gemacht.

Als weiter nichts geschah, weil er scheinbar genauso wenig wusste was er tun oder sagen sollte wie ich, meinte ich: „Wir sollten besser zurückgehen, bevor uns jemand suchen kommt.“ Denn das war ein Augenblick, in dem ich meinen Bruder ganz sicher nicht sehen wollte und ich war mir sicher, dass er mich früher oder später würde suchen kommen. Es war fast schon ein Wunder, dass er bisher noch nicht aufgetaucht war.

„Das sollten wir“, stimmte er mir zu.

Stille, nichts rührte sich.

„Du bewegst dich gar nicht.“

Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und ließ ihn fröhlich aussehen. Dieses Lächeln kannte ich, doch bisher hatte ich es nur gesehen, wenn er mit Salia zusammen war. Dieses Mal jedoch galt es mir, ganz alleine mir. Mein Herz schlug vor Begeisterung.

„Du auch nicht“, sagte er leise.

Was … ach ja, bewegen und zurückgehen. Es kostete mich einige Anstrengungen, einen Schritt zurückzuweichen. Den Blick abzuwenden war völlig unmöglich, doch dann rutschte mir mein Gürtel von der Hüfte und ich wäre fast darüber gestolpert.

Sawyer lachte leise, als ich mich bückte und ihn erneut aufhob. Dieses Mal achtete ich sorgsam darauf ihn richtig zu schließen, denn ich hatte keine Lust darüber zu stolpern und mir den Hals zu brechen. Er wartete auf mich, bis ich so weit war, dann begaben wir uns Seite an Seite auf den Rückweg.

Wir verließen die Ruine und liefen am Ufer des Sees entlang. Ich hatte die Arme gegen die Kälte verschränkt und fühlte mich seltsam friedlich. Worte waren gar nicht nötig, es reichte mir schon, dass er neben mir herlief und sein Arm mich bei jedem zweiten Schritt streifte. Das war viel besser als das, was nach dem letzten Mal geschehen war.

„Was hast du damit gemeint, du wolltest schon vor Wochen verschwinden?“, fragte er nach der Hälfte der Strecke.

Mist, das hatte ich ja schon völlig vergessen. Eigentlich wollte ich mich nicht erklären, aber ich wollte diesen frischen Frieden zwischen uns auch nicht gleich wieder zerstören. „Du wolltest zu der Siedlung deines Vaters, aber ich wollte keine Menschen um mich haben.“ Menschen verletzten einen nur und schlugen einem das Vertrauen, das man ihnen gab, um die Ohren.

Er schaute stur geradeaus, als er fragte: „Du wolltest also einfach still und heimlich verschwinden?“

„Nein“, konnte ich ganz ehrlich sagen. Ich kickte einen Ast ins Wasser, der meinen Weg kreuzte. Es plätscherte leise. „Ich wollte dich und Salia sicher zu deinem Vater bringen und wenn ich mich davon überzeugt hätte, dass es euch dort gut geht, wäre ich mit Killian weitergezogen.“

Seine Lippen pressten sich leicht aufeinander. Er versuchte es sich nicht anmerken zu lassen, doch ich sah den unwilligen Zug um seinen Mund, als ich unseren Arzt erwähnte. „Warum hast du das nie gesagt?“

„Was hätte es gebracht?“ Außer endlosen Diskussionen und verletzten Gefühlen. Wobei mein Schweigen wohl mehr Selbstschutz als alles andere gewesen war. Ich hätte es einfach nicht ertragen, wenn ihm meine Entscheidung völlig kalt gelassen hätte. „Es hat sich doch eh erledigt“, fügte ich noch hinzu.

Ein paar Schritte blieb er still. „Und jetzt? Willst du immer noch gehen?“

Das war eine schwierige Frage. Es gab gute Gründe zu bleiben, aber genauso gute Gründe hatte ich auch zu gehen. Ein Leben bei den Rebellen war einfach nicht das was ich mir wünschte. „Ich weiß es nicht“, sagte ich daher, weil ich keine andere Antwort für ihn hatte.

Er musterte mich von der Seite. „Wenn du gehst, tu es nicht heimlich.“

Ein wenig überrascht, warf ich ihm einen kurzen Blick zu. Das war so … erwachsen. „Mach ich nicht.“

„Und such dir ein Plätzchen in der Nähe, damit ich dich besuchen und piesacken kann.“

Gegen meinen Willen musste ich lächeln. „Versprochen.“

Vor uns aus der Dunkelheit tauchte das sanfte Glühen des Lagerfeuers auf.

„Wohin wolltest du gehen?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, irgendwo in den Süden. Ich wollte immer mal das Meer sehen.“

„Das Meer?“

„Hmh. Azurblaues Wasser, weiße Sandstrände …“

„Sonnenbrand und Möwenkacke.“

„Hey.“ Ich stieß ihn mit der Schulter an. „Mach mir meinen Traum nicht kaputt.“

Er lachte leise.

Aus der Dunkelheit schälten sich die Silhouetten der Fahrzeuge heraus.

Ich lief langsam, denn ich hatte es nicht eilig zurückzukommen. Aber ich hatte noch eine Frage, die mich schon seit gestern beschäftigte. „Warum bist du mitgekommen? Ich weiß, dass du diese Aktion hirnrissig findest und Marshall nicht leiden kannst. Für dich besteht kein Grund, dich in Gefahr zu bringen.“ Besonders da er noch Salia hatte, die bestimmt nicht sehr erfreut war, dass ihr Vater auf geheimer Mission unterwegs war, während sie bei ihren Tanten bleiben musste.

„Ich bin wegen dir mitgekommen“, sagte er geradeheraus.

Wegen mir? „Hast du dir etwa Sorgen um mich gemacht?“

Er warf mir aus dem Augenwinkel einen kurzen Blick zu. „Sagen wir mal so: Ich dachte es sei besser, dich im Auge zu behalten – nur für den Fall, dass ich dich irgendwann noch einmal gebrauchen kann.“

„Wie nett.“

„Du weißt doch Baby, Eigennutz, nichts als Eigennutz.“

Ich hörte was er sagte und trotzdem breitete sich ein warmes Gefühl in meiner Brust aus. Das war kein Eigennutz, denn er hatte absolut nichts davon. Er war also nur wegen mir mitgekommen, um auf mich aufzupassen. Das war die einzig, logische Erklärung.

Dieser Gedanke berührte mich und wollte mich nicht mehr loslassen. Ich war ihm nicht egal und das bedeutete mir sehr viel.

Als wir das Lager erreichten, war das Feuer bereits bis auf die Glut heruntergebrannt. Akiim war als einziger noch wach und hockte, wie eine unheimliche Gestalt daneben. Er schaute uns entgegen, als wir uns näherten, sagte aber nichts.

„Ich glaube, er will mich ermorden“, murmelte Sawyer.

Mein Mundwinkel zuckte nach oben. „Du machst dir halt überall Freunde.“

Sein leises Lachen klang in meinen Ohren nach, als ich mir eine Decke schnappte und mich mit ihr neben Killian auf dem Boden ausstreckte. Heute Abend war ich mehr als bereit zu schlafen. Allerdings schaffte ich es nicht meinen Blick von Sawyer abzuwenden. Ich beobachtete, wie er seine eigene Decke holte und damit zu mir kam.

Das war nicht so ungewöhnlich, wir schliefen eigentlich immer in der Nähe des anderen. Dagegen war es schon sehr ungewöhnlich, wie nahe er sich neben mir niederließ.

„Was machst du da?“, wollte ich wissen, als er sich direkt neben mir ausstreckte und seine Decke über uns beiden ausbreitete.

„Es ist kalt und ich bin warm. Ich habe dir doch versprochen, dass ich dich warmhalten werde.“ Er machte es sich neben mir bequem, legte einen Arm um mich und zog mich an sich heran. Noch ein tiefer Atemzug, dann entspannte er sich und kam zur Ruhe.

Mein Gesicht lag an seiner Brust und ich konnte mit jedem Atemzug seinen Geruch einatmen. Es war ein seltsames Gefühl, so von ihm im Arm gehalten zu werden. Ich wusste nicht, wann mir das letzte Mal ein Mensch so nahe gewesen war. Da musste ich noch ein Kind gewesen sein. In den Armen eines erwachsenen Mannes hatte ich jedenfalls noch nie geschlafen.

Aber ich würde mich nicht beklagen, denn auch wenn es irgendwie seltsam war, so fühlte es sich nicht schlecht an. Ich fühlte mich geborgen und geschützt und das war etwas, das mir schon eine ganze Weile nicht mehr passiert war. Darum kuschelte ich mich noch ein wenig enger an ihn und ließ mich von seiner Wärme umfangen. Meine Augen schlossen sich und auch wenn ich es nicht für möglich gehalten hätte, versank ich gleich darauf in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

 

oOo

Kapitel 55

 

Die Landschaft flog rasend schnell an uns vorbei. Ich musste mich am Fahrersitz festhalten, um nicht bei jeder Bodenwelle mit dem Kopf gegen das Autodach zu knallen. Der Sitz war unbequem und irgendwas pikte mich die ganze Zeit in den Hintern. Trotzdem erschien ein Lächeln auf meinen Lippen, als ich Sawyers Blick begegnete. Seine Augen blitzten verspielt auf und sei Mundwinkel hob sich leicht.

„Wenn wir das Tempo weiter so halten können, werden wir spätestens morgen Nachmittag da sein“, ließ Akiim uns wissen. Er saß hinter dem Steuer, Sawyer neben ihm auf dem Beifahrersitz.

Hinten bei mir auf der Bank saß Killian und musterte mich.

„Was ist?“, fragte ich.

„Nichts, nur …“, er verstummte, schüttelte den Kopf und schenkte mir dann ein kleines Lächeln. „Es ist nichts.“

In meinen Ohren klang das aber gar nicht nach nichts. Etwas schien ihn zu beschäftigen, aber ich war mir nicht sicher, ob hier der richtige Ort war, um nachzubohren.

Sawyer, der sich natürlich überall einmischen musste, sagte: „Er hat Lampenfieber. Du weißt schon, weil er seinen Bruder hintergeht und alles verraten wird, was ihm etwas bedeutet, wie so ein kleiner Mimimi, der …“

„Sei nicht gemein.“

Er schaute mich an, schnaubte und richtete seinen Blick auf die Windschutzscheibe. Und dann … passierte gar nichts mehr. Kein kluger Spruch, kein dummer Kommentar, er ließ es einfach gut sein. Das war unheimlich, so richtig zum Gruseln. Und es geschah heute nicht zum ersten Mal. Schon seit dem Morgen hatte er ausnehmend gute Laune.

Ich allerdings auch. Als ich heute Morgen erwacht war, hatte ich noch immer in seinen Armen gelegen, warm und geborgen und es hatte sich einfach richtig angefühlt. Nicht nur weil ich das erste Mal seit einer Ewigkeit eine ganze Nacht geschlafen hatte und wirklich ausgeruht gewesen war, sondern weil er neben mir lag.

Das war ein komisches Gefühl gewesen und das war es wohl auch, was mich auf die Beine getrieben hatte. Ich musste mich erst noch daran gewöhnen und sowas brauchte seine Zeit. Außerdem hatte ich vermeiden wollen, dass Killian uns so zusammen sah.

Nachdem wir das Lager zusammengeräumt und etwas gefrühstückt hatten, waren wir zurück in die Fahrzeuge gestiegen und hatten uns wieder auf den Weg gemacht. Das war nun schon ein paar Stunden her und langsam tat mir vom Sitzen der Hintern weh. Laufen war mir wesentlich lieber, nur leider würde das viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen.

Draußen am Fenster wechselte die Aussicht. Eben noch fuhren wir durch ein kleines Wäldchen und im nächsten Moment rasten wir über eine weite Ebene, die dann wieder von zerbröckelnden Ruinen abgelöst wurde.

Die beiden anderen Fahrzeuge fuhren ein Stück vor uns. Eine kleine Karawane inmitten der Einöde.

Man war ich heute wieder poetisch.

„Ist noch etwas von dem getrockneten Fleisch da?“, fragte Sawyer in meine Gedanken hinein.

Gute Frage. „Ich schau mal nach.“ Ich drehte mich auf den beengten Raum und griff über den Rücksitz in den Kofferraum, wo Akiim vorhin einen Beutel mit Proviant untergebracht hatte. Ich wusste das, weil ich es gesehen hatte. Der Beutel war schnell gefunden und auch das getrocknete Fleisch.

Ich nahm zwei Streifen heraus und ließ mich wieder in meinen Sitz fallen. Sofort pikte es mich wieder in den Hintern. Beim nächsten Halt würde ich mir einen anderen Platz suchen.

Mit einem „Hier“, streckte ich den Arm nach vorne und hielt Sawyer das Essen vor die Nase.

„Danke.“ Er ergriff mein Handgelenk, nahm das Fleisch und begann zu essen.

Ich wartete darauf, dass er mich wieder losließ. Was er nicht tat. „Ähm … bekomme ich meine Hand auch wieder zurück?“

„Nö.“ Er biss noch mal ab, kaute und grinste mich dabei herausfordernd an.

Nö? Was bitte sollte nö heißen? „Sawyer.“

„Ja?“ Ich konnte seine Belustigung in seiner Stimme hören. Es bereitete ihm ein diebisches Vergnügen, mich zu ärgern.

Ich wackelte auffordernd mit den Fingern, was ihn nur noch breiter grinsen ließ.

Draußen am Fenster zog eine ganze Fläche von Ruinen an uns vorbei. Große und kleine, die zum Teil dicht beieinander standen und nur hin und wieder von ein paar Bäumen überschattet wurden.

Von der Seite beobachtete Akiim uns. „Wie es scheint, habt ihr euch wieder vertragen.“

Sofort wich Sawyers Grinsen einem mürrischen Ausdruck. „Was geht dich das an?“

Warum gleich so feindlich? „Wir haben uns ausgesprochen“, erklärte ich, was ja im Grunde gar nicht so falsch war.

Sawyer sah das jedoch ein wenig anders. „So würde ich das nicht bezeichnen.“ Das Grinsen war zurück, genau wieder herausfordernde Ausdruck.

Wenn er es so wollte, bitte. „Wir haben uns eine Weile angeschrien und unserem Ärger Luft gemacht, bis uns die Puste ausgegangen ist. Besser?“ Ich wackelte wieder mit den Fingern und endlich ließ er mich los, sodass ich mich wieder richtig hinsetzen konnte. Sofort pikste es mich wieder in den Hintern.

„Also, ich hatte noch genug Puste, um weiter zu machen“, erklärte er eindeutig zweideutig.

„Sawyer!“ Hoffentlich hatte das nur in meinen Ohren so anzüglich geklungen. Und sein dreckiges Lachen konnte er sich auch sparen.

Vorsichtig warf ich einen Blick zu Killian. Hatte er zwischen den Zeilen gelesen und verstanden? Ich wollte nicht, dass er es auf dieser Art erfuhr, aber er schien es gar nicht mitbekommen zu haben. Sein Blick war aus dem Fenster gerichtet.

Noch mal Glück gehabt.

Leider machte mir dieser Moment nur zu deutlich bewusst, dass es so nicht weitergehen konnte. Ob es Killian nun verletzte oder nicht, ich musste Klarheit schaffen, denn die Situation war langsam nicht mehr tragbar. Doch hier in diesem Auto war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Dieses Gespräch brauchte keine Zuschauer.

„Da ist Rauch“, sagte Killian auf einmal und zeigte noch zusätzlich aus dem Fenster. „Da brennt etwas.“

Ich schaute an ihm vorbei nach draußen und entdeckte eine weiße Rauchsäule, die steil zum Himmel aufstieg. Die Ursache konnte ich nicht erkennen, denn sie war von Bäumen und Ruinen verdeckt. „Das ist kein Lagerfeuer.“ Denn dann wäre der Rauch nicht so dicht. Außer natürlich, da verbrannte irgendein Dummkopf einen Haufen grüner Zweige.

Akiim griff zu seinem Laserfunk und hielt es sich an den Mund. „Hey, Fünkchen, hörst du mich?“

„Nenn mich noch einmal so und ich versenke einen Bolzen in deinem Arsch“, antwortete die blecherne Stimme von Nevio. „Und zwar nicht auf die romantische Art. Das wirst du beim Sitzen spüren.“

Unser Wagen holperte über eine Bodenwelle und ließ mich auf der Bank hüpfen. Diese Gegend war wirklich nichts für eine schnelle Fahrt.

„Wirf mal einen Blick aus dem Fenster“, forderte Akiim seinen Freund auf. „Siehst du das?“

„Da scheint jemand eine Grillparty zu schmeißen und hat vergessen uns einzuladen.“

„Check das mal.“

„Für dich doch immer, mein Herzblatt.“

„Warum willst du, dass er das checkt?“, wollte ich wissen.

Akiim ließ den Laserfunk in seinen Schoß sinken. „Neugierde.“

Ja klar, weil Akiim ja auch so der neugierige Typ war, der überall seine Nase hineinstecken musste. Naja, zumindest bei mir stimmte das, aber das hatte weniger mit Neugierde, als viel mehr mit Kontrolle zu tun.

Das Funkgerät knackte. „Häuptling, hörst du mich?“

„Bin ganz Ohr.“

„Zwei Kobolde mit Motorschaden. Könnten Späher sein. Willst du hin?“

Kobolde? Was für Kobolde? Und warum hatten die einen Schaden?

„Sind sie allein?“

„Sieht so aus.“

„Lass uns umkehren und bis zu den Ruinen zurückfahren. Ich will mir die Sache erstmal genauer ansehen.“

„Verstanden.“

„Knuddel, hast du zugehört?“

„Habe ich, bin schon unterwegs“, antwortete die Stimme einer Frau. Das musste die Fahrerin des Trucks sein. Ja, mittlerweile wusste ich, wie das andere Fahrzeug hieß. Man schnappte eben so einiges auf, wenn man zuhörte.

„Fahrt nicht zu nahe heran“, wies Akiim die anderen Fahrzeuge noch an, dann legte er das Gerät zur Seite und wendete den Wagen. Nevio kam uns bereits entgegen, die Frau war direkt hinter ihm.

Ich rutschte über den Sitz und fiel gegen Killian. Wenigsten piekte mich die Feder jetzt nicht mehr in den Hintern. „Was meint er mit Kobolden?“, wollte ich wissen und rückte wieder ein Stück von Killian ab.

„Tracker.“

Dieses Wort schlug ein wie eine Bombe. Killian riss den Kopf herum, während ich einfach nur erstarrte und mein Hirn einen Kurzschluss erlitt. Einen Moment wollte ich meinen Bruder anschreien, ob er verrückt geworden war, uns direkt zum Feind zu bringen, aber dann fiel mir wieder ein, dass wir ja unterwegs waren, um uns dem Feind zu stellen – zumindest in gewisser Weise.

Wir hatten geplant die Tracker zu überfallen, das war mir bewusst, aber nicht jetzt und auch nicht so aus heiterem Himmel, ohne dass ich mich mental darauf vorbereiten konnte. „Hältst du das für eine gute Idee?“ Ich konnte die Anspannung nicht aus meiner Stimme heraushalten.

Akiim warf mir durch den Rückspiegel einen prüfenden Blick zu. „Erstmal werden wir nur die Lage überprüfen, aber wir sollten keine Chance ungenutzt lassen.“ Denn wir brauchten die Keychips und die Uniformen. Das war alles richtig. Und trotzdem überkam mich ein sehr ungutes Gefühl und ich wäre am liebsten in die andere Richtung davongelaufen.

Die Erlebnisse durch die Tracker hatten wohl einen tieferen Eindruck bei mir hinterlassen, als ich bisher angenommen hatte.

Eine Berührung am Knie ließ mich fast aus der Haut fahren, doch es war nur Sawyer, der nach hinten griff. Bei Gaias wildem Herz, ich musste mich zusammenreißen. Wie bitte sollte ich Marshall aus Eden retten, wenn ich schon bei der Aussicht auf ein paar Tracker, Herzrasen bekam? Das konnte doch nur in einer Desaster enden.

Nicht nur ich war auf dem kurzen Stück zurück zu den Ruinen unnatürlich still. Die entspannte Stimmung der letzten Stunden hatte sich völlig in Luft aufgelöst.

Killian saß sehr gerade da. Sawyer dagegen tippte immer wieder unruhig mit dem Fuß auf. Nur Akiim schien aufgeregt bei der Aussicht auf eine Begegnung mit den Trackern.

Die zerbröckelten Ruinen mehrerer alten Häuser kamen näher. Der Jeep und der Truck standen bereits in ihren Schatten und entließen gerade ihre Insassen, als Akiim neben ihnen parkte und den Motor abstellte. Skade hüpfte wie eine Gazelle hinaus. Wolf stieß sich den Kopf am Dach und funkelte den Wagen vorwurfsvoll an. Das hatte bestimmt wehgetan.

Ich brauchte einen Moment, bis ich mich dazu durchringen konnte, meine Wagentür zu öffnen und hinaus unter den bewölkten Himmel zu treten.

Die Männer folgten meinem Beispiel und schauten sich nach den anderen um. Außer uns war niemand zu sehen, nur Ruinen und Bäume, soweit das Auge reichte.

Nevio kam direkt auf uns zu. „Von hier aus kann man nicht viel sehen.“

Nur mit kurzen Verzögerungen schlugen die vier Autotüren zu. Sawyer musste es zweimal versuchen, weil seine beim ersten Mal nicht schließen wollte. Er folgte mir um den Wagen herum zu meinem Bruder.

„Dann müssen wir etwas näher heran“, sagte Akiim.

„Ich bin dir wie immer einen Schritt voraus“, verkündete Nevio und hielt meinem Bruder einen Feldstecher hin.

„Dann mal los.“ Akiim überprüfte noch einmal, ob unsere Ankunft zwischen dem zerfallenen Stahlgerüst auch wirklich unbemerkt geblieben war und nicht plötzlich ein Haufen Räuber zwischen den Ruinen heraussprangen, um die Schrottmühlen zu klauen und gesellte sich dann mit uns im Anhang zu den anderen Rebellen. „Nevio, du kommst mit mir, wir werden die Lage überprüfen. Der Rest wartet hier.“ Er marschierte los und verschwand mit seinem Freund zwischen den Resten alter Mauern.

Da ich mich nicht zum Rest zählte und nicht rumstehen und abwarten wollte, ignorierte ich die Anweisung und folgte den beiden. Ich musste wissen was hier los war und langes Grübeln würde mich nur in den Wahnsinn treiben.

Zwischen den Mauerresten lag jede Menge Geröll, dass nur spärlich mit Unkraut und Pflanzen bedeckt war. Ich musste aufpassen wohin ich trat, um keine losen Steine loszutreten. Mit Schuhen war das um einiges Schwieriger als barfuß.

Als Akiim merkte, dass ich ihnen folgte, warf er mir einen gereizten Blick zu, sagte aber nichts. Er schlich hinter Nevio her, bis wir hinter einer halbhohen Mauer in Deckung gingen. Von hier aus hatten wir einen guten Blick auf das Areal vor uns.

Die Fläche war recht offen, nur unterbrochen von ein paar vereinzelten Ruinen und mehreren kleinen Baumgruppen. Die hohe Rauchsäule war mittlerweile zu ein paar kleinen Rauchfähnchen zusammengeschrumpft, die einfach vom Wind weggetragen wurden. Trotzdem reichten sie noch um mir zu zeigen, wo genau ich nach unserem Ziel suchen musste.

Da war es, in vielleicht dreihundert Fuß Entfernung, neben einer länglichen Baumgruppe.

Dort stand ein Wagen mit geöffneter Motorhaube. Er war ziemlich neu, wenn auch ein wenig verdreckt. Solche Fahrzeuge gab es nur in Eden. Das war ohne Zweifel ein Auto der Tracker, was ich nicht nur an den beiden Männern in den Uniformen erkannte, die danebenstanden. Leider konnte ich aus dieser Entfernung ihre Gesichter nicht sehen, aber es reichte auch so, um mein Herz schneller schlagen zu lassen und mir einmal mehr vor Augen zu führen, dass ich diesen Teil meines Lebens noch nicht hinter mir gelassen hatte. 

„Sie scheinen wirklich allein zu sein“, sagte Akiim, der die beiden durch den Feldstecher beobachtete. „Sieht aus, als versuchten sie den Motor zu reparieren.“ Er reichte das Fernglas an Nevio weiter, der ihn sich sofort ans Auge hielt.

„Na sieh mal einer an, Glück muss man haben.“ Nevio begann zu grinsen, was die Narben in seinem Gesicht auf grausige Art verzerrte. „Wir haben den Doppelgänger.“

Akiim drehte ruckartig den Kopf. „Du meinst …“

„Wenn der Arzt sich nicht plötzlich teleportieren kann, müsste das da sein Bruder sein.“

„Was?“ Da vorne war Kit? Machte er Scherze? Wir trafen ausgerechnet jetzt auf den einen Tracker den wir brauchten, um Marshall aus Eden herauszuholen? Das war unmöglich. „Gib mir den Feldstecher“, forderte ich ihn auf. Das musste ich mit eigenen Augen sehen.

„Nur die Ruhe.“ Nevio reichte ihn mir und konnte gar nicht so schnell gucken, wie ich ihn mir geschnappt hatte und selber einen Blick riskierte.

Verdammter Mist, er hatte recht. Da waren sie, zwei Tracker und ich kannte sie beide, denn sie gehörten zu Daschas Truppe. Der eine hieß Xander, wenn ich mich recht erinnerte und der andere war eindeutig Killians Zwillingsbruder Kit.

Das würde Killian gar nicht gefallen. Ich dagegen sah das Ganze mit gemischten Gefühlen. Dass wir jetzt auf Kit trafen, brachte uns unserem Ziel ein Stück näher. Aber es bedeutete auch, dass die Zeit gekommen war, sich meinen Ängsten zu stellen. Das Schicksal hatte entschieden, hier und jetzt würde es beginnen und ich war bereit. Wenn ich mir das nur oft genug sagte, würde ich es irgendwann vielleicht sogar selber glauben.

„Lasst uns zu den anderen zurückgehen.“ Mit einem letzten Blick auf unsere Beute, erhob Akiim sich und führte uns durch die Ruinen zurück zu unseren Fahrzeugen.

Die Rebellen erwarteten uns bereits ungeduldig. Skade glühte regelrecht vor Aufregung, so als könnte sie es kaum erwarten, sich mit ein paar Trackern anzulegen. „Holen wir sie uns?“, war ihre Begrüßung. Sie klang richtig begierig.

Akiim nickte. „Zwei Kobolde. Ihr Wagen ist kaputt, sie kommen nicht vom Fleck.“

„Sind sie allein?“, fragte die Frau.

„Im Moment ja, aber das muss nicht unbedingt so bleiben.“

„Darum ist Eile geboten“, fügte Nevio noch hinzu.

Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, aber sie hatten recht. Tracker waren niemals alleine Unterwegs, immer in größeren Gruppen. Wenn zwei von ihnen hier waren, gab es in der Nähe sicher noch andere und die könnten jederzeit hier auftauchen.

Die Aussicht darauf, noch mehr Trackern zu begegnen, beunruhigte mich und ließ mich nervös von einem Bein aufs andere treten. Leider war das nicht das Einzige, was mich in diesem Moment beschäftigte. 

Skades Augen leuchteten, auch wenn sie versuchte ruhig zu bleiben. „Wie gehen wir vor?“

Ich schaute mich nach Killian um. Er stand ein wenig abseits und schien im Zwiespalt mit sich selber.

„Lockvogeltaktik. Wir schleichen uns von hinten an, nutzen die Bäume als Deckung und überraschen sie. Hin, ausnehmen, abhauen. Keine Heldentaten, oder dummen Aktionen.“

„Aber wir können sie nicht zurücklassen“, kam es zu meiner Überraschung von Sawyer. „Wenn sie Meldung machen, dass ihre Keychips gestohlen wurden, werden sie deaktiviert. Dann sind sie wertlos.“

Ich musste es ihm sagen, ich musste Killian mitteilen, wen wir überfallen würden und zwar bevor Akiim zum Angriff blies.

„Dann müssen wir sie erstmal mitnehmen“, erkannte Nevio ganz richtig. „Auf unserer Ladefläche werden wir sicher noch ein schönes Plätzchen für sie finden.“

Akiim nickte. „In Ordnung, so machen wir es. Dann schnappt euch jetzt eure …“

„Wartet.“ Nervös schaute ich mich nach Killian um. Er musste es wissen, jetzt. Sag es ihm! „Killian, die beiden Tracker, sie gehören zu Daschas Truppe.“ Ich zögerte mit meinen nächsten Worten, aber der Ausdruck in seinem Gesicht sprach Bände. Mehr war gar nicht nötig gewesen, er wusste was ich sagen wollte, noch bevor ich es ausgesprochen hatte. „Kit ist einer von ihnen.“

Er fasste sich ins Gesicht, rieb sich über den Mund und drehte sich weg. Der Schreck stand ihm ins Gesicht geschrieben, genau wie seine Unsicherheit. Mich vor den Trackern zu retten, damit sie mich kein zweites Mal nach Eden bringen konnten, war die eine Sache. Aber es war etwas ganz anderes, seinen Bruder hinterrücks zu überfallen, auszurauben und gefangen zu nehmen.

Ich trat zu ihm und berührte ihn am Arm. „Wenn du das nicht kannst, bleib einfach hier.“ Ich würde nicht von ihm verlangen, sich seinem eigenen Bruder entgegen zu stellen.

„Nein, ist schon in Ordnung, ich …“ Er schaute kurz zu den Rebellen und dann schnell wieder weg. „Ich bekomme das hin.“

Ich war nicht die Einzige, die ihre Zweifel hatte, aber niemand forderte, dass Killian sich da heraushielt und zurückblieb.

„Gut.“ Akiim klatschte in die Hände. „Holt eure Waffen und folgt mir, wir haben etwas zu erledigen.“

Bewegung kam unter die Leute. Waffen wurden verteilt, letzte Anweisungen gegeben und dann schlichen wir zurück in die Ruinen. Killian musste ganz hinten bleiben, weil er keine Waffe hatte haben wollen. Ich zwar auch nicht, aber ich hatte mein Messer und war bereit es zu benutzen.

Als ganzes Dutzend schlichen wir langsam von einer Deckung in die Andere, bis wir auf der anderen Seite waren und in das längliche Wäldchen abtauchen konnten. Die Bäume standen nicht sehr dicht, aber das Buschwerk bot guten Schutz.

Nur langsam näherten wir uns unserer Beute, bis wir noch ungefähr fünfzig Fuß von ihnen entfernt waren. Sie bemerkten nichts. Ihre Stimmen drangen als undeutliches Gemurmel zu uns herüber, während sie die Köpfe über den Motor zusammengesteckt hatten.

Ich warf einen Blick zu Killian, der seinen kleinen Bruder angespannt beobachtete. Hoffentlich ging das gut.

Akiim spähte vorsichtig über die Büsche hinweg, bevor er sich wieder zurückzog. „In Ordnung, zwei Leute für jeden. Einer hält seinen Kobold in Schach, der andere entwaffnet ihn. Und vergesst ihre Uhren nicht.“

Ein einheitliches Nicken.

„Ich nehme Kit“, verkündete ich und zog mein Messer. So ging ich sicher, dass keine Missgeschicke geschahen.

„Gut, ja, Nevio wird dir helfen. Ihr beiden nehmt den anderen“, wies er zwei andere an. „Der Rest bleibt bei mir im Hintergrund.“

Leichte Ruhelosigkeit machte sich zwischen uns breit. Ich spürte sie auch. Es war anders als auf der Jagd. Wenn ich meine Beute nicht bekam, musste ich eben hungern, aber hier hing von unserem Gelingen viel mehr ab.

Akiim schaute zu dem jüngsten Mitglied unserer kleinen Truppe. „Skade, du weißt was du zu tun hast.“

Sie nickte, nahm ihren Kopfschmuck ab und drückte ihn Akiim in die Hand. Dann verschwand sie geduckt zwischen den Büschen. Nicht mal eine Minute später trat sie ganz entspannt auf der anderen Seite des Wagens zwischen den Bäumen hervor.

Kit und dieser Xander schimpften immer noch über den Moter und bemerkten ihr Auftauchen nicht.

Die Armbrust zu Boden gerichtet, näherte Skade sich dem Wagen, als sei sie auf einem kleinen Spaziergang und blieb nur wenige Fuß davon entfernt stehen.

Um mich herum begannen die Leute ihre Waffen zu laden.

Ich musste mich zwingen ruhig zu bleiben, denn plötzlich stiegen all die Erinnerungen in mir hoch, die ich nur dank diesen Menschen hatte. Meine Mutter, Eden, Balic. Besonders deutlich stand mir Balic vor Augen und die Wut über ihre Taten begann meine Angst einfach zu verdrängen.

„Dieser verdammte Dreck gehört in die Schrottpresse“, hörte ich Xander unter der Haube schimpfen. „Wenn ich …“

„Hallo“, sagte Skade.

Kit wirbelte bei der Stimme sofort herum. Der andere Mann stieß sich erst noch den Kopf an der Motorhaube, bevor er daraus auftauchte und zu dem jungen Mädchen herüberschaute. Er rieb sich den Kopf. Das musste wehgetan haben. Beide starrten Skade an, als sei sie aus dem Boden gewachsen. Dann lächelte Kit freundlich.

„Selber Hallo.“

Akiim gab uns mit einem Zeichen zu verstehen, dass wir uns in Bewegung setzen sollten und sofort schlichen wir geduckt aus der Deckung und näherten uns ihnen von hinten. Es war die gleiche Taktik, mit der sie uns damals auf dem Apfelfeld überfallen hatten. Sie schickten das harmlos aussehende Mädchen vor, um die Leute abzulenken, während sie sich von hinten heranschlichen. Gar nicht so dumm.

„Woher kommst du plötzlich?“, wollte Kit wissen.

Mit der Armbrust deutete sie Richtung Bäume. „Von da.“

„Und wo willst du hin?“

„Nirgends.“

Wir hatten die beiden Tracker fast erreicht, nur noch ein kleines Stück. Dabei mussten wir aufpassen, nicht in die Pfützen zu treten. Das Platschen hätte uns sonst verraten.

Kit runzelte die Stirn. „Und was machst du hier?“

„Nichts weiter. Einfach nur stehen und aufpassen, dass ihr in meine Richtung schaut, während meine Leute sich von hinten an euch heranschleichen.“

Den Beiden blieb keine Chance mehr, auf das Gesagte zu reagieren, denn schon bevor Skade geendet hatte, lag mein Messer an Kits Kehle. Gleichzeitig packte ich ihn an der Jacke, damit er sich nicht einfach wegdrehte.

Sein Kollege hatte nun die Spitze einer Armbrust im Nacken und fasste nach der Waffe an seinem Gürtel.

„Das würde ich lassen“, sagte Akiim hinter uns. Er nährte sich mit dem Rest unserer Gruppe – vorsichtig und wachsam – während Nevio und die Frau damit begannen, den Trackern die Gürtel und damit auch ihre Waffen abzunehmen. Auch die Uhren an ihren Handgelenken vergaßen sie nicht. „Es sind ein Dutzend Armbrüste auf euch gerichtet und glaubt mir, wenn ich euch sage, wir schießen schneller als ihr ziehen könnt.“

Das war ja voll die Lüge. Wir waren zwar zwölf Personen, aber von mir einmal abgesehen, gab es noch jemand anderes, der keine Armbrust bei sich trug. Aber wer zählte da schon so genau mit.

Die beiden Tracker nahmen sich diese Aussage aber zu Herzen, blieben stillstehen und hoben die Hände.

„Okay“, sagte Kit und schaute tatenlos dabei zu, wie die Rebellen ihnen ihre Ausrüstung abnahmen. „Und was wollt ihr von uns?“

„Das ihr für eure Taten bezahlt“, zischte ich Kit ins Ohr. Der Hass brodelte so dicht unter der Oberfläche, dass ich mich kaum beherrschen konnte. Am liebsten hätte ich ihn niedergeschlagen. Es war nicht nur das wofür er stand, sondern auch sein blinder Glaube an das was er tat und die Angst, die mich jedes Mal von neuem überfiel, wenn ich einen von ihn sah.

Aber heute und hier war ich mal an der Reihe, heute würde ich sie das Fürchten lehren.

Kit erkannte meine Stimme und drehte überrascht den Kopf, bis ich in sein Blickfeld geriet. Ziemlich riskant, wenn man bedachte, dass mein Messer noch immer an seiner Kehle lag. „Kismet.“

Immer nett, wenn die Leute sich an einen erinnerten, obwohl ich bei diesen Menschen ja liebend gerne in Vergessenheit geraten wäre. Ich zwang mich mein Messer von seiner Kehle zu nehmen, bevor ich noch etwas Unüberlegtes tat und wich einen Schritt vor ihm zurück. „Es gibt nur einen einzigen Grund, warum ich meinen Fehler vom letzten Mal wiederhole und dir nicht sofort die Kehle durchschneide.“ Und der stand hinter mir bei den anderen und könnte es mir niemals verzeihen, wenn ich seinem kleinen Bruder etwas antat.

„Ich kenne ihn zwar nicht, aber ich schätze mich glücklich.“ Sehr langsam und noch immer mit erhobenen Händen, drehte er sich um. Sein Blick huschte nur kurz zu meinen Begleitern, bevor er ihn auf mich richtete. Es war immer wieder irritierend, wie sehr er Killian doch glich. „Die Partisanen? Wirklich? Das ist ein wenig unter deiner Würde, meinst du nicht?“

Mein Temperament ging mit mir durch. Ich holte aus und verpasste ihm so eine heftige Ohrfeige, dass sein Kopf zur Seite flog und seine Wange augenblicklich rot wurde.

Ein paar der Rebellen lachten zischend, einer sagte sogar leise: „Aua.“

Ich funkelte Kit wütend an. „Wie kannst du es wagen auch noch Witze zu machen, nachdem was du getan hast?“, knurrte ich.

Kit rieb sich über die rote Wange. Er wirkte bestenfalls irritiert. Mit einem Schlag hatte er wohl nicht gerechnet. „Was habe ich denn getan?“

„Ihr habt Balic getötet!“ Balic war tot, während diese Unmenschen vor mir standen und leben durften.

Bedauern zeigte sich auf Kits Gesicht. „Das waren wir nicht. Er hatte einen Herzinfarkt. Wir haben noch versucht ihm zu helfen, aber …“

„Er hatte diesen Herzinfarkt, weil ihr dort wart! Wärt ihr weggeblieben, wäre das niemals passiert. Ihr seid schuld!“

„Wir hatten einen Auftrag“, versuchte er sich zu rechtfertigen. „Wir sollten dich holen. Wärst du nicht einfach verschwunden, wäre das nicht passiert.“

Von Sawyer kam ein ungläubiges Schnauben. „Gibst du gerade tatsächlich ihr die Schuld, weil sie nicht eure Gefangene sein wollte?“

Kit riss den Kopf herum. „Herr Bennett.“ So wie er ihn anstarrte, hatte er ihn bisher noch nicht bemerkt.

„In Fleisch und Blut.“ Und mit einer Armbrust in der Hand, die direkt auf Kit zielte.

„Und Salia, ist sie auch …“ Sein Satz verklang, als er seinen Blick wandern ließ und dabei eine weitere bekannte Person entdeckte. Nicht Wolf, auch wenn der nicht zu übersehen war. Sein Blick saugte sich an dem Mann fest, der ein wenig im Hintergrund stand und das gleiche Gesicht trug wie er. „Killian.“

Sein Bruder zögerte, trat dann aber unter den Blicken aller Anwesenden langsam nach vorne. „Hallo Kit.“

Kit zögerte nicht. Ungeachtet der ganzen Waffen die auf ihn gerichtet waren, preschte er einfach nach vorne, riss seinen großen Bruder an sich und umarmte ihn so fest er konnte.

Killian zögerte unsicher, bevor er seinen kleinen Bruder in die Arme nahm.

„Ich habe gewusst, dass sie lügt, ich wusste es die ganze Zeit.“ Genauso plötzlich wie er ihn in den Arm genommen hatte, ließ Kit ihn nun wieder los und fuhr wütend zu mir herum. „Er war die ganze Zeit bei dir und du hast mir ins Gesicht gelogen.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Soll ich mich deswegen jetzt schlecht fühlen?“ Sie hatten viel Schlimmeres getan.

„Du hättest ihn erst gar nicht aus Eden wegbringen dürfen! Er gehört nicht hier her!“

Wieso denn bitte ich? Es war Sawyer gewesen, der Killian in den Wagen gezerrt und entführt hatte. Ich war die ganze Zeit damit beschäftigt gewesen, die weinende Salia zu beruhigen. „Hättet ihr mich nicht entführt und nach Eden gebrach, wäre nichts von dem geschehen.“

„Das ist deine Rechtfertigung?“ Seine Augen funkelten vor Wut. „Wir wollten dir helfen und dir ein besseres Leben ermöglichen“, knurrte er mich an und machte einen wütenden Schritt auf mich zu, hielt aber sofort wieder an, als die Spitze von Akiims Armbrust vor seinem Gesicht auftauchte.

„Vorsicht“, warnte mein Bruder ihn. „Sie zögert vielleicht damit dich zu töten, weil sie eine Schwäche für deinen Bruder hat, aber ich habe dieses Problem nicht.“

Kit schluckte und warf einen schnellen Blick zu Killian. Und das war der Moment, in dem er seinen großen Bruder zum ersten Mal richtig wahrnahm. Er stand nicht nur bei den Rebellen, er trug auch ihre Kleidung. Noch dazu lag er nicht in Ketten, was sehr deutlich machte, dass er uns freiwillig begleitete.

Killian dagegen schien nicht zu wissen wie er sich verhalten sollte, denn er stand nach wie vor zwischen den Stühlen, nicht bereit, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden.

„Was soll das hier werden?“, verlangte Kit zu wissen.

„Das sage ich dir, wenn du mir deine Hand gibst.“ Ich streckte meine eigene Hand aus und wartete darauf, dass er seine hineinlegte.

Kit zögerte verständlicherweise. „Warum?“

„Damit ich dir deinen Keychip herausschneiden kann.“

Sofort versteckte Kit seine Hand hinter seinem Rücken. Gleichzeitig machte Killian einen Schritt nach vorne und stellte sich schützend vor seinen Bruder.

„Nein, warte, nicht so, ich mache das.“ Er leckte sich nervös über die Lippen und zeigte dann auf den Wagen. „Dort muss ein Erste-Hilfe-Kasten drin sein. Bringt ihn mir, dann hole ich die Chips raus.“

„Du willst was?“ Kit konnte nicht glauben was er da hörte.

Nevio setzte sich sofort in Bewegung und begann den Wagen zu durchsuchen.

„Sie brauchen eure Keychips und die Uniformen“, erklärte Killian. „Tu einfach was sie sagen, dann wird niemanden etwas passieren.“

„Und ein bisschen schnell, wenn es geht“, fügte Akiim noch ungeduldig hinzu.

Skade trat von hinten an ihn heran und holte sich ihren Kopfschmuck zurück.

Kit schaute zwischen den Rebellen hin und her. „Was für ein Mist läuft hier? Warum bist du bei ihnen?“

„Weil er an seinem Leben hängt“, sagte Sawyer. „Und er nicht mal dann nach Eden zurückgefunden hätte, wenn, naja, sein Leben davon abhinge.“

„Du bist nicht freiwillig bei ihnen.“ Es schien die einzig vernünftige Erklärung für Kit zu sein und irgendwie lag er damit ja auch gar nicht so falsch. Er war bei uns, weil er sonst nirgendwo hinkonnte.

„Wird das jetzt mal bald was?“, fragte Akiim ungeduldig. „Oder müssen wir nachhelfen?“

Kit schaute von mir zu seinem Bruder, verwirrt aber auch trotzig. „Killian.“ Es war eine Aufforderung ihm zu helfen.

Killians Gesicht war bar jeder Emotion, doch dann veränderte sich etwas in seinem Gesicht. Es war nur eine kleine Regung, etwas das kaum auffiel, aber ich sah es. Es war das, was auch ich oft fühlte: Sehnsucht nach dem was einmal war. Er trat auf seinen Bruder zu und legte ihm die Hand an den Hinterkopf. Sowohl die Rebellen, als auch Xander spannten sich an, als er seine Stirn an die seines Bruders drückte.

Ich behielt die beiden genau im Auge.

„Tu was sie sagen“, forderte Killian seinen kleinen Bruder auf.

Dieser verengte seine Augen ganz leicht. „Was soll das? Was machst du da?“

„Das Richtige. Du weißt, dass es falsch ist, was das Eden-Programm verlangt und … ich habe meine Wahl getroffen, ich kann nicht zurück.“

Kits Mund wurde ein wenig schmaler. Sein Blick huschte kurz zu mir, bevor er sich wieder auf seinen Bruder richtete. „Du kannst zurück.“

„Ich habe Hochverrat begannen.“

Einen langen Moment schauten die beiden sich fest in die Augen. Dann sagte Kit so leise, dass ich es kaum verstand: „Niemand weiß es.“

Die Überraschung stand Killian ins Gesicht geschrieben. Kit hatte ihn nicht verraten, er hatte niemanden gesagt, dass er es war, der mich aus ihrem Lager befreit und ihn niedergeschlagen hatte. Er hatte es für sich behalten, um seinen großen Bruder zu schützen.

Ich war nicht weniger überrascht und dieses Wissen machte mich ehrlich gesagt nervös. Killian hatte die ganze Zeit geglaubt, er könnte nicht zurück, weil er mit meiner Befreiung alles verraten hatte, wofür Eden stand, aber wenn Kit dieses kleine Geheimnis wirklich für sich behalten hatte, stand es ihm wieder frei zu wählen. Wenn niemand von seiner Beteiligung an meiner Flucht wusste, konnte er in sein altes Leben zurückkehren.

Einen angespannten Moment lang geschah gar nichts, außer dass Xander die Brüder stirnrunzelnd beobachtete. Dann wandte Killian sich zu mir um. Unsere Blicke begegneten sich und in meinen Augen stand eine deutliche Frage. Was wirst du tun? Würde er mein Freund bleiben, oder war dies der Augenblick, in dem er zu meinem Feind wurde? Jetzt war es so weit, er musste sich entscheiden, auch wenn es ihm nicht leichtfiel.

Ein Ausdruck von Bedauern huschte über sein Gesicht und für eine kurze Sekunde glaubte ich wirklich, er würde mich im Stich lassen, doch dann ließ er die Hand sinken und trat einen Schritt von seinem Bruder zurück. Seine Mine wurde hart und seine Stimme klang klar und deutlich. „Ich hab dich lieb, kleiner Bruder. Unsere Arbeit ist wichtig, aber das Projekt weist grundlegende Fehler auf, das weißt du so gut wie ich. Zieh deine Uniform aus.“

Er hatte sich entschieden, gegen Eden und seinen Bruder und für die Freiheit. Ich konnte es kaum glauben. Nach all der Zeit hatte er es endlich getan.

Kit konnte es nicht fassen. „Das kannst du nicht ernst meinen.“

„Bitte, zwing diese Leute nicht Gewallt anzuwenden.“

Nevio tauchte mit einem grünen Kasten neben uns auf. Oben drauf war ein weißes Kreuz abgebildet.

Akiim hatte genug vom Warten. „Wir machen es ganz einfach. Ich zähle jetzt bis drei. Wenn du bis dahin nicht selber angefangen hast, gibt es hier reichlich Leute, die dir helfen werden.“ Um seine Drohung zu unterstützen, hob er die Armbrust ein wenig. „Fangen wir an. Eins.“

Kit wollte ein Stück zurückweichen, aber sofort drückte sich ihm der Bolzen einer Armbrust in den Rücken.

„Zwei.“

„Killian“, sagte Kit eindringlich.

Der andere Tracker wurde unruhig und schaute sich immer wieder nervös über die Schulter, als suchte er nach einem Ausweg.

„Dr…“

Der Mann neben Akiim fing plötzlich an zu torkeln. Er schwankte gegen meinen Bruder, verlor das Gleichgewicht und noch bevor er ihn auffangen konnte, fiel er zu Boden.

Die Frau stürzte sofort zu ihm, um nachzusehen was los war. Sie strich ihm über das Haar und rüttelte an seiner Schulter, doch er regte sich nicht. Da sah ich ihn, den Tranquilizer, der in seinem Hals steckte.

„Ein ganzes Dutzend gegen zwei Leute ist ein wenig ungerecht, findet ihr nicht auch?“

Bei der weiblichen Stimme wirbelten wir alle erschrocken herum.

Nicht weit von uns entfernt stand Dascha, die erhobene Waffe direkt auf uns gerichtet. Und sie war nicht allein gekommen.

 

oOo

Kapitel 56

 

Der Anblick traf mich völlig unvorbereitet. Dascha und mindestens zwanzig weitere Tracker standen direkt hinter uns und begannen uns langsam einzukreisen. Jeder einzelne von ihnen hielt eine Waffe in den Händen und zielte damit auf uns. Wachsam und vorsichtig und eindeutig in der Übermacht.

Ich schluckte angestrengt. Da wo eben noch Wut und Hass saßen, stieg nun die Angst in mir auf. Mein Blick flitzte hin und her, während das Herz in meiner Brust sich furchtsam zusammenzog.

Völlig emotionslos ließ Dascha ihren Blick einmal über die schockierten Rebellen wandern und blieb dann an Sawyer und mir hängen. „Das ist unerwartet.“

Die Rebellen überwanden ihre Überraschung und rissen ihre Armbrüste hoch, nur ließen die Tracker sich davon nicht einschüchtern. Leicht angespannt, aber dennoch völlig ruhig standen sie da, bereit sofort zu schießen, wenn die Situation es erforderte.

Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. Selbst das Messer in meiner Hand gab mir keine Sicherheit, denn mit ihrem Auftauchen wurde einer meiner schlimmsten Alpträume wahr. Mein Fluchtreflex setzte ein und es kostete mich all meine Kraft ihm nicht nachzugeben.

Daschas Blick zuckte kurz von Xander zu Kit, als wollte sie sich davon überzeugen, dass es den beiden gut ging. „Wenn ihr das nächste Mal jemanden hinterrücks überfallen wollt, solltet ihr vorher vielleicht für Rückendeckung sorgen.“

„Danke für den Tipp“, sagte Akiim angespannt und richtete seine Armbrust direkt auf ihren Kopf. „Es würde mich brennend interessieren, seit wann die Tracker in so großer Zahl unterwegs sind.“

Er hatte recht. Normalerweise bestand ein Konvoi aus vierzehn Trackern, das hier waren aber doppelt so viele. Kein Wunder, dass sie mir so übermächtig vorkamen. Sie waren uns zwei zu eins überlegen und das Schlimmste daran, sie wussten es.

„Oh, das ist eine wirklich lustige Geschichte“, sagte sie, ohne die Gefahr, die von der Armbrust ausging, auch nur zur Kenntnis zu nehmen. „Nachdem wir wochenlang erfolglos unsere Flüchtlinge gesucht haben, wurden wir für eine kleine Verschnaufpause zurückbeordert. Dabei kam man zu dem Entschluss, dass wir unsere Zeit nicht länger verschwenden und zu unserer eigentlichen Aufgabe zurückkehren sollten.“

Sie redete im Plauderton, als hätte sie nichts zu befürchten, während ich merkte wie mein Atem schneller wurde und ich kurz vor dem Durchdrehen war.

„Vor zwei Tagen wurden wir ganz normal wieder ausgeschickt und wie wir es nun einmal so tun, schwärmten unsere Jeeps aus, um sich ein wenig umzusehen.“

Sawyer schnaubte. „Du meinst wohl, um potentielle Beute aufzuscheuchen.“

„Das liegt im Auge des Betrachters.“ Sie ließ sich von seiner Provokation nicht aus der Ruhe bringen. „Wie dem auch sei. Vor ungefähr einer guten Stunde, meldete eines unserer Fahrzeuge einen Motorschaden, also machten wir uns auf dem Weg zu ihm.“

Kit und Xander hatten die Tracker also schon informiert gehabt, bevor wir auf sie gestoßen waren. Ich hatte gleich gewusst, dass es eine schlechte Idee war hierherzukommen. Hätte ich nur mal auf mein Gefühl gehört, dann würde ich jetzt nicht in dieser stinkenden Jauchegrube stecken.

„Ungefähr eine halbe Stunde später wurden wir von einem anderen Konvoi angefunkt. Sie befanden sich gerade auf dem Rückweg nach Eden und haben eine interessante Entdeckung gemacht. Da waren drei Fahrzeuge auf der Straße, die nicht zu uns gehörten. Wir wussten sofort, wer sie fuhr, denn die einzigen anderen Menschen in dieser Gegend, die Fahrzeuge besitzen, sind die Partisanen.“

Im Augenwinkel bemerkte ich wie Nevio unauffällig zurücktrat, als wollte er sich hinter den anderen Rebellen verbergen. Er tat das so geschickt, dass es mir nur auffiel, weil er mit dem grünen Kasten in seiner Hand direkt neben mir stand.

„Während der zweite Konvoi euch die ganze Zeit im Auge behielt, stießen wir zu ihnen, um uns ihnen anzuschießen und sie zu unterstützen. Ihr wart so damit beschäftigt meine Leute zu schikanieren, dass ihr gar nicht bemerkt habt, wie wir euch die ganze Zeit beobachtet haben und euch gefolgt sind. Und jetzt sind wir alle hier. Ihr, eure Leute und unsere verschollenen Flüchtlinge, die in den letzten Wochen ganz schon herumgekommen sind.“

Spielte sie auf die Begegnung nach dem Herbstmarkt an? Es sollte mich nicht wundern, dass sie davon wusste, aber die Anwesenheit der Tracker machte mich so nervös, dass es mir schwerfiel, klar zu denken. Wie hatte ich nur so dumm sein können, mich mit Eden anlegen zu wollen? Wie hatte ich denn geglaubt, wie es ausgehen würde? Sie waren überall und ich sollte nicht hier sein.

„Was für eine schöne Geschichte.“ Akiim machte Dascha mit seiner kühlen Fassade in diesem Moment wirklich Konkurrenz. „Aber jetzt ist es an der Zeit für euch zu gehen.“

„Gehen?“ Daschas Augenbrauen hoben sich erstaunt. „Wir sind nicht nur doppelt so viele wie ihr, wir haben auch die besseren Waffen und sind auch bei weitem besser ausgebildet. Für uns besteht kein Grund zu gehen. Euch jedoch rate ich die Waffen niederzulegen und euch zu ergeben, damit das hier friedlich ablaufen kann. Solltet ihr euch weigern, sehen wir uns gezwungen das Feuer zu eröffnen.“

Dann würden wir einfach umkippen und einschlafen, wie der Mann am Boden. Wenn wir uns nicht mehr wehren konnten, wäre es für sie ein Leichtes uns einzusammeln und nach Eden zu bringen.

Meine Handflächen begannen zu schwitzen. Der Griff um mein Messer wurde fester. Nein, niemals, ich würde nicht zurückgehen, das konnte sie vergessen.

„Die Entscheidung liegt bei euch.“ Ihre Stimme war fast eine Einladung, als brannte sie darauf, dass wir uns wehren würden, damit sie zur Tat schreiten konnte.

Die Tracker machten sich bereit und rückten ein Stück vor. Sie waren entschlossen und siegessicher und dazu hatten sie auch allen Grund. Jeder freie Mensch wusste wie gefährlich diese Leute waren. Niemand legte sich freiwillig mit ihnen an. In meiner Wut hatte ich das nur verdrängt.

Plötzlich riss Akiim seine Armbrust herum und hielt mir die Spitze des aufgelegten Bolzens direkt ins Gesicht. „Keinen Schritt weiter, oder ich erschieße sie.“

Dascha hob augenblicklich die Hand und machte eine Faust. Die Tracker hielten sofort an.

Ich war viel zu verblüfft, um etwas andere zu tun, als dazustehen und zu blinzeln. Akiim zielte auf mich, er zielte mit seiner verdammten Armbrust auf mein Gesicht! Mein Gehirn brauchte mehrere Sekunden um diese Information zu verarbeiten, dann reagierte ich instinktiv und wollte vor der drohenden Gefahr zurückweichen, aber Akiim packte mich am Arm und hielt mich fest. Als ich trotzdem versuchte zur Seite zu treten, riss er mich grob zu sich zurück.

„Bist du verrückt geworden?“ Was bei Gaias Zorn trieb er da?

„Was für eine verdammte Scheiße wird das?!“, brüllte Sawyer und kam wie ein wütender Stier auf uns zu. „Nimm das Scheißteil aus ihrem Gesicht, sonst … was soll das? Pfoten weg!“

Einer der Rebellen stieß ihn an der Schulter zurück, während ein anderer ihm seine Armbrust aus der Hand riss. Dann hatte auch er das falsche Ende einer Waffe vor der Nase. Seine Augen wurden eine Spur schmaler, ein drohendes Funkeln lag in ihnen. „Ich schwöre, ich schiebe dir das Ding in deinen Arsch, wenn du es nicht sofort wegnimmst!“

„Das solltest du dir besser noch einmal überlegen“, sagte der Kerl, der ihn entwaffnet hatte, und richtete nun auch seine Armbrust auf ihn.

Sawyer stand da, bebend vor Wut und schien ernsthaft zu überlegen, es darauf ankommen zu lassen.

„Halt dich zurück“, warnte Akiim ihn mit einer deutlichen Drohung in der Stimme. „Ich konnte dich noch nie leiden.“

Akiim war verrückt geworden, eindeutig. Sawyer blieb gar nichts anderes übrig, als es in ohnmächtiger Wut geschehen zu lassen. Er konnte nichts tun, denn sonst würde die Situation eskalieren und keiner konnte sagen, was dann geschehen würde.

Auch Killian und Wolf konnten nicht eingreifen, denn die standen vor dem gleichen Problem wie Sawyer. Die Rebellen hatten sich gegen uns gewandt, um ihre eigene Haut zu retten. Ich konnte es nicht glauben. Mein Bruder, mein eigener Bruder!

Akiim löste seinen Blick nur langsam von Sawyer und richtete ihn wieder auf Dascha. „Drehen wir den Spieß doch einfach mal um, jetzt habt ihr die Wahl. Ihr könnt euch zurückziehen, oder dabei zusehen, wie der Adam und die Eva sterben, nach denen ihr so verzweifelt gesucht habt.“

Das war ein Bluff. Das konnte nur ein Bluff sein. Irgendwie hatte er sich mit den anderen Rebellen verständigt, damit sie für die Tracker diese Show abzogen. Er würde mich nicht erschießen, er suchte nur nach einem Weg uns hier alle heil rauszubringen.

Aber wenn ich das wirklich glaubte, warum verspürte ich dann Furcht?

„Falls du noch eine Entscheidungshilfe brauchst, ich habe auch noch einen Arzt und zwei deiner Tracker.“ Er drückte mir die Spitze des Bolzens direkt gegen die Stirn.

Bluff hin oder her, mein Herz schlug mir bis zum Hals. Nur eine falsche Bewegung, ein Zucken seines Fingers und dieser Bolzen würde mir im Hirn stecken. Ich spürte das Messer in meiner Hand und war kurz davor es zu benutzen.

Die Tracker schauten sich nach ihrem Leader um, erwarteten neue Befehle, doch Dascha regte sich nicht. Die Vorstellung ließ sie eiskalt. „Du solltest dir das gut überlegen, wir schießen schneller als ihr.“

„Stell uns nicht auf die Probe, denn selbst wenn du recht hast, eure Munition brauch einen Moment um zu wirken, unsere nicht. Sobald wir abdrücken, ist es vorbei.“

Eine angespannte Stille entstand. Niemand rührte auch nur einen Muskel. Selbst der Wind schien seinen Atem anzuhalten, während er auf die Entscheidung wartete.

Langsam nahm Dascha die Hand herunter. Ihr Gesicht blieb völlig ausdruckslos. „Nur zu“, sagte sie. „Drück ab, erschieß sie.“

Ich erstarrte.

Akiims Lippen wurden schmal. „Du glaubst, ich tue es nicht.“

„Ich weiß du wirst es nicht tun. Ihr seid selbsternannte Retter und glaubt wirklich den Menschen mit euren sinnlosen Aktionen zu helfen. Ihr seid keine Mörder.“

„Du weißt nicht wozu ich fähig bin.“

„Da hast du recht, aber ich bin ganz gut darin Körpersprache zu lesen. Kismet hält ihr Messer in der Hand. Du hast weder versucht es ihr abzunehmen, noch hat sie damit auf dich eingestochen, dabei hat sie meine Leute schon für viel weniger angegriffen.“ Sie schaute zwischen uns beiden hin und her. „Ich weiß nicht, was das zwischen euch ist, aber du wirst nicht auf sie schießen.“

Akiim starrte sie an, als könnte er sie allein mit seinem Blick in die Knie zwingen. Sein Griff jedoch lockerte sich und dann ließ er einfach die Armbrust sinken.

Ich stolperte sofort von ihm weg und warf einen unsicheren Blick zu Killian, der kalkweiß im Gesicht war.

„Nehmt jetzt eure verdammten Flossen von mir“, knurrte Sawyer und schubste die Rebellen zur Seite. Seine Augen versprachen qualvolle Rache.

„Du bist also doch vernünftig.“ Dascha nickte. „Gute Entscheidung.“

„Nicht wenn es um eine Bedrohung für meine Leute geht. Aber wir schützen unsere Neuzugänge vor dem großen Knall, besonders dann, wenn sie noch nicht wissen wie es abläuft. Wir müssen auf sie aufpassen.“

Ich runzelte die Stirn. Was redete er da?

Auch Dascha schien nicht recht zu wissen, wovon er sprach. „Diese Einstellung ist … lobenswert, wenn auch ohne Belang.“

Bildete ich mir das nur ein, oder waren die Rebellen mit einem Mal aufmerksamer?

Akiim begann zu lächeln, aber es sah nicht sehr freundlich aus. „Schon erstaunlich das Wetter heute, die Sonne blendet mich richtig.“

Ich war nicht die Einzige, die einen verwirrten Blick zum bedeckten Himmel hinaufwarf. Da war keine Sonne. Es war bereits den ganzen Tag bedeckt. So wie es aussah, würde es mich nicht mal wundern, wenn es jeden Moment anfing zu regnen.

Dascha runzelte die Stirn, doch bevor sie noch etwas sagen konnte, rief Nevio laut: „Jetzt!“ und warf etwas zwischen die Rebellen. Es prallte einmal klappernd vom Boden ab und blieb dann liegen.

„Blendgranate!“, rief einer der Tracker.

Akiim packte mich und riss mich zu Boden. Dabei schlang er seine Arme schützend um meinen Kopf. Ich stieß mir den Ellenbogen schmerzhaft, konnte aber nichts dagegen tun, weil er mich runterdrückte.

Eine laute Detonation erschütterte mein Trommelfell. Ein gleißendes Licht blitzte auf, so hell, dass ich es durch meine geschlossenen Augen sah. Männer und Frauen schrien überrascht und erschrocken auf. Staub und Krümmel prasselten auf mich nieder. Dann lag ein Fluchen und Wimmern in der Luft.

Akiim ließ von mir ab und wirbelte herum. „Rückzug, sofort!“, bellte er, sprang auf die Beine und riss mich mit hoch, während ich blinzelte und versuchte zu verstehen, was hier gerade passiert war.

Um mich herum war das blanke Chaos ausgebrochen. Die Tracker standen und lagen desorientiert auf dem Boden, die meisten von ihnen hatten ihre Waffen fallengelassen. Sie blinzelten, rieben sich die Augen und hielten sich die Ohren, als hätten sie schmerzen.

Auch mit meinen Ohren stimmte etwas nicht. Ich hatte ein Klingeln drauf und alle Geräusche drangen nur wie durch dicke Watte zu mir durch.

Hecktisch schaute ich mich nach Sawyer und Killian um, doch es war Wolf, den ich als erstes entdeckte. Er kniete auf dem Boden und schüttelte immer wieder benommen den Kopf, während Nevio an seinem Arm zerrte, damit er auf die Beine kam. Direkt daneben schubste Sawyer einen der Rebellen von sich herunter und schaute sich wild um, bis er mich in dem Getümmel fand. Er blutete aus dem Ohr.

Killian kniete neben Kit, der zu Boden gegangen war und sich den Kopf hielt. Er redete beruhigend auf seinen kleinen Bruder ein, während Skade ihn anschrie, sich in Bewegung zu setzen, wenn er nicht zurückbleiben wollte.

Drei, vielleicht vier Sekunden, mehr brauchte ich nicht, um das alles wahrzunehmen.

„Lauf! Zu den Autos!“ Akiim versetzte mir einen nicht allzu sanften Stoß in den Rücken, damit ich in die Gänge kam.

Ich steckte hastig mein Messer zurück in die Scheide, bevor ich noch auf die Nase fiel und mich damit selber erstach. Dabei schaute ich mich nach Sawyer um, der genau in diesem Moment an meiner Seite auftauchte.

„Lass uns hier verschwinden.“ Er nahm meine Hand und zog mich vorwärts.

Mein Blick fiel auf Dascha, die sich zurück auf ihre Beine kämpfte. Ihre Finger umklammerten ihre Waffe und ihre Augen blitzten vor Wut. Es war das zweite Mal, dass ich an ihr eine echte Gefühlsregung wahrnahm. Zu meinem Leid war es ausgerechnet Wut.

Ein Teil der Rebellen war bereits losgelaufen, die Tracker richteten sich wankend wieder auf – immer noch ein wenig orientierungslos.

„Haltet sie auf!“, befahlt Dascha und zielte mit ihrer Waffe auf die Frau, die neben dem bewusstlosen Mann auf dem Boden hockte.

Akiim versuchte sie von ihm wegzuziehen. „Lass ihn liegen und lauf!“

In diesem Moment schoss Dascha und traf die Frau am Oberarm. Sie schaffte es noch sich den Tranquilizer aus dem Arm zu ziehen, sackte dann aber haltlos in sich zusammen und blieb neben dem Mann auf dem Boden liegen.

Fluchend wich Akiim zurück und feuerte einen wütenden Blick auf Dascha ab. „Los jetzt, weg hier!“ Er drehte sich um und rannte. Er ließ seine gefallenen Leute einfach zurück, denn er konnte nichts für sie tun.

Während Sawyer mich wegzog, schaute ich über die Schulter und versuchte dabei nicht über meine eigenen Füße zu stolpern. „Killian!“

Als er seinen Namen hörte, riss er seinen Kopf zu mir herum.

„Komm!“

Er zögerte, schaute zu Kit, der ihn an der Jacke packte und hektisch auf ihn einredete, als wollte er seinen großen Bruder nicht gehen lassen.

„Killian!“, schrie ich erneut und wollte mich von Sawyer nicht wegziehen lassen, solange er nicht bei uns war.

Sawyer bemerkte es und brüllte den Arzt ungehalten an: „Verdammte Scheiße, beweg dich endlich!“

Killian sagte noch etwas zu Kit, dann riss er sich von seinem kleinen Bruder los, sprang auf die Beine und rannte zu uns.

Sawyer versuchte mich weiter zu ziehen, doch ich gab erst nach, als Killian bei uns war und dann rannten wir so schnell wir konnten.

„Lasst sie nicht entkommen!“, rief Dascha.

Etwas sauste haarscharf an meinem Kopf vorbei. Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter. Ein Teil der Tracker war noch immer außer Gefecht gesetzt und hatte Schwierigkeiten wieder auf die Beine zu kommen, aber einige von ihnen hatten sich schneller erholt und auch wenn manche noch immer ein wenig wackelig waren, so nahmen sie die Verfolgung auf.

Wir hatten einen kleinen Vorsprung und mussten uns beeilen, um den auch halten zu können.

Nevio rannte mit Skade an der Spitze, direkt auf die alten Ruinen zu. Zwei der Rebellen hielten sich seitlich von ihnen. Akiim und Wolf waren vor uns. Das Schlusslicht wurde von einem dünnen Mann mit langen Beinen gebildet. Wir alle rannten so schnell wie wir konnten, ohne uns nach hinten umzuschauen. Wir mussten hier weg, das war alles was im Moment zählte. Sobald wir die Autos erreicht hatten, konnten wir uns immer noch Gedanken über das machen, was hier passiert war, aber dazu mussten wir sie erstmal erreichen.

Unsere Schritte donnerten über den Boden. Wasser spritzte auf, wenn wir durch eine Pfütze rannten. Sawyer ließ meine Hand nicht los. Er umklammerte sie, als befürchtete er, mich sonst zu verlieren.

„Pass auf!“, rief Killian plötzlich. Er rammte mich mit seinem ganzen Gewicht und riss mich mit sich zu Boden. Meine Hand rutschte aus Sawyers Griff und ich krachte schmerzhaft auf die Schulter und schlitterte durch unseren Schwung ein Stück.

Killian rollte von mir herunter und versuchte benommen auf die Knie zu kommen, während ich mich verwirrt aufsetzte und mich panisch nach unseren Verfolgern umsah. Ich hatte keine Ahnung, was das gerade für eine Aktion war, aber ich hatte auch keine Zeit nachzufragen, denn sie näherten sich schnell.

„Verdammt, was soll das?“, knurrte Sawyer und wollte mich wieder auf die Füße ziehen, doch da bemerkte ich, dass mit Killian etwas nicht stimmte. Er versuchte aufzustehen, doch seine Arme knickten weg und er landete wieder im Matsch. Neben ihm auf dem Boden lag ein Tranquilizer.

Oh Gaia, nein! „Er wurde getroffen!“, schrie ich und stürzte sofort zu ihm. Darum hatte er mich angesprungen. Der Dart war für mich gewesen und er hatte sich schützend vor mich geworfen.

Ich packte ihm am Arm und versuchte ihn auf die Beine zu ziehen, doch sie knickten immer wieder weg. Sein Blick war unstet und irgendwie glasig. „Komm schon, du musst aufstehen!“

Er murmelte etwas Unverständliches mit schwerer Zunge, dann fielen ihm die Augen zu und er sackte einfach zusammen.

„Nein!“ Ich versuchte ihn unter den Armen zu greifen und ihn mitzuziehen. Ich konnte ihn nicht hierlassen. Er wurde getroffen, weil er mich geschützt hatte und jetzt musste ich ihn schützen. Aber er war zu schwer, ich bekam ihn kaum von der Stelle.

„Lass ihn los!“, forderte Sawyer und packte mich am Arm, um mich wegzuziehen. „Sie kommen!“

Ich schaute mich in dem Moment nach den Trackern um, als der Rebell, der das Schlusslicht bildete, an uns vorbeirannte. Sie hatten uns fast erreicht. „Ich kann ihn nicht hierlassen!“

„Du musst!“ Er versuchte mich wegzuziehen, aber ich riss mich von ihm los und versuchte Killian an seiner Kleidung mit zu zerren. Er gehörte zu uns, ich musste auf ihn aufpassen.

„Lass ihn endlich los!“

„Hilf mir lieber, anstatt mich anzuschreien!“

Statt mir zu helfen, schlang er seine Arme um meine Taille und riss mich einfach weg.

„Nein!“ Ich wehrte mich, konnte es nicht ertragen ihn einfach hier zu lassen. Ich war schon einmal davongelaufen und hatte jemanden im Stich gelassen, weil ich zu schwach gewesen war ihm zu helfen, das würde ich kein zweites Mal tun.

„Wolf!“, brüllte Sawyer, während er mich wegzerrte. „Hilf mir!“

„Lass mich los!“, schrie ich und wandte mich in seinem Griff. „Wir können ihn nicht hierlassen, sie werden ihn töten!“ Denn auch wenn sein Bruder vorher sein Geheimnis bewahrt hatte, dieses Mal hatten alle mitbekommen wie er sich für uns entschied. Er war auf unserer Seite und das würde Eden ihm nicht verzeihen. „Bitte, lass mich los!“, rief ich schon fast verzweifelt.

„Wolf!“

Ich wollte Sawyer nicht wehtun, aber ich konnte es auch nicht erlauben, dass er meinen Willen ignorierte, also stemmte ich meine Beine in den Boden und setzte mich gegen ihn zur Wehr. Ich erwischte ihn mit dem Ellenbogen in der Seite, wodurch sich sein Griff lockerte. Das nutzte ich sofort aus, um mich von ihm loszureißen und zurück zu Killian zu stürzen.

Einen Schritt, weiter kam ich nicht, dann schlangen sich zwei weitaus muskulösere Arme um meine Mitte und hoben mich einfach vom Boden auf.

„Nein!“, rief ich panisch, doch Wolf drückte mich nur fest an seine Brust und dann rannten wir wieder.

Mit Schrecken sah ich dabei zu, wie wir uns von Killian entfernten. Eine bewusstlose Gestalt auf dem nassen Boden, unserem Feind hilflos ausgeliefert.

„Wir müssen sofort zurück, wir können ihn da nicht einfach liegen lassen!“, schrie ich panisch. „Wolf, dreh um, lass mich runter, wir müssen zurück!“

Wolf blieb nicht stehen. Er hielt mich nur noch fester, als ich versuchte mich aus seinem Griff zu winden. Dann erreichten wir die zerbröckelnden Ruinen und Killian verschwand aus meinem Sichtfeld.

„Nein, bitte, wir müssen ihm helfen! Lass mich einfach los!“

„Hör jetzt auf damit!“, brüllte Sawyer mich an. Er rannte direkt hinter uns und warf immer wieder Blicke über die Schultern.

Die Tracker hatten aufgeholt. Einer von ihnen blieb stehen, zielte und schoss. Es war reines Glück, dass wir in diesem Moment um eine Hausmauer rannten und der Schuss deswegen daneben ging.

„Aber wir können ihn doch nicht …

„Wir können ihm nicht helfen!“ Wieder ein Blick über die Schulter. „Er hat dich gerettet und würde sicher nicht wollen, dass du dich jetzt dumm verhältst!“

Das stimmte, aber ich konnte den Gedanken ihn im Stich zu lassen, einfach nicht ertragen.

Vor uns wurden Rufe laut. Ich hörte Akiim etwas brüllen und dann den schmerzverzerrten Schrei eines Mannes. Leider war es mir unmöglich, durch die Ruinen zu sehen, was dort vorne vor sich ging.

Trotz der Ungewissheit wurde Wolf nicht langsamer.

Hinter uns rief uns einer der Tracker etwas hinterher, aber ich verstand ihn nicht. Ich konnte nichts anderes tun, als fieberhaft zu überlegen, was ich tun sollte. Egal wie dumm es war, ich musste zu Killian zurück, also begann ich mich wieder zu wehren – nicht das das etwas brachte, Wolfs Griff war felsenfest.

Wir jagten weiter durch die Ruinen, immer im Zickzackkurs, bis wir auf der anderen Seite herauskamen.

Unsere Fahrzeuge waren nicht mehr weit entfernt. Direkt davor lag ein verwunderter Tracker am Boden. Ein Armbrustbolzen ragte ihm aus der Schulter. Ein zweiter Tracker verbarg sich neben dem Truck und schoss in unsere Richtung. Gleichzeitig zielte Nevio und entließ einen Bolzen von seiner Armbrust, der den Tracker mitten in den Bauch traf.

Der Mann schrie auf, griff nach dem Bolzen und kippte zur Seite. Blut sickerte zwischen seinen Händen hervor.

„Los, beeilt euch!“, rief Akiim, während er sich Richtung Jeep bewegte. „Rein in die Fahrzeuge!“

Nevio war bereits auf dem Weg zur Tür des Jeeps, während zwei der Rebellen eilig zum Truck jagten.

Hinter mir gab es wieder einen Schuss und dann ging der dünne Mann mit den langen Beinen zu Boden.

Wolf gab Vollgas und rannte an ihm vorbei. Er überholte sogar Skade.

Oh nein, das konnte er nicht machen. Wenn ich erstmal im Wagen saß, konnte ich nichts mehr für Killian tun. Dabei musste ich doch auf ihm aufpassen. Es war meine Schuld, dass er überhaupt hier war, ohne mich wäre er niemals in diese Situation gekommen. Ich durfte nicht einfach so verschwinden.

„Skade!“, brüllte Akiim plötzlich entsetzt.

Ich riss den Kopf herum und sah gerade noch, wie sie zu Boden stürzte. Sie versuchte sofort wieder auf die Beine zu kommen, aber ihre Muskeln wollten ihr nicht mehr gehorchen. Ich wusste ganz genau was für ein Gefühl das war, hatte ich es doch selber schon erlebt.

Akiim wollte losrennen, um ihr zu helfen, doch Nevio packte ihn am Arm und hielt ihn zurück.

„Wir müssen hier sofort weg!“, fauchte er meinen Bruder an und zerrte an ihm, bis dieser einlenkte und widerwillig zum Jeep rannte. Er eilte zur Beifahrerseite, während Nevio sich hinters Steuer klemmte.

Sawyer überholte Wolf, riss die hintere Tür auf und sprang praktisch in den Wagen.

Der Motor des Trucks startete. Die Reifen Quietschten und drehten durch. Schlamm und Spritzwasser wurden hochgeschleudert und dann jagte der Wagen davon.

„Nein!“, schrie ich wieder, als Wolf den Wagen erreichte und mich durch die offene Tür auf den Rücksitz schubste. Ich wollte sofort wieder herausklettern, aber Sawyer packte mich und riss mich zurück. Und dann blockierte Wolf den Weg, als er eilig auf die Rückbank rutschte. „Bitte, wir können nicht einfach … ahhh!“

Ich riss die Arme schützend über den Kopf, als die Heckscheibe explodierte und ein Schauer aus Scherben auf uns niederregnete.

„Fahr!“, brüllte Sawyer.

Der Motor sprang an, Türen wurden zugeschlagen.

Ich wirbelte herum und schaute durch das kaputte Rückfenster. Die Tracker hatten uns fast erreicht. Einer von ihnen beugte sich über die bewegungslose Gestalt von Skade, als wollte er überprüfen, ob es ihr gut ging.

Dascha war ganz vorne mit dabei. Breitbeinig stand sie da und zielte mit ihrer Waffe auf uns.

„Runter!“, brüllte ich und ging selber in Deckung. In der nächsten Sekunde flog ein Tranquilizer in den Wagen und blieb mit der Spitze in der Kopfstütze von Akiim stecken.

Nevio drückte das Gaspedal durch. Der Wagen machte einen Satz nach vorne und raste dann davon. Dascha rief uns noch etwas hinterher, was ich nicht verstand. Sie blieb zusammen mit ihren Trackern zurück. Und fünf von unseren Leuten, darunter Skade und Killian. Wir fuhren wirklich einfach weg und ließen sie zurück und das war allein meine Schuld.

 

oOo

Kapitel 57

 

„Nein, halt an, fahr zurück, wir können sie nicht einfach im Stich lassen!“

Aber wir hielten nicht an.

Mit Entsetzten sah ich, wie die Landschaft rasend schnell an uns vorbeizog und die Ruinen hinter uns immer kleiner wurden. Nevio beschleunigte sogar noch, bis der Motor aufheulte.

„Nein, was machst du? Wir müssen sofort zurück!“ Ich wollte nach ihm greifen, wollte ihn zwingen anzuhalten und umzukehren, denn der Gedanke Killian und die anderen in der Obhut der Tracker zu lassen, ließ den Schrecken der Vergangenheit zu mir zurückkehren. Doch bevor ich ihn zu fassen bekam, packte Sawyer meine Handgelenke und riss mich zurück.

„Nein, wir können …“

„Hör mir zu“, knurrte er und nahm mein Gesicht zwischen seine Hände. Er zwang mich ihn anzusehen. Noch immer drang alles wie durch Watte an meine Ohren, auch wenn es langsam besser wurde. „Killian wird nichts geschehen, er ist einer von ihnen.“

„Nein, er …“

„Er wollte die ganze Zeit zurück nach Eden, das weißt du. Er ist nur bei uns geblieben, weil er glaubte, nicht zurück zu können. Aber sein Bruder hat ihn nicht verraten, niemand in Eden weiß was er getan hat.“

Er hatte recht, jedes einzelne Wort war wahr und doch hatte ich das Gefühl ihn im Stich zu lassen, nur um meine eigene Haut zu retten. Genau wie ich es damals bei Akiim getan hatte.

„Verstehst du mich?“, fragte er eindringlich. „Er ist nicht in Gefahr, bei ihnen ist er sicher.“

„Aber er hat sich für uns entschieden.“ Er wusste, dass er zurückkonnte und trotzdem war seine Wahl auf uns gefallen. „Das haben sie gehört. Sie haben laut und deutlich gehört, was er gesagt hat. Sie …“

„Nein, haben sie nicht“, widersprach er mir sofort. „Keiner hat es gehört, nur sein Bruder. Ich weiß es nur, weil ich direkt neben ihm gestanden habe. Sein Bruder wird ihn nicht verraten.“

Konnte das stimmen? Ich konnte mich nicht richtig erinnern, wusste nicht mehr, wer was genau gesagt hatte und wer es gehört hatte. Aber Sawyer würde mich doch sicher nicht belügen, oder? Nicht bei sowas wichtigem. Aber vielleicht hatte er es selber nicht mehr richtig in Erinnerung. Alles war so schnell gegangen. „Aber was, wenn er …“

„Es wird ihm gut gehen, sie bringen ihn nach Hause, alles wird gut“, versprach Sawyer und drückte seine Stirn gegen meine. „Du brauchst keine Angst haben.“

Der Wagen raste über eine Bodenwelle und machte einen kleinen Sprung, der uns alle durchschüttelte.

Vorne schlug Akiim mit solcher Wucht auf das Armaturenbrett, dass der Kunststoff Risse bekam und ich vor Schreck zusammenzuckte. „Verdammt!“ Sein wütender Schrei erfüllte den ganzen Wagen. „Verdammt, verdammt, verdammt!“ Jeder Ausruf wurde von einem Schlag begleitet. Das Armaturenbrett splitterte.

Nicht nur ich hatte jemanden verloren, wurde mir klar. Skade, das Mädchen, das unter seinem Schutz stand, war den Trackern in die Hände gefallen und er konnte nichts dagegen tun.

Das war meine Schuld. Für das alles war ich verantwortlich, denn ohne mich hätten wir uns niemals auf den Weg gemacht. Ich hatte Marshall retten wollen, doch statt ihn aus Eden rauszuholen, hatten wir nun fünf Leute an die Stadt verloren.

Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was sie mit den Rebellen anstellen würden, denn sie waren nicht wie Killian, sie gehörten nicht zu ihnen.

Nevio warf einen angespannten Blick durch den Rückspiegel. „Äh Häuptling, ich will die Stimmung ja nicht ruinieren, aber uns klebt da etwas an der Stoßstange.“

Akiim war nicht der Einzige, der den Kopf herumriss und durch die kaputte Rückscheibe die drei Jeeps der Tracker entdeckte, die zwischen den Ruinen herausschossen und sofort die Verfolgung aufnahmen.

Akiim knurrte etwas Unverständliches, während mein Herzschlag wieder einen Zahn zulegte – dabei hatte es sich doch gerade erst ein wenig beruhig gehabt.

Der Truck vor uns beschleunigte, auch ihm waren unsere Anhängsel nicht entgangen.

Nevio gab mehr Gas und raste ihnen hinterher. Doch auch die Tracker konnten noch schneller und blieben uns dicht auf den Fersen.

„Sie wollen uns nicht ziehen lassen.“ Natürlich wollten sie das nicht. Wochenlang hatten sie die freie Welt nach uns abgesucht und uns gejagt. Jetzt wo sie zufällig über uns gestolpert waren, würden sie alles dransetzen uns zwischen ihre Finger zu bekommen. „Sie wollen uns zurück nach Eden bringen.“

„Dazu müssten sie uns aber erstmal einholen“, ließ Nevio mich wissen.

Der Truck machte eine scharfe Linkskurve und schoss direkt in ein kleines Wäldchen hinein. Nevio ließ sich nicht abhängen und blieb direkt hinter ihm.

Mein Puls dröhnte in meinen Ohren, als wir zwischen die Bäume eintauchten. Dicke Stämme sausten an den Fenstern vorbei, so nahe, dass ich mehr als einmal mit einer Kollision rechnete. Als die Karosserie an einem Stamm entlangschrammte, krallte ich meine Hände in die Sitzpolster. Sollten die Tracker uns nicht schnappen, dann nur weil Nevio uns vorher mit seinem Fahrstil umbrachte.

Das waren doch wirklich mal phantastische Zukunftsaussichten.

Trotz meiner Zweifel schaffte Nevio es uns in einem Stück durch das Wäldchen zu bringen. Der Wagen hüpfte und holperte über den unebenen Boden. Die Bäume verschwanden zurück und dann fuhren wir über offenes Gelände.

Nevio drückte das Gaspedal durch und wir schossen nach vorne.

Ich wurde in den Sitzt gedrückt und beobachtete angespannt das sich entfernende Wäldchen. Ich hoffte – betete – dass die Tracker einen Unfall gehabt hatten und gegen einen Baum gefahren waren. Am Besten noch so, dass alle drei Fahrzeuge bei diesem Zusammenstoß unschädlich gemacht wurden, aber so viel Glück hatten wir nicht. Schon in der nächsten Sekunde tauchten die Tracker zwischen den Bäumen auf und hängten sich sofort wieder an unsere Fersen.

„Sie sind immer noch hinter uns.“ Ich schaffte es nicht die Panik aus meiner Stimme herauszuhalten.

Sawyer wirbelte zu Nevio herum. „Fahr schneller!“

„Ich fahr doch schon so schnell wie ich kann!“

„Aber sie holen auf!“

„Das sehe ich selber!“, knurrte Nevio verbissen.

In dem Moment gab der Laserfunk ein Geräusch von sich. „Truck an Jeep, könnt ihr mich hören?“

Akiim griff sofort nach dem Gerät und hielt es sich an den Mund. „Wir hören euch.“

„Wir sollten uns aufteilen, dann hängen wir sie vielleicht ab.“

„Ja, in Ordnung, nehmt die südliche Route, wir nehmen die nördliche.“

„Verstanden.“

„Und passt auf euch auf. Geht sicher, dass sie euch nicht mehr folgen, bevor ihr ins Center zurückkehrt. Wir sehen uns dann Zuhause.“

„Schauen wir mal wer zuerst da ist. Bis bald.“ Der Truck machte einen Bogen nach links und schoss davon.

„Viel Glück“, murmelte Akiim und legte den Laserfunk zur Seite.

In dem Moment fuhr Nevio eine scharfe Kurve nach rechts, direkt auf die zerklüfteten Ruinen am Horizont zu.

Durch die Fliehkraft wurde ich gegen Sawyer geschleudert. Er fing mich ab, aber dann krachte Wolf gegen mich und Sawyer wurde an der Tür plattgedrückt.

„Verflucht, was soll das? Geh weg zu Riesenklotz!“

Mit einem Brummen rückte Wolf ab.

Ich versuchte mich aufzurichten, aber Nevio fuhr eine weitere Kurve und dieses Mal wurden wir gegen Wolf geschleudert.

„Wo hast du deinen verdammten Führerschein gemacht?“, motzte Sawyer und versuchte mich nicht zu zerquetschen.

„Willst du fahren?!“, fauchte Nevio, umrundete einen Baum und gab dann Vollgas.

Die Ruinen kamen näher. Große, alte Gebäude, viele Bauten. Nicht genug für eine Stadt, aber zu viele für ein einfaches Dorf.

Sobald Sawyer abgerückt war, warf ich einen kurzen Blick durch das kaputte Heckfenster. Drei Fahrzeuge waren hinter uns. Keiner der Wagen war dem Truck gefolgt, sie ließen ihn einfach ziehen, um uns nicht aus den Augen zu verlieren. „Die Rebellen sind ihnen egal, sie verfolgen uns.“

Sawyers Blick wurde grimmig. „Natürlich tun sie das, sie wollen ihr unvergleichliches Zuchtmaterial zurück.“

Akiim sah aus, als wollte er jemanden schlagen. „Gib Gas, Fünkchen.“

„Ich versuche es ja, aber mehr bekomme ich aus dieser Schrottkiste nicht heraus!“

Oh Gaia, sie würden uns einholen. Sie würden uns verfolgen, bis sich ihnen eine Gelegenheit bot, uns aus diesem Wagen zu holen. Sie würden nicht aufgeben, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Und ich saß hier und war außerstande etwas dagegen zu unternehmen, weil ich in diesem Metallkasten auf vier Rädern festsaß. Ich war der Situation hilflos ausgeliefert!

„Ich will nicht zurück nach Eden.“ Mein Atem wurde schneller und ich spürte, wie die blanke Panik von mir Besitz ergriff. Ich wollte ihnen nicht noch einmal ausgeliefert sein. Das würde ich nicht schaffen. „Ich kann nicht.“ Ich griff über Sawyer hinweg und versuchte den Türöffner zu erreichen. Wenn es sein musste, würde ich aus dem fahrenden Wagen springen!

„Verdammt, was machst du da?“ Er schlug meine Arme weg und stieß mich gegen Wolf. „Willst du uns umbringen?“

„Ich muss hier raus!“ Meine Stimme überschlug sich fast.

„Nein, du musst dich beruhigen!“ Als ich erneut versuchte an den Griff zu kommen, packte er meine Arme und hielt mich fest. Er drückte mich mit dem Rücken in den Sitz und warf sein Bein über meines, damit ich nicht wieder aufstehen konnte. „Hör mir zu: Alles wird gut werden, aber du musst jetzt ruhig bleiben.“

Meine Augen waren riesig. Ein Teil von mir wusste, dass er recht hatte. Bei dieser Geschwindigkeit aus einem fahrenden Wagen zu springen, war einfach nur verrückt. Aber der rationale Teil in meinem Hirn hatte sich ausgeschaltet. Da war nur ein einziger Gedanke in meinem Kopf: Ich musste hier weg, ich musste rennen und das konnte ich nicht, während ich hier saß und anderen die Kontrolle überließ.

„Ich kann nicht, es geht nicht.“ Ich wollte ihn wegdrücken. Ich konnte nicht richtig atmen. Kleine Punkte tauchten vor meinen Augen auf. Mein Herz raste und mir wurde schwindelig.

Der Wagen ruckelte.

„Was machst du da?“, wollte Akiim wissen. „Besteigst du da gerade meine Schwester?!“

„So ein Mist.“ Sawyer beachtete ihn gar nicht. Er veränderte seinen Griff, nahm meine Hand und drückte sie sich auf seine Brust. „Komm schon Baby, du weißt wie es geht. Konzentrier dich auf mich, atme tief durch, dann wird es besser.“

Eine Panikattacke, ich hatte verdammt noch mal schon wieder eine Panikattacke! Leider half mir diese Erkenntnis nicht weiter. Ich spürte wie mir der Schweiß ausbrach und meine Hände zu zittern begann.

Akiims Blick war grimmig. „Wenn du nicht sofort …“

„Halts Maul!“, fauchte Sawyer ihn an. „Entweder ich halte sie fest, oder sie springt hier gleich aus dem Wagen! Kümmere du dich lieber darum, dass wir endlich unsere Verfolger loswerden!“

Ich kniff die Augen zusammen, krallte meine Finger in sein Hemd und versuchte mich auf seinen Herzschlag zu konzentrieren, aber der Wagen ruckelte so sehr, dass ich ihn kaum fühlte.

„Versuch einfach tief und langsam zu atmen.“ Sawyer versuchte seine Stimme ruhig zu halten, schaffte es aber nicht, seine Anspannung daraus zu verbannen. „Los, wir machen es zusammen. Ganz ruhig.“ Und dann begann er mir zu zeigen, wie ich atmen sollte.

Der Beifahrersitz knarzte, als Akiim sich bewegte. „Weißt du noch letztes Jahr, als wir von dem Gewitter überrascht wurden?“, fragte er Nevio.

„Ja.“

Ich konzentrierte mich auf Sawyers Herzschlag, versuchte seine Atmung zu imitieren. Ich durfte jetzt nicht den Kopf verlieren, ich musste mich zusammenreißen.

„Das war doch hier in der Gegend gewesen, oder?“, fragte Akiim.

„Ja.“

„Findest du das wieder?“

„Darauf kannst du deinen knackigen Arsch verwetten. Gut festhalten!“ Er sprach die Warnung aus, ließ uns aber keine Chance zu reagieren. Er riss das Lenkrad herum und im nächsten Moment rutschte Sawyer vom Sitz und fiel in den Fußraum. Dabei riss er mich mit nach unten und ich landete auf ihn.

Wolf dagegen schaffte es irgendwie oben zu bleiben.

Sawyer gab ein Stöhnen von sich. „Erinnere mich daran, nie wieder mit dir in einen Wagen zu steigen“, knurrte er und hielt mich fest an sich gedrückt, während der Motor aufheulte und wir an Geschwindigkeit gewannen.

Ich lag auf Sawyer, kniff die Augen zusammen und versuchte mein hämmerndes Herz zu beruhigen. Ich musste mich nur auf ihn konzentrieren. Alles andere war egal, nur sein Herzschlag zählte.

Ich sah nicht wohin wir fuhren, doch ich spürte, wie wir durch die Landschaft schossen. Der ganze Wagen vibrierte und ruckelte bei jeder Bodendelle. Egal was Nevio und Akiim vorhatten, ich hoffte das es gelang und zwar bevor ich endgültig die Nerven verlor und einfach durchdrehte – nicht das dazu noch viel fehlte.

„So ist gut“, ermutigte Sawyer mich und veränderte ein wenig seine Position. „Ruhig und gleichmäßig.“

Es funktionierte. Genau wie beim letzten Mal spürte ich, wie dieses Gefühl von Enge langsam von mir abfiel. Die Punkte vor meinen Augen verschwanden, meine Finger hörten auf zu zittern und mein Herz beruhigte sich ein wenig.

Nevio begann Schlangenlinien zu fahren. Er wurde ein wenig langsamer, der Boden wurde unebener.

Ich blinzelte, konnte aus meiner Position aber nur einen kleinen Ausschnitt durch die Fensterscheibe sehen. Die Ruinen kamen schnell näher. Es sah fast aus, als würden sie wachsen und sich dem verhangenen Himmel entgegenstrecken. Einzelne Mauern und zerfallene Gebäude schälten sich heraus. Der Boden unter unseren Rädern wurde ebener. Wir fuhren jetzt auf einer alten Straße, die direkt zwischen die Ruinen führte.

Ich betete, dass Nevio wusste was er da tat und uns nicht geradewegs in eine Sackgasse fuhr.

„Alles wird gut“, murmelte Sawyer und rieb mir über den Rücken, als könnte er so meine Unruhe vertreiben.

Ich richtete mich ein wenig auf, ließ meine Hand aber auf seinem Herzen. Ich musste sehen, was hier geschah, aber das konnte ich nicht, wenn ich mich auf ihm zusammenkauerte.

Die Ruinen waren jetzt direkt vor uns und schon im nächsten Moment hatten sie uns geschluckt.

Für einen Moment wurden unsere Verfolger von den alten Gebäuden verdeckt, dann waren sie auch schon wieder hinter uns auf der Straße und jagten uns hinterher. Sie waren immer noch da. Sie würden nicht lockerlassen. Ich konnte nichts anderes tun, als hilflos dazusitzen und darauf zu vertrauen, dass Nevio wusste was er da tat.

Gebäude und knochige Stahlgerippe sausten an den Fenstern vorbei. Matsch und Dreck spritzte auf. Eine Bodenwelle rüttelte uns ordentlich durch.

„Gleich sind wir sie los“, murmelte Nevio angespannt, als wollte er sich selber antreiben nicht aufzugeben.

Ich wusste nicht was er vorhatte, aber ich hoffte, dass er recht behielt. Wenn ich noch angespannter wurde, würde ich einfach wie Glas zerspringen.

Vor uns war die Straße verschüttet und überwuchert. Nevio musste abbremsen und drumherum fahren. Der Wagen ächzte und knarrte, gar nicht zufrieden den Schuttberg zu überwinden. Ich hörte das Prasseln von Steinchen, die gegen die Karosserie knallten. Es gab einen Knall, der mich zusammenzucken ließ, dann waren wir wieder auf der Straße. Nevio trat das Gaspedal voll durch, wodurch ich halb auf dem Sitzt landete.

Auch die Tracker hatten abbremsen müssen, um das Hindernis zu überwinden, waren aber einen Moment später wieder hinter uns, nicht bereit sich abhängen zu lassen.

„Haltet euch gut fest“, verlangte Nevio und raste direkt auf eine Kreuzung zu, auf der mehrere große Bäume gewachsen waren und den Straßenbelag schon vor langer Zeit aufgerissen hatten. Nevio raste an einem großen Gebäude vorbei, fuhr zwischen den Bäumen hindurch und machte dabei eine scharfe Kurve nach rechts. Die Räder rutschten auf dem nassen Untergrund weg, das Heck brach aus und wir wurden herumgeschleudert. Unter mir stöhnte Sawyer. Da half auch festhalten nicht.

Die Räder drehten einen Moment durch, dann bekamen sie wieder Boden zu fassen und der Wagen machte einen Satz nach vorne.

Ich glaubte Nevio würde nun einfach wieder mit Vollgas weiterfahren, darum traf es mich völlig unvorbereitet, als er ein weiteres Mal scharf nach rechts abbog und direkt auf das große Gebäude zuraste, an dem wir gerade vorbeigefahren waren.

Ich riss die Augen auf und krallte meine Finger in den Sitz.

Unten in dem Gebäude fehlte die Wand. Es sah aus wie ein Schlund, der in die Finsternis führte und Nevio fuhr ungebremst hinein.

Der Wagen bretterte über Trümmerteile. Ich schlug mit dem Kopf gegen die Decke. Dann machte er eine Vollbremsung und ich knallte mit dem Gesicht gegen den Vordersitz. In meinem Kopf explodierte der Schmerz. Der Motor stotterte noch einmal und erstarb dann einfach.

Stille hüllte uns ein. Nichts als unser hektischer Atem war zu hören. Durch die Erschütterung hatte sich Putz von den Wänden gelöst und rieselte auf den Wagen.

Die anderen rissen die Köpfe herum und starrten angespannt durch die kaputte Heckscheibe, während ich mehrere Sekunden einfach nur mit wild schlagendem Herzen dasaß und Sawyer mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Mein Kopf hämmerte, meine Finger schmerzten und ich stand vermutlich kurz vor einem Herzinfarkt.

Er war in das Gebäude gefahren. Wir standen in einem verdammten Gebäude, das jeden Moment über unseren Köpfen zusammenbrechen konnte! Das wäre wirklich das Sahnehäubchen, an diesem bereits so erfolgreichen Tag. Wenigsten die verdammte Panikattacke hatte sich so weit zurückgezogen, dass ich wieder klar denken konnte und nicht mehr kurz vor dem Ausflippen stand. Man musste eben auch die kleinen Dinge zu schätzen wissen.

Als sich das Summen der Tracker näherte, wirbelte ich herum und starrte mit angehaltenem Atem durch die kaputte Heckscheibe. Wir standen so weit im Gebäude, dass sie uns von der Straße aus eigentlich nicht sehen dürften. Trotzdem war ich angespannt wie ein Drahtseil.

Der erste Wagen raste in rasantem Tempo direkt an uns vorbei, der zweite folgte schon in der nächsten Sekunde. Das Summen wurde leiser und verklang. Von unserem dritten Verfolger gab es keine Spur.

„Komm schon“, murmelte ich unruhig und spitzte die Ohren. Dann hörte ich ihn. Der letzte Wagen näherte sich, raste an uns vorbei und war gleich darauf auch schon wieder verschwunden. Das Geräusch verklang in der Ferne, bis nichts mehr zu hören war.

„Es hat geklappt“, sagte Nevio und entließ erleichtert die Luft aus den Lungen. „Sie sind weg.“

Er hatte recht, sie waren einfach an uns vorbeigefahren, ohne auch nur zu ahnen, dass wir uns hier drinnen verbargen.

Langsam drehte ich den Kopf und schaute zu Sawyer nach unten. Genau wie ich war er am ganzen Körper zum zerreißen gespannt. Und da, an seinem Ohr, war das Blut? Natürlich, das war vorhin passiert, als dieses Blend-Dings explodiert war.

Ich berührte ihn dort vorsichtig, was ihn dazu brachte mich anzusehen. Seine Augen weiteten sich ein wenig.

„Du blutest.“ Er griff nach meiner Stirn.

Schmerz zuckte durch meinen Kopf und ließ mich zischend vor ihm zurückweichen.

„Die Narbe ist wieder aufgeplatzt.“  Sein Finger strich vorsichtig daran entlang und als er ihn wieder zurückzog, war er mit Blut benetzt.

Das erklärte zumindest das Hämmern in meinem Kopf.

Da es weder für mich noch für Sawyer sehr bequem war in diesem Fußraum zu hocken, erhob ich mich und rutschte wieder neben Wolf auf die Bank.

Sawyer hatte es etwas schwerer aus der Lücke zu kommen, schaffte es dann aber und setzte sich mir gegenüber auf den Sitz. Sein Auge musterte mich intensiv, als wollte er sichergehen, dass mit mir wieder soweit alles in Ordnung war.

„Mir geht es gut“, sagte ich und tastete vorsichtig nach der Wunde an meiner Stirn.

„Hier.“ Nevio reichte ein Tuch nach hinten.

Sawyer nahm es ihm ab und gab es an mich weiter.

Ich drückte es vorsichtig an meine Stirn, trotzdem schmerzte es.

„Geht es allen gut?“, wollte Akiim wissen.

„Definiere gut“, knurrte Sawyer.

Von Wolf kam ein grimmiges Brummen. Er rieb sich über den Ellenbogen. Wahrscheinlich hatte er ihn sich bei der rasanten Fahrt irgendwo angestoßen.

„Alle leben noch und können aufrecht sitzen“, sagte Nevio. „Das ist alles was zählt. Das sollten wir feiern, indem wir uns ganz schnell aus dem Staub machen.“ Er drehte den Zündschlüssel im Schloss. Der Motor stotterte kurz und erstarb dann gleich wieder.

„Dass darf doch jetzt nicht wahr sein“, knurrte Sawyer.

Nevio ließ sich von dem Fehlversuch nicht entmutigen. Er versuchte es ein zweites und drittes Mal, leider mit demselben Ergebnis. „Nun komm schon Kleines, lass uns jetzt nicht im Stich.“ Entschlossen drehte er den Zündschlüssel ein weiteres Mal. Es dauerte einen Moment, doch dann sprang der Motor endlich mit lautem Röhren an. „Ja, ich wusste auf dich ist Verlass.“

Nevio schaltete. Der Wagen fuhr rückwärts, wippte und ruckelte. Er schrammte an Unrat und Schutt entlang und etwas kratzte metallisch über den Unterboden. Es klang fast, als würde etwas abgerissen werden. Putz und Dreck rieselten auf das Autodach und das Gebäude knarzte unheilverkündend.

Mir lief es eiskalt den Rücken runter.

Langsam herauszufahren war nicht besser, als schnell hinein. Wir rollten heraus, wippten dabei hin und her und es klang, als wenn der Wagen gleich auseinanderfallen würde. Dann waren wir aus dem Gebäude raus und standen endlich wieder auf der Straße.

Ich warf einen Blick zurück in den dunkeln Schlund, der uns so gut verborgen hatte. Es sah wirklich nicht sehr einladend aus und … was war das? Ich kniff die Augen leicht zusammen. Da leuchtete doch etwas. Es sah aus wie ein Lämpchen, so klein, wie die auf den Handschellen der Tracker. Aber das waren keine Handschellen, es sah aus wie ein kleines Gerät. War das vom Wagen abgefallen? Hoffentlich war das nicht wichtig.

Akiim warf einen Blick über die Schulter, in die Richtung, in die die Tracker verschwunden waren. „Bring uns hier weg, bevor sie zurückkommen.“

„Ich lebe um zu dienen.“ Nevio setzte den Wagen in Bewegung und brachte uns von hier weg. Er fuhr schnell, aber nicht so rasant wie zuvor. Wir brauchten fast doppelt so lange für die gleiche Strecke, aber ich war dankbar dafür, denn wir wurden nicht so durchgeschüttelt und herumgeschleudert. Ich wollte gar nicht wissen, wo ich überall blaue Flecken hatte. Mein Körper fühlte sich ziemlich geschunden an.

Als wir die Ruinen verließen, gab er ein wenig mehr Gas. Wir ließen den Ort des Geschehens schnell hinter uns. Angeschlagen und mutlos und weiter von unserem Ziel entfernt, als bei unserem Aufbruch.

Wir hatten es nicht geschafft. Wir waren zu einer Mission aufgebrochen und waren schon gescheitert, bevor wir es überhaupt versuchen konnten. „Was wird jetzt aus Marshall?“, fragte ich leise und nahm das Tuch von meiner Stirn. Es hatte rote Flecken. „Er ist immer noch in Eden.“ Und wartete auf ein Wunder. Auch Killian würden die Tracker nun dorthin bringen. Alles war so schiefgelaufen.

„Wir müssen zurück ins Center“, sagte Akiim nach kurzem Zögern. „Wir müssen uns neuformieren und ich muss mich mit meinen Leuten am Treffpunkt in Verbindung setzten. Das kann ich nur von dort aus. Sie müssen wissen, was passiert ist.“

Ich wartete einen Moment darauf, dass er weitersprach, aber da kam nichts mehr. „Das war keine Antwort auf meine Frage. Was ist mit Marshall?“

Akiim drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und schüttelte ganz leicht den Kopf. „Wir müssen zurück, Biene. Es tut mir leid, aber … ich muss mit Clarence sprechen. Ich muss …“ Er verstummte und biss die Zähne so fest zusammen, dass es schmerzen musste. Aber er brauchte auch gar nicht zu Ende sprechen, ich verstand ihn auch so.

Er hatte Skade mitgenommen, Clarences jüngste Tochter und nun musste er dem Mann gegenübertreten, der ihm ihre Sicherheit anvertraut hatte, um ihm zu sagen, dass er versagt hatte.

Wir hatten Skade verloren. Wir hatten Killian zurückgelassen und drei weitere Rebellen waren dem Feind in die Hände gefallen.

Das war meine Schuld. Ohne mich wäre es niemals soweit gekommen.

Es war dumm von mir gewesen um Hilfe zu bitten. Es war dumm gewesen, andere mit in diese Sache hineinzuziehen. Ich hätte von Anfang an alleine gehen sollen, dann wäre nichts von alledem geschehen. Dies war eine Schuld, die nun auf meinen Schultern lastete und damit würde ich leben müssen.

Ich zog die Beine auf den Sitz und schlang meine Arme darum. So hätte das nicht laufen sollen.

Sawyer streckte den Arm nach mir aus und berührte mich an der Schulter, aber ich reagierte nicht darauf. Es ging nicht, im Moment konnte ich nichts anderes tun, als mich in meiner eigenen Gedankenwelt zu verlieren, um an der Schuld nicht zu ersticken.

Im Wagen wurde es ruhig. Ich war nicht die Einzige, die ihren Gedanken nachhing. Uns alle beschäftigte, was geschehen war und was das für Folgen haben würde.

Ich konnte nicht aufhören an Killian zu denken. Hatte Sawyer recht und er würde nun einfach in sein altes Leben zurückkehren, als wäre nie etwas geschehen? Ich war mir sicher, dass die anderen Tracker mitbekommen hatten, wie Killians Entscheidung ausgefallen war. Aber ich war mir auch sicher, dass Sawyer mich nicht belügen würde. Zumindest Xander musste es mitbekommen haben. Killian war zurückgetreten und hatte es laut verkündet. Oder täuschte mich meine Erinnerung wirklich so sehr?

Die Landschaft flog an den Fenstern des Wagens vorbei. Wälder wechselten sich mit weiten Feldern und Ruinen in der Ferne ab. Stunde um Stunde verrann. Der Mittag zog an uns vorbei und der Abend begann.

Nevio und Akiim wechselten sich mit dem Fahren ab, damit wir nicht anhalten mussten. Nur einmal legten wir eine Pause ein, um Pinkeln zu gehen und eine Kleinigkeit zu essen – nicht dass irgendwer von uns großen Hunger hatte.

Als Akiim sich am Abend hinter das Steuer klemmte, machte Nevio auf dem Beifahrersitz ein kleines Nickerchen, damit er wieder fit war, wenn er das nächste Mal an die Reihe kam. Es war schon lange dunkel, als die Erschöpfung meinen Körper zur Ruhe zwang und ich zwischen Sawyer und Wolf einschlief.

Ich wusste nicht, ob ich träumte, oder einfach nur in der Schwärze versank, doch als ich die Augen wieder öffnete, fühlte ich mich nicht besonders ausgeschlafen.

Ich blinzelte ein paar Mal, versuchte mich zu orientieren und dann fiel mir alles wieder ein. Die Erkenntnis zog mich gleich sofort runter und ließ mich wünschen, einfach wieder einzuschlafen. Leider war das nicht möglich.

Müde rieb ich mir über die Augen und stellte fest, dass ich mich an Sawyer angekuschelt hatte. Mein Kopf lag an seiner Brust, während seine Finger behutsam Kreise auf meine Hüfte malten.

Sein Blick war ruhig und ließ nicht erkennen, was er dachte. Aber es fühlte sich so intim an, dass ich ein ganz komisches Gefühl bekam.

Ich wusste nicht was genau es war, dass mich davor zurückschrecken ließ, aber ich richtete mich abrupt auf und schaute mich schnell im Wagen um. Wir waren allein. Und nicht nur das, der Wagen stand still. „Wo sind die anderen?“

„Draußen.“ Er zeigte nach vorne zur offenen Motorhaube. „Der Wagen lässt sich nicht mehr starten.“

 Ich stellte fest, dass meine Ohren wieder richtig funktionierten. Selbst das Klingeln war verschwunden. „Warum?“

„Keine Ahnung. Er fing an zu stottern und ist dann einfach ausgegangen.“ Er richtete sich auf und fuhr mit den Händen durch sein Haar. Sein Kopfschmuck war verschwunden. Am Ohr klebte ihm noch immer ein wenig Blut. „Sie versuchen ihn gerade wieder in Gang zu kriegen, aber da sie schon eine ganze Weile da draußen stehen, habe ich keine großen Hoffnungen mehr.“

Das klang nicht gut. Ich schaute durch das Fenster. Draußen war es stockfinster. „Wo sind wir?“

„Irgendwo verloren mitten im Nirgendwo.“

Was fragte ich auch so blöd? Ich öffnete die Wagentür und stieg aus. Vielleicht hatten die anderen Antworten auf meine Fragen.

Draußen war es ziemlich kalt. Ich zog meine Jacke fester um meine Schultern, als ich zu den Männern an der Motorhaube ging. Nevio steckte mit dem Kopf darunter, Akiim leuchtete mit einer Taschenlampe hinein. Wolf stand daneben und schien sie zu bewachen.

„Bekommt ihr ihn wieder zum Laufen?“

Akiim warf mir einen kurzen Blick zu.

„Nicht ohne einen neuen Motor“, murmelte Nevio und zog den Kopf heraus. „Das Teil ist Schrott.“

Genau das hatte ich nicht hören wollen. „Weil das leuchtende Ding fehlt?“

Nevio zog die Augenbrauen zusammen. „Was für ein leuchtendes Ding?“

„Das was wir bei unserer Flucht verloren haben. Ich glaube es ist abgefallen, als wir in das Gebäude gerast sind.“

„Ich habe ehrlich keine Ahnung wovon du sprichst. Uns fehlt kein leuchtendes Teil.“ Nevio wischte sich die Hände an seiner Hose ab. „Der Keilriemen ist gerissen und ich habe hier nichts womit ich ihn ersetzten kann.“

Wenn kein Teil fehlte, was war dieses kleine Gerät mit dem Lämpchen gewesen? Nicht dass das im Moment von großer Bedeutung war, denn wenn der Wagen kaputt war, standen wir vor einem ganz anderen Problem. „Was machen wir jetzt?“

„Laufen.“ Nevio griff nach der Motorhaube und schlug sie zu. „Von hier aus werden wir ungefähr einen Tag lang unterwegs sein.“ Er schaute sich um, aber in der Dunkelheit war nicht viel zu erkennen. „Wir sollten uns noch ein wenig ausruhen und dann mit dem Sonnenaufgang aufbrechen.“

„Das hat uns gerade noch gefehlt“, knurrte Akiim, aber da niemand etwas an unserer Situation ändern konnte, machten wir genau das was Nevio gesagt hatte. Wir setzten uns wieder in den Wagen und warteten auf die Morgendämmerung.

Die Männer nickten nach und nach ein, aber ich brauchte länger und das nicht nur, weil ich gerade erst aufgewacht war. Zu viel ging mir durch den Kopf. Immer wieder fragte ich mich ob es Killian gut ging und was sie mit Skade und den anderen Rebellen machen würden. Waren sie schon auf den Weg nach Eden? Und was erwartete sie in der Stadt?

Erst als Sawyer meinen Kopf wortlos an seine Brust zog und ich mich auf das ruhige Schlagen seines Herzens konzentrieren konnte, wurden die Stimmen in meinem Kopf leiser und ich kam ein wenig zur Ruhe. 

Im Morgengrauen schoben wir den Wagen gemeinsam zwischen ein paar Bäume, wo er ein wenig versteckt war. Nevio wollte in den nächsten Tagen zurückkommen und ihn holen. Dann nahmen wir uns aus dem Wagen noch was wir brauchen konnten und machten uns auf den Weg.

Es war kalt, kälter als die letzten Tage. Die Temperaturen konnten nur noch knapp über null Grad liegen, aber die Bewegung hielt uns warm. Allerdings machten mir die dunklen Wolken am Himmel Sorgen. Es würde Regen geben. Blieb nur zu hoffen, dass der wartete, bis wir zurück im Center waren.

Geredet wurde unterwegs nicht viel. Wir alle hingen unseren Gedanken und Sorgen nach. Selbst bei unseren kleinen Verschnaufpausen blieben wir sehr ruhig. Ich kam nicht umhin an den Moment zu denken, als Akiim mir seine Armbrust ins Gesicht gehalten hatte. Er war so kalt gewesen und ich war mir immer noch nicht sicher, ob er wirklich nur eine Show abgezogen hatte, oder er im Notfall wirklich geschossen hätte.

Deutlicher als in diesem Moment war mir noch nicht vor Augen geführt worden, wie wenig ich meinem eigenen Bruder vertraute. Es war einfach die Art wie er die Dinge handhabte und sah. Er war nicht mehr der kleine Junge, den ich vor elf Jahren verloren hatte.

Stunde um Stunde zogen an uns vorbei. Ich war es gewohnt zu laufen, darum störte ich mich nicht daran. Akiim und Nevio dagegen liefen nicht oft solche langen Strecken. Mit jeder weiteren Stunde wurden sie langsamer. Sie beschwerten sich nicht, aber man sah ihnen ihre Erschöpfung an.

Gegen Abend fing es an zu Regen. Erst war es nur ein wenig Niesel, aber mit der Zeit wurde es immer stärker, bis es sich richtig einregnete. Genau das war es, was uns jetzt noch gefehlt hatte. Die Überlegung kam auf, ob wir uns irgendwo verkriechen sollten, bis der Regen nachließ, aber da wir nicht wussten, ob das nur Stunden, oder Tage dauern würde, beschlossen wir dem Wetter zu trotzen und einfach weiterzulaufen.

Es war schon spät in der Nacht, als wir die alte Straße im Wald erreichten, die direkt zum Center führte. Wir waren erschöpft, durchgefroren und völlig durchnässt und ich hatte das Gefühl von unsichtbaren Augen angestarrt zu werden. Vermutlich waren das die Wachposten.

Sobald wir durch die Tür ins Center traten, erwartete uns bereits ein Begrüßungskomitee. Sam stand da, genau wie Furkan und noch ein paar andere Rebellen. Wahrscheinlich hatten die Wachposten ihnen über Laserfunk mitgeteilt, dass wir unterwegs waren und sie waren gleich hierhergeeilt, um uns gebührend zu empfangen. Leider hatten sie die Handtücher vergessen.

„Das sieht nach Ärger aus“, murmelte Sawyer dicht neben mir.

„Lass mich …“, begann Akiim, wurde aber von Sams erhobener Hand sofort wieder zum Schweigen gebracht.

Sie musterte uns einen nach den anderen. Auf ihrer Stirn erschien eine Falte. „Wo ist Skade?“ Als niemand ihr antwortete, wurden ihre Lippen schmal. „Folgt mir, Clarence erwartet euch.“ Ohne auf uns zu warten, wandte sie sich um und marschierte los.

Ich wechselte einen Blick mit Sawyer, setzte mich aber erst in Bewegung, als Akiim den Anfang machte.

„Link und Noctis, sie sind mit dem Truck …“

„Sie kamen schon am Mittag an und haben sich bereits ihre Abreibung abgeholt“, unterbrach Sam meinen Bruder. Ihr Ton machte deutlich, dass sie von ihm kein Ton mehr hören wollte. Sie war wütend.

Schweigend folgten wir ihr durch das Center bis zu Clarences Quartier. Ohne auf uns zu achten ging sie hinein. Die anderen folgten ihr.

Ich schob mich als letztes durch die Tür und versuchte ein wenig im Hintergrund zu bleiben und das nicht nur, weil ich nicht wusste, was uns erwartete.

Clarence saß in seinem Rollstuhl, Sam stand neben ihm. Er ließ den Blick über uns gleiten, blieb einen Moment bei Sawyer hängen, richtete ihn dann aber auf Akiim. „Wo ist Skade?“

Akiim schien in sich zusammenzufallen. „Die Tracker haben sie erwischt.“

„Was?“ Man konnte zusehen, wie sein Gesicht welkte und vor unseren Augen um Jahre alterte. „Du hast sie … verloren? Du hast meine Tochter zu dieser unsagbar dummen Mission mitgenommen und sie dann auch noch verloren?!“

Keiner von uns wagte es auch nur ein Wort zu sagen.

„Ich glaube nicht, dass ich in meinem Leben schon jemals so enttäuscht von dir gewesen bin.“

Akiim zuckte zusammen, als hätte er ihn geschlagen.

„Was in Gaias Namen hat dich dazu gebracht, hinter meinem Rücken, eine solche Dummheit zu begehen?“

„Es war eine Chance. Ich wollte sie nicht ungenutzt …“

„Eine Chance?!“, donnerte Clarence. „Eine Chance worauf? Darauf meine Leute in Gefahr zu bringen? Skade dem Feind auszuliefern?! Ich fass es einfach nicht wie dumm ihr euch verhalten habt! Ich hatte es verboten! Von deiner Schwester habe ich nicht viel erwartet, aber von dir?! Hat Sawyers Auftauchen dich wirklich so sehr verunsichert, dass du der Meinung warst dich beweisen zu müssen?! Hast du so wenig Vertrauen in mich?! Habe ich dir je einen Grund gegeben an mir zu zweifeln?!“

Akiims Lippen wurden zu einem dünnen Strich.

„Ja, Sawyer ist mein Sohn, aber er war sechzehn Jahre lang fort! Er hätte dir nichts wegnehmen können! NICHTS! Verstehst du das?“

„Ich bring das wieder in Ordnung.“

„Wie, verdammt, wie willst du diesen Schlamassel wieder in Ordnung bringen?! Das kannst du nicht!“

Ich drehte den Kopf, als ich von der Treppe Schritte hörte. Noor und Laarni kamen herunter. Wahrscheinlich hatte das Geschrei ihres Vaters sie angelockt.

Laarni ließ ihren Blick hektisch über unsere kleine Gruppe gleiten. Als sie nicht fand was sie suchte, tat sie es noch einmal. „Wo ist Skade, wo ist Skade?!“ Ihre Stimme überschlug sich fast vor Panik. Sie eilte die letzten Stufen hinunter, drängte sich zwischen uns und suchte nach ihrer kleinen Schwester. Als sie sie nicht fand, drehte sie sich zu Akiim um. „Wo ist sie?!“

Akiim drückte die Lippen zusammen und wich ihrem Blick aus.

„Nein, sag mir nicht du hast sie verloren, wage es nicht mir das zu sagen.“ Als er darauf nicht reagierte, holte sie aus und verpasste ihm so eine harte Ohrfeige, dass es laut klatschte. „Sie ist noch ein Kind!“

Ich hatte Laarni noch nie so außer sich gesehen. Eigentlich hatte ich noch nie eine so emotionale Reaktion an ihr wahrgenommen, nicht mal an dem Tag, als Sawyer aus dem Nichts hier aufgetaucht war.

„Wie hast du das nur tun können?“

In Noors Augen sammelten sich Tränen.

„Ich hole sie zurück“, versprach er. „Ich werde nicht eher ruhen, bevor ich sie sicher zurückgebracht habe.“

„Du hättest sie erst gar nicht mitnehmen dürfen!“, schrie sie ihn an.

Als von draußen plötzlich aufgeregte Stimmen und Rufe durch die geschlossene Tür drangen, drehte ich mich um.

Die anderen wurden auch auf die Rufe aufmerksam. Sie richteten ihre Blicke auf die Tür, durch die im nächsten Moment ein Rebell stürmte. Er war völlig außer Atem. „Wir werden angegriffen“, japste er. „Die Tracker stehen vor der Tür.“

 

oOo

Kapitel 58

 

Es dauerte volle zwei Sekunden, bis diese Nachricht zu mir durchgedrungen war. Aber dann gab es keinen Halt mehr für mich. Keiner von uns fragte nach, wir reagierten einfach nur. Erst gestern hatten wir eine Begegnung mit den Trackern gehabt und jetzt sowas zu hören, konnte kein Zufall sein.

Wir wirbelten herum und stürmten aus dem Raum. Dabei rissen wir fast noch den Überbringer der Nachricht mit uns, da er nicht rechtzeitig aus dem Weg ging.

Akiim setzte sich an die Spitze und ich rannte direkt hinter ihm.

Aufgeregte Menschen kamen uns entgegen und schlugen Alarm. Zu allen Seiten gingen die Türen auf. Angelockt von den Unruhen traten die Bewohner heraus, um nachzusehen, was der Lärm zu bedeuten hatte.

Keiner von uns kümmerte sich darum. Wir rannten so schnell wir konnten durch das Center, bis wir die große Halle erreichten, wo die Rebellen hektisch herumrannten und sich für den drohenden Überfall bereit machten.

Furkan stand in der Mitte der Halle und bellte Befehle. Mit den Tischen und Bänken versuchte ein Teil der Rebellen die Tür zu verbarrikadieren, während die anderen die Anwohner überstürzt aus ihren Wohnungen holten und sie in unsere Richtung schickten.

Männer und Frauen rannten verängstigt an uns vorbei und verschwanden in den Eingeweiden des Centers. Ein paar von ihnen trugen ein wenig ihrer Habe bei sich. Manche schienen nicht zu verstehen, was los war und ließen sich von den anderen einfach mitreißen.

„Macht dass ihr da wegkommt!“, brüllte Furkan die Rebellen an der Tür an. „Wir müssen … ahhh!“

Die Tür explodierte.

Die laute Detonation erschütterte das ganze Center und ließ den Boden unter unseren Füßen beben. Die Tische und Bänke wurden durch den Druck einfach zerrissen. Schutt, Trümmer und Staub wurden mit einer Druckwelle hineingedrückt und verteilten sich in der ganzen Halle. Sie flogen in alle Richtungen davon, krachten in Böden und Wände und rissen die Rebellen von den Füßen. Ein Teil flog sogar hoch in die Galerie und riss ein Stück davon mit sich zu Boden. Die Frau, die dort gerade entlanggeeilt war, wurde mit heruntergerissen und schaffte es gerade noch so sich am Geländer festzuhalten. Ihre panischen Rufe lockten ein paar andere Leute an, die sie schnell wieder heraufzogen.

Ich duckte mich und riss schützend die Arme über den Kopf, während Putz und kleine Steinchen auf uns niedergingen. Die Leute schrien vor Angst. Manche wurden von den Trümmern niedergerissen, andere ließen alles stehen und liegen und rannten davon. Einer hatte einen Treffer am Kopf abbekommen und torkelte orientierungslos durch die Halle.

Erst als das Prasseln nachließ, wagte ich es den Kopf zu heben und als ich sah was geschehen war, weiteten meine Augen sich vor Entsetzen.

Dort wo eben noch die Tür gewesen war, klaffte nun ein riesiges Loch. Die Explosion hatte nicht nur den Durchgang, sondern auch einen Teil der Wand herausgerissen und in die Halle geschleudert.

Draußen war die Nacht nicht finster, ein orangeflackerndes Licht vertrieb die Dunkelheit. Der Stall, er brannte lichterloh. Die Flammen schlugen meterhoch in den Himmel und verschlangen das Holz, als wäre es nur ein kleiner Snack vor dem Hauptgang. Nicht mal der Regen konnte dem brennendem Feuer Einhalt gebieten.

Oh Gaia, nein! „Trotzkopf!“ Ich wollte sofort losstürmen, aber Akiim packte mich und riss mich zurück.

„Bist du irre?!“, fauchte er. „Was machst du da?!“

„Ich muss zu Trotzkopf!“ Ich musste ihm helfen, sonst würden die Flammen ihn einfach verzehren.

„Dafür ist es zu spät, wir müssen hier weg!“

Und ihn einfach dem Feuer überlassen? Aber ich war doch für ihn verantwortlich! „Ich muss …“

„Nein!“

Entsetzt schaute ich zum Stall. Das Feuer fraß sich weiter durch die Nacht und sprang auf die umliegenden Bäume über. Das würde Trotzkopf niemals überleben. Vielleicht war er sogar schon tot.

Zwei Pferde, die noch vor eine Kutsche gespannt waren, scheuten vor den Flammen zurück und stürmten in Panik samt ihrem Anhängsel in die Nacht davon.

„Rückzug!“, brüllte Furkan, als plötzlich Tracker durch das Loch hineinströmten. „Evakuiert das Center!“

Unaufhaltsam fielen die Tracker in die Halle ein. Sie waren bewaffnet und trugen zu Schutz durchsichtige Schilder bei sich. Der Schutt bremste sie ein wenig, was den Rebellen die Gelegenheit gab, nach allem zu greifen was sie finden konnten, um sie zurückzuschlagen.

Hinter ihnen war der ganze Vorplatz mit den Fahrzeugen der Tracker überfüllt.

Ohne mich loszulassen, wirbelte Akiim zu den anderen herum. „Notfallplan. Laarni, bring deinen Vater in Sicherheit, Nevio, hol Yi Min und schaff sie hier raus!“

„Verlass dich auf mich.“ Nevio wirbelte herum und lief Laarni hinterher, die bereits losgerannt war.

Sawyer wich zurück, Furcht und Schrecken standen ihm ins Gesicht geschrieben. „Ich muss zu Salia“, war alles was er sagte, bevor er auf dem Absatz kehrt machte und rannte, um das Einzige zu schützen, was ihn in seinem Leben wirklich wichtig war.

Die Tracker strömten in die ganze Halle aus. Sie gingen direkt zum Angriff über und schossen auf jeden, der ihnen vor die Mündung kam. Es mussten mehr als hundert sein.

Die Rebellen versuchten ihnen auszuweichen und hinter Trümmern und Stützbalken in Deckung zu gehen, doch schon nach der ersten Salve sank ein halbes Dutzend von ihnen zu Boden, wo sie noch versuchten wegzukriechen. Aber gegen die Tranquilizer konnten sie nichts ausrichten. Sie sackten einfach bewusstlos in sich zusammen und blieben liegen.

Trotzdem stellten die Rebellen sich ihnen und versuchten sie aufzuhalten, damit ihre Familien und Freunde sich in Sicherheit bringen konnten. Sie gingen mit Waffen und Fäusten auf sie los, konnten sie aber kaum am hereinströmen hindern.

Draußen brach ein Teil des Stalls zusammen. Funken stoben auf und dichter Qualm wehte in das Center hinein. Die Flammen verschlangen alles.

„Bildet eine Reihe!“, befahl Furkan und stürmte selber in die vorderste Front. „Haltet sie auf!“

„Ich muss ihnen helfen!“, sagte Akiim und gab mir einen Stoß in die andere Richtung. „Lauf zum Westeingang, zum Parkplatz, steig in einen der Busse, sie werden euch hier wegbringen, während wir sie aufhalten.“

„Aber ich kann doch nicht …“

„Du kannst hier nichts tun, also verschwinde endlich!“ Er zog sein Messer aus der Scheide. „Wolf, bring sie hier weg!“

Ein alter Mann stürzte sich mit einem Brüllen auf einen Tracker und versuchte ihm die Waffe zu entreißen. Die beiden begannen miteinander zu ringen.

Akiim ging ungeduldig ein paar Schritte rückwärts. „Zum Westeingang!“, wiederholte er, dann wirbelte er herum und sprintete los, um dem alten Man zu Hilfe zu eilen.

Ich sollte auch helfen. Nein, ich sollte wegrennen. Wenn sie mich zwischen die Finger bekamen, war mein Schicksal besiegelt. Das konnte ich nicht noch einmal. Allein der Gedanke ließ mein Herz vor Angst schneller schlagen.

Ich wich zurück und wäre vor Schreck fast an die Decke gesprungen, als sich eine Hand auf meine Schulter legte, doch es war nur Wolf, der mich mit sich ziehen wollte.

Die Tracker drangen weiter vor, die ersten hatten schon fast die Halle durchquert. Würden die Rebellen sich ihnen nicht immer wieder in den Weg stellen, um sie aufzuhalten, hätten sie es wohl schon längst geschafft.

Ich musste hier weg und zwar sofort.

Wolf zog mich rückwärts und als ich es endlich schaffte den Blick von diesem Grauen abzuwenden und herumzuwirbeln, rannte ich los. Doch schon nach wenigen Schritten blieb ich wieder stehen und schaute entsetzt zum Treppenhaus. „Azra.“ Sie konnte nicht weglaufen, sie hatte ein gebrochenes Bein.

Als Wolf versuchte mich weiter zu ziehen, stemmte ich die Beine in den Boden und wehrte mich gegen ihn. Ungehalten drehte er sich zu mir herum und war wohl kurz davor, mich einfach über die Schulter zu werfen und wegzutragen.

„Azra!“, schrie ich ihm ins Gesicht, um den Lärm zu übertönen. „Wir müssen sie holen, sie kann nicht alleine laufen!“

Wolf hörte auf an mir zu zerren, zögerte aber.

„Ich brauche deine Hilfe, ich kann sie nicht alleine tragen.“ Aber wenn er mir nicht half, würde ich es versuchen, denn ich konnte nicht auch noch sie zurücklassen. Ich würde es nicht ertragen, noch jemanden an Eden zu verlieren. „Bitte.“

Wolf biss die Zähne zusammen, ließ mich los und rannte an mir vorbei zum Treppenhaus.

Ich heftete mich sofort an seine Fersen und wäre dabei fast noch mit einem Mann zusammengestoßen, der auf der Flucht vor zwei Trackern den Gang entlang rannte. Gerade noch so konnte ich mich ins Treppenhaus flüchten.

So schnell wir konnten, eilten wir nach oben zur Krankenstation. Ein paar Leute kamen uns panisch entgegen, sodass wir auf der engen Treppe ausweichen mussten.

Der kurze Korridor war völlig verweist, doch in Azras Zimmer war eine junge Frau, die gerade verzweifelt versuchte Azra aus ihrem Bett zu bekommen. Als wir hereinstürmten, zeichnete sich Erleichterung auf ihrem Gesicht ab.

„Gaia sei Dank, bitte ihr müsst mir helfen.“

Wolf drängte die Frau kurzerhand zur Seite, schob seine Arme unter Azra und hob sie hoch.

Instinktiv schlang sie die Arme um seinen Hals und hielt sich bei ihm fest. „Was ist da draußen los?“, wollte sie wissen. „Sie sagt, das Center wird überfallen?“

„Die Tracker haben den Stützpunkt gefunden und die Tür aufgesprengt.“ Ich späte in den Korridor.

„Die Tracker sind hier?“, rief Azra erschrocken.

Er war frei, also gab ich ihnen das Zeichen loszulaufen. Erst als alle draußen waren, folgte ich ihnen. „Ja, sie sind hier.“ Und das konnte kein Zufall sein, nicht nachdem wir ihnen gerade erst begegnet und entkommen waren. Sie mussten uns hier her gefolgt sein, nur wie? Wir hätten sie doch bemerken müssen. Und gestern waren es nur zwei Konvois gewesen, jetzt aber schien die Hälfte der Tracker aus Eden hier zu sein.

Ich hatte keine Ahnung, wie das möglich war, aber jetzt war auch nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken. Wir mussten zusehen, dass wir hier rauskamen.

Hintereinander eilten wir den Korridor entlang, wurden auf der Treppe aber von einer sehr alten Frau aufgehalten, die sich mit einem Krückstock fortbewegte. Die Frau aus Azras Zimmer und ich mussten ihr helfen, damit sie ihn ihrer Eile nicht auch noch die Treppe hinunterstürzte.

Sobald wir das Treppenhaus verließen, traten wir mitten ins totale Chaos. Die Leute rannten in heller Panik den Gang entlang und hätten uns fast umgerannt. Dicke Rauchschwaden vom Feuer erschwerten die Sicht und brachten uns zum Husten. Die Tracker waren nicht mehr nur in der Halle, sie waren weiter in das Gebäude vorgedrungen und stürmten nun die Unterkünfte, um sie zu durchsuchen.

Durch den Rauch konnte ich Menschen sehen, die miteinander kämpften. Bewusstlose Rebellen lagen bewegungslos auf dem Boden. Tracker versuchten ihre Verwundeten in Sicherheit zu bringen. Akiim war mittendrin und lud gerade seine Armbrust nach. Das hier war nicht nur ein Überfall, das hier war Krieg und ich war mittendrinn.

Ich wollte mich gerade abwenden und zum Westeingang laufen, als ich eine Frau auf dem Boden bemerkte. Es war die Schwangere. Sie lag auf der Seite, völlig bewegungslos. Niemand war bei ihr, von ihren Kindern fehlte jede Spur.

Die junge Frau führte eilig die alte Lady auf dem Krückstock davon.

Wolf rannte an mir vorbei, blieb aber sofort wieder stehen, als er merkte, dass ich nicht hinter ihm war. Er knurrte und machte mit dem Kopf eine ruckartige Bewegung, die mir mehr als deutlich sagte, dass ich ihm folgen sollte.

Azra war in seinen Armen von dem Anblick völlig erstarrt.

Ich zögerte, schaffte es aber nicht den Blick von der schwangeren Frau abzuwenden.

Er brüllte mich an.

„Ich kann nicht!“, sagte ich. „Ich muss ihr helfen!“ Ich konnte sie nicht den Trackern überlassen, denn ich wusste nur zu gut, was sie in Eden erwartete.

Wolf machte ungehalten einen Schritt auf mich zu. Hätte er eine Hand freigehabt, hätte er mich einfach gepackt und hinter sich her geschliffen. So konnte er aber nichts anderes tun, als mich wütend anzufunkeln und noch einen Knurrlaut auszustoßen.

„Bring Azra hier weg, bitte.“

Seine Augen verengten sich leicht.

„Du verschwendest nur Zeit.“ Ich schob ihn ein Stück von mir weg. „Geh, mach endlich, ich komme gleich nach, versprochen.“

Etwas krachte und eine Frau schrie.

Wolfs Lippen wurden schmal. Er schüttelte den Kopf, drehte sich dann aber endlich herum und rannte. Doch sein Blick machte mir sehr deutlich, wie sauer er sein würde, wenn mir etwas passierte. Wahrscheinlich würde er Azra in Sicherheit bringen und zurückkommen, um mich höchstpersönlich hier herauszutragen.

Das würde nicht nötig sein, denn ich hatte nicht vor allzu lange zu bleiben. Ich würde mir die Frau schnappen und dann schleunigst verschwinden.

Die Rebellen versuchten eine Linie zu bilden, um die Tracker zurückzudrängen, bis sich auch die letzten von ihren Leuten in Sicherheit gebracht hatten. Leider waren sie viel zu wenige. Die Tracker brachen immer wieder durch ihre Reihen durch und würden die Rebellen gleich einfach überrannt haben.

Ich musste mehreren Leuten ausweichen, um zu der schwangeren Frau zu kommen, stolperte fast noch über die Reste einer Bank und stürzte dann so hart neben ihr auf die Knie, dass der Schmerz durch meine ganzen Beine zuckte.

Aber damit konnte ich mich jetzt nicht befassen. Mit wild schlagendem Herzen hielt ich ihr meine Finger vor die Nase, um zu überprüfen, ob sie noch lebte. Ich konnte ihren Atem auf meiner Haut spüren. Sie war wirklich nur bewusstlos. Danke, Gaia, danke.

Vorsichtig drehte ich sie auf den Rücken, schnappte sie bei den Armen und begann sie rückwärts aus der Halle zu ziehen. Mein Herz hämmerte in meiner Brust, als wollte es mich antreiben schneller zu machen. Das hier war einfach nur verrückt. Ich sollte an mich selber denken und fortlaufen. Ich kannte diese Frau nicht einmal, aber ich wusste genau, dass es mich verfolgen würde. Ich konnte nicht tatenlos danebenstehen, wenn ich helfen konnte. Sobald ich hier raus war, konnte ich mich für diese Aktion selber schelten, aber jetzt hatte ich dafür keine Zeit.

Ich hatte das Ende der Halle fast erreicht, als ein Tracker auf mich aufmerksam wurde und sofort entschlossen auf mich zukam. Mein Messer, ich brauchte mein Messer, doch bevor ich es auch nur berühren konnte, tauchte Furkan hinter dem Kerl auf und sprang ihm einfach in den Rücken. Die beiden Männer gingen sofort zu Boden und Furkan begann auf seinen Gegner einzuschlagen.

Ich verspürte den Impuls zu ihm zu laufen und ihm zu helfen, doch das wäre einfach nur dumm. Ich hatte eine Aufgabe, also konzentrierte ich mich wieder darauf und zog die Frau weiter über den rauen Boden. Warum waren bewusstlose Menschen nur immer so schwer? An dem Baby lag es sicher nicht. Hoffentlich ging es dem Ungeborenen gut. Es war mir unbegreiflich, wie die Tracker auf eine Schwangere schießen konnten. Menschenfreunde, von wegen.

Unermüdlich zog ich weiter. Der Rauch kratzte mir im Hals. Gleich hatte ich den Gang erreicht.

Zu meiner rechten gab es einen lauten Knall, als ein Teil der Galerie herunterstürzte. Staub und Steinchen flogen in meine Richtung und ich musste den Blick abwenden, um mein Gesicht zu schützen. Plötzlich wurde ich von einem harten Stoß in die Seite getroffen. Es kam so überraschend, dass ich keine Zeit hatte zu reagieren. Ich krachte auf die Schulter, mein Kopf knallte auf den Boden. Schmerz explodierte in meinem Schädel und die Platzwunde begann von neuem zu bluten. Kleine Steinchen bohrten sich in meine Haut, aber mir blieb keine Zeit mich darum zu kümmern. Ich wirbelte auf dem Rücken herum und erstarrte.

Über mir ragte Kit auf. Die Mündung seiner Waffe war auf meine Brust gerichtet und sein verrußtes Gesicht war vor Wut verzerrt. „Es ist deine Schuld, nur wegen dir wird er sterben!“

„Was?“ Ich verstand kein Wort. Mein Puls raste und mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich rückwärts von ihm wegkroch, aber er folgte mir.

„Ich habe es geschafft seine Beteiligung an deiner Flucht zu verbergen, aber du reitest ihn immer tiefer in die Scheiße und dieses Mal kann ich ihn nicht schützen!“

Hektisch versuchte ich mein Messer aus der Scheide zu ziehen, doch seine nächsten Worte ließen mich erstarren.

„Mein Bruder wird sterben und du bist daran schuld!“, brüllte er mich an.

Meine Augen wurden schreckensweit. Killian. Er würde nicht nach Hause gehen, denn er hatte sich für die Rebellen entschieden und die Tracker wussten es. Killian war ein Verräter und Verräter wurden nicht geduldet. Sawyer hatte gelogen.

„Du bist das Schlimmste was einem Menschen passieren kann.“ Das war keine Wut, das war Verzweiflung. „Ich wünschte …“

Auf einmal tauchte Akiim mit einer gesplitterten Holzlatte hinter ihm aus dem Rauch auf und zog sie Kit mit voller Wucht über den Schädel. Das Holz brach entzwei. Kit krachte zu Boden, seine Waffe flog davon und er bewegte sich nicht mehr.

Mir blieb keine Zeit mich auf die neue Situation einzustellen. Akiim packte mich am Arm und zerrte mich zurück auf die Beine. „Was machst du noch hier?!“, brüllte er mich an und begann mich wegzuziehen. „Kannst du nicht einmal tun was man dir sagt? Du solltest längst weg sein!“

Furkan und zwei andere Rebellen rannten an uns vorbei und verschwanden im Gang.

Ich stemmte mich gegen Akiim. „Warte, die Frau, wir können sie nicht hierlassen.“

„Wir können ihr nicht helfen.“

Echo rannte an uns vorbei. Ihre Lippe blutete und sie drückte sich ihren Arm an die Brust. Eine Handvoll Tracker war nicht weit hinter ihr.

„Nun mach schon!“ Akiim zerrte an mir. „Wir müssen hier weg!“

Es waren kaum noch Rebellen in der Halle, das erkannte ich selbst durch die Rauchschwaden. Die Tracker hatten uns fast erreicht.

Ich schaute zu der Frau. Ich konnte ihr nicht helfen. Wenn ich es versuchte, würden wir beide in Eden landen.

„Kismet!“, fauchte Akiim und endlich ließ ich mich von ihm mitziehen.

Wir wirbelten herum und rannten so schnell wir konnten, aber die Tracker waren direkt hinter uns. Sie waren so nahe, dass sie uns gleich eingeholt hätten. Ich hatte zu lange gezögert, wir würden ihnen nicht entkommen. Sie würden mich zurück nach Eden bringen.

„Schneller!“, trieb Akiim mich an und zerrte dabei so heftig an mir, dass ich ins Stolpern geriet und fast hinschlug. Er behielt meine Hand fest in seiner, zog mich in den Gang hinein und stürzte zur Wand. Ohne auch nur einen Moment inne zu halten, packte er den Handhebel neben dem Treppenhaus und klappte ihn mit einem Ruck nach unten.

Hinter uns ratterte es.

Mein Kopf wirbelte herum und ich sah wie ein Gitter aus der Decke fiel. Es sah aus wie eine Mischung aus einem Rolltor und einem Fallgitter und schnitt jedem der uns folgen wollte den Weg ab.

Die Tracker liefen dagegen, prallten davon ab und wurden zurückgeschleudert. Ein paar nachkommende hoben ihre Waffen und versuchten damit durch die Schlitze zu schießen, aber die waren zu schmal. Sie rüttelten daran und versuchten das Gitter hochzuheben, nur war es zu ihrem Pech eingerastet und ließ sich nicht bewegen. Sie konnten tun was sie wollten, auf diesem Weg kämen sie nicht hindurch. Sie mussten schon eine weitere Sprengladung anbringen, damit ihnen das gelang.

Aber nicht nur Tracker waren auf der anderen Seite, da waren auch noch ein paar Rebellen. „Was ist mit den anderen?“

Akiim presste kurz die Kiefer aufeinander, bevor er sich umwandte und weiterzog. „Für die können wir nichts mehr tun.“

„Aber …“

„Es gibt noch andere Menschen hier, die ich schützen muss!“, fuhr er mich an. „Ich kann nicht alle retten!“ Er musste eine Minderheit aufgeben, um die Masse in Sicherheit zu bringen. Wie schwer musste sowas sein? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich zu sowas fähig wäre, auch wenn das die einzig logische Lösung war.

„Komm jetzt.“ Er zog mich weiter, aber nur weil wir einen Teil der Tracker ausgesperrt hatten, bedeutete das nicht, dass wir jetzt sicher waren. Sie hatten sich bereits im ganzen Center verteilt. Überall sah ich die Rebellen mit ihnen kämpfen. Manche schossen einfach auf ihre Gegner, um sie auszuschalten. Ein anderer versuchte gerade in eine der Unterkünfte einzudringen, die von innen krampfhaft geschlossen gehalten wurde. Akiim packte ihm im vorbeigehen und schlug seinen Kopf immer wieder gegen die Wand, bis er wie ein nasser Sack in sich zusammenfiel.

Blut sickerte aus einer großen Wunde an seinem Kopf. Ich wusste nicht ob er tot war, oder nur bewusstlos. Ich wollte es gar nicht wissen, denn wenn er tot war, hatte Akiim gerade direkt vor meinen Augen eiskalt einen Menschen ermordet.

Akiim hämmerte gegen die Tür. „Komm raus, ich lasse die Rollgitter herunter!“ Er wartete gar nicht auf eine Reaktion, schnappte sich nur wieder meine Hand und zerrte mich weiter.

Ich warf einen Blick über die Schulter und sah einen Mann aus der Unterkunft spähen. Er warf einen kurzen Blick auf den Tracker und rannte uns dann hinterher. Sein Gesicht war vor Angst verzerrt.

Als wir die T-Kreuzung erreichten, rangen dort gerade zwei Rebellen einen Tracker nieder und flüchteten dann den Gang links hinunter. Nach rechts konnten sie nicht, denn dort hatte jemand ein zweites Rollgitter heruntergelassen. Es klapperte und schepperte, als die Leute auf der anderen Seite versuchten hindurch zu kommen.

Ich hatte keine Ahnung, ob es Rebellen oder Tracker waren, die Schlitze waren zu klein, um im Vorbeilaufen viel zu sehen.

Akiim zerrte mich nach links, blieb aber direkt hinter der Ecke stehen und griff nach einem weiteren Handhebel an der Wand. Er wartete gerade lange genug, bis der verängstigte Mann an uns vorbei war, bevor er ihn runterdrückte und den Gang damit verschloss. So schnell würde keiner mehr dort hindurchkommen, weder Tracker noch Rebellen.

„Los, weiter.“

Dieses Mal musste Akiim mich nicht ziehen. Ich schüttelte ihn ab und rannte los, um diesen Grauen so schnell wie möglich zu entkommen. Wie konnten Menschen sich das nur einander antun? Dieser Kampf war völlig unnötig und brachte nichts als Kummer und Schmerz auf beiden Seiten. Die Rebellen schossen scharf und die Tracker zerrissen Familien und wozu das alles? Für den Erhalt der Menschheit? Wenn die Menschheit so das Ende ihres Daseins austrug, hatten wir es nicht verdient zu überleben.

Akiim und ich rasten den Gang entlang. Zwei Mal versuchten Tracker uns aufzuhalten, aber Akiim schlug sie rücksichtslos nieder. Nichts konnte ihn aufhalten. Aber er blieb auch nicht stehen, um den anderen zu helfen. Er rief ihnen nur zu, dass er das Gitter herunterlassen würde, bevor er einfach an ihnen vorbeirannte.

Mir fiel es wirklich schwer nicht anzuhalten und zu helfen, egal wie hirnrissig das wäre. Wir mussten zum Westeingang gelangen, nur dort wären wir in Sicherheit.

Kaum dass wir um die nächste Kurve gerannt waren, sprintete Akiim zum nächsten Hebel, doch bevor er ihn erreichen konnte, stürzte sich ein Tracker auf ihn und riss ihn zu Boden.

Ich wollte ihm sofort zu Hilfe eilen.

„Nein, zieh den Hebel!“

Handhebel, genau. Sofort stürzte ich darauf zu, doch als meine Finger sich darum schlossen, zögerte ich. Hinter uns kamen noch Rebellen. Sie rannten so schnell sie konnten, aber die Tracker klebten an ihnen.

„Nun mach schon!“, brüllte Akiim mich an und schlug dem Mann über sich ins Gesicht.

Ich musste es machen, sonst wäre der Feind gleich in der Überzahl.

„Kismet, tu es!“

„Scheiße.“ Ich verbot mir weiter darüber nachzudenken und zog den Hebel nach unten. Nicht weit von uns fiel ein Rollgitter aus der Decke und knallte mit einem lauten Scheppern auf den Boden. Zwei Rebellen schafften es vorher noch hindurch, doch der dritte war zu langsam und befand sich plötzlich auf der falschen Seite. Er rief um Hilfe und schlug auf das Gitter ein, aber das brachte nichts. Er war dem Feind hilflos ausgeliefert.

Was hatte ich nur getan? Hätte ich nur eine Sekunde länger gewartet, dann wäre auch er hindurch gekommen, aber jetzt konnte ihm keiner mehr helfen.

Die beiden Rebellen, die es geschafft hatten, stürzten zu Akiim und rissen den Tracker von ihm runter. Einer von ihnen trat dem Kerl so hart gegen den Kopf, dass er gegen die Wand knallte und benommen daran herunterrutschte. Keiner von den dreien kümmerte sich darum. Sie ließen ihn einfach liegen und rannten wieder los. Die Tür war nicht mehr weit entfernt. Sie versprach Sicherheit und das war im Moment alles was zählte.

Auch ich wirbelte herum, versuchte nicht daran zu denken, was ich gerade getan hatte und suchte mein Heil in der Flucht. Ich war so schnell, dass ich die Tür vor den drei Männern erreichte, doch gerade als ich sie aufriss, hörte ich laute Rufe und schnelle Schritte, die aus der anderen Richtung kamen. Es war nur ein Reflex, der mich dazu brachte, den Kopf zu drehen, doch ein kurzer Blick reichte aus, um mich erstarren zu lassen.

Sawyer.

Drei, nein vier Rebellen stürzten um die Ecke und rannten so schnell sie konnten auf den rettenden Ausgang zu. Einer von ihnen war Sawyer, mit Salia an der Hand. Die Kleine lief so schnell sie konnte, bremste ihren Vater aber aus.

Nein, nein, nein. Verdammt, was machten sie noch hier? Ich hatte geglaubt, dass sie schon längst aus dem Center heraus waren. Aber das waren sie nicht. Und sie waren nicht die Einzigen, die uns entgegenrannten. Nicht weit hinter ihnen folgten ein halbes Dutzend Tracker. Einer von ihnen hob seine Waffe und schoss dem vordersten Rebellen in den Rücken.

Der Mann stolperte, versuchte sich zu fangen und weiter zu laufen, doch seine Muskeln verweigerten ihm langsam den Dienst. Er schaffte es nur noch wenige Fuß weit, dann brach er zusammen und blieb regungslos auf dem Boden liegen.

Die anderen Rebellen und die Tracker liefen einfach an ihm vorbei.

„Lauf!“, fuhr Akiim mich an, riss mir die Tür aus der Hand und wollte mich ins Freie schubsen, aber in dem Moment bekam einer der Tracker Sawyers Jacke zu fassen. Er hielt sich daran fest, riss ihn daran zurück und brachte ihn damit aus dem Schritt. Die beiden stürzten und purzelten übereinander. Salia wurde nur nicht mit zu Boden gerissen, weil Sawyer ihre Hand geistesgegenwärtig losließ. Sie stolperte zwar, blieb aber auf den Beinen. Doch als sie sah was geschehen war, stieß sie verängstigt einen spitzen Schrei aus und wich panisch an die Wand zurück.

Mich hielt nichts mehr. Ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken, rannte ich los, dem Feind direkt entgegen.

„Was machst du?!“, rief Akiim. „Verdammt, Biene!“ Verärgert eilte er mir hinterher. Ob nun um zu helfen, oder mir den Hintern zu versohlen, wusste ich nicht.

Ich war schon oft in meinem Leben vor Dingen davongelaufen. Ich war schnell und nur die Wenigsten konnten mit mir mithalten, doch noch nie war ich so schnell gerannt, wie in diesem Moment. Mein Kopf war leer, bis auf einen Gedanken: Ich musste ihm helfen.

Ich rannte an den mir entgegenkommenden Rebellen vorbei, wich einem Tracker aus, der nach mir greifen wollte und stürzte mich dann direkt auf den Mann, der Sawyer am Boden hielt und gerade versuchte ihm einen Tranquilizer zu verpassen. Mit meinem ganzen Schwung riss ich ihn einfach von ihm herunter und rollte mit ihm über den Boden. Dabei knallte ich mit dem Kopf gegen die Wand, was die Schmerzen darin neu aufleben ließ.

Aber ich hatte keine Zeit mich darum zu kümmern, denn nun hatte der Tracker es auf mich abgesehen. Er rollte sich herum und wollte nach mir greifen, doch da war Sawyer schon auf den Beinen und trat ihm so heftig in den Rücken, dass er gegen die Wand knallte.

Ich schaute auf und sah, dass auch die anderen Rebellen sich umgedreht hatten und sich den Trackern stellten. Eine Frau mit dunkler Haut rammte einem der Tracker ihr Knie in die Weichteile. Der Kerl kippte einfach um und krümmte sich auf dem Boden zusammen.

Für einen Moment sah es wirklich so aus, als würden die Rebellen gewinnen, doch dann wurden zwei weitere von ihnen von der Betäubungsmunition zu Boden geschickt.

Ich rappelte mich auf die Beine, um ihnen zu helfen, da sah ich wie weitere Tracker um die Ecke gerannt kamen. Das musste ein Dutzend sein.

Salia stand dicht an die Wand gedrängt da, um nicht in die Kämpfe mit hineingezogen zu werden. Sie war völlig verängstigt. Ihre Arme umklammerten Wölkchen und sie zitterte am ganzen Körper.

„Wir müssen hier sofort weg!“, rief einer der Rebellen.

„Biene!“

Sawyer schnappte mich an der Hand und rannte zu Salia. In dem Moment packte mich jemand am Arm und zog mich zurück. Ich stolperte über meine eigenen Füße, riss mich von Sawyer los und versuchte dem Tracker ins Gesicht zu schlagen, doch der wich problemlos aus.

Sawyer stürzte sich auf ihn und schmetterte ihn mit dem Rücken gegen die Wand.

Ich wollte ihm sofort helfen.

„Nein!“, brüllte er mich an. „Bring Salia hier weg, ich komme gleich nach!“ Er begann mit seinem Gegner zu ringen.

Der Pulk von Trackern näherte sich.

Keine Zeit nachzudenken. Ich schnappte mir Salia, drückte sie an mich und rannte los. Das war das Zeichen für die anderen Rebellen, dass es an der Zeit war abzuhauen. Sie befreiten sich von ihren Gegnern und rannten.

Ich war schneller als sie, überholte sie und rannte an Akiim vorbei, der seinen Gegner gerade mit einem Kampfmanöver zu Boden schickte. Dann war er auch schon sofort hinter mir.

Ich warf einen schnellen Blick über die Schulter. Sawyer hatte sich von seinem Gegner befreien können und rannte hinter uns her. Die Tracker waren nicht weit hinter ihm, aber er würde es schaffen. Er musste es schaffen. Wir würden hier rauskommen und zwar alle.

Mein Puls raste und mein Atem kam viel zu schnell, aber ich rannte immer weiter. Gleich hatten wir die Tür erreicht. Sie war nur noch wenige Fuß entfernt.

Plötzlich hörte ich das inzwischen vertraute Rattern und Scheppern eines sich schließenden Rollgitters. Ich schaute über die Schulter und blieb so abrupt stehen, dass Salia vor Überraschung in meinen Armen quietschte. Meine Augen weiteten sich entsetzt.

Akiim hatte ein weiteres Rollgitter heruntergelassen. Er stand noch mit der Hand am Hebel da. Die Rebellen rannten an mir vorbei, aber einer fehlte.

„Sawyer.“ Oh Gaia nein, er war noch auf der anderen Seite. „Sawyer!“ Ich rannte zurück. Mein Herz trommelte nun aus einem ganz anderen Grund in meiner Brust. Sawyer, er war auf der falschen Seite des Gitters.

Ich hatte so viel Schwung, dass ich fast dagegen lief. Panisch begann ich daran zu rütteln und schlug mit der Faust dagegen. Dann sah ich ihn durch die Schlitze. Er war direkt auf der anderen Seite und versuchte verbissen das Tor hochzustemmen. Als das nicht klappte, begann er mit Fäusten dagegen zu hämmern.

„Was machst du da?“, fuhr Akiim mich an. „Wir müssen hier weg!“

„Sawyer ist auf der anderen Seite!“ Ich setzte Salia ab und versuchte es hochzuziehen, aber meine Finger fanden in den schmalen Schlitzen keinen Halt. „Mach das wieder auf!“

Akiim schaute mich nur geschockt an, als ihm klar wurde, was er gerade getan hatte. Er hatte Clarences Sohn den Weg abgeschnitten und ihn damit ein weiteres Mal den Trackern ausgeliefert.

„Akiim!“ Er musste dieses Ding wieder aufmachen.

„Das kann ich nicht.“

„Aber du musst! Sawyer ist noch …“

„Es geht nicht! Es hat zu viele Sicherungen! Es würde ewig dauern, es zu öffnen, so viel Zeit haben wir nicht!“

Sawyer erstarrte. Er hatte Akiims Worte gehört und wusste was das für ihn bedeutete. Wenn er nicht durch dieses Tor kam, war er den Trackern hilflos ausgeliefert und würde wieder in Eden enden.

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf, rüttelte an dem Gatter und suchte hilflos und verzweifelt nach einem Ausweg. Ich würde ihn ihnen nicht überlassen. „Geh auf!“, schrie ich das Tor in meiner Verzweiflung an.

„Kiss, Baby.“ Sawyer legte von innen seine Hände an das Gitter.

Ich rüttelte weiter daran, zog und zerrte wie von Sinnen und als das nichts brachte, schlug ich mit der Faust dagegen.

„Baby, hör mir zu.“

Ich starrte ihn an und spürte, wie meine Augen zu brennen begannen und sich ein Kloß in meinem Hals bildete.

„Bring Salia in Sicherheit und pass auf sie auf.“ Sein Blick flehte mich an. „Bitte, ihr müsst hier verschwinden, sofort.“

Das konnte er nicht machen, er durfte nicht aufgeben. „Aber ich kann dich nicht hierlassen.“

„Du …“ Sawyer zuckte. Er faste sich an den Arm und zog etwas heraus. Zwischen seinen Fingern hielt er einen Tranquilizer.

„Nein, Sawyer, nein!“

„Beschütze … Salia.“ Seine Kräfte verließen ihn. Er rutschte an dem Gitter herab und sank daran zu Boden. Seine Augen schlossen sich und er regte sich nicht mehr.

„Nein, wach auf.“ Ich folgte ihm nach unten. „Wach auf!“, schrie ich ihn an, aber seine Augen waren geschlossen und er konnte mich nicht mehr hören. „Sawyer!“ Ich schlug gegen das Gitter, aber er reagierte nicht. Er hörte mich nicht mehr.

Von der anderen Seite begann jemand am Gitter zu rütteln. Die Tracker hatten es erreicht und versuchten es zu öffnen.

Akiim packte mich am Arm und zerrte mich zurück auf die Beine. „Wir müssen hier weg!“

Ich konnte nicht, es ging nicht. Ich konnte ihn doch nicht einfach allein lassen.

„Er hat es so gewollt! Er hat dich darum gebeten, sein Kind in Sicherheit zu bringen!“

Salia. Sie stand weinend hinter mir, das kleine Gesicht rot und fleckig.

Ich musste sie hier rausbringen, weg von den Trackern, irgendwohin, wo sie sie nicht finden würden.

„Biene!“

Mit einer Verzweiflung, wie ich sie noch nie gespürt hatte, nahm ich Salia auf den Arm und drückte sie fest an mich. Ich erlaubte mir nicht mal einen letzten Blick zurück. Mein Herz zerbrach in tausend Stücke, als ich losrannte und Sawyer im Stich ließ, um das Kind, das er so liebte, in Sicherheit zu bringen.

Akiim hängte sich erleichtert an meine Fersen, als ich mich endlich bewegte.

An der Tür wartete ungeduldig einer der Rebellen. Er hielt sie uns offen und folgte uns, sobald wir draußen waren.

Es war noch immer Nacht und der Regen sogar noch schlimmer geworden, doch als ich die nasse Treppe hinuntereilte und mit Salia auf dem Arm durch den Wald rannte, konnte ich nur daran denken, dass ich nicht nur Sawyer, sondern auch einen Teil meines Herzens zurückließ.

Als wir den Parkplatz erreichten, startete gerade einer der Busse und verschwand zwischen den Bäumen. Es war der letzte gewesen, aber da standen noch mehrere Autos.

Akiim wählte den Wagen, der uns am nächsten war und schob mich mit der weinenden Salia auf den Rücksitz. Er selber nahm hinter dem Steuer Platz, während der Rebell eilig auf den Beifahrersitz kletterte. Schon in der nächsten Sekunde sprang der Motor an. Die Reifen quietschten, Schlamm wurde aufgespritzt und dann tauchten wir in den finsteren Wald ein.

Ich drückte Salia an mich. Nicht nur um sie zu trösten, sondern auch mich selber. Das Brennen in meinen Augen nahm überhand. Ich spürte wie die Tränen mir über die Wangen liefen.

Killian im Stich zu lassen hatte mich in Panik versetzt, denn es hatte mich einmal mehr an meine Vergangenheit erinnert. Sawyer zurückzulassen, in dem Wissen, was für ein Schicksal ihn erwartete, zerriss mir das Herz.

In meinem Schmerz klammerte ich mich an die Kleine, während meine Seele vor Verzweiflung schrie.

 

oOo

Kapitel 59

 

Trostlosigkeit, Wut und Kummer. Die ganze Luft schien damit durchsetzt zu sein. Es machte mir das Atmen schwer, doch auf mich nahm im Moment niemand Rücksicht. Ohne mich wäre das alles nicht passiert. Das wusste ich genauso gut, wie jeder andere in diesem Gebäude. Kit hatte recht, ich war das Schlimmste, was den Menschen passieren konnte.

Azra legte ihre Hand auf meine. Ich saß bei ihr auf der Bettkante, wobei es gar kein Bett war, sondern eine Liege. Seit drei Tagen schlief keiner dieser Rebellen mehr in einem Bett. Drei Tage, so lange war es her, seit die Tracker uns überfallen hatten und wir in eine verregnete Nacht geflüchtet waren.

Die Fahrzeuge hatten uns in ein kleines Lager gebracht. Es war nur als Zwischenstation gedacht. Zum eigentlichen Ziel würden sie erst in ein paar Tagen aufbrechen, wenn sich alle soweit erholt hatten. Sie wollten zu einem der anderen Rebellenstützpunkte und dort erstmal unterkommen, um sich neu zu organisieren. Und dann? Keine Ahnung. Vermutlich würden sie dann weitermachen wie zuvor.

Aber im Moment waren wir hier, in einem alten Langhaus. Es war kein Vorwendebau, aber es war alt, roch muffig und an manchen Stellen tropfte das Dach.

Die Rebellen hatten Liegen aufgestellt. Seile waren kreuz und quer durch das ganze Gebäude gespannt worden, um Laken daran zu befestigen. So schafften sich die Menschen hier ein kleines Reich für sich und hatten wenigstens den Anschein von Privatsphäre.

Aber die gab es nicht. Ich konnte sie alle hören. Ihre Gespräche und auch das Weinen. Nachts war es besonders schlimm. Sie weinten nicht um die Dinge die sie verloren hatten, sondern um die vielen Menschen. Nicht nur Sawyer hatte es erwischt, da waren noch so viel mehr.

„Hör auf dir den Kopf darüber zu zerbrechen und nimm es dir nicht so zu Herzen. Du bist nicht dafür verantwortlich.“ Azra drückte meine Hand. „Niemand kann in die Zukunft sehen, auch du nicht. Du konntest nicht wissen können, was passieren würde.“

Nein, konnte ich nicht, aber ich hätte es ahnen müssen. Schon in meiner Kindheit hatte ich gelernt, lege dich neimals mit Eden an, doch mein Hass auf die Menschen aus der Stadt, hatte mich blind gemacht und für diese Blindheit hatten andere schwer bezahlen müssen.

Für mein Handeln gab es keine Entschuldigung, aber ich hatte es nicht mehr ertragen können, was die Städter sich alles erlaubten. Sie entführten die Menschen, versklavten sie und wenn sie ihnen im Weg standen, wurden sie erbarmungslos beseitigt. Sich ihnen stellen zu wollen, und sei es nur, indem ich Marshall befreite, war die wohl größte Dummheit in meinem ganzen Leben gewesen. Nicht nur, dass er noch immer hinter ihren Mauern gefangen war, durch mich waren den Trackern auch noch dreiundvierzig Rebellen in die Hände gefallen. Dreiundvierzig Menschen, das war fast ein Drittel der Leute aus dem Center.

Wir hatten sie alle an Eden verloren und es war meine Schuld, denn ich hatte das Ganze in Gang gesetzt.

„Weißt du Kismet, jeder geht auf seine eigene Art mit Unglücken um, aber du darfst dich von dem was geschehen ist nicht völlig vereinnahmen lassen.“

Ach nicht? „Und was soll ich stattdessen tun?“ Fröhlich über die Wiesen hüpfen und dabei ein Liedchen trällern?

„Trauere, lerne daraus und dann, wenn du so weit bist, lass es hinter dir und geh weiter, sonst wirst du daran zerbrechen.“

War ich das nicht schon längst? Im Moment fühlte es sich jedenfalls so an, als würde das Schicksal ausprobieren, wie viele Schläge es brauchte, um mich in kleine Stücke zu zerschlagen. Mein Herz war so schwer.

Azras Blick war eindringlich. „Du trägst bereits so viel Schmerz mit dir herum, irgendwann wirst du diese Last nicht mehr tragen können und ich habe Angst davor, was dann mit dir geschehen wird. Ich habe doch nur noch dich, darum bitte, pass auf dich auf.“

Das glaubte sie im Moment vielleicht, aber das war nicht so. Hier gab es viele Menschen und wenn sie es wollte, würde sie ihren Platz unter ihnen finden.

Ich dagegen war nicht gut für sie. Ich war für niemanden gut. Nur wegen mir würde Killian sterben.

Die Last meiner Fehler begann mich niederzudrücken und füllte die Leere in mir mit Kummer. Ich musste hier raus, bevor ich noch in Tränen ausbrach. „Ich werde Mal nach Salia und Wolf schauen“, sagte ich und wich ihrem Blick aus, als ich mich von der Kante ihrer Liege erhob. Das war die perfekte Ausrede, denn die beiden waren mit mir zusammen in dem anderen Gebäude untergebracht. „Ruh dich ein wenig aus, ich schaue später noch mal nach dir.“

Sie schien zu verstehen, dass ich einfach nur einen Moment für mich allein brauchte. Darum ließ sie mich anstandslos ziehen, als ich ihre kleine Domäne verließ und in den schmalen Zwischenraum zwischen den Laken trat.

Dieser Gang, der sich über die ganze Länge des flachen Gebäudes zog, war gerade mal breit genug für eine Person. Ich streifte mehr als nur eines der Laken, auf dem Weg zum Ausgang in der Mitte. Der eine oder andere Blick folgte mir, doch die meisten waren viel zu sehr damit beschäftigt, das Erlebte zu verarbeiten, um sich um etwas anderes als sich selbst zu kümmern.

Ich hatte den Ausgang fast erreicht, als ich ein Laken bemerkte, dass halb von den Seilen heruntergerutscht war. Durch die entstandene Lücke konnte ich zwei Liegen erkennen. Auf einer davon saß ein Mann in den mittleren Jahren. Er hatte ein kleines Mädchen auf dem Schoß, dass sich traurig an ihn kuschelte. Neben den beiden saß ein Junge, dem dicke Tränen über die Wangen liefen. Es waren die Kinder der Schwangeren.

Die Schuld in mir wuchs.

Ich hatte es versucht, aber ich hatte es nicht geschafft ihnen ihre Mutter wiederzubringen. Jetzt weinten die beiden die ganze Zeit, verstanden nicht, wo sie abgeblieben war. Sie waren noch so klein und brauchten sie. Wenigstens hatten sie noch ihren Vater, der war den Trackern nicht in die Hände gefallen.

Dieses Glück war leider nicht allen gegeben. Salia hatte ihren Vater verloren und das hatte bei ihr irgendwas angerichtet. Ein Trauma, würde Killian jetzt sagen. Sie weinte nicht. Ihre letzte Träne hatte sie vergossen, als Akiim uns von diesem Parkplatz gefahren hatte. Seitdem versank sie einfach nur in ihrem Kummer.

Damit würde ich vielleicht noch klarkommen, aber viel schlimmer war, dass sie auch nichts mehr anderes tat. Sie aß so gut wie nichts, hatte ihr Lachen verloren und auch ihre Stimme. Seit unserer Flucht aus dem Center hatte sie kein Wort mehr gesagt. Dafür schreckte sie nachts schreiend aus dem Schlaf und wurde richtig hysterisch, wenn Wolf sich von ihr entfernte. Nicht mal von ihren Tanten, oder ihrem Großvater, ließ sie sich durch ihre Trauer helfen.

Der Einzige, den sie noch an sich heranließ war Wolf. Tag und Nacht klammerte sie sich an ihn und wich nicht mehr von seiner Seite. Ich kam erst weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz.

Ich konnte ihr nicht helfen. Ich konnte diesen Kindern nicht helfen. Ich konnte niemanden helfen, denn ich war nutzlos.

Ruckartig wandte ich mich ab und trat durch die knarzende Tür hinaus in den kalten Herbsttag. Es war feige, ja, aber ich konnte mir das nicht länger mitansehen, sonst würde ich an meiner Schuld einfach ersticken.

Das Zwischenlager war ein Komplex aus drei baufälligen Gebäuden, die in einem Dreieck zueinander aufgestellt waren. Zwei der Bauten waren Langhäuser mit einem flachen Dach und hatten ihre besten Tage schon lange hinter sich gelassen. Diese beiden Gebäude waren die Notunterkunft für den Großteil der Rebellen aus dem Center. Oder besser gesagt, für den Teil, der nach dem Überfall noch übriggeblieben war.

Das letzte Gebäude war ein kleineres Häuschen, ähnlich eines einfachen Bungalows und füllte die dritte Seite des Dreiecks. Der Zwischenraum zwischen den Gebäuden wurde als Hof genutzt. Viele braune stellen, Pfützen und jede Menge Unkraut.

Die kleine Anlage lag eingebettet zwischen hohen Hügeln und weiten Wiesen, auf die sich nur hin und wieder ein Bäumchen verirrt hatte. Hier gab es weit und breit nichts anderes. Keine Straßen, keine Ruinen, keinen Wald, nur Einsamkeit.

Die meisten Rebellen hatten sich zum Schutz vor der Kälte in die Gebäude zurückgezogen. Die wenigen Menschen hier draußen waren Wachposten und ein paar Arbeiter, die versuchten ein wenig Normalität in diesen Alptraum zu bekommen. Sie waren die, die alles am Laufen hielten.

Ein paar der Wachposten wärmten sich gerade die Hände an dem großen Lagerfeuer in der Mitte des Hofs und unterhielten sich leise miteinander. Zwei Männer mit großen Äxten hackten in der Ecke Feuerholz. Gegenüber von mir waren mehrere Kisten an der Holzwand gestapelt. Eine Frau kramte darin herum.

Sie alle hatten einen schweren Schicksalsschlag erlitten und doch machten sie weiter. Ich jedoch war wie gelähmt und wusste nicht was ich tun sollte.

Ich steckte meine Hände gegen die Kälte in meine Jackentasche und lief langsam an der Hauswand entlang.

In den letzten Monaten hatte ich so viel verloren. Nikita, meine Mischpoche, Menschen die mir wichtig waren. Balic war tot, Marshall gefangen und Killian einem unausweichlichen Schicksal ausgeliefert. Und dann war da auch noch Trotzkopf.

Ich konnte es immer noch nicht glauben, dass er einfach weg sein sollte. Ich meine, er war schon oft verschwunden gewesen, aber immer zu mir zurückgekehrt. Dieses Mal jedoch würde es anders sein, denn dieses Feuer konnte er nicht überlebt haben. Ich biss die Zähne fest zusammen. Niemand konnte das.

Er war seit sieben Jahren Teil meines Lebens gewesen und nun würde es keine einseitigen Diskussionen und sturen Kabbeleien mehr geben. Er war einfach fort.

Doch keiner dieser Verluste hatte mich so sehr getroffen, wie der von Sawyer. Wegen jeden von ihnen fehlte mir ein Stück meiner Seele, doch bei Sawyer hatte ich das Gefühl, mir hätte jemand mit scharfen Klauen in die Brust gegriffen und mein Herz herausgerissen. Es war nichts als eine klaffende Wunde zurückgeblieben, die schmerzte und blutete und für die es keine Heilung gab.

Nur an ihn zu denken, ließ mich wünschen, mir die Erinnerungen an ihn aus dem Kopf kratzen zu können. Wie konnte einem der Verlust eines Menschen, den man erst so kurz kannte, nur so sehr schmerzen? Ich wollte nicht daran denken, nicht an ihn, oder Killian, oder das was geschehen war. Aber mein Kopf ließ mir keine Ruhe. Ich müsste ihn mir schon abhacken, um endlich von dieser Qual erlöst zu werden.

Aber nicht nur mir ging es so. Auch andere versuchten zu vergessen, oder ihren Schmerz in andere Bahnen zu lenken.

Akiim war dafür ein gutes Beispiel. Er war voller Hass und Wut, verbarg diese Gefühle aber hinter einer Mauer aus Eis. Nur wenn man ihm in die Augen sah, erkannte man die Wahrheit. Er hatte es mir nicht ins Gesicht gesagt, aber ich war davon überzeugt, dass er mich für all das verantwortlich machte.

Noor weinte wann immer ich sie sah und Laarni besaß nur noch eine sehr kurze Zündschnur – sie explodierte bei jeder Kleinigkeit. Doch keinen von ihnen hatte es so schwer getroffen wie Clarence.

Skade zu verlieren hatte ihn schwer angeschlagen. Aber dass Sawyer sich nur Stunden später erneut in den Händen des Feindes befand, hatte ihn gebrochen. Zwei seiner Kinder in Eden zu wissen, war einfach zu viel für ihn.

Seit wir in das Zwischenlager umgezogen waren, verschanzte er sich die ganze Zeit in dem alten Bungalow und hielt sich von allem und jeden fern. Das letzte Mal hatte ich ihn auf dem Weg hierher gesehen, stumm und in sich gekehrt. Die sonst so lebhaften Augen waren trüb und leblos gewesen. Da war kein Feuer mehr, nur noch Kummer, in dem er nach und nach ertrank.

Langsam schritt ich an dem Gebäude entlang und ließ mich auf einem Stapel alter Bretter nieder. Sie waren feucht und die Kälte kroch sofort durch meine Hose, trotzdem blieb ich sitzen. Ich wollte nicht wieder hineingehen. Ich ertrug die Gesichter dieser Menschen nicht mehr. Nicht dass mir jemand Vorwürfe machte, oder mit dem Finger auf mich zeigte, aber das brauchten sie auch nicht, ich wusste auch so, was ich getan hatte.

Ich hielt es kaum noch aus hier zu sein und das lag nicht nur an dem was geschehen war. Es war, als zöge mich etwas von diesem Ort und diesen Menschen fort und ich wusste auch ganz genau was das war: Sawyer. Es zog mich zu ihm, zurück nach Eden. Nicht um bei ihm zu sein, sondern um ihn vor dem Schrecken dort zu bewahren.

Seit drei Tagen kämpfte ich gegen dieses Bedürfnis an und das nicht nur, weil es mir eine Scheißangst machte in die Stadt zurückzukehren, aber ich merkte mit jeder verstreichenden Stunde, wie ich diesen Kampf langsam verlor. Ich konnte nicht hierbleiben und in Frieden leben, wenn er dort war. Und ihn aufzugeben, war keine Option. Allein der Gedanke ließ mein Herz schwer werden. Ja, er war ein schwieriger Mensch und ich war mir nicht sicher, was ich ihm bedeutete, aber er bedeutete mir etwas, darum hatte ich gar keine Wahl.

Er würde es nicht zeigen, aber ich wusste wie sehr er hinter den Mauern von Eden leiden würde. Und er war auch nicht der Einzige, der auf ein Wunder hoffte. Killian steckte in Lebensgefahr und Marshall würde dort zugrunde gehen.

Ich musste einen Weg finden sie dort herauszuholen, nur wie sollte ich das tun? Ich allein gegen eine ganze Stadt? Das war Irrsinn! Aber ich konnte auch niemanden um Hilfe bitten. Ich hatte ja gesehen, was beim letzten Mal dabei herausgekommen war. Nein, ich würde niemanden mehr in Gefahr bringen, ich würde es alleine machen, so wie ich es von Anfang an hätte tun sollen.

Leider hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie ich irgendwas davon umsetzen sollte. Nach Eden hineinzukommen, würde kein Problem sein. Ich musste einfach nur an die Stadttore klopfen und sie würden mir zur Begrüßung auch noch eine Parade schmeißen. Das wäre der offizielle Weg hinein. Heimlich hinter ihre Mauern zu gelangen würde viel schwerer werden, doch am schwersten wäre es alle zu retten und unbeschadet wieder herauszukommen.

Im Moment war auch noch völlig egal, was ich tat, denn mein vorrangigstes Problem war erstmal dorthin zu kommen. Ich konnte keine Autos fahren und ein Reittier besaß ich nicht mehr. Mir würde gar nichts anderes übrigbleiben als zu laufen und das würde mich mindestens zehn Tage kosten – und das auch nur, wenn das Wetter mitspielte.

Was wenn ich zu spät kam? Was wenn mir keine Zeit mehr blieb Killian zu retten? Sie konnten jeden Moment in Eden ankommen, wenn sie nicht sogar schon da waren.

Sawyer würden sie sofort zurück ins Herz schaffen, damit er seiner Aufgabe wieder fleißig nachkommen und die Frauen dort beglücken konnte. Aber Killian war unfruchtbar. Er hatte sie verraten und auf Verrat stand der Tod.

Nein, so durfte ich nicht denken. Ich konnte ihn retten, es gab sicher einen Weg, ich musste ihn nur finden. Außerdem musste ich meine Furcht vor Eden überwinden und endlich zur Tat schreiten, anstatt mich von der Aussicht auf eine ungewisse Zukunft lähmen zu lassen. Ich musste aufbrechen und vielleicht – ganz vielleicht nur – schaffte ich es dann nicht weiter in diesem Sumpf aus Kummer und Schuld zu versinken. Was genau ich machen würde, wenn ich erstmal da war, konnte ich mir immer noch auf dem Weg dorthin überlegen.

„Darf ich dich mal stören?“

Ich zuckte zusammen und schaute erschrocken auf. Neben mir stand Nevio. Wo war der denn jetzt auf einmal hergekommen?

Er musterte den dicken Verband um meinen Kopf. Wolf hatte ihn mir verpasst, weil die blöde Platzwunde ständig aufging und wieder zu bluten anfing. Gegen meine blöden Kopfschmerzen konnte er allerdings nichts tun. „Hab ich dich erschreckt?“

Ja! „Nur ein bisschen.“

„Das tut mir leid.“ Er grinste mich schief an. Es sah schaurig aus. „Aber ich muss dich mal von deinem Platz verscheuchen, ich brauche die Bretter.“

Ich schaute nach unten. Damit musste ich meinen Sitzplatz wohl aufgeben. Nicht dass er mir besonders viel bedeutete.

Kalte Luft strich über meinen nassen Hintern, sobald ich mich erhob und ihn in den kühlen Wind hielt. Ich trat zur Seite und wickelte meine Arme um mich, als er die beiden obersten Bretter vom Stapel nahm. Dabei tat ich so, als würde ich nicht merken, wie er mich musterte.

„Man könnte meinen dein bester Freund sei gestorben.“

Welch passende Wortwahl, denn genauso fühlte es sich an. Ich hatte so viel verloren und wenn ich nicht handelte, könnte es sogar noch mehr werden. Trotzdem war dieser Spruch in dieser Situation ein wenig makaber.

Nevio schien das auch aufzugehen. „Tut mir leid, manchmal spreche ich, ohne vorher darüber nachzudenken.“

„Schon gut, das Problem haben viele Menschen.“

Er seufzte und stellte die Bretter ab. Dabei fielen ihm seine Dreadlocks ins Gesicht. „Weißt du, ich habe die Erfahrung gemacht, wenn man erstmal ganz unten angekommen ist, gibt es nur noch den Weg nach oben.“

Klang logisch. „Sind wir denn schon ganz unten?“

Er machte eine vage Bewegung mit der Hand. „Ein bisschen tiefer geht es noch, aber nicht mehr viel.“

Das hörte sich ja nicht besonders ermutigend an.

Ich wartete darauf, dass er ging und mich wieder meinen Gedanken überließ, doch er schien es sich anders zu überlegen. Er lehnte seine Bretter an die Wand und setzte sich auf den nassen Holzstapel. Mit der Hand klopfte er neben sich.

Eigentlich hatte ich keine Lust auf ein Gespräch, besonders nicht, wenn er sich dafür häuslich einrichtete.

„Komm schon, setzt dich. Nur einen Moment.“

Na gut, dann setzte ich mich eben.

Er stellte die Beine ein wenig auseinander und lehnte seine Ellenbogen darauf. „Du bist deinem Bruder sehr ähnlich, auch er gibt sich die Schuld an dieser Situation, darum muss ich dir folgendes sagen: Ihr seid beide Idioten.“

„Oh, vielen Dank auch.“ Wenn jetzt schon andere begannen mich zu beschimpfen, musste ich das wenigstens nicht mehr selber übernehmen.

„Ist doch wahr. Nicht wir waren es, die beschlossen haben, deinen Marshall zu entführen. Es war Eden und alles was danach geschah, ist auf dieses eine Ereignis zurückzuführen. Wir haben nicht angefangen, wir haben nur reagiert.“

Er konnte sagen was er wollte. Marshall war nur auf dem Radar der Tracker erschienen, weil er mich kannte. Ohne mich wäre er immer noch in Sicherheit. Ich brachte den Menschen Unglück.

„Es bringt nichts sich dafür selber zu geißeln. Wir müssen weitermachen, nur dann kann es besser werden.“

Weitermachen. Das Gleiche hatte Azra gesagt. „Du lässt das so einfach klingen.“ Aber wie sollte man über sowas einfach hinwegkommen und weitermachen?

„Es ist nicht einfach, es erfordert harte Arbeit, aber wir können das schaffen, wenn wir nur daran glauben. Und sobald ich das in den Sturschädel deines Bruders reingehämmert habe, wirst du es auch sehen. Dies war nur ein schwerer Rückschlag, doch wir werden darüber hinwegkommen und am Ende wird alles gut werden.“

Wie konnte jemand in seinem Alter nur so naiv und gutgläubig sein? Nichts wurde besser, nur weil man daran glaubte. Das war einfach die Realität. Ich wusste das und Akiim wusste das auch. Ich sah es ihm jedes Mal an, wenn ich ihm begegnete – was in den letzten Tagen nicht oft war. Ich hatte sogar das Gefühl, als würde er mir aus dem Weg gehen. Vielleicht weil mein Anblick ihn an alles erinnerte, was in der letzten Zeit schiefgelaufen war. „Es geht ihm nicht gut.“

„Wie sollte es auch? Er hat Skade verloren. Sie ist wie eine kleine Schwester für ihn. Sie den Trackern zu überlassen, weil er ihr nicht helfen konnte, besonders nachdem er schon dich und deine Schwester an sie verloren hat …“ Er suchte nach den richtigen Worten.

„Er ist am Boden zerstört.“ Und so voller Hass.

Er nickte. „Dabei konnten die beiden sich anfangs nicht mal ausstehen. Als sie sich kennenlernten, war das der reine Horror.“

Das überraschte mich jetzt doch ein wenig, so wie sie ihm immer am Rockzipfel hing und alles tat was er verlangte. „Er mochte sie nicht?“

„Umgekehrt, sie konnte ihn nicht ausstehen.“ Er richtete sich auf und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. „Du musst wissen, Skade war schon als kleines Kind sehr schwierig. Manche haben sogar geglaubt, sie ist nicht ganz richtig im Kopf – mich eingeschlossen.“ Er drehte den Finger neben seinem Kopf, als wollte er andeuten, sie sei völlig durchgeknallt.

Skade? „Warum?“ Sie war zwar ziemlich ehrgeizig, aber verrückt war sie mir nie vorgekommen.

„Weil sie seltsam war.“ Seine Hand sank in seinen Schoß. „Sie hat immerzu geschrien und gebissen und gekratzt. Keine Ahnung, was mit der Kleinen los war, aber sie war richtig bösartig gewesen. Als ihre Mutter starb, wurde das sogar noch schlimmer. Doch bei niemanden war sie so schlimm wie bei Akiim. Als er damals hier auftauchte, hat das kleine Biest ihn richtig terrorisiert. Es war so schlimm, dass er irgendwann einfach abgehauen ist, weil er es nicht mehr ausgehalten hat.“

Akiim war weggelaufen? Er betete die Rebellen und das was sie taten doch geradezu an.

„Alle haben ihn gesucht, keiner konnte ihn finden. Zumindest niemand bis auf Skade.“

„Skade hat ihn gefunden? Aber ich dachte, sie hat ihn gehasst.“

Er zuckte nur mit den Schultern. „Sie hat ihn nicht nur gefunden, sie hat ihn auch zurückgebracht und von da an waren die Beiden ein Herz und eine Seele. Und nicht nur das, sie wurde auch noch nett.“

„Einfach so?“

„Einfach so. Am Anfang hat niemand der Sache getraut, aber das ist jetzt schon Jahre her und sie ist immer noch nett.“

Das konnte ich mir nicht vorstellen. Niemand veränderte seinen Charakter von einem Moment auf den anderen ohne triftigen Grund. „Was ist passiert?“

„Das ist ein Rätsel, das bisher niemand lösen konnte, weil sich beide darüber bis heute ausschweigen. Vielleicht saß er ja in einem Tutu irgendwo in einer Ecke und hat wie ein kleines Mädchen in sein rosa Taschentuch geweint, als sie ihn fand. Das hat etwas ganz tief in ihr berührt und daraufhin sind sie die besten Freundinnen geworden.“

Ich erkannte Sarkasmus, wenn er mir begegnete, aber eines verstand ich nicht: „Was ist ein Tutu?“

Er blinzelte mich an, formte mit den Lippen ein O und grinste dann schief. „Ich vergesse immer, dass ihr Hinterwäldler von nichts eine Ahnung habt.“

Meine Mundwinkel sanken herab. „Ich bin kein Hinterwäldler.“

Sein Grinsen verschwand nicht, es wurde sogar noch breiter. „Ein Hinterwäldler ist ein weltfremder und rückständiger Mensch, der sehr abgeschieden lebt und aufgrund dieser Isolation nur sehr wenig Allgemeinwissen besitzt.“

Nun verengte ich auch noch meine Augen. Gerade ritt er sich immer tiefer in die Scheiße.

Er seufzte ergeben. „Na gut, dann bist du eben ein Mensch mit eingeschränktem Wissen und wenig Lebenserfahrung, irgendwo aus dem hinterletzten Wald.“

„Ich habe die letzten Jahre in einem Flugzeug gelebt, nicht in einem Wald. Fünkchen.“ Akiim hatte ihn so genannt und das hatte Nevio geärgert. Leider blieb dieser Effekt bei mir aus. Er lächelte einfach weiter.

Na gut, dann eben nicht. Ich stellte die Beine anders hin und stützte meinen Kopf in meine Hände. Dabei beobachtete ich die beiden Männer beim Holzhacken. „Warum Fünkchen?“

„Weil das besser klingt als angekokeltes Grillfleisch. Ein Funke kann ein Inferno auslösen. Grillkohle ist nur das was das Feuer übrig lässt.“

War das ein Scherz, oder meinte er das Ernst? Mir war schon klar, dass die Menschen aufgrund seines Aussehens vor ihm zurückschrecken konnten, aber Kohle und Grillfleisch? Das war widerlich.

„Guck nicht so. Ich weiß wie ich aussehe und glaub mir, ich habe in meinem Leben schon viel Schlimmeres gehört.“ Sein Blick senkte sich, als wollte er mich nicht mehr anschauen. Das Lächeln war verschwunden. „Du hast sicher ähnliches gedacht, als du mich das erste Mal gesehen hast.“

„Nein“, konnte ich absolut ehrlich sagen, denn ich wusste noch ganz genau, was ich an diesem Tag gedacht hatte. „Bei unserer ersten Begegnung dachte ich, du seist ein Überlebender und was dieser Mann für eine Willensstärke besitzen muss, um so eine Tortur durchzustehen und sich wieder zu erheben.“ Und das dachte ich immer noch. „Ich glaube nicht, dass ich eine solche Kraft besitze.“

In seinem Gesicht veränderte sich etwas. Es war kaum wahrnehmbar und er schien es verbergen zu wollen, aber ich sah es. Unsicherheit. „Also gleich setze ich mich mit einem Tutu in irgendeine Ecke und weine in mein rosa Taschentuch.“

Der Witz war nicht sehr gut, aber ich sah mich gezwungen, darauf einzugehen. „Dann findet diese Hinterwäldlerin wenigstens heraus, was ein Tutu ist.“

Jetzt lächelte er doch wieder. Es war nur ein kleines, zaghaftes Lächeln, aber es war vorhanden.

Auf einmal wurden aufgeregte Stimmen und Rufe im Lager laut. Nevio und ich sprangen sofort alarmiert auf die Beine und schauten uns nach allen Seiten um. Noch ein Überfall? Aber die Rufe klangen nicht verängstigt, eher aufgeregt.

Eine Frau kam ins Lager geeilt, sie gehörte zu den Wachposten. „Schnell, wir brauchen Seile!“

„Was ist passiert?“, rief Nevio ihr zu.

Sie hielt nicht an, wurde aber kurz langsamer. „Das müsst ihr selber sehen, sonst glaubt ihr es nie!“ Sie rannte weiter.

Angelockt von den Rufen, kamen einige Leute aus den Häusern geeilt.

Nevio und ich schauten uns nur kurz an, dann rannten wir los, in die Richtung aus der sie gekommen war. Vom Hof runter, auf die andere Seite der Gebäude. Ein paar Leute hatten sich dort bereits versammelt und schauten auf etwas, dass sich direkt auf uns zubewegte.

Wir wurden langsamer und hielten dann neben ihnen an. Ich konnte nur starren.

Nevio blinzelte. „Träume ich?“

„Wenn ja, dann haben wir denselben Traum.“ Was da auf uns zukam, war eine Herde von dreizehn Pferden. Zwei dieser Pferde zogen sogar eine unbemannte Kutsche hinter sich her. Ich erkannte sie sofort wieder, es war die Kutsche, die wegen des Feuers vom Vorplatz des Centers gestürmt war.

Das mussten die Pferde der Rebellen sein. Irgendwie hatten sie es geschafft dem Feuer zu entkommen und kamen nun nach Hause. Doch das Erstaunlichste an diesem Bild war das Tier, das diese kleine Herde zu uns führte.

„Trotzkopf.“ Er war wirklich da, lief in vorderste Reihe und führte seine Anhängsel direkt in unsere Richtung.

Mich hielt nichts mehr, ich rannte einfach los. Er lebte. Er war hier und lebte! Ich konnte es kaum glauben, aber ich sah ihn direkt vor mir. Mein Herz hüpfte vor Freude.

Als er mich heranstürmen sah, blökte und blubberte er, als wollte er mich begrüßen. Doch als ich ihn erreichte, versuchte er an mir vorbeizulaufen.

„Hey!“, beschwerte ich mich. Ich weinte hier gleich vor Glück und er marschierte einfach an mir vorbei. Das war wieder so typisch er. Und trotzdem konnte ich ihm nicht böse sein. Ich schnappte ihn einfach an seinem Halfter, hielt ihn fest und drückte mein Gesicht in sein muffelndes Fell. Er war den Flammen entkommen und hatte seinen Weg zu mir zurückgefunden. Es war ein Wunder. „Wie hast du das nur geschafft?“, flüsterte ich leise, völlig überwältigt von diesem Moment.

Die Frau vom Wachposten kam mit einem Haufen Seile auf dem Arm zurückgeeilt und verteilte sie an die Schaulustigen. Dann begannen sie damit die Pferde um mich herum einzufangen.

Ich dagegen fing damit an Trotzkopf vom Scheitel bis zu seinen gespaltenen Hufen zu untersuchen. An manchen Stellen war sein Fell ein wenig angekokelt und er hatte ein paar Kratzer, aber ansonsten war er völlig unversehrt.

„Geht es ihm gut?“, fragte Nevio.

Ich schaute auf.

Er hielt ein wenig Abstand. Offensichtlich wusste er, dass Trotzkopf nicht unbedingt ein netter Kerl war.

„Ja, mit ihm ist alles in Ordnung.“ Ich richtete mich auf, hielt sein Halfter aber fest. Keine Ahnung wie er es so unbeschadet aus dem brennenden Stall geschafft hatte, aber es würde mich nicht wundern, wenn er sich selber herausgelassen hatte. Nur erklärte das nicht, wie auch die Pferde herausgekommen waren. Oder wie sie es geschafft hatten, uns hier zu finden.

„Siehst du? Es geht schon wieder nach oben.“

Ein Mann führte die beiden Pferde mit der Kutsche an uns vorbei ins Lager. Meine Augen weiteten sich ein wenig, als ich sah, was auf der Ladefläche lag. Das war Trotzkopfs Sattel. Oh Gaia, das musste die Kutsche sein, in die Akiim den Sattel geschmissen hatte, weil ihm das alles nicht schnellgenug gegangen war. Niemand hatte ihn daraus hervorgeholt. Und jetzt war er hier.

Mit einem Mal wusste ich ganz genau, wie ich nach Eden kommen würde. „Ja, das tut es“, sagte ich leise. „Das tut es wirklich.“

 

oOo

Kapitel 60

 

Leise rauschend schwappten die kristallklaren Wellen an den schneeweißen Strand. Das blaue Meer reichte bis zum Horizont und darüber hinaus. Die Sonne strahlte vom klaren Himmel und wärmte mich.

Ich bohrte meine Zehen in den weichen Sand, schloss die Augen und ließ mir eine warme Brise um die Nase wehen. Die salzige Luft konnte ich auf der Zunge schmecken. Es war so friedlich hier. Selbst in meinem Innersten spürte ich den Frieden ruhen.

Von hinten legten sich zwei große Hände auf meine Hüften. Ein männlicher Körper schmiegte sich in meinen Rücken. Der Kuss auf meinen Nacken ließ mich angenehm erschaudern.

„Was machst du hier, so ganz allein?“, fragte Sawyer leise.

„Ich genieße die Ruhe.“ Und seine Nähe.

Noch ein Kuss. Sein warmer Atem tanzte auf meiner Haut. „Aber ich brauche dich.“

„Ich bin doch hier.“ In seinen Armen, an diesem herrlichen Ort, weit weg von allen Sorgen und Problemen.

„Ich habe Angst“, flüsterte er kaum hörbar.

Wind kam auf und zerrte an unserer Kleidung. Er brachte dunkle Wolken mit sich, die langsam den Himmel verdunkelten. Die seichten Wellen wurden höher. Sie krochen den weißen Strand hinauf und umspülten unsere Füße.

„Wovor hast du Angst?“

„Ich kann das nicht mehr, nicht noch einmal.“ Sein Griff wurde einen Moment fester, dann verschwanden seine Hände plötzlich und mit ihnen das Gefühl von Geborgenheit und Frieden.

Ein Blitz zuckte über den Himmel.

Ich wirbelte herum, genau in dem Moment, als direkt vor mir ein Rollgitter aus der Decke fiel. Es krachte mit lautem Scheppern zu Boden und versperrte mir den Weg. „Nein!“, schrie ich und stürzte zu der Barrikade. Ich rüttelte daran und schlug dagegen, ich musste es aufbekommen.

Draußen vor den Fenstern tobte ein Sturm. Donner grollte und gleißende Blitze zuckten über den Himmel. Das große Wandgemälde schien lebendig zu werden. Die Figuren darin streckten ihre Arme nach mir aus und gaben schaurige Geräusche von sich.

„Geh auf!“ Ich holte mit dem Bein aus und trat mit voller Wucht gegen das Gitter, doch es bekam nicht mal eine Delle. Panisch und verzweifelt spähte ich durch die schmalen Schlitze. Sawyer, da war Sawyer. Zwei Tracker hatten ihn gepackt und schleiften ihn geradewegs auf die Tore von Eden zu. Er wehrte sich nicht, denn er war bewusstlos.

„Nein!“, schrie ich weder und begann mit Händen und Fäusten auf das Gitter einzuschlagen. Ich musste da durch, ich musste ihn retten, sie durften ihn mir nicht wegnehmen.

Immer und immer wieder schlug ich dagegen. Meine Hände schmerzten und begannen zu bluten, aber ich gab nicht auf. Ich musste auf die andere Seite, ich musste ihn retten, sonst würde ich ihn verlieren.

Das Gitter schepperte und knarzte. Der Putz zu den Seiten begann zu rieseln und abzubröckeln und plötzlich brach das Gitter heraus und fiel krachend zu Boden. Endlich war der Weg frei.

„Sawyer.“ Sofort kletterte ich über das Gitter hinweg und rannte die Straße nach Eden hinauf. Über mir tobte der Sturm mit all seiner Kraft. Sintflutartiger Regen fiel vom Himmel und gleißende Blitze zerrissen die Dunkelheit.

Die Tracker hatten die Stadttore erreicht. Mit Entsetzen sah ich, wie sie sich öffneten und den finsteren Schlund dahinter preisgaben.

Schneller, ich musste schneller laufen!

Plötzlich gingen die Mauern von Eden in Flammen auf. Sie loderten meterhoch in die Luft und berührten fast den Himmel.

Der gähnende Schlund der Stadt stand weit offen. Die Tracker gingen direkt hinein und ließen sich von ihm verschlingen. Sawyer nahmen sie einfach mit sich.

„Sawyer!“ Entsetzt sah ich, wie die Tore sich wieder zu schließen begannen. Ich rannte noch schneller. Verzweiflung trieb mich an. Ich musste sie erreichen, bevor sie sich ganz geschlossen hatten, sonst würde ich ihn für immer verlieren. Das konnte ich nicht zulassen.

Ich rannte so schnell wie ich konnte. Meine Füße berührten kaum den Boden, so schnell war ich, aber die Tore gingen immer weiter zu.

Nicht aufgeben, ich durfte nicht aufgeben. Verzweifelt rannte ich weiter, immer meiner Angst entgegen, denn sie hatten mir mein Herz genommen.

Die Stadt kam näher, ich hatte die Tore fast erreicht. Nur noch zehn Fuß, fünf. In dem Moment in dem ich sie erreichte, schlossen sie sich mit einer Endgültigkeit, die ich bis in meine Seele spüren konnte. „Nein!“ Ich schlug mit der flachen Hand gegen das Tor und brach davor zusammen. Ich hatte ihn verloren.

Meine Augen klappten auf, doch ich sah nichts als Schwärze. Mein Herz hämmerte in meiner Brust und Schweiß stand mir auf der Stirn. Selbst mein Atem war beschleunigt, als wäre ich gerannt.

Einen Moment lag ich einfach nur da, dann zwang ich mich meine verkrampften Finger aus meiner Decke zu lösen. Langsam richtete ich mich auf und stützte meinen Kopf in meine Hände. Der Verband an meinem Kopf hielt noch.

Ich hatte geträumt. Von Sawyer. Ich hatte geträumt, dass ich ihn verlor. Dabei hatte ich ihn doch schon längst verloren. Mein Herz zog sich bei dem Gedanken daran schmerzhaft zusammen. Aber ich würde ihn wiederbekommen. Ich würde es schaffen. Ich wusste noch nicht wann und wie, aber ich würde nicht aufgeben.

Zuallererst musste ich aber aufstehen, was mein Körper gar nicht in Ordnung fand. Ich spürte die Erschöpfung, als hätte ich keinen Moment geschlafen.

Draußen vor den Fenstern herrschte tiefe Nacht. Verdammt, dabei hatte ich doch einfach nur für einen Moment meine Augen ausruhen wollen, bis es an der Zeit war aufzubrechen. Und nun hatte ich bereits die halbe Nacht verpennt. Es war ein Glück, dass ich noch vor dem Morgengrauen erwacht war.

Um mich herum war es ruhig. Ich hörte das Atmen der anderen Menschen und irgendwo schnarchte jemand.

Zeit aufzubrechen, ich hatte etwas zu erledigen.

Ich schlug meine Decke zurück und schwang meine Beine von der unbequemen Liege. Mein Herz war gerade noch dabei sich zu beruhigen, doch bei der Aussicht auf das, was mir nun bald bevorstand, beschleunigte es sich gleich wieder ein wenig.

Aber ich würde mich von meiner Furcht nicht länger aufhalten lassen, ich musste das durchziehen, denn es hing ein Menschenleben davon ab. Killian war nur durch mich in diese Lage geraten und darum musste ich alles in meiner Macht Stehende tun, um ihn zu retten.

So leise wie möglich stieg ich von meiner Liege, schlüpfte in Stiefel und Jacke und zog mein Bündel unter der Pritsche hervor. Den ganzen Tag hatte ich heimlich Dinge zusammengerafft, die ich für die Reise gebrauchen konnte. Proviant, zwei Feldflaschen, eine Armbrust, obwohl ich mit sowas noch nie geschossen hatte und noch andere Kleinigkeiten. Alle waren so mit sich selber beschäftigt gewesen, dass niemand groß auf mich geachtet hatte. Es war ein Leichtes gewesen.

Jetzt wickelte ich alles in meine Decke ein, band es zusammen und schwang es mir auf den Rücken. Sobald ich Trotzkopf geholt hatte, konnte ich mich auf den Weg machen. Allerdings musste ich vorher noch eine Sache erledigen: Ich musste Wolf einweihen.

Ein wenig graute es mir davor, aber mich ohne Nachricht aus dem Staub zu machen, war keine Option. Würde ich einfach so klammheimlich verschwinden, würden sie sich Sorgen machen, oder glauben, ich hätte mich einfach davon gemacht, um mich abzusetzen. Ein Brief wäre eine gute Alternative, aber leider bestand da die Problematik mit dem Schreiben. Es blieb mir also gar nichts anderes übrig, als jemanden über mein Vorhaben zu informieren.

Was sollte da schon schiefgehen? Es war wohl besser, wenn ich nicht zu genau darüber nachdachte.

Auf Zehenspitzen schlich ich hinter meinem Laken hervor, hinüber auf die gegenüberliegende Seite, wo Wolf und Salia ihr Nachtlager hatten. Durch ein kleines, verschmutztes Fenster fiel schwacher Mondschein und beleuchtete die beiden auf ihren Liegen.

Salia war unter ihrem Berg von Decken kaum zu erkennen. Sie hatte sich ganz klein zusammengerollt und ihr Gesicht halb vergraben. Wolf lag ausgestreckt neben ihr, viel zu groß für die Liegen und hatte eine große Pranke schützend auf das kleine Mädchen gelegt.

Die beiden sahen so friedlich aus, dass ich einen Moment überlegte, ob ich ihn wirklich wecken sollte. Leider brauchte ich jemanden, der bescheid wusste und es gab keinen anderen, den ich einweihen konnte. Die Rebellen und Azra würden es nicht verstehen. Akiim würde mich vermutlich irgendwo festbinden und unter Hausarrest stellen und sonst gab es hier niemanden. Nein, ich musste mit ihm sprechen und ich hatte ihn auch nicht vorher einweihen können. Es war einfach besser, ihn vor vollendete Tatsachen zu stellen und ihm nicht die Zeit zu geben, groß darüber nachzudenken.

Ich streckte die Hand nach ihm aus und schüttelte ihn vorsichtig an der Schulter. Keine Reaktion. Ich tat es noch einmal, aber er schlief einfach weiter. „Wolf“, flüsterte ich und versuchte es ein drittes Mal. Dieses Mal bekam ich wenigstens ein kleines Brummen von ihm. Vielleicht hätte ich ein Eimer eiskaltes Wasser mitbringen sollen.

„Wolf.“ Dieses Mal rüttelte ich ein wenig nachdrücklicher an ihm. Wenn das wieder nichts brachte, würde ich ihn einfach von der Liege schubsen. „Wach auf.“

Seine Augen klappten auf und sein Kopf ruckte hoch, als hätte ich ihn erschreckt.

Ich hielt mir sofort die Finger vor dem Mund, um ihm zu zeigen, dass er leise sein sollte.

Er warf einen kurzen Blick auf Salia, die ruhig weiterschlief, rieb sich die Augen und bedachte mich mit einem kleinen Stirnrunzeln.

Wortlos stellte ich ihm seine Stiefel neben die Liege und gab ihm damit zu verstehen, dass er aufstehen und mir nach draußen folgen sollte.

Mitten in der Nacht aus dem Tiefschlaf gerissen zu werden, stimmte ihn nicht gerade fröhlich, trotzdem schlug er seine Decke zur Seite, richtete sich auf und zog sich die Stiefel an. Dabei bemerkte er das Bündel auf meinem Rücken und die Armbrust die herausschaute. Ihm musste sofort klar sein, dass ich etwas vorhatte. Trotzdem deckte er Salia zusätzlich noch mit seiner Decke zu, versicherte sich dabei, dass sie wirklich noch schlief und folgte mir erst anschließend hinaus in die Nacht.

Es war dunkel, der Himmel war bedeckt und die Luft kühl. Ich begann sofort ein wenig zu frösteln. Es konnten nur noch knapp über null Grad sein. Der Winter war nicht mehr nur auf dem Vormarsch, er hatte uns fast erreicht.

Das Lagerfeuer im Hof war heruntergebrannt und glühte nur noch. Drei Wachposten hatten sich darum versammelt und wärmten ihre Hände an der Restwärme. Sie zu umgehen war kein Problem, aber ich wusste, sie waren nicht die einzigen. Hier mussten noch mehr herumlaufen und über die Schlafenden wachen. Aber sie sollten kein Problem sein. Schließlich waren sie dafür gedacht die Feinde draußen zu halten und nicht die eigenen Leute drinnen.

Da ich aber keine Lust auf unliebsame Gespräche und Erklärungen hatte, die mich nur aufhalten würden, wollte ich möglichst unentdeckt bleiben. Darum schlich ich durch die Schatten des Langhauses mit Wolf dicht auf den Fersen. Mein Ziel war ein kleiner Unterstand neben dem Bungalow, den die Rebellen vorhin in aller Eile hochgezogen hatten, um die Pferde wenigstens ein wenig vor dem Wetter zu schützen.

In dem Bungalow brannte hinter den Fenstern noch Licht, aber es war ein Vorhang davor und ich nahm keine Bewegungen wahr. Trotzdem behielt ich ein Auge darauf, als ich zu den Tieren trat.

Ein paar der Pferde hoben neugierig ihre Köpfe, blieben aber ruhig. Nur Trotzkopf nicht, der blökte mich an.

„Schhht“, machte ich und eilte schnell zu ihn, um ihn beruhigend über den Hals zu streicheln. „Sei still.“ Dass er jetzt doch noch jemanden auf uns aufmerksam machte, fehlte mir gerade noch. Am Ende würde es auch noch mein Bruder sein, der herausgeeilt kam, um nachzusehen. Nein danke, auf diese Komplikation konnte ich verzichten.

Er widersprach mir, indem er nochmal blökte.

Na toll.

Hinter mir brummte Wolf und sein Ton machte mir deutlich, dass er eine Erklärung wollte.

Ich warf ihm einen kurzen Blick zu, ließ mein Bündel zu Boden gleiten und holte Trotzkopfs Sattel von der Kutsche. „Du musst etwas für mich tun“, sagte ich dabei.

Trotzkopf drehte den Kopf und schaute mir gleichgültig dabei zu, wie ich mich damit abmühte, den Sattel auf dieses Riesenkalb zu bekommen.

„Sawyer wollte, dass ich auf Salia aufpasse, aber ich muss weg.“

Er brauchte nicht fragen, was ich damit meinte, diese Frage stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Die nächsten Worte fielen mir nicht leicht auszusprechen, denn sie weckten die Angst in mir, dass ich vielleicht schon zu spät war. „Sie werden ihn hinrichten, Wolf“, sagte ich leise und hielt kurz in meinem Tun inne, um ihn anzusehen. „Er hat sich für uns entschieden und dafür soll er nun sterben. Das kann ich nicht zulassen. Ich bin dafür verantwortlich.“ Das musste er einfach verstehen.

Der Ausdruck in seinem Gesicht wurde mitleidig.

„Ich muss wenigstens versuchen ihn zu retten, sonst werde ich mir das nie verzeihen.“ Ich wandte mich schnell ab und begann damit die Riemen vom Sattel festzuziehen. „Und sie haben auch Marshall in ihrer Gewalt und Sawyer … sie haben auch Sawyer.“ Meine Stimme verklang und mein Herz wurde schwer. Sawyers Blick, als er verstanden hatte, dass er zurück nach Eden musste, er hatte sich in mein Hirn gebrannt. Das Entsetzen darin, ich würde es niemals vergessen können.

Als Trotzkopf protestierend blökte, merkte ich, dass ich zu fest an den Gurten gezogen hatte und lockerte sie sofort wieder. „Ich muss ihnen helfen.“ Das war ich ihnen schuldig.

Wolfs Hand landete auf meiner Schulter und drehte mich zu sich herum. Von Mitleid keine Spur mehr, jetzt wirkte er nur noch bedrohlich und ziemlich missgelaunt.

Ich ließ mich davon nicht einschüchtern. „Ich frage dich nicht um Erlaubnis und ich lasse mir das auch nicht ausreden. Ich muss das tun, ich kann sie nicht dort lassen.“ Und es waren ja auch nicht nur sie. Da waren noch so viele andere Menschen. Nicht nur Rebellen. Natürlich glaubte ich nicht, dass ich sie alle retten konnte, so vermessen war ich nicht, aber vielleicht wäre das ein erste Schritt in die richtige Richtung.

Wolf schüttelte sehr nachdrücklich den Kopf.

Mit einer Schulterbewegung schüttelte ich seine Hand ab und zog die letzten Riemen fest. „Du musst auf Salia aufpassen. Sie ist noch so klein und kann das alles noch nicht verstehen.“

Sein Blick verfinsterte sich.

„Bitte, du musst das für mich tun.“

Er presste die Lippen aufeinander und wandte den Blick ab. Seine Kiefer begannen zu mahlen.

„Und du musst meinem Bruder sagen, was ich vorhabe, damit er sich keine Sorgen macht.“

Dafür bekam ich ein sehr aussagekräftiges Schnauben von ihm.

Mir war klar gewesen, dass Wolf sich nicht leicht überzeugen lassen würde, aber langsam gingen mir die Argumente aus. Darum trat ich vor ihn und schaute ihn flehentlich an. „Bitte. Killian wird sterben, wenn ich nichts unternehmen und Sawyer … er wird dort kaputt gehen.“ Denn er würde das nicht nochmal durchstehen.

Seine Augen funkelten verärgert, als er seinen Blick wieder auf mich richtete. Es gefiel ihm nicht so vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden.

„Du kannst mich nicht aufhalten.“ Das musste ich ihm klipp und klar sagen. Sollte er es dennoch versuchen, würde ich ihm das nicht verzeihen können, das wussten wir beide.

Er überlegte kurz und machte mir dann mit Handzeichen deutlich, dass er mich begleiten wollte.

Sofort schüttelte ich den Kopf. Auf gar keinen Fall. „Nein“, sagte ich, sammelte meine Habe vom Boden und band sie an Trotzkopfs Sattel. „Ich werde niemanden mehr in Gefahr bringen.“ Von mir selber einmal abgesehen. „Ich mache das allein, du wirst hier gebraucht. Wir können Salia nicht allein lassen.“ Und mitnehmen konnten wir sie auch nicht. Sie durfte niemals in die Reichweite von Agnes gelangen.

Das tiefe Knurren aus seiner Kehle, machte mir sehr deutlich, was er von dieser ganzen Sache hielt.

Ich achtete nicht darauf, band Trotzkopf los und führte ihn aus dem Unterstand heraus. „Ich weiß noch nicht wie lange ich weg sein werde, aber ich …“ Eine Bewegung im Augenwinkel ließ mich alarmiert den Kopf drehen.

Da, halb verborgen von der Hausecke, stand eine kleine Gestalt, mit großen, traurigen Augen und einem weißen Kuscheltier in der Hand. Salia. „Was machst du denn hier draußen? Das ist doch viel zu kalt.“ Selbst ich fror, und ich hatte wesentlich mehr an als ein dünnes Hemdchen.

Salia rührte sich nicht vom Fleck. Sie stand einfach nur da und beobachtete uns.

„Komm her“, sagte ich sanft, drückte Wolf die Zügel von Trotzkopf in die Hand und ging in die Hocke.

Sie folgte meiner Aufforderung nur langsam, ließ sich aber von mir in die Arme ziehen. Ihre Augen schwammen in Tränen.

Verdammt. „Du hast gehört, was ich gesagt habe, oder?“

Sie zögerte, nickte dann aber.

Natürlich hatte sie das. Vermutlich war sie uns von Anfang an gefolgt und ich hatte es einfach nur nicht mitbekommen, weil ich viel zu sehr mit mir selber beschäftigt war. Jetzt wusste sie, dass ich gehen wollte, direkt nachdem ihr Vater ihr entrissen worden war.

Ich seufzte. „Hast du mitbekommen, wohin ich will?“

Sie schüttelte den Kopf und schaute mich an.

Also war sie wohl doch erst später dazugekommen. „Ich gehe nach Eden.“

Ihre Augen wurden groß.

„Dein Papa ist dort, aber er möchte nicht da sein. Darum muss ich in die Stadt. Ich hole ihn und dann bringe ich ihn hierher, zu dir.“

„Wirklich?“

Sie hatte gesprochen! Es war das erste Wort, dass ihr seit Tagen über die Lippen gekommen war und das nur, weil ich ihr ein kleinen wenig Hoffnung gegeben hatte.

Jetzt mach bloß nichts falsch und ruiniere es wieder. „Versprochen“, sagte ich, ohne näher darüber nachzudenken. Wenn sie dadurch ihr Lächeln zurückbekam, würde ich ihr noch ganz andere Dinge versprechen. „Ich hole ihn zurück. Es wird ein wenig dauern und du musst in der Zeit hierbleiben und auf Wolf aufpassen. Du weißt doch, wie verloren er ohne uns ist.“

Wir schauten beide zu dem großen Mann. Er wirkte noch immer nicht sehr zufrieden mit mir.

„Ich passe auf“, willigte sie ein. „Und du holst Papa.“

„Abgemacht.“ Ich würde ihn holen und nach Hause bringen, ganz egal was ich dafür tun musste. Ich hatte diesem kleinen Mädchen ein Versprechen gegeben und ich hatte nicht vor es zu brechen. „Du musst tapfer sein, bis ich wieder zurück bin.“ Ich wusste nicht, ob diese Worte für sie oder für mich gedacht waren.

Ich beugte mich vor und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Es war ein Abschied, wenn auch nicht für immer und sie loszulassen und aufzustehen, fiel mir schwerer, als ich geahnt hatte. Die Zeit war gekommen und es gab keinen Weg mehr zurück.

„Ich bin so schnell wie möglich wieder hier“, sagte ich und nahm Wolf die Zügel aus der Hand. Mit einem Kommando brachte ich Trotzkopf dazu sich hinzulegen und stieg auf seinen Rücken. Er röhrte leise, als er sich wieder auf die Beine erhob.

Mein Blick ruhte für einen Moment auf Wolf und Salia. Der große Mann hatte das kleine Mädchen an die Hand genommen. Er wirkte sehr unzufrieden mit mir, aber das rührte wohl hauptsächlich von seiner Sorge.

„Ich passe auf mich auf“, versprach ich beiden. „Ihr werdet schon sehen, ich bin ihm Handumdrehen wieder zurück.“

„Mit Papa“, versicherte sich Salia noch einmal.

„Ja.“ Ich würde Sawyer zurückbringen, denn es gab keine andere Option.

Ich wendete Trotzkopf und setzte ihn in Bewegung. Killian und Marshall brauchten meine Hilfe und ich brauchte Sawyer. Von hier aus ging es nur noch in eine Richtung: Einer ungewissen Zukunft entgegen. „Sei tapfer“, murmelte ich und trieb Trotzkopf dazu an, schneller zu laufen.

Sawyer, halte durch, ich komme.

 

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Epilog

 

„Hinsetzen“, der idiotische Yard gab Sawyer gar nicht erst die Gelegenheit seiner Aufforderung nachzukommen. Er packte ihn einfach grob bei der Schulter und drückte ihn auf den unbequemen Stuhl. Seine Handschellen schepperten auf dem leeren Metalltisch.

„Deine Mutter hat wohl vergessen, dir Manieren beizubringen“, bemerkte Sawyer giftig. „Ah, ich vergaß, deine Mutter hat dich ja direkt nach der Geburt weggegeben, weil du nichts als ein unfruchtbares und wertloses Ärgernis warst. Entschuldigung, ich meine natürlich bist.“

Dass bei dem Yard durch diese Worte Unmut geweckt wurde, wunderte Sawyer gar nicht, allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass der Kerl seine Handgelenke schnappen und auf den Tisch knallen würde, immerhin war er doch ein ach so wertvoller Adam. Zwei Handgriffe später hatte er Sawyer mit den Handschellen an der Halterung am Tisch festgekettet. „Nicht ich bin hier das wertlose Ärgernis.“

„Stimmt, du bist nur ein Arschkriecher.“ Sawyer machte sich gar nicht erst die Mühe an seinen Handschellen zu zerren, denn er wusste wie sinnlos es wäre.

Der Yard bedachte Sawyer mit einem verärgerten Blick, trat dann aber von ihm weg und stellte sich als Wachposten an die Wand.

Als wenn das nötig wäre. Er würde hier sowieso niemals wieder herauskommen. Dieses Wissen war eine Qual, die ihn zu erdrücken drohte.

Gestern waren sie wieder in Eden angekommen, doch statt ins Herz, hatte man ihn in dieses architektonische Wunder auf der zweiten Ebene gesteckt. Das Sonne-Mond-Haus. Was für ein blöder Name für diesen Hundekäfig.

Allein seinem überragenden Status als Adam hatte er es wohl zu verdanken, dass er nicht draußen bei dem Pöbel in den Zellen gelandet war, sondern eine exklusive Unterbringung in Block zwei bekommen hatte. Hier gab es nur vier Zellen, zwei links und zwei rechts. Sie waren aus Panzerglas und gaben ihm das Gefühl, in einem Goldfischglas zu sitzen.

Im Raum zwischen den Zellen gab es einen Tisch mit vier Stühlen. Auf ihnen prangte das Symbol von Eden. Auf dem Tisch, an der Wand, ja selbst an der Tür, die sich gerade öffnete. Und da kam wohl auch der Grund, warum man ihn aus seiner Zelle geholt und an diesen Tisch gekettet hatte.

Agnes Nazarova, in all ihrer uralten und vertrockneten Pracht, trat hoheitsvoll, auf ihrer alte-Leute-Gehhilfe, in den Raum – zwei vermummte Gardisten direkt hinter sich. Wie er diese Frau hasste.

„Oh, die Despotin höchstpersönlich beehrt mich in meiner bescheidenen Behausung. Tut mir leid, dass ich ihnen nichts zu Trinken anbieten kann, aber der Service hier ist echt scheiße.“

Sie würdigte ihn kaum eines Blickes, als sie hereinkam und sich ihm gegenüber würdevoll auf einem Stuhl niederließ. Sie ordnete ihre Beine und ihren Gehstock und schaute auf ihn nieder, als wäre er ein widerliches Insekt. „Eigentlich sollte es mich nicht wundern, dass sich ihr Benehmen in den letzten Monaten nicht gebessert hat, schließlich haben sie diese Zeit unter Wilden verbracht.“

„Ich finde an meinem Benehmen eigentlich nichts auszusetzen und wenn das alles war, ich habe noch ein Date mit meinem Bett in meiner Zelle.“

Eine Vene an ihrer faltigen Stirn zuckte. „Sie scheinen den Ernst ihrer Lage zu verkennen.“

„Oh, ganz gewiss nicht.“ Er wusste ganz genau, in was für einer Lage er sich befand. Dass man ihn in eine Zelle, statt in die City von Eden gesperrt hatte, war als Strafe gedacht. Dabei verstand sie nicht, dass die eigentliche Strafe erst kommen würde, wenn man ihn zurück ins Herz steckte. Dort wäre er wieder diesen lüsternen Nymphomaninnen ausgesetzt. Und dass es so weit kommen würde, war unausweichlich.

Der Gedanke daran reichte, damit ihm schlecht wurde und er sich die Haut vom Körper schrubben wollte.

„Ich bin hier, um ihnen ein Angebot zu unterbreiten.“

„Ich bin nicht interessiert.“ Denn ganz gleich was es sein würde, es würde ihr zugutekommen und dieser halbverwesten Mumie würde er ganz sicher nicht helfen.

„Sie sollten es sich erstmal anhören, bevor sie ablehnen.“ Sie verschränkte ihre knochigen Hände vor sich auf dem Tisch. Ihr Blick war der eines Raubvogels, kurz bevor er seine Beute schlug. „Es trifft sich, dass sie bei ihrem kleinen Ausflug zwei meiner Evas mitgenommen haben. Ich möchte sie zurück.“

Er schnaubte. „Aber sicher doch. Ihnen würde ich nicht mal freiwillig meinen Scheißhaufen überlassen.“

Da, die Vene zuckte schon wieder. „Wenn sie mir den Aufenthaltsort von Kismet und Salia mitteilen, werde ich diese ganze Angelegenheit einfach vergessen.“

„Das mit dem Vergessen liegt am Alter, man nennt das Demenz. Man wird halt ein wenig Senil, wenn man sein Verfallsdatum überschritten hat.“ Als wenn er ihr die beiden wichtigsten Menschen in seinem Leben ausliefern würde, um sie zu diesem Dasein als Sklaven zu verdammen. Die tickte doch nicht mehr ganz richtig.

Agnes atmete einmal tief durch, als müsste sie sich in Selbstbeherrschung üben. „Sie waren mir schon immer ein Dorn im Auge. Arrogant, herablassend, respektlos.“

„Respekt muss man sich verdienen.“

„Ein Teil dieser Gemeinschaft zu sein auch. Ich gebe ihnen noch ein paar Tage Bedenkzeit, um es sich noch einmal anders zu überlegen. Wenn sie mir den Aufenthaltsort der beiden Evas dann noch immer nicht verraten, bekommen sie eine angemessene Strafe für ihr Vergehen.“

Angemessene Strafe? Er schnaubte herablassend. „Wollen sie mich wegsperren und den Gelüsten anderer Menschen aussetzen? Das wäre ja mal etwas ganz Neues.“

„Nein, sie werden dann wegen Hochverrats zum Tode verurteilt.“

Sein Mund klappte zu. Damit hatte er nicht gerechnet. Er war ein Adam. Nie im Leben hätte er geglaubt, sie würde ihn töten lassen.

„Eines muss ihnen klar sein: Sie sind entbehrlich, Herr Bennett“, fuhr sie fort. „Wir haben genug von ihrem Erbgut auf Eis gelegt, um damit noch Jahrzehnte alle Evas erfolgreich befruchten zu können. Ihr Überleben hängt nun allein von meinem Wohlwollen ab.“

Diese Frau wusste doch nicht mal was das Wort wohlwollen bedeutete. „Tun sie was sie nicht lassen können, aber mein tot wird nichts ändern, er macht es ihnen nur noch schwerer, an die beiden heranzukommen. Also nur zu, schreiten sie zur Tat.“ Er wollte nicht sterben. Solange er lebte, gab es noch Hoffnung diesem Horror zu entkommen, aber er würde sein Leben niemals gegen Salia eintauschen.

„Sie sind bereit zu sterben und ihre Tochter damit zu einem Leben in Armut und Elend zu verdammen?“

„Darauf können sie ihren faltigen Arsch verwetten.“

Sie musterte ihn so eindringlich, als wollte sie ihn durchleuchten. „Nun gut, wie sie meinen.“ Sie griff nach ihrem Gehstock und stützte sich beim Aufstehen auf ihn, blieb dann aber stehen. „Ich werde ihnen noch ein paar Tage Bedenkzeit einräumen. Nutzen sie sie, um noch einmal gründlich über alles nachzudenken.“

„Die können sie sich schenken, von mir erfahren sie gar nichts.“

Sie tat so, als hätte er nichts gesagt. „Wenn ich wiederkomme und sie haben sich nicht umentschieden, lege ich den Termin für ihre Hinrichtung fest.“ Mehr sagte sie nicht, bevor sie zusammen mit ihrem Gefolge so schnell verschwand, wie sie aufgetaucht war.

Sawyer schloss die Augen und merkte wie sein Herz schwer wurde. Er hatte geglaubt, dass es nicht mehr schlimmer werden konnte, aber da hatte er sich getäuscht. Das Leben meinte es wirklich nicht gut mit ihm. Wenigstens waren ihm diese paar Wochen in Freiheit vergönnt gewesen. Hätte er doch nur noch ein wenig mehr Zeit gehabt, jetzt, wo er endlich jemanden gefunden hatte, der sein Herz schneller schlagen ließ.

 

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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.08.2024

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