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Glossar der Stammgruppen und Unterarten

  • Canis-Proles Hundeabkömmling

  • Feles-Proles Katzenabkömmling (beinhaltet auch Großkatzen)

  • Vulpes-Proles Fuchsabkömmling

  • Dama-Proles Rehabkömmling

  • Capella-Proles Ziegenabkömling

  • Meles-Proles Marderabkömmling

  • Ursus-Proles Bärenabkömmling (Waschbären)

  • Simia-Proles Affenabkömmling (Schimpansen/ Kapuziner Äffchen)

  • Sciurus-Proles Eichhörnchenabkömmling (beinhaltet auch Ratten und Mäuse)

  • Lacerta-Proles Echsenabkömmling

 

Stammgruppe: Vulpes-Proles

Unterart: Amph

Abstammung: Fuchs

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 85 bis 160 Zentimeter (mit Schwanz 137 bis 189 Zentimeter), Widerrist von 77 bis 95 Zentimeter.

Gewicht: 55 bis 86 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Kobaltblaues Fell mit Schattierungen von Schwarz. Der Körperbau ist mit dem des Rotfuchs nahezu identisch.

Charakter: Leise, tückisch.

Merkmale: Weißes Sternenzeichnung auf der Stirn.

Lebensdauer: Der älteste bekannte Amph wird seit neun Jahren in der Forschungsstation Historia beherbergt. Er wird auf ein Alter von mittlerweile zwölf Jahren geschätzt. Es ist nicht abzusehen, wie sich das Derivat-Gen auf den weiteren Alterungsverlauf auswirkt.

Verbreitung: Sehr häufig

Verbreitungsgebiet:  Nord- und Südamerika, Europa und Afrika. 

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Stammgruppe: Meles-Proles

Unterart: Arbor

Abstammung: Es wird davon ausgegangen, dass der ursprüngliche Stammesvater zu den marderartigen Tieren gehörte.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 48 bis 72 Zentimeter (mit Schwanz 92 bis 124 Zentimeter), Widerrist von 30 bis 42 Zentimeter.

Gewicht: 0,8 kg bis 1,7 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Das Deckfell des Körpers ist bei einem rosa Ton angesetzt, mit gelben Schattierungen. Bauch und Schwanz dagegen sind rein gelb. Der Körperbau ähnelt dem eines Maders. Der knöcherne, gezackte Schild am Kopf ist eine Verlängerung des Schädels, hinter dem die kleinen, runden Ohren versteckt sind. Bei den Männchen färbt sich der Schild bei der Werbung um die Partnerin dunkelrot. Der lange Schwanz ist sehr kräftig und dient zum Klettern und festhalten (er schläft mit dem Kopf nach unten hängend in einem Baum). In der spitzen Schnauze verbergen sich messerscharfe Zähnchen. Der Arbor verständigt sich durch Zirp Laute.

Charakter: Der Arbor ist äußerst aggressiv, sobald jemand in die Nähe seines Schlafbaums kommt.

Merkmale: Nachaktiv. Greift er an, geht er immer direkt auf die Augen, und frisst sich anschließend mit den scharfen Krallen, und den spitzen Zähnchen in den Körper hinein. 

Lebensdauer: Der älteste bekannte Arbor wurde neun Jahre in der Forschungsstation Historia beherbergt, bevor er verstorben ist. Nach den erlangten Erkenntnissen, wird davon ausgegangen, dass er eine ungefähre Lebenserwartung von zwölf Jahren hat. 

Verbreitung: sehr selten

Verbreitungsgebiet: Er ist in Süd- und Nordamerika beheimatet, wurde aber auch bereits in Europa gesichtet. 

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Stammgruppe: Capella-Proles

Unterart: Beccus

Abstammung: Untersuchungen belegen, dass der Beccus ursprünglich von der allgemeinen Hausziege abstammt.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 120 bis 152 Zentimeter (mit Schwanz 220 bis 237 Zentimeter), Widerrist von 57 bis 70 Zentimeter.

Gewicht: 12 bis 17 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Ein Beccus ist „großrahmig“ und hat einen langen, buschigen Schwanz. Der Kopf ist etwas länger als breit, und geht hinüber in eine Schnauze mit schnabelartiger Hornspitze. Die Augen stehen weit auseinander, und die Ohren sind am Ansatz groß und breit, und sehr langt. Das weißbraune Fell ist wasserabweisen, und schütz den Beccus auch im tiefsten Winter vor der schlimmsten Kälte.

Charakter: Ruhig. Äußerst intelligent. Rudeltiere.

Merkmale: Die drei hornartigen Auswüchse am Kopf sind neben den scharfen Krallen das wohl auffälligste Merkmal an dem Beccus.

Lebensdauer: Ein Beccus hat eine Lebenserwartung von fünf bis sieben Jahren.

Verbreitung: Normal

Verbreitungsgebiet: Süd- und Nordamerika, Europa. 

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Stammgruppe: Canis-Proles 

Unterart: Candir

Abstammung: Hund

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 182 bis 217 Zentimeter (mit Schwanz 269 bis 303 Zentimeter), Widerrist von 97 bis 105 Zentimeter.

Gewicht: 204 bis 236 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Der Candir ist ein Hundeabkömmling in reinweiß. An den vorderen Beinen hat er einen extrem langen Behang, der sich auf Körper und Rute fortführt. Obwohl er eindeutig die Körperform eines Golden Retrievers aufweist, wird er Umgangssprachlich aufgrund seiner Farbe und Größe oft als der Eisbär unter den Proles bezeichnet. Aufgrund von Kugelgelenken ist der Candir fähig sich wie ein Bär auf zwei Beinen zu halten und seine Vorderpranken als Waffe einzusetzen, doch durch die hängenden Ohren kann er nicht gut hören.

Charakter: Höchst aggressiv. Außergewöhnliche Intelligenz.

Merkmale: zu 90 Prozent kommt der Candir taub zur Welt, doch aufgrund seiner Sehschärfe beeinträchtigt ihn das nur wenig. Der Candir lebt monogam und geht mit dem Tod seines Partners ein.

Lebensdauer: Der älteste bekannte Candir wird seit 17 Jahren in der Forschungsstation Historia beherbergt. Er wird auf ein Alter von mittlerweile 21 Jahren geschätzt. Es ist davon auszugehen, dass er noch zu den ersten Abkömmlingen gehört, die aus der Forschungseinrichtung bei Riverton, Wyoming in den USA in der Nähe vom Yellowstone National Park entkommen sind. Es ist nicht abzusehen, wie sich das Derivat-Gen auf den weiteren Alterungsverlauf auswirkt.

Verbreitung: Selten

Verbreitungsgebiet:  Der Candir ist höchst Anpassungsfähig und mittlerweile auf jedem Kontinent zu finden. Dieses Proles scheut weder heißes Klima noch arktische Kälte.

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Stammgruppe: Feles-Proles

Unterart: Cascus

Abstammung: Der Urvater des Cascus ist die allgemeine Hauskatze.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 47 bis 52 Zentimeter (mit Schwanz 74 bis 77 Zentimeter), Widerrist von 29 bis 33 Zentimeter.

Gewicht: 3 bis 5 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Der Cascus ist ein sehr schlankes, muskulöses Proles. Der Cascus zeichnet sich durch seine extrem langen Beine aus. Die Grundfarbe des Fells ist ein tiefes Schwarz, das nur um das Gesicht, Nacken und Hals durch langes, weißes Haar abgesetzt ist. Der kleine Kopf wirkt in dieser Fülle klein und zierlich.

Charakter: Ausgeprägtes Sozialverhalten untereinander.

Merkmale: Giftig, extrem schnell. Ist immer in einem großen Rudel unterwegs.

Lebensdauer: Ein Cascus hat eine Lebenserwartung von fünf bis sieben Jahren

Verbreitung: normal

Verbreitungsgebiet:  Süd- und Nordamerika, Europa.

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Stammgruppe: Dama-Proles

Unterart: Dorcas

Abstammung: Reh

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 93 bis 140 Zentimeter (mit Schwanz 147 bis 224 Zentimeter), Widerrist von 54 bis 84 Zentimeter.

Gewicht: 28 bis 34 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Das Dorcas ist ein Paarhufer mit schwarzem Fell, das im Gesicht mir einer blauen Maske abgesetzt ist. Größe und Form sind beinahe identisch mit einem Capreolus (Reh). Der abstehende Rückenkamm dient bei dieser Rasse als Erkennungszeichen, dessen Enden sich in der Paarungszeit auch blau färben. Die männlichen Abkömmlinge dieser Art tragen ein dreiendiges Geweih, das mit Giftdrüsen ausgestattet ist. Die Ohren lassen sich in alle Richtungen drehen.

Charakter: Neugierig und sowohl einzeln als auch in Gruppen von mehreren Tieren unterwegs.

Merkmale: Nur die männlichen Vertreter dieser Gattung sind giftig.

Lebensdauer: Ein Dorcas hat eine Lebenserwartung von zehn bis zwölf Jahren

Verbreitung: Normal

Verbreitungsgebiet: Das Dorcas ist eine Prolesgattung, die sich in Europa entwickelt hat und auch nur dort beheimatet ist. 

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Stammgruppe: Canis-Proles

Unterart: Iuba

Abstammung: Es wird davon ausgegangen, dass der ursprüngliche Stammesvater ein Hund war.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 103 bis 132 Zentimeter (mit Schwanz 160 bis 190 Zentimeter), Widerrist von 70 bis 90 Zentimeter.

Gewicht: 81 kg bis 103 kg

Farbe und Aussehen: Schwarz, Weiß, gestreift, und alle Grautöne dazwischen. Der Körperbau ähnelt dem eines Deutschen Schäferhundes. Neben dem dunkelgestreiften Kopf, dem kleinen Ziegenbart, und dem längeren Fell, ist die löwenartige Mähne, die windgeschnitten nach hinten verläuft, das auffälligste Merkmal am Iuba. Er hat einen sehr langen Schwanz (der Körperlänge entsprechend), um beim Klettern das Gleichgewicht halten zu können. Lange Ohren, die in der Mähne leicht untergehen.

Charakter: Der Iuba ist wohl der einzige bekannte Proles, der mit der Aufzucht seiner Jungen das Rudel vergrößert. Außerdem ist er sehr Intelligent, ruhig, und höchst aggressiv.

Merkmale: Tagaktiv. Nachtblind. Kugelgelenke.

Lebensdauer: Der älteste bekannte Iuba wird seit dreizehn Jahren in der Forschungsstation Historia beherbergt. Er wird auf ein Alter von mittlerweile sechzehn Jahren geschätzt. Es ist nicht abzusehen, wie sich das Derivat-Gen auf den weiteren Alterungsverlauf auswirkt.

Verbreitung: Häufig

Verbreitungsgebiet: Zu weiten Teilen in Südamerika und Europa. Auch in Südostasien wurden bereits mehrere Rudel gesichtet.

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Stammgruppe: Ursus-Proles

Unterart: Krant

Abstammung: Studien belegen, dass der Krant ursprünglich vom Waschbären abstammt.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 100 bis 130 Zentimeter (mit Schwanz 160 bis 190 Zentimeter), Widerrist von 70 bis 90 Zentimeter.

Gewicht: 90 bis 155 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Ein schmaler, schwarzer Schädel mit den hornartigen Knochenauswüchsen am Hinterkopf. Die schwarze Färbung zieht sich vom Kopf über die Brust bis hinunter zum Bauch, und geht dann allmählich in das orangerote, lange Deckfell über. Durch seine außergewöhnliche Färbung wird er oft als Sonnenuntergangstier bezeichnet. Kräftiger, kurzer Körper mit langen stämmigen Beinen.

Charakter: Im Rudel sehr sozial.

Merkmale: Holkrallen, die durch Drüsen mit Gift versorgt werden. Das Gift lähmt die Beute

Lebensdauer: 4 bis 6 Jahre

Verbreitung: Sehr häufig

Verbreitungsgebiet:  Durch seine enorme Anpassung, ist der Krant bereits in jedem Teil der Welt zu finden. 

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Stammgruppe: Simia-Proles

Unterart: Lumen

Abstammung: Unterlagen aus der Forschungseinrichtung bei Riverton, Wyoming in den USA, belegen, das der Urvater des Lumen zu den Kapuzineraffen gehört.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 41 bis 63 Zentimeter (mit Schwanz 71 bis 93 Zentimeter).

Gewicht: 2 ½ bis 4 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Der Rumpf des Lumen ist schlank und die Vorder- und Hintergliedmaßen annähernd gleichlang. Der buschige Schwanz dient dem Lumen nicht nur zum Gleichgewicht, er ist außerdem ein wichtiges Greifwerkzeug, das er auch zum Klettern nutzt. Durch die Färbung von einem Blassen Rot, sind Lumen sehr auffällig, nur das Gesicht, die Brust und der Unterbauch sind von einem tiefen Schwarz.

Charakter: Rudeltier mit ausgeprägtem Sozialverhalten. Lumen treten in Gruppen von Männchen oder Weibchen auf. Männliche Jungtiere werden mit der Geschlechtsreife davongejagt. Nur während der Paarungszeit dulden die Weibchen die männlichen Lumen in ihrer Nähe.

Merkmale: Lumen kommunizieren in einer sehr hohen Tonlage, die von Menschen als sehr unangenehm empfunden wird.

Lebensdauer: Der älteste bekannte Lumen, ein Abkömmling der zweiten Generation, wird seit neunzehn Jahren in der Forschungsstation Historia beherbergt. Er wird auf ein Alter von mittlerweile dreiundzwanzig Jahren geschätzt. Es ist nicht abzusehen, wie sich das Derivat-Gen auf den weiteren Alterungsverlauf auswirkt.

Verbreitung: Selten.

Verbreitungsgebiet: Europa und Asien.

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Stammgruppe: Feles-Proles

Unterart: Lyvara

Abstammung: Der Urvater des Lyvara ist die allgemeine Hauskatze.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 189 bis 212 Zentimeter (mit Schwanz 201 bis 223 Zentimeter), Widerrist von 97 bis 105 Zentimeter.

Gewicht: 192 bis 242 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Der Lyvara gleicht in der Körperform einem Luchs. Auch die charakteristischen Ohrpinsel sind vorhanden, doch in der Größe ist er seinen Artverwandten weit überlegen. Das längliche Fell des Lyvara ist von einem tiefen Rot, durch das sich auf dem ganzen Körper schwarze Streifen wie bei einem Zebra ziehen. Auch die kurze Schnauze des Lyvara ist von einem tiefen Schwarz.

Charakter: Höchst aggressiv. Rudeltier.

Merkmale: Das Auffälligste am Lyvara ist das Streifenmuster.

Lebensdauer: Der älteste bekannte Lyvara, ein Abkömmling der ersten Generation, wird seit dreiundzwanzig Jahren in der Forschungsstation Historia beherbergt. Er wird auf ein Alter von mittlerweile siebenundzwanzig Jahren geschätzt. Es ist nicht abzusehen, wie sich das Derivat-Gen auf den weiteren Alterungsverlauf auswirkt.

Verbreitung: selten

Verbreitungsgebiet:  Nord- und Süd Amerika, Europa, und zu kleinen Teilen Asien.

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Stammgruppe: Canis-Proles 

Unterart: Majes

Abstammung: Trotz seiner filigranen Statur, wird davon ausgegangen, dass er ursprünglich von einem Hund abstammt.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 80 bis 92 Zentimeter (Besitz nur einen Stummelschwanz), Widerrist von 72 bis 86 Zentimeter.

Gewicht: 63 bis 90 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Sehr schmaler Körperbau mit einem ausgeprägtem Brustberiech. Vom Kopf über den Rücken bis hinunter zu seinem Stummelschwanz zieht sich ein schwarzer Streifen. Der Rest seines Pelzes ist eine Mischung aus grauem und blau meliertem Fell.

Charakter: Die Männchen sind Einzelgänger, und gesellen sich nur in der Paarungszeit zu den Gruppen der Weibchen, die zumeist aus 3-7 Proles bestehen. Er ist tagaktiv, und hält sich bevorzugt in bewohnten Gebieten auf.

Merkmale: Blaue Nase, blaue Hohlkrallen. Das Gift des Majes zersetzt seine Beute von innen heraus.

Lebensdauer: 4-7 Jahre

Verbreitung: Häufig

Verbreitungsgebiet: Der Majes ist bereits bis in weite Teile von Asien vorgedrungen, hält sich aber vorzugsweise in wärmeren Gebieten auf. 

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Stammgruppe: Sciurus-Proles

Unterart: Minor

Abstammung: Aufgrund der Größe und der Lebenserwartung, wird davon ausgegangen, dass der Minor von Ratten abstammt.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 19 bis 29 Zentimeter (mit Schwanz 24 bis 35 Zentimeter), Widerrist von 12 bis 16 Zentimeter.

Gewicht: 0,17 bis 0,52 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Der Minor geht durch die Farbskala von brauntönen, über gelb bis hin zu rot. Seine Hinterbeine sind kräftig, und verhältnismäßig lang. In den Vorderpfoten befinden sich Drüsen, über denen er Gift abgeben kann, dass seine Beute über die Haut aufnimmt, und lähmt. Wird ein Mensch attackiert, so sollte er schnellstens einen Arzt aufsuchen, da es sehr schnell zu Ausfällen des Nervensystems und Teillähmung kommen kann.

Charakter: Listig und nachtaktiv.

Merkmale: Aufgrund seiner Größe wurden Minornester bereits an den unzugänglichsten orten entdeckt. Es ist auch schon vorgekommen, dass sie über Lüftungsschächte und Toilettenabflüsse in Wohnräume eingedrungen sind. Der Minor ist sehr flink und wendig, und es empfiehlt sich ihn mit Fallen, oder Feuerwerfern zu eliminieren, da er ein sehr kleines Ziel abgibt. Er ist fähig durch einen Sprung das 10-fache seiner Körpergröße zu überwinden.

Lebensdauer: 2-3 Jahre

Verbreitung: Selten

Verbreitungsgebiet:  Der Minor ist auf Süd und Nordamerika, Europa, Asien und Afrika zu finden.  

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Stammgruppe: Capella-Proles

Unterart: Oryx

Abstammung: Aufgrund der Beschaffenheit des Körpers, der Hufe, und des Geweihs wird davon ausgegangen, dass er ursprünglich von Ziegen abstammt.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 95 bis 115 Zentimeter (mit Schwanz 110 bis 135 Zentimeter), Widerrist von 70 bis 92 Zentimeter.

Gewicht: 27 bis 42 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Der Oryx hat eine einheitlich violette Haarfärbung. Hufe und Halskrangen sind lang behangen, der Rest des Fells ist vergleichbar eher kurz. Der Oryx hat einen Körperbau wie alle Ziegen, nur sind seine Beine verhältnismäßig lang. Auch charakteristisch ist der Ziegenbart, und die auffälligen Hörner, die dicht beieinander stehen, und dann aber V-förmig auseinander Gehen. Sie sind breit und spiralig gewunden.

Charakter: Nomaden, die in kleinen Familienverbänden durch die Gegen ziehen.

Merkmale: Die einzig bekannte Unterart der Capella-Proles.

Lebensdauer: Der älteste bekannte Oryx wird seit dreizehn Jahren in der Forschungsstation Historia beherbergt. Er wird auf ein Alter von mittlerweile sechzehn Jahren geschätzt. Es ist nicht abzusehen, wie sich das Derivat-Gen auf den weiteren Alterungsverlauf auswirkt.

Verbreitung: Normal

Verbreitungsgebiet: Nord- und Südamerika, Europa

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Stammgruppe: Meles-Proles

Unterart: Ossa

Abstammung: Aufgrund seiner Körperbeschaffenheit, wird vermutet, dass der Ossa ursprünglich von den maderartigen Tieren abstammt.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 148 bis 180 Zentimeter (mit Schwanz 167 bis 185 Zentimeter), Widerrist von 37 bis 52 Zentimeter.

Gewicht: 36 bis 52 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Von der Nase bis zum Schwanz verdunkelt sich die Fellfarbe von weiß bis zu einem dunklen Grün. Seitlich abstehende Ohren. Kurze Schnauze. Greifhände. Die Körperform kommt der eines maderartigen Tieres sehr nahe.

Charakter: Rudeltier (Familienverbände)

Merkmale: Mit seinen starken Kiefern ist der Ossa nicht nur in der Lage die Knochen seiner Beute zu zerbeißen, er verspeist sie auch, und lässt do gut wie nichts von seinen Mahlzeiten übrig.

Lebensdauer: Der älteste verzeichnete Ossa hat in der Forschungseinrichtung Historia ein Alter von neun Jahren erreicht.

Verbreitung: Häufig

Verbreitungsgebiet:  Nord- und Süd Amerika, Europa, und zu kleinen Teilen Asien. 

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Stammgruppe: Lacerta-Proles 

Unterart: Pillicula

Abstammung: Eidechse

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 17,5 bis 23,7 Zentimeter (mit Schwanz 36,2 bis 42,9 Zentimeter), Widerrist von 12 bis 18 Zentimeter.

Gewicht: 1,2 bis 2,1 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Der echsenartige Körper ist mit länglichem, beigem Fell bedeckt. Der Hals wirkt zu lang für den Körper. Unter dem knochigem Schild am Hinterkopf liegen zwei kleine Öffnungen für die Gehörgänge. Sowohl der Kopf mit den runden Knopfaugen, als auch die Beine sind nur von weißen Schuppen überzogen. Umgangssprachlich wird er auch als behaarter Drache bezeichnet.

Charakter: Ruhig und tückisch. Da er sich auf seinen kurzen Beinchen nicht schell fortbewegen kann, stellt er sich tot, um potentielle Beute anzulocken. Ansonsten gibt er sich auch mit Insekten zufrieden.

Merkmale: Bringt seine Jungen in Eiern auf die Welt, und brühtet sie aus. Rasiermesserscharfe Zähnchen, die durch Drüsen mit Gift versorgt werden.

Lebensdauer: Der älteste bekannte Pillicula wird seit vierzehn Jahren in der Forschungsstation Historia beherbergt. Er wird auf ein Alter von mittlerweile Siebzehn Jahren geschätzt. Es ist nicht abzusehen, wie sich das Derivat-Gen auf den weiteren Alterungsverlauf auswirkt.

Verbreitung: Häufig

Verbreitungsgebiet: Zumeist in warmen Gebieten auf der ganzen Welt vorzufinden. Nur selten verirrt diese Spezies sich an kältere Orte. 

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Stammgruppe: Feles-Proles

Unterart: Spuma

Abstammung: Trotz seiner Größe konnte belegt werden, dass der Spuma die allgemeine Hauskatze zu seinen Urvätern zählt.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 170 bis 250 Zentimeter (mit Schwanz 290 bis 380 Zentimeter), Widerrist von 120 bis 143 Zentimeter.

Gewicht: 170 bis 215 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Das grüne Deckhaar ist mit schwarzmelierten Streifen auf dem Rücken durchzogen. Brust und Bauchfell sind hellgrün bis weiß. Der Körperbau ähnelt dem eines Löwen, obwohl er mit seinem außergewöhnlich langen Schwaz mit einem Schneeleopard zu vergleichen ist. Für einen Proles ist der Spuma außergewöhnlich kurz behaart, nur Rücken und Schwanz zeugen von der Länge, die für jeden Proles typisch ist.

Charakter: Nachaktiv. Lebt in kleinen Familienverbänden.

Merkmale: Grüne Krallen.

Lebensdauer: Der älteste bekannte Spuma wird seit elf Jahren in der Forschungsstation Historia beherbergt. Er wird auf ein Alter von mittlerweile fünfzehn Jahren geschätzt. Es ist nicht abzusehen, wie sich das Derivat-Gen auf den weiteren Alterungsverlauf auswirkt.

Verbreitung: Selten

Verbreitungsgebiet:  Südamerika, und zu kleinen Teilen auch Europa.

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Stammgruppe: Feles-Proles

Unterart: Toxrin

Abstammung: Katze

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 80 bis 120 Zentimeter (mit Schwanz 130 bis 160 Zentimeter), Wiederrist von 50 cm bis 70 cm

Gewicht: 20 kg bis 35 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Karminrot. Schwarze Maske, schwarze Beine (kurz behaart), schwarze Schwanzspitze. Der Körperbau ähnelt der einer orientalischen Katze (Siam, Bengal, Tonkanese), was unter dem langen Fell jedoch nur schwer zu erkennen ist. Da er fast Blind ist (es wird bei der ganzen Art ein Gendefekt vermutet), benutzt er zur besseren Orientierung die großen, schwarzen Ohren. Der lange Schwanz hilft dem Toxrin beim Klettern das Gleichgewicht zu halten.

Charakter: Einer der wenigen Einzelgänger unter den Proles. Sogar der eigenen Rasse tritt der Toxrin sehr aggressiv gegenüber.

Merkmale: Hole Krallen, die durch Drüsen in den Pfoten mit Gift versorgt werden.

Lebensdauer: Der Toxrin hat nur eine geringe Lebenserwartung von etwa 5 bis 7 Jahren.

Verbreitung: normal

Verbreitungsgebiet: Der Toxrin ist auf Süd und Nordamerika, Europa, Asien und Afrika zu finden.  

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Stammgruppe: Ursus-Proles

Unterart: Virido

Abstammung: Studien belegen, dass der Virido ursprünglich vom Waschbären abstammt.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 130 bis 190 Zentimeter (besitz einen Stummelschwanz), Widerrist von 70 bis 90 Zentimeter.

Gewicht: 130 bis 175 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Das Fell des Virido ist gelb/grün meliert. Er hat Kugelgelenke, die mit denen eines Bären zu vergleichen sind, und auch die Körperform lässt auf eine Abstammung von einem Bären schließen, doch es wurde nachweislich belegt, das der Urvater zu Gruppe der Procyonidae (Kleinbären/ Waschbären) gehören muss.

Charakter: Rudeltier. Nachtaktiv, und sehr scheu, wodurch es mit dieser Unterart nur selten zu Vorfällen mit Menschen kommt. Sie leben meist in Wäldern, und greifen nur an, wenn man in ihr Territorium eindring.

Merkmale: Ist nur ich sehr kalten Gebieten vorzufinden. Grüne hohlkrallen. Giftig (Vergiftung führt innerhalb von Sekunden zum Tode).

Lebensdauer: 9-12 Jahre

Verbreitung: Selten

Verbreitungsgebiet:  Ausschließlich in Nordamerika beheimatet.  

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Stammgruppe: Canis-Proles 

Unterart: Wrath

Abstammung: Hund

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 120 bis 140 Zentimeter (mit Schwanz 153 bis 170 Zentimeter), Widerrist von 70 bis 90 Zentimeter.

Gewicht: 60 bis 72 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Der Körperbau ist dem eines Timberwolfs sehr ähnlich. Die Grundfarbe ist zumeist ein dunkles Kobaltblau, dass an den Pfoten und der Rute hin ins schwarz übergeht; genau wie an den Ohren. Die Augen sind mit weißem Fell umrandet.

Charakter: Im Rudel höchst sozial, und wohl das einzig bekannte Proles, das die Aufzucht im Rudel durchführt. Der Wrath ist höchst aggressiv, wenn es um die Verteidigung seines Reviers geht.

Merkmale: Das wohl auffälligste Merkmal des Wrath sind seine weißumrandeten Augen. Außerdem besitzt er einen sehr kräftigen Kiefer, der sich verkanntet, sobald er seine Beute gepackt hat.

Lebensdauer: Das älteste bekannte Exemplar eines Wrath wurde in der Forschungsstation Historie 9 Jahre alt.

Verbreitung: Häufig

Verbreitungsgebiet:  Er ist ausschließlich in Süd- und Nordamerika beheimatet.

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Prolog

 

„So Jungs, zweimal Currywurst extra scharf und weil es heute so warm ist, gibt’s von mir noch eine Limo gratis oben drauf.“

„Oh“, machte Maddox und nahm sein Essen entgegen. Allein bei dem vielversprechenden Geruch gab sein Magen ein sehr nachdrückliches Knurren von sich. „Eleonore, du bist ein wahrer Engel. Wenn dein Mann nicht wäre, würde ich dich direkt auf die Ladefläche von meinem Truck tragen und meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen.“

Eleonore, die Besitzerin des kleinen Imbiss an der Hautstraße lachte herzlich auf. „Du alter Charmeur. Wenn ich nur zehn Jahre jünger wäre.“

„Leg ruhig noch zehn rauf, vor mir wärst du trotzdem nicht sicher.“

Während Eleonore in verzücktes Kichern ausbrach, verdrehte sein Partner Gian, seine Augen und begann damit sein Essen systematisch zu vertilgen.

Auch wenn Maddox den Eindruck erweckte, nichts von der Welt um sich herum mitzubekommen, nahm er es doch wahr. Gian und jeder andere Mensch in seinem Leben hielt Maddox für einen Casanover, der sich keinen Rock entgehen ließ und er tat auch alles um dieses Image aufrecht zu erhalten. Nur die Wenigsten wusste, dass er am weiblichen Geschlecht keinerlei Interesse hatte, aber es war besser, wenn das ein Geheimnis blieb. Man musste schließlich nicht alles an die große Glocke hängen und das ging auch niemanden etwas an.

Als Eleonore sich dem nächsten Kunden zuwandte, rutschte Maddox ein wenig zur Seite und machte sich dann über sein eigenes Essen her.

„Hast du eigentlich mitbekommen, was drüben in Florida los war?“, fragte Gian zwischen zwei Bissen.

„Du meinst die Sache mit diesen Tierschützern, wegen denen jetzt vier Menschen tot sind, dafür aber zwei Krants den Venatoren entkommen konnten?“

Gian nickte. „Aber das waren nicht irgendwelche Tierschützer, die Leute waren von Live for Animals.“

Das Wurststück blieb auf halbem Wege zu Maddox' Mund in der Luft hängen. „Du veraschst mich doch.“

„Nope.“ Er schüttelte den Kopf. „Sie haben sich wohl zu den Vorfällen bekannt.“

„L.F.A.? Wirklich?“ Die Gruppe hatte es doch zerschlagen, nachdem sie diese Prolesplage vor zwei Jahren über die Menschheit gebracht hatten.

„Wie es scheint haben sich ein paar von denen wieder zusammengerottet, nur haben sich ihre Ziele drastisch verschoben. Sie fühlen sich für diese Biester verantwortlich, weil sie sie frei gelassen haben. Nicht dass das in ihren Augen ein Fehler wäre, aber irgendjemand muss diese armen Kreaturen doch vor Unholden wie uns beschützen.“ Er biss ein Stück von seinem Brötchen ab und sagte dann mit vollem Mund: „Hab´s heute morgen zufällig beim Chef aufgeschnappt.“

Das erklärte zumindest, warum Maddox davon bisher noch nichts mitbekommen hatte. „Schöne Scheiße. Erst lassen die …“ Er unterbrach sich, als das Funkgerät an seinem Gürtel knackte und gleich darauf eine blecherne Stimme verkündete: „Rauxeler Weg zwei, Kindergeburtstag, drei sieben sieben, Proles unbekannt.“

„Das ist gleich hier um die Ecke“, sagte Gian, noch während die blecherne Stimme sein Trommelfell verstümmelte.

Maddox nickte und noch während er nach dem Funkgerät griff, ließ er seinen Essen stehen und eilte ohne Abschiedsgruß mit Gian zu seinem Wagen. „Hier Team acht zwölf, wir sind ganz in der Nähe und fahren hin.“ Er riss die Wagentür auf, sprang auf den Beifahrersitz und konnte froh sein seine Beine schon im Wagen zu haben, als Gian das Gaspedal durchtrat.

Verstanden acht zwölf, Verstärkung ist auch schon unterwegs.“

Ein Kindergeburtstag, oh Gott. Proles, diese genetisch manipulierten Tiere waren Monster und Maddox hatte bereits mit eigenen Augen gesehen, was diese Biester anstellen konnten. Er wollte sich gar nicht vorstellen, was sie an ihrem Ziel auf sie warten würde. Aber er würde es herausfinden, denn er war Venator, ein staatlich anerkannter Jäger, dessen Aufgabe es war die Prolesplage in den Griff zu bekommen.

Fünf angespannte Minuten ließ lenkte Gian den Wagen mit einem Bleifuß durch die Straßen. In diesem Teil der Stadt kannte er sich zum Glück sehr gut aus und so war es ein leichtes für ihn die Adresse zu finden. Das ordentliche Parken am Straßenrand starrte er sich jedoch. Er hielt einfach quer vor dem Haus und dann mussten sie nur noch den Schreien folgen.

Maddox nahm sich gerade noch die Zeit zum Kofferraum zu eilen und sein Jagdgewehr zu holen, da folgte er Gian auch schon über die Einfahrt eines heimischen Einfamilienhauses.

Die Haustür stand sperrangelweit offen, das Holz am Türrahmen war gesplittert. Aufgebrochen.

In dem Moment als er hinter Gian in das Haus stürmte, hörte er aus dem Garten eine Schuss, gleich gefolgt von einem zweiten.

Maddox gab noch mal Gas und bemerkte nur am Rande die vielen Familienbilder an den Wänden im Flur. Er rannte in die Küche und wollte sofort durch die offene Hintertür stürmen, musste jedoch abbremsen, denn direkt vor der Tür lag eine blutüberströmte Frau mit blondem Haar, direkt neben einem toten Proles – genauer einem Iuba.

Diese Kreatur hatte die Form von einem Schäferhund, war aber mindestens einen Kopf größer, wenn nicht sogar mehr. Es war grau-schwarz gestreift und besaß eine löwenartige Mähne, die nur wenig dunkler war als der Rest des Fells. Es hatte eine langen Schwanz mit einem langen Behang und ein kleines Ziegenbärtchen unter dem Kinn.

Eigentlich war ein Iuba, genau wie alle anderen Proles, ein wunderschönes Wesen, mit einer angeborenen Eleganz und Anmut, doch wenn man in die stechend gelben Augen dieser Biester sah, erkannte man ihre wahre Natur. Es waren Monster, geschaffen um Alpträume in die Köpfe der Menschen zu pflanzen und auch dieser Anblick würde Maddox wieder die eine oder andere Schlaflose Nacht bereiten, denn bevor jemand diesem Iuba eine Kugel in den Kopf gejagt hatte, hatte er der blonden Frau die Kehle herausgerissen.

Maddox biss die Zähne zusammen und sprang über die beiden hinweg nach draußen in den Garten und damit hinein in eine blutige Hölle. Da waren Schreie, Wehklagen und Schmerzenslaute. Das Knurren und Beißen der Iubas erfüllte die Luft. Es waren so viele, dass er sie auf den ersten Blick gar nicht alle erfassen konnte, aber was er sah, waren die beiden kleinen, rothaarigen Mädchen an der Hecke vor dem Zaun. Und auch der große Iuba, der direkt auf sie zusprang.

Während hinter ihm einer seiner Kollegen einen von diesen Viechern erlegte, riss Maddox eilig sein Gewehr hoch. Der Schuss war riskant, doch wenn er es nicht versuchte, waren die beiden Mädchen sowieso tot. Er zögerte keinen Moment. Noch während der Iuba das ältere der kleinen Mädchen unter sich begrub, zog er den Abzug durch.

Der Knall schallte durch den ganzen Garten, der Iuba zuckte heftig zusammen, als ein Teil seines Kopfes praktisch wegflog und dann sackte das Vieh leblos auf dem Kind zusammen.

Maddox rannte sofort los, um das schwere Mistvieh von dem Mädchen zu zerren.

Die Kleine weinte und schluchzte, ich Gesicht war ganz blutig. Das Scheißvieh hatte sie erwischt.

„Hey, ganz ruhig, Mäuschen.“ Er hockte sich zu ihr, aber sie war so verängstigt, dass sie ihn gar nicht zu hören schien. „Bist du in Ordnung?“ Was für eine dumme Frage. Ganz offensichtlich war sie das nicht, aber Maddox hatte schon immer Probleme im Umgang mit Kindern gehabt.

Er warf einen Blick zu dem anderen Mädchen. Es hatte sich zusammengekauert, die Ohren gedrückt und die Augen zusammengekniffen. Sie summte leise, während wie vor und zurück schaukelte. Immer und immer wieder.

Gott, er war für sowas nicht gemacht. „Hey, nicht weinen“, versuchte er die Kleine zu beruhigen, doch seine Worte schienen gar nicht richtig bei ihr anzukommen. „Keine Sorge, alles wird wieder gut.“

Als hinter ihm geschossen wurde, zuckte die Kleine zusammen und schaute sich panisch um nach den knurrenden und geifernden Bestien um.

Vielleicht sollte er sich um ihre Verletzung kümmern. „Das sieht halb so schlimm aus, das wird wieder“, versuchte er sie ein weiteres Mal zu beruhigen, doch als er die Hand nach ihr ausstreckte, wich sie ängstlich schluchzend vor ihr zurück. „Okay, dann bleibt hier sitzen.“ Er schaute von einem Mädchen zum anderen. Die jüngere schien unversehrt. „Euch kann nichts mehr passieren.“

Ein weiterer Schuss peitschte durch den Garten und als Gian dann etwas brüllte, schaute Maddox alarmiert auf und sah gerade noch, wie eine Gruppe von mehreren Iubas um das Haus herum rannten.

„Bleibt hier“, sagte er noch mal zu den kleinen Mädchen, sprang dann auf die Beine und nahm die Verfolgung auf.

Gian und zwei seiner Kollegen waren den Mistviechern schon dicht auf den Fersen, aber Maddox war schnell und hatte keine Probleme zu ihnen aufzuschließen. Er rannte quer durch den Garten, am Haus vorbei zur Einfahrt und noch bevor er um die Hausecke herum war, hörte er schon weitere Schüsse. Seine Kollegen hatten sich in einer Reihe aufgestellt und versuchten die flüchtenden Proles zu erschießen, bevor sie entkommen konnten.

Einer der Iubas jaulte auf und stürzte zu Boden. Er versuchte wieder auf die Beine zu kommen, aber wurde bereits ein weiterer Schuss abgegeben.

Maddox schloss sich ihrer Reihe an, hob das Gewehr auf Augenhöhe und zielte auf das größte dieser Viecher. Sein Atem wurde ruhiger, als er die Augen ein wenig verengte. Dann drückte er ab.

Der Knall ließ seine Ohren klingeln.

Der Iuba schrie auf und stolperte. Die Mähne an seinem Kopf färbte sich rot, doch er rannte weiter und verschwand mit dem Rest des Rudels in die nächste Seitenstraße.

„Verdammt!“, fluchte Maddox, lud sein Gewehr nach und macht sich mit den anderen Venatoren an die Verfolgung. Die Monster durften nicht entkommen.

 

°°°°°

Kapitel 01

 

„Reese!“

Das Quietschen der Reifen ließ mein Herz eine Schrecksekunde in meiner Brust erstarren, doch Reese hetzte einfach weiter über die vielbefahrene Straße und ignorierte sogar das empörte Hupen der überraschten Autofahrer. Ein Wagen bremste so knapp neben ihm, dass er seinen schwarzen Ledermantel streifte. Der Idiot registrierte es nicht einmal. Sein Blick lag allein auf dem Candir, der mit weiten Sätzen über die Straße hetzte.

So ein Blödmann! War er es nicht gewesen der mir beigebracht hatte, Augen und Ohren bei einer Jagt immer und überall zu haben? Es machte fast den Anschein, als wollte er sich umbringen!

Hupen, Quietschen. Ein Audi schaffte es nicht mehr rechtzeitig anzuhalten und krachte in einen Mercedes, der nur knapp bremsen konnte, bevor er den Candir auf den Kühler nahm.

Und was machte Reese? Er sprang aus vollem Lauf auf die Motorhaube, schlitterte über das Metall und rannte auf der anderen Seite einfach weiter.

Verdammt, das hier war doch kein Actionfilm.

Ich knurrte etwas sehr Unhöfliches, faste meine M19 fester und sprintete auf dieser Seite der Straße den Gehweg hinunter. Dabei ließ ich unsere Beute keinen Moment aus den Augen. Es war fast wie ein Slalom. Immer wieder musste ich Leuten ausweichen und dann wäre ich auch noch fast gegen einen Schutzraum gerannt. In diesen kleinen Gebäuden hatten eine handvoll Menschen Platz. Wenn man sich vor einem Proles in Sicherheit bringen musste, konnte man dort hinein laufen, den Raum versiegeln und von innen über eine Notfallsäule die Venatoren rufen.

Menschen schrien auf, als der Candir an ihnen vorbei rannte. Der mutierte Riesenhund, der wegen seiner weißen Fellfarbe und Größe auch gerne als der Eisbär unter den Proles bezeichnet wurde, gab ein lautes Heulen von sich und rannte einen Mann um, der es nicht mehr schaffte rechtzeitig zur Seite auszuweichen, doch Reese wurde er so nicht los.

Schon seit zehn Minuten jagten wir dieses Mistvieh durch die Gegend. Die drei anderen Tiere die zu seiner Gruppe gehörten, hatten wir bereits exekutieren können, nur dieser Proles schaffte es die ganze Zeit uns an der Nase herumzuführen.

Er war noch jung und unerfahren, was wohl der einzige Grund war, warum er es einfach nicht schaffte uns abzuhängen. Aber auch wenn er seine vollständige Größe noch nicht erreicht hatte, war er jetzt bereits ein ernstzunehmender Gegner.

Die Muskeln in meinen Beinen brannten von dem vielen Rennen. Auch mit der Ausdauer die ich mir in den letzten Jahren angeeignet hatte, würde ich nicht mehr lange mithalten können. Ich spürte bereits jetzt, wie mir die Puste ausging. Wenn mir nichts einfiel, würden wir ihn verlieren. Aber hier konnte ich nicht schießen, da waren einfach zu viele Passanten auf der Straße und ich würde keinen Querschläger riskieren.

Reese brüllte etwas, aber ob er einfach nur seinem Ärger Luft machen wollte, oder so versuchte mir etwas mitzuteilen, konnte ich nicht verstehen.

Und dann geschah es. Der Candir rannte direkt an der Hauswand entlang. Ein Mann in den mittleren Jahren öffnete in diesem Moment ahnungslos seine Haustür. Der Proles schaffte es nicht mehr zu stoppen, krachte gegen die Tür und überschlug sich einmal. Dabei riss er den überraschten Mann mit zu Boden, pflügte mit der Nase über den Boden und jaulte schmerzverzerrt auf.

Ich sah meine Chance. Sie war verschwindend gering, aber ich zögerte keinen Moment, stoppte, riss meine Waffe hoch und zielte.

Einatmen.

Ausatmen.

Mein Finger drückte den Abzug durch.

Der Knall war ein vertrautes Geräusch in meinem Leben geworden, genau wie der leichte Rückstoß.

Die Zeit schien sich zu verlangsamen.

Ich sah wie der Proles zurück auf die Beine sprang und den Mann mit gebleckten Zähnen anknurrte. Reese kam mit weiten Schritten die Straße hinuntergerannt. Seine Finger waren fest um seine Waffe gewickelt.

Die Kugel flog über die Straße und … schlug nutzlos neben dem Proles in der Hausmauer ein.

Scheiße!

Der Candir wirbelte herum, erblickte mich auf der anderen Straßenseite und zog die Lefzen noch höher.

Ein zweiter Schuss knallte. Der Kopf des Canis-Proles zuckte. Dann brach er einfach zusammen. Zwei neue Löcher zierten den Schädel. Ein kleines wo die Kugel eingedrungen war und ein großes, wo sie zusammen mit einem Teil der Hirnmasse wieder herausgeschossen war.

Der Mann der als Unbeteiligter in das ganze Drama hinein gestolpert war, saß wimmernd auf dem Gehweg und schaffte es nicht den Blick von der blutigen Masse neben sich abzuwenden.

Ich hatte dieses Problem nicht, ganz im Gegenteil. Noch während das Vieh ein letztes Mal zuckte, schaute ich quer über die Straße zu meinem suizidgefährdeten Partner.

Breitbeinig stand er da und ließ seine Waffe sinken. Sein Brustkorb hob und senkte sich hastig unter seinen Atemzügen. Das pockennarbige Gesicht war leicht gerötet und ein paar Strähnen seines braunen Haares klebten im schweißnass ihm in der Stirn.

Er atmete einmal tief durch, warf mir einen kurzen Blick zu und steckte seine Waffe dann gesichert zurück in das Holster unter seinem Mantel. Und dann tat er das, was er immer tat, wenn eine Jagd erfolgreich war. Er griff in seine Manteltasche und zog ein Päckchen mit Zigaretten heraus. Er hatte keine Puste mehr, aber rauchen, das konnte er in beinahe jeder Lebenslage. Das war wieder so typisch.

Und ich? Ich stand da und hätte dem Trottel am Liebsten einen Stein an den Kopf geworfen.

Wütend ließ ich meine M19 in mein Holster verschwinden und stampfe über die Straße. Durch den Auffahrunfall weiter oben, war die komplette Fahrbahn leer und ich brauchte nicht einmal auf Autos achten. „Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen?!“, schleuderte ich ihm bereits an den Kopf, bevor ich den Gehweg erreicht hatte.

Er beachtete mich gar nicht, klemmte sich nur eine Fluppe zwischen die Lippen und tauschte das Päckchen dann gegen ein Feuerzeug aus.

„Reese!“ Ich umrundete ein parkendes Auto und baute mich direkt vor ihm auf. „Bist du neuerdings Lebensmüde, oder warum springst du direkt vor einen fahrenden Wagen?!“

Seelenruhig ließ er das Feuerzeug klicken, sog kräftig an seiner Zigarette und stieß den Rauch dann seitlich aus dem Mund wieder aus. Wenigstens hatte er es sich abgewöhnt, mir den Rauch ins Gesicht zu blasen. Seine fast schwarzen Augen musterten mich ein wenig überheblich. „Es war ein kalkuliertes Risiko“, ließ er dann verlauten und steckte das Feuerzeug zurück in seine Manteltasche.

„Kalkuliert?!“ Gleich würde mich der Schlag treffen. „Du bist einfach auf die Straße gerannt!“

Wäre er der Typ dafür, hätte er jetzt wohl die Augen verdreht. Stattdessen holte er nur sein Handy raus, als hätte ich nichts gesagt. „Kümmere dich um dein Mann, ich rufe Judd an.“

Oh, dieser … dieser … ahrrr! Ruckartig drehte ich ihm den Rücken zu, bevor ich noch auf die Idee kam, ihm kräftig gegen das Schienbein zu treten. Genaugenommen war diese Idee nicht neu. In den letzten drei Jahren war sie mir so einige Male gekommen, aber bisher hatte ich mich immer beherrschen können – auch wenn es so manches Mal ziemlich knapp gewesen war.

„Blödmann“, zischte ich noch und machte mich dann auf dem Weg zu dem Mann, der es in der Zwischenzeit zwar geschafft hatte auf die Beine zu kommen, den Blick aber noch immer noch von dem Kadaver des Candirs abwenden konnte.

Ja, auch wenn es viele Menschen gab, die bereits böse Begegnungen mit Proles hatten, so gab es immer noch welche, die bisher davon verschont geblieben waren. Und so wie dieser Mann schaute, war er wohl einer dieser Glücklichen – naja, er war es bis heute gewesen.

Ich trat zu ihm, beugte mich leicht vor und musterte sein käsiges Gesicht. „Geht es Ihnen gut? Wurden Sie verletzt?“

Sein Blick flitzte zu mir und dann wieder zurück auf den Leichnam. Seine Zunge zuckte nervös über seine Lippen. „Nein“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Nein, ich … alles okay.“

„Sind Sie sicher? Wir können einen Krankenwagen holen lassen, damit …“

„Nein, alles in Ordnung.“ Wieder flitzten seine Augen zu mir, nur um dann zurück zum Candir zu schnellen. Dieser Mann schien wirklich jemand zu sein, der bisher von solchen Grausamkeiten verschont geblieben war.

„Okay. Vielleicht sollten Sie sich trotzdem besser hinsetzten.“ Nicht das er mir gleich einfach umkippte.

Er schien mich gar nicht zu hören.

Super.

Mit behutsamer Stimme brachte ich ihn dann doch dazu sich auf die Stufe der Türnische zu setzen. Ich blieb bei ihm, bis ich in der Ferne die Sirenen der Polizei hörte. Ein Wagen hielt direkt bei uns am Straßenrand, die anderen fuhren weiter zur Unfallstelle. Reese kümmerte sich wie immer um die Abläufe, wies die Polizei und den Krankenwagen an, gab in der Gilde Bescheid und verzog das Gesicht, als ein Übertragungswagen der Nachrichten auftauchte.

Ich machte mich in der Zwischenzeit über den Leichnam des Candirs her. Nur eine oberflächliche Untersuchung. Ein Männchen, vielleicht ein halbes Jahr alt. Keine abnormale Mutation. Dieses Exemplar war wie aus dem Lehrbuch. Eine Mischung aus Goldenretriever und einem langhaarigen Eisbären mit Kugelgelenken und der Fähigkeit sich bei einem Angriff auf die Hinterbeine aufzurichten und mit den Pfoten zuzuschlagen.

Diese Proles lebten zum Glück nur in kleinen Familienverbänden, denn sie waren wirklich ernstzunehmende Gegner. Ach, was erzählte ich denn da? Alle Proles waren ernstzunehmende Gegner, egal wie klein oder groß sie auch waren. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit hatten wir einen Feind, dem wir nicht so einfach bei kamen und das hatten wir zwei Parteien zu verdanken.

Zum einen wäre da der allseits bekannte und berüchtigte Doktor Christopher Krynick, der Schöpfer dieser Kreaturen. Seine Absichten waren ehrenhaft gewesen, doch er hatte nicht die Geduld aufgebracht, seinen Forschungen die Zeit zu geben sich zu entwickeln. Er hatte gefuscht, wollte eine Medizin entwickeln, die werdenden Müttern die Angst vor Missbildung und geistiger Behinderung ihrer Babys nahm.

Natürlich hatte er seine Experimente nur an Tieren durchgeführt, doch dabei ist irgendetwas schief gegangen – so extrem schief, dass heute viele Menschen in Angst lebten. Die Medizin hatte er trächtigen Hunden und Katzen gegeben. Mäusen, Madern und Affen. Doch die Babys waren nicht das was Doktor Krynick sich vorgestellt hatte. Nein, sie waren nicht missgebildet gewesen, sie waren … mutiert. Hunde mit blauem Fell, die größer waren als sie sein sollten. Katzen mit Gift in den Krallen. Ein Affe der wie ein Rochen Stromschläge austeilen konnte.

Aber das waren nicht die einzigen Unterschiede, die sie von ihren natürlichen Verwandten unterschieden hatten. Diese mutierten Abkömmlinge unterschieden sich auch in ihrem Verhalten. Sie reduzierten sich auf drei Instinkte. Fortpflanzung, Nahrung und ein extrem starkes Revierverhalten.

Mit diesen ersten Abkömmlingen hatte Doktor Christopher Krynick die Monster erschaffen, die nun die Welt überfluteten und die auch heute noch, fast zwei Jahrzehnte später, eine Bedrohung für jedes einzelne Wesen auf diesem Planten darstellte. Proles hatten keine natürlichen Feinde. Sie waren größer, schneller und stärker als ich ihre natürlichen Anverwandten und außerdem hatten sie das Bedürfnis sich mit allem zu paaren, war nur lang genug still hielt. Daher war es kaum möglich dieser Plage Herr zu werden und es war noch immer fraglich, wer von uns am Ende überleben würde. Die, oder wir?

Die andere Partei die unsere Welt ins Chaos gestürzt hatte war die selbsternannte Tierschutzorganisation Live for Animals. In einem barmherzigen Akt waren sie in das Forschungslabor von Doktor Christopher Krynick eingebrochen, um die Tiere dort in Sicherheit zu bringen. Leider hatten sie keine Ahnung was sie da vor sich hatten und aus einer gutgemeinten Rettungsaktion wurde eine globale Katastrophe geworden. Die Proles töteten erst ihre Retter und entkamen dann aus der Forschungseinrichtung, um ein Plage von nie gekanntem Ausmaß über die Welt zu bringen.

Als sich eine Hand auf meine Schulter legte und langsam in meinen Nacken strich, versuchte ich das Kribbeln zu ignorieren. „Das kannst du schön lassen. Ich bin immer noch sauer auf dich.“

„Hätte mich auch gewundert, wenn es anders wäre.“ Reese hockte sich neben mich und warf nur einen mäßig interessierten Blick auf unsere Beute. „Irgendwas Besonderes?“

„Nein, das Vieh war einfach nur verflixt schnell.“ Ich zog die Lefzen hoch um die Zähne zu untersuchen, aber auch die sahen für einen Candir völlig normal aus. „Wann kommt Judd?“

„Er ist noch auf dem Parkplatz und die Viecher da einzusammeln. Wird noch ein bisschen dauern bis er hier auftaucht.“ Sein Daumen strich über die Haut in meinen Nacken. Er schien es nicht mal zu bemerken – ich schon.

Seufzend richtete ich mich wieder auf. „Na wenigstens …“ Als mein Handy zu klingeln begann, unterbrach ich mich und zog es aus meiner Jacke. Ein Blick aufs Display reichte. „Jilin“, sagte ich nur und hielt es mir ans Ohr. „Ja?“

„Seit ihr gerade sehr beschäftigt?“

„Es geht.“ Bei dem knarzenden Geräusch in der Leitung konnte ich geradezu vor mir sehen, wie sich die Chefin unserer Gilde in ihrem ledernen Chefsessel zurücklehnte – okay, es war nur ein Bürostuhl, aber auch der war beeindruckend. „Wir haben die Jagd gerade beendet. Keine Verletzten. Das Rudel ist eliminiert.“

„Nichts anderes hab ich erwartet.“ Etwas klickte, als wenn sie mit einen Kugelschreiber auf ihren Schreibtisch klopfen würde. „Wie lange braucht ihr noch?“

„Nicht mehr lange. Die Polizei ist bereits vor einer viertel Stunde angekommen.“

„Das ist gut. Übertragt den Beamten bitte die Aufsicht und kommt hier her. Ich muss euch etwas zeigen.“

„Etwas zeigen?“

„Genaugenommen muss ich dir etwas zeigen. Darum seht zu das ihr eure Hintern ins Auto bewegt und euch auf den Weg macht.“

Aha, sehr kryptisch. „Okay.“

„Dann bis gleich.“ Sie legte auf.

Stirnrunzelnd musterte mein Display und fragte mich was das gerade gewesen war.

Reese schaute zu mir auf. Zwischen seinen Lippen hing wieder eine Zigarette. „Was ist los?“

„Keine Ahnung. Wir sollen in die Gilde kommen. Jilin will mir etwas zeigen.“

„Und was?“

Ich zuckte nichtsahnend die Schultern. „Das hat sie nicht gesagt. Wir sollen die Aufsicht der Polizei übergeben und uns auf den Weg machen.“

„Fantastisch.“ Murrend erhob Reese sich und stampfte missmutig zu den Einsatzkräften der Polizei. Er mochte es gar nicht mitten im Dienst abbeordert zu werden. Sein Kampf gegen die Proles fand auf der Straße statt und jegliche Unterbrechung ging ihm einfach nur furchtbar auf den Sack.

Ich aber fragte mich was Jilin mir zeigen wollte. Was war so wichtig, dass sie uns sogar von einem Einsatz abzog? Das war nicht normal. Hatte das vielleicht etwas mit ihrem seltsamen Verhalten von gestern Abend zu tun?

Als wir gestern in die Gilde gekommen waren, schien sie schwer beschäftigt zu sein. Sie war noch kürzer angebunden gewesen, als es sonst der Fall war. Aber den seltsamen Blick den sie mir zugeworfen hatte, den hatte ich wohl bemerkt.

Merkwürdig. Wirklich merkwürdig.

Ich ließ das Handy in meiner Jacke verschwinden und zog mir die Ärmel meines Parkas über die Hände. Wir hatten Januar und befanden und damit im tiefsten Winter. Die Tage waren mittlerweile so kurz, dass die Sonne schon wieder unterging, kaum dass sie es an den Himmel geschafft hatte und die Temperaturen waren ein guter Ersatz, sollte der Gefrierschrank ausfallen.

Jeder Atemstoß zauberte kleine Wölkchen vor meinem Mund und jetzt wo die Hitze der Jagd abgeklungen war, begann ich zu frieren. Schon wieder lag ein ganzes Jahr hinter uns. Es war schwer zu glauben, wie schnell die Zeit vergehen konnte.

Mein Blick ging hinauf zum bewölkten Himmel. Schnee hatte es dieses Jahr noch nicht gegeben, nur widerlich kalten Regen. Nicht mal über Weihnachten hatte Frau Holle sich blicken lassen. Es war das vierte Weihnachtsfest ohne Wynn gewesen.

Dieser Gedanke ließ meine ohnehin schon schlechte Laune gleich noch ein wenig absacken.

Vor wenigen Wochen hatte ich nach drei Jahren Praxisunterricht meine Ausbildung zum Venator mit Bravur bestanden. Damit war ich nun nicht nur eine ausgebildete Monsterjägerin, ich zählte auch noch zu den Besten Venatoren unserer Gilde. So wie ich es immer gewollt hatte.

Doch dieser Erfolg hatte auch einen bitteren Beigeschmack. In den letzten Jahren die ich mit meinem Partner Reese auf der Straße verbracht hatte, um die Welt ein kleines bisschen sicherer zu machen, hatte ich viele Dinge gesehen, die ich am liebsten einfach vergessen würde. Doch wenigsten war davon nichts so schlimm gewesen, wie die damaligen Geschehnisse mit Taid und seinen Kreationen.

So vieles hatte sich seit dem geändert. Und so vieles war gleich geblieben. Wynn, meine kleine Schwester, hatte mich aus ihrem Leben gestrichen. Sie gab mir noch immer die Schuld am Tod von Onkel Rod. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Damals war alles so schief gelaufen. Genau wie diese eine Begegnung mit ihr.

Es war ungefähr zwei Monate nach meinem Abschluss an der Akademie gewesen. Ich war zu Wynn und ihrer Pflegefamilie gefahren. Fast zwanzig Minuten hatte ich an der Haustür gestanden, bevor ich mich getraut hatte die Klingel zu betätigen. Meine kleine Schwester war nicht sehr erfreut über meinen Besuch gewesen. Sie hatte mich zum Teufel gewünscht und mir gesagt, dass ich für sie gestorben war. Seitdem hatte ich es mich nicht mehr gewagt, in ihre Nähe zu kommen.

Zu Weihnachten und Geburtstag schickte ich ihr Karten. Bisher hatte sie auf keine reagiert. Nur über Dritte wusste ich was aus ihr geworden war.

In der Zwischenzeit lebte sie mit zwei anderen jungen Frauen in einer Wohngemeinschaft und machte ein Studium zur Lehrkraft. Sie wollt Grundschullehrerin werden. Schulen waren neben Krankenhäusern die sichersten Orte, die es in dieser Welt noch gab. Es war nur ein weiter Versuch von ihr sich vor dem wahren Leben zu verstecken.

Ich dagegen ging jeden Tag hinaus auf die Straße um sie und andere Menschen vor den Monstern zu beschützen. Ich hatte so viel gut zu machen. Durch mein Versagen damals waren nicht nur Menschen gestorben die mir etwas bedeutet hatten. Einer von ihnen war in dem Versuch mit beizustehen so schwer verletzt worden, dass er noch heute im Koma lag.

Nick, der kleine Bruder von Reese.

Reese und ich wussten, dass es nur eine verschwindend geringe Chance gab, dass er jemals wieder aufwachen würde, aber solange diese Bestand, konnten wir uns einfach nicht dazu durchringen die Maschinen abstellen zu lassen. Vielleicht brauchte er einfach nur noch ein wenig Zeit. Vielleicht würde er schon morgen wieder erwachen. Es war unwahrscheinlich, aber … keiner konnte es mit Sicherheit sagen. Also klammerten wir uns an dieses kleine bisschen Hoffnung und ließen wir die Maschinen weiter arbeiten.

Nick spürte es vermutlich sowieso nicht. Er litt nicht, er schlief einfach nur. Ganz im Gegenteil zu Reese.

Kurz nachdem er mir klar gemacht hatte, dass er mich liebte und mich nicht mehr hergeben würde, waren wir zusammengezogen. Dieser Schritt war ziemlich plötzlich gekommen, aber ich hatte es in dem kleinen Haus von Onkel Roderick nicht mehr ausgehalten. In diesen Wänden hingen zu viele Erinnerungen – sowohl gute als auch schlechte. Aber da ich es einfach nicht über mich gebracht hatte das Haus zu verkaufen, hatte ich es an eine kleine Familie vermietet und war zu Reese und Nicks Katze Cherry in die Wohnung gezogen.

Doch auch dort war einfach zu viel geschehen, als das wir beide es dort hätten lange aushalten können. Ungefähr ein halbes Jahr nach meinem Einzug bei ihm hatten wir uns eine Wohnung in der Nähe der Gilde gesucht. Unser kleiner Rückzugsort. Dort konnten wir die Vergangenheit aussperren und uns verkriechen, wenn die Welt mal wieder über uns zusammenzubrechen drohte.

Ich stieß einen Schwall Luft aus und schaute zum Einsatzwagen der Polizei. Reese nickte dem Beamten am Wagen zu, gab noch letzte Anweisungen und wandte sich dann zu mir um.

Als er mich ansah, mit diesem leicht missmutigen Zug um die Lippen, konnte ich gar nicht anders als zu lächeln. Ich kannte ihn nun schon seit mehr als drei Jahren und in dieser Zeit hatte er sich kein bisschen verändert. Manchmal glaubte ich, dass er der einzige Halt war, der auch noch heute dafür sorgte, dass ich nicht einfach zusammenbrach.

Die Vergangenheit war vorbei, doch sie begleitete die Gegenwart weiterhin wie ein Schatten.

Reese kam direkt vor mir zum Stehen und schaute mich an als versuchte er herauszufinden, was mein Lächeln bedeutete, da ich doch eigentlich noch sauer auf ihn war.

„Weißt du eigentlich dass ich dich liebe?“, fragte ich ihn leise.

Er zog eine Augenbraue ein Stück nach oben. „Eben wolltest du mich noch erwürgen, oder habe ich da etwas missverstanden?“

„Das eine schließt das andere nicht aus.“ Ich schlang die Arme um seine Mitte und lehnte meinen Kopf an seine Brust. Selbst durch den Mantel konnte ich das Schlagen seines Herzens hören.

Auch Reese wickelte seine Arme um mich und bettete sein Kinn auf meinem Kopf.

Ja, hier gehörte ich hin. So wie es war, war es genau richtig.

„Hatten wir nicht eigentlich einen dringenden Termin?“

„Nur noch einen kurzen Moment.“ Ich schloss die Augen und genoss einfach nur die Wärme die von ihm ausging, während die Einsatzkräfte in der Straße sich um den Auffahrunfall kümmerten und den Kadaver des Candir in den Augen behielten, als fürchteten sie er könnte einfach wieder von den Toten auferstehen und sich jeden Moment auf sie stürzen. Doch leider begann mein Handy dann wieder zu klingeln und machte mir damit deutlich, dass meine Auszeit hier und jetzt beendet war.

Seufzend ließ ich von ihm ab und kramte mein Handy ein weiteres Mal hervor. Mein Display verkündete, dass meine beste Freundin Evangeline meine Aufmerksamkeit forderte. „Eve“, erklärte ich nur kurz und hielt mir das Handy ans Ohr. „Hey Eve.“

„Oh Gott, oh Gott Grace, du wirst es nicht glauben! Ich kann es ja selber nicht glauben, aber es ist wirklich wahr!“, kreischte sie mir ins Ohr.

Ich gab Reese ein Zeichen, dass wir uns auf den Weg zu unserem Wagen machen konnten und trat über die Straße auf den Bürgersteig auf der anderen Seite. „Ja“, sagte ich. „Das klingt wirklich unglaubwürdig.“

„Nicht wahr?! Aber er hat es wirklich gemacht und ich … ahhh!“

Als sie vor Freude ins Handy kreischte, hielt ich es vorsichtshalber ein Stück von meinem Ohr weg. Ich mochte mein Trommelfell nämlich.

Reese warf mir einen fragenden Blick zu. Selbst er hatte es gehört.

Ich zuckte nur mit den Schultern. „Wenn du mir noch mal ins Ohr kreischst, dann lege ich einfach auf.“

„Ja, aber was soll ich denn machen? Ich freue mich so wahnsinnig. Ich meine, ich hätte nicht gedacht, dass er das machen würde, aber er hat es getan und …“

„Eve, hol mal Luft.“

Durch den Hörer hörte ich, wie sie einmal tief einatmete.

„So. Und da ich gerne verstehen würde um was es geht, was hat er gemacht? Und vor allen Dingen, wer ist er?“

„Na Mace!“, quietschte sie freudig in den Hörer. „Er hat mir einen Heiratsantrag gemacht und ich habe ja gesagt!“

Das ließ mich auf der Stelle verharren. „Was?“

„Ja! Wir haben ein Arbor gejagt und es ist auf ihn losgegangen. Es hat sich in seine Wange verbissen. Ich hab das Vieh von ihm runtergezogen und mit dem Kopf gegen den Baum geschlagen bis es sich nicht mehr bewegt hat und dann … ich weiß auch nicht. Ich habe nach Mace' Gesicht geguckt und dann hat er mich geküsst und gefragt ob ich seine Frau werden will!“

„Das ist … fantastisch.“

Evangeline hörte den zögerlichen Ton in meiner Stimme gar nicht. Sie quietschte mir einfach weiter ins Ohr und freute sich ihres Lebens.

Langsam setzte ich mich wieder in Bewegung. Es war nicht so, dass ich ihr dieses Glück nicht gönnte, aber Mace und Evangeline hatten fast zwei Jahre gebraucht um überhaupt zusammen zu kommen. Das war vor etwa einem Jahr gewesen. Das war keine lange Zeit für eine Beziehung. Doch das eigentlich Bedenkliche an der Sache waren die beiden selber. Es war wie eine Berg und Talfahrt. Entweder sie liebten sich abgöttisch, oder sie bekriegten sich bis auf den Tod.

Eve war bereits mehr als einmal mitten in der Nacht verheult bei mir auf der Türschwelle aufgetaucht, um mir ihr Leid zu klagen, nur um am nächsten Tag zusammen mit Mace wieder auf Wolke sieben zu schweben.

Dieser Antrag … ich fand ihn einfach nur etwas überstürzt.

„Jetzt gibt es so viel zu planen und … und … du musst meine Brautjungfer sein. Wir müssen ein Kleid aussuchen und …“ Sie verstummte, als im Hintergrund eine Stimme erklang. Eve antwortete etwas. In der Leitung knisterte es. „Grace, pass auf, ich hab gerade einen Auftrag bekommen und muss los.“

„Okay.“

„Aber ich melde mich wieder. Du musst mir unbedingt beim Planen helfen, ja?“

„Ich tue was ich kann.“

„Okay, dann bis dann. Bye.“ Zum Abschied quietschte sie mir noch einmal freudig ins Ohr.

„Bye.“ Ich nahm das Handy herunter und starrte das Display zum zweiten Mal in den letzten zwanzig Minuten an, bevor ich es in meiner Jacke verschwinden ließ. „Eve und Mace wollen heiraten.“

Reese zog eine Augenbraue nach oben, enthielt sich aber jeglichen Kommentars. Andererseits … eigentlich war sein Schweigen bereits Kommentar genug.

 

°°°

 

Über den Zugang der Tiefgarage, betraten Reese und ich das Gebäude der Gilde. Der alte Flachbau in dem eher ruhigen Teil der Stadt war in den letzten Jahren zum Mittelpunkt meines Lebens geworden – naja, wenn man einmal von Reese absieht. Die Holzvertäfelungen an den Wänden waren mir in der Zwischenzeit genauso vertraut wie der abgenutzte Parkettboden.

Stimmengewirr und das Klingeln der Telefone waren sogar hier auf dem schmalen Korridor zu hören. Der Geruch von abgestandenen Kaffee brachte seine ganz eigene Note in diese geschäftige Atmosphäre.

Aziz, ein türkischer Jäger mit einen Drachentattoo auf dem rechten Oberarm und Seth, das blonde Arschloch vom Dienst, kamen uns lachend entgegen und verschwanden über die Treppe nach unten zu den Trainingsräumen.

Rechts ging nur eine einzige Tür vom Korridor ab. Sie führte in das Großraumbüro der Gilde, das mit einem langen zerkratzen Tresen vom Besucherbereich abgetrennt war.

Links gab es ein halbes Dutzend Türen. Konferenzräume, kleine Büros und Suzannes Reich. Suzanne war das Herz unserer Gilde, die Frau die uns alle wieder zusammenflicke, wenn wir geschunden von einer Jagd zurück kamen und uns zur Belohnung immer einen Lutscher gab. Naja, was sollte ich sagen, sie hielt uns alle für ihre Kinder. Und wenn wir nicht hörten, bekamen wir eine Spritzte. Es war wirklich schade, dass sie bald in ihren wohlverdienten Ruhestand gehen würde. Ich würde sie auf jeden Fall vermissen.

Unser Ziel war aber das Büro am Ende des Korridors. Ein Schild neben der Tür verkündete: Jilin Halco, Meistervenator.

Wie immer saß unsere Chefin hinter ihrem Schreibtisch und beugte sich über irgendwelche Papiere. Ja, die Jagd nach Proles konnte der reinste Papierkrieg sein.

Ich klopfte gegen den Türrahmen um auf uns aufmerksam zu machen.

Sie schaute nur kurz auf und setzte dabei nicht einmal ihren Stift vom Papier ab. „Kommt rein. Und macht die Tür zu.“

Wir sollten die Tür zu machen? Verwundert schaute ich zu Reese, doch der runzelte nur die Stirn. Jilins Bürotür war immer offen – immer. In der ganzen Zeit in der ich sie nun schon kannte hatte ich diese Tür in noch keinen anderen Winkel gesehen als den jetzigen. Nicht mal an dem Tag, als ich wegen Verdacht auf Mitwirkung und Teilnahme an illegalen Proleskämpfen suspendiert worden war.

Irgendwie gefiel mir das nicht.

„Braucht ihr noch eine extra Einladung?“, fragte sie.

Nein, das gefiel mir ganz und gar nicht. Trotzdem trat ich hinter Reese in das Büro und schoss die Tür mit einem leisen Klicken. Dann stellte ich mich vor den Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust, weil ich sonst nicht so recht wusste wohin damit.

Jilin ließ sich davon nicht drängen. Sie schrieb die Zeile noch voll, bevor sie den Stift zur Seite legte und sich in ihrem Chefsessel zurücklehnte.

Unsere Chefin war eine Frau Ende dreißig. In ihr schwarzes Haar hatten sich mittlerweile ein paar silberne Strähnen geschlichen und gaben ihr damit etwas Würdevolles. Ihre Augen sprachen von einer asiatischen Abstammung, doch ihre Hautfarbe lag irgendwo zwischen einem Latte Macchiato und einem schwarzen Kaffee. Und auch wenn sie nun schon seit Jahren an diesen Schreibtisch gefesselt war, nachdem ihr von einem Spuma auf einem Einsatz das Bein abgerissen worden war, den scharfen Blick einer Jägerin besaß sie noch immer.

„Holt euch Stühle und setzt euch. Es macht mich nervös wenn ihr da rumsteht.“ Sie begann in ihrem Aktenstapel zu kramen, während Reese von der Wand zwei Stühle holte und sie vor dem Schreibtisch stellte. „Und nimm deine Hand aus deiner Jacke wenn du sie nicht verlieren willst“, sagte Jilin. „Du weist das hier drinnen nicht geraucht wird.“

Er schnaubte nur, gehorchte aber und ließ sich auf den linken Stuhl plumpsen.

Ich setzte mich etwas eleganter hin, aber von Entspannung konnte keine Rede sein. Erst rief sie uns von der Arbeit weg, dann sollten wir auch noch die Tür schließen und jetzt mussten wir uns auch noch setzten. Kein Wunder dass Reese das Bedürfnis hatte nach seinen Zigaretten zu greifen. „Du wolltest uns sprechen?“

„Geduld.“ Sie zog einen Ordner heraus und legte ihn vor sich auf den Tisch. Der Umschlag war nur mit einer Fallnummer versehen, die mir leider nichts sagte. Sie ließ ihren Blick einen Moment darauf verweilen, bevor sie ihn auf mich richtete und mich gründlich musterte. „Du siehst aus als wolltest du die Flucht ergreifen.“

„Woran das wohl liegen könnte“, murmelte Reese, stellte einen Ellenbogen auf den Tisch und stützte sein Kinn in die Hand. „Spuck es endlich aus, was sollen wir hier?“

Sie ignorierte ihn, verschränkte nur die Hände auf dem Tisch und schaute mich an. „Gestern bekam ich einen Anruf von der Gilde in Potsdam. Vor ein paar Tagen wurden dort drei Proles eingefangen, die nach Historia gebracht werden müssen.“

Historia war ein Forschungslabor, das sich allein der Erforschung der Proles verschrieben hatte.

„Was für Proles?“, wollte ich wissen.

„Drei Iuba.“

„Iuba?“ Reese runzelte die Stirn. „Was will Historia mit drei Iubas?“

Jilin warf ihm einen kurzen Blick zu, konzentrierte sich dann aber wieder auf mich. „Ursprünglich waren es vier Iubas gewesen, ein Familienrudel wie es scheint. Einer von ihnen wurde eliminiert und nur weil einer der Venatoren ein wenig übereifrig war, wurde der Kadaver untersucht, bevor sie sich auf die Jagd nach den anderen dreien gemacht haben. Dabei haben sie eine Tätowierungsnummer in dem Ohr gefunden.“

Was? „Eine Tätowierungsnummer?“

„Das habe ich doch wohl gerade gesagt.“ Jilin schob den Ordner vor sich ein wenig zurecht. „Es war wirklich nur Zufall. Und nur deswegen wurden die anderen drei Iuba nicht getötet, sondern eingefangen. Auch sie tragen Nummern in ihren Ohren.“

„Wer Tätowiert denn Proles?“, fragte ich.

Auch Reese schien das zu verwirren. „Historia macht das.“

„Ja, aber die waren ja noch nicht in Historia. Oder?“

Jilin schüttelte den Kopf. „Nein, waren sie nicht, aber Reese' Gedankengang ist schon nicht schlecht. Auch diese drei Iuba stammen aus einer Forschungseinrichtung. Nur wurde diese von unserem geschätzten Doktor Christopher Krynick geleitet.“

Mein Mund ging auf, aber kein Ton kam raus.

„Moment“, sagte Reese und beugte sich ein wenig vor. „Willst du damit sagen, diese drei Iubas stammen noch aus der ersten Generation?“

Die erste Generation, die Proles die in dem Forschungslabor vom lieben Herr Doktor geboren worden waren und damit heute die Vorväter aller Abkömmlinge waren.

„Es sieht so aus.“ Jilin ließ ihren Finger über den Rand des Ordners gleiten. „Die Tätowierungsnummern wurden mit den Forschungsunterlagen aus Riverton abgeglichen und stimmen mit ein paar der aufgelisteten Proles zu hundert Prozent überein. Es besteht keinen Zweifel daran, dass diese drei Iuba zu den Proles gehören die damals aus dem Labor entkommen sind.“

Entkommen war gut. Man sollte besser sagen, auf die Welt losgelassen.

Wie viele Proles genau in die Freiheit gelangt waren, war bis heute nicht bekannt. Es konnten nicht wirklich viele gewesen sein, aber aufgrund ihrer Veranlagung, hatten die Proles sich auch mit normalen Tieren paaren können und sich so rasend schnell vermehrt. Dadurch waren aus den ursprünglich sieben Gruppen schnell zehn geworden.

„Das ist siebzehn Jahre her“, sagte ich leise.

„Fast achtzehn“, korrigierte Jilin mich. „Und laut den Unterlagen waren diese Iuba schon ausgewachsen gewesen, als sie entkommen sind. Das heißt du kannst noch mal mindestens ein Jahr rauflegen.“

„Neunzehn Jahre.“ Das war kaum zu glauben. Ich wusste das Historia so alte Proles beherbergte, einfach um sie zu erforschen. Aber außerhalb des Forschungslabors wurden schon seit Jahren keine Abkömmlinge der ersten Generation mehr gefunden.

„Wie es scheint hat dieses Rudel sich viele Jahre in abgelegen Teilen des Landes aufgehalten, deswegen sind sie so lange unentdeckt geblieben.“

„Das erklärt warum sie so lange überlebt haben“, sagte Reese.

Das stimmte schon, aber mir drängte sich eine viel wichtigere Frage auf. „Warum erzählst du uns das?“ Nicht dass das nicht interessant wäre, aber es erklärte das Verhalten meiner Chefin nicht.

„Dafür gibt es einen ganz einfachen Grund.“ Jilin zögerte einen Moment, schob mir dann aber den Ordner zu. Doch ihre Hand ließ sie darauf liegen. „Das sind alle Informationen die wir zu den Drein bisher zusammengetragen haben. Aber nicht alle sind schön und manche davon können böse Erinnerungen wecken.“ Jilin sah mir fest in die Augen. „Grace, diese Tätowierungsnummern weisen Ähnlichkeiten zu einem anderen Fall auf – die Zahlenfolge, wenn du verstehst was ich meine. Deswegen vermuten wir, dass diese drei Iubas zusammen mit ihrem Nachwuchs vor fünfzehn Jahren in den sechsten Geburtstag eines kleinen Mädchens geplatzt sind.“

Plötzlich wurde mir eiskalt und das hatte absolut nichts mit dem Wetter zu tun. „Was sagst du da?“

„Der Beruf der Venatoren steckte damals noch in den Kinderschuhen. Es gab viel zu wenig Jäger um dem Problem Herr zu werden. Ich kenne deine Geschichte, ich habe die Akten von damals gelesen und weiß dass nicht alle Abkömmlinge dieses Rudels eliminiert werden konnten.“

Guck mal, Gracy, der lustige Hund. Ich habe ihn Plüsch genannt, weil er so plüschig aussieht.

Meine Finger krampften sich um die Schreibtischkante.

Fünfzehn Jahre war es her. Vor fünfzehn Jahren hatte meine kleine Schwester Wynn bei uns im Garten am Zaun gehockt, diese Worte gesagt und mein Leben damit in einen Alptraum verwandelt.

Wollte Jilin mir damit sagen, dass diese Biester meine Eltern getötet hatten? Meine Freunde, die nie eine Chance hatten erwachsen zu werden? Das war … nicht möglich.

Eine raue, schwielige Hand legte sich auf meine. „Shanks.“

Ich schüttelte den Kopf, versuchte diese Erinnerung aus meinem Hirn zu bekommen. „Das kann nicht sein.“

„Das so etwas passiert ist wirklich ausgesprochen unwahrscheinlich“, sagte Jilin. „Aber es bedeutet nicht, dass es ausgeschlossen ist.“

Das nicht, aber die Wahrscheinlichkeit war so verschwindend gering, dass ich es mit einfach nicht vorstellen konnte. Aber was wenn sie recht hatte? Was wenn diese drei Iubas wirklich dieselben waren, die aus meinem sechsten Kindergeburtstag ein Blutbad gemacht hatten? Hatte einer von ihnen meine Mutter getötet? Oder meinen Vater?

Vielleicht interpretierten wir die Hinweise aber auch einfach nur falsch und diese drei hatten mit dem Massaker von damals gar nichts zu tun.

Ach was machte ich mir eigentlich vor? Die Population der Proles war damals so gering gewesen, dass es schon ein großer Zufall wäre, wenn es noch ein Iubarudel in der Gegend gegeben hätte. Und die Zahlenfolge der Tätowierungen passten zusammen. Andererseits … was sagte das Wort Zufall eigentlich aus?

Jilins Stimme wurde ein wenig sanfter. „Mir ist klar, dass dieser Gedanke nicht …“

„Warum sagst du mir das alles?“, unterbrach ich sie leise.

Sie seufzte. „Gegenfrage. Was wäre passiert, wenn ich es dir vorenthalten hätte und du irgendwann von diesen Iubas erfahren hättest? Wenn dir jemand sagt, dass auch ich es gewusst habe ohne dir davon zu berichten?“

Ich hätte geglaubt, dass sie mein Vertrauen missbrauch und für mich wichtige Informationen unterschlagen hätte. Wenn es wirklich stimmte was sie sagte, wäre ich mir verraten vorgekommen. Schließlich war es dieses Ereignis dass mich an diesen Punkt gebracht hatte, an dem ich mich heute befand. Es war der Wunsch nach Rache gewesen. Und jetzt sagte sie mir, dass die Monster die meine Familie zerstört hatten noch lebten. Das war … unvorstellbar.

„Grace.“ Jilin hob ihre Hand vom Ordner und legte sie auf meine.

Doch ich entzog mich ihr. Ich entzog mich auch Reese, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf diesen Ordner. „Sie leben noch.“ Ich spürte den alten Schmerz, der mein Herz zu zerreißen drohte. Noch heute hörte ich in meinen Träumen immer mal wieder die Schreie meiner Eltern. Ich sah wie sie sie zerrissen hatten, wie das Blut floss und wie das Licht des Lebens aus ihren Augen verschwunden war.

„Ja, und sie müssen nach Historia.“

Sehr langsam hob ich den Blick zu ihrem Gesicht. „Was erwartest du jetzt von mir?“

„Ich erwarte das gleiche wie immer: Dass du deiner Arbeit so gewissenhaft wie möglich nachgehst. Allerdings …“ Sie machte eine kurze Pause. „Ich habe dir das nicht gesagt, um alte Wunden wieder aufzureißen, sondern weil ich glaube dass es wichtig für dich ist. Und du hast jetzt zwei Möglichkeiten. Die eine ist, dass du einfach akzeptierst was geschehen ist, mein Büro verlässt und wir die ganze Angelegenheit vergessen, als wäre sie nie geschehen.“

„Und die andere?“

„Der Transport für die Iubas ist für Samstag geplant. Wenn du es wünscht, werde ich dich und Reese nach Potsdam schicken um der Überführung der Proles nach Historia beizuwohnen.“

„Und wo ist der Teil in dem wir sie einfach erschießen dürfen?“, fragte Rees grummelnd.

„Sie dürfen nicht getötet werden.“

Meine Augen begannen zu brennen. „Sie haben meine Eltern getötet.“

„Ja, diese Vermutung liegt nahe.“

Auf einmal kotzte mich ihre ruhige Art an. Da war dieses Gefühl, diese verdammte Ungerechtigkeit und die Hilflosigkeit, mit der ich meine gesamte Kindheit zu kämpfen gehabt hatte und plötzlich konnte ich nicht mehr länger sitzen bleiben. Ich sprang auf, riss den Ordner vom Tisch und schleuderte ihn quer durch das Büro. „Diese Monster haben meine Eltern getötet!“

„Shanks.“

Ich schlug Reese' Hand weg, als er nach mir greifen wollte. „Warum dürfen diese Biester leben?! Wir sollten sie bei lebendigem Leibe verbrennen!“

Jilin ließ sich von meinem Ausbruch nicht aus der Ruhe bringen. „Das ist gegen das Gesetzt.“

„Scheiß auf das Gesetzt!“ Ich drehte mich herum und stieß den Stuhl zur Seite, einfach weil er mir im Weg stand.

„Shanks.“

Meine Finger zitterten, als ich die Tür aufriss. Sie knallte gegen die Wand.

Daniel, einer der Venatoren der gerade zu Suzanne ins Krankenzimmer wollte, schaute erschrocken auf.

Ich ignorierte ihn und seinen fragenden Blick, genau wie ich Reese Ruf ignorierte, als ich durch den Korridor stampfte.

„Verdammt, Shanks, bleib stehen!“

Meine Beine trugen mich durch den Korridor, vorbei an dem Bürobereich die Treppe hinunter. Ich wusste nicht genau wohin ich wollte, doch ich wusste wenn ich mich nicht bewegte, würde ich gleich einfach platzen. Die Monster die meine Eltern getötet hatten … sie lebten noch! Wie konnte das Schicksal mir das nur antun? Warum durften diese Bestien atmen, während die Menschen die mir das Leben geschenkt hatten unter der Erde lagen und langsam zu Staub zerfielen? Es war …

Mein Fuß rutschte auf der untersten Stufe der Treppe weg. Ich knickte um und fiel nur nicht, weil ich hastig nach dem Treppengeländer griff.

Polternde Schritte kündeten davon, dass Reese direkt hinter mir war. Und dass er mir vermutlich den Hals umdrehen wollte, weil ich ihn einfach stehen ließ. Aber ich konnte nicht warten. Ich wollte nicht hören was er zu sagen hatte. Es hatte mir schon gereicht Jilin zuhören zu müssen. Und was sie gesagt hatte … meine Finger krampften sich um das Geländer, bis die Knöchel weiß hervorstachen.

Guck mal, Gracy, der lustige Hund. Ich habe ihn Plüsch genannt, weil er so plüschig aussieht.

„Komm.“ Reese nahm meinen Arm und zog. „Lass los und komm.“

„Und dann?“ Was konnte er schon tun? Die Gesetzte waren klar und deutlich. Das Unglück das die Menschheit in den Untergang gestürzt hatte, war noch nicht wirklich lange her. Bisher war nur bei den wenigsten Arten bekannt, wie alt sie werden konnten, wie widerstandsfähig sie waren, oder auch, wie viel Nachwuchs sie in einem Leben zeugen konnten.

Historia war da um all das herauszufinden und die Monster die meine Kindheit zerstört hatten, sollten nun dort hingebracht werden. Um leben zu können.

„Mein Gott, vertrau mir doch einfach.“ Reese zog nochmal, ja zerrte mich geradezu von der Treppe weg und führte mich durch den unterirdischen Korridor.

Hier unten gab es keine Fenster, nur eine alte Lüftungsanlage, die stotternd die Luft mit Sauerstoff versorgte. Das Teil war so oft kaputt, dass hier unten meist saunartige Temperaturen herrschten, doch im Moment spürte ich gar nichts. Meine Hände fühlten sich taub an. Mein ganzer Körper fühlte sich taub an. Nicht mal Reese' Gegenwart konnte daran im Moment etwas ändern.

Warum? Warum musste sowas ausgerechnet jetzt passieren, wo mein Leben endlich in halbwegs geregelten Bahnen verlief? Warum konnte ich die Vergangenheit nicht einfach in irgendein finsteres Loch sperren, damit sie mich nie wieder belästigen konnte? Ich verstand es einfach nicht.

Als ich das Lachen von Aziz hörte, wurde ich mir erst bewusst, wohin Reese mich gebracht hatte. Die Trainingshalle. Es war nichts weiter als eine kleine Turnhalle mit einem Schießstand an der Seite. Sprossenwände und Trainingsmatten. Ein Basketballkorb an dem Aziz und Seth versuchten sich gegenseitig auszubooten. Und … ein Sandsack.

Ich sah diesen schwarzen Sack von der Decke baumeln und hatte plötzlich das überwältigende Bedürfnis darauf einzuschlagen.

Als meine Beine sich in Bewegung setzten, riss ich den Reißverschluss meiner Jacke auf und ließ sie achtlos von den Schultern rutschen. Ich spürte nicht einmal wie Reese mich losließ. Da war nur dieser Sandsack der in meiner Vorstellung zu einem Iuba wurde.

Mein erster Schlag ließ den Sack nur leicht baumeln, genau wie mein zweiter.

„Shanks, leg deine Waffen ab“, forderte Reese.

Ich ignorierte ihn, schlug noch mal zu und noch mal. Iuba. Canis-Proles.

Noch ein Schlag.

Meine Lippen wurden zu einem dünnen Strich.

Mutierte Abkömmlinge von Hunden. Kopf-Rumpf-Länge 103 bis 132 Zentimeter, Gewicht: 81 kg bis 103 kg. Ein riesiger Schäferhund mit der Mähne eines Löwen. Eine lange Schnauze mit einem Ziegenbärtchen. Jeder Iuba war grau-schwarz, mit dunklen Streifen im Gesicht und … plüschig.

Ich kannte diese Daten in und auswendig. So oft hatte ich sie gelesen, so oft versucht sie auf etwas Einfaches zu reduzieren. Es hatte nie funktioniert.

Guck mal, Gracy, der lustige Hund. Ich habe ihn Plüsch genannt, weil er so plüschig aussieht.

Ich biss die Zähne fest zusammen und schlug noch mal zu. Immer und immer wieder. Dabei versuchte ich nicht an diesen grausamen Tag von vor fünfzehn Jahren zu denken, sondern rief mir immer wieder die Fakten ins Gedächtnis. Die Größe, das Gewicht, das Aussehen. Doch die Gedanken verschwammen und plötzlich hörte ich die Schrei der Kinder, sah meine Mutter die in den Garten gestürmt kam, nur um von einem dieser Biester niedergerissen zu werden. Ich sah wieder meinen Vater, der versuchte diesen Monstern mit einem Spaten den Schädel zu spalten. Aber er hatte es mit drei Gegner zu tun gehabt und noch während er meiner kleinen Schwester und mir zugerufen hatte, dass wir uns in Sicherheit bringen sollten, war er von diesen Monstern einfach zerrissen worden.

Komm Hundi, Hundi, Hundi.

„Verdammt, verdammt, verdammt!“ Ich schlug so fest zu, dass meine Knöchel aufplatzten, aber es war mir egal. Ich spürte es nicht mal. Der Schmerz in meinem Herzen war viel zu groß.

Ich hatte nicht mehr gesprochen. Nach diesem Tag war Jahrelang kein Wort über meine Lippen gekommen. Und noch heute fand ich mich in so manchen Träumen wieder, die mir zugeklappte Särge zeigten und keinen Hinweis darauf gaben, was sich in ihrem Inneren befand.

Ich wusste es. Ich musste sie gar nicht öffnen um es zu wissen. Meine Eltern waren bei dem Angriff so entstellt worden, dass die Sargdeckel bei ihrer Beerdigung geschlossen geblieben waren.

Ich schlug noch mal zu und noch mal. Mein Atem ging immer schwerer. Schweiß trat mir auf die Stirn. Mein Herz schlug wie ein Trommelfeuer. Das Messer in der Beinscheide drückte ich mit dem vertrauten Gewicht an meinen Oberschenkel. Die Waffe hing in ihrem Holster um meine Schultern. Alles war wie immer und doch ganz anders.

Sie lebten noch. Diese verdammten Mistviecher, die meinen sechsten Geburtstag in ein blutiges Massaker verwandelt hatten leben noch! Meine Kindheit war danach ruiniert gewesen. Alles hatte sich von einem Tag auf den anderen geändert und noch heute musste ich nur in den Spiegel schauen um alles wieder vor mir zu sehen. „Scheiße!“

Turnschuhe quietschten über den Boden. Seth kam in mein Sichtfeld. „Was ist denn mit dir los?“

Ein Blick aus dem Augenwinkel war alles was er bekam, dann schlug ich wieder zu.

Zu seinem Pech war Reese nicht so handzahm. Er lehnte mit meiner Jacke über dem rechten Arm an der Wand und ließ mich keinen Moment aus den Augen. „Wenn du nicht willst, dass ich meine Waffe auf dich richte, dann verzieh dich.“

Es gab eine Zeit, da hätte Seth bei dieser Drohung die Beine in die Hand genommen und zugesehen, dass er davon kam. Jetzt allerdings hatte er für Reese nur eine hochgezogene Augenbraue übrig. „Noch so ein Sonnenschein.“

Reese musste darauf nichts erwidern. Ein Blick allein genügte, dass Seth unwillkürlich einen Schritt zurück wich. Klar, er war nicht mehr der kleine Praktikant, dem man die Leviten lesen konnte, aber Reese konnte nun mal ziemlich unheimlich sein.

„Ja, ist ja schon okay.“ Beinahe ergeben hob Seth die Hände in die Luft und drehte den Kopf dann zu Aziz um, der mich mit einem sehr eindringlichen Blick musterte. „Ich glaub unsere Trainingsrunde ist vorbei.“

Aziz sagte nichts, beobachtete mich nur wie ich unaufhörlich gegen den Sandsack boxte, ohne darauf zu achten wie meine Fingerknöchel mittlerweile schmerzten. Es schien als wollte er etwas sagen, beließ es dann aber bei einem Blick, bevor er mit Seth ein Zeichen gab und dann mit ihm zusammen die Turnhalle verließ.

Seit dem Vorfall mit Taids Bestien vor fast drei Jahren war er ruhiger geworden. Natürlich machte er Jilin noch immer den Hof wo und wann sich ihm die Gelegenheit bot, aber wenn sie nicht in der Nähe war, verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht. Die Geschehnisse damals waren nicht spurlos an ihm vorbei gegangen – genauso wenig wie an mir. Doch ich konnte mich nicht entscheiden was schlimmer war: Taids Monster, oder ein blutiger Kindergeburtstag. Ich wusste nur eines, dass es unglaublich schmerzte wieder daran erinnert zu werden. Es war als würde eine alte Wunde wieder aufbrechen und anfangen zu bluten.

Reese ließ mich scheinbar eine Ewigkeit auf den Sandsack einschlagen. Er sagte nichts, als ich vor Wut und Trauer einen verzweifelten Schrei ausstieß. Auch als mir Tränen über die Wangen liefen, hielt er den Mund. Erst als ich mit einem Schluchzen in mich zusammensackte kam er zu mir, nahm mich in den Arm und drückte mich schützend an seine Brust.

Das war alles was er für mich tun konnte. Und in diesem Moment war es das einzige das verhinderte, dass ich an meiner Vergangenheit zerbrach.

 

°°°

 

Ganz vorsichtig und ohne das kleinste Geräusch zu machen, setzte Cherry eine Pfote auf den graumelierten Teppichboden und verharrte dann wieder bewegungslos. Der nächste Schritt ließ mehrere Sekunden auf sich warten. Dabei fixierte sie die kleine Spielzeugmaus ohne auch nur einmal zu blinzeln.

Als die Maus sich nicht regte, machte sie noch einen Schritt, begann dann auf einmal energisch mit dem Hintern zu wackeln und stürzte los. Schon hatte die große Jägerin ihre ahnungslose Beute gepackt und malträtierte sie mit Zähnen und Krallen, um ihr zu zeigen, wer hier der Boss war.

„Cherry“, mahnte ich die weiße Katze, weil sie mir bei ihrem Manöver die Fotos meiner Eltern auf dem Boden durcheinandergebracht hatte und schob sie zur Seite.

Vor Schreck, oder auch einfach weil es ihr riesigen Spaß machte, warf sie die Maus im hohen Bogen von sich und sauste dann mit einem Affenzahn unters Bett. Ruhe kehrte wieder ein und es blieb nur eine vergessene Maus und zwei reflektierende Augen unter dem Bett übrig, die mich ganz genau beobachteten – könnte ja trotz allem etwas zu Essen geben.

Cherry war eine weiße Langhaarkatze, die selbst für ein Weibchen ziemlich klein war. Eigentlich gehörte sie Reese' Bruder Niklas, aber nach seinem Unfall vor knapp drei Jahren war sie in unserer Obhut geblieben.

Normalerweise störte ich mich an ihrem verspielten Wesen nicht, auch wenn sie wirklich nur Blödsinn im Kopf hatte, aber heute nach der Nachricht die Jilin mir vorhin überbracht hatte … mir war einfach nicht nach spielen zumute.

Ich saß in unserem kleinen Schlafzimmer auf dem Boden. Es war nicht sehr groß. Rechts an der Wand stand ein Doppelbett, links ein Kleiderschrank mit einem vollen Wäscheständer davor. Über dem Bett gab es ein breites Fensterbrett, auf dem eine Nachttischlampe stand. Draußen war es schon dunkel und Licht spendete nur die Deckenleuchte. Vor mir verteilt auf dem Teppich lagen ein Haufen Fotos aus der Zeit vor meinem sechsten Geburtstag. Ich hatte sie gefunden, als ich damals das Haus meines Onkels ausgeräumt hatte und zu Reese gezogen war. Er hatte sie all die Jahre in einem Schuhkarton aufbewahrt. Wahrscheinlich hatte er sie uns Mädchen irgendwann einmal geben wollen, es mit den Jahren dann aber einfach vergessen. Onkel Roderick war immer sehr zerstreut gewesen.

Ich griff nach einem Bild, auf dem er und sein Bruder mit meiner Mutter abgebildet waren. Sowohl er als auch Papa hatten das gleiche rote Haar, dass auch ich besaß. Meine Mutter dagegen hatte mit ihrer blonden Mähne immer aus der Familie herausgestochen.

Vorsichtig strich ich mit dem Fingern über das Foto. Auf dem Bild sahen die drei so glücklich aus. Damals hatte noch keiner von ihnen geahnt, welcher Schrecken in der Zukunft auf sie lauern würde. Wer hätte denn auch damit gerechnet, auf dem Geburtstag seiner Tochter von ein paar mutierten Hunden umgebracht zu werden?

Ich biss die Zähne zusammen, als die Erinnerung an das Gespräch mit Jilin wieder in mir aufstieg.

Drei von ihnen lebten noch und sie sollten nach Historia.

Der Gedanke bereitete mir Übelkeit. Ich wollte nicht dass diese Monster einen ruhigen Lebensabend verbringen durften, während all ihre Opfer langsam in Vergessenheit gerieten. Das war nicht fair. Ich sollte das nicht erlauben, aber was konnte ich schon machen? Die Gesetze waren eindeutig und die Forschung wichtig – besonders bei einem so starken Feind. Aber … es war einfach nicht gerecht. Leider hatte ich schon sehr früh feststellen müssen, dass das Leben selten gerecht war. Eigentlich war es nur ein Hürdenlauf, den man bestmöglich versuchte zu bewältigen und ganz wenige hatten das Glück am Ende das Ziel zu erreichen.

Meine Eltern hatten es nicht gehabt.

Als Cherry ein Maunzen von sich gab und schnurrend unter dem Bett hervorkroch, folgte ich ihr mit dem Blick und stellte fest das Reese mit verschränkten Armen im Türrahmen stand und mich still beobachtete.

„Bist du neuerdings unter die Voyeure gegangen, oder warum stehst du da und beobachtest mich heimlich?“

„Gegenfrage, warum versteckst du dich hier im Schlafzimmer?“

Cherry maunzte noch einmal, strich dann schnurrend um Reese' Beine und spazierte dann mit erhobenem Schwanz aus dem Schlafzimmer, um irgendwo anderes ihren Schabernack zu treiben.

„Ich verstecke mich nicht.“ Ich legte das Bild meiner Familie zurück auf den Boden und richtete den Blick auf eines, wo meine Mutter mit mir und Wynn abgebildet war. „Ich wollte nur … keine Ahnung.“

Reese stieß sich vom Türrahmen ab und ließ sich dann am Fußende unseres Bettes nieder. Sein Blick schweifte über die Ansammlung meiner Erinnerungen um mich herum. „Wie geht es deinen Händen?“

Eigentlich war es unnötig einen Blick darauf zu werfen, wusste ich doch wie sie aussahen. Der Sandsack hatte ganze Arbeit geleistet. Die Knöchel an beiden Händen waren aufgeplatzt, aber es hätte auch schlimmer kommen können. „Geht schon.“

„Willst du darüber reden?“

Da ich das ganz entschieden nicht wollte, schüttelte ich den Kopf und begann damit die Fotos zusammenzuschieben und sie wieder in dem Schuhkarton zu verstauen. Ich hatte für mein Leben genug über die Vorfälle meines sechsten Geburtstages geredet und mir noch mehr darüber angehört. Psychologen, Gutachter, jeder wollte mir seine Meinung dazu kund tun, dabei wollte ich mit diesem Thema doch eigentlich nur abschließen und es hinter mir lassen. Aber jetzt saß ich hier, verschloss die Kiste mit ihrem Deckel und stand plötzlich vor einer ganz neuen Frage. „Was soll ich nur tun?“

Reese ließ sich zur Seite kippen und stützte sich auf den Ellenbogen. „Was willst du denn tun?“

Die Iubas erschießen, aber das stand leider nicht zur Wahl. Das einzige was ich tun konnte, war, mich auf dem Weg nach Potsdam zu machen, um diesen Monster gegenüber zu treten, oder die ganze Sache einfach zu vergessen. Leider war mir jetzt schon klar, dass dies zu den Dingen gehörte, die ich nicht einfach vergessen konnte. Man hatte die Mörder meiner Eltern gefunden und auch wenn sie niemanden mehr Schaden zufügen konnten, so würden sie doch am Leben bleiben. Weggesperrt für den Rest ihres Lebens, aber noch immer am Leben.

„Du hast dich doch schon längst entschieden“, sagt Reese leise.

Ach ja? „Wie hab ich mich denn entschieden?“

„Tu nicht so dumm. Der Gedanke an diese Viecher wird dich nicht mehr in Ruhe lassen, bis du dich selber davon überzeugt hast, dass sie für niemanden mehr eine Gefahr darstellen.“

Hach ja, Reese' direkte Art war doch jeden Tag aufs Neue erfrischend. „Solange sie leben, werden sie immer eine Gefahr darstellen.“ Jeder Proles stellte eine Gefahr dar, bis er seinen letzten Atemzug ausgehaucht hatte.

Reese tastete nach seiner Hosentasche, nur um festzustellen, dass da keine Zigaretten drinnen waren. Gut so, im Schlafzimmer war rauchen nämlich verboten. Er konnte es in der Küche und auch im Wohnzimmer tun, aber hier drinnen wollte ich den Qualm nicht haben. „Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie in Historia noch etwas anderes als Hasenbraten und Rinderkoteletts bekommen.“

Auch in Historia konnten Unfälle geschehen, aber das stand hier ja gar nicht zur Debatte. „Man sollte sie mit Gift füttern.“

„Leider wird das wohl nicht auf ihrem Speiseplan stehen.“ Reese erhob sich vom Bett, kam zu mir rüber und gab mir einen Kuss auf den Kopf. „Ich rufe Jilin an und sage ihr, dass wir den Transport begleiten werden. Du kannst in der Zeit Essen machen.“

Als er mir schon den Rücken kehrte und Kurs auf die Tür nahm, schaute ich zu ihm auf. „Ich soll Essen machen?“ Aber heute war er doch an der Reihe, oder irrte ich mich da?

„Natürlich. Was meinst du denn warum ich hier reingekommen bin?“

„Weil ich dir wichtig bin und du ein wenig besorgt um mich warst?“, riet ich einfach mal so ins Blaue hinein. Klar, das war ein völlig abwegiger Gedanke.

Vor der Tür verharrte er noch einmal. „Das auch, aber vor allen Dingen habe ich Hunger.“

Ich verengte meine eigen ein wenig. „Dir ist schon bewusst, dass ich sehr geübt im Umgang mit allen möglichen Arten von Waffen bin?“

Sein Mundwinkel kletterte ein ganz kleinen wenig nach oben, doch bevor er noch etwas dazu sagen konnte, hörten wir aus der Küche ein lautes Klirren.

Genervt schaute Reese den Korridor hinunter. „Was hat diese blöde Katze jetzt wieder runtergeschmissen?“, murrte er und verschwand aus meinem Sichtfeld.

Ich blieb wo ich war und starrte die Kiste in meinem Schoß an. Ich würde es also wirklich tun, ich würde den Ungeheuern aus meinen Alpträumen leibhaftig gegenübertreten und dafür sorgen, dass diese Monster niemals wieder das Leben eines kleinen Mädchens ruinieren konnten. Nicht indem ich endlich meine Rache bekam, nach der ich mich schon seit so vielen Jahren sehnte, aber ich würde dafür sorgen, dass sie für den Rest ihres Lebens weggesperrt wurden. Wenigstens das schuldete ich meinen Eltern. Und wer konnte das schon so genau sagen, vielleicht hatte ich ja Glück und das würde reichen, um mich endlich von den düsteren Erinnerungen meiner Vergangenheit zu befreien.

 

°°°°°

Kapitel 02

 

Reese stellte den Motor ab, nahm noch einen Zug von seiner Zigarette und drückte sie dann in den überfüllten Aschenbecher. Das dabei nicht die Hälfte herausfiel, verdankte er wohl allein seinen Fähigkeiten und einer geübten Hand.

„Den könntest du mal wieder leeren“, bemerkte ich und schnallte mich ab.

„Warum?“ Auch er schnallte sich los und öffnete die Wagentür. „Dann hast du ja nichts mehr zu tun.“ Mit diesen Worten stieg er eilig aus dem Wagen. Wahrscheinlich um meinem finsteren Blick zu entkommen.

Blödmann.

Wäre ich wegen der ganzen Situation nicht so angespannt, hätte ich vielleicht überlegt ihm den vollen Aschenbecher einfach an den Kopf zu werfen, doch so stieg ich einfach nur aus und ließ meinen Blick über das Gelände gleiten.

Die Gilde von Potsdam war ganz anders als die in Berlin. Zuhause hatten wir ein großes Gebäude, in dem alles nötige untergebracht war. Hier gab es ein eingezäuntes Areal mit mehreren kleinen Gebäuden und zwei Parkplätzen – einen für die Besucher und einen für die Angestellten.

Reese hatte sich dreist auf den Parkplatz für die Angestellten gestellt. Er war wohl der Meinung das Gildenlogo – ein Monsterauge inmitten eines Fadenkreuzes – auf den Türen unseres Jeeps, befugte ihn dazu. Außerdem war der Besucherparkplatz weiter von den Gebäuden entfernt und der Wind hier war beißend kalt.

Ein praktisch aufgestelltes Hinweisschild verkündete wohin es zum Besucherzentrum ging, den Verwaltungsräumen, der Forschungseinrichtung und der Trainingsanlage. Man musste einfach nur der Richtung der einzelnen Pfeile folgen.

„Verwaltungsbüro oder Besucherzentrum?“, wollte ich wissen.

„Wir sollen uns bei dem Obermacker melden.“

Also Verwaltungsbüro.

Der Pfeil zeigte auf ein zweistöckiges Gebäude links, das genauso einladend wie eine Hochsicherheitstrakt wirkte. Große Schaufenster die ein Einblick ins Innere gewährten, aber durch Stahlgitter gesichert waren, damit dort nichts ungebeten eindringen konnte. Ein Anblick den man heutzutage überall auf den Straßen sah. Es waren halt sehr unsichere Zeiten und an ihrem Rückzugsort wollten auch Venatoren sich sicher fühlen. „Na dann sollten wir uns mal vorstellen gehen.“

Reese' Begeisterung schien keine Grenzen zu kennen. Wäre das Gebäude nicht nur zwanzig Meter entfernt, hätte er wohl wieder nach seinem Laster gegriffen. So schob er nur die Hände in seine Taschen und begleitete mich zum Haupteingang.

Da er bis heute nicht das Konzept eines Gentleman verstanden hatte und ich auch eine emanzipierte Frau war, war ich es die die gläserne Tür öffnete und uns hinein ließ. Eine angenehme Wärme und die Atmosphäre eines hochdekorierten Großraumbüros empfing uns. Teppich auf dem Boden, einzelne Bürokabinen, ein halbrunder Empfangstresen mit einer gutgekleideten Büroangestellten dahinter.

In der Luft lag das Klingeln von Telefonen, genau wie der Geruch nach Kaffee und einem Reinigungsmittel und die Leute in den einzelnen Zellen wirkten nicht, als seien sie Venatoren, eher Büroleute.

„Das ist nicht ganz das was ich erwartet habe“, bemerkte ich. Die Gilde war für mich immer ein wenig wild und unorthodox. Das hier erinnerte mich eher an eine Einrichtung der staatlichen Venatoren.

„Da scheint jemand in die richtigen Ärsche gekrochen zu sein, um den ganzen Firlefanz hier zu finanzieren.“

„Oder es gab einfach einen sehr dankbaren Kunden.“ Mein Blick schweifte nach links zur Wand, an der eine edle Holztafel mit hunderten von Namensplaketten hing. Immer zusammen mit zwei Daten. „Eine Ehrentafel“, murmelte ich.

Reese hatte nur einen kurzen Blick dafür übrig. „Ich werde mal herausfinden, wohin wir müssen.“ Damit marschierte er zum Empfangstresen.

Es war nicht so dass ihn sowas kalt lassen würde, oder es ihm egal war, er versuchte sowas einfach nur nicht an sich heran zu lassen. Der Beruf des Venators war einer der gefährlichsten der heutigen Zeit und die Lebenserwartung in diesem Job war leider nicht sehr hoch, wie diese Tafel sehr deutlich zeigte.

Ich trat näher heran und ließ meinen Blick über die einzelnen Namen wandern. Seit fast zwanzig Jahren gab es den Beruf des Venators nun schon und allein auf dieser Tafel wurden so viele von ihnen geehrt, dass man sich doch fragte, ob unsere Arbeit überhaupt etwas brachte, oder wir nur besseres Kanonenfutter waren. Das mussten sieben oder achthundert Namen darauf sein. Die Tafel war bald voll, dann würden sie eine neue aufhängen müssen.

Es war erschreckend das so bildhaft vor Augen zu haben.

„Also, wenn ich so ein Gesicht wie dieser Typ hätte, würde ich mich zu Hause verstecken.“

Verwundert drehte ich den Kopf, bis ich eine zierliche Blondine mit Riesenmöpsen neben mir bemerkte. Sie trug eine Jeans und ein doch recht tief ausgeschnittenes Top in schwarz. Ihre Haare trug sie zu einem Pferdeschwanz und sowohl ihre Waffen, als auch die lange Narbe auf ihrem rechten Oberarm verrieten mir, dass sie eine Venatorin sein musste.

Zuerst fragte ich mich, ob sie mit mir sprach. Da hier sonst niemand war, lautete die Antwort darauf wohl ja. Und dann bemerkte ich, dass sie Reese äußerst abfällig musterte.

„Und dann erst dieser Mantel. Was will er damit ausdrücken? Dass er ein echt harter Knochen ist?“ Sie schnaubte, als sei das völlig unvorstellbar. „Solche Loser sind meist die größten Weicheier.“

Diesen Mantel habe ich ihm geschenkt, du blöde Kuh! „Vielleicht will er darunter ja ein paar hässliche Narben verstecken, um die Menschen in seinem Umfeld nicht zu verschrecken.“

„Da könntest du Recht haben.“ Ihre Lippen verzogen sich zu einem süffisanten Lächeln, bevor sie ihre volle Aufmerksamkeit auf mich richtete. „Hi, ich bin Tiffany. Tiffany Sieger.“

„Grace.“ Ich drehte mich so weit herum, bis ich ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand. Sofort verrutschte ihr Lächeln ein wenig. Tja, das Andenken an meine Kindheit, eine lange Narbe die sich quer über meinen Mund zu meinem Kinn zog, hatte sie bisher scheinbar nicht bemerkt gehabt. „Vielleicht sollten wir uns alle Papiertüten über den Kopf ziehen. Hier will schließlich niemand dein empfindliches Feingefühl für Ästhetik besudeln.“

Ihr Mund blieb geschlossen. Es war nicht so, dass sie meinem Blick auswich, sie schien sich nur auf einmal nicht mehr ganz so wohl in ihrer Haut zu fühlen. Ja, sowas konnte durchaus passieren, wenn man in ein so großes Fettnäpfchen trat.

Auch ich sagte nichts weiter dazu, fixierte sie nur ein paar stumme Sekunden lang und ging dann an ihr vorbei zum Tresen hinüber, wo die Dame dahinter gerade mit jemanden telefonierte. Als ich mich neben Reese stellte, spürte ich ihren Blick im Rücken und als er dann auch noch ganz automatisch seinen Arm um meine Schultern legte, schaute ich mit einem Blick zu ihr zurück, der sie praktisch sofort in die Flucht schlug. Ja du zu klein geratene Barbiepuppe, das war mehr als nur ein Fettnäpfchen, in das du gerade gestolpert bist.

Die Frau in dem teuren Kostüm hinter dem Tresen beendete ihr Telefonat und lächelte Reese an. „Es kommt gleich jemand der Sie holen wird. Sie können so lange hier warten.“

„Danke.“ Er drehte den Kopf und musste wohl irgendwas an mir bemerken, denn er fragte mich ganz direkt: „Wer hat dir denn in die Suppe gespuckt?“

„Zwei Titten mit einer Gehirnzelle.“ Reese und ein Weichei. Das war echt der Witz des Jahres. So viel Oberflächlichkeit konnte nur von einer kleinen, arroganten Tussi kommen.

„Ich glaube dieser Ausflug tut dir nicht gut“, bemerkte er und griff nach seinen Zigaretten.

„Wir befinden und in einem öffentlichen Gebäude“, bemerkte ich, was mir einen sehr bösen Blick einbrachte. „Weißt du, dieses Problem könntest du ganz einfach umgehen.“

Genervt nahm Reese seinen Arm von meinen Schultern und lehnte sich mit dem Hintern an den Tresen. „Jetzt fang nicht schon wieder mit dem Schwachsinn an.“

„Warum nicht? E-Zigaretten sind verhältnismäßig nicht nur gesünder, sie sind auch billiger und es riecht besser. Außerdem kannst du da unter vielen verschiedenen Geschmacksrichtungen wählen.“

„Bist du jetzt fertig?“

„Nein, bin ich nicht, denn das ist noch nicht alles. Weitere Vorteile sind, dass nirgends mehr Zigarettenstummel und kalte Asche herumfliegen und du nicht mehr darauf achten musst immer ein funktionierendes Feuerzeug bei dir zu haben. Außerdem und wahrscheinlich am wichtigsten für dich: Das rauchen von E-Zigaretten ist in öffentlichen Gebäuden bisher noch nicht verboten. Und zu guter Letzt, würde ich dir sogar erlauben sie im Schlafzimmer zu rauchen. So, jetzt bin ich fertig.“

Mehrere Sekunden schaute er mich einfach nur an. Dann sagte er: „Entschuldigung, hast du gerade etwas gesagt? Ich habe nicht zugehört.“

Gereizt warf ich die Hände in die Luft, nur um sie einfach wieder fallen zu lassen. Warum regte ich mich eigentlich auf? Wenn er unbelehrbar bleiben wollte, war das schließlich nicht mein Problem. Ich brauchte keine Zigaretten, ich konnte auch gut ohne leben. „Vielleicht sollte ich dich ab sofort bei jedem Wetter zum Rauchen auf den Balkon schicken.“

„Wir haben keinen Balkon.“

„Ich weiß.“

Reese hob das Bein und stieß mir mahnend mit dem Knie gegen den Hintern. Ich gab ihm dafür einen Klaps auf den Arm, doch bevor wir richtig anfangen konnten uns zu prügeln – nicht das wir das jemals getan hätten – trat ein Mann Anfang dreißig zwischen den Bürokabinen hervor und kam lächelnd auf uns zu. Er trug eine Brille und hatte sein Haar so kurz geschnitten, dass ich nicht erkennen konnte, ob die Haare dunkelblond oder braun waren. Er schien einen leichten Haltungsfehler zu haben, den er lief ein wenig gebeugt, aber wow, die Muskeln die sich da unter seinem Pullover abzeichneten kamen sicher nicht vom Chillen auf der Couch.

„Hi.“ Er nickte mir zu und reichte Reese die Hand. „Ich bin Anton Faust und Sie müssen Reese Tack sein, der Venator von der Gilde in Berlin.“

„Einfach nur Tack.“

„Tack. Freut mich. Na dann kommen Sie mal, der Chef erwartet Sie schon.“ Er winkte uns hinter sich her und schlug den Weg ein, den er gerade erst gekommen war.

Ich kam mir schon ein kleinen wenig übergangen vor, besonders da wir ja eigentlich wegen mir hier waren, hielt es aber für besser unangebrachte Bemerkungen vorerst für mich zu behalten. Außerdem wusste ich noch nicht wie die Leute hier tickten und da war es sowieso besser sich erstmal ein wenig Zurückhaltung zu üben.

„Wir waren ein wenig überrascht gewesen diese Anfrage von der Gilde in Berlin zu bekommen“, bemerkte Anton, als er uns zwischen den einzelnen Kabinen hindurchführte. Es waren nicht annähend so viele wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte, vielleicht die Hälfte von dem was wir in Berlin hatten, dafür brauchten sie aber auch doppelt so viel Platz. Nun gut, es war auch ein Unterschied, ob man eine ganze Kabine zum Arbeiten bekam, oder nur einen Schreibtisch mit Stuhl. „Ich meine, diese Iubas sind zwar nicht alltäglich, aber eigentlich haben wir genug Leute, um so einen Transport zu begleiten.“

„Jilin hat Ihren Chef sicher über alles informiert, was Sie wissen müssen“, war Reese' einzige Reaktion darauf.

„Yeah“, machte der Kerl. „Ist schon seltsam, dass so eine Frau es nicht nur zum Meistervenator geschafft hat, sondern auch noch auf eine Chefposition.“

Warum bitte sagte er das jetzt in einem so unterschwelligen Ton? „Sie ist halt sehr gut in dem was sie tut.“

Er warf mir nur einen flüchtigen Blick zu. „Yeah, für manche Dinge sind Frauen wie geschaffen, von anderen jedoch sollten sie lieber ihre Finger lassen.“

Ach nö, nicht schon wieder so ein Kerl, der von Frauen in diesem Beruf absolut nichts hielt. Ich warnte Reese mit einem Blick davor, unangebrachte Kommentare laut auszusprechen. Zwar hatte er mittlerweile akzeptiert dass ich Venator und seit einigen Wochen sogar seine vollwertiger Partnerin war – und nicht mehr der kleine Azubi – aber das bedeutete nicht, dass er nicht hin und wieder ein paar Spitzen abschoss, die mich daran erinnerten, dass er trotz allem ein Blödmann war.

Anton brachte uns durch das Großraumbüro zu einem Korridor im hinteren Teil, der zu beiden Seiten verglast war. So konnte man sowohl einen Blick in die einzelnen Konferenzräume, als auch in die Büros werfen.

Mit jedem Schritt den wir tiefer in dieses Gemäuer vordrangen, hatte ich mehr und mehr das Gefühl mich in einer hochdekorierten Kanzlei zu befinden und nicht in einer Venatorengilde. Vielleicht lag das aber auch einfach nur daran, dass wir uns gerade im Verwaltungsgebäude befanden.

Etwa auf der Mitte des Korridors hielt Anton vor einem doppeltürigen Büro an und klopfte an der Glas, bevor er sie uns öffnete – noch so ein Unterschied, das Büro von Jilin stand immer offen.

Der Raum in den wir traten war recht groß und sehr hell. Es gab ein paar ordentliche Regale, die ein paar Bücher und Auszeichnungen beherbergten. Einen flachen Tisch mit einer edlen Couchgarnitur drumherum und einen so protzigen Schreibtisch, dass mir der Gedanke an Männer die etwas kompensieren mussten ganz von alleine kam.

„Schick“, murmelte ich Reese zu, als wir hinter Anton den Raum betraten.

Er zog nur die Nase kraus, das hier stank für ihn viel zu sehr nach Bürohengst. Und genauso sah auch der Mann hinter dem Schreibtisch aus. Er musste so Mitte fünfzig sein und der Dreiteiler den er trug spannte ein wenig um seine Bauchregion. Außerdem schien er an altersbedingtem Haarausfall zu leiden, aber er hatte ein nettes Grübchen am Kinn.

„Hey Paps, ich bringe dir den Venator aus Berlin.“

Paps? Hey, Moment mal, den Venator? Meinte er nicht vielleicht die Venatoren? Bisher hatte ich mich und Reese eigentlich immer als zwei einzelne Individuen betrachtet. Zusammengewachsen waren wir jedenfalls noch nicht – jedenfalls nicht dass ich es bemerkt hätte.

„Reese Tack“, der Mann auf dem pompösen Bürostuhl lehnte sich zurück und musterte seinen Besuch, wobei er mich nur kurz mit seinem Blick streifte und dann Reese anlächelte. „Diccon Faust. Angenehm.“ Er erhob sich und schüttelte über den Tisch hinweg Reese' Hand. „Frau Halco hat mir erzählt, Sie seien der beste Mann in ihrer Gilde.“

„Wenn man in diesem Job überleben will, muss man etwas leisten.“

„Da sagen Sie ein wahres Wort.“ Lächelnd ließ er sich zurück in seinen Stuhl sinken.

Okay, jetzt kam ich mir definitiv absichtlich übergangen vor und ganz ehrlich, das passte mir überhaupt nicht.

„Jilins Bitte hat mich ein wenig überrascht. Es ist nicht gerade üblich wegen eines vergleichbar einfachen Einsatzes Verstärkung von anderen Gilden zu bekommen.“

„Wir wollen nur sichergehen, dass die Iubas auch ohne Zwischenfälle an ihren Zielort gelangen“, bemerkte ich ein wenig spitz. Nun konnte er mich nicht mehr ignorieren. „Hi, scheinbar haben sie mich bisher nicht bemerkt, anders kann ich mir ihr unhöfliches Verhalten einfach nicht erklären. Ich bin Grace Shanks, Venatorin Grace Shanks.“

Den Blick den ich von Diccon Faust daraufhin bekam, konnte nur als herablassend gewertet werden. „Ja, sehr erfreut“, war alles was er zu mir sagte, bevor er sich wieder Reese zuwandte. „Gibt es Grund zur Annahme, dass es zu einem Zwischenfall kommen könnte?“

Warum bitte stellte er denn jetzt ihm die Frage?

„Nicht dass wir wüssten.“ Reese ließ die linke Hand wieder in seine Jackentasche gleiten. Ich wusste genau, dass er nun seine Zigarettenschachtel in der Hand hielt. Mir fiel aber auch auf, wie er mir aus dem Augenwinkel einen Blick zuwarf. „Aber man kann ja nie genug Leute haben, die sicher stellen, dass die Proles in Zukunft für niemanden mehr eine Gefahr darstellen.“

„Dem kann ich nicht widersprechen.“ Diccon tippte mit dem Finger auf den Tisch. „Nun gut. Der Transport fährt hier morgen früh um acht los, Treffpunkt ist am Eingang unserer Forschungseinrichtung. Aus organisatorischen Gründen sollten Sie und Ihr Mäuschen schon eine halbe Stunde früher kommen.“

Mäuschen? Mäuschen?! „Haben sie mich gerade wirklich als Mäuschen bezeichnet?“

Der Chef der Venatoren bedachte mich mit einem sehr überlegenen Blick. „Hör zu Kleines, ich weiß ja nicht wie das bei euch in Berlin läuft, aber kleine Mädchen wie du eines bist, sollten sich besser zurückhalten, wenn sie nicht gefragt werden.“

Oh ja, in diesem Moment stellten sich mir alle Stacheln auf. „Ich hab meine Ausbildung vielleicht erst vor ein paar Wochen abgeschlossen, aber ich zähle bereits jetzt zu den besten Venatoren unserer Gilde, also wagen Sie ja nicht noch einmal mich als Mäuschen zu bezeichnen.“

Sein Schnauben sollte mir wohl verdeutlichen, wie sehr er an meiner Aussage zweifelte. „Oh ich weiß, kleine Mädchen haben oft große Träume, aber jetzt unterhalten die Männer sich. Frauen sollten still sein, bis sie dazu aufgefordert werden den Mund zu öffnen.“

Das Reese sich mit einem Mal anspannte, überraschte mich nicht. Wenn er so mit mir sprach, war das für ihn in Ordnung – für ihn, nicht für mich. Wenn ein anderer so mit mir sprach – egal ob Mann oder Frau – bewegte er sich auf sehr dünnem Eis. „Sie sollten vorsichtig sein mit dem was Sie zu meiner Frau sagen.“

„Ihre Frau?“ Diccon Faust musterte mich mit neuem Interesse und blieb dann mit dem Blick kurz an meiner Hand hängen. „Verstehe“, murmelte er mit einem süffisanten Schmunzeln. „Aber Sie müssen doch selber zugeben, dass Frauen für den Beruf als Venator eher ungeeignet sind. Mann kann mit ihnen durchaus Spaß haben, aber sie sind besser als Sekretärin oder Zuhause in der heimatlichen Küche aufgehoben. Da kann ihnen wenigstens nicht passieren.“

„Meine Meinung spielt hier keine Rolle.“

Oh dieser Mistkerl. Jetzt hatte er ihm doch tatsächlich unterschwellig zugestimmt. Wären wir nicht als Vertreter einer anderen Gilde hier, hätte ich meinem Bedürfnis ihm gegen das Schienbein zu treten vielleicht nachgegeben. So aber durften wir uns keinen Ärger erlauben.

„Nein, wahrscheinlich tut sie das nicht“, stimmte der Blödmann Diccon dem Blödmann Reese zu. „Wir sollten zum eigentlichen Thema zurückkehren, immer vorausgesetzt, ihre kleine Elfe ist damit einverstanden.“

Oh, dieser … dieser … oh! „Ich warte besser draußen.“ Sonst konnte es durchaus passieren, dass ich hier gleich einen Mord begehen würde.

„Ja“, stimmte dieser chauvinistische Mistkerl mit zu. „Das wird wahrscheinlich wirklich das Beste sein.“

Wäre es mir möglich, hätte ich mit meinen Augen jetzt wohl ein paar Pfeile abgeschossen. So beschränkte ich mich auf ein finsteren Blick, der ihn in Angst und Schrecken versetzen sollte, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte wütend aus dem Büro. Dass ich die Tür nicht knallte, lag einzig und allein daran, dass das blöde Ding so einen Stopper hatte, der dafür sorgte, dass sie sich nur langsam schloss, dabei war mir in diesem Moment wirklich danach das Mistding zu zudonnern.

Frauen sollten still sein, wenn sie nicht zum Sprechen aufgefordert wurden? Aus welchem Jahrhundert stammte er denn?! Sowas war mir ja echt noch nie passiert und durch meinen Beruf kam ich ständig mit neuen Leuten in Kontakt.

Ach, was interessierte mich der Kerl überhaupt? Nach morgen müsste ich ihn nicht mehr wiedersehen und das war auch gut so. Frauen hatten still zu sein. Pah.

Grummeln lehnte ich mich mit verschränkten Armen an die Gegenüberliegende Wand und behielt die Idioten darin im Auge. Was auch immer sie darin besprachen, Diccon tat es mit einem Lächeln. Sein Sohn stand nur still daneben und nickte hin und wieder. Von Reese sah ich nur den Rücken, aber seiner Körperhaltung nach blieb er freundlich. Das war auch gut so.

Ich hatte einmal erlebt, wie er ausgerastet war, als einer der Praktikanten bei uns in der Gilde mir zum gefühlten hundertsten Mal an den Hintern gegrapscht hatte. Reese hatte vorher schon ein Gespräch mit ihm geführt, aber entweder hatte der Idiot geglaubt das seien nur leere Worte, oder er war einfach nur dumm gewesen Irgendwann war bei Reese jedenfalls eine Sicherung durchgebrannt und er war auf den kleine losgegangen, sodass drei Leute ihn von dem Lüstling wegzerren mussten. Nur mit viel Mühe und Not hatte Jilin es geschafft eine Anzeige wegen Körperverletzung abzuwenden.

In diesem Moment war mir zum ersten Mal klar geworden, wie extrem Reese' Beschützerinstinkt eigentlich war. Die meisten Menschen gingen ihm am Arsch vorbei. Einige unglückliche standen auf seiner Abschussliste und sollten sich bei ihm besser nichts erlauben, aber diejenigen die er liebte, schützte er – koste es was es wolle. Das war nicht unbedingt eine gute Eigenschaft.

Das war auch einer der Gründe, warum ich den Raum verlassen hatte. Reese konnte nett sein und sich benehmen, aber es gab bei ihm eine Grenze, die man nicht überschreiten sollte. Und auch wenn es edelmütig klang, dass er meine Ehre verteidigen würde, wenn dieser Diccon-Idiot mich weiter beleidigt hätte, nur weil ich eine Frau war, würde es sich doch nicht sehr gut machen, wenn Reese ihm dafür die Nase brach. Wie gesagt, wir waren Repräsentanten unserer Gilde und mussten uns auch dementsprechend verhalten.

Aber deswegen musste es mir noch lange nicht gefallen, wie der Chef dieser Gilde mit mir umgesprungen war und dass ich nun verärgert vor mich hingrübelnd Däumchen drehen musste, bis die Herren der Schöpfung miteinander fertig waren.

Als wir heute Vormittag aufgebrochen waren, hatte ich der ganzen Angelegenheit noch immer mit gemischten Gefühlen entgegen gesehen. Hier her zu fahren war schwerer gewesen, als ich mir das vorgestellt hatte. Es war für mich noch immer schwer zu verstehen, dass diese Iuba zu den Tieren gehören sollten, die meine Kindheit zerstört hatten. Wenigstens war ich nun nicht mehr ganz so unruhig wie bei der Abfahrt, dafür war ich viel zu sauer.

Leider änderte das nichts an meiner Situation. Ich stand trotzdem hier draußen und konnte nichts anderes tun, als die Herren hinter der Glaswand dabei zu beobachten, wie sie sich dazu beglückwünschten die Schöpfer der Welt zu sein.

Es dauerte noch mehrere Minuten, bis endlich ein bisschen Bewegung in die drei kam. Diccon erhob sich und reichte Reese ein weiteres Mal die Hand. Dann sagte er noch etwas zu seinem Muskelprotz … ähm, ich meinte natürlich, zu seinem Sohn. Erst dann wandte Reese sich ab und ging zusammen mit Anton auf die Tür zu.

Sein Blick fiel auf mich, noch bevor er die Klinke berührte und er wirkte nicht allzu zufrieden. Wenn er nicht bald eine Zigarette bekam, würde er sicher jemanden wehtun wollen.

Ich stieß mich von der Wand ab, als die beiden auf den Flur traten. „Na, ist die Männerrunde beendet?“

Reese warf mir einen gereizten Blick zu, aber ausnahmsweise war ich mal nicht dafür verantwortlich. „Ja Mäuschen. Komm, lauf drei Schritte hinter mir, wie es sich für eine gute Frau gehört. Und wenn du ganz artig bist, darfst du mir nachher sogar die Füße massieren.“

Anton runzelte die Stirn, enthielt sich aber jeglichen Kommentars. War wahrscheinlich auch besser so. „Zur Forschungseinrichtung geht es da entlang“, war alles was er sagte, bevor er wieder die Führung übernahm.

Ich schloss mich Reese an und nein, ich lief keine drei Schritte hinter ihm, ich griff sogar nach seiner Hand. „Was wollen wir in der Forschungseinrichtung?“

Statt sofort zu antworten, schaute Reese mich einen Moment prüfend an. „Die haben hier ein paar Schlafquartiere die wir heute Nacht beziehen können. Dann kann ich morgen früh wenigstens ein wenig länger schlafen.“

Er wich der Frage aus. Das war gar nicht gut, denn damit gab er mich auch gleichzeitig eine Antwort. „Wir gehen zu den Iubas.“

Mit einer Erwiderung ließ er sich Zeit. Ihm war klar, dass dieses Thema für mich ziemlich heikel war und darum öffnete er den Mund erst, als wir schon halb durch das Großraumbüro waren und ich nicht mal mehr mit einer Antwort rechnete. „Du solltest sie sehen, bevor wir morgen stundenlang mit ihnen in einem Transporter eingepfercht sind.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob das so einen großen Unterschied machen wird.“

„Glaub mir, das wird es.“

Vielleicht, vielleicht auch nicht, nur die Aussicht darauf sie jetzt gleich zu sehen zu bekommen, ließ die Anspannung in mir wieder steigen. Nicht nur wegen dem was sie getan hatten, sondern auch wegen dem für das sie standen. Eine zerrüttete Kindheit, Waise, der Beruf des Venators. Nur wegen diesen Proles war ich Venator geworden.

Als kleines Kind hatte ich immer Tierarzt werden wollen, oder vielleicht Schornsteinfeger. Schornsteinfeger brachten Glück und mir hatte der Gedanke Glück zu bringen gefallen. Natürlich war mir klar, dass das die Träume einer Sechsjährigen gewesen waren, aber ohne die damaligen Ereignisse, wäre ich heute nicht die die ich war.

Ich konnte nicht sagen ob das gut oder schlecht war, weil ich keine Ahnung hatte was für ein Mensch ich geworden wäre, wären die Dinge anderes gelaufen. Das einzig wirklich Positive am Verlauf der Geschehnisse, war Reese, denn sonst hätte ich ihn vermutlich niemals kennengelernt. Leider war der Preis dafür sehr hoch gewesen und hatte viele Leben beendet und zerstört.

Schweigend verließen wir hinter Anton den Verwaltungstrakt und marschierten quer über das Gelände zu einem weiter zurückgesetzten Gebäude, dass dem ersten sehr Ähnlich sah. Reese machte sich natürlich eine Zigarette an, kaum dass er im Freien war und nur daran dass er meine Hand dabei nicht losließ, erkannte ich, das seine Gedanken gerade bei mir und der bevorstehenden Begegnung waren. Wahrscheinlich befürchtete er dass ich ausflippen, oder versuchen würde die Viecher zu erschießen.

Leider musste ich zugeben, dass mir dieser Gedanke nicht fremd war. Ich hatte keine Ahnung wie es sein würde diesen Proles gegenüberzustehen. Vielleicht ließ es mich ja völlig kalt.

„Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du aufhören würdest mir meine Hand zu zerquetschen“, bemerkte Reese, als wir die Forschungseinrichtung erreichten. Er nahm noch einen letzten Zug von seiner Zigarette und schnippste sie dann einfach weg. Dabei beachtete er Antons Missbilligung gar nicht. Okay, damit war es wohl offiziell, Diccon und sein Sohn waren bei ihm unten durch – was auch immer Aton getan hatte.

Ich lockerte meinen Griff ein wenig. „Gestern noch rennst du todesmutig mitten auf eine Straße und heute bist du so zimperlich. Was ist passiert?“

Dafür gab es einen bösen Blick. „Ich bin ganz sicher nicht zimperlich“, erklärte er und betrat hinter unserem Führer das Gebäude.

„Wie würdest du es dann bezeichnen?“

„Am Überleben meiner Gliedmaßen interessiert.“

Ah ja. „Ich bleibe bei zimperlich.“

Auch der Eingangsbereich hier war ganz ähnlich wie im Verwaltungsgebäude aufgebaut. Es gab wider einen Empfangstresen mit einer netten Dame dahinter, aber statt einer Ehrentafel, waren die Wände hier mit Gemälden von Proles zugekleistert. Es war fast erschreckend, wie gut der Maler die Anmut und Schönheit dieser Tiere eingefangen hatte, gleichzeitig aber nichts von ihrer blutrünstigen Natur preis gab.

Diese Bilder waren eine einzige Lüge.

„Wir müssen hier lang“, erklärte Anton ohne die Frau am Empfangstresen überhaupt zu beachten und brachte uns zu einer Sicherheitsschleuse am Ende des Korridors, die sowohl mit einem Code, als auch mit einer Schlüsselkarte gesichert war. „Ich selber war dabei gewesen, als wir die Iubas gefangen haben. Es war mein Azubi, der die tätowierten Nummern gefunden hat.“

Joa, er war definitiv stolz. Ich konnte mir gerade noch so ein Schmunzeln verkneifen. „Wo wurden die Iubas den gefunden?“ Ja, ich hatte eine Akte zu dem Thema bekommen und das stand da sicher drinnen, aber auch wenn ich sie mehrmals zur Hand genommen hatte, so war ich einfach nicht fähig gewesen sie aufzuschlagen. Wahrscheinlich hatte ich einfach Angst vor dem gehabt, was ich im Inneren gefunden hätte.

Die Tür summte und Anton drückte sie auf. Dabei schaute er mich an als überlegte er, ob eine Antwort sich lohnen würde. „Im Wald- und Seengebiet. Es ist eigentlich ein Wunder, dass wir nicht schon früher über sie gestolpert sind. Unsere Leute vermuten, dass sie erst kürzlich hier her abgewandert sind und sich vorher in weniger dicht besiedeltem Gebieten aufgehalten hatten.“

Was wieder einmal für die hohe Intelligenz der Proles aus der ersten Generation sprach. Sie hatten die Gefahr die von den Menschen ausging erkannt und besaßen noch ihren Selbsterhaltungstrieb. Etwas das ihren Nachkommen völlig abging.

Intelligente Proles waren mir ein Graus. Eines von ihnen war gefährlicher als hundert von ihren Nachkommen, den sie konnten logisch denken und das war gefährlich. „Uns wurde gesagt, dass es ursprünglich vier Abkömmlinge waren. Das ist ziemlich klein für ein Iuba-Rudel. Sind sie sicher, dass da nicht noch mehr Tiere waren?“

Oh, wenn Blicke töten könnten. Warum waren die Leute hier nur alle so … na so halt? „Ich bin seit zehn Jahren Venator und dazu noch ein ausgesprochen guter Spurenleser. Wenn ich sage da waren nur vier Proles, dann ist das auch so.“

„Oh, jetzt bist du ihm auf den Schlips getreten, meine süße, kleine Elfe.“

Wirklich? „Wenn du damit nicht aufhörst, kannst du auf der Couch schlafen.“

„Du würdest mich im Bett vermissen.“

Wahrscheinlich, aber das musste ich ja nicht zugeben. „Ich werde mir einfach Cherry ins Bett holen. Die schnarcht mindestens genauso laut wie du.“

So wie er mich nun anguckte, war das wohl nicht das was er hatte hören wollen.

Gewonnen! „Und diese drei Iuba sind alle aus der ersten Generation“, führte ich das Gespräch fort.

„Nein.“ Anton warf einen Blick nach rechts in den Korridor, wo ich durch die Glaswände zwei Laboratorien sah, folgte dem Flur aber geradeaus weiter. „Drei der Iubas waren aus der ersten Generation. Einer von ihnen wurde auf der Jagd getötet, die beiden anderen befinden sich nun bei uns in Gewahrsam.“

Zwei? „Jilin hat von drei gesprochen.“ Oder hatte ich da etwas missverstanden?

Anton gab ein Geräusch von sich, dass mir wohl mitteilen sollte, wie sehr ihm meine Fragen ihn nervten – wahrscheinlich weil ich an seinen Fähigkeiten gezweifelt hatte. „Es sind zwei Rüden, den Blutuntersuchungen Zufolge Geschwister. Der dritte Iuba den wir eingefangen haben ist eine Hündin die nicht mit ihnen verwandt ist, die Gefährtin von einem der beiden. Historia will sie auch haben, wegen der Verhaltensforschung zwischen den Generationen und Geschlechtern.“

Leider brachte es immer sehr wenig zu wissen, wie Proles sich eigentlich verhalten sollten, weil sie es nicht taten, besonders wenn man darauf zählte. „Und der tote Iuba, was ist mit dem passiert?“

„Der geht auch nach Historia. Ein Rüde. Allerdings scheint er ein Sohn von einem der anderen zu sein.“

Ein Sohn? Dann stammte er aber nicht aus der ersten, sondern aus der zweiten Generation. Wenn er allerdings trotzdem tätowiert war, dann bedeutete das, dass auch er unter der Obhut von Doktor Christopher Krynick geboren worden war.

Das ergab keinen Sinn. Laut den geschichtlichen Aufzeichnungen hatte es in Doktor Krynicks Laboren nur die erste Generation gegeben, die er zur Forschung behalten hatte. Es war nichts darüber bekannt, dass er auch Proles gezüchtet hatte. Aber wenn er das doch getan hatte, dann wäre das ursprüngliche Ausmaß der Katastrophe viel größer, als wir bisher angenommen hatten.

Ich schaute zu Reese auf und so wie er die Stirn runzelte, gingen ihm wohl gerade ähnliche Gedanken durch den Kopf.

Mit einem „So, da wären wir“, blieb Anton vor einer gesicherten Tür stehen, die wieder einen Code und die Schlüsselkarte erforderten, um sie zu öffnen. Dieses Mal jedoch gab es keine Glaswände, die einen Blick in den Raum dahinter erlaubten. So musste ich warten bis die Tür summte und Anton sie aufdrückte, bevor ich erfuhr was mich dahinter erwartete.

Was mich in Empfang nahm, war ein steriler Raum mit langen Leuchtstoffröhren unter der Decke, die ihr kaltes Licht über den weißen, gefliesten Raum verteilten. Links gab es fünf große Zwinger mit Panzerglasfronten, die durch einen sehr breiten Gang von den etwas kleineren Käfigbatterien auf der anderen Seite getrennt waren. Die Käfige waren leer, aber aus den Zwingern konnte ich gedämpftes Knurren hören.

Auf dem Mittelgang stand ein hagerer Mann mit einem Servierwagen aus Edelstahl, der mit einem großen Bottich bestückt war. Sowas hatte ich schon lange nicht mehr gesehen, nicht mehr seit meiner Zeit auf der Beluosus Akademie, aber ich wusste was es bedeutete: Fütterungszeit.

Der Mann im weißen Laborkittel schaute bei unserem Eintritt auf. „Ah, Besuch“, begrüßte er uns mit einem Lächelen. „Hätte ich das gewusst, hätte ich für euch noch ein paar Kekse auf meinen Wagen gepackt.“

„Hallo Konrad. Wir wollen nur kurz die Iubas sehen.“

Ich hörte den beiden kaum zu. Mein Blick war auf den Insassen des ersten Zwingers gefallen, in dem ein Iuba mich geifernd anknurrte und dann frontal gegen das doppelt verbaute Panzerglas sprang.

Es musste daran liegen, dass ich genau wusste, wer diese Iubas waren und was sie getan hatten, denn ich wich einen Schritt zurück. Das war mir schon seit Jahren nicht mehr passiert und sobald ich es merkte, zwang ich mich auf der Stelle stehen zu bleiben. Aber es war für mich schon ein kleiner Schock, dass dieses Vieh mir eine solche Reaktion entlocken konnte. Man durfte vor Proles nicht zurückweichen – niemals.

Guck mal, Gracy, der lustige Hund. Ich habe ihn Plüsch genannt, weil er so plüschig aussieht.

Ich verkniff es mir Reese einen Blick zuzuwerfen, denn ich spürte auch so schon, wie genau er mich im Auge behielt. Okay, versuch das ganze Objektiv zu betrachten, das sind nur Proles. Für Gefühle war hier kein Platz und jetzt auszurasten würde einige Fragen aufwerfen. Aber ich konnte nichts dagegen machen, dass mein Herzschlag sich beim Anblick dieses Iubas beschleunigte und meine Hand rein aus Reflex zur Waffe an meiner Hüfte wanderte.

„Shanks“, mahnte Reese, der diese Bewegung sehr wohl mitbekam.

Ich zwang mich meine Hand wieder runter zu nehmen und einmal tief durchzuatmen. Der Iuba saß in einem Zwinger, er konnte mir nichts tun und wenn ich nach dem Aussehen ging, dann war das hier sowieso das Weibchen. Damit konnte sie gar nicht auf meinem Geburtstag gewesen sein. Weibliche Iubas hatten genauso wie ihre männlichen Gegenstücke eine Art Löwenmähne nur war die bei ihnen bei weitem nicht so ausgeprägt und viel dunkler als bei den Männchen.

„Das ist die Lady des Trios“, erklärte dieser Konrad und kam um den Wagen herum, um sich neben mich zu stellen. „Wir schätzen sie auf sechs bis sieben Jahre.“ Er beugte sich ein wenig vor und klopfte gegen das Glas, was zur folge hatte, dass sie versuchte ihn durch das Glas zu beißen, doch es gelang ihr gerade mal die Scheibe mit ihrem Geifer vollzusabbern. „Sie ist ein wenig launisch“, erklärte er mit einem Lächeln und steckte seine Hand in seine Labortasche. Als sie wieder zum Vorschein kam, hielt er etwas in der Hand das wohl ein Hundeleckerli war.

Er tat näher an das Glas heran und schubste das Leckerli durch eines der neun quadratisch angelegten Luftlöcher weiter oben im Glas.

Die Dame bekam davon nichts mit, bis es ihr auf den Kopf fiel. Sie wirbelte so schnell nach einem potenziellen Gegner herum, dass sie sich auch noch den Kopf am Glas stieß und bestimmt eine halbe Minute brauchte um zu kapieren, dass die einzige Gefahr in diesem Zwinger sie selber war.

„Komplett im Wahn“, erklärte Konrad, als die Hündin an dem Hundekeks roch und ihn dann eilig herunterschlang.

Der Wahn war das was die Proles dazu brachte, alles was sich bewegte anzugreifen – ja, manchmal sogar die eigene Familie. Er schaltete ihren Selbsterhaltungstrieb fast völlig aus. Selbst wenn sie schwer verletzt waren, griffen sie solange weiter an, bis sie nicht mehr konnten.

Die Wissenschaft hatte dafür bisher noch keine zufriedenstellende Erklärung gefunden, denn sie empfanden Schmerz und waren Geistig eigentlich auch gleichzustellen mit Tieren. Es war einfach, als wäre dieser Instinkt nicht wichtig, solange sie nur die anderen befriedigen konnten.

„Und jetzt passen Sie mal auf.“ Konrad ging einen Zwinger weiter, in dem sich einer der Rüden befand. Wie auch die Hündin stand er am Glas und knurrte drohend. Als Konrad mit den Knöcheln am Glas klopfte, zog er zwar die Lefzen ein wenig höher, bewegte sie aber nicht. Er starrte den Mann einfach nur an.

„Er weiß dass da Glas ist“, stellte ich erstaunt fest.

„Und er weiß auch, dass er mich nicht angreifen kann, solange ich auf dieser Seite des Zwingers stehe.“ Er fischte ein weiteres Hundeleckerli aus seiner Tasche und schob es wie gehabt wieder durch eines der Luftlöcher.

Der Iuba schaute genau dabei zu, wie das Leckerli vor ihm auf den Boden fiel, schnüffelte kurz daran und verschlang es. Dann starrte er den Mann wieder knurrend an.

„Wir haben beobachtet, wie er uns sein Bruder die Zwinger systematisch nach Schlupflöchern durchsucht haben. Der Andere hat sogar versucht die Verkleidung der Decke herunterzureißen. Ist einfach hochgesprungen und hat sich dort festgebissen. Hier, sehen Sie.“ Er trat einen Schritt zurück, um mir Platz zu machen.

Es war albern, aber bevor ich vor den letzten Zwinger trat, warf ich einen Blick zu Reese, einfach um sicherzugehen, dass er noch da war. Die Begegnung mit diesen Viechern machte mir wirklich mehr zu schaffen, als ich angenommen hatte.

Als ich einen Blick in den Zwinger warf, sah ich wie dort ein Teil der Verkleidung von der Decke gerissen worden war und nun war nichts als der blanke Stahlbeton übrig. Zum Glück waren in der Decke genau wie in den Wänden noch Stahlstreben verarbeitet worden, das war einfach Standard für Poles-Käfige. Hier würden die niemals alleine herauskommen.

Der Iuba-Rüde in dem Zwinger grollte mich leise an. Er saß halb geduckt mitten im Zwinger und sah aus, als wollte er jeden Moment losstürzen, doch genau wie sein Bruder bewegte er sich keinen Millimeter. Aber dieser hier hatte eine Besonderheit, etwas das ich bei einem Iuba noch nie gesehen hatte: Seine Mähne war komplett schwarz und nicht schwarz-grau gestreift, wie es üblich war. Und da war etwas, direkt über seinem rechten Ohr. „Was hat er da am Kopf?“

„Eine alte Schussverletzung. Dieser Iuba ist in seiner Vergangenheit auf jeden Fall mal mit einer Waffe in Kontakt gekommen.“

Leider hatte, wer auch immer da auf ihn geschossen hatte, nicht richtig gezielt. Ein Streifschuss, der höchstens die Schädeldecke berührt hatte, statt ihm das Hirn wegzupusten. „Diese Verletzung muss sehr alt sein.“

„Ja, das ist richtig. Ein paar Jahre schätze ich.“

„Fünfzehn Jahre.“ Es war nur ein Murmeln, ohne jeden Beweis. Der Iuba konnte sich diese Wunde sonst wann zugezogen haben, aber wenn er wirklich auf meinem sechsten Geburtstag gewesen war, stammte sie vielleicht von einem der Venatoren dort.

Konrad musterte mich kritisch. „Wie kommen sie auf fünfzehn?“

Ich schaute ihn nur kurz an, bevor ich meinen Blick wieder auf den Iuba richtete. „Nur so ein Gedanke“, sagte ich leise und fixierte den Proles. War er vielleicht wirklich dort gewesen? Hatte er meine Mutter getötet, oder meinen Vater? War er es gewesen, der die kleine Chiara ins Gebüsch gezerrt hatte, um ihrem Leben dort ein Ende zu setzten?

Auf einmal stellte der Iuba die Ohren auf und hob den Kopf, als hätte er etwas interessantes gehört. Er hörte sogar auf zu knurren und die Lefzen zu blecken. Seine Schnauze hob sich, als wollte er die Luft prüfen und dann machte er einen vorsichtigen Schritt auf das Glas zu. Nicht als wollte er angreifen, sondern als hätte etwas seine Neugierde geweckt.

Als er sich dann plötzlich am Glas aufstellte und die Nase an eines der kleinen Löcher drückte, kam ich gegen meine Instinkte nicht mehr an und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Ich hörte wie der Iuba schnüffelte und mich dann sehr interessiert anschaute. Er tat nichts anders, schaute mich einfach nur an. Naja, zumindest bis er ein leises Jaulen von sich gab und sich dann direkt vor der Glas setzte. Aber auch dann konnte er den Blick nicht von mir abwenden.

Die anderen beiden Iubas wurden mit einem Mal still, was uns dazu brachte uns unbehaglich umzuschauen.

„Erstaunlich.“ Konrads Blick ging von einem Zwinger zum anderen.

Erstaunlich? Mich machte das eigentlich nur nervös. „Was ist erstaunlich?“

„Ihr Verhalten.“ Er klang beinahe ehrfürchtig.

Ich verstand was er meinte. Ich hatte einen Proles auch noch nie so … naja, friedlich erlebt. Nicht das kleinste bisschen Aggression, zumindest nicht von dem Rüden mit der schwarzen Mähne. Die anderen beiden waren zwar auch ruhig, waren aber bei weitem nicht so entspannt. Wenn da nicht dieser Wahn in ihren gelben Augen gewesen wäre, hätten sie fast als normale Tiere durchgehen können.

„Sowas habe ich noch nie gesehen.“ Der Forscher schien richtig aufgeregt.

„Was hat das zu bedeuten?“ Ich wich noch einen Schritt zurück, was den Rüden dazu veranlasste näher an die Scheibe zu rutschen.

„Ich habe nicht die geringste Ahnung.“ Konrad machte einen Schritt vor den nächsten Zwinger und in dem Moment rastete der Iuba darin völlig aus. Wie schon vorhin die Hündin sprang er knurrend und Geifernd gegen das Glas, wobei er sich auf die Löcher konzentrierte, als hoffte er den Mann dadurch zu erwischen.

Konrad erschrak dabei so sehr, dass er rückwärts gegen seinen Wagen stolperte und fast noch den Bottich mit dem Futter runter warf. Nur weil Anton und Reese geistesgegenwärtig zugriffen, blieb er oben auf dem Wagen.

„Huh“, machte Konrad und begann nervös an seinem Kittel zu zupfe. „Damit hatte ich nicht gerechnet.“

Das hatte wahrscheinlich niemand. Dieses Verhalten war auch sehr sonderbar. Auch ich machten einen Schritt von den Zwingern weg. Diese Iubas waren unheimlich, irgendwas stimmte mit denen nicht, aber ich konnte nicht sagen, ob es daran lag, dass sie aus der ersten Generation stammten, oder nur etwas mit diesem Rudel zu tun hatte. Und jetzt sah der rechte wieder still und beobachtete mich so interessiert. Erkannte er mich vielleicht wieder? War er wirklich auf meinem Geburtstag gewesen? Aber das erklärte noch lange nicht sein vergleichbar ruhiges Verhalten.

„Ich denke, wir sollten die Besuchszeit jetzt beenden und den Proles wieder ein wenig Ruhe gönnen“, lächelte Konrad, schien mit den Gedanken gleichzeitig aber ganz woanders zu sein.

„Ja“, stimmte ich ihm nachdenklich zu, schaffte es aber nicht den Blick von dem Iuba abzuwenden. Wie er mich beobachtete, das war mehr als nur unheimlich, so als erwartete er irgendwas von mir. Doch mehr als eine Kugel im Kopf würde er von mir sicher nicht bekommen.

„Ich werde euch zeigen, wo ihr heute Nacht schlafen könnt“, erklärte Anton und drängte und praktisch aus dem Raum. Ihm schien das Verhalten der Proles noch viel mehr Unbehagen zu breiten als mir.

Reese legte mir eine Hand auf den Rücken und schob mich heraus, während ich die Arme vor der Brust verschränkte, als wäre mir kalt. Ich hatte gewusst, dass die Begegnung mit diesen Proles hart für mich werden würde, doch niemals hätte ich damit gerechnet. Das lag viel weniger an dem was sie in der Vergangenheit getan hatte, als viel mehr an ihrem Benehmen. Ich bekam diesen Blick einfach nicht aus dem Kopf.

Anton zog die Tür hinter uns wieder fest ins Schloss und versicherte sich zwei Mal, dass sie auch richtig verriegelt war, bevor er wieder die Führung übernahm. „Die Proles aus der ersten Generation sind schon ziemlich merkwürdig.“

„Sie sind anders“, stimmte Reese ihm zu.

Anders, ja, so könnte man es auch sehen. Allein bei dem Gedanken an sie fröstelte es mich. „Ich glaube du hattest recht“, sagte ich leise. „Also damit, dass ich sie vorher schon mal sehen sollte.“

„Ich habe immer recht, das solltest du langsam aber sicher wissen.“

Nein, dazu würde ich jetzt nichts sagen.

 

°°°

 

Kjell Dost. Achtzehn Jahre, zweier Notendurchschnitt. Eltern leben noch, keine Geschwister, war seit seinem zwölften Lebensjahr Mitglied in einem Kickboxverein.

Ich scrollte das Dokument auf meinem Laptop wieder nach oben zu seinem Foto. Joar, das sah man ihm auch an. Er erweckte nicht den Eindruck eines Profiwrestlers mit Muskelbergen, aber dass er Kampfsport betrieb, ließ sich nicht bestreiten. Aber viel mehr als sein Aussehen, interessierte mich sein psychisches Gutachten. Alle Venatoren hatten irgendeinen Knacks, das gehörte praktisch zur Stellenbeschreibung. „Jetzt ist nur noch die Frage, welche Leichen in deinem Keller hausen.“ Doch um die zu finden, musste ich noch zwei weitere Dokumente aus der aus der E-Mail öffnen, die mir Jilin heute morgen geschickt hatte.

Was ich hier las war die Bewerbungsakte von Kjell Dost, Reese' neuer Praktikant. Ich wusste schon seit dem Abschluss meiner Ausbildung, dass Jilin Reese mit dem nächsten Schwung an Nachwuchstalenten wieder einen Praktikanten an die Seite stellen wollte. Sie hatte mich zur Seite genommen und es mir gesagt, aus dem einfachen Grund, damit ich ihn sanft an diesen Gedanken heranführen sollte. Eigentlich bedeutete das nichts anderes, als dass sie es auf mich abgewälzt hatte, Reese diese Nachricht zu überbringen, wofür ich ihr noch immer dankbar war.

Leider hatte sich mir bis heute keine passende Gelegenheit geboten ihm diese Nachricht schonen beizubringen. Okay, ich war feige und schob es vor mich her, aber das war eigentlich kein Wunder, wenn m an bedachte, wie er damals auf mich reagiert hatte. Und jetzt hatte ich diese E-mail vor der Nase, in der sie mir nicht nur die Akte von diesem Kjell geschickt hatte, sondern mir auch noch mitteilte, dass es bereits in drei Tagen so weit war.

Ich war begeistert.

Natürlich war Reese bekannt, dass wir neue Praktikanten in der Gilde erwarteten, doch was er eben nicht wusste war die klitzekleine Kleinigkeit, dass Jilin von seiner Arbeit als Lehrcoach so begeistert war, dass sie sein Talent auch für zukünftige Venatoren nutzen wollte.

Eigentlich war das ja ein Kompliment, doch ich kannte Reese nun schon lange genug um zu wissen, dass er das niemals so sehen würde.

Manchmal war dieser Mann einfach nur anstrengend. Sein Glück, dass ich ihn liebte.

Ich setzte mich auf dem Bett in unserem Gästezimmer ein wenig bequemer hin und machte mich daran den Text zu studieren. Das Zimmer das man uns gegeben hatte, ähnelte einem kleinen Hotelzimmer. Es gab ein Doppelbett, einen Tisch mit zwei Stühlen und einen Schrank, falls man einen längeren Aufenthalt geplant hatte. Die Tür zu dem kleinen Badezimmer war geschlossen. Reese stand gerade unter der Dusche, was der einzige Grund war, warum ich es wagte dieses Dokument jetzt zu öffnen. Ich wusste noch immer nicht genau wie ich es ihm beibringen sollte. Vielleicht sollte ich ihn nächsten Diensttag einfach vor vollendete Tatsachen stellen? Anschreien konnte er mich dann schließlich immer noch.

Wahrscheinlich war das keine gute Idee, ich würde mir also etwas einfallen lassen müssen, aber nicht jetzt, jetzt erstmal weiter im Text: Das psychologische Gutachten.

Ich wollte gerade mit lesen beginnen, als sich plötzlich die Tür zum Bad öffnete und Reese mit nichts als einem Handtuch um die Hüfte in das Zimmer trat. Verdammt, ich war so in meine eigenen Gedanken vertieft gewesen, dass ich nicht mehr auf das Geräusch vom Wasser in der Dusche geachtet hatte.

Eigentlich war er ein ausgesprochen netter Anblick, auch mir der großflächigen Narbe, die sich rechtsseitig über seine Schulter, die Brust und den Oberarm ausbreitete. Seine Mutter Celina hatte ihn in seiner Kindheit mit einem Topf kochendheißem Wasser überschüttet. Die Spuren dieser Tat würde er für den Rest seines Lebens mit sich herumtragen. Im Moment jedoch erschreckte mich sein plötzliches Auftauchen einfach nur.

Reflexartig wollte ich den Laptop zuklappen, aber das wäre vielleicht ein wenig auffällig gewesen. Darum zwang ich mich ruhig zu bleiben und langsam nach dem Touchpad zu tasten. Einfach die einzelnen Fenster schließen, dann würde schon alles gut gehen.

Leider ging Reese nicht wie erhofft zu seiner Tasche, sondern kam direkt zum Bett, um sich auf der Bettkante für einen längeren Aufenthalt nieder zu lassen. Verdammt. „Du hast nicht geschlafen.“

Warum bitte klang das jetzt so vorwurfsvoll? „Das kannst du nur gemerkt haben, weil du selber nicht geschlafen hast.“ E-Mail schließen, Dokument schließen, nur keine hektischen Bewegungen.

„Bei deinem ständigen Seufzen und Herumwälzen, war das auch gar nicht möglich.“

Blödmann. „Ich habe mich nicht herumgewälzt und geseufzt.“

Als er auf einmal nach meinem Laptop griff, bekam ich fast einen Herzinfarkt, doch er klappte ihn nur zu, nahm ihn mir dann aus dem Schoß und stellte ihn außerhalb meiner Reichweite aufs Bett. Gott sei Dank. Hätte er gesehen was ich da gerade getan hatte, wäre es sicher ein lustiger Morgen geworden. „Du weißt dass du das nicht tun musst, oder?“, fragte er mich ganz direkt. „Noch kannst du zurück. Wenn du möchtest, steigen wir einfach ins Auto und fahren nach Hause. Du musst nur einen Ton sagen.“

Was? Was sollte das denn jetzt? „Wir haben schon zugesagt.“

„Und?“

Gut, das war in seinen Augen vielleicht wirklich kein Grund, aber das hier waren die Monster meiner Kindheit. „Ich kann nicht einfach nach Hause fahren. Ich bin es meinen Eltern schuldig, dass ich mitfahre und sicher gehe, dass diese Viecher sicher in Historia weggeschlossen werden.“

So wie er mich anschaute, war er da ganz anderer Meinung. „Deine Eltern sind tot Shanks, sie interessiert es nicht mehr was du machst und du bist ihnen nichts schuldig. Wenn du das hier machen willst, dann mach es für dich, aber versteck dich nicht hinter dem Andenken deiner Eltern. Das wäre einfach nur feige.“

Wie bitte?! „Ich verstecke mich hinter gar nichts und feige bin ich schon mal überhaupt nicht!“

„Das habe ich auch nicht behauptet, aber diese Geschichte belastet dich und es wäre einfach nur dumm dich dem Ganzen auszusetzen, wenn du es nur für ein paar Tote machen willst. Das hilf weder ihnen noch dir. Mach es für dich oder lass es.“

„Du hast doch keine Ahnung wovon du da sprichst“, knurrte ich und rutschte verärgert vom Bett. Was wusste er schon von Eltern? Seine Mutter war geistig verwirrt und lebte zur allgemeinen Sicherheit in einer geschlossenen Psychiatrie und sein Vater war ein frauenverprügelnder Mistkerl gewesen, der sie noch vor Nicks Geburt verlassen hatte. „Wenn du nicht mitkommen willst, dann fahr doch einfach wieder nach Hause, ich schaff das auch ohne dich.“

„Shanks …“

Was er sonst noch zu sagen hatte, hörte ich nicht mehr, denn ich stürmte ins Bad und schlug die Tür sehr nachdrücklich hinter mir zu. Ja ich schloss sogar ab, damit er gar nicht erst auf die Idee kam mir hinterherzulaufen und mich weiter mit seinem Blödsinn zu belästigen.

Natürlich musste ich das für meine Eltern machen, denn mehr Rache würden sie niemals bekommen. Sie waren gestorben, ich hatte überlebt, also war es meine Aufgabe ihr Andenken zu ehren und wenigstens ein kleinen wenig Genugtuung zu bekommen.

Für mich machen. Pah! Für mich brauchte ich das nicht, ich war noch am Leben. Es waren die anderen Menschen die ich schützen musste, deswegen war ich doch schließlich Venator.

Grummeln riss ich mir meine Schlafkleidung vom Leib und stieg unter die Dusche. Er war doch selber Venator und wusste wie es lief. Wir waren die Barrikade zwischen den Menschen und den Proles, wir schützen die Unschuldigen und meine Eltern waren unschuldig gewesen. Es war nur richtig, dass ich das hier für sie tat. Darum hatte ich doch auch immer so hart gearbeitet. Ich hatte immer eine der Besten werden wollen – für sie, damit sowas nie wieder passieren konnte.

Heute war ich gut, ich war sogar richtig gut, aber das reichte bei Weitem noch nicht aus. Es war nur ein Schritt auf meiner Reise und die Überführung der Iuba war ein weiterer. Damit konnte ich vielleicht die Schatten meiner Vergangenheit hinter mir lassen und die Schuld tilgen, die auf mir lastete. Nicht nur weil ich überlebt hatte und sie nicht, auch wegen dem was mit Onkel Roderick geschehen war.

Meine Lippen wurden eine Spur schmaler, als mich die damaligen Erinnerungen wieder einholten. Ich stand einfach nur unter dem warmen Strahl der Dusche und sah es genau vor mir, wie er in unserem Keller gelegen hatte. Tot und bewegungslos. Meine Schuld.

Ich hatte beide Unglücke unserer Familie überlebt und deswegen war es meine Aufgabe Buße zu tun und etwas aus meinem Leben zu machen. Na und? Dann fühlte ich mich eben unwohl bei dem Gedanken mehrere Stunden mit diesen Monstern in einen Transporter eingepfercht zu sein. Ich würde es überleben und dann konnte ich weitermachen.

Ich machte mich fertig, stieg aus der Dusche und stellte mich vor den Spiegel. Das Glas war beschlagen, weswegen ich es erstmal mit der Hand abwichen musste, dann schaute mir mein eigenes Spiegelbild tropfnass entgegen.

Meine Haare waren lang, rot und reichten mir mittlerweile bis auf den Rücken. Sie waren ein starker Kontrast zu meinem dunkelgrünen Augen, doch wenn man mich ansah, bemerkte man weder das eine, noch das andere. Die Blicke der Leute fielen immer zuerst auf die lange Narbe, die quer über meinen Mund bis hinunter zu meinem Kinn verlief. Ein Andenken an meinem sechsten Geburtstag, der mich jeden Tag aufs neue daran erinnerte, was vor fünfzehn Jahren geschehen war.

Mein Hals wurde von einer Proles-Kralle an einem einfachen Lederband geziert. Die Kralle hatte dem unbekannten Proles gehört, dass ich bei meinem allerersten Auftrag für die Gilde gejagt hatte. Es war eine Geschenk von Reese zu meinem bestandenen Praktikum gewesen. Heute jedoch trug ich sie als Mahnung an die Ereignisse, die darauf gefolgt waren. Sowas durfte mir nie wieder passieren.

Ich selber war ein schlank und ein wenig sehnig. Leider wirkte sich das auch auf meine Brust aus. Es passte eigentlich zu mir, ein gutes B-Körbchen, aber ein wenig mehr würde mich auch nicht stören. Leider ließ sich das nicht ändern. Nun gut, wenn ich es wirklich darauf anlegen würde, könnte man das durchaus ändern, aber das war etwas, das für mich nicht infrage kam. So dringend wollte ich dann doch kein Doppel D Wunder werden.

Oh Mann, was ich da schon wieder dachte.

Über mich selber den Kopf schüttelnd griff ich nach dem Handtuch und begann mich abzutrocken. Als ich zehn Minuten später aus dem Bad kam, war mein Ärger ein wenig abgeebbt. Ich wusste ja das Reese sich nur Sorgen machte und mir auf seine Art irgendwie helfen wollte, nur das er völlig auf den Holzweg war. Trotzdem konnte ich es nicht lassen ihm einen bösen Blick zuzuwerfen, als ich in ein Handtuch gewickelt aus dem Badezimmer kam und direkt zu meiner Tasche ging, um mir ein paar Klamotten herauszusuchen.

Er selber war schon angezogen. Jeans und ein schwarzer Rollkragenpullover. Ja selbst seine Ausrüstung hatte er bereits angelegt, die Waffe im Schulterholster und das große Jagdmesser griffbereit in der Beinscheide. Er saß wieder auf der Bettkante und beachtete mich still dabei, wie ich mich anzog. Eine schwarze Jeans und ein eng anliegendes und langärmliges Shirt.

Das trug ich nicht um meine nicht vorhandenen Kurven zu betonen, sondern weil ich vor ungefähr einem Jahr sehr schmerzhaft hatte feststellen müssen, dass weite und lockere Kleidung bei der Hatz sehr hinderlich sein konnten.

Reese und ich hatten einen Spuma am Rand der Außenbezirke gejagt und das blöde Vieh war in einen Garten gerannt. Ich hatte natürlich versucht ihm auf den Fersen zu bleiben und war dabei mit meinem Shirt an einer herausragenden Verzierung des Zauns hängen geblieben. Durch meinen eigenen Schwung war ich zurück gerissen worden und hatte mir beim Sturz den Kopf so heftig angeschlagen, dass es mit einem Besuch im Krankenhaus geendet hatte. Jede Menge Blut, Loch im Kopf und zwei Wochen aussetzen, bevor Jilin mir wieder die Erlaubnis gegeben hatte, zurück auf die Straße zu gehen.

Das war mir eine Lehre gewesen. Seit dem trug ich nur noch eng anliegende Kleidung. Ja selbst meinen Arbeitsbag hatte ich eingemottet. Die Ausrüstung blieb nun im Wagen bis sie gebraucht wurde. Das einzige was mit mir immer raus auf die Jagd ging, waren meine M19, die Standardwaffe für jeden Venator, und meine beiden Jagdmesser. Ein langes und wirklich scharfes Bowie-Messer und mein schwarzes Delux Outdoor Survival Jagdmesser mit der Sägeklinge auf der Rückseite, um beim Zustechen den größtmöglichen Schaden anzurichten. Sie war ein Geschenk von Reese gewesen.

Ich nahm meine Ausrüstung, legte sie neben Reese ins Bett und begann wie immer damit das Waffenholster an meinem Gürtel zu befestigen. Dann begann ich meine M19 zu überprüfen. Zwar gingen wir nicht auf die Jagd, aber man sollte immer für alles gewappnet sein und die Pflege der eigenen Waffe konnte über Leben und Tod entscheiden.

Ich war gerade dabei das Magazin zu überprüfen, als ich Reese' Hand an meinem Oberschenkel fühlte. Verwundert was er da trieb, drehte ich den Kopf und stellte fest, dass er mir bereits die lederne Beinscheide meines Bowie-Messer ans Bein schnallte. O-kay.

„Du musst doch einsehen, dass ich recht habe“, sagte er und überprüfte zwei Mal, ob das Beinholster auch richtig saß, bevor er die Klinge in die Scheide schob. „Diese Sache hier ist deine geistige Gesundheit nicht wert.“

Damit spielte er auf die Monate nach den Ereignissen mit Taid an. Ich war nicht selten Nachts mit einem Schrei aus dem Schlaf gefahren und hatte ihn dabei halb zu Tode erschreckt. Wobei es weniger die Monster waren, die mich durch meine Alpträume gejagt hatten, sonder die Menschen die dabei gestorben waren.

„Mir geht es gut.“ Ich verstaute die Waffe an meiner Hüfte und wollte schon nach dem anderen Messer greifen, aber Reese war schneller. Er drehte mich einfach ein Stück, bis ich so zu ihm stand, dass er auch die zweite Beinscheide anbringen konnte.

„Ja und wie gut es dir geht. Noch ein bisschen mehr und dir würden Einhörner aus dem Arsch kriechen.“

„Ich komme klar.“

Er zog die zweite Scheide fest, kontrollierte ob sie auch richtig saß und steckte das Jagdmesser hinein. „Ja, das merke ich. Deswegen benimmst du dich auch so sonderbar, seit Jilin dir von den Iubas erzählt hat.“

„Ich benehme mich nicht sonderbar.“

„Du hast seit zwei Tagen keine Nacht mehr durchgeschlafen und bist ständig so in Gedanken versunken, dass du kaum noch etwas um dich herum mitbekommst. Weißt du warum ich gestern schon so früh her wollte? Weil ich Angst hatte, dass dir etwas passiert, wenn wir vorher noch jagen gehen. Du bist momentan einfach nicht bei der Sache und das nur wegen diesen Viechern.“

„Du redest Unfug.“

„Unfug?“ Er klang ein wenig ungläubig. „Jetzt hör mir mal gut zu, Shanks. Diese Proles waren die letzten fünfzehn Jahre ohne dein Wissen am Leben und wenn sie die Möglichkeit haben, werden sie es auch die nächsten fünfzehn Jahre noch sein. Es macht weder für sie, noch für deine toten Eltern einen Unterschied, ob du diesen Transport begleitest und damit wieder Alpträume heraufbeschwörst, aber für dich macht es das. Du kannst auch weitermachen, ohne dich noch tiefer in die Sache zu stürzen.“

„Ich kann es nur noch mal sagen, mir geht es gut.“ Damit wollte ich mich von ihm abwenden, einfach weil ich keine Lust mehr hatte mit ihm darüber zu diskutieren, doch ich kam nicht mal vom Fleck, so plötzlich hielt er mich am Bein fest.

„Hör auf mich für dumm zu verkaufen, dir geht es nicht gut. Ich habe deine Reaktion gestern bei den Iuba gesehen. Was ich vorher allerdings noch nie gesehen habe, ist, wie du vor einem Proles aus Angst zurückweichst.“

Ihm war es also aufgefallen. Das war nicht gut. „Ich hatte keine Angst.“

„Ja ist klar, du bist die Allergrößte und ich leide unter Wahnvorstellungen.“

Dafür gab es einen bösen Blick. „Wir können das ganze jetzt nicht einfach ablasen und nach Hause fahren, was macht denn das für einen Eindruck?“

„Es interessiert mich einen Dreck was das für einen Eindruck macht.“ Sein dunkler Blick war sehr eindringlich auf mich gerichtet. „Ich will dass du mir versprichst, dass du aufhörst, wenn es dir zu viel wird.“

„Du benimmst dich albern.“ Und ich hatte keine Lust mehr auf dieses Gespräch, doch als ich versuche mich von seinem Griff zu befreien, schob er die Hand einfach höher und fasste fester zu. „Lass mich los.“

„Versprich es mir“, forderte er und es war eindeutig, dass er keinen Millimeter nachgeben würde, solange er nicht hatte was er wollte. Notfalls würde er mich wohl auch ans Bett binden und sich auf mich drauf setzen, nur um seinen Willen zu bekommen.

Das war sowas von albern, aber wenn wir hier noch lange diskutierten, würden wir zu spät kommen, oder die Abfahrt sogar ganz verpassen und das ging mir gegen den Strich. Darum gab es nur eine Möglichkeit das hier schnellstmöglich zu beenden. „Okay, meinetwegen, wenn es mir zu viel wird, sage ich dir Bescheid und dann fahren wir nach Hause. Zufrieden?“

Reese musterte mich äußerst kritisch, so als sei er sich nicht sicher, ob ich das nur sagte, weil er das hören wollte, oder weil ich es wirklich so meinte. Ehrlich gesagt war ich mir da selbst nicht so ganz sicher. „Nicht wirklich“, grummelte er dann und ließ mich endlich los, aber nur um sich vom Bett zu erheben und nach meinem Kinn zu greifen.

Er war einen ganzen Kopf größer als ich, darum musste ich den Blick heben, um ihm ins Gesicht schauen zu können.

„Halt dich an dein Versprechen“, forderte er mich auf und gab mir dann einen Kuss, der mich daran erinnerte, warum ich diesen Kerl trotz seiner Ecken und Kanten behalten wollte. Nur bei ihm konnte ich mich so fühlen, so sicher und geborgen und ja, auch geliebt. Nicht nur weil Reese alles war was mir noch geblieben, auch weil er alles war was ich wollte.

Würden wir nicht so unter Zeitdruck stehen, hätte die die Sache hier und jetzt ein wenig vertieft, einfach weil ich es liebte ihn zu küssen und ja, auch andere Sachen zu tun. Aber wenn wir damit jetzt richtig anfingen, würden wir den Transport auf jeden Fall verpassen. Deswegen wehrte ich mich auch nicht dagegen, als er den Kuss mit einem zarten Streicheln seiner Lippen über meiner Narbe beendete und mein Kinn wieder freigab.

„Wenn du mich verarschst, kannst du was erleben.“

„Droh mir nicht.“

„Das war keine Drohung, das war ein Versprechen.“ Er fixierte mich einen Augenblick, ließ mich dann aber einfach stehen, um seine Sachen zusammenzupacken.

Auch ich machte mich über die wenigen Habseligkeiten her, die ich seit unserer gestrigen Ankunft im Zimmer verteilt hatte. Meinen Laptop schaltete ich so aus, dass er keinen Blick auf den Bildschirm bekam – das mit dem Praktikanten musste ich ihm im Augenblick nicht wirklich auf die Nase binden. Morgen würde ich das machen. Nein, morgen hatten wir Familientag, was bedeutete, dass wir sowohl Nick im Krankenhaus, als auch Celina in der Anstalt besuchen würden. Das war für Reese immer sehr anstrengend, da brauchte ich ihm nicht noch mit zusätzlichem Kram belasten. Dann eben Montag. Aber Montag wirklich, denn Dienstag fingen die neuen Praktikanten ja schon in der Gilde an. Ja, das war ein guter Plan.

Zufrieden mit dieser Lösung steckte ich mein Notebook zu den anderen Sachen in meine Tasche und verließ dann zusammen mit Reese das Gästezimmer im Besucherzentrum. Den Schlüssel gaben wir bei der Frau am Empfangstresen ab – ja, auch dieses Gebäude hatten einen – und unsere Taschen verstauten wir anschließend bei uns im Wagen. Erst als das erledigt war, machten wir uns auf den Weg zum Haupteingang der Forschungseinrichtung, wo ich schon von Weitem drei große, schwarze Transporter vor dem Gebäude stehen sah.

Zwischen den Wagen standen und liefen ein paar Leute umher. Das mussten dann wohl die Venatoren sein, die den Transport begleiten würden. „Das sind ganz schön viele“, bemerkte ich beim Nährkommen. Mehr als ich vermutet hätte.

Reese blies den Rauch in seinem Mund aus. „Die werden vermutlich nur beim Verladen helfen.“

Ich zog den Reißverschluss meines Parkars ein wenig höher und versteckte meine Hände in den Jackenärmeln, während wir weiter auf die Leute zugingen. Heute morgen war es wirklich verdammt kalt. Ich hasste den Winter. Triefende Nasen, spröde Lippen und man begann schon zu freieren, wenn man nur aus dem Fenster schaute und den trüben Himmel sah.

Die Meisten der Venatoren die hier herumliefen kannte ich nicht, aber da war Anton mit einem Klemmbrett in der Hand, der sich mit mehreren Venatoren unterhielt. Darunter auch der blonde Giftzwerg von gestern. War ja irgendwie klar gewesen, dass ich der noch mal begegnen musste. Hoffentlich würden wir nicht im selben Transporter fahren müssen, das hätte mir zu meinem Glück gerade noch gefehlt.

Ich zeigte auf die Gruppe und als Reese nickend an seiner Zigarette zog, nahm ich direkt Kurs auf sie, doch schon nach einem Meter blieb ich stehen, denn in dem Moment wurde die Tür zur Forschungseinrichtung geöffnet und zwei Männer führten an langen Angeln einen der Iubas in ihrer Mitte aus dem Gebäude. Es war die Hündin.

Ich konnte nichts dagegen tun, das mein Herzschlag sich bei ihrem Anblick ein wenig beschleunigte und mein ganzer Körper sich anspannte.

Sie knurrte und sträubte sich gegen die beiden Angeln. Sie versuchte auch nach links zu beißen, aber die Angeln waren zwei Meter lang. Außerdem schien sie irgendwie benommen. Die Bewegungen waren schlingernd und unfokussiert und mehr als einmal knickten ihr die Beine weg. Wahrscheinlich hatte man ihr etwas zur Beruhigung gespritzt, oder etwas das sie betäubte, damit sie während der knapp vierstündigen Fahrt keine Randale machen konnte.

Die Anwesenden machten den Weg frei, behielten den Proles aber ganz genau im Auge, als die beiden Männer ihn an ihnen vorbeiführten. Ein dritte Mann ging zu einem der Wagen und öffnete die hinteren Türen. Darin war ein fest verbauter Stahlkäfig und da das Vieh zu benommen war um allein hinein zu hüpfen, wurde sogar eine Rampe an den Transporter gelehnt.

Mit Hilfe der Angeln schoben die Helfer den Iuba dort hinauf und auch wenn er versuchte sich zu wehren und um sich biss, saß das Vieh am Ende sicher weggeschlossen in dem Käfig. Zwar wurde noch immer geknurrt und in dem Versuch sich zu befreien stolperte der Proles über seine eigenen Pfoten und stieß sich dann auch noch den Kopf am Gitter, aber rauskommen würde er sicher nicht mehr.

Erst als die Türen zugeschlagen wurden und die Männer sich wieder auf den Weg ins Gebäude machten, um den nächsten Iuba zu holen, konnte ich mich wieder ein wenig entspannen.

„Komm.“ Reese legte mir eine Hand auf den unteren Rücken und schob ein wenig, damit ich mich wieder in Bewegung setzte. Wir mussten schließlich immer noch klären, wo genau wir hin sollten.

Mittlerweile hatte sich die Gruppe um Anton verstreut, nur er und die hole Blondine standen noch da und unterhielten sich. Wobei eigentlich sie sprach, er stand nur da und glotzte ihr in den Ausschnitt.

„… ihm gesagt er soll die verdammte RBL werfen, wenn er nicht möchte, dass ich ihm einen Tritt in den … oh“, unterbrach sie sich, als ihr Blick auf uns fiel. „Unsere Helden aus der Hauptstadt sind eingetroffen. Dann kann ja jetzt nichts mehr schief gehen.“

Was bitte hatte sie eigentlich für ein Problem? Na warte, ich kann auch Gift versprühen, wenn ich es darauf anlege. „Reese, darf ich dir vorstellen? Das ist eine sehr oberflächliche Titte. Huch, Entschuldigung, mein Fehler, ich meine natürlich Tiffany. Die Worte sind sich so ähnlich. Titte, Tiffany.“ Ich verzog das Gesicht, bis ich wohl geistig nicht mehr zurechnungsfähig aussah. „Also noch mal: Das ist eine sehr oberflächliche Tiffany und sie hält dich für ein Weichei.“ Ja ich gebe es ja zu, Reese hatte mit den Jahren ein kleinen wenig auf mich abgefärbt.

Tiffany funkelte mich verärgert an.

„Wenigstens hat sie Titten“, ließ Anton verlauten, als glaubte er für sie in die Bresche springen zu müssen.

Die hatte ich auch, nur sprengten die weder meine Bluse, noch musste ich sie jedem unter die Nase halten. Blödmann. „Ja, das kannst du natürlich seht gut beurteilen, da dein Blick beim Reden von einem Dekolleté zum nächsten wandert. Was machst du wenn du dich mit Reese unterhalten willst?“ Ich drehte mich halb zu ihm herum und begann unter dem offenen Mantel seine Brust abzutasten. Er blieb einfach stoisch stehen und sog seelenruhig an seiner Zigarette, während er sich wahrscheinlich frage, was zur Hölle ich hier trieb. „Nein, kein Dekolleté vorhanden. Tut mir leid Schatz, da muss er wohl mit deinem Hintern vorlieb nehmen.“

Tiffany stieß eine Lachen aus, machte den Mund dann aber ganz schnell wieder zu und schaute dezent in eine anderen Richtung. Na sieh mal einer an, das Busenwunder hatte Sinn für Humor.

Anton dagegen schien das nicht sehr lustig zu finden. Ein Muskel an seinem Auge zuckte unheilverkündend.

Die Tür zur Forschungseinrichtung ging wieder auf und der zweite Iuba wurde herausgeführt. Es war der, der die Deckenverkleidung in seinem Zwinger heruntergeholt und mich so komisch angeschaut hatte. Heute war er trotz der Beruhigungsmittel nicht so handzahm wie gestern. Er warf sich immer wieder knurrend in die Angeln, knurrte und zerrte daran und als das nicht funktionierte, verbiss er sich in die rechte Angel und versuchte sie dem Mann aus den Händen zu reißen. Wäre er wegen des Medikaments nicht so geschwächt, wäre ihm das vielleicht sogar gelungen.

Mich fröstelte es bei dem Anblick, zeigte es doch nur wieder, wie intelligent die erste Generation war. Statt auf den Menschen loszugehen, versuchte er ihm sein Instrument wegzunehmen. Kein Wunder dass die Venatoren damals solche Schwierigkeiten hatten Herr der Lage zu werden.

„Wo müssen wir hin?“, fragte Reese und lenkte damit nicht nur mich von dem Proles ab.

Der Sohn des Chefs warf mir noch einen bösen Blick zu, wobei er mir betont nichts auf die Brust schaute. „Ihr fahrt bei mir im zweiten Wagen mit. Hinten beim Käfig.“ Damit auch ja keine Verwechslungen aufkommen konnte, zeigte er auch noch auf den Wagen den er meinte. Es war der, in den man gerade mit einiger Anstrengung den Iuba zerrte.

Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit. Es gab hier drei Transporter, warum musste ich ausgerechnet in den einzigen steigen, bei dem ein Gedanke schon reichte um für eine Gensehhaut zu sorgen?

„Ihr könnt schon mal Einsteigen, Abfahrt ist in einer viertel Stunde.“ Er schaute einen Moment dabei zu, wie die Männer den widerspenstigen Iuba in den Käfig verstauten und schüttelte den Kopf, als sich einer dabei den Ellenbogen stieß. „Wenn ihr mich dann noch einen Moment entschuldigt, ich muss die anderen noch einweisen.“

„Wir werden schon nicht weglaufen.“ Reese nahm noch einen letzten Zug von seiner Zigarette und ließ sie dann einfach auf den Boden fallen, um sie mit dem Schuh auszutreten.

So wie Anton ihn anschaute, würde es ihn sicher nicht stören, wenn wir genau das tun würden. Er sparte sich seine Worte jedoch und ging einfach zu zwei Männern weiter hinten.

Während Tiffany ihm hinterher schaute, begann sie leise den Soundtrack vom weißen Hai zu summen.

Nun war es an mir zu schmunzeln.

„Du solltest besser nett zu Anton sein“, sagte sie und nahm mich scharf ins Auge. „Sonst läuft er zu seinem Daddy.“

Nein, dieser Gedanke war nicht sehr gruselig. „Euer Chef kann mich sowieso nicht besonders leiden.“

„Oh, da täuschst du dich. Diccon mag alle Frauen, solange sie nur nach seiner Pfeife tanzen. Oder er zumindest glaubt sie würden es tun.“ Sie steckte ihre Hände in ihre Jackentaschen und schlenderte davon.

Vielleicht lag es daran, dass das hier nicht meine Gilde war, aber wenn ich ehrlich war, fand ich die Venatoren hier irgendwie seltsam. „Ich glaub ich bin froh, wenn wir wieder Zuhause sind.“

„War das eine Aufforderung?“

„Nein.“ Ich schaute zu dem zweiten Transporter. Die hinteren Türen waren nun wieder fest verschlossen, doch ich musste den Iuba nicht sehen, um zu wissen, dass er dort drin war. Wenigstens machte er nicht so viel Randale wie die Hündin, bei ihr wackelte der ganze Wagen. „Komm, lass uns schon mal einsteigen.“

„Du kannst es wohl kaum erwarten, mit dem Vieh auf sechs Quadratmeter eingepfercht zu sein.“

Ich konnte mir bei weitem Schöneres vorstellen, aber früher oder später musste ich sowieso in den Transporter, also warum das ganze noch lange hinauszögern.

Als wir uns in Bewegung setzten, fiel Reese' Blick einen Moment auf Tiffany, die gerade über die Seitentür in ein anderes Fahrzeug stieg. „Hätte ich so eine Show wie du abgezogen, dürfte ich mir von dir jetzt wieder einen Vortrag über Benehmen anhören.“

„Nein“, widersprach ich. „Hättest du das abgezogen, wäre das sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz gewesen.“

Er schnaubte, enthielt sich aber jeglichen Kommentars. Dafür überholte er mich aber und öffnete die Seitentür des Transporters, der eigens für diesen Auftrag aus Historia geschickt worden war. Ein großes H prangte an der Seite, in dessen Querstrich noch einmal das Wort Historia abgedruckt worden waren. Das Emblem der größten Forschungseinrichtung hier in Europa.

Sobald die Tür offen war, konnte ich von drinnen ein sehr durchdringendes Knurren hören. Reese stieg direkt in den Wagen, aber ich zögerte. Irgendwas an dem Emblem störte mich. Da war ein H mit einem Schriftzug im Querbalken, alles korrekt. Hm. Ach, wahrscheinlich fror mir bei der Kälte nur langsam das Hirn ein.

Über mich selber den Kopf schüttelnd folgte ich Reese in den Wagen. Er war ziemlich geräumig. Knapp vier Quadratmeter an den Hecktüren wurden von dem stabilen Stahlkäfig eingenommen. Direkt gegenüber war eine gepolsterte Sitzbank befestigt. Reese hatte sich bereits in der Ecke unter das Fenster hingesetzt und lieferte sich mit dem Iuba einen Starrwettbewerb.

Als ich in den Wagen kletterte, erstarb das Knurren augenblicklich. Der Iuba drehte den Kopf, nahm meine Witterung auf und stellte dann die Ohren auf. Wie er mich anstarrte … es war beängstigend. In die Augen eines Proles zu sehen und den Wahn darin zu erblicken war, als würde man sich im Auge eines Wirbelsturms befinden. Der Wahnsinn tobte um einen herum, es gab kein Entkommen und ein falscher Schritt reichte und alles konnte vorbei sein.

Es war wirklich gut, dass zwischen ihm und mir ein Stahlgitter war, doch gegen das unangenehme Gefühl konnte ich nichts ausrichten.

Als ich mich wachsam neben Reese auf die Bank setzte, folgten die Augen des Iubas jeder meiner Bewegungen. Nicht als bereite er sich auf einen Angriff vor, eher so als sei er neugierig. Das war ein richtig eigenartiges Gefühl und ausgesprochen seltsam. „Glaubst du, er erkennt mich? Also von meinem Geburtstag?“

Diese Frage brachte mir eine hochgezogene Augenbraue ein. „Deinem sechsten? Wohl kaum.“

„Aber warum benimmt er sich denn so seltsam?“

Als würde der Iuba die Frage als Aufforderung sehen, ließ er wieder diesen seltsamen Laut hören, den er auch gestern schon ausgestoßen hatte.

Reese' Antwort bestand aus einem Schulterzucken. „Über die Proles der ersten Generation ist wenig bis gar nichts bekannt. Selbst die Tiere aus einem einzigen Wurf sind untereinander so unterschiedlich, dass man sie schon als Unikat bezeichnen könnte und nur schwer Schlüsse auf ihr Verhalten ziehen kann.“

Das wusste ich, aber leider lieferte es mir keine Erklärung für das Verhalten dieses Iubas und je länger dieses Vieh mich anstarrte, desto größer wurde das Bedürfnis meine Waffe zu ziehen und es einfach abzuknallen – und das alles schon bevor wir überhaupt losgefahren waren.

Vielleicht hatte Reese recht gehabt, vielleicht war das doch keine so gute Idee gewesen mitzufahren, aber ich musste das machen und es waren ja nur ein paar Stunden, das würde ich schon schaffen. Doch die Zeit bis endlich Bewegung auf dem Vorplatz kam und die anderen Venatoren zusammen mit den Fahrern in die Transporter stiegen, schien sich eine Ewigkeit hinzuziehen. Erst als Anton an unseren Wagen kam und die Seitentür mit einem bösen Blick in meine Richtung zuschlug, wusste ich das es endlich losging.

Ein mir unbekannter Mann kletterte mit einem Lächeln auf den Fahrersitz und nickte uns durch die gläserne Trennwand hindurch zu. Anton nahm auf dem Beifahrersitz platz, doch seine Stimme drang nur gedämpft zu uns nach hinten.

Ich dagegen schaffte es nicht den Iuba aus den Augen zu lassen. Jetzt wo die Seitentür zu war, hatte ich plötzlich das Gefühl mit diesem Vieh auf engstem Raum eingepfercht zu sein – was ja auch so war. Als Reese mir dann plötzlich eine Hand aufs Bein legte, zuckte ich nicht zusammen, nein, das war schon ein richtiger Hüpfer den ich da machte.

„Soll ich dazu jetzt irgendwas sagen?“

Ich funkelte ihn warnend an. „Dazu besteht kein Grund.“

„Wie du meinst.“ Er schob das kleine Fenster auf, holte seine Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an, gerade als er Fahrer den Motor startete. Das hatte zur Folge, dass nun der Iuba in seinem Käfig einen kleinen Hüpfer machte und sich nervös umschaute, als der Wagen sich in Bewegung setzte. Er knurrte den Boden an, die Wände und versuchte ein paar Mal in den Käfig zu beißen, stellte dann aber wohl fest, dass das für seine Zähne nicht sehr gut war, denn er zog sich knurrend in die Ecke zurück.

Während wir vom Geländer der Gilde herunterfuhren, rauchte Reese völlig entspannt seine Zigarette, ich allerdings schaffte es nicht mir klar zu machen, das mir hier keine Gefahr drohte. Immer wieder rieb ich meine Finger nervös aneinander und der Gedanke sicherheitshalber meine Waffe zur Hand zu nehmen, kam mir mehr als nur einmal.

Leider verstand ich die Notwendigkeit der Erforschung der Proles nur zu gut. Wenn man seinen Feind kannte, konnte man ihn besiegen – vielleicht. Obwohl ich manchmal der Meinung war, dass Historia nur ein Brunnen der falschen Hoffnung war, der niemals das gab was er versprach.

„Warst du schon mal in Historia?“, fragte ich leise. Es war besser sich abzulenken, als sich weiter zu fragen, warum das Vieh mich schon wieder so neugierig anstarrte, anstatt mir die Zähne zu zeigen und seinem Verlangen mich fressen zu wollen nachzugeben.

„Ein Mal.“ Reese schnippste seinen Zigarettenstummel aus dem Fenster und machte es sich in seiner Ecke dann so bequem, wie es ihm hier eben möglich war. „Damals, als ich noch an der Akademie war. Ein Ausflug im Rahmen der Ausbildung.“

Sowas hatten wir leider nie gemacht. Ich war ja auch auf einer anderen Akademie gewesen und da wurde das Thema Historia zwar behandelt, aber nur theoretisch. „Wie ist es da?“

„Hat ein bisschen was von einem Zoo.“ Reese drehte den Kopf so, dass er mich anschauen konnte. „Labore, Innen- und Außengehege. Wir durften zuschauen, wie ein Krant seziert wurde.“

Ein Krant war ein Ursus-Proles, ein Bärenabkömling, wobei sich das hier eher auf einen Waschbären bezog, als auf einen großen Grizzly. Ein Krant war nicht groß, aber sehr stämmig. Er hatte einen schmalen, schwarzen Schädel mit hornartigen Knochenauswüchsen am Hinterkopf, doch die schwarze Färbung wandelte sich über seinen Körper hinweg in von Rot zu Orange. Wegen dieser außergewöhnlichen Färbung, bezeichnete man ihn gerne als Sonnenuntergangstier oder Bote der Dämmerung. Dabei war er nichts weiter als ein Bote des Todes. „War sicher interessant.“

Er schnaubte. „Unser Machoman hat sich übergeben und Kira wollte die ganze Zeit nur …“ Er verstummte einen Moment. „Lernen“, beendete er dann den Satz.

Ich starrte ihn an.

Er starrte zurück.

Kira war seine Ex-Freundin und die Frau, die eine Zeitlang mein Lehrcoach gewesen war, weil man es damals für besser befunden hatte, wenn ich mein Praktikum bei den staatlichen Venatoren beendete. Sie mochte mich nicht, aber das war in Ordnung, denn dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit.

„Lernen“, wiederholte ich. „Ihr wart also Lernpartner.“ Wahrscheinlich hatte sie die ganze Zeit nur mit ihm in eine Ecke verschwinden und knutschen wollen – im besten Falle.

„Ja.“

So trocken wie er das sagte, konnte ich gar nicht anders als zu schmunzeln. „Dann sind wir beide also auch nur Lernpartner.“

„Wenn ich mich recht erinnere, hast du in den letzten Jahren eine Menge von mir gelernt.“

„Ich hoffe wir sprechen hier gerade über die Jagd.“

Dafür bekam ich eines von Reese' seltenen Lächeln. Naja, es war eher das Heben des Mundwinkels, aber auch das kam bei ihm nicht allzu oft vor. Schon in seiner Kindheit hatte Reese den Ernst des Lebens lernen müssen, nur war bei ihm nicht so wie bei mir die Proles-Plage daran schuld, sondern eine geistig verwirrte Mutter, die an starken Depressionen litt.

Und dann war da natürlich auch noch sein kleiner Bruder Niklas gewesen. Ja, Reese hatte schon sehr früh Verantwortung für Dinge übernehmen müssen, die eigentlich nicht auf den Schultern eines Kindes lasten sollten.

Bis wir aus der Stadt raus waren, verging mehr als eine halbe Stunde und auch wenn ich es nicht für möglich gehalten hatte, begann ich mich mit der Zeit ein wenig zu entspannen, obwohl es schon an meinem Nervenkostüm kratzte, den Iuba die ununterbrochen vor der Nase zu haben. Nicht nur wegen seines sonderbaren Verhaltens und der Tatsache, dass er einfach nicht den Blick von mir abwenden konnte, es war das wofür er stand. Angst, Schrecken, Verlust. Ein Leben getauft in Blut.

Um mich ein wenig abzulenken, zog ich mein Jagdmesser aus der Beinscheide und fing an damit herumzuspielen. Ich drehte es immer wieder zwischen den Händen hin und her und versuchte mir dabei nicht vorzustellen, wie ich ihm das Teil ins Herz rammte. Das war viel schwerer, als man glauben sollte.

Der Iuba schien die Bewegungen interessant zu finden. Er kam sogar nach vorne ans Gitter und schob seine Pfote zwischen den Stäben hindurch.

„Muss ich dich daran erinnern, dass der Iuba lebend in Historia ankommen soll?“, fragte Reese desinteressiert, als wir schon mehr als eine Stunde unterwegs waren.

„Keine Sorge, ich kann mich beherrschen.“ Und um meine Aussage zu verdeutlichen, steckte ich das Messer zurück an seinen angestammten Platz.

Der Wagen bremste ein wenig ab und dann wurde der Boden etwas unebener, sodass wir durchgeschüttelt wurden.

Reese warf einen genervten Blick durch die Trennscheibe und griff dann in seinem Mantel nach den Zigaretten. „Der Schwachkopf hat wohl in der Fahrschule gepennt.“

Als wir wieder mit viel zu hoher Geschwindigkeit über eine weitere Bodendelle fuhren, musste ich ihm zustimmen. Wo hatte der seinen Führerschein gemacht? In einem Crashkurs für Dummys? „Ist bestimmt nur schlechter Asphalt.“

„Das ist noch lange kein Grund wie eine besenkte Sau zu fahren.“ Missmutig steckte Reese sich eine Zigarette zwischen die Lippen und griff nach seinem Feuerzeug, während das Fahrzeug auf einmal langsamer wurde, bis es plötzlich ganz stehen blieb.

Nanu, was war denn jetzt los? „Wir können doch noch nicht da sein.“

„Nein, sind wir auch nicht“, sagte Reese mit einem Blick aus dem Fenster und griff dann nach der Trennscheibe, um sie runter zu schieben. „Warum haben wir gehalten?“

„Umgestürzter Baum“, sagte Anton genervt und stieg aus dem Wagen. Auch der Fahrer verließ seinen Platz.

Umgestürzter Baum? „Müssten wir uns nicht eigentlich auf der Autobahn befinden?“

„Kommt darauf an welche Strecke sie gewählt haben.“ Er warf noch einen Blick aus dem Fenster, bevor er sich seine Zigarette anzündete.

In dem Moment hörte ich lauten Rufe vor dem Wagen. Da brüllte jemand herum. Stritten die Männer sich? „Da liegt wohl zu viel Testosteron in der Luft.“

Reese öffnete den Mund für eine Erwiderung, doch in diesem Moment hörten wir einen lauten Knall.

„War das ein Schuss?“

„Hat sich auf jeden Fall wie einer angehört.“ Noch während er das sagte erhob er sich eilig und griff nach der Verrieglung der Tür, doch bevor er sie überhaupt berühren konnte, wurde sie bereits von außen aufgerissen und plötzlich hatten wir den Lauf einer Schrotflinte vor der Nase.

 

°°°°°

Kapitel 03

 

In der ersten Sekunde kapierte ich überhaupt nicht was los war. Warum sollte mir ausgerechnet jetzt jemand eine Waffe ins Gesicht halten? In der zweiten Sekunde war ich auch nicht viel schlauer, aber ich bemerkte die schwarze Skimaske und mir wurde klar, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte.

Unwillkürlich wich ich ein Stück zurück.

„Keine Bewegung, Hände hoch und aussteigen, dann wird niemanden etwas passieren!“

Ob ich ihn darauf hinweisen sollte, dass seine Forderung ein Widerspruch in sich war?

„Na los, wird es bald?! Raus aus dem verdammten Wagen!“

Wahrscheinlich eher nicht. Ich warf einen unsicheren Blick zu Reese, aber seine Aufmerksamkeit galt ganz dem Kerl mit der Flinte. Und dann hob er zu meiner Überraschung einfach so die Hände über den Kopf. „Was wollen Sie?“

„Das ihr endlich aus dem Wagen steigt, los jetzt!“

„In Ordnung, wir kommen raus.“ Vorsichtig und wachsam machte Reese einen Schritt nach vorne und achtete dabei sorgsam darauf, keine hektischen Bewegungen zu machen. Er ließ die Hände selbst oben, als er aus dem Wagen sprang und dann einen Schritt zur Seite wich um für mich Platz zu machen.

„Die Frau auch!“

Sollte ich nach meiner Waffe greifen? Verdammt, was wollte der Kerl nur? Und was war das da draußen für ein Gebrüll?

„Shanks, hör auf den netten Mann.“ Als Reese das sagte, war seine Stimme ein wenig angespannt. Er sah mich auch nicht an, sein Blick war auf etwas rechts vom Wagen gerichtet.

Oh Gott, was sollte der Mist? Ich fühlte mich nicht sehr gut, als ich die Hände über den Kopf hob und das hatte dieses Mal nichts mit dem Iuba zu tun, der mich noch immer beobachtete, doch nun knurrte er wieder leise. Ich konnte es ihm nicht verdenken, mich beunruhigte die Situation auch.

Mir hatte schon lange niemand mehr eine Waffe vor die Nase gehalten. Genaugenommen wurde ich in meinem ganzen Leben bisher nur ein einziges Mal mit einer Waffe bedroht. So hatte ich Niklas kennengelerntund. Auch schon damals hatte der Anblick mich so beunruhigt, dass ich praktisch erstarrt war. Wenigstens verfiel ich dieses Mal nicht wieder so in Panik. Was auch immer der Kerl wollte, es war wahrscheinlich wirklich am Besten, wenn ich einfach artig genau das tat was er von mir wollte. Also trat ich genau wie Reese nach vorne an die Kante und hüpfte dann nach draußen ins Freie.

„Los, darüber zu den anderen.“ Noch bevor ich überhaupt die Chance kam seiner Anweisung zu folgen, oder es schaffte mir ein Bild von der Situation zu machen, gab er mir schon einen Stoß gegen die Schulter, der mich fast ins stolpern brachte.

Reese verengte die Augen zu wütenden Schlitzen, griff aber nicht ein und als ich dann ein wütendes „Ja ich mach ja schon!“ von einem der Venatoren aus dem anderen Wagen hörte, wurde mir auch klar warum. Der Kerl mit der Flinte war nicht allein gekommen. Ein vierter schwarzer Van hatte sich zu den drei Transportern aus Historia gesellt und mindestens ein Dutzend maskierte Leute mitgebracht. Nein, Moment, der Kerl da mit der Knarre, der gerade Tiffany ihre Waffe abnahm und sie in seinen blauen Müllbeutel steckte, das war unser Fahrer.

Wir befanden uns auch nicht auf der Autobahn, oder überhaupt auf einer richtigen Straße, das hier war eine verlassene Landstraße, wo außer uns weit und breit keine Menschenseele zu sehen war.

„Was ist hier los?“

„Keine Fragen“, befahl der Mann und trieb uns näher zu den anderen Venatoran. Sie hatten alle aus den Wagen geholt und nahmen ihnen jetzt nicht nur ihre Waffen ab, sondern fesselten ihnen ihre Arme auch mit Kabelbindern auf den Rücken, bevor sie sie zwangen sich auf den Boden zu knien und ruhig zu sein.

Ein paar andere Maskierte überprüfte die Ladungen in den Transportern, woraufhin die Iubas anfingen zu knurren. Der Wagen in dem die Hündin begann sogar richtig zu wackeln, als versuchte sie sich wieder aus dem Käfig zu befreien.

„Wir müssen sie betäuben!“, rief ein eher großgewachsener Mann.

Ein anderer machte sich an den Türen der Transporter zuschaffen und begann das Historia-Emblem von den Türen zu entfernen, einfach indem er es wie einen Aufkleber abzog. Was zur Hölle …

Und dann wurde es mir klar: „Sie wollen die Iubas.“ Keine Ahnung was sie mir den Proles wollten, aber es bestand kein Zweifel.

Reese musste das in diesem Moment auch klar geworden sein.

„Kein Mucks, sonst könnt ihr etwas erleben!“, fauchte der Kerl mit der Flinte und schaute dem mit dem Müllbeutel entgegen. Er schien ziemlich nervös und sich in seiner Haut nicht ganz wohl zu fühlen.

Einen kurzen Moment war ich am überlegen, ob ich vielleicht trotz aller Warnungen nach meiner Waffe greifen sollte, aber das konnte ich genauso wenig wie die anderen Venatoren. Nicht weil man uns so genau im Auge behielt, das war nicht der Grund. Die Venatoren die den Transport begleiteten, waren nicht dafür ausgebildet ihre Ware unter allen Umständen zu beschützen. Wir waren dabei, um im Falle eines Notfalls eingreifen zu können und die Proles zu liquidieren, wenn die Umstände es erforderten. Aber jetzt sollten wir die Proles vor den Menschen schützen? Das konnte ich nicht. Das würde ich niemals können, ganz egal wie wertvoll diese Monster für Historia waren. Ich würde niemals das Leben eines Proles über das eines Menschen stellen. Wir waren Venatoren, keine Terrorristen.

Die Venatoren, die man bereits entwaffnet und gefesselt hatte, legte man nahe unüberlegte Handlungen zu unterlassen, während sie weiter mit Gewehren bedroht wurden.

Der Kerl mit der Mülltüte kam auf uns zu und wirkte dabei so bedrohlich, dass Reese sich ein Stück vor mich schob.

„Nix da!“, rief der Kerl mit der Flinte und schubste ihn wieder zur Seite.

„Ist schon gut“, sagte ich eilig, bevor der Reese noch etwas Unüberlegtes tat, wie zum Beispiel zurückzuschubsen. „Sie wollen uns nichts tun.“

„Hör auf die Frau.“

Deswegen musste Reese das ganze aber noch lange nicht gefallen. Besonders nicht als der Mann mit der Tüte ihm befahl die Arme auf den Rücken zu nehmen und sie dann mit einem Kabelbinder an den Handgelenken zusammenband.

„Große Venatoren“, spottete er dabei und suchte unter dem Mantel nach Reese' Waffe. Sobald er sie gefunden hatte, landete sie in der Mülltüte. „Alle schwer bewaffnet, doch feige wie Hühner, wenn sie nicht gerade unschuldige Wesen jagen.“ Auch sein Messer landete in der Tüte. „Los, runter auf die Knie und keine Bewegung.“

Reese tat genau das was sie von ihm erwarteten, schien es aber nicht gutzuheißen, dass der Kerl sich daraufhin mir zuwandte.

„Hände auf den Rücken.“

Wahrscheinlich war es einfach nur albern und ich war mir nicht sicher warum, aber allein der Gedanke zu tun was er von mir verlangte, ängstigte mich. Wenn sie mich gefesselt hatten und meine Waffen weg waren, dann wäre ich ihnen wehrlos ausgeliefert.

„Na wird es bald, oder muss ich nachhelfen?!“

„Ist schon gut, Shanks.“ Reese schaute mir eindringlich in die Augen. „Weißt du noch? Sie tun uns nichts.“

Dass er jetzt meine eigenen Worte gegen mich verwendete, machte die Situation nicht unbedingt besser, aber um heil aus dieser Sache herauszukommen, war es wohl das Beste, wenn ich einfach gehorchte. Darum nahm ich auch zögernd die Hände auf den Rücken, so sehr es mir auch widerstrebte.

„Na geht, doch, warum nicht gleich so?“

Da das wohl eine rhetorische Frage war, ließ ich den Mund geschlossen und hielt ganz still, als er mir die Handgelenke mit einem Kabelbinder zusammen surrte. Ich tat auch nichts, als er vor mich trat und den Reißverschluss meiner Jacke öffnete, obwohl mir doch sehr danach war, erst kraftvoll zu zutreten und dann schnell das Weite zu suchen. Das wurde auch nicht besser, als der Kerl damit begann unter meiner Jacke nach meiner Waffe zu suchen. Zum Glück schien er wirklich nur daran Interesse zu haben. Zwar streifte er mit seiner Hand kurz meine Seite, doch das schien eher Zufalle zu sein.

Ich erwiderte währenddessen Reese' Blick. Nicht nur, weil ich mich dadurch ein kleinen wenig besser fühlte, einfach weil ich mich damit versichern konnte, dass ich noch allein war, sondern auch um ihm deutlich zu machen, dass alles in Ordnung war – auch wenn es das eigentlich nicht war.

„Hast du sonst noch Waffen bei dir?“, fragte der Kerl, als er meine M19 in den Müllbeutel fallen lief und dann meine Jacke abtastete.

„Nur meine Messer. Beinscheiden.“

Er schob die Jacke zur Seite und fand als erstes das Bowie-Messer, doch bevor er danach greifen konnte, wurde seine Aufmerksamkeit genau wie die meine und vermutlich jedem anderen hier auf das plötzliche Geschrei vorne beim ersten Transporter aufmerksam.

Anton schrie einen der maskierten Kerle an und versuchte ihm sein Gewehr zu entreißen. Zwei weitere der Maskierten stürzten heran und plötzlich ging alles ganz schnell. Anton schaffte es seinem Gegner die Waffe aus der Hand zu reißen. Er drehte sich ein wenig und benutzte das Gewehr wie einen Knüppel. Der Griff traf den Maskierten und schlug ihn nieder. Er schaffte es auch noch einen zweiten Mann nieder zu schlagen.

Irgendjemand rief, dass Anton doch nicht dumm sein und aufhören sollte.

In die Maskierten kam Bewegung.

Der mit der Mülltüte fauchte irgendwas.

Gerade als ein weiterer Angreifer herangestürzt kam, riss Anton das Gewehr herum.

Mir war nicht ganz klar, ob er seine Gegner einfach nur auf Abstand halten wollte, oder vorhatte sie anzugreifen, doch genau in dem Moment warf einer der Maskierten sich auf seinen Rücken.

Ein Schuss knallte, Anton wurde zu Boden gerissen und das Gewehr rutschte ihm aus den Händen. Der Maskierte versetzte ihm einen Schlag ins Gesicht, doch da war noch ein anderes Geräusch, nur ganz leise. Ein Wimmern oder Quietschen, das mich dazu brachte den Kopf zu drehen.

Genau in diesem Augenblick rief einer der Venatoren panisch „Tiff!“ und machte mich so auf die blonde Venatorin aufmerksam.

Sie kniete nur ein paar Meter weiter auf dem Boden. Ihr Gesicht war eine Maske des Erstaunens und das hellgraue Top färbte sich direkt über ihrer Brust blutrot. Sie hob den Blick und öffnete den Mund als wollte sie noch etwas sagen, doch dann kippte sie einfach zur Seite und regte sich nicht mehr.

Einen Moment erstarrten nicht nur die Venatoren, sondern auch unsere Angreifer. Der Schuss der sich auf dem Gewehr gelöst hatte, hatte Tiffany getroffen. Anton hatte seine Kollegin erschossen.

„Nein!“, rief Anton, als ihm selber klar wurde, was genau da gerade passiert war.

„Oh mein Gott“, rief einer der Maskierten entsetzt. „Er hat sie erschossen.“

„Bleib ruhig“, sagte ein anderer.

„Ruhig bleiben? Da liegt eine verdammte Leiche!“

„Scheiße!“, knurrte der Mann mit der Mülltüte und versetzte mir einen Stoß, der mich ins Stolpern brachte. „Los, runter auf die Knie und keine Bewegung, verstanden?!“

Da die Maskierten mit einem mal ziemlich nervös waren, ließ ich mich so schnell auf die Knie fallen, dass mir ein ziehender Schmerz in die Beine schoss. Ich zische, wagte es aber nicht die Männer mit den Skimasken aus den Augen zu lassen.

„Fesselt ihn endlich und lasst uns dann hier verschwinden!“, rief der Mann mit der Flinte.

Der andere schnappte sich seine Mülltüte mit den Waffen, warf sie energisch auf die Ladefläche des Transporters und schlug die Tür zu. Das Emblem von Historia war nun komplett verschwunden, jetzt waren das nur noch drei schwarze Transporter.

Anton wurden die Arme auf den Rücken gezerrt. Die Maskierten stiegen nach und nach in die Transporter. Als der erste Motor gestartet wurde, ging mein Blick wieder zu Tiffany. Sie hatte sich nicht mehr bewegt, aber … war sie wirklich tot? Vielleicht hatte Anton sie nur schlimm verletzt. Wenn sie nur schnell genug Hilfe bekam, konnte man sie vielleicht noch retten. Doch solange diese Leute hier noch herumliefen, konnte ich nichts tun. Zwar war es Anton gewesen der geschossen hatte, aber ich wollte nichts riskieren. Die Leute hatten Waffen und waren mir einfach zu nervös. Darum konnte ich nichts anderes tun als unruhig zu warten, während die maskierten Kerle nach und nach in den Transportern verschwanden und dann einer nach dem anderen abfuhren.

Ich wartete gerade mal bis der letzte Wagen gewendet hatte und dann langsam beschleunigte, um den Anschluss an die anderen nicht zu verlieren, dann ging ich auch schon hoch auf die Knie und begann damit meine Arme über meinen Hinter zu ziehen.

Reese verstand natürlich sofort was ich vorhatte. Er hielt mich nicht auf, warf aber einen besorgten Blick hinter den Transportern her, aber die schienen kein Interesse daran zu haben sich noch einmal mit uns zu befassen. „Sie haben dir deine Messer gelassen.“

Gelassen war gut. In der Aufregung hatten sie vermutlich eher vergessen sie mir noch abzunehmen. „Ein Glück, das war immerhin ein Geschenk von dir.“ Es war nicht ganz einfach und ich musste mich ein wenig verrenken, aber ich bekam die Hände über meinen Hintern. Leider musste ich mich dann auf den Rücken fallen lassen, um meine Arme über meine Beine ziehen zu können. Es war wohl das erste Mal in meinem Leben, dass ich bemerkte, wie gelenkig ich war.

Sobald meine Hände endlich vorne waren, rollte ich mich auf die Beine und rannte unter den Augen der anderen Venatoren zu Tiffany hinüber. Ihre Augen waren halb geöffnet und vor ihr auf der Erde war ein großer, dunkler Fleck.

Eigentlich wusste ich schon das man ihr nicht mehr helfen konnte, aber ich musste einfach sicher gehen. Also ging ich neben ihr in die Knie, versuchte nicht auf das viele Blut zu achten und sucht an ihrem Hals nach einem Puls.

„Lebt sie noch?“, fragte ein etwas älterer Mann mit einem angegrauten Vollbart.

Zur Antwort drückte ich die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Die Kugel musste ihr Herz durchschlagen haben. Selbst wenn sofort ein Arzt zur Stelle gewesen wäre, hätte man sie vermutlich nicht mehr retten können.

„Scheiße!“ Der Mann drehte den Kopf und funkelte Anton wütend an, doch der schien das gar nicht zu peilen. Er starrte einfach nur dumpf vor sich hin, während Blut von seiner Lippe tropfte. Einer der Maskierten musste ihm in dem Gerangel ins Gesicht geschlagen haben.

Seufzend erhob ich mich wieder auf die Beine und zog mein Bowie-Messer aus seiner Beinscheide. Da es aber sehr umständlich wäre, mir selber die Kabelbinder damit aufzuschneiden, hockte ich mich damit hinter Reese und befreite als erstes ihn von seinen Fessel.

Sobald er frei war, rieb er sich einmal über die Handgelenke, nahm mir dann das Messer ab und schnitt mich los. „Befreie die anderen, ich rufe die Polizei an.“

Ich nickte. Der Anblick der Toten hatte mich nicht betäubt, durch meinen Beruf war ich es leider gewohnt immer mal wieder Leichen zu sehen, aber wenn ein Venator starb, traf es einen eben doch. Klar, Tiffany war eine oberflächliches Miststück gewesen, aber das hatte sie nicht verdient. Ihr Tod war einfach unnötig gewesen.

„Hey.“ Als ich mich wieder aufrichten wollte, griff Reese nach meinem Arm und hielt mich einen Moment fest. „Alles klar?“

Die Beste antworte wäre wohl ein einfaches Ja gewesen, aber ich schüttelte den Kopf. „Nein.“ Nicht nur wegen ihrem Tod. Diese ganze Aktion war so überflüssig und unlogisch, dass ich das alles erstmal ein wenig verarbeiten musste. Doch leider würde ich das hier sicher nicht schaffen.

„Mach dir klar, dass du es überstanden hast. Okay?“

„Okay.“

„Gut, dann schneit die anderen jetzt los.“

Und genau das tat ich dann auch. Während Reese sein Handy herausholte und sowohl die Polizei als auch den Notarzt alarmierte, ging ich von einem Venator zum anderen, um sie von den Kabelbindern zu befreien. Anton kam als letztes an die Reihe, einfach weil er am weitesten von den andren weg saß.

Er wirklte geschockt und schien es kaum zu merken, wie ich ihn losschnitt. Ich verstand ihn. Es war nicht so, dass er noch nie in seinem Leben eine Waffe abgefeuert hatte, oder ihm der Anblick von Leichen fremd waren. Selbst tote Kollegen musste er in seiner Zeit als Venator schon gesehen haben, aber es war wohl das erste Mal, dass er einen Menschen umgebracht hatte – ob nun mit Absicht, oder aus Versehen, spielte dabei keine Rolle. Tiffany war tot und es war seine Schuld.

Sobald alle befreit waren, tat sich das erste Problem auf, wir hatten absolut keine Ahnung wo genau wir waren und die Landstraße war so abgelegen, dass hier keine Wagen vorbei fuhren. Auch nach Schildern hielten wir vergebens Ausschau, sodass die Polizei uns am Ende über das Handynetz orten musste.

Bis die ersten Rettungskräfte eintrafen, vergingen noch mal zwanzig Minuten und dann verwandelte sich die Gedrückte Stimmung in ein heilloses Chaos. Nicht nur wegen der Aussagen, die die Polizisten aufnahmen, auch musste man erklären, wie es zu Tiffanys Tod gekommen war und was es mit den gestohlenen Transportern und Iubas auf sich hatte. Des Weiteren waren jetzt zwölf Dienstwaffen der Venatoren gestohlen worden und das war kein kleines Delikt.

Ich hatte das Gefühl es würden Stunden ins Land ziehen, bevor ich eine ruhige Minute für mich bekam und mich ein wenig an die Seite zurück zog, um nicht im Weg zu stehen. Tiffanys Leichnam hatte man schon eingeladen und die Venatoren aus ihrer Gilde standen alle betrübt zusammen und sprachen leise miteinander. Nur der ältere Mann mit dem Vollbart stand etwas abseits und telefonierte lautstark mit seinem Handy.

Reese stand rauchend bei einem der Polizisten. Ich wusste nicht was sie da besprachen und wenn ich ehrlich war, wollte ich das im Moment auch gar nicht wissen. Eigentlich wollte ich nur in unseren Wagen steigen und nach Hause fahren. Leider befand der sich noch auf dem Parkplatz der Potsdamer Gilde und solange man noch keinen Plan zu unserem Rücktransport gefasst hatte, saßen wir hier fest.

Eigentlich war vorgesehen gewesen, dass wir mit der Regionalbahn zurückfuhren, aber das hatte sich nach den Ereignissen wohl erledigt.

Jilin hatten wir bereits informiert. Zwar fiel das hier nicht in ihren Zuständigkeitsbereich, aber sie war noch immer der Boss und an Diccon wollten wir uns nicht wenden – der würde jetzt sowieso schon genug zu tun haben.

„Die verdammten Transporter kamen nichts aus Historia!“

Bei dem Ruf des alten Venators, wandte ich ihm den Kopf. Er hatte sein Telefonat beendet und steckte nun das Handy weg, nur was meinte er damit?

„Was soll das heißen, die kamen nicht aus Historia?“, frage ein blonder Venator und sprach damit genau ihren Gedanken aus.

Auch die anderen wandten sich ihm zu, als er sich zu ihrer Runde gesellte.

„Genau das was ich sage. Diccon hat mit Historia gesprochen und die sagen, sie hätten keine Wagen geschickt, weil Diccon den Termin auf morgen verschoben hätte. Er weiß jedoch von nichts.“

Das bedeutete, dass irgendjemand in Diccon Fausts Namen in Historia angerufen haben musste und die Überführung auf morgen verschoben hatte, damit er seine eigenen Wagen schicken konnte, um an die Iubas heranzukommen. Aber warum zur Hölle sollte jemand nur für ein paar Iubas ein so großes Unterfangen auf die Beine stellen?

Die Antwort auf diese Frage kam so plötzlich und klar, als wäre sie schon die ganze Zeit in ihrem Kopf gewesen.

„Das waren bestimmt diese Fanatiker von L.F.A.“, sagte der blonde Venator. „Nur sie können ein so großes Interesse an Proles haben, dass sie dafür sogar Menschenleben riskieren.“

Ja, genau dieser Gedanke war ihr auch gerade gekommen. Live for Animals. „Iubas aus der ersten Generation müssen für sie Diamanten sein.“

Bei meiner Bemerkung drehte der alter Venator mit dem Vollbart sich zu mir um. „Diamanten in einem Scheißhaufen“, stimmte er mir zu.

„Diese Wixer!“

Eine Berührung an meiner Hand machte mich darauf aufmerksam, dass Reese neben mich getreten war. Ausnahmsweise hatte er mal keine Zigarette in der Hand. „Hast du zugehört?“

„Hmh“, machte er grimmig und warf dann einen Blick zu Anton hinüber, der an einem der Polizeiwagen lehnte und sich sein Handy ans Ohr hielt. Zu sagen der Mann sehe fertig aus, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Er schien geradezu verzweifelt.

„Nimmt die Polizei ihn fest?“

„Im Moment nicht.“ Er strich mit der Hand meinen Jackenärmel hinauf, schlang dann den Arm um meine Schultern und zog mich an sich. „Das ist doch alles scheiße“, murmelte er und legte sein Kinn auf meinen Kopf.

Dem konnte ich nur schwer widersprechen. Nicht nur dass eine Venatorin gestorben waren, wir hatten auch noch die Iubas verloren.

Erst als ich das dachte, wurde mir plötzlich mit aller Mach bewusst, was das bedeutete. Die Iubas waren weg. Jemand hatte die Monster meiner Kindheit gestohlen. Was würde L.F.A. jetzt mit ihnen machen? Würden sie sie einfach irgendwo frei lassen, damit sie wieder morden konnten? Was sollten sie sonst mit den Viechern tun, als Haustiere konnten sie sie ja schließlich nicht halten.

„Was ist?“, fragte Reese, als er meine plötzliche Anspannung bemerkte.

„Ich habe versagt“, sagte ich leise und spürte erst als ich es aussprach die Last dieser Worte. Man hatte die Mörder meiner Eltern eingefangen und aus dem Verkehr gezogen, doch nun waren sie wieder fort und das obwohl ich extra mitgekommen war um sicherzustellen, dass sie für niemanden mehr eine Gefahr darstellten. „Ich hätte sie erschießen sollen, als ich die Chance dazu gehabt habe.“

 

°°°

 

Es war schon später Nachmittag, als Reese und ich zusammen mit all den anderen Venatoren nach Stunden mit den Rettungs- und Einsatzkräften, Verhören bei der Polizei und ein Check durch die Sanitäter endlich in einen gecharterten Bus gesetzt und zurück nach Potsdam gefahren wurden. Es war eine eher stille Fahrt. Die Stimmung war gedrückt und Gespräche wurden nur flüsternd geführt, daher war ich beinahe schon erleichtert, als wir endlich auf den Parkplatz der Gilde hielten und aussteigen konnten.

Ich war müde und fertig und wollte nichts lieber als mich Zuhause verstecken, um den Schrecken des Tages zu verarbeiten. Leider wurde uns, kaum das wir einen Fuß nach draußen gesetzt hatten, mitgeteilt, dass Diccon uns wegen des Vorfalls noch einmal sprechen wollte, bevor wir zurück nach Berlin fuhren.

Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen, aber besser jetzt, als dass wir in ein paar Tagen noch mal hier her beordert wurden.

Als ich neben Reese in das verglaste Büro trat, saß Diccon wie auch bei unserem letzten Treffen in einem feinen Zwirn hinter seinem Schreibtisch. Nur seine Frisur saß heute nicht so perfekt und der ordentliche Schreibtisch war über und über mit Papieren und Dokumenten übersät. Er wirkte auch ein wenig gestresst. Ja, nach der Sache mit den Transportern, kam jetzt wohl eine Menge Arbeit auf ihn zu.

Er blickte von dem Ordner in seiner Hand auf, als wir vor seinem Schreibtisch zum Stehen kamen.

„Sie wollten uns sprechen?“, war Reese' Begrüßung.

Ich blieb einfach stumm. Nicht weil ich eine Frau war, sondern einfach weil die Erschöpfung sich langsam aber sicher bis auf meiner Knochen fraß. Je schneller wir das hier hinter uns hatten, umso besser.

Diccon verweilte mit seinem Blick einen langem Moment auf mir, bevor er sich Reese zuwandte und ihn mindestens genauso lange anschaute, bevor er fragte: „Wie haben Sie das gemacht?“

Reese zog die Augenbrauen ein wenig zusammen. „Ich fürchte ich verstehe nicht was Sie damit meinen.“

Der Chef der Potsdamer Gilde musterte ihn lange und kritisch, dann lehnte er sich in seinem protzigem Chefsessel zurück und legte die Finger aneinander. „Wissen Sie was ein Transporter für Proles-Transporte kostet? Vom Käfig einmal abgesehen, müssen auch die Wände verstärkt sein. Es gibt noch ein paar andere Kleinigkeiten, die hinzu kommen, aber nur mal so grob geschätzt, was glauben Sie kostet so ein extra gesicherter Sprinter für Proles-Transporte?“

Was sollte das denn?

„Ich habe keine Ahnung.“

„Mehr als sich eine so kleine Tierschutzorganisation wie Live for Animals leisten kann“, erklärte Diccon. „Und wenn sie sich schon einen nicht leisten können, dann können sie sich erst recht keine drei leisten. Stimmen sie mir da zu?“

„Klingt logisch.“

Langsam wurde ich misstrauisch. Irgendwas war hier doch faul, warum sonst sollte der Mann ihnen eine so seltsame Frage stellen?

„Einige meine Leute vermuten dass L.F.A. für den Überfall verantwortlich ist und haben der Polizei ihre Vermutung auch mitgeteilt, ich jedoch habe eine ganz andere Theorie und das nicht nur, wegen dem Kostenfaktor, der so ein Unterfangen mit sich bringt. Da wäre auch noch die Frage nach dem Insiderwissen der Täter.“

„Insiderwissen?“, fragte ich. „Was denn für ein Insiderwissen?“ Was gab es denn schon so geheimes an der Überführung von ein paar Proles?

„Von der Existenz der Iubas einmal abgesehen, meinen Sie? Die Täter wussten wo diese Proles sich befinden, wer dafür zuständig war und auch an welchem Tag sie nach Historia gebracht werden sollten. Und das alles obwohl über diesem Fall nicht mal ein Artikel in der Zeitung erschien ist. Daraus folgt, dass jemand Internes über die Abläufe Bescheid wusste und das zu seinem eigenen Vorteil ausgenutzt hat. Er hat den Transporttermin verschoben und seine eigenen Wagen geschickt, um die Iubas in seinen Besitz zu bringen. Aber damit sind wir nicht nur bei Täuschung und Diebstahl, infolge dieser Tat ist auch noch eine gute Venatorin zu Tode gekommen, also gibt es auch noch den Tatbestand des Mordes, oder zumindest des Totschlags.“

Ich starrte ihn an. Er konnte nicht das meinen, was ich glaubte dass er meinte.

„Das klingt alles sehr logisch“, bemerkte Reese. Auch er war wachsam.

„Ja nicht? Darum frage ich Sie nun noch einmal: Wie haben Sie das gemacht? Oder vielleicht sollte ich besser fragen, für wen haben Sie das gemacht?“

„Wir? Sie glauben das wir dafür verantwortlich sind?“ Der hatte sie doch nicht mehr alle!

„Nein“, widersprach Reese mir. „Das glaubt er nicht, er sucht nur jemanden, dem er die Schuld in die Schuhe schieben kann. Dieser Transport lag in seiner Verantwortung und er hat es gründlich versaut. Jetzt sind nicht nur die Iubas weg, wegen der Fehlentscheidung seines Sohnes gibt es auch noch eine Tote. Natürlich versucht er jemand anderen dafür zur Verantwortung zu ziehen.“ Er fixierte Diccon mit einem äußerst herablassenden Blick. „Aber das können Sie vergessen. Wir lassen uns sicher nicht für das Versagen ihrer Leute verantwortlich machen. Schließlich war es Ihre Pflicht sich von der Richtigkeit der Transporter und der Fahrer zu versichern und es war Ihr Sohn, der glaubte den Helden spielen zu müssen.“

Diccons Gesicht wurde völlig ausdruckslos. Er senkte die Hand auf den Schreibtisch und tippte mit dem Finger ein paar Mal gedankenverloren auf die Unterlagen dort drauf. „Es gab hier nie Probleme, doch dann bitten Jilin Halco mich aus heiterem Himmel darum zwei ihrer Venatoren mit auf diesem Transport zu schicken, für den ich selber genug Venatoren habe. Aus reiner Gutmütigkeit und ohne wirklichen einen Grund zu wissen, stimme ich zu und plötzlich geht alles schief.“

„Machen sie jetzt auch noch Jilin dafür verantwortlich?“ Das wurde ja immer besser.

„Sie war es, die Sie beide zu mir geschickt hat.“

Das durfte doch wohl nicht wahr sein. „Der Grund warum wir hier sind, bin ich. Diese Iubas haben meine Eltern getötet und ich …“

„Shanks.“

„… musste einfach sicher gehen, dass diese Mistviecher auch sicher in Historia ankommen!“

Diccon zog eine Augenbraue nach oben. „Sie hatten ein persönliches Interesse an diesen Iubas? Das unterstützt meine Theorie sogar noch. Wenn diese Proles wirklich am Verlusst Ihrer Eltern schuld sind, muss es für Sie doch ein herber Schlag sein zu wissen, dass sie sicher und geschützt weiterleben dürfen. Vielleicht haben Sie die Iuba ja deswegen gestohlen.“

Hörte der Kerl sich beim Reden eigentlich selber zu? Eben noch hatte er verkündet, dass für diese Tat ein Haufen Geld nötig gewesen wäre. Wie bitte sollte ein einfacher Venator so viel Geld auftreiben? Das war nicht gerade ein sehr bereichernder Job. „Glauben Sie es oder lassen Sie es, aber ja, ich hätte diesen Viechern nur zu gerne eine Kugel in den Kopf gejagt, aber das ist gegen das Gesetz!“

„Na mit dem Gesetzt haben Sie es in der Vergangenheit ja auch nicht allzu genau genommen.“

Mein Mund klappte zu. Ich warf einen unsicheren Blick zu Reese hinüber, doch der hatte die Lippen fest aufeinander gedrückt und mahlte mit dem Kiefer, als versuchte er sich in Beherrschung zu üben.

„Ja, ich habe mich über Sie beide erkundigt. Daher war mir ja auch sofort klar, dass Sie beide dafür verantwortlich sind.“

„Ich kann Ihnen versichern, dass wir das nicht sind“, sagte Reese betont ruhig, doch das war nichts weiter als Fassade. Natürlich hatte auch er verstanden worauf Diccon hinaus wollte. Reese war ein verurteilter Verbrecher. Jeder der vor drei Jahren die Nachrichten verfolgt hatte wusste dass er damals vom Richter wegen des Verkaufs von Proles und der Mitwirkung und Teilnahme an Proles-Kämpfen verurteilt worden war. Der Fall war wegen der monströsen Kreaturen und der vielen Opfer die es gekostet hatte monatelang durch die Medien gegangen.

Reese hatte mildernden Umstände bekommen, weil er es nicht getan hatte um sich selber zu bereichern, doch so lange lag das noch gar nicht zurück. Die Bewährungsstrafe hatte erst vor ein paar Monaten geendet und noch heute wurden sowohl er, als auch ich immer mal wieder auf Taids Arena und seine verdammten Züchtungen angesprochen.

„Verbrecher geben ihre Taten nur selten freiwillig zu“, bemerkte Diccon. „Und ihre Vorgeschichte spricht nicht gerade für Sie, darum ist es meine Pflicht den Verband der Venatoren über meine Vermutung zu unterrichten, damit die entsprechenden Konsequenzen gezogen werden können.“

„Konsequenzen?“ Reese schnaubte abfällig. „Was glauben Sie erwarten Ihren Sohn für Konsequenzen? Es war seine Schuld, dass die Waffe losging und die Frau gestorben ist. Zehn Leute können das bezeugen. Und sobald der Verband davon erfährt, wird ihnen auch klar werden, was Sie hier für ein Spielchen treiben. Meine Vorgeschichte ist hier nicht von Belang, Sie haben Scheiße gebaut, genau wie Ihr Sohn und darüber kann auch diese billige Scharade nicht hinwegtäuschen.“

An Diccons Schläfe zuckte ein Muskel. „Nicht ich bin es der hier eine Scharade spielt. Wie ich bereits erklärt habe, habe ich Informationen über Sie und Ihren Fall eingeholt. Dabei sind mir die Gründe für ihr verhältnismäßig mildes Urteil aufgefallen. All ihre Taten waren nur zum Wohle ihrer Familie.“ Er sagte das geradezu höhnisch. „Der Mutter und des kleinen Bruders.“ Eine bedeutungsschwere Pause folgte und es wollte mir gar nicht gefallen, wie er Reese dabei fixierte. Was mir aber noch viel weniger gefiel war die Art wie Reese die Schultern anspannte. Es war nie eine gute Idee seine Familie zur Sprache zu bringen, besonders nicht in Verbindung mit einem so negativen Thema.

Diccon tippte wieder mit dem Finger auf seinen Unterlagen herum. „Wie ist es zu sehen, dass der eigene Bruder nicht mehr als eine atmende Leiche in einem Krankenhausbett ist und zu wissen, dass man selber daran schuld ist?“

Mir blieb nicht mal die Zeit vor Entsetzen den Mund zu öffnen. Reese stürzte einfach nach vorne und hätte das Arschloch wohl am Kragen gepackt und quer über den Schreibtisch gezogen, wenn Diccon noch im gleichen Moment geistesgegenwärtig vom Stuhl aufgesprungen wäre.

Ich schaffte es gerade noch mich vor Reese zu werfen und mich direkt vor ihm aufzubauen, bevor er einfach über den Schreibtisch setzte und dem Mistkerl einen schmerzhaften Fausthieb zu verpassen konnte. Natürlich wäre es Reese ein einfaches gewesen mich zur Seite zu schieben, ganz egal ob ich ihn sicherheitshalber am Mantel festhielt und für einen kurzen Moment glaubte ich dass er das auch wirklich tun würde.

„Nein“, sagte ich mit strenger Stimme und hoffte das noch genug Vernunft in seinem Kopf war, dass er sich von mir aufhalten ließ. Dabei zerrte ich an seinem Mantel, damit er mich anschaute. Das tat er nicht. Sein Blick war auf den Chef der Potsdamer Gilde gerichtet, als wolle er einen Mord begehen. „Reese, das ist er nicht wert. Lass uns einfach gehen.“

„Ja, hören Sie besser auf ihr kleines Mäuschen.“

Ich warf dem Mistkerl einen giftigen Blick zu. Er versuchte Reese mit voller Absicht zu reizen, um ihn zu einer unüberlegten Tat zu provozieren. „Komm, wir verschwinden hier.“ Ich versuchte ihn zur Tür zu schieben und einen Moment machte es den Eindruck, als würde Reese einfach darauf scheißen. Er war so wütend und als er die Hand hob und versuchte mich wegzuschieben, befürchtete ich schon das Schlimmste, doch er wirbelte einfach herum und marschierte mit zornigen Schritten aus dem Raum. Dass er die Tür dabei gegen die Wand knallte, war sicher kein Zufall.

Ich beeilte mich ihm auf den Fersen zu bleiben, doch kaum dass ich das Büro verlassen hatte, hörte ich Diccons Stimme noch einmal.

„Ich werde dafür sorgen, dass Sie beide für diese Sache zur Verantwortung gezogen werdet und dieses Mal kommt keiner von Ihnen so einfach davon!“

Einfach? Hatte dieses Arschloch überhaupt eine Ahnung was die damaligen Ereignisse für uns für Folgen hatten? Und ich sprach hier nicht von den gesetzlichen. Wir beide hatten damals so viel verloren, dass wir das nur überstehen konnten, weil wir einander hatten. Der Mistkerl hatte wahrscheinlich nicht mal den Hauch einer Ahnung von der tatsächlichen Vorkommnissen und trotzdem erdreistete er sich nun hier zu stehen, Drohungen auszustoßen und sich eine Meinung zu bilden? „Ich glaube mir ist in meinem ganzen Leben noch nie ein so armseliger Mann wie Sie begegnet.“

Ein Hauch von Wut zeichnete sich auf seinem Gesicht ab und er öffnete den Mund für eine Erwiderung, aber ich gab ihm keine Gelegenheit dazu. Es war nicht gut wenn ich Reese jetzt aus den Augen ließ, also ließ ich Diccon einfach stehen und lief ihm eilig hinterher.

Ich war vielleicht noch zehn Meter entfernt, als Reese in den nächsten Korridor abbog. Er kochte vor Wut, nicht nur wegen des unterschwelligen Vorwurfs in Diccons Worten, sondern weil er sich wegen Nick selber schon oft Vorwürfe gemacht hatte. Natürlich wusste er, dass er nichts für diesen Unfall konnte, aber Niklas war sein kleiner Bruder und schon als Kind hatte er sich geschworen immer auf ihn aufzupassen und ihn zu beschützen. Er fühlte sich einfach dafür verantwortlich und das belastete ihn.

Ein knapper Meter trennte mich noch von der Ecke, als ich auf einmal Reese' wütende Stimme durch den Korridor schallen hörte. Scheiße!

Ich rannte los, doch das was mich hinter der Kurve erwartete, war schlimmer als ich befürchtet hatte. Vier Leute standen auf dem Korridor. Zwei Frauen und teuren Kostümen, die erschrocken dabei zuschauten, wie Reese Anton brutal gegen die Wand drückte.

„Reese!“, rief ich sofort und eilte auf ihn zu.

„… ein Mann und über nimm die Verantwortung für deinen Scheiß!“, fauchte Reese dem anderen Mann ins Gesicht. „Wir sind nicht eure verdammten Sündenböcke und ich schwöre dass du es bereuen wirst, wenn …“

„Reese!“ Ich packte ihm am Arm und zerrte daran. „Lass ihn los, sofort!“

„… du das nicht in Ordnung bringst! Ich lasse nicht zu dass du und dein beschissener Vater alles kaputt macht, weil ihr zwei feige …“

„Verdammt, Reese!“ Ich versetzte ihm einen leichten Schubs und endlich schaute er mich an. „Bitte.“

Seine Lippen wurden schmaler. In seinen Augen loderte noch immer der Zorn, aber dann versetzte er Anton noch einen letzten Stoß und ließ von ihm ab. Als er dann herumwirbelte und davon stampfte, hielt ich mich weder damit auf die geschockten Damen zu beruhigen, noch auf den niedergeschlagenen Anton einzugehen. Ich heftete mich dich an Reese' Fersen, nicht bereit ihn auch nur noch einen Moment aus den Augen zu lassen.

Keine Ahnung ob er überhaupt merkte, dass ich hinter ihm war. Er stürmte einfach durch das Verwaltungsgebäude hinaus ins Freie und dann quer über die angelegten Wege und Wiesen zum Parkplatz. Das er sich dabei nicht mal eine Zigarette anzündete, machte mir wirklich Sorgen. Er griff immer zu seinen Glimmstängeln, egal in was für einer Situation.

Verdammt, der Scheiß den Diccon da von sich gegeben hatte, musste ihn schwerer getroffen haben, als mir klar war. Daher bekam ich auch fast einen Herzinfarkt, als er unseren Wagen fast erreicht hatte und noch während des Laufens die Autoschlüssel aus der Tasche zog.

Ich beschleunigte mein Tempo und erreichte das Auto genau in dem Moment, als er die Wagentür aufreißen wollte. Meine Hand schnellte nach vorne und der Spalt der bereits geöffnet war, schloss sich wieder.

Reese funkelte mich mit einem so mörderischen Blick an, dass ich wohl vor Angst geschlottert hätte, wenn ich jemand anderes gewesen wäre.

„So steigst du nicht ein“, sagte ich ihm ganz klar. „Entweder lässt du mich fahren, oder du beruhigst dich erstmal, so jedenfalls setzt du dich nicht hinter das Steuer.“ Meine Angst, dass er in diesem Zustand einen Unfall baute, war einfach viel zu groß, als dass ich das erlauben konnte.

Seine Augen wurden eine Spur schmaler, als er mich praktisch mit Blicken aufspießte und einen Moment schien es als wollte er einfach darauf scheißen, was ich sagte. Doch dann ließ er den Türgriff los und schlug mit beiden Fäusten einmal auf das Wagendach. „Scheiße!“, fluchte er und stützte verärgert die Arme in die Hüften. Er schloss die Augen, als wollte er sich so selber dazu bringen ruhiger zu werden, doch als er sich gleich darauf wieder öffnete, loderten sie noch immer vor Zorn.

„Reese“, sagte ich in dem Versuch ihn zu beruhigen und griff nach seinem Arm, doch jedes weitere Wort blieb mir im Halse stecken, denn plötzlich stand er vor mir, drückte mich mit dem Rücken gegen den Wagen und küsste mich einfach.

Ich wehrte mich nicht, als er auch noch eine Hand in meinen Nacken schob und mich festhielt, denn ich kannte das schon von ihm. Wenn er sauer war, schien es als müsste er seine wütende Energie in etwas Gutes umwandeln, damit er sich wieder beruhigen konnte. Vielleicht versuchte er sich aber auch nur abzulenken und von seinen schlechten Gedanken zu lösen, indem er sich auf etwas anderes konzentrierte. Ich hatte nie genau verstanden was ihn in solchen Momenten dazu bewog praktisch über mich herzufallen, aber es half ihm und mich störte er nicht. Ganz im Gegenteil, ich genoss es sogar.

Er war weder vorsichtig noch sanft, es war viel mehr eine Eroberung, die mir keinen Fluchtweg ließ und wäre die Situation eine andere gewesen, hätte ich mich dadurch zu weit mehr ermutigen lassen, doch hier ging es nicht um Sex, hier ging es um … ich war mir nicht sicher. Dominanz? Kontrolle? Oder schlicht und einfach meine Nähe.

Ich ließ es einfach zu, dass er die zweite Hand nicht nur unter die Jacke, sondern auch unter mein Shirt schob, bis sie auf meinem nackten Rücken zum Liegen kam und er sich noch näher an mich drängte. Ich griff einfach nach ihm und hielt in meinerseits fest. Nicht ganz so aufdringlich wie er, aber doch schon so, dass er nicht mehr so einfach weg kam, denn diese Küsse … wow.

Reese war ein guter und vor allen Dingen sehr ausdauernder Küsser. Manchmal erweckte er den Eindruck, dass sei ihm wichtiger als der ganze Rest. Selbst heute noch, nachdem wir schon drei Jahre zusammen waren, gab es Tage an denen er einfach nicht genug davon zu bekommen schien, was ein ganz schöner Widerspruch zu seinem ansonsten eher dominanten Verhalten war – besonders wenn wir … naja. Doch jetzt war er einfach nur … da. Sein Griff war unnachgiebig und seine Lippen drängend und seine Nähe ließ in mir Gefühle aufsteigen, die für einen Parkplatz definitiv unangebracht waren. Ich spürte das Kribbeln meiner Haut genauso wie die kleinen Stromstöße die durch seine Berührungen in meinen Körper gesandt wurden und die Gedanken an Diccon und die ganze vertrackte Situation verblasste ein wenig.

Manchmal war es beängstigend, was eine einfache Berührung von ihm bei mir ausrichten konnte, besonders wenn sie mich alle Vernunft und Logik in den Wind schlagen ließ. Zum Glück erinnerte mich die kalte Januarluft sehr gut daran, wo wir uns gerade befanden und so waren seine Küsse zwar sehr willkommen, ließen mich aber nicht den Kopf verlieren, bis er sich so weit herunter geregelt hatte, dass er nicht mehr vor Zorn jeden Moment zu platzen schien.

Die Berührungen seiner Lippen wurden sanfter und der Griff in meinem Nacken nachgiebiger. Das Drängen wurde zu einem Streicheln, das meine Haut zwar nach wie vor angenehm kribbeln ließ, aber nicht mehr dafür sorgte, dass es zu einem Kontrollverlust kommen konnte, wenn ich nicht aufpasste. Am Ende stand er einfach nur vor mir, hielt mich fest und lehnte seine Stirn an meine.

„Besser?“, fragte ich leise und spürte den kühlen Luftzug an meinem Rücken. Reese hatte mir nicht nur die Jacke, sondern auch das Shirt ein wenig hochgeschoben. Ich fröstelte leicht.

Er schaute mich nur an, seufzte einmal tief aus der Brust und trat dann einen Schritt zurück. Als er praktisch gleichzeitig in seine Tasche griff und seine Zigaretten herausholte, machte mir deutlich, das er zumindest seinen Kopf wieder eingeschaltet hatte. „Lass uns nach Hause fahren.“

Ich musterte ihn einen kurzen Moment. Besser war wohl nicht unbedingt das beste Wort für seinen Zustand, aber auf jeden Fall musste ich nicht mehr befürchten, wir würden uns bei der Fahrt um die nächste Laterne wickeln. Ein „Soll ich fahren?“ konnte ich mir trotzdem nicht verkneifen, als er wieder an mir vorbei nach der Fahrertür griff, doch sein Blick ließ mich einfach resigniert seufzen und um den Wagen herumgehen, um mich auf den Beifahrersitz plumpsen zu lassen.

Trotz der Kälte öffnete Reese das Seitenfenster, sobald er sich neben mir eingerichtet hatte. Nicht wegen der frischen Luft, sondern weil ich darauf bestand, wenn er im Auto rauchte. Selbst bei Minus zwanzig Grad würde ich ihn zwingen das Fenster zu öffnen, denn ich hatte lieber eine kalte Nase, als in einer Räucherkammer zu sitzen. Und der Wagen hatte Sitzheizung.

Als wir zwei Minuten später vom Geländer der Potsdamer Gilde fuhren und uns in den Straßenverkehr einfädelten, spürte ich nicht die erhoffte Erleichterung, wie ich es mir noch gestern vorgestellt hatte. Nicht nur das die Iubas weg waren, die Sache mit Diccon hinterließ einen faden Nachgeschmack auf meiner Zunge.

Ich glaubte nicht das er uns einen Strick aus der Sache drehen konnte, einfach weil seine Anschuldigungen völlig absurd waren, aber allein dass er auf die Idee gekommen war, sorgte bei mir für Unbehagen. „Wir sollten Jilin anrufen und ihr mitteilen was Diccon Chauvinistenarsch Faust sich für eine verdrehte Geschichte hat einfallen lassen.“

Reese sog an einer Zigarette und gab dabei ein Geräusch von sich, dass alles zwischen einer Zustimmung einer Pizzabestellung sein konnte.

„Einfach um uns abzusichern“, fügte ich noch hinzu.

Seine Augen lösten sich einen Moment von der Windschutzscheibe, um mir einen Blick zuzuwerfen. „Hör auf dir Sorgen zu machen, mit dem Schwachsinn kommt er niemals durch.“

Er sah es also auch so, aber es war schön es noch mal gesagt zu bekommen. Da verschlossen und in sich gekehrt vor sich hin starrte, wusste ich dass ihn etwas an der Sache noch immer belastete und ich musste nicht lange nachdenken, um den Grund dafür zu erfahren. Es waren nicht Diccons Anschuldigungen die ihn beschäftigten, sondern etwas ganz anderes. „Weißt du, es gibt auf der ganzen Welt nur einen einzigen Menschen, der dich für Nicks Zustand verantwortlich macht.“

Da seine Lippen mit einem Mal sehr schmal wurden, wusste ich, dass ich ins Schwarze getroffen hatte.

„Du bist dieser Mensch, Reese.“ Ich legte ihm eine Hand auf den Schenkel. „Niemand außer dir selber macht dich dafür verantwortlich. Nicht mal Nick würde es tun.“

„Hör auf, Shanks.“

Das wollte ich nicht. Ich wollte so lange in ihn drängen, bis er diese Tatsache endlich als Wahrheit akzeptierte und aufhörte sich für etwas verantwortlich zu fühlen, dass sich seinem Einflussbereich völlig entzog, aber das versuchte ich nun schon seit drei Jahren und daher wusste ich, wie sinnlos dieses Unterfangen war. Wahrscheinlich würde er es nicht mal glauben, wenn Nick selber es ihm sagen würde. Das einzige was ich nun tun konnte, war ihn ein wenig abzulenken.

„Lass uns auf dem Weg nach Hause irgendwo anhalten und etwas zu Essen besorgen“, schlug ich vor. „Ich hab Lust auf ein paar richtig fetttriefende Burger.“

 

°°°

 

Es war das Klingeln eines Handys, dass mich in den frühen Morgenstunden aus meinem unruhigen Schlaf riss. Draußen war es noch dunkel. Das konnte bedeuten, dass es schon fast acht war, oder auch erst drei Uhr. Die kalte Jahreszeit war wirklich ätzend.

Hinter mir begann Reese sich unruhig zu bewegen.

Ich blinzelte verschlafen, doch erst als er genervt seufzte und bei seinem Griff nach dem Handy fast eine leere Kaffeetasse vom Fensterbrett warf, die meiner Putzwut entkommen war, wurde mir klar, dass es sein Handy war, das versuchte uns unsere wohlverdiente Ruhepause zu beenden.

„Was?“, schnauzte Reese in das Mobilphon und rieb sich müde über die Augen. „Vergiss es, ich schlafe noch.“

Dass er das Handy einfach ausschaltete, neben sich ins Bett fallen ließ und dann von hinten einen Arm um mich schlang, wunderte mich gar nicht. Auch nicht, dass mein Handy nur zwei Sekunden später anfing zu klingeln.

Mit halb geschlossenen Augen griff ich man dem Störenfried auf dem Fensterbrett und hielt ihn mir ans Ohr. „Hm?“

„Grace, ich bin es, Jilian. Ich weiß es ist noch früh, aber du und Reese, ihr müsstet dringend in die Gilde kommen. Es geht um die gestrigen Vorfälle.“

Wäre mein Hirn von der unruhigen Nacht nicht so matschig gewesen, wäre mir wohl aufgefallen wie ungewöhnlich es war, deswegen extra früh in die Gilde gerufen zu werden. So strich ich mir einfach nur seufzend mein zerzaustes Haar aus dem Gesicht und versucht zu ignorieren, wie Reese sich fester an mich kuschelte und seine Hand auf geheime Mission unter mein ärmelloses Shirt schickte. „Wie spät ist es denn?“

Als Reese seine Hand noch höher schob, hielt ich sie fest. Dafür war jetzt keine Zeit. Er jedoch schien das anderes zu sehen. Da ich ihn festhielt, begann er einfach meinen Nacken mit seinen Lippen zu liebkosen. Uh, Gänsehaut.

„Kurz nach sieben. Ich weiß, Sonntags ist euer freier Tag, aber das duldet leider keine Verzögerung.“

Verdammt, und das ausgerechnet heute. Dieser Wochentag war so schon immer ein heikler Tag, aber ich wusste auch dass Jilin uns heute nicht stören würde, wenn es nicht wichtig war. „Okay, wir sind in einer Stunde da.“

„Dann bis gleich. Und Grace?“

„Hm?“

„Tritt Tack von mir in den Hintern und wenn er es noch einmal wagt einfach aufzulegen, wenn ich mit ihm rede, dann schiebe ich ihm das Handy quer in den Arsch!“

Das drohte sie jedes Mal und wenn ich ehrlich war, wartete ich nur darauf, dass sie ihre Drohung irgendwann einmal in die Tat umsetzte. Mich würde es doch wirklich interessieren, ob das anatomisch überhaupt möglich war. „Bis gleich.“ Ich war mir nicht sicher, ob sie meinen Abschied noch hörte, auf jeden Fall war die Leitung gleich daraufhin unterbrochen. „Fühl dich von Jilian in den Hintern getreten.“

„Okay.“

Während ich mein Handy zurück aufs Fensterbrett legte und die kleine Lampe einschaltete, zog Reese seine Hand aus meinem Griff und ging mit meinem Hintern auf Tuchfühlung. Ich drehte mich auf den Rücken und ließ mir seine zudringliche Art einen herrlichen Moment lang gefallen. Mit einem Kuss am Morgen begrüßt zu werden, konnte einem das verfrühte Aufstehen ziemlich erleichtern. Doch als er unsere morgendliche Aktivität vertiefen wollte, löste ich mich von ihm.

„Dafür haben wir jetzt keine Zeit“, verkündete ich, gab ihn noch einen schnellen Kuss und wand mich dann aus seinen Armen. „Jilin erwartet uns.“

Er knurrte etwas Unverständliches, drehte sich auf den Rücken und gähnte, bis der Kiefer knackte. „Ich habe heute frei.“

„Du bist Venator, du hast niemals frei.“ Ich schwang die Beine aus dem Bett, richtete mich auf und streckte mich ausgiebig. Dabei entging mir nicht, wie Reese mich beobachtete. „Los, beweg deinen Hintern aus dem Bett.“

„Mäh“, machte er und kratzte sich an der Brust. Den Morgen hatte er sich wohl ein wenig anders vorgestellt.

Na vielleicht schaffte ich es, ihm die frühe Stunde ein wenig zu versüßen. „Wir sollten duschen gehen“, überlegte ich und zog mir dann lächelnd mein Hemd aus. Es flatterte achtlos auf den Boden – das würde ich auf jeden Fall noch in den Wäschekorb werfen müssen, bevor wir uns auf den Weg machten.

Mich in nichts als einem Slip zu sehen, war für Reese kein ungewohnter Anblick mehr und doch wurde er sofort ein wenig aufmerksamer. „Wir?“

„Natürlich. Und wir sollten es so machen, dass wir dabei Zeit und Wasser sparen.“ Ich zwinkerte ihm verspielt zu, kehrte ihm den Rücken und machte mich auf dem Weg in den Flur. Dass ich ein wenig mit dem Hintern wackelte, war volle Absicht. Auch dass ich im Türrahmen noch einmal stehen blieb und mir sehr provokant den Slip auszog.

Das Rascheln des Bettzeuges überraschte mich nicht. Auch nicht, dass es keine drei Sekunden dauerte, bis er mich eingeholt hatte.

Leider funktionierte das mit der Zeitersparnis nicht. Als wir beide die Dusche wieder verließen, war bereits eine halbe Stunde vergangen und die Wohnungstür fiel erst ins Schloss, als wir schon längst bei Jilin im Büro sitzen sollten. Zum Glück brauchten wir mit dem Auto nur fünf Minuten in die Gilde.

Die Straßen waren verhältnismäßig leer. Selbst eine Hauptstadt wie Berlin brauchte hin und wieder mal eine kleine Verschnaufpause und so fuhren wir schon ziemlich bald in die recht leere Tiefgarage unter der Gilde.

Reese stellte den Wagen auf unserem gewohnten Parkplatz in der Nähe der Treppen ab und sobald er den Motor abschaltete, spürte ich meine Nervosität, die scheinbar die ganze Zeit nur auf ihren Einsatz gewartet hatte. Das Jilin uns so früh und dann auch noch an einem Sonntag sehen wollte, konnte einfach kein gutes Omen sein.

Noch gestern hatte Reese sie angerufen und ihr erzählt was in Diccons Büro geschehen war und sie hatte gesagt, dass wir uns deswegen keine Sorgen machen sollten, aber wenn wir uns keine Sorgen machen sollten, warum genau waren wir dann jetzt hier? Vielleicht hatte Reese Recht gehabt und wir hätten einfach im Bett bleiben sollen, aber jetzt war daran eh nichts mehr zu ändern.

Mit einem unguten Gefühl im Magen stiegen wir aus dem Wagen und nahmen den gewohnten Weg nach oben ins Gebäude der Gilde. Wir waren schon auf dem Hauptkorridor, als Reese mich mit den Worten „Ich brauche erstmal einen Kaffee“ stehen ließ und ich den kleinen Pausenraum verschwand. Tja, durch unser morgendliches Hygieneprogramm waren wir leider nicht mehr dazu gekommen die Kaffeemaschine einzuschalten.

„Du weißt wo du mich findest“, erklärte ich ihm noch und nahm dann Kurs auf Jilins Büro. Schon beim Näherkommen hörte ich das charmante Säuseln von Aziz und so wunderte es mich gar ihn bei meiner Chefin im Büro vorzufinden, wo er mit dem Hintern neben ihr am Schreibtisch lehnte. Auf einem Stapel Akten lag eine rote Rose – die hatte Jilin sich sicher nicht allein gekauft.

„… mache dir ein schönes Frühstück und bringe es dir sogar an Bett“, erklärte er ihr gerade, als ich ins Büro trat.

Der genervte Ausdruck auf Jilins Gesicht veranlasste mich dazu schmunzelnd die Arme zu verschränken und mich abwartend an den Türrahmen zu lehnen.

„Ich mache wahnsinnig gute Pancakes, die solltest du dir auf keinen Fall entgehen lassen.“

Durchhaltevermögen hatte der Mann, dass musste ich ihm lassen.

So wie Jilin das Gesicht verzog, wusste sie das allerdings nicht sehr zu schätzen. „Nein.“

„Ich kann auch Arme Ritter oder Omelette. Ganz wie du möchtest.“

Das leidige Seufzen überraschte wohl keinen von uns. „Aziz, verschwinde.“ Sie bemerkte mich an der Tür, griff sich einen Ordner, der halb unter Aziz' Hintern lag und zog ihn heraus. „Ich muss arbeiten und wenn du das auch weiterhin tun möchtest, dann solltest du das auch machen, sonst gebe ich deinen Job jemand anderem.“

„Nein würdest du nicht, du würdest mich vermissen.“ Dennoch erhob er sich von der Schreibtischkante und bemerkte mich dann. „Hey, Grace, was machst du denn hier?“

Ich hob zur Begrüßung eine Hand. „Das werde ich wohl erfahren, sobald Jilin dich losgeworden ist.“

Er bedachte mich mit einem perlweißen Lächeln und tat dann etwas, dass sowohl mich als auch Jilin erstaunte. Er beugte sich vor und gab ihr einen leichten Kuss auf die Wange.

„Aziz!“ Ihre Hand fuhr hastig zu ihrer Wange, um über die Stelle zu reiben, doch die leichte Röte auf ihrer Wange entging mir nicht.

Er grinste nur und schlenderte dann gemächlich auf die Tür zu. Bei mir blieb er noch mal stehen und beugte sich vor, als müsste er mir ein großes Geheimnis anvertrauen. „Ist dir aufgefallen, dass sie nicht gedroht hat mich zu erschießen?“

„Das lässt sich immer noch ändern“, kam es verärgert vom Schreibtisch.

„Ich glaube sie erliegt langsam meinem Charme“, erklärte er mir und schaute dann zu Jilin, als würde sie nicht jedes seiner Worte verstehen. „Gib mir noch drei oder vier Jahre, dann hab ich sie endlich so weit. Die Rose hat ihr jedenfalls gefallen.“

„Hat sie nicht“, bestritt Jilin.

Ich schmunzelte. „Ich drück dir die Daumen.“

Jetzt bekam ich den bösen Blick, aber daran störte ich mich nicht. Aziz' Werben um Jilin war in der Gilde regelrecht zu einem Kult geworden. Es gab sogar Venatoren die hatten Wetten darauf abgeschlossen, wer von den beiden den längeren Atem hatte und ob Aziz irgendwann sein Date bekam, oder er vorher das Interesse an diesem Spiel verlor.

Ich machte da nicht mit, aber wenn ich wetten müsste, würde ich auf Aziz setzen, denn der Kerl war ein geborener Jäger und in der letzten Zeit waren Jilins Zurückweisungen nicht mehr ganz so nachdrücklich wie noch vor drei Jahren. Außerdem fand ich ihr Argument, warum sie nicht mit ihm ausgehen konnte, einfach nur lächerlich. Okay, dann war sie eben sechs Jahre älter als er, aber wenn er sich nicht daran störte, gab es keinen Grund, warum sie das tun sollte.

„Leg ein gutes Wort für mich ein“, bat Aziz mit einem Zwinkern in meine Richtung und schlenderte dann so lasziv aus dem Raum, dass keiner von uns beiden umhin kam ihm auf den jeansverpackten Hintern zu starren. Das war aber auch ein netter Anblick.

„Wie kannst du da nur so standhaft widerstehen?“, murmelte ich, sobald er außer Hörweite war.

Jilin warf mir einen warf mir einen warnenden Blick zu, der mir sehr deutlich machte, dass das Thema damit abgeschlossen war. „Wo ist Reese?“

„Der frönt seinem Laster.“

„Zigaretten?“

„Nein, Kaffee.“

Sie beließ es dabei, griff nach einem Ordner und erhob sich hinter ihrem Schreibtisch. „Lass uns in den kleinen Konferenzraum gehen.“

Oh oh, das hörte sich aber gar nicht gut an. „Konferenzraum bedeutet, dass noch mehr Leute zu diesem Gespräch eingeladen sind.“

„Das siehst du richtig.“

„Es geht also nicht um den gestrigen Vorfall?“, fragte ich vorsichtig.

„Doch.“

Mist. Das war bestimmt nicht gut. „Du hast doch gesagt, wir müssen uns keine Sorgen machen.“

„Müsst ihr auch nicht, aber Diccon hat seine Beziehungen spielen lassen und es dadurch tatsächlich geschafft, dass der Verband eine genauere Untersuchung des Vorfalls durchführen möchte. Als wenn ich nicht schon genug zu tun hätte.“ Sie wirkte keineswegs besorgt, sondern einfach nur genervt, als sie an mir vorbei in den Korridor trat. „Keine Ahnung in welche Ärsche er gekrochen ist, aber der Verband scheint das Ganze so wichtig zu finden, dass sie sogar heute jemanden herschicken, um sich mit der Sache zu befassen.“

Das war nun wirklich ungewöhnlich. Der Verband bestand aus Bürokraten und die opferten ihren freien Sonntag normalerweise höchstens für einen Firmenpicknick.

Im Grunde war der Verband nichts anderes als eine staatliche Überwachung, die sowohl ein Auge auf die normalen Venatoren, wie auch auf die aus der Gilde hatten.

Die Gilde war eigentlich ein privates Unternehmen, dass sich vor knapp zwölf Jahren gebildet hatte, als die einfachen Bürger auf die Idee kamen, die Sache mit den Proles selber in die Hand zu nehmen, da die staatlichen Venatoren mit der Seuche überfordert waren.

Die Idee hatte unter der einfachen Bevölkerung sehr schnell Anklang gefunden, aber da man nicht einfach ein Haufen schießwütiger Tölpel auf der Straße rumrennen lassen konnte, hatte sich aus dieser Bürgerwehr die heutige Gilde entwickelt.

Im Grunde unterschieden wir uns kaum noch von den staatlichen Venatoren, nur ging es bei uns viel lockerer zu. Wir waren keine Paragraphenreiter und uns blieben diese hässlichen Uniformen erspart – Gott sei Dank.

„Man sollte meinen, sie hätten auch noch ein Tag warten können“, bemerkte ich und schloss mich ihr an.

„Vielleicht. Vielleicht wollen sie die Sache aber nur einfach schnell vom Tisch haben, schließlich ist dabei eine Venatorin ums Leben gekommen.“ Sie führte mich zu Konferenzraum drei und öffnete die Tür für mich. „Was das Ganze auch soll, ich halte es für wichtig, dass du und Reese bei der Besprechung dabei seid. Das wird es einfacher machen die ganze Sache zu klären. Außerdem wollen sie eh alle Beteiligten zu der Sache befragen.“

Irgendwie konnte ich ihre Zuversicht nicht teilen. „Diccon hat die Sache mit Taid zur Sprache gebracht.“

Ihre Lippen verzogen sich grimmig. „Ich weiß, aber ich werde nicht zulassen, dass das Einfluss auf die aktuellen Geschehnisse nimmt. Wenn Diccon glaubt …“

„Jilin?“

Jilin und ich drehten und beide gleichzeitig zu Seth um, der seinen Kopf aus dem Großraumbüro steckte. Neben mir war das Blondchen der einzige Praktikant aus meinem Jahrgang der Beluosus Akademie, der der Gilde noch erhalten geblieben war. Einer aus meiner Gruppe war damals Taids Monstern zum Opfer gefallen, als sie durch die Gilde gewütet hatten. Ein anderer hatte nach den Geschehnissen hingeschmissen. Zwei hatten zu den Staatlichen gewechselt und Bay war tot. Doch es war weder seine Arbeit noch eine Begegnung mit einem Proles gewesen, die sein Leben vor einen knappen Jahr beendet hatte, sondern die strutzdumme Idee besoffen mit einem seiner älteren Brüder auf dem Tegeler See Eisfischen zu gehen. Das Eis war unter ihnen eingebrochen und Bay hatte diesen Ausflug nicht überlebt. Wäre das nicht so tragisch, könnte man über so viel Dummheit vielleicht sogar lachen.

Jilin wirkte ungeduldig. „Ja?“

„Da sind ein paar Leute vom Verband, die mit dir sprechen wollen.“

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Pünktlich sind sie jedenfalls“, murmelte sie und drückte mir dann kurz aufmuntern die Schulter. „Geh schon mal rein, ich komme gleich.“ Da die Frau noch nie ein Freund überflüssiger Worte war, ließ sie mich damit stehen und verschwand ins Großraumbüro.

Seth jedoch blieb stehen und musterte mich. „Was hast du angestellt?“

„Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort.“

„Ah.“ Er nickte verstehend. „Die Sache mit dem Überfall auf die Transporter. Du findest wirklich immer einen Weg dich in die Scheiße zu reiten.“

Mein Augenwinkel zuckte. „Hast du nichts zu tun?“

„Doch, das hat er sicher.“ Mit einer dampfenden Kaffeetasse in der Hand trat Reese aus dem kleinen Pausenraum und fixierte Seth, als wollte er ihm mal zeigen, wie es war sich in die Scheiße zu reiten. „Und wenn nicht, werde ich ein paar Minuten für ihn erübrigen.“

Seth schnaubte nur, drehte sich dann aber um und verschwand wieder dorthin, woher er gekommen war.

Okay, vielleicht hatte Reese es ja immer noch drauf ihn einzuschüchtern.

Mit einem unguten Gefühl im Magen wandte ich mich ab und ging in den kleinen Konferenzraum. Genau in der Mitte stand ein länglicher Tisch an dem zehn Personen Platz hatten. Bis auf die Fensterfront waren die Wände voller Magnettafeln, die im Moment aber weitestgehend leer waren und die kümmerliche Bodenpflanze in der Ecke sollte dringend mal jemand gießen – wenn es dafür nicht sogar schon zu spät war.

Da ich im Moment eh nicht still sitzen konnte, stellte ich mich an eines der Fenster und starrte hinaus in den trüben Wintermorgen. Ich sollte mir keine Sorgen machen. Jilin konnte bei Problemen geradezu Wunder bewirken und es war nun mal eine Tatsache, dass Reese und ich nichts falsch gemacht hatten. Warum also wurde ich dieses drückende Gefühl nicht los?

Als Reese in den Raum kam dämpfte der graue Teppich seine Schritte. Ich hörte wie er die Kaffeetasse auf dem Tisch abstellte und sich einen Stuhl heraus zog. „Hat Jilin dir ein Update gegeben, oder lässt sie uns hier im Ungewissen schmoren?“

„Ein paar Leute vom Verband sind hier und wollen den Vorfall mit den Transportern klären. Jilin hielt es für angebracht, wenn wir dabei sind.“

„Und ich hatte mich schon auf meinen freien Tag gefreut.“

Nein hatte er nicht. Der Sonntag war für ihn immer ein Graus. „Lass uns etwas frühstücken gehen, bevor wir nachher zu Celina fahren.“

Er gab ein unbestimmtes Brummen von sich und als ich mich zu ihm umdrehte, musste ich feststellen, dass seine Aufmerksamkeit gar nicht mir galt sondern der offenen Tür.

„Wir könnten natürlich auch ein in einen Swingerclub gehen und uns dort ein wenig amüsieren.“

„Ich denke nicht, dass die so früh schon geöffnet haben. Das sollten wir besser für heute Abend ins Auge fassen.“

Er hörte mir also doch zu. „Was gibt es denn da so interessantes zu sehen?“

„Nichts.“ Gelangweilt lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und schaute zu mir auf. „Du machst nur schon wider zu viel Wind um gar nichts und das nervt mich.“

„Ich mache gar keinen Wind.“

„Ach nein? Warum stehst du dann da am Fenster und machst ein Gesicht, als würde dir gleich der Himmel auf den Kopf fallen? Das sind nur ein paar speichelleckende Bürokraten, die einen Ausweg aus ihrem öden Alltag suchen. Was könnte da interessanter sein, als die beiden berüchtigten Venatoren aus der Berliner Gilde?“

Also entweder hatte er Recht, oder er nahm die Sache nicht erst genug. Wahrscheinlich machten mich die Umstände einfach nur nervös. Bisher hatte ich halt noch nie so direkten Kontakt mit dem Verband gehabt. „Das ist nicht unbedingt das, wofür ich bekannt sein will.“

„Was? Das wir berüchtigt sich?“ Reese streckte mir die Hand entgegen. „Komm her.“

Da ich gerade eh nichts besseres zu tun hatte, kam ich seiner Aufforderung nach. Ich nahm seine Hand und ließ mich von ihm zwischen seine Beine ziehen, wo er mir die Hände an die Schenkel legte und scheinbar in der Hoffnung mich ein wenig zu beruhigen darüber strich.

„Und jetzt hör auf so nervös zu gucken, sonst steckt man uns am Ende noch in den Knast, nur weil du so schuldig aussiehst.“

Sehr witzig. „Bei dir klingt das so einfach.“

„Es ist so einfach.“ Langsam strichen seine Hände an meinen Beinen hinauf. „Das hier ist nur eine Besprechung, mehr nicht und wir haben nichts getan.“

Da blieb nur zu hoffen, dass der Verband das auch so sah. Ich glaubte einfach nicht, dass die Sache so einfach wäre. Anton hatte wirklich Scheiße gebaut und Diccon schien ein Mann zu sein der alle Hebel in Bewegung setzte, um seinen Sohn zu schützen. Reese und ich waren praktischerweise gerade zum richtigen Moment als Sündenböcke zur Stelle gewesen.

Als sich dem Konferenzraum Schritte nährten und Jilin gefolgt von zwei Anzugträgern durch die Tür trat, ließ Reese seine Hände fallen. Es waren ein blonder Mann in einem hellgrauen Anzug und eine dunkelhaarige Frau in einem strengen Businesskostüm. Sie schienen beide so um die vierzig zu sein.

„Setzen Sie sich doch“, bot Jilin an und schloss die Tür, sobald alle drinnen war.

Auch ich kam der Aufforderung und ließ mich wenig elegant neben Reese auf den Stuhl plumpsen.

Mir gegenüber nahm der Mann platz. Er war groß, hatte ein ovales Gesicht mit einem Dreitagebart und schien hin und wieder ein Fitnessstudio aufzusuchen. Trotz seines Alters und der rahmlosen Brille, war er recht ansprechend.

Rechts neben ihm setzte sich die dunkelhaarige Frau mit dem strengen Dutt auf dem Kopf und musterte sowohl mich als auch Reese äußerst kritisch von Kopf bis Fuß – oder, naja, so viel sie von uns eben sehen konnte.

„Wenn ich alle miteinander bekannt machen dürfte“, sagte Jilin, während sie selber am Kopfende des Tisches Platz nahm. „Das sind Gloria Fink und Lexian Forsberg, Sachverständige des Verbands, die mit diesem Fall betraut wurden.“

Ich nickte den beiden zu, Reese griff nur still nach seinem Kaffee und nahm einen Schluck.

„Und das sind Reese Tack und Grace Shanks, die beiden Venatoren, die ich der Überführung der Iubas zugeteilt habe.“

Auch die beiden nickten zur Begrüßung, obwohl diese Gloria dabei die Lippen spitzte, als klebte ihr etwas unangenehmes unter der Nase.

„Ihre Anwesenheit vereinfacht die ganze Angelegenheit ungemein“, bemerkte sie, öffnete ihre Aktentasche und zog einen dicken Ordner heraus, den sie sorgfältig vor sich auf den Tisch legte. Dann folgte noch ein Stift und ein Notizblock. „So“, sagte sie dann und nach einem kurzen Blick in die Runde konzentrierte sie sich auf Reese. „Ich gehe hoffentlich richtig in der Annahme, dass alle Beteiligten wissen, warum wir hier sind.“

Sie schien auf eine Antwort von Reese zu warten, doch der nippte nur nochmal an seinem Kaffee, als ginge ihn die ganze Angelegenheit nichts an.

„Es geht um den Überfall auf den Transport der Iubas“, sagte Jilin und zog damit die Aufmerksamkeit auf sich.

„Kurz erklärt ja. Aber leider beinhaltet dieser Fall weit mehr als einen schlichten Überfall. Zwei wertvolle Proles aus der ersten Generation sind verschwunden und eine unschuldige Frau kam dabei ums Leben.“

„Diese Proles sind nicht wertvoll“, knurrte ich. „Sie sind Monster.“

Reese trat mit unauffällig gegen den Fuß. Das sollte wohl eine Ermahnung sein den Mund zu halten, aber ganz ehrlich, nichts an diesen Viechern war wertvoll und ich würde es nicht hinnehmen, dass man sie auf ein Podest stellte, nur weil jemand sie geklaut hatte.

„Sie sind Eigentum des Staates.“

Tja, im Moment waren sie das scheinbar nicht, nur deswegen saßen wir schließlich hier. Ich verkniff es mir sie darauf hinzuweisen.

„Im Moment sind wir hauptsächlich an dem Tathergang, den Gründen und den Folgen interessiert“, meldete sich der Mann zu Wort. Er hatte eine sehr weiche und melodiöse Stimme. Sie hatte eine beinahe beruhigende WIrkung. „Und natürlich an den Vorwürfen, die in diesem Zusammenhang aufgekommen sind.“

„Diese Vorwürfe sind haltlos“, bemerkte Jilin. „Reese und Grace haben bereits gestern bei der Polizei eine Aussage gemacht, die von fast einem Dutzend anderer Venatoren aus der Potsdamer Gilde bereits bestätigt wurde. Ich bin sicher, dass Sie diese in Ihren Unterlagen haben.“

„Ich habe sie nicht nur in meinen Unterlagen, ich habe sie sogar schon gelesen, aber …“ Er zögerte kurz und ließ seinen Blick dabei zu mir schweifen. „Das Ganze gestaltet sich ein wenig komplizierter, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Natürlich ist uns bewusst, dass der tragische Tod von Frau Sieger eine Folge von Anton Fausts unüberlegtem Eingreifen in die Situation war, doch das hat mit der eigentlichen Tat nichts zu tun und so können wir die Anschuldigungen von Herrn Diccon Faust nicht einfach übergehen.“ Er machte eine kurze Pause, in der er Reese ins Auge fasste. „Besonders nicht mit der Vorgeschichte von Ihnen beiden.“

Mir stellten sich die Härchen auf den Armen auf. Reese versuchte entspannt zu bleiben und die Worte einfach an ich abprallen zu lassen, doch ich kannte ihn zu gut um nicht zu merken, wie sich der Griff um seine Kaffeetasse ein kleinen wenig verstärkte.

„Diese Tat ist für die aktuellen Geschehnisse nicht relevant“, griff Jilin sofort ein. „Gegen Grace ist nie Anklage erhoben worden …“

„Weil Herr Tack die ganze Schuld auf sich genommen hat.“

„ … und Reese hat seine Strafe verbüßt.“

„Eine Bewährungsstrafe mit ein paar Sozialstunden. Nicht unbedingt ein gerechtes Urteil, wenn man bedenkt, wie viele Kollateralschäden es damals gegeben hat. Meinen Sie nicht auch?“

Jilin zog verärgert die Augenbrauen zusammen. „Es steht weder Ihnen noch mir zu das Urteil eines Richters anzuzweifeln. Außerdem trägt nicht Reese die Verantwortung für die damaligen Vorkommnisse, sondern Taid Breslin und dieser Mann wird aufgrund seiner Taten den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen.“

Lexian Forsberg neigte den Kopf leicht zur Seite. „Hätte Herr Tack damals früher eingegriffen, wäre sicher vieles anderes gelaufen.“

Am liebsten hätte ich nach Reese' Hand gegriffen, oder dem Blödmann auf der anderen Seite den Kaffee ins Gesicht geschüttet, aber der eine würde das nicht gutheißen und bei dem anderen könnte das Probleme nach sich ziehen, die ich im Moment nicht gebrauchen konnte, deswegen musste ich mich allein mit der Vorstellung begnügen.

„Hätten Taids Eltern an Verhütung gedacht, wäre dieser Mann nie geboren worden und nichts davon wäre geschehen“, konterte Jilin.

O-kay, jetzt war sie wirklich verärgert. Ich konnte es ihn nicht verdenken. Die Geschehnisse von damals wieder ans Tageslicht zu zerren, war einfach nur fies. Wir hatten genug darunter gelitten und irgendwann musste auch mal Schluss sein.

„Touche.“ Lexian lächelte schmallippig. „Aber wir sind nicht hier um die was-wäre-wenn-Frage zu klären, sondern uns mit der vorliegenden Anklage zu befassen.“

Jilin wurde mit einem Mal wachsamer. „Anklage?“

Das hörte auch ich zum ersten Mal. Ich spannte mich am ganzen Körper an. „Was meinen Sie mit Anklage?“

Reese stellte sehr vorsichtig seinen Kaffeebecher zurück auf den Tisch und verschränkte die Hände auf der Platte. Dabei ließ er den Kopf sinken, sodass man sein Gesicht nicht sehen konnte. Das brauchte ich auch nicht, denn seine plötzliche Anspannung war mit Händen zu greifen.

„Was glauben Sie was ich damit meine?“, stellte Lexian Forsberg die Gegenfrage. „Es ist allgemein bekannt was vor drei Jahren geschehen ist und welche Rolle Sie beide dabei gespielt haben und bevor Sie jetzt wieder Einwände erheben, ja ich habe verstanden, dass Sie strafrechtlich deswegen nicht mehr belangt werden können.“

„Allerdings bleibt dieser Vermerk in Ihrer beider Akten bestehen“, führte Gloria Funk weiter aus. „Und die Parallelen zwischen den beiden Ereignissen sind nicht zu übersehen.“

„Welche Parallelen?“, wollte Reese wissen ohne den Kopf zu heben.

„Das verschwinden seltener Proles, die man für gutes Geld verkaufen kann.“

Ach darum hatte sie vorhin so betont, dass die Iubas wertvoll waren. „Das heißt, Sie gehen davon aus, dass wir an dem Überfall des Transports beteiligt waren, um die Iubas zu verkaufen?“

„Das ist Unsinn.“ Jilin lehnte sich auf ihrem Stuhl ein wenig vor. „Reese und Grace haben sich nichts zu schulden kommen lassen und ihre Behauptungen sind nichts anderes als Rufmord. Wenn Sie da beibehalten werde ich offizielle Beschwerde gegen Sie beide einreichen.“

Lexians Mundwinkel zuckte, als würde die Situation ihn amüsieren. „Dazu besteht kein Grund. Die Vorwürfe kommt nicht von uns, sondern von Diccon Faust. Wenn Sie Beschwerde einreichen wollen, dann muss die sich gegen ihn richten, aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass das vermutlich nichts bringen wird, da der Verband nun auch an der Sache interessiert ist.“

Je mehr dieser Mann sagte, desto unwohler fühlte ich mich. „Wir haben nichts getan.“

„Das wollen wir ja gerade herausfinden und je kooperativer Sie sich zeigen, umso besser für alle.“

Gloria nickte eifrig. „Allerdings sollten Sie wissen, dass wir befugt sind eine sofortige Suspendierung auszusprechen, wenn wir der Meinung sein sollten, dass dies nötig ist.“

Ich glaubte meinen Ohren nicht trauen zu können.

„Das ist doch lächerlich“, kam es nun auch von Reese.

Genau, es war lächerlich, weil wir nichts getan hatten.

„Ich muss Reese zustimmen“, erklärte nun auch Jilin. „Sie können nicht anhand der Behauptung eines einzelnen Mannes zu solch drastischen Maßnahmen greifen, besonders nicht ohne den kleinsten Beweis.“

Davon ließ sich Gloria nicht aus der Ruhe bringen. „Wir haben Indizien.“

Wirklich? Darauf wollten sie das Ganze aufbauen? „Indizien, ja? Sie haben bestimmt ein scharfes Messer Zuhause. Das ist für mich ein Indiz dafür, dass Sie einen Mord begehen könnten. Am Besten ich rufe gleich mal die Polizei.“

Dafür bekam ich einen hochmütigen Blick.

„Okay, ich denke wir sind gerade ein wenig vom Thema abgekommen“, schritt Lexian ein. „Am besten erzählen Sie uns doch einfach mal, wie sie den Tathergang erlebt haben.“

Als wenn das noch etwas bringen würde, diese Leute hatten sich ihre Meinung doch schon gebildet. Das war genau wie damals, als ich Jilin und die anderen angefleht hatte mir zu glauben, damit jedoch rein gar nichts erreicht hatte.

Als würde Reese meine wachsende Unruhe spüren, legte er eine Hand auf meine und drückte sie leicht. Dann überraschte er mich damit ohne weitere Aufforderung genau zu erzählen, was während unseres Aufenthalts in Potsdam und während des Transports geschehen war. Gloria machte sich währenddessen eifrig Notizen, doch ich wurde immer nervöser. Sie konnten uns dafür nicht verantwortlich machen, wir waren unschuldig.

Reese berichtete so detailliert, dass es einige Zeit dauerte, bis er seine Geschichte zu Ende gebracht hatte und danach durfte ich noch mal alles aus meiner Perspektive erzählen. Keiner unterbrach mich. Erst als ich fertig war, ergriff Herr Forsberg wieder das Wort und fragte mich ganz direkt: „Sie hatten also eine Abneigung gegen Frau Sieger?“

„Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun“, kam es von Jilin, noch bevor ich die Möglichkeit hatte, überhaupt darauf zu reagieren. „Oder wollen Sie etwa behaupten, Grace hatte dafür gesorgt, dass sich in einem Handgemenge, auf das sie keinen Einfluss hatte, ein Schuss löst, der dann auch noch Frau Sieger trifft?“

„Natürlich nicht.“ Lexian verzog die Lippen spöttisch. „Das wäre ein wenig zu … fantastisch.“

„Aber es ist schon auffällig, dass Frau Shanks als Einzige der Beteiligten die Messer gelassen wurden“, bemerkte Gloria.

„Das war wegen dem Schuss. In der plötzlichen Aufregung haben die Leute mich einfach vergessen.“

„Das wäre eine Möglichkeit“, murmelte Lexian.

Reese verengte die Augen leicht. „Ich habe langsam genug von ihren haltlosen Anschuldigungen. Wenn Sie etwas gegen uns in der Hand haben, dann handeln Sie entsprechend, ansonsten erkläre ich dieses Gespräch nun für beendet.“

„Das hätte ihre Suspendierung zur Folge.“

Dieser Mistkerl.

„Wir möchten doch alle nur, dass diese Sache so schnell wir möglich aufgeklärt wird, damit wir alle wieder zu unseren alltäglichen Aufgaben übergehen können“, lenkte Lexian Forsberg ein. „Besonders für Sie, Herr Tack, ist es wichtig, dass sich die Anschuldigungen schnellstmöglich aufklären. So bleibt Ihnen nicht nur ihr Status als Tutor erhalten, der Verband kann sich auch sicher sein, dass Sie kein weiteres Mal einen schlechten Einfluss auf einen Praktikanten ausüben.“

Reese hob stirnrunzelnd den Kopf. „Ein weiteres Mal?“

„Ach kommen Sie“, spottete Lexian. „Ich weiß was in den offiziellen Berichten steht, doch wir alle sind uns doch wohl bewusst, dass die Geschichte damals nicht so abgelaufen ist, wie sie allen weisgemacht haben. Sie haben Frau Shanks nicht nur in Ihre illegalen Aktivitäten mit hineingezogen, Sie haben sie auch zu einer Komplizin gemacht und nun stehen Sie schon wieder in Verdacht sich am Verkauf von Proles zu beteiligen. Der Verband möchte einfach sicher gehen, dass diese Geschichte sich bei Kjell Dost nicht wiederholt.“

Erschrocken richtete ich mich auf. Ach du heilige Scheiße!

„Wer ist Kjell Dost?“, fragte Resse verwirrt.

Ich warf Jilin einen panischen Blick zu und so wie sie die Lippen zusammen drückte, schien sie wohl zu verstehen, dass ich Reese bisher noch nichts von seinem Glück erzählt hatte, doch zum Einschreiten war es nun zu spät.

„Bitte verkaufen Sie mich nicht für blöd. Ich habe Ihre Akte gelesen und darin wurde bereits vor Wochen vermerkt, dass man Ihnen einen neuen Praktikanten zugeteilt hat.“

„Was!?“

Sehen wir es doch einfach positiv: Jetzt musste ich es Reese nicht mehr sagen.

 

°°°°°

Kapitel 04

 

Reese lachte den Sachverständiger spöttisch ins Gesicht. „Was für einen verdammten Mist erzählen Sie da? Ich habe keinen Praktikanten.“

Lexian Forsberg zog eine elegante Augenbraue nach oben. „Ich erzähle keine Mist.“

„Und ob Sie das tun. Ich wüsste es doch, wenn man mir wieder einen Klotz ans Bein binden würde.“

Gloria Funk schaute stirnrunzelnd zwischen uns hin und her.

Okay, jetzt konnte ich es wohl nicht mehr länger aufschieben. „Er weiß es nicht. Ich … ähm … ich hatte bisher noch keine Gelegenheit es ihm zu sagen. Also vielen Dank, dass Sie mir die Arbeit abgenommen haben.“

Reese bedachte mich mit einem mörderischen Blick.

„Gern geschehen.“ Um Lexians Mund spielte ein kleines Lächeln.

Arschloch.

„Was soll das heißen, du hast es mir noch nicht gesagt“, fragte Reese sehr langsam. Seine Augen sprühten vor Wut.

Früher hätte er es damit geschafft mich einzuschüchtern, heute entlockte es mir nur noch einen müden Seufzer. „Ich wollte es dir ja sagen, aber ich wusste auch wie begeistert du davon sein würdest.“

Er schaute mich mehrere Sekunden einfach nur an. Dann lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und starrte mit mahlendem Kiefer auf die gegenüberliegende Wand. Dass er mir dabei seine Hand entzog, zeigte mit deutlich wie verärgert er war. Nur konnte ich nicht sagen, ob es an der Tatsache lag, dass man ihm einen neuen Praktikanten zugewiesen hatte, oder daran, dass ich es ihm bisher verschwiegen hatte. Das würde ich wohl erst erfahren, wenn wir ein Gespräch unter vier Augen führen konnten.

„Die Frage nach Kjell Dost stellt sich im Moment auch gar nicht“, nahm Gloria Funk das Gespräch wieder auf und warf dabei einen Blick auf ihre Notizen. „Er wurde nur erwähnt, damit Sie sich der Situation bewusst werden, in der Sie sich befinden.“

Nein, das beschwichtigte ihn nicht im Geringsten.

„Und auch um unser weiteres Vorgehen zu erklären“, fügte Lexian Forsberg noch hinzu.

Die kleine Falte zwischen Jilins Augenbrauen wollte gar nicht mehr verschwinden. „Was meinen Sie mit weiterem Vorgehen?“

Er schlug die Augen leicht nieder und ich war mir nicht sicher, ab er mich oder Reese anschaute. „Da ihrer beider Namen im Zusammenhang mit diesem Vorfall gefallen sind, hat der Verband gestern noch eine Sitzung des Untersuchungsausschuss abgehalten. Diccon Faust hat so einiges über Sie beide gesagt, unter anderem, dass sie seinen Sohn aus dem Nichts heraus attackiert haben und wir sind verpflichtetet dem nachzugehen.“

Als er eine Kunstpause einlegte, fragte Jilin ungeduldig: „Und das bedeutet?“

„Das bedeutet, dass wir uns nicht ganz sicher sind, wie es um Ihre psychische Belastbarkeit steht, Herr Tack.“

Das konnten die doch nicht ernst meinen.

„Mir geht es gut, danke.“

Frau Funk schüttelte den Kopf, als hätte sie es mit einem unbelehrbaren Kind zu tun. „Manchmal merken wir selber gar nicht, wie sehr die Dinge die wir tun uns belasten und mit Ihrer Vorgeschichte …“ Sie ließ den Satz unbeendet.

„Aber Sie beide sind gute Venatoren und es wäre sehr bedauerlich, ihnen die Lizenzen entziehen zu müssen und sie der Gilde zu verweisen, deswegen wurde beschlossen, dass ich ein Gutachten über Sie beide erstelle, bevor wir weiter in dieser Sache entscheiden“, erklärte Lexian. „Ich werde Sie eine Weile bei der Hatz begleiten und Ihre Aktivitäten genaustens unter die Lupe nehmen.“

„Was?“, fragte ich, während von Reese nur ein geknurrtes „Nein“ kam.

„Warum nein?“ Lexian schien seine nächsten Worte geradezu zu belauern. „Haben Sie etwas zu verbergen?“

„Nein habe ich nicht!“, fauchte Reese. „Aber ein verdammter Sesselfurzer hat auf einer Hatz nichts verloren!“

„Tack“, mahnte Jilin.

Er spießte sie geradezu mit einem Blick auf. „Was Tack?! Das ist doch scheiße! Du kannst mich nicht zwingen, dieses Arschloch mitzunehmen! Ich jage Proles und bin kein Babysitter für Bürohengste!“

Lexian schien sich nicht angegriffen zu fühlen. „Entweder Sie stimmen der Beurteilung und den damit verknüpften Bedingungen zu, oder Sie werden für die Dauer der Untersuchung suspendiert. Ihre Entscheidung.“

So wie Reese aussah, wäre er wohl am Liebsten über den Tisch gesprungen, um den Kerl zu erwürgen. Ich jedenfalls machte mich schon bereit ihn aufzuhalten, doch selbst in seiner Wut schien er noch ein Fünkchen Verstand zu besitzen. Er fuhr nur auf, sodass sein Stuhl fast umkippte und verschwand dann stinkwütend mit den Worten „Ich geh eine rauchen“ und einer knallenden Tür aus dem Konferenzraum.

Ich funkelte die beiden Sachverständiger an. „Wir haben nichts falsch gemacht und es war auch nicht unsere Schuld, dass der Transport überfallen wurde.“

„Das wird sich noch zeigen.“

Mit jeder verstreichenden Sekunde konnte ich die beiden weniger leiden.

Jilin rieb sich geschlagen übers Kinn. „Was bedeutet das Ganze nun genau?“, wollte sie wissen.

Herr Forsberg lehnte sich vor und verschränkte die Arme auf dem Tisch. Doch seine Antwort galt nicht Jilin, sondern mir. „Ab morgen werde ich Sie und ihren Partner, wie bereits gesagt, bei Ihren Aufträgen begleiten. Ich werde einen psychologischen Befund erstellen und ihre Arbeit auf Herz und Nieren prüfen. Ich werde Einsicht in Ihre Unterlagen nehmen und Sie auch einmal Zuhause besuchen. Aber keine Sorge, wenn Sie nichts zu verbergen haben, haben Sie auch nichts zu befürchten.“

„Und wenn wir uns querstellen?“, fragte ich. Dass dieser Kerl auch zu uns nach Hause wollte, ging mit absolut gegen den Strich.

„Das würde ich Ihnen nicht empfehlen, da da negative Auswirkungen auf meinen abschließenden Bericht haben würde.“

„Da ist aber ein massiver Eingriff in unsere Privatsphäre.“ War das überhaupt legal?

„Verbrecher haben keine Privatsphäre.“

„Vorsicht“, warnte Jilin ihn. „Sie überschreiten Ihre Kompetenz.“

Lexian starrte sie einen Moment an, senkte dann aber sein Kinn leicht. „Sie haben recht. Ich entschuldige mich für meine Worte. Es ändert jedoch nichts an den gegebenen Tatsachen.“

Nein tat es nicht und die Entschuldigung war garantiert nicht ernst gemeint. „Und wie lange wird das ganze laufen?“

„So lange wie ich es für nötig halte.“

Natürlich. Eine noch unklarere Aussage hatte er nicht geben können.

„Sehen Sie mich doch einfach als ihren großen Bruder an“, sagte er mit einem Lächeln.

Großer Bruder, aber klar doch. „Danke, aber das werde ich sicher nicht tun.“

„Wie Sie meinen.“ Er lehnte sich auf seinem Stuhl wieder zurück. Seine selbstgefällige Miene dabei fand ich unerträglich. „Also, akzeptieren Sie die Bedingungen nun, oder ziehen sie es vor die Angelegenheit mit mit einer Suspendierung auszusitzen?“

Er wusste genau, dass ich das nicht tun würde. Nicht nur weil wir das Geld brauchten. Ein Venator zu sein war mehr als ein Job, es war eine Lebenseinstellung und die konnte man nicht mal eben so ablegen. Außerdem würde eine Ablehnung uns nur schuldig aussehen lassen. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als mitzuspielen und auf das Beste zu hoffen.

Mit einem unguten Gefühl bat ich Gloria um einen Zettel und einen Stift. Dann schrieb ich unsere Adresse darauf und schob beides Lexian zu. „Seien Sie morgen um neun dort. Wir brechen immer sofort zur Hatz auf und kommen erst am Abend in die Gilde, um die Berichte zu schreiben.“

Lexian warf einen Blick auf den Zettel und ließ ihn dann in seiner Tasche verschwinden. „Ich werde da sein.“

Genau das hatte ich befürchten. Das würde Reese so gar nicht gefallen. „Nun denn, wenn Sie mich nicht mehr brauchen, werde ich Reese mal suchen gehen und ihm Bescheid geben.“

„Gute Idee“, sagte Jilin und erhob sich auch. „Ich bringe dich noch raus. Bin gleich wieder da.“

Ich blieb still, als sie mich nach draußen begleitete. Da ich den Weg auch ohne sie gefunden hätte, ging ich davon aus, dass sie noch mal unter vier Augen mit mir sprechen wollte. Darum wunderte ich mich auch nicht, dass sie hinter sich die Tür zuzog und uns so von den Verbandsleuten trennte.

„Du musst Tack dazu bekommen, dass er kooperiert“, fiel sie auch sofort mit der Tür ins Haus. In ihren Augen stand ein Hauch von Sorge.

Ich schnaubte halb belustigt. „Gute Idee. Sag mir Bescheid, wenn du weißt wie ich das hinbekomme.“

„Ich meine es ernst. Ich werde versuchen die Sache zu regeln. Ich habe einige Kontakte im Verband und Leute die mir noch etwas schuldig sind, aber dadurch dass Tack auf Anton losgegangen ist …“

„Aber das ist doch nur passiert, weil Diccon ihn provoziert hat“, protestierte ich frustriert.

„Der Grund ist egal. Er hat es getan, Diccon hat es beim Verband zur Anzeige gebracht und nun muss er sich mit den Konsequenzen auseinandersetzen. Ich kann nichts für euch tun, wenn er nicht mitspielt. Mach ihm das klar.“

Wenn das nur so einfach wäre. „Ich tu was ich kann“, sagte ich und strich mir müde durchs Haar.

„Gut.“ Sie legte mir eine Hand auf die Schulter. „Und kein Angst, wir kriegen das schon hin. Sie haben nicht gegen euch in der Hand. Im Moment stochern sie einfach blind herum und hoffen, dabei auf irgendetwas zu stoßen, dass ihnen helfen kann.“

Und trotzdem würden wir ab morgen mit einer Anstandsdame durch die Stadt ziehen.

„Es wird schon alles gut gehen“, ermunterte sie mich noch ein letztes mal und ging dann wieder zurück in den Konferenzraum.

Für mich war es nun an der Zeit meinen Mann aufzuspüren und ihm zu erklären, dass er ab morgen einen penetranten Schatten haben würde, der jeden seiner Schritte aufs Genauste beurteilen würde. Ich konnte es kaum erwarten. Doch Reese aufzuspüren, erwies sich als schwerer als gedacht. Er war nicht an seinem Schreibtisch und auch sonst nirgends im Großraumbüro. Ich musste Madeline, unsere Empfangsdame und Koordinatorin, fragen, um herauszufinden, wohin es ihn getrieben hatte.

„Er ist vorhin zur Tür herausgestürmt.“ Die immer perfekt zurechtgemachte Frau mit den dunklen Haaren zeigte mit einem manikürten Finger auf die Eingangstür der Gilde. „Er sah ziemlich verärgert aus.“

„Wenn er nur das ist, kann ich mich glücklich schätzen.“

Sie zog eine gezupfte Augenbraue nach oben. „Will ich wissen was los ist?“

„Wahrscheinlich schon, aber ich werde wohl erstmal mit ihm reden“, gab ich mit einem schiefen Lächeln zurück und klopfte zum Abschied auf den zerkratzten Tresen. „Wir sehen uns.“

„Passt auf euch auf“, sagte sie noch und wandte sich dann dem klingelnden Telefon zu. „Berliner Gilde, Madeline Stock am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“

Ich überließ sie ihrer Arbeit und trat vorbei an den ramponierten Stühlen im Wartebereich und den bunten Plakaten an den Wänden, zur Eingangstür. Ich war kaum in die winterliche Kälte getreten, da entdeckte ich Reese auch schon. Er lehnte direkt neben dem Eingang an der Hauswand und starrte rauchend in den trüben Wolkenhimmel.

„Hallo Hellboy.“

Seine Augen richteten sich auf mich, während er den Rauch aus seinem Mund in die Luft entließ. Er wirkte nicht mehr so verärgert, aber glücklich war auch anders. „Und, gehen wir morgen arbeiten, oder nicht?“

„Ja, aber die Bedingungen werden dir nicht gefallen.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und erzählte ihm, was nach seinem Abgang noch besprochen wurde. Wie bereits erwartet, machte er keine Freudensprünge.

„Also leben wir jetzt unter einem Mikroskop.“ Mit einem verächtlichen Zug um die Lippen schnippst er seinen Zigarettenstummel weg.

„Es tut mir leid. Wenn ich nicht darauf bestanden hätte den Transport zu begleiten, wären wir jetzt nicht in dieser Situation. Das ist alles meine Schuld.“ Und es gab nicht einen positiven Aspekt an der Sache.

„Schön dass du das auch so siehst.“

Ich presste meine Lippen aufeinander. Natürlich redete Reese die Sache nicht schön, das tat er schließlich nie. Trotzdem wünschte ich mir manchmal, dass er sich ein wenig Taktgefühl zulegen würde. Manchmal machte seine Art die Dinge einfach nur komplizierter.

„Egal, vergiss es. Die Transporter wären auch überfallen worden, wenn wir nicht dabei gewesen wären.“

„Ja, aber wären wir nicht dabei gewesen, würden wir jetzt nicht so tief in der Scheiße sitzen.“

„Nein würden wir nicht, aber wir hätten sicher etwas anderes gefunden, um uns das Leben schwer zu machen.“ Er griff nach meinem Arm und zog mich zu sich heran, bis er die Arme um mich schließen konnte. Dann atmete er einfach nur tief ein und hielt mich fest.

Er hatte keine Angst und er machte sich wahrscheinlich auch keine Sorgen. Die ganze Angelegenheit musste ihm einfach nur nerven, aber mich machte es nervös. Ob wir nun etwas mit dem Überfall zu tun hatten oder nicht, der Verband schien davon überzeugt zu sein, dass wir in der Sache mit drin steckten. Warum sonnst sollten sie uns einen Anstandswauwau aufs Auge drücken? Sie hofften wohl dass wir einen Fehler machten und sie die ganze Angelegenheit auf uns abwälzen konnten.

Aber das würde ich nicht zulassen. Ich würde niemandes Sündenbock spielen und würde auch nicht erlauben, dass Reese es tat. Leider würden die Anschuldigungen sich nicht einfach so in Luft auflösen. Trotz Jilins ermunternder Worte, glaubte ich nicht, dass sie ihren Verdacht fallen lassen würden. Unsere einzige Chance mit heiler Haut aus der Sache herauszukommen, war die Sache aufzuklären. Das bedeutete im Klartext, dass ich beweisen musste, dass L.F.A. hinter der Sache steckte. Nur wie sollte ich das anstellen? Es war ja nun nicht so, dass sie irgendwo einen Informationsstand eingerichtet hatte, an dem man sich nach ihren geheimen und illegalen Aktivitäten erkundigen konnte.

„Wie wäre es, wenn du mir erzählen würdest, was es mit diesem Praktikanten auf sich hat“, riss Reese mich aus meinen Gedanken und lehnte sich weit genug zurück, um in mein Gesicht sehen zu können.

Oh oh, stimmt ja, da war noch was. „Wir können das Geld gebrauchen“, wich ich ihm aus. Als Tutor bekam man auf jeden Proles den man tötete einen prozentualen Bonus. Zusätzlich würde der Gewinn aus Kjells Fang während seines Praktikums komplett an Reese gehen und sollte er sich dazu entschließen als Lehrling zu bleiben, würden wir noch immer die Helfe von seinem Fang bekommen.

Wir waren nicht geldgeil, aber Celinas Klinik war nicht billig.

„Versuch es noch mal“, forderte Reese mich auf.

„Die Gilde braucht gute Ausbilder und ob du es nun wahrhaben willst oder nicht, du hast ein Talent zum Lehrcoach.“

Er schnaubte.

Ich trat einen Schritt zurück und funkelte ihn herausfordern an. „Was, willst du etwa behaupten, ich sei nicht super geworden?“

Da er das natürlich nicht zugeben, gleichzeitig aber auch nicht das Gegenteil behaupten konnte, weil ich ihm sonst den Kopf abreißen würde, bekam ich nur einen finsteren Blick.

„Komm schon Reese. Ich weiß du übernimmst nicht gerne die Verantwortung für andere, aber nach unseren anfänglichen Schwierigkeiten haben wir beide es schließlich doch noch geschafft uns zusammenzuraufen. Und nicht nur das, mittlerweile sind wir sogar ein ziemlich gutes Team.“

„Dich darf ich ja auch vögeln.“

Dafür gab es einen strengen Blick. Er wirkte nicht beeindruckt. „Dieses Mal bekommst du sogar einen männlichen Praktikanten und du stehst auch nicht alleine da. Ich werde dich unterstützen und zusammen kriegen wir den kleinen schon groß.“

Er verengte die Augen zu schmalen schlitzen. „War das deine Idee?“

Gott sei Dank nicht. „Nein, Jilin will dich wieder als Lehrcoach einsetzen. Ich war nur die Glückliche, die dir die freudige Nachricht überbringen durfte.“

Schnaubend stieß er sich von der Wand ab und nahm Kurs auf die Tiefgarage. „Ich werde mir keinen Praktikanten ans Bein binden.“

Ja, das hatte ich schon einmal gehört. Leider konnte Reese sehr stur sein und das war etwas, dass wir im Moment nicht gebrauchen konnten. „Reese …“

„Nein.“

„Willst du nicht mal wissen, wann du …“

„Interessiert mich nicht.“

„Aber …“

Er verschwand einfach in die Tiefgarage.

So ein Blödmann. Aber bitte, wenn er es so haben wollte, ich war mindestens genauso stur wie er. Frustriet folgte ich ihm zu unserem Wagen.

 

°°°

 

„Sie hat heute einen guten Tag.“ Die blonde Krankenschwester lächelte uns wohlwollend an. „Sie wird sich über ihren Besuch sicher freuen.“

Ich versuchte zurück zu lächeln, auch wenn ich ihre Meinung nicht teilte. Reese dagegen sah aus als hätte er in eine saure Zitrone gebissen in der auch noch ein Wurm hauste. Seit dem Moment in dem wir das Gebäude betreten hatten, was die Anspannung in ihm mit jeden Schritt gewachsen.

„Ich lasse sie dann allein mit ihr.“ Die junge Krankenschwester klopfte an die Tür und drückte sie einen Spalt auf. „Sie wissen ja Bescheid, wenn etwas sein sollte, dann rufen Sie mich einfach.“

„Ja, danke“, erwiderte ich, da Reese nicht den Endruck erweckte, als würden demnächst Worte über seinen Mund kommen.

Ob sie es von Reese nun schon gewohnt war, oder einfach wusste wie schwierig eine solche Situation für die Angehörigen sein konnte, sie wurde nicht ungeduldig mit ihm. Sie steckte nur den Kopf in die Tür und sagte: „Celina, hier ist Besuch für Sie.“ Dann lächelte sie uns noch einmal an. „Viel Spaß.“

Noch während ich der jungen Frau nachsah, wie sie den hellen Korridor der psychiatrischen Einrichtung entlanglief, betrat Reese bereits mit hölzernen Schritten das Zimmer seiner Mutter.

„Armin!“, hörte ich die weiche Stimme von Celina.

In Ordnung. Ich atmete noch einmal tief durch und folgte ihm.

Das Zimmer hatte keinerlei Ähnlichkeit mit einem Krankenhauszimmer, es war ein heimelig eingerichteter Raum mit hellen, freundlichen Farben.

Ein schmales Bett stand neben einem Raumtrenner mit Kirschblütenmuster. In der Ecke gab es eine kleine Sitzlandschaft samt Tisch. Ein Kleiderschrank mit Regal und einer großen Kommode nahmen die andere Wand ein und die hellen Gardienen vor den Fenstern konnten sogar die Gitterstäbe verdecken.

Die Wände waren voll mit Bildern. Überall hingen Fotos von Reese. Auf diesen Aufnahmen konnte ich praktisch mitverfolgen wie aus einem kleinen, pausbackigen Jungen mit Sturmfrisur und Dauerlächeln langsam ein griesgrämiger junger Mann wurde, dem das Leben oft übel mitgespielt hatte. Dazwischen waren immer wieder vergilbte Blätter, Kindermalereien. Zeugnisse von Reese‘ Jugend.

Von Nick dagegen gab es kein einziges Bild. Es war als würde er in Celinas Welt nicht existieren. Das war vielleicht auch besser so. Ich wollte nicht wissen was mit der Frau geschah, wenn sie verstand, dass ihr jüngster Sohn schon seit Jahren im Koma lag. Im besten Falle würde es sie gar nicht interessieren, im schlimmsten … naja, ich hatte schon so einige Episoden miterlebt und ich war nicht scharf auf weitere.

Celina war aus ihrem Sessel aufgesprungen, kaum dass Reese den Raum betreten hatte. Sie war eine kleine und sehr zierliche Frau mit kurzem, blondem Haar. Und nun hing sie an Reese, der etwas steif versuchte, ihre Arme von seinem Nacken zu lösen.

„Oh Armin, wo hast du nur die ganze Zeit gesteckt? Ich hab dich vermisst.“

„Ich bin nicht Armin, ich bin Reese“, erwiderte er beinahe tonlos und schaffte es endlich sich von ihrem Griff zu befreien.

Celina blinzelte ihn verwirrt an. Da Reese seinem Vater so unglaublich ähnlich sah und sie die Tatsache, dass er sie und seine Kinder schon vor über zwanzig Jahren verlassen hatte, gerne verdrängte, fiel es ihr nie ganz leicht zu verstehen, dass Reese ihr Sohn war und nicht ihr Mann. „Aber … wo ist dann Armin?“

„Der war schlau und hat sich schon vor langer Zeit aus dem Staub gemacht.“

„Reese“, mahnte ich sanft und zog damit Celinas Aufmerksamkeit auf mich. Der eben noch betroffene verunsicherte Blick wurde mit einem Schlag eiskalt.

„Ich das deine Neue?“, fragte sie Reese und bedachte mich mit all der Herablassung, die sie aufbringen konnte. „Stehst du jetzt auf kleine Mädchen?“

Schwer seufzend zog Reese seinen Mantel aus, warf ihn über die Sessellehne und ließ sich auf das graue Polster fallen – so hatte Celine nicht die Möglichkeit sich direkt neben ihn zu setzen. Ich blieb an der Wand neben der Tür stehen, Reese' Mutter mochte es nicht, wenn ich mich durch ihr Zimmer bewegte. Nein, das war falsch, Celina mochte mich nicht, Punkt. Sie war der Meinung ich sei eine rothaarige Teufelin, die ihr ihren Mann ausspannen wollte.

„Nein, das ist Shanks, du kennst sie und ich bin nicht Armin, ich bin Reese, dein Sohn.“

Wieder machte sich Verwirrung bei ihr breit. „Oh, natürlich, Reese.“ Sie verstummte und runzelte die Stirn, als müsste sie sich diese Tatsache erstmal vor Augen führen. Wenn sie so vor sich hinstarrte, erinnerte sie mich immer an Nick. Man musste sie nur anschauen und schon wusste man, woher Niklas sein gutes Aussehen hatte. Ihre Augen waren genauso blau wie seine, so ganz anders als die von Reese. Der war ein Ebenbild seines Vaters.

Ich hatte mal ein Foto von diesem Armin gesehen, war ihm aber zum Glück nie leibhaftig begegnet. Er sah nicht aus wie ein Mann der Frau und Kind schlug, er hatte sogar ein sehr einnehmendes Lächeln gehabt, aber Bilder zeigten nicht immer die Realität.

Celine schüttelte den Kopf, als versuchte sie einen klaren Gedanken zu fassen und ließ sich dann langsam wieder in ihren Sessel sinken. „Reese“, sagte sie leise und schaute dann zu ihrem Sohn herüber. „Weißt du wo dein Vater ist? Das Mittagessen … ich glaube er war nicht da.“

„Nein er war nicht da“, sagte Reese mit einer Geduld, die er nicht hatte. Sein Finger zuckten, aber er verkniff es sich nach seinen Zigaretten zu greifen. Rauchen war hier nicht gestattet und da verstanden die Krankenschwestern auch kein Spaß.

Ich hätte ihm so gerne geholfen, die Situation für ihn erträglicher zu machen, doch das einzige was ich tun konnte, war für ihn da zu ein, damit er nicht allein da durch musste.

„Naja, zum Abendessen wird er wieder da sein, das ist er immer.“ Sie griff nach einer Zeitschrift auf ihrem Tisch, überlegte es sich dann anders und ließ sie stirnrunzelnd liegen. „Er ist immer zum Abendessen da.“

„Nein ist er nicht, er ist vor zwanzig Jahren abgehauen.“

Celina setzte sich kerzengerade auf. „Das stimmt nicht! Untersteh dich so etwas zu sagen, wir sind gegangen, Armin war … er war …“ Sie runzelte angestrengt die Stirn und wieder trat dieser verwirrte Ausdruck in ihre Augen. „Worüber haben wir gerade gesprochen?“

„Über deinen letzten Friseurtermin.“ Nein, Reese hatte keinerlei Skrupel seine Mutter anzulügen, besonders dann nicht, wenn er dadurch das Thema wechseln konnte. Er hasste es über seinen Vater zu sprechen. Es machte die Besuche bei Celina nicht einfacher.

„Ja, ja natürlich.“ Sie rutschte unruhig an die Sesselkante und begann mit den Fingern an ihrem geblümten Kleid herumzuspielen. „Sie ist ein nettes Mädchen. Sie kommt immer zu mir und macht mir die Haare. Sie will bald heiraten.“ Ein verträumter Ausdruck zeigte sich auf ihrem Gesicht. „Warum haben wir nie geheiratet, Armin?“

Reese schloss für einen Augenblick geschlagen die Augen.

Das war es, was die Besuche bei seiner Mutter so anstrengend machte. Sie konnte die Realität einfach nicht von ihrer Phantasie unterscheiden. In ihrem Kopf existierten Dinge, die niemals geschehen waren und die Wahrheit empfand sie als Lüge. Immer und immer wieder musste man ihr jedes Detail genau vor Augen führen, nur damit sie es im nächsten Moment wieder vergessen und verdrehen konnte, so das es in ihre Wirklichkeit passte.

Und das waren die guten Tage.

An ihren Schlechten Tagen konnte sie richtig aggressiv, ja sogar handgreiflich werden. Es war kaum zu glauben wie viel Kraft in so einem zarten Persönchen steckte. Ich wusste genau wovon ich sprach, denn einmal war sie auf mich losgegangen, sodass Reese sie von mir runter ziehen musste, weil sie mir sonst das Gesicht zerkratz hätte. Anschließend hatte man sie unter starke Beruhigungsmittel setzen müssen.

Nein, es war niemals gut Celina aufzuregen.

„Armin?“

„Ich bin Reese, dein Sohn Reese.“

„Reese“, sagte sie, als würde der Klang sie faszinieren. „Weißt du Armin, Reese sollte heiraten. Du kennst doch die Kleine aus dem Haus gegenüber. Du weißt schon, das Mädchen dass immer diese Mütze trägt. Sie würde gut zu ihm passen.“

Reese richtete den seinen ausdruckslosen Blick auf mich. Er hatte sich völlig in sich zurückgezogen. Nur so überstand er die Besuch bei seiner Mutter. „Ich habe bereits eine Freundin.“

Celina stieß ein glockenhelles Lachen aus. „Doch nicht für dich, für deinen Sohn.“ Und so schnell wie ihre Heiterkeit gekommen war, so schnell verschwand sie auch wieder. „Aber keine Kinder. Er darf keine Kinder haben.“ Ihr Arm schoss nach vorne und ihre Finger krallten sich so stark in sein Knie, dass er zusammenzuckte. „Versprich es mir“, forderte sie mit wirrem Blick.

Auch ich spannte mich an, aber ich regte mich nicht.

„Kinder machen alles kaputt“, sagte sie eindringlich. „Sie haben alles kaputt gemacht. Nur wegen ihnen und … blond … ein blonder Teufel. Makellos, makellos und böse. So verdorben …“ Sie begann unzusammenhängendes Zeug zu murmeln, zu leise um sie zu verstehen.

Sehr vorsichtig griff Reese nach ihrer Hand und löste ihre Finger von seinem Bein. „Konzerntier dich“, wies er sie an und allein seine Stimme reichte aus, um ihre Aufmerksamkeit wieder zu bekommen.

„Reese“, sagte sie und wirkte erstaunt, ihn hier zu sehen. „Seit wann bist du hier?“

Er seufzte nur tief und warf wieder einen Blick in meine Richtung, als hoffte er von meiner Seite aus Hilfe zu bekommen, doch leider wusste ich noch weniger als er, wie man mit ihr umging. In allen Lebenslagen konnte ich ihm helfen. Wenn er verletzt war, oder wenn ich ihn beschützen musste, doch hier war ich noch hilfloser als er.

Celinas Blick wurde wieder etwas unstet. Sie schaute was Reese' Aufmerksamkeit erregt hatte und entdeckte mich. Einen Moment schien sie nichts mit mir anfangen zu können, doch dann erhellte sich ihr Gesicht. „Oh gut dass Sie hier sind. Bringen sie uns doch bitte zwei Kaffees. Ich trinke meinen mit Milch und Zucker.“

„Ich bin keine Kellnerin“, erklärte ich ihr ruhig.

„Ach nein? Was machen Sie dann hier?“ Verwirrt wechselte ihr Blick zwischen mir und Reese hin und her. „Armin, wer ist dieses Mädchen und warum hast du sie hergebracht?“

„Das ist Shanks“, erklärte er ihr wie schon tausend mal zuvor. „Du kennst Shanks, sie ist meine Freundin. Du magst …“

„Freundin?!“ Celina sprang auf die Beine und machte einen wütenden Schritt auf mich zu, nur um sofort stehen zu bleiben und sich unsicher umzuschauen. „Wo bin ich?“, fragte sie leise und starrte plötzlich mit weit aufgerissenen Augen in die leere Zimmerecke. „Nein, ich schwöre, ich hab das nicht gemacht“, sagte sie und begann wild den Kopf hin und her zu schüttel. Dann wurde ihr Gesicht ausdruckslos, nur um sofort wieder zu Wut zu wechseln.

Als sie mich auf einmal fixierte und leise Worte vor sich hin murmelte, erhob sich Reese langsam aus dem Sessel.

„Shanks, warte draußen.“

Ich wollte widersprechen, denn ich wollte ihn hier drin nicht allein lassen, aber leider war mir diese Situation nicht fremd. Wenn Celina anfing Selbstgespräche zu führen und Dinge sah die gar nicht da waren, stand die Stimmung kurz vor dem Kippen und jede falsche Bewegung konnte sie von der Klippe stürzen. Es blieb mir also gar nichts anderes übrig, als langsam die Tür zu öffnen und hinaus auf den Korridor zu schlüpfen, während Reese versuchte sie wenigstens halbwegs in der Realität zu verankern.

Das war alles so … scheiße. Wenn ich Celina erlebte und auch Reese, der versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn das Verhalten seiner Mutter belastete, kam ich nicht umhin mich zu fragen, wer von uns beiden das schlimmere Schicksal zu beklagen hatte. Ich, die meine Eltern schon in frühen Kindertagen verloren hatte, oder er. Seine beiden Eltern waren noch am Leben – zumindest ging ich davon aus, weil ich nichts anderes gehört hatte – aber manchmal fragte ich mich, ob es für alle Beteiligten nicht das Beste wäre, wenn Celina einfach friedlich einschlafen würde. Das hier war doch kein Leben. Besonders nicht für sie.

Schon im nächsten Moment taten mir meine Gedanken leid, das hier war immerhin die Frau die Reese das Leben geschenkt hatte.

Mich selber tadelnd, lehnte ich mich neben der Tür an die Wand und ließ mich daran herunterrutschen, bis ich mit angezogenen Knien auf dem Boden saß.

Auch wenn das Personal versuchte das Gebäude wohnlich wirken zu lassen, fand ich die ganze Atmosphäre hier immer ein wenig beklemmend. Die hübschen Gardinen an den Fenstern konnten den antiseptischen Geruch nicht überdecken. Das kalte Licht der Neonröhren blieb trotz der Pflanzen, die hier alle paar Meter standen und die Geräusche machten sehr deutlich, dass wir uns in einer Nervenheilanstalt befanden und nicht auf einem Rummel.

Manchmal schlürfte ein Partien im Bademantel vorbei und nahm mich genau ins Auge. Ich hatte hier schon Leute schreien, stöhnen und weinen gehört. Es gab Leute die wirkten auf dem ersten Blick ganz normal, bis sie plötzlich anfingen Selbstgespräche zu führen, oder seltsame Dinge zu machen, wie zum Beispiel Pflanzen mit einem Keks zu füttern.

Heute jedoch war es sehr ruhig auf dem Korridor. Ein paar mal liefen Ärzte und Pfleger an mir vorbei. Zwei von ihnen hatten sogar ein kurzes Lächeln für mich übrig, bevor sie zu ihrer eigentlichen Aufgabe eilten. Aus einem der Zimmer hörte ich leises Murmeln.

Ich saß da, starrte die Wand an und lauschte auf Geräusche aus Celinas Zimmer. Da war für mich fast noch unerträglicher, als da drin zu sein. Als Kind war ich oft in Krankenhäusern und bei Ärzten gewesen und das sterile Umfeld, ja die ganze Atmosphäre die dort herrschte, machte mir einfach eine Gänsehaut. Aber ich konnte nicht einfach gehen und Reese im Stich lassen. Also wartete ich.

Die Zeit zog sich zäh wie Kaugummi. Wenn ich auf etwas wartete und nichts zu tun hatte, dann bekam ich immer der Gefühl die Zeit würde mich verspotten und rückwärts gehen, nur um mir zu zeigen, dass ich sie nicht kontrieren konnte. Daher hatte ich das Gefühl bereits seit Stunden hier zu sitzen, als sich die Tür zu Celinas Zimmer öffnete und Reese mit steinerner Mine herauskam.

„Sie ist eingeschlafen“, erklärte er mir und reichte mir die Hand, um mich wieder auf die Beine zu ziehen. Er hatte seinen Mantel wieder angezogen und sah einfach nur müde aus.

„Willst du noch mal mit dem Pflegepersonal sprechen?“

Er schüttelte nur den Kopf, ließ mich los, sobald ich stand und verließ dann zusammen mit mir das Gebäude, um es für eine weitere Woche hinter sich zu lassen.

Ich fragte ihn nicht wie es ihm ging, nicht beim Verlassen des Geländes und auch nicht auf der Fahrt zum Krankenhaus. Die Tortur war noch noch nicht vorbei, denn nun war Nick an der Reihe und ich hätte schon blind und gefühllos sein müssen, um nicht zu verstehen, wie es Reese ging. Er hatte seinen Schutzpanzer angelegt und er würde ihn erst wieder fallen lassen, wenn wie nach Hause in unsere heimischen vier Wände zurückkehrten.

Er behauptete zwar immer, Celina war nicht seine Mutter, aber seine Taten widersprachen seinen Worten. Vielleicht wünschte er sich das einfach nur, dass dies der Wahrheit entsprach. Vielleicht hoffte er aber auch einfach nur, dass noch etwas von der Frau die einmal seine Mutter gewesen war, noch in ihr existierte. Darum zwang er sich jede Woche aufs neue sie zu besuchen. Hoffnung konnte schon ein gemeines Biest sein.

Im Krankenhaus herrschte wesentlich mehr Betrieb als in der Heilanstalt, selbst hier oben in der dritten Etage, in der die Dauerpatienten beherbergt wurden.

Wenn wir Celina besuchten, übernahm Reese immer die Führung, doch bei Nick hielt er sich immer zurück. Es machte fast den Eindruck, als würde er sich davor fürchten seinem Bruder zu nahe zu kommen und so wunderte es mich gar nicht, als er an der Tür zu Nicks Zimmer etwas von „Schwerster“ und „Zustand erkundigen“ murmelte und mich dann einfach stehen ließ.

Ich wusste er würde wiederkommen, aber er brauchte immer etwas Zeit um sich zu überwinden das Zimmer zu betreten. Wenn er nur endlich aufhören könnte sich für Nicks Zustand verantwortlich zu fühlen.

Ohne anzuklopfen trat ich durch die Tür.

Das Krankenzimmer sah wie jedes andere hier in der Klinik aus. Naja, ich hatte versucht das sterile Weiß ein wenig freundlicher und gemütlicher zu machen, doch die piependen Überwachungsgeräte ließen sich weder durch Familienfotos noch durch Nicks Lieblingsposter kaschieren.

Nicks Bett stand genau in der Mitte der Zimmers, direkt neben einem Nachtisch mit einer Flasche Wasser darauf.

Warum nur stellten sie ihm immer Wasser hin? Es war ja nun nicht so, dass er einfach aufwachen und sich ein Glas genehmigen würde. Aber trotzdem stand da immer diese Flasche mit Wasser, als würde sie nur darauf warten, dass er zugriff.

Leise schloss ich die Tür hinter mir und ging zum Bett. „Hi Nick“, begrüßte ich ihn. Ich sprach immer mit ihm, als wäre er wach und könnte jeden Moment antworten. Der Arzt meinte, es gab Komapatienten, die es hörten, wenn man mit ihnen sprach und ich wollte nicht, dass sich Nick einsam oder ignoriert vorkam, nur weil er nicht antworten konnte. „Reese kommt auch gleich. Du kennst ihn ja, er braucht immer ein wenig länger.“

Ich zog mir einen Stuhl heran, hängte meine Jacke über die Lehne und setzte mich dann nahe am Bett drauf. Dann kam der für mich schwerste Teil des Besuchs, ich griff nach seiner Hand und drückte sie leicht. Sie war warm und vertraut, aber es gab keine Gegenreaktion. So oft hoffte ich auf einen leichten Druck, oder wenigstens ein Zucken seiner Finger, aber sie blieb völlig entspannt, so wie der Rest von ihm.

Als ich Nick das erste Mal begegnet war, hatte mich sein Aussehen staunen lassen. Das makellose Gesicht, die himmelblauen Augen und sein blondes Haar. Auch sein Körper konnte ein Mädchen schon mal ins Schwärmen bringen. Er hatte ausgesehen wie der perfekte Mann, ein Engel auf Erden. Und dann hatte er das Bild von sich zunichte gemacht, indem er mir eine Knarre mitten ins Gesicht hielt.

Jetzt war das nur noch eine nette Anekdote, damals hatte ich das nicht lustig gefunden.

Heute war er nicht mehr ganz so makellos. Das schwere Schädelhirntrauma hatte seinen Tribut gefordert. Die Wangen waren eingefallen und sein Teint ziemlich blässlich.

Ich hob die Hand und strich ihm eine blonde Strähne aus der Stirn. Seine Haare mussten bald mal wieder geschnitten werden. „Ich würde dich ja nach deinem Tag fragen, aber ich denke, ich weiß ziemlich genau wie der abgelaufen ist.“

Die einzige Antwort die ich bekam, war das stetige Piepen der Maschinen, die ihn am Leben hielten.

„Aber ich kann dir von meinem Tag erzählen, auch wenn der bisher nicht besonders erfreulich war. Weißt du, die Woche ist so einiges passiert und jetzt stecken Reese und ich ziemlich tief in der Tinte.“ Ich dachte eine Moment an die Ereignisse der letzten Tage zurück und erzählt nicht dann alles, was geschehen war. „Jilin sagt zwar, dass wir uns keine Sorgen machen müssen, aber … ich weiß nicht. Ich hab das Gefühl die suchen gar nicht nach der Wahrheit. Die brauchen nur jemanden, den sie dafür an den Pranger stellen können.“ Ich schwieg einen Moment. „Aber das werde ich nicht zulassen, also mach dir keine Sorgen, ich boxe uns da schon irgendwie raus.“

Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass Nick nach drei Jahren Koma einfach so aufwachen würde, aber wie immer wenn ich mit ihm sprach, achtete ich dabei auf jedes noch so kleine Zeichen, das Zucken eines Muskels, irgendwas, das mir verriet, das da noch leben unter dieser Haut war. Aber wie immer war meine Suche erfolglos.

„Weißt du, das Ganze wäre wesentlich einfacher, wenn du mitspielen würdest. Reese braucht dich.“ Und ich vermisste ihn. Ja, die Dinge zwischen und waren damals extrem aus dem Ruder gelaufen, aber ich hasste ihn ja nicht. Da war nur diese Vorsicht, mit der ich ihm seit der Razzia in Taids Lagerhaus begegnete.

Ich hatte Reese nie erzählt, was Nick mir in der Zwingerhalle fast angetan hätte. Er musste es nicht wissen, damit war niemanden geholfen und danach war sowieso alles anders geworden. Es gab vieles was ich damals hätte anders machen können, doch das einzige was ich wirklich bereute, waren die letzten Worte, die ich an ihn gerichtet hatte. Damals im Auto, als er versuchte die Dinge zwischen uns wieder in Ordnung zu bringen.

Nick, ich habe Angst vor dir.

Ich habe Angst vor dem, was du tun könntest, wenn ich etwas Falsches sagte.

Es hatte der Wahrheit entsprochen, aber wenn ich gewusst hätte was danach geschehen würde … ich wünschte einfach, ich hätte es nicht gesagt. „Tja, wenn da mit den Wünschen nur so einfach wäre“, murmelte ich und warf einen Blick auf den Herzmonitor.

„Was wünschst du dir denn?“

Vor Schreck wirbelte ich herum und stieß dabei mit dem Ellenbogen gegen den Nachttisch. Die Glasflasche wackelte. Ich versuchte noch nach ihr zu greifen, war aber einen Tick zu langsam. Sie fiel herunter, zerschellte mit einem lauten Knall und hinterließ eine riesige Schweinerei in einer Wasserpfütze. Tja, jetzt war wenigsten geklärt, warum sie hier immer eine Flasche voller Wasser hinstellten.

„Nun sieh dir an, was du wieder angestellt hast.“

Ich funkelte Reese an. „Hättest du dich nicht so an mich herangeschlichen, dann wäre …“

Ein plötzlicher Warnton der Maschinen ließ mich nicht nur verstummen, ich fuhr auch herum, um einen Blick auf die Bildschirme zu werfen. Plötzlich hatte ich das Gefühl in einem Casino zu sein. Die ganzen Pieptöne und Warnlichter begannen verrückt zu spielen, doch erst als Nicks Hand sich in meinen Griff zusammenkrampfte, verstand ich dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Und es war nicht nur das, sein ganzer Körper schien plötzlich unter starken Muskelkräften zu leiden. „Oh Gott, was passiert hier?“

Reese antwortete nicht. Er war schon längst halb zur Tür raus und rief lautstark nach Hilfe.

„Nick?“

Die Muskeln in seinem Hals waren wie Drahtseile gespannt und plötzlich hatte ich Angst, dass er sich die Zunge abbeißen würde.

„Oh Gott, Nick, Reese, mach etwas!“ Endlich, nach so vielen Jahren gab Nick eine Regung von sich, aber das war ganz sicher nicht gut und langsam wurde ich panisch. Was passierte hier mit ihm? Das war doch sicher nicht normal. „Reese!“

Ärzte und Krankenschwestern kamen in den Raum gestürzt. Reese trat eilig zur Seite, um niemanden im Weg zu stehen. Sein Gesicht war kreideweiß.

Jemand packte mich an den Schultern und schob mich grob aus dem Weg. Die Ärzte riefen Befehle, mit denen ich nichts anfangen konnte. Direkt vor meiner Nase erschien eine Krankenschwester und versuchte mich und Reese aus dem Zimmer zu schieben.

„Bitte warten Sie draußen.“

„Warum? Was ist mit Nick?“

„Der Arzt wird später mit ihnen sprechen.“ Sie schob mich ungeduldig auf den Korridor und schlug mir die Tür vor der Nase zu.

 

°°°°°

Kapitel 05

 

Unruhig griff Reese nach der Zigarettenschachtel in seiner Manteltasche, nur um sich dann daran zu erinnern, dass wir uns in einem Krankenhaus befanden und die Hand wieder sinken zu lassen. „Verdammt, was ist da los, warum dauert das so lange?“

„Weil die Ärzte keine Wunder bewirken können. Du musst ruhig bleiben, es kommt schon alles in Ordnung.“ Darauf bauten jedenfalls meine Hoffnungen. Genau wie Reese hatte ich keine Ahnung, was passiert war. Ich hatte noch immer dieses Bild vor Augen, wie sich Nicks ganzer Körper in Krämpfen gewunden hatte und konnte mir absolut keinen Rein darauf machen. Hatte man ihm ein falsches Medikament gegeben? Stimmte etwas nicht mit seiner Hirnfunktion, oder mit seinen inneren Organen?

Ich war genauso ratlos wie Reese, nur zwang ich mich hier ruhig an der Wand stehen zu bleiben, während er ruhelos vor der Tür Furchen in den Boden lief.

Sie waren jetzt schon seit fast einer Stunde da drin. Ein paar Mal schon war die Tür aufgegangen, aber immer nur wenn jemand eilig heraus kam, oder hinein ging. Dabei war es mir nicht gelungen einen Blick auf seinen kleinen Bruder zu erhaschen. Wenigstens hatten sie Nick nicht weggebracht, was hoffentlich bedeutete, dass es nicht ganz so schlimm war, wie wir befürchteten. Nicks Hirn hatte in der Vergangenheit schon genug Schaden genommen.

Doch alles Rätselraten war zwecklos. Im Moment konnten wir nichts anderes tun als zu warten. Leider würde Reese wohl demnächst die Tür einrennen, wenn ich es nicht schaffte ihn auf andere Gedanken zu bringen. „Geh doch raus eine rauchen. Ich warte hier und gebe dir Bescheid, wenn sich etwas tut.“

Reese bedachte mich mit einem Blick, der mich wohl das Fürchten lehren sollte.

Ich seufzte. „Komm her.“

Er blieb stehen, kam aber nicht näher.

Dass er es einem aber auch immer so schwer machen musste. Da er nicht zu mir kam, stieß ich mich von der Wand ab und trat vor ihn. „Wir wissen nicht was los ist“, sagte ich leise und zupfte an seinem Pullover herum, bis er glatt war. Ich schob meine Arme unter den Mantel und schlang sie um seine Mitte. „Es hat keinen Sinn sich jetzt verrückt zu machen und sich ein Horrorszenario nach dem anderen auszumalen. Vielleicht …“ Ich wagte es kaum die nächsten Worte auszusprechen, denn Hoffnung war ein gefährliches Gut. „Vielleicht ist das ja ein gutes Zeichen.“

„Ein gutes Zeichen?“, fragte er ungläubig. „Du glaubst das war ein gutes Zeichen?“

Im Vergleich zu seinem vorherigen Zustand. „Wir warten seit drei Jahren darauf, dass er irgendeine Regung von sich gibt.“

„Das waren krampfartige Muskelzuckungen und keine gewollt herbeigeführte Regung.“

„Aber immerhin hat er sich bewegt.“

Reese' Lippen waren kaum mehr als eine grimmige Linie. „Ich weiß was du dir wünschst, aber …“ Er verstummte und wich meinem Blick aus.

„Aber was?“ Als er sich weigerte mich anzuschauen, zog ich meine Hand heraus und schlug ihm leicht auf die Brust. „Aber was?“, wiederholte ich.

Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und atmete tief durch, als würden ihn die nächsten Worte sehr schwer fallen. „Vielleicht ist es an der Zeit endlich loszulassen.“

Es war kaum mehr als ein Hauch, so als würde ich es nicht hören, wenn er nur leise genug sprach, doch es erfüllte mich purem Entsetzen. „Das meinst du nicht ernst“, sagte ich genauso leise.

Er schwieg.

Oh Gott, nein, er dachte wirklich darüber nach. „Triff keine übereilten Entscheidungen.“ Nicht nur wegen mir, auch wegen ihm. Wenn er wegen diesem Vorfall die Stecker ziehen ließ … er würde sich mit dem Gedanken quälen seinen eigenen Bruder getötet zu haben. Das würde ihn zerstören. „Bitte.“

Er erwiderte nichts. Er schaute mich nur einen langen Moment an.

„Bitte“, sagte ich noch einmal. Vielleicht würde es ihm leichter fallen die Dinge so zu belassen wie sie waren, wenn er glaubte, er tue das für mich. Aber ich konnte das nicht zulassen. Nein, ich durfte das nicht zulassen. Nick war nicht hirntot, er schlief einfach nur und so gering die Chance auch war, er konnte immer noch aufwachen.

Meine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als sich die Tür zu Nicks Zimmer öffnete. In Erwartung wieder eine Krankenschwester zu sehen, die heraus eilte, drehte ich mich herum, doch es waren zwei Pfleger, die Nick in seinem Bett herausschoben.

Er hing am Tropf und war mit einer kleinen Maschine verkabelt, die bei ihm im Bett lag und seine Vitalfunktionen vermerkte.

Ich riss mich von Reese los und stürzte gemeinsam mit ihm zum Bett. Dass ich den Pflegern dabei den Weg abschnitt, war mir völlig egal. „Was ist mit ihm, was ist passiert?“ Oh Gott, Nick wirkte so blass, beinahe schon durchscheinend. Ich hatte ihn nicht mehr so kränklich gesehen, seit er hier eingeliefert wurde.

Hinter dem Bett kam einer der Ärzte heraus. Es war ein älterer Mann mit angegrauten Schläfen und vielen Fältchen um die Augen. Er wirkte müde, aber nicht beunruhigt. „Machen Sie sich keine Sorgen, wir haben ihn erstmal stabilisiert.“

„Das war keine Antwort auf ihre Frage“, bemerkte Reese mit einer Ruhe, die nur aufgesetzt war. Die Unruhe brodelte dicht unter der Oberfläche.

„Zum jetzigen Zeitpunkt können wir noch nicht genau sagen, was den Anfall ausgelöst hat, oder was er bedeutet. Ich habe eine Reihe von Test angeordnet, die uns Klarheit verschaffen sollen. Im Moment kann ich nur sagen, dass Herr Tack sich nicht in Lebensgefahr befindet.“

Das reichte mir nicht. Das war alles so oberflächlich formuliert, dass es alles und nichts bedeuten konnte. „Was heißt das für Nick?“, wollte ich wissen. „Wird er …“ aufwachen. Ich schaffte es nicht das Wort über die Lippen zu bringen.

„Das kann ich erst genauer sagen, wenn ich die Testergebnisse vor Augen habe. Alles andere wäre reine Spekulation.“

Natürlich, was auch sonst.

„Wann kann man mit den Ergebnissen rechnen?“, fragte Reese.

„Frühstens morgen. Sie verstehen, es ist Sonntag, heute ist nur das nötigste besetzt, es wird also eine ganze Weile dauern.“ Er warf einen kurzen Blick auf das Bett. „Am Besten Sie gehen nach Hause. Wir melden uns bei Ihnen, sobald es etwas Neues gibt, oder sich sein Zustand verändert.“

Noch so eine Standartantwort. Warum nur mussten Ärzte immer alles hinter verschlossenen Türen halten? Wir wollten doch einfach nur wissen was los war.

„Na schön.“ Reese wirkte nicht zufrieden. Sein Blick war starr auf Nick gerichtet, doch seine Gedanken hielt er unter Verschluss.

Ich wollte nicht gehen. Wenn nötig würde ich auch tagelang im Krankenhaus ausharren, aber Reese schien ein wenig Abstand zu der Situation zu gebrauchen. „Unsere Kontaktdaten stehen in seiner Akte“, betonte ich noch mal sehr nachdrücklich. „Sie können uns Tag und Nacht erreichen.“

Der Arzt nickte. „Natürlich.“

Da blieb nur noch zu hoffen, dass der Arzt sich auch daran erinnerte uns Bescheid zu geben, wenn es Neuigkeiten gab und es nicht ausversehen vergaß. Natürlich, ich wusste das man in einem Krankenhaus immer viel zu tun hatte, aber hin und wieder musste man auch an die Angehörigen denken.

Im Moment jedoch konnte ich nichts anderes tun, als Nicks Hand noch mal kurz zu ergreifen und ihm zum Abschied einen Kuss auf die Stirn zu geben. „Mach keine Schwierigkeiten“, mahnte ich ihn. „Wir kommen so bald wie möglich wieder.“

Natürlich antwortete er nicht. Seine Augenlider zuckten zwar, aber das hatten sie in den letzten Jahren immer mal wieder gemacht. Die Ärzte glaubten, dass er träumte.

Es war mir schon lange nicht mehr so schwer gefallen Nicks Hand loszulassen und vom Bett zurückzutreten. Ich hatte das ungute Gefühl, dass ich Nick nicht lebend wiedersehen würde, wenn ich ihn auch nur einen Moment aus den Augen ließ.

Ich musste mir selber sagen, dass das Blödsinn war. Nichts würde sich ändern, nur weil ich nach Hause fuhr und nach dem Tag heute konnten sowohl Reese als auch ich ein wenig Ruhe gebrauchen. „Sei artig“, mahnte ich ihn noch einmal und trat dann neben Reese. Ich nahm seine Hand und schaute dabei zu, wie die Pfleger mit Nick irgendwo in den Eingeweiden des Krankenhauses verschwanden.

Der Arzt nickte uns zum Abschied noch einmal zu und verschwand dann wieder zu seiner Arbeit.

„Alles wird gut“, sagte ich leise, wusste aber nicht genau, ob ich damit versuchte ihn zu beruhigen, oder mich selber.

Reese blieb stumm. Er wandte sich einfach ab und marschierte Richtung Aufzüge.

Verdammt, dass er so still war, war kein gutes Zeichen. Wenn er eklig gewesen wäre, oder rumgebrüllt hätte, wüsste ich dass er einfach nur Dampf ablassen musste, aber ein stiller Reese versuchte sich abzuschotten und allein mit seinen Gedanken klar zu kommen.

Ich hasste das.

Natürlich, hin und wieder brauchte jeder mal etwas Zeit für sich und seine Gedanken, aber in so einer Situation war es einfach nicht gut, wenn er dicht machte, nicht nachdem was er eben noch gesagt hatte. Er wollte die Maschinen abschalten.

Trotz meiner Bedenken überließ ich ihm während der Fahrt nach Hause seinen Gedanken. Ich würde ihm ein wenig Zeit geben, sich damit auseinanderzusetzen. Nicht viel, aber ein wenig, denn ich wollte nicht, dass er etwas tat, was er später bereuen würde.

Als wir Zuhause ankamen, begann es draußen schon zu dämmern. Es war gerade Mal kurz vor vier, doch der Winter scherte sich nicht darum, was wir von seinen Launen hielten.

Reese und ich wohnten in der ersten Etage. Das war weit besser als die vielen Stufen zu seiner alten Wohnung. Trotz meiner Kondition war es jedes Mal aufs Neue ein Kraftakt gewesen, sie zu überwinden. Nein, hier gefiel es mir eindeutig besser.

Unsere Wohnung war nicht groß. Wenn man hinein kam, hatte man einen länglichen Flur vor sich. Rechts waren die Küche und das Bad und links waren der Wohnraum und dahinter das Schlafzimmer.

Als Reese die Wohnung aufschloss, wurden wir von einem kläglichen Miauen begrüßt, das uns mitteilte, was für herzlose Tierquäler wir waren, weil wir Cherry für ein paar Stunden sich selbst überlassen hatten. Es war ja auch wirklich eine Zumutung. Die arme Katze.

„Oh, hast du uns vermisst“, säuselte ich und ging noch im Türrahmen in die Hocke, um sie hinter ihrem weißen Öhrchen zu kraulen.

Ihr Antwort bestand aus einem lauten Schnurren, während sie ihren Kopf an meine Hand rieb und sich dann um meine Füße wand – womit sie mich fast umschmiss.

Reese beachtete weder sie noch mich. Er hänge nur seinen Mantel an den Garderobenhaken, trat sich die Schuhe von den Füßen und kehrte uns mit steifen Schultern den Rücken. „Ich geh duschen.“

„Soll ich dir etwas zu Essen machen?“ Ich erhob mich und schob Cheery mit dem Fuß in die Wohnung, bevor ich von innen die Tür schloss. In der Hoffnung auf Futter flitzte sie sofort in die Küche davon.

„Nein, ich hab kein Hunger“, war alles was er noch sagte, dann fiel die Badezimmertür auch schon hinter ihm zu.

Verdammt.

Natürlich war mir klar, dass ein bisschen Essen seinen Gemütszustand nicht verbessern würde, aber praktisch die Tür vor der Nase zugeschlagen zu bekommen … nein, ich sollte ihn mit seinen Gedanken jetzt nicht allein lassen – nicht nach dem heutigen Tag. Also zog ich Schuhe und Jacke aus und folgte ihm ins Bad.

Er stand am Waschbecken und hatte sich bis auf die Boxershorts bereits entkleidet. Wasser lief aus dem Wasserhahn, doch er stand einfach nur da und starrte in den Spiegel. Er musste gehört haben, dass ich hereingekommen war, aber er regte sich nicht. Kein gutes Zeichen.

„Rede mit mir.“

Unsere Blicke trafen sich für einen Augenblick im Spiegel, dann begann er seinen Rasierer und die Dose mit dem Schaum aus dem Spiegelschrank zu räumen.

„Was willst du hören?“

Als wenn es darum ging, was ich hören wollte.

Reese nahm die Sprühdose und drückte auf den Auslöser. Nichts passierte. Er versuchte es ein weiteres Mal mit dem selben Ergebnis. „Verdammt!“, brüllte er plötzlich und warf die Dose mit voller Wucht gegen die Wand. Sie knallte gegen die Fliesen und fiel dann mit lautem Getöse in die Badewanne. „Kann denn heute gar nichts funktionieren?!“ Er stützte sich auf den Waschbeckenrand, schloss die Augen und atmete tief durch.

„Wir hätten heute den Tag wohl doch besser mal im Bett verbracht, hm?“

Er reagierte nicht. Warum auch? Sonntag war bei uns immer anstrengen, aber der heutige Tag war seit dem Aufstehen einfach nur scheiße gewesen. Und jetzt hatte ich noch nicht mal tröstenden Worte für ihn, denn sie alle wären nur eine Lüge gewesen. Und es ging hier ja auch gar nicht um den Rasierschaum. Aber wenigsten eine Sache konnte ich für ihn tun.

Ich ging zu dem kleinen Schrank in der Ecke und holte eine neue Dose mit Rasierschaum heraus, die ich ihm ans Waschbecken stellte. „Wenn du reden willst, ich höre zu“, machte ich ihm noch mal deutlich. Dann gab ich ihm einen Kuss auf die Wange, sammelte seine getragene Wäsche und die leere Dose ein und verließ das Bad.

Die Dose landete im Müll, die Wäsche im Wäschekorb – natürlich erst, nachdem ich seine Taschen geleert hatte. Ein Feuerzeug, Taschentücher, noch ein Feuerzeug, sein Handy, ein drittes Feuerzeug. Mein Gott, der Mann hatte so viele Feuerzeuge, dass er damit einen eigenen Laden eröffnen konnte. Wo trieb er die nur immer alle auf?

Ich packte das ganze Zeug aufs Fensterbrett und ging dann ins Wohnzimmer mit dem Ziel, wenigstens für eines der Probleme die sich heute aufgetan hatten, eine Lösung zu finden und dafür brauchte ich meinem Laptop.

Unser Wohnzimmer machte nicht sehr viel her, aber es war sauber und gemütlich. In der Ecke unter dem Fenster stand eine Eckcouch mit einem flachen Holztisch davor. Die helle Schrankwand hatten wir beim Discounter erstanden. Dann gab es in der Ecke hinter der Tür noch einen Kratzbaum für Cheery und damit war der Raum auch schon voll.

Mein Laptop stand schon einsatzbereit auf dem Couchtisch und wartete nur darauf, von mir eine Aufgabe zu bekommen.

Ich machte es mir auf meinem Platz am äußersten Ende der Couch im Schneidersitz bequem, zog den Tisch etwas näher und begann erstmal mit einer oberflächlichen Suche in der Suchmaschine. Natürlich wusste ich wie wahrscheinlich jeder Mensch auf diesem Planeten, wer Live for Animals und wofür sie standen, doch näher hatte ich mich mit dem Thema noch nie beschäftigt. Sie waren die Gruppierung, die die Monster auf die Welt losgelassen hatten und seither versuchten sie vor den Menschen zu schützen.

Wie ich schon nach kurzer Zeit feststellen musste, waren nicht gerade wenige von ihnen bei diesen Versuchen selber verstorben. Es gab Berichte und Zeitungsartikel ohne Ende. Ein Mann der zwei Cascus' in einer großen Voliere in seinem Keller hielt, um sie vor den Menschen zu schützen. Leider waren diese katzenartigen Proles giftig und hatten irgendwann die schnauze voll gehabt, eingesperrt zu sein. Die Leiche wurde erst Tage später gefunden.

Es gab Mitglieder der Organisation, die die Venatoren bei ihrer Arbeit behindert, oder sogar angegriffen hatten, um die Proles am Leben zu halten.

Eine Frau war in einen Kanal geklettert, um einen Lyvara – einen luchsartigen Proles – aus dem Wasser zu ziehen. Das dumme Vieh war hineingefallen und kam alleine nicht mehr heraus. Doch anstatt dankbar zu sein, dass die Frau ihm zu Hilfe kam, hatte er seine Chance genutzt und die Frau zu seinem Abendessen gemacht. Es hatte damit geendet, dass der Lyvara von einem Polizisten erschossen worden war. Die Frau hatte nicht überlebt.

In einem anderen Fall hatte eine ältere Dame ein Nest mit drei Amph-Jungen darin gefunden und beschlossen, dass es eine gute Idee sei, sie mit nach Hause zu nehmen und großzuziehen. Wenn sie dann alt genug wären, könnte sie sie ja wieder frei lassen. Sie teilte mit ihnen den Tisch und das Bett und die Jungen wuchsen heran. Es endete wie alle anderen Geschichten blutig.

Kopfschüttelnd lehnte ich mich zurück. Wenn man so etwas las, fragte man sich doch, wie dumm manche Menschen eigentlich waren. Es war egal wie klein oder groß sie waren, sie waren alle gefährlich.

Ein leises Maunzen machte mich darauf aufmerksam, dass Cheery sich ins Wohnzimmer geschlichen hatte. Sie stand neben der Couch, blinzelte mich einmal an und machte dann einen Satz auf die Lehne.

Ich beachtete sie nicht weiter, als sie ihren Kopf schnurrend an meiner Schulter rieb und anschließend auf meinem Schoß kletterte, um sich dort zu einem warmen, weichen Fellball zusammenzurollen.

Immer wieder klickte ich Artikel an, die mich an der Intelligenz der Menschen zweifeln ließen, aber im Grunde war es nicht das was ich suchte, also verlegte ich mich darauf die offizielle Seite von L.F.A. zu besuchen. Ja, so etwas besaßen die, denn auch wenn es jedermann besser wusste, so versuchten sie doch noch immer den Anschein als seriöse Tierschutzorganisation zu wahren.

Das war nur ein Deckmantel, der es Proles-Freunden einfacher machte, sich an ihrem Unfug zu beteiligen, doch die Polizei konnte nichts dagegen unternehmen, weil sie immer behaupteten, die Leute die die Proles schützten, seien eine Splittergruppe, mit denen sie nichts zu tun hatten. Und den Namen ihrer Organisation wollten sie nicht ändern, weil er für etwas Gutes stand und sie diesen Verbrechen nicht nachgeben würden.

Blödsinn, das war alles nur eine Maske, aber leider konnte man rechtlich gesehen nichts dagegen unternehmen.

Die Seite jedoch war sehr professionell und hätte ich nicht gewusst, wem sie gehörte, hätte ich glauben können, dass es den Leuten dort wirklich nur um die Rettung und Erhaltung von Tieren ging. Gesetzesvorlagen, Petitionen, aktuelle Kampagnen und bisher verzeichnete Erfolge. Es gab auch eine große Datenbank mit Fotos von geretteten Tieren und den Mitgliedern der Gruppierung. Nirgendwo war auch nur ein Fitzelchen von einem Proles zu sehen. Der Schein war wirklich gut.

Als ich hörte wie sich die Tür zum Bad öffnete, schaute ich kurz auf. Ich lauschte wie Reese ins Schlafzimmer ging und sich dann am Kleiderschrank zu schaffen machte, bevor ich mich wieder auf meine eigentliche Aufgabe konzentrierte und jede Kleinigkeit der Seite genau unter die Lupe nahm.

Gerade machte ich mir ein paar Notizen in einem extra Dokument über die Kontaktdaten und namentlich erwähnten Personen, als Reese mit nichts als einer Jogginghose herein kam. Genau wie ich hatte Reese einen ziemlich durchtrainierten Körper. Als Venatoren mussten wir den auch haben. Kraft- und Ausdauertraining gehörten zu unserem täglichen Brot, auch wenn wir das wahrscheinlich weit aus öfter tun sollten.

Doch Reese' Körper war nicht markellos. Von den vielen kleinen Narben, die er sich bei der Jagd immer mal wieder zuzog einmal abgesehen, hatte er eine großflächige Verbrennung von einem Topf kochendheißem Wasser zurückbehalten. Sie zog sich über die linke Schulter, die linke Brust und ein Stück seinen Oberarm herunter. Die Haut dort wirkte wie geschmolzenes Wachs und er spürte dort nichts. Seine Mutter hatte ihm das angetan, als er noch ein Kind gewesen war.

Er wirkte noch immer sehr verschlossen, als er sich sein Buch aus der Schrankwand nahm und damit zur Couch kam.

Mit einem Griff in meinen Schoß beförderte er die Katze auf den Boden, dann streckte er sich neben mir aus, legte den Kopf auf meinen Oberschenkel und schlug sein Buch auf.

Cheery schnaubte empört und schien einen Moment zu überlegen, sich einfach auf sein Gesicht zu legen – ja, das war schon ein paar Mal passiert.

Ich strich Reese durch das noch feuchte Haar und warf dabei ein Blick auf sein Buch. Er kam nicht oft zum Lesen, aber wenn doch, dann waren es immer historische Romane. Das hier hatte an die tausend Seiten und er hatte es schon zur Hälfte durch.

Ich konnte mit Romanen nichts anfangen, meine Lektüre beschränkten sich immer wissenschaftliche Werke oder Artikel in Fachzeitschriften. Mit Phantasiegebilden, selbst wenn sie auf Tatsachen beruhten, konnte ich nichts anfangen. „Alles klar bei dir?“

Er brummte etwas Unverständliches, das alles und auch nichts bedeuten konnte.

Nun gut. Ich widmete mich wieder meinem Computer, aber dieses Mal suchte ich nicht nach Schlagzeilen, sondern nach Gerichtsurteilen und nachgewiesenen Taten von L.F.A. Ich musste mir ein Bild von ihren Handlung machen. Was genau taten sie? Wie weit waren sie bereit zu gehen? Wie groß war ihr Einfluss? Es gab sogar Chatrooms, in denen sich diese Fanatiker austauschten.

Wenn ich damit durch war, würde ich mich auf die Datenbank der Gilde stürzen, doch es gab zu diesem Thema so viel, dass ich gar nicht wusste wo ich anfangen sollte. Ihre Taten umfassten wirklich ein sehr weites Spektrum, viel größer, als ich es auch nur geahnt hatte. Warum nur? Proles waren Monster, die das Potential hatten die Menschen als dominierende Spezies abzulösen. Wollten diese Leute alle sterben? Da gab es doch sicher bessere Möglichkeiten und zwar ohne ihre Mitmenschen in Gefahr zu bringen.

Da Cheery es nicht schaffte Reese durch ihr Starren von seinem Platz zu vertreiben, schlich sie ans andere Ende der Couch und sprang leichtfüßig auf das kurze Ende, um ihn von da aus böse anzuschauen.

Er schien es nicht mal zu bemerken.

Meine Finger bewegten sich über das Touchpad. Da ich Reese noch immer am Kopf kraulte, hatte ich für meine Arbeit nur eine Hand frei, doch das war ich gewohnt. Ich klickte auf einen Artikel über ein Gerichtsverfahren von vor vier Jahren, in dem drei Männer verurteilt worden waren, weil sie Proles in der Stadt eingefangen und dann auf dem Land wieder freigelassen hatten. Es wurde nicht erwähnt, um welche Proles es sich handelte, nur dass sie vielen Bauern Schwierigkeiten gemacht hatten, weil sie das Vieh gerissen hatten. Ihnen war sogar eine ganze Familie zum Opfer gefallen, da sie es geschafft hatten, in ein Haus einzudringen.

In einem anderen Fall hatten mehrere Männer ein kleines Dorf irgendwo in Bayern terrorisiert, weil dort eine Herde Oryx gelebt hatte. Sie hatten versucht die Menschen zu vertreiben, damit die Ziegen-Abkömmlinge dort sicher und zufrieden leben konnten.

Gerade versuchte ich mich durch einen der Chatrooms zu arbeiten, als mein Handy zu klingeln begann.Reflexartig griff ich an meine Hosentasche, nur um festzustellen, dass das Klingeln aus dem Flur kam. War ja klar, mein Handy steckte noch in meiner Jackentasche. Seufzend wollte ich mich erheben, als Reese mich mit einem „Bleib sitzen, ich mach schon“ zum Bleiben bewegte.

Beim Aufstehen legte er sein Buch offen auf den Tisch. Er war noch nicht mal halb aus dem Raum, da sah Cheery ihre Gelegenheit und stolzierte mit hocherhobenen Schwanz auf mich zu. Sie maunzte mich an, kletterte wieder in meinen Schoß und streckte sich zufrieden darauf aus, sodass ihre Pfoten vorne und hinten überhingen. Zufrieden schnurrend sanken ihre Augenlider auf Halbmast.

Als das Klingeln draußen verstummte und Reese' Stimme gedämpft an meine Ohren drang, versuchte ich aus den Beiträgen in dem Forum schlau zu werden. Hauptsächlich schien hier Eiferer am Werk zu sein, die sich über die Umstände, in denen die Proles lebten, beschwerten und darüber debattierten, wie man das ändern konnte.

Ich fand auch einen Beitrag, wo man sich darüber echauffierte, wie gewalttätig die Venatoren bei ihrer Jagd teilweise vorgingen.

„Hmh“, machte Reese, als er mit dem Handy am Ohr ins Wohnzimmer zurück kam. „Moment, ich geb sie dir.“ Mit dem Wort „Eve“ reichte er mir das Handy über den Tisch, sah dann Cheery auf meinem Schoß und runzelte genervt die Stirn.

Oh je, der ewige Streit zwischen Reese und der kleinen, weißen Katze ging in die nächste Runde. Ich konnte gar nicht mehr zählen, wie oft Reese die Mieze weggeschubst oder zur Seite geschoben hatte, einfach weil sie ihm im Weg war.

Schmunzelnd lehnte ich mich zurück. „Hey Eve.“

„Grace, oh Gott, du musst mir helfen! Diese Hochzeit, hast du eine Ahnung, was da alles auf einen zu kommt?!“

Zum Glück nicht. „Klär mich auf.“

Reese schob sich wieder auf die Couch, nahm Cherry aus meinem Schoß, wogegen diese mit einem lauten Maunzen protestierte und setzte sie ans andere Ende der Couch. Ein Griff zum Buch, dann machte er es sich wieder mit dem Kopf in meinem Schoß bequem.

Cherry stand mit zuckendem Schwanz am anderen Ende der Couch und funkelte ihn böse an.

„Wir müssen eine Tag festlegen und einen Ort und dann die Gästeliste und das Catering und die Band und ich muss eine Geschenkeliste anfertigen. Was soll der Blödsinn? Ich will den Leuten doch nicht sagen, was sie mir schenken sollen, ich will mich überraschen lassen!“

„Dann stell eben keine Liste auf.“ Ganz einfach.

„Aber das macht man so.“ Sie seufzte so schwer, als lege die Last der Welt auf ihren Schultern. „Und das Kleid. Hast du eine Ahnung, wie viele hunderttausend Hochzeitskleider es gibt?“

Nein hatte ich nicht. „Wenn dir das alles zu viel wird, dann fahrt doch einfach nach Las Vegas und lasst euch da in einer fünfzehn-Minuten-Hochzeit trauen.“

„Spinnst du?! Ich will eine große Hochzeit mit allem Drum und Dran, das mache ich schließlich nur einmal im Leben!“ Sie seufzte ein weiteres Mal. „Ich will das nur nicht alles organisieren.“

„Dann versuch es doch mit einem Hochzeitsplaner.“

Da Reese sich von Cheerys Starren nicht beeindrucken ließ, hüpfte sie auf die Rückenlehne und balancierte dort geschmeidig entlang, um ihn von oben böse anzuschauen.

Er blätterte seelenruhig eine Seite in seinem Buch um.

„Ein Hochzeitsplaner ist zu teuer“, nörgelte sie. „Kannst du mir nicht helfen? Als meine Brautjungfer musst du mir sowieso zur Seite stellen. Und du darfst den Junggesellenabschied nicht vergessen. Da bestehe ich drauf.“

Ich rieb mir über die Stirn. Für sowas hatte ich im Moment eigentlich überhaupt nicht den Kopf, nicht wenn der Verband uns im Nacken saß, aber ich wollte es ihr auch nicht sagen und sie damit beunruhigen. „Habt ihr denn schon einen Hochzeitstermin?“

„Noch nicht ganz. Wir wollen auf jeden Fall im nächsten Sommer heiraten, wahrscheinlich im August oder September.“

Was bedeutete, mir blieben acht bis neun Monate, um ihr zu helfen. Oder ihr die ganze Sache auszureden. Ich fand es wirklich zu früh für die Beiden. „Am Besten ihr legt erstmal einen Termin fest und schaut auch nach einer Kirche oder einem anderen geeigneten Ort um. Dann solltet ihr frühzeitig die Gästeliste erstellen, damit ihr auch sicher sehen könnt, wer alles kommt.“

„Hilfst du mir?“ Sie klang richtig kläglich.

„Wenn es nicht diese Wochen sein muss.“

„Nein, aber allzu viel Zeit sollten wir uns auch nicht lassen.“

Cherry schlich hinter mich und schmiegte sich an meinen Kopf. Als ich darauf nicht reagierte, nahm sie Reese wieder ins Visier und machte einen Satz auf seinen Bauch.

Ich hörte nur wie er die Luft ausstieß und dann fluchte. „Verdammt, Katze!“

Sie schnurrte nur glücklich und machte es sich auf seinem Bauch bequem.

Schmunzelnd strich ich ihm über die Wange und folgte dabei mit dem Finger einer verblassten Narbe an seinem Kinn. Genau wie ich hatte er an seinem ganzen Körper diese kleinen Makel. Das brachte der Beruf des Venators einfach mit sich. „Okay, du wirst jetzt folgendes machen“, sagte ich zu Eve. „Du besorgst dir Hochzeitszeitschriften und recherchierst im Internet und suchst dir raus, was dir alles gefallen könnte. Torten, Kleider, Dekoration, einfach alles. Du kannst auch Leute fragen, die schon geheiratet haben, was sie so gemacht haben. Das sammelst du alles in einem dicken Ordner und wenn der droht aus allen Nähten zu platzen, dann werden wir beiden Hübschen uns mit Mace zusammensetzen und eine Auswahl treffen. Okay?“

„Aber das ist so viel Arbeit“, stöhnte sie.

Schenk mir Geduld. „Natürlich ist das Arbeit.“

Kurz herrschte Stille in der Leitung, dann fragte sie kleinlaut: „Kannst du das nicht für mich machen?“

„Nein.“

„Als Hochzeitsgeschenk?“

„Nein.“

„Aber du bist meine beste Freundin!“, protestierte sie.

„Und deswegen werde ich dir auch helfen. Sobald du den Ordner gemacht hast.“

Die gegrummelten Worte die folgten, waren wohl keine Liebeserklärung. „Na schön“, moserte sie. „Dann mache ich es halt erstmal alleine. Aber ich möchte festhalten, dass du gemein bist.“

Oh ja, ich war gemein, so richtig herzlos. „Ist notiert.“

Und wieder seufzte sie schwer, schien dann aber ihren Enthusiasmus wiederzufinden. „Nun gut, dann gehe ich mal schnell runter zum Kiosk und besorge mir ein paar von diesen Zeitschriften.“

„Dir ist aber schon klar, dass wir heute Sonntag haben und die Läden geschlossen sind?“

„Mein Gott Grace! Kannst du eigentlich auch mal etwas produktives dazu beitragen?“

Also eigentlich war ich der Meinung, dass ich das bereits getan hatte. „Fahr zur Tankstelle, die haben auch Zeitschriften und mit ein bisschen Glück, findest du da was du brauchst. Ansonsten mach dich eben im Internet etwas schlau.“

Neben mir zuckte Reese plötzlich zusammen. Cheery hatte mit ihrem Milchtritt begonnen und rammte ihm dabei die Krallen in den Bauch. Äußerst genervt schob Reese sie zur Seite, sodass sie zwischen ihm und der Rückenlehne eingequetscht wurde, aber da sie gelassen weiter schnurrte, schien sie sich wohl rundum wohl zu führen.

„In Ordnung. Und hey, bevor ich es vergesse, wir müssen uns mal wieder treffen. Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen.“

Ja, weil ich den ganzen Tag arbeitete. Da blieb kaum Zeit für ein Privatleben. Und wegen der Sache mit dem Verband hatte ich jetzt noch weniger Zeit. Ich musste das erst auf die Reihe bekommen. „Eve, du weißt doch …“

„Keine faulen Ausreden. Ich habe Donnerstag frei. Wir könnten uns zum Mittagessen treffen.“

„Eve …“

„Ach komm schon“, bettelte sie in ihrer ganzen Eve-Manier. „Nur ein oder zwei Stunden, mehr will ich doch gar nicht und du könntest auch mal eine kleine Auszeit gebrauchen.“

Dem konnte ich leider nicht widersprechen. „Na gut“, lenkte ich ein. „Aber nur, wenn ich nicht gerade bis zum Hals in einem Auftrag stecke.“

„Ja!“, machte sie siegreich. „Okay, wir sehen uns dann Donnerstag. Bis dann.“ Und schon hatte sie aufgelegt, als hätte sie Angst ich würde es mir noch einmal anders überlegen, wenn wir auch nur noch ein weiteres Wort miteinander wechselten.

„Eve will sich Donnerstag mit mir zum Mittag treffen“, teilte ich Reese mit und legte mein Handy auf den Tisch.

„Muss ich mit?“

„Nicht wenn du nicht willst.“

„Gut.“

Das bedeutete dann wohl, dass ich mich allein mit ihr treffen würde. Reese hatte nichts gegen Eve, aber er wurde mit ihr auch nicht so richtig warm. Ihre immer fröhliche Art irritierte ihn. Er sagte immer, dass es nicht gesund sein konnte, den ganzen Tag mit einem Lächeln durch die Gegend zu laufen.

Ich beugte mich vor, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und widmete mich dann wieder meiner Aufgabe. Ich musste unbedingt herausfinden was bei dem Überfall wirklich passiert war und wer die Drahtzieher hinter der ganzen Sache waren. Wenn ich die Iubas fand und sie zurück in die Obhut der Venatoren übergeben konnte, wären Reese und ich aus dem Schneider. Das einzige was ich brauchte war ein Hinweis, oder eine Spur und ich war fest entschlossen sie zu finden.

 

°°°

 

Stirnrunzelnd blätterte ich durch die Zettel und bemerkte so erst, dass Reese mal wieder kein Gentleman war, als mir die Haustür fast ins Gesicht klatschte. Mein Ordner fiel zu Boden und meine Papiere verteilten sich über den ganzen Hausflur. Fantastisch, einfach nur fantastisch. „Vielen Dank auch, du Blödmann.“

Da die Haustür in dem Moment ins Schloss fiel, hörte er mich vermutlich nicht mal mehr. Oder es interessierte ihn einfach nicht.

Genervt hockte ich mich hin und sammelte die Ausdrucke, die ich am Computer gemacht hatte wieder zusammen. Schon seit dem Aufstehen hatte Reese schlechte Laune. Das hatte ausnahmsweise nichts mit dem Wecker zu tun, den er wie die Pest hasste, sondern … zum einen würde ich auf Lexian tippen, der uns ab heute wie ein Schatten folgen sollte, aber hauptsächlich lag es wohl an Nick.

Reese hatte sowohl gestern Abend, als auch heute Morgen mit dem Krankenhaus telefoniert. Nein, sie hatten sich nicht bei uns gemeldet, er hatte sie angerufen, aber bisher hatte man uns nur sagen können, dass sein Zustand stabil war und die Testergebnisse erst im Laufe des Tages ausgewertet wurden.

Diese Ungewissheit nagte an ihm, weil wir noch immer keine Erklärung für den plötzlichen Krampfanfall bekommen hatten.

Sobald ich meine Papiere wieder halbwegs ordentlich im Ordner verstaut hatte, folgte ich Reese auf die Straße, wo er bereits ungeduldig wartete und eine Zigarette rauchte.

„Wo bleibst du denn?“

Ganz ruhig. „Da du so höflich warst mir die Tür ins Gesicht zu knallen, ist mir mein Ordner runtergefallen.“

„Hör auf zu träumen, dann siehst du auch wo du hinläufst.“

„Und wenn du nicht aufhörst deine schlechte Laune an mir auszulassen, werde ich die alte Sprühflasche wieder aus der Versenkung holen, um dir ein paar Manieren beizubringen.“

Er schnaubte, behielt seinen Kommentar aber für sich, weil er wusste, dass ich durchaus dazu in der Lage war meine Drohung wahr zu machen. Es hatte ihn viel Mühe und Anstrengung gekostet, dass ich das Teil überhaupt eingemottet hatte.

„Hast du schon mit Jilian gesprochen?“

„Nein, das mache ich im Wagen.“ Er setzte seine Zigarette an den Mund und bemerkte dabei den Mann, der unweit von unserem Wagen am Straßenrand stand und offensichtlich auf uns wartete. Lexian Forsberg. „Na toll.“

„Du hast doch gewusst, dass er hier sein würde.“

„Ich habe gehofft, dass er auf dem Weg hier her in einen Gully fällt und sich ein Bein bricht.“

Na fing ja schon mal gut an. „Sei nett.“

„Ich bin immer nett.“ Er wollte sich abwenden und zum Wagen gehen, doch ich erwischte ihn noch an seinem Mantel und hielt ihn fest. „Was?“, fragte er genervt.

„Ich weiß dass dir das gegen den Strich geht, aber dieser Kerl ist vom Verband und kann uns eine Menge Schwierigkeiten machen. Wenn du das Arschloch raushängen lässt, dann kann Jilin nichts mehr für uns tun.“

Seine Lippen kräuselten sich spöttisch. „Oh, keine Sorge, ich werde ein richtiger Kavalier sein. Ich werde ihm die Tür aufhalten und ein Kompliment über seine tolle Frisur machen. Außerdem werde ich lächeln und zu allem Ja und Armen sagen, denn wir wollen doch, dass der kleine Bi-Ba-Butzemann sich rundum wohlfühlt.“

Ich ließ seinen Ärmel los und strich mir müde übers Gesicht. „Reese, mach es doch nicht so kompliziert. Du sollst dich nicht verstellen, du sollt einfach nur nett sein.“

Einen kurzen Moment schien er noch einen blöden Spruch machen zu wollen, doch dann lenkte er ein. „Na schön, ich werde artig sein.“

„Danke.“

„Aber nur solange er mir nicht blöd kommt.“

Da ich mit Sicherheit kein besseres Angebot bekommen würde, nahm ich was ich kriegen konnte und folgte Reese zu unserem Wagen.

Lexian Forsberg hatte heute seinen teuren Anzug im Schrank gelassen und stand nun in Jeans und Weste vor uns. An seinem Bein hatte er einen Waffenholser befestigt und an seinem linken Unterarm trug er ein langes Messer. Mit einem Lächeln und einem „Morgen“ begrüßte er uns.

Reese hatte nur einen abfälligen Blick für ihn übrig, bevor er den Wagen umrundete und sich hinter das Lenkrad setzte.

Naja, immer noch besser als ihn zu beleidigen. „Morgen“, sagte auch ich und schob mich dann auf den Beifahrersitz. Ich war auch nicht sonderlich begeistert ihn dabei zu haben. Er war kein Venator, was bedeutete, dass wir während der Jagd auf ihn aufpassen mussten. Das waren keine guten Voraussetzungen für eine Hatz.

Lexian nahm auf dem Rücksitz hinter mir Platz. „Und, was ist unser erstes Ziel?“

„Ich will ins Archiv“, sagte ich, bevor Reese auch nur das Handy in die Hand nehmen konnte, um in der Gilde anzurufen. Dabei sortierte ich die Blätter auf meinem Schoß, die dank Reese völlig durcheinander waren.

„Jetzt?“ Reese ließ sein Fenster herunter und schnippste den Zigarettenstummel auf die Straße – er hatte den Aschenbecher noch immer nicht geleert.

„Natürlich.“

„Wir sind im Dienst.“

Als wenn ich das nicht wüsste. „Das ist für die Gilde, aber wenn es dir dann besser geht, suchen wir unterwegs etwas, dass du nebenbei erschießen kannst.“

„Wenn ich etwas erschießen will, nehme ich den Trottel auf dem Rücksitz.“

Nein, das war nicht nett. „Wenn du ihn erschießt, brauchen wir nicht mehr ins Archiv fahren, denn das kannst du direkt vor Ort tun. Nimm besser die alte Frau an der Anmeldung. Du weißt schon, die die immer selbstgebackene Plätzchen verteilt – die sind so lecker.“

„Gute Idee.“ Er steckte den Zündschlüssel ins Schloss. „Dafür das sie immer nur ein Plätzchen rausrückt, gehört die Alte wirklich erschossen.“

„Ich hoffe Ihnen beiden ist klar, dass ich einen psychologischen Befund schreiben werde“, meldete sich Lexian vom Rücksitz. „Ich bewerte auch Ihren Umgang mit anderen Menschen und ihrer beider Verhalten. Es zeugt nicht gerade von geistiger Integrität, den Mord an einem Menschen zu planen.“

Reese spannte sich deutlich an. Oh oh, das war kein gutes Zeichen. „Wenn dir was nicht passt, dann steig aus meinem verdammten Wagen.“

„Jetzt hör mal zu, du Blindgänger. Glaub nicht dass ich ein kleinlicher Bürohengst bin, der nicht weiß wie es auf den Straßen zugeht. Bevor ich in die Aufsicht des Verbandes wechselte, war ich Venator. Ich habe bereits Proles gejagt als du noch an den Titten deiner Mutti genuckelt hast.“

Oh je, das hatte er jetzt nicht gesagt. Ich ließ den Ordner auf meinem Schoß sinken und betrachtete Reese wachsam aus dem Augenwinkel. Wenn jemand Celina ins Spiel brachte, konnte man vorher nie wissen, wie genau er darauf reagieren würde.

„Es gibt genau zwei Sorten von Venatoren, die in den Verband wechseln“, begann Reese zu erklären. „Die einen sind arrogante Wichtigtuer mit Erektionsschwierigkeiten, die versuchen ihre Defizite auszugleichen, indem sie sich über andere stellen und die anderen sind kleine Flachwixer, die sich zu viel zugemutet haben und nach einer leibhaftigen Begegnung mit den Monstern den Schwanz einziehen und sich feige ein sicheres Plätzchen suchen, von dem aus sie über andere urteilen können.“ Er fixierte ihn geringschätzig durch den Rückspiegel. „Jetzt bleibt nur noch die Frage, in welche der beiden Kategorien du gehören.“

Und damit war der Teil mit dem artig sein wohl vorbei. Immerhin hatte er fast fünf Minuten durchgehalten.

„Ich kann Ihnen versichern, dass nichts von dem auf mich zutrifft, aber es ist interessant Sie beim Umgang mit anderen Menschen zu erleben. Ist das bei Ihnen der Normalzustand, oder geht Ihnen einfach nur der Arsch auf Grundeis, weil Sie befürchten ich könnte etwas herausfinden, was Sie lieber im Verborgenen halten möchten?“

Ich runzelte die Stirn. Der Kerl war ein wenig aggressiv, oder bildetet ich mir das nur ein?

Mit dem Blick den Reese dem Kerl durch den Rückspiegel zuwarf, hätte er ihn aufspießen können. „Was hast du angestellt, dass man dich gezwungen hat, dein warmes, sicheres Büro zu verlassen? War der Kaffee schlecht, dem du dem Chef gebracht hast? Hat man dich dabei erwischt Stifte zu klauen? Nein warte, ich hab´s: Sie haben dein Gesicht einfach nicht ertragen. Bei er Fresse kein Wunder.“

„Sie sprechen aus eigener Erfahrung?“

„Nein!“, sagte ich, als Reese ihm weiteren Konter geben wollte. Ich warnte ihn mit einem Blick. „Du hast es mir versprochen“, erinnerte ich ihm unnachgiebig.

Seine Lippen wurden schmal und sein Kiefer begann angestrengt zu mahlen, aber wenigstens hörte er auf.

Nun gut, dann also zu dem Idioten auf dem Rücksitz. „Und Sie sind jetzt still, oder Sie steigen aus dem Wagen aus.“

„Das kann ich gerne tun“, kam die ungerührte Erwiderung. „Aber Sie wissen ja, was da für Konsequenzen hat.“

„Es wird überhaupt keine Konsequenzen für uns haben. Niemand kann uns zwingen Sie mitzunehmen, wenn Sie uns bei der Arbeit behindern. Sie sind nichts weiter als ein stiller Beobachter. Sie sind hier um unsere Arbeit zu beurteilen und es hat weder etwas mit geistiger Integrität noch mit Sozialverhalten zu tun, wenn wir mit dummen Scherzen ein wenig Dampf ablassen. Kein Mensch der noch klar bei Verstand ist würde glauben, dass wir eine alte Frau wegen eines Plätzchens umbringen würden. Also halten Sie jetzt den Mund, ansonsten werde ich mich um einen anderen Sachverständiger bemühen, einen, der seine Arbeit ernst nimmt.“

Ich war mir nicht sicher, ob ich das überhaupt tun konnte, doch unser Anhängsel ließ die Lippen geschlossen und wirkte nicht mehr ganz so selbstgefällig wie noch vor wenigen Minuten. Allerdings konnte ich auch nicht sagen, was nun in seinem Kopf vor sich ging und ich war mir nicht ganz sicher, ob das eine Verbesserung war oder nicht. Trotzdem sagte ich „Danke“ und schaute dann Reese an. „Archiv?“

„Ich hab keine Ahnung was du dir davon versprichst“, grummelte er, ließ den Motor des SUV schnurrend zum Leben erwachen und fädelte sich in den morgendlichen Verkehr ein.

Ich ließ meinen Blick noch einmal wachsam zwischen den Männern hin und her gleiten, bevor ich mich wieder den Papieren auf meinem Schoß widmete.

Im Internet hatte wirklich viel Müll und Propaganda gestanden und vieles von dem hatte mir nicht nur die Abgründe der menschlichen Zivilisation aufgezeigt, sondern auch, dass es mit der Intelligenz von manchen Menschen wirklich nicht weit her war. Es gab ein paar interessante Fälle und auch Verurteilungen, aber nichts das dem ähnelte, was wir erlebt hatten. Allerdings war ich im Register der Gilde auf ein paar Fälle gestoßen, die ich mir näher ansehen wollte. Der rettende Hinweis war bisher jedoch ausgeblieben. Na gut, ich suche ja auch erst seit einem Tag und so schnell würde ich sicher nicht aufgeben.

Das Archiv der Gilde befand sich fast am anderen Ende der Stadt. Auf dem Weg dorthin teilte ich der Gilde mit, wo wir die nächste Stunde sein würden.

Die Straßen waren vom morgendlichen Verkehr verstopft und mehr als einmal klopfte Reese mit den Fingern genervt auf dem Lenkrad herum, wenn wir nur langsam voran kamen, oder mal wieder an einer Ampel stehen bleiben mussten.

Die Menschen auf den Straßen waren dick vermummt und hatten ihre Schultern gegen die Kälte hochgezogen. Autos drängten ich Stoßstange an Stoßstange und am Himmel hingen dunkle Wolken.

Die Läden waren bereits einladend geöffnet und manche von ihnen hatten es sogar geschafft durch dekorative Schaufenster von den stabilen Gittern vor dem Glas abzulenken. Kein Mensch der noch klar bei Verstand war würde in der heutigen Zeit auf Gitter verzichten. Normales Glas war nicht stabil genug um ein Proles davon abzuhalten, einem einfach einen unerwünschten Besuch abzustatten.

Die Menschen gaben viel auf ihre Sicherheit. Besonders seit die Proles-Plage die Welt beherrschte, zählten Sicherheitsunternehmen zu den lukrativsten Unternehmen dieser Zeit. Wo auf großen Werbeplakaten früher für Schminke, Radiosender und Einkaufsmärkte geworben wurde, fand man dort heute Reklametafeln für Sicherheitssysteme für Haus und Hof, Verteidigungskurse und mein ganz spezieller Liebling: Waffen für den alltäglichen Gebrauch.

Ich verstand ja dass die Menschen sich schützen wollten, aber ich war mir nicht sicher, ob es eine allzu gute Idee war, jedem dahergelaufenen Trottel eine Waffe zu erlauben. Da wäre es meiner Meinung nach doch sinnvoller weitere Schutzräume aufzustellen und die Jagd dann den Profis zu überlassen, aber nach meiner Meinung fragte ja niemand.

Tja, Sicherheit wurde in Zeiten in denen es eigentlich kein Sicherheit gab, groß geschrieben.

Reese brauchte fast eine Dreiviertelstunde, bis er den Wagen auf dem Parkplatz des Archivs abstellen konnte und hatte dementsprechend schlechte Laune als wir dort ankamen.

Um ihn nicht noch weiter zu reizen, sagte ich ihm er solle draußen bleiben und erstmal eine rauchen, während ich mit Lexian im Gepäck schon mal das alte Backsteingebäude mit dem Spitzdach betrat.

Zwar war ich noch nicht oft hier gewesen, doch bei jedem meiner Besuch im Archiv hatte ich das Gefühl eine Bibliothek zu besuchen. Niemand wagte es ein Geräusch zu viel zu machen und Gespräche wurden meist nur im Flüsterton geführt. Es war einfach diese Atmosphäre, die niemand wagte zu durchbrechen.

Wie auch bei meinen letzten Besuchen stand hinter dem Tresen wieder die ältere Dame mit dem grauen Dutt auf dem Kopf und wie immer hatte sie einen Teller mit ausgebackenen Plätzchen neben sich zu stehen.

Ich begrüßte sie mit einem Lächeln und erklärte, dass ich auf der Suche nach Fällen war, die mit L.F.A. im Einzugsbereich Berlin/Potsdam zu tun hatten. Ich wollte sowohl Verurteilungen, als auch offene Fälle haben. Zwei interessierten mich besonders.

Vor gut einem Jahr hatte es ein paar Betrüger gegeben, die es irgendwie geschafft hatten, Notrufe umzuleiten, sodass sie nicht zu den Venatoren durchdringen konnten. Den Opfern wurde Hilfe versprochen, aber es war niemand gekommen und die Proles hatten mehrere Tage an vielen Orten ein richtiges Blutbad angerichtet. Das hatte in der Bevölkerung für große Unruhen gesorgt. Die Täter waren nie gefasst worden.

In dem anderen Fall hatten sich Leute als Venatoren ausgegeben, doch anstatt die Proles zu exekutieren, hatten sie sie eingefangen und waren mit ihnen verschwunden. Es war nie sicher geklärt worden, ob wirklich L.F.A. dahinter steckte, doch dieser Fall hatte entfernte Ähnlichkeit mit unserem. Leute tauchten auf, schnappten sich die Proles und verschwanden anschließend spurlos mit ihnen. Diese Akte wollte ich unbedingt haben.

Die alte Dame versprach mir alles was sie zu dem Thema hatte auf einem der Computer zugänglich zu machen und mir die restlichen Akten gleich zu bringen. Dann drückte sie mir und Lexian jeweils einen Keks in die Hand und verschwand geschäftig im hinteren Bereich.

Ich sammelte meine Sachen wieder zusammen und ging zu einem der Tische, um mich dort bequem einzurichten.

Während ich wartete, dass die Unterlagen für mich freigeschaltet wurden, knabberte ich an meinem Keks und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Lexian sich einen Stuhl vom Nachbartisch klaute und sich zu mir gesellte. Sein Keks war schon verschwunden.

Ich war mir nicht ganz sicher wie ich das finden sollte, dass er mir bei der Arbeit wirklich genaustens über die Schulter guckte, aber ich ließ mich von ihm nicht stören. Im Moment hatten Reese und ich ihn eben am Hals, aber deswegen würde ich mich noch lange nicht von meiner Arbeit abhalten lassen. Das hier war wichtig.

„Sie recherchieren zu L.F.A.?“

„Sieht so aus.“ Der restliche Keks verschwand in meinem Mund, dann begann ich mit der Recherche.

„Sie interessieren sich für das Thema?“

„Ich interessiere mich dafür wo die gestohlenen Iubas abgeblieben sind.“

„Sie glauben L.F.A. hat sie?“

„Na ich habe sie jedenfalls nicht.“

Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine Lippen.

Ich konzentrierte mich auf die Unterlagen und machte mir hin und wieder ein paar Notizen.

Bis Reese dann auftauchte, war fast eine halbe Stunde vergangen. In seinen Armen trug er mehrere Akten, die ihm die Dame am Tresen für mich mitgegeben hatte.

Kaum hatte er sie neben mir abgelegt, da bat ich ihn auch schon damit zum Kopierer zu gehen und mir von allem eine Kopie anzufertigen. Ich konnte das nicht alles hier durchgehen, dafür war es einfach zu viel, also musste ich es später durchschauen.

Reese machte mir mit einem Blick sehr deutlich, was er davon hielt, verschwand dann aber zum Drucker. Er kam erst zwanzig Minuten später wieder. Den einen Arm voller Papiere, hielt er sich das Handy ans Ohr und machte ein ungeduldiges Zeichen auf den Ausgang zu.

„Mist“, murmelte ich, packte eilig meine Sachen zusammen und entschuldigte mich beim Herauseilen bei der Frau am Tresen für das Chaos dass ich hinterlassen hatte. Aber zum Aufräumen blieb keine Zeit, den Gesichtsausdruck von Reese kannte ich, wir hatten einen Einsatz, was bedeutete, dass wir uns sofort auf die Socken machen mussten.

Reese schwang sich schon hinters Steuer, als ich die Hintertür aufriss und meine ganzen Papiere einfach zu dem Schwung von Reese' auf den Rücksitz pfefferte. Ich wollte die Tür gerade wieder zuwerfen, als Lexian neben mir auftauchte. Oh je, den hätte ich jetzt glatt vergessen.

„Stehen Sie uns bloß nicht im Weg“, mahnte ich ihn, bevor ich auf dem Beifahrersitz platz nahm und nach dem Gurt griff. „Wo geht es hin?“

„Ein Supermarkt, zehn Minuten entfernt.“ Reese steckte sein Handy weg, startete den Wagen und schaltete die Sirene auf dem Dach ein. Also ein Notfall.

Ich hielt mich am Haltegriff fest, als er eilig aus der Parklücke ausparkte und sich dann mit Vollgas in den Straßenverkehr einordnete. „Wissen wir womit wir es zu tun haben?“

Das Kreischen der Sirene veranlasste die Fahrzeuge vor uns zur Seite auszuweichen. Zum Glück waren die Straßen nicht mehr so verstopft wie noch vor einer Stunde, so brauchte Reese sich mit der Geschwindigkeit nicht zurückhalten.

„Amph, Anzahl unbekannt.“ Er wich einem Audi aus, der nicht schnell genug zur Seite wich und nahm dann eine scharfe Rechtskurve, bei der ich ohne Gurt wohl auf seinem Schoß gelandet wäre. „Menschen sind wohl keine mehr im Geschäft, die Viecher räumen da im Moment nur die Regale aus und fressen das Inventar.“

Naja, war vermutlich einfacher, als den Leuten hinterher zu jagen. „Wo müssen wir hin?“

Reese nannte mir die Adresse und warf dabei einen argwöhnischen Blick durch den Rückspiegel. Erst da fiel mir auf, dass Lexian sich in die Mitte der Rückbank geschoben hatte und die Straße intensiv musterte. „Am Besten nehmen Sie die nächste nach links“, erklärte er Reese.

„Danke Tom Tom.“

Als die Abzweigung kam, fuhr Reese einfach geradeaus.

Lexian gab ein frustriertes Geräusch von sich. „Warum sind Sie nicht abgebogen? Das geht viel schneller.“

Reese schaltete und drückte das Gaspedal noch ein wenig fester durch. Seine Verärgerung kratzte direkt unter seiner Haut. „Ich bin nun seit nein Jahren als Venator auf den Straßen unterwegs, ich weiß wie ich am schnellsten an mein Ziel komme.“

„Ach ja? Wenn Sie es wüssten, dann wären Sie gerade abgebogen. Im Moment zeigen sie mir einfach nur, das Sie unbelehrbar sind. Vielleicht wäre es besser, Ihnen in Zukunft keine Notfälle mehr anzuvertrauen.“

Sein Griff um das Lenkrad wurde fester. „Shanks, bring ihn zum Schweigen.“

Bevor ich überhaupt die Chance dazu bekam, sagte Lexian im spöttischen Tonfall: „Das habe ich mir gedacht.“

Noch ehe ich einschreiten konnte, fuhr Reese mit wütender Mine auf seinem Sitz herum und übersah so den Mercedes, der in dem Moment auf die Kreuzung schoss.

„Pass auf!“, schrie ich und übertönte damit noch das laute Sirenengeheul.

Reese reagierte in letzter Sekunde, indem er das Steuer zur Seite riss, doch es war zu spät. Ich wurde zur Seite geschleudert und knallte mit dem Kopf gegen das Seitenfenster. Die Schnauze des SUV streifte das Heck des Mercedes und schob den anderen Wagen zur Seite. Der Schwung riss mich schmerzhaft nach nach vorne in den Gurt und dann standen wir endlich.

Eine Sekunde, so lange saß Reese still auf seinem Sitz, dann wirbelte er mit einem „Scheiße“ zu mir herum und begann mich hektisch abzutasten. „Ist dir etwas passiert?“

„Nein.“ Zumindest nicht, wenn man nach der schmerzenden Stelle an meinem Kopf absah, wo ich gegen das Fenster geknallt war. Ich fasste vorsichtig nach der Stelle und ertastete eine ordentliche Beule, die mir bei meiner Berührung ein Zischen entlockte.

Das erregte natürlich sofort seine Aufmerksamkeit. Er riss meine Hände weg, um sich die Sache selber anzusehen.

„Ist schon gut“, versuchte ich ihn zu beruhigen, doch das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Reese explodierte förmlich, als er zu Lexian herumfuhr, der selber ein wenig durchgeschüttelt wirkte.

„Bist du völlig bescheuert?!“, brüllte er ihn an und sah aus, als würde er gleich auf den Rücksitz springen, um unser unliebsames Anhängsel zu erwürgen. „Gibt es da in deinem Hirn noch irgendeine funktionierende Gehirnzelle?!“

„Ich saß nicht am Steuer!“ Lexian funkelte ihn an. „Sie hätten auf die Straße achten müssen!“

„Ich habe auf die verdammte Straße geachtet! Du durchgeknallter Schwachkopf hast mich abgelenkt! Hat dir niemand beigebracht, dass man den Fahrer während der Fahrt nicht belästigt?! Du hättest uns umbringen können!“

„Seinen Sie still“, fauchte ich den Lexian an, als er den Mund öffnen wollte und griff dann nach Reese Arm. Nicht nur um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, ich fürchtete auch, dass er sonst gleich handgreiflich werden würde. „Steig aus, ruf Madeline an, sie muss jemand anderen schicken.“

Sein Blick durchbohrte mich.

„Mir geht es gut“, versicherte ich ihm noch einmal.

Er glaubte mir nicht, kein Wunder, die Beule musste in der Zwischenzeit ein gut sichtbares Hörnchen sein. Mein Kopf jedenfalls dröhnte, als würde jemand einen Presslufthammer dagegen halten. Lexian bekam von ihm noch einen mörderischen Blick, bevor er die Sirene abstellte, die Tür aufstieß und den Wagen verließ.

Ich nahm mir einen Moment um tief Luft zu holen, dann schnallte ich mich los. Ich musste die Polizei anrufen und nach der Fahrerin des anderen Wagens schauen. Da diese schon auf den Beinen war und sich bereits den Schaden an ihrem Wagen anschaute, war sie zumindest nicht schwer verletzt – wenigstens etwas Positives. „Halten Sie sich einen Moment von Reese fern“, riet ich Lexian und öffnete die Wagentür.

„Warum?“ Vorsichtig tastete er sein Kinn ab. „Neigt er zu Gewaltausbrüchen?“

Einen Moment war ich versucht ihm selber den Hals umzudrehen, zwang mich dann aber ihm keine Beachtung zu schenken und aus dem Wagen zu steigen. Ich hatte keine Ahnung was mit diesem Kerl los war. Er schien sich nicht im Mindesten für den Unfall verantwortlich zu fühlen. Das war einfach nur … kaltschnäuzig. Ich musste die Iubas schnellstmöglich finden, um ihn wieder los zu werden, doch jetzt musste ich mich erstmal um die Frau kümmern.

Haareraufend stand sie am Heck ihres Wagens und schien sich nicht entscheiden zu können, ob sie einen Wutanfall bekommen sollte, oder lieber in Tränen ausbrechen sollte.

„Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“, fragte ich sie und warf selber einen Blick auf den Schaden. Die Seite hatte eine Delle, die Stoßstange war halb abgerissen und das rechte Rücklicht war beschädigt.

„In Ordnung?!“, keifte sie mich an. Sie war blond und von einer natürlichen Schönheit. Leider hatte sie versucht diese mit Schminke noch zu unterstreichen Der Schuss war nach hinten losgegangen. „Haben Sie eigentlich eine Ahnung was dieser Wagen gekostet hat?! Und Sie haben ihn einfach ruiniert!“

Ihr zu erklären, dass Reese hinterm Steuer gesessen hatte und nicht ich, wäre im Moment wahrscheinlich nicht sehr hilfreich. „Haben Sie die Sirene nicht gehört?“

Nach diesen Worten schaute sie mich zuerst ungläubig an, dann verzerrte sich das schöne Gesicht zu einer verärgerten Maske. „Wollen Sie jetzt auch noch mir die Schuld geben? Ich hatte Vorfahrt!“

Mit einer Zigarette in der Hand beendete Reese ein Stück weiter sein Telefonat und schaute argwöhnisch zu uns hinüber.

Lexian verließ den Wagen, während ich versuchte ruhig zu bleiben. „Nicht in diesem Fall“, korrigierte ich sie.

Links und rechts floss der Verkehr in einem großen Bogen stockend an uns vorbei. Schaulustige drückten sich an die Fenster und irgendwo in der Ferne konnte ich Sirenen hören. Da brauchte ich die Polizei wohl nicht mehr zu rufen.

„Ich werde mich hier von Ihnen nicht als Schuldige darstellen lassen! Sie sind mir reingefahren! Ich werde Sie verklagen!“

Oh super, das konnte ich im Moment wirklich auch noch gebrauchen. Meine Kopfschmerzen wurden stärker und dieses Gekeife war nicht gerade hilfreich. Vorsichtig massierte ich meine Schläfe. „Hören Sie, der Schaden ist doch gar nicht so schlimm. Die Versicherung …“

„Versicherung!“, unterbrach sie mich. „Sie glauben ich würde Sie so einfach davon kommen lassen? Da haben Sie sich aber getäuscht!“ Und damit begann ihre Tirade gerade erst. Es schien ihr Spaß zu machen sich richtig hineinzusteigern und ich stand nur da und fragte mich, warum wir von all den tausend Menschen in dieser Stadt, ausgerechnet in ihren Wagen hatten reinfahren müssen.

Es wurde auch nicht besser, als die Polizei auftauchte, um den Schaden aufzunehmen. Selbst sie wirkten von der Frau irgendwann genervt.

Bis alles so weit geregelt war, verging sicher über eine Stunde.

Die Frau verschwand, die Polizei verschwand, unser Auto parkte mittlerweile am Straßenrand. Es war kein Totalschaden, wir hatten großes Glück gehabt, besonders bei dieser Geschwindigkeit, aber der Wagen würde definitiv in die Werkstatt müssen.

Lexian saß bei offener Tür auf dem Rücksitz, Reese lief mit dem Handy am Ohr auf und ab und gab der Gilde gerade ein Update. Ich lehnte mit dem Hintern an der Kühlerhaube und hatte die Augen geschlossen. Mein Kopf dröhnte und für eine Aspirin hätte ich gemordet.

Als Reese' Stimme verstummte, klappte ich die Lider hoch und begegnete seinem Blick. Seine Gedanken blieben mir verschlossen, doch ich brauchte kein Hellseher zu sein, um zu wissen, dass er noch immer wütend auf unser Anhängsel war.

„Wir sollen den SUV in die Gilde bringen und uns einen Ersatzwagen holen.“

Ich nickte.

Noch mit dem Handy in der Hand trat Reese an mich heran und strich mir vorsichtig die Haare hinters Ohr. Sein Finger glitt zärtlich an meiner Schläfe entlang. „Wenn wir da sind, gehst du zu Suzanne und lässt sie einen Blick darauf werfen.“

„Ich brauche nur etwas gegen die Kopfschmerzen.“

„Das werden wir ja noch sehen.“ Seine Worte klangen beinahe wie eine Drohung, doch ich wusste, dass er sich einfach nur Sorgen um mich machte. „Na komm.“

Gerade wollte ich mich von der Motorhaube abstoßen, als sein Handy schon wieder klingelte. Er warf einen genervten Blick auf das Display, runzelte die Stirn und nahm den Anruf entgegen.

„Ja?“ Ein Nicken. „Ja.“

Ich beobachtete seine Mimik, während er dem Anrufer lauschte. Auf einmal wurden seine Augen riesig und seine Haut eine Spur blasser.

„Sagen Sie das noch mal“, forderte er seinen Gesprächspartner auf und was auch immer der wiederholte, Reese wirkte geradezu verstört.

„Was ist los?“, fragte ich leise.

Er fixierte mich. Sein Arm sank langsam herab, obwohl ich am anderen Ende noch jemanden sprechen hörte und Reese sah aus, als sei er einem Geist begegnet.

„Reese, ist was passiert?“, fragte ich und konnte den besorgten Unterton aus meiner Stimme nicht heraushalten. Ich hatte ihn noch nie so … erschüttert gesehen.

„Das Krankenhaus … das war das Krankenhaus. Sie sagen Nick … Niklas …“

Ein eiskaltes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus und ich musste unweigerlich an den gestrigen Anfall denken. Oh Gott, nein. „Ist er …“ Ich musste angestrengt schlucken. Ich schaffte es kaum die nächsten Worte über meine Lippen zu bringen. „Ist er … tot?“

 

°°°°°

Kapitel 06

 

„Nein.“ Reese schüttelte den Kopf, aber nicht so als wollte er seine Antwort unterstützen, sonder so, als wollte er den Kopf klar bekommen. „Nicki ist … er ist aufgewacht.“

Es dauerte einen Moment, bis diese Worte zu mir durchgedrungen waren und auch dann schaffte es nur ein verblüfftes „Was?“ über meine Lippen, weil seine Worte sich in meinen Ohren irgendwie falsch anhörten.

„Niklas ist aufgewacht“, wiederholte er und schien selber damit Probleme zu haben, diese Tatsache als Wahrheit zu akzeptieren.

Einen Moment konnte ich ihn einfach nur fassungslos anstarren. Er war aufgewacht? Das war … unglaublich. Trotz allem was ich immer gesagt und dem Fünkchen Hoffnung, das ich niemals hatte ausgehen lassen, hatte ich nicht wirklich damit gerechnet, dass dieser Tag nochmal kommen würde. Er hatte immerhin drei Jahre im Koma gelegen.

Plötzlich stach da ein Gedanke aus meinem Unglauben heraus. „Wir müssen ins Krankenhaus.“

Reese nickte wie betäubt, bewegte sich aber nicht. Für ihn musste es noch unglaublicher sein als für mich, denn er lebte seit Jahren in dem Glauben seinen kleinen Bruder für immer verloren zu haben. Das bedeutete dann wohl, dass ich die Sache jetzt in die Hand nehmen musste.

„Steig ein“, befahl ich ihm und schob ihn zur Beifahrertür. „Ich fahre.“

Er nickte wieder, doch als er nach dem Türgriff greifen wollte, bemerkte er, dass er noch immer das Handy in der Hand heilt. Stirnrunzelnd hielt er es sich ans Ohr, aber mit wem auch immer er da gesprochen hatte, musste in der Zwischenzeit aufgelegt haben.

„Moment“, sagte Lexian und stieg aus dem Wagen aus – Mist, den hatte ich ja ganz vergessen. „Sie beide befinden sich in ihrer Arbeitszeit, Sie können nicht einfach so zu einer privaten Unternehmung verschwinden.“

Wie bitte? „Das hier ist ein familiärer Notfall“, erklärte ich kurz angebunden, öffnete die Tür selber und schob Reese auf den Sitz.

„Familiärer Notfall?“ Lexian musterte mich äußerst kritisch. „Was ist denn passiert?“

„Das geht Sie ja wohl nichts an.“ Ich knallte die Tür ein wenig zu fest zu. Zum Glück hatte Reese in der Zwischenzeit alle Gliedmaßen im Auto gehabt. „Es tut mir leid, aber Sie werden mit dem Bus nach Hause fahren müssen, wir haben keine Zeit Sie irgendwo abzusetzen.“ Resolut schob ich ihn zur Seite und schloss dann auch die hintere Wagentür.

Lexian wirkte geradezu entrüstet, aber darauf konnte ich im Moment keine Rücksicht nehmen. Nick war aufgewacht. Das zu hören war wie ein Märchen und ich musste mich einfach davon überzeugen, dass es der Wahrheit entsprach. Also ließ ich ihn einfach stehen und ging um den Wagen herum.

„Wenn Sie jetzt wegfahren, wird das Auswirkungen auf ihre Beurteilung haben.“

Ich war schob halb eingestiegen, hielt aber mitten in der Bewegung noch mal inne und starrte ihn über das Wagendach hinweg an. So wollte er es haben? Okay, auf das Spielchen ließ ich mich nur zu gerne ein. „Jetzt passen sie mal gut auf: Reese ist im Moment nicht in der Lage auf die Hatz zu gehen. Würden wir es trotzdem tun, könnten wir uns damit strafbar machen. In Paragraph neun, Absatz sieben, Punkt drei des Gildenrechts steht: Wird ein Venator während der Hatz körperlich oder geistig beeinträchtigt, ist es seine Pflicht die Hatz abzubrechen und der entsprechenden Stelle Bescheid zu geben, damit Ersatz geschickt werden kann. Infolge darf er erst wieder an einer Hatz teilnehmen, wenn er von einem Mediziner körperlich und geistig dazu freigegeben wurde. In Paragraph neun, Absatz sieben Punkt vier steht: Wird ein Venator während der Hatz körperlich oder geistig beeinträchtigt, ist sein Partner dazu verpflichtet, die Hatz zu beenden, oder der entsprechenden Stelle Bescheid zu geben, damit Ersatz geschickt werden kann. Es gibt noch ein paar ähnliche Paragraphen und Regel, aber ich habe jetzt nicht die Zeit, sie Ihnen alle aufzuzählen. Das einzige was im Moment zählt ist, dass Reese nicht in der Verfassung ist, die Jagd fortzusetzen. Das wäre nicht nur ein Regelverstoß, sondern auch lebensgefährlich. Darum werden wir jetzt fahren und wenn Sie versuchen uns einen Strick daraus zu drehen, dann werden Sie feststellen müssen, dass auch ich sehr unfreundlich werden kann.“

Auf seine Erwiderung wartete ich gar nicht erst, weil es mich nicht interessierte, ob er noch etwas zu sagen hatte. Ich stieg einfach in den Wagen, ließ mir von Reese den Schlüssel geben und machte mich auf dem Weg zum Krankenhaus.

 

°°°

 

Eigentlich war es eine Form der Höflichkeit und der Rücksichtnahme, in einem Krankenhaus nicht zu rennen, aber das war uns im Augenblick völlig egal. Sobald sich der Fahrstuhl auf Nicks Etage öffnete, stürmten wir los. Es war wohl reines Glück, dass in diesem Moment kein Patient auf dem Korridor war, den wir über den Haufen rennen konnten.

Unsere Schritte trommelten auf dem Boden. Reese war so schnell, dass sich sein Mantel hinter ihm blähte und ich Probleme hatte an ihm dran zu bleiben. Nicht mal für die pikierten Blicke der Krankenschwestern hatten wir auch nur ein Fünkchen Aufmerksamkeit übrig.

Reese war der erste der das Zimmer seines kleinen Bruders erreichte. Die Tür war nur angelehnt, weswegen wir schon auf dem Korridor mehrere Stimmen hören konnten und so wurde er von nichts aufgehalten, als er den Raum stürmte. Doch kaum hatte er einen Schritt in den Raum gemacht, blieb er so abrupt stehen, dass ich nicht nur in ihn hinein lief, sondern mir auch noch die Nase an seinem Rücken stieß. Von der Beule an meinem Kopf fing ich besser erst gar nicht an.

Ich taumelte einen Schritt zur Seite und als sich mein Blick auf die Leute im Raum richtete, vergaß ich einen Moment zu atmen. Da war er und wirklich, er war wach. Vielleicht ein wenig blass und er wirkte auch etwas verwirrt, aber er saß angelehnt an der Kopfstütze in dem Bett und hatte seine offenen Augen auf uns gerichtet. Diese blauen Augen, die mich damals so in ihren Bann geschlagen hatten. Plötzlich wurde ich unsicher. Nach allem was geschehen war, wie sollte ich ihm da gegenüber treten. Für mich waren drei Jahre vergangen, für ihn nicht.

„Nicki“, kam es in einem sehr seltsamen Ton über Reese' Lippen, wodurch auch der Arzt und die Krankenschwester auf uns aufmerksam wurden.

Nick legte den Kopf leicht schief, als würde er sich fragen, was wir beide hier wollten.

Der Arzt, Doktor Bosch, legte Nick kurz die Hand auf die Schulter. „Bitte entschuldigen Sie mich, ich muss schnell etwas erledigen.“

Niklas nickte nur und schaute ihm fragend hinterher, als er zu uns kam.

„Kann ich Sie beide bitte einen Moment draußen sprechen?“

„Warum?“ Reese schien nicht gewillt in naher Zukunft den Raum zu verlassen.

Ich konnte ihn verstehen, schließlich warteten wir seit drei Jahren auf diesen Tag. „Kann das nicht warten?“

„Nein, es ist wichtig. Bitte.“

Zwar verstand ich nicht was es in diesem Moment so außerordentlich wichtiges zu besprächen gab, was wir nicht auch auf später verschieben konnten, dich wir ließen uns von dem Arzt auf den Korridor hinaus drängen. Ja nicht mal Reese sagte ein Ton und ließ es völlig unkommentiert, dass Doktor Busch die Zimmertür hinter sich zuzog und uns damit von Nick trennte.

„Geht es ihm gut?“, fragte ich den Arzt, bevor er auch nur die Gelegenheit bekam den Mund zu öffnen. „ Und seit wann ist er wieder wach? Hat es etwas mit dem Anfall zu tun, den er gestern hatte?“

„Die Antwort auf die erste Frage lautet ja, es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Er ist noch ein wenig desorientiert und verwirrt, was bei seiner Diagnose ganz normal ist, aber das wird mit der Zeit sicher besser werden. Er spricht klar und deutlich und soweit wir das beurteilen können, ist es um seine Hirnaktivitäten gut bestellt.“

„Und seit wann ist er wach?“, fragte ich erneut, damit die Frage nicht in Vergessenheit geraten konnte.

„Er hat heute morgen beim MRT plötzlich die Augen aufgeschlagen.“ Doktor Bosch lächelte leicht. „Damit hat er die Schwester ganz schön erschreckt.“

Das konnte ich mir vorstellen. „Er wird also wieder völlig gesund?“, wollte ich mich versichern. Dabei warf ich einen kurzen Blick zu Reese, der noch immer unnatürlich still war.

„Das ist der Grund warum ich mit ihnen beiden sprechen wollte.“ Er zögerte kurz. „Körperlich geht es ihm so weit sehr gut. Natürlich wird er wegen der lagen Liegezeit eine Physiotherapie machen müssen, die sehr anstrengend für ihn werden wird. Immerhin hat er drei Jahre in einem Bett gelegen und dabei seine Muskeln abgebaut. Ich hege jedoch keinen Zweifel, dass er das schaffen wird, immerhin ist er ein junger Mann.“

„Aber?“, fragte Reese und sagte damit zum ersten Mal etwas, seit wir das Auto verlassen hatten.

„Kein Aber, jedoch ist infolge des Unfalls eine retrograde Amnesie bei ihm aufgetreten.“

„Amnesie? Sie meinen er kann sich nicht daran erinnern, wie er hier gelandet ist?“

„Nein.“ Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Er kann sich an gar nichts erinnern.“

einen Moment starrte ich den Arzt einfach nur an. „Was meinen Sie damit, er kann sich an gar nichts erinnern?“

„Bei einer retrograde Amnesie verliert der Patient meist durch ein traumatisches Erlebnis seine Erinnerung. Er weiß noch was ein Auto ist und auch wie man eine Mikrowelle bedient, aber er hat keinerlei Erinnerungen mehr an die Person die er war. Er weiß nicht wer seine Eltern sind, wo er gelebt hat, oder wie es zu dem Unfall kam, der ihn ins Krankenhaus gebracht hat.“

„Moment, wollen Sie damit sagen, er weiß nicht wer wir sind?“

Er nickte. „Im Moment ist er wenn sie so wollen, ein unbeschriebenes Buch.“

Einen Moment war ich sprachlos. Nach drei Jahren wachte er endlich auf, war wenn man es genau nahm, aber doch nicht wieder da. Fremde. Er würde uns für fremde halten. Er würde seinen eigenen Bruder nicht erkennen. Ich warf Reese einen vorsichtigen Blick zu, um herauszufinden, wie er diese Nachricht aufnahm.

„Ist das dauerhaft, oder wird er sich mit der Zeit wieder erinnern?“, wollte er wissen. Er wirkte nachdenklich und in sich gekehrt. Das war wirklich eine Wendung, mit der wir beide nicht gerechnet hatten. Erst die Nachrict das Nick aufgewacht war und dann das.

„Das lässt sich zu diesem Zeitpunkt leider noch nicht mit Sicherheit sagen. Viele Patenten die an retrograde Amnesie leiden, erlangen ihre Erinnerung mit der Zeit wieder. Es gibt aber auch seltene Fälle, in dem der Gedächtnisverlust des Patienten dauerhaft ist.“

Das hörte sich nicht gut an. Ein Leben ohne seine Erinnerungen? Ich wollte mir nicht mal vorstellen, wie das war. Wenn ich nur darüber nachdachte, dass ich Reese vergessen könnte, oder meine verstorbenen Eltern und Onkel Rod, dann wurde mir ganz anders.

„Was heißt das für uns?“, fragte Reese. „Und für ihn?“

„Das beste was Sie im Moment tun können, ist, sich ihm langsam anzunähen. Reden Sie einfach mit ihm und erzählen Sie ihm, was für ein Mensch er war, oder was er gerne getan hat. Vielen Patienten hilft das dabei sich zu erinnern, aber überfordern sie ihn nicht. Im Moment ist Herr Tack noch sehr unsicher, aber ich habe ihm bereits gesagt, dass er einen Bruder hat und der ihn sicher bald besuchen kommen wird.“

Ich war mir nicht sicher wie ich das finden sollte. „Und wenn er sich nicht erinnert?“

„Dann schaffen Sie neue Erinnerungen mit ihm“, sagte Doktor Bosch, als wäre es das Selbstverständliche der Welt. „Lernen Sie ihn neu kennen und sorgen sie dafür, dass er Sie wieder kennenlernt.“

Das war … seltsam, um es mal vorsichtig auszudrücken.

Reese verlagerte sein Gewicht ein wenig und griff reflexartig nach seiner Manteltasche, ließ den Arm aber wieder sinken, bevor er seine Zigaretten überhaupt in der Hand hatte. „Welche Auswirkungen hat das auf seine Krankheit?“

Ach ja, daran hatte ich ja noch gar nicht gedacht. Nick war, um es mal vorsichtig auszudrücken, nicht immer klar bei Verstand. Er war nicht komplett geisteskrank wie seine Mutter, aber normal konnte man ihn auch nicht nennen.

Was Nick hatte war eine kombinierten Persönlichkeitsstörung mit Auffälligkeiten von Borderline und einer emotionalen Instabilität. Dank seiner Mutter litt er zusätzlich an einer Posttraumatische Belastungsstörung. Er mochte es nicht am Kopf berührt zu werden. Tat man es doch, geriet er entweder in Panik oder rastete völlig aus. Ich hatte es einmal miterlebt und das hatte mir gereicht.

„Das lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sicher sagen“, erklärte der Arzt. „Vieles von dem an dem er leidet ist psychischer Natur. Es könnte sich verschlimmern, oder auch verbessern, aber da er sowieso eine Therapie wird machen müssen, kann das dabei festgestellt werden. Am besten tun Sie so, als wäre er wie immer, aber bitte vergessen Sie dabei nicht ihn zu schonen und nicht zu bedrängen. Wir wollen ihm im Moment doch nicht überfordern.“

Überfordern, das war hier nun wirklich das passende Wort. Ich jedenfalls fühlte mich mit der Situation komplett überfordert. Wie ging man mit einem Menschen um, den man zu seiner Familie zählte – irgendwie – und der sich nicht an einen Erinnerte? Noch dazu mit der Vergangenheit die wir beide teilten. Ich wüsste nicht mal wie ich mit ihm umgehen sollte, wenn er sich erinnern könnte. Das hier war noch schlimmer.

„Okay, danke.“ Reese nickte ihm zu. „Können wir dann jetzt zu ihm?“

„Natürlich, ich werde Sie ihm noch schnell vorstellen und dann lasse ich Sie alleine.“

Reese verzog unwillig das Gesicht. Wahrscheinlich schmeckte ihm der Gedanke nicht, das ein im Grunde Fremder ihm seinen eigenen Bruder vorstellen wollte. Erstaunlicherweise hielt er sich trotzdem zurück und folgte dem Arzt stumm und gehorsam in den Raum.

Es musste schlimmer um ihn stehen, als ich bisher angenommen hatte.

Die Krankenschwester, die im Raum geblieben war, sagte gerade etwas zu Nick, doch als die Zimmertür sich öffnete und wir hinter dem Arzt den Raum betraten, schaute er sofort neugierig auf. Er wirkte müde.

„So Herr Tack, ich werde nicht mehr lange stören, ich möchte Ihnen nur kurz ihren Bruder vorstellen … ähm …“

„Reese“, half Reese dem Doktor aus.

„Reese.“ Er lächelte Nick professionell an. „Ihr Bruder Reese.“

Neugierig glitten Nicks Augen zu seinem Bruder und während die beiden sich gegenseitig musterten und versuchten abzuschätzen, gab Doktor Bosch der Krankenschwester ein Zeichen und verschwand dann mit ihr aus dem Raum. Keiner von uns bekam mit, wie sie die Tür leise hinter sich schlossen.

„Du bist also mein Bruder“, sagte Nick leise und griff dann nach dem Handspiegel, der neben ihm auf dem Nachttisch lag. Er musterte sein Spiegelbild kritisch, schaute kurz zu Reese und richtete den Blick dann wieder auf sein Spiegelbild. „Du siehst kein bisschen aus wie ich.“ Seine Stimme war irgendwie dünn und kratzig. Wahrscheinlich weil er sie schon lange nicht mehr benutzt hatte.

„Du kommst nach unserer Mutter, ich nach unserem Vater“, erklärte Reese, schien sich aber nicht zu trauen näher an das Bett heranzutreten. Die ganze Situation schien auch ihn zu verunsichern, also fädelte ich meine Finger zwischen seinen ein, drückte seine Hand leicht und zog ihn mit mit zum Bett. Dadurch geriet ich in den Fokus von Nicks Aufmerksamkeit und genau wie er es vorher bei Reese getan hatte, wurde nun ich von ihm gründlich unter die Lupe genommen.

Das war wohl das erste Mal, dass ich mich absolut unwohl dabei fühlte, so genau von ihm gemustert zu werden. Früher hatte ich seine Aufmerksamkeit genossen, heute machte sie mich unruhig. Der Blick wirkte nicht begehrlich, nicht so wie früher, aber doch lauerte da noch irgendwo dieser Funke in seinen Augen, der mir damals so viel Kummer bereitet hatte und mich zur Vorsicht ermahnte.

„Und wer bist du?“, fragte er mich dann ganz direkt.

Ich lächelte nichtssagend. „Ich bin Grace.“

„Meine Freundin“, betonte Reese, als wollte er seinen Bruder ermahnen, nicht auf dumme Gedanken zu kommen.

Wäre unsere Gedichte eine andere, hätte ich ihm in diesem Moment wohl einen finsteren Blick zugeworfen, doch so lächelte ich einfach tapfer weiter und tat so, als hätte ich nichts gehört. „Es ist so schön, dass du endlich wieder aufgewacht bist. Wir haben lange darauf gewartet.“ Viel zu lange.

Nick runzelte die Stirn und musterte mich ein weiteres mal. „Deine Stimme, ich habe das Gefühl …“ Er schüttelte den Kopf, als wollte er einen Gedanken loswerden. „Kennen wir uns?“

Diese Frage erschreckte mich mehr, als sie eigentlich gedurft hätte. „Ähm …“ Ich zögerte, nicht sicher, was genau ich ihm sagen sollte. Sollte ich ihm alles erzählen? Aber das würde ihn sicher überfordern. Am Besten blieb ich bei einer schlichten Antwort. „Wir haben dich jede Woche besucht und da habe ich immer mit dir geredet. Doktor Bosch hat uns erklärt, dass manche Komapatienten es hören, wenn man mit ihnen spricht.“

„Das könnte es sein“, murmelte er, wirkte aber nicht überzeugt. „Das heißt wir kennen uns nicht?“

Wieder zögerte ich. Ich wollte ihm nicht erzählen, was damals zwischen uns geschehen war. Daher sagte ich nur kurz angebunden: „Wir haben uns ein paar Wochen vor deinem Unfall kennengelernt.“

„Was mit dir geschehen ist“, fügte Reese hinzu und zog damit die Aufmerksamkeit auf sich, „ist in ihrem Haus passiert.“

„Die Attacke durch einen Proles.“ Nick runzelte die Stirn. „Mir wurde gesagt, ich bin von einem Treppenabsatz gestürzt und auf dem Kopf aufgeschlagen.“

„In meinem Keller“, war alles was ich dazu sagte und erinnerte mich an dem Moment, als ich von Drei/siebenunddreißig, dem Monster das Taid für eine Proles-Arena-Kämpfe gezüchtet hatte, in meinem eigenen Haus angegriffen wurde. Heute war diese Kreatur tot, getötet von einem Schraubenzieher, den ich ihm in den Schädel gejagt hatte – nicht ohne mit zahlreichen Verletzungen davon zu kommen.

Die Zeit damals war hart gewesen. Nur Reese hatte war es möglich gewesen mich zusammenzuhalten, damit ich nicht einfach auseinander fiel. Gott, wie gerne würde ich diese Bilder aus meinem Kopf verbannen.

Das aufkommende Schweigen war irgendwie ungemütlich und wurde auch nicht besser, als Niklas uns erneut von oben bis unten musterte.

„Sieht aus, als seid ihr auf einem Kriegspfad“, bemerkte er mit Blick auf die Messer an meinen Beinen.

Es war unnötig, aber ich selber schaute nach unten und erklärte: „Wir sind Venatoren.“

„Venatoren. Ihr jagt Proles.“ Es war eher eine Erklärung für sich selber, als für uns. „Du auch?“, fragte er mich direkt.

„Ja. Reese hat mich ausgebildet. So haben wir uns damals kennengelernt.“ Unwillkürlich rückte ich ein wenig näher an ihn heran. Reese war damals wirklich ein unangenehmer Zeitgenosse gewesen. Heute wusste ich allerdings, dass er das alles nur aus Selbstschutz gemacht hatte, denn er hatte ein paar brisante Geheimnisse bewahren müssen. In der Zwischenzeit hatte ich ihn alle seine Gemeinheiten verziehen. Naja, manche hatte ich ihm auch in den letzten Jahren heimgezahlt. Damit waren wir heute Quitt.

„Wow“, sagte Nick und wirkte ehrlich beeindruckt. „Ich bin beeindruckt, weibliche Venatoren sind selten.“

„Und gefährlich“, erklärte ich mit einem Lächeln, was ihm ein leises Lachen entlockte.

Grinsend schaute er von einem zum anderen. „Und was hab ich gemacht? War ich auch Venator?“

Oh Backe, das war keine gute Frage.

„Nein.“ Reese schüttelte den Kopf – einmal hin und einmal her. „Du warst … Tierpfleger.“

Joa, so konnte man es natürlich auch beschreiben. War auf jeden Fall besser, als ihn in die ganze Scheiße die damals gelaufen war, einzuweihen. Bei diesem Gedanken musste ich mich unweigerlich fragen, ob das was geschehen war heute noch strafrechtlich verfolgt werden konnte. Immerhin hatte Nick für Taid gearbeitet. Hatte Reese das als er sich selber angezeigt hatte der Polizei gegenüber eigentlich erwähnt? Ich wusste es nicht, aber so wie ich ihn kannte, hatte er alle Schuld auf sich genommen und Nick aus der Sache komplett rausgehalten. Was auch besser war, denn einmal hatte Taid versucht seine Drohung wahr zu machen. Wir konnten uns glücklich schätzen, dass es ihm nicht gelungen war. Mich schauderte es heute noch, wenn ich daran dachte.

„Aber das Unternehmen, in dem du gearbeitet hast, gibt es nicht mehr“, fügte Reese noch hinzu.

Nett ausgedrückt.

„Das heißt, ich mag Tiere?“

Reese nickte. „Du hast eine Katze.“

Die wir ihm besorgt hatten, nachdem er sein Pillicula mit einer Fleischergabel erstochen hatte. Da ließ ich lieber unerwähnt. Stattdessen fischte ich mein Handy aus der Jackentasche, suchte ein Video mit unserem weißen Wattebausch heraus und reichte es Nick. „Hier, das ist sie. Ihr Name ist Cheery, du hast ihr den Namen gegeben.“ Warum ließ ich besser unerwähnt. „Wir haben sie aufgenommen, nachdem … nachdem es passiert ist.“

Das Video zeigte Cheery, die in einem Affenzahn ins Wohnzimmer flitzte und dort ihre Spielzugmaus angriff. Sie malträtierte das kleine Ding einen Moment, warf es dann in einem hohen Bogen von sich und rannte bei ihrem Weg nach draußen einmal quer über Reese, der da gerade auf der Couch gelegen hatte.

Verdammt, Katze!“, hörte ich ihn auf der Aufnahme fluchen und erinnerte mich daran, wie ich ihn später wegen der zwei Kratzer verspottet hatte, die er sich bei der Aktion zugezogen hatte. Manchmal waren Männer wirklich solche Babys – obwohl ich der festen Überzeugung war, dass sie manchmal einfach nur bemitleidet werden wollten.

Aber damit war das Video noch nicht beendet. Kaum dass Cheery aus dem Wohnzimmer geflitzt war, kam sie auch schon wieder angerannt, bereit sich wieder auf ihre Maus zu stürzen. Leider hatte sie die bei der vorherigen Aktion ausversehen hinter den Fernseher geschmissen. So stand sie nun da, schaute immer wieder nach links und recht, um ihr Ziel zu finden, nur um am Ende mich anzuschauen – und damit direkt in die Kamera – und bemitleidenswert zu maunzen. Die Welt war ja auch wirklich unfair zu solch armen, kleinen und völlig durchgeknallten Katzen.

Oh“, hörte ich mich selber murmel. „Hat die böse Maus sich einfach vor der großen Jägerin versteckt?“

Von der Couch kam ein abwertendes Schnauben, dann war das Video zu Ende. Es war eine meiner liebsten Aufnahmen von Cheery.

„Sie ist niedlich.“

Reese schnaubte. „Sie ist eine Nervensäge.“

„Nein“, stimmte ich Nick zu und mahnte Reese mit einem strengen Blick. „Cheery ist niedlich. Auf ihre ganz eigene, spezielle Art.“ Auf eine sehr spezielle Art. Ich lächelte leicht. „Sie hat Ähnlichkeiten mit dir.“

Was genau ihn an diesen Worten störte, wusste ich nicht, doch als er mir mein Handy zurück gab, war das Lächeln von seinen Lippen verschwunden.

„Alles okay?“

„Ja klar“, sagte er, wirkte aber alles andere als okay. Seine Augen wirkten nachdenklich und einfach nur müde. Dieses eigentlich doch recht harmlose Gespräch schien ihn ziemlich anzustrengen. „Es ist nur – keine Ahnung – ich bin mir selbst ein Fremder. Ich weiß gar nichts über mich. Ihr dagegen … ihr kennt mich. Das ist … komisch.“

Naja, komisch reichte nicht mal annähend um seine Situation in Worte zu fassen. Ich würde ja eher sagen, es war grotesk. „Doktor Bosch hat uns gesagt, dass das aller Wahrscheinlichkeit nach nur ein vorübergehender Zustand ist und du dich mit der Zeit wieder an alles erinnern wirst.“ So mehr oder weniger.

„Ja, das hat er mir auch gesagt, nur … ihr könnt euch nicht vorstellen, was für ein Gefühl das ist. Ich hab nicht nur die letzten drei Jahre verloren, sondern ein ganzes Leben. Wer also bin ich?“

Das war wohl die am schwierigsten zu beantwortende Frage, die er uns bisher gestellt hatte. Darum zögerte ich auch und wechselte einen Blick mit Reese, bevor ich es wagte den Mund zu öffnen. „Du bist Niklas, der kleine Bruder von Reese. Du treibst ihn gerne zur Weißglut und treibst deine Späße. Du kannst Keyboard spielen – ziemlich gut sogar – und du bist hoffnungslos unordentlich. Aber vor allen Dingen bist du uns wichtig und wir sind einfach nur froh dich endlich wieder zu haben.“ Ja okay, das klang ein wenig schmalzig, aber etwas besseres war mir auf die Schnelle nicht eingefallen. Und es stimmte ja auch. Ihn endlich wieder wach zu sehen und mit ihm zu sprechen war wie ein Wunder.

Nick jedoch seufzte nur und rieb sich über die Augen. „Ich bin müde.“ Er schnaubte bei seinen eigenen Worte. „Ich hab drei Jahre geschlafen, eigentlich müsste ich der blühende Morgen sein.“ Ich warf uns ein schiefes Lächeln zu. „Wärt ihr mir böse wenn ich euch rausschmeiße? Ich muss erst … ich weiß nicht, damit klarkommen wahrscheinlich.“

„Nein, natürlich nicht“, versicherte ich ihm sofort. Es war ihm anzusehen, wie sehr ihn allein dieses kurze Gespräch anstrengte. Doktor Bosch hatte mit seiner Einschätzung Recht gehabt, ihn nicht zu überfordern. „Wenn du möchtest, gehen wir. Wir können ja morgen wiederkommen.“ Auch wenn Reese nicht so wirkte, als wollte er das Zimmer in der nächsten Zeit verlassen. Er schien zu befürchten, dass sich alles nur als Traum entpuppte, wenn er ihn auch nur einen Moment aus den Augen ließ.

„Möchten? Ich weiß nicht.“ Mit einem mal wirkte er nicht nur müde, sondern auch leicht verwirrt. „Das ist alles so … ich weiß gar nichts.“

„Das ist vielleicht jetzt noch so“, sagte ich und trat näher an das Bett heran. Einen Moment zögerte ich, dann legte ich meine Hand vorsichtig auf seine. Er ließ die Berührung zu. „Aber du wirst sehen, mit der Zeit wird es besser werden. Du musst nur Geduld haben und dir selber Zeit geben.“

Nachdenklich strich sein Daumen über meinen Handrücken und ich musste mich zwingen meinen Arm still zu halten und ihn nicht einfach wegzureißen. Diese Reaktion überraschte mich selber. „Okay, dann … gehen wir jetzt.“

„Okay.“

Langsam entzog ich ihm meine Hand und wich vor ihm zurück. Es war seltsam ihn wieder so zu berühren, besonders wenn Reese uns dabei mit Argusaugen beobachtete. „Wir sehen uns morgen.“

Dafür bekam ich eines seiner verspielten Lächeln, dass mich so sehr an eine Zeit erinnerte, in der ich wir etwas hätten sein können, das wir niemals waren. „Ich werde hier sein.“

„Dann wissen wir ja wo wir dich finden.“ Irgendwie fand ich diesen Abschied unangenehm. Besonders Reese schaffte es kaum mehr als ein „Bis dann“ von sich zu geben, bevor wir den Raum verließen und zurück auf den Korridor traten.

Als wir die Tür hinter uns schlossen, blieb er einen Moment einfach stehen, nur um sich dann ruckartig umzudrehen und mit forschem Schritt auf den Aufzug zuzuhalten. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, um nicht abgehängt zu werden. Einen Moment schien er sogar auf das Treppenhaus zuhalten zu wollen, um in Bewegung bleiben zu können, hielt dann aber doch vor dem Fahrstuhl und starrte die Türen an, als könnte er sie allein Kraft seiner Gedanken dazu bewegen sich zu öffnen. Klappte aber nicht, die Aufzugtüren blieben stur und widerstanden seinem starren Blick, bis sie bereit waren ihrer Aufgabe nachzugehen und sich zu öffnen.

Von Reese kam kein Ton, als er einstieg und auch als ich meine Hand vorsichtig in seine schob, gab er keinerlei Regung von sich. Es war als hätte er die Welt um sich herum einfach ausgesperrt und würde jetzt in seinen eigenen Gedanken leben. Das gefiel mir nicht.

„Reese?“, fragte ich vorsichtig, doch er schüttelte einfach nur den Kopf und starrte weiterhin ausdruckslos vor sich hin.

Bis wir draußen am Wagen waren, nahm er meine Anwesenheit nicht mal zur Kenntnis und dort auch nur kurz, als er das Auto aufschloss und sich dann hinter dem Lenkrad Platz nahm.

Ich folgte seinem Beispiel und ließ mich auf dem Beifahrersitz des SUV nieder.

Reese saß still neben mir und machte nicht einmal Anstalten den Wagen zu starten. Selbst die Zigaretten in seiner Manteltasche blieben unbeachtet. Er saß einfach nur da, stützte das Gesicht in die rechte Hand und atmete. Seine Schultern waren so angespannt, als wäre er kurz vor dem Zerspringen und mir wurde klar, dass er einen Moment brauchte, um seine Fassung wieder zu erlangen.

Auch wenn man es ihm nicht ansah, Reese hatte wie jeder andere Mensch auch Gefühle, nur zeigte er die nicht gerne und vor allen Dingen nicht jedem. Darum legte ich ihm nur eine Hand auf das Bein, um ihm wissen zu lassen, dass er nicht allein war und richtete meinen Blick dann nach vorne durch die Windschutzscheibe und begann leise vor mich hin zu summen.

Wenn Reese Zeit brauchte seine Fassung wiederzuerlangen, würde ich sie ihm geben, ohne das er sein Gesicht verlor. Wenn ich nur darüber nachdachte, dass statt Nick meine Schwester Wynn die ganze Zeit im Koma gelegen hätte und nun aufgewacht wäre, ich würde wahrscheinlich jetzt hier sitzen und Rotz und Wasser heulen, einfach um meiner Erleichterung Ausdruck zu verleihen.

Auch wenn es so kalt war, dass ich mein Zittern unterdrücken musste, war draußen ein klarer blauer Himmel. Ich beobachtete die Menschen auf den Parkplatz. Eine Frau mit einem kleinen Kind, die sich zügig mit einem weinenden Kind an der Hand ihren Weg zum Krankenhaus suchte. Ein blauer Audi kurvte drei Mal um uns herum, bevor endlich ein Parkplatz für ihn drei wurde und der Mann im Rollstuhl blieb fast in einem Schlagloch im Asphalt hängen.

„Wir sollten es ihm besser nicht sagen“, sagte Reese in die Stille hinein. Seine Stimme klang belegt und als er die Hand sinken ließ, waren seine Augen leicht gerötet.

Leider hatte ich keine Ahnung ich nicht worauf er hinaus wollte. „Ich versteh nicht.“

Einen Moment saß er einfach still da, dann griff er in seine Manteltasche und holte seine Zigarren heraus. Er ließ sich Zeit mit dem anzünden des Glimmstängels und tauschte dann das Feuerzeug gegen den Wagenschlüssel aus, bevor er wieder den Mund öffnete. „Das da mal etwas zwischen dir und ihm war. Wir sollten ihm das besser nicht sagen.“ Er warf mir einen kurzen, nicht zu definierenden Blick zu, bevor er entschlossen den Schlüssel ins Zündschloss steckte. „Die ganze Situation ist so schon schwer für ihn, das würde die Dinge nur verkomplizieren. Außerdem ist es ja unwichtig.“

Den letzten Teil fügte er hinzu, als wären die Worte für ihn ohne Bedeutung, doch er wich gekonnt meinem Blick aus. Außerdem, wenn ich ehrlich war, fand ich das nicht unbedingt unwichtig. Nick war der erste Mann gewesen, dem ich näher gekommen war. Natürlich, ich hatte ihn nicht geliebt und war Reese trotz all seiner Ecken und Kanten heute restlos verfallen, aber ich war mir nicht sicher, ob es eine gute Idee war, Nick unser Verhältnis vorzuenthalten.

Aber vor allen Dingen war mit klar, warum Reese das wollte. Nick war niemals der nette Kerl von nebenan gewesen und die Gefühle anderer Menschen kamen bei ihm erst weit nach seinen eigenen Bedürfnissen. Dass hatte Reese auf die harte Tour lernen müssen, als seine Ex Kira sich ein kurzes Vergnügen mit dem kleinen Bruder erlaubt hatte.

Jetzt fürchtete er sich vermutlich davor, dass ich in alte Verhaltensmuster zurückfallen konnte. Er wusste nur zu gut, wie ich damals Nicks Aussehen und Charme verfallen war, nur schien er vergessen zu haben, wie ich seinen kleinen Bruder mit ihm betrogen hatte, als wie beide offiziell noch als Paar gegolten hatten.

Das war nicht schön gewesen. Nachdem ich Nick mit Reese fremdgegangen war hatten mich solche Schuldgefühle geplagt, dass ich dem kleinen Bruder nicht mehr hatte unter die Augen treten können. Als ich es dann doch endlich tat, war das nur gewesen, um mit ihm Schluss zu machen. Leider hatte Nick diesen Augenblick gewählt, um mir seine Liebe zu gestehen.

Ich hatte Panik bekommen und Nick direkt ins Gesicht gesagt, dass ich mit Reese geschlafen hatte. Was danach geschehen war … naja, sagen wir einfach mal so: Vielleicht zehn Minuten bevor Nick ins Koma gefallen war, hatte er noch versucht die Dinge zwischen uns wieder in Ordnung zu bringen. Ich hatte ihn abgewiesen, aber Nick war kein Mann, der eine Zurückweisung einfach so hinnahm. Auch wenn ich mir nichts vorzuwerfen hatte, da ich die Sache zwischen uns beiden offiziell beendet hatte, bedeutete das für Nick noch lange nicht, dass er das einfach akzeptieren würde. Auch nicht die Tatsache, dass ich mir Reese erst knapp zwei Monate später zusammengekommen war. Es würde mich nicht wundern, wenn wir in seinen Augen noch immer ein Paar waren und ich ihn die letzten drei Jahre seiner Meinung nach Betrogen hätte.

So gesehen war es vielleicht gar nicht Verkehrt, Nickt die ganze Geschichte zu verschweigen. Ich war mit Reese zusammen und das würde ich für nichts auf der Welt aufgeben. Aber … „Was ist wenn er sich wieder erinnert?“, fragte ich leise. „Doktor hat schließlich gesagt, dass sein Gedächtnis mit der Zeit zurück kommen könnte.“

Reese schwieg einen Moment. Dann drehte er entschlossen den Schlüssel im Schloss und ließ den Wagen schnurrend zum Leben erwachen. „Wenn das wirklich passiert, dann werden wir mit ihm sprechen und ihm alles erklären.“

Ich hoffte, dass das reichen würde.

 

°°°

 

Reese wollte gerade den Wagen umrunden, als ich ihm meine offene Hand direkt vor die Nase hielt und ihn damit sehr wirksam zum stehen brachte. So ein Finger im Auge war halt auch nicht sehr angenehm.

„Rück die Schlüssel raus, ich fahre heute.“

Irritiert schaute er von meiner offenen Hand in mein Gesicht und zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen. „Warum?“

Weil Dienstag war und wir in die Gilde mussten, um seinen Praktikanten in Empfang zu nehmen. Da Reese morgens aber niemals freiwillig in die Gilde fuhr, weil dieser Umweg in seinen Augen nichts als Zeitverschwendung war und er erst recht einen großen Bogen um das Gebäude machen würde, wenn er von seinem heutigen Glück wüsste, musste ich das in die Hand nehmen. Darum setzte ich ein neutrales Gesicht auf und fragte schlicht: „Warum nicht?“

Er fixierte mich mit seinem Blick, aber zu seinem Leidwesen verwandelte ergriff ich nicht schreiend die Flucht, sondern erwiderte ihn standhaft. Für die nächsten Sekunden war das alles was wir taten. Ich kannte diese Alphamännchennummer von Reese schon zur Genüge und ließ mich davon schon lange nicht mehr einschüchtern.

Lexian schaute etwas irritiert zwischen den uns beiden hin und her, aber davon ließen wir uns nicht stören. Ich wollte diesen Schlüssel – nein, ich brauchte ihn sogar – und ich würde nicht nachgeben, bis ich ihn bekam.

Mit einem Geräusch, dass mir wohl sagen sollte wie genervt Reese heute morgen mal wieder von mir und der ganzen Welt ganz im Allgemein war, schnippte er den Stummel seiner Zigarette in den Rinnstein und fischte dann meine Trophäe aus seiner Tasche.

„Warum nicht gleich so?“ Ich gab ihm keine Gelegenheit für eine Erwiderung und schnappte mir eilig den Schlüssel, bevor er es sich noch mal anders überlegen konnte. „Los, einsteigen“, befahl ich den beiden Männern und nahm dann hinter dem Lenkrad platz.

Fünf Minuten, so lange würden wir mit dem Wagen bis zur Gilde brauchen, zehn wenn die Ampeln gegen mich waren. Wenn ich Glück hatte, reichte die Zeit nicht, bis Reese kapierte, was hier los war. Und wenn er es dann endlich verstand, wären wir schon da und ich konnte mich aus dem Staub machen und hinter Jilin verstecken, bevor er seinem Ärger Luft machen konnte. Ja, das war ein guter Plan.

Da Reese allerdings etwas größer war als ich, musste ich mich erstmal auf meinem Platz einrichten. Als ich den Rückspiegel richtig einstellte, sah ich mich selber und verzog abgestoßen das Gesicht. Die Beule vom gestrigen Autounfall war über Nacht zu schillernden Blautönen erblüht. Meine ganze Schläfe hatte sich verfärbt und mit meinen noch immer schorfigen Knöcheln, erweckte ich nun den Eindruck, als sei ich in eine handfeste Schlägerei verwickelt gewesen.

Reese hatte heute Morgen fast der Schlag getroffen, als er mein Gesicht gesehen hatte und ich hatte fast eine halbe Stunde auf ihn einreden müssen, um ihn davon abzubringen, Lexian bei der nächstbesten Gelegenheit die Fresse zu polieren – seine Wortwahl, nicht meine. Die Begrüßung der beiden war dennoch sehr kühl ausgefallen. Im Grunde hatte Reese ihn einfach nur mit Blicken aufgespießt.

Sobald die Männer saßen und angeschnallt waren, startete ich den Wagen und fädelte mich in den Verkehr ein. Kurz war ich sogar versucht das Radio einzuschalten, um mögliche Gespräche zu vermeiden, aber da ich das sonst auch nicht tat und ich Reese nicht unnötig aufmerksam machen wollte, ließ ich dann doch lieber die Finger davon.

„Ich ruf kurz bei der Gilde durch“, erklärte Reese und begann auf der Suche nach seinem Handy seine Taschen zu durchforsten.

Oh nein, nicht gut. „Brauchst du nicht, wir haben schon einen Auftrag bekommen.“

Er hielt in der Bewegung inne und musterte mich misstrauisch. „Ach ja?“

„Natürlich.“ Werd unter seinem Blick nur nicht nervös! „Oder glaubst du ich fahre ziellos durch die Stadt?“ Das war nicht direkt eine Lüge. Ich hatte wirklich einen Auftrag, nur bestand der nicht darin ein paar Proles zu beseitigen, sondern Reese in der Gilde abzuliefern und ihn mit seinem Praktikanten zusammen zu bringen.

Nicht dass ich ihm das unter die Nase reiben würde.

Sehr langsam und ohne mich auch nur für einen klitzekleinen Moment aus den Augen zu lassen, lehnte Reese sich auf seinem Sitz wieder zurück und musterte mich sehr eindringlich. Wahrscheinlich vermutete er mittlerweile, dass irgendwas im Argen lag.

„Warum hab ich auf einmal das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt?“

Gute Intuition? „Ich würde auf Schlafmangel tippen. Wenn man nicht gut ausgeruht ist, funktioniert der Kopf nicht richtig.“

Zum Glück musste ich auf die Fahrbahn achten, so entging ich seinem bohrenden Blick, auch wenn ich ihn die ganze Zeit auf meiner Haut spürte.

Auf der Rückbank blieb es erstaunlich ruhig. Lexian hatte bisher nicht mal etwas dazu gesagt, dass wir ihn gestern einfach hatten stehen lassen. Ich wusste nicht ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Vielleicht erinnerte er sich aber auch einfach nur daran, was gestern geschehen war, als er den Besserwisser hatte markieren müssen. Oder er hatte mittlerweile von irgendwoher erfahren, wohin wir nach dem Autounfall so eilig verschwunden waren.

Die Gedanken an Nick hatten mich seit gestern keinen Moment mehr in ruhe gelassen, denn kaum das wir den Parkplatz des Krankenhauses verlassen hatten, war mir eine Sache sehr deutlich bewusst geworden: Damit das er wieder erwacht war, hatten sich nun einige Dinge geändert.

Vor dem Unfall hatten Nick und Reese zusammen gewohnt und auch wenn Nick jetzt noch ein Weilchen im Krankenhaus bleiben musste, bis es ihm gut genug ging, um es zu verlassen, stand er mit nichts da. Wahrscheinlich wusste er es noch nicht, aber im Moment war er auf uns angewiesen und auch wenn ich mit Reese noch nicht über diesen Punkt gesprochen hatte, so war ich mir sicher, dass er Nick bei uns einquartieren wollte.

Im Moment wollte ich mir gar nicht vorstellen mit den Brüdern in unserer kleinen Wohnung zusammen zu wohnen. Nick konnte sich vielleicht an nichts erinnern, Reese und ich dagegen schon. Mir war jetzt schon klar, dass das zu Komplikationen führen würde – besonders bei unserer Vorgeschichte und Reese' zwar gut versteckter, aber doch vorhandener Eifersucht. Allein schon seine Bitte Nick nichts von unserer früheren Beziehung zu erzählen, hatte bei mir die Almglocken klingeln lassen.

Da blieb nur noch zu hoffen, dass das in meiner Phantasie alles viel schlimmer ablief, als es nachher in der Realität werden würde.

Als ich in die Straße der Gilde einbog, runzelte Reese die Stirn und als ich den Wagen dann in die Tiefgarage lenkte, wandte er mir sehr langsam das Gesicht zu.

„Ich wusste gar nicht, dass die Gilde in der Garage ein Proles-Problem hat“, bemerkte er trocken.

Oh oh, dünnes Eis. „Da kannst du mal sehen.“

Nein, das war keine zufriedenstellende Antwort für ihn. „Shanks, warum sind wir hier?“ In seiner Stimme schwang ein leicht drohender Unterton mit.

Und damit waren die Spiele eröffnet. Da blieb mir nur noch eines: Augen zu und durch. Jedoch wartete ich mit meiner Antwort nicht nur bis ich sicher auf eingeparkt, sondern auch den Schlüssel abgezogen hatte und er sicher in meiner Jackentasche verstaut war. Erst dann drehte ich mich in meinem Sitz und wandte mich ihm zu. „Wir sind hier, weil heute die Praktikanten von der Akademie ihren ersten Tag bei uns haben und dir die Ehre zuteil geworden ist, dein Wissen und Können an einen von ihnen weiterzugeben.“ So, damit war es raus.

Wenn Blicke töten könnten.

Nun ja, ich hatte sowieso nicht damit gerechnet, dass er vor Freude an die Decke springen würde. „Ach komm schon, jetzt sei mal ein wenig sozial.“ Jetzt bekam ich einen wirklich bösen Blick. Da ich mich davon aber noch nie hatte einschüchtern lassen, beugte ich mich einfach vor und gab ihm einen besänftigen Kuss auf den Mund. „Ich werde jetzt aussteigen und den Autoschlüssel mitnehmen. Das bedeutet, du kannst hier bleiben und die Welt für ihre Existenz verfluchen, oder du begleitest mich hinein. Deine Entscheidung.“ Damit stieg ich einfach aus dem Wagen.

Ich war vielleicht drei Meter gelaufen, als ich hinter mir hörte, wie zwei erst geöffnet und dann wieder geschlossen wurde – wobei eine lautstark zugeknallt wurde. Reese hatte also keine Lust alleine im Auto zu schmollen. Bestens.

„Für das hier werde ich dich später büßen lassen, ich hoffe das ist dir klar“, rief er mir hinterher.

Ich blieb stehen, warf ihm über die Schulter hinweg mein schönstes Lächeln zu und zwinkerte ihm verspielt zu. „Versprich nichts, was du nicht halten kannst, Hellboy.“

Dafür bekam ich gleich noch mal einen finsteren Blick, doch zu seiner Enttäuschung, erzitterte ich nicht vor Angst. Da der erhoffte Effekt ausblieb, tat er das einzige was ihm übrig blieb, er setzte sich mürrisch in Bewegung. Dass er im Vorbeigehen Lexian mit der Schulter anrempelte, geschah sicher nicht ausversehen.

Kopfschüttelnd wartete ich auf ihn und verließ dann mit ihm zusammen die Tiefgarage. Er war sogar so nett mit trotz allem die Tür aufzuhalten, aber das tat er wohl nur, um sie Lexian direkt vor der Nase zuschlagen zu können. Das war dann wohl die Rache für meine blaue Monsterbeule.

Ich ließ ihn einfach machen, irgendwie musste er ja schließlich seine Aggressionen abbauen und besser so, als wenn er Lexian mit der Faust ins Gesicht schlagen würde.

In der Gilde ging es heute ziemlich ruhig zu. Als ich das große Arbeitsareal mit den vielen Schreibtischen betrat, waren außer uns nur ein halbes Dutzend Venatoren anwesend, die den Morgen mit Kaffee und leisen Gesprächen begannen. Madeline saß wie immer vorne am Empfang und bewachte das Telefon und Seth lümmelte mit Alexis Cadieux an seinem Schreibtisch herum und lachte.

Der gebürtige Franzose war vor ungefähr einem Jahr zu uns gekommen, als seine Frau aus beruflichen Gründen hergezogen war. Er war nett, aber ein wenig wortkarg. Nicht dass das etwas schlechtes wäre.

Aziz dagegen sah ich nicht, aber wenn Seth hier war, konnte er nicht weit weg sein. Vermutlich versuchte er mal wieder Jilin mit seinem Charme zu bezirzen.

Als wir an den Leuten vorbei gingen, hob ich zum Gruß die Hand, doch bevor ich etwas sagen konnte, wurde meine Aufmerksamkeit von etwas anderem angezogen.

Drei Leute hatten gerade die Gilde durch den Haupteingang beteten und versammelten sich nun bei Madeline am Tresen. Da ich unter ihnen von dem Foto in seinem Dossier Kjell Dost erkannte, waren das dann wohl die neuen Praktikanten. Aber das war es nicht was mich aufmerken ließ. Wir bekamen immer mal wieder Praktikanten, doch was nicht so oft geschah, da war ein Mädchen dabei.

Als ich sie sah, musste ich an all das denken, was Reese mir bei meinem ersten Tag hier in der Gilde alles um die Ohren gehauen hatte, denn die Kleine war, naja, klein – kaum mehr als ein Strich in der Landschaft. Mir kam das Bild eines Zahnstochers in den Sinn. Besonders neben den beiden Jungs wirkte sie geradezu winzig.

„Na hoffentlich hat die Kleine Grips“, murmelte ich und sah mich nach Reese um, musste aber feststellen, dass er mich einfach stehen gelassen hatte und bereits an seinem Schreibtisch saß und versuchte beschäftigt auszusehen, indem er die Papiere in seiner Ablage ordnete – dabei war die Ablage bereits ordentlich.

„Oh Mann.“ Ich schlenderte zu ihm rüber, doch statt mich an meinen eigenen Schreibtisch zu setzten, trat ich zu ihm. „Sie sind da.“

Er tat so als sei ich Luft.

So schnell würde ich nicht aufgeben. „Hast du gehört was ich gesagt habe? Die Praktikanten sind da und einer von ihnen wird deiner werden.“

„Ich will aber keinen von diesen Idioten.“

Daniel, einer der Venatoren, nahm sich der Praktikanten an und brachte sie nach hinten zu Jilin.

„Das ist schade, weil du ihn trotzdem bekommst.“

Als er dann wieder so tat, als würde ich nicht existieren, änderte ich meine Taktik. Ich musste ihn irgendwie aufmuntern, sonst hätte ich den ganzen Tag diese Mimose am Hals. Daher schob ich seinen Arm weg und setzte mich auf sein Bein. Jetzt musste er mir seine Aufmerksamkeit schenken. „Ach komm schon, hör auf zu maulen. Vielleicht magst du ihn ja sogar.“

Er schnaubte.

„Warum nicht? Mich wolltest du am Anfang ja auch nicht und heute hast du mich sehr lieb.“

Endlich schaute er auf. „Das kann man nicht miteinander vergleichen, das weißt du ganz genau.“

„Doch kann man“, widersprach ich.

Er öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder und fixierte einen Punkt neben mir.

Ich musste nicht lange suchen um herauszufinden, wenn er da ins Auge gefasst hatte. Lexian kam auf uns zu und blieb direkt neben dem Schreibtisch stehen.

„Ich habe gerade mit Frau Halco wegen dem gestrigen Dienstabbruch gesprochen und sie erzählte mir, dass Sie beide gestern Nachmittag noch in die Gilde gekommen sind.“

„Ähm ja, wir mussten ja noch den Wagen austauschen. Sie wissen sicher noch warum.“ Wenn nicht, schau in mein Gesicht, dann erinnerst du dich.

„Ja.“ Er nickte. „Sie erzählte mir auch, dass Sie bei der Gelegenheit noch einen kleinen Auftrag angenommen haben.“

Ich nickte, runzelte aber die Stirn. „Ein Cascus in einem Keller. Keine Große Sache.“

„Das weiß ich bereits, aber Sie beide stehen unter Arrest, was bedeutet, Sie dürfen keinen Schritt ohne mich machen.“

Das war mir aber neu. „Es war doch bloß ein dummer Cascus und wir hatten gerade Zeit.“

„Das ist egal. Bis die Angelegenheit restlos geklärt ist, führen sie Aufträge nur noch in meinem Beisein aus. Sollte mir noch mal etwas anderes zu Ohren kommen, werde ich Sie beide nicht nur auf der Stelle suspendieren, ich werde auch dafür sorgen, dass man ihnen ihre Lizenzen entzieht. Haben wir uns verstanden?“

Wie bitte?

„Du machst aus einer Mücke einen Elefanten“, knurrte Reese. „Wir wurden gebraucht, also haben wir uns um die Sache gekümmert.“

„Diese Mücke ist bereits ein Elefant und wenn Sie beide nicht sehr vorsichtig sind, wird das üble Konsequenzen haben. Das ist die einzige Warnung, die ich Ihnen zukommen lasse. Dieses Spiel wird nach meinen Regeln gespielt, oder Sie sind raus.“

Also langsam machte der Kerl mich wütend. Was bildete er sich ein wer er war? „Das können Sie nicht machen.“

„Das kann ich nicht nur, das werde ich auch.“ Er sah jeden von uns beiden einen Moment streng an. „Merken Sie sich das.“ Nach einem letzten warnenden Blick auf uns, wandte er sich wieder ab und schlenderte nach vorne zu Madeline an den Tresen.

Oh dieser widerliche … ich griff nach dem erstbesten was ich zwischen die Finger bekam – das Namensschild von Reese – und holte aus um es diesem Mistkerl an den Kopf zu werfen.

„Hey!“ Reese langte über mich hinweg, hielt mein Handgelenk fest und nahm mir mein Wurfgeschoss weg. „Das ist meins. Nimm lieber das hier.“ Er stellte sein Schild zurück auf seinen Platz, griff nach dem Briefbeschwerer auf dem Schreibtisch hinter uns und legte ihn mir den in die Hand. „Hier, das bringt wenigstens niemand mit uns in Verbindung.“

Das würde wirklich niemand. Was ich da in der Hand hielt war ein faustgroßer Stein, der mir Kindermalfarben bemalt war. Das musste einer von Daniels Jungs gebastelt haben.

Seufzend legte ich den Stein auf Reese' Schreibtisch und erhob mich von seinem Stuhl. Wenn ich nicht aufpasste, würde ich Lexian irgendwann noch den Hals umdrehen. Ich meine, was hatte dieser Kerl nur gegen uns? Es erweckte schon fast den Anschein, als hätte er es auf uns abgesehen. Vielleicht war er aber auch einfach nur ein unangenehmer Mensch. Ich wusste nur, dass er sein Verhalten langsam mal ändern sollte, sonst würde es eher früher als später knallen.

Als hinter mir jemand einmal laut in die Hand klatschte, drehte ich mich herum. Aziz stand in der Tür zum Korridor und rief laut: „Tack, Alexis, ihr sollt zu Jilin ins Büro kommen. Da sind ein paar Grünschnäbel, die ganz dringend eure Bekanntschaft machen möchten.“

Wie nicht anders zu erwarten, machte Alexis sich sofort auf den Weg und folgte Aziz nach hinten, Reese jedoch blieb stur auf seinem Stuhl sitzen und begann wieder damit seine Ablage zu ordnen.

„Ich glaube, das war dein Zeichen.“

Keine Reaktion.

„Du benimmst dich kindisch“, warf ich ihm vor, aber da ich in den letzten Minuten scheinbar unbemerkt zu Luft geworden war, ergab ich mich meinem Schicksal und nahm die Sache selber in die Hand. Wenn er nicht gehen wollte, würde ich Kjell eben in Empfang nehmen. So oder so, er würde mit uns auf die Straße gehen.

Schon während ich mich Jilins Büro nährte, hörte ich sie reden. Es war die gleiche Ansprache über die Regeln und das Verhalten bei der Jagd, die sie jedem Praktikanten hielt.

„… werden euch Waffen ausgehändigt. Ihr bekommt auch einen Ausweis von der Gilde dazu, der euch berechtigt, sie mit euch zu führen, aber eines möchte ich betonen: Diese Waffen sind ausschließlich für die Jagd auf die Proles gedacht. Bekomme ich mit dass ihr sie missbraucht, nehme ich sie euch persönlich ab, befördere euch mit einem Arschtritt aus der Gilde und als Sahnehäubchen werde ich auch noch eine Anzeige oben drauf legen. Verstanden?“

Ich stellte mich mit verschränkten Armen neben Aziz und beobachtete, wie die drei Praktikanten alle artig nickten. Das Mädchen wirkte entschlossen, Kjell aufmerksam und der dritte schien noch nicht richtig wach zu sein.

„Na, spielst du den Laufburschen?“, murmelte Aziz in meine Richtung. Ihm musste klar sein, dass ich hier war, weil Reese ein Blödmann war.

Ich zischte ihn an, damit er still war.

„Drittens.“ Jilin verschränkte ihre Arme vor sich auf dem Schreibtisch und sah die drei der Reihe nach an. „Unruhestifter werden hier nicht geduldet. Wenn ihr nur auf die Straße wollt, um ein wenig herumzuballern, dann war es das für euch. Ihr solltet euch immer vor Augen halten, dass hier Menschenleben auf dem Spiell stehen. Unsere Arbeit ist wichtig. Außerdem werde ich es nicht dulden, dass ihr herumsitzt und Däumchen dreht. Wenn ihr nichts zu tun habt, geht in den Keller, dort haben wir ein großes Sortiment an Trainingsausrüstung. Nutzt das Zeug um in Form zu bleiben.“

Aziz trat ein Stück näher an mich heran und stieß mich mit der Hüfte an. Ich warf ihm einen warnenden Blick zu, woraufhin er es gleich noch einmal tat.

„Hör auf, oder ich tue dir weh“, warnte ich ihn.

„Oh ja bitte.“ Er streckte mir seinen Hintern entgegen. „Da hab ich es gerne.“

Okay, wenn er es so wollte.

„Viertens. Wenn es euch gesundheitlich nicht gut geht, dann sagt es mir. Ich kann euch nur auf die Aufträge ansetzten, wenn ihr in Bestform seid, denn ich bin nicht gewillt euer Leben aufs Spiel zu setzten. Natürlich könnt ihr auch zu mir kommen, wenn …“

Ich holte weit aus und ließ meine Hand dann mit Schmackes auf seinen Hintern sausen. Es gab ein überaus befriedigendes Klatschen, leider hatten wir mit dieser Aktion Jilins Redefluss unterbrochen und die allgemeine Aufmerksamkeit auf uns gezogen.

Ich verschränkte die Arme hinter dem Rücken und schaute ganz unschuldig drein, als ich Jilins Blick erwiderte.

„Seid ihr beide jetzt fertig, oder braucht ihr noch einen Moment?“, fragte sie leicht genervt.

Aziz grinste, rieb sich dabei aber die Kehrseite. Hatte wohl wehgetan. „Warum? Willst du auch mal?“

Gereizt rieb Jilin sich mit der Hand über die Schläfe. „Führ mich nicht in Versuchung, Aziz.“

Sein Grinsen wurde eine Spur selbstgefällig. „Aber genau das ist doch der Plan.“

Einen Moment lang starrte sie ihn einfach nur stumm an und entschied wohl, dass es die Mühe nicht wert war, denn sie widmete sich einfach wieder den Praktikanten, die uns ein wenig seltsam musterten. „Eine Sache noch, egal um was es geht, mein Wort ist Gesetz. Wenn das einem von euch nicht gefällt, da geht es raus.“ Sie zeigte sehr nachdrücklich auf die Tür, aber wie nicht anders zu erwarten, bewegte sich keiner vom Fleck.

Sie nickte befriedigt und zog die drei Ordner auf dem Schreibtisch zu sich heran. „Erinnert euch gut an eure bisherige Ausbildung. Wenn ihr dort draußen seid, kann euch das den Hintern retten. Seid immer wachsam und bereit, denn schon ein kleiner Fehler, kann ein Menschenleben kosten – auch euer eigenes.“

Alle drei nickten einstimmig.

„Gut, gibt es noch irgendwelche Fragen?“

Aziz öffnete den Mund.

„Nein“, sagte sie sofort und funkelte ihn warnend an. „Von dir will ich keinen Ton mehr hören.“

Sein Mund schloss sich wieder, aber das Lächeln blieb.

Jilin konnte nur noch den Kopf schütteln. „In Ordnung, dann kommen wir jetzt zu den Lehrcoachs. Alexis, das hier ist deiner.“ Sie hielt einen Ordner hoch, den der Franzose sich schnappte.

„William, du kommst mit mir“, wies er den Praktikanten an, der noch immer wirkte, als hätte er eine schlaflose Nacht hinter sich gehabt. Im Vorbeigehen warf er mir einen kurzen Blick zu und einen Moment hatte ich das Gefühl, er würde mich abchecken.

Keine Chance, Kleiner.

Während die beiden den Raum verließen, hielt Jilin den zweiten Ordner bereits in der Hand, runzelte dann die Stirn und fragte unverkennbar genervt: „Wo ist Tack schon wieder?“

Ich zuckte nur mit den Schultern. „Der schmollt an seinem Schreibtisch und bastelt vermutlich gerade an einer Voodoopuppe mit deinem Gesicht.“

Ihr Mundwinkel wanderte ein wenig nach oben. „Na wenigstens wissen wir dieses Mal wo er ist und müssen ihm nicht erst durch die halbe Stadt hinterher jagen.“

Oh ja, daran konnte ich mich noch gut erinnern. Als er damals mein Lehrcoach geworden war, hatte er sich nicht mal im selben Bezirk aufgehalten.

„Okay, hier.“ Sie reichte mir den Ordner. „Du weißt was zu tun ist.“

„Klar.“ Ich nahm das Dossier entgegen, woraufhin das Mädchen sich ein wenig gerader aufrichtete, aber nicht sie war es, der ich mich zuwandte, sondern Kjell – Reese würde einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn er mit zwei Frauen auf die Straße müsste. „Hi, ich bin Grace. Komm, ich bring dich erstmal nach unten, dann rüsten wir dich aus.“

Er brauchte einen Moment um zu begreifen, dass ich ihn angesprochen hatte.

„Ja ich meine dich.“

Kjell zögert.

„Was ist?“

„Ähm.“ Seine Augen huschten kurz zu Jilin, bevor sie sich wieder auf mich richteten. Besonders lange verharrten sie auf der eindrucksvollen Beule. Er schien sich nicht ganz wohl in seiner Haut zu fühlen. „Du bist … eine Frau.“

Einen Moment erwiderte ich nur stumm seinen Blick. Dann strich ich mir über die Arme, den Bauch und die Hüften. Als ich bei meinem Hintern ankam, riss ich verblüfft die Augen auf. „Oh mein Gott, du hast recht!“, rief ich erstaunt und nahm dann einen nachdenklichen Ausdruck an. „Jetzt wird mir so einiges klar.“

Aziz stieß ein heiteres Lachen aus. „Zumindest ist er nicht blind“, murmelte er.

Kjells Ohren liefen rot an. „Ich meinte damit nicht … ich …“ Er verstummte.

Ich verdrehte die Augen. „Lieber Gott, rette mich vor Männern die Helden sein wollen.“ Als er daraufhin verwirrt da stand, erklärte ich: „Der Held und die Jungfrau in Nöten?“ Als er mich immer noch verwirrt anstarrte, winkte ich ab. „Vergiss es einfach und komm mit.“ Jetzt war die Pointe sowieso dahin.

Er schien nicht wirklich gewillt zu sein mir zu folgen, aber ihm war klar, dass er keine Wahl hatte, also begleitete er mich den Korridor entlang, während Jilin Aziz das Mädchen aufs Auge drückte.

Wir liefen fünf Meter schweigend nebeneinander.

„Ich weiß was in deinem Kopf vor sich geht“, bemerkte ich. „Du hast einen stattlichen Kerl mit Bergen von Muskeln erwartet, weil die Welt der Venatoren eine Männerdomäne ist. Tja, hier ist ein kleines Update für dich: Es gibt auch Frauen, die dir den Arsch versohlen können. Wir sind nicht alle schwach und hilflos.“ Ja, meine Stimme klang etwas grob, aber besser er lernte es gleich, bevor er jemanden ausversehen auf die Füße trat.

„Du bist einfach … jung“, kam es entschuldigend über seine Lippen. Er schien sich unbehaglich zu fühlen.

So konnte man sich auch rausreden. „Ich bin nicht dein Lehrcoach. Ich rüste dich nur aus und bring dich dann zu ihm.“

So erleichtert wie er aufatmete, hätte ich eigentlich beleidigt sein müssen, doch stattdessen schmunzelte ich ausgelassen vor mich hin. Er hatte ja keine Ahnung, auf was – oder besser gesagt, wen – er da zusteuerte. Er würde sich noch wünschen jemanden wie mich zum Lehrcoach zu haben. „Hier entlang“, sagte ich fröhlich und brachte ihn nach unten in die Trainingshalle. Bei dem kleinen Schießstand lagerten wir die Waffen.

Da Alexis gerade dabei war mit seinem Schützling das Foto für den Gildenausweis zu machen, ging ich mit Kjell erstmal zur Waffenausgabe und machte mit ihm die nötigen Papiere fertig. Das dauerte länger, als ein einfaches Foto machen zu lassen und so waren auch schon Aziz und das Mädchen unten, als wir fertig waren.

„Trag deine Waffen immer eng am Körper“, riet ich Kjell, als ich ihm alles zuschob. „Und nimm nur das mit was du brauchst. Unnötiger Ballast hält dich nur auf. Die Sachen die du gerade nicht brauchst, kannst du bis zum Feierabend im Wagen lassen.“

Er nickte und wir tauschten die Plätze mit Aziz und dem Mädchen. Alexis gesellte sich zu ihnen, während ich Kjell für das Foto auf den Stuhl setzte. Dabei bemerkte ich diesen William, der mich ein wenig gelangweilt beobachtete.

Er begann zu lächeln. „Hallo harte Frau.“

Ähm … was?

„Ich hatte ja gehofft, dass man uns beide zusammen steckt. Leider hat Kjell den Zuschlag bekommen.“

„Will“, mahnte Kjell und sah den anderen finster an.

William beachtete ihn gar nicht. „Aber das muss uns ja nicht aufhalten. Wenn du Lust hast, können wir uns mal treffen und dann kann ich dir auch etwas Hartes zeigen.“ Auf seinem Gesicht erschien etwas, das er wohl für ein sinnliches Lächeln hielt. Ich jedoch konnte mich nur fragen, ob das sein Ernst war. Gab es irgendwo auf diesem Planeten einen Menschen, der auf so einen dummen Spruch reinfallen würde? Wahrscheinlich nicht. Trotzdem war es wohl angebracht, ihm seine Flausen auszutreiben.

Ich trat ganz nahe an ihn heran und ließ ihn dabei genauso wenig aus den Augen, wie er mich. Als sein Lächeln noch breite wurde, hob ich die Arme und klatschte direkt vor seinem Gesicht drei Mal in die Hände. „Herzlichen Glückwunsch“, rief ich laut genug, damit auch jeder hier unten mich hören konnte und drehte mich zu Alexis herum. „Du hast den Schwachkopf der Gruppe bekommen.“

Alexis stöhnte, Aziz lachte. William runzelte die Stirn und Kjell und das Mädchen schmunzelten leise vor sich hin.

„Bring ihm ein paar Manieren bei, bevor er Reese über den Weg läuft.“ Denn das würde sicher nicht gut ausgehen.

Kjell bekam von mir noch seinen vorläufigen Gildenausweis ausgehändigt, dann machten wir uns auch schon wieder auf den Weg nach oben. Wir hatten die Treppe gerade hinter uns gelassen, als er mich fragte: „Wer ist Reese?“

Dein schlimmster Alptraum. „Der Gildenschreck aller Praktikanten und Lehrlinge. Er ist nicht sehr nachsichtig mit Fehlverhalten und wenn du Scheiße baust, stampft er dich ohne Rücksicht auf Verluste in den Boden – das ist wörtlich zu verstehen.“ Ich machte eine Kunstpause, um das sacken zu lassen. „Ach ja, und er ist dein Lehrcoach.“

Das war wohl nicht das, was er hatte hören wollen.

Oh ja, an meinem ersten Tag in der Gilde war auch nichts so gelaufen, wie ich mir das vorgestellt hatte – absolut gar nichts. „Keine Sorge. Reese ist zwar schwierig, aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass du viel von ihm lernen kannst.“

„Du hast Erfahrung mit ihm?“

Oh ja. „Er war auch mein Lehrcouch.“ Ich grinste ihn an. „Allerdings wirst du dir Mühe geben müssen. Er wird dich mit Verachtung strafen, einfach weil es dich gibt. Aber mach dir nicht zu viele Gedanken, sobald du dich bewiesen hast, wird es besser werden.“ Ich verstummte kurz und fügte dann leise hinzu. „Vermutlich.“ Immerhin wollte ich keine falschen Hoffnungen wecken.

Kjell schien immer weniger begeistert von dem was ihn erwartete. Gut so, Reese würde keinen Praktikanten dulden, der es nicht wirklich ernst meinte und sich anstrengte. „Das scheint ja ein richtiges Schätzchen zu sein.“

„Du hast ja keine Ahnung.“

Eigentlich hatte ich ja vor gehabt, Kjell zu Reese an den Schreibtisch zu bringen und die beiden offiziell miteinander bekannt zu machen, doch noch bevor ich den Korridor verlassen konnte, tauchte er aus dem Arbeitsareal auf und hielt direkt auf mich zu. „Wenn ihr fertig seid mit Zöpfe flechten, würde ich jetzt gerne los. Wir haben einen Auftrag.“

Das fing ja schon mal super an. Ich verstellte ihm den Weg, damit er nicht einfach so an mir vorbei laufen konnte und er hielt so knapp vor mir, dass ich einen Moment wirklich befürchtete, er würde mich einfach über den Haufen rennen. „Bevor wir loshetzen und uns ins Abenteuer stürzen, würde ich dir gerne jemanden vorstellen.“ Ich zeigte betont auffällig auf unser Findelkind. „Das ist Kjell, dein Praktikant.“

Kjell hielt ihm die Hand hin, doch Reese nahm ihn nicht mal zur Kenntnis.

„Gib mir die Schlüssel, ich fahre.“

Genau, als wenn ich ihn so einfach davonkommen lassen würde. „Fällt es dir wirklich so schwer höflich zu sein und hallo zu sagen? Nur mal so zur Abwechslung.“

Da Reese nicht reagierte, ließ Kjell den immer noch erhobenen Warm unsicher wieder sinken.

„Schlüssel“, war seine einzige Erwiderung.

„Reese“, nörgelte ich.

Genervt griff er nach meinem Pullover und zog mich zu sich heran. Ich war so überrascht, dass ich nichts sagte, als er sich selber den Schlüssel aus meiner Jackentasche fischte und dann auf direktem Wege an mir vorbei marschierte. „Komm jetzt, wir haben keine Zeit.“

Das war die einzige Ausrede, die ich gelten lassen konnte. „Naja“, murmelte ich, „das ist besser gelaufen, als ich vermutet habe.“

Kjell sah mich zweifelnd an.

Ich zuckte nur mit den Schultern. „Er hätte auch sein inneres Arschloch raushängen lassen können, aber das hat er nicht. Ich glaube er wird langsam weich.“

„Shanks, beweg endlich deinen Arsch!“

Oder auch nicht. „Lass dich bloß nicht von ihm einschüchtern“, raunte ich Kjell noch zu und machte mich dann mit ihm wieder auf dem Weg nach unten.

Wir holten ihn erst unten in der Tiefgarage ein, wo Reese mir noch einen ungeduldigen Blick zuwarf, bevor er sich hinters Steuer schob.

Gerade als ich den Wagen erreichte, hörte ich wie sich hinter mir die Tür zur Garage erneut öffnete. „Ach verdammt“, murmelte ich, als Lexian eilig in das Gewölbe trat und mit langen Schritten auf uns zuhielt.

Kjell schaute neugierig über die Schulter. „Wer ist das?“

„Unsere Anstandsdame.“ Auf seinen fragenden Blick hin, sagte ich nur „Steig ein“ und setzte mich dann neben Reese auf den Beifahrersitz.

„Schön dass du auch mal auftauchst.“ Er rammte den Schlüssel ins Zündschloss.

„Wir haben heute aber mächtig schlechte Laune, was?“

Also wenn er mit diesen bösen Blicken nicht bald aufhörte, würden die in seinem Gesicht noch festwachsen. Das wurde auch nicht besser, als Lexian die Wagentür aufriss und sich eilig auf den Rücksitz fallen ließ.

„Ich glaube Sie haben nicht ganz verstanden, was ich ihnen vorhin gesagt habe, oder? Ich kann es gerne noch mal für Sie wiederholen.“

„Entspann dich“, forderte ich Reese eindringlich auf und drehte mich dann so herum, dass ich Lexian ins Gesicht sehen konnte. „Und Sie denken daran, was ich Ihnen gestern gesagt habe. Sie sind nichts als ein stiller Teilnehmer.“

„Frau Shanks, ich werde mir von Ihnen sicher nicht den Mund verbieten lassen. Wenn ich …“

„Jetzt pass mal auf, du Flachpfeife“, knurrte Reese und erdolchte den Kerl mit seinem Blick durch den Rückspiegel. „Wenn du noch mal so eine Scheiße wie gestern abziehst, dann ist es mir scheiß egal, wer du bist und was für Konsequenzen das haben wird. Ich werde dich aus diesem Wagen ziehen und dir Arsch aufreißen, also pass besser auf was du tust.“

Lexians Gesicht wurde völlig ausdruckslos. „Sie sollten mir besser nicht drohen.“

„Das war keine Drohung, aber Shanks Gesicht sieht sicher nicht so aus, weil du ihr Blumen mitgebracht hast. Diese Beule ist dein Verdienst und hätte ich nur etwas weniger Selbstbeherrschung …“

„Reese“, mahnte ich ihn. Ich konnte ihn ja verstehen, aber das war sicher nicht der beste Weg. „Nicht.“

„Was? Dieser Wixer …“

„Ihr seid Reese Tack und Grace Shanks“, kam es da ziemlich überrascht von Kjell, wodurch aller Aufmerksamkeit auf ihn fiel. „Ähm … wir haben in der Akademie im Unterricht über euch gesprochen“, erklärte er ein wenig unbeholfen. „Ihr habt seit zwei Jahren die höchste Tötungsrate in der ganzen Stadt.“

„Na super“, murmelte Reese. „Wir haben einen Fanclub.“

Also ich fand es ehrlich gesagt ziemlich interessant, dass in seiner Akademie wegen unserer Leistungen über uns gesprochen wurde.

„Und ihr wart es auch, die vor drei Jahren in diese Sache mit den Prolesmonster verwickelt gewesen ward.“

Oh nein.

Reese' Augen verengten sich zu Schlitzen. „Jetzt pass mal genau auf, du neunmalkluges Nachwuchstalent. Wenn du auch nur einen Funken Verstand in deinem klitzekleinen Hirn hast …“

„Reese“, mahnte ich wieder.

Jetzt funkelte er mich an. „Was? Ich habe genug von dieser Scheiße mit Taid. Ich bin nicht nur eine verdammte Tat, ich bin ein ganzes beschissenes Leben und ich habe die Schnauze voll davon, immer wieder anhand des selben Fehlers gemessen zu werden!“

„Ich weiß.“

Mehrere Sekunden starrte er mich einfach nur an. Dann beließ er es jedoch bei einem Schnauben und startete den Motor.

Da würde ein langer und anstrengender Tag werden.

 

°°°°°

Kapitel 07

 

Das Aufgebot, dass uns an unserem Zielort erwartete, kam nicht ganz unerwartet. Polizei, Krankenwagen, Feuerwehr, ja sogar die Lokalnachrichten hatten sich für die neusten Meldungen einen Plätzchen gesichert. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, war die riesige Menge an Schaulustigen, die nicht nur die Straßen verstopfen, sondern uns auch noch das Vorankommen schwer machten. Verstanden die denn nicht, dass das alles hier eine Gefahrenzone war? Im Moment waren die Proles vielleicht noch im Gebäude, aber das konnte sich ganz schnell ändern.

„Was machen die alle hier?“, murrte ich, als Reese sehr nachdrücklich auf die Hupte drückte und damit ein paar der Leute erschreckte. Nicht mal die Sirene bekam sie dazu schneller den Weg frei zu machen. Ein ganz reizendes Exemplar, winkte uns sogar fröhlich zu.

„Das müssen die Besucher der Messe sein.“ Wieder betätigte er die Hupe.

Das könnte es erklären.

Unser Ziel war das Messegelände in der Innenstadt, auf der im Moment die jährliche Grüne Woche stattfand – eine Messe für landestypische Produkte aus der Ernährungs- und Landwirtschaft. Sechsundzwanzig gefüllte Messehallen, weit über tausend nationale und internationale Aussteller, zehntausende Besucher an einem Tag. Auch mich hatte es schon das eine oder andere Mal hier her gelockt.

Aber wie es schien, war diese Messe nicht nur etwas für Menschen. Die ganze Anlage musste praktisch kostenloses Buffet geschrien haben, als ein Rudel Krants dort eingedrungen war und sich nicht nur über das frei verkäufliche Angebot hergemacht hatte.

Da aber so viele Menschen noch hier waren, anstatt das Weite zu suchen, musste ich mich fragen, wie schlimm es im Inneren der Gebäude wirklich aussah. Sicher gab es verletzte und auch Tote, aber viele schienen gar nicht mitbekommen zu haben, was darin geschehen war und versuchten jetzt noch einen Blick auf das Grauen zu erhaschen.

Idioten. Sie täten besser daran die Beine in die Hand zu nehmen und ganz schnell das Weite zu suchen.

„Ach scheiß drauf.“ Reese schaltete den Motor aus und zog den Zündschlüssel ab. „Wir laufen.“

Damit würden wir wahrscheinlich besser durchkommen, als wenn wir darauf warten müssten, dass die Leute uns endlich den Weg frei machten. Warum unternahm die Polizei nichts?

Ich folgte Reese aus dem Wagen und auch Kjell und Lexian stiegen aus. Der Kleine schien noch ein wenig überwältigt von der Masse die um uns herum wallte. „Bleib hinter mir“, befahl ich ihn. „Wenn du uns aus den Augen verlierst, frag dich bis zu den Venatoren durch, da werden wir auch sein. Und behalte deinen Gildenausweis griffbereit, sonst lässt die Polizei dich nicht durch.“

„Shanks!“, rief Reese ungeduldig.

Schlechte Laune hin oder her, wenn er damit nicht langsam aufhörte, würde ich ihm gleich kräftig in den Hintern treten.

Keine von uns achtete auf Lexian, als wir uns hinter Reese im Gänsemarsch einen Weg durch die Menge bahnten. Reese nahm dabei nicht wirklich Rücksicht auf die Schaulustigen, wenn sie ihm im Weg waren, schob er sie einfach grob zur Seite. Und wenn ihm einer blöd kam, starrte er ihn bloß finster an und die Sache hatte sich erstmal erledigt.

Reese hatte zwar keine Schultern wie ein Ochse, aber er war durchtrainiert und muskulös. Es bereitete ihm keine Schwierigkeiten zum Absperrband vorzudringen und sobald wir darunter hindurch getaucht waren, konnten wir uns endlich etwas freier bewegen. Zumindest bist uns ein Polizist mit einem „Hey, Sie dürfen hier nicht rein“ in den Weg trat.

„Gilde“, sagte Reese nur, hielt ihm einen Augenblick seinen Ausweis vor die Nase und marschierte dann los.

Auch Kjell und ich wiesen uns schnell aus.

„Sie sind auch von der Gilde?“, fragte der Polizist, als Lexian unter dem Absperrband hindurch tauchte.

„Nein“, sagte Reese mit einem bösartigen Funkeln in den Augen. „Der Kerl ist kein Venator.“

„Dann muss ich Sie bitten wieder hinter das Absperrband zu treten.“

Ein kleines fieses Grinsen erschien auf Reese' Lippen. Dann riss er sich wieder zusammen und marschierte los.

Na toll. „Er gehört zu uns“, sagte ich schnell, wartete aber nicht darauf, ob das reichte um Lexian durchzulassen. Wegen ihm würde ich mich sicher nicht mit der Polizei anlegen.

Überall um uns herum standen die Wagen der Einsatzkräfte. Polizei, Krankenwagen und dazwischen konnte ich immer wieder Autos von den staatlichen Venatoren sehen. Sie waren als erstes gerufen worden, als der Notruf eingegangen war. Sie hatten nicht nur mehr Stellen, sondern auch mehr Leute. Aber manchmal, wie in diesem Fall, wurde auch die Gilde hinzugezogen, weil ihnen ein paar Einsatzkräfte fehlten. Es würde mich nicht wundern, wenn noch mehr Leute aus der Gilde hier waren.

Wir suchten uns einen Weg zwischen den ganzen Fahrzeugen hindurch. Vorbei an Notärzten und Polizei. Reese hielt nur mal kurz an, um sich zu informieren, wo die Einsatzzentrale war.

Es dauerte nicht lange, bis wir die Venatoren in der Nähe eines der Zugänge zu den Messehallen fanden. Sie hatten sich um einen Wagen versammelt, um die Lage zu und das beste Vorgehen zu besprechen, doch bevor wir sie erreichen konnten, hörte ich von Links ein aufgeregtes: „Grace!“

Eve war also auch hier.

Ich schaute gerade noch rechtzeitig zur Seite, um sie angelaufen kommen zu sehen. Meine beste Freundin hatte rotblondes Haar und ein schmales, spitzes Gesicht, das mich immer an einen Collie erinnerte. Sie war schlank, überragte mich um ein paar Zentimeter und war wohl der fröhlichste und überdrehteste Mensch, dem ich jemals begegnet war. Deswegen nahm Reese auch Reißaus, sobald er sie kommen sah.

Er hatte nichts gegen Eve, doch für seinen Geschmack war sie zu schrill – seine Wortwahl, nicht meine. Er konnte einfach nichts mit ihr anfangen und hielt sich deswegen immer möglichst weit von ihr entfernt.

„Oh Grace, Grace, Grace, sieh dir das an!“ Sie hielt mir ihre Hand so plötzlich unter die Nase, dass ich einen Schritt zurück wich und Kjell fast auf den Fuß trat. „Ist das nicht der Wahnsinn?!“

Wahnsinn, ja, so würde ich das auch nennen. Womit sie mir gerade versuchte ein Auge auszustechen, war ein schlichter Goldring mit einem kleinen Stein darin. Das war dann wohl ihr Verlobungsring. „Hübsch.“

„Hübsch?“, fragte sie ungläubig. „Der ist nicht einfach nur hübsch, der ist fantastisch! Mace hat ihn mir gestern gekauft.“ Sie heilt die Hand hoch und bestaunte fasziniert ihren eigenen Ring, bevor sie mich wieder angrinste. „Anschließend hat er mich noch zum Essen ausgeführt. Das war so toll!“

Das war es bestimmt, wenn man mal von der ganzen Sache mit der Hochzeit absah. Ich war mir noch immer nicht sicher, was ich von der ganzen Sache halten sollte. Besser ich wechselte schnell das Thema. „Kjell, darf ich dir vorstellen, das ist Evangeline Rouge, die verrückteste Venatorin, die du bei den Staatlichen finden wirst.“

Mit einem Strahlen im Gesicht, warf sie sich in Pose und reichte sie ihm verzückt die Hand. „Nenn mich Eve.“

Kjell nahm die ihm dargebotene Hand entgegen und musterte sie flüchtig in ihrer Uniform. Ja, im Gegensatz zu den Leuten von der Gilde, mussten die Staatlichen sowas tragen. Mich erinnerten die Dinger immer an Star-Trek-Uniformen. Zum Glück musste ich sowas nicht anziehen. „Nett dich kennenzulernen.“

„Hast du das gehört?“ Sie ließ ihn los und stieß mir ihren Ellenbogen spielerisch in die Seite. „Er findet mich nett.“

Ja, in dem Moment hätte ich fast die Augen verdreht. „Eve, das ist Kjell Dost, Reese' neuer Praktikant.“

Die Freude fiel ihr ihr aus dem Gesicht und klatschte hörbar auf den Boden. Es fehlte nur noch, dass sie entsetzt die Hand vor den Mund schlug, dann wäre das Bild perfekt gewesen. Dann bekam ihr Ausdruck etwas Mitleidiges. „Du Armer, das tut mir wirklich leid.“

„Eve!“ Na sag mal.

„Was denn?“, fragte sie, sich keiner Schuld bewusst.

Als wenn ich ihr die Nummer abkaufen würde. Eve tat zwar immer ganz unschuldig, aber sie hatte es faustdick hinter den Ohren.

Ich mahnte sie mit einem Blick und setzte mich dann wieder in Bewegung. Wir waren schließlich hier um zu arbeiten.

„Ach komm schon“, sagte sie und folgte mir auf dem Fuße. „Du musst doch einsehen, Reese ist …“ Sie verstummt sofort, als ich sie ins Auge fasste.

„Ja?“, fragte ich lauernd. „Was ist Reese?“

„Ähm“, machte sie etwas unschlüssig und schloss dann lahm mit: „Reese.“

Aha, Reese war also Reese. Nett. „Und was genau möchtest du mir damit sagen?“

Sie blinzelte einmal. „Nichts.“

Ich hob meinen Finger und zeigte damit anklagend auf sie, sparte mir aber meine Worte, weil es eh sinnlos gewesen wäre. Besser ich konzentrierte mich auf das was vor mir lag.

Eve gesellte sich einfach wieder an meine Seite. „Ich hab das gemacht was du gesagt hast, du weißt schon, das mit dem Ordner, aber irgendwie wird das trotzdem nicht besser. Ich habe das Gefühl, da kommen immer neue Dinge auf meine Liste.“

„Hältst du das für den passenden Moment darüber zu sprechen?“

„Na warum nicht? Es geht hier schließlich um meine Hochzeit, das ist wichtig. Ich werde die Sachen die ich habe am Donnerstag zum Essen mitbringen – ich hoffe du hast das nicht vergessen.“

„Das würde ich mich nicht wagen.“

„Gut, dann können wir vielleicht schon mal über das Catering sprechen. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich vielleicht auch etwas für Vegetarier, oder sogar Veganer anbieten sollte. Und dann noch ganz wichtig, dein Brautjungfernkleid. Ich finde ja …“

„Stopp“, sagte ich machte das Zeichen für eine Auszeit. Sie wollte das mit dem Kleid jetzt klären? Auf keinen Fall! Dafür hatte ich vor so einer Jagd nun wirklich keinen Kopf. „Heb es dir für unser Essen auf.“

„Ich wollte ja nur …“

Ich legte ihr einen Finger auf die Lippen. „Still.“

„Okay“, murmelte sie um meinen Finger herum.

Warum denn nicht gleich so? Immer diese Umwege.

Endlich erreichten wir die anderen Venatoren. Ein paar bekannte Gesichter waren dabei, Mace, Eves Verlobter, Wolle, Ruben und Jarek, alles staatliche Venatoren. Wer leider nicht da war, war Benedikt Halco, der jüngere Bruder von Jilin und Eves ehemaliger Lehrcoach. Er war ungefähr ein halbes Jahr nachdem ich meine Lehre angefangen hatte, bei einem Einsatz ums Leben gekommen. Das war eine schwere Zeit für Jilin gewesen, aber leider war das Berufsrisiko. Jeder Einsatz konnte unser letzter sein, nur die wenigsten schafften es in Rentenalter.

Von der Gilde sah ich weiter keinen, dafür beehrte uns aber jemand anderes mit seiner Anwesenheit: Kira. Reese' Ex-Freundin und mein Ex-Lehrcoach. Sie war also unserer beider Ex. Ich konnte sie nicht ausstehen und nein, dass hatte nichts damit zu tun, dass sie mal mit Reese zusammen war. Kira war eine Giftspritze und war vom ersten Moment an eklig zu mir gewesen. Die zwei Monate mit ihr auf der Straße waren eine Qual gewesen. Ich war ehrlich froh, dass ich der Frau nicht allzu oft begegnete.

Auf der Motorhaube eines Renault lag ein großer Lageplan der ganzen Messeanlage. Die Männer – und Kira – reihten sich darum und lauschten den Worten eines älteren Mannes in Freizeitkleidung, der ihnen die Anlage erklärte.

Das war kein Venator, also musste er wohl etwas mit der Messe zu tun haben.

Ich quetschte mich neben Reese und winkte Kjell auch heran.

„… Türen zum Sommergarten sind offen“, erklärte der Mann gerade. „Genau wie die Hälfte der äußeren Zugänge. Wir haben erst überlegt, ob wir sie abschließen sollen, um die Proles die Fluchtwege abzuschneiden, aber wir haben die Befürchtung, dass noch Menschen da drin sind und die wollten wir nicht einsperren.“

Ruben, ein großer Mann mit Glatze und sehr breiten Schultern nickte. „Okay, dann gehen wir am Besten nach Lehrbuch vor. Zwei Venatoren an jedem Zugang, um ihnen die Fluchtwege abzuschneiden, zwei Gruppen gehen rein. Dass das Ganze mehr oder kreisförmig angelegt ist, ist ein Vorteil für uns. Beide Gruppen gehen durch den Haupteingang rein. Eine Bewegt sich nach links, die andere nach recht. So kesseln wir sie ein und treiben sie zusammen.“

„Wir müssen aber sehr vorsichtig vorgehen“, sagte Reese. „Ich hab vor ein paar Jahren die Ausstellung besucht und wenn sie heute noch ähnlich aufgebaut ist wie damals, dann ist das Terrain durch die vielen Stände sehr uneinsichtig. In jeder Halle gibt es Verstecke ohne Ende.“

Was bedeutete, dass die Viecher uns überall auflauern konnten.

„Proles verstecken sich selten“, gab nun auch noch Kira ihren Senf dazu. Sie war eine schlanke Frau, mit kurz rasierten Haaren und einem Tattoo an der Schläfe. Ihre Piercings hatte sie vor einiger Zeit herausgenommen, doch die Löcher waren noch gut zu erkennen. Außerdem besaß sie an ihrer linken Hand nur noch den Zeigefinger und den Daumen. „Wenn wir ein wenig Lärm machen, kommen sie schon raus.“

„Ja, doch wenn sie direkt neben dir sitzen und sich dann auf dich stürzen, bist du trotzdem tot. Das Gelände ist uneinsichtig, aber wenn du wie ein Rhinozeros durch die Hallen toben willst, bitte, ich werde dich nicht daran hindern. Ich jedenfalls möchte morgen noch leben.“

Kira richtete ihren Blick auf mich und bemerkte natürlich sofort die Beule. „Was ist mit deinem Gesicht passiert? Schönheitsoperation? Ich will dich ja nicht enttäuschen, aber das bringt bei dir auch nichts mehr.“

Kjell schaute interessiert zwischen uns beiden hin und her, Reese fischte einfach nur genervt seine Zigaretten aus der Tasche und steckte sich eine an.

„Ladys“, mischte sich Ruben ein. „Könnt ihr das vertagen?“

„Steck uns bloß nicht in eine Gruppe“, murmelte ich und widmete mich dann dem Studium des Lageplans.

Ruben schüttelte nur den Kopf und begann dann die Leute aufzuteilen. Reese und ich würden mit rein gehen – ja, auch bei den Staatlichen wusste man um unsere Fähigkeiten – Kira zum Glück nicht.

„Ihr bekommt außerdem Funkgeräte. Wenn ihr drinnen auf Überlebe stoßt, dann gibt Bescheid und ein drittes Team wird sich mit Sanitätern auf dem Weg zu euch machen.“

Standartverfahren.

„In Ordnung“, sagte Ruben und klatschte in die Hände. „Die Teams für die Türen machen sich jetzt auf den Weg, der Rest von uns geht in zwanzig Minuten durch den Haupteingang rein. Noch fragen?“

Ein mehrstimmiges Murmeln, das auf ein Nein heraus lief, ertönte.

„Gut, dann werde ich mich jetzt mit der Polizei und den Sanitätern absprechen. Waldmahnseil.“

Wieder ein mehrstimmiges Murmeln, dann machte der Großteil der Gruppe sich auf den Weg. Eve winkte mir noch schnell zu und ließ sich dann von Mace mitziehen. Genau wie Kira würde sie an einer Tür Position beziehen.

Auch Reese wollte von dem Wagen zurücktreten, hatte aber nicht bemerkt, dass Kjell halb hinter ihm stand und stolperte fast über ihn. „Gibt es einen Grund warum du mir im Weg stehst, oder willst du mir das Leben nur unnötig schwer machen?“, fuhr er ihn an.

Kjell wich sofort vor ihm zurück, funkelte ihn aber böse an.

„Mein Gott, Hirn muss wohl gerade vergeben gewesen sein, als du auf die Welt kamst.“ Reese warf mir einen kurzen Blick zu, drückte dann die Lippen zusammen und wollte sich abwenden, doch Kira stand noch immer am Wagen und grinste ihn breit an.

„Ich hab gehört, dass du richtig tief in der Scheiße sitzt.“

Ja, das hatte Reese zu seiner guten Laune gerade noch gefehlt. „Und ich habe gehört, dass die Männer bei deinem Anblick noch immer schreiend davon laufen.“

Ihre Mundwinkel sanken ein wenig herab. Wenn Reese solche Spitzen auf sie abfeuerte, traf sie das immer noch. Manchmal fragte ich mich, ob sie ihm immer noch nachtrauerte. „Manchmal ist es ziemlich traurig zu sehen, was aus dir geworden ist. Früher warst du wenigstens noch halbwegs nett.“

Nein das war er nicht. Soweit ich wusste, war Reese schon immer ein kleine Griesgram gewesen. Er war nur nett zu Leuten die ihm wichtig waren, aber Kira stand schon lange nicht mehr auf dieser Liste.

„Gibt es einen bestimmten Grund, warum du meine Zeit verplemperst?“

Sie warf einen kurzen Blick in meine Richtung, drückte dann die Lippen zusammen und wandte sich mit einem „Nein“ von ihm ab, um ihr Unwesen woanders zu treiben.

„Okay, das war seltsam.“

„Das war nicht seltsam, das war Kira.“ Reese hob seine Zigarette an die Lippen und sog den Rauch tief in die Lunge. Beim Ausatmen musterte er Kjell einmal von oben bis unten. Das braune Haar, das kantige Gesicht, die dicke Jacke und die abgetragenen Jeans. Am Ende schnaubte er und hob die Zigarette wieder an seinen Mund. „Na das kann ja heiter werden.“

Nun wurde Kjell langsam sauer. „Was ist eigentlich dein Problem?“

Die Ruhe selbst, entließ er den Rauch aus seinen Lungen und sage dann gleichgültig: „Es steht direkt vor mir.“

Ach Reese.

„Ich habe keine Lust einen kleinen Hosenscheißer zu betreuen, dem man erst noch das ABC vorkauen muss. Du hast keine Ahnung von gar nichts und jetzt bleibt es an mir hängen das zu ändern. Wenn du schlau bist, gehst du zu Jilin und lässt dich einen anderen Lehrcoach zuteilen. Sag ihr ich bin ein Arsch und du kommst mit mir nicht klar, dann werden wir beide sehr viel glücklicher.“

„Du kannst gar nicht beurteilen, was ich kann und was nicht.“

„Du bist frisch von der Akademie. Ich kann mich wahrscheinlich glücklich schätzen, wenn du deine Schnürsenkel alleine binden kannst.“

Kjell funkelte ihn böse an.

Na wenigstens nahm Reese seine Anwesenheit endlich zur Kenntnis.

Ich schlenderte zu ihm rüber und schlang ihm einen Arm um die Mitte, woraufhin er mir einen sehr merkwürdigen Blick zuwarf. „Haben sie gesagt, mit wie vielen Krants wir zu rechnen haben?“

„Nein.“ Er ließ seinen Blick über die anderen Leute schweifen. Ein paar standen in Gruppen zusammen, aber liefen eifrig umher. Kira war verschwunden, wahrscheinlich auf dem Weg zu ihrem Posten. „Die Zeugen haben von einer Handvoll oder auch drei Dutzend gesprochen. Du kennst das ja.“

Ja, wenn Menschen Panik hatten, übersahen sie die Hälfte. Gleichzeitig spielte ihre Phantasie ihnen aber auch Streiche. Es kam wirklich selten vor, dass wir genaue Zahlen hatten. Meistens wussten wir erst hinterher, mit welcher Menge wir es genau zu tun hatten.

„Super, der nicht auch noch.“ Reese atmete genervt aus und drehte sich demonstrativ weg, als Lexian mit einer Gewittermine auf uns zukam. Den hatte ich in der Zwischenzeit schon wieder völlig vergessen. Scheinbar war er nicht so einfach durch die Absperrung gekommen, wie wir.

„Sie hätten auf mich warten sollen.“

Dafür hatte Reese nur ein spöttisches Schnauben übrig. „Ich habe dir schon mal gesagt, ich bin nicht dein verfluchter Babysitter. Wenn du nicht mithalten kannst, ist das nicht mein Problem. Ich bin hier um zu arbeiten und nicht um dein Händchen zu halten.“

„Sie vergessen nur, dass Sie ohne mich nicht arbeiten dürfen.“

Reese kniff die Augen ganz leicht zusammen. „Ihnen ist bewusst, dass es hier um Menschenleben geht? Da kann ich wohl keine Rücksicht auf so ein Lahmarsch nehmen, oder möchtest du das Blut dieser Leute an deinen Händen kleben haben? Denn genau das wird passieren, wenn ich mich deinem Tempo anpasse.“

„Sie stehen im Moment aber auch einfach nur herum.“

„Jetzt hören Sie endlich auf“, ging ich nun dazwischen. Langsam ging mir der Kerl wirklich auf den Keks. „Sie haben gesagt, dass sie früher selber auf der Straße waren, also müssten Sie eigentlich wissen wie es läuft. Wir haben die Besprechung schon hinter uns und warten jetzt nur noch auf das Startzeichen. Hätten wir auf Sie gewartet, hätten wir die Besprechung verpasst.“

Dazu sagte er nichts weiter. Oh, ich war mir sicher, dass ihm noch so einige Dinge auf der Zunge gelegen hätten, aber im gleichen Moment tönte ein lauter Pfiff über den Vorplatz und Ruben winkte die beiden Gruppen die für drinnen eingeteilt waren, zu sich heran.

„Es geht los.“

Reese warf Kjell einen durchdringenden Blick zu. „Du bleibst dicht bei mir, oder ich werde dich wie einen Hund in den Wagen sperren.“

Eine Sekunde lang wirkte Kjell verblüfft, nickte dann aber und folgte Reese dich auf den Fersen.

„Aber rück mir nicht so auf die Pelle, ich habe keine Lust über dich zu stolpern.“

„Das ist ein Widerspruch in sich“, klärte Kjell ihn auf.

„Und ein Klugscheißer ist er auch noch.“

„Na mit Klugscheißern kennst du dich ja aus“, murmelte ich gut hörbar für ihn und schlenderte dann ohne auf ihn zu achten zu Ruben hinüber, um den sich bereits fünf Leute versammelt hatten. Wir würden in zwei Viererteams hinein gehen. Kjell zählte nicht. Und Lexian auch nicht.

„Fünf Minuten“, erklärte der Bär von einem Mann. „Die anderen haben ihre Positionen fast alle schon erreicht. Seht zu, dass eure Waffen einsatzbereit sind. Tack, Grace, ihr bildet mit mir und Wolle eine Gruppe. Behaltet euren Frischling gut im Auge.“

In darauf hinzuweisen, dass Kjell in Reese' Verantwortung lag, wäre im Moment wohl nicht sehr hilfreich. „Lexian wird uns auch begleiten“, warf ich ein und zeigte auf unseren Anstandswauwau.

Ruben wollte gerade wieder zum Sprechen ansetzten, hielt aber nun irritiert inne und musterte den Bürohengst. „Wer ist der Kerl?“

„Er ist vom Verband.“

„Lexian Forsberg, nett Sie kennenzulernen.“ Er hielt Ruben seine Hand hin, doch der runzelte nur zweifelnd die Stirn und wandte sich wieder uns zu. „Eure Verantwortung.“

Reese schnaubte. „Auf keinen verfluchten Fall, er arbeitet auf eigene Rechnung.“

Das schien Ruben genauso gut zu gefallen, wie uns. „Können Sie mit einer Waffe umgehen?“

„Ich war früher selber als Venator tätig.“

Diese Worte reichten nicht wirklich aus um ihn zu überzeugen, aber er beließ es erstmal dabei. „In Ordnung, jede Gruppe bekommt ein Funkgerät. Team eins – das ist mein Team – geht nach rechts, die anderen schlagen den linken Weg ein. Noch Fragen?“

Einstimmiges Kopfschütteln.

„Na dann ab mit euch, treten wir ein paar Proles in den Hintern.“

 

°°°

 

Hinter den Türen des Eingangs erwartete uns eine große und sehr hohe Vorhalle mit mehreren Rolltreppen, die zu den eigentlichen Ausstellungsräumen führten. Die Außenwände waren offen und verglast – ein ziemliches Risiko heutzutage – und es war mucksmäuschenstill. Kein Knurren, kein Scheppern, kein lautes Geschrei und auch kein Weinen. Keine Leichen, kein Blut, keine Proles, kein gar nichts. Es war einfach nur leer und ruhig.

Die Anspannung der Gruppe wuchs Augenblicklich.

„Vermutlich sind sie in einer der anderen Hallen“, überlegte Ruben flüstern.

„Dann schauen wir am Besten mal nach, wo genau sich unsere Schätzchen aufhalten.“ Reese wandte sich kurz nach mir um und machte sich dann als erster auf den Weg zu den Rolltreppen.

„Bleib dich bei mir und halt deine Waffe bereit“, wies ich Kjell an, wartete bis er nickte und folgte ihm zusammen mit den anderen.

Im Eilschritt hielten wir auf die Rolltreppen zu und ich war wohl nicht die einzige, die vor Schreck zusammenzuckte, als der Bewegungsmelder sie plötzlich in Bewegung setzte. Einer von den Staatlichen war zu nahe herangekommen. Aber keiner von uns war so blöd die Rolltreppe zu benutzen. Wenn uns von oben ein Proles entgegen kam, konnten sie zur Falle werden, also benutzten wir alle artig die normale Treppe dazwischen.

Bis auf unsere Schritte gab es keine Geräusche. Auch als wir oben waren, war es bis auf unser Atmen still. Ich hob meine Waffe auf Brusthöhe und schaute mich wachsam um. Links und rechts waren große Durchgänge zu dein Ausstellungshallen. Rechts war irgendwelches landwirtschaftliches Zeug, rechts konnte ich Stände mit Spezialitäten aus aller Welt sehen, aber es war alles verwaist.

„Okay.“ Auch Ruben schaute von links nach rechts. „Wir halten uns an den Plan. Ihr geht da lang und wir nehmen die andere Seite.“

Vier der Männer nickten und verschwanden dann nach links. Der Rest von uns folgte Ruben wachsam in die landwirtschaftliche Ausstellung.

Wir bewegten und vorsichtig, aber zügig zwischen Ständen und Raumtrennern vorbei, die die einzelnen Bereiche markierten. Es gab Stände die wie kleine Häuser aussahen, andere hatten einen Tresen mit jeder Menge Werbetafeln. Sogar ein paar große Geräte, für die ich beim besten Willen keinen Namen hatte, waren hier ausgestellt.

Wie hatten die Halle gerade zur Hälfte durchquert, als Ruben uns das Handzeichen zum Anhalten gab und wir verharrten sofort. Angespannt ließ ich meine Sinne schweifen, aber es war noch immer still. An dem einen Stand jedoch war der Tresen umgeworfen worden und daneben lag noch ein Tisch auf der Seite. Stapel von Flyern und Handzetteln hatten sich auf dem Boden verteilt.

„Kein Blut“, sagte ich nach einer sorgsamen Sondierung.

„Hmh“, machte Reese. „Wahrscheinlich haben die flüchtenden Leute die Sachen umgerissen.“

Naja, dieser Tresen sah schon ziemlich schwer aus, aber möglich war es.

„Weiter“, wies Ruben uns an und übernahm wieder die Führung.

Ich schaute kurz hinter mich, um mich zu versichern, dass Kjell klar kam und begegnete dabei dem Blick von Lexian. Auch er hielt eine Waffe in der Hand, aber es war schon auf dem ersten Blick zu sehen, dass er nicht sehr geübt darin war. Hoffentlich verletzte er sich nicht selber.

Wir setzten uns wieder in Bewegung und verließen die erste Halle, ohne auch nur ein Zeichen von einem Krant oder einem anderen Proles zu finden.

Die zweite Halle hatte ein ähnliches Thema wie die erste, obwohl es hier scheinbar eher um Gartenbau ging. Auch hier war alles ruhig und nichts deutete auf uneingeladene Gäste hin. Ein paar Stände waren umgerissen, einer sogar richtig niedergetrampelt worden, doch wieder keine Leichen, kein Blut, kein Geräusch.

Das ich wirklich gar nichts hörte, war das was mich am meisten beunruhigte, denn die Proles hielten sicher kein Nickerchen. Obwohl, wenn sie sich gerade den Bauch vollgeschlagen hatten … nein, darüber dachte ich besser nicht so genau nach.

„Sie müssen sich weiter hinten in der Anlage befinden“, murmelte Ruben und versicherte sich mit einem Blick, dass wir alle noch vorhanden waren. Dann traten wir in die nächste Halle und sofort veränderte sich die Atmosphäre.

Hier war nichts mehr von Landwirtschaft und Garten, hier ging es ums Essen und das was wir vorher gesehen hatten, war nur ein kleiner Vorgeschmack auf das gewesen, was sich uns jetzt offenbart. Alles war verwüstet. Essen lag quer über die Gänge verteilt, Einrichtung umgerissen und Tische und Stühle zerbrochen.

Die Krants waren sicher hier gewesen und hatten unter den Menschen eine Panik ausgelöst.

Durch die umgerissenen Stände war das Areal leider noch schlechter einsehbar und der Müll war hinderlich.

„Da“, sagte Reese und zeigte auf ein paar Blutflecken, neben einem Stand, der Schokolade und eine Vielfalt von Pralinen im Angebot hatte. An der Holzpaneel des Stande klebten auch ein paar Blutspritzer.

„Zu viel Blut, für einen einfachen Kratzer.“

Reese nickte. „Das stammt von einer schwereren Verletzung.“ Er schlich ein paar Meter weiter, während ich auf umliegende Geräusche lauschte. Meine Ohren waren mein Talent. Ich hörte Dinge lange bevor andere sie wahrnehmen können. Das hatte uns schon das eine oder andere Mal den Arsch gerettet. Doch im Moment hörte ich nichts, was mich in Alarmbereitschaft versetzt hätte. Aber was ich sehr wohl wahr nahm, waren Reese' Schultern, die sich ein wenig anspannten, als er in den nächsten Mittelgang spähte.

Ich wusste was ich sehen würde, noch bevor ich ihn erreicht hatte, doch in solchen Momenten hasste ich es Recht zu haben.

Neben einem Stand mit Molkereiprodukten lag ein Mann mit völlig verdrehten Gliedmaßen. Sein Fuß war halb abgerissen und die Bauchdecke geöffnet. Man konnte die Gedärme in der blutigen Schweinerei geben.

Hinter mir gab Kjell ein sehr seltsames Geräusch von sich.

„Wenn du kotzen musst, tu es woanders“, fuhr Reese ihn an und warf mir dabei schon wieder diesen merkwürdigen Blick wie vorhin zu.

„Sieh nicht so genau hin“, riet ich Kjell und drehte den Kopf zu ihm herum. Er wirkte ziemlich blass. „Glaub mir, das erspart dir viel Kummer.“ Und Alpträume.

Er schluckte, nickte und wandte den Blick ab.

Reese hockte sich zu dem Mann und nahm die Blutspuren etwas genauer unter die Lupe. „Sie haben ihn nicht gefressen.“

„Wahrscheinlich waren sie von den fliehenden Menschen abgelenkt“, stimmte Ruben ihm zu.

„Aber sie haben eine deutliche Spur hinterlassen.“ Ich zeigte auf die Pfotenabdrücke, die zur anderen Seite der Halle führten. „Wir können ihnen folgen.“

Doch wir fanden keine Proles, nur noch mehr Leichen. Die Krants hatten geradezu ein Blutbad angerichtet. Kein Wunder, die Leute mussten eine leichte Beute für sie gewesen sein.

Ruben hockte sich neben eine junge Frau, deren ganzer Arm blutig war und fühlte an ihrem Hals nach ihrem Puls. Sein Kopfschütteln sagte jedoch alles.

Kjell war mittlerweile ziemlich grün um die Nase. Es war nicht nur das Bild das sich uns bot, es war auch der schwere Kupfergeruch in der Luft, vermischt mit etwas, das ich nicht näher definieren wollte. Blieb nur zu hoffen, dass er uns nicht einfach aus den Latschen kippte, das konnten wir um Moment nun wirklich nicht gebrauchen.

„Atme durch den Mund“, riet ich ihm. „Das macht es ein wenig leichter.“

Er nickte, wirkte aber keineswegs erleichtert.

Ich konnte es ihm nachfühlen. Dieser Anblick … nein, man gewöhnte sich nie wirklich daran, aber als Venator lernte man damit zu leben und diese Dinge nicht an sich heran zu lassen. Anders war es überhaupt nicht möglich diesen Beruf auszuüben.

„Weiter“, forderte Reese uns auf und hielt bereits auf die nächste Halle zu. Jetzt war er jedoch wachsamer. Er lief langsam und lief halb geduckt, sodass es mir ein Leichtes war zu ihm aufzuschließen.

Die Gruppe hatte die nächste Halle fast erreicht, als ein lautes Scheppern zu hören war, gefolgt von dem wütenden Knurren mehrerer Krants.

Keine von uns brauchte eine Extraeinladung. Die Geräusche allein reichten schon, damit wir alle an der nächsten Wand Deckung suchten – Lexian brauchte ein wenig länger, als der Rest.

Ich duckte mich neben dem Durchgang an der Wand und schaute zu Reese hinüber, der auf zusammen mit den beiden Staatlichen auf der anderen Seite Schutz gesucht hatte. Unsere Blicke trafen sich und ich spürte, wie das Adrenalin in meine Venen schoss. Der Rausch der Jagd.

Vorsichtig beugte ich mich vor und spähte um die Ecke. Das erste was ich sah, war der Leichnam eines alten Mannes, der mit dem Gesicht auf dem Boden lag. Sein Hemd war durchtränkt und um ihn herum hatte sich eine große Lache ausgebreitet. Der Rest der Halle sah nicht viel anders aus, als die vorherige. Kaputte Einrichtung, kaputtes Inventar, kaputte Menschen.

Doch einen Unterschied gab es. Auf dem rechten Mittelgang zankten sich zwei Krants an dem toten Körper einer Frau.

Da waren sie, die Boten der Dämmerung. Waschbörartige Proles, von der Größe eines Hundes. Die Knochenauswüchse am Kopf des Männchens waren ausgeprägter, als bei seinem weiblichen Pendant und schimmerten leicht rötlich – nein, das war kein Blut, obwohl ihr Fell damit zur Genüge getränkt war. Sie bewegten sich auf langen, stämmigen Beinen mit scharfen Krallen. Vor diesen Krallen musste man sich in Acht nehmen, denn sie enthielten Giftdrüsen.

Das Gift eines Krants war nicht tödlich, obwohl manch einer sich wohl wünschte, dass es so wäre, denn ein Kratzer lähmte einen in wenigen Minuten. Wenn man sich dann nicht mehr bewegen konnte, kamen die Krants und fraßen einen bei lebendigem Leibe.

Die beiden Krants waren so mit sich selber beschäftigt, dass sie uns gar nicht bemerkten. Gut so.

Ich zog mich wieder hinter die Wand zurück und hielt für die anderen sichtbar zwei Finger hoch – einen für jeden Krant. Reese schüttelte den Kopf und korrigierte auf drei. Da war wohl noch einer, den ich aus meinem Sichtwinkel nicht bemerkt hatte.

Reese teilte mir per Zeichen mit, dass ich mich um den rechten Krant kümmern sollte und flüsterte dann kurz mit den Staatlichen. Wenn wir schnell genug waren, könnten wir die drei erledigt haben, bevor sie und überhaupt bemerkten.

„Halt dich bereit“, flüsterte ich Kjell zu, als Reese seine Hand hoch hielt und im Sekundentakt die Finger abknickte. Fünf. Vier. Drei.

Ich spannte mich an, bereit loszulegen.

Zwei.

Plötzlich hallte aus der Ferne ein Schuss an unsere Ohren. Die zweite Gruppe hatte wohl ihre Beute aufgespürt. Noch schlechter ging das Timing kaum.

Einen Moment bewegte sich niemand, dann stieß Reese nur ein „Verdammt!“ aus und stürmte los.

„Oh ich hasse es, wenn er das macht“, fluchte ich und stürmte hinterher. Leider waren die Krants, wie nicht anderes zu erwarten, von dem Schuss bereits aufgeschreckt worden und so sah ich gerade noch, wie sie auseinander liefen und Deckung suchten.

Reese rannte dem einen sofort hinterher und auch wenn nichts nach Plan gelaufen war, hielt ich mich rechts um dem zu folgen, der gerade hinter einem Stand verschwand, der Wurst und Würstchen im Angebot hatte. Aber er verkroch sich nicht dahinter, nein, damit begann die Jagd durch das Labyrinth.

Der Krant war mir gegenüber natürlich im Vorteil, er hatte vier Beine und war wendiger. So bereitete es ihm weniger Schwierigkeiten Hindernissen auszuweichen, oder einfach über sie hinweg zu setzen.

Schüsse knallten. Erst einer in der Ferne, dann zwei in dieser Halle.

Die anderen hatte ich aus den Augen verloren, aber das war egal, solange ich meinen Gegner im Blick behielt. Leider schlug das Mistvieh immer wieder Haken und verschwand um Ecken, sodass es kurze Zeit aus meinem Sichtfeld entkam. Zum Glück hatte ich genug Erfahrung, um mich nicht einfach abhängen zu lassen. Doch wie mir schon Momente später klar wurde, war Erfahrung zwar wichtig, aber leider nicht alles, denn als ich um die nächste Ecke bog, um ihn nicht zu verlieren, musste ich feststellen, dass das Mistvieh einfach die Richtung gewechselt hatte.

Statt weiter vor mir wegzulaufen, rannte der Krant nun direkt auf mich zu und nur meinen antrainierten Reflexen war es zu verdanken, dass ich mich rechtzeitig zur Seite warf und der Proles einfach an mir vorbei segelte.

Ich knallte gegen einen Imbistisch und stieß mir dabei schmerzhaft den Ellenbogen an. Doch zum Ausruhen blieb keine Zeit. Die Waffe im Anschlag wirbelte ich wieder herum, bereit es mit meinem Gegner aufzunehmen. Leider war von meinem Gegner keine Spur mehr zu sehen.

„Oh, das kannst du sowas von vergessen.“ So leicht würde mir dieser Krant nicht entkommen.

Da ich es wohl mitbekommen hätte, wenn er links an mir vorbei gelaufen wäre, folgte ich eilig dem Weg, den wir gerade erst gekommen waren. Wieder hörte ich Schüsse, sowohl hier als auch tiefer in der Anlage, Ruben rief irgendetwas, doch sehen tat ich nichts von den anderen. Auch meinen Krant fand ich nicht wieder. Ich schaute nach links und rechts, umrundete Trümmer und Schutt, aber der verdammte Proles hatte sich irgendwo verkrochen.

„Mist.“ Wie hatte Kira gesagt? Proles versteckten sich nicht? Ich sollte ihr mal dieses Schätzchen hier vorstellen. Vielleicht hatte er schon Erfahrung mit Venatoren, oder Waffen gehabt und wusste, was ihm blühte. Proles waren unersättliche Raubtiere, aber sie waren leider nicht dumm. Ich allerdings auch nicht. Ich würde ihn wiederfinden, also rannte ich weiter, bis ich Lexian fluchen hörte und Reese brüllte: „Bist du noch ganz klar im Kopf?! Pass verdammt noch auf, wohin du schießt!“

Ein Krant knurrte und ich stolperte direkt in die Szenerie, als der Proles hinter einer riesigen Reklametafel verschwand, während Reese sich mitten auf dem Gang aufhielt und mit fliegendem Mantel zu dem Sachverständiger herumwirbelte. Er war stinkwütend.

Lexian stand seitlich neben einem Tresen und zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid, bin wohl ein wenig aus der Übung.“

„Ein bisschen aus der Übung?!“ Reese sah aus, als würde ihn gleich der Schlag treffen. „Wenn du keine scheiß Übung hast, dann sollte dir wohl mal jemand auf die Sprünge helfen!“ Wütend riss er die Waffe hoch und zielte damit in Lexians Richtung. Diese hatte keine Chance noch etwas zu tun, als Reese auch schon den Abzug durchzog.

Die Zeit schien sich zu verlangsamen. Ich hörte den lauten Knall des abgefeuerten Schusses – er dröhnte geradezu in meinen Ohren – und wirbelte nach rechts. Erst da bemerkte ich den Krant hinter Lexian, der gerade zum Sprung ansetzte, um sich auf unsere Anstandsdame zu stürzen.

Eine Warnung steckte mir in der Kehle, doch bevor sie meinen Mund verlassen konnte, schlug Reese' Kugel in die Schulter des Proles ein, wodurch es vom Kurs abgebracht wurde. Es stieß einen unmenschlichen Laut aus und knurrte.

Lexian wirbelte herum.

Reese drückte ein zweite Mal ab. Dieses Mal traf den Krant seitlich am Kopf. Blut und Teile vom Hirn sprenkelten über die Reste eines Konfiserieshops. Der Proles schlug auf der Seite auf und die Zeit schnappte wieder zurück.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Lexian den Kadaver an und drehte sich dann langsam zu Reese um.

„Geh wieder zurück an deinen Schreibtisch und überlass das Jagen den echten Venatoren.“ Seine Worte trieften geradezu vor Herablassung. Dann bemerkte er mich. „Hast du deinen erwischt?“

„Nein“, musste ich zugeben und schaute mich nach dem Rest der Gruppe um, aber ich entdeckte nur Kjell, der unweit hinter Reese auf dem Gang stand und seine Augen wachsam über unsere Umgebung gleiten ließ. „Er ist irgendwo in dem Gerümpel verschwunden. Wo sind unsere Staarlichen?“

„Die haben eins von den Viechern in die nächste Halle gejagt.“

Wie auf Kommando war wieder ein Schuss zu hören.

„Dann bleib also noch einer für uns.“ Ich schaute auf das Labyrinth aus Ständen. „Am Besten laufen wir parallel, einer nimmt den linken, der andere den rechten Hauptweg.“

„Gut, dann …“

„Da ist er!“, rief Kjell plötzlich ein rannte los, ohne uns die Chance zum Reagieren zu geben.

„Scheiße!“, fluchte ich und setzte mich gleichzeitig mit Reese in Bewegung. Der Kleine hatte keine Ahnung von der Jagd nach wilden Proles und jetzt verschwand der mit ihm einfach zwischen den Trümmern. Das war das erste Mal, dass ich Reese in dieser Hinsicht recht gab: Praktikanten waren scheiße.

Da Reese Beine länger waren, schaffte er es sich einen kleinen Vorsprung rauszuholen. Wir bogen gerade in den Zwischenraum ab, in dem Kjell verschwunden war, als wir den Kleinen erst schreien und dann lautstark fluchen hörten.

„Verdammt.“ Reese gab noch mal Gas und stürzte kurz vor mir auf den linken Hauptweg. In dem Moment hörte ich es polter. In dem Moment sah ich die Bescherung. Der Krant hatte Kjell an der hinteren Wand in die Ecke getrieben und wurde allein von dem wild schwingenden Stuhl davon abgehalten, sich auf den Kleinen zu stürzen.

„Erschieß ihn!“, brüllte Reese.

„Ich hab meine Waffe verloren.“ Kjell schlug mit dem Stuhl zu und erwischte das Vieh am Kopf. Leider brach dabei ein Bein ab, über das Kjell fast noch stolperte.

„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“

Das gleiche hatte ich auch gedacht. Ich riss die Waffe hoch und zielte zwischen den ganzen Pfosten der Stände hindurch, während Reese sich schon in Bewegung setzte, um dem Kleinen den Arsch zu retten. Ein Krant war jedoch kaum größer als ein Hund und so bekam ich ihn immer nur zu sehen, wenn er vorsprang, um sich sein nächstes Opfer zu schnappen.

„Shanks, schieß!“, brüllte Reese und rutschte beim Rennen fast auf den verteilten Lebensmitteln aus.

„Keine freie Schussbahn!“, rief ich frustriert zurück und suchte nach etwas, dass mit helfen konnte. Ein paar Dosen mit Hühnerbrühe fielen mir ins Auge. Damit würde ich den Krant sicher nicht umbringen, aber vielleicht konnte ich das Vieh damit auf mich aufmerksam machen. Ich musste ihn nur einen kurzen Moment vor die Linse bekommen, dann konnte ich ihn erledigen.

Eilig sammelte ich die Suppe auf, holte aus und warf die Dose mit aller Kraft. Sie prallte nutzlos an einem der Pfosten ab. „Das war ja so klar“, knurrte ich und schnappte mir die nächste Dose. Dieses Mal flog sie zu weit und landete unbemerkt hinter dem Krant.

Ich musste noch zwei weitere Male werfen, dann hörte ich das Vieh aufschreien. Jetzt hatte ich seine Aufmerksamkeit.

Er bleckte die rasiermesserscharfen Zähne und funkelte mich aus gelben Augen an, doch bevor ich die Gelegenheit bekam abzudrücken, verschwand er wieder zwischen dem Gerümpel.

„Verdammt.“

Ich nahm noch eine Dose und warf sie wieder. Immer wieder blitze das Dämmerungsfell auf, aber nie lange genug, dass ich schießen konnte. Doch er bewegte sich nun stetig auf mich zu.

Nun gut, dann würde ich eben mit erhobener Waffe hier stehen bleiben und ihn erwarten. Fünf Sekunden vergingen, sechs sieben. Wieder blitzte das Fell auf.

Einatmen.

Zielen.

Der Krant setzte zum Sprung an, doch genau in diesem Moment krachte es neben mir und ich sah einen zweiten über den Hauptweg huschen. Verdammt, wo kam der denn auf einmal her?

Die Sekunde meiner Ablenkung nutzte das Mistvieh vor mir sofort aus, doch es machte einen Fehler, indem es auf den Ausgabebereich einer Theke sprang und sich damit praktisch selber eine Zielscheibe auf die Stirn geklebt hatte. Doch ich kam nicht mehr dazu den Abzug zu drücken, denn Reese war schneller. Es gab einen lauten Knall, dann sackte Vieh in sich zusammen und fiel nach hinten hinter die Ladentheke.

Damit kehrte für einen Moment Ruhe ein. Naja, solange bis Reese zu seinem Praktikanten herumwirbelte und den Mund öffnete. „Kannst du mir mal erklären, was das für eine Scheiße war?! Wolltest du dich umbringen, oder was!?“

Kjell, der noch immer schwer atmend an der Wand stand, ließ den Stuhl fallen. „Der Krant hat mich angesprungen und mir meine Waffe aus der Hand geschlagen.“

An Reese Schläfe begann eine Ader zu pochen, die ich seit meiner eigenen Zeit als Praktikantin nicht mehr bei ihm gesehen hatte. Oh weh. „Wie ist das Vieh so nahe an dich herangekommen?! Hast du versucht mit ihm zu kuscheln?! Das ist doch kein Haustier!“

Kjell drückte die Lippen aufeinander und erwiderte trotzig seinen Blick.

„Und was wird das jetzt?! Hol deine verdammte Waffe, oder glaubst du, die fliegt wie von Geisterhand zu dir zurück?!“ Als könnte er die ganze Scheiße kaum glauben, rieb er sich genervt über die Stirn. „Mein Gott, dümmer geht es kaum noch.“

Okay, jetzt ging er mit dem Kleinen ein wenig zu hart ins Gericht, das hier war immerhin seine erste richtige Hatz und der Auftrag hatte es ganz schön in sich, aber vorerst hielt ich mich da raus. Vielleicht lernte Kjell ja so, dass er besser auf seine Waffe aufzupassen.

Als ich den Kopf drehte, bemerkte ich, dass Resse mich schon wieder mit diesem merkwürdigen Blick bedachte. Ich runzelte die Stirn, doch bevor ich etwas sagen konnte, hörte ich das Geräusch.

Reese schrie nur noch „Runter!“, da sah ich aus dem Augenwinkel auch schon die Bewegung und ließ mich auch schon instinktiv fallen.

Der Aufprall war hart, doch einen blauen Fleck würde ich überleben, einen Krant vielleicht nicht. Darum riss ich noch während des Sturzes die Waffe hoch. Ich sah nur einen verschwommenen Fleck und zog den Abzug durch.

Der Rückstoß fuhr mir bis hoch in die Schulter, der Krant schrie noch während seines Sprungs in einem markerschütternden Ton auf, dann prallte der schwere Körper direkt neben mir auf. Aber das Mistvieh war noch nicht tot, es bleckte die gelben Zähne und hauchte mir seinen widerlichen Atem ins Gesicht.

Ich schoss noch mal, zielte dabei auf seinen Kopf, doch der Krant riss ihn in diesem Moment zur Seite und so erwischte ich nur den Hals. Doch die kurze Distanz hatte verheerende Folgen – nicht nur für den Krant, auch für mich. Die Halsschlagader riss auf, Blut spritzte in alle Richtungen und nicht gerade wenig klatschte mir direkt ins Gesicht. Das Vieh begann zu röcheln und zu zucken und noch während es seine letzten Atemzüge aushauchte, ließ ich mich zurück auf den Rücken sinken und atmete erst einmal tief durch. So viel Aufregung und Adrenalin war sicher nicht gut für meinen Blutdruck.

„Shanks?“

Ach ja, da war ja noch was. „Mir geht es gut“, rief ich und streckte zum Beweis meinen Daumen gut sichtbar in die Höhe.

„Und warum liegst du dann da auf dem Boden herum?“

„Ich genieße die tolle Aussicht.“ Tja, blöde Fragen uns so.

Als Reese in mein Sichtfeld trat, seufzte ich und nahm die mir dargebotene Hand entgegen, um mir auf die Beine laufen zu lassen. Leider floss das Blut dabei an meinem Gesicht herunter und landete in meinem Mund. „Igitt.“ Angeekelt begann ich es wieder auszuspucken und wischte mir mit meinem Ärmel notdürftig übers Gesicht. Wahrscheinlich machte ich die Sache damit nur noch schlimmer, aber im Moment hatte ich leider kein Tuch zur Hand.

„Sehr attraktiv“, kommentierte Reese, als ich noch mal ausspuckte.

Ich funkelte ihn böse an, atmete dann tief ein und schaute mich nach unseren Mitstreitern um.

Kjell hatte in der Zwischenzeit scheinbar seine Waffe aufgelesen und bahnte sich nun einen Weg zurück auf den Hauptweg. Unser Aufpasser stand ein wenig abseits und musterte uns nachdenklich. Vermutlich saß ihm der Schrecken noch immer in den Knochen. Tja, es hatte sicher einen Grund gegeben, warum er in den Verband gewechselt ist, um nicht mehr auf die Straße zu müssen. Vielleicht hatte der Vorfall ihn daran erinnert.

„Die anderen sind noch immer nicht zurück“, bemerkte Reese mit leichter Sorge.

„Sie schießen auch nicht mehr. Vielleicht haben sie den Krant erwischt.“

„Vielleicht“, sagte er ohne große Überzeugung. Das nicht mehr geschossen wurde, konnte auch etwas ganz anderes bedeuten. „Lasst uns weiter gehen, die Halle müsste gesäubert sein.“

Ja, bei dem Krach den wir veranstaltet hatten, wären andere Proles nicht nur aufmerksam geworden, sondern auch angerannt gekommen. Trotzdem stellte ich meine Lauscher auf, als wir uns auf dem Weg zur nächsten Halle machten.

Was uns dort erwartete, war das gleiche abscheulich Bild, das wir gerade hinter uns gelassen hatten. Durch wie viele Hallen hatten die Krnats gewütet? Und wie groß war das Rudel? Die drei die wir erledigt hatten, reichten bei Weitem nicht aus, um für dieses Massaker verantwortlich zu sein. Ich würde eher auf zehn bis Fünfzehn Proles tippen. Das bedeutete, es lag noch eine Menge Arbeit vor uns.

Leider waren so große Krant-Rudel nichts ungewöhnliches. Sie waren das am häufigst vertretene Proles in der Stadt, was daran lag, dass sie sich das ganze Jahr über schlimmer als die Karnickel vermehrten. Selbst im Winter nahm ihre Zahl kaum ab, da sie nun einmal in einem Nest voller Nahrung saßen. Manchmal war es eben doch ein Nachteil in einer Großstadt zu leben.

Was wir in der nächsten Halle jedoch nicht fanden, waren unsere vermissten Kollegen. Auch die darauffolgende Halle war Menschenleer, doch dann hörten wir die Schüsse – viel näher als die anderen Male.

Reese und ich warfen uns nur einen kurzen Blick zu und rannten dann auch schon los – und damit direkt hinein ins Chaos.

Diese Halle war auf Heimtiere ausgelegt. Es gab sogar überall jede Menge Käfige, in denen Kaninchen, Meerschweinchen und Co. sich wegen des Lärms und der Gefahr ängstlich in die Ecke drängten. Sogar Zwinger mit Katzen bemerkte ich beim Hineinstürmen. Hier also hatte sich das Großteil des Rudels hin verzogen. Lebendfutter war für die Krants wohl einfach attraktiver als fertig verpackte Baconstreifen in einer Plastikhülle.

Auch die anderen Venatoren entdeckte ich sofort. Nicht nur unsere beiden, nein auch die andere Gruppe hatte sich in der Zwischenzeit bis hier hin vorgearbeitet.

„Acht“, rief Reese und schoss einem Krant, der gerade versuchte in einen Käfig mit Chinchillas zu kommen, von hinten direkt in den Kopf.

„Sieben“, korrigierte ich nach dem Treffer und wandte mich nach links, wo einer der Krants gerade hinter ein paar Regale mit Körnerfutter für Vögel verschwand. Ich achtete nicht mehr auf die anderen und nahm die Verfolgung auf. Doch wie es schien, hatte der Krant gar nicht vor das Weite zu suchen, denn er verschwand nicht hinter dem Regel, er lief drumherum und auf einmal war er hinter mir.

Ich bemerkte die plötzliche Gefahr nur, weil er mich anknurrte, bevor er zum Sprung auf mich ansetzte. Gerade noch rechtzeitig wirbelte ich herum, hob meine Waffe und schoss.

Leider zielte ich schlecht und traf nur seine Schulter, wodurch das Vieh gerade mal davon abgehalten wurde mich anzuspringen. Der zweite Schuss dagegen zielte genau ins Schwarze. „Da waren es nur noch sechs“, murmelte ich und machte mich daran den nächsten aufzuspüren.

Zusammen mit den staatlichen schafften wir es das Rudel bis auf einen zu dezimieren, dieser hatte es aber in sich. Er hielt nicht nur einen zum Narren, er machte uns allen das Leben schwer. Immer wieder tauchte er irgendwo in der Halle auf, nur um im letzten Moment wieder abzutauchen. Es schien fast, als würde er sich einen Spaß daraus machen, uns alle Kreuz und Quer durch die Halle zu jagen. Das war echt frustrierend.

Immer wieder wurde vereinzelt geschossen, doch dieser Proles musste eine Arme von Schutzengeln haben. Entweder wir zielten einen Zentimeter zu weit nach links, oder er ging in letzter Sekunde in Deckung. Einmal verriss Ruben seinen Schuss, weil die Trümmer auf denen er stand unter seinem Gewicht plötzlich wegsackten.

„Das gibt es doch einfach nicht“, knurrte Reese und versuchte ein weiteres Mal sein Glück, doch er hatte gerade genug Zeit um die Waffe auf sein Ziel zu richten, da verschwand das Ziel auch schon wieder hinter einer Reihe von Werbeaufstellern und von dort aus hinter die Anlage mit den Aquarien.

Fluchend machten sich die Venatoren an die Verfolgung, aber der blöde Krant hatte scheinbar keine Lust mehr mit uns zwischen den Regalen Verstecken zu spielen. Er rannte in eine anliegende Halle, aus der mir der Geruch von Pferd und Stall entgegen schlug.

Als wir ihm folgten, landeten wir an einem Zugang für eine riesige Zuschauertribüne, die auf einen kleinen Reitplatz ausgerichtet war. Pferde sah ich zwar keine, aber ich konnte irgendwo rechts ein panisches Wiehern hören.

Wir stürmten die Tribüne und sahen uns zwischen den Sitzen hektisch nach unserem Gegner um. Irgendwo hier musste er sein, irgendwo …

„Da!“, rief Kjell und deutete auf die unteren Reihen. Er begann den schmalen Laufsteg entlang zurennen, hob während der Bewegung die Waffe und feuerte. Dann feuerte er noch mal. Und dann noch mal.

Was zur Hölle?

Reese und ein paar der anderen Veantoren machten sich bereits fluchend an die Verfolgung, während Kjell auf gut Glück zwei weitere Schüsse abfeuerte. Und dann – Wunder oh Wunder – beim sechsten Knall jaulte der Krankt kurz auf, zuckte und knallte durch seinen eigenen Schwung gegen die Balustrade, die die Tribünen vom Reitplatz trennten. Aber noch lebte das Vieh.

Kjell blieb schwer atmend stehen, zielte und feuerte dann ein letztes Mal und dieses Mal hatte die Schutzengelarmee ihren Job an den Nagel gehängt. Die Kugel traf den Krant seitlich in den Kopf und dann bewegte sich das Vieh nicht mehr.

„Ja!“ Freudig regte Kjell die Faust in die Luft und strahlte uns an. „Ich hab ihn erwischt!“

Ein Paar murmelten Glückwünsche, Reese jedoch steckte verärgert seine Waffe zurück in sein Holster und maskierte auf seinen Praktikanten zu. „Ja super, ruft die Presse an, damit sie dich zum Held des Tages erklären können.“

Irritiert ließ Kjell den Arm wieder sinken und trat einen Schritt zurück, als Reese so direkt auf ihn zukam. Er sagte kein Ton und unternahm auch nichts, als sein Lehrcoach ihm die Waffe aus der Hand riss, das Magazin entnahm und ihm die Waffe dann praktisch wieder vor die Brust warf.

Kjell packte schnell genug zu, damit sie nicht auf dem Boden landete.

„Das“, sagte Reese und hielt ihm einen Moment das Magazin vor die Nase, „bekommst du wieder, wenn du gelernt hast, richtig mit einer Waffe umzugehen.“ Damit ließ er das Teil in seiner Manteltasche verschwinden.

Jetzt war auch Kjell verärgert. „Was soll das? Ich weiß wie man mit einer Waffe umgeht, ich hab den Krant getötet, falls dir das entgangen sein sollte.“

Na ob das die richtige Strategie war? Andererseits hatte ich ihm ja gesagt, dass er sich nicht von Reese einschüchtern lassen sollte.

Reese allerdings schien das aufmüpfige Verhalten nicht gut zu heißen. Er beugte sich so weit vor, dass er praktisch in Kjells persönlichen Bereich eindrang. „Jetzt pass mal auf du möchtegern Venator: Wir sind hier nicht im wilden Westen. Erst zielen, dann schießen und nicht wild Kugeln abfeuern und darauf hoffen, dass eine schon ins Ziel gehen wird.“

Da hatte er nicht unrecht. Wer wild herumballerte, traf alles und jeden, aber nur selten sein eigentliche Ziel. Doch Kjell hier ohne Waffe rumlaufen lassen? Ich war mir nicht sicher, ob das die Lösung war. Andererseits hatte er sich das Ding auch schon aus der Hand schlagen lassen. Vielleicht war er mit einem Messer doch besser beraten.

„Ich habe gezielt“, knurrte er Reese an.

„Damit solltest du definitiv nicht prahlen“, bemerkte Reese und wandte sich von ihm ab. Sein Blick verharrte kurz auf mir, als würde er auf etwas warten und als da nichts kam, runzelte er nur die Stirn und ging an mir vorbei.

Okay, vielleicht tat ihm das wirklich nicht gut Lehrcoach zu sein. Langsam verhielt er sich wirklich komisch.

Kopfschüttelnd folgte ich ihm und den anderen die Tribüne herunter. Direkt hinter mir war Lexian, Kjell bildete das grummelnde Schlusslicht. Von dort aus konnte er Reese verärgert anfunkeln.

„Gehen wir noch mal in die Halle mit den Haustieren?“, fragte einer der Staatlichen. Die Treppe schepperte metallend unter seinen Schritten.

„Wäre wahrscheinlich nicht schlecht“, stimmte ihm ein anderer zu. „Sicher ist sicher.“

Die gesamte Manschaft verließ die Tribüne und sobald wir wieder richtigen Boden unter den Füßen hatten, wandten wir uns geschlossen dem Ausgang der Halle zu.

„Bei der Gelegenheit können wir auch gleich …“

„Links von euch“, rief Ruben auf einmal und alle – einschließlich mir und Reese – wirbelte mit erhobenen Waffen zur Rückseite der Zuschauertribüne herum.

„Nein, halt, stopp!“ Lexian trat uns mit erhobenen Händen in den Weg und verstellte uns so die Schussbahn.

„Was zum Teufel machst du da?“, wollte Reese wissen und in dem Moment sah auch ich es.

Das Metallgerüst der Tribünen war mit dünnen Holzplatten verkleidet. Eine von ihnen lag herausgerissen mitten auf dem Gang, sodass eine Lücke in der Vertäfelung entstanden war. Und hinter dieser Verkleidung, fast auf Bodenhöhe, lugte ein einzelnes Auge hervor, das sich erschrocken weitete, als es die ganzen Waffen sah und schnell wieder dahinter Schutz suchte.

Oh verdammt, das war kein Proles, das war ein kleines Kind!

Sofort ließen wir unsere Waffen sinken, erst dann nährte Lexian sich vorsichtig der Lücke und hockte sich so davor, dass er hinein spähen konnte. „Hallo“, sagte er freundlich.

Es kam keine Antwort, aber dafür hörte man ein Schaben, als würde das Kind versuchen ein wenig Abstand zu Lexian zu bekommen.

„Hab keine Angst, wir tun dir nichts. Wir sind Venatoren.“

Ich trat ein paar Schritte zur Seite um einen besseren Blick zu bekommen. Näheren wollte ich mich dem Kind nicht. Mit dem ganzen Prolesblut in meinem Gesicht, würde ich es nur verschrecken.

„Weißt du was Venatoren sind?“

„Ihr tötet die Monster“, antwortete ein dünnes Stimmchen und da sah ich es. Es war ein kleines Mädchen, höchstens fünf oder … sechs. „Wo ist Mami?“

Guck mal, Gracy, der lustige Hund. Ich habe ihn Plüsch genannt, weil er so plüschig aussieht.

Plötzlich wurde mir schlecht. Die kleine war genauso alt wie ich damals und wenn ihre Mutter nicht gerade mit den Flüchtenden nach draußen gekommen war, war sie eine der Toten in diesen Hallen und die Kleine würde sie nie wieder sehen.

„Ich weiß nicht. Aber wenn du rauskommst, dann können wir schauen, ob wir sie finden.“ Lexian hielt ihr auffordernd die Hand entgegen. „Was meinst du?“

„Aber die Monster.“

„Wir lassen nicht zu, dass sie dir etwas tun. Wir beschützen dich, du brauchst also keine Angst haben.“

Einen langen Moment geschah gar nichts Lexian hockte einfach nur abwartend in der Lücke. Dann war wieder ein Schaben zu hören und gleich darauf kam ein kleines Mädchen mit einem blonden Zopf und geröteten Augen zum Vorschein.

„So ist gut“, lobte Lexian sie, als sie ihre Hand in seine legte uns sich von ihm nach draußen ziehen ließ. Sie schien unverletzte, hatte aber unverkennbar einen Schock. Ihre Augen waren riesig und die Haut totenbleich. In ihrem Gesicht lag etwas gehetztes.

Als Ruben sagte: „Ich funke Team drei an, damit sie das Mädchen rausholen“, drehte ich mich abrupt um und verließ mit eiligen Schritten die Halle. Das war zu viel, das war wie ein Freifahrtschein in meine Vergangenheit.

Komm, Hundi, Hundi, Hundi.

Sobald ich die Halle verlassen hatte, stützte ich mich mit beiden Armen an der Wand ab und zwang mich tief einzuatmen.

Das war genau wie damals. Wenn ihre Mutter wirklich tot war … es würde ihr ergehen wie mir. Ich wusste nicht mehr viel aus den Jahren nach dem Geburtstagsmassaker, denn ich hatte das meiste verdrängt, um daran nicht kommplett zu zerbrechen. Der Rest lag wegen der ganzen Medikamente im Nebel. Das wünschte ich niemanden.

„Was wird das hier?“

Bei Reese' Stimme drehte ich ihm das Gesicht zu, schüttelte dann aber nur den Kopf. „Wir waren zu spät.“ Ich war Venator geworden, damit sich solche Tragödien nicht mehr ereignen konnten, aber nun war da wieder ein kleines Mädchen, mit einer ungewissen Zukunft.

„Die Kleine ist nicht du“, erklärte Reese. Offensichtlich wusste er ganz genau, was in meinem Kopf vor sich ging.

„Wären wir nur früher hier gewesen …“

„Hätte es keinen Unterschied gemacht.“ Er nahm mich am Arm und drehte mich herum, bis ihn ansah. „Wir hätten schon vor den Krants hier sein müssen, dann hätten wir vielleicht etwas ändern können, das weißt du genauso gut wie ich.“

Ich presste die Lippen aufeinander.

„Selbst wenn die Kleine und ihre Mutter heute nicht hier gewesen wären, hätten sie morgen, oder auch nächste Woche in ein anderes Unglück verwickelt werden können. Du kennst diese Welt genauso gut wie ich und weißt wie erbarmungslos sie ist.“

Alles was er sagte, stimmte, aber leider machte es das nicht besser. „Warum machen wir das dann? Warum versuchen wir zu helfen?“ Denn so wie er es klingen ließ, war das ein nutzloser Versuch.

„Weil wir das gut können und manchmal, wenn wir Glück haben, können wir etwas zum Besseren wenden.“

Ja, manchmal gelang uns das, wenn auch nicht in diesem Fall. Sie würde genau wie ich den Rest ihres Lebens von Schatten verfolgt werden, nur waren ihre Schatten Krants, meine dagegen … meine lebten sogar noch. Ich wusste nicht wo sie waren, aber ich wusste sie waren da. Doch ich würde sie aufspüren. Ich würde sie finden und dieses Mal würde ich nicht zögern, egal was die Gesetze sagten. Die Iubas meiner Kindheit würden sterben, dann, vielleicht, konnte mein Geist ein wenig Frieden finden.

Im Moment jedoch hatte ich noch eine andere Aufgabe zu erledigen und die erforderte nach wie vor meine ganze Konzentration. Darum verbannte ich die bösen Geister in den hintersten Winkel meiner Gedanken, wo sie darauf lauern würden, bis sie sich ein weiteres Mal einen Weg an die Oberfläche bahnen konnten.

Jetzt jedoch mussten wir erstmal auf Team drei warten und als sie dann zusammen mit zwei Sanitätern auftauchten, gelang es ihnen nicht das Mädchen von Lexians Hals zu lösen. Sie fing fürchterlich an zu schreien und zu weinen, sodass unsere Anstandsdame sie am Ende begleiten musste.

Damit war unsere Arbeit aber noch nicht erledigt. Da das ganze Gelände so uneinsichtig war, durchsuchten wir es noch ein zweites mal, um sicher zu gehen, dass wir nichts übersehen hatten. Doch außer dem was wir bereits gefunden hatten, entdeckten wir nichts mehr, was dort nicht sein dürfte. Damit konnten wir nichts mehr anderes tun, als das Gelände wieder freizugeben, damit die Polizei und die anderen Einsatzkräfte das Gebäude endlich betreten konnten.

Die Zeiger auf der Uhr zeigten bereits auf nach fünf, als wir wieder nach draußen unter den freien Himmel traten. Es war bereits dunkel. Ich war müde, mit Blut beschmiert und mein Magen hing mir laut knurrend irgendwo zwischen den Kniekehlen. Aber ich hatte dieses Gefühl der Befriedigung, dass mich immer nach einer erfolgreichen Jagd überkam. Am Ende hatten wir insgesamt neunzehn Krants zur Strecke gebracht. Reese vier, ich drei und Kjell mit seinem Glückstreffer, einen – der Rest ging aufs Konto der Staatlichen. Sobald ich etwas im Magen hatte und eine Dusche auftreiben konnte, würde ich mich wieder besser fühlen. Bis dahin mussten erstmal die Feuchttücher reichen, die ich mir von einem der Sanitäter geben ließ und damit begann, mir notdürftig das getrocknete Blut aus dem Gesicht zu wischen.

Da ich mich dabei aber scheinbar zu blöd anstellte, nahm Reese mir nach einem genervten Seufzen die Tücher aus der Hand und übernahm diese Aufgabe selber. So blieb mir nichts anderes übrig, als wie ein kleines Kind dazustehen und darauf zu warten, dass Mami-Reese fertig wurde – war immer noch besser, als mit einer Scream-Maske durch die Gegend zu laufen.

Das Treiben um uns herum war etwas ruhiger geworden. Nun noch wenige Schaulustige trieben sich an den Absperrbändern herum, hauptsächlich wurden sie nur noch von den Medien belagert, die immer wieder Fragen zu uns und den anderen Venatoren herüber warfen.

Eve, die bei der Gruppe mit den Staatlichen stand, machte eine ungehörige Geste in ihre Richtung und rief etwas, dass sich auf horizontalen Bettsport und schmutzigen Körperöffnungen bezog.

Grinsend schaute ich mich nach ihr um.

„Halt still“, schimpfte Reese und drehte mein Gesicht zurück, um einen besonders hartnäckigen Fleck von meinem Kiefer zu rubbeln. Die Kälte malte Atemwölkchen in die Luft.

„Das ist ziemlich gut gelaufen, oder?“, traute Kjell sich zu fragen. Er stand mit den Händen in den Taschen neben uns und ließ das alles auf sich wirklichen.

Reese schaute nicht mal in seine Richtung. „Geh weg und tu irgendwas Nützliches.“ Er drehte mein Gesicht hin und her und schien mit seiner Arbeit zufrieden zu sein. „Falls du dazu überhaupt in der Lage bist.“

Sich nicht sicher, wie Reese das genau meinte, blieb er unschlüssig, wo er war – ich kannte das Gefühl nur zu gut. „Ähm … die schenken dahinten Kaffee aus. Ist es okay, wenn ich mir da kurz einen hole?“

Die dreckigen Feuchttücher in der Hand, schaute Reese sich nach einer Möglichkeit um sie zu entsorgen – meine Erziehung – doch als er nichts fand, ließ er sie kurzerhand einfach auf den Boden fallen.

„Ich kann euch einen mitbringen, wenn ihr wollt“, versuchte Kjell es noch mal.

Nun schaute Reese ihn doch an. „Du bist ja immer noch hier. Habe ich dir nicht gerade gesagt, dass du dich verziehen sollst?“

Und da war er wieder, der trotzige Praktikant.

„Nein Danke, wir wollen keinen Kaffee“, sagte ich schnell, um die Situation zu entspannen. Auf unnötigen Streit hatte ich gerade keine Lust. „Aber hol dir ruhig einen. Wir müssen sowieso noch ein bisschen warten, bis Ruben uns gehen lässt.“

Er nickte, drehte sich um und verschwand Richtung Kaffee.

Ich schaute ihm einen Moment hinterher und als ich dann wieder zu Reese aufblickte, schaute der mich schon wieder so komisch an. „Ist was?“

Das Runzeln auf seiner Stirn vertiefte sich. „Was verdammt noch mal soll das?“

„Hä?“ Hatte er doch einen Kaffee gewollt? Das hätte er doch sagen können.

„Du machst das schon den ganzen Tag.“

Hm, scheinbar ging es hier nicht um Kaffee.

„Kein Reese sei nett, kein Reese sei nicht so gemein, kein Reese, du kannst die Leute nicht immer anschnauzen, nur weil dir ihre Nase nicht passt. Egal was ich zu dem kleinen Pisser gesagt habe, von dir kam nicht ein Ton.“ Das schien ihn richtig zu irritieren. „Wartest du bis wir zu Hause sind, bevor du über mich herfällst? Wenn ja, sag es mir gleich, damit ich mich darauf vorbereiten kann.“

Deswegen hatte er mich ständig so seltsam angeschaut? Er wartete darauf, dass ich ihn für sein Verhalten rügte?

Es kam ganz plötzlich über mich. In dem einen Moment schaute ich ihn noch verdutzt an, im nächsten fing ich lauthals zu lachen an.

Reese' Mundwinkel sackten herab. „Was ist daran so witzig?“

Das konnte ich nicht beantworten, solange ich lachte, aber damit aufzuhören, war gar nicht so einfach. Er wartete darauf, dass ich schimpfte!

Stattdessen wischte ich mir eine Lachträne aus dem Augenwinkel, trat an ihn heran und legte ihm beide Hände auf die Brust – wie er auch bei dem Wetter immer mit offenem Mantel herumrennen konnte ohne zu frieren, war mir ein Rätsel. „Ich habe dir niemals erzählt, was damals unter anderem ein guter Ansporn für mich war, das Praktikum bei dir zu bestehen, oder?“

Er sagte nichts.

„Ich wollte es dir zeigen. Du warst so eklig und herablassend zu mir, dass ich wusste, es gibt nur einen Weg, um dich von deinem hohen Ross runter zu holen. Ich musste dir – und auch mir selber – beweisen, dass du mit deinen Behauptungen Unrecht hattest.“ Ich ließ meine Hände an seinem Körper hinab wandern, bis ich die Gürtelschlaufen an seiner Jeans fand. „Auch Kjell wird es so ergehen. Wer bin ich schon, ihm diesen Anreiz zu nehmen? Darüber hinaus ist er dein Praktikant. Ich habe versprochen zu helfen, aber ich werde mich nicht einmischen.“ Jedenfalls nicht allzu sehr.

Er wirkte nicht überzeugt.

Grinsend harkte ich zwei Finger in seine Gürtelschlaufen und zog ihn ganz nahe zu mich heran. „Außerdem würde er es sicherlich nicht so toll finden, wenn ich ihm ständig tröstend den Kopf tätscheln und an die Hand nehmen würde, sobald du wieder etwas Fieses zu ihm sagst.“ Ich beugte mich vor, bis unsere Lippen nur noch einen Hauch voneinander entfernt waren. „Sowas untergräbt nämlich das männliche Ego, weißt du? Und so ein männliches Ego ist überaus empfindlich.“ Lächelnd gab ich ihm einen kleinen Kuss, doch als ich mich wieder von ihm zurückziehen wollte, griff er nach meinem Kinn und hielt mich fest, damit ich ihm nicht so einfach entkommen konnte. Ich gab widerstandslos nach.

Seine Lippen auf meinen zu spüren, war ein Gefühl, wie nach Hause zu kommen. Reese zu küssen ging mir immer durch Mark und Bein und auch jetzt brauchte er nur Sekunden, um mich in seinen Bann zu schlagen, einfach weil ich dieses Gefühl so sehr genoss und niemals verlieren wollte. Besonders nach so einem harten Auftrag wie den heutigen, genoss ich diese Spur von Normalität, die meinen ganzen Körper kribbeln ließ.

Als er merkte, dass ich mich nicht abwenden würde, gab er mein Kinn frei, um mit der Hand unter die Jacke zu fahren. Ich spürte wie er die bloße Haut über meinem Hosenbund berührte und mir damit einen herrlichen Schauer über den Rücken jagte. Ich bekam Herzklopfen. Seine Küsse wurden intensiver und einen kurzen Moment war ich versucht, einfach zu vergessen, wo wir uns gerade befanden. Leider siegte mein moralischer Anstand und als er versuchte mich noch enger an sich zu ziehen und mit den Lippen meine Narbe nachzog, murmelte ich: „Du weißt aber schon, dass wir hier nicht allein sind, oder?“

Er grummelte etwas Unverständliches und verschloss meine Lippen mit seinen, damit ich die Klappe hielt.

Das erlaubte ich ungefähr eine Minute, bevor ich mahnte: „Hellboy.“ Nicht dass da ein Grund für ihn gewesen wäre, von mir abzulassen. Er nahm sich einfach nur ein wenig zurück.

„Gut dass du mich daran erinnerst, warum ich Menschen hasse“, murmelte er. „Von mir aus könnten sie alle verschwinden.“

„Das wäre dann aber ziemlich einsam“, gab ich zu bedenken.

Sein Mund nahm meinen wieder gefangen, machte jemand ein angeekeltes Geräusch.

Sofort war die Stimmung dahin. Reese riss den Kopf herum und fixierte einen Punkt seitlich hinter mir. Seine Augen wurden schmal. „Fertig geglotzt?“

Ich löste mich ein kleines Stück von ihm und drehte mich herum, um herauszufinden, wenn er da so anfuhr. Es war Kira, die uns mit sichtlicher Abscheu beobachtete.

„Auf welches Niveau bist du nur gesunken?“, fragte sie kopfschüttelnd „Mit diesem Ding da in ihrem Gesicht ist es doch schon abstoßend sie nur anzusehen, wie kannst du sie da auch noch küssen?“

Das hatte sie jetzt nicht wirklich gesagt.

Ich wollte hier gerade erklären, was und vor allen Dingen, wer hier abstoßend war, als Reese sich auch schon wütend von mir losriss. „Reese, nein“, versuchte ich noch ihn zurückzuhalten und griff nach seinem Arm, doch er wich mir einfach aus und trat so drohend auf Kira zu, dass sie schon fast automatisch vor ihm zurück wich.

Reese' Präsenz war schon an guten Tagen einschüchternd, doch nun wirkte er, als wollte er ihr den Kopf abreißen.

Kira wollte es sich nicht anmerken lassen, aber einen Moment flackerte Unsicherheit über ihr Gesicht. War sie zu weit gegangen? Würde er handgreiflich werden?

Ich bewegte mich nicht von der Stelle, als er sich zu ihr vorbeugte. Reese schlug keine Frauen, auch wenn Kira sicher mal eine Abreibung verdient hätte.

„Hier mal eine kleine Wahrheit für dich, Missi“, spie er ihr mitten ins Gesicht und sie schien hart mit sich zu kämpfen, nicht noch mal vor ihm zurückzuweichen. „Selbst wenn du nicht der Meinung gewesen wärest meinen Bruder ficken zu müssen, weil dir ein Schwanz nicht ausreicht, hätte ich dich spätestens dann sitzen lassen, als Shanks aufgetaucht ist. Sie ist alles das was du nicht bist. Und du.“ Er musterte sie äußerst herablassend. „Du bist einfach nur erbärmlich.“

Ihre Stimmung schlug von einem Moment zum anderen um. Wo eben noch Sorge war, flackerte nun heiße Wut auf. Sie holte einfach aus um Reese ein heftige Ohrfeige zu verpassen, doch er musste schon damit gerechnet haben, denn bevor sie ihn auch nur streifen konnte, fing er sie am Handgelenk in der Luft ab und starrte sie warnend an.

Den Schreck sah man ihr an, damit hatte sie nicht gerechnet.

„Wie ich gesagt habe.“ Er öffnete die Hand und trat einen Schritt vor ihr zurück. „Erbärmlich.“ Damit ließ er sie stehen, nahm meine Hand und zog mich weg. Sollte er für Kira auch nur noch das kleinste bisschen Sympathie gehabt haben, so hatte sie das nun komplett verspielt. In Zukunft sollte sie ihm besser aus dem Weg gehen.

 

°°°

 

Unser Weg in der Gilde, führte uns an dem kleinen Pausenraum vorbei und sofort roch ich es. Angewiedert rümpfte ich die Nase und hielt mir die Hand davor. Irgendjemand hatte den Kaffee anbrennen lassen.

„Du schreibst die Berichte“, teilte Reese Kjell ohne weitere Erklärungen mit. „In der Ablage auf meinem Schreibtisch findest du leere Formulare.“

Oh wie schön, jetzt blieb das nicht mehr an mir hängen.

Kjell nickte, zögerte, kam aber nicht mehr dazu noch etwas zu sagen, denn Reese wandte ihm schon den Rücken zu.

„Ich bin mal kurz bei Jilin“, sagte er noch zu niemand bestimmten.

Das ließ mich inne halten und ihm einen scharfen Blick zuwerfen. „Du hast doch nicht etwa vor ihr die Ohren vollzujammern und dich deines Praktikanten zu erledigen, oder?“

Kjell, der schon halb ins Arbeitsareal geraten war, blieb sofort stehen und drehte sich Ruckartig zu seinem Lehrcoach um. Das hatte ihn wohl unerwartet getroffen.

Reese erwiderte nur stumm meinen Blick.

Wusste ich es doch. „Falls ich dich daran erinnern muss, dass hat beim letzten Mal auch nicht funktioniert.“

„Die Voraussetzungen beim letzten Mal waren auch ganz andere.“

Das stimmte wohl. Nachdem Reese' alte Partnerin Maggie bei einem Auftrag von einem Proles getötet worden war, hatte er sich geweigert mit einem anderen Venator zusammenzuarbeiten. Ihr Tod hatte ihn schwer getroffen und das hatte er kein weiteres Mal durchmachen wollen.

Über ein Jahr hatte er jeden Partner den Jilin ihm zugewiesen hatte, innerhalb weniger Stunden mit seiner einnehmenden Art vergrault. Und dann kam ich daher, jung, ehrgeizig und sehr von sich selbst überzeugt.

Dieses Mal hatte Reese den Kürzeren gezogen. Zum einen hatte ich mich einfach nicht von ihm vertreiben lassen und zum anderen wollte Jilin nicht mehr, dass Reese allein auf die Straße ging. Das Ende der Geschichte war nicht schwer vorherzusehen: Entweder er akzeptierte mich, oder er musste sich einen anderen Job suchen.

Jetzt jedoch hatte er eine feste Partnerin, die ihm auf der Straße den Rücken frei hielt, der Praktikant war in seinen Augen also überflüssig.

„Aber Jilin hat dich aus einem bestimmten Grund wieder als Lehrcoach eingesetzt“, argumentierte ich.

„Ist mir egal. Der Kleine bringt es einfach nicht. Er hat seine Waffe fallen lassen, ist das zu glauben? Und ich habe absolut keinen Bock auf den ganzen Stress. Ich habe bereits genug anderen Scheiß um die Ohren.“

Dem konnte ich leider nicht widersprechen. Trotzdem würde ich ihn nicht so einfach damit durchkommen lassen. Ich trat an ihn heran und zupfte an den Aufschlägen seines Mantels. „Du weißt genauso gut wie ich, dass wir das Geld gebrauchen können.“ Wir hatten zwar zwei Einkommen, aber Celines Klinik war teuer und am Ende des Monats blieb selten etwas übrig.

„Wir schaffen das auch so.“

Ja, das taten wir, aber ich wollte es nicht immer nur ganz knapp schaffen. Ich wollte auch mal wieder ins Kino gehen. Letztes Jahr hatten wir nicht mal einen Weihnachtsmarkt besuchen können, dabei tat ich das so gerne. „Versuch es doch wenigstens. Für mich“, bat ich ihn leise. „Wenn es nicht klappt, kannst du immer noch mit Jilin sprechen.“

Seine Lippen wurden eine Spur schmaler. Einen langem Moment schaute er mich einfach nur an und kurz glaubte ich wirklich, er würde einlenken. Doch dann knurrte er „Nein“, wandte sich ab und ließ mich einfach stehen.

So ein sturer Blödmann! Aber so wie ich Jilin kannte, kämpfte er bereits jetzt auf verlorenem Posten. Sie hatte ihre Gründe, warum sie ihn wieder einen Praktikanten zugewiesen hatte und würde ihn sicher nicht einfach vom Harken lassen.

„Keine Sorge“, sagte ich, als ich das verschlossene Gesicht des Kleinen bemerkte. Ich kannte dieses Gefühl der Zurückweisung von Reese nur zu gut. „Es wird ein bisschen dauern, aber er wird sich schon noch an dich gewöhnen.“

„Ich weiß nicht, ob ich einen Lehrcoach will, der mich gar nicht will.“

„Was, ziehst du etwa schon nach einem Tag den Schwanz ein, nur weil er ein wenig grob zu dir war? Ich hab mir früher viel Schlimmeres von ihm anhören müssen und das nur weil ich eine Frau bin.“ Reese hatte nämlich absolut etwas dagegen, dass Frauen diesen Beruf ausübten. Selbst heute noch arrangierte er sich nur widerstrebend damit. Wenn ich meinen Job an den Nagel hängen würde, würde er vermutlich Freudensprünge machen. Okay, wir sprachen hier von Reese, also würde es wahrscheinlich eher ein zufriedenes Nicken werden.

„Und trotzdem bist du freiwillig bei ihm geblieben?“, fragte er zweifelnd.

„Natürlich. Er war schon damals schwierig, aber trotzdem der Beste den die Gilde vorzuweisen hatte und mit weniger hätte ich mich niemals zufrieden gegeben. Ich war zwar oft kurz davor gewesen ihm einfach den Hals umzudrehen, aber unterm Strich hätte mir nichts Besseres passieren können.“ Und das nicht nur, weil er so ein Top Venator war.

Kjell schien noch immer nicht sehr überzeugt.

„Na komm, ich zeig dir was du zu tun hast, dann kannst du endlich Feierabend machen. Und morgen, wenn er sich mit dem Gedanken ein wenig angefreundet hat, dann … hm.“ Auf seinen erwartungsvollen Blick hin, zuckte ich nur nichtssagend mit den Schultern. „Ich werde dafür sorgen, dass er gut ausgeschlafen ist und bereits einen Kaffee hatte, bevor ihr euch begegnet.“ Mehr konnte ich leider nicht versprechen, denn Reese' Launen waren nun einmal schwer einzuschätzen. Manchmal reichte es schon, dass ihm morgens die Katze im Weg stand, um ihm den Tag zu vermiesen.

Ohne weiter auf ihn zu achten, trat ich in das große Arbeitsareal. Viel war nicht los. Selbst das Telefon vorne am Tresen war ausnahmsweise mal still, sodass Madeline Zeit hatte, die Hand zum Gruß zu erheben. Ein paar Schreibtische waren besetzt, Daniel stand am Fenster und telefonierte mit seinem Handy – vermutlich eines seiner vielen Kinder.

Ich steuerte direkt auf Reese' Schreibtisch zu und holte ein paar Formulare aus der Ablage. „Setzt dich“, wies ich Kjell dabei an.

Er zog sich noch schnell die Jacke aus und hängte sie über die Lehne, bevor er meiner Aufforderung nachkam.

„So, hier, schau mal“, sagte ich und schob ihm die leeren Vordrucke unter die Nase. „Das hier sind die Berichte, oder auch Liquidationsscheine. Du musst einen pro Auftrag und Venator ausfüllen.“

„Pro Venator?“

„Klar, meine wirst du auch schreiben und jetzt guck nicht so, da müssen alle Praktikanten und Lehrlinge durch. Ich hab das die letzten drei Jahre gemacht und jetzt bist du dran.“

„Ich Glücklicher.“

„So schlimm ist es gar nicht. So, schau mal hier. Hier trägst du Name und Nummer des Venators ein und direkt darunter das Datum und den Zeitraum des Auftrags. Hier schreibst du rein, wie viele Proles der Venator getötet hat. Das wären für mich drei und für Reese fünf.“

„Er hat aber nur vier getötet.“

„Ja, aber deiner wir ihm angerechnet, da er dein Lehrcoach ist. Deine Tötungen fließen am Ende des Praktikums in die Beurteilung, die Reese für dich verfassen wird. Sein Bericht entscheidet darüber, ob du zur Prüfung zugelassen wirst.“

„Ja, das weiß ich.“

„Gut. Hier in der nächsten Zeile kommt der eigentliche Bericht. Du schreibst einfach, Krant Rudel, neunzehn Proles, R.E.“

„R.E.?“

„Rudel eliminiert. Wenn uns welche von den Viechern entwischt wären, dann müsstest du R.T.E. schreiben – Rudel teilweise eliminiert. Den Rest davon füllt Reese aus, solange du noch nicht die ganzen Kürzel kennst und weißt, was du da genau schreiben sollst.“

Er nickte.

„Okay, dann weiter. Wenn wir bei einem Auftrag mal mehr als eine Proles-Art gejagt haben, dann musst du auch noch das nächste Feld ausfüllen. Genau wie darüber. Proles, Anzahl, Ablauf. Und hier musst du ein Harken machen, wenn wir einen Auftrag zusammen mit den Staatlichen übernehmen. Das braucht die Leistung für die Abrechnung, damit wie notfalls Rückfrage halten können. Und direkt daneben musst du den Namen des Auftragsleiters schreiben.“

„Ruben“, erkannte Kjell ganz richtig.

„Ruben Emerson, staatliche Venatoren. Wäre es zum Beispiel Reese der Leiter gewesen, dann müsstest du Reese Tack, Gilde schreiben. Verstanden?“

Wieder ein Nicken.

„Okay, und hier musst du …“

Als plötzlich Madelines markerschütternder Schrei durch den Raum schallte und sie so hektisch von ihrem Platz aufsprang, dass sogar der Stuhl umkippte, war ich nicht die einzige, die erschrocken zu ihr herumwirbelte und sah wie sie eilig vom Tresen zurück wich. Aber ich war die erste, die sich in Bewegung setzte und somit einen Tick vor Daniel bei ihr ankam.

„Was ist los, warum hast du geschrien?“

Mit zitternden Händen streckte sie einen Finger aus und zeigte auf den Mann auf der anderen Seite des Tresens, der sie mit einem entschuldigenden Blick bedachte.

„Tut mir leid, ich wollte sie nicht erschrecken“, erklärte er reumütig. „Aber ich wusste nicht wo ich sonst hingehen sollte.“ Vor ihm auf dem Tresen stand ein kleiner Umzugskarton, aus dem ein leises Scharren und Fiepen zu hören war.

„Worum geht es denn?“, wollte ich wissen und trat an den Tresen.

Daniel nahm Madeline tröstend in die Arme. Sie zitterte am ganzen Körper.

„Naja, ich fand vorhin im Zimmer meines Sohnes diesen Welpen hier.“ Er zeigte auf den Karton. „Und ich wusste nicht was ich damit machen soll. Die Gilde kümmert sich doch um sowas, oder?“

Um herauszufinden, was genau er mit „Sowas“ meinte, öffnete ich den Karton und spähte hinein. Eigentlich wusste ich schon, was ich zu sehen bekommen würde und trotzdem war ich ein wenig überrascht, als ich daran ein Prolesbaby fand, das höchstens ein paar Tage alt sein konnte. Nicht mal die Augen waren bisher offen. Es war ein Krant, wenn ich das richtig erkannte – wie bereits erwähnt, diese Viecher vermehrten sich wie die Pest.

Kein Wunder das Madeline so ausgeflippt war. Sie arbeitete zwar in der Gilde, hatte aber panische Angst vor Proles. Naja, normalerweise verirrten sich die Abkömmlinge ja auch eher selten zu uns, eigentlich wurden wir immer zu ihnen gerufen. Mir war es jedenfalls noch nicht untergekommen, dass man einen Proles bei uns in der Gilde abgegeben hätte.

Als die Tür zum Haupteingang sich öffnete und Aziz mit seinem Team und einer kalten Abendbrise in die Gilde geweht wurde, schaute ich kurz zu ihnen hinüber, bevor ich mich wieder auf den Mann konzentrierte. „Ihr Sohn hatte ihn, sagten Sie?“

„Ja.“ Er nickte. „Er ist acht und hat gerade versucht ihm mit einem Pipette Milch zu geben.“

Aziz warf im vorbeigehen einen flüchtigen Blick in die Kiste, blieb aber stehen, als er das wimmernde Bündel sah. Das hatte zur Folge, dass auch Seth und die kleine Praktikantin sich um den Mann scharten, um herauszufinden, was da so interessant war.

Der Mann schien sich ein wenig bedrängt zu fühlen und trat eilig zur Seite, um den anderen Platz zu machen.

„Wo hat Ihr Sohn den Welpen her?“ Das war wichtig, denn wo es einen Welpen gab, gab es meist noch mehr, plus ein ganzes Rudel.

„Er sagte, so ein Mann hätte ihn ihm verkauft.“

„Was?“

„Wer verkauft den ein Proles an ein Kind?“, wollte Aziz wissen.

Der Mann zuckte nur mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Mein Sohn hat ihn vorher wohl nie gesehen, aber der Kerl erzählte ihm, wenn er ein Proles als Baby aufnimmt und ihn großzieht, wird er ihn, wenn er ausgewachsen ist, vor anderen Proles beschützen.“

Ach du Kacke. „Ich hoffe Sie haben ihm gleich gesagt, dass das nicht stimmt.“

„Natürlich. Und ich habe ihm auch gesagt, dass er sofort die Polizei rufen, oder einem Erwachsenen Bescheid geben soll, wenn er den Kerl noch einmal sieht.“

„Sie sollten auch zur Polizei gehen“, riet Aziz ihm. „Machen sie eine Anzeige gegen Unbekannt, dann können die ermitteln.“

Er nickte. „Das hatte ich sowieso vor. Ich wollte nur erst das Baby loswerden.“

Ja, das konnte ich mir vorstellen. Wenn ich in Kinderzimmer meines Kindes sowas vorfände, würde ich es auch schnellstmöglich loswerden wollen. „Okay, wir kümmern uns darum.“

„Danke.“

„Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend.“

Er lächelte etwas schief und verabschiedete sich dann mit einem Handgruß.

Sobald er draußen war, klappte ich die Kiste wieder zu. „Den bringe ich mal schnell runter und gebe ihm den Gnadenstoß.“

„Ich mach das“, rief Aziz' Praktikantin begeistert, riss mir die Kiste praktisch aus den Händen und verschwand damit eilig in den Tiefen der Gilde.

„Ähm“, machte nicht sehr gescheit. „Was bitte war das?“

Seth verzog das Gesicht. „Die Kleine ist völlig irre“, erklärte er mir. „Du warst ja schon immer hart an der Grenze, aber die schlägt echt alles.“

„Vielen Dank auch“, sagte ich trocken.

„Nein, ich meine es ernst. Sowas hast du noch nicht gesehen. Die ist richtig blutrünstig. Da krieg selbst ich eine Gänsehaut.“

„Und genau deswegen gehst du jetzt hinterher und passt auf, dass sie das Baby nicht bei lebendigem Leibe seziert.“ Aziz gab seinem Partner einen kleinen Stoß.

„Na toll“, grummelte Seth, fügte sich aber seinem Schicksal und folgte dem Mädchen.

Ich schaute ihm hinterher, bis er verschwunden war. „Ist sie wirklich so schlimm?“

Er grinste schelmisch. „Nein. Janina ist ein wenig verrückt ja, aber vor allen Dingen ist sie eifrig. Seth hat nur keine Ahnung wie er mit ihr umgehen soll, das ist sein Problem. Sie versucht ihm ständig nachzueifern und das irritiert ihn.“

„Oh je, das muss unseren großen Frauenversteher ja geradezu erschüttern.“

Grinsend klopfte er auf den Tresen. „Ich werde mal Jilin einen Anstandsbesuch abstatten.“

„Sie kann es sicherlich kaum erwarten.“

Das ließ seine Mundwinkel nur noch höher wandern.

Während Aziz seiner Wege ging und damit wahrscheinlich Jilin von Reese erlösen würde, versicherte ich mich noch mal, das mit Madeline alles in Ordnung war, bevor ich wieder an Reese' Schreibtisch zurückkehrte. Da Kjell aber schon mit dem Ausfüllen begonnen hatte und ich ihn dabei nicht stören wollte, ließ ich mich an meinem Pult rechts daneben nieder. Ich hatte auch noch etwas zu tun und das duldete keinen weiteren Aufschub. Das Verschwinden der Iubas. Klang wie ein schlechter Buchtitel.

Ich verzog das Gesicht und kramte meine Unterlagen hervor, die ich gestern hier zwischengelagert hatte. sechs der Akten war ich bereits durchgegangen, was bedeutete, dass ich bisher nicht mal die Hälfte geschafft hatte. Ich würde den Rest heute mit nach Hause nehmen müssen, wenn ich keinen konkreten Hinweis auf dem Verbleib der drei Iubas fand.

Als ich die siebente Akte gerade mal überflogen hatte, fühlte ich mich plötzlich beobachtet und als ich aufschaute, hatte ich Lexian direkt vor meinem Schreibtisch. Ich hatte ihn nicht mehr gesehen, seit er aus dem Auto gestiegen und eilig in die Gilde verschwunden war. Vielleicht hatte er mal ganz dringend aufs Klo gemusst. „Ja?“ Bitte nicht wieder irgendwelche Vorträge.

Er reagierte nicht sofort. Sein Blick glitt über die Akten auf meinem Schreibtisch. „Sie recherchieren wieder zu L.F.A.?“

„Ja.“

Er zögerte. „Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“

„Sie wollen mir helfen?“, fragte ich um sicher zu gehen, dass ich ihn auch richtig verstanden hatte. Verwundert lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück und musterte ihn sehr eingehend. „Warum?“ Bisher war er nicht unbedingt der hilfsbereite Typ gewesen. Eigentlich hatte ich in seiner Gegenwart immer den Eindruck, er suchte nach Möglichkeiten uns Steine in den Weg zu legen.

Lexian ließ sich mit seiner Antwort einen Moment Zeit, so als wählte er seine Worte wohldurchdacht. „Als man mir Ihre Akte auf meinen Schreibtisch legte, hatte ich, wie viele tausend andere Menschen, aus den Medien bereits von Ihnen gehört. Es ist kein Geheimnis, was vor drei Jahren geschehen ist und so hatte ich mir bereits eine Meinung über Sie gebildet, bevor ich Ihnen das erste Mal begegnet bin. In meinen Augen waren sowohl Sie als auch Herr Tack zwei korrumpierte Venatoren, denen Geld wichtiger ist als ein Menschenleben und ich habe mir fest vorgenommen, Sie dieses Mal nicht so einfach davonkommen zu lassen.“

Nett. „Das erklärt aber immer noch nicht, warum sie mir helfen wollen.“

„Heute habe ich Sie bei der Arbeit gesehen. Dieser Krant hätte mich erwischt, wenn Herr Tack nicht eingegriffen hätte und auch ihre Reaktion auf das kleine Mädchen … ich muss zugeben, das hatte ich nicht erwartet.“

Das klag ja fast so, als täte ihm sein Verhalten leid.

„Ich möchte mich für mein Benehmen bei Ihnen entschuldigen. Ich habe mir ein vorschnelles Urteil erlaubt und lag damit falsch.“ Er grinste leicht schief. „Nur damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich glaube noch immer, dass die Dinge mit Taid Breslin damals nicht so abgelaufen sind, wie man sie dargestellt hat, doch nun bin ich geneigt zu glauben, das nichts von dem aus kaltherziger Geldgier geschehen ist.“

Aha. „Im entschuldigen sind Sie eine echte Niete.“

„Ja, darin habe ich leider nicht so viel Erfahrung.“

Das glaubte ich ihm gerne. Trotzdem war ich mir nicht ganz sicher, was ich von seinem Hilfsangebot halten sollte – und ob er mir überhaupt helfen konnte. Am besten war das vermutlich durch eine ganz einfache Frage zu klären. „Dann glauben Sie also nicht länger, dass Reese und ich für den Überfall auf den Iuba-Transport verantwortlich sind?“

„Sagen wir so: Alles was wir gegen Sie in der Hand haben, sind Indizien.“

„Das war keine klare Antwort.“

„Nein, aber ich bin nun auch offen für andere Möglichkeiten.“

Das war vielleicht nicht viel, aber mehr als wir vorher hatten. Vielleicht war es ja doch gar nicht so schlecht den Kerl mitzuschleifen. Bei der Jagd war er zwar mehr Hindernis als alles andere, aber er war ein Außenstehender. Wenn wir jemanden mit so vielen Vorurteilen gegen uns vom Gegenteil überzeugen konnten, dann hatten wir vielleicht doch noch eine Chance heil aus der Sache herauszukommen.

„Na dann, viel Spaß damit.“ Ich schob ihm die sechs Akten zu, die ich bereits durchgesehen hatte. Ich würde ihm keinen Ordner geben, den ich selber noch nicht gesehen hatte. Nachher übersah er noch etwas wichtiges und das konnten wir uns nicht erlauben. Aber wenn er diese Akten durchschaute, stieß er vielleicht auf etwas, das ich übersehen hatte. Schaden konnte es jedenfalls nicht.

Lexian zog sich seine Jacke aus, hängte sie über die Lehne und nahm dann auf dem Stuhl mir gegenüber Platz. „Wonach genau suchen Sie?“, fragte er, während er die Akten zu sich heranzog und die erste aufschlug.

Ich schob ihm noch einen Notizblock und einen Stift zu. „Im Moment hauptsächlich nach Namen. Diese Unterlagen befassen sich alle mit L.F.A.-Fällen, bei denen es zu keiner Verurteilung gekommen ist. Meine Theorie ist, dass L.F.A. irgendwie von den Iubas Wind bekommen hat und daraufhin diesen Überfall inszenierte, um sie vor den Venatoren in Sicherheit zu bringen. L.F.A. führt aber leider keine öffentliche Mitgliederliste, also ist das die einzige Möglichkeit an Namen zu kommen.“

„Sie glauben, dass der oder die Täter Namentlich in diesen Niederschriften aufgeführt sind?“

„Vielleicht. Vielleicht führen sie mich aber auch einfach zu jemanden, der etwas weiß. Ich muss irgendwo ansetzen und die Leute in diesen Unterlagen wurden nicht nur schon namentlich in Verbindung mit L.F.A. erwähnt, sie sind auch alle noch auf freiem Fuß – also die besten Voraussetzungen dafür, weiteren Unfug zu treiben.“

„Na dann schau ich mal, was ich finde.“ Er zog die aufgeschlagene Akte etwas näher und begann sich mit ihrem Inhalt zu befassen.

Na da war ich ja mal gespannt, wie genau er arbeitete. Ich würde seine Notizen später auf jeden Fall mit meinen abgleichen. Jetzt widmete ich mich aber erstmal wieder meiner aktuellen Akte und vertiefte mich in den Bericht. Darin ging es darum, dass ein Mann einen Proles in einem Schuppen eingefangen hatte. Sobald das Vieh sicher weggesperrt war, hatte er seine Waffe geholt, um den Abkömmling durch ein Fenster zu erschießen.

Zwei junge Männer hatten das mitbekommen und bevor der Mann den Proles in die ewig Jagdgründe schicken konnte, haben die jungen Kerle ihm die Waffe weggenommen, ihn zusammengeschlagen und dann den Proles auf ihn losgelassen. Der Mann hatte nicht überlebt, aber zu einem Verfahren war es niemals gekommen, da der einzige Zeuge seine Aussage zurückgezogen hatte. Warum stand dort leider nicht.

Diese Fälle waren alle mehr oder weniger in dieser Art. Proles die aus den installierte Fallen der Stadt befreit wurden, Proles die man gefüttert hatte, in einem Fall hatte man mehrere Venatoren angegriffen.

Ich brütete etwa fünf Minuten über den Papieren, als Reese wieder auftauchte. Wie immer wenn er an seinen Schreibtisch ging, lief er direkt hinter mir vorbei und strich mir mit dem Finger sanft über den Nacken. Das hatte er sich angewöhnt, als ich endlich meinen eigenen Schreibtisch bekommen hatte und die ersten Male hatte er mich damit halb zu Tode erschreckt – wer rechnete denn auch schon mit sowas, wenn man gerade konzentriert über den Berichten hockte?

Als ich ihm das Gesicht zuwandte, zog er eine Augenbraue hoch und musterte Lexian einen Augenblick skeptisch. Ich zuckte nur mit den Schultern. „Und, wie ist es bei Jilin gelaufen?“ Das Gespräch hatte ja ziemlich lange gedauert.

Und da war er wieder, der finstere Blick.

Ich begann zu grinsen. „So gut, ja?“

Hätte er mir den Mittelfinger gezeigt, hätte mich das nicht gewundert. So aber wandte er sich einfach ruckartig von mir ab und stammte die zwei Schritte zu seinem Schreibtisch. „Du sitzt auf meinem Platz“, fuhr er Kjell sofort an.

Jup, seine Laune war definitiv im Keller.

Kjell schaute auf, zögerte kurz, machte Reese dann aber seinen Platz frei und nahm und setzte sich auf den Stuhl gegenüber, um den zweiten Bericht noch fertig zu machen.

Reese schnappte sich währenddessen den ersten Liquidationsschein und überflog die Zeilen. Irgendwas daran schien ihn jedoch zu stören. „Wer hat dir geholfen?“

Wieder zögerte er. „Ähm … Grace hat mir gesagt, wie ich ihn ausfüllen muss.“

Unzufrieden wandte Reese sich mir zu. „Was hast du mir vorhin noch erklärt?“

„Das männliche Ego wurde nicht untergraben.“ Ich zwinkerte ihm zu. „Mach nicht so einen Aufstand. Nur weil ich mit so einem Blödmann wie dir gestraft war, muss es dem Kleinen doch nicht genauso gehen.“ Mir hatte er damals nur gesagt „Füll aus“ und ist dann zu Jilin gegangen, um mich loszuwerden.

Reese grummelte nur etwas Unverständliches, griff sich einen Stift und machte sich daran den Liquidationsschein zu ergänzen.

Mehr kam da nicht? Jilin musste ihm ordentlich den Marsch geblasen haben. Schade das ich nicht dabei gewesen war.

Ich konzentrierte mich wieder auf meine Aufgabe und schrieb mir jeden Namen auf, denn ich in dem Text fand. Manchmal waren sogar Adressen dabei, was sehr hilfreich sein konnte, um die Leute zu finden. Auch die schrieb ich mir auf.

Das letzte Blatt in dem Ordner war ein Formular vom Verband, den der Sachverständiger unterschrieben hatte. Er hatte einen Stempel benutzt, der auch die Telefonnummer und die Adresse beinhaltete, aber entweder war der Stempel kaputt, oder der Kerl inkompetent, denn die Nummer unter der krakeligen Unterschrift war völlig verschmiert.

Da ich aber noch dabei war den letzten Typen vom Verband loszuwerden, den man mir aufgehalst hatte und ich nicht mehr als nötig mit dem Verband zu tun haben wollte, klappte ich die Akte einfach zu und schnappte mir die nächste.

Ich war gerade mal auf der Hälfte der ersten Seite, als ich vom Nebentisch ein „Hast du kein Zuhause?“ hörte.

Um nicht allzu neugierig zu wirken, spähte ich nur aus dem Augenwinkel nach drüben. Kjell schien auch den zweiten Bericht fertig zu haben und schaute nun Reese neugierig zu. Nun ja, jetzt nicht mehr, jetzt war er etwas unsicher, was genau er tun sollte.

Reese beantwortete die Frage natürlich umgehend. „Hau ab.“

Oh Mann, den würde ich auch nicht mehr groß werden. „Mach Feierabend Kjell, den Rest machen wir. Wir sehen uns dann morgen.“

Scheinbar hoffte er von Reese noch eine Bestätigung meiner Worte zu bekommen, doch als die nicht kam, sagte er nur „Okay“ und erhob sich von seinem Platz. Er griff sich seine Jacke, zog sie über und hob zum Abschied die Hand. „Dann bis morgen.“

Auch ich hob die Hand, doch gerade als er sich von uns abwandte, fiel mir noch etwas ein. „Moment“, rief ich und winkte ihn zu mir zurück. „Wir kommen Morgens nicht in die Gilde“, erklärte ich und griff nach einem Notizzettel, auf den ich schnell ein paar Zeilen schrieb und zur Sicherheit auch noch meine Handynummer. „Sei morgen um neun bei dieser Adresse.“ Ich reichte ihm den Zettel. „Und sei pünktlich, sonst fahren wir ohne dich.“ Das war keine leere Drohung. Zeit spielte bei Venatoren oft eine große Rolle, Verspätungen konnten wir uns nicht leisten.

„Okay.“ Er musterte die Adresse.

„Es ist nur ein paar Minuten von der Gilde entfernt“, erklärte ich und zog meinen Arm zurück. Dabei stellte ich mich besonders intelligent an und riss zwei der Akten vom Schreibtisch, die sich natürlich prompt öffneten und ihren ganzen Inhalt über den Boden verteilten.

Genervt von mir selber stieß ich den Atem aus und schob meinen Stuhl zurück. „Los hau ab, bevor Reese es sich noch mal anders überlegt.“

Dafür bekam ich ein kleines Lächeln. Er hob noch einmal die Hand und machte sich dann auf den Weg nach Hause, während ich auf die Knie ging, um das Chaos wieder zu beseitigen.

„Soll ich ihnen helfen?“, fragte Lexian.

Ich winkte ab. „Lassen Sie nur, ich schmeiße so oft Papiere runter, ich bin es schon gewohnt es wieder aufzuräumen.“ Nervig dabei war nur immer herauszufinden, was in welchen Ordner gehörte – besonders wenn man die Dokumente noch gar nicht kannte. So bekam ich wieder ein Formular vom Verband in die Hand.

Eigentlich hätte ich gar nicht weiter darauf geachtet, wenn da nicht wieder dieser Namensstempel mit der verschmierten Telefonnummer gewesen wäre.

Ich schaute genauer hin. Es war eine andere Akte, als die, die ich vorhin in der Hand gehalten hatte. Irgendwas störte mich daran, ich konnte aber nicht sagen was, also schüttelte ich dieses Gefühl ab und sammelte die Papiere wieder ein.

Gerade als ich mich zurück an den Tisch setzte, erhob Reese sich und in der nächsten Sekunde hielt er mir meinen Liquidationsschein unter die Nase. „Unterschreib.“

„Weißt du, Bitte ist immer noch ein Wort das ich gerne höre“, sagte ich, während ich den Schein nahm und meine Unterschrift auf die letzte Zeile setzte, ohne ihn noch mal zu kontrollieren. Das musste ich nicht, das hatte Reese schon getan.

Kaum dass ich den Stift abgesetzt hatte, zog er mir den Schein auch schon wieder weg. „Ich geb die nur kurz ab, dann können wir zu Nick ins Krankenhaus fahren.“

Zum Zeichen dass ich ihn verstanden hatte, hob ich nur die Hand und begann damit die Ordner zu stapeln, die ich mit nach Hause nehmen würde. Doch während ich da tat, kehrte dieses Gefühl zurück und einem Impuls folgend, nahm ich mir noch einmal die Akten, die ich bereits durchgesehen hatte und schlug die Verbands-Formulare auf. Die ersten beiden waren Nieten, der dritte jedoch … „Bingo“, sagte ich und kontrollierte auch noch die restlichen.

Lexian schaute interessiert auf. „Haben Sie etwas entdeckt?“

„Ich bin mir noch nicht sicher.“ Auch die anderen Akten nahm ich unter die Lupe und am Ende hatte ich unter den zwölf Fällen fünf, die alle von dem gleichen Mann bearbeitet worden waren: Adrian Lambrecht.

Das war seltsam, da die Unterlagen aus dem gesamten Einzugsbereich von Berlin/Potsdam waren und der Mann ja nicht überall gleichzeitig sein konnte. Andererseits, wenn er auf Fälle von L.F.A. spezialisiert war, wäre da natürlich nichts merkwürdiges dran. Trotzdem schaffte ich es nicht meine Gedanken von diesem Mann loszureißen. Ich wusste nicht warum, es war einfach so ein … Gefühl.

Mein Blick fiel auf den verschmierten Stempel. Anrufen ging nicht, aber die Adresse war hier in der Stadt. Vielleicht sollte ich dem Mann mal einen Besuch abstatten. Selbst wenn er nichts zu dem Überfall auf den Transport der Iubas beitragen konnte, so schien er sich mit der Materie doch wesentlich besser als ich auszukennen. Vielleicht konnte er mir ja einen Tipp geben, wie ich am Besten an die ganze Sache ran ging. Einen Versuch war es jedenfalls wert.

 

°°°°°

Kapitel 08

 

„Das ist Zeitverschwendung.“

„Nein ist es nicht.“

Reese warf mir vom Beifahrersitz einen genervten Blick zu. Nicht nur dass ich das Lenkrand schon wieder an mich gerissen hatte, jetzt gingen wir noch nicht mal jagen – jedenfalls nicht sofort. Kein Wunder, dass er mittlerweile seine dritte Zigarette in den letzten zwanzig Minuten rauchte. Er hasste es untätig herumzusitzen, fast so sehr, wie wenn es nicht nach seinem Willen lief. Manchmal war er wirklich schlimmer als ein kleines Kind im seiner Trotzphase.

Aber von seiner schlechten Laune würde ich mich nicht aufhalten lassen. Ich würde jetzt diesen Adrian Lambrecht für ein kleines Gespräch aufsuchen. Das würde bestimmt nicht lange dauern.

Gestern Abend hatte ich noch einmal die fünf Fälle durchgesehen, die er bearbeitet hatte. Es war seltsam, dass es bei keinem vom ihnen zu einer Verurteilung gekommen war, wo die Beweislage doch jedes Mal ziemlich eindeutig gewesen war – nun ja, zumindest zu Anfang.

Es war schon fast drei Uhr morgens gewesen, als Reese aus dem Schlafzimmer gekommen war, mir gesagt hatte ich sollte die Scheiße endlich liegen lassen und ins Bett kommen. Bis er aufgetaucht war, hatte ich gar nicht gemerkt, dass ich bereits die halbe Nacht über den Unterlagen gebrütet hatte.

Das ich pünktlich aus dem Bett gekommen war, verdankte ich allein dem Wecker, dich nicht mal meine morgendliche Dusche hatte mich richtig wach bekommen, mir steckte immer noch ein Gähnen in der Kehle.

Aber wenigstens ein gutes hatte die Nacht gehabt. Die blaue Monsterbeule war fast verschwunden. Leider hatte sie dafür einen Stich ins Violette angenommen. Bald würde ich wie ein verdammter Regenbogen aussehen.

Kjell und Lexian waren pünktlich gewesen und saßen nun beide schweigend auf dem Rücksitz. Reese hatte seinem Praktikanten vor dem Einsteigen sogar das Magazin zurückgegeben, allerdings mit den Worten: „Ziehst du noch mal so eine Nummer ab, ramme ich dir das Teil dorthin, wo niemals die Sonne hinscheint.“

Naja, wenigstens war Kjell jetzt wieder voll ausgerüstet – immer die positive Seite sehen.

„Was versprichst du dir davon überhaupt? Der Kerl ist um diese Zeit vermutlich sowieso auf der Arbeit.“

„Für diesen Fall habe ich einen Brief vorbereitet, den ich ihm in den Briefkasten werfen kann.“

Er schnaubte. „Natürlich hast du das.“

Mein Gott. „Jetzt hör auf zu meckern, wir sind doch schon da.“ Ich musste nur noch einen Parkplatz finden, was hier gar nicht so einfach war. Die Häuser waren hoch, die Straßen schmal und Parkplätze aus. Zwei Mal musste ich um den Blick kurven, bis ich endlich eine Lücke fand, die mehr schlecht als Recht als Stellplatz durchging.

Da ich Reese aber nicht weiter provozieren wollte und selber auch keine Lust hatte die Suche vorzusetzen, parkte ich unseren Wagen dort und stellte den Motor ab. „Bin gleich zurück“, sagte ich und schnallte mich ab. „Dauert sicher nicht lange.“

Reese schaute mich an, als sei ich nicht mehr ganz zurechnungsfähig. „Du glaubst wirklich, dass ich dich allein zu irgendeinem fremden Kerl gehen lasse? Kennen wir uns?“

„Dann komm halt mit.“ Ich drehte mich halb um und bat Kjell mit die Papiere zu reichen, die zwischen um und Lexian lagen. Mit meiner Beute verließ ich dann den Wagen und überquerte zusammen mit Reese die Straße.

Die Adresse lag ein paar Häuser weiter und stellte sich als ein Altbau mit mehreren Mitparteien heraus. Die Fassade war rissig und fleckig vom Regen. Ein trauriges Bäumchen stand direkt vor dem Haus und wirkte wegen dem ganzen Müll und der Hundekacke drumherum gleich noch kläglicher. Nette Gegend.

Ich rümpfte angewidert die Nase und suchte auf dem Klingelschuld nach dem Namen Lambrecht. Gab es nicht.

Irritiert schaute ich noch mal in meine Unterlagen, schaute mich nach dem Straßenschild und nach der Hausnummer um und musste feststellen, dass ich hier richtig war. Aber deswegen erschien noch lange nicht der gesuchte Name am Klingelfeld.

„Was ist?“, wollte Reese wissen. Er nahm noch einen letzten Zug aus seiner Zigarette und schnippte den Stummel dann einfach weg – machte in der Gegend auch keinen großen Unterschied mehr.

„Der Name steht nicht an der Tafel.“ Ich wandte mich ihm zu, in der Hoffnung, dass er mir das erklären konnte und wich überrascht zurück, als die Haustür vor uns sich plötzlich öffnete.

Es war eine ältere Dame mit einem Gehstock, die das Haus verlassen wollte, bei unserem Anblick aber sofort stehen blieb. „Wollen Sie rein?“

„Ähm …“, machte ich nicht sehr gescheit. Irgendwie schon. „Ich suche einen Adrian Lambrecht. Er soll hier wohnen, aber sein Name steht nicht am Klingelbrett.“ Vielleicht kam ich ja so weiter.

„Adrian Lambrecht sagen Sie?“ Sie schüttelte den Kopf. „So jemanden gibt es hier nicht.“

Das hatte ich nicht hören wollen. „Sind Sie sicher?“

„Kindchen.“ Sie richtete sich ein wenig gerade ein. Vielleicht wollte sie ja beeindruckender wirken – ich fand sie einfach nur drollig. „Ich wohne nun schon seit fast vierzig Jahren in diesem Haus. Ich dieser Zeit sind eine Menge Leute ein- und auch wieder ausgezogen, aber unter keinen von ihnen war auch nur einer gewesen, der Lambrecht mit Nachnamen hieß.“ Sie musterte mich eindringlich. „Habe ich Sie nicht schon mal gesehen?“

Vermutlich im Fernsehen. Besser ich ging nicht weiter darauf ein. „In Ordnung. Trotzdem danke für Ihre Hilfe.“

„Immer gerne, aber nun gehen Sie mir bitte aus dem Weg. Ich muss doch pünktlich sein. Ich bin mit meinen Mädchen zum Bridge verabredet.“

Ich lächelte sie an und trat zur Seite. „Dann will ich Sie nicht weiter aufhalten. Viel Glück.“

„Oh, das brauche ich nicht.“ Sie grinste verschwörerisch, wodurch ihre vielen Falten noch tiefer wurden. „Ich hatte schon immer ein gutes Händchen, wenn es ums Kartenspielen ging.“ Damit schlürfte sie langsam davon.

Ich sah ihr noch hinterher, doch je weiter sie ging, desto mehr verblasste mein Lächeln. „Wenn das stimmt was die Frau gesagt hat, gab es hier niemals einen Adrian Lambrecht.“

„Ach, vermutlich ist die Alte einfach nur senil. Sie wird sich sicher nicht an alle Namen aus vierzig Jahren erinnern können.“

„Und wenn doch?“ Ich wandte ihm das Gesicht zu. „Diese Fälle sind schon seltsam. In allen schien die Beweislage erst eindeutig, aber dann sind sie alle aus den verschiedensten Gründen gescheitert. Plötzlich verschwundene Beweismittel, zurückgezogene Zeugenaussagen, Verfahrensfehler. Dann wurden sie alle auch noch von ein und demselben Mann bearbeitet, ein Mann, der nun nicht aufzufinden ist.“

Reese ließ meine Worte kurz wirken, schüttelte dann aber den Kopf und wandte sich zum Gehen. „Vielleicht ist er einfach nur umgezogen. Ruf im Büro des Verbandes an und frag nach ihm. Hinterlass ihm eine Nachricht, damit er dich zurückrufen kann.“

„Keine schlechte Idee“, musste ich ihm zugute halten und kramte noch beim Gehen mein Handy heraus. Die Nummer vom Büro zu bekommen, war nicht weiter schwer. Nur ein Anruf bei Madeline und schon hatte ich sie. Doch dann wurde es ein wenig komplizierter. Die Frau die den Anruf entgegen nahm, wollte verständlicherweise weder die Nummer, noch die Adresse von Adrian Lambrecht herausgeben. Ich musste meinen ganzen Charme spielen lassen, dass sie im System nach ihm suchte, um ihm einen Nachricht hinterlassen zu können, doch was ich dann erfuhr, ergab einfach keinen Sinn.

„Was soll das heißen, Sie haben keinen Adrian Lambrecht in ihrem System?“, fragte ich und eilte mit einem schnellen Blick nach links und rechts wieder über die Straße. „Sie müssen einen haben. Ich halte Unterlagen in der Hand, die er unterschrieben hat.“

„Tut mir leid“, sagte sie, hörte sich aber nicht im geringsten so an, als würde es ihr leid tun. Sie klang eher genervt von mir. „Bundesweit gingt es niemanden mit diesem Namen im System, weder beim Verband, noch bei den Venatoren. Sind Sie sicher, dass Sie im richtigen Bezugsgebiet anrufen?“

„Ja bin ich.“ So viele Büros für Berlin/Potsdam gab es nämlich nicht. Ich öffnete die Wagentür und wollte mich wieder hinters Lenkrad setzten, doch Reese schob mich eiskalt zur Seite. Mit einem genervten Blick in seine Richtung. Ging ich wieder um den Wagen herum.

„Dann kann ich Ihnen im Moment leider nicht weiterhelfen. Wenn Sie genaueres zu den Fällen wissen möchten, an denen Sie gerade arbeiten, müssten sie zu den Sprechzeiten zu uns ins Büro kommen, da kann Ihnen sicher jemand helfen.“

Das bezweifelte ich. „Gut, danke für Ihre Hilfe. Wiederhören.“ Mit einem Plumps ließ ich mich in den Sitz fallen.

„Wiederhören.“ Sie legte als erste auf.

Ich ließ mein Handy zusammen mit den Unterlagen in meinen Schoß sinken und öffnete verwirrt die oberste Akte, um mich noch einmal zu versichern, dass ich auch wirklich den richtigen Namen hatte – nicht das ich daran zweifelte.

„Und?“, fragte Reese.

„Fehlanzeige. Im Verband ist niemand unter diesem Namen bekannt.“ Da, da stand es, schwarz auf weiß mit Adresse: Adrian Lambrecht. Ich hob das Formular hoch und hielt es Reese vor die Nase. „Also wer hat das geschrieben?“

Reese zuckte nur mit den Schultern.

„Was ist denn los?“, wollte Lexian wissen.

Ich drehte mich auf meinem Sitz halb herum. „Dieser Kerl von denen ich Ihnen gestern erzählt habe, er existiert nicht.“

„Der Sachbearbeiter?“

„Genau der. Die Adresse ist falsch und im Verband hat man noch nie etwas von ihm gehört.“

„Vielleicht kann ich ja helfen, Wie heißt er denn?“

Das war die Idee! Da er selber im Verband arbeitete, hatte er natürlich viel bessere Möglichkeiten als ich. Es war vielleicht doch ganz praktisch, sich mit ihm gut zu stellen. „Sein Name ist Adrian Lambrecht.“

Lexian richtete sich ein wenig gerader auf. Es war eine kaum wahrnehmbare Bewegung und hätte ich in diesem Moment geblinzelt, wäre sie mir wohl entgangen, aber scheinbar sagte ihm der Name etwas. „Kennen Sie ihn?“

„Nein“, musste er zugeben und hob nachdenklich die Hand ans Kinn. „Aber ich glaube ich habe den Namen schon einmal gehört. Geben Sie mir ein paar Tage, dann schaue ich mal, was ich so herausfinden kann.“

„Und du solltest Jilin darüber in Kenntnis setzten“, warf Reese ein und forderte Lexian mit einem Blick durch den Rückspiegel auf, ihm nur zu widersprechen, wie er es so gerne tat – die beiden würden wohl niemals Freunde werden. „Wenn es stimmt was du sagst, ist mit den ganzen Fällen etwas nicht ganz koscher. Das muss überprüft werden.“

Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. „Ich rede heute Abend in der Gilde mit ihr. Dann kann ich auch gleich noch …“ Meine Worte wurden durch das Klingeln von Reese Handy unterbrochen.

Er zückte es und hielt es sich ans Ohr. „Ja?“ Einen Moment Stille. „Schick die Daten auf Shanks' Handy, wir sind schon auf dem Weg.“

Es dauerte nicht mal eine halbe Minute, da rasten wir bereits mit Blaulicht und Sirene durch die Straßen.

„Wo geht es hin?“, fragte ich und verstaute die Unterlagen wieder auf der Rückbank. Kjell half mir netterweise, sodass ich mich endlich anschnallen konnte.

„Spanndauer Damm Ecke Gotah Alle. Ein Schuldbus ist von der Fahrbahn abgekommen und in einen Baum gekracht, als er einer Meute von Toxrins ausweichen wollte, die auf die Straße gerannt sind.“

Oh, verdammte Scheiße, nein. „Toxrins?“ Ein Bus voller Kinder und eine Meute giftiger Katzen von der Größe eines Hundes. Moment, was hatte er gesagt? „Eine Meute? Toxrins sind Einzelgänger.“

„Ich weiß.“ Sein Kiefer spannte sich an. „Aber die Viecher scheinen das nicht zu wissen. Es wurde von mehreren Stellen bestätigt, es sind mindestens ein halbes Dutzend von denen.“

Ich hasste Proles, ich hasste sie aus tiefsten Herzen, besonders wenn sie sowas taten und nicht nach den Regeln spielten. Toxrins waren verdammt noch mal Einzelgänger, die hatten einfach nicht in einer Meute aufzutauchen, die waren auch so schon gefährlich genug. „Wir brauchen Verstärkung.“

„Ist schon unterwegs.“

Dann konnten wir jetzt nur noch auf das Beste hoffen.

 

°°°

 

Die Sirene auf unserem Dach sorgte nicht nur dafür, dass die anderen Autofahrer uns platz machten, sondern auch dass man uns bereits von Weitem hörte. So wurde die Straßensperre der Polizei so geöffnet, dass wir einfach hindurchfahren konnten.

„Kein Einsatz von Schusswaffen, oder nur im äußersten Notfall, wenn dir keine andere Wahl mehr bleibt“, wies ich Kjell an. „Sonst riskierst du Querschläger, die die Kinder treffen könnten.“

„Okay.“

Eine zweite Sirene gesellte sich zu unserer und ein Blick in den Seitenspiegel verriet mir, dass Aziz und sein Team direkt hinter uns waren. Was für ein Glück, sie mussten gerade in der Nähe gewesen sein.

„Da wir es hier mit Toxrins zu tun haben, gelten ein paar besondere Regeln. Kein Einsatz von Gift, das funktioniert bei den Viechern nicht. Wir arbeiten mit Betäubungswaffen und sammeln sie anschießend ein, um sie hinterher zu eliminieren. Aber auch da ist Vorsicht geboten. Handschuhe sind Pflicht und komm nicht an die Krallen.“

Er nickte, zum Zeichen dass er verstanden hatte.

„Und pass um Gottes Willen auf, dass die dir nicht zu nahe kommen. Wir haben zwar Gegenmittel dabei, aber wir müssen es ja nicht darauf ankommen lassen. Achte auch nicht nur auf das was du vor der Nase hast. Die Viecher sind schnell. Sie können in Bäumen sitzen, unter Autos, ja sogar auf dem Schulbus.“

„Klar, ich werde meine Augen überall haben.“

Das blieb zu hoffen. So ein Toxrin war zwar gerade mal einen knappen Meter lang – mit Schwanz sogar ein Meter fünfzig – aber diese Proles gehören zu den gefährlichsten aller Abkömmlinge. Wenn man gekratzt wurde und einem nicht innerhalb von Minuten das Gegengift injiziert wurde, konnte man im besten Falle nur noch sterben. Wenn man gegen jede Wahrscheinlichkeit doch überlebte, blieb von einem kaum mehr als ein hirnloser, sabbernder Krüppel, der zu so gut wie gar nichts mehr zu gebrauchen war. Mir wäre es in so einem Fall lieber zu sterben, anstatt den Rest meine Lebens ein schwerer Pflegefall zu sein.

„ Da vorne ist es“, verkündete Reese und nahm ein wenig Gas weg.

Vor uns tauchten Polizei und Rettungswagen auf. Der Spanndauer Damm war zu beiden Seiten gesperrt und freigemacht worden und der Verkehr war komplett zum er Erliegen gekommen, doch als man unsere Sirene hörte, wurde die Absperrung sofort geöffnet, sodass wir ohne Anhalten durchfahren konnten.

Die Rettungskräfte würden sich vorerst im Hintergrund halten, bis wir die akute Bedrohung beseitigt hatten und das Gebiet für sie freigaben.

Direkt vor uns tauchte der Unfallort auf und meine schlimmsten Befürchtungen wurden bestätigt. Der Schulbus stand quer über die Straße, der Motorraum hatte sich um einen Baum gewickelt. Dahinter waren mehrere Wagen, die nicht mehr rechtzeitig hatten bremsen können, in einem Auffahrunfall verwickelt. Ein Mann war dabei durch seine Windschutzscheibe geschleudert worden. Wenn ihn das nicht getötet hatte, dann spätestens die beiden Toxrins, die auf ihm hockten und ihr verspätetes Frühstück genossen.

Aber die beiden waren nicht die einzigen. Bis jetzt hatte ich noch auf einen Irrtum gehofft, aber es war wirtlich eine ganze Meute von Toxrins. Ich sah fünf, sechs, mindestens sieben von den katzenartigen Proles. Sie saßen auf den Autos, liefen über die Straße und einer huschte unter den Bus, als Reese mit quietschenden Reifen abbremste. Schlanke Körper mit langen Beinen und karminrotem Fell. Beine und Gesicht waren schwarz und mit kürzerem Fell abgesetzt. Wie eigentlich alle Proles, waren auch diese wunderschön anzusehen. Naja, zumindest wenn sie nicht gerade einen Menschen verspeisten.

Einen Vorteil ihnen gegenüber hatten wir jedoch. Die ganze Rasse der Toxrins litt an einem Gendefekt. Die Proles waren nahezu blind. Leider hatte er dafür umso größere Ohren, die wirklich sehr gut hören konnten. Deswegen wurden sie wohl auch aufgeschreckt, als wir mit den lauten Sirenen ankamen.

Ein paar Fauchten und stellten ihr Fell auf. Zwei flitzen unter die Autos. Der eine Toxrin an der Leiche, schien seinen Posten nicht verlassen zu wollen. Er schlug die Krallen warnend in unsere Richtung.

Direkt hinter uns hielt Aziz.

„Das wird nicht einfach“, murmelte ich und schnallte mich eilig ab. Ich drehte mich auf meinem Sitz herum und kletterte über zwischen den Sitzen hindurch auf die Rückbank. Es ging schneller, wenn ich die Ausrüstung raus suchte, als den Kerlen zu erklären, was genau wir brauchten und wo was lag.

„Gib mir die kleine Waffe“, verlangte Reese und stellte die Sirene ab. Die plötzliche Ruhe war fast ein Schock. „Ich hasse das Gewehr.“

Als wenn ich das nicht wüsste. Ohne auf unsere beiden Anhängsel Rücksicht zu nehmen, kroch ich in den Kofferraum und öffnete den installierten Waffenschrank auf der rechten Seite. „Lexian, wollen sie auch eine Waffe, oder bleiben Sie im Wagen?“

„Er bleibt im Wagen“, sagte Reese, ohne ihm überhaupt die Chance zu geben, zu antworten. „Ich habe gestern gesehen, wie gut er schießen kann.“

„Auch wenn Herr Tack mal wieder das Feingefühl eines Elefanten an den Tag legt, hat er doch recht. Ich bleibe besser im Auto.“

Okay, also drei Waffen.

Da auch ich lieber mit der kleinen Schoss und Kjell mit dem Gewehr sicher nicht geübt war, nahm ich drei Handfeuerwaffen. In dem Safe daneben war die Munition. Drei Schachteln mit je für Pfeilen. Hoffentlich reichte das. „Gib das nach vorne zu Reese“, wies ich Kjell an und überreichte ihm eine der Waffen und eine Schachtel. Sobald er das erledigt hatte, gab ich ihm seine Ausrüstung, hielt sie aber noch einen Moment fest. „Weißt du wie man damit umgeht?“ Die wurden nämlich ganz anders geladen, als unsere Standard M19.

Kjell nickte. „Wir hatten das im Unterricht.“

Na dann konnte ja nichts mehr schiefgehen. „Und denk dran, erst zielen, dann schießen. Drück nicht ab wenn du rennen musst, dann ist ein Treffer fast unmöglich.“

„Verstanden.“

Während ich noch dabei war meinen ersten Betäubungspfeil in die Waffe einzulegen, stieß Reese bereits die Wagentür auf und stieg aus.

„Verdammt, dass er nie warten kann“, fluchte ich und steckte mir die anderen Pfeile samt Schachtel in die Jackentasche. Solange ich einen Schuss in der Waffe hatte, war alles okay. Gefährlich wurde es erst, wenn ich nachladen musste.

„Ich bin so weit.“

„Na dann raus mit dir und denk dran, Schusswaffen nur im äußersten Notfall.“

Kjell nickte noch mal und verließ den Wagen. Ich folgte ihm eilig über die Lehne des Rücksitz und schlug die Tür dann schnell hinter mir zu, damit Lexian im Wagen sicher war.

Zeitgleich gingen auch die Wagentüren von Aziz' Auto auf und die erste die hinaus stürmte war Janina. „Kommt her ihr Mistviecher, jetzt geht es euch an den Kragen!“, schrie sie und nahm sofort einen fauchenden Toxrin auf einem Autodach ins Visier.

Au Backe, jetzt verstand ich was Seth meinte. Sie war wirklich … eifrig. Egal, dafür hatte ich jetzt keine Zeit.

Eilig lief ich um unseren Wagen rum. Kjell stand mit Aziz' Team bei den Autos und beschoss gerade das Vieh auf dem Leichnam. Reese war auf die andere, von hier aus nicht einsehbare Seite des Busses verschwunden. Alleine. „Blödmann.“

Ich setzte mich ganz automatisch in Bewegung und gerade als ich um die Ecke bog, sah ich wie eines dieser Mistviecher unter dem Wagen hervorschoss und direkt auf meinen Mann zusprang. Der war jedoch gerade damit beschäftigt seine Waffe nachzuladen.

„Nach rechts!“, rief ich nur, hob die Waffe und zielte auf den Punkt, wo das kleine Biest landen würde.

Reese drehte sich geistesgegenwärtig weg. Ich schoss und der Pfeil traf den Toxrin in der Flanke.

Das Vieh fauchte, torkelte zur Seite und stolperte über die eigenen Pfoten. Reese verpasste ihm einen kräftigen Tritt, sodass es gegen den Schulbus flog und dann bewusstlos zu Boden ging.

Hinter dem Glas tauchten ein paar kleine Gesichter auf.

„Verschwindet vom Fenster!“, fauchte ich die Kinder an und begann damit meine eigene Waffe nachzuladen.

Sofort verschwanden sie wieder.

Von der anderen Seite des Busses hörte ich Janina aufschreien und Seth lautstark fluchen.

„Da ist mindestens einer unter dem Bus“, erklärte Reese. Der hatte echt die Ruhe weg.

„Hustensaft?“ Ich steckte die Schachtel zurück in die Tasche und legte einen neuen Pfeil ein.

„Nein. Gib mir Deckung.“ Ohne meine Antwort abzuwarten, legte er sich bäuchlings auf den kalten Boden und spähte mit schussbereiter Waffe in den Zwischenraum. Die Reaktion kam prompt. In der ersten Sekunde hörte ich nur das Kratzen von Krallen auf dem Asphalt, in der nächsten schossen zwei von den Viechern unter dem Bus hervor.

Es war Jahrelange Übung und großes Glück, dass wir in dem Moment nicht auf die selbe Beute zielten. Es war nur noch das vertraute Pffft der Betäubungswaffen zu hören, dann steckten die Pfeile auch schon in den beiden Toxrins drin.

Ich sprang ein Stück zurück und Reese musste sich wegdrehen, da das Mittel ein paar Sekunden brauchte um zu wirken.

Das eine Vieh gab ein Geräusch wie ein kränkliches Maunzen von sich, versuchte noch auf Reese zuzuspringen, doch da wirkte das Mittel in seinem Blutkreislauf auch schon und raffte es zu Boden.

„Das war …“

Ein dritter Troxin zischte unter dem Bus hervor und bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte, was ich da tat, trat ich einfach zu und schleuderte das Vieh damit zu meinem Entsetzen in Reese Richtung. Der riss nur noch die Augen auf, rollte sie eilig aus dem Weg und kam wieder auf die Beine.

Ich ließ einfach mein Waffe fallen, griff nach der M19 und drückte ab.

Der Knall schallte in meinen Ohren, im Bus schrien ein paar Kinder auf und der Kopf des Proles … es war kein schöner Anblick.

Reese warf mir einen beleidigten Blick zu. „Glaubst du nicht, es wäre einfacher mit mir zu sprechen, wenn dich etwas stört?“

„Ha ha“, machte ich nur und versuchte meinen Puls zu erklären, dass er sich wieder beruhigen konnte. Als wenn ich das aus purer Boshaftigkeit gemacht hätte. Ich hatte mir das Vieh nur vom Leib halten wollen. „Ist ja nicht meine Schuld, wenn du da faul auf dem Boden herum liegst.“

Reese ließ sich in die Hocke sinken und späte noch mal unter den Bus, während ich meine Waffe wieder aufklaubte und einen neuen Dart einlegte.

Auf der anderen Seite vom Bus fluchte Seth erneut sehr einfallsreich.

„Wie viele von den Viechern sind hier denn noch?“ Wir allein hatten gerade schon fünf erlegt.

„Hoffentlich nicht mehr allzu viele. Uns geht sonst die Munition aus.“ Mit einem kurzen Blick nach oben aufs Dach, schlug Reese den Weg links um den Bus ein, um auch den Gehweg und die Häuser genauer unter die Lupe zu nehmen.

Ich folgte ihm mit wachsamen Blicken, während ich auf die Geräusche von den anderen lauschte. Janina stieß einen Jubelschrei aus, während lautes Fauchen zu hören war. Ich späte vorsichtig unter die zerbeulte Motorhaube des Busses, aber dort war nichts, was da nicht sein sollte.

Erst als wir wieder bei den zerbeulten Autos waren, nahm ich wieder ein Bewegung war.

Reese schoss zuerst, doch der Toxrin auf der Motorhaube sprang leichtfüßig zur Seite und fauchte warnend, bevor er zum Sprung ansetzte.

Ich erwischte das Vieh mitten in der Luft und musste eilig zur Seite springen, um nicht von dem Körper erwischt zu werden. „Das sind vier für mich und zwei für dich. Du lässt nach, Hellboy.“

Das er mich einfach ignorierte, wunderte mich nicht im Geringsten. Aber er tat es hauptsächlich, um wachsam zwischen die verbeulten Autos zu spähen. Dabei lud er seine Waffe nach.

Auch ich machte mich daran die Zwischenräume zu untersuchen, genau wie die anderen.

Zehn Minuten später hatte Seth noch ein Toxrin erlegt und die Leute die in den Wagen saßen, zappelten nervös und angespannt auf ihren Sitzen herum. Sie wollten raus, oder besser noch, weit weg, aber solange wir noch zwischen den Fahrzeugen umherschlichen, wussten sie, dass es nicht sicher war.

Als wir zwischen den Autos keine mehr fanden, machten wir uns daran die nähere Umgebung abzusuchen, aber wie es schien, hatten wir alle erwischt. Wir entdeckten jedenfalls keinen mehr.

„Ich werd den Rettungskräften Bescheid sagen, dass sie anrücken können“, sagte Aziz und entfernte sich ein Stück von uns, um in Ruhe telefonieren zu können.

Janina huschte sofort hinterher, was Seth ein ungläubiges Kopfschütteln entlockte.

„Dann mache ich mich mal daran, unsere Beute zusammenzusuchen.“ Denen mussten wir schließlich noch die Lebenslichter ausknipsen, denn im Moment waren die meisten von ihnen einfach nur betäubt.

„Kjell soll das erledigen“, wies Reese mich an und tastete in seinem Mantel nach seinen Zigaretten. Als er nicht sofort fündig wurde, runzelte er die Stirn, bis er sie in der anderen Jackentasche fand. „Der kann sich auch mal nützlich machen.“

Oh je, noch so ein Meister in Todesblicken. „Ich habe mich bereits nützlich gemacht. Zwei von den Viechern gehen auf meine Kappe.“

„Zwei, toll“, lobte Reese seinen Praktikanten sarkastisch, ließ dabei aber unerwähnt, dass er selber auch nur zwei ausgeschaltet hatte. „Die viel interessantere Frage lautet doch, wie viele Darts hast du für die zwei gebraucht?“

Dieses Mal zögerte Kjell einen Moment. Wahrscheinlich erinnerte er sich gerade daran, wie Reese ihm gestern das Magazin weggenommen hatte. „Drei“, sagte er dann vorsichtig.

Na sieh mal einer an, die Standpauke hatte scheinbar geholfen.

Reese ließ das unkommentiert. Still griff er in seine Manteltasche, um sein Feuerzeug hervorzuholen.

Langsam, um ja keine hektischen Bewegungen zu machen, die die Aufmerksamkeit auf mich ziehen könnten, lehnte ich mich ein wenig zu Kjell hinüber. „Das hast du nicht von mir, aber er hat auch einmal daneben geschossen“, verriet ich ihm in perfektem Bühnenflüstern.

Mein Gott, den Blick den ich dafür von Reese bekam, war echt mörderisch. Den sollte er sich patentieren lassen. Niemand bekam den so gut hin wie er. Aber wenigstens Kjell grinste.

„Ich glaub ich hole mal die Nagelpistole aus dem Wagen.“ Ja, dann ergriff ich halt die Flucht, und? Manchmal war Rückzug eben doch die beste Verteidigung.

Währen Kjell sich also daran machte, unsere Beute zusammenzutragen, machte ich mich über den Kofferraum unseres Wagens her. Lexian schaute mir interessiert dabei zu, wie ich die Nagelpistole, die dicken Lederhandschuhe und eine wirklich stabile Taschenlampe – das Ding war wie ein Knüppel – aus unserer Ausrüstung heraussuchte.

Zwischenzeitlich trafen mit lauten Sirenen und rotierenden Blaulichtern die Reduktionskräfte rund um uns herum ein. Sogar ein Bus war angefordert worden, um die Kinder sicher wegzuschaffen. Er parkte direkt neben den zerbeulten Autos, aus denen die Feuerwehrleute noch immer die Leute befreiten.

„Alles gut gelaufen?“

Ich nickte. „Wir müssen nur noch aufräumen und uns mit der Polizei absprechen, dann sind wir hier fertig.“

„Gute Arbeit.“

Zwar hatte ich sein Lob nicht nötig, aber da er es nur nett meine, schenkte ich ihm ein mageres Lächeln und sammelte dann meine Sachen zusammen.

Gerade als ich zu Reese zurückkehrte, der wachsam dabei zuschaute wie ein paar Feuerwehrleute eine verkeilte Autotür zu öffnen versuchten, legte einer der Sanitäter ein weißes Laken über den Leichnam des toten Mannes. Ihm war nicht mehr zu helfen.

„Kaum zu glauben, dass bei so vielen Toxrins nichts weiter passiert ist, oder?“

Reese sog einmal kräftig an seiner Zigarette und entließ den Rauch dann in die kalte Winterluft. „Beschrei es nicht.“

Mit je zwei Schwänzen in jeder Hand, zerrte Kjell die bewusstlosen Toxrins zu uns hinüber und ließ sie dann neben Reese einfach zu Boden fallen. Seine eigenen beiden lagen schon dort.

„Hinter dem Wagen liegt auch noch einer“, teilte ich ihm mit und hockte mich neben die Proles auf den Boden. Die Taschenlampe legte ich neben mir ab, die Handschuhe zog ich über.

Reese beobachtete mich, während ich eine oberflächliche Untersuchung an den Abkömmlingen vornahm.

Es war ein seltsames Gefühl, dass zu tun, solange sie noch lebten. Ihre Brustkörbe hoben und senkten sich immer wieder. Eine machte in komisches, schnatterndes Geräusch im Schlaf und immer mal wieder zuckte ein Ohr.

Als ich mit allen durch war und Kjell auch den letzten gebracht hatte, ließ ich mich stirnrunzelnd zurück auf die Hacken sinken. „Das sind alles Weibchen.“

Reese hob eine Augenbraue. „Alles?“

„Naja, ich hab den Toten noch nicht untersucht und auch nicht die von Aziz, aber das hier sind alles Weiber.“ Was die ganze Sache noch seltsamer machte. Die weiblichen Toxrins waren viel aggressiver als die männlichen. Dass die sich mal zu einer Gruppe zusammenfanden … der Gedanke war einfach nur absurd. „Ich schaue mir mal noch die anderen Proles an“, sagte ich und griff nach der Nagelpistole.

„Lass das Kjell machen.“ Er nahm seinen Praktikanten scharf ins Auge. „Falls der überhaupt weiß, wie man sowas handhabt.“

„Klar weiß ich das“, erwiderte der sofort trotzig. „An den Kopf halten und abdrücken.“

Na dann. Ich zog meine Handschuhe aus und wollte sie gerade an Kjell weiterreichen, als ein aufgeregtes Stimmchen rief: „Warte, ich helfe dir!“ Und im nächsten Moment wurden mir die Handschuhe auch schon von Janina entrissen. Verdutzt starrte ich sie an. Wo kam sie denn jetzt auf einmal her?

Reese gab ein verärgertes Geräusch von sich, nahm ihr die Handschuhe wieder weg und schlug sie Kjell vor die Brust. Dann funkelte er das Mädchen warnend an. „Wie kommst du darauf, dass du helfen darfst?“, fragte er sie mit all der Herablassung, die er einzig für weibliche Venatoren im Praktikum reserviert hatte. „Geh wieder nach Hause mit deinen Puppen spielen, bevor du dir noch wehtust.“

Oh mein Gott! Es war vielleicht nicht nett das zu denken, aber als Janina versuchte böse zu gucken, sah das einfach nur niedlich aus. Das behielt ich besser für mich.

„Ich weiß wer du bist. Reese Tack, der große, böse Venator.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und hob herausfordernd das Kinn. „Aber mir machst du mit deiner harter-Mann-Nummer keine Angst. Das ist doch alles nur dummes Getue für dein Image.“

Ach du … „Ähm“, machte ich nicht besonders gescheit und hob eine Hand. Keine Ahnung was ich damit bezweckte, aber es war sowieso schon zu spät. Reese schaute sie nur einen stummen Moment an, dann packte er sie am Kragen ihrer Jacken und zog sie dich vor sein Gesicht.

Janina gab ein überraschtes und sehr mädchenhaftes Quieken von sich.

„Fordere mich besser nicht heraus, du abgebrochener Zahnstocher.“ Ganz leise sagte er diese Worte zu ihr, was sie nur noch bedrohlicher erscheinen ließ. „Das Ergebnis wird dir nicht gefallen.“ Mit einer ruckartigen Bewegung ließ er sie wieder los, wodurch Janina ins stolpern geriet.

„Warum stänkerst du eigentlich immer mit meinen Praktikanten?“, fragte Aziz. Er war hinter mich getreten, sodass ich ihn bisher nicht bemerkt hatte.

„Weil du offensichtlich nicht in der Lage bist, sie richtig zu erziehen.“ Reese nahm einen tiefen Zug an seiner Zigarette. „Schick das Mädchen nach Hause, die hat hier sowieso keine Zukunft.“

Janina plusterte sich auf und wirkte damit einen halben Zentimeter größer. „Natürlich habe ich die! Ich werde noch genauso gut wie sie!“ Ihr ausgestreckter Finger richtete sich auf mich.

Ähm … okay.

Reese schnaubte mit echter Erheiterung in der Stimme. „Kleine Mädchen haben immer so große Träume“, verspottete er sie.

Oh je, gleich würde sie wie ein Vulkan in die Luft gehen.

„Janina, geh rüber zu Seth und hilf ihm“, wies Aziz sie an, um dieses Trauerspiel zu beenden.

Sie warf Reese noch einen wütenden Blick zu und stampfte dann davon.

„Wie schön zu sehen, dass du nun auch noch andere Praktikanten mit deiner einnehmenden Art anspornst“, schmunzelte ich. „Jeden Tag eine gute Tat.“

Als Aziz dann auch noch leise lachte, wirbelte Reese zu seinem Praktikanten herum. „Kjell, an die Arbeit, oder brauchst du noch eine Extraeinladung?!“

Und da war die Laune wieder im Keller.

Immer noch schmunzelnd wandte ich mich Aziz zu. „Hast du deine Beute untersucht?“

„Nur kurz drüber geschaut. Warum?“

„Unsere sind alles Weibchen.“

Das ließ ihn kurz stützen. „Unsere auch.“

Nein, das war gar nicht gut. Wenn sich weibliche Toxrins zu Rudeln zusammenfanden, konnte das nur böse enden. „Noch irgendwelche besonderen Merkmale?“

Die Polizei war mittlerweile dabei, die Kinder von einem Bus in den anderen umzuladen. Es waren sogar ein paar Lehrerinnen dabei. Eine von ihnen versuchte ein weinendes Kind zu beruhigen, bevor sie mit ihm zusammen in den neuen Bus stieg. Die Kleinen konnten alle noch älter als acht oder neun Jahre sein. Wenigstens ging es ihnen allen gut.

„Nichts auffälliges. Aber ich habe schon mit Judd gesprochen. Seine Leute werden einige von den Viecher obduzieren und uns dann den Bericht zuschicken.“

Ich nickte. „Hoffen wir einfach, dass das ein einmaliges Phänomen war. Ich habe nämlich keine …“ Die nächsten Worte blieben mir regelrecht im Halse stecken. Meine Augen wurden groß vor Unglauben und mein Herz schlug einen Hauch schneller.

Zusammen mit einem kleinen Jungen an der Hand stieg gerade eine junge Frau aus dem Schulbus. Sie war äußerst feminin, mit einem sehr hübschen Gesicht und Kurven an genau den richtigen Stellen. Von der Größe her reichte sie nicht ganz an mich heran. Aber da wohl auffälligste Merkmal an ihr, war wohl das lange, rote Haar, das unter der grauen Bommelmütze hervorschaute.

„Wynn“, flüsterte ich so leise, dass die Männer es auf keinen Fall gehört haben konnten, doch da ich so abrupt verstummt war, wandte Reese sich herum um zu sehen, was meine Aufmerksamkeit erregt hatte. Sofort verhärtete sich sein Gesichtsausdruck.

Reese war meiner kleinen Schwester nur einmal persönlich begegnet. Das war an dem Tag gewesen, als Taids Kreationen in mein Haus eingebrochen waren und wir sie völlig verängstigt im Keller gefunden hatten – mit ihr gesprochen hatte er jedoch noch nie. Doch aufgrund ihres ablehnenden Verhaltens mir gegenüber, konnte er sie nicht ausstehen und als ich nun einen Schritt in ihre Richtung machte, schoss seine Hand blitzschnell hervor und packte mich am Arm.

Irritiert schaute ich zu ihm auf. Er tat mir nicht weh und ich hätte mich mit Leichtigkeit befreien können, doch ich verstand nicht, warum er mich festhielt.

„Tu es nicht“, sagte er eindringlich.

Aziz' Blick glitt interessiert zwischen uns hin und her und wandte sich dann zu Wynn um. Auch sie hatte mich mittlerweile bemerkt. Vielleicht hatte sie mich aber auch schon vom Bus aus gesehen, schließlich war ich ständig drumherum gelaufen, als ich die die Toxrins gejagt hatte.

Leider schien sie über diese Begegnung nicht halb so erfreut, wie ich mir das gewünscht hätte.

„Du wirst es bereuen“, sagte Reese eindringlich. Er wusste genau was ich wollte.

Aber ich konnte mir diese Gelegenheit nicht einfach entgehen lassen. Ich war ihr seit Jahren nicht mehr so nahe gewesen und sie war doch meine kleine Schwester. Vielleicht … vielleicht war sie endlich bereits mit mir zu sprechen. Ich musste es jedenfalls versuchen.

„Ich komm schon klar“, sagte ich zu Reese und befreite mich von seinem Griff. Und damit der Argwohn aus seinem Gesicht verschwand, gab es auch noch einen kleinen Kuss auf die Wange. „Bin gleich wieder da.“ Doch als ich mich umdrehte, begann mein Herz sofort etwas schneller zu schlagen und ich zögerte. Ich wollte so gerne mit ihr sprechen, aber ich fürchtete mich auch davor, dass sie mir wieder die Tür vor der Nase zuschlagen würde – metaphorisch gesprochen.

Jetzt reiß dich mal zusammen! Du kannst das, also beweg dich!

Okay, dann mal los.

Leider wurden mit jedem Schritt den ich auf sie zumachte, die nervösen Energien in mir stärker und als Wynn dann auch noch bemerkte, was ich da vorhatte, wurde ihre Lippen schmal und sie wandte sich demonstrativ ab.

Einen Moment wurde ich unsicher, doch dann raffte ich all meine Entschlossenheit zusammen. Ich würde mit ihr reden, wenn auch nur, um sie zu fragen, ob bei ihr alles in Ordnung war. Doch dann sagte sie etwas zu dem kleinen Jungen an ihrer Hand und machte sich auf den Weg zu dem anderen Bus.

„Nein, warte!“, rief ich und lief etwas schneller.

Zuerst schien Wynn so tun zu wollen, als wenn sie mich nicht gehört hätte, aber dann wurde sie langsamer, bis sie ganz stehen blieb.

Ich war vielleicht noch zwei Meter von ihr entfernt, als meine Schritte ins Stocken gerieten und ich mich zwingen musste weiterhin ein Bein vor das andere zu setzen. Das hätte eigentlich nicht so schwer sein dürfen, aber plötzlich schien mir Blei an den Füßen zu kleben.

Es wurde auch nicht besser, als ich die Entfernung zwischen uns auf eine annehmbare Distanz reduziert hatte. Sie sah mir direkt ins Gesicht, schien aber nicht gewillt etwas zu sagen und mir fehlten im ersten Augenblick einfach die Worte. Nein, das war falsch, es waren einfach zu viele. Ich wollte wissen was sie so gemacht hatte und wie ihr Leben war und ihr sagen, dass ich sie vermisste und, mein Gott, da war einfach zu viel. Am Ende entschied ich mich für eine ganz einfache Frage. „Und, wie geht es dir?“

Der kleine Junge an ihrer Hand beugte mich neugierig.

„Meinst du im Augenblick, oder im Allgemein?“ Ihr Ton war kühle Distanziertheit.

„Beides?“ Auf meinen Lippen erschien ein tapferes Lächeln. Ich würde mich von ihr nicht so einfach in die Flucht schlagen lassen. „Du siehst jedenfalls gut aus.“

„Ich weiß.“

Okay so kam ich dann wohl nicht weiter. „Ganz schöner Zufall, dass wir uns hier getroffen haben, oder?“ Wirklich? Am Liebsten hätte ich mir selber gegen den Kopf geschlagen.

„Wenn man betrachtet, welchen Weg dein Leben genommen hat, dann lautet dir richtige Antwort wohl nein. Schließlich bis du immer dort anzutreffen, wo der Tod lauert.“

Der Seitenhieb tat weh, denn ich wusste genau worauf sie damit anspielte. Onkel Rodericks Tod. „Kannst du damit nicht aufhören“, fragte ich leise und verschränkte die Arme vor der Brust. Dabei wich ich kurz ihrem Blick aus. Sie sollte nicht sehen, was ihre Worte in mir ausgelöst hatten.

„Was, soll ich etwa alles vergessen, was geschehen ist? Dir jedenfalls scheint das keine Probleme zu bereiten.“

„Ich habe nichts von dem vergessen, was passiert ist.“ Ich funkelte sie an. Wie hatte ich nur vergessen können, was für eine Dramaqueen Wynn war? Wahrscheinlich hatte ich es einfach nur verdrängt.

„Die Schuld scheint dich jedenfalls nicht gerade aufzufressen. Man sieht dich immer mal wieder in den Nachrichten.“ Ihre Lippen kräuselten sich spöttisch. „Grace Shanks, die Heldin des Tages. Schade das die Leute vergessen haben, dass du deinen eigenen Onkel auf dem Gewissen hast.“

Ich biss die Zähne zusammen. „Das ist nicht wahr. Es war nicht meine Schuld, was mit Onkel Rod passiert ist und falls du es vergessen hast, ich habe dir das Leben gerettet und wäre dabei selber fast drauf gegangen.“

Sie musterte mich herablassend. „Ist es das was du dir einredest, wenn du an ihn denkst?“

Warum nur hatte ich geglaubt, dass das hier eine gute Idee wäre? Reese hatte mich gewarnt und wie ich nun feststellen musste, hatte er Recht. Jetzt bereute ich es überhaupt darüber nachgedacht zu haben, zu ihr rüber zu gehen.

Ich verlagerte mein Gewicht ein wenig und spähte dabei zu Reese hinüber. Sein Blick ruhte auf mir, als wüsste er genau, dass es nicht so lief, wie ich mir das wünschte.

Ich könnte einfach wieder zu ihm rüber gehen und diese ganze Sache einfach vergessen, aber so schnell wollte ich nicht aufgeben. Wynn war nicht nur lange Zeit ein wichtiger Teil meines Lebens gewesen, sie war meine Schwester und trotz ihrer Divenart vermisste ich sie.

In Ordnung, einen Versuch würde ich noch starten. Das musste doch irgendwie zu kitten sein. „Hör zu Wynn, ich weiß das du enttäuscht von mir bist und ich verstehe warum du so denkst, wie du es tust, aber du musst doch auch einsehen, dass ich keinen Einfluss darauf hatte, was diese Monster tun würden.“

Sie schnaubte. Sie schnaubte tatsächlich. „Du vergisst dabei nur, dass das alles nur aus einem Grund hatte passieren können: Du musstest ja unbedingt Venator werden!“

Nein, ich würde jetzt nicht laut werden. „Ich machte das um Menschenleben zu retten.“

„Tja, bei Onkel Roderick hast du kläglich versagt.“

Okay, jetzt war sie zu weit gegangen. „Du warst auch keine große Hilfe“, warf ich ihr vor und funkelte sie verärgert an. „Wie läuft dein Leben so? Versteckst du dich noch immer den ganzen Tag hinter dicken Mauern und klappst Augen und Ohren zu, um nicht mitzubekommen, was draußen in der Welt vor sich geht?“

„Na und? Wenigstens bin ich am Leben.“

„Leben?“ Ich lachte scharf auf. „Das ist doch kein Leben. Wenn überhaupt ist das ein eintöniges Dahinvegetieren. Da könntest du dich auch gleich in seinen Sarg legen und …“

„Da ist noch so ein Proles“, sagte der kleine Junge plötzlich.

Diese Worte reichten, um mich alarmiert herumwirbeln zu lassen und den geschmeidigen Körper eines Toxrins zu sehen, der sich gerade durch die kaputte Windschutzscheibe des einen Wagens nach draußen zu schieben. Er sah uns, fauchte und dann ging alles ganz schnell.

„Weg!“, rief ich nur noch, während Wynn einen angstvollen Schrei ausstieß und den Jungen in ihrer Panik nach vorne schubste – direkt auf den giftigen Toxrin zu.

 

°°°°°

Kapitel 09

 

Es war nichts weiter als ein Reflex, der mich dazu brachte eilig einen Satz nach vorne zu machen. Ich dachte weder an meine Waffe, noch an mein jahrelanges Training, ich sah nur den Jungen und den Troxin, der sich von der Motorhaube abstieß und den Jungen angreifen wollte.

Das durfte ich nicht zulassen.

Mit der Hand erwischte ich den Kleinen an der Brust und schubste ihn damit aus der direkten Gefahrenzone, doch ich schaffte es nicht mehr auszuweichen. Der Toxrin sprang mich direkt an und riss mich mit seinem Gewicht zu Boden.

Der Aufprall war hart. Ich knallte auf die Schulter, riss aber geistesgegenwärtig den Arm hoch, damit das Vieh mir nicht das Gesicht zerkratzen konnte.

Kinder liefen kreischend davon und suchten in dem zerbeulten Bus Zuflucht. Wynn flüchtete verängstigt hinter das nächste Fahrzeug und der kleine Junge begann zu weinen.

„Shanks!“, hörte ich Reese von weitem entsetzt brüllen.

Der Toxrin fauchte und schrie in einem unnatürlich hohen Ton, der meine Trommelfelle zum vibrieren brachte. Er schlug mit den Pfoten nach mir. Seine Krallen verkrallten sich in meiner Jacke und meinem Schal und zerrten und rissen daran. Gleichzeitig versuchte er mich zu beißen, doch ich packte ihn mit der einen Hand an der Kehle, um ihn auf Abstand zu halten. Mit der anderen tastete ich nach meinem Survival-Messer und riss es gerade in dem Moment aus der Beinscheide, als ich spürte wie mir die Krallen die Haut am Hals aufrissen. Der Schmerz war so intensiv, dass ich die Zähne zusammenbeißen musste, um nicht laut aufzustöhnen.

Zischend riss ich das Messer zur hoch und stach es dem Mistvieh seitlich in die Brust. Es schrie auf und versuchte von mir zurückzuweichen. Dabei bohrte er mir die Krallen seiner Hinterpfote durch die Jeans in die Haut, aber ich setzte sofort nach, riss das Messer heraus und stach noch einmal zu.

Blut spritzte, der Toxrin zuckte und und kippe bei seinem Versuch Halt zu finden zur Seite.

Ich stieß ihn von mir runter, drehte mich hastig auf die Knie und stach noch ein letztes Mal zu – dieses Mal direkt ins Herz. Das war sein Ende. Er röchelte zwar noch und kratzte mit den Pfoten schwach über den Asphalt, aber auch das würde sich gleich erledigt haben.

Ich hatte es geschafft. Dem Jungen ging es gut und der Proles war tot. Ich hatte ihn gerettet.

Als mein Kopf sich plötzlich anfing zu drehen, ließ ich mich leicht benommen auf meinen Hintern sinken und fasste nach der schmerzenden Stelle an meinem Hals. Mein ganzer Körper kribbelte, doch ich hatte den starken Verdacht, dass das nicht am Adrenalin lag. Als ich meine Hand zurückzog, waren die Finger voller Blut. „Oh, das ist nicht gut.“

„Shanks!“ Reese stürzte neben mich auf den Boden und griff panisch nach meinem Kopf. Als er die aufgerissene Haut sah, wurde er kreidebleich.

„Tut mir leid“, entschuldigte ich mich leise. So war das nicht geplant gewesen. Wenn man es genau nahm, hatte ich gar nichts geplant, es war einfach … passiert.

„Sanitäter!“, brüllte Reese und strich mir hektisch die Haare aus dem Gesicht. „Leg dich hin, ich bin gleich wieder da.“ Noch während ich versuchte seinen Worten einen Sinn zu geben, sprang er schon wieder auf die Beine. „Aziz, sie soll sich hinlegen“, rief er noch, dann rannte er auch schon wieder weg.

Mein Kopf begann sich noch schlimmer zu drehen, trotzdem musste ich mich fragen, wo er denn ausgerechnet jetzt so dringen hin musste. Ich war gerade von einem Toxrin gekratzt worden, er sollte jetzt bei mir sein und mich nicht allein lassen.

Als sich jemand neben mich kniete und mir eine Hand auf die Schulter legte, musste ich mehrmals blinzeln, um zu erkennen, dass es sich bei dieser Person um Aziz handelte. Das Licht war plötzlich so grell und stach mir unangenehm in die Augen. Das furchtbare Kribbeln in meinem Körper wurde immer schlimmer.

„Komm“, sagte Aziz und übte leichten Druck auf meine Schulter aus. „Leg dich auf den Rücken.“

„Reese …“

„Er komm gleich wieder.“

„Aber …“

„Grace, du musst dich hinlegen. Du darfst dich nicht bewegen, sonst zirkuliert das Gift noch schneller durch deinen Blutkreislauf.“

Gift, genau. Ich wurde gekratzt und jetzt war ich vergiftet.

Dieser Gedanke hätte mich eigentlich ängstigen, oder sogar in Panik versetzten sollen, aber viel realer als die akute Gefahr, waren die plötzlich einsetzenden Schmerzen. Das widerliche Kribbeln wurde zu einem leichten Brennen und meine Muskeln und Gelenke begannen zu schmerzen, als hätte ich einen sehr üblen Muskelkater. Als Aziz mich dann ohne weitere Gegenwehr auf den Rücken drückte, wurde mir auch noch schlecht und einen kurzen Moment drohte sich mir der Magen umzudrehen.

„So ist gut“, lobte Aziz mich und fühlte besorgt nach meiner Stirn. „Und jetzt einfach nur atmen.“

Atmen, gute Idee, doch jetzt wo er mir das gesagt hatte, begann meine Lunge sich schmerzhaft zusammenzuziehen und zu krampfen.

„Bleib ruhig“, verlangte Aziz, als meine Atmung schneller wurde.

Um mich herum tauchten auf einmal fremde Leute in grellroter Kleidung auf und begannen mit die Jacke vom Körper zu schneiden, um an die Wunde an meinem Hals ranzukommen. Ich versuchte sie wegzuschieben, weil ich im ersten Moment nicht verstand, wer sie waren und was sie da taten, doch sie nahmen meine Bemühungen kaum zur Kenntnis.

Sie begannen mich eilig zu untersuchen und abzutasten. Als sie an die Wunde kamen, brannte das Gift noch heißer in mir, doch erst als einer von ihnen eine Spritzte aufzog und sie mir in den Arm rammte, erkannte ich, dass es sich bei diesen Leuten um Notärzte handelte.

Das war gut, oder? Notärzte waren da um zu helfen und ich brauchte doch gerade Hilfe.

Der und auch jeder andere Gedanke verflüchtigte sich mit einem Schlag, als plötzlich ein heißer Schmerz durch meinen Körper brannte. Ich begann hektisch nach Luft zu schnappen und spürte wie meine Finger unkontrolliert zuckten. Jemand setzte mir eine Atemmaske ins Gesicht und durch meinen unfokusierten Blick sah ich, wie Reese wieder angestürzt kam.

„Hier, ich habe das Gegengift“, sagte er und drückte dem Mann in der roten Jacke eilig ein kleines Fläschchen in die Hand. Er lief um mich herum, schob Aziz unsanft zur Seite und griff nach meiner Hand. „Wage es nicht mich jetzt im Stich zu lassen, verstanden?“

Ich wollte „Okay“ sagen, doch in dem Moment injizierte einer der Männer etwas in meine Hand. Die Reaktion kam prompt. Noch während die Nadel in meiner Hand steckte, drehte sich mir der Magen schmerzhaft um. Ich begann zu würden und versuchte mich auf die Seite zu drehen, doch das gelang mir nur, weil eilig Hände zugriffen und mir halfen. Die Atemmaske schafften sie leider nicht mehr rechtzeitig zu entfernen, bevor ich mein Frühstück mit schmerzhaften Krämpfen auf den Boden erbrach.

„Ist schon gut“, hörte ich Reese murmel und spürte wie er mir sanft über den Rücken strich. „Das kommt wieder in Ordnung.“

Ich war mir nicht sicher, ob diese Worte an mich gerichtet waren, oder er sich selber damit beruhigen wollte. Ich jedenfalls spürte wie die Agonie langsam von mir Besitz ergriff und ich hatte nicht mal Worte um ihn zu trösten.

Es tat mir so leid, ich wollte ihn nicht verlassen.

„Verschwinde, du Miststück, du hast hier nichts zu suchen!“

Ich hätte zu gerne gesehen, wen Reese da anbrüllte, doch meine Augen spielten nicht mit. Formen und Farben verdrehten sich zu abstrakten Gestalten.

„Mach mich nicht für ihre Unfähigkeit verantwortlich!“

Wynn.

„Ihre Unfähigkeit?!“ Reese klang, als würde er seinen Ohren nicht trauen. „Du bist dafür verantwortlich!“

„Das stimmt nicht! Hätte sie ihren Job richtig gemacht, wäre das gar nicht erst passiert! Es war ihre Aufgabe dafür zu sorgen, dass da keine Proles mehr sind! Es hätte mich fast angegriffen!“

„Es ist passiert, weil du ein armseliger Feigling bist! Deine Aufgabe ist es diese Kinder zu schützen, stattdessen nutzt du diesen Job nur, um dich selber in Sicherheit zu wissen! Du hast ein Schutzbefohlenen auf ein Proles gestoßen und hätte Shanks nicht eingegriffen, wäre der Junge jetzt tot, ist dir das überhaupt klar?!“

Irgendjemand war so nett mir mein Gesicht sauber zu wischen und mir wieder eine Atemmaske auf die Nase zu setzten. Ich stöhnte, als ich den Druck auf dem Gesicht spürte, das tat weh.

„Das war keine Absicht! Und überhaupt ist es nur so weit gekommen, weil sie mich aufgehalten hat! Hätte sie mich einfach in den Bus steigen lassen, wäre nichts passiert! Es ist genau wie damals, sobald Grace auftaucht, passieren schreckliche Dinge!“

Oh Gott, warum mussten sie sich ausgerechnet jetzt anschreien? Ihre Stimmen taten mir in den Ohren weh.

„Fang besser nicht damit an, Wynn“, sagte Reese in einem drohenden Tonfall.

„Warum nicht? Ich habe an diesem Tag alles verloren und das war auch ihre Schuld!“

„Nein, hast du nicht, Shanks hat an diesem Tag alles verloren! Du hast dich dazu entschieden dein Leben und auch deine Schwester hinter dir zu lassen und dich in einen Kokon aus Selbstmitleid zu wickeln, also wundere dich nicht, dass du und deine Gefühle mir einfach mal scheiß egal sind!“

Als die Sanitäter die Trage heranschoben und nach mir griffen, ließ Reese mich los und wich ein Stück zurück.

Ich versuchte sofort wieder nach ihm zu greifen, aber die kleinste Bewegung ließ meine Nervenenden vor Schmerz aufschreien. Gott, warum konnte ich nicht einfach das Bewusstsein verlieren? Alles was besser als das hier.

„Und eines schwöre ich dir Wynn: Wenn Shanks diese Sache nicht unbeschadet übersteht, werden wir beide uns wiedersehen.“ Was genau er damit meinte, musste er noch genauer ausführen. Allein in seiner Stimme lag ein Versprechen auf sehr unschöne Dinge.

Als die Trage sich in Bewegung setzte, begann die Welt um mich herum Wellen zu schlagen. Ich hörte Reese' wütende Worte, das Knurren wie von einem Wolf, mit diesen Augen. Diese schwarzen Augen. Sie beobachteten mich, immer wenn ich mich umsah, lag sein wachsamer Blick auf mir. Schwarze, bodenlose Tiefen. Alles um mich herum begann darin zu versinken, wie Farbkleckse, die sich immer weiter ausbreiteten. Riesige Farbkleckse, ein ganzes Meer.

Wellen schabten, schlugen über mir zusammen. Ich erkrankt. Oh Gott, ich bekam keine Luft mehr! Und mein Körper … ich konnte mich nicht bewegen. Das Wasser drückte mich zusammen und zog mich immer weiter in die Tiefe, bis ich schwerelos in ihm herumtrieb. Und langsam, ganz langsam wurde die Schwärze klarer. Es waren Sonnenstrahlen, die auf die Oberfläche des Wassers trafen und die Finsternis zerrissenen.

Ich blinzelte. Nein, keine Sonnenstrahlen, nur Licht, kaltes weißes Licht. Ich blinzelte erneut. Meine Augen waren so schwer, aber ich erkannte, was ich da sah. Ein Deckenlicht, eine Lampe. Eine eigene kleine Sonne in einem sterilen Raum.

Ein leises, aber stetiges Piepen drang an meine Ohren. Ich blinzelte ein drittes Mal und versuchte den Kopf zu drehen, doch mein Körper strafte diese Bewegung sofort mit einem furchtbaren Muskelkater. Es war als hätte ich mir den Nacken verengt. Mir entkam ein leises Zischen.

„Shanks?“

Ich versuchte wieder den Kopf zu bewegen – dieses Mal in die andere Richtung. Es war anstrengend und tat ein wenig weh, aber die Mühe lohnte sich. „Reese“, murmelte ich mit rauer Stimme. Meine Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. Zu mehr war ich gerade nicht imstande. Mein Hirn war irgendwie matschig, alles Schien durch dicke Watte gefiltert. „Wo bin ich?“, fragte ich, als ich mich langsam meiner Umgebung bewusst wurde.

Weiße, sterile Wände, eine etwas vergilbte Decke. Ich lag in einem unbequemen Bett und das Piepen … es kam von einer Maschine. Die Kabel verschwanden unter meiner Bettdecke.

„Im Krankenhaus.“ Reese saß neben mir auf einem Stuhl und hielt meine Hand, doch das merkte ich erst, als er sie ganz leicht drückte. Unter den Augen hatte er dunkle Ringe und ein paar Sorgenfalten hatten sich in sein Gesicht gegraben. Er wirkte so müde, dass ich ihn am liebsten zu mir ins Bett gezogen hätte, damit er ein wenig schlafen konnte.

„Was mache ich denn hier?“ Das war mir unerklärlich. Das letzte an das ich mich erinnerte … angestrengt runzelte ich die Stirn. Das letzte an das ich mich klar erinnerte, war wie wir Nick im Krankenhaus besucht hatten. „Besuchen wir Nick?“ Nein, Moment, wenn wir Nick besuchen würden, würde ich nicht in einem Bett liegen.

„Gott Shanks.“ Er schloss für einen Augenblick die Augen und atmete tief ein. „Nein, wir sind nicht wegen Nick hier. Wir hatten einen Auftrag. Toxrins, die in einen ganzen Rudel aufgetaucht sind. Erinnerst du dich?“

Toxrins? In einem Rudel? Hölle noch mal, was war nur mit meinem Kopf los? Meine Gedanken waren zähflüssig wie Honig und ich musste wirklich angestrengt nachdenken, bis plötzlich ein ganz klares Bild in meinem Kopf aufblitzte.

Verblüfft riss ich die Augen auf und setzte mich mit einem Ruck aufrecht hin. „Wynn!“, rief ich, während Reese „Verdammt noch mal, Shanks“, knurrte und mich wieder zurück ins Kissen drückte.

„Liegen bleiben. Du bist zwar über den Berg, aber du darfst dich noch nicht anstrengen, darum werde ich dich festbinden, wenn du sowas noch mal machst.“ Er warf mir einen drohenden Blick zu, den ich einfach nur entzückend fand und plötzlich fing ich an wie ein kleines Schulmädchen zu kichern. Es gab nicht mal einen Grund dafür, mir war einfach danach.

„Schön das du darüber schon lachen kannst“, bemerkte er trocken.

Ich grinste ihn nur an, doch dann bemerkte ich wieder die dunklen Ringe unter den Augen. „Du bist erschöpft.“

„Ich habe die letzten Stunden ja auch um dein verdammtes Leben gebangt. Weißt du überhaupt was passiert ist?“

Ja, irgendwie schon. Es war alles irgendwie verzerrt, so als würde ich durch einen kaputten Spiegel gucken. Aber da war dieser Toxrin und … da war noch etwas. Ach ja, der kleine Junge und dann … dann wurde ich gekratzt. Langsam hob ich die Hand an den Hals, doch bevor ich die Verletzung berühren konnte, schoss Reese Arm vor und er drückte meinen wieder zurück aufs Bett.

„Nicht anfassen.“

„Es tut gar nicht weh.“ Da war nicht mal ein Kribbeln, nur ein dumpfes Gefühl, so als müsste da etwas sein, was nicht da war. Oder was ich nicht fühlen konnte.

„Das liegt daran, dass sie dich mit allem möglichen Medikamenten vollgepumpt haben. Warte bis die Schmerzmittel nachlassen, dann spürst du es sicher wieder.“

Schmerzmittel, das könnte es sein.

Als Reese leise seufzte und sich müde die Augen rieb, fragte ich mich zum ersten Mal, wie lange ich hier eigentlich schon lag.

„Geh nie wieder ein solches Risiko ein“, sagte er leise. „Das war nicht nur gefährlich, dass war einfach nur dumm gewesen. Wenn du sowas noch einmal machst …“ Er verstummte und wich einem Moment meinem Blick aus, bevor er ihn wieder entschlossen erwiderte. „Machst du sowas noch mal, dann ist es mir scheiß egal wie wütend du auf mich sein wirst, du wirst dann nicht mehr als Venator arbeiten.“

Er wollte allein auf die Straße? „Aber du brauchst mich doch.“ Niemand außer mir konnte ihm den Rücken freihalten. Kein anderer würde sein Lauen mitmachen.

Einen langen Moment saß er einfach nur stumm da, so als müsste er sich meine Worte erstmal durch den Kopf gehen lassen. „Du hast recht, ich brauche dich und deswegen habe ich dich lieber wütend aber sicher zu Hause, als tot in einem Grab.“

Ja, das verstand ich. „Okay.“

Irgendwas an meiner Zustimmung brachte ihn zum schnauben, als sei es abwegig. „Mach sowas einfach nie wieder“, bat er mich.

„Jagen?“

Warum darauf ein leidiges Seufzen folgte, verstand ich nicht, aber dass er meine Hand an seinen Mund hob und einen Kuss darauf drückte, ließ mich lächeln. Doch auf einmal fühlte ich eine kalte Stelle an meinem Bein. Und sie bewegte sich.

„Oh!“, machte ich, riss meine Hand weg und griff nach meiner Decke. Die schnelle Bewegung hatte zur Folge, dass mir ein wenig schwindlig wurde und ich mich mit der Hand abstützen musste, um nicht zur Seite zu kippen.

„Was machst du denn?“, fragte Reese verärgert und wollte mich wieder zurück drücken, aber ich wehrte ihn ab und griff wieder nach der Decke.

„Da ist es ganz kalt!“

„Was?“

„An meinem Bein.“

Reese hatte keinen Schimmer, was ich meinte, aber er verstand, was ich wollte. Also griff er selber nach der Decke und schlug sie zur Seite.

Die Klamotten, die ich heute morgen angezogen hatte, waren weg. Dafür trug ich nun ein sehr luftiges Krankenhaushemd. Im Kragen verschwanden einige Kabel und der Tropf an meiner Hand ziepte, als ich nach dem Saum des Hemdes griff – seit wann war da diese Kanüle in meiner Hand?

Egal.

Ich zog mir den Hemdsaum bis zur Taille hoch. Meine Beine wirkten kränklich blass, sahen aber ansonsten ganz normal aus. Doch da, fast an meinem Schritt, war ein ganz kalter Fleck. Als ich danach tastete, bewegte er sich ein Stück nach oben.

Erstaunt riss ich die Augen auf. „Hast du das auch gefühlt?“

„Was soll ich gefühlt haben?“

„Hier.“ Ohne auf die Kabel oder den Tropf zu achten, schwang ich mein Bein aus dem Bett – direkt in Reese' Schoß.

„Was wird das denn jetzt?“, fragte Reese irritiert, als ich seine Hand nahm und sie innen auf meinen Oberschenkel legte.

„Da, fühlst du es? Die kalte Stelle, sie bewegt sich.“

Erst musterte er mich, dann schüttelte er ungläubig den Kopf. „Mein Gott, bist du high.“

Bedeutete das jetzt, dass er die kalte Stelle auch fühlen konnte? Ich kam nicht mehr dazu die Frage zu stellen, weil in dem Moment die Zimmertür von außen geöffnet wurde und ein älterer Mann in einem weißen Kittel eintrat.

„Ah, Sie sind wach, das freut mich.“ Er schloss sorgsam die Tür hinter sich, drehte sich dann mit einem Lächeln zu uns um und stutzte. „Ähm … störe ich gerade?“, fragte er leicht belustigt.

Reese gab ein frustriertes Geräusch von sich. „Nein. Sie wollte mir nur eine kalte Stelle zeigen, die an ihrem Bein hoch und runter wandert.“

„Ah, ja.“ Der Arzt nickte verstehend. „Da ist ganz normal, der Körper braucht halt einige Zeit, um das Gift auszuscheiden. In den nächsten Stunden kann es auch noch zu Hitzewallungen oder Schüttelfrost kommen. Unangenehme Krämpfen oder Kribbeln. Manche Patienten bekommen sogar noch Stunden später starke Halluzinationen.“

„Fantastisch.“ Reese strich mir noch einmal liebevoll übers Bein und schob es dann zurück ins Bett, um mich wieder von oben bis unten zuzudecken. „Du bleibst jetzt liegen. Verstanden?“

„Okay.“

Er schüttelte über mich den Kopf. „Wenn du doch nur immer so fügsam wärst.“

Fügsam? „Möchtest du das denn?“

„Zum Teufel, nein.“ Sanft glitt er mit den Fingern an meiner Wange entlang. „Was soll ich mit einer demütigen Frau, die alles tut was ich sage? Am Ende hat sie so viel unterdrückte Wut in sich aufgestaut, dass sie mich nachts heimlich im Schlaf mit einem Messer absticht.“

„Das würde ich niemals tun!“, sagte ich beinahe schon entsetzt.

„Ich weiß, du wächst mir lieber gleich den Kopf, wenn dir etwas nicht passt.“

Schmunzelnd trat der Arzt an uns vorbei zu den piepsenden Maschinen und kontrollierte die Monitore. „Die besten Beziehungen sind doch noch immer die, in denen man seinen Gefühlen auch mal Luft macht“, sagte er und schrieb etwas auf sein Klemmbrett – hatte er das schon die ganze Zeit in der Hand gehabt? Als er da erledigt hatte, widmete er sich mir und unterzog mich einer genaueren Untersuchung, in der er mich ausfragte, und pikte und auf alle möglichen Hautstellen drückte – die kalte Stelle allerdings fand er auch nicht.

Ich wusste gar nicht warum, aber ich fand das alles so lustig, dass ich ständig kicherte. Reese dagegen lachte nicht, er behielt mich nur sehr genau im Auge.

Mit einem „So, das war es“ beendete der Arzt dann seine Untersuchung. Er notierte sich noch etwas auf seinem Klemmbrett und sah mich dann sehr ernst an. Als er mein Grinsen bemerkte, änderte er wohl seine Meinung und wandte sich an Reese. „Für den Augenblick sind die Ergebnisse so gut wie sie eben möglich sind. Ihre schnelle Reaktion und natürlich die Tatsache, dass Sie das Gegengift praktischerweise griffbereit hatten, haben Ihrer Frau nicht nur das Leben gerettet, sondern auch schlimmeres verhindert. Im Moment lässt sich natürlich noch schwer sagen, was für Spätfolgen die Vergiftung haben wird, aber im Moment sieht alles soweit gut aus.“

So wie Reese in ansah, war er da wohl ganz anderer Meinung. „Von was für Spätfolgen reden Sie hier?“

„Im besten Falle …“

„Im schlimmsten Falle“, unter brach er ihn. „Sagen Sie mir, was uns im schlimmsten Fall erwartet.“

Der Arzt musterte ihn einen Moment, bevor er antwortete. „Das Gift könnte Schäden in den Nieren und anderen inneren Organen verursacht haben. Vielleicht hat es auch das Gehirn angegriffen. Gedächtnislücken, Desorientiertheit, apathisches Verhalten und auch schwere Halluzinationen können davon die Folge sein. Weiterhin sind Gerinnungsstörungen, Lähmung, Sehstörung, Muskelschädigung und Nekrosen möglich.“

Reese Lippen waren mit jedem Wort schmaler geworden. Ich nahm seine Hand und drückte sie leicht, damit er nicht so traurig aussah, aber er schien es nicht mal zu bemerken.

„Wie Sie selber wissen, ist Toxringift sehr aggressiv, daher ist im Moment leider noch nicht abzusehen, in wie weit und was für Schäden Ihre Frau davongetragen hat. Die letzte Blutuntersuchung war zufriedenstellend, aber wir werden Frau Shanks noch für die nächsten vierundzwanzig Stunden zur Beobachtung hier behalten. Danach ist es wichtig, dass sie sich eine Weile nicht anstrengt.“

Reese schnaubte, als wäre allein der Gedanke daran, ich könnte mich zurückhalten, lächerlich.

„Sie muss es eine Zeitlang ruhig angehen lassen, das ist wichtig.“ Er hob mahnend einen Finger. Die Geste ließ mich geich wieder kichern. „Und sie muss regelmäßig zu Nachuntersuchungen herkommen.“

„Keine Angst, ich werde dafür sorgen, dass sie hier sein wird.“

„Dann können Sie im Moment nur noch auf das Beste hoffen.“

Also ich hoffte ja darauf, dass ich einen von diesen Krankenhauspuddings bekam. Im Fernseher sagten sie immer, dass die widerlich waren und ich wollte wissen ob das stimmte.

 

°°°

 

Ein äußerst leidiges Miauen von Cherry begrüßte mich am nächsten Tag, als ich noch vor Reese in unsere Wohnung trat.

Es war Nachmittag und nachdem man mich den ganzen Tag gepikt, getriezt, genötigt und was weiß ich nicht noch alles mit mir angestellt hatte, wurde erst vor einer knappen Stunde aus dem Krankenhaus entlassen, doch das einzige was diese Katze interessierte, war ihr Magen.

„Hast du Cherry nicht gefüttert?“, fragte ich, als das weiße Wollknäuel damit begann, schnurrend um meine Beine herumzustreichen, ohne mir die Chance zu geben, mich meiner Schuhe zu entledigen.

„Natürlich habe ich das. Mit leerem Magen würde diese Katze einen ja gar nicht mehr in Ruhe lassen.“

Da war etwas wahres dran. Zum Schlafen wäre er dann sicher auch nicht mehr bekommen, obwohl, ich hatte da so meine Zweifel, ob er es den überhaupt versucht hatte.

Als ich ihn heute morgen mit halbwegs klarem Kopf völlig übermüdet neben meinem Krankenhausbett gefunden hatte, war meine gute Tat des Tages gewesen, ihn nach Hause zu schicken, damit er etwas schlafen konnte. Er war drei Stunden weg gewesen und dann frisch geduscht wieder bei mir aufgetaucht. Wenn überhaupt, hatte er nur ein kleines Nickerchen gehalten.

„Oh, hast du und vermisst?“, säuselte ich mit meiner besten Babystimmte und hockte mich zu ihr runter. Das war ein äußerst anstrengenden Vorhaben.

Ich war geschafft. Im Grunde hatte ich den ganzen Tag nichts anderes getan, als dazusitzen, oder wahlweise auch zu liegen und fremde Leute an mir herumdoktern zu lassen. Trotzdem fühlte ich mich wie durch den Fleischwolf gedreht. Mir tat alles weh. Es war, als hätte mein ganzer Körper einen mordsmäßigen Muskelkater und protestierte deswegen gegen jede noch so kleine Bewegung.

Auch mein Hals war heute nicht gut auf mich zu sprechen. Ich hatte zwar noch mal Schmerzmittel bekommen, aber die waren nicht annähernd so stark wie die von gestern – Gott sei dank. Ich erinnerte mich zwar nicht wirklich daran, was ich gestern so alles im Krankenhaus getrieben hatte, aber Reese hatte gesagt, ich sei völlig high gewesen und hätte die ganze Zeit blöde gekichert. Nein, das war kein Zustand auf den ich großen Wert legte.

Ich hatte jetzt also einen schmerzenden Körper, einen dicken Hals, Kratzwunden, ein paar Blutergüsse und eine Regenbogenbeule am Kopf – wobei die Beule so gut wie verschwunden war. Hatte ich noch etwas vergessen? Ach ja, meine Knöchel, die waren auch noch nicht ganz abgeheilt. Ich sah aus, als käme ich direkt aus dem Kriegsgebiet.

Wenigstens waren die Kopfschmerzen fast verschwunden und seit Reese mich gezwungen hatte eine Kleinigkeit zu essen, ging es auch meinem Magen etwas besser. Einen Marathon würde ich heute wohl trotzdem nicht mehr laufen. Oder überhaupt mehr tun, als mich später von meinem Sofa rüber ins Schlafzimmer zu schleppen. Na gut, vielleicht würde ich zwischendurch noch das Bad aufsuchen, aber das war es dann auch schon.

Jetzt brauchte Cheery nach der langen und einsamen Nacht erstmal ein wenig Aufmerksamkeit, also hockte ich da, säuselte die Katze voll und kraulte dabei ihr Köpfchen.

„Du sollst nicht mit der Katze rumalbern, du sollst dich ausruhen. Setzt dich auf die Couch, ich bring dir eine Decke.“ Reese hängte seinen Mantel weg, trat sich die Schuhe von den Füßen und zeigte sehr nachdrücklich aufs Wohnzimmer.

„Mein Gott, du bist ja schlimmer als eine Helikoptermutter“, murmelte ich und machte mich an die anstrengende Aufgabe mich meiner Sachen zu entledigen.

„Der Arzt hat gesagt, du brauchst Ruhe.“

Ja, weil es ja auch so aufregend war, ein paar Minuten für die Katze zu opfern. Ich verkniff mir den Kommentar und schleppte mich unter seinem wachsamen Blick ins Wohnzimmer. Reese verschwand nach nebenan.

Mich auf der Couch nieder zu lassen, war eine Erleichterung. Ich hatte zwar gerne eine große Klappe, aber eigentlich wollte ich nur noch umkippen und einfach liegen bleiben. Besonders anstrengend war der kurze Besuch bei Nick gewesen.

Es ging ihm den Umständen entsprechend gut. Er konnte sich noch immer an nichts erinnern, aber man merkte, dass er schon wieder etwas lebhafter wurde. Heute hatte er sogar mit der Krankenschwester geflirtet und dabei ein wenig von dem alten Nick gezeigt, den ich kannte. Ich sah es mit gemischten Gefühlen. Vor allen Fingen fühlte ich mich in seiner Nähe unwohl, wenn Reese nicht mit im Raum war. Was er damals fast mit mir gemacht hätte … er hatte dabei wohl mehr Narben hinterlassen, als ich bisher angenommen hatte.

Als ich mich mit einem Seufzen auf meiner Couch zurücklehnte, fiel mein Blick auf die gestapelten Akten, die links auf dem Tisch lagen. Die meisten hatte ich gestern mitgenommen und lagen noch im Auto, doch diese drei hier hatte ich noch nicht durchgearbeitet gehabt.

Mehrere Sekunden starrte ich sie an. Ach, warum eigentlich nicht, ich hatte im Moment ja eh nichts besseres zu tun und die Sache mit den Iubas musste noch immer geklärt werden. Also lehnte ich mich nach vorne, schnappe mir den obersten Ordner und schlug ihn in meinem Schoß auf. Die Sache mit Adrian Lambrecht hatte sich ja nun erstmal erledigt, jetzt musste ich wieder auf meinen Ursprünglichen Plan zurückgreifen. Allerdings durfte ich nicht vergessen, Jilin davon in Kenntnis zu setzen, damit jemand der Sache nachgehen konnte.

Ich nahm das oberste Blatt aus dem Ordner und lehnte mich damit vorsichtig zurück – ich musste ja nun keine Schmerzen Provozieren – als Cheery zu mir aufs Sofa sprang. Sie maunzte mich an, stolzierte dann zu mir und beäugte den Ordner misstrauisch. War ja auch frech von dem, einfach auf ihrem Platz zu liegen.

Allerdings ließ sie sich davon nicht abschrecken. Als das Ding ihren Blicken nicht weichen wollte, sprang sie einfach rauf und versuchte es sich darauf bequem zu machen.

„Cheery“, schimpfte ich, weil sie bei der Aktion auch noch zwei Blätter runter geschmissen hatte.

Ohne auf ihr Maunzen zu achten, setzte ich sie neben mich und angelte die Papiere vom Boden. Am besten wäre es vermutlich, wenn ich …

„Was zur Hölle machst du da?“, donnerte Reese und überraschte mich damit so sehr, dass ich erschrocken zusammenzuckte.

„Mein Gott, schleich dich doch nicht so an.“ Himmel. Ich drückte mir eine Hand aufs Herz und erklärte ihm, dass es sich wieder beruhigen durfte.

Reese ignorierte meinen Kommentar. Er kam herangestürzt, schmiss die Decke auf die Couch und riss mir die Papiere aus der Hand. „Du sollst dich hinlegen und ausruhen und dich nicht mit diesem Scheiß beschäftigen“, schimpfte er und begann damit die Ordner einzusammeln.

Ich runzelte die Stirn. „Ich wollte doch nur ein wenig lesen.“

„Ja, weil das den Kopf ja auch gar nicht anstrengt“, murmelte er säuerlich und funkelte mich an. „Leg dich jetzt hin, sonst fahre ich dich zurück ins Krankenhaus.“

Okay, jetzt übertrieb er aber. „Wo bringst du meine Akten hin?“, wollte ich wissen, als er sich damit auf den Weg nach draußen machte.

„Aus deiner Reichweite.“

Sehr informativ. Grummeln zog ich mir die Decke heran. „Dann gib mir wenigstens die Fernbedienung, damit ich nicht strohdumm an die Decke starren muss.“

Mitten im Türrahmen blieb er stehen und funkelte mich an.

„Jetzt erzähl mir nicht, dass Fernsehen auch zu anstrengend ist. Ich muss mich mit irgendwas beschäftigen.“ Nichtstun war einfach nicht meins.

Er murmelte etwas in seinen nicht vorhandenen Bart, ging zur Schrankwand und nahm die Fernbedienung heraus. Ohne ein Wort warf er sie mir auf die Couch und verschwand wieder aus dem Raum.

„Blödmann“, murmelte ich so leise dass er es nicht hören konnte und kuschelte mich in meiner Decke auf der Couch zusammen.

Mit einem tiefen Atemzug entspannte ich mich, schnappte mir die Fernbedienung und zeppte durch die Kanäle, bis ich eine Serie fand, die sich First Hunter nannte. Das war sowas wie eine Polizeiserie, nur eben mit Venatoren, die statt Jagt auf Verbrecher, jagt auf Proles machten. Sie war völlig unrealistisch, aber ich sah sie ganz gerne. Die Waffen waren toll und bei manchen war ich richtig neidisch.

Cheery machte es sich an meinem Bauch bequem und schnurrte leise und zufrieden. Ich dagegen war nicht zufrieden. Klar, mir ging es nicht so gut und ich verstand Reese auch. Hätte ich durchmachen müssen, was er die letzten vierundzwanzig Stunden hatte er leiden müssen, ich wäre vermutlich durchgedreht. Aber jetzt war ich über den Berg, also sollte er nicht so maßlos übertreiben.

Als mein Herr und Meister am Wohnzimmer vorbei ging und dabei einen Kontrollblick auf mich warf, ignorierte ich ihn demonstrativ. Kurz darauf werkelte er in der Küche, was Cheery dazu veranlasste, mich mit Blitzgeschwindigkeit zu verlassen – immerhin befand sich in der Küche das Futter.

Ich blieb einfach liegen, schaute meine Serie und spürte wie die Erschöpfung in meine Glieder sickerte. Wie ich hier so lag, war es kaum zu glauben, dass ich dem Tod nur ganz knapp von der Schippe gesprungen war. Irgendwie war der Gedanke noch nicht richtig in meinem Kopf angekommen. Ich meine, ich wusste was passiert war und auch was hätte geschehen können, aber ich fühlte mich nicht so. Ich war noch da und alles andere konnte in Ordnung gebracht werden.

Ich war so in diesen Gedanken vertieft, dass ich von der Serie gar nichts mitbekam und erst wieder aufschaute, als Reese mit einem Tablett in der Hand das Wohnzimmer betrat.

„Wow“, sagte ich und musterte das Tablett, als er es auf dem Tisch abstellte. Ein Becher Tee, ein Glas mit Wasser, ein Teller mit zwei belegten Broten und ein das Röhrchen mit den Pillen, dass der Arzt uns mitgegeben hatte. „Ich muss also erst fast abkratzen und schon bedienst du mich. Das muss ich mir merken.“

Sein Blick machte mir deutlich, dass er das absolut nicht witzig fand. Er nahm die Tabletten und das Wasserglas und hielt mir beides unter die Nase. „Hier, nimm.“

„Ich hasse Tabletten“, quengelte ich, setzte mich aber artig auf und nahm die Sachen. Bei den Teilen hatte ich immer da Gefühl, dass sie mir im Hals stecken bleiben würden – egal wie viel Wasser ich hinterher trank.

„Mein Gott, du bist ja schlimmer als ich, wenn ich krank bin.“

Das war ein starkes Stück. Reese krank schlimmer als eine Horde Kindergartenkinder war, damit hatte er sich den bösen Blick mehr als nur verdient. „Aber wenigstens bin ich im gesunden Zustand leichter zu ertragen“, murmelte ich und nahm artig meine Medizin. Drei verschiedene Tabletten. Es war ein Krampf, sie alle in den Magen zu bekommen.

Als ich die Sachen zurück stellte, schob er mir den Teller zu, doch ich schüttelte den Kopf. „Nein danke, ich habe gerade keinen Hunger.“

Ich hatte keine Ahnung, was sein Blick bedeuten sollte. Vielleicht versuchte er damit ja mir seinen Willen aufzuzwingen, doch als ich ihn stumm erwiderte, seufzte er nur.

„Rutsch rüber“, forderte er mich auf und wartete nicht mal, bis ich Platz gemacht hatte, bevor er sich zu mir auf die Couch drängelte. Er streckte sich auf der langen Seite aus, sodass ich mich halb auf ihn legen musste, damit wir beide genug Platz hatten. Aber so an ihn gekuschelt, mit seinem Herzschlag am Ohr und dem Arm, der sich um meinen Rücken lehnte … mit einem mal war ich mehr als nur zufrieden.

Das war es was ich an Reese so liebte. Trotz all seiner Kanten und Ecken und der groben Art mit den er den Menschen begegnete, konnte ich mich nur bei ihm so geborgen fühlen und völlig entspannen. Er war nicht perfekt – ganz sicher nicht – aber er war alles was ich brauchte und was ich mir wünschte. Und sogar noch ein kleines bisschen mehr.

„Warum schaust du diesen Schrott?“

Aber nicht viel mehr. „Ich mag die Story und wage es ja nicht umzuschalten, ich will das sehen.“

Das verdrießliche Geräusch, das er von sich gab, sollte mir wohl mitteilen, wie sehr er unter meiner Herrschsucht zu leiden hatte. Das war in Ordnung, solange er nur nicht umschaltete.

Eine ganze Weile war nichts anderes zu hören, als die Schauspieler im Fernseher. Reese hob die Hand und begann in langsamen Bewegungen über meine Wange und mein Ohr zu streicheln. Ich einspannte mich noch mehr und spürte, wie meine Augen langsam schläfrig wurden. Vielleicht war ich ja doch ein kleinen wenig müde.

„Kaum zu glauben, dass die dem Sender erlaubt haben für die Serie echte Proles zu benutzen“, bemerkte Reese.

Ja, das hatte mich auch ein wenig schockiert, als ich es das erste Mal gehört hatte. „Solange es Geld bringt, legalisieren die doch alles.“

Dem konnte er nicht widersprechen.

Ich spürte wie meine Augenlider langsam zufielen und wehrte mich nicht dagegen. Ich musste den Film ja nicht schauen, ich konnte ihn ja auch hören. Die Welt um mich herum wurde langsam dumpfer und ich war bereits auf dem besten Weg ins Traumland, als ich durch das Klingeln eines Handys wieder in die Realität gerissen wurde.

Reese gab einen leisen Fluch von sich, während er herum hampelte, um an das Handy in seiner Hosentasche zu kommen. Ich bewegte mich kein Stück.

„Ja?“, bellte er ins Handy, sobald er es ans Ohr hielt. „Ja ist sie, aber sie schläft.“

„Tu ich nicht“, murmelte ich, weil nur ich mit sie gemeint sein konnte. Aber mir war egal, wer da dran war, ich wollte im Moment mit niemanden sprechen. Einfach nur hier liegen und entspannen.

„Nein, ich werde sie jetzt nicht wecken. Schon gar nicht, damit sie sich in irgendeinem Restaurant mit dir zum Essen trifft.“

Eve! Ach du Kacke, heute war Donnerstag und wir waren zum Essen verabredet. Das hatte ich in dem ganzen Chaos völlig vergessen.

„Vergiss es, nein, sie braucht Ruhe und …“ Er verstummte und ich konnte spüren, wie er um Beherrschung rang. „Meine Fresse, weil sie gerade erst aus dem Krankenhaus gekommen ist. Sie muss …“

Ich verstand nicht was genau Eve daraufhin sagte, aber ihre Stimme war plötzlich überdeutlich.

„Ich schwöre dir, wenn du mir noch mal so ins Ohr kreischst, dann lege ich auf und schalte mein Handy ab. Shanks wurde gestern Früh von einem Toxrin gekratzt und … weil ich verdammt noch mal anderes im Kopf hatte, als mit dir die neusten News auszutauschen.“

Seine Brust hob sich angestrengt, als er schwer seufzte. „Ich habe es schon mal gesagt, aber für dich wiederhole ich es gerne noch mal: Sie schläft und ich werde sie nicht wecken und wage es ja nicht hier aufzutauchen, ich würde dich mit einem Arschtritt zurück auf die Straße befördern. Shanks braucht Ruhe.“

Langsam glitten seine Finger wieder über meine Ohrmuschel. Hoch und runter, hoch und runter.

„Sie wird sich schon an deine Existenz erinnern, wenn sie wieder wach ist und sich bei der melden. Ja, bye.“ Er drückte sie nicht nur weg, er schaltete auch sein Handy aus, damit wir nicht weiter gestört werden konnten. Für ihn war es immer eine Qual mit ihm telefonieren zu müssen.

Da fiel mir etwas ein. „Warum hat sie nicht auf meinem Handy angerufen?“

„Das habe ich bereits gestern ausgeschaltet, nachdem sie dort zwei Mal angerufen hat.“

Hab ich es mir doch gedacht. Wäre er schlau gewesen, hätte er gleich bei dieser Gelegenheit mit ihr gesprochen und die Sache so abgeharkt. Oder mir wenigstens Bescheid gegeben. Selber schuld.

„Schlaf jetzt“, befahl er mir und zog die Decke wieder ordentlich über uns beide. Dann begann er wieder mich am Kopf zu kraulen, doch die Bewegungen erlahmten mit der Zeit. Nicht nur meine, auch seine Atemzüge wurden tiefer und ruhiger. Keine Ahnung wer von uns beiden am Ende als erstes eingeschlafen war, doch scheinbar hatten wir beide den Schlaf bitter nötig.

 

°°°

 

Mit einem verärgerten Hupen machte Reese den anderen Autofahrer darauf aufmerksam, was er davon hielt, dass dieser ihm den Parkplatz vor der Nase wegschnappte. Als der Kerl ihm dann auch noch mit einem Stinkefinger am Fenster antwortet und Reese augenblicklich nach dem Verschluss seines Gurtes griff, sah ich mich gezwungen eilig einzugreifen.

Ich packte seinen Arm und zwang ihn damit mich anzusehen. „Nein.“

Seine Augen wurden eine Spur schmaler.

„Komm schon, such dir einfach einen anderen Parkplatz. Für sowas haben wir keine Zeit, wir haben einen Auftrag.“

Nein das steuerte nicht gerade zu seiner Laune bei, besonders da er mich eigentlich noch Zuhause faul rumliegen sehen wollte. Es war geradezu ein Kampf gewesen ihn heute morgen dazu zu bekommen, wieder arbeiten zu gehen, wo ich gestern doch erst aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Aber wir konnten es uns einfach nicht leisten, mehrere Tage beide auszufallen und er wäre nicht zur Arbeit gegangen, wenn ich es nicht getan hätte.

Da er aber noch immer darauf pochte, dass ich mich nicht überanstrengen durfte, hatte er bei Madeline ausdrücklich auf einen Fall auf Kindergartenniveau bestanden. Sie gab uns einen Auftrag, in dem ein kleines Proles sich selber eingesperrt hatte – was auch immer das bedeutete. Wahrscheinlich waren es bloß Ratten in einer Abstellkammer.

Ich beschwerte mich nicht, aber trotzdem konnte ich es nicht erlauben, dass Reese einem anderen Autofahrer einen Kinnhaken verpasste, nur weil der ihm den Parkplatz geklaut hatte. Idioten gab es eben überall. „Wenn du jetzt nicht nach einem anderen Parkplatz suchst, steige ich aus und kümmere mich alleine um den Fall.“

Dafür gab es mal wieder seinen patentierten, bösen Blick, aber wenigstens lenkte er ein und machte sich auf die Suche nach einer neuen Abstellmöglichkeit.

Fünf Minuten später liefen wir bereits mit Lexian und Kjell im Gepäck die Straße herunter. Unser Ziel war ein Club, der sich Forbidden Paradise nannte. Wahrscheinlich irgendeine Szenebar. Etwas genaueres hatte der Mann am Telefon nicht gesagt, nur dass da ein Proles war, dass er ganz schnell loswerden wollte.

Da wir aber ein Stück weiter weg hatten parken müssen, mussten wir jetzt noch ein Stück laufen.

Reese, der mit seiner eigenen, kleinen Gewitterwolke über dem Kopf herumrannte, hatte die Führung übernommen. Ich lief mit Lexian direkt hinter ihm, Kjell bildete das Schlusslicht.

Ich fühlte mich besser als gestern. Zwar hatte ich noch immer das Gefühl Opfer eines rachsüchtigen Muskelkaters geworden zu sein, aber die Medikamente taten ihr Werk und sowohl von den Kopfschmerzen, als auch von der Übelkeit hatte ich heute noch nichts gespürt. Dafür schillerte meine rechte Schläfe aber nun in den schönsten Blau- und Violetttönen und mein Hals … sagten wir einfach, es war gut dass ich einen Verband darum trug und niemanden mit seinem Anblick belästigen konnte.

„Es hat mich gewundert, dass Sie heute schon wieder arbeiten“, bemerkte Lexian.

Reese warf ihm über die Schulter hinweg einen prüfenden Blick zu. Er traute dem plötzlichen Frieden nicht. Der Mann war ihm vom ersten Moment an ein Dorn im Auge gewesen und das würde sich so schnell wohl auch nicht ändern.

„Tja, was soll ich sagen.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich bin ein Arbeitstier.“

„Sind Sie denn überhaupt wieder einsatzfähig?“

Das Lexian nichts weiter tat als den Mund zu öffnen, richtete Reese seinen Blick wieder nach vorne.

„Ich hab mich vor Dienstantritt von Suzanne durchchecken lassen. Sie hat gesagt, wenn ich es ruhig angehen lasse, geht das schon in Ordnung.“ Naja, eigentlich hatte sie geschimpft, wie unverantwortlich und dumm es von mir war, heute schon wieder auf die Straße zu gehen – und das mit vorgehaltenem Finger – und am Ende gab es nicht mal einen Lolli für mich – dabei bekam ich immer einen Lolli. Ich hatte den Eindruck, ich wäre die einzige, die es für eine gute Idee hielt, heute wieder zu arbeiten.

„Naja, ob man die Prolesjagt als ruhig bezeichnen kann, bezweifle ich aber.“

Noch ein Schulterzucken. „Besser als Zuhause vor Langeweile zu sterben. Und in der Gilde hatte ich ja auch noch mal die Möglichkeit meine L.F.A. Akten einzusehen. Ich wollte noch mal wegen diesem Adrian Lambrecht schauen und da ist mir noch etwas aufgefallen.“

„Ach ja?“ Interessiert hob er das Kinn. „Was denn?“

„Entweder leidet dieser Kerl unter einer gespaltenen Persönlichkeit, oder es gibt mindestens eine handvoll Leute, die sich als Adrian Lambrecht ausgeben.“

Er runzelte die Stirn. „Wie meinen Sie das?“

„Jede Unterschrift ist anders. Der Stempel scheint zwar immer der gleiche zu sein, aber die Unterschriften stammen eindeutig von verschiedenen Leuten. Ich glaube langsam wirklich, ich bin da auf etwas gestoßen.“ Zwar hatte das nichts mit den gestohlenen Iubas zu tun, aber deswegen würde ich das nicht einfach in Vergessenheit geraten lassen.

„Interessante Theorie.“ Nachdenklich strich er sich über das Kinn. „Das müssen wir unbedingt weiter verfolgen. Haben Sie schon mit Jilin gesprochen?“

„Nein, dafür hatte ich vorhin leider noch keine Zeit. Ich werde das heute Abend machen, damit sich jemand darum kümmern kann.“

„Tun Sie das.“

„Haben Sie denn in der Zwischenzeit schon mal wegen diesem Kerl rumgefragt?“

Lexian öffnete den Mund, unterbrach sich aber, als Reese mit einem „Wir sind da“ vor einem großen Laden stehen blieb. Die Fassade war gepflegt und in einem hellen Gelb gestrichen. In den Schaufenstern standen ansprechende Aufsteller von Palmen, Strand, Sand und Sonnenschein. Ein großes, geschmackvolles Schild darüber verkündete, dass wir die Forbidden Paradise erreicht hatten. Die Anlage schien auf den ersten Blick ziemlich groß für eine einfache Szenebar und als Reese versuchte die Tür zu öffnen, musste er feststellen, dass sie verschlossen war.

„Da ist eine Klingel“, sagte ich.

„Ich bin nicht blind.“ Er drückte auf den kleinen Knopf und dann mussten wir fast eine Minute warten, bis eine sanfte Männerstimme durch die Gegensprechanlage zu hören war.

„Ja bitte?“

Reese beugte sich ein Stück vor. „Guten Tag. Mein Name ist Reese Tack, ich wurde von der Gilde der Venatoren zu Ihnen geschickt, um Ihnen bei einem Problem mit einem Proles zu helfen.“

„Oh, das ging ja schnell. Kommen Sie nur herein.“

Der Summer wurde betätigt und wir konnten endlich das Gebäude betreten.

Edel vertäfelte Wände und Wandgemälde von Sonnenuntergängen begrüßten uns. Jede Ecke war mit prachtvollen Pflanzen dekoriert. Nicht in Töpfen, das waren eigens dazu angelegte Innenraumbeete, mit Palmen, Fahnen und exotischen Blumen. Das sah wirklich toll aus.

Der Boden war aus Teakholz, genau wie der eindrucksvolle Kundentresen, hinter dem ein älterer Mann ohne Hemd stand.

„Ah, da sind Sie ja schon“, begrüßte er uns mit einem Lächeln und musterte uns neugierig nacheinander. „Es freut mich, dass sie so schnell kommen konnten. Meine Gäste werden sicher auch erleichtert sein, wenn sie dieses kleine Biest beseitigt haben. Stellen sie sich nur meinen Schrecken vor, als ich es heute morgen entdeckte.“

Reese trat an den Tresen vor und reichte dem Mann die Hand. „Reese Tack. Das ist meine Partnerin Grace Shanks.“ Bei den anderen beiden zog er nicht einmal in Betracht sie vorzustellen.

Der Mann reichte auch mir die Hand. „James Duggan, freut mich Sie kennenzulernen.“

„Die Freude ist ganz meinerseits.“

„Gut.“ Er klatschte in die Hände. „Dann zeige ich Ihnen das kleine Tierchen am Besten mal.“

Ich verzog das Gesicht. Wenn die Leute Proles als Tiere bezeichneten, dann zog sich in mir immer irgendwas protestierend zusammen. Hunde und Katzen waren Tiere, genau wie Fische und Vögel. Insekten würde ich vielleicht auch noch dazu zählen, aber Proles? Das waren Abkömmlinge, Kreaturen die von Menschenhand erschaffen wurden und eigentlich gar nicht existieren sollten. Sie waren auf jeden Fall keine Tiere.

James Duggan, der nichts von meinen Gedanken ahnte, klappte den Durchgang seitlich am Tresen hoch und trat zu uns in die Lobby.

Als ich ihn plötzlich in seiner ganzen Pracht vor mir hatte – und ich meine wirklich in seiner ganzen Pracht – bekam ich erstmal Stielaugen. Selbst Reese Augenwinkel zuckte kurz. „Sie sind ja nackt!“

Der Mann blinzelte mich einmal an, schaute dann an sich herunter, als müsste er sich davon überzeugen, dass es auch stimmte und lächelte mich dann wieder an. „Ja, das hier ist ein Nudistenclub. Ich dachte Sie wüssten das.“

Ein Nudistenclub?! Ach du heilige Mutter Gottes! „Ähm … nein“, sagte ich ein wenig verlegen und wusste einen Moment ehrlich gesagt nicht, wo genau ich hinschauen sollte. Ich meine, natürlich hatte ich schon nackte Männer gesehen. Reese und ich hatten regelmäßig Sex und einmal hatte ich versehentlich auch Nick nackt erwischt, als er sich gerade umgezogen hatte, aber auf diese beiden Männer beschränkten sich meine Erfahrungen dann auch schon.

Ich war nicht prüde, aber so aus heiterem Himmel einen nackten Kerl vor sich zu haben, kam dann doch ein wenig überraschend. Und auch wenn er schon ein wenig älter war, war er doch ein recht stattlicher Mann.

Sollte ich ihn fragen, ob er sich einen Bademantel anziehen konnte, oder wäre das unhöflich? Mein Gott, nun höre einer meine Gedanken! Ich überlegte ehrlich, ob ich unhöflich wäre, wenn er sich bedecken würde.

Meine drei Begleiter wiederum schienen sich mit dem Anblick schnell abzufinden, nur ich musste mich zwingen, nicht tiefer als bis zu seiner Brust zu schauen.

Herr Duggan jedoch schien zu wissen, was in meinem Kopf vor sich ging. „Nun mal nicht so schüchtern“, schmunzelte er. „Ist alles von der Natur gegeben und wären Sie nicht dienstlich hier, würde ich auch Sie dazu auffordern sich auszuziehen. Mit Kleidung darf meinen Club normalerweise niemand weiter als bis hier her betreten. Hausregel.“

„Aha.“ Dann sollte ich jetzt wohl auch noch dankbar sein, oder was?

„Wir sollten uns jetzt um den Proles kümmern“, bemerkte Reese, bevor wir dieses absurde Gespräch noch etwas vertiefen konnten.

„Ja natürlich. Bitte folgen Sie mir.“ Herr Duggan kehrte uns den Rücken zu und führte und durch eine Doppeltür mit gläsernen Einsätzen, in die eine Insellandschaft geätzt worden war.

Ich ging mit Reese an der Seite hinter ihm her und wie sehr ich mich auch anstrengte, ich schaffte es nicht den Blick von seinem nackten Hintern zu nehmen. Besonders, da ich zwischen seinen Beinen … oh nein, nein, nein! „Warum hast du mir nicht vorher gesagt, dass wir in einen Nudistenclub gehen würden?“, zischte ich Reese zu.

„Ich habe es nicht gewusst.“

„Wie kannst du sowas nicht wissen? Du hast doch den Auftrag entgegen genommen!“

„Madeline hat nichts davon gesagt.“

„Ja, aber er ist nackt!“

„Das sehe ich.“

Das war ja auch schwer zu übersehen. „Warum hast du ihm nicht gesagt, dass er sich etwas anziehen soll?“

Mit einem genervten Seufzen warf er mir einen kurzen Blick zu. „Jetzt krieg dich ein, es ist doch nur ein nackter Mann.“

Ja schon und ich wusste auch gar nicht so genau, was mich daran so sehr aufregte. Vielleicht weil es mich einfach unvorbereitet getroffen hatte.

Am Ende des geschmackvollen Korridors mit dem indirekten Licht an den Wänden, erreichten wir eine weitere Doppeltür.

„Willkommen im Forbidden Paradise.“ Schwungvoll öffnete Herr Duggan die Tür für uns und ließ uns an sich vorbei in das Herzstück der Anlage treten.

Also eines musste ich dem Mann ja lassen, Geschmack hatte er. Für einen Moment stockte mir wirklich der Atem.

Was uns hinter der Tür erwartete, war ein tropischer Traum unter einer gläsernen Glaskuppel. Die Innenraumbeete in dem Foyer waren nur ein kleiner Vorgeschmack gewesen, auf das was sich uns hier bot. Wege aus weißem Sand, exotische Pflanzen, Lautsprecher mit dezenten Dschungelgeräuschen. Ein kleines Paradies intimen einer Großstadt. Ich war schwer beeindruckt. Zumindest bis ich die vielen nackten Leute sah, die sich hier aufhielten.

Ein paar lagen auf Liegestühlen und sonnten sich unter der künstlichen Sonne, andere wiederum hatten auf der offenen Terrasse an Tischen Platz genommen und führten angeregte Gespräche und wieder andere liefen einfach herum, redeten, lachten, oder taten was-weiß-ich noch. Jung und alt, sogar ein Kind sah ich. Eines jedoch hatten sie alle gemeinsam: de Adam und Eva Stil.

„So so“, murmelte ich mit dem Blick auf einem älteren Herren, der gerade über die Terrasse schlürfte, um an einem der Tische Platz zu nehmen. „Nur ein nackter Mann, ja?“

Kjell lachte, tarnte es aber hastig in einem Hüsteln und nahm ein paar der Damen in Augenschein.

„Gefällt es Ihnen?“, wollte Herr Duggan wissen.

Das brachte ihm ein ehrliches Lächeln ein. „Es ist wirklich beeindruckend.“

In seinem Gesicht ging die Sonne auf. „Danke. Ich habe alles selber geplant.“

„Es gefällt mir wirklich sehr.“ Wenn man mal von den ganzen nackten Menschen absah, die störten mich irgendwie.

„Kommen Sie, hier geht es lang.“

Wir folgtem ihm den rechten Weg entlang, der durch natürlich aussehende Bordsteine von den Pflanzen abgetrennt war. Palmen und exotische Pflanzen standen zu beiden Seiten. Der Sand unter meinen Füßen war weich und plötzlich hatte ich Lust, meine Schuhe auszuziehen – nicht das ich es getan hätte. Aber meiner Jacke entledigte ich mich, da es hier drin wirklich warm war.

Ein paar neugierige Blicke folgten uns und das nicht nur, weil wir hier die einzigen Leute in einem vernünftigen Aufzug waren. Unsere Waffen waren nicht zu übersehen.

Uns kam ein Rudel nackter Männer entgegen, die in ein Gespräch vertieft waren.

Oh wow, was erblickten meine entzückten Augen denn da? Hier gab es nicht nur altes Fallobst, da lief auch ein Stück junges Frischgemüse. „Vielleicht ist es hier doch nicht so schlecht“, murmelte ich und drehte den Kopf, um diesen hinreißenden Knackarsch nicht aus dem Augen zu verlieren.

Reese packte meine Hand und zog mich sehr nachdrücklich mit sich mit. „Komm jetzt“, knurrte er und achtete gar nicht darauf, dass ich fast ins Stolpern geriet. „Wir sind hier um zu arbeiten.“

„Und deswegen darf ich die nette Aussicht nicht genießen?“

Er sagte nichts, er sah mich nicht an, er hielt meine Hand nur ein wenig fester, während wir dem Clubbesitzer folgten.

Leise lächelte ich in mich hinein. „Wie hast du noch so schön gesagt? Es ist doch nur ein nackter Mann.“

„Halt die Klappe.“

Nein ich lachte nicht, aber es fehlte nicht mehr viel, dann hätte ich es getan. Seine Eifersucht war einfach zu niedlich.

„Es ist gleich da vorne in dem Pool“, erklärte Herr Duggan und zeigte in die Richtung in die wir liefen. „Der Hauptpool wurde gerade neu gefliest und steht daher zur Zeit leer. Einer meiner Gäste machte mich darauf aufmerksam, dass dort ein Proles reingefallen ist, aber es ist zu klein, um allein wieder herauszukommen.“

„Wissen Sie um welches Proles es sich handelt?“, fragte Reese.

„Oh ja.“ Er nickte zur Bestätigung. „Es ist ein Pillicula. Die sind giftig, das weiß ich, deswegen passt mein Sohn auch darauf auf, dass niemand dem Pool zu nahe kommt.“

Ein Pillicula war nicht nur giftig, es war auch heimtückisch. Sie waren nicht sehr schnell, darum stellten sie sich gerne auch mal tot. Das war schon vielen Menschen zum Verhängnis geworden.

Für ein Proles waren sie wirklich sehr klein. Ohne Schwanz brachten sie es höchstens auf fünfundzwanzig Zentimeter, mit schafften sie es auf die doppelte Länge. Pilliculas waren Lacerta-Proles, oder auch Echsenabkömmlinge, mit unschuldigen Knopfaugen, kurzen, schuppigen Beinen und einem schuppigen Kopf. Der Rest war mit beigem Fell bedeckt.

Reese, oder besser gesagt, Nick, hatte so ein Ding mal als Haustier gehalten – bis er es mit einer Fleischgabel erstochen hatte. Naja, sie gaben ja auch wirklich keine guten Haustier ab.

Der Dschungelweg öffnete sich zu einem großen Platz mit Liegestühlen, dessen Mittelpunkt ein eindrucksvoller Pool in Übergröße war.

Ein paar der Stühle waren besetzt und beobachteten, wie wir an den Pool traten. Ein Junge von höchstens Sechzehn erhob sich und gesellte sich schweigend zu uns. Nach seinem Aussehen musste das der Sohn von Herr Duggan sein.

Ich warf einen Blick in den Pool und musste nicht lange suchen, um unseren Übeltäter zu finden. Da war der er, ein kleiner, behaarter Drache. Die Fliesen waren blau und das kleine Biest hob sich farblich sehr gut davon ab. „Da“, sagte ich und zeigte in die hintere Ecke, wo es unbeweglich auf dem Rücken lag.

Herr Duggal runzelte die Stirn. „Ist es tot?“

„Nein.“ Reese musterte den Pool. „Es stellt sich nur tot. Das ist die Überlebensstrategie des Pillicula.“

Drei Frauen erhoben sich von den Liegestühlen und kamen neugierig näher. Kjell nahm das mit Freude zur Kenntnis, ich jedoch kniff die Augen leicht zusammen. Das war leider kein altes Fallobst.

„Wie kriegen wir es da raus?“, wollte Kjell wissen und tat dabei sehr professionell. Wahrscheinlich versuchte er die Damen zu beeindrucken.

„Betäuben, fangen, steinigen?“, schlug ich scherzhaft vor.

Reese wippte den Kopf ein paar Mal leicht hin und her und schlug dann vor: „Wir könnten es einfach erschießen.“

„Ähm“, machte Herr Duggan. „Ich hatte sicherlich erwähnt, dass der Pool gerade erst neu gemacht wurde. Wenn es also möglich ist, würde ich Sie bitten die Fliesen nicht zu beschädigen.“

So ein Einschussloch zählte sicher dazu. „Dann müssen wir es einfangen. Für den Rest nehmen wir dann die Nagelpistole.“

Eine von den Damen, ein Rotschopf, genau wie ich, trat etwas näher an Reese heran. Zu nahe nach meinem Befinden. Dann berührte sie mit der Hand auch noch seinen Arm, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. „Ist es gefährlich?“

Reese sah erst sie an und dann sehr nachdrücklich auf ihre Hand, doch sie schien den Wink mit dem Zaunpfahl nicht zu verstehen. Nun gut, dann würde ich wohl nachhelfen müssen.

„Frau … äh … wie ist Ihr Name?“

„Frau Küfer.“ Sie schenkte mir ein umwerfendes Lächeln. Zeigte bei mir keine Wirkung. „Aber nennen sie mich ruhig Sabrina.“

„Sabrina“, wiederholte ich und lächelte etwas verkrampft zurück. Es könnte auch ein Zähnefletschen sein. „Im Moment droht Ihnen hier nur von einer Stelle eine sehr reale Gefahr und die bin ich. Wenn Sie also nicht wollen, dass ich Ihnen den Arsch aufreiße, sollten Sie ganz dringend ihre Hand von meinem Mann nehmen und ein wenig auf Abstand gehen.“ Immer schön höflich bleiben. Genau, und wenn ich dann vor dem Richter stehe und ihm erkläre, dass ich diese Tussi sehr höflich umgebracht habe, wird er mich für meine guten Manieren loben und wieder nach Hause schicken.

Man konnte ja noch hoffen.

„Oh“, machte diese strohdumme Tussi. Sie schaute von mir zu Reese, der ihren Blick eiskalt erwiderte und zog dann langsam ihre Hand weg, bevor sie ein paar Schritte zurück wich. „Entschuldigen Sie, das konnte ich ja nicht ahnen.“

Nein, konnte sie nicht. Wahrscheinlich fanden die Männer es sonst toll, wenn sie ihnen in dem Aufzug auf die Pelle rückte. Kjell jedenfalls sah nicht so aus, als hätte er ein Problem damit, wenn sie das bei ihm machen würde. „Ich gehe mal die kleine Fangausrüstung holen“, knurrte ich und wandte mich zum Gehen. Weit kam ich jedoch nicht, da Reese mich am Arm abfing.

„Nimm Kjell mit, bevor ihm noch die Augen rausfallen.“

Als der Praktikant seinen Namen hörte, richtete er sich ein wenig gerader auf, doch alle bemerkten, wie seine Ohren ein wenig rot wurden.

„Klar, dann kann er sich gleich mal ein wenig mit der Ausrüstung vertraut machen.“ Ich wollte meinen Arm wegziehen, aber Reese war noch nicht bereit mich loszulassen. Er musterte mich so intensiv, dass ich davon schlechte Laune bekam. „Hör auf mich so prüfend anzuschauen, sonst schubse ich dich zu dem Pillicula in den Pool.“

Reese ließ sich von meinen biestigen Worten nicht abschrecken. Er beugte sich vor und gab mir einen Kuss direkt auf die häßliche Narbe, die mein Gesicht entstellte. Erst dann ließ er mich los. „Vergiss den Kescher nicht.“

„Hatte ich nicht vor.“ Ich wandte mich ab. „Kjell, komm.“

Das ich dem Kleinen so eiskalt der nackten Damenwelt entriss, erfreute ihn nicht besonders, aber das hier war trotz allem noch immer Arbeit, also blieb ihm gar nichts anderes übrig, als hinter mir her zu dackeln.

Als wir wieder draußen waren, traf mich der Temperaturunterschied wie ein Hammer und einen Moment war ich am überlegen, meine Jacke wieder anzuziehen, ließ sie dann aber doch über meinem Arm hängen.

„Passiert euch sowas öfter?“, fragte Kjell, als wir die Straße hinunter gingen. Reese hatte auf einem kleinen Parkplatz gehalten, der zu einem Supermarkt gehörte und wir mussten ein Stück laufen.

„Du meinst, dass wir in einer Horde nackter Leute stolpern?“ Ich schmunzelte. „Nein, das ist auch mein erstes Mal. Aber einmal haben wir wir einen Hausbesuch gemacht und standen plötzlich einer alten Dame gegenüber, die Zuhause wohl nie Kleidung trug. Auf unsere Bitte hin hat sie sich jedoch einen Bademantel übergezogen.“

Kjell verzog das Gesicht. „Sowas brauche ich dann doch nicht.“

Mein Schmunzeln wurde breiter. „Sieh es doch mal so, jetzt hast du eine super Story, die du deinen Freunden erzählen kannst. Wie oft wird man schon zu einem Auftrag in einen Nudistenclub gerufen?“

Das ließ auch ihn lächeln, aber nur für einen Moment, dann verblasste es wieder. „Reese hält mich für einen Tölpel.“

Was? „Wie kommst du darauf?“

„Er schickt mich immer weg, Jetzt auch wieder.“

Oh je, da hatte aber jemand ein ganz schön angekratztes Ego. Der Kleine sah mit einem Mal so geknickt aus, dass ich gar nicht anders konnte, als ihn ein wenig aufzubauen. „Das hat er nicht gemacht, weil er dich loswerden wollte, sondern damit du ein Auge auf ich hast. Er macht sich wegen der Vergiftung Sorgen um mich.“

Nein, damit hatte ich ihn nicht überzeugt. „Er hasst mich. Ich bin bestimmt der letzte Mensch, den er dazu abstellen würde, ein Auge auf dich zu haben.“

„Er hasst dich nicht“, widersprach ich ihm sofort.

Nein das glaubte er mir auch nicht.

Wir gingen ein paar Schritte schweigend.

„Du musst verstehen, Reese hatte es in seinem Leben nie einfach gehabt. Um nicht zu zerbrechen, hat er bereits als Kind Schutzmauern um sich errichtet, die dicker sind als der Grand Canyon. Sie lassen sich nicht zerstören und sind unmöglich zu überwinden, aber manchmal schafft es jemand sich einen Tunnel darunter durchzugeben und mit ein bisschen Glück, stürzt dieser nicht ein, bevor man es auf die andere Seite geschafft hat.“

„Du meinst sowas wie harte Schale, weicher Kern?“

Der Vergleich ließ mich schmunzeln. „Nein, das Leben hat Reese auch im Inneren hart werden lassen. Aber es erklärt vielleicht sein Verhalten gegenüber anderen Leuten.“

Kjell zog die Augenbrauen zusammen. „Du meinst also, er ist so ein Ekel, weil er eine schwere Kindheit hatte?“

Schwere Kindheit war gar kein Ausdruck für das was er mit seiner verrückten Mutter durchlebt hatte. „Reese ist kein Ekel.“

„So war das auch nicht gemeint, aber du weißt schon.“

Ja ich wusste. „Eigentlich ist das ganze eher ein Schutzmechanismus.“ Wir hatten die Straßenecke erreicht und bogen nach rechts ab. Ich konnte den Parkplatz bereits sehen. „Wenn du so willst, könnte man sagen, dass Reese die Menschen in drei Kategorien einteilt. Die Menschen die er nicht mag, oder sogar hasst, bekommen von ihm nichts anderes als Herablassung und Abscheu. Wenn sie morgen einfach tot umfallen, hätte er nicht mal ein müdes Schulterzucken für sie übrig.“

„Kann ich irgendwie verstehen.“

Ich auch. Wenn ich nur an Taid dachte und was er alles angerichtet hatte … nein, damit würde ich mich jetzt nicht befassen. „Dann gibt es da noch die Menschen, die ihm im Grunde egal sind. Im Moment zählst du noch dazu. Diese Leute gehen ihm am Arsch vorbei. Es interessiert ihn einfach nicht, was sie tun, oder was sie bewegt. Wenn sie da sind, ist das halt so und wenn nicht, ist es sogar noch besser.“

„Es macht aber nicht den Eindruck, als wenn ich ihm egal bin. Er kann mich nicht ausstehen.“

Ich lächelte. „Ja, aber auch nur, weil die Möglichkeit besteht, dass du in die dritte Kategorie rutschen könntest.“

„Hä?“

„Menschen die er mag und die ihm wichtig sind. Er ist gezwungen mit dir Zeit zu verbringen, was bedeutet, dass er dich irgendwann mag, oder eben hasst. Allein die Aussicht darauf, dass du ihm mal mal wichtig sein könntest, bringt ihn dazu alles zu unternehmen, damit du dich von ihm fernhält. Er möchte das nicht, denn wenn dir dann etwas passiert, würde ihm das wehtun.“

„Reese könnte mich mal mögen?“

Schön das er nur auf diesen Teil einging. „Der Job als Venator schweißt zusammen. Wir sind gezwungen unseren Partnern und Kollegen blind zu vertrauen, denn wenn es brenzlig wird, sind sie die einzigen, die uns den Rücken freihalten.“

„So wie mit dem Toxrin und dem Gegengift.“

Ich nickte und bog mit ihm auf den kleinen Parkplatz ein. Außer unserem standen nur zwei weitere Autos hier, ansonsten war alles vewaist. „Reese ist kein schlechter Mensch. Ja er geht sehr hart mit seiner Umwelt um, aber für die die ihm wichtig sind, ist er auch bereit seine Existenz aufzugeben.“

„Das klingt fast so, als hätte er das schon mal getan.“

Ich warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, bevor ich mich darauf konzentrierte den Schlüssel aus der Hosentasche zu ziehen und direkt auf unseren Wagen zuzugehen. „Das hat er, ein Mal. Für mich.“ Mehr würde ich dazu nicht sagen und das machte mein Ton auch sehr deutlich. Es ging ihn nichts an, was damals geschehen war.

„Das heißt, wenn ich nur ein bisschen Geduld habe, dann wird er mich irgendwann nicht mehr wie einen lästigen Pickel behandeln.“

Netter Vergleich. „Und wenn du dich nicht als komplett unfähig herausstellst.“ Ich schloss den Wagen auf und warf meine Jacke auf den Rücksitz. Dann ging ich zum Kofferraum und öffnete ihn. „Reese kann Inkompetenz nicht ausstehen.“

„Dann hab ich mich bisher wohl nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert, was?“

„Ach was, so schlecht hast du dich bisher gar nicht gehalten.“ Ich zog den großen Kescher zwischen der Ausrüstung hervor und reichte ihn Kjell. Dann kletterte ich halb in den Innenraum, um zwischen dem ganzen Zeug die dicke Schutzjacke zu finden. Es wurde Zeit dass wir unseren Wagen wiederbekamen, da wusste ich wenigstens wo alles lag. „Du bist vielleicht ein wenig übermütig, weil du dich beweisen willst, aber das ist ganz normal. Wenigstens wurdest du bis jetzt noch nicht verletzt. Das zum Beispiel ist mir damals bei meinem ersten Auftrag mit Reese passiert. Ein Proles hat mich umgerannt und mir eine tiefe Kratzwunde an der Hüfte zugefügt. Hat geblutet wie Sau. Mein Gott, ist der mir damals wegen meiner Unfähigkeit aufs Dach gestiegen. Ich hätte ihn fast erwürgt.“

Ein Motorengeräusch ließ mich kurz aufblicken, aber es war nur ein silberner Van, uninteressant. Viel mehr interessierte mich, wo diese blöde Jacke war.

„Das heißt, er wird mich nicht durchs Praktikum fallen lassen, nur weil er mich nicht leiden kann?“

„Nein das würde er nicht. Reese kann zwar ein Arschloch sein, aber eigentlich ist er immer gerecht.“ Ah, da war sie ja, unter den zusammenklappbaren Käfigen. Welcher Idiot hatte die den da hingelegt? „Außer du hast etwas richtig dämliches Angestellt, dann kann ich für nichts garantieren.“ Reese war eben unberechenbar.

Ich kroch rückwärts aus dem Wagen und drückte Kjell auch noch die Jacke in die Hand. Dann beugte ich mich noch mal hinein, um den zerfledderten Rucksack mit der kleinen Fangausrüstung rauszuholen. Das Ding könnte Geschichten erzählen.

„Ich denke, wenn ich richtig Scheiße baue, hätte ich es auch verdient aus dem Praktikum zu fliegen.“

Das sah ich auch so. „Im Moment brauchst du dir darüber gar keine Gedanken machen. Ich jedenfalls habe bisher nichts an dir entdeckt, was dich zu einem …“

„Entschuldigen Sie bitte“, wurde ich von einem Mann unterbrochen. Er war unbemerkt an den Wagen getreten und als er uns ansprach, knallte ich vor Schreck mit dem Kopf ans Wagendach. „Oh, tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken.“

„Schon gut“, murmelte ich und rieb mir über die pochende Stelle. Hoffentlich gab das nicht schon wieder eine Beule, die andere war ich doch gerade erst losgeworden. „Was gibt es denn?“

Der Mann musste in den dreißigern sein. Er war groß gewachsen, muskulös und trug schlichte Freizeitkleidung. Sein Gesicht wirkte zu grob, um attraktiv zu sein und die Nase war in der Vergangenheit mindestens einmal gebrochen gewesen. Aber sein Lächeln wirkte einnehmend.

„Oh, ich habe gehofft, Sie könnten uns vielleicht helfen.“

„Uns?“

Er drehte sich hab herum und zeigte auf den silbernen Van am anderen Ende des Parkplatzes. Neben der offenen Beifahrertür stand ein Mann, den ich man nur als grobschlächtig beschreiben konnte. Bei seinem eiskalten Blick bekam ich eine Gänsehaut.

„Mir und meinen Freunden.“ Lächelnd wandte er sich mir wieder zu. „Wir müssen zu der …“ Er stockte und runzelte die Stirn. „Verdammt, jetzt habe ich den Straßennamen wieder vergessen.“ Er seufzte. „Tut mir leid. Kennen Sie sich in der Gegend ein wenig aus?“

„Ein wenig.“ Aber wirklich nur ein kleinen Wenig. Das hier war nicht unser Hauptjagtgebiet.

„Hätten Sie dann vielleicht einen Moment Zeit uns den Weg zu zeigen? Wir haben eine Straßenkarte.“

Sie hatten eine Karte und fanden den Weg trotzdem nicht? Und da sollte noch mal einer behaupten, dass Frauen orientierungslos waren.

Seufzend reichte ich Kjell den Wagenschlüssel. „Mach schon mal den Wagen dicht, ich schau mir das mal an. Der kleine Rucksack muss auch mit, genau wie die Nagelpistole.“

Kjell nickte. „Verstehe schon, ich bin der Packesel.“

„Nicht der Packesel, der Praktikant.“ Ich zwinkerte ihm zu und folgte dem Mann dann zu seinem Van.

„Das ist wirklich sehr nett von Ihnen.“

„Jeden Tag eine gute Tag.“

Er musterte mich. „Sie sind Venator?“

„Gut erkannt.“

„Ich hatte auch schon ein paar Mal mit Proles zu tun.“

Wer nicht?

Als wir uns dem Van nährten, schlug der grobschlächtige Kerl einmal mit der flachen Hand gegen die Seitentür, woraufhin die von einem Blondschopf von innen geöffnet wurde.

Ich stutzte. Wie viele Kerle waren denn noch in diesem Van?

„Sylvan hat die Karte“, erklärte der Mann neben mir und zeigte auf blonden Mann.

„Na dann zeigen Sie mal her.“ Ich trat an den Van, gerade als der grobschlächtige Typ sagte: „Ich kümmere mich um den Jungen.“

Bevor ich mir auf diese Worte einen Reim machen konnte, bekam ich plötzlich einen heftigen Stoß in den Rücken, der mich halb in den Innenraum des Vans schleuderte. „Was zum“, begann ich, doch ehe ich mich davon erholt hatte, griff der Blondschopf nach meinem Arm und begann damit mich hinein zu zerren. „Hey, was soll das? Lassen Sie mich los!“

Das tat er nicht. Dafür packte der Kerl mit dem netten Lächeln mich in diesem Moment an der Hüfte und versuchte mich hineinzuheben. In dem Moment begann mein Herz nicht nur zu rasen, mir wurde auch deutlich klar, dass ich mich in Gefahr befand. Die wollten nicht nach dem Weg fragen, die hatten nur versucht mich zum Van zu locken.

„Grace!“, brüllte Kjell irgendwo hinter mir.

Das war der Augenblick in dem ich begann zu kämpfen. Ich hatte keine Ahnung was diese Kerle von mir wollten, doch mir war klar, dass sie mich nicht in den Van bekommen durften, denn was auch immer sie vorhatten, es war sicher nichts Gutes.

Ich begann wie wild zu strampeln und um mich zu schlagen und stellte erfreut fest, dass sich das harte Training für die Prolesjagd auch hier bewehrte. Mit mir würden sie kein leichtes Spiel haben. „Nehmen Sie ihre scheiß Pfoten von mir! Finger weg!“

Der Grinseheini ächzte, als sich ihn mit dem Fuß irgendwo am Oberschlesien erwischte, aber Blondi gelang es sich auch meinen zweiten Arm zu schnappen und riss mich mit einem Ruck zu sich in den Innenraum. „Jetzt hör auf zu zappeln, du Miststück“, meckerte er.

„Lasse Sie mich los! Loslassen hab ich gesagt!“ Als die Grinsebacke nach meinen Beinen griff, zog ich sie hastig an und trat an mit aller Kraft nach ihm. Mein Tritt erwischte ihn direkt vor der Brust. Er wurde rückwärts geschleudert und landete mit einem Schmerzenslaut auf dem Rücken, wo er einen Moment nach Luft ringend liegen blieb.

Das war meine Chance. Ich begann mich heftiger in dem Griff von diesem Sylvan zu winden, schaffte es auch einen Arm frei zu bekommen und schlug damit nach seinem Gesicht. Leider streiften meine Finger ihn nur, da er noch rechtzeitig auswich.

„Jetzt las die zicken“, knurrte er, riss mich herum und drückte mich mit dem Gesicht voran auf den Boden.

„Nein!“, schrie ich, als er dann auch noch ein Bein über meinen Rücken Schwang und mich mit seinem ganzen Gewicht nach unten drückte. „Runter von mir! Gehen Sie weg!“

Der Kerl der mich angesprochen hatte, rollte sich ächzend auf die Seite und versuchte wieder auf die Beine zu kommen. Der Tritt musste gesessen haben.

„Hilf Logen, ich komm hier schon klar“, knurrte Sylvan, grunzte aber gleich darauf, weil ich ihm mit dem Fuß am Rücken erwischt hatte. „Und beeil dich. Die ist bockiger, als ein sturer Esel.“

„Runter habe ich gesagt, lassen Sie mich los!“ Ich stöhnte vor Schmerz, als er mir einen Arm auf den Rücken drehte und ihn so weit nach oben bog, dass ich schon glaubte, er wolle ihn mir auskugeln. Mir schossen Tränen in die Augen. Der Schmerz war unglaublich, aber ich gab nicht auf. Ich durfte nicht aufgeben.

Ein Schmerzensschrei machte mich zum ersten Mal auf das Aufmerksam, was auf dem Parkplatz geschah. Ich wehrte mich weiter, aber nun musste ich auch noch mit ansehen, wie Kjell sich mit diesem grobschlächtigen Logan prügelte.

Die Ausrüstung lag vergessen vor unserem Wagen. Kjell musste sie einfach fallen gelassen haben, als er mir zu Hilfe kommen wollte, aber der Kerl hatte ihn auf halbem Wege zu mir abgefangen und offensichtlich versucht ihn niederzuschlagen. Doch auch wenn Kjell noch jung war, war er kein leichter Gegner. Ich erinnerte mich daran, dass er seit Jahren Kickboxen machte. Er blutete zwar aus dem Mundwinkel, aber er stand noch auf den Beinen und versetzte diesem Logen gerade einen heftigen Schwinger in den Magen.

Der Kerl krümmte sich ein wenig zusammen und Kjell wollte zu einem weiteren Schlag ansetzten, doch in dem Moment stürmte der Grinseheini herbei und riss den Kleinen einfach mit sich zu Boden.

„Nein!“, schrie ich, als die beiden Kerle nun zusammen auf Kjell losgingen. „Lasst ihn in Ruhe!“

Natürlich hörten sie nicht auf mich. Ich kämpfte immer verzweifelter gegen meinen Peiniger an, während ich dabei zuschauen musste, wie die beiden Kerle Kjell systematisch zusammenschlugen. Sie boxten ihn und einem gelang ein Schwinger gegen seinen Kopf. Als er dann schon stöhnend auf dem Boden lag, traten sie noch nach ihm.

„Hört auf!“, schrie ich. „Kjell!“ Oh Gott, sie würden ihn umbringen und das nur, weil er mir hatte helfen wollen. „Bitte!“

„Declan! Logen!“, rief Sylvan, als eine Frau mit zwei Kindern und einem Einkaufswagen aus dem Supermarkt kam.

„Hilfe!“, schrie ich laut, um sie auf uns aufmerksam zu machen. „Bitte helfen Sie uns!“

Es klappte. Ihr Kopf schnellte herum, sie sah was hier draußen los war und schob ihren Nachwuchs eilig wieder in den Laden.

Sylvan knurrte ungehalten. „Kommt jetzt!“, rief er seinem Kumpels zu.

Das Auftauchen der Frau hatte wenigstens ein gutes zur Folge, sie ließen endlich von Kjell ab. Aber dann kamen sie auch schon zum Wagen geeilt und mir wurde panisch bewusst, dass wir jetzt hier verschwinden würden.

„Nein, lasst mich raus!“, schrie ich, als die Grinsebacke Declan sich hinter da Steuer schwang und Logan eilig zu uns in den Laderaum sprang.

Kjell lag noch immer am Boden, doch er regte sich und versuchte schwerfällig zurück auf die Beine zu kommen. Aber er würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Logen griff bereits nach der Seitentür und noch bevor er die bereits ganz geschlossen hatte, startete Declan bereits den Motor.

Nur ein Gedanke schoss mir noch durch den Kopf, bevor die Welt dort draußen ausgeschlossen wurde: Sie hatten mich.

 

°°°°°

Kapitel 10

 

Mein Puls raste, mein Herzschlag wollte sich einfach nicht beruhigen und panische Angst machte sich in mir breit. „Was haben Sie mit mir vor, wo bringen Sie mich hin?“

„Gib mir mal die Kabelbinder aus der Tasche“, bat Sylvan, ohne meine Fragen auch nur zur Kenntins zu nehmen.

Kabelbinder? „Nein!“ Ich begann wieder zu bocken, als Sylvan sein Gewicht auf meinem Rücken verlagerte, um mir auch noch den zweiten Arm nach hinten zu drehen. „Runter von mir, lassen Sie mich sofort los!“

„Scheiße“, ächzte Sylvan und hatte leichte Schwierigkeiten mich auf dem Boden zu halten. „Für so ein zartes Persönchen hat die ganz schön Kraft.“

Logan schnaubte. Kjell hatte bei ihm ganz schöne Arbeit geleistet. Er wirkte nicht nur zerrupft, seine Wange war auch angeschwollen und zerkratzt. „Hör auf rumzualbern und binde sie endlich fest.“

„Nein, lasst mich in ruhe! Geht weg!“ Aber sie gingen nicht weg, egal wie sehr ich schrie und strampelte. Sie bogen meine Arme zusammen und dann hörte ich nur noch das Ritsch des Kabelbinders. Er zog sich so fest um meine Handgelenke, dass er mir ins Fleisch schnitt. Oh Gott, was wollten sie von mir? Wer waren sie? Warum war ich nur nicht mit Reese zum Wagen gegangen.

Scheiße, wenn Reese erfuhr, dass ich mitten am Tag auf offener Straße entführt wurde … er würde völlig durchdrehen! Ich war ja schon am durchdrehen.

„Habt ihr ihr schon ihre Waffen abgenommen?“, fragte Declan vorne vom Fahrersitz.

„Nein, das machen wir jetzt.“

„Passt auf ihre Beine auf, die hat 'nen Tritt wie ein Pferd.“

Als dieser Logen nach meinem rechten Bein griff und sich an der Messerscheide zu schaffen machte, bekam ich es richtig mit der Angst zu tun. Ich zappelte heftiger, aber Sylvan griff mir kurzerhand in den Nacken und hielt mich so problemlos auf dem Boden.

„Finger weg, das ist meins!“

„Das wirst du nicht mehr brauchen.“ Logen griff auch nach der Scheide an meinem zweiten Bein und ich wusste nicht ob ich mir das in meiner Panik nur einbildete, doch ich glaubte er betatschte kurz meinen Hintern. Oh Gott, ich musste hier weg.

Mein Atem wurde immer hektischer und es wurde auch nicht besser, als ich hörte, wie meine beiden Messer mit einem metallenen Klong in die hinterste Ecke des Vans geworfen wurden. „Lasst mich los!“

„Die Waffe auch noch“, verlangte der blonde Sylvan.

Aber an die kamen sie nicht so einfach heran, weil ich halb auf ihr lag. Sylvan packte mich kurzerhand am Oberarm und drehte mich auf den Rücken.

Bei de plötzlichen Belastung meiner Schultern kniff ich die Augen zusammen, riss sie aber sogleich wieder auf, als ich Logens Hand auf mir spürte. Es war zwar nur meine Seite, aber dieses Mal war ich mir sicher, dass der Kerl mich betatschte.

Meine Aufkommende Panik wurde von einer brennenden Wut durchbrochen. Schluss mit den Höflichkeiten. „Mach das noch mal und du wirst es bereuen.“

Logen zog nur spöttisch eine Augenbraue nach oben und griff dann ganz gezielt nach meiner Brust. Für eine Sekunde wurde ich an einen anderen Ort zu einer anderen Zeit katapultiert, zurück in Taids Zwingerhalle, wo Nick mich gegen die Wand gepresst hatte. Damals hatte ich mich so hilflos und verletzt gefühlt. Das würde mir kein zweites Mal passieren.

Ich dachte gar nicht darüber nach und wusste auch nicht woher ich die Kraft nahm. Ich fuhr einfach hoch, schaffte es dabei mich Sylvans Griff zu entreißen und knallte meine Stirn direkt in das Gesicht dieses Widerlings. Sylvan riss mich sofort zurück, aber der Schaden war bereits angerichtet.

Logen schrie auf und riss die Hände vors Gesicht und mir brummte der Schädel. In Filmen sah das immer so einfach aus, aber in Wirklichkeit tat es weh – sehr weh. Es war die Sache jedoch wert gewesen.

Mit Genugtuung sah ich, wie das Arschloch aus der Nase blutete, ich hatte ihn voll erwischt. Allerdings verging mir jedes Hochgefühl, als sein Gesicht sich vor Ärger verzerrte und er mir eine so heftige Ohrfeige verpasste, dass mein Kopf nicht nur herumgeschleudert wurde, sondern auch ein kleines Universum vor meinem inneren Auge explodierte. Einen Moment wurde mir schwarz vor Augen und die Geräusch um mich herum wurden dumpf.

„Schlampe“, beschimpfte mich der Wixer.

Während ich noch versuchte meinen Blick wieder klar zu bekommen und die Benommenheit abzuschütteln, spürte ich, wie er mir auch noch meine Letzte Waffe abnahm und mich dann gründlich abtastete, um sicherzugehen, dass er auch keine übersehen hatte.

Auf meiner Zunge schmeckte ich Blut.

„Sie ist sauber“, knurrte Logan, warf mir noch einen wütenden Blick zu und kletterte dann nach vorne auf den Beifahrersitz.

Sylvan gab mir einen Stoß, der mich auf die Seite warf. „Liegen bleiben“, verlangte er. „Sonst …“ Den Satz beendete er, indem er seine Jacke ein Stück zur Seite schob und mir die Waffe darunter präsentierte. „Ich hoffe wir verstehen uns.“

Mit einem Mal wurde mir eiskalt. Ich wurde entführt, gefesselt, geschlagen und jetzt auch noch mit einer Waffe bedroht. Wer zum Teufel waren dieser Kerle und was wollten sie von mir?

Ich hatte schon mal mit solchen Typen zu tun gehabt, damals bei Taid. Konnte das sein? Hatte er sie geschickt? Aber warum? Ich hatte ihm nie ein Leid zugefügt. Im Grunde hatten wir uns nur ein paar Mal getroffen und da nie wirklich etwas miteinander zu tun gehabt. Reese war es gewesen, der … der Gedanke stockte in meinem Kopf. Oh bitte nein, konnte das sein?

Taid hatte geschworen, Reese würde es bitter bereuen, wenn er ihn jemals hintergehen würde und Taid war ein Mann, der zu seinem Wort stand. Aber das war nun schon mehr als drei Jahre her. Konnte es trotzdem sein, dass Taid versuchte Reese zu schaden, indem man mir etwas antat?

Der Gedanke war so schrecklich, dass ich ihn am liebsten wieder verdrängt hätte, doch nun war er da und setzte sich mit Zähnen und Klauen in meinem Kopf fest.

Aber Taid war doch im Knast und würde dort nie wieder herauskommen. Konnte er von dort aus agieren? War das möglich? Ich brauchte Antworten, bevor meine Phantasie noch völlig verrückt spielte. „Wer schickt euch?“

„Sei still.“

„Für wen arbeitet ihr?“, versuchte ich es noch einmal.

Sylvan warf mir einen genervten Blick zu. „Habe ich nicht gerade gesagt, dass du still sein sollst?“

Einen Moment war ich versucht trotzdem noch nachzufragen, doch es war sicher nicht ratsam, diese Kerle noch weiter zu provozieren. Nicht nachdem sie schon gezeigt hatten, das ihnen meine Unversehrtheit nicht wichtig war und auch nicht, nachdem ich gesehen hatte, was sie mit Kjell getan hatte.

Oh Gott, Kjell. Hoffentlich war er nicht ernsthaft verletzt.

Als der Van auf der Straße abbog, wurde mir erst so richtig bewusst, dass sie mich irgendwohin brachten. Natürlich hatten sie ein Ziel, aber wenn ich danach fragen würde, bekäme ich sicher wieder keine Antwort. Es wäre hilfreich gewesen, sich wenigstens ein bisschen orientieren zu können, aber der Van hatte hinten keine Fenster und das wenige das ich durch die Windschutzscheibe sehen konnte, war kaum mehr als ein paar Hochhäuser und ein Stück grauen Himmels.

Vielleicht konnte ich mehr sehen, wenn ich mich aufsetzte. Dann könnte ich mich auch im Innern des Vans umschauen. Wenn ich Glück hatte, lag hier irgendetwas rum, das mir helfen konnte. Mit den Händen auf dem Rücken war war das allerdings keine einfache Angelegenheit und sobald ich die Beine anzog, um mich auf die Knie zu rollen, spürte ich Sylvans Blick auch schon wieder auf mir.

Ich verharrte einen Moment bewegungslos, aber als er mich nur wachsam beobachtete, wagte ich es mich mühevoll aufzusetzen. Auch ihn ließ ich dabei nicht aus den Augen und als ich dann mit dem Rücken an der vibrierenden Wand lehnte, drehte er sein Gesicht auch wieder Richtung Windschutzscheibe.

Leider half mir das im Moment nicht weiter, denn der Van war praktisch leer. Neben Sylvan stand ein Rucksack auf dem Boden und meine Waffen lagen vergessen hinten an den Türen. Aber davon abgesehen, dass es mit gefesselten Händen schwer wird daran zu kommen, würde der blonde Mistkerl sich vermutlich schon auf mich stürzen, wenn ich auch nur in die Richtung zuckte.

Eine andere Idee jedoch hatte ich nicht und einfach abzuwarten, um zu sehen was geschehen würde, war sicher eine dumme Idee. Wer wusste schon was mich an meinem Ziel erwarten würde. Ich wollte es ehelich gesagt nicht herausfinden. Meine einzige Chance waren also meine Waffen, denn ein Handy hatte ich auch nicht dabei. Es lag zusammen mit meiner Jacke in unserem SUV. Darum musste ich mir nun überlegen, wie mir die Waffen nutzen konnten.

Meine Gedanken verflogen jedoch sehr schnell, als der Wagen ein paar Mal abbog, langsamer wurde und dann ganz stehen blieb.

Augenblicklich wuchs meine Anspannung. Waren wir etwa schon an unserem Ziel? Wir konnten bis jetzt kaum mehr als zehn Minuten unterwegs gewesen sein.

„So, alles aussteigen“, verlangte Declan und stieß Zeitgleich mit Logan die Türen auf.

„Na dann wollen wir Mal.“ Sylvan schwang sich seinen Rucksack auf den Rücken und beugte sich dann zu mir hinunter.

Als ich seine Hand auf mich zukommen sah, bekam ich Panik und trat instinktiv nach ihm, doch er hatte wohl damit gerechnet, denn er fing mein Bein in der Luft ab und zog einmal kräftig daran, sodass ich auf dem Rücken landete. „Nein! Lassen Sie mich los!“

Neben mir wurde die Seitentür aufgezogen und eine grobe Männerhand packte mich in den Haaren und zerrte meinen Kopf nach hinten. Declans Gesicht erschien direkt über mir. „So Schätzchen, wir können das jetzt auf zwei Arten klären. Keine von beiden wird dir gefallen, aber die eine verspricht sehr viel mehr Schmerzen als die andere, also lass jetzt das verdammte Theater.“

Oh Gott, wie war ich hier nur herein geraten? „Bitte“, flehte ich und verabscheute mich für den weinerlichen Tonfall in meiner Stimme selber, aber langsam fraß mich die Furcht auf. Diese Ungewissheit war fast unerträglich. Ich wollte hier weg, ich wollte zurück zu Reese, aber da waren nur diese Kerle, die mich nun aus dem Wagen zerrten und draußen auf die Beine stellten.

Declan hielt mich mit grobem Griff am Oberarm fest, während ich mich hastig nach allen Seiten umsah. Wir befanden uns in einer Art verlassendem Ladehof. Die Gebäude waren schäbig und der Straßenbelag aufgebrochen und von Unkraut überwuchert.

Meine Hoffnung auf Hilfe starb augenblicklich, hier gab es keine Menschenseele, nur einen zweiten Van, auf den wir uns zubewegten und mir wurde klar, dass wir wohl das Fahrzeug wechselten, damit man uns nicht verfolgen konnte. Oh Gott, die ganze Aktion musste geplant gewesen sein. Sie hatten sogar vorgesorgt, damit man mich nicht finden konnte.

Mein Herz begann immer schneller zu schlagen und meine Muskeln spannten sich wie Stahlseile. Als Sylvan den zweiten Van öffnete, warf ich mich in einem Anfall von Panik herum und wollte fliehen, doch Declan riss mich einfach zurück und stieß mich in das gähnende Maul der offenen Seitentür.

„Nein, bitte.“ Ich versuchte mich wegzustoßen, doch Sylvan ergriff einfach meinen zweiten Arm und half Declan dabei mich praktisch in den neuen Van zu werfen.

„Und keine Zicken mehr, sonst vergesse ich mich“, drohte Declan.

Ich konnte nichts anderes tun als mit weit aufgerissenen Augen dabei zuzuschauen, wie Sylvan hinter mir in den Van kletterte und die Seitentür wieder zuschlug. Declan und Logen nahmen wieder vorne Platz. Dann ging die Fahrt in dem neuen Van auch schon weiter.

Ein hastiger Blick verriet mir, dass es hier genauso aussah, wie in dem anderen, nur mit einem kleinen Unterschied: Hier waren meine Waffen für mich unerreichbar geworden. „Was haben Sie mit mir vor?“, traute ich mich zu fragen.

„Sei ruhig.“

Ich biss mir auf die Unterlippe. „Wo fahren wir hin?“

Verärgert drehte Sylvan sich zu mir um. „Ich schwöre dir, wenn du nicht die Klappe hältst, dann werde ich dich knebeln.“

Vielleicht war es doch kein so schlechte Idee ruhig zu sein.

Er warf mir noch einen warnenden Blick zu und wandte sich dann wieder nach vorne, wo Logan gerade am Radio herumspielte.

Besorgt was nun mit mir geschehen würde, zog ich ich an die Hintertüren des Vans zurück. Meine Anspannung hielt mich fest in den Klauen und wieder drängte sich mir der Gedanke mit Taid auf. Ich musste mich zwingen meine Angst nicht allzu offen zu zeigen.

Vielleicht … vielleicht würde das gar nicht so schlimm werden, vielleicht war das nur ein riesiges Missverständnis, oder ein blöder Streich, den mir jemand aus der Gilde spielte.

Leider schaffte ich es nicht mal mir selber diesen Unsinn einzureden. Ich steckte richtig tief in der Tinte und ich wusste nicht mal warum. Antworten würde ich wahrscheinlich auch erst bekommen, wenn wir dort ankam, wohin die drei mich auch immer brachen, nur war ich mir nicht sicher, ob ich die dann noch haben wollte.

Gott, wo war die Polizei, wenn man sie mal brauchte? Ich wollte nicht hier sein, ganz und gar nicht, doch im Moment blieb mir keine Wahl.

Die Fahrt zog sich in die Länge. Aus zehn Minuten wurden zwanzig, aus zwanzig dreißig. Ich konnte das sehr gut beurteilen, denn die Uhr am Armaturenbrett lag genau in meinem Sichtfeld. 13:37 Uhr, 14:06 Uhr. Wo nur wollten wir hin? Wenn ich mich nicht sehr täuschte, hatten wir die Stadt schon längst verlassen.

Das mulmige Gefühl in meinem Magen wurde immer schlimmer und ich konnte nichts anderes tun, als dem Sprecher im Radio zu lauschen und darauf zu hoffen, dass die Kerle etwas sagten, was mir einen Hinweis geben würde.

Aber da war nichts. Keines ihrer Themen verriet mir, was hier los war und was sie mit mir vorhatten. Eine Weile stritten sie sich über ein Fußballspiel und einen Typen, der ein Tor versaut hatte. Auch über die Nachrichten wurde diskutiert und Declan erzählte von seiner Frau und dem zweijährigen Sohn.

Es bereitete mir Sorge – mehr als ich mir eingestehen wollte – dass sie in meiner Gegenwart so zwanglos solche Informationen herausgaben. Nicht nur ihre Namen und ihre Gesichter, auch persönliche Sachen. Das war sicher kein gutes Zeichen.

Als dann irgendwann damit begannen bei einer Quizshow im Radio mitzuraten, war es für mich nicht mehr ganz so einfach meine Wachsamkeit aufrecht zu erhalten. Es war nicht so dass ich müde war und einschlief, aber ich erwischte mich immer wieder dabei, wie meine Gedanken zu anderen Dingen abschweiften.

Ob Reese in der Zwischenzeit schon mitbekommen hatte was geschehen war? Wahrscheinlich. Wenn Kjell es nicht geschafft hatte ihn zu benachrichtigen, wäre er früher oder später losgegangen um nachzusehen, wo wir beide abgeblieben waren.

Ich wollte mir gar nicht ausmalen was geschehen war, als er auf dem Parkplatz ankam und ihm klar wurde, dass man mich entführt hatte. Hoffentlich gab er dem Kleinen keine Schuld. Kjell hatte wirklich alles getan was er konnte, um zu mir zu gelangen und hatte dafür ordentlich einstecken müssen. Leider war Reese in solchen Momenten unberechenbar. Die Sorge um mich würde ihn auffressen.

Eine tiefe Trostlosigkeit machte sich in mir breit.

Die Zeit tickte weiter.

Eine Weile hingen wir in einer Baustelle fest und so nach zwei Stunden entschlossen die Männer sich dazu, an einer kleinen Raststätte Halt zu machen, um sich etwas zu Essen zu besorgten.

Declan war der einzige der Ausstieg, nachdem er ziemlich abseits geparkt hatte. Und um auch wirklich sicher zu gehen, dass ich den Mund hielt, richtete Sylvan vorsichtshalber auch noch seine Waffe auf mich.

Das machte mich nervös.

Klar, in meinem Beruf ging ich täglich mit Waffen um, ja ich besaß sogar eine eigene, ohne die ich nur selten das Haus verließ, aber nun war ich ihnen nicht nur schutzlos ausgeliefert, eine von diesen Dingern zeigte auch direkt auf mich. Ich wusste zu welchem Schaden diese Waffen fähig waren und das war wohl der ausschlaggebende Punkt, warum ich es nicht mal wagte mit der Wimper zu zucken.

Als Declan wieder auftauchte, zeigte die Uhr mittlerweile halb vier an. Ich war nun schon seit zweieinhalb Stunden verschwunden und nachdem die Männer aufgegessen hatten, ging die Fahrt noch weiter.

Mit der Zeit begann mein Körper mich daran zu erinnern, dass ich schon längst hätte meine Medikamente einnehmen müssen. Die Wirkung ließ nach und der Muskelkater kehrte mit aller Macht zurück. Auch mein Hals begann unangenehm zu prickeln und von dem Schlag ins Gesicht hatte ich noch immer Kopfschmerzen.

Wir waren schon fast vier Stunden unterwegs, als Declan das Tempo reduzierte und in eine Ortschaft hinein fuhr. Sofort spannte sich in mir wieder alles an, denn bisher waren wir auf der Autobahn geblieben.

Leider war es mir nicht möglich einen Blick auf das Ortsschild zu erhaschen und wir hielten auch nirgends an, wir fuhren nur durch.

Mit der Entspannung war es trotzdem vorbei, denn hinter der Ortschaft folgten wir einer Landstraße, die uns nach zehn Minuten zu einem etwas verstecktem Waldweg führte. Wir waren gleich da.

Ich wusste nicht woher dieses Wissen kam, aber ich war mir plötzlich sicher, dass wir unser Zeil fast erreicht hatten. Gab es hier im Wald eine kleine, versteckte Hütte? Wollten sie mich gefangen halten? Oder noch schlimmer, erschießen und verscharren?

Die Ideen und Bilder in meinem Kopf wurden immer vielfältiger und so war ich mehr als nur ein wenig erstaunt, als der Wald vor uns sich plötzlich lichtete und wir vor dem Tor einen riesigem, verwunschenem Anwesens hielten.

Declan hielt an einer Gegensprechanlage, ließ das Fenster herunter und drückte auf dem Kopf. Als eine körperlose Stimme ihm antwortete, sagte er nur „Ich bin es“ und sofort wurde das Tor vor ihm geöffnet und er konnte hinein fahren.

Die Verwirrung schlug in Wellen über mir zusammen. Aus meinem Blickwinkel konnte ich nicht viel erkennen, doch dass es sich hierbei um ein Privatgrundstück handelte, war nicht zu bestreiten – noch dazu eines, auf dem ein Herrenhaus im englischen Baustil stand. Nein, das war mehr als nur ein Herrenhaus, das Gebäude war einfach nur riesig und rundherum mit einem dichten Wald vom Rest der Welt abgeschnitten.

Aber wir hielten nicht vor dem Haus. Declan lenkte den Van seitlich daran vorbei zu einer Garage, die er durch den Knopfdruck einer Fernbedienung öffnete. Als er hinein fuhr und das Tor sich hinter uns wieder schloss, begann mein Herz wie wild zu schlagen.

Jetzt war es so weit. Egal weswegen man mich hergebracht hatte, gleich würde ich es erfahren und ich war mir sicher, dass es mir nicht gefallen würde.

Als der Van zwischen ein paar sehr teuren Autos auf einem Parkplatz hielt, wuchs meine Anspannung so sehr, das mir der Kiefer davon schmerzte. Ich wurde fast panisch, als Declan „alle aussteigen“ befahl und musste mich zwingen ruhig zu bleiben. Jetzt auszurasten, würde mir rein gar nichts bringen. Ich musste ruhig bleiben und die Augen offen halten, damit ich jede Gelegenheit zur Flucht auch nutzen konnte.

Mit meinen guten Vorsätzen war es allerdings vorbei, als Sylvan sich erhob und auf mich zukam. „Nein!“, schrie ich, als er nach mir greifen wollte und hielt ihn mir damit einen Moment vom Leib. Leider brachte mir das gar nichts, denn in dem Moment wurden hinter mir die Hintertüren aufgerissen.

Als meine Stütze sich einfach so verflüchtigte, ergriff die Schwerkraft von mir Besitz und ich kippte einfach rückwärts aus dem Van.

Es war niemand da, der mich auffing, oder meinen Sturz abbremste. Logen war sogar netterweise noch zur Seite getreten, um mir Platz zu machen. Ich knallte ungebremst auf den Rücken und hätte fast aufgeschrien, als der Schmerz durch meine Schultern raste. Ich kniff die Augen zusammen und rollte mich auf die Seite. Gott, was hatte ich nur getan, um das hier zu verdienen?

„Das soll die große Jägerin sein? Wie armselig.“

Man ließ mir nicht mal die Zeit den Schmerz zu verarbeiten, schon waren da wieder Hände, die mich am Oberarm packten und ungeduldig auf die Beine zerrten. Meine Muskeln schrien protestierend auf. Dieses Mal schaffte ich es nicht mein Zischen zu unterdrücken. Die stundenlange verdrehte Haltung war nicht gerade angenehm und noch dazu kam das Nachlassen der Medikamente. Warum nur hatte ich heute morgen meinen Dickkopf durchsetzen müssen, anstatt auf Reese zu hören?

„Los, hier lang.“ Ohne Rücksicht auf meinen Zustand zu nehmen, setzte Logen sich in Bewegung. Declan und Sylvan waren direkt vor uns und mir blieb gar nichts anderes übrig, als hinter ihnen herzustolpern, da Logans Griff unnachgiebig war.

Die Garage in der ich mich befand hatte genug Stellplätze für eine ganze Sportmannschaft, doch nur ungefähr ein Dutzend von ihnen waren belegt. Alles edle Nobelkarossen. Nicht mal eine davon könnte ich mit einem ganzen Jahresgehalt bezahlen.

Doch für die Autos interessiert ich mich im Moment nicht. Wir hielten auf den hinteren Bereich zu. Dort war eine Tür in die Wand eingelassen, die man nur mit einem Sicherheitscode öffnen konnte.

Declans Finger flogen so schnell über die kleine Tastatur, dass mir sofort klar war, er musste das ziemlich oft tun. Als das rote Lämpchen dann auf grün sprang und ein Summer uns ein Akustisches Signal gab, drückte er die Tür so auf, das der Rest von uns an ihm vorbei in den Raum dahinter gehen konnte. Nein, kein Raum, ein … Garten?

Ich war mir nicht sicher. Es hatte schon irgendwie Ähnlichkeiten, doch die hohen Bäume und sorgsam angelegten Kieswege, erinnerten mich dann doch eher an einen privaten Park.

Viel bekam ich von der Anlage jedoch nicht zu sehen, da die drei mich in einem strammen Tempo an der Hauswand entlang führten und gleich darauf ein Sichtschutz aus einer sorgsam geschnittenen Zierhecke mir den Blick auf die Anlage nahm.

Am Ende von dieser Hecke stand ein längliches Gebäude, das auf den ersten blick zwar gepflegt, aber sehr nichtssagend auf mich wirkte. Auch hier gab es eine Tür, die nur durch einen Sicherheitscode geöffnet werden konnte und sobald man mich hindurchgeschoben hatte, fand ich mich in … einer Küche wieder?

Sie war hochmodern, doch war das hier keine Küche, wie man sie Zuhause für den alltäglichen Gebrauch benutzte, dies hier war eine Großküche. Nicht wie für ein Restaurant, oder eine Kantine, nein, diese hier war anders. Ich hatte sowas schon gesehen, früher, als ich noch zur Akademie gegangen war. So ähnlich hatte die Futterküche für die Proles in der Beluosus Akademie ausgesehen. Hier wurde Tierfutter zubereitet. Und wenn man sich die Mengen ansah, um die sich die vier Leute in den grauen Uniformen kümmerten, dann beherbergte man hier keinen kleinen Streichelzoo mit vielen flauschigen Hoppelhäschen.

Beherbergte der Besitzer ein paar ungewöhnliche Haustiere? Löwen? Tiger? Bären? Aber die noch viel wichtigere Frage lautete doch, warum brachten sie mich ausgerechnet hier her?

Ich spürte wie mein Atem schneller wurde, als sich grauenhafte Szenarien in meinem Kopf abspielten, doch Declan und Co. führten mich einfach durch die Küche hindurch zu einer Tür am Ende des Raumes.

Eine Frau, die gerade mit einer großen Rinderhälfte beschäftigt war, warf mir im Vorbeigehen einen neugierigen Blick zu, schien aber nicht mal auf die Idee zu kommen, mir zu Hilfe zu eilen.

Und wieder machte sich niemand die Mühe sein Gesicht vor mir zu verbergen. Der Stein in meinem Magen wurde noch schwerer und mein Puls wollte sich gar nicht mehr beruhigen.

Die nächste Tür die wir durchtraten, konnte ohne einen Zahlencode geöffnet werden. Dieses Mal landeten wir ein einem modernen Büro mit einer offenen Glasfront, die auf einen kleinen, chinesischen Steingarten zeigte. Den Mittelpunkt bildete eine Ansammlung von Steinen, die zu einem plätschernen Wasserfall umfunktioniert worden waren. Es wirkte idyllisch. Leider hatte das im Moment keine sehr beruhigende Wirkung auf mich.

„Setzen“, befahl Logan mir und drückte mich grob auf einen Stuhl vor einem großen, gläsernen Schreibtisch. Dahinter stand ein dick gepolsterter Lederstuhl, doch der war leer.

„Ich geh mich mal kurz frisch machen“, erklärte Logan und verließ im Eilschritt das Büro. Das Blut hatte er sich in der Zwischenzeit zwar notdürftig aus dem Gesicht gewischt, aber er wirkte noch immer ziemlich lädiert.

Declan und Sylvan machten es sich auf einer modernen Couchgarnitur bequem und unterhielten sich leise. Ich nutzte ihre Unaufmerksamkeit, um mich unauffällig umzusehen.

An der Wand hinter mir war eine ganze Reihe von kleinen Monitoren an einer Konsole angebracht. Sicherheitsmonitore? Sie waren alle ausgeschaltet, also konnte ich das nicht mit Sicherheit sagen.

Über der Tür hing eine lautlose Uhr. Es war nach fünf, ich war seit mehr als vier Stunden verschwunden und so weit von Zuhause entfernt, dass es unwahrscheinlich war, dass mich hier jemand finden würde. Oh Gott, ich brauchte einen Plan – einen, der auch in meinem Zustand ausführbar war, aber weder Monitore noch die Uhr würden mir dabei weiterhelfen.

Hinter dem Schreibtisch standen eine ganze Reihe von Regalen, die mit säuberlichen Standordnern gefüllt waren, doch da sie alle nur mit Daten versehen waren, gaben auch sie mir keinen Aufschluss darüber, was hier eigentlich los war.

Mein Blick fiel auf den Schreibtisch. Monitor, Tastatur, Maus, Telefon. Nichts hilfreiches. Doch dann entdeckte ich in dem Stifthalter etwas das meine Aufmerksamkeit erregte. Da steckte ein kunstvoll gearbeiteter Brieföffner mit einem Elfenbeingriff drin.

Augenblicklich wurde ich aufgeregter und wieder musste ich mich zwingen ruhig zu bleiben. Ein Brieföffner war zwar keine gute Waffe – besonders nicht, wenn einem die Hände auf den Rücken gebunden waren – aber sie war besser als ganz ohne dazustehen.

Aus dem Augenwinkel warf ich einen kurzen Blick zu den beiden Männern hinüber. Sie waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie im Moment gar nicht auf mich achteten. Aber wie sollte ich unbemerkt an den Brieföffner herankommen?

Ich könnte einen Schwächeanfall vortäuschen. Einfach umkippen, den Stifthalter mit mir zu Boden reißen und die Waffe an mich bringen. Aber dazu musste ich erstmal ein wenig näher herankommen.

Vorsichtig und sehr langsam schob ich mich auf dem Stuhl ein wenig nach vorne. Niemand sagte etwas. Okay, dann noch ein kleines Stück. Wieder blieb es still. Ich wartete einen Moment, bis ich fast bis an die Kante rutschte.

„Wenn du damit nicht aufhörst“, drohte Sylvan, „dann komme ich zu dir rüber und versohle dir den Hintern.“

Ich erstarrte. Er hatte es bemerkt? Aber wie? Ich war doch so vorsichtig gewesen.

„Setz dich wieder manierlich auf den Stuhl.“

Verdammt! Ich biss die Zähne zusammen und hätte ihm gerne ein paar Dinge entgegengeschleudert – unter anderem den Brieföffner – aber im Moment blieb mir gar keine andere Wahl, als genau das zu tun, was sie von mir verlangten. Ich war gefesselt, hatte keine Waffen und alle Türen waren doppelt und dreifach gesichert. Ich saß hier sprichwörtlich in der Falle und dieser Gedanke ängstigte mich immer mehr, doch eine ganze Weile geschah rein gar nichts.

Zwanzig Minuten später tauchte Logen wieder auf und erschreckte mich halb zu Tode, nur weil er die Tür öffnete. Er hatte sich gewaschen und ein frisches Hemd angezogen, doch die Blessuren in seinem Gesicht würden ihm noch ein Weilchen erhalten bleiben. Sollte ich Kjell noch mal wiedersehen, würde ich ihn zu seinen Fähigkeiten beglückwünsche.

Hör auf so zu denken, noch ist nichts vorbei, du kommst hier wieder raus!

Im Moment jedoch tat ich nichts weiter als zu warten und das machte mich immer unruhiger. Diese Leute mussten einen Grund haben, warum sie mich hergebracht hatten, doch so sehr ich meinen Kopf auch anstrengte, mir fiel nichts Plausibles ein. Vielleicht ein verärgerter Kunde? Nein, dann wären wir sicher noch in Berlin. Ein Freund von Tais? Dieses Gedanken wollte ich nicht weiterverfolgen. Ein Fan der mich aus dem Fernsehen kannte? Das wäre ein ziemlich großer Aufwand, nur um meine Aufmerksamkeit zu bekommen.

Die Uhr an der Wand zeigte schon nach sechs an, als die Tür das nächste Mal geöffnet wurde. Ich wandte mich sofort um und erblickte als erstes zwei riesige Schränke von Männern in schwarzen Anzügen, die wohl schon mit der Muttermilch Testosteron in sich aufgenommen hatten.

Hinter ihnen erschien eine schlanke, hochgewachsene Blondine um die vierzig, in einem modischen Businesskostüm. Die weiße Jacke war ihr direkt auf die Tailie geschneidert worden und die Hose an den Beinen etwas weiter, sodass sie ihr bei jedem Schritt um die Beine schwang. Sie war keine Schönheitskönigin – dafür war der Mund zu schmal und das Gesicht zu rund – verstand es aber aus ihrem Typ das Beste zu machen. Dann noch der dezente Schmuck … kurz gesagt, sie sah teuer aus.

Als sie mich bemerkte, erschien ein kleines Lächeln auf ihren Lippen. „Was ist mit ihrem Gesicht passiert?“ Sie hatte eine sanfte Stimme mit einer sehr akkuraten und kultivierten Aussprache.

Logen zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Sie brauchte einen kleinen Ansporn, um sich zu benehmen.“

Du perverser Scheißkerl! Du hast mir eine reingehauen, weil ich nicht wollte, dass du mich begrapscht! Wütend knirschte ich mit den Zähnen.

Die Frau schüttelte nur den Kopf, als hätte sie es mit unbelehrbaren Kindern zu tun und nahm dann in dem gemütlichen Stuhl hinter dem Schreibtisch Platz. Dann musterte sie mich nachdenklich. Ihre grauen Augen schienen jede noch so kleine Kleinigkeit zu begutachten. Dabei strahlte sie eine Aura von Autorität aus. Es war ganz offensichtlich, dass diese Dame hier das Sagen hatte.

„Gehe ich recht in der Annahme, dass es sich bei Ihnen um meine Entführerin handelt?“, fragte ich ganz direkt.

Ihre Lippen verzogen sich zu einem schelmischen Lächeln und sie wirkte ehrlich erheitert, aber auf meine Frage ging sie nicht ein. „Meine Herren, bitte nehmt ihr doch die Fesseln ab. Wir sind doch alle zivilisiert.“ Ihre Augen hoben sich ein wenig. „Ach Logen, schau mich nicht so an. Ihr seit fünf gegen eine unbewaffnete Frau. Wenn sie Ärger macht, erschießt ihr sie einfach. Ich hoffe natürlich, dass sie uns nicht zu solch drastischen Maßnahmen zwingt. Blutflecken sind immer so schwer aus dem Teppich zu entfernen.“

Ich war sprachlos. Sie redete ganz nebenbei über eiskalten Mord, wie andere über das Wetter. Nun war ich mir ganz sicher: Diese Frau hatte den Auftrag zu meiner Entführung gegeben. Die Frage war jetzt nur noch: Warum?

Es war keiner von dem Trio, der sich in Bewegung setzte, sondern einer der beiden Schränke. Als er ein Messer zog, zuckte ich instinktiv davor zurück, doch er packte einfach meinen Arm und setzte die Klinge dann an den Kabelbinder an.

Ich drückte die Lippen fest aufeinander, als das scharfe Metall mir auch in die Haut schnitt, aber dann war das blöde Teil endlich ab und ich konnte meine Arme wieder nach vorne nehmen. Leider ließ diese Bewegung einen rasenden Schmerz durch mein Schultern schießen. Stundenlang in dieser Haltung zu verharren, war wirklich nicht zu empfehlen.

Vorsichtig, um meine überdehnten Muskeln nicht noch mehr zu überanstrengen, rieb ich mir über die wunden Handgelenke, um das Blut besser zirkulieren zu lassen. Der Schnitt war rechts am Handrücken. Nichts lebensbedrohliches, aber er brannte leicht.

„So ist schon besser.“ Die Frau setzte sich in ihrem Stuhl zurecht und legte nachdenklich einen Finger ans Kinn. „Grace Shanks, Venatorin der Berliner Gilde, zweiter Platz im Ranking der meisten Tötungen. Sie sind bestimmt sehr stolz auf ihren Erfolg.“

Was sollte diese Bemerkung? Meine Augen verengten sich argwöhnisch. „Und Sie sind?“

„Oh wie unhöflich von mir.“ Sie setzte sich wieder ein wenig aufrechter hin, als wollte sie eindrucksvoll wirken. „Mein Name ist Malou Grabenstein. Investorin, Unternehmerin, Milliardärin.“ Zwischen ihren Worten entstand eine Kunstpause. „Und führendes Vorstandsmitglied bei Live for Animals.“ Sie gab mir einen Moment, um diese letzten Worte auch wirklich zu begreifen. Dabei lehnte sie sich in ihrem ledernen Stuhl völlig entspannt zurück. „Ja man könnte sogar sagen, ich bin die oberste Instanz.“

Das schlug ein wie eine Bombe und einen Moment war ich nicht nur sprachlos, selbst meine Gedanken hatten sich verabschiedet und mussten erst resetet werden, um wirklich zu verstehen, was sie da gerade gesagt hatte. „Sie … Sie gehören zu L.F.A.?“

„Ja, ich bin in der obersten Führungsriege.“

Oh Gott. Plötzlich hatte ich das Gefühl tiefer in der Tinte zu sitzen, als ich bisher geglaubt hatte. Ich hatte Berichte darüber gehört, was die Mitglieder von L.F.A. mit Venatoren machten, die sie auf der Straße erwischten. Die hier gehörte sogar zu den Bossen und hatte mich entführen lassen.

Unruhig sah ich mich nach den Männern um. Oh ja, ich steckte wirklich so richtig tief in der Scheiße. Bleib ruhig. Ich zwang meine Zähne auseinander. „Was wollen Sie von mir?“

„Was könnte ich von Ihnen schon wollen? Vielleicht ein klärendes Gespräch unter Frauen?“ Ihre Augen funkelten belustigt.

„Dann hätten sie auch einfach anrufen können. Meine Nummer steht im Telefonbuch.“

Ihr Lächeln wurde ein wenig breiter. „Oh wie erfrischend. Würden Sie nicht ständig meine Arbeit sabotieren, könnte ich Sie wahrscheinlich mögen.“

„Ihre Arbeit? Ich wusste bis jetzt nicht mal dass Sie existieren.“

„Das vielleicht nicht, aber ihr Beruf wirkt meinem Engagement bei L.F.A. entgegen.“ Ihr Finger glitt an der glatten Kante des Schreibtisches entlang. „Wussten Sie, dass die Proles-Dichte in Norddeutschland in den letzten drei Jahren um sieben Prozent zurückgegangen ist?“

Darum ging es hier? Sie hatte mich verschleppen lassen, weil ich Proles jagte? „Ja, das ist mir bewusst“, sagte ich vorsichtig. Ich las schließlich jeden Fachartikel zu diesem Thema.

„Natürlich ist das nicht allein Ihnen zuzuschreiben“, räumte sie sofort ein. „Aber Sie und ihr Partner, haben ihren Teil dazu beigetragen. Sie stehen im Venatoren Ranking der Stadt Berlin an erster Stelle. Das bedeutet, dass sie beide in dieser Gegend im Moment die größte Bedrohung vor für unsere Arbeit und die Proles darstellen.“

Aus der Sicht von L.F.A musste das eine besorgniserregende Zahl sein. Ich hingegen konnte mich nicht erwehren ein kleinen wenig stolz darauf zu sein. „Und was bedeutet das jetzt im Klartext?“ Was haben Sie mit mir vor?

Wieder trat dieser nachdenkliche Ausdruck auf ihr Gesicht. Dann schob sie ihren Stuhl zurück und erhob sich. „Kommen Sie, begleiten Sie mich, ich würde ihnen gerne etwas zeigen.“

Als ich nicht sofort reagierte, weil ich mir nicht sicher war was das nun wieder sollte, half mir einer der Schränke sehr nachdrücklich beim Aufstehen und stieß mich Richtung Tür.

 

°°°

 

Wie schon zuvor, nahmen wir wieder den Weg durch die Küche. Malou Grabenstein lief vorne weg, meine fünf Aufpasser, eskortierten mich in ihrer Mitte, bis wir wieder draußen waren und die Milliardären einen Blick über die Schulter warf.

„Oh Jungs, wenn ihr sie so einkesselt, kann sie doch gar nichts sehen. Geht zur Seite, na los, macht ihr ein wenig Platz.“ Mit den Händen wedelte sie sie fort, als wären sie lästige Fliegen.

Also entweder war die Frau sich ihrer Sache sehr sicher, oder sie war strohdumm. Leider tendierte ich eher zur ersten Annahme. Mit Geld konnte man sich viel kaufen, auch Loyalität. Würde ich nur eine falsche Bewegung machen, würden sie sich sicher alle gleichzeitig auf mich stürzen.

„Wissen sie, warum L.F.A. sich der Arterhaltung der Proles verschrieben hat?“, fragte mich Malou, als sie mich hinter der Zierhecke entlangführte.

Ehrlich gesagt hatte ich noch nie darüber nachgedacht, denn wenn ich raten müsste, würde ich sagen, weil sie völlig durchgeknallte Fanatiker waren, die nicht besseres mit ihrer Zeit anzufangen wussten. „Weil sie sich für sie verantwortlich fühlen?“ Ihre Gruppe hatte diese Mistviecher schließlich erst auf die Welt frei gelassen.

„Weil sie etwas ganz Besonderes sind“, korrigierte sie mich. „Proles sind so einzigartige und wunderschöne Geschöpfe. Wir dürfen nicht erlauben, dass sie vom Antlitz dieser Erde getilgt werden, nur weil ihre Natur ein wenig aggressiv geraten ist.“

Ja, wunderschön. Besonders wenn sie völlig blutbesudelt bis zur Schulter in einem Menschen drinnen steckten und ihm bei völligem Bewusstsein die Gedärme aus dem Leib rissen. „Ich fürchte, da sind wir wohl geteilter Meinung.“

„Ja, aber auch nur, weil Sie in ihnen nicht mehr als Monster sehen. Sie sind in ihren Ansichten so festgefahren, dass Sie für nichts anderes offen sein können. Aber Proles haben auch eine sanfte und liebevolle Seite. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was ich meine.“

Zu behaupten ich wäre gespannt gewesen, was da jetzt kam, wäre gelogen gewesen, doch mit diesen fünf Bastarden im Rücken hatte ich gerade gar keine andere Möglichkeit, als sie zu begleiten.

Wie ich es schon vermutet hatte, verbarg sich hinter der Zierhecke ein akribisch angelegter Park, mit ausgewählten Pflanzen und strategisch gesetzten Wegen. Ich konnte ohne Neid zugeben, es war wunderschön. Doch durch die vielen Bäume und Büsche war es einem nicht möglich, sehr viel zu sehen. Selbst die Beleuchtung für die Nacht war sehr dezent angebracht, so dass man sie kaum erwartete. Die Anlage erweckte auf mich den Eindruck eines verwunschene Gartens. Ich erwartete halb, dass uns hinter der nächsten Biegung ein Einhorn erwarten würde.

Verrückter Weise erwartete uns hinter der nächsten Biegung tatsächlich etwas, nur war es leider kein Einhorn, sondern ein Käfig – oder besser gesagt eine riesige Voliere, die sich perfekt in das Gesamtbild einfügte.

Sie war sehr grün und naturgetreu eingerichtet und die vielen Dicken Äste und Baumstämme ließen darauf schließen, dass darin etwas lebte, das gerne kletterte, aber auch nach einer genaueren Suche konnte ich den oder die Bewohner nicht entdecken. Vögel waren es jedenfalls keine, die hätte man gehört.

Die beiden schmaleren Seiten waren aus dickem Glas. An der linken war eine kleine Schleuse angebracht, wie man sie von der Ausgabe einer Tankstelle kannte. Direkt daneben hing ein kleiner Futterspender.

„Hier drinnen lebt Pascha“, erzählte Malou mir stolz und ging zu dem Futterspender. Sie entnahm ihm einige Brocken, die mich entfernt an Cheerys Katzenfutter erinnerten und legte sie in die Schleuse. Dann stand sie da und wartete.

Im ersten Moment geschah gar nichts, doch dann hörte ich ein leichtes Rascheln und entdeckte ganz oben in der Ecke etwas Weißes, dass sich hinter den großen Blättern bewegte und sich langsam ins Freie schob. Erst nur eine Pfote, dann kam der Kopf und ich blickte in zwei rote Augen, in denen der Wahn tobte.

Ein Albino. Aber nicht irgendein Albino, das war ein verfluchter Toxrin!

Unwillkürlich griff ich nach der Wunde an meinem Hals.

„Pascha kam vor ungefähr drei Jahren zu mir“, erzählte Malou Grabenstein und beobachtete gespannt, wie der Proles auf dem dicken Stamm entlang balancierte und sich wachsam der Futterschleuse nährte. „Wir konnten ihn retten, als wir einen Auftrag der Venatoren abgefangen haben. Wären wir nicht rechtzeitig da gewesen, wäre dieses wunderschöne Wesen nun tot.“

Und das wäre auch richtig. Es war egal wie schön es war, das Ding war tödlich.

„Wir haben einmal versucht ihm ein Weibchen zu geben, aber wie man an seinem Ohr sieht, ist das nicht gut für den Kleinen ausgegangen.“

Stimmt, jetzt wo sie es sagte, bemerkte auch ich sein Ohr. Nahe genug war er ja mittlerweile. „Und was haben Sie mit dem Weibchen gemacht?“ Umgebracht hatte sie es vermutlich nicht.

„Na was schon? Es wurde an einem Ort ausgewildert, wo es ruhig und in Frieden leben kann.“ Fast schon verträumt sah sie dem kleinen Biest dabei zu, wie er das Futter verschlang. „Eine Zeitlang habe ich überlegt auch Pacha in die Freiheit zu entlassen. So schön es hier auch ist, es ist noch immer ein Käfig, aber so etwas Schönes muss bewahrt und geschützt bleiben, hier bei mir, wo er in Sicherheit ist.“

Ob das wirklich ihr Beweggrund war? Auf mich machte sie eher den Eindruck, dass sie sich gerne mit schönen und eindrucksvollen Dingen umgab. Sie wollte nicht nur ein Toxrin, sie wollte einen außergewöhnlichen Toxrin. Sie hatte wahrscheinlich genug Geld, um sich all das leisten zu können, was sie sich nur wünschte. Und was tat man dann als reiche Frau mit Konten die zum bersten gefüllt waren? Genau, man suchte sich ein teures und auch sehr gefährliches Hobby, das einen Fressen konnte.

„Haben Sie gar nichts dazu zu sagen?“, fragte sie mich lauernd.

Schweigen oder reden? „Ich denke nicht, dass meine Meinung hier eine allzu große Rolle spielt.“ Da, absolut diplomatisch gelöst. Ich sollte in die Politik gehen.

„Es gibt Individuen, die sind unbelehrbar.“

Unbelehrbar? „Ich habe ein paar sehr unschöne Erfahrungen mit Proles gesammelt.“

„Ja, aber auch nur weil Sie sie jagen.“ Sie klopfte mit dem Finger an da Glas, was ihr von dem Biest nur ein müdes Lächeln einbrachte. „Wenn der Mensch Gott spielen will, dann muss er lernen mit seiner Schöpfung zu leben.“

„Haben sie schon Mal von den Nephilim gehört?“

Die Frage irritierte sie einen Moment. „Das sind die Kinder von Engeln und Menschen.“

Ich nickte. „Genau. Menschen wurden von Gott geschaffen, genau wie Tiere, die Nephilim jedoch sind Kreaturen, die nicht von ihm stammten. Es gibt Geschichten, die behaupten, dass Gott eine Flurwelle über die Erde schickte, um diese Kreaturen zu vernichten, weil es sie nicht geben durfte.“ Ich sah ihr herausfordernd in die Augen. „Auch Proles sind Kreaturen, die es so nicht geben sollte.“ Das hatte sie nun von ihrer blöden Gottmetapher.

Leider entlockte ihr das nur ein flüchtiges Lächeln. „Wer sind Sie, dass sie entscheiden dürfen, wer leben darf und wer keine Berechtigung zu seiner Existenz hat? Gott sind Sie ganz sicher nicht und eine Flutwelle können Sie auch nicht heraufbeschwören.“

Normalerweise war ich die mit der Knarre und konnte sehr wohl darüber entscheiden, ob ein Proles lebte oder starb.

Als der Toxrin – ich weigerte mich seinen Namen zu benutzen – mit der Pfote auffordernd gegen das Glas tippte und einen Ton irgendwo zwischen einem Maunzen und einem Kreischen ausstieß, lächelte Malou selig. „So inteligend“, murmelte sie und entnahm dem Futterspender noch ein paar Brekkies, die sie in die Schleuse legte.

Inteligent? Ja, aber würde sie dem Vieh das Futter direkt aus der Hand reichen, würde es seine Zähne wohl eher in ihr Fleisch als in die Leckerlis schlagen.

„Kommen Sie, ich möchte Ihnen noch etwas zeigen.“

Nachdem diese Worte gefallen waren, ahnte ich schon, dass dieser Toxrin nicht der einzige Proles war, den sie beherbergte. Und wie ich gleich darauf erfuhr, sollte ich Recht behalten.

Dieses Mal brachte Malou mich zu einem etwas abgesenkten Gehege, dass von der Voliere aus nicht zu sehen gewesen war, aber im Grunde nur ein paar Meter weiter lag. Es war deutlich größer und die vorderen Außenwände komplett aus Glas. Die hintere Wand war aus einer felsigen Steinformation gefertigt worden. Es erinnerte mich ein wenig an ein Raubtiergehege aus einem Zoo – nur waren die Wände hier deutlich höher.

Es gab einen Graben mit Wasser, der Rest war sehr natürlich gehalten. Gras, Bäume, Steine und auch der darin befindliche Proles war schnell gefunden. Er lag auf einem Sonnenfelsen und schien zu dösen. Ein Spuma.

Dieses Proles war eine Raubkatze mit grüne Deckhaar ist mit schwarzmelierten Streifen. Es war eines der schönsten Proles, die es gab, aber mit dem hier stimmte etwas nicht. Er war zu klein. Das sah man sehr gut, da gerade ein zweiter Spuma aus dem hinteren Bereich angeschlendert kam.

Ausgewachsen maßen diese Biester weit über zwei Meter, diese jedoch brachte es gerade mal auf einen Meter. Dabei war es definitiv kein Jungtier mehr.

„Das ist meine Diva“, erklärte Malou mir und sah stolz auf ihren kleinen Liebling hinunter. Ein Mitglied von L.F.A. fand sie verletzt an einer Autobahn. Sie war angefahren worden. Und der junge Mann ist Carlos.“

Auch der zweite Proles wirkte nicht ganz richtig. Seine Streifen fehlten und das Fell war viel heller als es sein sollte. Diese Frau hielt sich scheinbar nicht irgendwelche Proles, sondern Mutationen. Aber diese hier waren nicht wie die Züchtungen von Taid, sie waren einfach anders.

Damit war unsere kleine Führung aber noch nicht vorbei. Meine Gastgeberin zeigte mir noch eine Voliere mit drei Deccus' die auch aus der Art schlugen und ein Rudel mit mehreren Amphs. Keiner von ihnen sah aus wie aus dem Lehrbuch. Malou hatte sich hier wirklich eine Sammlung einzigartiger Proles zusammengestellt. Sogar einen alten Lyvara, der ihren Worten nach noch aus der ersten Generation stammte, hatte hier sein Zuhause gefunden.

Bei diesen Worten musste ich wieder an die Iuba denken, doch ich wurde ziemlich schnell abgelenkt, als wir das nächste Gehege erreichte. Auf dem ersten Blick wirkte es leer, auf dem zweiten entdeckte ich darin einen Mann in grauer Uniform, der gerade Scheiße vom Boden aufsammelte.

„Hier drinnen wohnt mein Dorcas Schlumpf. Normalerweise sind Dorcas' ja schwarz, aber dieser hier ist blau.“

Daher der Name. Sehr einfallsreich. „Der Kerl ist ganz schön mutig“, bemerkte ich. Ich würde nicht freiwillig zu einem Dorcas ins Gehege gehen.

„Schlumpf ist gerade hinten weggesperrt, weil das Gehege gesäubert wird.“

„Die lassen ich freiwillig einsperren?“

„Aber natürlich.“ Ihr aufgesetzte Erstaunen über diese Frage glaubte ich ihr keinen Moment. „Proles sind überaus intelligent. Sie werden bei mir vom ersten Tag an darauf trainiert, bei einem Signalton in den nicht einsehbaren Bereich zu gehen. Sie machen das Freiwillig, denn sie wissen, dass sie dann etwas zu Fressen bekommen. Sobald sie dann hinten sind, kann der Pfleger einen Knopf betätigen, wodurch die Trennwand heruntergelassen wird. Sehen Sie? Da.“ Sie zeigte auf eine unscheinbare Luke in der hinteren Wand. „In der Tür ist ein Kontakt eingebaut. Erst wenn Trennwand ganz geschlossen ist und der Kontakt sein Gegenstück berührt, lässt sich die Gehegetür öffnen.“

Eines musste ich ihr ja lassen. In Fragen Sicherheit hatte sie an alles gedacht.

„Ich würde so gerne noch mehr von ihnen retten und aufnehmen“, sagte sie sehnsüchtig. „Leider sind meine Kapazitäten beschränkt.“

„Wie schade“, sagte ich und konnte den sarkastischen Unterton nicht ganz aus meiner Stimmer heraushalten.

Sie beachtete es nicht. „Kommen Sie, wir sind noch nicht fertig mit unserer kleinen Tour.“

Wie Groß war dieser Park eigentlich und wie viele Proles verbargen sich hier noch? Malou jedenfalls schien glücklich zu sein, mir alles zeigen zu können. Wahrscheinlich hatte sie nicht oft Gelegenheit Fremden ihren größten Schatz vorzuführen.

Ich jedoch begann langsam zu frieren. Meine Jacke lag noch immer im Kofferraum des SUV und mein Pulli war nicht gerade dick. Die hohe Vegetation um uns herum schützte mich zwar vor dem beißendem Wind, kalt war es trotzdem.

„Verstehen Sie jetzt?“, fragte Malou und schlug einen Weg nach recht ein.

Ich hatte mittlerweile völlig die Orientierung verloren. Konnte aber auch daran liegen, dass ich mich die ganze Zeit frage, was sie eigentlich von mir wollte. „Was verstehe ich?“

„Das Wesen der Proles, natürlich. Solch bezaubernde Geschöpfe müssen gerettet und beschützt werden, nicht getötet.“

Diese bezaubernden Geschöpfe haben meine Familie auf dem Gewissen! Ich schwieg mich aus.

„Sie scheinen das noch immer nicht so zu sehen.“

„Ich habe viel erlebt“, sagte ich kurz angebunden. Viel erlebt und noch mehr gesehen. Sie konnte tun was sie wollte, sie würde diese Bestien in meinen Augen niemals in missverstandene Knutschkugeln verwandeln.

„Das ist schaden, denn das bringt uns zu unserem eigentlichen Problem zurück.“

Ah, kamen wir jetzt endlich zum Punkt? „Das ich Ihre Arbeit störe.“

„Genau!“, rief sie begeistert, als könnte sie kaum glauben, dass mir das bewusst war. „Natürlich muss jeder irgendwie seinen Lebensunterhalt verdienen, ich verstehe das, aber sowohl Sie als auch Ihr Partner sind für mich mittlerweile ein ziemlich großes Ärgernis geworden.“

Wir gingen an einem weiteren Gehege vorbei, dass dem der Spumas sehr ähnlich sah. Auf dem ersten Blick wirkte es verlassen. Die Trennwand war heruntergelassen, die Proles mussten gerade weggesperrt sein.

„Das Gleiche könnte ich über Sie sagen. Ich habe gesehen, wozu die Arbeit von L.F.A. führen kann und es war niemals ein schöner Anblick.“

Das überging sie einfach. „Wir sind nun mal nicht allein auf diesem Planeten und müssen einfach lernen, mit anderen Wesen zu teilen. Damit hatte der Mensch schon immer Schwierigkeiten. Nicht nur Proles, auch andere Tierarten wurden zum Teil bis zur Ausrottung gejagt.“

Proles sind keine Tiere!

Statt weiter auf dem Weg zu bleiben, bog Malou in einem Seitengang ab, der seitlich an dem Gehege entlang führte. Ich zögerte damit ihr zu folgen, weil ich fragte, was das nun wieder wurde, aber ein kräftiger Stoß in den Rücken erinnerte mich daran, dass wir nicht allein waren und ich keine Wahl hatte. Also ging auch ich den schmalen Pfad entlang.

„Wissen Sie“, sagte sie und blieb dann vor dem Zugang zum Gehege stehen. „Ich bin ein friedliebender Mensch, aber ich hab ganz entschieden etwas gegen Schwierigkeiten und Sie stehen geradezu für dieses Wort.“ Ihre grauen Augen wurden eiskalt und in mir machte sich ein sehr ungutes Gefühl breit. „Darum möchte ich sie nun mit meinen Neuzugängen bekannt machen. Obwohl.“ Sie schmunzelte vergnügt. „Eigentlich kennen Sie sie ja schon.“

Ich kam nicht mehr dazu mir über ihre Worte Gedanken zu machen, den plötzlich wurde ich von hinten gepackt, damit ich nicht abhauen konnte. In diesem Moment wurde mir endlich klar, war Malou vorhatte, doch wirklich bewusst wurde es mir, als die mit den Worten „Es ist Fütterungszeit“ die Tür zum Gehege öffnete und netterweise zur Seite trat, damit der Schrank hinter mir genug Platz hatte, um mich nach vorne zu zerren.

„Nein!“, schrie ich und begann panisch in seinem Griff zu zappeln. Ich kratzte ihm über die Arme und trat ihm gegen das Schienbein, doch es brachte rein gar nichts. Er gab mir einfach einen kräftigen Stoß und schon fiel ich in das Gehege hinein. Dabei knallte ich so ungünstig auf den Boden, dass ein heftiger Schmerz durch meinen Kopf schoss und mir einen Moment schwarz vor Augen wurde. Doch das Adrenalin sorgte dafür, dass ich die Benommenheit schnell wieder abschütteln konnte. Meine Sich jedoch war plötzlich rot. Ich blutete irgendwo am Kopf – sehr stark sogar.

Als das Tor hinter mir mit einem dumpfen Knall und einem lauten Warnton ins Schloss fiel, wirbelte ich panisch herum. Oh Gott, sie hatten mich hier eingesperrt! „Macht die Tür wieder auf!“, schrie ich und sprang eilig zurück auf die Beine. Meine Hände griffen sofort nach dem Griff, aber egal wie heftig ich auch daran zerrte, sie ließ sich einfach nicht öffnen. „Machen sie die verdammte Tür wieder auf!“ Ich schlug ein paar Mal mit den Fäusten dagegen. „Bitte, das können Sie doch nicht machen!“

Durch das dicke Glas sah ich, wie Malou bedauernd den Kopf schüttelte. „Wären sie mir nur nicht in die Quere gekommen.“ Ihre Hand ging zu einem Knopf an der Seite und dann ertönte ein weiteres Signal. „Au revoir, Grace Shanks.“

Meine Augen weiteten sich kaum merklich. Dann hörte ich das Knurren.

Ich wirbelte herum auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit, aber die Wände waren aus Glas und die Felsformation viel zu steil um daran hinaufzuklettern. Oh Gott, ich kam hier nicht raus. Mein Herzschlag wurde immer schneller und mein Puls raste geradezu, doch ich konnte nichts anderes tun, als dabei zuzusehen, wie die Luke in der Felswand sich langsam öffnete.

Ich würde sterben. Hier und jetzt würde ich von irgendwelchen Bestien zerrissen werden und es gab nichts was ich dagegen tun konnte.

Eine Pfote tauchte in der Luke auf und kratze in dem Versuch ins Freie zu gelangen über den erdigen Boden, ein schwarzweiß gestreifte Pfote.

Das war ein Iuba, das war ein verdammter Iuba!

Hektisch sah ich mich nach etwas um, mit dem ich mich verteidigen konnte. Einen Stein, einen Ast, irgendwas, aber hier vorne an der Tür gab es nur mich und die Wand in meinem Rücken. Und dann kamen sie auch schon herausgestürzt. Es waren zwei, ein Rüde und eine Hündin und im ersten Moment schienen sie überrascht mich hier zu sehen, aber dieser Zustand hielt nicht lange an. Das Weibchen bleckte die Zähne, legte die Ohren an und dann stürzte sie sich auf mich.

Ich stieß einen Schrei aus und reagierte rein instinktiv, als ich mein Bein hochriss und zutrat. Dass ich sie wirklich traf und dazu auch noch am Kopf war nichts weiter als ein Glückstreffer.

Sie jaulte auf und taumelte zur Seite, doch bevor ich mein Gleichgewicht wiederfinden konnte, war auch schon der Rüde da und dieses Mal hatte ich nicht so viel Glück.

Sein erster Biss ging nur in mein Hosenbein, doch er riss und zerrte mit so viel Kraft daran, dass ich das Gleichgewicht verlor und hart auf den Boden knallte. Sobald ich unten lag, biss er noch einmal nach und dieses Mal bohrten seine Zähne sich in mein Fleisch.

Ich schrie auf vor Schmerz und versuchte nach dem Mistvieh zu treten. Adrenalin jagte durch meine Adern und verlieh mir neue Kraft, doch der Iuba zerrte wie verrückt nach mir, beutelte mein Bein und biss immer fester zu. Dann kam auch der zweite wieder angesprungen und in einem sehr kurzen Augenblick nahm ihn den Wahn in den gelben Augen der Hündin wahr. Sie wollte töten, sie wollte fressen und sie wollte es jetzt tun.

Als sie sich geifernd auf meine Kehle stürzte, riss ich nur noch schützend die Arme hoch, doch sie kam nie bei mir an.

Ein dritter Iuba tauchte auf, aber dieser griff nicht mich an. Er griff die Hündin an, verbiss sich mit viel Geknurre in ihre Schulter, bis die vor Schmerz aufjaulte und mit eingeklemmter Rute den Rückzug antrat. Dann wirbelte er herum und bohrte seine Zähne in den Nacken des Rüden.

Die dicke Mähne schützte ihn vor schlimmeren Verletzungen, doch es musste trotzdem wehgetan haben, denn er heulte nicht nur auf, er ließ auch sofort von mir ab, um sich auf seinen Kontrahenten zu stürzen. Zwischen den beiden Rüden brach eine heftige Beißerei aus.

Was geschah hier nur? Prügelten sie sich darum, wer den ersten Bissen von mir nehmen durfte? Schwer atmend zog ich mich mit dem Rücken an die Wand zurück. Mein Bein schickte mir bei jeder Bewegung eine höllische Schmerzwelle durch den Körper. Die Jeans war aufgerissen und darunter eine blutende Fleischwunde. Es hätte nicht mehr viel gefehlt und er hätte ein Stück von mir herausgerissen.

Ein lautes Aufjaulen ließ mich den Blick wieder hochreißen und erst in diesem Moment verstand ich, was ich da wirklich sah. Drei Iubas, eine Hündin und zwei Rüden und einer der Rüden hatte nicht nur eine schwarze Mähne, sondern auch eine sehr alte Narbe an seinem Kopf, direkt neben seinem rechten Ohr.

Das waren die gestohlenen Iubas von dem Transport, sie waren hier!

Als der erste Rüde nicht nachgeben wollte, ging der mit der schwarzen Mähne noch aggressiver vor, biss ihm ins Bein, in die Flanke und zerrte an seinem Rücken, solange bis der erste Reißaus nahm und sich ein paar Meter weiter auf den Boden kauerte. Er hielt den Kopf unterwürfig gesenkt, zeigte dem Anderen aber trotzdem knurrend die Zähne.

Dieser ragte jedoch nur mit steil aufgerichteter Rute vor ihm auf und machte einen drohenden Schritt auf ihn zu, was den ersten Rüden dazu brachte sich eilig auf die Beine zu stemmen und grummelnd davonzuschleichen.

Die Schwarzmähne schaute ihm noch einen Moment drohend hinterher und knurrte auch noch mal die Hündin an, die nur wenige Meter weiter auf ihre Gelegenheit lauerte, bevor er sich zu mir umwandte.

Jeder Muskel in meinem Körper spannte sich an und ich spürte wie mein Körper neues Adrenalin ausschüttete, doch der Rüde neigte nur den Kopf ein wenig zur Seite und musterte mich neugierig, als sei ich eine seltsame Kuriosität.

Ich zog meine Beine etwas näher an mich heran. Eine neue Welle des Schmerzes ließ mir den Atem in der Lunge stocken. Schweiß brach mir aus allen Poren und ich musste ein paar Mal tief einatmen. Als der seltsame Rüde dann jedoch einen Schritt auf mich zumachte, stieß ich nur ein „Nein!“ aus und drückte mich noch fester mit dem Rücken an die Wand.

Er blieb sofort stehen und schaute sich um, als suchte er nach einer Gefahr. Dabei entdeckte er die Hündin, die wieder etwas näher geschlichen war. Seine Lefzen hoben sich und ein warnendes Knurren kam aus seiner Kehle.

Sie verharrte mitten in der Bewegung, wich aber nicht zurück. Erst als die Schwarzmähne geifernd einen Satz in ihre Richtung machte, nahm sie die Beine in die Hand und verzog sich ans andere Ende des Geheges, wo sie schatzsuchend hinter dem anderen Rüden in Deckung ging. Jedoch ließen die beiden weder mich, noch ihren Kumpel aus den Augen.

Auch mein Retter drehte sich wieder zu mir herum, weswegen ich mich noch weiter anspannte. Als er dann versuchte sich mir zu näheren, schrie ich wieder „Nein!“ und er blieb sofort stehen.

„Was ist da los?“, hörte ich Malou durch das dicke Panzerglas fragen. Sie klopfte mit den Knöcheln gegen das Glas.

Die Schwarzmähne stürzte so plötzlich los, dass wir alle erschrocken zusammenzuckten.

Ich stieß einen sehr Mädchenhaften Schrei aus und warf mich zur Seite, doch ich war gar nicht sein Ziel. Er hielt auf Malou zu und einen Moment glaubte ich, er würde gegen das Glas knallen, doch nur Zentimeter davor hielt er abrupt an und zeigte seine eindrucksvollen Zähne in ihrer ganzen Pracht.

Malou jedoch war jedoch erschrocken zurückgewichen. Ihre Hand fuhr zu ihrer Kehle und sie schluckte sichtbar. Dann jedoch schien ihr aufzugehen, was sie da gerade getan hatte und das der Iuba ja hinter dem Glas weggesperrt war. Ärgerlich verzog sie das Gesicht und funkelte mich an, als sei ich schuld daran.

Ist wohl nichts mit sanft und liebevoll, was?

Als hätte sie meinen Gedanken gelesen, wurden ihre Lippen noch grimmiger. „Die Iubas werden vorerst nicht mehr gefüttert“, erklärte sie und wandte sich dann unzufrieden zum Gehen. „Wenn sie Hunger bekommen, werden sie schon fressen.“

Die Nachricht hinter diesen Worten war deutlich. Wenn sie Hunger bekamen, würden sie das einzige Angebot nehmen, dass sie hatten. „Bitte“, flehte ich noch einmal, obwohl ich wusste, dass es sinnlos war. „Holen Sie mich hier raus.“

Sie blieb nicht stehen. Auch die Männer kehrten mir mit verwunderten und verwirrten Blicken den Rücken und ließen mich allein in einem Gehege mit drei tödlichen Iubas hilflos zurück.

Mein Blick glitt wieder auf die Schwarzmähne. Er beobachtete mich interessiert, doch als er sich bewegte und ich deswegen zusammenzuckte, hielt er sofort wieder inne. Aus seiner Kehle kam dieses seltsame Geräusch, das er schon bei unseren anderen beiden Treffen von sich gegeben hatte. Ein halbes Jaulen, irgendwie auffordernd und … keine Ahnung, es klang einfach seltsam und überhaupt nicht aggressiv.

Was war nur los mit diesem Proles? Warum versuchte er mich nicht zu fressen – nicht dass ich es darauf anlegte. Ich sah den Wahn und auch die Gier in seinen Augen, aber … da war noch etwas anderes, etwas das ich noch nie gesehen hatte und nicht benennen konnte.

Er grummelte leise und ließ sich dann an Ort und Stelle auf seinen Hintern plumpsen.

Okay, dass bedeutete dann wohl, dass ich im Augenblick nicht auf seinem Speiseplan stand und aus irgendeinem Grund erlaubte er auch den anderen nicht an mir herumzuknabbern. Ein Gefühl von Sicherheit wollte sich bei mir trotzdem nicht einstellen.

Zitternd und von Schmerzen geplagt, zog ich mich weiter nach hinten zurück, bis ich rechts die Glaswand hatte und hinter mir die Felsformation. Ich musste mehr als einmal inne halten und keuchend gegen das Toben in meinem Körper kämpfen, aber von zwei Seiten geschützt zu sein, war besser als von einer.

Die Schwarzmähne beobachtete neugierig, was ich da trieb und als ich mich nicht mehr bewegte, erhob er sich von seinem Platz und kam wieder auf mich zu.

„Nein!“, rief ich sofort, einfach weil es die vorherigen Male auch funktioniert hatte.

Er stockte kurz, ging dann aber weiter.

„Nein hab ich gesagt!“, rief ich lauter, jetzt schon mit leichter Panik in der Stimme.

Dieses Mal blieb er stehen, grummelte leise vor sich hin und machte es sich dann direkt vor mir bequem. Dazu drehte er sich erst drei Mal auf der Stelle, bevor er sich hinlegte, gähnte und den Kopf auf die Pfoten legte. Und wieder klebte sein Blick auf mir.

Ich fühlte mich bei dieser Nähe nicht wohl in meiner Haut. Diese Iubas gehörten zu dem Rudel das meine Familie getötet hatte und auch wenn dieser eine, ganz spezielle mich aus irgendeinem Grund nicht angreifen wollte, traute ich der Sache nicht.

In meinem Kopf gab es nur einen Gedanken: Ich musste hier raus. Und zwar ganz dringend. Doch ich war gefangen, verletzt und saß mit drei Iubas in einem ausbruchsicheren Gehege. Noch dazu spürte ich wie das Adrenalin sich langsam verflüchtigte und ich am ganzen Körper zu zittern begann. Wenn man dann auch noch die Kälte dazu rechnete, konnte man schon behaupten, dass ich mehr als nur tief in der Scheiße steckte.

Was sollte ich denn jetzt tun?

 

°°°

 

Mein Atem fiel über meine spröden Lippen und malte weiße Wölkchen in die kalte Nachtluft. Zittern blies ich ihn auf meine Finger und rieb die Hände aneinander, doch es brauchte im Grunde gar nichts. Auch als ich meine Hände zurück unter die Achseln schob, verspürte ich nur wenig Erleichterung. Ich fror so sehr, dass mein Kiefer vom Zähneklappern schon ganz verkrampft war.

Die Sonne war bereits vor Stunden untergegangen und alles was mir nun noch blieb, war die eisige Kälte der Nacht. War das nicht eine Ironie des Schicksals? Die Iubas fraßen mich nicht, dafür würde ich hier aber erfrieren. Warum nur hatte ich meine verdammte Jacke im Auto gelassen?

Mein Blick glitt zu der Glasfront des Geheges. Den sanften Schein der Laternen empfand ich nicht wirklich als tröstend. Ich war allein, verlassen und völlig von der Welt abgeschnitten. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so einsam und verletzlich gefühlt.

Keine Ahnung wie spät es war, doch es würde mich nicht wundern, wenn Mitternacht bereits verstrichen war. Was Reese im Moment wohl tat? Schlafen würde er sicher nicht. Saß er am Telefon und wartete angespannt an einem Anruf von der Polizei, oder suchte er die Stadt nach mir ab? Hoffentlich war jemand bei ihm und behielt ihn im Auge. Aziz oder Jilin, egal wer. Jede Gesellschaft war besser als meine.

Ja, die Iubas waren leider noch immer da. Das Pärchen hatte sich nahe am Wasser zu einem Knäuel zusammengefunden und wärmte sich gegenseitig. Die Schwarzmähne lag kaum einen Meter von mir entfernt und döste vor sich hin. Er versuchte immer wieder näher zu kommen. Aber nicht um mich zu fressen, sondern … naja, ich glaube, er wollte an mir schnüffeln. Allerdings fand ich sein Verhalten so irritierend, dass ich ihn nicht in meiner Nähe haben wollte. Okay, ich wollte ihn überhaupt nicht in meiner Nähe haben, ganz egal wie er sich verhielt.

Wie nur waren diese Iubas hier gelandet? Okay, das war eine dumme Frage, ich war bei dem Überfall auf die Transporter schließlich dabei gewesen. Nun war es auch kein Rätsel mehr, wie und wer die ganze Sache organisiert und finanziert hatte, aber wie hatte L.F.A. überhaupt von dem Transport erfahren? Gab es in der Potsdamer Gilde jemanden, der heimlich für Malou arbeitete?

Okay, das war jetzt eine Verschwörungstheorie zu viel, aber seltsam war es trotzdem.

Frierend kauerte ich mich noch ein wenig kleiner zusammen. Ich hatte geschrien und getobt und um Hilfe gerufen, doch niemand in dieser Anlange interessierte sich für eine Frau, die in einem Gehege festsaß. Hin und wieder kam ein Pfleger vorbei, um zu sehen ob ich noch lebte, aber für den Rest von ihnen könnte ich ebenso gut Luft sein.

Wie bereits gefühlte hundert Mal zuvor ließ ich meinen Blick erneut über die Gehegemauern gleiten und betete einen Hintertür aus dieser ausweglosen Situation zu finden, doch wenn da etwas war, dann fand ich es einfach nicht. Ich war so müde. Am liebsten hätte ich einfach die Augen geschlossen und geschlafen, doch ich fürchtete, dass ich dann nicht mehr aufwachen würde – oder das ich wahlweise auch gefressen wurde. Das waren keine schönen Aussichten.

Als plötzlich ein warnendes Knurren ertönte, zuckte ich vor Schreck so heftig zusammen, das mein Bein wieder anfing zu schmerzen.

Die Schwarzmähne hatte den Kopf gehoben und starrte konzentriert zu seinem Bruder hinüber, der sich auf die Pfoten erhoben hatte. Auch die Hündin lag nicht länger am Wasser. Sie stand halb hinter dem anderen Iuba und beide schauten in meine Richtung, als sei ich das – naja – Abendessen. Sie waren hungrig.

Wachsam beobachtete ich, wie die beiden sich trennten und von zwei Seiten näher schlichen. Sofort stieg mein Puls und die Angst drohte wieder von mir Besitz zu ergreifen. Als die Schwarzmähne sich dann auch noch auf die Beine erhob, drückte ich mich mit dem Rücken so stark gegen die Wand, dass die Spitzen der Felsen sich unangenehm in meinem Rücken bohrten. Oh Gott, jetzt geschah es, jetzt würden sie mich fressen.

Aber die Schwarzmähne behielt nicht mich im Auge, sondern die anderen beiden. Er zog die Lefzen hoch und legte die Ohren an. Aus seiner Brust kam ein tiefes Grollen. Es sah so aus, als wollte er mich … schützen? Das ergab absolut keinen Sinn, aber anders konnte ich dieses Verhalten nicht erklären.

Als die Hündin trotz der Warnung noch ein Stück näher kam, stürzte die Schwarzmähne sich ohne weitere Vorwarnung auf sie.

Das Weibchen versuchte noch auszuweichen, doch er war schneller. Seine Kiefer klappten an ihrer Schulter zusammen und das was sie dann ausstieß, war nicht nur ein schmerzverzerrtes Jaulen, es war geradezu ein Schrei. Soetwas hatte ich bei einem Proles noch nie gehört und ich würde es vermutlich für den Rest meines Lebens in Erinnerung behalten. Es war geradezu … markerschütternd.

Das war das Zeichen für den anderen Rüden einzugreifen. Auf einmal war ich völlig vergessen. Die beiden Männchen begannen sich beißend und geifernd auf dem Boden zu wälzten, während die Hündin mit eingezogener Rute davon humpelte.

Als ich beobachtete, wie die beiden gegeneinander vorgingen, verstand ich ganz genau, was der Spruch „Die Fetzen fliegen lassen“ bedeutete. Ich bemerkte mehr als ein Haarbüschel durch die Luft schweben und der Staub zu ihren Füßen verwandelte sich zu einer halben Nebelbank. Doch dann, genauso plötzlich wie es begonnen hatte, hörte es auch wieder auf. Die Beiden sprangen auseinander, grollten sich mit steil aufgerichteten Ruten an und langsam wich der Bruder vor Schwarzmähne zurück. Erst war es nur ein Schritt, dann noch einer, bis er sich schließlich ganz abwandte und mit angelegten Ohren zu der Hündin schlich. Er schnupperte an ihrer Schulter und leckte einmal darüber.

Die Schwarzmähne blieb noch einen Moment steif stehen und starrte die beiden an, bis die sich weiter nach hinten in das Gehege verzogen, wo sie von den Schatten verschlungen wurden.

Ich war mir nicht sicher, ob es mir gefiel, dass ich sie nun nicht mehr sehen konnte, doch der Gedanke daran verflüchtigte sich recht schnell, als der seltsame Iuba sich wieder zu mir umdrehte und ohne zu zögern direkt auf mich zutrottete.

„Nein!“, sagte ich sofort, was in mitten in der Bewegung anhalten ließ. Er grummelte unzufrieden, ließ sich dann aber an Ort und Stelle auf den Boden fallen.

Oh Gott, wo war ich hier nur hineingeraten? Ich durfte hier nicht mehr länger herumsitzen und vor mich hin zittern. Dieses mal war es noch mal gut gegangen, aber das würde nicht ewig anhalten. Selbst wenn die Iubas mich nicht töteten, würde Malou früher oder später die Geduld verlieren und die Sache notfalls auch selber in die Hand nehmen. So zumindest schätzte ich sie ein. Ich musste hier raus, ganz egal wie. Es musste eine Möglichkeit geben.

Ich zwang mein Hirn auf Hochtouren und schaute mich in dem spärlichen Licht ein weiteres Mal in dem Gehege um. Irgendwas übersah ich die ganze Zeit, es war ausgeschlossen, dass es keinen Weg hinaus gab. Es musste einfach so sein, etwas anderes durfte ich gar nicht glauben. Doch leider hatte sich das Gehege in der letzten halben Stunde nicht verändert. Da waren noch immer drei Seiten aus hohem und dicken Panzerglas – unmöglich kaputt zu schlagen, oder drüber zu klettern. Ich konnte auch kein Steine, oder Baumstämme davor rollen. Von der Höhe einmal abgesehen, waren diese Dinge viel zu schwer, um sie überhaupt vom Fleck zu bewegen.

Der Wassergraben fiel als Möglichkeit komplett aus, da würde ich nur nass werden und höchstwahrscheinlich erfrieren.

Die viert Wand, die aus den Felsen, könnte ich vermutlich nicht mal erklimmen, wenn ich in Topform wäre. Sie hatte oben einen leichten Überhang. Selbst wenn ich es die fünf Meter nach oben schaffte ohne abzustürzen, würde spätestens der mich daran hindern hinauszuklettern.

Blieb also nocht di Tür.

Schwerfällig und unter Schmerzen zwang ich mich auf die Beine. Es tat bei weitem nicht so weh, wie es vermutlich sollte. Die Kälte hatte einen Großteil meines Körpers betäubt – das war sicher kein gutes Zeichen.

Langsam humpelnd bewegte ich mich zu dem gesicherten Gehegetor. Von innen gab es einen Knauf, aber kein Schlüsselloch. An der Seite war ein Tastenfeld eingelassen, aber ohne Code war das für mich sinnlos. Die Scharniere waren von draußen angebracht, da kam ich also auch nicht ran. Nein, auf diesem Wege würde ich nicht hinaus gelangen, jedenfalls nicht ohne Hilfe von außen und Hilfe von außen würde es für mich nicht geben.

Langsam machte sich wieder Verzweiflung in mir breit und als ich mich umdrehte, erschrak ich auch noch so sehr, dass ich erstmal zurück stolperte und mit dem Rücken gegen die Tür knallte. Die Schwarzmähne hatte sich erhoben und sich mir unbemerkt genährt. Er stand einfach nur da und beobachtete mich neugierig, aber das reichte schon aus, um mir einen unangenehme Gänsehaut über den Rücken zu jagen.

„Bleib bloß weg von mir“, zischte ich ihn an und drehte den Kopf. Dabei fiel mein Blick auf die Luke in der Felswand. Ich zögerte. Dort hatte ich noch nicht nachgeschaut, aus dem einfachen Grund, dass es ein dunkles Loch in einer dicken Wand war und ich Angst hatte, die Iubas würden rücklings über mich herfallen, wenn ich gerade den Kopf reinsteckte. Aber nun schien das die einzige Möglichkeit zu sein, die mir noch blieb.

Mit einem wachsamen Blick auf die Schwarzmähne, schleppte ich mich zu der Luke und ging langsam vor ihr auf die Knie. Diese einfache Handlung war anstrengender als sie eigentlich sollte, aber ich durfte nicht aufgeben.

Leider ergab ein Blick in die dunkle Öffnung nicht viel. Der Innenbereich war nicht wie draußen. Ein großer Käfig, der Scheinbar zur Fütterung benutzt wurde. Nur nackter Boden und dicke Glaswände. Oh es gab auch eine Tür, doch ich sah bereits von hier aus, dass es die gleiche war wie hier draußen.

Meine Lippen wurden schmal, hier würde ich auch nicht rauskommen. Und wirklich wärmer als hier draußen war es auch nicht.

Ich wollte es nicht zulassen und versuchte weiter mir Mut zuzureden, aber ein tiefes Gefühl der Trostlosigkeit machte sich in mir breit und zum ersten Mal seit sie mich vom Parkplatz gekidnappt hatten, war ich kurz davor, vor Verzweiflung einfach in Tränen auszubrechen. Ich würde hier nicht rauskommen, ich würde Reese nie wieder sehen.

Hektisch blinzelnd schluckte ich und ließ mich schwer auf meinen Hintern sinken. Dabei strich mein Finger über einen kurzen Stift im Boden unter der Luke. Die passende Vertiefung dazu, befand sich in der Unterseite der Trennwand. Das musste dieser Kontakt sein, von dem Malou erzählt hatte. Erst wenn diese beiden Teile sich berührten, konnte das Gehege geöffnet werden. Schade das mir diese Erkenntnis nicht weiter half.

Ich umreiste mit dem Finger den kurzen Stift, hielt aber wieder inne, als mir ein völlig verrückter Gedanke durch den Kopf schoss. Alleine kam ich hier nicht raus und das Gehege wurde nur geöffnet, wenn die Iubas weggesperrt waren. Das waren zwei Tatsachen, an denen nicht zu rütteln war. Des Weiteren wäre ich völlig hilflos und auch in der Unterzahl, falls Malou sich doch dazu entschied, mich aus dem Gehege hole zu lassen. Eine weitere Tatsache. Was wenn ich diese drei Dinge zu meinem Vorteil nutzen würde? Ein Plan nahm in meinem Kopf Gestalt an.

Ich untersuchte den Rahmen um sicherzugehen, dass meine Idee auch funktionieren könnte und war positiv überrascht, als das wirklich der Fall war. Doch dann stockte ich. Wenn ich das wirklich machte, würde ich etwas tun müssen, was mich vermutlich den Rest meines Lebens verfolgen würde, doch was hatte ich schon für eine Wahl? Wenn ich nichts unternahm, wäre ich bald tot. Diese Leute zwangen mich zu solch drastischen Maßnahmen, an alles was nun folgte, waren sie selber schuld.

Ich verbot es mir weiter über die Folgen nachzudenken und begann damit auf dem Boden nach passenden Steinchen zu suchen, die ich in den Schließmechanismus der Luke stopfen konnte. Leider verkanteten sie sich nicht richtig und fielen immer wieder raus. Kurzentschlossen riss ich Stück von meiner zerfetzten Jeans ab, wickelte die Steinchen darin ein und stopfte das ganze in die seitlichen Löcher, sodass die Schließen beim Schließen nicht einrasten konnten.

Die Schwarzmähne saß nicht weit von mir entfernt und beobachtete mein Treiben, so als fragte er sich, was ich hier trieb.

Ich versuchte ihn nicht weiter zu beachten, als ich anschließend damit begann, all die Wunden an meinem Körper wieder aufzukratzen, bis sie anfingen zu bluten. Es tat weh und mehr als einmal musste ich mir auf die Lippe beißen, um nicht laut aufzustöhnen.

Meine Finger zitterten wie Espenlaub und waren bereits ganz rot und glitschig von meinem Blut, als ich nach dem Verband an meinem Hals griff und ihn abwickelte. Die Wunden hier wieder zu öffnen, tat am meisten weh, aber da musste ich jetzt durch. Für meinen Plan musste ich völlig blutverschmiert sein.

Als auch das erledigt war, musste ich erstmal tief durchatmen. Meine Haut brannte, mir war kotzübel und der gefährlichste Teil stand mir jetzt erst noch bevor. Ich fasste die Schwarzmähne ins Auge. „Okay, ich hoffe du bist nicht nur ein unglaublich guter Schauspieler. Wenn du wirklich etwas für mich übrig hast, dann bitte ich dich mich jetzt nicht zu beißen.“

Er starrte mich nur an, ohne auch nur einmal zu blinzeln.

„Wird schon schiefgehen“, murmelte ich und rutschte ein wenig näher an ihn heran. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und als ich nur noch einen knappen Meter von ihm entfernt war, schrien mir all meine Instinkte zu, sofort wieder auf Abstand zu gehen. In meinem Leben ist mir wohl noch nie etwas so schwer gefallen, wie in diesem Moment meine tief verwurzelte Angst zu überwinden und meine blutige Hand zu heben.

Sie zitterte und ich ballte ein paar Mal die Faust, um das zu unterdrücken. „Bitte nicht beißen“, flehte ich ihn an und legte meine Hand vorsichtig an seinen Kopf. Das war ein seltsames Gefühl. Das Fell war so weich und warm. Mein Herz raste immer schneller.

Er schnaubte, drücke seine Hand winselnd gegen meine Handfläche und erschreckte mich mit der Bewegung halb zu Tode.

„Halt still“, flehte ich ihn an und begann damit mein Blut auf seiner Schnauze und in seinem Gesicht zu verteilen. Ich beeilte mich so schnell ich konnte und war heilfroh, als ich mich wieder vor ihm zurückziehen konnte. „Nein“, sagte ich, als er mir sofort folgen wollte. Keine Ahnung, warum er sich so verhielt und sich sogar von mir anfassen ließ, aber auch wenn ich ihn für meinen Plan brauchte, wollte ich ihn nicht in meiner Nähe haben.

„Okay“, murmelte ich dann und warf einen Blick in die Dunkelheit, doch die anderen beiden Iubas waren noch immer nicht zu sehen. War es dumm darauf zu vertrauen, dass die Schwarzmähne mich weiter vor ihnen schützen würde? Wahrscheinlich. Hatte ich eine Wahl? Nicht wenn ich es hier leben rausschaffen wollte. Also streckte ich mich mit dem Kopf zur Luke auf dem Boden aus, versuchte dabei möglichst verrenkt und tot auszusehen und atmete dann noch einmal tief durch. „Jetzt oder nie“, murmelte ich und holte ganz tief Luft.

Im nächsten Moment stieß ich einen Schrei aus, der nicht nur meine Trommelfelle malträtierte, sondern die Schwarzmähne so erschreckte, dass er auf die Beine sprang und sich hektisch nach alles Seiten umsah. Dem ersten Schrei folgte ein zweite und dann kam noch ein ganz hoher, den ich abrupt enden ließ. Es sollte so klingeln, als befände ich mich gerade im Todeskampf und wäre dann, naja, tot. Darum legte ich mich dann auch schnell wieder richtig hin und packte meine blutige Hand über meinen Mund, um die weißen Atemwölkchen in der Kälte zu verdecken. Jetzt konnte ich nur noch hoffen, dass mich jemand gehört hatte. Und mir die Nummer auch abkaufte.

Ein paar Minuten geschah gar nichts. Mein Herz raste. Ich lag bewegungslos und tot da und konnte nichts anderes tun als zu warten und zu hoffen.

Schritte auf leisen Pfoten nährten sich mir. Dann spürte ich eine Nase an meiner Hand und hörte wie ich beschnüffelt wurde. Oh Gott, bitte friss mich nicht. „Nein“, sagte ich leise aber nachdrücklich. War mir in meinem Leben schon mal etwas so schwer gefallen, wie in diesem Moment regungslos liegen zu bleiben? „Geh weg“, zischte ich ihn leise zu.

Zur Antwort leckte er mir einmal quer über die Wange.

Okay, das war nicht nur eklig, mein Herz hatte vor Schreck auch gerade einen Schlag ausgesetzt. Dass er dann auch noch leise knurrte, machte es nicht gerade besser.

Ich wollte ihn schon ein weiteres Mal anfahren zu verschwinden, als das Gehege plötzlich von durchdringenden Flutlicht ausgeleuchtet wurde. Augenblicklich schüttete mein Körper Adrenalin aus und ich musste mich zwingen, weiter still liegen zu bleiben. Ich war nicht länger allein, irgendjemand war am Gehege. Ein Pfleger? Einer meiner Entführer?

Eine Minute lang geschah gar nichts und ich musste der Versuchung widerstehen die Augen zu öffnen. Noch nicht, gleich, aber jetzt noch nicht.

Neben mir knurrte die Schwarzmähne und gleich darauf erklang aus dem Innenbereich ein lauter Signalton.

Ich hielt es nicht länger aus und öffnete meine Augen einen ganz kleinen Spalt. Das Gehege war nun hell erleuchtet und so war es nicht schwer die beiden Iubas zu bemerken, wie sie angelaufen kamen. Doch als die Schwarzmähne wieder warnend knurrte, wurden sie langsamer und drückten sich fast an die Wand, um an ihm vorbei durch die Luke zu kommen. Er selber jedoch blieb bei mir stehen und starrte mich an.

Erst als der Signalton ein zweites Mal erklang, wandte er sich widerwillig ab und verschwand nach drinnen. Gleich darauf begann die Luke sich zu schließen.

Oh Gott, es klappte, mein Plan funktionierte wirklich! Bleib ruhig, sonst vermasselst du noch alles. Ich schloss die Augen wieder und lauschte auf die sich schließende Luke. Es gab ein leises knirschen, dann war alles wieder ruhig.

Wieder hörte ich ein Signalton, dieses Mal von der Gehegetür. Ein Klicken. Lass die Augen geschlossen. Schwere, sich nähernde Schritte, ein Mann. Bleib entspannt, du bist tot, also verhalt dich auch so. Die Schritte verstummten unweit von mir und ich spürte einen prüfenden Blick.

Ein tiefes Seufzen war zu hören, dann das Rascheln von Kleidung.

Ich hielt es nicht mehr länger aus und wagte es ein weiteres Mal meine Augen ein ganz kleinen wenig zu öffnen.

Neben mir stand ein Mann, ein Pfleger wie es schien. „Sie ist tot“, sagte er gerade in ein Handy. Er stand leicht abgewandt. „Aber die Iubas fressen sie nicht. Keine Ahnung was mit der Kleinen nicht stimmt.“

Ich zögerte nicht länger. Ohne mir auch nur noch einen Moment zum nachdenken zu geben, streckte ich die Beine von mir und brachte ihn mit einer Schere zu Fall. Die Bewegung tat höllisch weh, aber ich verbot mir dem Schmerz nachzugeben, später war immer noch genug Zeit meine Wunden zu lecken.

Der Mann fiel mit einem überraschten Schrei zu Boden und ich trat sofort nach. Mein Fuß trat sein Gesicht. Blut schoss aus seiner Nase und er stöhnte vor Schmerz. Doch statt sich um seine Verletzung zu kümmern, griff er mit wutverzerrtem Gesicht nach meinem Bein und versuchte mich daran zu sich zu zerren, um sich auf mich zu wälzen.

Plötzlich war der ganze Schmerz wie weggeblasen. Wenn er mich jetzt bekam, wäre alles vorbei, das durfte ich nicht zulassen.

Ich trat ein weiteres Mal zu, dieses mal gegen seine Brust, doch auch wenn ich mir ihn damit einen Kurzen Moment vom Leib hielt, spürte ich doch selber, wie kraftlos dieser Tritt gewesen war. Alleine würde ich mit dem Kerl nicht fertig werden. Also strampelte ich mich hektisch von ihm frei und kroch dann zur Luke.

Bis zum Schluss hatte ich gehofft, das nicht tun zu müssen, doch nun sah ich keinen anderen Ausweg mehr. Also drückte ich meine flachen Handflächen auf das Metall und schob es nach oben.

Wie ich gehofft hatte, waren die Metallbügel wegen der Steinchen nicht eingerastet. Das erste Stück sträubte sich die Trennwand noch etwas, aber sobald eine kleine Lücke entstanden war und ich meine Finger darunter schieben konnte, ging es ganz leicht.

Der Mann rollte sich gerade zurück auf die Beine, als er bemerkte, was ich hier tat. Seine Augen weiteten sich entsetzt, doch da war es bereits zu spät. Mit einer letzten Kraftanstrengung schob ich die Trennwand nach oben und konnte gar nicht schnell genug aus dem Weg gehen, da stürzten die Iubas auch schon heraus und direkt auf den Mann. Die Schwarzmähne war der erste der ihn erreichte und ihm direkt an die Kehle sprang.

Der Mann begann zu schreien und um sein Leben zu kämpfen, während die drei Iubas damit begannen, ihn zu zerfleischen.

Ich stand nur da und schaute erschüttert dabei zu, was sich direkt vor meinen Augen abspielte. Dafür war ich verantwortlich, wegen mir wurde dieser Mann nun von Proles zerfetzt. Und ich durfte ihn nicht helfen.

Angewidert von der Szene und mir selber, wandte ich mich ab. Ich hatte keine Zeit, ich musste hier dringend raus. Die Schreie des Mannes würden eher früher als später jemanden anlocken und dann war da noch der Kerl am Handy, der immer wieder „Hallo? John? Was ist da los?“ rief.

Ich floh aus dem Gehege, so schnell meine Beine mich trugen. Die Tür ließ ich in meiner Hast einfach offen. Wenn die Iuba entkamen, dann wären die Leute hier wenigstens noch ein Weilchen von mir abgelenkt. Ich musste jeden Vorteil nutzen, den ich hatte, doch sobald ich auf dem Hauptweg war, sah ich mich dem nächsten Problem gegenüber. Wo genau sollte ich hin? Bisher hatte ich mir nur Gedanken darüber gemacht aus diesem Gehege herauszukommen, doch ich musste auch noch aus diesem Park raus und von der ganzen Anlage weg.

Okay, keine Panik, versuch dich daran zu erinnern, wo die Garage war. Dadurch war ich reingekommen, also konnte ich logischerweise auch wieder dadurch hinaus. Doch hier war es so verworren, dass ich keine verdammte Ahnung hatte, wo genau ich langgehen musste. Orientier dich an den Gehegen. Ich versuchte es.

Leider sah das Ganze im Dunkeln ganz anders aus, als im hellen. Ich humpelte so schnell meine Beine mich trugen über die Wege und versuchte mich dabei nicht nur im Schatten zu halten, sondern auch am Haus zu orientieren, dessen Dach gerade noch so über den Baumspitzen zu erkennen war. Aber dann hörte ich Rufe und Schritte. Die anderen waren alarmiert und zwangen mich immer wieder in den Büschen Zuflucht zu suchen.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich schon hier herumirrte und wo genau ich überall langgelaufen war, doch plötzlich stand ich vor der Voliere mit dem weißen Toxrin. Das bedeutete, ich musste nur noch den Weg entlang laufen, dann wäre ich bei der Garage. Ich würde es schaffen, ich würde hier rauskommen.

Mit neuer Entschlossenheit hetzte ich weiter, vorbei an der Küche, vorbei an der Zierhecke. Nur noch auf die andere Seite und dann … da war sie, die Tür zur Garage.

„Gott sei Dank“, murmelte ich und flehte darum, dass ich sie auch würde öffnen können, als ich sie erreichte. Von der anderen Seite brauchte man schließlich einen Zugangscode. Aber das war ja um hinein zu gelangen. Ich wollte nicht rein, ich wollte raus.

Als ich die Tür erreichte, zitterten nicht nur meine Hände und als die dann sah, das die Tür von dieser Seite eine ganz einfache Klinke hatte, hätte ich vor Freude beinahe gejubelt. Alles war heute schiefgelaufen, aber endlich hatte ich einmal Glück.

Meine Hand streckte sich nach der Klinke aus.

„Keine Bewegung.“

Ich erstarrte einfach. Nein, das konnte nicht sein.

„Langsam zurücktreten.“

Bitte nicht, nicht so nahe vor dem Ziel. Meine Kehle hüpfte, als ich angestrengt schluckte und mich dann sehr langsam umdrehte, nur um direkt in den Lauf von Sylvans Waffe zu schauen.

„Hier findet dein kleiner Ausflug nun sein Ende.“

 

°°°°°

Kapitel 11

 

Oh Gott. Mit panisch schlagendem Herzen wich ich zurück, bis ich den kalten Stein der Wand in meinem Rücken spürte. Das durfte nicht wahr sein, es war doch nur noch dieses kleine Stück. Hinter dieser Tür winkte die Freiheit.

„Du bist ein ganz ausgefuchstes Biest, was? Hab bisher noch niemanden erlebt, der es aus den Gehegen rausgeschafft hat. Wie hast du das gemacht?“

Selbst wenn ich ihm hätte antworten wollen, hätte ich es nicht gekonnt, den meine Zunge verweigerte mir ihren Dienst. Ich war nicht die erste, die sie zu den Proles geworfen hatten?

„Was, machst du dir vor Angst gerade in die Hose und kriegst den Mund deswegen nicht auf?“

Also wenn man es ganz genau nahm, spielte das schon mit rein.

„Na gut, wie du willst, wir werden unsere Antworten schon noch bekommen. Komm jetzt.“

Als er nach mir greifen wollte, stolperte ich mit einem „Nein!“ einen erschrockenen Schritt zurück. Ich war so weit gekommen, ich würde mich jetzt sicher nicht wieder einfangen lassen. Doch der Rausch des Adrenalins hatte in der Zwischenzeit nachgelassen und ich spürte wieder jeden Knochen im Leib. Auch die Bisswunde am Bein tat wieder ihren Teil dazu und so war ich nicht schnell genug. Sylvan erwischte mich am Arm und riss mich zu sich heran.

Durch den Schwung fiel ich gegen ihn, versuchte aber sofort mich wieder wegzustoßen. „Finger weg, ich will nicht!“

„Jetzt hör mit den Sperenzchen auf“, knurrte er und riss wieder an mir.

Panisch versuchte ich gegen sein Bein zu treten, dachte dabei aber nicht daran, dass diese Aktion nach hinten losgehen könnte. Mein kaputter Knöchel konnte das Gewicht nicht tragen und knickte weg. Ich fiel rückwärts auf den Hintern und weil Sylvan sich weigerte mich loszulassen, wurde er mit nach vorne gerissen.

Für einen kurzen Moment fürchtete ich, er würde einfach auf ich drauf fallen, doch im Gegensatz zu mir schaffte er es sein Gleichgewicht rechtzeitig wiederzufinden. Allerdings hatte sich sein Griff an meinem Arm gelockert und ich nutzte das sofort aus, um mich von ihm loszureißen.

„Verdammt noch mal“, fluchte er und griff wieder nach mir. In dem Moment sprang ihn laut knurrend etwas Großes von hinten an und schleuderte ihn mit einem dumpfen Knall zu Boden. Er stöhnte vor Schmerz, doch es wurde schnell zu einem lauten und angsterfüllten Schreien, als sich ein kraftvolles Gebiss um seine Schulter schlossen und scharfe Zähne sein Fleisch durchdrangen.

Die Schwarzmähne. Mein Gott, das war die Schwarzmähne.

Schwer atmend rutschte ich nach hinten, bis die Wand mein weiteres Vorankommen versperrte und starrte entsetzt dabei zu, wie der Iuba sich in Sylvan verbiss.

Der Mann schrie und brüllte. Er versuchte den Proles abzuwehren, doch er hatte bei dem Sturz seine Waffe fallen gelassen und nun blieben ihm nur noch seine Hände zur Verteidigung, aber gegen die Kraft und Brutalität seines Angreifers kam er nicht an.

Die Waffe!

Hecktisch suchte ich den Boden nach ihr ab, aber ich konnte sie nicht entdecken. War sie irgendwo zwischen den Büschen gelandet? Ich war versucht aufzuspringen und danach zu suchen, aber die Schreie würden eher früher als später jemanden anlocken. Ich musste hier weg und zwar sofort, eine bessere Gelegenheit würde ich nicht mehr bekommen.

So schnell ich konnte, arbeitete ich mich zurück auf die Beine und versuchte den Schmerz zu unterdrücken. Dem Knurren, Geiern und Reißen von Fleisch ignorierend, griff ich nach der Türklinke und riss sie auf. Weg, das einzige was ich wollte war weg. Ich dachte nicht einmal mehr daran die Tür zu schließen, damit die Iubas nicht aus dem Park entkommen konnten. Flucht war mein einziger Gedanke.

Meine Beine trugen mich quer durch die Garage und ich brauchte einen Moment, um den Schalter für das Tor zu finden, doch sobald ich den betätigt hatte, fuhren sie knatternd hoch.

Gerade als ich unter dem Spalt darunter durchtauchte, endeten die panischen Schreie von Sylvan so abrupt, dass ich ganz genau wusste, ich würde ihn niemals im Leben wiedersehen. Noch ein Mensch der von den Mördern meiner Eltern getötet worden war und das nur, weil ich sie aus dem Gehege gelassen hatte.

Ich biss die Zähne zusammen und eilte so schnell es mir möglich war weiter. Das war nicht meine Schuld, ich hatte das nicht gewollt, aber mir war einfach keine Alternative mehr geblieben. Die waren in diesem Spiel die Bösen, nicht ich, also war es völlig unsinnig, dass mich nun mein Gewissen plagte.

Leider sah mein Gewissen das ein wenig anders. Venatoren beschützten die Menschen und ließen keine Proles auf sie los, doch genau das hatte ich getan.

Später, sagte ich mir, später konnte ich mir immer noch Vorwürfe machen, jetzt musste ich erstmal rennen, als sei der Teufel hinter mir her. Oder, naja, schnell humpeln, mehr war im Augenblick leider nicht drinnen. Wenigstens schienen die Leute hier noch so mit den Iubas beschäftigt zu sein, dass bisher noch niemand gemerkt hatte, wie weit ich in der Zwischenzeit gekommen war.

An den Weg in den Vorgarten des Anwesens erinnerte ich mich noch und war nicht schwer zu finden. Woran ich allerdings nicht gedacht hatte, war die Grundstücksbegrenzung. Der Park war von einer hohen Mauer umschlossen gewesen, er Vorgarten zum Glück nur von einem schmiedeeisernen Zaun, der gerade mal zwei Meter maß.

Normalerweise wäre diese Höhe kein Hindernis für mich gewesen, aber mit meinen ganzen Blessuren stellte sich das Rüberklettern als ziemlicher Kampfakt heraus. Mehr musste ich die Zähne zusammenbeißen und durch die Kälte waren meine Finger in der Zwischenzeit so durchgefroren, dass ich kaum noch etwas spürte. Aber wenigstens war der Zaun oben in einem Wellenmuster, sodass ich nicht an Zacken oder Spitzen hängen bleiben konnte, als ich ein Bein hinüber schwang.

Gerade wollte ich das andere Bein hinterher ziehen, als ich im spärlichen Licht der Außenbeleuchtung etwas großes über den gepflegten Rasen flitzen sah, dass mit weiten Sätzen herannahte – direkt auf mich zu.

„Verdammte Scheiße“, knurrte ich, das war die Schwarzmähne. Und wie ich einen Augenblick später feststellen musste, war er nicht alleine. Ein halbes Dutzend Leute hatten sich an seine Fersen geheftet.

Mein erster Impuls war einfach loszulassen und fallen zu lassen. Leider war mein Bein schon lädiert und wenn ich mich jetzt auch noch den Knöchel verstauchte, könnte ich auch gleich in das Gehege zurückgehen. Trotzdem begann ich so schnell wie möglich auf der anderen Seite herunterzuklettern.

Ich hatte gerade die Füße auf dem Boden, als die Schwarzmähne leise jaulend bei mir ankam. Er versuchte sich mit dem Kopf durch das Gitter zu drücken, doch die Streben waren Gott sei Dank zu schmal für diesen Schädel. Er lief einmal hin und her, schaute an dem Zaun hinauf und begann dann zu graben.

„Hör auf damit“, fuhr ich ihn an. Er sollte da drin bleiben.

Plötzlich knallte ein Schuss und in der nächsten Sekunde spritzte neben mir der Erdboden auf.

Sowohl die Schwarzmähne, als auch ich machten einen erschrockenen Satz zur Seite. Die schossen auf mich. Die verdammten Schweine entführten mich erst und jetzt schossen sie auch noch! „Ihr Arschlöcher!“, brüllte ich sie an, fragte mich dann was ich hier eigentlich trieb und wirbelte herum, um die Flucht zwischen die Bäume zu ergreifen. Augenblicklich wurde es um mich herum dunkel.

Die Bäume standen dicht und das einzige Haus in der Nähe war das von Malou und so stolperte ich blind durch die Nacht. Ich lief so schnell es mir möglich war, doch ständig musste ich mich mit Händen und Füßen vortasten, damit ich nicht stürzte. Warum nur konnte heute nicht Vollmond sein? Wenigstens war ich endlich von dem Grundstück runter. Aber ich gab mich keinen Illusionen hin. Sie würden mich verfolgen und im Gegensatz zu mir würden sie wahrscheinlich Taschenlampen haben und mussten sich nicht leise bewegen, damit sie niemand hörte.

Ich biss die Zähne zusammen, verdrängte die negativen Gedanken und arbeitete mich weiter. Schritt für Schritt, Meter für Meter. Meine Ohren konzentrierten sich ganz auf die Geräusche in der Umgebung, doch das einzige was ich im Moment auffing, war mein eigener heftiger Atem und das Knacken und Knistern des Unterholzes.

Mehrere Minuten kämpfte ich mich so voran und dann ganz plötzlich, hörte der Wald einfach auf. Direkt vor mir lag die Straße, doch sie war dunkel und menschenleer.

Mit schwerem Atem schaute ich nach links und recht und überlegte, was ich nun tun sollte. Meine Verfolger waren vermutlich dicht hinter mir und mit ihren Autos waren sie viel schneller. Wenn mir nichts einfiel, würden sie mich doch wieder einkassieren und … nein! Ich durfte jetzt nicht in Panik verfallen, nur weil ich hier mutterseelenallein war.

Okay, der Reihe nach, was jetzt? Ich brauchte Hilfe, am Besten von der Polizei, aber ich hatte kein Handy und Telefonzellen waren hier auch gerade Mau. Aber da war eine Ortschaft gewesen, nicht weit entfernt von Malous Anwesen, vielleicht zehn Minuten mit dem Auto. Dort gab es sicher auch Polizisten, ich musste sie nur erreichen. Aber wo genau lag die?

Rechts, ich war mir ganz sicher, dass sie rechts gewesen war. Aber sie würden sicher vermuten, dass ich dorthin floh, ich konnte also nicht an der Straße entlang gehen, sondern musste zwischen den Bäumen bleiben, auch wenn es dort anstrengender war. Aber würde ich das mit meinem Bein auch schaffen?

Vielleicht konnte ich einfach an der Straße entlanglaufen. Wenn ich etwas hörte, konnte ich immer noch zwischen den Bäumen in Deckung gehen.

Dieser Plan war genauso gut wie jeder andere und mit Rumstehen verplemperte ich nur wertvolle Zeit. Also warf ich noch mal einen prüfenden Blick über die Schulter, wechselte dann eilig auf die andere Straßenseite und machte mich auf den Weg.

Zwei Minuten lag geschah gar nichts, fünf Minuten. Immer wieder lauschte ich in die Nach und schaute mich nervös um. Die Leute vin L.F.A. waren nicht die einzige Gefahr, die hier draußen lauern konnte. Auch Proles konnten zwischen diesen Bäumen leben und im Moment war ich eine leichte Beute.

Super, jetzt würde ich diesen Gedanken nicht mehr aus dem Kopf bekommen.

Unsicher ließ ich meinen Blick über zwischen die Stämme gleiten. In dem Moment hörte ich das Geräusch eines herannahenden Autos.

Sofort schlüpfte ich hinter den nächsten Baum und hielt den Atem an. Hatten sie mich noch gesehen? Waren die überhaupt von L.F.A. oder waren das nur Bewohner der Ortschaft? Ich traute mich nicht dem näher auf den Grund zu gehen, egal ob sie mir hätten helfen können oder nicht. Die Gefahr an die falschen Leute zu geraten war einfach zu groß und ich hatte verdammt noch mal die Nase voll davon, eine Gefangene zu sein. Also blieb ich wo ich war und wartete, bis der Wagen vorbeigefahren war. Und dann wartete ich noch ein wenig länger.

Mein Atem malte weiße Wolken in die kühle Nachtluft, ich rieb meine Hände aneinander und späte vorsichtig ins Frei. Um mich herum war es unnatürlich still und auf einmal war da so ein prickeln im Nacken, wie als wenn ich beobachtet wurde.

Ich wirbelte herum, konnte aber nichts entdecken. Doch da war jemand, ich spürte es. Sollte ich weglaufen, oder doch besser still verharren? Mein Herz jedenfalls befand sich bereits im Galopp.

Ein Knacken, ein Rascheln. Ich konnte die Richtung nicht genau bestimmen, da waren nur diese Geräusche, die mit scharfen Klauen an meinem ohnehin schon dünnen Nervenkostüm kratzten. War das ein Tier? Ein Mensch? Oder vielleicht doch ein … Proles? Es war verdammt schwer meinen Atem ruhig zu halten, wo doch alles in mir schrie, einfach davon zu laufen.

Das nächste Knacken erklang direkt hinter mir. Ich wirbelte herum und stieß vor Schreck nicht nur einen kleinen, spitzen Schrei aus, ich machte auch einen Satz nach hinten, der mich fast zu Fall brachte. Erst in der nächsten Sekunde wurde mir klar, was ich da vor mir hatte. Das war die Schwarzmähne. Sie stand einfach da und musterte mich mit neugierigem Blick.

„Du verdammter … Schweinehund!“, fauchte ich ihn an und versuchte meinen Herzschlag wieder zu beruhigen. Das war niemand von L.F.A., das war nur dieser blöde Iuba. „Du hast mich halb zu Tode erschreckt!“

Erleichtert rieb ich mir mit den Hände und rieb mir damit über das Gesicht, hielt dann jedoch mitten in der Bewegung inne. Das war nur der Iuba? Was stimmte nicht mit mir, dass das Auftauchen eines Proles mich glücklicher machte, als die Begegnung mit einem Menschen. „Dieser Tag wird schlimmer und schlimmer“, murmelte ich und fasste das Biest dann ins Auge. „Du bist mir gefolgt, oder?“

Er starte mich nur an.

Super, jetzt redete ich nicht nur mit Proles, jetzt hatte ich auch noch einen anhänglichen Iuba am Arsch. Das war eine Komplikation, die ich jetzt nicht auch noch gebrauchen konnte. Ich wollte das Vieh nicht in meiner Nähe haben, aber ich hatte auch keine Waffe, mit der ich ihn erledigen konnte. Aber vielleicht konnte ich ihn verjagen.

Ich schaute mich auf dem Boden nach einem geeigneten Wurfwerkzeug um, doch da waren nur Blätter und dünne Äste – die würden ihn nicht mal kitzeln. Doch da, neben der Wurzel lag ein faustgroßer Stein. Ohne lange zu fackeln, schnappte ich ihn mir, wog ihn kurz in der Hand und warf ihn dann entschlossen nach dem Biest.

Die Schwarzmähne sprang nicht zur Seite und jaulte ein wenig überrascht auf, als sie von dem Geschoss am Rücken getroffen wurde. Dann jedoch begann er zu knurren und plötzlich war ich mir sicher einen großen Fehler gemacht zu haben. Ich erstarrte einfach und wagte es kaum zu atmen, als er mich mit seinen gelben Augen fixierte. Wie hatte ich mich nur dazu hinreißen lassen können? Ich arbeitete seit Jahren gegen diese Biester, ich wusste doch genau, wie sie waren. Meine einzige Erklärung war, dass ich nach dieser ganzen Scheiße in den letzten Stunden einfach nicht mehr klar denken konnte.

Nicht dass mir diese Erkenntnis jetzt noch weiterhelfen würde.

Sein Knurren verstummte wieder, aber er fixierte mich weiter mit diesem Blick, der mich eindeutig als Beute abstempelte. War ich nun so weit gekommen, nur damit er mich hier fressen konnte? Wie es schien, lautete die Antwort nein, denn schon in der nächsten Sekunde grummelte er unzufrieden, wandte sich ab und verschwand irgendwo zwischen den Bäumen.

Okay, nun hatte er es geschafft, jetzt war ich vollständig verwirrt. Was nur stimmte nicht mit diesem seltsamen Proles?

Ich blieb noch einen Moment wo ich war, sicher dass er mich aus dem Hinterhalt angreifen würde, aber die Geräusche die er machte verklangen in der Dunkelheit und dann war da nur noch mein eigener Atem. Plötzlich nicht mehr zu wissen, wo genau er sich befand, machte es auch nicht besser, denn ich wusste dass er hier draußen war.

Unbehaglich rieb ich mir über die Arme. Ich bekam eine Gänsehaut und die hatte absolut nichts mit der eisigen Kälte zu tun. „Blieb bloß weg von mir“, murmelte ich und begann dann wieder los zu humpeln.

Mit dem Wagen hatten wir für die Strecke nur zehn Minuten gebracht. Zu Fuß fühlte es sich an, als sei ich die ganze Nacht unterwegs. Alles schmerzte. Mir war kalt, ich hatte seit dem Frühstick nichts mehr gegessen und getrunken und für ein Klo könnte ich morden. Umso erleichterter war ich, als in der Ferne ein paar Lichter in Häusern auftauchten. Der Haken daran war nur, dass der Wald endete und sich zwischen hier und dort nur leere Felder befanden. Kein Sichtschutz, keine Möglichkeit in Deckung zu gehen.

Unwohl stand ich unter einem Baum und sondierte die Umgebung. Bisher hatte ich weder etwas von Verfolgern gesehen noch gehört und langsam fragte ich mich, ob da überhaupt jemand war. Vielleicht waren sie noch so mit dem Chaos im Park beschäftigt, dass sie niemanden hinter mir hergeschickt hatten. Vielleicht suchten die Leute auch nach der Schwarzmähne, weil für sie ein Iuba aus der ersten Generation wertvoller war, als so eine unbedeutende Venatorin. Aber eigentlich konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie mich so einfach laufen ließen. Ich wusste zu viel und hatte Dinge gesehen, die sicher im Verborgenen bleiben sollten.

Seufzend schaute ich mich noch einmal auf der leeren Straße um. Ich konnte hier nicht ewig verharren. Ich musste zur Polizei. Dort würde ich nicht nur Schutz, sondern auch Hilfe finden. „Na dann wollen wir mal.“

Äußerst wachsam trat ich aus dem Schutz der Bäume unter den Nachthimmel. Mein Herz flatterte und ich befürchtete, dass hier irgendwo jemand auf der Lauer lag und gleich über mich herfallen würde, aber nichts geschah. Auch bei den nächsten Schritt stürzte sich niemand auf mich. Vorsichtig setzte ich mich in Bewegung, aber trotz all meiner Befürchtungen, kam niemand um mich zu holen.

Das verstand ich nicht. Hatten sie noch nicht bemerkt, dass ich vom Grundstück runter war, oder glaubten sie einfach nicht, dass ich eine Gefahr für sie sein könnte? Vielleicht dachten sie aber auch, ich sei noch im Wald und suchten an ganz falscher Stelle nach. Nein, das war Blödsinn, sie mussten einfach wissen, dass ich auf dem Weg zum nächsten Ort sein würde um Hilfe zu holen, was nur heißen konnte, dass sie gar nicht nach mir suchten. Das ergab genauso wenig Sinn.

Immer wieder wälzte ich diese Frage hin und her, kam aber zu keinem befriedigenden Ergebnis. Vielleicht hatte sie aber auch Leute in der Ortschaft, die bereits auf mich warteten. Dieser Gedanke steigerte meine Nervosität wieder und einen Moment fragte ich mich, ob es wirklich so eine gute Idee war, dorthin zu gehen. Aber was sollte ich denn sonst machen? Ich hatte keinen Schimmer wo ich war und brauchte dringend Hilfe. Oder wenigstens ein Telefon, um jemanden anrufen zu können. Es war schon fast faszinierend, wie aufgeschmissen man ohne so ein kleines Gerät wie ein Handy sein konnte.

Mit zunehmender Strecke merkte ich, wie die Kraft mich immer mehr verließ. Ich war müde, fertig und bei den Resten meiner Reserven angekommen. Wenigstens die Lichter der Häuser kamen etwas näher, aber es war trotzdem noch ein ganz schönes Stück.

Gerade überlegte ich, ob ich mich mal kurz hinsetzten sollte, um meinem geschundenen Bein ein wenig Erholung zu gönnen, als ich ein lautes Lachen hörte und mitten in der Bewegung erstarrte. Mein erster Reflex war irgendwo abzutauchen, doch zu dem ersten Lachen gesellte sich das betrunkene Kichern eines Mädchens und dann noch eine Mädchenstimme, die munter vor sich hin erzählte. Ich verstand nicht was dort gesagt wurde, aber ich war mir ziemlich sicher, dass das niemand von L.F.A. war. Sollte ich den Stimmen folgen? Die hatten sicher ein Handy.

Zögernd wog ich die Pro und Kontras ab, kam dann aber zu dem Schluss, dass mein Peiniger sicher nicht besoffen auf einem Feld sitzen würden und setzte mich zögernd in Bewegung. Ich musste die Leute ja nicht gleich auf mich aufmerksam machen, ich konnte mir ja erstmal aus sicherer Entfernung ein Bild von ihnen machen.

Wie ich nur wenig später feststellte, handelte es sich um fünf Teenager, die im Wartehäuschen einer Bushaltestelle saßen und lachend eine Flasche mit irgendwelchem Schnaps herumgehen ließen. Direkt gegenüber von ihnen, auf der anderen Straßenseite befand sich ein Proles-Schutzbunker, der von allen Seiten mit bunten Graffito beschmiert war. Ansonsten gab es hier nur noch drei vereinzelte Bäume, die in der offenen Landschaft ziemlich kläglich wirkten. Keine Autos die auf L.F.A. hinwiesen, keine offensichtliche Gefahr.

Okay, nun sei mal nicht so ein Angsthase, das passt nicht zu dir. Das nicht, aber eine gewisse Vorsicht, behielt ich mir trotzdem bei, als ich mich ihnen näherte.

„Entschuldigung?“, sprach ich sie an und unterbrach damit eine neuerliche Kicherattacke von dem kleineren der beiden Mädchen. „Ich brauche Hilfe, habt ihr vielleicht ein Handy? Könnt ihr die Polizei rufen?“

„Die Polizei?“ Ein etwas schmächtiger Junge mit einer Brille musterte mich von oben bis unten, als glaubte er, ich wolle ihn verarschen. Wahrscheinlich waren sie noch minderjährig und waren deswegen nicht besonders angetan von dem Gedanken die Bullen auf den Plan zu rufen. Die Alkoholfahne ließ sich definitiv nicht plausibel erklären. „Wow, was ist dir denn passiert?“

Tja, wo sollte ich da anfangen. „Bitte, ich brauche nur kurz ein Handy – ihr könnt es auch gleich wiederhaben.“

„Hier, du kannst meins nehmen“, sagte die Kleinere und griff in ihre Jackentasche.

Das war der Moment in dem ich das Knurren hörte. Und nicht nur ich, auch die fünf Jugendlichen hörten es und erstarrten.

„Proles!“, rief der Junge mit dem Baseballkappe auf dem Kopf, als ich herumwirbelte, um zu sehen, was die Teenys da so verschreckt hatte. Es war die verdammte Schwarzmähne, die unweit hinter mir kauerte und sich zum Angriff bereit machte. Doch auch wenn ich ihm am nächsten stand, war sein Blick nicht auf mich gerichtet.

Eines der Mädchen schrie schrill auf. Das war das Startsignal für die Jugendlichen alle in heller Panik aufzuspringen und loszurennen.

Als der Iuba losstürzen wollte, sprang ich ihm nur mit einem „Nein!“ in den Weg. Es war wie mit dem Toxrin, ich dachte gar nicht darüber nach was für Konsequenzen das für mich haben konnte, ich tat es einfach und war mehr als nur ein wenig erstaunt, dass er noch versuchte abzubremsen. Leider hatte er zu viel Schwung. Er rutschte direkt in mich hinein und wir gingen zusammen zu Boden.

Ich stöhnte als ich auf die Seite knallte und er mir dann auch noch einen Ellenbogen in die Rippen rammte, doch als er wieder aufspringen wollte, um den Teenagern nachzusetzen, griff ich blitzschnell zu und packte sein Bein. „Nein!“

Die Schwarzmähne fiel fast noch mal auf die Nase, blieb dann aber stehen und versuchte irritiert sein Bein aus meinem Griff zu ziehen. Doch erst als er unzufrieden grummelte, wurde mir wirklich bewusst, was ich hier gerade tat.

Als hätte ich mich an ihm verbrannt, ließ ich ihn los und rutschte eilig ein Stück vor ihm zurück. Dann starte ich ihm mit wild klopfendem Herzen an. Er jedoch schaute nur seiner in der Ferne verschwindenden Beute hinterher, knurrte und ließ sich dann missgelaunt auf seinen Hintern plumpsen.

Er versuchte nicht sich auf mich zu stürzen. Ich hatte ihn festgehalten und er hatte nicht mal nach mir geschnappt. „Was stimmt nicht mit dir?“

Ein grantiges Knurren, mehr bekam ich nicht zur Antwort.

Und dann wurde mir klar, was durch sein Auftauchen geschehen war. Meine Möglichkeit auf Hilfe war in heller Panik davongelaufen und würde sicher nicht zurückkommen. Auf einmal wurde ich wütend. „Warum zu Hölle hast du das gemacht?!“ Ja mir war klar, dass es rein gar nichts brachte den Proles anzuschreien, aber ich war verzweifelt und er hatte mir die Chance auf eine schnelle Lösung kaputt gemacht. Nun saß ich wieder mutterseelenallein in der Schweinekälte auf der Straße und war keinen Schritt weiter gekommen. Das einzige was ich erreicht hatte, waren wahrscheinlich ein paar neue, blaue Flecken vom Sturz. „Warum verschwindest du nicht einfach?! Los, hau ab!“ Ich wedelte sogar verärgert mit den Händen in seine Richtung, doch er blinzelte nicht einmal.

„Verdammt.“ Müde rieb ich mir über die Augen und gestattete mir einen Moment mich selber zu bemitleiden. Jetzt würde ich doch bis in die Ortschaft laufen müssen. Nein, das konnte ich nicht, nicht solange dieser verblödete Iuba an meinen Fersen klebte. Ich würde ihn geradewegs zu den Menschen führen und auch wenn er mich aus was-weiß-ich-für-Gründen nicht fressen wollte, so hatte er doch mehr als deutlich gezeigt, dass das nicht für andere Leute galt.

Ein tiefes Gefühl der Trostlosigkeit machte sich in mir breit. „Warum gehst du nicht einfach weg?“, fragte ich leise und ließ mein Blick auf der Suche nach einer Lösung über meine Umgebung wandern – nicht das ich damit rechnete, dass ich etwas finden würde. Umso überraschter war ich, als doch etwas entdeckte, ja es sprang mir geradezu ins Gesicht. Ich brauchte gar kein Handy, ich hatte etwas viel besseres. Naja, nicht unbedingt besser, aber es würde reichen. Der Proles-Schutzbunker.

Jeder dieser Bunker war direkt mit einem Notrufcenter der Venatoren verbunden, damit man sich dort nicht nur hinein retten konnte, sondern auch gleich Hilfe holen. Das könnte meine Rettung sein.

Mit neuem Elan arbeitete ich mich zurück auf die Beine und humpelte zu dem Bunker hinüber. Dabei betete ich, dass er noch funktionstüchtig war und nicht dem Vandalismus gelangweilter Teenager zum Opfer gefallen war. Die Bewegungsmelder, die das Licht auslösen sollten, wenn man hinein trat, funktionierten schon mal nicht, aber das musste nicht viel heißen.

Zu diesem viereckigen Betonkasten, gehörte eine sehr stabile Stahltür, die sich durch einen einfachen Schalter schließen ließ. Als ich mich jedoch nach dem Schalter umsah, bemerkte ich, dass mir ein kleines Problemchen gefolgt war. Die Schwarzmähne stand in der Tür und beschnüffelte neugierig das Gebäude.

Im ersten Moment wollte ich ihm die Tür direkt vor der Nase zuschlagen, doch dann zögerte ich. Wenn er hier draußen blieb, würden die Rettungskräfte ihn bei erster Sticht sofort erschießen. Wenn ich ihn aber mit mir in den Bunker nahm und ihm so das Leben rettete, konnte ich mit seiner Hilfe vielleicht beweisen, dass Reese und ich unschuldig waren, dann müsste der Verband uns wieder von Haken lassen.

Natürlich war da noch sein Bruder, aber wer sagte mir denn, dass Malou in diesem Augenblick nicht alle Beweise verschwinden ließ?

Unschlüssig sah ich diesen löwenartigen Riesenhund an. Der Gedanke mit ihm in diesem beengten Raum eingesperrt zu sein, behagte mir gar nicht, aber die Venatoren könnten ihn betäuben und dann wären alle sicher.Außerdem, was war, wenn er einfach verschwand sobald ich im Bunker war? Er wäre weiterhin frei und könnte unschuldige Menschen töten.

Nein, ihn hier draußen zu lassen wäre viel zu gefährlich. Natürlich war ich nicht so dumm darauf zu vertrauen, dass er mir nichts tat, nur weil er das bisher nicht getan hatte, aber ich konnte wenigstens hoffen, dass er sich wenigstens noch zurückhalten würde, bis die Venatoren eingetroffen waren.

„Na gut, dann hoffen wir mal, dass ich jetzt nicht den größten Fehler meins Lebens begehe.“ Ich machte einen Schritt zur Seite, damit er genug Platz hatte an mir vorbei zu gehen.

Er rührte sich nicht vom Fleck.

„Sag mir nicht, du hast Platzangst.“

Immer noch keine Reaktion.

Klasse, einfach nur Klasse. „Na los, komm rein.“ Ich klopfte mir einladend auf den Oberschenkel, als hätte ich es mit einem kleinen, süßen Hündchen zu tun.

Er machte einen Schritt, blieb dann aber wieder stehen.

„Wirklich? Du stürzt dich auf bewaffnete Leute, traust dich aber nicht in einen dunklen Bunker?“ Als er weiterhin ungerührt stehen blieb, raffte ich all meinen Mut zusammen und streckte mit zitternden Fingern die Hand nach ihm aus. Als ich ihn eben angefasst hatte, war er nicht mal aggressiv geworden, blieb zu hoffen, dass er seine Meinung nun nicht geändert hatte. „Bitte beiß mich nicht“, murmelte ich und hielt ihm meine Hand an die Nase, wie man es bei Hunden tat.

Er schaute mich nur weiter an.

Nun gut, dann eben anders.

Ich trat einen halben Schritt näher heran und legte ich zögernd die Hand in den Nacken. Als er weiterhin ruhig blieb, übte ich ein wenig Druck aus, solange bis er sich mit einem leisen Grummeln in Bewegung setzte und endlich in den Bunker ging.

Erleichtert und erschrocken über meine Tollkühnheit, drückte ich schnell auf den Schalter, bevor er es sich anders überlegen konnte und wieder nach draußen marschierte.

Es gab ein durchdringendes Summen, dann schloss die Tür sich und verriegelte sich automatisch. Ein rotes Notlicht schaltete sich ein. Geschafft.

Der Schwarzmähne schien dieser Zustand allerdings nicht besonders zu gefallen. Er begann unruhig hin und her zu laufen, kratzte an der Tür und sah mich dann an, als hätte ich den Schlüssel dafür. Hatte ich theoretisch auch, aber das würde ich ihm sicher nicht unter die Nase reiben.

Stattdessen schaute ich mich nach der Sprechanlage um, die mich direkt mit den Venatoren verbinden würde. „Bitte funktioniere“, flehte ich leise und drückte auf den Rufknopf.

Ein paar Sekunden angespannter Stille folgten. Dann fragte mich eine blecherne Frauenstimme: „Notrufzentrale, was kann ich für Sie tun?“

Vor Erleichterung hätte ich fast laut aufgejubelt. Stattdessen verlegte ich mich darauf, auf den Knopf der Sprechanlage zu drücken.

„Hallo? Ich bin hier in einem Proles-Schutzbunker in … ich weiß nicht wo ich bin. Ich brauche Hilfe. Die Polizei und Venatoren. Sie müssen ein Betäubungsgewehr mitbringen.“ Das war ganz wichtig.

„Sind Sie verletzt?“

Verletzt? Die bessere Frage lautete eher, welcher Teil von mir noch heile war. „Ja, aber es ist nichts Ernsthaftes. Allerdings sitze ich hier mit einem Iuba drinnen.“

„Sie meinen, Sie wurden von einem Iuba hineingejagt?“

„Nein, er ist bei mir im Schutzraum.“

Einen Moment herrschte Stille. „Sind da noch andere Iubas?“

Klar, ich kuschelte hier mir einem ganzen Rudel. Iubas waren ja schließlich dafür bekannt, nette und sanftmütige Zeitgenossen zu sein. „Nein, nur der eine bei mir im Schutzraum.“

„Sie meinen vor dem Schutzraum.“

„Ich meine was ich sage. Er ist mit mir hier drinnen. Ich habe ihn mit hinein genommen, damit er niemanden anfallen kann.“ Klang das jetzt genauso schräg, wie es sich in meinen Ohren angehört hatte?

„Sie wissen, dass es eine Straftat ist, die Einsatzkräfte wegen eines Streichs zu alarmieren?“

Das war ein überdeutliches Ja. „Ich schwöre, ich spiele ihnen keinen Streich, aber ich brauche ganz dringend Hilfe.“

„Bei dem Iuba im Schutzraum.“

Okay, jetzt ging sie mir langsam auf den Keks. Ja die Geschichte war ziemlich unglaubwürdig, aber ich dachte mir das ja schließlich nicht aus. „Ja. Er ist aus der ersten Generation und soll nach Historia.“ Vielleicht würde das meine Glaubwürdigkeit unterstützen.

„Woher wissen Sie das?“

„Ich bin Venator Grace Shanks. Ich wurde gestern Mittag entführt.“

Wieder kehrte einen Moment Stille ein, dann fragte sie zweifelnd: „Sie wurden entführt und sitzen jetzt mit einem Iuba in einem Schutzraum?“

Ja, wenn sie das so ausdrückte, klang das wirklich ziemlich erfunden. Leider ging mir langsam die Geduld aus. „Das habe ich doch wohl gerade gesagt.“

„Wem genau sind Sie unterstellt?“

Wen interessierte das denn jetzt? „Kommen Sie einfach her und bringen Sie ein Betäubungsgewehr mit.“

„Ich möchte wissen, wo genau Sie arbeiten. Gilde oder staatliche Venatoren?“

Na gut, meinetwegen. „Gilde Berlin, meine Vorgesetzte ist Jilin Halco, rufen Sie sie an, sie wird es bestätigen.“

„Und was ist mit dem Iuba?“

Okay, jetzt ging sie mir ganz offiziell auf den Keks. „Wissen Sie was? Vergessen Sie den blöden Iuba, schicken Sie einfach ein paar Venatoren her, die mich aus diesem verdammten Schutzbunker rausholen!“

Nach der Ansage blieb es ein paar Sekunden ruhig in der Leitung. Dann kamen endlich die erlösenden Worte. „Einsatzkräfte sind unterwegs.“

„Danke.“

„Bleiben Sie wo Sie sind, bis man Sie aus dem Bunker heraus holt.“

Na was hatte sie denn gedacht, was ich nun tun würde? Mich kichernd aus dem Staub machen? Selbst wenn ich das gewollt hätte, wäre ich dazu wahrscheinlich kaum noch in der Lage gewesen.

Jetzt konnte ich nur noch warten. Zum Glück war es hier drinnen ein wenig wärmer als draußen – nicht das ich davon viel merkte. Ich war so durchgefroren, dass ich einen Eisschrank hätte neidisch machen können. Aber zum ersten Mal seit man mich von dem Parkplatz entführt hatte, spürte ich echte Erleichterung und schaffte es sogar mich ein wenig zu entspannen.

Langsam ließ ich mich an der Wand auf den Boden rutschen. Es war einfacher, wenn ich mein Bein nicht die ganze Zeit belasten musste. Dabei konnte ich vermutlich noch von Glück reden, dass Schwarzmähens Bruder mir nur eine Fleischwunde verpasst und es nicht gebrochen hatte. Das Gebiss eines Iuba konnte man gut mit dem einer Hyäne vergleichen.

Die Schwarzmähne kratzte wieder an der Tür, doch als ich nicht reagierte, ließ er sich mit einem Seufzen auf den Boden plumpsen.

„Oh ja, schon klar, du hast ein schweres Leben.“

Er schnaubte nur und wandte den Kopf ab.

Bis ich draußen endlich die ersehnten Sirenen hörte, waren vermutlich nur wenige Minuten vergangen, doch für mich fühlte es sich so an, als hätte die Rettung Jahre auf sich warten lassen.

Schwerfällig erhob ich mich wieder vom Boden und humpelt zur Tür, was die Schwarzmähne sofort erwartungsvoll auf die Beine springen ließ. Ich schob jedoch nur die Guckluke in der Tür auf, um zu sehen, was dort draußen vor sich ging. Und, naja, um mit den Leuten sprechen zu können, damit sie nicht einfach die Tür öffneten. Zwar hatte ich gesagt, dass hier ein Iuba bei mir drinnen war, aber ich nahm nicht wirklich an, das die Leute mir geglaubt hatten. Sie vermuteten wahrscheinlich, ich sei einfach ein wenig durch den Wind.

Was ich ja auch war.

Das erste Fahrzeug dass mit quietschenden Reifen direkt vor dem Bunker hielt, trug auf der Fahrertür das Emblem der staatlichen Venatoren. Genauso verhielt es sich mit dem zweiten Wagen. Der dritte jedoch stammte von der Polizei. Die allerdings blieben in ihrem Auto sitzen, als die Venatoren ihre Türen öffneten und sich wachsam nach einer Gefahr umschauten.

„Sie können sich entspannen, da draußen ist kein Proles.“ Jedenfalls keines von dem ich wüsste.

Ein stattlicher Venator mir sehr breiten Schultern und ziemlich schmalen Hüften, richtete seinen Blick auf mich. Er musste Mitte vierzig sein, oder vielleicht sogar noch älter. Für einen Venator im Außeneinsatz jedenfalls ziemlich alt. „Sind die Proles abgezogen?“

Hm, wie erklärte ich das jetzt am Besten, ohne völlig verrückt zu wirken? „Es war nur einer, ein Iuba und, naja, er ist hier bei mir im Bunker.“

Mit einem Mal war ich im Mittelpunkt aller vier Venatoren.

„Bei Ihnen ist ein Iuba im Bunker?“, fragte ein jüngerer Venator spöttisch.

„Ja. Darum würde ich es echt toll finden, wenn mir jemand eine Betäubungswaffe geben könnte. Der Iuba ist aus der ersten Generation und sollte bereits vor eineinhalb Wochen nach Historia gebracht werden. Leider gab es auf dem Transport ein paar Komplikationen und nun sitze ich hier drinnen mit ihm fest.“

„Zusammen mit dem Iuba“, fragte der junge Kerl noch einmal.

Ich hatte mir ja bereits gedacht, dass das nicht einfach werden würde. „Ja, zusammen mit dem Iuba.“

Die Venatoren tauschten ein paar Blicke, dann fragte ein blonder Kerl. „Geht es Ihnen gut?“

„Nein!“ Was für eine dumme Frage war das denn? „Ich wurde entführt, geschlagen, fast erschossen und nun sitze ich mit einem verdammten Iuba in einem scheiß Bunker fest, weil sie mir keine beschissene Betäubungswaffe geben wollen! Wie wäre es also, wenn Sie anstatt blöde Fragen zu stellen einfach mal an die Tür kommen und einen Blick hinein werfen, hm? Dann können Sie sich selber davon überzeugen, dass ich nicht durchgeknallt bin!“ Okay, das wäre vermutlich auch ein wenig diplomatischer gegangen, aber ich war verdammt noch mal am Ende mit meiner Kraft und wollte nur noch hier raus.

Wieder wurden Blicke ausgetauscht, dieses Mal jedoch setzte sich der Jüngere in Bewegung und kam zu mir an die Tür.

Ich ging einen Schritt zur Seite, damit er besser hereinspähen konnte und bekam fast einen Herzzinsfakt, als die Schwarzmähne plötzlich knurrend an der Tür hochsprang und versuchte durch die kleine Luke zu beißen. Er hatte wohl etwas gegen Besuch.

„Scheiße!“, hörte ich den jungen Venator nur noch sagen, während die Schwarzmähne damit begann, knurrend vor der Tür auf und ab zu laufen. „Da ist wirklich ein Iuba drin!“

Ein „Hab ich doch gesagt“ konnte ich mir einfach nicht verkneifen. „Geh weg“, knurrte ich die Schwarzmähne an und schob mich wieder vor das Guckloch. „Wären Sie dann bitte so freundlich mir eine Waffe zu reichen?“

Der junge Venator blinzelte nur. „Warum greift er Sie nicht an?“

„Die gleiche Frage stelle ich mir auch schon den ganzen Tag. Bisher habe ich leider noch keine plausible Erklärung dafür gefunden, aber ich kann Ihnen sagen, dass es kein tolles Gefühl ist mit diesem Vieh hier eingesperrt zu sein, also holen Sie mich endlich hier raus!“ Ja, okay, dann klang ich eben ein kleinen wenig hysterisch. Na und? Ich hatte einen anstrengenden Tag hinter mir.

Wenigstens der ältere Venator schien Erbarmen mit mir zu haben. Er schüttelte zwar fassungslos den Kopf, steckte aber seine Waffe weg und ging zu seinem Wagen. Als er wieder zum Vorschein kam, hatte er eine Betäubungspistole in der Hand, mit der er geradewegs auf mich zukam. „Sie wissen wie man damit umgeht?“

Ich nickte. „Ich bin selber Venator. Grace Shanks, von der Berliner Gilde.“ Hatte die Tussi aus der Zentrale denn gar keine Einzelheiten weitergegeben?

„Berliner Gilde?“ Jetzt hatte ich ihn verblüfft. „Was treiben Sie mit einem Iuba in Dömitz?“

Dömitz, da war ich also. Jetzt wusste ich wenigstens ungefähr, wo diese Mistkerle mich hingebracht hatten. „Das ist eine sehr lange Geschichte“, sagte ich ausweichend und nahm die Waffe durch die Luke entgegen.

In dem Moment als die Schwarzmähne sie sah, begann er warnend zu knurren und langsam vor mir zurückzuweichen. Da hatte wohl jemand schlechte Erfahrung mit Waffen gemacht. Nicht gut.

„Ganz ruhig“, sagte ich leise und zielte mit der Waffe auf seine Schulter. „Das tut nur ein bisschen weh.“

Seine Lefzen gingen noch ein Stück höher.

„Wie schnell wirkt dieses Zeug?“, fragte ich sicherheitshalber. Ich wollte hier nämlich nicht mit einem wütenden Iuba eingesperrt sein.

„Ein paar Sekunden, mehr nicht.“

Okay, das konnte ich schaffen. „Schlaf gut.“ Ich drückte den Abzug.

Wie geplant ging der Dart direkt in seine Schulter. Er jaulte kurz auf, aber mehr wegen dem Schreck, als aus Schmerz, sprang dann jedoch knurrend auf mich zu und riss mich zu Boden. Das war der Moment, in dem ich glaubte einen sehr großen Fehler gemacht zu haben, doch ich war gar nicht sein Ziel.

„Verdammt!“, hörte ich nur von draußen.

Er biss in die Waffe, riss sie mir aus der Hand und begann sie wütend zu beuteln. Doch noch während ich aus der Ferne die Sirene eines Krankenwagens hörte und die Venatoren die Tür eilig von außen öffneten, wurden seine Bewegungen langsamer und träge.

Gerade als die Tür aufgerissen wurde, begann er zu torkeln. Die Waffe fiel ihm aus der Schnauze, die Beine knickten ihm weg und dann sank er auf die Seite. Zwei, drei Atemzüge lang kämpfte er noch gegen die Bewusstlosigkeit, aber das Medikament war stärker. Seine Augen schlossen sich und schon war er im La-la-land.

Ich dagegen saß schwer atmend auf dem Boden und konnte einfach nicht glauben, was für ein unverschämtes Glück ich hatte. Warum auch immer, dieser Iuba wollte mir einfach keinen Schaden zufügen.

Mein Blick glitt von der Schwarzmähne zu den vier Venatoren, die geschlossen in der offenen Tür standen. „Tut mir leid, Jungs, er hat eure Waffe vollgesabbert.“

Einer von den Kerlen stieß ein ungläubiges Lachen aus. der alte jedoch fixierte mich nur. „Ich bin wirklich gespannt zu hören, was Sie mir zu erzählen haben.“

„Kann ich vorher noch telefonieren? Dauert auch nicht lange.“ Ich musste unbedingt Reese anrufen, damit er nicht noch komplett durchdrehte.

 

°°°

 

„Es fällt mir ein bisschen schwer Ihnen das alles zu glauben.“ Maddox Jefferson, staatlicher Venator des Landkreises, ließ sich mit dem Hintern neben mir auf der Tischkante nieder und verschenkte die Arme vor der stattlichen Brust. „Was Sie da erzählen klingt ziemlich … abenteuerlich.“

Ich funkelte den älteren Mann mit den breiten Schultern und den schmalen Hüften böse an. „Ist das eine nette Umschreibung dafür mir zu sagen, dass Sie mich für eine Lügnerin halten?“

„Nein, das nicht, Ihre Identität wurde ja mittlerweile von der Polizei bestätigt, genau wie die Entführung, aber in meinen Ohren ist das Ganze ein wenig zu fantastisch.“

„Und das, obwohl Sie mich und den Iuba aus dem Bunker geholt haben.“ Müde rieb ich mir über die Stirn. Seit nun schon gefühlten Stunden saß ich hier auf dem Revier der staatlichen Venatoren in einem kleinen Konferenzratsraum und beantwortete eine Frage nach der anderen.

Nachdem der Bunker offen war, hatten ein paar Sanitäter sich um meine kleinen Wehwehchen gekümmert und mir etwas gegeben, damit ich die Folgen der Vergiftung nicht mehr spürte. Ich hatte feststellen müssen, dass mir trotzdem noch jeder Muskel im Körper schmerzte.

Währenddessen hatte man den bewusstlosen Iuba eingesammelt und irgendwo in diesem Gebäude untergebracht. So weit ich wusste, organisierte man gerade den Transport nach Historia für ihn.

Ich war mir nicht ganz sicher warum, aber anstatt auf die Polizeiwache, hatte man mich hier her gebracht. Das bedeutete aber noch lange nicht, dass die Polizei mich nicht auch hier mit hundert Fragen hatte löchern können. Sie hatten sowohl meine Aussage als auch meine Anzeige aufgenommen und waren im Moment auf dem Weg zu Malous Anwesen.

Natürlich hatten alle ziemlich skeptisch gewirkt, als ich ihnen erklärte, dass die ansässige Milliardärin der Kopf von L.F.A war und einen ganzen Park voller Proles besaß, aber der seltsame Iuba war ihnen Beweis genug gewesen, um nicht völlig an meinem Verstand zu zweifeln und meinen Anschuldigungen wenigstens einmal nachzugehen. Vielleicht mussten sie es aber auch einfach tun. Mir war es egal, solange Malou am Ende hinter Gittern saß.

Der einzige Lichtblick in den letzten Stunden war das viel zu kurze Gespräch mit Reese gewesen und nur das Wissen, dass er im Moment auf dem Weg hier her war, hielt mich noch auf den Beinen. Er war bereits auf dem Weg hier her gewesen, als ich mit ihm telefoniert hatte. Irgendjemand hatte sich wohl bei Jilin darüber erkundigt, ob ich wirklich ich war und sobald sie erfahren hatte, dass ich gefunden worden war, hatte sie sich Reese geschnappt und mit ihm in den Wagen gestiegen. Zum Glück saß er im Moment nicht am Steuer.

Ich war fertig mit der Welt und wollte mich eigentlich nur noch verkriechen, aber irgendwie wollte diese ganze Fragerei einfach kein Ende nehmen. Dieser Maddox wollte mich einfach nicht in Ruhe lassen und ich war mir sicher, dass hier irgendwo noch ein paar Polizisten im Gebäude herumhingen, die früher oder später auch noch mal zu mir kommen würden.

„Da ist der nächste Punkt, der mir Rätsel aufgibt“, bemerkte Maddox Jefferson, ohne etwas von meinen Gedanken zu ahnen. „Dieser Iuba verhält sich Ihnen gegenüber abnormal. Und dann die ganze Angelegenheit mit dem Prolespark.“ Er schüttelte zweifelnd den Kopf. „Der private Zoo von Malou Grabenstein ins sowohl bekannt, als auch umstritten, aber …“

„Sie wissen von dem Park?“, unterbrach ich ihm überrascht. Das kam jetzt unerwartet. „Sie wissen davon und haben noch nichts dagegen unternommen?“

„Dagegen unternommen?“ Er schnaubte spöttisch. „Es ist kein Park, es ist ein privater Zoo, in dem sie seltene und vom aussterben bedrohte Tierarten hält. Die ganze Anlage ist schon seit Jahren ziemlich umstritten, aber sie hat für all ihre Viecher, offizielle Genehmigungen. Es ist alles legal.“

Was erzählte der Kerl da nur für einen Unsinn? „Sie hält keine vom aussterben bedrohten Tiere, sie hält sich mutierte Proles. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen und daran ist gar nichts legal.“

Maddox schüttelte bereits den Kopf, bevor ich geendet hatte. „Ich weiß nicht was genau Ihnen widerfahren ist, aber ich kann Ihnen versichern, dass Malou Grabenstein ein angesehenes Mitglied der Gemeinde ist. Sie spendet sehr viel Geld für wohltätige Zwecke und unterstützt gemeinnützige Arbeit.“

Ich glaubte kaum was ich da hörte. „Sie wollen mir also weismachen, dass diese durchgeknallte Irre eine ehrbare Samariterin ist? Diese Frau hat mich entführen lassen und dann in ein Gehege mit Iubas geworfen, damit die Biester mich fressen! Sie sollten keine Lobreden auf sie halten, man sollte sie auf der Stelle festnehmen!“

Der Kerl bedachte mich mit einem so geduldigen Blick, dass ich am Liebsten aus der Haut gefahren wäre. „Ich kann verstehen dass Sie aufgebracht sind und so eine Entführung kann auch ziemlich traumatisch sein, aber ich denke Sie haben irgendetwas missverstanden.“

„Missverstanden?!“ Das wurde ja immer besser. Wer war dieser Kerl, ihr persönlicher Fürsprecher? „Was bitte kann man an der ganzen Scheiße missverstehen?“

„Ich versuche Ihnen nur zu erklären, dass Sie sich da vielleicht in etwas verrennen. Die Anschuldigungen die Sie gegen Frau Grabenstein erhoben haben, sind sehr schwerwiegend und …“

„Und absolut gerechtfertigt! Also hören Sie auf mir zu erzählen, ich hätte mir das alles nur ausgedacht!“ Ich konnte nicht mehr länger sitzen bleiben, sonst würde ich gleich vor Wut platzen. Aber aufstehen konnte ich wegen meinem Verdammten Bein auch nicht. Die Wunde wurde zwar gesäubert und verbunden, aber es tat immer noch weh, wenn ich das Bein zu lange belastete. Als verschränkte ich einfach nur abweisend die Arme vor der Brust.

„Ich habe nie gesagt, Sie hätten sich diese Geschichte ausgedacht, nur … vielleicht hat ihre Entführerin ihnen auch einen falschen Namen genannt, um Frau Grabenstein zu schaden. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die echte Malou Grabenstein der Vorstand von L.F.A ist und unschuldige Mitbürger entführt.“

„Und woher sollte ich wohl von ihrem Zoo wissen?“

„Aus dem Internet, ihr Zoo ist immerhin kein Geheimnis.“

Das gab es doch wohl nicht, ich konnte einfach nicht glauben, was ich da hörte. „So weit ich weiß, leide ich nicht an Halluzinationen. Außerdem, wenn das ganze nur eine Ausgeburt meiner blühenden Phantasie ist, wo kommt dann der verdammte Iuba her? Er wurde vor über einer Woche geklaut und zwar von ihr!“

„Für diese Behauptung haben Sie keine Beweise.“

„Ich habe den verdammten Iuba!“

Als hinter mir dir Tür geöffnet wurde, wandten wir ihr beide das Gesicht zu. Einer der Polizisten kam in den Raum, in seiner Hand hielt er einen braunen Umschlag. Hatte ich es doch gewusst, dass die sich hier auch noch rumtrieben.

„Haben Sie Frau Grabenstein festgenommen?“, fragte ich ihn ganz direkt. Sie mussten es einfach getan haben, die verdammten Proles waren schließlich nicht zu übersehen.

„Nein, dazu bestand keine Veranlassung.“

Wie bitte? „Keine Veranlassung? Diese Frau hat mich entführt!“

Der Polizist ließ sich von meinem Ausbruch nicht beeindrucken. „Ein paar Kollegen waren aufgrund Ihrer Anschuldigungen gerade bei ihr gewesen und Frau Grabenstein war nicht nur zu einem Gespräch bereit, sie war auch so entgegenkommend, die Kollegen aufs Gelände zu lassen, obwohl sie keinen Durchsuchungsbefehl hatten.“

„Und?“

„Es wurde auch der Zoo durchsucht, aber es konnten keine Proles gefunden werden.“

„Was?!“ Das war nicht möglich, das konnte einfach nicht sein. So lange war ich noch gar nicht fort. „Die Gehege waren … leer?“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Aber …“

„Frau Shanks, Frau Grabenstein hält schon seit vielen Jahren exotische Tiere und diese befanden sich auch heute Abend in den Gehegen – die Kollegen haben sie gesehen. Damit komme ich auch gleich zum nächsten Punkt. Hier.“ Er reichte mir den brauen Umschlag. „Der ist für sie.“

Unsicher was da jetzt noch kam, nahm ich ihn entgegen und zog mehrere zusammengeheftete Papiere heraus. Schon auf der ersten Seite stach mir sofort etwas ins Auge. „Einstweilige Verfügung?“ fragte ich verwirrt.

„Frau Grabenstein hat uns über Ihre Aktivitäten aufgeklärt und nun ihre Anwälte eingeschaltet. Es ist Ihnen von jetzt an verboten sich ihr oder ihren Immobilien auf dreihundert Meter zu näheren.“

Ich verstand noch immer nicht, was genau der Kerl da eigentlich redete, aber eine kurzes Überfliegen des Dokuments, klärte mich ziemlich schnell darüber auf. Angeblich war ich eine verrückte Tierschützerin, die sie schon seit Wochen wegen ihres privaten Zoos belästigte. Dass ich sie wegen der Entführung und den Proles bezichtigte, war laut ihrer Aussage nur ein weiterer Versuch von mir, die Tiere aus ihrer Obhut zu befreien.

„Das gibt es doch wohl nicht. Sie zeigt mich an?!“ Ungläubig und fassungslos schaute ich zu dem Polizisten auf, der schien mittlerweile auch zu glauben, dass ich hier eine riesige Scharade abzog.

„Tut mir leid, da kann ich nichts machen, aber wenn Sie sich nicht von Frau Grabenstein fernhalten, dann werde ich Sie festnehmen müssen.“

Das war einfach nicht zu fassen. Diese Frau ist nicht nur das Oberhaupt einer kriminellen Gesellschaft, sie hat mich auch entführen lassen und versucht mich zu töten. Doch nun war ich plötzlich der Bösewicht und sie das unschuldige Opfer, das sich gegen mich wehren musste. „Aber das ist eine Lüge“, versuchte ich zu erklären. „Sie behauptet das nur, damit ich als dumm dastehe. Sie hat mich entführt und sie hat Proles bei sich auf dem Anwesen.“

Der Polizist schüttelte nur unnachgiebig den Kopf. „Wir waren vor nicht einmal einer halben Stunde auf dem Gelände und haben die Gehege kontrolliert. Noch dazu gab es mehrere Zeugen, die Ihre Aktivitäten in Bezug auf Befreiungsversuche der Tiere bestätigen konnten.“

Wie bitte? „Was für Aktivitäten? Es gab keine Aktivitäten, bis gestern wusste ich nicht mal das diese Frau existiert und von dem Zoo habe ich erst vor zehn Minuten erfahren. Es kann keine Zeugen geben, weil ich nichts getan habe. Sie lügt.“ Warum glaubte er mir denn nur nicht? Ja, meine Geschichte klang ziemlich abenteuerlich, aber ich war hier das Opfer.

„Das gleiche sagt sie über Sie und im Gegensatz zu Ihnen, hat sie Zeugen.“

Das konnte nicht sein. Nach allem was mir in den letzten Stunden widerfahren war, konnten sie meine Anlage doch nicht einfach so abweisen. Ich hatte die Hölle durchgemacht und um mein Leben gebangt. Diese Frau war nicht nur eine einfache Verbrecherin, sie mordete auch, um ihre Ziele zu erreichen. „Schauen Sie sich mein Gesicht an“, forderte ich ihn auf und zeigte auf mich selber. Das Blut hatte ich mir bereits notdürftig abgewaschen, aber ich sah bestimmt noch immer aus, als sei ich unter einen Laster geraten. „Wie glauben Sie, ist das passiert? Soll ich ihnen die Bisswunde an meinem Bein zeigen?“

„Sie haben mit einem Iuba in einem Bunker gesessen. Seien sie froh, dass Ihnen nichts Schlimmeres geschehen ist.“

Nichts Schlimmeres? Ich sah aus wie ein gottverdammtes Wrack! „Es ist also was passiert? Ich wurde entführt, konnte mich befreien und bin dann zu dem Bunker gegangen, in dem rein zufällig einer von den gestohlenen Iubas saß? Und dann fällt mir nichts besseres ein, als bei meiner Rettung eine verrückte Tierschützerin zu spielen und diese arme, missverstandene Frau zu beschuldigen?“

Schweigend erwiderte er meinen Blick und mit einem Mal wurde mir klar, dass es ganz egal war, was ich sagte, er zog es nicht mal in Betracht, mir zu glauben. Oder er hatte einfach keinen Anlass dazu.

Ich kniff meine Augen ganz leicht zusammen. „Wie viel zahlt sie Ihnen“, fragte ich ihn ganz direkt. „Was hat es sie gekostet, mich als Betrügerin hinzustellen?“

Die Mine des Polizisten verdüsterte sich. „Seien Sie vorsichtig mit dem was Sie sagen.“

„Warum? Habe ich etwas in Schwarze …“

„Hey, bleiben Sie stehen!“, drang ein lauter Ruf durch die offene Tür und erregte damit unser aller Aufmerksamkeit. „Kommen Sie zurück, Sie dürfen da nicht rein!“

Das war dem Angesprochenen scheinbar egal. Wir hörten eilige Schritte näherkommen. Zwei, nein, mindestens drei Personen. Dann wurde auch schon der Raum gestürmt.

„Reese!“, war alles was ich rief, da war ich auch schon aufgesprungen und im nächsten Moment klammerte ich mich auch schon mit beiden Armen um seinen Hals. Oh Gott, er war hier, er war endlich hier!

„Shanks“, murmelte er nur und schlag seine Arme genauso fest um mich, wie ich um ihn. Sein ganzer Körper zitterte, aber ich wusste nicht ob das von der Anspannung oder seiner Erleichterung herrührte. Ich war einfach nur so verdammt froh, dass er hier war, bei mir. Ich war nicht länger allein.

„Du bist hier“, flüsterte ich und vergrub mein Gesicht an seiner Halsbeuge. Da war seine Wärme und dieser vertraute Geruch, der ihm allein gehörte.

Auch er hielt mich so fest, als hätte er Angst, ich würde ihm wieder entgleiten, wenn er nur etwas lockerer lassen würde und zum ersten mal seit vielen Stunden fühlte ich mich wieder sicher.

Es war zwar nicht mal ein ganzer Tag vergangen, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, aber für mich war es die Hölle gewesen und hatte sich angefühlt wie mehrere Jahre. Wie konnte in wenigen Stunden nur so viel geschehen?

„Sie können hier nicht einfach hinein gehen!“, hörte ich eine aufgebrachte Männerstimme hinter ihm sagen.

Eine Frau schnaubte. „Oh, Sie würden sich wundern, was er alles kann.“

Jilin, sie war auch hier.

Ich warf ihr einen kurzen Blick über seine Schulter zu, konzentrierte mich aber sofort wieder auf ihn, als ich die leichte Berührung an meiner Wange spürte. „Dein Gesicht“, sagte er leise und wirkte geradezu geschockt.

Zwar hatte ich bisher noch nicht die Gelegenheit gehabt einen Blick in einen Spiegel zu werfen, doch ich erinnerte mich daran, dass ich mindestens zwei Platzwunden hatte und nach dem Schlag von Logan sicher auch ein blaues Auge.

„Ist nicht so schlimm“, versuchte ich ihn zu beruhigen, doch leider besaß er zwei funktionierende Augen. Das Blut hatte ich sicher auch nicht vollkommen abgewaschen bekommen. „Ich hab ein Schmerzmittel bekommen, es ist alles okay.“

So wie er die Lippen aufeinander presste, sah er das wohl ganz anders. Ich konnte praktisch dabei zusehen, wie in seinen Augen zornige Flammen aufloderten. „Diese Mistkerle.“

„Einer von ihnen ist tot. Aber ich war es nicht“, fügte ich sofort hinzu, als sein Mund sich öffnete. Okay, irgendwie war es doch meine Schuld, schließlich hatte ich die Iubas hinaus gelassen. Daran wollte ich im Moment gar nicht denken. Ich war einfach nur froh, dass er hier war und mich festhielt.

„Herr Tack“, versuchte der genervte Polizist Reese' Aufmerksamkeit erneut zu bekommen. „Würden Sie bitte noch mal rausgehen? Das Gespräch …“

„Vergiss es“, zischte er und drehte sich gerade mal so weit herum, um den Mann anfunkeln zu können. „Das letzte Mal als ich sie aus den Augen gelassen habe, wurde sie entführt. Ich werde ganz sicher nicht verschwinden.“

Nicht dass es normal war, verschleppte zu werden, wenn er nicht in der Nähe war, aber dieses Mal war ich für seine Halsstarrigkeit wirklich dankbar. Ich wollte auch nicht dass er ging und hätte mich vermutlich an ihm festgeklammert und ihn angefleht bei mir zu bleiben, wenn er es auch nur versucht hätte.

„Ist schon gut“, sagte der andere Polizist. „Wir waren hier sowieso gerade fertig.“

Als er das sagte, wirbelte ich zu ihm herum und konnte gerade noch so den Schmerz unterdrücken, der mein Bein hinauf schoss. „Wir waren noch gar nicht fertig“, widersprach ich ihm. „Nicht bevor sie Malou Grabenstein festgenommen haben.“

Der Polizist verengte seine Augen leicht. „Treiben Sie es nicht zu weit, Frau Shanks. Und denken Sie daran.“ Er tippe mit dem Finger auf die einstweilige Verfügung, die ich auf dem Tisch liegengelassen hatte. „Halten Sie sich von Frau Grabenstein fern.“

Meine Lippen pressten sich unwillig zusammen. „Das können Sie nicht machen.“

„Es ist bereits geschehen und wenn Sie sich nicht daran halten, dann werde ich Sie festnehmen.“ Er warf mir noch einen warnenden Blick zu und verließ dann mit seinem Kollegen den kleinen Konferenzraum.

Reese schaute ihm misstrauisch hinterher. „Warum will er dich festnehmen?“

„Weil meine Entführerin eine Einstweilige Verfügung gegen mich erwirkt hat, indem sie mich als durchgeknallte Tierschützerin hingestellt hat.“

„Was?“, fragte er verständlicher Weise verwirrt.

Ich war einen Blick zu Maddox Jefferson, der die ganze Zeit schweigend auf der Tischkante hockte und mich aufmerksam beobachtete. Dann setzte ich mich seufzend zurück auf den Stuhl, um mein Bein zu schonen – aber seine Hand hielt ich fest, ich zog ihn einfach mit. „Angeblich bin ich hier nicht das Opfer, sondern die Täterin“, sagte ich und schob ihm das Dokument zu.

Während er damit begann es zu überfliegen, erklärte ich ihm was seit meinem Verschwinden vom Parkplatz geschehen war und was Malou getan hatte, um einer Festnahme zu entgehen. Auch die Schwarzmähne blieb nicht unerwähnt, was ihm eine tiefe Falte auf die Stirn zauberte.

„Ich versteh das nicht“, endete ich. „Ich war in diesem verdammten Park … Zoo, was auch immer. Er war voller Proles, aber jetzt behaupten alle, dass da nur ganz normale Tiere leben. Aber das stimmt nicht, ich weiß es.“

„Sie haben jedoch keine Beweise für Ihre Behauptungen“, warf Maddox von der Seite ein.

Reese funkelte ihn warnend an. „Ich habe mich sicher gerade verhört. Ansonsten müsste ich glauben, dass du Armleuchter meine Frau gerade als Lügnerin bezeichnet hast.“

„Ich habe nicht gesagt dass sie lügt, sie hat nur einfach viel durchgemacht und in solch extremen Stresssituationen kann es nun einmal passieren, dass unsere Wahrnehmung uns trügt. Malou Grabenstein ist aber nun mal eine Wohltäterin, keine Kriminelle.“

„Oh bitte, hören Sie endlich damit auf“, ging ich dazwischen. „Ich kann es nicht mehr hören, ich weiß was ich gesehen habe und diese Geschichte von Malou ist von vorne bis hinten erstunken und erlogen.“

„Kann ich das mal sehen?“, fragte Jilin und streckte die Hand nach der einstweiligen Verfügung aus.

„Klar.“ Ich reichte ihr die Unterlagen. „Vielleicht hast du ja eine Idee, wie wir das hinbiegen können.“

„Ich nicht.“ Auf ihrer glatten Stirn erschien ein kleines Runzeln, als sie die ersten Zeilen überflog. „Aber wozu hat die Gilde denn einen Haufen Anwälte? Ich bin mal kurz telefonieren.“ Noch während sie das sagte, zückte sie bereits das Handy und verschwand dann mit Blick darauf aus dem Raum.

„Ich hab auch noch einiges zu erledigen“, erklärte Maddox und rutschte vom Tisch. „Und halten Sie die Ohren steif, es wird sich schon alles finden.“ Damit ging auch er hinaus.

Was für eine lahme Plattitüde.

Ich rieb mir über die Stirn. War es möglich trotz der ganzen Schmerzmittel Kopfschmerzen zu bekommen? „Das ist alles so verkorkst.“

„Diese Frau wird nicht so einfach davon kommen“, erklärte Reese mit grimmiger Entschlossenheit. „Den Verband wird es sicher interessieren, dass sie einen eigenen Proles-Zoo besitzt. Dann können die sich wenigstens mal nützlich machen.“

Ein schwaches Lächeln erschien auf meinen Lippen. Es gefiel mir, wie dieser Mann dachte. Doch als ich aufschaute und seine Anspannung bemerkte, verging es mir wider. „Wie geht es dir?“

Sein Schnauben sagte mir alles, was ich wissen musste. Er lehnte sich direkt neben mir mit dem Hintern an die Tischkante und strich mir vorsichtig über die unverletzte Wange. „Als du und Kjell nicht zurückgekommen seid und ich keinen von euch auf euren Handys erreichen konnte … ich hab gedacht, du wärst vielleicht wegen der Vergiftung zusammengeklappt. Und als ich und die Nervensäge vom Verband auf dem Parkplatz ankamen und den Krankenwagen und die Polizei sah …“ Er verstummte einen Moment. „Ich hab immer noch geglaubt, es wäre wegen der Vergiftung. Aber dann habe ich gesehen, wie sie Kjell auf einer Krankenliege in den Wagen schoben, du dagegen warst nirgendwo zu sehen.“

Ich legte meine Hand auf seine und drückte sie leicht. „Wie geht es Kjell? Er hat ganz schön was einstecken müssen, als er versucht hat mir zu helfen.“

Reese' hängende Hand schloss sich zu einer Faust, doch dann zwang er sich sie wieder zu entspannen. „Leichte Gehirnerschütterung, Quetschungen, Blutergüsse. Er kommt schon wieder auf die Beine.“

Wenigstens eine gute Nachricht. „Ich hoffe du warst nett zu ihm.“

„Ich bin erst gar nicht an ihn rangekommen, hab fast einen Polizisten geschlagen, um zu erfahren, was mit dir passiert ist. Und als sie es mir sagten …“ Wieder verstummte er. Dieses Mal schaffte er es nicht mehr, seine Faust wieder zu öffnen. „Ich wusste nicht was ich tun sollte und bin fast ausgeflippt. Lexian hat dann Jilin angerufen, damit sie jemand anderen zu Herr Duggan schicken konnte.“

Ach ja, der Besitzer des Nudistenclubs, an den hatte ich ja gar nicht mehr gedacht.

„Jilin ist dann auf dem Parkplatz aufgetaucht und mit mir zu Kjell ins Krankenhaus gefahren. Wir haben gehofft, dort etwas zu erfahren, aber er konnte uns nur sagen, dass du von drei Kerlen in einen silbernen Van gezerrt wurdest.“ Vorsichtig glitt sein Finger zu der Platzwunde an meiner Stirn. Sie hatte geklammert werden müssen. „Dann hat die Polizei angerufen. Sie hatten den Van gefunden, zusammen mit deinen Waffen und bin durchgedreht. Ich wusste nicht was das bedeutet und wo du warst und …“ Er holte einmal angestrengt Luft. „Jilin musste mich aus dem Krankenhaus schaffen, sonst hätten sie die Polizei gerufen.“

Auch wenn ich mit sowas bereits gerechnet hatte, überlief mich doch ein kalter Schauer bei dem Gedanken, dass er jetzt hinter Gitter sitzen könnte. Zum Glück war Jilin da gewesen.

„Sie hat mich in die Gilde gebracht und in ihr Büro gesetzt. Dann hat sie mich nicht mehr aus den Augen gelassen.“ Er schnaubte, als sei irgendetwas daran witzig. „Sie war die ganze Nacht mit mir da und hat immer wieder mit der Polizei gesprochen, aber die hatten nie Neuigkeiten. Du warst einfach … weg.“

„Es tut mir leid.“ Nein, ich entschuldigte mich nicht dafür, entführt worden zu sein – das wäre lächerlich – es tat mir leid, dass er sich solche Sorgen gemacht hatte.

„Ich habe mich so machtlos gefühlt“, gestand er mir so leise, dass ich es kaum hören konnte.

Oh Gott, gleich würden mir die Tränen kommen. Um das zu verhindern, erhob ich mich wieder vom Stuhl und nahm ihn noch mal in die Arme. Wir brauchten das beide.

„Ich hatte solche Angst um dich.“

Na toll, jetzt mogelte sich da wirklich eine Träne heraus. Reese zeigte nicht gerne Gefühle und jetzt gerade erlaubte er mir sogar einen Blick in seine Seele. Solche Momente waren kostbar, auch wenn sie aus solchem Grauen heraus geboren worden waren. „Ich bin so froh, dass du hier bist.“

„Tu mir das nie wieder an.“

Na ich hoffte doch mal, dass das eine einmalige Sache war. An einer Widerlegung hatte ich sicher kein Interesse.

Als sich neben uns jemand räusperte, löste ich mich ein keinen Wenig von Reese. Dabei wischte ich mir unauffällig die Träne aus dem Augenwinkel – große Jäger weinten nicht.

Jilin war unbemerkt in den Raum zurückgekehrt. „Ich will nicht stören, aber ich habe trotz der frühen Stunde tatsächlich einen unserer Anwälte ans Telefon bekommen.“

Frühe Stunde war gut, wir hatten es kurz vor sechs. Ich war seit fast vierundzwanzig Stunden auf den Beinen. Gestern um diese Zeit hätte ich jedoch niemals erraten, was mich erwarten würde. „Und, was hat er gesagt?“

„Das wird dir nicht gefallen.“ Jilin humpelte quer durch den Raum zum nächsten freien Stuhl und ließ sich mit einem erleichterten Seufzen darauf nieder. Sie streckte das Bein mit der Prothese aus und rieb sich über das Knie. „Die einstweilige Verfügung ist rechtskräftig, du musst dich von dieser Frau fernhalten.“

„Was?!“ Nicht das ich vorhatte, ihr einen Besuch abzustatten, es ging hier einfach ums Prinzip.

„Wie kann dieser Bullshit rechtskräftig sein?“, verlangte Reese zu wissen.

„Es ist einfach so, aber keine Angst, nur weil du dich ihr nicht näheren darfst, heißt das nicht, dass sie einfach so davon kommt. Ich werde bei unserer Rückkehr unsere Anwälte darauf ansetzen, damit diese rechtliche Schritte gegen sie einleiten können.“

„Das heißt, vorerst bleibst sie einfach auf freiem Fuß und kann weiter tun und lassen was sie will?“

Jilin hob entschuldigend die Hände. „Nachdem sie diese Anschuldigungen gegen dich erhoben hat, ist der Rechtsweg die einzige Möglichkeit sie zu kriegen. Die Anwälte werden sich auch um die Anzeige gegen dich kümmern und die Zeugenaussagen prüfen.“

„Und was soll das bringen? Die Frau hat Geld wie Heu, sie kauft sich die Leute einfach!“

„Anders geht es nicht.“

Reese' Lippen waren nur noch ein grimmiger Strich.

„Außerdem rate ich euch beiden in der nächsten Zeit nirgendwo alleine hinzugehen. Wenn es stimmt was du sagst und L.F.A. euch beide wirklich auf dem Radar hat, weil eure Tötungsquote so hoch ist …

„Natürlich stimmt das, oder glaubst du jetzt auch noch, dass ich mir den ganzen Mist nur ausgedacht habe?!“

„Shanks.“

„Fuck!“ Ich ließ mich schwer zurück auf meinen Stuhl sinken und stützte den Kopf in die Hand. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht so anfahren.“

„Ist schon okay. Ich will nur sagen, seit vorsichtig, ich will nicht, dass noch jemand von euch in ihre Fänge gerät.“

„Das wird nicht geschehen“, erklärte Reese grimmig.

„Das will ich hoffen.“ Jilin lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. „Ach ja, dieser Maddox hat mich eben noch mal angesprochen. Ich soll dir ausrichten, wenn du noch immer den Transport nach Historia begleiten willst, in zwei Stunden geht es los.“

„Was?!“, brauste Reese auf und nahm mich scharf ins Visier.

Und los ging es. „Der Iuba soll nach wie vor nach Historia und der Boss will das Vieh schnellstmöglich wieder aus dem Gebäude haben. Ich habe gesagt, ich würde gerne mitfahren, wenn das möglich ist.“

Reese starrte mich mit einem beinahe mörderischen Blick an. Ein Muskel in seinem Gesicht zuckte unheilverkündend. „Du machst Scherze.“

„Sehe ich aus, als würde ich scherzen?“

So wie sich daraufhin Reese' Kiefer anspannte, kam da jetzt wohl das Donnerwetter. „Fassen wir zusammen. Du wurdest von einem Toxrin vergiftest, zwei Tage später hat man dich entführt und versucht zu ermorden. Du bist völlig am Ende deiner Kräfte und trotzdem fällt dir nichts besseres ein, als dieses bescheuerte Proles nach Historia zu begleiten?!“ Zum Ende hin wurde seine Stimme immer lauter. „Hat dir der letzte Versuch nicht gereicht?! Du brauchst nicht noch mehr Scheiße.“

„Ich brauche einen Abschluss“, sagte ich ruhig. Als er sich nicht rührte, nahm ich seine Hand und drückte sie leicht. „Ich muss sicher gehen, dass dieser Iuba weggeschlossen wird, damit er für niemanden mehr eine Gefahr darstellen kann. Und bevor du damit jetzt wieder anfängst, nein, dieses Mal ist es nicht für meine Eltern, es ist für uns.“

Er schnaubte abfällig und wandte den Blick ab, doch seine Hand ließ er mir.

Davon ermutigt, sprach ich weiter. Er hörte mir zu. „Er muss sicher verwahrt werden, er ist unser Beweis, dass wir nichts mit dem Überfall auf die Transporter zu tun hatten. Sobald er in Historia ist, kommt Malou nicht mehr an ihn ran und der Verband hat nichts mehr gegen uns in der Hand.“

„Klingt alles gut und schön, aber du hast mir immer noch keinen Grund genannt, warum ausgerechnet du da mit musst.“

Wie sollte ich das nur erklären? Ich wusste ja selber nicht genau, warum ich das wollte, aber da war dieses Drängen in mir. Ich musste einfach sehen, dass er in Historia ankam, sonst würde ich nicht mehr schlafen können. Sein Schatten würde wie ein Geist durch meine Träume spuken und nichts als Blut zurück lassen. „Bitte Reese, ich brauche das, um mich wieder sicher zu fühlen.“

Seine Lippen verzogen sich unwillig und sein Kiefer mahlte angespannt.

„Es ist mir wichtig.“

Mit einem tiefen Atemzug rieb er sich über die Stirn. „Lass mich das bloß nicht bereuen“, lenkte er widerstrebend ein. „Noch mehr Scheiße können wir echt nicht gebrauchen.“

„Danke.“ Ich drückte seine Hand. „Du wirst schon sehen, es wird alles gutgehen.“

„Das glaube ich erst, wenn ich es erlebe.“ Er fasste mich wieder ins Auge. „Und dieses Mal fahren wir mit unserem eigenen Wagen. Ich will nicht noch mal auf andere angewiesen sein.“

Dem würde ich mich definitiv nicht widersetzten. „Dann werde ich jetzt mal schauen, ob ich irgendwo ein Waschbecken auftreiben kann. Du hast nicht zufällig frische Klamotten für mich mitgebracht?“

Sein Blick sagte schon alles. Hätte mich ehrlich gesagt auch gewundert, wenn er noch mal nach Hause gefahren wäre, nachdem er erfahren hatte, dass ich hier war.

„Ich frag mal vorne am Empfang nach“, sagte Jilin und erhob sich schwerfällig von ihrem Stuhl. Auch sie wirkte müde. „Vielleicht haben die hier ja Fundsachen, oder so was.“

Fundsachen warnen nicht unbedingt das, worauf ich es abgesehen hatte, aber wahrscheinlich immer noch besser, als meine zerfetzte und blutbesudelte Kleidung.

 

°°°

 

Zweifelnd betrachtete ich das Aufgebot der Venatoren und Polizei von Dömitz. Okay, der Iuba sollte unbedingt nach Historia, aber gleich drei Streifenwagen, ein Van und zusätzlich noch zwei Autos voller Venatoren? Es erweckte fast den Anschein, als wären wir auf dem Weg in den Krieg. Aber wenn ich an die letzte Überführung des Iubas dachte, wäre ich sicher die letzte die sich darüber beschweren würde.

Die Stimmung war ziemlich angespannt. Reese strich ständig nervös und ganz ungewohnt mit den Fingern über den Griff des Messers an seinem Bein, wenn er gerade keine Zigarette in der Hand hielt. Trotz seiner Zustimmung behagte ihn unser kleines Vorhaben absolut nicht.

„Entspann dich“, raunte ich ihm zu und beobachtete, wie gerade vier Männer die Schwarzmähne in einem Stahlkäfig mit Rollen zu einem weißen Transporter schoben. Die Zeit um einen Wagen aus Historia anzufordern, war nicht gegeben gewesen und so hatten man kurzerhand einen Wagen bei der Autovermietung geliehen.

„Ich bin entspannt“, behauptete Reese, ließ von dem Messer ab und griff auf der Suche nach seinen Zigaretten wieder in seine Manteltasche. Dabei ließ er seinen Blick wachsam über den Vorhof des Venatorenreviers gleiten.

„Ja klar, und ich bin Tinker Bell.“ Ich war mir nicht ganz sicher, ob seine Unruhe vom Schlafmangel, meiner Entführung, oder dem vielen Kaffee kam, den er in den letzten Stunden in sich hineingeschüttet hatte. Fakt war nur, dass er nicht einmal annähend entspannt war.

„Ihr habt schon seltsame Rollenspiele“, bemerkte Jilin und machte sich dann auf dem Weg zu Maddox, der die Leitung dieses Auftrags übernommen hatte. Für so einen alten Kerl, war der Typ noch ziemlich fit.

„Mit gefällt das nicht“, bemerkte Reese mit Blick auf den Iuba, der mich während der Verladung nicht einen Moment aus den Augen ließ. Eine Zigarette landete zwischen seinen Lippen. Seine wievielte war das jetzt? Ich hatte aufgehört mitzuzählen.

„Wir fahren ihnen nur hinterher und sobald ich mich versichert habe, dass er sicher weggeschlossen ist, können wir auch schon wieder nach Hause.“

„Hmh“, machte er, als würde er es mir nicht glauben und zündet sich seine Zigarette an.

Ich lehnte mich mit dem Rücken an seine Brust und genoss einen Moment einfach nur seine Nähe. Seine Wäre tat mir gut. Zwar hatte ich in der Zwischenzeit meine Jacke wiederbekommen, aber nach meinen stundenlangen Aufenthalt in der Kälte, war ich noch immer nicht wieder ganz aufgetaucht. Wenigstens zuckte ich nicht mehr bei jeder Bewegung in den Schatten zusammen.

Das mit den Fundsachen hatte sich als Reinfall herausgestellt, aber einer der Venatoren war so nett gewesen, mir eine Trainingshose und ein altes Shirt zu geben. Die Sachen waren zu groß und hingen wie ein Sack Kartoffeln an mir herunter, aber wenigstens waren sie sauber.

Vor allem aber belastete mich im Moment die einstweilige Verfügung und die Tatsache, dass Malou mich angezeigt hatte. Ich hatte mitlerweile Zeit gehabt, das Dokument richtig zu lesen und da hieß es unter andrem „Verleumdung“ und „Hausfriedensbruch“, so als wäre ich aus eigenem antrieb auf ihrem Grund und Boden gewesen. Dass ich mich ruhig verhalten und die ganze Geschichte Anwälten überlassen sollte, machte es für mich nur noch schlimmer. Ich konnte einfach nicht verstehen, wie jemand die Wahrheit so sehr verdrehen konnte, dass ich nun als Lügnerin dastand.

Okay, wenn ich nicht selber dabei gewesen wäre, hätte ich sicher auch Schwirigkeiten das ganze zu glauben. Ein Zoo voller Proles war nicht nur keine alltägliche Sache, von sowas hatte ich noch nie etwas gehört. Aber nur weil man von etwas nicht wusste, hieß es noch lange nicht, dass es nicht real war.

Es dauerte noch fast zwanzig Minuten und eine weitere Zigarette, bis Maddox der versammelten Mannschaft das Zeichen zum Aufbruch gab und wir mit Jilin in unseren SUV kletterten.

Bei den vertrauten Sitzen und dem Geruch, fühlte ich mich gleich ein wenig wohler.

Ich legte Reese eine Hand aufs Bein, einfach um den Kontakt zu ihm nicht zu verlieren.

Er schaute mich nur einen Moment an und drehte dann den Schlüssel im Zündschluss. „Auf nach Rügen.“

Ja, denn Historia wartete auf uns.

 

°°°°°

Kapitel 12

 

„Hey“, ein sanftes Rütteln an meiner Schulter ließ mich müde die Augen aufschlagen. „Aufwachen, wir sind da.“

Verschlafen blinzelte ich Reese an. Ich hatte gar nicht vorgehabt einzuschlafen, doch meine Augenlider waren während der Fahrt immer schwerer geworden und am Ende hat die Erschöpfung ihren Tribut gefordert. „Wie lange hab ich geschlafen?“

„Nicht lange, vielleicht eine Stunde.“

Dann war es wohl kein Wunder, dass ich mich noch immer wie erschlagen fühlte. Am liebsten wäre ich wie Cherry auf seinen Schoß gekrochen, um mich da zusammenzurollen, doch da das Lenkrad im Weg war, beließ es bei einem ausgiebigen Gähnen und schnallte mich los.

Wäre mein Hirn nicht so matschig gewesen, wäre mir wohl gleich aufgefallen, dass hier etwas nicht stimmt. So jedoch stieg ich nichtsahnend aus dem Wagen und schaute erstmal ein wenig verblüfft. Was ich da vor mir hatte, war ein großes Gebäude im Landhausstil. Es war hübsch, aber es war definitiv nicht das was ich erwartet hatte.

Ein Schild über dem doppeltürigen Eingang verriet mir, dass wir uns vor dem Hotel Auros befanden. Nein, definitiv nicht mein Ziel.

Hinter mir hörte ich das Zuschlagen von Türen. „Das ist nicht Historia.“ Außer meine Kenntnisse über die Forschungseinrichtung waren falsch und das moderne Labor verbarg sich hinter dem Antlitz eines ländlichen Hotels.

„Auch wenn das mit dem Urteilsvermögen bei dir nicht mehr funktioniert, deinen Scharfsinn scheinst du nicht eingebüßt zu haben.“

Ha ha, sehr witzig. Ich wandte mich zu Reese um. „Aber ich wollte nach Historia. Das habe ich dir gesagt, direkt bevor wir losgefahren sind. Ich will …“

„Nein“, unterbrach er mich grob. „Schau mal in den Spiegel Shanks. Du bist fertig, Jilin ist fertig, ich bin fertig. Wir gehen da jetzt rein und hauen uns eine Runde aufs Ohr. Historia wird heute Nachmittag immer noch da sein, nur mit dem Unterschied, dass wir dann nicht drohen jeden Moment aus den Latschen zu kippen.“

„Aber …“

„Kein Aber. Entweder wir machen es so, oder wir fahren wieder nach Hause, damit wir dort schlafen können. So oder so, wir gehen jetzt nicht nach Historia.“

Das passte mir nicht. Ich wollte es einfach nur hinter mich bringen, aber ein Blick in die Gesichter von Reese und Jilin machte mir deutlich, dass auch sie am Ende ihrer Kräfte waren. Vielleicht hatte man sie nicht entführt, aber auch sie hatten die ganze letzte Nacht kein Auge zugemacht und hatten unter ständiger Anspannung gestanden. „Okay“, lenkte ich ein. „Du hast recht. Erst schlafen, dann Historia.“

Mit einem „Ich habe immer recht“ setzte er sich Richtung Eingang in Bewegung.

Na das wagte ich zu bezweifeln. „Ich liebe seine bescheidene Art“, murmelte ich und brachte Jilin damit zum lächeln.

Da es nichts brachte sich zu sträuben und ich dazu eindeutig noch zu erschöpft war, fügte ich mich in mein Schicksal und trat zusammen mit Jilin durch den Haupteingang.

Nett. Auch hier hatte man sich an den offenen und gepflegten Landhausstil gehalten. Schlichte Farben, klare Linien und ein paar strategisch platzierte Pflanzen. Ein paar schwarzweiß Fotografien an den Wänden rundeten das Bild ab.

Eine Uhr auf dem Tresen verriet mir, dass wir es Mittag hatten. Vor nun ziemlich genau vierundzwanzig Stunden hatte man mich von dem Parkplatz des Supermarkts entführt. Ich verbannte diesen Gedanken in die hinterste Ecke meines Kopfes und trat zu Reese an den Tresen, wo er bei einer älteren Dame für die Zimmer unterschrieb und dann zwei Schlüssel entgegen nahm.

„Gib mir die Rechnung, wenn du sie bekommst“, verlangte Jilin und nahm ihren Schlüssel entgegen. Mit einem Blick auf das Etikett prüfte sie, wo sie untergebracht war. „Ich lasse das über die Spesenabrechnung der Gilde laufen.“

Reese gab nur ein „Klar“ von sich, griff dann nach meiner Hand und steuerte auf die Treppe zu.

Unsere Zimmer lagen beide in der ersten Etage. Jilin konnte sich gleich vorn an der Treppe mit einem „Gute Nacht und wagt es ja nicht mich zu wecken“ von uns verabschieden, wir mussten bis ans Ende des Korridors durchlaufen, um zu unserer Unterbringung zu gelangen.

Es war ein schlichtes Zimmer, mit einem Doppelbett und einem kleinen Duschbad, hell und sauber und bei Bedarf, gab es hier sogar einen kleinen Fernseher. Der allerdings lockte mich im Moment überhaupt nicht. Das Bad dagegen … ich warf einen sehnsüchtigen Blick hinein. Plötzlich hatte ich das unbändige Bedürfnis mich zu waschen und die ganzen schrecklichen Stunden mit dem Wasser im Abfluss verschwunden zu lassen. „Ich geh mal kurz duschen“, verkündete ich. Schlafen konnte ich hinterher immer nach.

„Darfst du das mit deinem Bein im Moment überhaupt?“

Ich blieb mitten im Türrahmen stehen und schaute nach unten. „Ja“, beschloss ich, auch wenn es sicher besser wäre, den Verband nicht abzunehmen und die Wunde erstmal ruhen zu lassen.

„Und dein Hals?“

Nein ich verdrehte nicht die Augen, aber das lag wohl vor allen Dingen daran, dass ich einfach müde war. „Dauert nicht lange“, erklärte ich und griff nach der Tür um sie zu schließen, doch kaum dass ich sie berührt hatte, hielt ich wieder inne. Es war albern und völlig unlogisch, aber ich wollte sie nicht schließen und Reese damit aussperren. Ich wollte nicht allein sein.

Reese, der sich gerade die Schuhe von den Füßen trat, bemerkte mein seltsames Verhalten natürlich. „Alles klar?“

„Ja.“ Oh je, das war ein wenig zu schnell gekommen. „Ich hab nur gerade etwas überlegt“, fügte ich noch hinzu und wandte mich dann ab, um mich meiner Sachen zu entledigen. Dabei warf ich einen Blick in den Spiegel und war geradezu schockiert über das was ich sah. Platzwunden, blaues Auge, bunt schillernde Schläfe, Blutreste und dann noch das dicke Pflaster an meinem Hals. Meine verfilzten Haare taten den Rest, sie waren ein einziges, rotes Nest. Ich sah aus wie eine Vogelscheuche, eine Zombievogelscheuche mit sehr blasser Haut. Kein Wunder, dass Reese mich so unbedingt ins Bett stecken wollte. Wenn ich mich so sah, wollte ich das selber tun. Diese Schweine hatten wirklich ganze Arbeit geleistet.

Denk jetzt nicht dran.

Ich zwang mich den Blick abzuwenden und zog meine Klamotten aus. Der Verband am Bein folgte danach.

Die Sanitäter hatten die Wunde gründlich gereinigt und unter dem ganzen Blut waren mehrere tiefe Zahnabdrücke zum Vorschein gekommen. Die ganze Haut drumherum war ein einziger blauer Fleck, aber im Großen und Ganzen hatte ich noch mal Glück gehabt. Die einzelnen Löcher waren sogar schon dick verschorft. Wenn ich nicht allzu sehr daran rumrubbelte, würde es schon gehen.

Nachdem ich auch noch das Pflaster von meinem Hals genommen und die Wunde kurz kontrolliert hatte, stieg ich unter den warmen Regen der Duschkabine. Ich tauchte mein Gesicht unter den Strahl und fühlte mich sofort ein kleinen wenig besser. Ja, selbst diese tiefsitzende Kälte, die sich in mich hineingefressen hatte, begann endlich zu weichen.

Einen Moment schloss ich die Augen und genoss es einfach nur hier zu stehen. Einfach den Kopf leeren und an nichts denken. Der Alptraum war vorbei und jetzt war ich wieder in Sicherheit. Warum war da also immer noch ein kleiner Teil in mir, der mich die ganze Zeit zur Vorsicht ermahnte und ununterbrochen auf der Hut war? Malou konnte mir hier nichts mehr tun. Nicht nur das sie sich Stunden von mir entfernt aufhielt, ich war nun auch gewarnt und sie würde es kein zweites Mal schaffen, mich in die Finger zu bekommen.

Leider schien das ein kleiner Teil von mir nicht zu wissen.

Als ich meine Augen wieder aufschlug, bemerkte ich Reese mit verschränkten Armen im Türrahmen lehnen.„Na, spielst du mal wieder Voyeur?“

Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass es durch die Milchglasscheibe mehr als meine Konturen erkennen konnte, doch trotzdem schien sein Blick auf mir festzukleben.

„Weißt du, es gibt Gesetze gegen sowas“, bemerkte gespielt ernst und griff nach dem bereitgestellten Shampoo. Ich war nicht sehr eitel, aber meine Haare würden heute eine Extrabehandlung brauchen, um das Chaos wieder halbwegs in Ordnung zu bringen.

„Sieh zu dass du fertig wirst, du gehörst ins Bett.“ In seiner Stimme schwang ein leicht angespannter Tonfall mit, doch bevor ich ihn fragen konnte, ob alles in Ordnung war, wandte er sich bereits ab und verschwand nach nebenan. Die Frage wäre ja auch einfach nur dumm gewesen. Natürlich war nichts in Ordnung. Ich war gerade entführt worden und jetzt waren wir hier auf Rügen, anstatt Zuhause in Berlin. Noch dazu waren ein paar verrückte Fanatiker hinter uns her. Und dann noch die Sache mit dem Verband.

Nein, im Moment war gar nichts in Ordnung und es würde wohl auch noch ein Weichen dauern, bis es das wieder war. Reese würde die nächsten Tage vermutlich ständig angespannt wie ein Drahtseil sein. Leider war das nichts, wobei ich ihm helfen konnte.

Trotz Reese' Drängen ließ ich mich ausgiebig Zeit unter der Dusche. Erst als ich mich wieder halbwegs wie ein Mensch fühlte und mein Bein neu verbunden hatte, kam ich in nichts als ein Handtuch gewickelt aus dem Bad.

Reese saß mit in die Hände gestütztem Kopf auf der Bettkante und rührte sich nicht. Er hatte sich bereits sein Shirt und auch seine Socken ausgezogen, doch bevor er die Hose erreicht hatte, schien ihn die Kraft verlassen zu haben.

„Hey“, sagte ich sanft und schlenderte zu ihm hinüber. Ich blieb direkt vor ihm stehen und fuhr mit den Fingern durch sein dunkelbraunes Haar. Einmal, zweimal. „Rede mit mir.“

Doch anstatt den Mund aufzumachen, berührte er mein Bein und fuhr mit dem Finger vorsichtig am Rand des Verbands entlang.

Okay, wenigstens wusste ich nun was los war. Es ging um meine Verletzungen. „Mach nicht so ein Gesicht“, sagte sich sanft und ließ mich neben ihm auf der Bettkante nieder, damit er mir in die Augen sehen konnte. „Ich sah schon viel schlimmer aus.“ Gott sei Dank nicht oft, aber ja, so zwei, drei Mal war das schon vorgekommen. Ein Leben als Venator war eben kein Kaffekränzchen. Unzählige Narben zollten davon.

„Aber dieses Mal waren es Menschen.“ Reese strich über meine Schulter, an der sich ein faustgroßer Bluterguss abzeichnete Keine Ahnung wann ich den bekommen hatte.

„Wir wissen doch beide, dass Menschen manchmal die schlimmeren Monster sind.“

„Das macht es nicht besser.“ Sein Finger glitt weiter zu meinem Schlüsselbein, wo sich ein länglicher Kratz er abzeichnete. Seine Mine wurde hart. „Dafür werden sie bezahlen.“

Um diese Finsternis aus seinem Gesicht und Gedanken zu vertreiben, beugte ich mich vor und küsste ihn. Das er hier war, bei mir, bedeutete mir so viel. Er sollte sich nicht in seinen düsteren Gefilden verlieren und diese Nähe zu mir konnte er genauso gebrauchen, wie ich die Seine.

Er erwiderte den Kuss nur vorsichtig und viel zu reserviert, doch ich wollte nicht, dass er sich zurück hielt, weil er glaubte mich schonen zu müssen. Ja, ich hatte gerade eine Menge Mist hinter mich gebracht, aber ich war nicht aus Glas, also ergriff ich die Offensive und wurde drängender. Ich wollte ihn so nahe wie möglich bei mir haben, den echten Reese, nicht diese halbe Version, die glaubte mich nicht bedrängen zu dürfen. Doch es dauerte einen Moment, bevor er seine Fessel ein wenig lockerte und sich darauf einließ.

Der Kuss verlor zusehend an Distanz. Er berührte meine Lippen, die Narbe und spielte mit meiner Zunge, was mich am ganzen Körper erschaudern ließ, doch irgendetwas hinderte ihn noch immer daran, das Kommando zu übernehmen. Das war ziemlich ungewohnt für mich, denn normalerweise war Reese nicht nur sehr Dominat, sondern auch die treibende Kraft, jetzt aber schien er nicht weiter gehen zu wollen.

Aber ich wollte mehr, denn plötzlich brauchte ich es. Nein, nicht es, ich brauchte ihn, wie ich ihn schon lange nicht mehr gebraucht hatte.

Ich dachte nicht genauer über diesen Gedanken nach, denn ich fürchtete mich vor dem, was ich mir dann eingestehen müsste. Nein, im Moment wollte ich mich einfach nur im Augenblick, aber vor allem, in Reese verlieren.

Meine Hand glitt an seiner muskulösen Brust hinauf in seinen Nacken. Ich vergrub meine Finger in seinem Haar und hielt ihn fest, als ich langsam weiter aufs Bett rutschte, sodass er mir folgen musste – nicht dass er sich besonders dagegen gewehrt hätte.

Erst als ich ausgestreckt auf dem Rücken lag und er auf allen Vieren direkt über mir war, lockerte ich meinen Griff wieder und genoss einfach nur die Intensität seines Kusses. Aber das war mir bei Weitem noch nicht genug. Ich ihn noch näher bei mir haben, darum legte ich ein Bein um seine Hüfte und versuchte ihn zu mir runter zu drücken. Dieses Mal leistete er jedoch widerstand.

Aha, nun wollte er also doch den Ton angeben. Ich würde mich sicher nicht dagegen wehren, nicht bei ihm.

Losgelöst von der Verantwortung, konnte ich mich mit all meinen Sinnen den Kuss hingeben. Die Vertraute Nähe gab mir die Sicherheit, nach der ich mich im Moment so sehr sehnte. Ich genoss die drängende Berührung und wie seine Lippen mit mir spielen.

Als er seine Hand auf meinen nackten Oberschenke legte, spürte ich das Kribbeln auf meiner ganzen Haut. Jede Nervenzelle in meinem Körper erwachte zum Leben und lechzte nach mehr.

Sehr langsam ließ Reese seine Hand an meinem Körper hinauf wandern. Nicht unter dem Handtuch, wie ich es mir gewünscht hätte, nein, er blieb auf dem Stoff, streifte meine Hüfte, meinen Bauch, meine Brust. Als er an meinem Schlüsselbein angekommen war, ging mein Atem bereits deutlich schneller und ich versuchte wieder ihn mit dem Bein gegen mich zu pressen, aber Reese hatte sich von mir noch nie drängen lassen – egal wie ungeduldig ich auch war.

Ich strich mit den Händen über seine Brust, fuhr die Konturen nach und während seine Hand noch hör wanderte, bis sie auf meinem Hals liegen blieb – vorsichtig und ohne meiner Wunde zu nahe zu kommen.

Er küsste mich, streifte meine Lippen mit meinen und zog sich dann ein Stück von mir zurück. Natürlich versuchte ich sofort ihm zu folgen, doch die Hand an meinem Hals drückte fester zu. Nicht so das es wehtun würde, aber doch so, dass ich den Kopf nicht heben konnte.

Etwas verwirrt, griff ich nach seinem Arm, um ihn wegzuschieben.

„Nein.“ Sein Daumen drückte er von unten gegen mein Kinn, sodass ich den Kopf gar nicht mehr bewegen konnte. „Du sollst schlafen.“

Sein Ernst? Ausgerechnet jetzt? Schade dass er mich nicht nach meiner Meinung gefragt hatte, weil ich das nämlich ganz anders sah. Vielleicht konnte ich ihn ja auch noch umstimmen. „Ich bin aber gar nicht mehr müde.“ Spielerisch ließ ich mein Bein an seine auf und ab wandern. Meine Hand dagegen schob sich Stück für Stück an seinem Bauch hinunter, bis ich die Wölbung in seiner Jeans fand.

Er ließ mich keinen Moment aus den Augen, hielt mich aber auch nicht auf, als ich damit begann, ihn mit sanftem Druck zu massieren. „Und wie es scheint, kehren deine Lebensgeister auch gerade zurück.“

Als ich etwas fester zudrückte, öffnete sich sein Mund leicht und für einen kurzen Moment schloss er die Augen. Der Griff um meinen Hals wurde ein wenig fester, so als wollte er klarstellen, dass er hier das Sagen hatte. „Es ist nicht gerade einfach das Richtige zu tun, wenn du mich so in Versuchung führst.“

„Dann tu das Falsche“, spornte ich ihn an und begann seine Hose aufzuknöpfen. Dann noch der Reißverschluss und …

Ein leises Stöhnen entrang sich seiner Kehle, als ich meine Hand in seine Hose schob und ihn fest umschloss. Noch immer hielt er mich fest, doch ich konnte spüren, wie sein Widerstand langsam Stück für Stück in sich zusammenbrach. Nur noch ein bisschen mehr.

Ich schob ihm die Hose ein Stück über die Hüfte, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Sein Atem wurde deutlich schneller und er selber nachgiebiger. Seine Augen wurden leicht glasig.

„Du hast einen schlechten Einfluss auf mich“, warf er mir vor.

Das ließ mich lächeln. „Ich lerne nur von den Besten.“

„Dafür werde ich in die Hölle kommen“, raunte er und gab seinen Widerstand endlich auf. Er gab meinen Hals nicht frei, oh nein, aber er küsste mich so stürmisch und drängend, dass es völlig egal war. Ich hatte ihn vielleicht in der Hand, aber ab diesem Moment übernahm er das Ruder und nahm sich einfach was er wollte.

Seine Lippen waren so stürmisch, dass unsere Zähne aneinander klackten. Mir lief es heiß und kalt den Rücken hinunter.

Als er sich dann dazu entschied meinen Hals endlich wieder frei zu geben, geschah das nicht, damit ich mehr Bewegungsfreiheit hatte. Er brauchte die Hand, um an meinem Körper hinab zu streichen und das festgesteckte Handtuch zu lösen.

Kühle Luft strich über meinen Oberkörper, wurde jedoch fast sofort von heißen Berührungen abgelöst. Er strich mir über die Brust, massierte sie leicht und neckte die kleine Perle oben auf, bis ich leise stöhnte.

„Nicht so leise“, raunte er. Seine Lippen strichen über meine Kehle, mein Schlüsselbein. Sie wanderten immer tiefer, bis sie meine Brust erreicht hatten.

Ich stöhnte wieder, vergrub meine Hände in seinen Haaren und versuchte diesen Ansturm der Gefühle zu verarbeiten, während er mich unaufhörlich reizte. So gut.

Seine Finger zogen die lange Narbe an meiner Hüfte nach. Ich hatte sie mir bei meiner allerersten Jagd zugezogen. Die Kralle dieses Proles trug ich immer noch am Hals. Bei der sanften Berührung lief mir ein heißer Schauder über den Rücken.

Als seine Lippen die süße Qual beendeten und mit leichten Küssen an meinem Körper hinab wanderten, hätte ich fast frustriert aufgestöhnt. Doch als er mit einem stummen Versprachen auf das was gleich geschehen würde immer weiter an mir hinab glitt, wand ich mich vor Wonne.

Ich beobachtete ihn ganz genau, als er mir noch einen Kuss auf den Bauch hauchte und dann aus dem Bett stieg. Dass er mich dann allerdings an den Beinen packte und meinen Hintern mit einem Ruck bis an die Bettkante riss, damit hatte ich nicht gerechnet.

Ich stieß einen überraschten Laut aus und griff reflexartig in die Bettlaken, aber Reese hatte alles unter Kontrolle. Er kniete sich direkt vor das Bett und strich mit mit beinahe schon trägen Bewegungen über den Oberschenkel.

„Öffne die Beine.“

War es normal, dass mein Herz auf einmal ein kleinen wenig schneller schlug?

„Weiter“, forderte er mit rauer Stimme und beobachtete mich aufmerksam dabei, wie ich seiner Anweisung nachkam.

Es war schon seltsam, meisten konnte ich seiner herrischen Ader ja nichts abgewinnen, aber hier im Bett genoss ich es richtig, wie gekonnt er seine Macht über mich ausspielte.

Einen Augenblick schaute er mich einfach nur an, aber als er mich dann mit zarten Fingen an meiner intimsten Stelle berührte, durchzuckte es mich wie ein Blitz. Meine Augen schlossen sich flatternd, während er damit begann mich mit den Fingern zu liebkosen. Und als er dann auch noch seine Zunge ins Spiel brachte, sah ich für einen Moment Sternchen.

„Oh Gott“, flüsterte ich. Ich hatte zwar keine Vergleichsmöglichkeiten, aber mein Gott war der Kerl gut.

Als Reese das zum ersten Mal bei mir getan hatte, wäre ich vor Scham beinahe im Boden versunken. Wenn ich nur daran dachte, wie peinlich und unangenehm mir das damals war … kein Vergleich zu dem was sich gerade zwischen uns abspielte. Es war einfach nur toll und ich fühlte mich dabei fantastisch. Die Lust war wie eine Energie, die mit jedem verstreichenden Moment an Kraft gewann. Ich sonnte mich in ihr und streckte mich ihm entgegen.

„Lieg still“, befahl er.

Still halten war gut? Wie sollte ich das schaffen, wenn er sowas mit mir tat? Nicht das ich wollte, dass er aufhörte.

Da ich im Moment kaum etwas anderes tun konnte als zu fühlen und mich all den Empfindungen hinzugeben, legte Reese eine Hand auf meine Hüfte und hielt mich unten. Doch so konnte ich ihm nicht mehr entkommen.

Mein Atem wurde immer schneller und mein Herz trommelte wie verrückt. Ich griff in seine Haare und hielt mich an ihm fest, während die Wogen immer höher schlugen und ich drohte mich in ihnen zu verlieren.

„So ist gut“, murmelte er an meiner intimsten Stelle und verstärkte den Druck noch ein wenig.

„Oh Gott“, stöhnte ich, als ich spürte, wie der Höhepunkt herannahte und dann explodierten die Gefühle einfach in mir. Es war wie ein Lichtblitz in meinem Kopf. Mein Rücken hob vom Bett ab und meine Finger gruben sich noch fester in sein Haar. „Reese.“ Sein Name war ein Flehen, denn er reizte mich noch immer und langsam wurde es zu viel. Doch wie immer ließ er sich von mir nicht drängen und hörte erst auf, als es seiner Ansicht nach genug war.

Ich war einen Moment zu nichts anderem fähig, als einfach dazuliegen und schwer atmend den Nachhall des Orgasmus zu verarbeiten. Ich brauchte ein paar Sekunden um zu bemerken, dass er noch immer vor dem Bett kniete und mich mit feurigem Blick beobachtete.

Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. „Nichts schlecht, Hellboy. Du solltest damit auf Tournee gehen. Ich werde dein Groupie sein.“

Sein rechter Mundwinkel hob sich ganz leicht. Er strich mit der Hand über die Innenseite meines Schenkels und bracht mich damit erneut zum Erzittern. „Ich weiß halt ganz genau was dir gefällt.“

Dem würde ich sicher nicht widersprechen.

Als Reese sich auf die Beine erhob und sich seiner restlichen Klamotten entledigte, setzte ich mich auf und strich mit den Fingern über seinen Bauch. Durch die Arbeit und das viele Training hatte er ein leichtes Sixpack. Ich liebte es die Muskeln nachzufahren und zu spüren, wie sie unter meinen Berührungen flatterten. „Und nun zu dir“, murmelte ich und zog ihn an der Hüfte näher zu mir heran, doch er beugte sich vor und begann mich wieder zu küssen.

Seine Hände glitten langsam an meinen Armen hinaus und hinunter, während seine Lippen mich ein weiteres mal verführten, bis ich kaum noch wusste wo oben und unten war.

Ich wollte ihn wieder zu mir ins Bett ziehen, doch er sträubte sich sich dagegen. „Das hier ist mein Spiel.“

Ein Spiel also, ja? „Du hast vergessen mir die Regeln zu erklären.“

„Es gibt nur eine Regel“, verriet er mir und biss mir sachte in die Unterlippe. „Ich habe das Sagen.“ Plötzlich und ohne jede Vorwarnung, packte er mich am Arm und riss mich herum, sodass ich mit dem Hintern zu ihm auf allen Vieren landete. Und dann, bevor ich reagieren konnte, griff er nach meinen Hüften und hielt mich fest, damit ich mich nicht mehr umdrehen konnte.

Mein Blick glitt über meine Schulter hinweg zu ihm. „Ich glaube mir gefällt dein Spiel.“

„Das was jetzt kommt, wird dir noch besser gefallen.“ Langsam glitt er mit der Hand meinen Rücken hinauf. Ich konnte ihn deutlich an mir spüren, doch auch wenn er sich gegen mich drängte, ging er noch nicht weiter.

Allein dieses Gefühl reichte aus, um mir eine Gänsehaut zu machen. „Und wenn nicht?“, fragte ich verspielt und spürte wie er mir mit den Fingerspitzen über den Nacken strich. „Willst du mich dann zwingen?“

„Das ist der Plan.“ Er griff in meine Haare, wickelte sie sich um die Hand und zog mein Kopf nach hinten. Mein Atem beschleunigte sich, in dieser Position war ich ihm völlig ausgeliefert. „Und dieses Mal wirst du still halten“, verlangte er von mir und eroberte mich. Es war nur eine kleine Bewegung, doch mit einem Mal spürte ich ihn tief in mir und konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken.

Heute war Reese nicht besonders sanft zu mir. Er zwang mich genau so zu bleiben, wie er mich haben wollte und ich konnte nichts anderes tun als diesen Übergriff zu genießen.

Ich liebte es, wenn Reese es sich einmal gestattete sich einfach gehen zu lassen und nur für den Moment zu leben. Er tat es nicht oft und nur wenn ich dabei war. Die Leute hielten ihn für unausstehlich, aber sie ahnten nicht mal im Ansatz, wie sehr er sich die meiste Zeit zurück hielt. Hier und jetzt hielt er sich nicht zurück. Zwar konnte er die Kontrolle nicht völlig aufgeben, aber sich selber ließ er von der Leine.

Als seine Bewegungen schneller wurde, zog er an meinem Haar, sodass ich mich auf den Knien aufrichten musste. Mit der einen Hand hielt er weiterhin meine Hüfte gepackt, mit der anderen griff er um mich herum, bis er meine Brust fand und wieder durchfuhr es mich wie ein heißer Blitz.

Ich stöhnte, als er mich immer weiter reizte und griff hinter mich, um irgendwas von ihm zu berühren. Vor wenigen Stunden hatte ich noch geglaubt sterben zu müssen und jetzt war ich hier, bei ihm, so nahe wie es überhaupt ging. Das war nicht nur Sex, immer wenn ich so mit ihm zusammen war, berührte er etwas sehr tief in mir und machte mir erneut klar, dass genau hier mein Platz war. Ohne ihn wäre ich verloren.

Sein keuchender Atem streifte mein Ohr und sein Griff wurde ein kleinen wenig fester. „Jetzt, Shanks“, raunte er mir zu und biss mir sanft in den Nacken.

Ein Stromstoß schien mir in den Körper zu fahren. Ich bäumte mich auf, als die Wellen der Lust ein zweites Mal über mir zusammenschlugen und riss ihn gleich mit in diesen Strudel der Ekstase, bis wir beide nichts mehr anderes tun konnten, als zu fühlen und schwer atmend zu existieren.

Nur langsam fand ich ins Hier und jetzt zurück. Seine Hand strich über meinen Bauch, während ein zarter Kuss in den Nacken mir einen Schauder über den Rücken jagte.

Ich drehte mich herum, bis sich unsere Lippen fanden und wir gemeinsam den letzten Nachhall unserer Gefühle auskosteten konnten. Das war es was ich gebraucht hatte, um wieder klar zu kommen. Nicht nur seine Nähe, oder eine alberne Dusche, nein, das hier. Ich hatte wissen müssen, dass es trotz dem ganzen Schrecken noch etwas Schönes gab, etwas das ich nur von ihm bekommen konnte.

„Schlaf jetzt.“ Reese strich mit den Fingern über meine Arme und löste sich dann von mir. „Du brauchst es.“

„Du aber auch.“ Ich ließ mich auf meinen Hintern sinken und reichte ihm die Hand. „Bleib bei mir.“ Ich wollte jetzt nicht allein sein.

Zwar warf Reese einen kurzen Blick zum Bad, kroch dann aber doch direkt zu mir ins Bett und schlang die Arme schützend um mich.

Ich vergrub das Gesicht an seiner Brust und atmete seinen Geruch tief ein. Lass mich nicht allein, nie wieder.

 

°°°

 

„Sehr … äh … modern?“, schlug ich vor.

„Abstrakt“, beschloss Jilin.

„Hässlich.“ Reese griff nach den Zigaretten in seiner Manteltasche.

„Hier darfst du nicht rauchen“, erinnerte ich ihn und beachtet seinen Missmut nicht weiter. Ich war immer noch dabei herauszufinden, was diese zwei Meter hohe Skulptur im Empfangsbereich von Historia darstellen sollte. Es hatte drei Beine. Könnten aber auch zwei Beine und ein Arm sein. Das an der Seite war auf jeden Fall eine Hand. Glaubte ich zumindest. Wenn man von der Position ausging, konnte man sich da allerdings nicht so ganz sicher sein. Auf jeden Fall erinnerte mich dieses Ding daran, warum ich moderner Kunst nichts abgewinnen konnte, sie ergab einfach keinen Sinn. Warum nur hatte man diesem Ding drei Augen verpasst? Oder sollte das nur eine seltsame Falte sein?

Kopfschüttelnd wandte ich mich um und sah mich in dem sehr sterilen Foyer um. Glas, Chrome und Fliesen. Alles sehr hell und modern. An den Wänden hingen Fotografien von seltenen Poles und einmaligen Mutationen der einzelnen Art. Jedes mal wenn mein Blick eines dieser Bilder streifte, musste ich unweigerlich wieder an Malou und ihren Zoo denken. Bis jetzt gab es noch nichts Neues, was mich einerseits ärgerte und andererseits nervös machte. Sie sollten diese verdammte Frau einfach einsperren und fertig.

Um mich von meinen Gedanken abzulenken, richtete ich den Blick auf das große H, das hinter dem Tresen die Wand dekorierte. Das Emblem von Historia.

Jetzt wo ich es direkt vor Augen hatte, wusste ich plötzlich, was mich damals bei den Transportern so gestört hatte. Auch hier stand im Querbalken des Buchstaben der Name der Anlage: Historia. Nur wurden bei dem Originalen Emblem alle Buchstaben groß geschrieben, das war auf den Transportern anders gewesen.

Wenn mir das nur gleich aufgefallen wäre, uns wäre eine Menge Stress und Leid erspart geblieben. Tja, wie sagte man so schön? Hinterher war man immer schlauer, nur ändern konnte man es trotzdem nicht mehr.

„Was dauert denn da so lange“, murrte Reese und schaute genervt zu er Tür, die weiter ins Innere der Anlage führte, aber wer hier keinen Ausweis hatte, der durfte nicht weiter bis hier hin, außer jemand vom Personal begleitete ihn.

„Es kommt sicher gleich jemand“, beschwichtigte ich ihn, wurde aber selber langsam ungeduldig. Wir hatten bereits vor zehn Minuten draußen auf dem kleinen Besucherparkplatz gehalten und standen uns seitdem hier am Empfang die Beine in den Bauch. Ja, heute war Samstag und die Hälfte der Belegschaft hatte um diese Uhrzeit sicher schon Feierabend, aber wir waren angemeldet und man hatte uns gesagt, es wäre in Ordnung, wenn wir herkommen, um die Unterbringung des Iuba zu sehen. Doch nun schien sich hier keiner für uns verantwortlich zu fühlen.

Mit einem lauten Seufzen drehte ich mich zu den Glaswänden herum und schaute hinaus in den kalten Januar. Es dämmerte bereits. Wenn wir hier rauskamen, war es sicher schon dunkel, doch zumindest hier auf dem Gelände würden die vielen Flutlichter für Licht sorgen.

Das was ich bisher von Historia gesehen hatte, war … einschüchternd. Der ganze Komplex schien ein einziges Hochsicherheitssystem zu sein. Stahlzäune, Betongebäude, Kameras. Alles um die ungebetenen Proles draußen und die eingelagerten, drinnen zu halten.

Vom Parkplatz aus war nicht viel zu sehen gewesen, aber wenigstens eines der Gehege war so ausgerichtet, dass man mit ein bisschen Glück die Proles darin durch eine dicke Glasscheibe sehen könnte. Als wenn irgendjemand darauf Wert legen würde.

Trotz der Ähnlichkeiten war das hier ganz anders als der Zoo von Malou. Sie besaß einen Park, mit strategisch platzierten Gehegen, diese Anlage wirkte trotz der Bäume und Pflanzen einfach nur steril.

„Na endlich“, kam es von von Reese, als sich die Tür zu dem Mittelmeerbereich öffnete, und ein kleiner Mann mit einer dicken Brille herauskam. Er bewegte sich sehr zügig und sobald er uns erreicht hatte, streckte er uns lächelnd die Hand entgegen.

„Tut mir leid dass Sie warten mussten.“ Einem nach dem anderen schüttelte er die Hände und schob dann die Brille auf seiner Nase zurecht. „Wir sind gerade ein wenig unterbesetzt.

„Schon gut“, wiegelte ich ab, Hauptsache er war endlich hier.

Musternd schaute er von Jilin zu mir und blieb dann an mir hängen. Ich schob es zuerst auf die Verletzungen in meinem Gesicht, doch dann sagte er: „Ich nehme an, Sie sind Grace Shanks?“

„Ähm … ja.“ Er kannte meinen Namen? „Warum?“

Er strahlte. „Sehr schön. Wenn Sie dazu bereit wären, würde Doktor Glock sich gerne mit Ihnen unterhalten.“

„Warum?“

Das kam von Jilin.

Der kleine Mann schaute sie kurz an, verlor sein Lächeln aber nicht. „Nichts Schlimmes, aber Sie waren es doch, die den Iuba eingefangen hat, oder sind wir da falsch informiert?“

Naja, irgendwie stimmte das schon. „Nein, sind Sie nicht.“

„Schön.“ Er klatschte begeistert in die Hände. „Dann bringe ich Sie jetzt zu Doktor Glock und er wird Ihnen dann den Iuba zeigen. Ist das in Ordnung?“

„Ähm, ja, klar.“ Warum dieser Doktor Glock sich allerdings mit mir unterhalten wollte, verstand ich noch immer nicht.

„Gut, dann folgen Sie mir bitte. Es ist auch nicht weit.“

Ich wechselte mit Reese einen nichtsahnenden Blick und setzte mich dann in Bewegung. Dabei versuchte ich mein Humpeln so gut es ging zu unterdrücken. Zwar hatte ich vor unserem Aufbruch aus dem Hotel noch ein paar Tabletten genommen, doch die dämpften den Schmerz nur, unterdrückten ihn aber leider nicht. Die nächsten Tage würde ich wohl ausfallen, was mir gar nicht gefiel.

Mit einer Karte und einem Zugangscode brachte der kleine Mann uns durch die doppeltürige Schwingtür in das Allerheiligste von Historia. Lange Korridore aus Beton, kaltes Licht. Hin und wieder war ein Fenster in die Wand eingelassen und man konnte die Labore und Untersuchungsräume dahinter sehen. Die meisten waren leer und die anderen so gut wie. Samstags waren also wirklich nicht viele Leute hier.

Der kleine Mann brachte uns einmal durch das ganze Gebäude und dann zum Hinterausgang raus zu einem breiten weg, an den sich zu beiden Seiten mehrere Freiluftgehege befanden. Sie waren verhältnismäßig klein, gerade mal groß genug, damit man den Proles alles bieten konnte. Auch die Bepflanzung war spärlich, sodass nichts die Sicht behindern konnte.

Tja, das hier war eben immer noch eine Forschungseinrichtung, in der die Proles im Grunde nichts anderes waren als Laborratten. Nach meinem Geschmack hatten sie es aber noch immer viel zu gut.

Ich sah wirklich alte Proles und auch solche, die aus der Art schlugen.

Wir hatten vielleicht fünf oder sechs Gehege passiert, als eine Art riesiger, grüner Fuchs mit halblangem Fell meine Aufmerksamkeit erregte und ich interessiert stehen blieb. In der eher steril gehaltenen Behausung entdeckte ich zwei Abkömmlinge, die gelangweilt auf einem breiten Baumstamm dösten.

Meine Hand hob sich und berührte die Kralle, die unter meinem Shirt verborgen war. Konnte das sein? „Was sind das für welche?“, fragte ich den kleinen Mann.

Er blieb stehen, drehte sich genau wie die anderen zu mir herum und lächelte. „Mutationen eines Amph. Zwei wirklich interessante Forschungsobjekte. Ein paar Venatoren aus Berlin fanden sie als sie noch ganz klein waren und schickten sie zu uns.“

Hatte ich es mir doch gedacht. Das waren die Babys die Reese und ich auf meiner allerersten Jagd gefunden hatten. Ihrer Mutter verdankte ich sowohl die Narbe an meiner Hüfte, als auch die Kralle an meinem Hals. Mit ihnen hatte damals alles begonnen. „Wo ist der Dritte?“

Überrascht schaute er mich an. „Woher wissen Sie, dass es drei waren?“

Eigentlich waren es sogar vier gewesen, aber das würde ich jetzt nicht näher erläutern. Stattdessen zog ich die Kralle unter meinem Hemd hervor und zeigte sie ihm. „Weil wir es waren, die sie damals gefunden haben.“

Nun schaute auch Reese etwas genauer her. Er hätte wahrscheinlich gar nicht auf die Proles geachtet, wenn ich nichts gesagt hätte.

„Na das nenn ich jetzt aber mal einen Zufall.“ Der kleine Mann trat neben mich und schaute mit mir zusammen durch das dickte Panzerglas. „Ursprünglich waren es ein Männchen und ein Weibchen, doch alle drei leiden an einem Genfehler und das Männchen ist deswegen vor zwei Jahren gestorben.“

„Ein Genfehler?“ War die Existenz der Proles selber nicht schon ein Genfehler?

„Ja, schauen sie.“ Er zeigte auf das Weibchen, dass soeben den Kopf hob und schläfrig gähnte. „Sehen Sie ihre Flanke? Das rote Fell?“

Ich musste etwas genau hinschauen, aber dann sah ich es. Das Fell an der Hüfte war nicht grün wie am Rest des Körpers, es war rot, fuchsrot. Aber es wirkte nicht so als sollte es so sein, sondern eher, als wäre das grüne Fell mit der Zeit von dem roten ersetzt worden. Jedenfalls konnte ich mich nicht daran erinnern, dass eines der Babys auch nur ein rotes Haar am Körper gehabt hatte, als wir sie damals eingefangen hatten. „Ich sehe es.“

„Bei ihr fängt es gerade erst an. Das Männchen war am Ende am ganzen Körper mit solchen Flecken überseht. Das ist weil … wie mache ich Ihnen das am Besten verständlich?“ Nachdenklich tippte er sich mit dem Finger ans Kinn. „Ich denke, am nächsten kommt noch die Aussage, sie entwickeln sich zurück.“

„Zurück?“ Wohin zurück?

Seine Augen leuchteten begeistert auf. „Diese beiden Damen gehören zu der Gruppe der Vulpes, stammen also ursprünglich mal vom Vulpes vulpes ab.“

Ich wusste zwar nicht genau wovon er sprach, aber ich schätzte einfach mal, dass er den ganz normalen Rotfuchs meinte. So jedenfalls hatten wir es damals in der Akademie gelernt.

„Nun ist es bei ihnen so, dass das Derivat-Gen sich immer weiter abbaut, wodurch sie ihrem Ursprung immer näher kommen. Es ist faszinierend, in welchem Tempo das geschieht, nur leider ist die DNA der beiden bereits so weit von der Norm eines Vulpes vulpes entfernt, dass sie langsam daran sterben. Das ist schade, ich hätte gern gesehen, wohin ihre Entwicklung führt.“

„Moment, wollen sie damit sagen, dass diese beiden sich wieder in Füchse verwandeln?“ Das war ja unglaublich.

Der kleine Mann verzog bei dem Wort verwandeln das Gesicht. War wohl nicht Fachmännisch genug. „Es ist eine rasante Entwicklung und ja, es geht in dieser Richtung, aber damit sie am Ende wirklich wieder Füchse werden, müssten erst mehrere nachfolgende Generationen geboren werden.“

„Das heißt, die Proles entwickeln sich zu ihrem Ursprung zurück?“

„Diese beiden? Ich sage mal vorsichtig ja, aber bei anderen Proles haben wir dieses Phänomen bisher noch nicht beobachten können. Diese beiden Damen sind etwas ganz Besonderes, schade dass sie die nächsten Jahre nicht überleben werden.“

Also als schade würde ich das nicht unbedingt bezeichnen, aber allein das Wissen, dass es passieren konnte, das war unglaublich. Waren diese beiden nur Ausnahmen, oder könnte dieses Phänomen auch bei anderen Proles auftauchen? Was wenn die Proles sich mit der Zeit wirklich alle zurückentwickeln würden? Würde ich das noch erleben, oder wäre das einfach nur vergebene Hoffnung?

Ich wechselte einen Blick mit Reese und Jilin und sah dass in ihren Köpfen die gleichen Fragen umher spukten. Vielleicht, in hundert Jahren, wäre diese Zeit nichts als eine böse Erinnerung. Vielleicht waren die beiden aber auch einfach nur eine Laune der Natur, die uns falsche Hoffnungen machen sollten.

„Können wir dann weiter?“

„Ja, klar.“

„Ist auch nicht mehr weit. Gleich da vorne.“ Wieder übernahm der kleine Mann die Führung und blieb ungefähr fünfzig Meter weiter vor einem Gehege stehen, dass den anderen bis auf den Inhalt glich.

Das was sich dort in der Ecke zusammenrollt hatte, war ein Monster von einem Proles, oder besser gesagt, ein Candir. Diese Proles waren zum Glück nicht nur selten, sie hatten auch einige sehr spezifische Merkmale. Sie stammten urspünglich von Hunden ab und ähnelten von der Form einem Golden Retriever, maßen jedoch im Durchschnitt um die zwei Meter. An den vorderen Beinen hatten der typische Candir einen extrem langen Behang, der sich auf Körper und Rute fortsetzte. Und sie waren immer weiß, weswegen sie auch gerne als Eisbären bezeichnet wurden. Noch dazu waren die Meisten von ihnen Taub, dieser hier jedoch fiel aus der Norm. Er wirkte nicht nur größer, als jeder den ich bisher gesehen hatte, auch seine Fellfarbe war falsch. Er war nicht weiß, es war mehr ein graublau. Und er hatte wirklich ein beeindruckendes Gebiss. Das ließ sich sehr gut erkennen, denn als der kleine Mann an das Glas trat und mit den Knöcheln dagegen klopfte, hob das Vieh nicht nur den Kopf, es zeigte uns auch all seine scharfen Zähne.

Als sich etwas neben dem Biest regte, öffnete sich mein Mund vor Fassungslosigkeit. Da war ein Mann drin. Nein, er war nicht einfach nur drin, er lehnte angekuschelt an dem Vieh und blätterte ganz in Ruhe in einem Buch.

Bei dem Klopfen schaute er auf, sah uns und gab ein Zeichen, das wohl bedeuten sollte, dass er rauskommen würde. Er klappte sei Buch zu, strich dem Biest einmal liebevoll über den Kopf und erhob sich dann.

Ich stand da und bekam den Mund nicht mehr zu.

„Was zur Hölle?“, fragte Reese und beobachtete genauso wie ich, wie der Kerl sich ganz in Ruhe den Staub von den Hosen klopfte. Als er dann jedoch einen Schritt machen wollte, sprang die Bestie blitzschnell auf die Beine, hob die riesige Pranke und schubste den Mann so heftig, dass er wieder auf seinem Hintern landete.

„Uh“, machte der kleine Mann schmunzelnd. „Das hat bestimmt wehgetan.“ Als er unsere entsetzten Gesichter sah, wurde sein Grinsen noch breiter. „Machen Sie sich keine Sorge, Calypso liebt ihn, sie würde ihn nie ernsthaft verletzten. Allerdings ist sie im Moment läufig und da ist sie immer ein wenig launisch wie man sieht.“

Das sah man wirklich. Man sah auch, wie der Mann leicht verärgert zurück auf die Beine kam, mit dem Finger drohend auf den Candir zeigte und mit ihr Schimpfte. Zur Antwort richtete sich das Vieh wie ein Bär auf die Hinterläufe auf und knurrte.

Der Mann wirkte nicht im Mindesten beeindruckt. Er schnaubte nur, schüttelte den Kopf und ging an dem Biest vorbei.

Scheinbar wollte der Candir aber nicht, dass der Kerl so einfach verschwand. Er ließ sich wieder auf die Beine fallen, umrundete den Mann schnell und stellte sich ihm in den Wag. Er schob das Vieh weg und ging weiter.

Dieses Spielchen trieben sie ein paar Mal, bis sie die Schleuse erreicht hatten, durch die der Kerl theoretisch das Gehege verlassen konnte. Theoretisch deswegen, weil der Candir seinen breiten Hintern davor parkte und den Mann anknurrte. Als er dann versuchte den Berg zur Seite zu schieben, packte das Biest ihn mit den Pranken und zog ihn fest an seine Brust. Es sah aus, als würde er den Mann umarmen. Der jedoch wirkte nicht sehr begeistert.

Mit einiger Mühe befreite er sich aus dem Griff, hob dann wieder den Finger und nach einer kurzen Schimpftirade, zeigte er ans andere Ende des Geheges, als wollte er ein ungezogenes Kind auf sein Zimmer schicken.

Der Candir knurrte, biss dann nach vorne und riss dem Mann das Buch aus der Hand. Er schüttelte es wie eine lebende Beute, spuckte die Reste dann auf den Boden und trottete dann missmutig auf seinen Platz zurück, wo er sich einfach auf den Boden fallen ließ und den Mann nicht mal mehr mit dem Arsch anschaute.

Der Kerl schüttelte nur den Kopf, klaubte dann die Überbleibsel seines Buches zusammen und konnte endlich die Schleuse passieren.

Als er dann endlich vor uns stand, wirkte er ziemlich zerrupft und hatte einen kleinen Kratzer an der Wange, doch auf seinen Lippen lag ein Lächeln. „Tut mir echt leid, hätte ich gewusst, dass Sie jetzt schon kommen, wäre ich schon draußen gewesen.“ Er reichte uns nacheinander die Hände. „Ich bin Doktor Torin Glock, freut mich Sie kennenzulernen.“

„Die Freude ist ganz auf unserer Seite“, sagte Jilin, wirkte aber genauso sprachlos wie ich mich fühlte. „Entschuldigen Sie, aber was bitte war das gerade gewesen?“

„Sie Meinen Calypso? Sie ist läufig und dann hasst sie es allein zu sein. Sobald sie nicht mehr beleidigt ist, wird sie anfangen rumzujammern, damit ich wieder zurück komme.“ Er schaute auf sein zerfleddertes Buch. Das würde er wohl nicht mehr lesen können. „Vorher werde ich mir aber ein neues Buch besorgen müssen.“

„Ich denke eher, die Frage zielte darauf ab, warum Sie in dem Gehege waren und der Candir sie nicht gefressen hat“, bemerkte ich.

„Mich fressen?“ Er schnaubte als wäre dieser Gedanke völlig abwegig. „Calypso liebt mich, sie will sich mit mir paaren. Da wäre es doch ziemlich kontraproduktiv, wenn sie mich vorher verspeisen würde.“

Nein, dazu fiel mir absolut nichts mehr ein. Das war einfach nur … abartig.

„So, dann schauen wir mal.“ Sein Blick glitt von mir zu Jilin und blieb dann an ihr hängen. „Grace Shanks?“

Sie schüttelte den Kopf und zeigte dann auf mich. Offensichtlich fehlten ihr genauso die Worte wie mir.

„Oh, entschuldigen Sie bitte.“ Er musterte mich gründlich. „Ich habe schon lange keine Gleichgesinnte mir getroffen.“

„Gleichgesinnte?“

„Na Sie und der Iuba.“

Ich konnte ihn nur verständnislos anschauen.

„Sie sind doch die Frau, die mit dem Iuba in dem Bunker saß, oder habe ich da etwas missverstanden?“

„Nein haben Sie nicht. Ich verstehe trotzdem nicht, worauf Sie hinaus möchten.“

Er musterte mich einen Moment und riss dann erstaunt die Augen auf. „Oh je, Jetzt verstehe ich auch ihre Verwirrung wegen mir und Calypso. Ich rede von Proleszuneigung.“

„Proleszuneigung?“ Die einzelen Worte kannte ich, doch im Zusammenhang hatte ich die noch nie gehört.

Der kleine Mann räusperte sich. „Das hier wird scheinbar noch ein wenig dauern. Ich mach mich dann mal wieder an die Arbeit.“

Doktor Glock nickte, konzentrierte sich dann aber wieder auf mich, als hätte es diese kleine Unterbrechung gar nicht gegeben. „Also, am Besten wir fangen ganz von Vorne an. Sie wissen doch sicher, dass artübergreifende Fortpflanzung bei Proles nichts ungewöhnliches ist.“

„Wäre traurig wenn nicht, ich bin immerhin Venator.“ Ich verlagerte mein Gewicht ein wenig, um mein geschundenes Bein ein wenig zu entlasten. Reese entging diese Bewegung natürlich nicht, aber er sagte nichts.

„Und Sie wissen auch, was das im Einzelnen bedeutet?“

Ich nickte. „Ich weiß nicht wie genau das auf wissenschaftlicher Ebene abläuft, aber grob gesagt, kann ein Proles sich mit allem paaren, was nur lang genug still hält und manchmal kommen dabei auch Babys raus.“

„Grob ausgedrückt, ist das korrekt. Kommen Sie, wir können auch beim Laufen reden.“ Er zeigte in die Richtung aus der wir gekommen waren und wir setzten uns zusammen in Bewegung. „Also, durch die artübergreifende Fortpflanzung gibt es heute viele Proles, die nicht aus den Laboren in Wyoming stammen. Alle Dama-Proles, oder auch die Stammgruppe der Lacerta-Proles. Ein Proles hat den unbändigen Instinkt sich Fortzupflanzen und dazu suchen sie sich den Partner, den sie für geeignet halten. Mittlerweile bleiben sie meistens in ihrer eigenen Abteilung, aber auch heute noch gibt es Fälle, wie meinen oder auch Ihren, in dem ein Proles …“

„Moment“, unterbrach ich ihn und blieb abrupt stehen. Er konnte nicht das meinen, was ich glaubte verstanden zu haben. „Wollen Sie damit sagen, der Iuba, hat mich als Partner ausgesucht?“

Er nickte „Genau wie Calypso mich. Darum hat er ihnen nichts getan.“

„Sie meinen, er will sich mit mir paaren?“, fragte ich ungläubig.

„Ja warum denn nicht?“ Er setzte sich wieder in Bewegung. „Die artübergreifende Fortpflanzung gilt nicht nur für Tiere, auch Menschen sind davon betroffen. Zählt man sie mit, ist das der vierte Fall von Proleszuneigung der hier in Historia dokumentiert wurde, aber nur Ihr Iuba und meine Calypso leben noch.“

„Sie wollen also wirklich sagen, dass diese Biester Babys mit uns wollen?“ Nein, ich bekam diesen Gedanken einfach nicht in meinem Kopf. Das war einfach zu … abartig. Ich und ein Proles? Eher würde die Welt untergehen.

Doktor Glock lächelte mich nachsichtig an. „Ja, genau das will ich damit ausdrücken. Zwar wird es niemals dazu kommen, aber dass ist der Grund für ihr vergleichbar harmloses Verhalten. Allerdings gilt das nur für uns beide. Sie sind noch immer normale Proles und stellen damit für jeden anderen eine ernstzunehmende Gefahr dar.“

Nein, das machte es auch nicht besser. Ich drehte mich zu Reese um. „Hast du das gehört?“

„Du bist eben unwiderstehlich“, erwiderte er staubtrocken.

„Wirklich? Du machst Witze darüber?“ Der Kerl, der nicht mal gelacht hatte, als Cheery mit dem Kopf in einer Kleenexbox stecken geblieben war und deswegen gegen drei Wände lief, bevor ich sie daraus befreien konnte.

„Die Alternative wäre das Biest zu erschießen.“

Nicht das ich etwas dagegen hätte, aber eines musste ich mir eingestehen: Das war Doktor Glock erzählt hatte, erklärte das absonderliche Verhalten der Schwarzmähne. Nicht nur dass er mich nicht mal in dem Moment angegriffen hatte, als ich ihn beschossen hatte, er hatte mich auch die ganze Zeit vor allen Gefahren beschützt. „Ich weiß ehrlich nicht, was ich davon halten soll.“ Dieser Gedanke war mir einfach … unangenehm, je mir wurde sogar richtig übel davon. Ich wollte nicht, dass irgendein Proles mich liebte, ich wollte dass sie alle tot umfielen.

„Wenn man sich damit noch nicht auseinandergesetzt hat, ist das vermutlich schwer vorstellbar“, räumte der Forscher ein. „Aber auch wenn das Phänomen selten ist, es ist nicht unbekannt und geschieht nicht nur hier. Ich habe Aufzeichnungen und Videos gesehen, die bis zurück zu den Anfängen der Proles gehen.“

„Es ist trotzdem eklig.“

„Für Sie vielleicht, ein Proles jedoch folgt ausschließlich seinem Instinkt. Für ihn ist es ganz natürlich sich einen geeigneten Partner zu suchen und damit die nächste Generation zu sichern.“

Ja aber doch nicht mich. Da wäre es mir ja schon fast lieber, wenn er versucht hätte mich zu fressen. Dieses Mistvieh gehörte zu den Iubas, die meine Eltern getötet hatten. Selbst wenn er das letzte Wesen auf dieser Erde wäre, hätte ich höchstens ein wenig Rattengift für ihn übrig.

„Dieser Gedanke behagt Ihnen nicht“, stellte Doktor Glock fest und steuerte direkt auf die Tür zu, die wieder zurück in das Gebäude führte.

„Und das wundert Sie? Ich kann nicht verstehen, dass Sie damit umgehen, als wäre es etwas ganz normales.“

„Oh glauben Sie mir, am Anfang habe auch ich mich damit sehr schwer getan. Obwohl ich schon viele Jahren mit Proles arbeite und sie erforsche, ist ein so direkter Umgang mit ihnen auch für mich nicht normal. Das mit Calypso habe ich auch nur durch Zufall bemerkt, als sie zu früh aus einer Narkose erwacht ist und ich mich plötzlich mit diesem Bär von einem Proles ganz allein in einem Raum befand. Mittlerweile finde ich dieses Thema jedoch ziemlich faszinierend.“

Ich nicht.

Doktor Glock blieb vor der Tür stehen, suchte fast jede Tasche an seinem Körper ab und zog letztendlich eine Zugangskarte hervor. „Ah da haben wir sie ja. Ich muss sie immer verstecken, Calypso hat meine alte Karte nämlich gefressen.“ Konzentriert richtete er seinen Blick auf das Tastenfeld. „Ich kann mit einfach keine Zahlenfolgen merken, darum nutzte ich Muster.“

Hm, dieser Mann musste wohl alles in seinem Leben kommentieren.

Ein Summen signalisierte, dass wir nun durchgehen konnten und der Doktor ließ uns den Vortritt, bevor er wieder die Führung übernahm. Dieses Mal gingen wir jedoch nicht zurück in die Richtung, aus der wir gekommen waren, sondern hielten uns rechts. Hier gab es nicht zu sehen außer sterile Korridore und geschlossene, stahlverstärkte Türen mit Nummernschilder. FP-B-1307-17, oder auch UP-V-G3-3103-05.

„Wann haben Sie zum ersten Mal bemerkt, dass der Iuba Interesse an Ihnen zeigt?“, fragte Doktor Glock mich.

Also wenn ich ehrlich war, hatte ich das seltsame Verhalten der Schwarzmähne bis jetzt nie als Interesse an mir gewertet. „Er verhielt sich von unserer ersten Begegnung an merkwürdig.“

„Und was sind Sie sich das erste Mal begegnet?“

„In der Gilde in Potsdam. Das war noch vor dem eigentlichen Transport nach Historia. Die anderen Iuba haben sich ganz normal verhalten, er jedoch wirkte auf mich … neugierig.“

„Neugierig.“ Er dachte einen Moment über dieses Wort nach. „Hat der Iuba … Entschuldigung, hat er eigentlich schon einen Namen?“

„Einen Namen?“ Glaubte er etwa, ich hatte mit meiner Zeit nichts besseres zu tun, als mich hinzusetzen und mir einen passenden Namen für ein Monster zu überlegen? Naja, in Gedanken nannte ich ihn ständig Schwarzmähne, aber das eher ein Merkmal als ein Name. Den einzigen Namen den ich ihm bisher verpasst hatte, war auf meiner Flucht gewesen und der war alles andere als schmeichelhaft. Wie war das noch mal gewesen? Ach ja, genau. „Schweinehund.“

Doktor Glock schaute mich verdutzt an und fragte dann noch mal nach, um sicher zu gehen, dass er mich auch nicht missverstanden hatte. „Sie nennen ihn Schweinehund?“

„Er hat mich erschreckt und das fand ich, war eine passende Beleidigung.“

Jilin versuchte ihr Lächeln zu unterdrücken. Es gelang ihr nicht besonders gut.

„Ich denke an dem Namen werde ich vielleicht noch ein wenig feilen. So, da wären wir.“ Er blieb vor einer Tür mit der Aufschrift CP-I-G1-1301-20 stehen und zückte wieder seine Karte. „Im Moment ist er noch drinnen untergebracht, da die Außengehege alle besetzt sind, aber eine Erweiterung der Anlage ist bereits in Planung. Vorerst wird er jedoch hier drinnen bleiben müssen.“

„Solange er nur sicher weggeschlossen ist, kann er meinetwegen auch in einem Schuhkarton leben.“

„Ich merke schon, die Liebe zwischen ihnen ist sehr einseitig.“ Er schmunzelte und öffnete uns dann die Tür. „So, dann mal herein in die gute Stube.“

Einseitig war gut. Nachdem ich das jetzt wusste, wollte ich ich am liebsten mit einem schweren Stock eins überbraten, damit er wieder zur Vernunft kam. Ich und ein Proles? Allein bei dem Gedanken daran wurde mir übel.

Reese trat als erstes hinein, ich folgte direkt hinter ihm und trat in ein, hm, man könnte es wohl Innengehege nennen. Der Raum war vielleicht sechs oder sieben Meter im Quadrat. Direkt hinter der Tür war ein fast zwei Meter breiter Gang, der durch eine dicke Panzerglasscheibe vom Rest des Raumes aubgetrennt war. Hier befanden sich Unter- und Oberschränke, ein Waschbecken, wissenschaftlicher Kram. Ich entdeckte sogar eine Sicherheitskamera, die alles was im Gehege vor sich ging, dokumentieren konnte. Durch eine seitlich angelegte Schleuse konnte man bei Bedarf in das Innere gelangen.

Das Gehege selber war mit einem Wort zu beschreiben: Kahl. Er hatte Wasser und Futter und etwas das wie ein Nest aus alten Decken aussah. Mehr nicht.

Also entweder legte man auf die Gestaltung der Außengehege mehr wert, oder es war noch niemand dazu gekommen, dieses hier einzurichten. Die Schwarzmähne war ja auch ziemlich plötzlich geliefert worden, wahrscheinlich war man einfach nicht auf ihn vorbereitet gewesen. Mich interessierte ehrlich gesagt mehr, dass er hier drinnen eingesperrt war. Eingeschlossen von allen Seiten und damit für immer aus dem Verkehr gezogen.

Die Schwarzmähne selber lag vorne am Glas und hob bei unserem Eintritt sofort den Kopf. Seine Lefzen hoben sich und über einen Lautsprecher war zu hören, dass er ziemlich angepisst war. Gefiel ihm wohl nicht schon wieder eingesperrt zu sein.

Doch dann schien er mich plötzlich zu erkenne. Riechen war nicht möglich, da das Glas komplett dicht war, aber als sein Blick auf mich fiel, gingen die Lefzen wieder runter und die Ohren stellten sich auf.

„Er hat ziemlich schlechte Laune, seit die Beruhigungsmittel aufgehört haben zu wirken“, erklärte Doktor Glock und trat etwas näher ans Glas heran. „Aber das ist ganz normal. Er muss sich erst etwas eingewöhnen, dann wird er sich schon mit den Umständen abfinden.“

Als wenn er eine andere Wahl hätte. „Er wird versuchen auszubrechen“, erklärte ich ihm in Erinnerung daran, was mir dieser Konrad aus der Potsdamer Gilde erzählt hatte.

„Oh, das hat er schon versucht. Sobald er wieder einen halbwegs klaren Kopf hatte, hat er damit begonnen das Gehege systematisch nach Schlupfwinkel abzusuchen. Es erstaunt mich immer wieder, wie intelligent die Proles der ersten Generation sind.“

„Intelligente Proles sind nichts worüber man sich freuen sollte.“ Die waren nicht nur gefährlich, sie waren tödlich. Immer.

„Aus Ihrer Warte betrachtet, stimme ich Ihnen zu, doch ich bin Forscher und es gibt sonst kein anderes Wesen auf diesem Planeten, das unserer Intelligenz so nahe kommt.“

Jemand der Proles so faszinierend fand, war in meinen Augen nicht sehr intelligent. Ich hielt es für besser diesen Gedanken für mich zu behalten.

„Man hat mir die Zuständigkeit für ihn übertragen, da er ähnliche Verhaltensweisen wie Calypso aufweist. Ich schätze ihn auf ein Alter zwischen fünfzehn und zwanzig Jahre. Sobald ich die Unterlagen aus Wyoming habe, weiß ich es natürlich ganz genau. Als G1-Proles, ist seine Geburt dokumentiert worden.“

Ja, weil der Erschaffer dieser Monster sehr penibel mit seiner Arbeit war. Außer als es darauf ankam, da hat er richtig großen Mist gebaut.

Ich bewegte mich ein Stück zur Seite, woraufhin die Schwarzmähne sich auf die Pfoten erhob und mir aufmerksam mit dem Blick folgte.

„Er erkennt Sie“, bemerkte Doktor Glock fasziniert. „Auf rein visueller Ebene. Das ist interessant. Calypso muss mich riechen, um zu wissen, dass ich es bin.“

„Ich hab rote Haare.“ Die mussten sogar für einen Proles sehr auffällig sein.

„Ich frage mich …“ Nachdenklich ließ der Doktor den Blick von der Schwarzmähne zu mir gleiten. „Wären Sie dazu bereit, das Gehege zu betreten? Ich würde zu gerne sehen …“

„Nein!“

Nein, das kam nicht von mir, das war Reese gewesen in einem Ton, der absolut keinen Widerspruch duldete. Leider schien Doktor Glock die Nuancen in seiner Stimme nicht zu verstehen.

„Ich wollte doch nur …“

„Interessiert mich einen Dreck!“, unterbrach Reese ihn grob. „Das da drinnen ist ein verdammter Iuba und die sind nicht gerade als Kuscheltiere bekannt. Ich habe gesehen was diese Biester anrichten können, die Hinterlassenschaften sind immer blutig!“

„Für Frau Shanks ist es absolut ungefährlich. Ich würde diese Bitte nicht aussprechen, wenn ich anderer Meinung wäre.“

„Schade das Ihre Meinung hier einen Scheiß zählt.“ Reese machte einen drohenden Schritt auf den Forscher zu und trieb ihn damit ein Stück zurück. „Genau wie Ihre Theorie geht sie mir völlig am Arsch vorbei, Shanks wird da nicht hinein gehen und wenn Sie noch einmal auf eine so hirnrissige Idee kommen, werde ich nicht mehr so freundlich sein. Haben wir uns verstanden?“

Es war deutlich zu sehen, wie Doktor Glock schluckte. Sein Adamsapfel hüpfte richtig in seiner Kehle. Wenn Reese so auftrat, konnte er ziemlich einschüchternd sein.

Die folgende Stille wurde vom Klingeln eines Handys unterbrochen.

„Das ist meins“, verkündete Jilin und grub es aus den Tiefen ihrer Jacke hervor. „Da muss ich rangehen“, sagte sie mit einem Blick auf das Display und verzog sich dann ans andere Ende des Raums.

Reese erdolchte den Forscher noch immer mit Blicken, bevor er sich wieder abwandte und starr den Iuba durch die Scheibe fixierte.

Doktor Glock brauchte einen Moment länger, um seine Fassung wiederzuerlangen. Er war es wohl nicht gewohnt so direkt angegangen zu werden, dabei war Reese gerade vergleichsweise noch zurückhaltend gewesen. Nicht das ich sein Vorgehen befürwortete. Zwar hatte er genau das zum Ausdruck gebracht, was auch ich gedacht hatte, aber ich hätte die Bitte weit freundlicher vorgebracht.

„Machen Sie sich nichts draus“, versuchte ich den Arzt zu beruhigen. „Er hatte ein paar ansengende Tage und wenig Schlaf, sowas bekommt seiner Laune nicht gut.“ Nein, ich ließ mich von seinem finstren Blick nicht einschüchtern.

„Schon gut“, sagte der Doktor, trat aber vorsichtshalber ein Stück von Reese weg. „Auf Angehörige muss so etwas ziemlich erschreckend wirken.“

Nicht nur auf Angehörige.

Da es der Schwarzmähne scheinbar zu langweilig wurde, mich nur anzustarren, trottete er zu mir rüber und stellte sich direkt vor mir am Glas auf.

Ich war über mich selber erstaunt, dass ich nicht mal zuckte. Da war zwar noch immer das Glas zwischen uns, aber so auf zwei Beinen überragte er mich doch ein ganzes Stück. Und diese Augen … die Intensität darin war erschreckend. Dort war nichts menschliches, oder etwas das man mit einem Tier vergleichen konnte. Sie wirkten einfach nur … wahnsinnig.

Als er dann jedoch die Schnauze öffnete und einmal quer über die Scheibe leckte, war der ganze gruselige Eindruck wie weggewischt. Prolessabber. Igitt.

„Faszinierend.“ Doktor Glock trat näher an mich heran, was die Schwarzmähne dazu brachte den Kopf zu drehen und den Forscher die gebleckten Zähne zu zeigen. „Er ist eindeutig an Ihnen interessiert.“

Ich Glückliche. „Sein Problem, würde ich sagen.“

Die Schwarzmähne ließ sich am Glas herunterrutschen, blieb aber direkt vor mir sitzen. Nur ließ er den Forscher dabei nicht aus den Augen. Genaugenommen schaute er ihn an, als hätte er seine nächste Mahlzeit entdeckt und musste jetzt nur noch überlegen, wie er am Besten an sie heran kam.

„Hat er schon versucht Sie zu umwerben?“

Mein Blick glitt zu dem Mann neben mir. „Mich umwerben?“ Ich wusste nicht mal, dass Proles so etwas taten.

„Sie wissen schon, Ihnen den Hof gemacht. Hat er versucht sich Ihnen anzunäheren und mit Ihnen zu kuscheln.“

Oh nein. Nein, nein, nein. „Hätte er das versucht, hätte ich ihn noch im gleichen Moment erschossen.“

Doktor Glock schaute mich an, als sei er sich nicht sicher, ob ich einen Scherz gemacht hatte, oder das mein Ernst war. Er schien nicht zu verstehen, dass Proles in meinen Augen nichts weiter als Monster waren, jedes einzelne besser tot als lebendig, egal wie interessant sie in den Augen mancher Menschen auch sein konnten.

Am anderen Ende des Raumes beendete Jilin ihr Telefonat und kam mit erster Mine zu uns rüber. „Tack, Grace, ich muss mit euch sprechen.“

Das hörte sich gar nicht gut an. „Wir sind hier sowieso fertig.“ Ich hatte mich davon überzeugen können, dass das Biest sicher weggeschlossen war und nun konnte ich diese ganze Sache hoffentlich abhaken. Ich reichte Doktor Glock zum Abschied meine Hand. „Danke dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben.“

„Kein Problem.“ Er lächelte ein wenig, nur wirkte es nicht mehr ganz so offen, seit Reese ihn zurechtgestutzt hatte. „Falls Sie jemals ein wenig Zeit erübrigen können, dann besuchen Sie mich doch für ein Gespräch. Ich würde die Beziehung zwischen ihnen und dem Iuba gerne etwas genauer unter die Lupe gehen.“

„Wenn ich mal etwas Zeit habe“, sagte ich unbestimmt, doch wir wussten beide, dass das niemals geschehen würde. Wenn ich die Schwarzmähne niemals wiedersehen musste, wäre das immer noch viel zu früh.

„Finden Sie den Weg alleine zurück?“

„Ja tun wir“, knurrte Reese und hielt mir bereits die Tür auf. Er war wohl immer noch nicht gut auf den Kerl zu sprechen, weil er mich mit einem Iuba in einen Käfig stecken wollte.

„Danke noch mal.“ Ohne die Schwarzmähne auch nur noch eines Blickes zu würdigen, verließ ich direkt hinter Jilin den Raum.

Reese fasste den Forscher noch einmal ins Auge, bevor er die Tür zwischen ihnen zufallen ließ und sich uns anschloss. „Was ist los?“, fragte er Jilin dann ganz ohne Umschweife.

„Das war einer der Anwälte der Gilde“, begann sie auch sofort und warf mir einen kurzen Blick zu, ohne dabei aus dem Tritt zu geraten. „Er sitzt schon seit heute Morgen an der Sache mit Frau Grabenstein und hat leider keine allzu guten Nachrichten.“

Das hörte sich nicht gut an. „Was genau heißt das?“

„Das heißt, du hast keine Zeugen, die deine Variante der Geschichte untermauern könnten.“

„Variante der Geschichte?“, wiederholte ich, als seien es Fremdworte. „Ich sage die Wahrheit, da gibt es keine Variante.“

„Das weiß ich, aber Frau Grabenstein hat sehr gute Anwälte und nachdem du verschwunden warst, hat sie sofort reagiert. Leider hat sie den Vorteil, dass ihre Geschichte glaubwürdiger klingt.“

Glaubwürdiger, so ein Schwachsinn. „Du meinst wohl, sie hat Geld an die richtigen Stellen fließen lassen.“

„Ob das nun stimmt oder nicht, im Moment neigen die Leute dazu, dich als die Lügnerin hinzustellen und deswegen musst du vorsichtig sein.“

„Vorsichtig?“

„Sprich Klartext, Jilin“, verlangte Reese. „Was genau hat der Anwalt gesagt.“

Jilin blieb stehen und zwang so auch uns auf der Stelle zu verharren. Der Ausdruck in ihrem Gesicht wirkte sehr ernst und das ungute Gefühl in meinem Magen verstärkte sich noch. „Um es ganz deutlich zu sagen, die Polizei nimmt mittlerweile an, dass die Entführung nur inszeniert war.“

„Inszeniert? Von uns?“

Auch Reese wirkte verwirrt. „Warum?“

„Um von eurem aktuellen Problem abzulenken und euch ein Alibi zu verschaffen.“

„Hä?“ Ja, ich war wie immer sehr geistreich. „Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?“

„Die Polizei hat die Theorie aufgestellt, der zufolge ihr beide den Überfall auf die Transporter arrangiert habt, nur habt ihr nicht damit gerechnet, erwischt zu werden. Als der Verband euch dann die Pistole auf die Brust drückte, habt ihr nach einem Ausweg gesucht.“

„Und der war mich entführen zu lassen?“ Sie glaubten den Scheiß, aber nicht das was ich gesagt hatte? Wie dumm war das denn?

„Ein gestellte Entführung und eine abenteuerliche Geschichte, über eine Milliardärin, die seltene und bedrohte Tiere einsperrt und dir deswegen schon lange ein Dorn im Auge ist.“

Das gab es doch wohl nicht, die wollten mich doch verarschen.

Reese schien das ganz ähnlich zu sehen. „Und was ist ihrer Meinung nach wirklich geschehen?“

„Um aus der Sache mit dem Verband herauszukommen, habt ihr euch mit den Käufern der Iubas zusammengetan, die Entführung arrangiert und zum Beweis, dass du die Wahrheit sagst, bist du anschließend in einem Bunker mit einem der gestohlenen Iubas aufgetaucht, den du angeblich vor Malou Grabenstein hast und nicht von den Käufern.“

„Das meinst du nicht ernst.“

So wie sie mich anschaute, war das ihr vollster Ernst.

„Das können die doch nicht machen.“ Ich schnaubte ungläubig. „Und was ist mit diesen ganzen kleinen Details, die sie außer Acht lassen? Es gab Zeugen für meine Entführung, Kjell und die Frau mit den zwei Kindern. Kjell wurde verdammt noch mal grün und blau geschlagen. Und schau dir mein Gesicht an.“

„Kjell ist ein Kollateralschaden und die Frau eine zufällige Zeugin, die deine Geschichte bestätigen sollte. Der Rest gehört zur Inszenierung.“

„Inszenierung? Hast du mein Bein gesehen? Und wie verdammt noch mal, bin ich dann nach Dömitz gekommen? War das auch Teil meines bescheuerten Plans?“ Ja ich wurde lauter, aber verdammt noch mal, das war doch alles scheiße!

„Genau diese Vermutung steht momentan im Raum“, sagte Jilin ohne mit der Wimper zu zucken.

„Und der verdammte Iuba? Den haben wir erst verkauft und dann zurückverlangt? Was soll der Mist? Ich habe nichts getan – Nichts! Warum zur Hölle bin ich jetzt die Böse und diese Mistkuh darf einfach weiter machen?“ Wütend fuhr ich mir durch die Haare und begann unruhig auf und ab zu laufen. „Sie hat verdammt noch mal nicht nur versucht mich umzubringen, sie ist auch der Kopf von L.F.A.! Nach allem was sie getan hat, können die sie doch nicht einfach so weitermachen lassen!“

„Das werden wir auch nicht, unsere Anwälte geben nicht so einfach auf, Aber du musst dich zurück halten. Reese hat mir von deinen Nachforschungen zu L.F.A. erzählt und damit solltest du auch aufhören, denn es erweckt den Eindruck, als wärst du auf der Jagd nach diesen Leuten und bräuchtest nun ein Opfer?“

Ich schnaubte. Ich brauchte kein Opfer, ich war ein Opfer. „Ich kann sie doch nicht so einfach davonkommen lassen.“

„Niemand wird sie davonkommen lassen, aber L.F.A. ist das Problem der Polizei, du bist Venator, du kümmerst dich um Proles.“

„Was genau der Grund ist, warum diese Arschlöcher überhaupt auf mich aufmerksam geworden sind!“, fauchte ich. Ich wusste das ich meine Wut an der Falschen ausließ, aber verdammt noch mal, das war so ungerecht. „Ich muss irgendwas tun. Meine Geschichte ist viel schlüssiger, das müssen die einfach einsehen.“

Mitten im Lauf packte Jilin mich am Ärmel und brachte mich mit beeindruckender Kraft zum Stehen. „Ich sage es dir jetzt ganz deutlich: Halt die Füße still und tu nichts Unüberlegtes, sonst schadest du dir nur selber. Ich werde mich um die Sache kümmern. Deine Aufgabe ist es dich ruhig zu verhalten.“

Ruhig verhalten, das ich nicht lachte. „Du weißt nicht was du da von mir verlangst.“

„Und du kannst alles noch schlimmer machen, wenn du dich weiter einmischst. Ich mache das, ich verspreche es dir.“

Wir lieferten uns ein Blickduell, an dessen Ende ich mich schnaubend von ihr losriss und wütend den Korridor hinunter marschierte. Was konnte Jilin schon großartig tun? Auch ihr standen nur begrenzte Mittel zur Verfügung und gegen eine Frau wie Malou würde sie kaum etwas ausrichten können. Nein, hier mussten stärkere Geschütze aufgefahren werden. Diese Scheiße würde ich mir nicht bieten lassen. Diese Frau würde für ihre Taten geradestehen, dafür würde ich sorgen. Alles was mir noch dazu fehlte, war ein Plan.

Malou Grabenstein, du hast dich mit der falschen Venatorin angelegt.

 

°°°°°

Kapitel 13

„Ja okay, wir sind schon unterwegs. Schick mir die restlichen Daten aufs Handy.“

„Mache ich. Waidmannsheil.“

„Danke, das können wir gebrauchen.“ Ich beendete das Gespräch mit Madeline, behielt das Handy aber in der Hand, um auf ihre Nachricht zu warten. „Wir müssen zu den Beelitzer Heilstätten. Ein Hobbyfotograf wurde da wohl von ein paar rosa Äffchen angegriffen.“

„Lumen.“

Ich nickte. „Das denke ich auch.“

Reese sog ein letztes Mal an seiner Zigarette und schnipste sie dann aus dem Fenster. Das würde er sich wohl niemals abgewöhnen können. „Wie viele?“

„Der Fotograf hat zwei gesehen, bevor er die Beine in die Hand nahm und in die andere Richtung davongerannt ist.“

„Also keine Verletzen.“

„Nein.“ Und da konnte der Mann wirklich von großem Glück sprechen. Lumen waren zwar klein, kaum größer als ein Chinchilla, aber diese speziellen Simia-Proles waren extrem aggressiv und traten immer in großen Verbänden auf. Trotz ihrer Größe war es schon vorgekommen, dass sie einen Menschen getötet hatten und die ganze Gruppe sich dann zu einem gemütlichen Abendessen um ihn versammelte. „Madeline spricht bereits mit der Polizei, damit das Gebiet gesperrt wird. Wir werden mit Fallen arbeiten müssen.“

„Na super.“ Reese war kein Fan davon, die Dinge nicht direkt angehen zu können, aber Lumen waren klein und flink. Mit großem Glück schaffte man es vielleicht ein oder zwei von ihnen zu erschießen, bevor sie sich in irgendwelche Löcher verkrochen und mitunter erst Stunden später wieder zum Vorschein kamen.

Das einzige Positive daran war, das Lumen sehr Reviertreu waren. Eine Gruppe von Weibchen suchte sich einen für sie geeigneten Ort und verteidigten ihn dann bis zum Tode gegen jeden Eindringling.

Bei männlichen Lumen verhielt es sich ein wenig anders. Auch sie beanspruchten Reviere, doch ein paar Mal im Jahr wanderten sie auf der Suche nach Liebe umher und kehrten erst dann zurück, wenn die Weibchen sie davonjagten.

Ich hoffte es handelte sich bei diesen Lumen um eine Gruppe von männlichen Proles, die waren nicht ganz so aggressiv. Obwohl es keinen großen Unterschied machte, sterben würden sie so oder so alle.

„Beelitzer Heilstätten“, sagte Lexian auf dem Rücksitz nachdenklich. „Ist das nicht dieser riesige Krankenhauskomplex, der schon vor Jahren stillgelegt wurde?“

„Genau die.“ Knapp zweihundert Hektar mit Bäumen und Unkraut überwucherte Ruinen, die seit zwanzig Jahren vor sich hinfaulten. Ein Paradies für Lumen. Es würde nicht lustig werden, sie dort zu finden. „Heute kann das Gelände nur noch mit Genehmigung betreten werden. Man macht dort Führungen und es ist ein beliebtes Ziel für Hobbyfotographen.“

Reese warf mir einen kritischen Blick zu. „Woher zur Hölle weißt du so einen Scheiß.“

Ich hob mein Handy und zeigte ihm mein Display. „Ich hab es gerade gegooglelt. Die haben hier sogar einen Lageplan, aber ich weiß nicht inwieweit der uns helfen wird.“ Gerade als es piepte und mir verkündetet, das Madeline die restlichen Daten geschickte hatte, ließ ich mein Handy wieder in den Schoß sinken.

„Es wird uns vielleicht ein wenig bei der Orientierung helfen“, bemerkte Lexian. Da der Verband trotz meiner Entführung nicht an die Unschuld von Reese und mir glaubte, würde er uns noch ein Weilchen erhalten bleiben. Kjell dagegen war heute in der Akademie. Wegen seiner Verletzungen, war er die ganze letzte Woche ausgefallen, aber da die Ärzte ihr Okay gegeben hatten, würde er uns ab morgen wieder begleiten. Und er war auch nicht der einzige gewesen, der tagelang Zuhause gelegen hatte.

Wie ich bereits vermutet hatte, war es mir nach meinem Besuch in Historia nicht möglich gewesen, direkt wieder arbeiten zu gehen. Nicht nur meine Verletzungen trugen daran Schuld, kaum das wir wieder unsere vertrauten vier Wände um uns hatten, wurde ich auch noch von einer blöden Erkältung niedergestreckt. Ein Andenken an die kalte Nacht meiner Entführung. Wahrscheinlich konnte ich mich noch glücklich schätzen, mir wegen der Unterkühlung keine fiese Grippe eingefangen zu haben.

Ich hatte die Woche Zuhause mit Cheery vor dem Fernseher jedoch produktiv genutzt und mir einige Gedanken, über das Geschehene, machen können. Dabei war ich zu mehreren Schlüssen gekommen.

Zum einen war ich Mittlerweile der felsenfesten Überzeugung, dass Malou in dieser Nacht kräftig mit dem Scheckheft gewunken hatte. Wie sonst war es zu erklären, dass die Polizisten vor Ort statt Proles nur ganz normale Tiere gesehen hatten? Vielleicht hatte die Milliardärin früher einmal seltene und bedrohte Tierarten in diesen Gehegen gehalten, jetzt jedoch waren sie voller Proles, die man einfach nicht übersehen konnte. Es konnte sich also nur um Bestechung halten.

Wahrscheinlich war so ein wenig Geld für die Polizisten ganz gelegen gekommen. Die Proles dort konnten ja niemanden mehr schaden, schließlich waren sie weggesperrt. Theoretisch hatten sie damit auch recht, außer man verärgerte Malou, dann konnte es schon passieren, dass man ihren Lieblingen als kleiner Happen für Zwischendurch angeboten wurde.

Der andere Schluss zu dem ich gekommen war, zielte darauf ab dieser Frau das Handwerk zu legen. Ja das klang vielleicht ein wenig großspurig, aber wenn niemand sonst etwas unternahm, würde ich das eben tun müssen. Ich hatte auch schon einen Plan, wegen dem ich heute Abend noch bei Eve vorbeischauen würde. Sie freute sich bereits auf meinen Besuch und im Gegensatz zu Reese, hatte ich sie eingeweiht.

Reese würde ich vorerst nichts sagen, denn ich wusste schon jetzt, dass er einen riesigen Aufstand machen würde. Manchmal war es eben doch besser, hinter um Verzeihung zu bitten, statt vorher um Erlaubnis. Nicht dass ich vorhatte mich bei ihm zu entschuldigen. Ich würde nichts tun, für das ich mich entschuldigen müsste, aber er wäre sicher trotzdem nicht begeistert.

Naja, zumindest wusste er, dass ich später noch zu Eve wollte.

Jetzt jedoch hatte ich erstmal einen Nachmittag in den Beelitzer Heilstätten vor mir. Wie man es auch nahm, der Montag war immer der schlimmste Arbeitstag von allen in der Woche. Nicht nur weil er direkt nach dem Wochenende kam, sondern weil er immer den größten Scheiß lieferte.

Wir brauchten nicht mal zehn Minuten, bis wir unseren Zielort erreichten. Die Polizei war bereits vor Ort und hatte schon damit begonnen das Gebiet durch gelbe Bänder an den Zugängen notdürftig abzusperren.

Reese parkte unseren Wagen gleich neben dem Haupteingang und war nicht nur der erste der den Wagen verlassen hatte, sondern auch mit der Polizei sprach.

Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, sondern ging direkt um den Wagen herum und machte mich am Kofferraum zu schaffen, um einen Batzen von den Gefahrenhinweisen und die Reißzwecken herauszuholen. Wenn wir wirklich das Pech haben sollten Fallen aufstellen zu müssen, würde jemand aus der Gilde sie uns bringen müssen, den so viele hatten wir nicht dabei. Oder wir kämen morgen Früh direkt noch mal mit einer Wagenladung Fallen hier her. So oder so, erstmal würden wir uns auf dem Gelände umschauen und dann weiter entscheiden.

Das Gespräch mit der Polizei war sehr kurz und so befanden standen wir schon wenig später in dem, was einmal die blühenden Beelitzer Heilstätten gewesen waren. Es war schlimmer als ich angenommen hatte. Die Grünflächen zwischen den Gebäuden waren nicht einfach nur überwuchert, das war ein halber Wald.

„Ein Paradies für Lumen.“

Ich nahm ungefähr die Hälfte von den Gefahrenhinweisen und Reißzwecken und hielt sie ihm vor die Nase. Damit handelte ich mir wieder mal einen seiner bösen Blicke ein. „Zusammen geht es schneller.“

Mit äußerstem Widerwillen nahm Reese die Sachen entgegen, teilte seinen Stapel aber noch einmal und haute Lexian die eine Hälfte vor die Brust. Der griff ganz überrascht danach. Anfänger – ich hätet die Zettel einfach fallen gelassen. „Hier, du kannst dich auch mal nützlich machen, wenn du mir schon auf den Sack gehst.“

„Ich habe keine Reißzwecken.“

„Die sind im Wagen.“ Reese marschierte einfach los.

Oh Mann. „Ich bin noch dabei ihm ein paar Manieren beizubringen“, sagte ich und schüttete Lexian ein paar von meinen Reißzwecken in die Hand. „Es hat sich als schwieriger herausgestellt als ich zu Anfang angenommen hatte, aber ich gebe nicht auf.“

„Scheint mir eine Lebensaufgabe zu sein.“

Ich lächelte. Nicht das ich wirklich etwas an Reese ändern wollte, aber falls doch, hätte ich ja schließlich ein ganzes Leben Zeit. „Am Besten wir fangen an, das wird ein langer Nachmittag werden.“

Es gab Tage, an denen konnte ich es absolut nicht leiden recht zu behalten.

Reese hatte sich von der Polizei die Stelle erklären lassen, an der der Fotograf die Lumen entdeckt hatte. Das war an einem der schwerer zugänglichen Gebäude und wir mussten uns durch einen halben Urwald kämpfen, um dorthin zu gelangen. Die Zeit dorthin vertrieben wir uns damit, an jeder nur erdenklichen Stelle die orangefarbenen Zettel mit dem Emblem der Gilde darauf anzubringen. Oben auf dem Flyer prangte groß und fett „Achtung“, während unten „Proles-Gefahrengebiet“ vermerkt war. Selbst Kinder wussten heutzutage, was diese Zettel bedeuteten und nahmen Reißaus, wenn sie sie entdeckten. In der nächsten Zeit würden die Beelitzer Heilstätten ziemlich einsam sein. Selbst wenn die Zettel wieder verschwunden waren, würden die Menschen noch eine ganze Weile brauchen, um der Gegend wieder zu trauen.

Es war zwar nicht ganz einfach, aber wir fanden die beschriebene Stelle wirklich und auch Spuren, die auf die Lumen hindeuteten. Abdrücke im Staub, ein paar Exkremente und auch Futterreste.

„Keine Nester“, bemerkte ich und ließ meinen Blick aufmerksam durch das halb eingebrochene Gewölbe wandern. Es war wirklich gruselig, wie die Zeit hier stehen geblieben zu sein schien. Zwischen dem ganzen Schutt stand sogar noch alte Krankenhausausrüstung. Ein verrosteter Behandlungsstuhl, mit einem umgekippten Arzthocker daneben und einer überhängenden Lampe. Keine Ahnung warum, aber ich bekam eine Gänsehaut.

„Keine Lumen.“ Reese starrte einen Moment auf die Spuren im Dreck und wandte sich dann ob. „Lasst uns weiter gehen.“

Weiter gehen bedeutete in diesem Fall, dass wir uns etwas weiter in das Gebäude hinein wagten, bevor wir es über einen anderen Zugang verließen und ein einer Art verkommendem Garten landeten. Im Gebüsch entdeckte ich ein altes Krankenhausbett, ohne Matratze und ohne Lattenrost. Es war nur noch das Gestell, umgekippt und von der Natur überwuchert.

Langsam fand ich diesen Ort wirklich unheimlich. Es war kaum vorstellbar, das hier früher Menschen wie Nick gelegen hatten, um wieder gesund zu werden. Ja bis vor knapp zwanzig Jahren war ein Teil des Geländes sogar noch in Betrieb gewesen und man hatte versucht ihm wieder neues Leben einzuhauchen, doch nun lag alles brach. Irgendwie ironisch. Es war wie eine unheilbare Krankheit, einfach nicht aufzuhalten. Irgendwie erinnerte mich dieser Ort an Celina.

Wie jeden Sonntag, hatten wir sie auch gestern wieder Besucht und zur Abwechslung hatte sie mal einen so guten Tag gehabt, dass sie nicht nur Reese als ihren Sohn erkannt hatte, ich konnte auch den ganzen Besuch über im Zimmer bleiben und musste nicht nach der Hälfte den Raum verlassen, um auf dem Korridor zu warten. Das war zur Abwechslung mal ganz nett gewesen. Trotzdem hatte mich die Erleichterung überkommen, als wir endlich gehen konnten und uns auf dem Weg zu Nick ins Krankenhaus gemacht hatten.

Ich fühlte mich immer schlecht, wenn ich nach einem Besuch so erleichtert war und eine ganze Woche hatte, bevor ich wieder zu ihr musste, aber es war nun einmal nicht ganz einfach mit ihr klar zu kommen. Dagegen hatte ich mich auf den Besuch bei Nick richtig gefreut.

Dadurch, dass ich eine Woche ausgefallen war, hatte Reese sich fast jeden Tag alleine auf dem Weg zu seinem Bruder gemacht. Erst gestern hatte ich Nick nach über einer Woche wiedersehen können.

In der Zwischenzeit ging es ihm bei Weitem besser. Er wirkte nicht mehr so schlaff und blass und hatte vor ein paar Tagen sogar schon mit Der Physiotherapie angefangen. Laut seinen Worten war das die reinste Tortur, aber er war entschlossen so schnell wie möglich aus diesem Bett herauszukommen und wieder am Leben teilzunehmen.

Seine Erinnerungen blieben leider weiterhin in den Tiefen seines Bewusstseins verschollen. Er hatte mir erzählt, dass er manchmal das Gefühl hatte etwas zu erkennen, einen Geschmack oder einen Geruch, der an etwas in ihm rüttelte, doch wenn er versuchte nach der Erinnerung zu greifen, glitt sie jedes Mal aus seiner Reichweite. Das war für ihn ziemlich frustrierend.

Ich selber konnte mir gar nicht vorstellen, wie das sein musste und leider halfen ihm auch meine Erzählungen noch besonders auf die Sprünge. Es war für mich sowieso nicht ganz einfach, ihm Dinge von früher zu erzählen, denn es gab Themenbereiche, die sowohl ich als auch Reese großräumig mieden. Zum Beispiel seine Arbeit bei Taid, oder das wir mal ein Paar waren. Ja selbst das Thema seiner Elten hatten wir bisher nur knapp gestreift, weil wir ihn nicht beunruhigen wollten. Viel blieb da leider nicht mehr übrig, denn vor seinem Unfall hatte ich ihn ja noch nicht lange gekannt. Und da Reese leider nichts der Typ dafür war in Erinnerungen zu schwelgen, gestaltete sich die ganze …

„Shanks!“

Erschrocken wirbelte ich herum, bereit mich auf jede Gefahr zu stürzen, die da kommen mag, doch um mich herum war es ruhig. Selbst nachdem ich mein Umfeld zwei Mal sondiert hatte, entdeckte ich niemand anderes, als Lexian und Reese, der verärgert an einer Weggablung stand.

„Was verdammt noch mal treibst du da? Ich habe dich schon drei mal gerufen!“

Oh, okay, das hatte ich nicht mitbekommen „Tut mir leid, war in Gedanken.“

„In Gedanken?“, fragte Reese, als spreche ich eine Fremdsprache. „Wir sind auf der Jagd, also pass gefälligst auf!“

„Ist ja gut, komm mal runter.“ Das kam mir so leise über die Lippen, dass er zwar hörte, dass ich etwas sagte, aber nicht was. Den bösen Blick jedoch verstand er mit Sicherheit.

Er verengte die Augen leicht und fixierte mich, als ich zu ihm zurück ging und an ihm vorbei marschierte. Leider musste ich zugeben, dass ich nicht mal aufgepasst hatte, wo ich langgegangen war und Zettel hatte ich schon seit mehreren Minuten nicht mehr aufgehängt. Ich sollte wirklich ein wenig besser aufpassen.

„Alles okay mit Ihnen?“, fragte Lexian mich, als ich auch ihn passierte.

„Klar, hab nur viel im Kopf.“

Er setzte sich wieder in Bewegung und schloss sich mir an. „Die Entführung geht Ihnen wohl ziemlich nahe.“

An die hatte ich ausnahmsweise mal nicht gedacht, aber es war nett von ihm, mich daran zu erinnern. „Wie würden Sie es finden, wenn man Sie einfach von der Straße schnappt und dann in einen Käfig mit Proles wirft?“

„Ich kann mir bei weitem Schöneres vorstellen.“

Genau wie ich. Noch dazu kam, dass ich zwar genau wusste, wer dafür verantwortlich war, man aber einfach nichts gegen diese Frau unternahm. Die ganze Woche hatte Jilin mich telefonisch auf dem Laufenden gehalten, doch es sah nicht gut für mich aus. Malou, ganz die liebenswürdige Wohltäterin, hatte zwar ihre Anzeige gegen mich zurückgezogen, sodass mir wenigstens von dieser Seite keine Probleme mehr drohten, aber nun ermittelte die Polizei wegen der gestellten Entführung gegen mich. Und der Verband war wie bereits erwähnt, überzeugter denn je, dass Reese und ich für den Überfall auf die Transporter verantwortlich waren. Im Moment diskutierten sie darüber, ob die Schwarzmähne als Beweis gegen uns reichen würde, oder es besser war auf Lexians Bericht zu warten.

Kein Wunder, das Reese so gereizt war.

Aber diese Scharade würde noch heute ein Ende finden, dafür würde ich sorgen. Mein Plan würde die Leute zwingen die Augen zu öffnen, sodass sie nicht mehr länger wegsehen konnten und am Ende würde sich nicht nur der Verband, sondern auch die Polizei bei mir entschuldigen müssen. Nicht dass ich es darauf anlegte, ich wollte nur dass diese Frau aus dem Verkehr gezogen wurde.

Noch etwas Positives daran war, dass ich L.F.A. damit einen tiefen Schlag versetzen würde. Malo war immerhin, wie sie selber so schön gesagt hatte, die oberste Instanz dieser Gruppierung und vermutlich finanzierte sie auch viele ihrer Aktionen. Ohne Malou würde ein Teil von L.F.A. zwangsläufig einbrechen, was nicht nur den Venatoren die Arbeit erleichterte und der Polizei in die Hände spielte, vor allen Dingen wären die Menschen auch ein kleinen wenig sicherer.

Ich musste nur an meinen ersten Fall denken, bei dem ich mit L.F.A. in Berührung gekommen war. Damals war ein Kind schwer verletzt und zwei weitere getötet worden. Zwei Kinder, die niemals erwachsen werden würden und eines, das für sein Leben gezeichnet war.

Die Schuld dafür lag ganz allein bei diesen Fanatikern, aber die gingen jedoch mit einem Schulterzucken lässig darüber hinweg. Es waren schließlich nicht sie, die von Zähnen und Klauen zerfetz worden waren und da sie meist aus den Schatten heraus agierten, kamen die meisten von ihnen auch noch straflos davon. Diese Welt war einfach nur kaputt.

Seufzend blieb ich stehen und schaute mich nach einem geeigneten Platz für den nächsten Gefahrenhinweis um. Erst dabei bemerkte ich, dass ich mich schon wieder von den Männern entfernt hatte und kopflos einfach losgelaufen war. So wie Reese mich fixierte, hatte er es auch bemerkt.

Ich streckte ihm die Zunge heraus, ging zum nächsten Baum und versuchte einen der orangenen Zettel festzupinnen. Na und, dann war ich mit meinen Gedanken eben nicht ganz bei der Sache. Im Moment war ja auch wirklich viel los und auch ich brauchte Zeit um das ganze Zeug zu verarbeiten und in die richtigen Bahnen zu lenken.

Warum wollte dieser blöde Pin nicht in den blöden Baum? Ich versuchte fester zu drücken, rutschte ab und knickte mir dann auch noch den Finger um. „Au“, sagte ich und dann flatterte auch noch der blöde Zettel zu Boden. Da hatten wir es wieder, das Montagsmysterium. Dieser Tag gehörte verboten.

Leise vor mich hin grummelnd, bückte ich mich nach dem orangenen Blatt und klaubte es vom Boden auf. Als ich mich wieder aufrichtete, erstarrte ich mitten in der Bewegung. Scheiße, direkt vor mir in der Astgabel hockte ein Lumen und musterte mich interessiert.

Wo kam der denn auf einmal her? Der hatte da eben aber noch nicht gesessen, oder? Eigentlich war es auch egal, jetzt war er da und eine Bewegung aus dem Augenwinkel verriet mir, dass er ein paar Freunde zum Spielen mitgebracht hatte. Und sie sahen hungrig aus.

Lumen waren Allesfresser. Sie verspeisten sowohl Obst, als auch Gemüse und Käfer. Und manchmal, wenn sich die Gelegenheit ergab, nahmen sie auch Fleisch. Ich war Fleisch und eine Gelegenheit. Gar nicht gut.

Über mir im Baum raschelte es. Das Biest vor mir beugte sich ein wenig vor. Seine Augen glitzerten gierig.

Okay, jetzt nur keine hektischen Bewegungen.

Sehr langsam ließ ich meine Hand sinken, um an das Messer in der rechten Beinscheide zu gelangen. Es gehörte nicht zu meinen Lieblingsmessern, die lagen leider noch immer als Beweismittel bei der Polizei, aber es war scharf und das war im Augenblick das Einzige was zählte.

Leider entging dem verdammten Vieh die Bewegung nicht. Ich hatte gerade noch Zeit „Lumen!“, zu brüllen und blitzschnell mein Messer zu Ziehen, da stieß das Biest auch schon einen so schrillen Schrei aus, dass mir das Trommelfell davon drohte zu platzen. Im nächsten Moment sprang es auch schon mit scharfen Zähnen auf mich zu. Mein einziges Glück war, dass es frontal kam und die Viecher nicht sehr groß waren. Es stellte kein Problem für mich dar, es einfach zur Seite zu schlagen, sodass es auf dem Boden landete. Da war jedoch ein zweiter Lumen, der mich bereits im Visier hatte, nur bemerkte ich den erst, als er mir auf die Schulter sprang und seine scharfen Klauen in meine Haare grub.

Irgendwo hinter mir fluchte Reese. Die Lumen stießen weiter diese schrillen Schreie aus.

Ich fackelte nicht lange, hob mein Messer und stach dem Biest auf meiner Schulter damit in die Seite. Es kreischte in seinem so hohem Ton, dass mir davon die Augen schmerzten. Oh Gott, das war das Schlimmste an diesen Viechern, diese unglaublich schmerzhaften Schreie.

Als ich das Messer zurück riss, fiel der Lumen wie ein Sack Kartoffeln zu Boden, aber es war noch nicht tot. Es versuchte erneut nach mir zu greifen, also stach ich ein zweites Mal zu. Davon war ich so abgelenkt, dass ich nicht merkte, wie da noch einer von der Seite heranschoss.

In dem Moment als ich den Arm zurück riss, packte es mich am Ärmel und versenkte seine kleinen, spitzen Zähnchen in meiner Hand.

Vor Schmerz jaulte ich nicht nur auf, ich ließ zu allem Überfluss auch noch mein Messer fallen und bekam dann arge Probleme das Mistvieh wieder loszuwerden. Ich schlug ihm gegen den Kopf und riss an seiner Schulter, um ihn wegzuschleudern, doch es hatte sich so fest an meine Klamotten geklammert, dass ich arg in Bedrängnis geriet. Dann riss es auch noch das Maul auf und versuchte mich ein zweites Mal zu beißen.

In dem Moment tauchte Reese neben mir auf, packte da Vieh gekonnt im Nacken und bohrte dem Lumen sein eigenes Messer tief durch die Schädeldecke. Es erschlaffte Augenblicklich und klatschte einfach auf den Boden.

Hektisch bückte ich mich nach meinem Messer und schaute mich nach weiteren Proles um, doch wie es schien, hatten die sich erstmal ins Unterholz, oder wahrscheinlicher, in ihre Nester zurückgezogen. Aber ich ließ mich nicht täuschen, ich wusste das sie hier noch irgendwo waren. Lumen hatten immer einen Späher und er würde uns im Auge behalten, bis sie wiederkamen.

„Danke“, murmelte ich zählte die Kadaver auf dem Boden. Drei hatten wir erwischt, aber ich hatte nicht gut genug aufgepasst, um mit Sicherheit sagen zu können, wie viele da noch gewesen waren.

„Danke?!“, fauchte Reese mich an und sah aus als würde er jeden Moment vor Wut platzen. „Was bitte war das gerade für eine Scheiße gewesen?!“ Er packte meinen Ärmel und riss mich zu sich herum. Ein Blick auf meine blutige Hand reite um auch den Rest seiner guten Laune wie Rauch verpuffen zu lassen. „Zwei Shanks, zwei von diesen Viechern haben dich erwischt! Wo verdammt noch mal warst du mit deinen scheiß Gedanken?!“

Langsam geriet ich in die Defensive. „Hör auf mich so anzuschreien. Ich hab einen Moment nicht aufgepasst, das kann doch mal …“

„Das war mehr als ein verdammter Moment! Du bist schon den ganzen Tag unkonzentriert und steckst mit dem Kopf in deiner Märchenwelt! Wir sind auf der Hatz, du kannst hier nicht herumstolpern, als wärst du in einem Schmetterlingshaus! Was ist los mit dir? Legst du es darauf an dich umbringen zu lassen?!“

„Jetzt beruhige dich mal, ich habe nur einen kleinen Fehler gemacht, sowas ist dir auch schon passiert, denn falls du es noch nicht weißt, du bist auch nicht perfekt.“

Reese machte einen drohenden Schritt auf mich zu. Ich wich nicht zurück.

„Jetzt pass mal genau auf: Hier geht es nicht um mich, hier geht es um dich. Ich habe mich nicht wie ein blutiger Anfänger angestellt, der sich nicht mal den eigenen Arsch abwischen kann. In der letzten Zeit baust du mehr Scheiße als andere kacken können und langsam habe ich die Schnauze voll davon, deine Unfähigkeit auszugleichen, nur weil du glaubst …“

„Hey, jetzt halten Sie sich mal ein wenig zurück“, mischte sich nun auch noch Lexian mit ein. „Es ist doch nichts weiter passiert.“

„Hat dich hier irgendjemand um deine verfickte Meinung gefragt? Halt dich gefälligst da raus, sonst kann es passieren, dass mir demnächst Mal die Hand ausrutscht.“

„Reese, hör auf ihn anzuschreien und komm endlich klar. Das ist nur ein harmloser Biss von einem Lumen.“

„Es interessiert überhaupt nicht, ob das ein Biss von einem Lumen oder einem anderen dummen Proles ist, das einzige was interessiert, ist, dass du so unkonzentriert bist, dass die Biester es überhaupt an dich herangeschafft haben! Mein Gott, wie kann man nach so langer Zeit noch immer so inkompetent sein?!“

Inkompetent? Inkompetent? „Du solltest aufpassen was du sagst“, knurrte ich mit mühsam beherrschter Stimme.

Natürlich tat er das nicht. Er zögerte nicht mal einen Augenblick, bevor er wieder über mich herfiel. „Warum, wenn ich doch recht habe?! Ich bin hier um Proles zu jagen, nicht um dienen Bodyguard zu spielen! Wie kann ich mich auf dich verlassen, wenn du nicht bei der Sache bist? Hä?! Glaubst du es macht mir Spaß mich ständig nach dir umdrehen zu müssen? Ich habe schon einen verdammten Praktikanten, ich brauche keine zweiten!“

Also langsam übertrieb er maßlos. „Ich bin kein Praktikant und das weißt du ganz genau.“

„Nein, stimmt, du hast recht, selbst Kjell stellt ich besser an als du.“ Er verzog abschätzig das Gesicht. „Vielleicht ist es langsam an der Zeit, dass du deinen Posten aufgibst und ich mir einen neuen Partner suche.“

Okay, ich verstand dass er sauer war, weil er sich Sorgen machte – so tickte Reese einfach – aber damit hatte er jetzt eindeutig eine Grenze überschritten. Nicht nur das er mich als Unfähig hinstellte, jetzt kam er mir auch noch auf die Tour? Bitte, das konnte er haben.

Ich straffte die Schultern und funkelte ihn an. „Du willst einen neuen Partner? Schön, ich werde dir nicht im Weg stehen. Sobald wir nachher in der Gilde sind werde ich mit Jilin sprechen, damit sie mich jemand anderem zuteilt.“ Mit einem wütenden Blick wandte ich mich von ihm ab, doch ich kam nicht mal einen Schritt weit, da hatte er mich auch schon wieder am Arm gepackt und zu sich herumgewirbelt.

„Das habe ich nicht gemeint und das weißt du ganz genau“, knurrte er.

„Nicht?“ Ich tat überrascht. „Dann willst du, dass ich alleine auf die Jagd gehe und genauso ein einsamer Wolf werde, wie du einer warst? Und du glaubst das steigert meine Überlebenschancen?“

„Hör auf dich dumm zu stellen!“

„Der einzige der sich hier dumm benimmt bist du und langsam habe ich die die Nase von deinen kindischen Wutausbrüchen gestrichen voll! Es war nicht das erste Mal dass ich verletzt wurde und es wird garantiert auch nicht das letzte Mal sein! Damit musst du langsam mal klar kommen, genauso wie ich damit klar kommen musst, dass auch du hin und wieder verletzt wirst, weil wir beide nun mal verdammte Venatoren sind! Also entweder kriegst du dich jetzt wieder ein, oder du lässt mich einfach in Ruhe!“ Ich riss mich von ihm los, kehrte ihm den Rücken und marschierte los.

Kein anderer Mensch auf dieser Welt schaffte es mich in so kurzer Zeit so wütend zu machen wie dieser Mann. Ein anderer Partner, ha! Das ich nicht lachte. Niemand anders außer mir hielt es mit ihm aus und ohne mich hätten die Proles ihn wahrscheinlich schon längst gefressen einfach um seine ständige miese Laune nicht mehr ertragen zu müssen.

Dieser verdammte Kerl sollte wirklich mal aufpassen was er sagte, sonst würde er irgendwann wirklich ganz alleine dastehen. Unfähigkeit. Inkompetent. Er konnte froh sein, dass ich ihm nicht den Kopf abgerissen hatte, aber wenn er nicht damit aufhörte mir diese wütenden Blicke zuzuwerfen, konnte das durchaus noch passieren. Und außerdem tat meine verdammte Hand weh!

Wütend sammelte ich meine Zettel und Reißzwecken zusammen und machte mich wieder an die Arbeit. Damit war der Nachmittag für uns alle gelaufen.

Die nächsten Stunden arbeiteten wir in einem unbehaglichen Schweigen zusammen, wobei meine Wut problemlos mit der von Reese mithalten konnte. Ich konnte es einfach nicht fassen, dass er mich derart beleidigt hatte und wenn ich nur daran dachte, würde ich ihm am Liebsten den Hals umdrehen.

Lexian hielt sich schlauerweise die ganze Zeit im Hintergrund.

Die Lumen sahen wir nicht wieder, dafür war bei unserem Feierabend aber das ganze Areal mit Gefahrenhinweisen zugekleistert. Wir würden morgen Früh nach dem Meeting in der Gilde wieder herkommen und das Gelände mit Fallen übersäen.

Bevor wir allerdings verschwinden konnten, mussten wir uns noch mal mit dem Kadavermann in Verbindung setzten. Erst als der die drei toten Lumen abgeholt hatte, konnten wir ins Auto steigen und uns auf den Weg in die Gilde machen.

Die Stimmung im Wagen war kühl und sowohl Reese als auch ich vermieden es uns anzuschauen. Zwar war meine Wut mittlerweile ein wenig verraucht, aber ich sah es gar nicht ein als erstes nachzugeben. Der Blödmann hatte mich beleidigt und dafür hatte er sich gefälligst zu entschuldigen.

Auf halben Wege in die Gilde fiel mir jedoch etwas ein, was mich dazu zwang das angespannte Schweigen zu brechen. „Denk dran mich bei Eve abzusetzen.“

Er warf mir aus dem Augenwinkel einen kurzen Blick zu, sagte aber nichts dazu.

Damit waren die einzigen Worte während der ganzen Fahrt gesprochen.

Ich starrte die ganze Zeit stur auf meiner Seite aus dem Fenster. Er sollte ruhig merken, dass er eine Grenze überschritten hatte und ich noch immer sauer auf ihn war. Selbst als wir vor Eves Wohnhaus hielten, strafte ich ihn mit kalter Gleichgültigkeit. Ich schnallte mich ab, öffnete die Tür und schob mich aus dem Wagen.

„Kommst du nachher nach Hause?“

Die Frage ließ mich kurz innehalten und fast hätte ich „Nein“ gesagte, einfach nur um ihm zu zeigen, wie sauer ich noch auf ihn war. Aber allein schon dass er mir diese Frage gestellt hatte, zeigte mir, wie besorgt er wegen unserem Streit wirklich war. Ich konnte gar nicht anders, als ein kleinen wenig nachzugeben.

„Ja, aber ich weiß noch nicht wann.“ Ich stieg aus und griff mit meiner unverletzten Hand nach der Tür.

„Ich hol dich ab, wenn ich in der Gilde fertig bin.“

Das konnte er ja mal sowas von vergessen. Er sagte hier nicht wo es langging. „Danke aber auch wenn ich völlig inkompetent bin, werde ich wohl in der Lage sein, den Weg nach Hause alleine zu finden – ganz ohne deine Hilfe.“ Bevor er dazu noch etwas sagen konnte, schlug ich dir Tür zu und kehrte ihm den Rücken. Dann hörte ich nur noch, wie Reese mit quietschenden Reifen davon fuhr.

Blödmann.

 

°°°

 

Evangeline und ihr Verlobter Mace wohnten in einem Altbau mit mehreren Wohnparteien. Altbauwohnungen waren wunderschön, doch der Nachteil war, dass es in diesen Häusern meist kein Fahrstühle gab und der Gang in die fünfte Etage konnte deswegen sehr anstrengend werden. Die beiden wohnten zu meinem Glück jedoch in der zweiten Etage, was bedeutete, dass ich nicht mein komplettes Lungenvolumen aufgebraucht hatte, als ich vor der Wohnung der beiden zum Stehen kam und anklopfte.

Es war als hätte Eve direkt hinter der Tür auf mich gelauert, denn kaum dass meine Knöchel das Holz berührten, wurde sie auch schon von innen aufgezogen.

„Garce!“ Ihr Überfall kam nicht überraschend. Sie riss mich so heftig an sich, dass ich mir fast noch die Nase an ihrer Schulter stieß. „Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Ich hab mir solche Sorgen im dich gemacht.“

„Übertreib nicht.“ Besonders nicht, nachdem wir die ganze letzte Woche gefühlt jeden Tag miteinander telefoniert hatten.

„Aber dir hätte sonst was passieren können.“ Sie hielt mich eine Armeslänge von sich weg und begann mich sehr ausgiebig zu mustern. „Du siehst echt schlimm aus.“

„Wenn du das schon schlimm findest, dann hättest du mich mal vor einer Woche sehen müssen.“ In der Zwischenzeit waren meine Blutergüsse zwar noch zu sehen, aber wenigsten waren sie verblasst und schillerten nicht mehr in allen Regenbogenfarben. Auch die anderen Verletzungen hatten zu heilen begonnen, Zwar trug ich am Bein noch immer einen Verband, aber die Kratzwunden an meinem Hals wurden nicht länger verdeckt. „Lässt du mich jetzt rein, oder soll ich wieder gehen?“

„Wage es ja nicht.“ Sie packte mich am Ärmel, und zog mich in die Wohnung, bevor ich wirklich noch auf die Idee kam das Weite zu suchen.

Die Bude von Eve und Mace war ungefähr doppelt so groß wie meine eigene. Die räume waren großzügig geschnitten und hell gehalten, ohne dabei steril zu wirken. Eve hatte ein Händchen für Dekorationen und das merkte man bereits hier im Flur.

„Willst du erst etwas trinken, oder gleich anfangen?“

„Lass uns erst das Video machen.“ Nicht das Reese doch noch hier auftauchte und wir dann noch nicht fertig waren.

„Dann komm, Mace ist in seinem Allerheiligsten.“

Grinsend entledigte ich mich meiner Sachen an der Gasrobe und folgte Eve dann nach hinten in Mace' eigenes kleines Reich. Eve konnte sich überall sonst in der Wohnung austoben, doch dort drinnen herrschte allein der Mann im Haus. Im Grunde war es nichts anderes als ein Hobbyraum für einen überqualifizierten Technikfreak. Und genau deswegen war ich auch hier. Mace besaß nämlich nicht nur eine vernünftige Videokamera, sondern auch die Fähigkeit, dieses Video anschließend unter die Leute zu bringen.

Und das war der Plan. Ich würde Malou Grabenstein öffentlich an den Pranger stellen und die Behörden so zum Handeln zwingen, denn dem Druck der Öffentlichkeit konnten sie sich nicht länger widersetzten. Allerdings würde das auch nur gelingen, wenn die Öffentlichkeit mir glauben würde.

Die Tür zu Mace' kleinem Hobbyraum war nur angelehnt. Die leise Musik daraus erreichte mich bereits hier auf dem Korridor

Eve hielt sich nicht lange mit Anklopfen auf. Sie drückte die Tür direkt auf und ging hinein. „Schatz? Grace ist da.“ Als er aufblickte, schlang sie von hinten die Arme um seinen Hals und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Also leg dein Spielzeug weg, du hast jetzt zu tun.“

Dafür das Mace bereits genauso alt war wie Reese, wirkte er noch extrem jung. Wenn man es nicht wusste, würde man ihn auf das gleiche Alter schätzen wie Eve und mich. Das konnte auch von seiner schlaksigen Gestalt kommen, aus der er nie rauszuwachsen schien. Genau wie seine Haare, waren auch seine Augen und seine Haut braun. Außerdem war er extrem tollpatschig. Es wunderte mich bis heute, dass er sich deswegen bei der Jagd noch nie selber umgebracht hatte.

Im Moment saß Mace an seinem Schreibtisch, der mit so viel Krempel überhäuft war, dass es mich in den Fingern juckte dort ein wenig Ordnung hinein zu bringen.

„Hi, Grace“, begrüßte er mich.

Ich hob die Hand. „Hey, alles klar?“

„Wahrscheinlich besser als bei dir.“

„Das ist ja auch keine große Kunst.“ Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Hinter der Tür waren mehrere Kartons aufgestapelt, aus denen allerlei Krempel und Kabel herausquollen. In der Ecke stand ein einsamer Sessel und direkt daneben eine lange Kommode, die mit allen möglichen Gerätschaften bedeckt war. Vom Boden fing ich besser erst gar nicht an. Nur so viel: Man musste aufpassen, wohin man trat.

„Ich geh uns mal etwas zu Trinken holen“, verkündete Eve und löste sich von ihrem Mann.

Mace drehte sich auf seinem Stuhl zu mir herum. „Willst du das wirklich machen?“

„Warum? Willst du mir nicht helfen?“ Das wäre sehr schlecht, denn ich kannte sonst niemanden, mit seinen Kenntnissen.

„Darum geht es nicht.“ Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und tippte sich mit dem Finger zwei Mal aufs Knie. „Aber nachdem was Eve mir erzählt hat … wenn du diese Geschichte öffentlich machst, wirst du damit vielen Leuten auf die Füße treten. Das kann ziemlich üble Konsequenzen haben.“

„Noch schlimmer als der Mordversuch? Oder die Polizei, die jetzt gegen mich ermittelt, weil sie glauben ich hätte meine Entführung nur inszeniert? Oder meinst du vielleicht den Verband, der im Moment alles daran setzt, um mich und Reese aus dem Job zu drängen und uns für etwas verantwortlich machen will, das wir nicht getan hatten?“

„Naja, wenn du es so ausdrückst, das klingt schon ziemlich übel.“

„Ist es auch.“ So übel, dass es kaum noch schlimmer werden konnte und genau deswegen wollte ich diesen Schritt wagen.

Natürlich hatte ich mir bereits Gedanken über die Konsequenzen gemacht. Ich war nicht dumm, aber die einzige Alternative die ich noch hatte, war, die ganze Sache zu vergessen und das konnte ich nicht. Für mich hieß es jetzt, alles oder nichts, anders ging es nicht.

„Na gut, wie du willst.“ Mace klopfte sich auf die Schenkel und erhob sich von seinem Stuhl. „Setzt dich auf den Sessel, ich baue die Kamera auf.“

Auf dem Sessel lagen zum Glück nur ein paar Kleinigkeiten, die ich Problemlos auf der Kommode ablegen konnte. Das Meiste davon waren irgendwelche elektronischen Bauteile, von denen ich absolut keine Ahnung hatte, wozu sie dienten – für mich sah das alles aus wie Müll. Wie Eve dieses Chaos ertragen konnte, war mir ein Rätsel. Wenn ich hier wohnen würde, würde ich schon die Krise kriegen, wenn ich die geschlossene Tür nur von außen betrachtete. Ein Glück für mich, dass ich nachher in meine eigenen vier Wände zurückkehren konnte.

Ich legte noch eine Art Schaltkreis oder was auch immer das war, zu den anderen Sachen und wollte mich gerade auf den Sessel setzten, als ich noch ein Handy entdecke, dass halb in der Ritze stecke. Damit es mir nicht unangenehm in den Hintern drücken konnte, zog ich es heraus und stellte dabei fest, dass nicht nur das Display gesprungen war, am unteren Rand hatte es auch ziemlich beschädigt. „Wow, was ist dem denn zugestoßen?“

Mace, der gerade ein Stativ für die Kamera aufstellte, warf einen kurzen Blick zu mir rüber, bevor er mit seiner Arbeit weiter machte. „Ein Majes hat draufgebissen, als ich versuchte ihm den Kopf abzuschlagen. Seit dem funktioniert es nicht mehr richtig.“

Ich hob eine Augenbraue. „Das Ding funktioniert noch?“

„Nur noch halb.“ Er ging zur Kommode, öffnete die Türen und holte eine wirklich teuer aussehende Videokamera heraus. „Ich kann Leute anrufen und auch angerufen werden, aber an den Lautsprechern muss etwas beschädigt sein. Mein Gesprächspartner versteht von mir zwar noch jedes Wort, aber umgekehrt höre ich gar nichts mehr. Ich will schauen, ob ich es reparieren kann.“

Zweifelnd legte ich es zu den anderen Sachen auf die Kommode. „Warum? Wäre es nicht viel einfacher sich ein neues zu kaufen?“ Schließlich war auch das Display und das Gehäuse kaputt.

„Wegen der Herausforderung.“ Er grinste mich jungenhaft an und machte sich dann daran die Kamera am Stativ zu befestigen. „Neu kaufen kann jeder, aber reparieren? Ich will einfach sehen, ob ich es schaffen kann.“

„Außerdem hat er sich bereits ein neues Handy gekauft“, fügte Eve hinzu, als sie mit drei Limoflaschen in den Raum zurück kam.

„Petze“, murmelte Mace, als er seine Flasche entgegen nahm.

Eve grinste nur und reichte mir die zweite. Mit der letzten ließ sie sich im Schneidersitz neben dem Schreibtisch nieder. „Er will das schon seit fast einem Jahr reparieren. Ich glaub nicht, dass er es wirklich irgendwann tun wird.“

„Doch, werde ich, sobald ich ein wenig Zeit habe.“

Hinter seinem Rücken verdrehte Eve nur die Augen und zeigte an, der er einen Vogel hatte.

Grinsend versuchte ich meine Flasche zu öffnen, stellte mich dabei aber wegen meiner Hand etwas ungeschickt an und hätte die Limo fast noch verschüttet. Ich hatte die Bisswunde am Wagen zwar mittlerweile gesäubert und verbunden, aber das hieß noch lange nicht, dass sie nicht mehr wehtat.

„So.“ Mace klappte das Display der Kamera auf und drückte ein paar Knöpfe. Oben drauf begann ein rotes Lämpchen zu leuchten. „Dann mach es dir mal bequem, damit ich die Kamera richtig einstellen kann.“

Oh richtig professionell. Einen Moment wusste ich nicht wohin mit meiner Limoflasche, stellte sie dann aber kurzerhand neben dem Sessel auf den Boden. Dann machte ich es mir bequem und versuchte dabei gleichzeitig glaubwürdig zu wirken.

„Okay, wenn du dann so weit bist, sag Bescheid und ich drücke auf Aufnahme.“

Das bekam ich hin. Aber zuerst musste ich überlegen, wohin mit meinen Händen. Am Ende legte ich sie mir einfach locker in den Schoß und schaute dann direkt in die Kamera. Noch einmal tief durchatmen. „Okay, kann losgehen.

„Aufnahme läuft.“

Na dann mal los.

Ich hatte mir bereits im Vorfeld überlegt, was genau ich sagen würde und jetzt würde sich zeigen, wie kameratauglich ich war. Auf jeden Fall Blickkontakt mit den Zuschauern halten. „Hallo, mein Name ist Grace Shanks. Ich bin Venatorin in Berlin und riskiere wie jeder meiner Kollegen auf der ganzen Welt jeden Tag mein Leben, um diese Stadt und die Anwohner darin vor der Plage der Proles zu schützen. Leider gelingt uns das nicht immer, aber wir machen trotzdem weiter, denn die Arbeit als Venator ist nicht nur ein Job, es ist eine Lebensaufgabe, der sich jeder einzelne von uns verschrieben hat. Wir sind die letzte Barriere zwischen den Monstern und den Menschen und wir tun alles in unserer Macht stehende, damit jeder Einzelne von Ihnen ein sicheres Leben führen kann.“

Hier machte ich eine kleine Kunstpause. „Leider birgt die Jagd nach den Proles auch für uns viele Gefahren. Wahrscheinlich sehen Sie sich gerade mein Gesicht an und stimmen mir zu, ich muss Ihnen jedoch mitteilen, dass nicht die Proles für meine Verletzungen verantwortlich sind, denn sie sind nicht die einzige Gefahr, die dort draußen auf einen Venator lauert. Es gibt eine Gruppierung von Fanatikern, die sich für den Schutz der Abkömmlinge stark macht und dabei oftmals weit übers Ziel hinaus schießt. Für manche von Ihnen mögen diese Leute nur Gestalten aus den Nachrichten sein, andere hatten bereits mit ihnen, oder den Folgen ihrer Taten zu tun, doch jeder weiß, wer sie sind: Live vor Animals.“

Auch das ließ ich einen Moment sacken. Noch einmal durchatmen und dann konnte es weitergehen. „Vor Kurzem habe ich das zweifelhafte Vergnügen gehabt die Anführerin dieser Gruppierung kennenzulernen. Ihr Name lautet Malou Grabenstein und das hier“, ich zeigte auf mein Gesicht, „verdanke ich ihr und ihren Methoden Probleme aus der Welt zu schaffen.“ Damit begann ich zu erzählen, was mir widerfahren war, angefangen mit dem Überfall auf die Transporter und dem sinnlosen Tod von Tiffany Sieger. Detailreich erklärte ich die Entführung, die Beteiligung von Malou und wie sie mich versuchte an die Iubas zu verfüttern. Auch Dinge die Malou zu mir gesagt hatte, ließ ich mit einfließen, damit die Leute sich ein genaues Bild von ihr machen konnten.

Das meine Stimme hin und wieder zitterte, verdanke ich meinen Erinnerungen, die mir bei meiner Erzählung wieder lebhaft vor Augen stand. Nur meine nächtlichen Alpträume, die behielt ich für mich.

Doch meine Geschichte endete nicht mit ihren Taten, auch die Behörden prangerte ich darin an, denn sie hatten trotz meine Zeugenaussage keinen Finger krumm gemacht, sondern mich stattdessen zur Schuldigen erklärt. „Wegen dem Einfluss und der Macht, die Malou Grabenstein besitzt, traut sich niemand ihr Paroli zu bieten und auch mir wurde gesagt, ich solle mich still verhalten und die Sache einfach auf sich beruhen lassen, aber davon abgesehen, dass ich nun wegen dieser Frau in argen Schwierigkeiten stecke, wie könnte ich diese Geschichte einfach vergessen? Sie ist nicht nur der Kopf von L.F.A., durch ihre Arbeit für die Proles, stellt sie auch für jeden anderen Menschen eine ernstzunehmende Gefahr dar. Das kann und werde ich nicht akzeptieren.“

Ich holte einmal Luft für meine Schlussworte. „Manche von Ihnen werden mir sicher nicht glauben, oder denken dass ich einfach nur versuche meine eigene Haut zu retten, er jeder von Ihnen hat sicher schon mal einen Verlust durch einen Proles erlitten. Manche dieser Proles konnten den Schaden nur anrichten, weil L.F.A. es mit seiner Arbeit ermöglicht hat. Warum also ist Geld und Status ein Schutz für Kriminelle? Wenn wir anfangen sowas zu erlauben, dann wird bald niemand mehr sicher sein. Ich danke Ihnen für ihre Aufmerksamkeit.“

Mit einem erleichterten Seufzen, sackte ich im Sessel zusammen. „Geschafft.“

„Und das sogar ziemlich gut“, sagte Mace und begann wieder an der Kamera herumzufummeln.

Eve klatschte in die Hände. „Das war fantastisch. Wenn wir das unter die Leute bringen, eröffnen wir damit eine Hexenjagd auf diese blöde Kuh. Der Polizei wird gar keine andere Wahl bleiben, als endlich etwas zu unternehmen.“

„Nur hoffentlich unternehmen sie dann etwas gegen diese Frau und nicht gegen Grace“, gab Mace zu bedenken und nahm die Kamera vom Stativ. „Das was du da erzählt hast, ist wirklich harter Tobak und kann dich in ernste Schwierigkeiten bringen.“

„Es ist die Wahrheit.“

„Trotzdem.“ Nachdenklich wog er die Kamera in seiner Hand. „Bist du dir wirklich sicher, dass ich das ins Internet stellen soll? Wenn ich das erst auf verschiedenen Plattformen und in Foren veröffentlicht habe, wird es kein Zurück mehr geben, das muss dir klar sein.“

„Meinetwegen kannst du auch versuchen das Video an Nachrichtensender zu schicken. Ich will diese Frau hinter Gittern sehen. Sie soll nie wieder die Chance bekommen jemanden zu schaden.“ Ich hatte schon Alpträume von der Entführung. Nur war es da Reese, der in den Wagen gezerrt wurde und nie mehr zu mir zurück kehrte.

Malou Grabenstein musste für das bezahlen, was sie getan hatte, vorher würde ich keine Ruhe mehr haben.

„Okay, wenn du dir absolut sicher bist, dann lade ich das Video mal hoch.“

„Bin ich.“

„Schön.“ Eve sprang auf die Beine, tänzelte durch den Raum zu mir rüber und schnappte sich meine Hand. „Dann haben wir beiden Hübschen nun Zeit, über meine Hochzeit zu sprechen.“

Na super, Gästelisten und Menüfolge, genau das was ich jetzt brauchte. Aber was tat man nicht alles für seine beste Freundin? Und nach Hause wollte ich im Moment sowieso noch nicht. Reese sollte ruhig noch ein wenig in seiner eigenen Suppe schmoren.

 

°°°

 

Es war das Geräusch der Kaffeemaschine, dass mich dazu brachte meine Augen einen ganz kleinen Spalt zu öffnen. Da wir aber Winter hatten und die Sonne sich noch eine ganze Weile nicht blicken lassen würde, machte das keinen großen Unterschied, also konnte ich sie genauso gut auch wieder schließen.

Warum zur Hölle lief die Kaffeemaschine schon? Der Wecker hatte doch noch gar nicht geklingelt.

Ohne einen weiteren Blick zu riskieren, wälzte ich mich auf den Rücken und streckte die Hand nach Reese' Schlafseite aus. Sie war leer und kalt. Meine Lippen wurden eine Spur schmaler. Ach darum lief sie also schon.

Ich war gestern erst sehr spät nach Hause gekommen, denn trotz meiner anfänglichen Bedenken hatte es mir Spaß gemacht Eves Hochzeit mit ihr zu planen. Mace hatte sich die ganze Zeit in seiner Höhle verkrochen und das Video auf so vielen Seiten wie möglich verbreitet. Anschließend war er noch so nett gewesen, mich nach Hause zu fahren.

Ja ich wusste, dass ich gesagt hatte, ich würde den Weg auch alleine nach Hause finden, aber als ich aufgebrochen war, hatten wir Mitternacht bereits hinter uns gelassen und ich hatte nicht mehr wirklich Lust gehabt, allein mit den öffentlichen Verkehrsmitteln durch die Stadt zu gondeln.

Wenig überraschend war Reese noch wach gewesen und hatte vor dem Fernseher gesessen, als ich die Wohnung betreten hatte, aber er war der Meinung gewesen, noch immer den verstimmten Brummbären spielen zu müssen, also hatte ich ihn ignoriert und war einfach ins Bett gegangen. Schlafen konnte ich jedoch erst, als er fast eine Stunde später nachgekommen war.

Ich hatte mich mit den Jahren so daran gewöhnt, ihn beim Schlafen neben mir zu haben, dass es mir ohne ihn immer sehr schwer fiel. Wahrscheinlich hatte auch nur deswegen das Geräusch der Kaffeemaschine mich aus meiner schönen Traumwelt holen können. Und jetzt wo ich wach war, würde ich auch nicht mehr einschlafen können.

Super.

Müde rieb ich mir die Augen und griff nach dem Wecker, um ihn abzustellen. Dann schwang ich die Beine aus dem Bett und taperte ohne das Licht einzuschalten hinaus auf den dunklen Flur. Schon von hier aus konnte ich sehen, dass in der Küche Licht brannte, also folgte ich ihm einfach und fand wie erwartet Reese, der mit einer Zigarette in der Hand an der Anrichte lehnte. Zu seinen Füßen saß Cheery und himmelte ihn an. Obwohl sie wahrscheinlich eher darauf hoffte, dass er ihr etwas zu fressen geben würde.

Reese trug nichts weiter als Shorts und wirkte tief in Gedanken, sah aber sofort auf, als ich den Raum betrat. Allerdings schien er sich in seinem ganz eigenen Dilemma zu befinden. Ich konnte sehen dass ihm der Streit leid tat und er die Sache zwischen uns aus der Welt schaffen wollte, aber wie immer konnte er nicht über seinen Schatten springen und blieb deswegen im Schweigemodus.

Manchmal war dieser Mann einfach nur schlimm. Oder vielleicht vertraute er ja auch einfach darauf, dass ich die Sache in die Hand nehmen würde – so wie ich es immer tat.

Und das noch bevor ich auf dem Klo gewesen war.

Also gut, ich hatte auch kein Interesse daran, den ganzen Tag mit einem schlecht gelaunten Reese unterwegs zu sein.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte mich an den Türrahmen. „Weißt du, so eine Entschuldigung tut nicht weh und kann alles sehr schnell wieder ins Reine bringen.“

Die Reaktion kam prompt, seine ganze Mine verfinsterte sich. „Warum soll ich mich entschuldigen? Ich habe recht gehabt, du warst unkonzentriert und hast Scheiße gebaut.“

Cheery wandte mit den Kopf zu und maunzte mich an. Dann schmiss sie ihren Motor an und begann schnurrend um meine Beine zu streichen.

„Aber das ist noch lange kein Grund mich gleich zu beleidigen und die Situation zu nutzen, um mich aus dem Job zu drängen.“

Um mir nicht in die Augen sehen zu müssen, klopfte er seine Zigarette am Aschenbecher ab und nahm erstmal einen Zug. „Ich habe dich nicht aus dem Job gedrängelt.“

So wollte er es jetzt halten? Wirklich? „Du hast mir unterschwellig erklärt, dass ich mir eine andere Arbeit suchen soll.“

Nein, dem brauchte er nichts hinzufügen, wir wussten beide dass ich recht hatte.

Ich stieß mich vom Türrahmen ab, stolperte dabei fast über die Katze und ging zum Hängeschrank, um mir ein Glas herauszunehmen.

Unsere Küche war klein und mit zwei Leuten darin fast schon überfüllt. Links ein Kühlschrank, rechts der Herd, geradezu eine kleine Anrichte mit Waschbecken und darüber die Hängeschränke. Da wir sowieso viel unterwegs waren und unser kochen hauptsächlich darin bestand eine Tiefkühlpizza in den Ofen zu schieben, reichte uns das auch völlig aus.

„Als wir uns kennenlernten wusstest du, dass ich Venator werden wollte. Auch als wir zusammen kamen, war dir das bewusst.“ Ich füllte mein Glas am Waschbecken, nahm einen Schluck und lehnte mich dann neben ihm an die Anrichte. „Du hast mich jahrelang ausgebildet, damit ich genau das sein kann und jetzt fängst du wieder mit dem Blödsinn an, dass Frauen in diesem Beruf nichts zu suchen haben? Ich dachte das hätten wir hinter uns.“

Seine Lippen wurden schmal und wieder nutzte er seine Zigarette, um meinem Blick auszuweichen. Er hatte eindeutig ein schlechtes Gewissen. „Es geht nicht darum, dass du eine Frau bist.“

„Ach nein? Worum geht es dann?“

Er zögerte einen Moment und schüttelte dann den Kopf, als wollte er einen Gedanken loswerden.

„Reese.“

„Mein Gott, ist ja gut. Es geht darum, dass du meine Frau bist“, gab er dann zu und drückte verärgert seine Zigarette in den Aschenbecher. „Ich hätte dich innerhalb weniger Tage fast zwei Mal verloren und das wäre nicht passiert wenn du in irgendeinem Supermarkt an der Kasse gearbeitet hättest.“

Da hatte er leider Recht – zumindest was diese beiden Fälle betraf. „Du weißt genauso gut wie ich, dass Proles überall auftauchen können, auch in einem Supermarkt. Doch wäre ich dort Kassiererin, hätte ich weder die Fähigkeiten noch die Waffen um mich gegen diese Gefahr zu schützen. Um das zu erreichen was du willst, müsste ich mich in einen kleinen Raum ohne Fenster einsperren und dürfte dort niemals herauskommen.“

Seine Kiefer mahlten angespannt, aber wenigstens hörte er mir zu.

„Ich möchte nicht, dass du dir Sorgen um mich machst, aber ich werde mich auch nicht lebendig begraben, um möglichen Risiken aus dem Weg zu gehen.“

„Das sind mehr als nur mögliche Risiken“, fuhr er mich ungehalten an. „Du bist eine verdammte Venatorin, du gehst direkt auf die Gefahr zu und jedes Mal wenn du das tust, könnte es dein letztes Mal gewesen sein. Normalerweise komme ich damit klar, denn du bist aufmerksam und kannst auf dich aufpassen, aber in letzter Zeit bist du nicht mehr bei der Sache. Wie oft soll ich noch darum bangen, ob du lebst oder stirbst?“

„So oft wie es eben nötig ist.“ So einfach war das, denn eine andere Antwort gab es nicht.

Auch hätte ihn wegen einer misslungenen Jagd einmal fast verloren und auch ich hatte an seinem Bett gesessen und seine Hand gehalten. Das war bei uns beiden nun mal so.

„Ich bin Venator und ich werde eine Veantor bleiben, genau wie du.“ Ich stellte mein Glas ab und gab ihm einen Kuss auf die stoppelige Wange. „Das ist unser Los und wir müssen beide damit leben.“

„Ich hasse das.“

Ja, auch für mich war das nicht immer ganz einfach. „Ich geh duschen, du kannst ja schon mal Cheery füttern, bevor sie noch glaubt, wir hätten sie vergessen.“

Ich verließ die Küche und konnte endlich das Klo aufsuchen – meine Blase war mir dankbar.

Während ich mich auszog und unter die Dusche stellte, begann ich mich zu fragen, ob sich irgendwer bereits mein Video angesehen hatte und was er davon hielt. Es war zwar schon ein paar Stunden im Netz, aber es war schon ziemlich spät gewesen, als Mace es online gestellt hatte und die meisten Menschen schliefen Nachts bekanntlich. Ich hoffte nur, dass es den gewünschten Effekt haben würde und begann mich gleichzeitig zu fragen, wie Reese es wohl aufnehmen würde.

Da ich unsere schmutzige Wäsche praktisch in der Öffentlichkeit ausbreitete, würde sich seine Begeisterung sicher in Grenzen halten, aber wenn ich ihm erstmal erklärt hatte, warum ich es getan hatte und was ich damit bezweckte, würde er es schon verstehen. Aber ich musste einen guten Moment abpassen, um es ihm zu sagen. Einfach so mit der Tür ins Haus zu fallen, würde bei ihm sicher nicht so gut ankommen.

Nachdem ich ausgiebig das warme Wasser genossen hatte, stellte ich den Hahn ab und verließ die Dusche. Ich wickelte mich in ein Handtuch, sammelte noch meine Klamotten zusammen, um sie direkt in die Waschmaschine zu stopfen und nahm mir vor die Maschine nachher noch zu starten.

Als ich ein paar Minuten später dann vor unserem offenen Kleiderschrank im Schlafzimmer stand und versuchte zu entscheiden, was ich anziehen sollte, trat Reese ein. Einen Moment blieb er etwas unschlüssig mitten im Raum stehen, doch während ich ihn abwartend beobachtete, nahm die Entschlossenheit in seinem Gesicht stetig zu.

„Du musst mir versprechen vorsichtiger zu sein.“

Wir waren also noch immer bei unserer kleinen Diskussion. „Ich werde es versuchen.“

„Nein, das reicht mir nicht. Ich will dein Versprechen.“

Auf in die nächste Runde. „Ich werde dir nichts versprechen, was ich vielleicht nicht halten kann. Du weißt genauso gut wie ich, dass wir während der Jagt manchmal nur Bruchteile von Sekunden haben, um eine Entscheidung zu treffen und das vieles von dem was wir dann tun, rein aus unsrem Instinkt heraus geschieht. In solchen Situationen haben wir nicht die Zeit erst lange über ein Problem nachzugrübeln, damit würden wir nicht nur die gefährden, die wir schützen wollen, sondern auch uns selber.“

Das gefiel ihm nicht und ich rechnete schon mit einem neuerlichen Ausbruch seinerseits. Umso überraschter war ich, als er einmal tief durchatmete, bevor er den Mund wieder öffnete. Offensichtlich wollte er den wackligen Frieden zwischen uns nicht gefährden. „Dann versprich mir wenigstens, dass du ein wenig defensiver arbeiten wirst und nicht immer mitten in die Gefahr hinein springst.“

„Du meinst, so wie du?“ Ich ließ meine Klamotten, Klamotten sein und wandte mich zu ihm um. „Reese, es tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe, aber das einzige was ich dir versprechen kann, ist, dass ich so vorsichtig sein werde, wie es mir möglich ist. Ich bin nicht Venator geworden, um vom Randstreifen aus zuzusehen, wie andere meine Arbeit erledigen. Ich will den Menschen helfen.“

Seine Kiefer begannen wieder zu mahlen. Es war ihm anzusehen, wie er angestrengt versuchte ruhig zu bleiben.

„Aber eines kann ich dir versprechen: Ich werde wieder konzentrierter arbeiten. So was wie gestern wird nicht nochmal passieren.“

Zwar entspannte er sich daraufhin ein wenig, doch von Erleichterung konnte nicht wirklich die Rede sein. „In Ordnung, belassen wir es dabei. Ich geh duschen.“

„Nicht so schnell.“ Mit zwei Schritten war ich bei ihm und schnappte mir seine Hand, damit er nicht so einfach verschwinden konnte. „Du schuldest mir immer noch eine Entschuldigung.“

Er schaute mich so finster an, als hätte ich ihn gerade persönlich beleidigt. Es war ja auch unerhört von mir, weiterhin darauf zu bestehen. Doch dann beugte er sich vor und versuchte mit Taten das auszudrücken, was er nicht in Worte fassen konnte.

Der Kuss war lang, ausgiebig und sehr intensiv und als er endete, drehte sich mir ein wenig der Kopf. „Okay“, murmelte ich mit rauer Stimme und musste mich kurz räuspern, damit ich nicht so hin und weg wirkte. „Entschuldigung angenommen.“

Ein spitzbübisches Lächeln erschien auf seinen Lippen und ließ den Morgen damit gleich viel freundlicher erscheinen. „Darf ich dann jetzt endlich duschen gehen?“

Endlich! Als wenn ich ihn seit Tagen vom Bad fernhalten würde. Ich winkte ihn großmütig weg. „Hinfort mit dir, du bärbeißiger Mann. Ich muss mich eh noch anziehen.“

Erst bei diesem Worten schien ihm wirklich bewusst zu werden, dass ich in nichts als einem Handtuch vor ihm stand. Sofort wirkte er ein wenig interessierter.

„Nein“, sagte ich und ging eilig zum Kleiderschrank. „Heute ist das Monatsmeeting, da können wir es uns nicht leisten zu spät zu kommen und wenn wir damit erst anfangen, dann können wir froh sein, wenn wir noch vor dem Ende dort auftauchen.“

Reese seufzte, als sei ich der größte Spielverderber der Welt, verließ zu meinem Glück jedoch das Schlafzimmer.

Puh, das war knapp gewesen, wir würden also doch pünktlich sein.

Danach verlief der Morgen geradezu harmonisch und das so kurz nach einem Streit – es war fast erschreckend. Wenn doch nur jeder Tag so sein könnte.

Als wir später die Gilde erreichten, war es schon kurz nach halb neun. Die Sonne war erwacht und das Gebäude platzte beinahe aus allen Nähten, da wegen dem Meeting die meisten Venatoren in der Gilde waren. Madeline schickte m Moment nur Leute auf akute Notfälle, alle anderen mussten an der Besprechung teilnehmen.

Ich grüßte die Leute im Vorbeigehen und kämpfte mich zu meinem Schreibtisch durch, wo ich meine Jacke ablegte und die Notizen durchging, die man mir auf den Schreibtisch gelegt hatte. Es waren drei Stück. Die erste besagte, ich solle noch einen Bericht zu dem Auftrag mit den Toxrins verfassen. Nicht nur weil ich dort verletzt wurde, sondern auch wegen dem seltsamen Rudelverhalten.

Was auf der dritten stand, erfuhr ich vorerst nicht mehr, denn ich ließ sie überrascht zusammen mit der ersten auf den Schreibtisch fallen, als ich die wenigen Worte auf der zweiten Notiz las.

 

Wynn bittet um Rückruf

 

Also entweder leistete sich da jemand einen grausamen Scherz, oder meine kleine Schwester lenkte endlich ein.

Ich wagte noch nicht zu hoffen, drehte den Zettel sogar einmal hin und her, falls da noch etwas stand, aber es waren nur diese vier kleinen Worte. Sollte ich es wirklich wagen? Unsere letzte Begegnung war ja nicht unbedingt von Freude überstrahlt gewesen, warum also sollte ich sie anrufen?

Stirnrunzelnd betrachtete ich die Nachricht. Die Handschrift gehörte Madeline, also musste sie sie auch geschrieben haben.

„Was ist los?“

Ich schaute auf und bemerkte, dass Reese mich von seinem Schreibtisch aus beobachtete.

„Nichts, nur … ich muss mal kurz mit Madeline sprechen.“ Entschlossen bahnte ich mir einen Weg nach vorne zum Tresen, wo Madeline leider gerade am Telefon hing und mit deinem Kunden sprach. Ungeduldig ließ ich mich auf dem Stuhl neben ihr nieder, damit sie auch sofort verstand, dass ich etwas von ihr wollte.

Sie warf mir zwar einen irritierten Blick zu, ließ sich aber nicht drängeln. Erst als sie den Anruf beendet hatte, wandte sie sich mir zu. „Was gibt es?“

Ich hielt ihr den Zettel direkt vor die Nase. „Du hast den geschrieben.“ Keine Frage, eine Feststellung.

Sie las die kurze Nachricht und nickte dann. „Ja, am Telefon war eine junge Frau, die darum bat dich zu sprechen. Als ich ihr sagte, dass du noch nicht hier bist, hat sie mich gebeten, dir diese Nachricht zu hinterlassen.“

„Und sie hat wirklich gesagt, dass sie Wynn heißt?“

Madeline nickte, runzelte dann aber die Stirn. „War das falsch? Sollte sie noch mal anrufen, könnte ich sie abwimmeln, dann …“

„Nein!“, rief ich sofort und riss dabei sogar panisch die Hände hoch. Und dann merkte ich, was ich da machte. „Sorry, ich … ich war einfach nur überrascht.“ Mein Blick senkte sich auf den Zettel. „Ich hätte niemals gedacht, dass sie sich bei mir melden würde.“ Nicht nach alles was zwischen uns stand.

„Also langsam machst du mich neugierig.“

Ich lächelte ein wenig schief. „Wynn ist meine kleine Schwester.“

„Oh“, machte sie nur. Sie war eine der wenigen, die wusste, dass es da noch jemanden aus meiner Familie gab und sie wusste auch, dass wir keinen Kontakt mehr miteinander hatten.

„Danke“, sagte ich, drückte kurz ihre Schulter und kehrte dann an meinen Schreibtisch zurück. Leider wusste ich nicht genau, wie ich mich fühlen sollte. Aber ich wusste, was ich nun tun würde und zückte mein Handy.

„Sagst du mir jetzt was auf dem Zettel steht?“, kam es von der Seite.

Ich zögerte, weil ich genau wusste, was Reese davon halten würde, reichte ihm dann aber den Zettel und bekam genau das was ich erwartetet hatte. Seine Lippen wurden schmaler und mit einem Mal wirkte er nur noch unzufrieden.

„Ruf sie nicht an.“

„Ich wusste dass du das sagen würdest.“

„Und das aus gutem Grund. Wynn ist eine egozentrische Diva, da kann nichts Gutes bei rauskommen.“

„Sie ist meine Schwester.“ Ohne ihn weiter zu beachten, durchsuchte ich mein Adressbuch nach ihrer Nummer und wählte dann. Mein Herz begann sofort einen Tick schneller zu schlagen. Mein Gott, wie konnte ein Anruf mich gleich so nervös machen?

Es klingelte, drei Mal, vier Mal, dann wurde am anderen Ende abgenommen.

„Jo?“

Okay,das war schon mal nicht meine kleine Schwester. Es war zwar eine Frau, aber die Stimme war viel zu tief. „Hey, könnte ich mal bitte mit Wynn sprechen?“

„Geht nicht, die ist arbeiten.“

Ach verdammt, daran hatte ich gar nicht gedacht. „Oh, ähm … ab wann kann ich sie erreichen?“

„So ab vier oder fünf, da müsste sie wieder da sein.“

„Okay, danke, dann versuche ich es dann noch mal.“

„Kein Problem, bis dann.“

Ich beendete den Anruf und lies seufzend das Handy sinken. Arbeiten, super. Da wollte sie nun mal endlich mit mir sprechen und dann konnte ich sie nicht erreichen. Sei es wie es sei, dann würde ich eben erst heute Nachmittag mit ihr sprechen. Ich hatte jetzt drei Jahre darauf gewartet, ein halber Tag machte da auch keinen großen Unterschied mehr.

Als ich mein Handy zurück in meine Hosentasche schon, bemerkte ich, dass Reese mich noch immer aufmerksam im Auge behielt. „Hör auf mich anzuschauen, als wolltest du mein Hirn sezieren.“

Er schnaubte, knüllte den Notizzettel zusammen und ließ ihn in seinen Mülleimer fallen. „Ich verstehe nicht, warum du dir das wieder antun willst.“

„Weil sie die einzige Familie ist, die ich noch habe, darum.“

Seine Lippen kräuselten sich spöttisch, doch sein Blick wurde hart. „Die einzige Familie, ja? Gut zu wissen.“

Super. „Du weißt genau wie ich das gemeint habe, also fang jetzt ja nicht so an. Wynn ist meine Schwester und wenn sie mir die Chance gibt die Sache zwischen uns ins Reine zu bringen, dann werde ich die sicher nicht ungenutzt verstreichen lassen, nur weil du sie nicht magst.“

„Ich mag sie aus gutem Grund nicht.“

Wenn man es ganz genau nahm, mochte Reese so gut wie niemanden. „Was würdest du tun, wenn du an meiner Stelle wärst und Nick an Wynns? Würdest du deinen Bruder auch so einfach fallen lassen, nur weil deine Freundin ihn nicht leiden kann?“

„Das kannst du nicht vergleichen. Nick hat zwar eine Menge Scheiße gebaut, aber sich niemals von der Familie abgewandt, weil er mit sich selber nicht klar kam.“

Ich setzte gerade zu einer Erwiderung an, als ich ein vertrautes Gesicht mit zwei dicken Veilchen und einer gebrochenen Nase, auf uns zukommen sehen sah. „Kjell!“, rief ich, sprang vom Stuhl auf und überraschte uns wohl beide damit, dass ich ihn einfach in die Arme riss. Bis jetzt war mir gar nicht klar gewesen, was für Sorgen ich mir um ihn gemacht hatte. „Mein Gott, wie geht es dir?“, fragte ich und begann ihn intensiv zu mustern. Ich entdeckte ein paar Blutergüsse, Abschürfungen und Kratzwunden, aber nichts schlimmeres.

„Äh“, machte er etwas skeptisch und trat einen Schritt zurück, sobald er die Möglichkeit dazu hatte. „Es geht schon.“ Er warf einen kurzen Blick zu Reese, der uns argwöhnisch beobachtete. „Tut mir leid, dass ich dir nicht helfen konnte.“

„Du entschuldigst dich? Haben die dir einen Schlag gegen den Kopf versetzt? Du musstest mit zwei von diesen Kotzbrocken gleichzeitig fertig werden. So wie die auf dich eingeprügelt haben, ist es ein Wunder, dass sie dir nicht alle Knochen im Leib gebrochen haben.“

„Du übertreibst“, murmelte er und wirkte mit einem Mal verlegen.

Ich schnaubte. „Bestimmt nicht. Als wir weggefahren sind, habe ich einen Moment sogar geglaubt, dass sie dich totgeprügelt hätten.“

„Nein, alles gut.“

Reese gab ein ungeduldiges Geräusch von sich und erhob sich von seinem Stuhl. „Es wird Zeit für das Meeting“, verkündete er und schob sich direkt zwischen Kjell und mir durch, sodass wir ein wenig auseinander gedrängt wurden.

Fast hätte ich die Augen verdreht, beließ es dann aber bei einem Kopfschütteln und folgte ihm zusammen mit Kjell.

Das Meeting fand im großen Konferenzraum statt, doch auch wenn es der große war, wirkte er mit den ganzen Venatoren darin trotzdem ziemlich klein. Die meisten Sitzplätze waren schon belegt und gut die Hälfte von uns würde wie immer stehen müssen.

Ich grüßte Aziz im Vorbeigehen und winkte Daniel zu. Der Praktikant von Alexis, dieser William lehnte mir verschränkten Armen an der Wand und beobachtete mich einen Moment, bevor er seinen Blick nachdenklich zu Reese gleiten ließ.

Neugierig, wer sonst noch alles hier war, schaute ich mich um und entdeckte Jilin unweit von uns, als sie sich gerade zu uns umdrehte. Sie sah uns, der Ausdruck auf ihrem Gesicht finster, dann hob sie den Arm und zeigte genau in unsere Richtung. „Du, ab in mein Büro, sofort!“

Reese stöhnte genervt. „Warum, was habe ich jetzt schon wieder getan?“

„Nicht du, sie.“ Ihr Finger ruckte etwas nach rechts.

Ich drehte mich herum, um zu sehen, auf wen sie zeigte. Reese drehte sich um, Kjell, drehte sich um, alle im Raum drehten sich um, doch der Türrahmen hinter mir war seltsamerweise leer.

„Herrgott noch mal, ich meine dich, Grace.“

Überrascht wandte ich mich ihr wieder zu. „Mich?“ Warum? Ich wusste genau, dass ich nichts angestellt hatte. Aber vielleicht ging es ja auch gar nicht darum, dass ich etwas Falsches getan hatte. „Geht es um Malou? Haben die Anwälte sich gemeldet?“

„Büro“, wiederholte sie nur und marschierte dann mit steinerner Mine an mir vorbei.

„Also irgendwie kommt sie mir verärgert vor“, murmelte ich und deutete Kjell hier zu bleiben, bevor ich ihr folgte.

Reese schloss sich mir natürlich an. „Ich hoffe du hast nichts ohne mich angestellt.“

„Das hoffe ich auch.“ Ich wüsste auch nicht was ich getan haben könnte, um Jilin so zu verärgern.

Als ich direkt vor Reese das Büro betrat, stand Jilin bereits an ihrem Schreibstich und klappte gerade ihren Laptop auf. Was genau sie daran machte erfuhr ich jedoch erst, als sie ihn zu uns herumdrehte und mir vom Bildschirm mein eigenes Gesicht entgegen sah. „Erklär mir das“, forderte sie und drückte eine Taste um das Video zu starten. Sofort durchdrang meine Stimme den Raum.

Hallo, mein Name ist Grace Shanks. Ich bin Venatorin in Berlin und riskiere wie jeder meiner Kollegen auf der ganzen Welt jeden Tag mein Leben, um diese Stadt und die Anwohner darin vor der Plage der Proles zu schützen …“

 

°°°°°

 

Kapitel 14

 

Als ich mir selber dabei zuhörte, wie ich die Milliardärin Malou Grabenstein öffentlich an den Pranger stellte, versuchte ich die Reaktionen von Jilin und Reese abzuschätzen. Jilin war ganz offensichtlich sauer. Um das zu wissen, musste ich ihr nicht mal ins Gesicht schauen.

Reese dagegen … er schien ein wenig verwirrt, dass das legte sich langsam, als er meiner Erzählung aus dem Computer lauschte. Ihm wurde zusehend klar, was genau ich da aufgenommen hatte. „Was ist das?“, wollte er von mir wissen.

Mist, so hätte er es eigentlich nicht erfahren sollen. Ich wollte das alles ganz entspannt am Abend machen, wenn er müde war und gegessen hatte und vielleicht schon halb schlief.

„Shanks?“, drängte er, als ich zögerte.

„Grace hat ein Video gedreht, in dem sie Malou Grabenstein als Diebin, Entführen, Mörderin und Anführerin von Live for Animals bloßstellt“, erklärte Jilin. Dabei drückte sie eine Taste auf dem Laptop, der das Video stoppte. „Und dann hat sie das Ganze im Internet veröffentlicht, damit es auch jeder sehen kann.“

Also genaugenommen war ich das nicht gewesen, aber das war im Moment vermutlich nicht wirklich von Bedeutung. Viel mehr interessierte mich Reese Reaktion. Aber da kam nichts. Er stand einfach nur da, schaute Jilin an und schwieg.

Oh je, ich hatte Reese sprachlos bekommen. Das war sicher kein gutes Zeichen.

Es dauerte mehrere Sekunden, bis Reese die Hand hob, sich über den Mund strich und sie dann wieder fallen ließ. „Kannst du das noch mal wiederholen? Ich muss da etwas missverstanden haben.“

„Nein hast du nicht. Grace hat öffentlich verkündet, dass Frau Grabenstein eine gemeingefährliche Kriminelle ist und im gleichen Zug hat sie den Behörden unterschwellig Korruption vorgeworfen, da diese trotz ihrer Aussage nicht gegen diese Frau vorgegangen sind.“

Sehr langsam drehte Reese sich zu mir. Sein Gesicht war bar jeden Ausdrucks. „Sag mir, dass du das nicht getan hast.“

Da ich das nicht konnte ohne zu lügen, ich seine Wut aber auch nicht wecken wollte, verschränkte ich nur still die Arme vor der Brust und sah ihn herausfordernd an.

Reese schnaubte. Er lief einmal auf und ab und blieb dann fast an der gleichen Stelle wieder stehen, um mich böse anzugucken.

„Hör auf damit, ich habe nur getan, was ich tun musste.“

„Was du tun musstest?“, fragte Jilin ungläubig. Sie wandte sich Reese zu. „Du warst dabei gewesen, als ich ihr gesagt habe, sie soll die Füße still halten, oder?“

„Ja.“ Das Wort war ein halbes Knurren.

„Das ist also keine Ausgeburt meiner Phantasie?“

„Nein.

Wie witzig die beiden doch waren. „Ist ja gut, ich hab es verstanden, ich seid von meiner Aktion nicht besonders begeistert.“

„Nicht besonders begeistert?!“, explodierte Reese und damit war die Ruhe vorbei. „Das ist öffentlicher Rufmord an einer verdammten Milliardärin! Um es mal klar zu sagen: Du hast richtig Scheiße gebaut!“

Meine Lippen wurden schmal. „Was hätte ich denn sonst tun sollen?“, fragte ich. Ich würde mich nicht in die Defensive drängen lassen, ich hatte nichts falsch gemacht. „Sie hat mich nicht nur entführen lassen, sie hat auch versucht mich umzubringen und nur weil sie ein bissen Kohle auf dem Konto hat, interessiert sich keine Sau dafür. Ich konnte sie doch nicht einfach so davonkommen lassen, ich musste etwas unternehmen.“

„Aber doch nicht das! Willst du uns ruinieren? Dann herzlichen Glückwunsch, du bist auf dem besten Weg!“

„Du übertreibst.“

„Ich übertreibe?!“ Reese sah aus, als wenn ihn gleich der Schlag treffen würde. „Und das kommt ausgerechnet von dir, nachdem du sowas getan hast?!“ Sein ausgestreckter Finger zeigte auf den Laptop.

„Reese hat recht“, mischte Jilin sich ein. „Du hast wirklich Scheiße gebaut. Mit diesem Video gefährdest du nicht nur das ganze Verfahren gegen Frau Grabenstein, du bringst auch die Behörden gegen dich auf. Noch dazu erhielt ich vor einer halben Stunde vom Verband einen Anruf, in dem sie gefordert haben, dich mit sofortiger Wirkung zu suspendieren, damit wir uns öffentlich von die distanzieren können.“

„Was?“ Meine Arme öffneten sich. „Das meinst du nicht ernst. Weder der Verband, noch die Gilde haben etwas damit zu tun.“

„Natürlich haben wir damit zu tun. Du behauptest sie hat einen Zoo voller Proles, wir sind Venatoren, warum also …“

„Ich behaupte es, weil es wahr ist!“

„Es ist egal warum du es behauptest, ich habe dir gesagt, du sollst dich still verhalten und dann machst du sowas? Seit wann handelst du so impulsiv? Ich habe mit Engelszungen auf den Vorstand des Verband einreden müssen, damit du mit einer Verwarnung davonkommst, aber wenn du dir nur noch eine einzige Sache zu schulden kommen lässt, dann kann ich nichts mehr für dich tun. Und jetzt muss ich irgendwie versuchen Schadensbegrenzung zu betreiben, aber ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wo genau ich damit beginnen soll.“

„Dann lass es halt“, fuhr ich sie an. „Ich habe dich nicht darum gebeten.“ Ich hatte diese Standpauke so satt. Wenigstens hatte ich etwas unternommen, ganz im Gegenteil zu ihr.

Jilin kniff die Augen leicht zusammen. „Du willst da alleine durch? Wirklich? Hast du eigentlich eine Ahnung, was für einen Stein du damit ins Rollen gebracht hast und was noch alles auf dich zukommen kann? Von einem Verfahren wegen Rufmord abgesehen, könnte die Polizei hier jeden Moment einmarschieren und dich einfach festnehmen.“

„Dann würden sie wenigstens endlich mal etwas tun und nicht nur faul auf ihren Ärschen sitzen!“

„Bist du jetzt völlig verrückt geworden?!“, fuhr Reese mich an. „Du willst in den Knast? Ist es das, worauf du abzielst?“

„Ich will das jemand etwas gegen diese Frau unternimmt, aber da sich scheinbar niemand dafür verantwortlich fühlt, habe ich die Sache eben in die Hand genommen. Jetzt kann die Polizei nicht mehr länger wegschauen.“

„Ja, aber sie werden nicht in ihre Richtung schauen, sondern in deine!“

„Hör auf mich anzuschreien, von dir hab ich ja auch keine Hilfe bekommen.“

Dafür bekam ich einen wirklich mörderischen Blick.

„Was ist? Siehst du das etwa anders? Du hast nichts getan, rein gar nichts! Du hast keine Ahnung wie das war, gefesselt in diesem Van zu sitzen, mit diesen drei Männern, die mich ständig bedroht haben. Wusstest du, dass einer der Mistkerl mich begrapscht hat? Deswegen habe ich das blaue Auge. Ich habe mich gegen ihn gewehrt und das fand er nicht lustig! Und dann muss ich mir von dieser fanatischen Frau anhören, was für tolle Geschöpfe Proles doch sind, direkt bevor sie mich an diese scheiß Viecher verfüttern will! Ich habe Stundenlang in diesem Gehege gesessen und die ganze Zeit eine scheiß Angst gehabt, weil ich ständig damit rechnen musste, dass die Iuba sich auf mich stürzen und mich bei lebendigem Leib zerreißen! Niemand war da und hat mir geholfen, ich musste da ganz alleine rauskommen! Und als ich dann endlich in Sicherheit bin, werde ich plötzlich beschuldigt, die Böse zu sein! Niemand glaubt mir, niemand steht mir zur Seite, ja selbst du hast mich im Stich gelassen!“

„Das ist eine Lüge“, knurrte er.

„Ist es gar nicht! Du hast nichts getan und trotzdem erdreistest du dich jetzt vor mir zu stehen und mich zu kritisieren?! Du hast schon so oft Scheiße gebaut, dass ich es gar nicht mehr zählen kann, aber ich habe immer zu dir gestand und dir geholfen! Und jetzt könnte ich mal deine Hilfe und deine Unterstützung gebrauchen, aber du schreist mich nur an!“

„Ich schreie ich an, weil dass wohl das Dümmste war, was du in deinem ganzen Leben getan hast! Mit dieser Geschichte reitest du nicht nur dich in die Scheiße, sondern uns alle!“

„Das ist dein Problem?“, fragte ich fassungslos und hätte fast aufgelacht. „Du hast Angst mit in die Sache hineingezogen zu werden?“

„Mein Problem ist, dass du völlig am durchdrehen bist, seit du von diesen verdammten Iubas erfahren hast! Du riskierst nicht nur deinen Job, du riskierst deine Freiheit, ja sogar dein Leben und das nur, weil an deinem beschissenen Rachedurst nicht vorbeischauen kannst! Und jetzt eröffnest du auch noch eine Hetzjagd auf diese Schlampe! Du bist verdammt noch mal Venatorin, L.F.A. geht dich einen Dreck an!“

„L.F.A. geht jeden etwas an, die sind schlimmer als die Mafia!“

„Als wenn das der Grund wäre, der dich antreibt! Das alles ist doch nichts weiter als ein verdammter Rachefeldzug, gegen die Iubas, die deine Familie getötet haben! Nur weil diese Viecher bei dieser Tussi sind, lässt du dich zu diesem ganzen Schwachsinn hinreißen! Aber deine Eltern sind tot, Shanks, sie liegen unter der Erde und vergammeln! Es geht ihnen einfach mal am Arsch vorbei, ob du dir für sie das Leben ruinierst! Komm endlich darüber hinweg!“

Seine Worte waren wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Ich wich einen Schritt vor ihm zurück und schaffte es gerade noch so eine neutrale Mine zu behalten. Ich würde ihm nicht zeigen, wie sehr er mich gerade verletzt hatte und ich würde ihm auch nicht mehr länger erlauben mich so anzugehen. „Okay, das werde ich mir nicht mehr anhören. Das Gespräch ist beendet und ich werde jetzt gehen. Du wirst sicher auch einen Tag ohne mich zurecht kommen.“

„Ja super, und jetzt rennst du auch noch weg!“

„Immer noch besser, als dir eine reinzuhauen, du selbstgefälliger Mistkerl!“, fauchte ich ihn an, wirbelte herum und marschierte mit wütenden Schritten aus dem Büro. Das er es wagte meine Eltern mit ins Spiel zu bringen. Sie hatten nichts mit dieser Sache zu tun, absolut gar nichts!

Der Korridor vor dem Konferenzraum war ziemlich überfüllt. Mindestens die Hälfte der Venatoren stand da und tat so, als seien sie schwer beschäftigt. Noch etwas auffälliger hätten sie nicht lauschen können. Wobei lauschen vermutlich gar nicht nötig gewesen war. Reese und ich hatten uns laut genug angeschrien, dass man uns sicher noch einen Block weiter problemlos verstanden hatte.

Ich beachtete keinen von ihnen, als ich wütend an ihnen vorbei stampfte und ins Arbeitsareal ging, um meine Jacke zu holen. Ich musste hier ganz dringend raus, bevor ich noch vor Wut explodierte, oder wahlweise auch in Tränen ausbrach.

Reese hielt mich nicht auf.

Meine Lippen wurden schmal. Natürlich hielt er mich nicht auf.

 

°°°

 

„Schhht, sei leise, ich will das hören.“

„Aber das ist doch völlig bescheuert. Man weiß doch jetzt schon, was geschehen wird. Kathleen trifft sich mit Jason und Derek wird deswegen völlig ausflippen. Derek und Jason prügeln sich, Kathleen wird sauer auf Derek. Jason wird ihr erklären, dass alles okay ist und am Ende werden Kathleen und Derek miteinander rummachen.“

Ich warf Nick einen irritierten Blick zu. „Du verbringst eindeutig zu viel Zeit vor dem Fernseher.“

Sein Grinsen ließ ein paar niedliche Grübchen auf seinen Wangen erscheinen. „Wahrscheinlich hast du recht, ist ja auch nicht so, dass ich in diesem Bett besonders viel Abwechslung hätte, aber die Story ist trotzdem vorhersehbar. Eine typische Dreieckskiste, in der der böse Junge das Mädchen bekommt.“

Da hatte er leider recht. Trotzdem fand ich es nicht sehr nett von ihm, dass er mir meine Lieblingsserie madig redete. „Es geht ja nicht nur um die Beziehung zwischen den dreien, hauptsächlich geht es da um die Jagd nach Proles.“

Nick schüttelte fast schon ungläubig den Kopf. „Man sollte doch eigentlich meinen, dass du mit sowas nichts zu tun haben willst, nachdem du selber jeden Tag Proles durch die Straßen jagst.“

„Mein Leben ist aber keine Fernsehserie.“ Obwohl es im Moment wahrscheinlich genug Stoff für eine liefern könnte.

Nachdem ich aus der Gilde abgehauen war, weil ich einfach nicht mehr in Reese' Nähe kommen wollte, war ich stundenlang herumgelaufen und hatte versucht meine Wut unter Kontrolle zu bekommen. Wobei ich weniger wütend war, als viel mehr verletzt. Nicht nur dass er mir niedere Motive unterstellt hatte, er hatte auch noch meine toten Eltern mit hineingezogen, obwohl er wusste, was für ein wunder Punkt das für mich war. Und zu allem Überfluss, fühlte er sich auch noch im Recht. Nicht eine Sekunde hatte er auch nur in Betracht gezogen, dass ich etwas Gutes getan hatte. Wie immer waren bloß seine eigenen Ansichten wichtig. Er machte sich nicht einmal die Mühe zu verstehen, warum ich das hatte tun müssen.

Es hatte Ewigkeiten gedauert, bis ich mich wieder halbwegs beruhigt hatte und bei dem Gedanken an ihn nicht das Bedürfnis verspürte, eine tiefe Delle im nächsten Wagen zu hinterlassen. Dann allerdings hatte ich nicht gewusst wohin mit mir und war letztendlich bei Nick im Krankenhaus gelandet. Er freute sich über meine Gesellschaft und ich wurde ein wenig von meinen Problemen abgelenkt.

Zuerst hatten wir nur ein wenig gequatscht, waren dann aber dazu übergegangen, den Fernseher in den Mittelpunkt zu stellen, aber sich mit Nick einen Film anzuschauen, war einfach nur anstrengend, da er beinahe zu jedem Satz einen blöden Kommentar abließ. Wie sie sich bewegten, wie sie sprachen, was sie anhatten.

Okay, es war auch ein kleinen wenig lustig.

Ich schlug die Beine übereinander und lehnte mich auf meinem Stuhl zurück, in der Hoffnung, wenigstens noch den Rest der Folge mitzubekommen. Dabei bemerkte ich aus dem Augenwinkel, wie Nick mich aus dem Krankenhausbett stirnrunzelnd beobachtete. „Was ist?“

„Nichts, nur …“ Die Falte auf seiner Stirn wurde ein wenig tiefer. „Ich habe gerade gedacht … hab ich dich mal geküsst?“

„W-was?“, stotterte ich ein wenig zu erschrocken. Meine Stimme klang fast piepsig. Oh Gott, wo kam das denn auf einmal her? Ich brauchte ein paar Sekunden und musste mich einmal räuspern, bevor ich mich traute, den Mund erneut zu öffnen. „Wie kommst du den darauf`?“ Erinnerte er sich etwa?

„Ich weiß nicht.“ Er schüttelte verwirrt den Kopf. „Da war nur gerade dieser Gedanke. Nicht dass ich es jetzt gedacht habe, es war eher, als hätte ich es mal gedacht und … keine Ahnung, das ist unsinnig. Da waren nur diese Worte. Ich will dir einen Kuss stehlen.“

„Oh.“ Oh nein! Nein, nein, nein. Er erinnerte sich an unseren ersten – meinen ersten – Kuss. Damals hatte er genau das zu mir gesagt. Er hatte mir einen Kuss gestohlen. Warum erinnerte er sich ausgerechnet daran? Und was bedeutete es, kehrte seine Erinnerung nun doch zurück? Das war nicht gut, besonders nicht wenn man bedachte, was wir ihm alles verheimlichten. „Das ist ein seltsamer Gedanke, Küsse kann man nicht klauen.“ Ich hoffte das mein Lächeln nicht so wackelig geriet, wie es sich gerade anfühlte.

„Stimmt schon.“ Er grinste ein wenig schief. „Außerdem bist du ja die Freundin von meinem Bruder.“

„Ja, genau, ich bin mit Reese zusammen.“ Nur das dieser Kuss stattgefunden hatte, bevor ich mit Reese zusammengekommen war.

Nick runzelte die Stirn. „Alles okay? Du wirkst plötzlich ein wenig nervös.“

Ja super. „Es ist nur, der Gedanke ist irgendwie absurd.“

„Du würdest es absurd finden mich zu küssen?“, fragte er neugierig.

Heute? Ein ganz klares Ja. Damals? Da hatte ich weit mehr getan, als ihn nur zu küssen. „Du bist Reese' kleiner Bruder. Das wäre, als würde ich mit meinem eigenen Bruder rumknutschen.“

„Autsch.“

„Weißt du was?“ Ich erhob mich von meinem Stuhl. „Ich hab heute noch nichts gegessen. Ich geh mal kurz runter in die Kafeteria und hole mir eine Kleinigkeit. Nein danke, ich hab alles.“

„Okay, bin gleich zurück.“ Damit ergriff ich die Flucht. Wahrscheinlich war mein plötzlicher Abgang ein wenig sehr auffällig, aber im Moment brauchte ich wirklich nicht noch mehr Probleme und wenn begann zu zu erinnern, würde da sicher ein einziges großes Problem auf mich zukommen. Verdammt, dass konnte ich im Moment wirklich nicht auch noch gebrauchen.

Nach meiner Rückkehr blieb ich nicht mehr lange. Ich schaute noch die Folge mit ihm zu Ende und verkündete dann, dass ich noch in die Gilde musste, um ein wenig Papierkram zu erledigen. Theoretisch stimmte das auch, doch als ich das Krankenhaus verließ, sträubte sich etwas in mir dorthin zurückzugehen. Jilin war sicher noch immer angepisst und Reese … nun gut, der war im Moment sicher mit Kjell und Lexian unterwegs.

Ich könnte nach Hause fahren, aber das widerstrebte mir noch mehr. Nicht nur, dass ich dort zum Nichtstun verdammt wäre, ich wäre auch mit meinen Gedanken allein. Nein, da war es doch besser, wieder in die Gilde zu fahren, dort konnte ich mich wenigstens beschäftigen.

Diese Idee war nicht zufriedenstellender als all die anderen, trotzdem machte ich mich auf den Weg dorthin. Wenn ich schon sonst nichts tun konnte, dann konnte ich wenigstens ein bisschen arbeiten.

Da ich heute ohne fahrbaren Untersatz unterwegs war, brauchte ich fast eine Stunde, bis ich den alten Flachbau beteten konnte.

Madeline saß wie immer am Tresen und schaute kurz auf, als ich hereinkam, aber da sie gerade mal wieder am Telefon hing, bekam ich nur kurz ihre Aufmerksamkeit.

Ich hob kurz zur Begrüßung die Hand und ging an ihr vorbei, um zu meinem Schreibstich zu kommen.

Im Gegensatz zu heute Morgen, war der Bürobereich fast gähnend leer – klar, die meisten Venatoren waren gerade auf Einsätzen. Da waren nur ein paar Männer, die hinten an einem Schreibtisch zusammenstanden und etwas interessiert auf einem Handy verfolgten. Daniel, Jerome – ein sehr kleiner Venator – und noch ein paar andere.

Zuerst dachte ich mir nichts dabei, doch dann hörte ich meine eigene Stimme metallend aus dem Lautsprecher und drehte mich abrupt zu ihnen um. „Schaut ihr euch etwa gerade mein Video an?“ Hatten die nichts besseres zu tun, oder wollten die mich jetzt auch noch dafür anschreien?

Überrascht schauten die sechs Männer auf, keiner von ihnen hatte bemerkt, dass ich gekommen war. Seltsamerweise grinsten sie mich alle breit an.

„Nein nein“, wiegelte Daniel ab. „Das haben wir schon heute morgen gemacht, direkt nachdem du Tack angeschrien hast. Übrigens, tolle Aktion.“

„Was? Dass ich Reese angeschrien habe, oder das Video?“

„Beides.“ Er grinste.

Was sollte ich dazu noch großartig sagen? Wenigsten fand diese Jungs mein Vorgehen nicht verrückt. „Und was schaut ihr euch dann an?“ Ich hatte eben eindeutig meine Stimme gehört.

„Komm her, sieh es dir selber an.“ Daniel winkte zu sich heran. „Das ist der Wahnsinn.“

Okay, jetzt war ich gespannt.

Ich gesellte mich zu der Männerrunde und schaute über Jeromes Schulter hinweg auf das Handydisplay. Zuerst verstand ich nicht genau, was ich das sah, dann wurde mir klar, dass das irgendeine Nachrichtenseite sein musste. Man hatte mein Video genommen und ein paar Sachen zusammengeschnitten, die ich gesagt hatte. Dann wechselte es auf eine Nachteinsprecherin, die verkündete, dass keine meiner Behauptungen bisher nachgewiesen werden konnte, sie jedoch bereits spürbare Folgen ausgelöst hatte. Was dann kam, verschlug mir allerdings die Sprache.

„Ach du heilige Scheiße“, sagte ich fassungslos, während ich aufgeregt verfolgte, was sich da vor meinen Augen abspielte. Ich erkannte Malous Haus, oder besser gesagt, die Zufahrtsstraße und sie war überfüllt mit Protestanten, die lauthals forderten, das Miststück einzulochen und den Schlüssel wegzuwerfen.

Ein paar Leute warfen faules Obst, andere sogar Steine und wieder andere versuchten durch das Tor zu kommen, doch es war zu stabil. Wie es schien, gab es viele Leute, die eine Stinkwut auf L.F.A. hatten und nun hatten sie einen Namen, an dem sie diese Wut auslassen konnten.

Auch die Polizei war vor Ort und versuchte die Unruhen unter Kontrolle zu bekommen. Malou und ihre Handlanger waren jedoch nicht zu sehen, die hatten sich vermutlich im Haus verbarrikadiert. Ich konnte es mir geradezu vorstellen, wie diese Frau wütend, aber machtlos in ihren vier Wänden hockte und mich für meine Existenz verfluchte.

Ein kleines, gehässiges Lächeln erschien auf meinen Lippen. Zwar hatte ich das nicht bezweckt gehabt, aber ich konnte auch nicht gerade behaupten, dass es mir leid tat. Und bei dieser Meute würde ihr ihr Geld auch nicht viel nützen.

„Gut gemacht“, sagte Daniel und klopfte mir anerkennend auf die Schulter. „Das hat die L.F.A.-Schlampe verdient.“

„Das und noch viel mehr“, stimmte Jerome ihm zu.

Auch die anderen Männer murmelten zustimmende Worte nur leider konnte ich mich daran nicht so sehr erfreuen, wie ich mir das gewünscht hätte. Warum konnte Reese das nicht so sehen?

„Die wird dir vorerst jedenfalls nicht mehr zu nahe treten“, bemerkte Daniel zufrieden.

„Ich denke, jetzt will sie mich erst recht ermorden.“ Dieser Gedanke war nicht gerade beschwichtigend.

„Ja, da hast du wahrscheinlich recht“, stimmte er mir zu. „Aber sie kann es nicht. Wenn du jetzt verschwindest, was glaubst du, wen man als erstes verdächtigen wird?“

„So habe ich das ganze noch gar nicht betrachtet.“ Doch so gesehen hatte er recht. Ich hatte gewissermaßen einen Schutz für mich geschaffen. Dieser Gedanke war irgendwie seltsam. „Wahrscheinlich explodiert sie gerade vor Wut.“

„Na das will ich doch schwer hoffen.“ Daniel grinste mich an. „Sie kann sich wahrscheinlich noch glücklich schätzen, wenn …“

„Dringender Auftrag!“, rief Madeline vorne vom Tresen und damit war die Runde beendet. Daniel und Jerome verschwanden – wo war eigentlich William? – und der Rest ging wieder seiner Arbeit nach. Auch ich verzog mich nun an meinen Schreibtisch, doch anstatt mich meinem Papierkram zu widmen, zog ich mein Handy aus der Tasche, um selber noch ein wenig zu stöbern. Jetzt, nachdem was ich gesehen hatte, interessierte mich das Feedback brennend und ich musste auch nicht lange suchen, um fündig zu werden. Es war egal wonach ich suchte, meinen Namen, ihren Namen, L.F.A., überall fand ich etwas zu meinem Video. In Foren, Social-Media, mit meiner Nachricht hatte ich geradezu einen Sturm losgebrochen. Es war nicht so, dass dass alle nur noch über mich redeten, oder ich die Schlagzeile des Tages wäre, aber Mace hatte ganze Arbeit geleistet. Die Nachricht hatte Runde gemacht und Leute waren empört über das Vorgehen der Behörden.

Natürlich gab es auch ein paar Leute, die mir nicht glaubten und dementsprechend gegen mich hetzten, doch das waren die Wenigsten. Ich war fast schon schockiert darüber, wie viel Zuspruch ich bekam und wie viele Leute forderten, dass man etwas gegen Malou unternehmen musste.

Keine Ahnung wie lange ich mich durch die ganzen Sites arbeitete, doch als ich es endlich schaffte mein Handy aus der Hand zu legen, war es draußen schon dunkel und ich besann mich darauf, dass ich ja noch etwas tun wollte.

Normalerweise war der Papierkram nichts worüber ich mich freute, aber heute tat ich es mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. Das war besser gelaufen, als ich mir das vorgestellt hatte. Jetzt würde Malou Grabenstein bekommen, was sie verdiente.

Als es auf den Abend zuging, begann die Gilde sich wieder zu füllen, doch ich realisierte das erst wirklich, al Aziz neben meinem Schreibtisch auftauchte und darauf klopfte, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen.

„Hey, was gibt es?“

„Nichts weiter, aber nach eurem Streit heute morgen, dachte ich mir, dass es dich vielleicht interessiert, dass Tack gerade in die Garage gefahren ist.“

Er war hier? Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Mist, es war kurz vor sechs, ich hatte die Zeit völlig aus den Augen verloren. „Danke“, sagte ich, schnappte mir hastig meine Sachen und sprang vom Stuhl auf.

„Ähm … ich wollte dich damit eigentlich nur vorwarnen und nicht gleich in die Flucht schlagen.“

„Und ich habe keine Lust auf eine weitere sinnlose Diskussion mit diesem Blödmann“, sagte ich, schlüpfte dabei in meine Jacke und verließ dann mit einem Handgruß eilig die Gilde. Es war nicht so, dass ich mich vor einer Begegnung mit Reese fürchtete und vor ihm weglief, ich wusste nur genau, dass er sich nicht entschuldigen würde und die Situation nur wieder eskalieren würde, wenn wir aufeinander trafen.

Ich hatte einfach keine Lust, im Moment mit ihm zu reden. Oder – und wahrscheinlicher – zu streiten. Seine Meinung kannte ich schließlich bereits. Außerdem hatte ich Hunger, da bot es sich doch geradezu an, Eve anzurufen und mit ihr ganz spontan essen zu gehen – unser letzter Versuch war schließlich geplatzt.

Da Eve nun einmal war wie sie war, saßen wir eine halbe Stunde später zusammen in einem kleinen italienischen Restaurant und studierten die Speisekarte. Natürlich drehten sich unsere Hauptthemen die ganze Zeit um ihre Hochzeit und mein Video. Erst kurz vor dem Dessert erhob sie sich mal kurz, um für kleine Königstigerinnen zu verschwinden.

Ich nutzte die Zeit, um mein Handy zu checken. Keine Nachricht von Reese, kein Anruf. Meine Lippen wurden eine Spur schmaler. Warum nur viel es ihm immer so schwer über seinen Schatten zu springen? Wahrscheinlich erwartete er, dass ich einknicken würde und die Sache zwischen uns in Ordnung brachte – so wie immer. Aber da hatte er sich ins eigene Fleisch geschnitten, dieses Mal würde er angekrochen kommen müssen, denn nach dem was er sich geleistet hatte, würde ich sicher nicht einfach so nachgeben.

Aber ich konnte etwas anderes tun, etwas dass ich schon längst hätte tun sollen und bei dem mein Puls sich vor Aufregung gleich ein wenig beschleunigte. Ich wählte Wynns Nummer und hielt mir das Handy ans Ohr.

Es klingelte zwei Mal, bevor ich ein „Ja bitte?“ hörte.

Fast hätte ich den Atem angehalten. Das war ihre Stimme. „Wynn? Ich bin es. Grace.“

Einen Moment blieb es ruhig. „Oh, hey.“

„Hey.“ Ich zögerte. „Du wolltest, dass ich mich bei dir melde.“

„Ja, ich … keine Ahnung. Ich glaube ich wollte wissen wie es dir geht“, sagte sie beinahe schon schüchtern. „Ich habe von der Entführung gehört und ein Video gesehen. Und nachdem was da bei dem Unfall passiert ist … ich wollte nur wissen, ob du okay bist.

„Oh.“ Eigentlich hatte ich mir ein wenig mehr erhofft. Kleine Schritte, sagte ich mir. Das hier war zumindest schon mal ein Anfang. „Soweit geht es mir eigentlich ganz gut.“

„Das ist gut zu hören.“

Damit verfielen wir in Schweigen.

„Möchtest du … also nur wenn du Lust hast, dann könnten wir uns ja mal treffen“, wagte ich nach einen Moment den Vorstoß und mein Herz schlug gleich einen Tack schneller. „Du weißt schon, so zum Reden.“

„Ja, klar“, kam es zu meiner Überraschung ohne das geringste zögern. „Ich hab am Wochenende Zeit. Wenn du magst, kannst du herkommen, dann könnten wir was kochen.“

Sie hatte ja gesagt. Oh mein Gott, sie hatte ja gesagt! „Ähm, ja, das hört sich gut an“, sagte ich und schaute auf, als Eve an unseren Tisch zurückkehrte. „Ich würde mich dann noch mal bei dir melden. Ist das okay?“

„Klar, ab dem Nachmittag bin ich immer Zuhause.“

Ja, weil du dich einschließt. „Gut, dann machen wir das so. Ich freue mich drauf.“

„Dann bis zum Wochenende.“

„Ja, bis zum Wochenende. Bye.“

„Bye.“

Als ich auflegte, grinste ich bis zu den Ohren.

„Wow, was ist denn mit dir los?“ Eve musterte mich. „Man könnte glauben, du hast gerade sechs Richtige im Lotto gehabt. Plus Superzahl.“

„So was ähnliches, Wynn will sich mit mir treffen. Sie hat mich gerade zu sich eingeladen.“

„Wirklich?“ Damit hatte ich sie erstaunt. „Erzähl.“

Also erzählte ich es ihr.

Nach dem Dessert bezahlten wir und da ich noch keine Lust hatte mich mit Reese auseinanderzusetzen, fuhr ich noch mit zu ihr und wir widmeten uns ein weiteres Mal ihrer Hochzeitsplanung.

Ich kam wieder erst sehr spät nach Hause und das mit voller Absicht. So konnte ich direkt ins Bett verschwinden, ohne mich um Reese zu kümmern. Als er allerdings kurz darauf hinterherkam und sich hinter mir ausstreckte, schnappte ich mir mein Bettzeug und verzog mich damit auf die Couch. Ich hatte absolut keine Lust die Nacht neben ihm zu verbringen. Den ganzen Tag keine Nachricht und auch jetzt versuchte er sich nicht bei mir zu entschuldigen. Ja er kam mir nicht mal hinterher, obwohl ich nur im Nebenraum war. Bitte, wenn er es so wollte, dann konnte er auch das Bett für sich alleine haben.

Leider gab es da trotzdem noch das Problem, dass die Couch unbequem war und ich ohne meinen Blödmann nicht gut schlafen konnte. Diese Nacht bestand hauptsächlich darin, dass ich mich von einer Seite auf die andere wälzte und es dann irgendwann in der frühen Morgenstunden ganz aufgab.

Völlig erschlagen, schleppte ich mich unter die Dusche, in der Hoffnung, dass die mich ein wenig wacher machen würde – es brachte nur geringfügigen Erfolg. Aber dadurch dass ich so früh wach war, konnte ich die Wohnung verlassen, noch bevor er überhaupt aufgestanden war.

Den Wagen ließ ich ihm, der Weg zur Gilde war nicht weit und den kleinen Spaziergang nutzte ich, um meine Lebensgeister wiederzufinden.

Als ich in dem alten Flachbau ankam, war noch nicht viel los. Hinterm Tresen saß noch Kristin von der Nachtschicht und bis auf einen Schreibtisch waren alle verwaist. Ja selbst Jilin war noch nicht hier.

Aber daran störte ich mich nicht. Ich nutzte die Zeit um hinunter in unseren Trainingsraum zu gehen. Nachdem ich eine Woche faul auf der Couch herumgelegen hatte, würde mir so ein bisschen Training sicher ganz gut tun und während damit begann mich körperlich zu verausgaben, kamen auch endlich meine Gedanken ein wenig zur Ruhe. Es war einfacher sich auf das Training zu konzentrieren, als über den ganzen Mist nachzudenken, der im Moment mein Leben beherrschte.

Ich war schon ordentlich ins Schwitzen gekommen, als ich von draußen ein paar Stimmen hörte. Kurz darauf kamen mehrere der Männer herein, unter ihnen auch Jerome.

„Hey Grace“, begrüßten sie mich mehrstimmig.

Ich hob die Hand. „Hi Jungs.“

„Ganz schön früh dran“, bemerkte Jerome und machte sich neben mir an der Hantelbank zu schaffen.

Meine Schultern zuckten nichtssagend, während ich die Hantel in meiner Hand weit auf und ab bewegte. Ich würde ihm sicher nicht erzählen, dass ich hier auf der Flucht vor Reese und seinen Launen Zuflucht gesucht hatte.

„Hey, du warst ja gestern gar nicht bei dem Meeting.“

„Das ist dir aufgefallen?“, fragte ich gespielt erstaunt und brachte damit einige der Jungs zum Lachen.

Auch Jerome grinste. „Hast du das mit Historia schon mitbekommen?“

„Nein, was denn?“

„Na das mit dem Einbruch. Tack hat dir nichts gesagt, oder?“

Die Hantel sank herab und in meinem Gesicht ploppte ein großes Fragezeichen auf. „Einbruch?“

„Jemand hat versucht in Historia einzubrechen“, erklärte einer der anderen Männer.

„Was?“ Nun hatten sie endgültig meine Aufmerksamkeit.

Jerome legte sich mit dem Rücken auf die Hantelbank. „Gib mir mal Hilfestellung“, forderte er und während ich zu ihm rüber ging, erzählte er. „Jilin hat es gestern bekannt gegeben, irgendjemand hat versucht in Historia einzudringen, ist aber an dem Sicherheitssystem gescheitert. Du weißt schon, das das eigentlich dafür sorgen soll, dass die Proles drin bleiben.“

„Ich wette, das war diese Grabenstein-Tussi“, rief ein anderer Mann. „Die will den Iuba zurück.“

Dieser Gedanke war mir auch gerade in den Sinn gekommen. Es war schön nicht die einzige zu sein, die ihn hatte. „Wann war das?“

„Vor drei oder vier Tagen.“ Jerome zuckte mit den Schultern, bevor er die Hantel zu stemmen begann.

Konnte das wirklich sein? Hatte Malou versucht die Schwarzmähne zurückzubekommen? Warum hatte Reese mir das nicht erzählt? Okay, die Frage war überflüssig. Davon abgesehen, dass er ein Blödmann war, der mich nur anschreien konnte, war er wahrscheinlich zu dem gleichen Schluss gekommen wie wir Malou hatte da ihre Finger im Spiel und alles was mit Malou zu tun hatte, würde er von jetzt an sicher weit weg von mir halten.

Dieser Gedanke war einfach nur bitter, denn er wollte mich damit nicht schützen, er wollte nur weiterem Ärger aus dem Weg gehen. Ausgerechnet er! Das fühlte sich fast wie Verrat an und plötzlich war ich wieder unheimlich wütend auf ihn. Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so sauer auf ihn gewesen. Wie sollte ich so nur den Tag mit ihm auf der Straße überstehen?

Natürlich könnte ich einfach wieder blau machen, doch ich war in der letzten Zeit bereits viel zu oft ausgefallen. Nein, das ging nicht, aber ich konnte etwas anderes tun, aber dazu musste ich mit Jilin sprechen. Auch keine besonders erfreuliche Aussicht, aber wenigstens war es das kleinere von zwei Übeln.

„So Jungs“, verabschiedete ich mich. „Viel Spaß euch noch, ich geh duschen.“

Jerome setzte die Finger an den Mund und pfiff laut, weswegen ich ihm beim Rausgehen den Stinkefinger zeigte und mich dann erstmal in die Damenumkleide zu einer Dusche zurückzog.

Sobald ich wieder salonfähig war, suchte ich Jilins Büro auf. Es war schon kurz nach acht und sie saß bereits hinter ihrem Schreibtisch und hing am Telefon.

Als sie mich an der Tür bemerkte, deutete sie hereinzukommen und einen Moment zu warten. „Ja, ich verstehe“, sagte sie und nickte ihrem unsichtbaren Gesprächspartner zu. „Ich werde sehen was ich machen kann. Danke für Ihren Anruf.“ Sie legte den Hörer zurück auf die Station und nahm sofort mich ins Visier. „Gut das du hier bist, dass erspart mir die Suche nach dir.“

Hm, wenn sie so anfing, wäre ich am Liebsten wieder gegangen, doch das wäre kindisch. Außerdem war sie noch immer meine Chefin. „Will ich hören was du von mir willst?“

„Ob du es willst oder nicht, du hast keine Wahl und daran bist du selber schuld.“ Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Offensichtlich war sie wegen dem Video noch immer verärgert.

Ich verschränkte in einer abwehrenden Haltung die Arme vor der Brust. „Schieß los.“

„Wie du vermutlich bereits mitbekommen hast, hat dein Video hohe Wellen geschlagen, darum hat Frau Grabenstein beschlossen, den Gerüchten die du in die Welt gesetzt hast, ein für alle Mal einen Riegel vorzuschieben. Wage es nicht mich zu unterbrechen“, warnte sie, als ich schon protestierend den Mund öffnete.

Gerüchte? Da war die verfluchte Wahrheit! Ich biss die Zähne aufeinander – fest.

„Das am Telefon war gerade unser Anwalt gewesen. Frau Grabenstein hat für Freitagnachmittag die Medien zu sich nach Hause eingeladen. Ich weiß nicht was sie geplant hat, nur dass es live im Fernsehen übertragen werden soll. Sie lädt auch dich zu diesem Ereignis ein.“

„Mich?“ War die Frau noch zu retten? „Sie glaubt wirklich, ich würde noch mal freiwillig in ihre Nähe kommen?“

„Du wirst nicht allein dorthin gehen. Wie bereits gesagt, werden wohl haufenweise Leute von der Presse dort sein. Außerdem kannst du Tack mitnehmen. Du wirst nicht in Gefahr sein.“

Ich schnaubte abschätzig. „Die Frau hat versucht mich zu ermorden. Solange sie frei herumläuft ist sie eine Gefahr für mich.“

„Nicht an diesem Nachmittag und unsere Anwälte raten dir dringend, diese Einladung anzunehmen.“

„Ach ja? Warum?“

„Frau Grabenstein hat ihnen ein unterschriebenes Schriftstück zukommen lassen, in dem sie versichert, dass sie keine strafrechtlichen Maßnahmen gegen dich ergreifen wird, wenn du dabei bist. Solltest du dich allerdings weigern und wegbleiben, wird sie dich auf alles verklagen, was du besitzt.“

Unruhig trat ich von einem Bein auf das andere. Das gefiel mir nicht. „Was bezweckt sie damit?“

Jilin zuckte mit den Schulter. „Das weiß ich nicht, aber um es mal ganz deutlich zu sagen, wenn du halbwegs unbeschadet aus der Sache heraus willst, dann wirst du dahingehen. Wenn nicht, kannst du dich schon mal darauf einrichten, für ein paar Jahre hinter Gittern zu wandern.“

Das ergab keinen Sinn. Wie bitte wollte Malou diese Gerüchte aus der Welt schaffen? Was für einen Beweis konnte sie haben, der sie als Unschuldslamm hinstellte und mich als den großen, bösen Wolf? Und dann noch das Fernsehen? Das stank bereits jetzt bis zum Himmel. „Was ist mir der einstweilige Verfügung?“, wollte ich wissen.

„Da sie dich eingeladen hat, tritt diese außer Kraft. Du hast nichts zu befürchten, wenn du zu ihr fährst.“

Aber sicher doch, als wenn ich so naiv wäre das zu glauben. Nur was hatte Malou vor? Um das zu erfahren, musste ich wahrscheinlich hinfahren – oder Freitagnachmittag den Fernseher einschalten.

Freitag.

Freitag war in zwei Tagen. Was konnte sie in zwei Tagen schon erreichen, um all meine Vorwürfe zu widerlegen? Mir wollte nichts einfallen.

„Überlege nicht zu lange, Grace, eine weitere Chance deinen Hintern heil aus der Sache rauszubekommen, wirst du sicher nicht bekommen.“

Wahrscheinlich. „Ich kann das nicht jetzt entscheiden.“

„Das habe ich auch nicht von dir verlangt.“ Sie beugte sich vor und stützte sich mit den Unterarmen auf den Schreibtisch. „Aber wenn du meinen Rat willst, tu es einfach, dann hast du es hinter dir.“

„Hinter mir?“, brauste ich auf. „Du glaubst doch nicht wirklich …“ Ich verstummte und biss mir auf die Lippen. Ich konnte Jilin nicht schon wieder anschreien. „Egal, vergiss es. Ich werde darüber nachdenken.“ Denn bevor ich nicht wusste was Malou mit dieser Sache bezweckte, konnte ich keine klare Entscheidung treffen. Nach allem was ich getan hatte, würde sie mich sicher nicht einfach so vom Haken lassen. Sie wollte mich nicht verklagen? Daran konnte etwas nicht stimmen. In meinen Augen war diese Frau sehr nachtragend.

„Ist sonst noch etwas, oder kann ich jetzt gehen?“

„Du kannst gehen, aber wolltest du nicht noch etwas von mir?“

Von ihr … ach ja, das hätte ich jetzt fast vergessen. Kein Wunder, bei der Nachricht, die sie mir gerade überbracht hat. „Ja, wenn es möglich ist, würde ich die nächsten Tage gerne mit jemand anderem zusammenarbeiten.“

Jilin zog eine Augenbraue hoch, enthielt sich aber jeglichen Kommentars. Ihr musste klar sein, dass ich keine Lust hatte mit Reese rauszugehen. „Seth wird für ein paar Tage ausfallen, er hat sich gestern den Arm gestaucht, du kannst also mit Aziz mitfahren.“

„Gut, danke, ich sage es ihm gleich.“ Und damit sie keine Gelegenheit bekam mich mit weiteren Hiobsbotschaften zu belästigen, drehte ich mich direkt um und verließ ihr Büro. Doch bevor ich mich auf die Suche nach Aziz machte, lehnte ich mich im Korridor einen Moment an die Wand und versuchte mich wieder in den Griff zu bekommen.

Allein von dem Gedanke, noch mal auf das Anwesen von Malou zu gehen, wurde mir schon schlecht und die Unwissenheit über das was sie damit bezweckte, machte es sogar noch schlimmer. Konnte sie die Geschichte wirklich ein weiteres Mal so drehen, dass sie wieder als die wohltätige Samariterin gelten konnte? Aber das war doch eigentlich nicht möglich. Selbst wenn sie lang und breit in der Öffentlichkeit ihre Unschuld beteuerte und es so schaffte wenigsten ein paar Leute zu überzeuge, sie würde es niemals schaffen, sich komplett reinzuwaschen. Was also sollte dieser Mist und warum wollte sie dass ich dabei war.

Dass sie das wollte, war keine Frage. Wäre es nicht so, hätte sie mir nicht dieses Angebot gemacht. Straffreiheit, nur weil ich sie besuchte? Ich hatte wirklich kein gutes Gefühl bei der Sache. Und dann sollte ich auch noch Reese fragen, ob er mich begleitete? Nach allem was er mir an den Kopf geworfen hatte? Eher würde die Hölle zufrieren.

Wie ich es auch machte, jetzt würde ich zu keiner Entscheidung kommen und außerdem musste ich zusehen, dass ich Aziz fand, bevor er sich zu seinem ersten Auftrag auf die Socken machte. Das stellte sich jedoch als sehr leicht heraus. Ich musste nur in den Arbeitsbereich gehen, da sah ich ihn auch schon an seinem Schreibtisch stehen und Janina etwas in einer Akte zeigen.

Ach ja, Aziz betreute zur Zeit ja auch wieder einen Praktikanten.

Ich trat zu den beiden und stieß den Türken mit der Hüfte an. „Rate mal.“

Interessiert schaute er auf. „Was genau soll ich denn raten?“

„Wer mit dir die nächsten Tage auf die Hatz geht.“

„Jilin?“, fragte er beinahe schon hoffnungsvoll, obwohl wir beide wussten, dass sie das niemals tun würde, da sie mit ihrer Behinderung für den Arseneinsatz gesperrt war.

„Es ist eine Frau, ja, aber nicht Jilin.“

„Hm“, machte er und schaute sich nachdenklich im Raum um. „Suzanne“, sagte er dann mit neuer Begeisterung.

Ich lachte. „Die würde an die Proles vermutlich noch Lolis verteilen.“

Auch er grinste. „Oder Spritzen.“

Ja, die verteilte sie fast genauso oft. „Jilin hat gesagt, Seth ist ausgefallen, deswegen werde ich dich ein paar Tage lang begleiten.“

„Weil Seth ausgefallen ist, oder weil du Tack aus dem Weg gehen willst?“

„Weil deine Gesellschaft mir immer den Tag versüßt.“ Das war nicht gelogen und da ich keine Lust hatte meine Probleme vor der Praktikantin zu besprechen, war das meiner Meinung nach eine sehr gute Antwort.

„Na dann mach dich mal startklar, Madeline hat uns eben einen Auftrag gegeben. Ich hatte Janina nur noch schnell etwas zeigen wollen.“

„Gib mir eine Minute, dann bin ich so weit.“ Ich wandte mich gerade von den Beiden ab, als ich ein sehr vertrautes „Shanks!“ quer durch den Raum hörte.

„Na fantastisch“, murmelte ich und drehte mich herum, nur um einen stinkwütenden Reese mit Kjell auf den Fersen auf mich zustürmen zu sehen. Was zur Hölle machte er um diese Zeit hier?

„Kannst du mir mal verraten, was du hier für eine verdammte Show abziehst?! Erst bleibst du die halbe Nacht weg und dann verschwindest du heute morgen einfach! Findest du das witzig, oder ist das neuerdings deine Art dich an mir zu rächen?!“

An ihm rächen? Glaubte er wirklich ich hätte es nötig, mich an ihm zu rächen? Ja er war ein Blödmann, aber dass ich ihn im Moment nicht sehen wollte, hatte absolut nichts damit zu tun, ihm irgendwie zu schaden. Ihm das allerdings jetzt zu erklären, würde bei seiner Laune nur zu einem weiteren Streit führen und darauf hatte ich gerade keine Lust. „Ich hab jetzt keine Zeit mich von dir anschreien zu lassen“, erwiderte ich schlicht und wollte mich ein weiteres Mal abwenden, doch da griff er nach meinem Arm und riss mich wieder zurück.

Dass ich seine Hand wegschlug, war nichts als ein Reflex, aber es tat mir auch nicht leid. „Lass das gefälligst“, zischte ich ihn an und trat einen Schritt zurück, damit er nicht noch mal nach mir greifen konnte. Eine Szene hier in der Gilde war das Letzte, was wir gerade gebrauchen konnten. „Und bevor du nicht ein wenig Beherrschung gelernt hast, habe ich dir auch nichts zu sagen.“

„Du kannst nicht ständig weglaufen“, knurrte er und wirkte dabei, als wollte er mich einfach in den Boden stampfen.

„Ich laufe nicht weg, ich habe einen Auftrag.“ Damit ließ ich ihn stehen und holte meine Jacke. Leider stand er aber immer noch bei Aziz und Janina, als ich mich wieder umdrehte und starrte mich finster an. Aber davon ließ ich mich nicht einschüchtern. Ich ging geradewegs auf ihn zu und dann direkt an ihm vorbei. „Komm Aziz, ich bin so weit.“

„Was zur Hölle wird das?“, knurrte Reese ungehalten.

Na gut, dann würde ich ihm eben doch eine kleine Erklärung liefern. Ich wandte mich noch mal zu ihm um. „Seth ist ausgefallen, ich bin die nächsten Tage mit Aziz unterwegs. Jilin weiß Bescheid.“

Nun glatt sein mörderischer Blick nicht mehr länger mir, sondern dem Türken.

Der hob nur ergeben die Hände. „Schau mich nicht so an, ich wurde nicht gefragt.“

Seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich, als er den Kopf langsam zu mir umdrehte. „Das ist jetzt also dein toller Plan? Du rennst vor deinen Problemen weg, statt dich ihnen zu stellen?“

Oh, ich schwöre, gleich haue ich ihm eine runter. „Nein, aber du hast sehr deutlich gemacht, dass ich nicht mit deiner Unterstützung rechnen kann, also regle ich das von jetzt an ohne dich.“

Sie Kieferpate spannte sich an, doch ich hatte keine Lust mich auf eine weitere Diskussion einzulassen, also ließ ich ihn einfach stehen und marschierte los.

Aziz und Janina brauchten nur einen kurzen Moment, um mir zu folgen.

„Er kriegt sich schon wieder ein“, sagte der Türke aufmunternd zu mir, doch irgendwie bekam ich dadurch nur noch schlechtere Laune.

Janina lief kopfschüttelnd, ja beinahe schon empört, neben mir her. „Der Kerl ist so ein Neandertaler. Der bräuchte dringend eine Therapie.“

Ich wirbelte so schnell zu ihr herum, dass sie überrascht stehen blieb. „Sprich nicht über ihn, als wüsstest du irgendwas!“, zischte ich sie an und schickte noch einen warnenden Blick hinterher. „Du kennst ihn nicht und damit hast du kein Recht dir ein Urteil über ihn zu erlauben.“ Wenn ich sowas sagte, war das eine Sache, sie hatte hier nichts zu melden, und schon gar nicht, wenn sie nicht mal fähig war, sich mit Reese auf Augenhöhe zu messen.

„Grace.“ Aziz legte mir besänftigend eine Hand auf die Schulter, doch ich schüttelte sie einfach ab und marschierte weiter. Ich brauchte jetzt ganz dringend ein Proles, damit ich meine Wut irgendwo abreagieren konnte, sonst würde ich demnächst einfach platzen.

 

°°°

 

Aziz setzte den Blinker und bog von der Landstraße auf den Zufahrtsweg ab, der uns direkt auf das Gelände von der Milliardärin Malou Grabenstein bringen würde. Ja, es war Freiteig und nach langem überlegen und noch einem intensiven Gespräch mit Jilin hatte ich mich trotz meiner Bedenken breitschlagen lassen herzukommen.

Die letzten vier Stunden auf der Autobahn hatte ich es geschafft verhältnismäßig ruhig zu bleiben, doch nun, wo das offene Tor des Anwesens immer näher kam, spürte ich wie mein Herz schneller schlug und sich die Härchen auf meinen Armen aufstellen. Ich war wieder hier und wenn ich ehrlich war, fürchtete ich mich ein wenig vor dem, was nun auf mich zukam.

Malou machte noch immer ein großes Geheimnis daraus, was genau sie geplant hatte, aber als wir auf das Grundstück fuhren und uns von einem Parkwächter einen Parkplatz auf dem Rasen zuweisen ließen, wurde mir klar, dass es etwas großes sein musste.

Dass sie die Medien eingeladen hatte, war kein Scherz gewesen, der ganze Bereich vor dem Haus platzte geradezu von ihnen. Kameras, Ü-Wagen, im Vorbeifahren entdeckte ich sogar meine alte Bekannte Kanya Witmer, ihrer Zeichens, Schlagzeilenjäger. Wenn irgendwo in der Stadt schwere Prolesangriffe zu verzeichnen waren, war sie vor Ort und berichtete für das Fernsehen darüber.

Na hoffentlich war das kein Omen.

„Endlich“, seufzte Aziz, als er den Motor abstellte und streckte sich erstmal ausgiebig. Dann lächelte er mich aufmunternd an. Da ich Reese aus offensichtlichen Gründen nichts von diesem Termin gesagt hatte, aber nicht allein herkommen wollte, hatte ich ihn gefragt, ob er mich begleiten würde. „Breit?“

Also wenn ich ehrlich war: „Nein, nicht so wirklich.“ Allein beim Anblick dieses Hauses und der Erinnerung daran, was darin fast geschehen wäre, bekam ich am ganzen Körper eine ungute Gänsehaut. Ich wollte da nicht rein, ich wollte umdrehen und wieder nach Hause fahren. Zwar trug ich sowohl meine Pistole, als auch meine Messer bei mir, doch nicht mal meine Waffen konnten mir im Moment ein Gefühl von Sicherheit geben.

Aziz legte mir eine Hand auf den Arm. „Hey, mach dir keine Sorgen, dir kann nichts passieren. Ich bin hier und da stehen bereits Daniel und Alexis.“ Er deutete durch die Windschutzscheibe auf ein anderes Fahrzeug der Gilde, an dem die beiden Männer standen und sich miteinander unterhielt. „Und Jerome müsste auch bald da sein.“

Ja, keine Ahnung wie es dazu gekommen war, aber als Aziz und ich vorhin aufbrechen wollten und ein paar von den Männern mitbekommen hatten, wohin die Reise gehen sollte, hatten sie sich angeboten mitzukommen.

Darum liebte ich die Gilde so, das war fast wie Familie.

„Wir werden dich alle im Auge behalten.“

Dafür bekam er ein kümmerliches Lächeln. „Eigentlich sollte ich dir jetzt erklären, dass ich eine emanzipierte Frau bin und schon auf mich allein aufpassen kann, aber ehrlich gesagt beruhigt mich der Gedanke, dass ihr alle da seid.“

„Hey, niemand hat behauptet, dass du nicht alleine auf dich aufpassen kannst. Überlegt mal, du bist ganz allein von hier entkommen. Ich und die anderen Männer sind nur hier, um beeindruckend die Muskeln spielen zu lassen, wenn dich jemand blöd anmacht.“

Jetzt wurde daraus ein richtiges Lächeln. „Also seid ihr nichts als Dekoration, ja?“

„Ganz genau. Und du wirst jetzt einmal tief durchatmen und dann aussteigen und dieser Frau zeigen, dass du dich von ihr nicht einschüchtern lässt – ganz egal was sie geplant hat.“

„Du hast recht. Ich bin jetzt hier und werde meinen Mann stehen.“ Ich verzog das Gesicht. „Im übertragenden Sinne.“

Wir schnallten und los und verließen den Wagen. Dabei schaute ich mich um in der Hoffnung einen Hinweis darauf zu erhaschen, was genau mich erwartete. Aber bis auf die vielen Wagen und Menschen sah es hier draußen genauso aus wie beim letzten Mal. Alle schienen darauf zu warten, dass es losging, doch die Gastgeberin konnte ich im Augenblick nicht entdecken. Dafür sah ich aber einen der beiden Schränke auf der Treppe vor der Haustür stehen und die Menge überblicken. Er stand direkt neben einem Rednerpult, dass man wohl für diesen Anlass dort aufgestellt hatte. Als er mich entdeckte, blieb ich mitten im Schritt stehen und spürte wie mein Herzschlag sie beschleunigte.

Aziz merkte erst nach zwei Schritten, dass ich ihm nicht mehr folgte und schaute sich verwundert nach mir um. „Was ist los?“

Als der Schrank eine Hand ans Ohr hob, als hätte er da einen Stöpsel drinnen, wich ich unwillkürlich einen Schritt und verfluchte mich im nächsten Moment selber dafür.

„Grace?“ Er folgte meinem Blick.

„Das ist der Kerl, der mich auf Malous Befehl hin in das Gehege gestoßen hat.“ Ihm verdankte ich auch die fast verheilte Platzwunde an meiner Stirn.

Das Gesicht von Aziz nahm eine Härte an, die ich bei ihm sonst nur von der Jagd kannte, wenn er seiner Beute dicht auf den Fersen war. „Komm“, sagte er und nahm meine Hand, um mich zu den anderen Venatoren zu ziehen. „Wir warten noch bis Jerome da ist, bevor wir uns der Menge anschließen.“

„Habe nichts dagegen“, murmelte ich und ließ mich von ihm mitziehen. Dabei schaffte ich es aber nicht diesen Mistkerl auf der Treppe aus den Augen zu lassen. Auch er behielt mich im Blick.

Alexis hob zur Begrüßung die Hand, Daniel dagegen legte mich sofort einen Arm um die Schultern und drückte mich an sich.

„Ist schon ein ziemlich beeindruckender Schuppen, aber wo soll die Tussi hier einen ganzen Zoo versteckt haben?“

„Hinter dem Haus.“ Ich zeigte in die Richtung. „Das Gelände geht noch ein ganzes Stück nach hinten raus, aber das wird alles von den Bäumen verdeckt.“

„Da kommt Jerome“, verkündete Alexis.

Ein weiterer Wagen der Gilde fuhr auf das Gelände und wurde vom Parkwächter angewiesen, gleich neben Aziz' Wagen zu parken.

Ich beobachtete ihn dabei und war ein wenig verwirrt, als die Beifahrertür aufging und Kjell ausstieg. Meine Verwirrung wurde jedoch sehr schnell von Missmut ersetzt, als auch die Tür auf der Fahrerseite geöffnet wurde. Das war nicht Jerome, der da auftauchte, das war Reese.

Was wollte er denn hier? Das war verdammt noch mal nicht der richtige Ort, um mich wider blöd von der Seite anzumachen. „Okay, Jungs, wer von euch hat mich verpetzt?“ Ich hatte es Reese jedenfalls nichts gesagt und da wir uns in den letzten drei Tagen so gut wie gar nicht gesehen hatten, konnte er es auch nicht zufällig von mir erfahren haben.

„Ich war es nicht“, beteuerte Aziz, winkte Reese aber gleichzeitig zu uns rüber.

„Und da bist du dir ganz sicher?“

„Ich schwöre es dir, aber es war ja auch nicht gerade ein Geheimnis, dass du heute herkommen solltest.“

Das nicht, aber ein Rundschreiben hatte es auch nicht gegeben. Aber nun war er hier und ließ mich, als er mit Kjell auf uns zukam, nicht aus den Augen.

Ich wusste nicht was ich davon halten sollte. Er wirkte nicht wütend, oder streitlustig, eigentlich nur wachsam, aber das was er zu mir gesagt hatte, klingelte noch immer in meinen Ohren und machte mich sauer, wenn ich nur daran dachte. Mit einer ehrlich gemeinten Entschuldigung von ihm würde ich wohl auch nicht rechnen können. Darum drehte ich mich auch weg und tat so, als hätte ich nicht gemerkt, dass er direkt auf mich zusteuerte.

Die Männer begrüßten sich auf diese männliche Art, die ich wohl nie verstehen würde – das hieß, sie nickten sich männlich zu – aber Reese Blick konnte ich weiter auf mir spüren. Es war als wären alle meine Sinne auf ihn ausgerichtet und würden selbst dann nach ihm Ausschau halten, wenn ich ihn nicht mal ansah.

Zu meinem Ärger musste ich mir eingestehen, dass seine Anwesenheit mich gleich viel ruhiger werden ließ. Selbst jetzt, wenn ich auf ihn sauer war, gab er mir eine Sicherheit, wie es sonst kein anderer Mensch tun konnte. Das war einfach nur ärgerlich.

„Mit dir haben wir hier gar nicht gerechnet“, bemerkte Aziz.

„Jilin hat mich heute morgen darüber informiert.“

Vielen Dank auch Jilin, ich hatte ihm mit Absicht nichts gesagt.

Reese Blick verharrte noch einen Moment auf mir, bevor er ihm über die versammelte Menge vor dem Haus gleiten ließ. „Wissen wir in der Zwischenzeit was hier vor sich geht?“

„Nicht wirklich.“ Auch Daniel folgte seinem Blick. „Die L.F.A-Schlampe hat sich noch nicht blicken lassen. Bisher habe ich nur ein paar von ihren Sicherheitsleuten entdeckt.“

„Aber es wäre nett, wenn sie langsam mal anfangen würden“, fügte Alexis noch hinzu. „Hier draußen wird es nämlich auch nicht wärmer.“

Reese brummte nur etwas und fischte sich dann aus seiner Tasche eine Zigarette.

Mich interessierte die Kälte ehrlich gesagt nicht, ich konnte mich nur unablässig fragen, was genau hier passieren sollte. Die letzten Tage hatte ich mir unablässig diese Frage gestellt, war bisher aber zu keiner zufriedenstellenden Antwort gekommen. Wie man es auch drehte und wendete, ich sah einfach keine Möglichkeit wie sie sich aus dieser Sache retten könnte – nicht solange sie keine Zauberkräfte hatte.

Aber sie hatte die Medien herbestellt. Das was sie vorhatte sollte sogar live im Fernsehen übertragen werden, was bedeutete, sie musste einen Wasserdichten Plan haben. Nur was? Und was würde das dann für mich bedeuten? Diese Ungewissheit würde mich noch in den Wahnsinn treiben.

Unruhig kaute ich auf meiner Unterlippe herum und ließ meinen Blick von einem der Ü-Wagen zu der Blondine mit der teuren Föhnfrisur gleiten, die gerade mit einem Strahlenden in die Kamera lächelte, das wohl jeden Normalsterblichen erblinden ließ. Direkt hinter ihr und damit der Blickfang der Aufnahme, stand das imposante Herrenhaus von Malou Grabenstein.

Auch andere machten Aufnahmen und Fotos. Eine Kamera schwenkte sogar zu uns herüber und es war sicher keine Überheblichkeit, wenn ich behauptete, dass sie mich aufnahmen.

Am Liebsten hätte ich dem Kameramann meinen Mittelfinger gezeigt. Stattdessen versuchte ich mich souverän zu geben und mir nicht anmerken zu lassen, wie es in mir drinnen wirklich aussah.

„Ah, da kommt Jerome endlich“, sagte Alexis und stieß sich von seinem Wagen ab. „Wurde ja auch mal Zeit.“

„Ich hab ihm gleich gesagt er soll mit uns mitfahren“, erklärte Daniel. „Er wollte nicht.“

Auch ich schaute zu dem inzwischen vierten Wagen der Gilde hinüber, der sich vom Parkwächter einweisen ließ. Dabei begegnete ich dem Blick von Reese, er wirkte einfach nur neutral. Keine Reue, kein Bedauern, gar nichts.

Ich presste die Lippen zusammen und wandte mich wieder von ihm ab. Manchmal hatte ich wirklich das Gefühl, dass er es gar nicht merkte, wenn er mich mit seinen Worten verletzte. Dass es ihm egal war, daran wollte ich nicht glauben und dass er mich nicht mit Absicht verletzte, dass wusste ich. Er dachte einfach nicht darüber nach, was die Scheiße die er so von sich gab bei mir bewirken konnte. Aber er wusste dass meine Eltern ein heikles Thema für mich waren, darum hätte er das nicht sagen dürfen. Das wäre als wenn ich ihm vorhalten würde, dass sein Vater ein ständig besoffener Frauenschläger war und seine Mutter völlig durchgeknallt. Sowas machte man einfach nicht.

Sobald Jerome sich uns angeschlossen und erstmal zwei Minuten lang über den Verkehr und Baustellen geschimpft hatte, machten wir uns geschlossen auf den Weg nach vorne zum Haus. Dabei hielten wir uns etwas seitlich, um nicht zwischen die Medienleute zu geraten. Leider bemerkten aber ein paar von ihnen unser Näherkommen und erkannten mich von meinem Video. Eigentlich hätte es mich nicht wundern sollen, dass ein halbes Dutzend von ihnen sich direkt mit Mikrophonen und Diktiergeräten auf den Weg zu uns machten.

Sofort verschanzte ich mich inmitten der Männer. Leider hinderte es sie trotzdem nicht daran, mich mit einem Haufen Fragen zu bedrängen. Würde ich von meinem Vorwürfen zurücktreten? Was hatte mich dazu bewogen, eine so schwerwiegende Anklage gegen Frau Grabenstein zu erheben? Konnte diese Suche nach Aufmerksamkeit mit dem Trauma meiner Kindheit zusammenhängen? Bis ich beschlossen hatte Venatorin zu werden, war ich schließlich ein psychisches Wrack gewesen.

Diese letzte Frage brachte mich so aus dem Konzept, dass ich fast stehen geblieben wäre. Woher wussten die von meinen psychischen Befunden?

„Kein Kommentar“, knurrte Daniel und schob die Männer ungeduldig aus dem Weg. Ein besonders aufdringliches Exemplar wurde sogar von Reese weggestoßen und sein Blick warnte ihn davor wieder näher zu kommen. Trotzdem hörte ich ihre Fragen und gegen die Fotos und Aufnahmen konnte ich im Augenblick nichts machen.

„Diese verdammten Haie“, schimpfte Jerome, als wir endlich vorne an der Treppe angekommen waren und warf einen verärgerten Blick zur Seite, wo die Medienfutzis ungeduldig auf die Hausherrin warteten. „Haben die nicht besseres zu tun.“

„Das ist ihr Job“, bemerkte ich. „Wir jagen Proles, sie die nächste Story und solange Malou sich nicht zeigt, nehmen sie eben das nächstbeste was sich ihnen bietet.“ Ich schaute zur Eingangstür, wo noch immer dieser Schrank von einem Mann stand und wieder war ich es, die in seiner Aufmerksamkeit stand. Dieses Mal jedoch zeigte ich ihm den Mittelfinger.

„So ist gut“, murmelte Aziz und stieß mich kumpelhaft mit der Schulter an. „Lass dich von dem Drecksack bloß nicht einschüchtern.“

Leider hatte ich das aber gemacht, weil er das tat, ich es mir aber nicht anmerken lassen wollte.

Das war der Moment, in dem sich hinter dem Kerl die Haustür öffnete und Malou Grabenstein majestätisch in ihrer ganzen Pracht erschien. Sie trug wieder weiße Hosen und darüber einen dicken, weißen Mantel. Ihre Hände steckten in weißen Handschuhen. Sie schien auf weiß zu stehen.

Zusammen mit ihr traten noch ein halbes Dutzend Schränke heraus – wo hatte sie die nur alle her? Wer allerdings fehlte, war meine Entführungseskorte. Okay, Sylvan war entschuldigt, aber die anderen beiden befanden sich sicher noch in ihrem Hofstaat. Nur eben nicht hier.

Mit einem einnehmenden Lächeln auf den blutrot geschminkten Lippen, trat Malou direkt an das Rednerpult und strahlte auf die Leute, als hätte sie nie etwas Schöneres gesehen.

In mir spannte sich jeder Muskel an, aber ich war mir nicht ganz sicher, ob ich mich einfach auf sie stürzen, oder doch lieber die Flucht ergreifen wollte.

„Ganz ruhig“, murmelte Alexis, dem meine plötzliche Anspannung wohl aufgefallen war und legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. Ich jedoch schaute mich nach Reese um und stellte erleichtert fest, dass er direkt hinter mir stand. Bevor er allerdings merken konnte was ich hier tat, richtete ich meinen Blick schnell wieder nach vorne, auf diese falsche Schlange mit dem falschen Lächeln und den falschen Fingernägeln. Okay, ich wusste nicht ob die Falsch waren, aber es war durchaus im Bereich des Möglichen.

„Meine sehr geehrten Damen und Herren“, begann Malou. „Ich begrüße Sie an diesem doch recht kühlen Nachmittag und danke Ihnen für ihr zahlreiches Erscheinen.“

Ein paar Kameras blitzten und wenn die Leute gekonnt hätten, würden sie der Frau ihre Mikrophone wohl mit Teleskoparmen vor die Nase halten.

„In den letzten Tagen sind einige sehr unschöne Gerüchte um meine Person in die Welt gesetzt worden und haben die Leute zu falschen Anschuldigungen verleitet. Ich mache diesen Menschen keinen Vorwurf aus ihrem Handeln, viele von ihnen haben schwere Schicksalsschläge erlitten und glaubten das Richtige zu tun, aber leider sind sie einer Lüge erlegen und um diese richtig zu stellen, habe ich Sie heute alle zu mir nach Hause eingeladen.“

Fast hätte ich sie angeschrien, dass sie aufhören sollte so einen Mist zu erzählen, aber dazu würde ich mich nicht verleiten lassen – besonders nicht solange ich nicht wusste, was genau sie geplant hatte. Bisher war das nämlich nichts als sinnloses Bla-bla.

„Zu diesem Anlass habe ich auch Grace Shanks gebeten zu kommen, die Frau, die der Ursprung dieser Gerüchte ist und zu meiner Freude ist sie auch erschien.“ Sie lächelte mich mit einem falschen Lächeln an. „Vielleicht werden wir nach dem heutigen Tag unseren Disput beilegen können“, sprach sie mich direkt an.

Nicht bevor du Miststück im Knast bist! Ich gab mich unbeeindruckt. „Sie versuchen doch nicht schon wieder mich von ihren Werten zu überzeugen, oder? Wir wissen doch beide wie das beim Letzten Mal geendet hat.“

„Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen leider nicht folgen.“

Jede Kamera war mittlerweile auf uns beide gerichtet.

„Sie sind eine ausgezeichnete Schauspielerin, dass muss ich Ihnen lassen, aber eine Frage hätte ich da noch an Sie. An welchem ihrer kleinen Lieblinge haben Sie Sylvans Leichnam verfüttert? Pascha? Nein.“ Schon während ich das sagte, schüttelte ich den Kopf. „So ein Toxrin bräuchte ewig, um einen ganzen Menschen zu fressen. Ich würde eher auf Carlos und Diva tippen. Für so einen Spuma muss das ja der reinste Festschmaus sein. Obwohl der Kerl vermutlich einen üblen Nachgeschmack hinterlassen hat.“

An Malous Schläfe zuckte eine Muskel, doch sie behielt ihr Lächeln bei. „Ich kann mich nur wiederholen, ich habe keine Ahnung wovon Sie sprechen.“

Oh, sie war gut, das musste ich ihr lassen. „Dass Sie keine Ahnung haben, ist mir schon bei unserer ersten Begegnung aufgefallen, naiv wie ein Kind, dass nur für seine Spielzeuge lebt.“

„Vorsicht“, raunte Aziz mir zu.

Ich beachtete ihn nicht. „Sie stehen hier und schwingen große Reden, aber wo ist der Beweis, der all meine Anschuldigungen widerlegt?“ Komm schon, zeig ihn uns, damit wir dieses Theater endlich hinter uns haben.

„Ah, natürlich“, sagte sie, als hätte sie es schon längst wieder vergessen. Was für eine Schmiereinkomödie. „Genau wie Frau Shanks sind Sie alle vermutlich auch daran interessiert, endlich den Grund für meine Einladung zu erfahren. Dazu möchte ich Sie bitten mir ins Haus zu folgen, damit jeder einzelne von Ihnen erkennen kann, dass ich hier nichts weiter ein Opfer von übereifrigem Tierschutz geworden bin.“

Im Klartext sollte das wohl heißen, damit jeder erfuhr, wer hier der Lügner war. Jetzt wurde mir auch klar, warum sie mich eingeladen hatte. Sie wollte mich öffentlich bloßstellen und in Verruf bringen, so wie ich es mit ihr getan hatte. Vielleicht konnte sie mir nichts tun, aber sie konnte noch immer meine Glaubwürdigkeit untergraben.

Ich biss die Zähne so fest zusammen, dass mir der Kiefer davon schmerzte.

„Nun denn, meine Damen und Herren, die Türen meines Hauses sind für Sie weit geöffnet.“

In dem Moment in dem sie das sagte, wurden die Türen von Innen aufgezogen und gaben den Blick auf ein geschmackvoll eingerichtetes Foyer preis.

„Bitte folgen Sie mir nun und ich werde Ihnen zeigen, welche Wahrheit sich hinter diesen Mauern verbirgt.“

Es war albern und völlig unsinnig, doch allein bei dem Gedanken dieses Haus zu betreten, begann jeder Muskel in meinem Körper sich zu sträuben. Ich war da schon drinnen gewesen und es hatte mit zwei Toten geendet. Das ich keiner von ihnen gewesen war, war nichts als Glück und einer seltsamen Fügung des Schicksals gewesen. Deswegen konnte ich im Moment auch nichts anderes tun, als erstarrt dazustehen und dabei zuzusehen, wie die Leute von den Medien Malou nach und nach in das Haus traten.

Ich konnte das nicht, ich konnte da nicht wieder reingehen, auch nicht als Aziz mir einen auffordernden Blick zuwarf. Ich hatte einfach Angst.

Als sich eine Hand in meine schob, schaute ich erst verwundert nach unten, um dann gleich darauf nach oben in das vertraute Gesicht von Reese zu schauen.

„Ich lasse dich nicht im Stich“, sagte er leise und widersprach damit dem, was ich ihm vorgeworfen hatte. Als er sich dann nach vorne beugte und mir einen Kuss auf die Schläfe drückte, spürte ich geradezu wie die Erleichterung mich durchströmte. Er war hier, genau in diesem Moment und ließ mich trotz allem nicht allein. „Niemals“, fügte er noch hinzu und ließ es wie einen Schwur klingen.

„Danke“, flüsterte ich so leise, dass ich bezweifelte, dass es bis an seine Ohren drang, aber das war im Moment auch gar nicht wichtig. Ich verschränkte meine Finger mit seinen und erwiderte seinen Blick noch einen Moment, bevor ich mich der offenen Tür zusandte. „Dann wollen wir mal.“

 

°°°°°

Kapitel 15

 

Dass diese Frau ein Faible für schöne Dinge hatte, wusste ich ja bereits. Außerdem stand sie auf die Farbe weiß. Nicht nur ihre Klamotten, die ganze Einrichtung im Haus war in einem beinahe schon schmerzhaft strahlenden Weiß gehalten. Möbel, Dekoration, Teppiche, ja selbst die Bilde in den Bilderrahmen waren in schwarzweiß, damit sie in das Gesamtbild passten. Es war als hätte man überall in diesem Haus die Farbe abgesaugt. Ich fühlte mich wie in einem Museum für Schöner Wohnen. Das steuerte nicht gerade zu meinem Wohlbefinden bei.

Malou brachte uns einmal quer durch das Haus – so kam es mir zumindest vor. Erst links, dann rechts, dann quer durch einen Verbindungsraum, dann wieder nach rechts auf einen anderen Korridor, dem wir dann bis ans ende folgten, um in einen großen und ziemlich leeren Raum zu gelangen. Im Grunde gab es in diesem Zimmer nur Bilder, davon aber so viele, dass die Wand darunter kaum noch zu erkennen war. Fotos von exotischen Tieren. Mit Malou, ohne Malou und dazwischen immer mal wieder eine Urkunde oder Auszeichnung, die so weit ich es erkennen konnte, alle mit dem Thema Arterhaltung zu tun hatten.

Während sich ihr Besuch in dem Raum versammelte, positionierte die Hausherrin sich vor der einzigen anderen Tür. Sie war diagonal zum Raum ausgerichtet und Holzschnitzereien von Tieren im Dschungel kunstvoll verziert.

Zwei ihrer Schränke standen bei ihr, die anderen Sicherheitsleute beaufsichtigen ihre Gäste, damit niemand verloren ging, oder gar auf die Idee kam hier herumzuschnüffeln.

Reese' Hand fest in meinem Griff, kaute ich nervös auf meiner Lippe und lauschte dem Gemurmel um mich herum.

„Hör auf damit, bevor du sie dir noch blutig beißt“, mahnte Reese mich, während er einen der Sicherheitsleute wachsam im Auge behielt.

Mein Blick galt jedoch Malou, die nach einem prüfenden Rundblick wieder ihr Strahlemannlächeln aufsetzte. „So, sind alle da? Sehr schön.“ Ihre Augen streifte einen Moment mich und ich könnte schwören, etwas sehr gehässiges darin aufblitzen zu sehen. „Nach längerem Nachdenken bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es nur einen Weg gibt diese Gerüchte aus der Welt zu schaffen, darum möchte ich Sie nun alle ganz herzlich in meinem kleinen Paradies willkommen heißen.“

Auf dieses Stichwort hin öffneten die beiden Schränke bei Malou die verzierte Doppeltür hinter ihr und gaben den Blick auf einen sorgfältig angelegtem Weg mit einer wunderschönen Begrünung im Hintergrund preis.

Ich krallte mich mit beiden Armen so plötzlich in Reese Arm fest, dass er doch tatsächlich ein „Au!“, ausstieß. „Verdammt Shanks.“

„Das ist ihr Zoo“, sagte ich ohne seine Versuche zu beachten, meinen Griff an seinem Arm zu lockern. Mein Herz schlug mir gerade bis hoch in die Kehle und ich spürte geradezu wie ein Gefühl von Machtlosigkeit von mir Besitz ergriff. „Sie will uns ihren Zoo zeigen.“ Aber … warum? Sie konnte doch nicht wirklich so dumm sein uns in eine Anlage voller Proles zu führen und das auch noch live im Fernsehen. „Was geht hier vor, was macht sie?“

„Ich weiß es nicht, aber würdest du bitte endlich deine Fingernägel aus meinem Arm nehmen?“

Während Reese meinen Griff so veränderte, dass ich ihn nicht in ein Nudelsieb verwandeln konnte, ergriff Malou wieder das Wort.

„Bevor Sie mir nun folgen, hätte ich noch eine kleine Bitte an Sie alle. Meine Tiere sind so viele Menschen nicht gewöhnt, deshalb möchte ich Sie bitten sich leise zu verhalten. Alle Ihre Fragen werden nach der Führung von mir beantwortet. Kameras sind natürlich erlaubt, aber bitte kein Blitzlicht, das würde meine kleinen Lieblinge nur verschrecken. Und bitte bleiben Sie bei der Gruppe und irren Sie nicht allein herum. Die Anlage ist größer, als sie auf den ersten Blick erscheint.“ Sie klatschte in die Hände. „Nun denn, kommen Sie mit mir und Sie werden sehen, dass es hier weit und breit nicht ein Proles gibt.“

Fast schon panisch schaute ich zu Reese hoch. Nicht nur weil ich jetzt wieder in diesen Zoo gehen sollte, sondern auch weil ich mir nicht erklären konnte, warum sie die Leute direkt dort hinein führt. Hatte sie die Proles alle in die hinteren Bereiche gebracht, sodass man die Gehege zwar sehen konnte, aber nicht die Abkömmlinge.

„Shanks, beruhige dich, bevor du mir noch umkippst.“

Beruhigen? Ich konnte mich nicht beruhigen. Stattdessen war ich von einem plötzlichen Drang besessen herauszufinden was diese Frau getan hatte. Ich ließ Reese einfach los und begann mich an den Medienleuten vorbei in die vorderste Reihe zu drängen.

„Shanks!“, rief Reese hinter mir und schickte dann noch einen sehr ausgefallenen Fluch hinterher, als er versuchte mir zu folgen. Aber ich war um einige schmaler und wendiger als er und so viel es mir viel leichter mich zwischen den Leuten hindurch zuschieben, bis ich fast vorne bei Malou war, die gerade begeistert von davon berichtete, wie diese Anlage gebaut wurde und wer schon alles ihren kleinen Zoo besucht hatte.

Ich wollte mich gerade an einer Frau mit Diktiergerät vorbeischieben, als mich jemand am Handgelenk packte und zurück riss. Zuerst glaubte ich, dass Reese mich eingeholt hatte, aber da Gesicht in das ich schaute gehörte zu einem von Malous Sicherheitsleuten.

„Nein!“, rief ich laut genug, um die Aufmerksamkeit jedes Anwesenden zu bekommen und verpasste dem Kerl rein aus Reflex eine saftige Ohrfeige. Der letzte von diesen Arschlöchern der mich festgehalten hatte, tat das nur um mich in ein Rudel gefräßiger Iubas zu stoßen.

Als meine Hand auf seiner Wange landete, klatschte es ordentlich. Der Kerl lockerte seinen Griff und gab mir damit die Gelegenheit mich von ihm loszureißen, doch er versuchte sofort wieder nach mir zu greifen. Ich machte hastig ein paar Schritte zurück und wäre dabei fast über meine eigenen Füße gefallen. Und dann stand Reese plötzlich zwischen und gab dem Kerl einen kräftigen Stoß gegen die Brust.

„Fass nie wieder meine Frau an“, knurrte er mit einer eindeutigen Drohung in der Stimme.

Von der Seite schoben sich Aziz und die anderen Venatoren nach vorne. Jerome legte mir in einer schützenden Geste die Hand auf den Rücken.

Der Sicherheitstyp funkelte Reese an. „Sie hat versucht sich Frau Grabenstein zu näheren. Das kann ich nicht erlauben. Gerade sie sollte Abstand halten.“

„Das wird sie, aber kommst du ihr noch einmal zu nahe, hast du meine Faust in der Fresse, das ist ein Versprechen.“ Er schickte noch einen drohenden Blick hinterher und drehte sich dann zu mir herum, um mich am Arm an die Seite zu ziehen. Ich jedoch sah nur die ganzen Leute, die mich wie eine Kuriosität anstarrten und Malou, die mich wachsam beobachtete.

Glaubten die Leute etwa wirklich, ich hatte auf sie losgehen wollen? Um was zu tun, sie in den Dreck zu schubsen? „Ich wollte zu Paschas Voliere.“

„Ich habe kein Tier mit diesem Namen“, behauptete sie dreist, obwohl wir beide wussten, dass sie log. „Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Führung nicht nochmal unterbrechen, sonst werde ich Sie davon ausschließen.“

Den giftigen Blick den sie dafür bekam, hatte sie mehr als verdient.

Mit einem „Nun denn, lassen Sie uns weitergehen“ übernahm sie wieder die Führung tiefer in den Zoo hinein. Ich wollte sofort hinterher – egal was sie vorhatte, ich würde dafür sorgen, dass die Leute die Proles sehen würden – wurde vor Reese aber sofort wieder zurück gerissen.

„Hör auf damit“, fuhr er mich an. „Reiß dich zusammen, sonst lieferst du der Frau nur Munition gegen dich.“

„Aber was auch immer sie vor hat, sie wird den Leuten die Proles nicht zeigen.“

„Dann finden wir eben eine andere Möglichkeit sie dranzukriegen, aber kopflos drauflos zustürzen ist im Moment das Dümmste was du tun kannst. Tu einmal das was ich dir sage.“

Ich wollte nicht. Ich wollte die Frau als das entlarven, was sie wirklich war, bevor sie sich weiter mit ihrem Lügen anbiedern konnte, aber Reese hatte recht. Ich durfte nicht agieren, ich musste reagieren, sonst würde ich mich nur selber lächerlich machen – so wie ich es gerade schon getan hatte. „Okay, in Ordnung. Lass mich los, ich mach es nicht noch mal.“

Er kam meiner Forderung nach, auch wenn er misstrauisch blieb, bis er merkte, dass ich nicht vorhatte wieder voranzustürmen. Doch die Unruhe in mir stieg mit jedem Schritt, denn wir weiter vordrangen.

Ich war mir nicht sicher, aber ich glaubte diesen Weg wiederzuerkennen. Leider sah hier alles so gleich aus, dass ich mich auch täuschen konnte. Umso erstaunter war ich, als wir plötzlich zu einer mir wohlbekannten Voliere kamen. „Pascha“, entfuhr es mir unwillkürlich, als Malou an die Glasseite der Voliere trat und ein wenig Futter aus dem Futterspender nahm, um es in die Schleuse zu legen.

Sie führte die Leute direkt hier her? Aber warum?

Doch das was da zwischen den Ästen und zweigen auftauchte, um sich die Leckerei zu schnappen, war keine weißer Toxrin, das waren kleine Äffchen , ganz normale Äffchen.

„Das sind meine Hainan-Gibbons“, erklärte Malou mit einem Lächeln und begann dann ein wenig über sie zu erzählen. Wie selten und gefährdet sie waren, wo sie herkamen und allen möglichen anderen Müll.

Ich stand nur da und beobachtete verwirrt die Affen. „Aber … wo ist der Toxrin?“ Ich schaute zu Reese auf. „Da müsste ein Toxrin drinnen sitzen, ein Albino. Ich habe ihn gesehen.“

Reese warf mir einen Blick zu, den ich nicht zu deuten wusste. „Vielleicht verwechselst du die Volieren.“

„Nein, ich bin mir sicher, hier müsste Pascha drinnen sitzen.“ Das erkannte ich an diesem verdammten Futterspender. „Sie muss ihn rausgenommen haben“, wurde mir klar. „Sie hat ihn gegen die Affen ausgetauscht.“ Aber wie hatte sie das anstellt? In den letzten Tagen konnte sie unmöglich ihre Proles vom Gelände geschafft haben. Seit ich das Video veröffentlicht hatte, war das Anwesen Tag und Nacht von Paparazzi und Demonstranten belagert worden. Bedeutete das, der Toxrin waren noch irgendwo auf dem Gelände? Aber wo? Und wie hatte sie die Affen hergeschafft?

„Ähm, ich will dir ja nicht widersprechen“, sagte Jerome. „Aber diese Affen sind verdammt selten und die paar Tage die sie hatte um diese Führung vorzubereiten, reichen bei weitem nicht aus, um legal an solche Tiere heranzukommen.“

„Wer sagt denn, dass sie sie sich legal besorgt hat?“ Sie hatte immerhin Geld wie Heu und mir ihren Kontakten fiel es ihr bestimmt nicht schwer, auch an so seltene Tiere heranzukommen. Doch die Überzeugung, die an dieser Stelle noch in meiner Stimme mitgeschwungen hatte, schwand, je weiter wir in den Zoo vordrangen.

Dort wo Diva und Carlos sitzen sollten, befand sich nun ein weißer Tiger. In der Voliere des Deccus hing ein Zwergfaultier und dort wo sich der blaue Dorcas befinden sollte, streiften nun mehrere Saola-Waldrinder herum. Tarzan Chamäleon, Hunter-Antilope und Hyazinth-Ara, überall seltene und bedrohte Tierarten, aber kein einziges Proles. Das verstand ich nicht. Wo waren die ganzen Proles abgeblieben? Hatte sie die wirklich alle ausgetauscht?

Als wir dann zu dem Gehege mit den Iubas kamen, war ich nicht nur fassungslos und verwirrt, ich zitterte geradezu vor Nervosität. Meine Beine wollten mir nicht gehorchen und ich musste mich an Reese' Hand klammern, um überhaupt einen Schritt voran zu kommen. Hier war es, hier hatte sie versucht mich zu töten.

Mein Herzschlag beschleunigte sich und mein Atem wollte mir schon mal gar nicht gehorchen. Nicht nur Reese musterte mich leicht besorgt, auch die anderen Venatoren warfen mir immer wieder vorsichtige Blicke zu, wenn sie glaubten, dass ich es gerade nicht bemerkte.

„Wir können gehen, wenn du willst“, schlug Reese vor.

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf und ging weiter. Auch wenn ich mittlerweile nicht mehr daran glaubte die Iubas in dem Gehege zu sehen, ich musste mich vergewissern. Also ging ich mutig weiter und nährte mich der gläsernen Fassade, während Malou vor dem Gehege Stellung bezog.

Als ich auf den ersten Blick kein Leben hinter dem Glas entdecke, trat ich ganz nahe heran. Ja ich legte sogar eine Hand an das Glas, während mein Blick wild das Innere absuchte. Und dann sah ich sie.

„Hier wohnen meine zwei Iberischen-Luchse“, erklärte Malou in diesem Moment. „Diese beiden sind etwas ganz besonderes.“

Während sie wieder eine Geschichte für die Kameras zum Besten gab, konnte ich nur fassungslos auf den Luchs starren, der gerade mit vorsichtigen Schritten durch das Gehege streifte. „Aber sie waren hier“, flüsterte ich so leise, dass nur Reese es hören konnte. „Das ist das Gehege, in das sie mich eingesperrt haben.“

„Shanks.“ Reese versuchte mich ein Stück vom Glas wegzuziehen und als ich mich weigerte, legte er mir eine Hand auf die Wange und drehte meinen Kopf sehr nachdrücklich, sodass ich gezwungen war ihn anzusehen. „Du hast genug, wir gehen jetzt.“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf und wollte zurückweichen, doch er hielt mich fest.

„Doch. Ist mir egal was hier los ist, du siehst aus, als würdest du jeden Moment einfach umfallen.“

So fühlte ich mich auch. „Aber ich kann nicht gehen. Ist dir denn nicht klar was sie macht? Sie zeigt diesen Menschen diese Farce und jetzt wird mir niemand mehr glauben.“ Erst in dem Moment in dem ich das sagte, wurde mir klar, wie recht ich damit hatte. Wir befanden uns in ihrem Zoo, dem Zoo, von dem ich behauptet hatte, er sei voller Proles, aber nun waren hier nur ganz normale Tiere.

Sie hatte mich ausgespielt. Ich hatte keine Ahnung wie sie das gemacht hatte, doch sie hatte es getan.

„Es ist mir egal was sie macht, wir werden jetzt gehen.“

„Nein. Ich kann nicht gehen, nicht bevor alle die Wahrheit kennen.“

„Shanks …“

„Nein!“, fauchte ich ihn an und wirbelte zu Malou herum. Es war mir egal ob die ganze Scheiße hier live im Fernsehen übertragen wurde, ich würde mich nicht als Lügnerin hinstellen lassen. „Wo sind sie?!“, verlangte ich zu erfahren und unterbrach damit ihren Redefluss. „Wo sind die beiden Iubas?!“

Malou drehte den Kopf und erwiderte meinen Blick mit kühler Mine. „Ich kann Ihnen versichern, dass es in diesem Zoo weder einen Iuba noch ein anderen Proles gibt. Eigentlich müssten Sie das mittlerweile selber verstanden haben.“

„Oh ich verstehe sehr genau was hier läuft!“ Als Reese versuchte mich wegzuziehen, riss ich mich von ihm los und machte ein paar wütende Schritte auf die Milliardärin zu. „Sie haben die ganzen Proles genommen und sie gegen normale Tiere ausgetauscht, damit niemand mehr Ihre Lüge anzweifelt!“

Ihre Lippen kräuselten sich spöttisch. „Und wie bitte habe ich das gemacht? Glauben Sie ich bewahre für so einen Notfall einen Haufen seltener und bedrohter Tierarten im Keller auf, um sie bei Bedarf gegen ihre Phantasie-Proles auszutauschen? Wissen Sie eigentlich wie verrückt das klingt?“

„Sie haben sie gekauft!“

„In der kurzen Zeit?“ Sie ließ ein glockenhelles Lachen erklingen. „Es ist nicht möglich, innerhalb weniger Tage an diese Tiere zu gelangen. Wenn Sie mir nicht glauben wollen, dann stellen Sie einfach ein paar Nachforschungen an. Es gibt Wartelisten, Genehmigungen müssen eingeholt werden, Leute vom Tierschutzverband überprüfen in regelmäßigen Abständen die Anlage, um eine optimale Unterbringung zu gewährleisten. Sowas dauert Wochen, wenn nicht sogar Monate. Und bevor jetzt noch andere an den Haaren herbeigezogene Anschuldigungen kommen, ich habe für jedes meiner Tiere rechtskräftige Dokumente, die jeder Kontrolle standhalten, zusammen mit genauen Daten und auf den Kaufverträgen. Die meisten dieser Tiere befinden sich bereits seit Jahren in meinem Besitz.“

Es war wahr was sie sagte. Ich wollte es nicht zugeben, aber wenn diese Tiere wirklich alle legal in ihrem Zoo waren … nein, sie versuchte nur mich zu manipulieren. „Sie lügen. Ich weiß nicht wie Sie es gemacht haben, aber ich weiß dass aus Ihrem Mund nur Bullshit kommt! Sie haben mich entführen lassen und weil ich Ihnen entkommen bin, versuchen sie nun Ihre eigenen Haut zu retten, indem Sie mich diskreditieren!“

„Warum bitte sollte ich Sie entführen lassen?“

„Weil Sie der verdammte Boss von L.F.A. sind und ich Ihnen ein Dorn im Auge bin!“

Malou schüttelte den Kopf, als wäre es ihr völlig unverständlich, was sie da hörte. „Ich habe keine Ahnung, was genau Sie eigentlich von mir wollen, aber langsam glaube ich hier geht es gar nicht um Tierschutz. Warum auch immer, langsam erwecken Sie den Eindruck, als hätten sie es auf mich persönlich abgesehen.“

Das sie damit recht hatte, machte mich noch wütender. „Tun Sie nicht so ahnungslos, Sie wissen ganz genau was hier los ist und ich schwöre Ihnen, mit dieser Scheiße werden sie nicht durchkommen! Ich werde Sie dran kriegen und für all Ihre Taten bezahlen lassen!“

„Shanks“, mahnte Reese.

„Sie werden schon sehen, am Ende werden Ihnen ihre ganzen Lügen um die Ohren fliegen und dann wird auch Ihr vieles Geld Sie nicht mehr schützen können!“

„Jetzt drohen Sie mir auch noch?“ Malou tat als wäre sie fassungslos. „Wissen Sie, bisher hatte ich Verständnis für ihr Verhalten. Der Tierschutz ist etwas sehr Wichtiges und geht uns alle etwas an und es ist immer gut zu wissen, dass es dort draußen Leute gibt, die ein Auge darauf haben, damit solche kostbaren Tiere auch ein gutes und artgerechtes Leben führen können, aber ich empfehle Ihnen dringend einmal mit einem Therapeuten zu sprechen. Diese Aggressionen können nicht gesund sein.“

Aggressionen? Ich geb dir gleich Aggressionen, du dumme Kuh! „Sie machen mich aggressiv, Sie und ihre verdammten Lügen!“

„Ich möchte mir das nicht mehr länger anhören, aber vielleicht sollte man mal darüber nachdenken, ob es so eine gute Idee ist, sie weiter als Venator arbeiten zu lassen. Menschen die Mental nicht ganz bei Sinnen sind, sollte man eigentlich keine Waffe in die Hand geben.“

„Mental nicht ganz bei Sinnen?! Soll das eine nette Umschreibung dafür sein, mich für durchgeknallt zu erklären?!“

„Das haben Sie gesagt, aber bei Ihrer Vorgeschichte …“ Sie schüttelte den Kopf, ohne den Satz zu beenden.

Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Ich stand kurz davor mich einfach auf diese dumme Kuh zu stürzen. „Was wissen Sie schon von meiner Vorgeschichte?! Sie haben keine Ahnung von mir, also halten Sie den Mund!“

„Shanks.“ Reese griff wieder nach mir, aber ich riss mich erneut los.

Malou hob den Kopf ein wenig. „Ein schweres Trauma in der Kindheit. Mehrere Jahre in ärztlicher Behandlung, ein Teil davon sogar in der geschlossenen Abteilung.“ Sie sagte das so leicht hin, als wäre das allgemein bekannt.

Mir wich alle Farbe aus dem Gesicht. „Sei still, du Miststück.“

Aber sie war nicht still, sie setzte sogar noch eins obendrauf. „Und dann vor drei Jahren Ihre Verwicklung in den Kampfarena-Fall, in dessen Folge durch Ihre Schuld sogar ein Familienmitglied zu Tode gekommen ist.“

Damit war sie zu weit gegangen. Mein Zorn loderte einfach auf und ich rastete aus. Niemand konnte so schnell reagieren, wie ich mich auf sie stürzte und sie mit mir zu Boden riss.

Sie kreischte auf, als würde ich grade versuchen ihr den Kopf mit einer Kettensäge vom Körper zu trennen.

„Ich werde dir die ganzen scheiß Lügen aus dem Leib prügeln, bis du endlich die Wahrheit sagst!“, schrie ich ihr ins Gesicht und holte mit der Faust aus, doch mein Schlag streifte gerade mal ihr Kinn, weil Reese mich in dem Moment von hinten packte und einfach von ihr wegriss. „Nein! Lass mich los!“, kreischte ich und wand mich so heftig in seinem Griff, dass er arge Probleme hatte mich festzuhalten.

„Die ist ja verrückt!“, rief Malou entsetzt genug, dass ihre Empörung glaubhaft wirkte. „Völlig durchgedreht!“

„Hier ist nur einer völlig durchgedreht, du scheiß L.F.A.-Schlampe! Niemand wird dir diese Scharade abkaufen, alle wissen was du getan hast!“

„Shanks hör auf!“, ächzte Reese und veränderte eilig seinem Griff, als ich ihm zu entkommen drohte. Er schlang die Arme fest um meine Taile und hob mich einfach hoch.

„Du wirst untergehen, du Miststück! Du wirst es noch bereuen, dass du jemals meinen Namen gehört hast, das schwöre ich dir!“

„Verdammt noch mal, Shanks!“

„Schafft sie hier raus!“, forderte Malou in einem Befehlston und die Sicherheitsleute, die bereits versuchten an mich heran zu kommen, aber von meinen Kollegen daran gehindert wurden, drängten weiter nach vorne. Dabei war jede Kamera auf mich gerichtet und filmte, wie ich völlig ausrastete und diese Schlampe beschimpfte.

„Es ist egal ob du mich rauswirfst, ich werd dich kriegen! Hörst du Malou? Ich werde dafür sorgen, dass du an deiner ganzen Scheiße einfach erstickst! Du wirst mir nie wieder auch nur ein Haar krümmen!“ Ich beschimpfte Malou, ohne auch nur einen Deut nachzulassen. Ja selbst als Reese mich so weit weggetragen hatte, dass ich sie nicht mehr sehen konnte, verfluchte ich sie und ihre Taten noch, denn ich wusste, dass sie mich noch hören konnte. Sie hatte nicht nur mich dumm aussehen lassen, sie hatte auch noch meine Familie ins Spiel gebracht und damit war sie einfach zu weit gegangen. Sie würde für alles bezahlen, was sie getan hatte.

Die anderen Venatoren und ein Teil der Sicherheitsleute folgten uns zurück in zum Haus, während ich weiter in Reese' Armen zappelte und tobte. Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so wütend auf einen anderen Menschen gewesen. Wie schaffte diese Frau es nur immer wieder, dass ich am Ende dumm dastand? Das war doch nicht zum Aushalten!

Sobald wir das Haus erreicht hatten, stellte Reese mich zurück auf die Füße, aber auch nur, um mich am Arm zu packen und weiter hinter sich herzuziehen.

Als ich von ihm verlange mich sofort loszulassen, ignorierte er mich einfach und als ich wieder begann mich zu wehren, wurde sein Griff nur noch fester. Selbst als wir das Haus mit den anderen Venatoren verlassen hatten und die Leute vom Sicherheitsdienst die Tür fest hinter und verschlossen, zerrte er mich weiter.

„Nimm endlich deine verdammten Pfoten von mir!“, fauchte ich ihn an, als mein Geduldsfaden bereits kurz vor dem Zerreißen war und versuchte meine Beine in den Boden zu stemmen.

In dem Moment war es mit Reese' Ruhe vorbei. Er riss mich einfach herum, sodass ich von Angesicht zu Angesicht zu ihm stand und packte mich auch noch am anderen Oberarm. „Hör jetzt endlich auf und beruhige dich“, knurrte er mich an.

„Beruhigen?!“, fragte ich ihn fassungslos. „Hast du da drinnen überhaupt irgendetwas mitbekommen?!“

„Vor allen Dingen habe ich mitbekommen, dass du dich wie eine Irre aufführst.“

„Ich führe mich wie eine Irre auf, weil das alles hier bis zum Himmel stinkt und sonst niemand den Mut hat den Mund aufzumachen!“ Ich riss wieder an meinen Armen und dieses Mal ließ er mich endlich los. „Ich habe keine Ahnung wie sie das gemacht hat, aber ich werde mich nicht als Lügnerin hinstellen lassen! Da waren Proles in diesem Zoo, aber jetzt sind sie weg und ich werde herausfinden, wo sie abgeblieben sind!“

Angespannt hob Reese die Hand an die Stirn und rieb sich darüber. Warum verdammt noch mal brüllte er nicht zurück? „Bist du schon mal auf den Gedanken gekommen, dass du dich da in etwas verrennst?“

„In etwas verrennen?“ Ich lachte scharf auf. „Was, glaubst du plötzlich, ich habe mir die ganze Scheiße nur eingebildet, oder was?“

Als er mir wieder in die Augen sah, war da nichts als Sorge und Resignation in seinem Gesicht. „Wir waren gerade in diesem Zoo, da gibt es keine Proles.“

Einen Moment glaubte ich mich verhört zu haben. So wie es klang, konnte es nicht gemeint sein. „Was?“ Meine Stimme klang plötzlich ein wenig zitterig. „Wie meinst du das?“

Er presste einen Moment die Lippen aufeinander, wich meinem Blick aber nicht aus. „Die Nachricht mit den Iubas, der Überfall auf den Transport, die Untersuchung des Verbandes“, zählte er auf. „Das allein bedeutet schon eine Menge Stress. Dann kommt noch die Vergiftung des Toxrins hinzu und deine Entführung. Du hattest bisher noch keine Chance irgendwas davon zu verarbeiten. Vielleicht solltest du mal mit einem Therapeuten sprechen.“

Das war wie ein Schlag mitten ins Gesicht. „Was, glaubst du jetzt auch noch, ich hätte sie nicht mehr alle? Ein Therapeut kann mir sicher nicht dabei helfen diese Frau hinter Gittern zu bekommen!“

„Das habe ich damit auch nicht gemeint.“

Einen Moment lang verstand ich nicht, was er damit sagen wollte und als mich die Erkenntnis dann überkam, war das gelinde gesagt ein Schock für mich. „Du glaubst mir nicht.“ Fassungslos und ungläubig wich ich einen Schritt vor ihm zurück. „Du glaubst ihre Lügen.“

„Nein, ich glaube nichts von dem was diese Frau sagt, aber … sei doch mal realistisch. Da sind keine Proles in diesem Zoo. Ich habe keine Ahnung was zwischen dir und ihr vorgefallen ist, doch seit der Entführung benimmst du dich seltsam. Das ist in Ordnung, es war ein traumatisches Erlebnis, aber im Moment habe ich den Eindruck, dass du den Überfall auf die Transporter so sehr aufklären willst, dass du dir die ganze Geschichte einfach nur zusammengesponnen hast.“

Ich konnte kaum glauben was ich da hörte. „Zusammengesponnen? Zusammengesponnen?!“ Meine Stimme war so schrill, dass sie sich beinahe überschlug. „Das hier ist verdammt noch mal kein Rachefeldzug gegen L.F.A., die Schlampe hat versucht mich zu ermorden und jetzt nimmst du sie in Schutz?!“

„Ich nehme niemanden in Schutz, ich sage nur …“

„Ich scheiß drauf was du sagst!“, fauchte ich ihn an. „Ich hab doch keine Halluzinationen, ich weiß was ich erlebt habe!“

„Und genau deswegen möchte ich, dass du dir eine Zeitlang frei nimmst.“

Es wurde immer verrückter und als ich auf der Suche nach Hilfe in die Gesichter der anderen Venatoren sah, schauten diese betreten drein oder wichen meinem Blick aus. Mit einem Schlag wurde mir klar, dass auch sie mir nicht mehr glaubten. Malou hatte es geschafft, dass sogar die Leute die mir vertrauten an meinen Worten zweifelten. Damit hatte ich eine neue Stufe der Erniedrigung erreicht. „Und der Iuba?“, fragte ich in einem letzten Versuch sie zum Glauben zu bewegen. „Wie verdammt noch mal bin ich mit dem Iuba in dem verdammten Bunker gelandet, wenn meine Geschichte doch erstunken und erlogen ist?“

„Ich weiß es nicht.“ Reese holte erschöpft Luft. „Ich weiß nur, dass während deiner Entführung etwas passiert sein muss, dass dich völlig aus der Bahn geworfen hast. Du arbeitest unkonzentriert und bringst dich selber damit in Gefahr. Du bist völlig auf diese Frau fixiert und spinnst dir …“ Er verstummte und drückte kurz Lippen aufeinander. „So kann es nicht weitergehen Shanks.“

Tief getroffen über diesen Verrat, ballte ich meine Hände zu Fäuste. „Schön, wenn ihr mir nicht glauben wollt, dann lasst es eben, aber ich weiß was geschehen ist und ich werde diese Frau nicht so einfach davonkommen lassen.“

„Du wirst dich von ihr Fernhalten“, befahl Reese. Sein Pech, dass ich auf Befehle allergisch reagierte.

„Du kannst mir nicht vorschreiben was ich zu tun habe“, knurrte ich ihn an, drehte mich herum und stapfte wütend los. Doch mehr als zwei Meter weit kam ich nicht, da packte er mich auch schon von hinten an der Jacke und versuchte mich festzuhalten. Schade nur, dass er dort keinen besonders guten Halt fand.

„Fass mich nicht an!“, fauchte ich, während ich wütend zu ihm herumwirbelte und ihm einen Stoß gegen die Brust gab, der kräftig genug war, um ihn einen Schritt zurück stolpern zu lassen. „Wenn du mir nicht glauben willst, dann lass es halt, aber ich kann dir versichern, dass nichts von dem was ich erzählt habe die Folge eines traumatischen Erlebnisses ist, das dringend therapiert gehört!“

„Es ist aber auch nicht das was geschehen ist.“

Am Liebsten hätte ich ihm gegen das Schienbein getreten, um ihm ein wenig Vernunft einzubläuen. „Lass mich einfach in Ruhe.“

„Ach ja? Und was dann?“

„Was interessiert es dich? Du denkst doch neuerdings sowieso, dass ich nicht mehr zurechnungsfähig bin!“

„Ich denke dass du Hilfe brauchst.“

„Und ich denke, dass ich Zeit zum Nachdenken brauche.“ Als ich mich wieder abwenden wollte, sah ich seine Hand auf mich zu schnellen, doch dieses Mal war ich vorgewarnt. „Lass mich in Ruhe!“, fauchte ich ihn an. „Und wage es nicht mir zu Folgen, ich kann dich im Moment nicht ertragen!“ Und das meinte ich ganz genau so wie ich es sagte. Allein ihn zu sehen schmerzte, weil er plötzlich an meinen Worten zweifelte. Das hatte er noch nie getan. Er war bisher der Mensch gewesen, auf den ich mich immer hatte verlassen können. Ganz egal was los war, er war da und gab mir Kraft. Doch jetzt … jetzt nicht mehr.

Mit einem letzten warnenden Blick in seine Richtung wandte ich mich ab und ließ ihn einfach stehen.

 

°°°

 

„… Fall von PTBS. Sowas kann nach einer Entführung schon mal passieren und es ist ja auch nichts Schlimmes.“

Ich presste die Lippen aufeinander und musste mich schwer beherrschen um das Telefonat mit Evangeline nicht einfach zu beenden. Erst Reese und nun auch noch sie. „Ich habe keine posttraumatische Belastungsstörung, diese Zoo war voller Proles gewesen und nun sind sie alle weg.“

„Ich behaupte ja nicht, dass das nicht stimmt, nur …“ Sie zögerte. Die Frau die sonst einfach drauf los plapperte, ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken, zögerte. „Grace, ich habe gerade deinen Auftritt im Fernsehen gesehen und, naja, du erweckst nicht gerade den Eindruck, als wenn mit die alles in Ordnung wäre.“

„Was vielleicht daher kommt, dass es das auch nicht ist!“, fauchte ich in mein Handy und stampfte wütend an einer pikiert dreinblickenden Lady vorbei.

Ich war den ganzen Weg nach Dömitz gelaufen, um den Kopf klar zu kriegen, aber es hatte rein gar nichts gebracht. Das Reese mir nicht glaubte, hatte mich so erschüttert, dass ich einfach nicht mehr wusste, was ich jetzt tun sollte. Zurück zu ihm wollte ich nicht, also blieb mir gar nichts anderes übrig, als durch die Ortschaft zu streifen. Eve hätte eigentlich meine Rettung sein sollen, die mir ein wenig Trost spendete, aber nun begann auch sie an mit zu zweifeln.

„Ich fasse es einfach nicht“, murmelte ich, legte den Kopf in den Nacken und schaute hoch in den kalten Nachthimmel. Es war schon vor einer ganzen Weile dunkel geworden, aber das kalte Gefühl in mir kam nicht von der Temperatur. „Warum sieht denn niemand, was für eine falsche Schlange diese Frau ist?“

„Marketing?“, fragte Eve scherzhaft, doch zu Witzen war ich im Moment absolut nicht auferlegt.

„Ich meine es ernst. Erst entführt sie mich und versucht mich zu ermorden und plötzlich bin ich eine verrückte Tierschützerin. Dann stelle ich sie bloß und bin auf einmal nur noch verrückt. Was stimmt an diesem Bild nicht?“

„Es tut mir leid dir das zu sagen, aber ich glaube du steigerst dich da in etwas rein.“

Das brachte das Fass endgültig zum Überlaufen. Ich machte mir nicht mal mehr die Mühe etwas zu erwidern, weil ich genau wusste, dass ich sie nur anschreien würde, ich beendete das Telefonat einfach und war kurz versucht das Handy mit einem Wutschrei gegen die nächste Hauswand zu werfen. Doch stattdessen fuchtelte ich kurz verärgert mit den Armen in der Luft herum, nur um dann mit einem tiefen Seufzen in mich zusammenzusacken.

Eigentlich hätte ich schon, bevor ich hier her gekommen war, wissen müssen, dass diese blöde Kuh nicht nur etwas plante um ihren Namen wieder reinzuwaschen. Es war einfach nur dumm von mir gewesen zu glauben, dass dieser Besuch keine Konsequenzen für mich haben würde. Und jetzt, nachdem was auf ihrem Anwesen geschehen war … ich war am Ende meiner Weisheit und fühlte mich einfach nur noch allein uns ausgelaugt. Es konnte doch nicht sein, dass wirklich jeder auf diesem verdammten Planeten plötzlich an mir zweifelte.

Niedergeschlagen steckte ich meine Hände samt Handy in meine Jackentasche und ging langsam am Bordstein entlang. Wenn ich nur herausfinden könnte, wo die verdammten Proles abgeblieben waren, doch ich hatte keine Ahnung wie ich das anstellen sollte. Ich konnte ja schlecht fragen, ob ich einmal ihr Haus durchsuchen dürfte. Wahrscheinlich würde sie mir einfach nur ins Gesicht lachen. Tja, wenn ich so viel Einfluss, Macht und Geld hätte, würde ich das an ihrer Stelle vermutlich auch run. Aber irgendwie musste diese Frau doch dranzukriegen sein. Selbst wenn man die Entführung und den Mordversuch außer Acht ließ, war sie immer noch der Boss von L.F.A. und damit gehörte sie zu den wohl gefährlichsten Menschen in diesem Land.

Vielleicht wäre das der passende Weg an sie heranzukommen. Sie direkt anzugreifen hatte nicht funktioniert, aber wenn ich versuchte über L.F.A. zu gehen, hatte ich vielleicht eine Chance. Und ich wusste auch schon ganz genau, wo ich ansetzten musste.

Entschlossen zog ich mein Handy wieder aus der Tasche und wählte die Nummer von Lexian. Es klingelte vier Mal, bis am anderen Ende mit einem „Hallo?“ abgenommen wurde.

„Lexian? Ich bin es Grace. Ich wollte nur wissen, ob Sie in der Zwischenzeit etwas über Adrian Lambrecht in Erfahrung gebracht haben.“

Einen Moment schwieg er, als müsste er sich erst auf die Frage einstellen. „Ich habe tatsächlich ein wenig herumgefragt und mich auch an die Personalabteilung gewandt, aber bisher bin ich zu keinem Ergebnis gekommen. Ich weiß nicht wer der Mann ist, aber genauso gut könnte er nicht existent sein.“

Was er wahrscheinlich auch nicht war, wenn man bedachte, wie viele verschiedene Unterschriften er hatte. „Könnten Sie mir eine Liste zusammenstellen, mit allen Fällen die er bearbeitet hat?“

„Das kann ich gerne tun, aber wenn Sie mir die Frage gestatten, was versprechen Sie sich davon?“

Ja, das war eine wirklich gute Frage. „Da bin ich mir selber noch nicht ganz sicher, aber ich muss einen Weg finden um an L.F.A. heranzukommen.“

„Halten Sie das für eine gute Idee? Sie doch selber am Besten, dass mit diesen Leuten nicht zu spaßen ist.“

„Ich habe gar keine Wahl“, sagte ich und strich mir unruhig durch die Haare. „Frau Grabenstein hat es geschafft mich heute komplett unglaubhaft zu machen und jetzt muss ich irgendwie anders an sie herankommen, damit sie nicht einfach ungestraft davon kommt.“

„Sie hat Sie unglaubhaft gemacht? Wie das? Bis jetzt war es doch ein klarer Fall.“

Ich zögerte damit ihm zu sagen, was geschehen war. Er hatte scheinbar nicht in den Fernseher geschaut und wusste noch nichts von Malous Show und meinem kleinen Ausbruch, was bedeutete, dass er mir im Moment noch glaubte. Es war schön mit jemanden zu sprechen, der nicht plötzlich an allem was ich sagte zweifelte und doch stieß ich ein schweres Seufzen aus und berichtete ihm dann, wie niederschmetternd mein Tag gewesen war. „Ich weiß nicht wie sie das angestellt hat“, endtete ich, „aber ich kann das nicht so stehen lassen, verstehen Sie? Ich muss etwas unternehmen.“

„Ich stimme Ihnen zu.“ Ganz klar und ohne das kleinste Zögern kamen diese Worte von ihm und überraschten mich so sehr, dass ich mitten auf dem Gehweg verdutzt stehen blieb.

„Sie stimmen mir zu? Das heißt Sie glauben mir?“

„Natürlich glaube ich Ihnen. Ich habe ihre Verletzungen gesehen und außerdem ist ihre Geschichte viel stimmiger als die von Frau Grabenstein. Ich kann nicht verstehen, dass Herr Tack das anders sieht.“

Das konnte ich auch nicht, aber er tat es und das schmerzte.

„Aber ich bezweifle, dass Sie über Adrian Lambrecht an sie herankommen werden. Was Sie brauchen ist ein handfester Beweis, denn Frau Grabenstein nicht widerlegen kann.“

„Klar und wenn Sie mir jetzt noch sagen, wo genau ich den herbekomme, mache ich mich sofort auf den Weg.“

Er schwieg einen Moment, dann antwortete er langsam. „Vielleicht … wenn Sie aufgeschlossen genug dafür sind, wüsste ich vielleicht wirklich einen Weg.“

Hätte ich nicht bereits stillgestanden, dann hätte ich das spätestens jetzt getan. „Was meinen Sie mit aufgeschlossen?“

„Das es nicht ganz legal wäre.“

„Nicht ganz legal?“ Der misstrauische Unterton in meiner Stimme war nicht zu überhören. Wie kann etwas nicht ganz legal sein? Entweder es war legal, oder es war es nicht und auf irgendwelche krummen Dinger würde ich mich ganz sicher nicht einlassen, so verzweifelt war ich noch nicht – aber viel fehlte auch nicht mehr.

„Eigentlich ist es doch ganz einfach. Der einzige Ort an dem wir sicher einen klaren Beweis finden, ist dort wo Sie die Proles zuletzt gesehen haben. Selbst wenn Frau Grabenstein die Abkömmlinge gegen Tiere ausgetauscht hat, muss es dort trotzdem noch Spuren von ihnen geben.“

„Sie schlagen also was vor? Das ich mich in einer Nacht- und Nebelaktion aufs Gelände schleiche und dort ein wenig herumschnüffle?“

„Ganz genau.“

Nein, dazu fiel mir nichts mehr ein. Bei Malou einbrechen? War der verrückt geworden? Wenn die mich erwischten, brachten die mich um – und das war nicht nur so dahingesagt.

„Natürlich würde ich Sie nicht alleine gehen lassen, das wäre viel zu gefährlich. Ich würde sie begleiten.“

„Sie würden mitkommen?“ Da war ich baff. „Warum?“

„Weil diese Frau aufgehalten werden muss. Heute hat sie noch Sie im Visier, aber wer wird der Nächste sein?“

Reese, er würde der nächste sein. Malou hatte es mir selber gesagt und sobald sie mit mir fertig war, würde sie sich auf ihn stürzen, da war ich mir sicher. Das konnte ich nicht zulassen. Auch wenn er mir nicht glaubte, war das noch lange kein Grund ihn ins Messer laufen zu lassen.

Plötzlich klang Lexians Idee gar nicht mehr so hirnrissig. Wir müssten nur schnell rein, einen Beweis suchen und dann wieder unbemerkt heraus. Da ihr Zoo keine Hochsicherheitsanlage besaß, sollte das doch zu schaffen sein.

Meine Entschlossenheit wuchs. Jetzt wusste ich ganz genau, was zu tun war. „Wann können Sie hier sein?“

 

°°°

 

„Halten Sie es für sicher ohne Licht zu fahren?“

„Ich will nicht, dass irgendjemand zufällig auf uns aufmerksam wird.“

Das wollte ich auch nicht, aber genauso wenig wollte ich frontal in einen Baum krachen. Man musste Lexian jedoch zugute halten, dass er sehr langsam fuhr.

Es war kurz nach Mitternacht. Vor nicht mal zwanzig Minuten hatte Lexian mich in Dömitz aufgesammelt und nun nährten wir uns mit seinem Wagen von hinten dem Gelände von Malou. Zuerst hatte ich befürchtet, wir müssten einen Marsch durch den Wald machen, doch dann hatten wir einen alten, sehr schmalen und ziemlich überwucherten Zufahrtsweg zwischen den Bäumen entdeckt und nun hüpfte und polterte der Wagen über die Wurzeln und das Unterholz. Das tat den Stoßdämpfern sicher nicht gut.

„Können Sie überhaupt irgendwas erkennen?“

„Wenn ich jetzt nein sage, können Sie es doch auch nicht ändern, oder?“

Nein konnte ich nicht, aber eigentlich hatte ich auch auf ein Ja gehofft.

Als das Handy in meiner Tasche anfing zu bimmeln, zog ich es eilig heraus und warf einen Blick auf das Display. Reese. Das war sein dritter Versuch in den letzten zwei Stunden, mich zu erreichen – Puls einer Textnachricht, in der er mir mitteilte, dass ich verdammt noch mal an mein verdammtes Handy gehen sollte, bevor er verdammt noch mal durchdrehte. Er sollte wirklich aufhören so viel zu fluchen.

Wie auch die anderen Male, ignorierte ich seinen Anruf. Ich drückte ihn nicht weg, ich wartete einfach bis es aufhörte zu klingeln und schaltete das Handy dann ganz aus – nicht dass er noch mal anrief, wenn wir gerade durch Malous Zoo schlichen.

Es war kein schönes Gefühl, ihn so außen vor zu lassen, besonders nicht bei dem was wir nun vorhatten, aber das hier war wohl einer der seltenen Fälle, in dem es angebracht war, später um Verzeihung, als vorher um Erlaubnis zu bitten. Er würde es schon verstehen. Naja, zumindest nachdem er mich in Grund und Boden gestampft hatte. Er sollte wirklich an seinem Umgang mit anderen Menschen arbeiten.

Als Lexian den Wagen anhielt und den Motor ausschaltete, ließ ich mein Handy wieder in der Jackentasche verschwinden und warf einen Blick durch das Fenster – nicht dass ich viel sah. Es war dunkel und überall um uns herum standen Bäume. Aber dort, direkt vor uns, konnte man eine Mauer ausmachen, wenn man ganz genau hinsah. Zumindest glaubte ich, dass es sich um eine Mauer handelte. Konnten auch Bäume sein, die sehr dicht zusammenstanden.

„Sollen wir das wirklich tun?“, fragte ich leise. Wenn wir wirklich etwas fanden, wäre das einfach nur super, aber ich hatte ehrlich gesagt ein ungutes Gefühl bei der Sache.

„Haben Sie etwa zweifel?“

Und ob ich die hatte. „Es kann nur so viel schief gehen.“ Und das Ergebnis würde dann keinem von uns gefallen.

„Es kann aber auch reibungslos verlaufen und wenn wir Glück haben, werden all Ihre Probleme nach dieser Nacht hinfällig sein.“

Das hörte sich schon toll an, nur leider war das nie so einfach mit den Problemen. Andererseits, wie schlimm konnte es schon noch werden?

Wenn ich ehrlich war, wollte ich gar nicht erst versuchen, auf diese Frage zu antworten. Aber ich lag bereits fast am Boden. Der Verband wollte mich weg haben, die Polizei wollte mich weg haben und nach meinem heutigen Fernsehauftritt, wollte mich vermutlich auch die halbe Bevölkerung weg haben. Egal wie das hier ausging, verloren hatte ich bereits, jetzt konnte ich eigentlich nur noch gewinnen.

„Okay, tun wir es.“ Ich griff nach der Tür, als Lexian mich mit einem „Moment“ zurückhielt.

„Ich hab hier noch etwas mitgebracht.“ Er drehte sich halb herum und griff zwischen den Sitzen hindurch, nach einer fast quadratischen Schachtel. „Ich habe mir gedacht, dass wir das vielleicht gebrauchen können“, erklärte er und legte sie mir in den Schoß.

In der Dunkelheit war das Bild auf dem kleinen Karton fast nicht zu erkennen, doch als ich es öffnete und das kleine Gerät darin herausnahm, wusste ich sofort was ich da in der Hand hielt. Eine Videokamera.

„Falls die Beweise zu groß sind, um sie wegzutragen“, erklärte er.

Mein Mundwinkel zuckte. „Lexian, Sie sind fantastisch.“

„Das Kompliment kann ich nur zurückgeben. Aber nun kommen Sie, wollen wir doch mal sehen, was wir hier so schönes finden können.“

Da die Kamera nicht allzu groß war, konnte ich sie problemlos in meine Jackentasche stecken, bevor ich ihm nach draußen folgte. Sofort blies mir ein kalter Wind ins Gesicht. Ich zog meinen Schal noch ein wenig fester, wechselte noch einen Blick mit Lexian und dann bahnten wir uns einen Weg zwischen den Bäumen hindurch.

Das was dort so verborgen zwischen den Stämmen stand, war wirklich eine Mauer. Ich erkannte sie, da ich sie bereits von der anderen Seite gesehen hatte. Dahinter verbarg sich Malous Zoo.

Ich schaute an ihr hinauf. Sie war gut drei Meter hoch und aus groben Naturstein. Das wirkte sehr dekorativ. Und außerdem bot es eine super Möglichkeit mit ein wenig Geschick einfach darüber zu klettern. Ein listiges Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus. „Na dann wollen wir mal.“

Leider war das dann doch nicht so einfach wie in meiner Vorstellung. Die Fugen waren ziemlich schmal und mehr als einmal riss ich mir die Haut an den rauen Kanten auf, aber meine Entschlossenheit da rein zu kommen, war größer als der Widerstand der Mauer. Und wenigstens stellte ich mich nicht ganz so ungeschickt an, wie Lexian. Als ich die obere Kante umfasste, begann er zum dritten Mal mit dem Aufstieg. Wenigstens war er nie allzu tief gefallen.

Ich strengte noch mal all meine Muskeln an, stemmte mich hoch und zog mich auf den breiten Sims der Mauer, wo ich einen Moment einfach liegen blieb und erstmal tief einatmete. Erst dann richtete ich meinen Blick auf das, was hinter der Mauer lag. Zwar war die spärliche Beleuchtung an den Wegen eingeschaltet, doch die Gehege lagen zum Großteil im Dunkelheit. Und er schien völlig verlassen. Sehr gut.

Als ich neben mir ein Ächzen hörte, schaute ich nach Lexian, der auf halber Höhe an der Mauer hing und krampfhaft versuchte, nicht wieder herunterzufallen. So wie er dich anstellte, mussten seine Zeiten als Venator aber schon sehr lange zurückliegen. „Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“ Ich streckte ihm die Hand entgegen und zusammen schafften wir es auch ihn hochzubekommen.

Auf der anderen Seite wieder herunterzukommen, erwies sich als wesentlich einfacher. Die halbe Strecke kletterte ich, den Rest ließ ich mich fallen und kam geduckt in der Hocke auf. Lexian fiel einfach nur und knallte direkt neben mir auf den Boden. Zum Glück waren hier Büsche und Erde. Also zum Klettern hatte der Mann wirklich kein Talent.

„Haben Sie sich verletzt?“, fragte ich leise und reichte ihm meine Hand, um ihn auf die Beine zu helfen.

„Nein, mir geht es gut.“ Er ergriff sie dankbar und versuchte sich dann den Dreck von der Hose zu klopfen. Dann warf er einen wachsamen Blick in die Runde. Viel gab es von hier aus nicht zu sehen. Nur den Weg und die Begrünung, konnte man den Beginn eines der Gehege erkennen. „Wohin sollen wir gehen?“

Das fragte er mich? Das war doch seine Idee. „Ich weiß nicht. Vielleicht zu den geschlossenen Bereichen der Gehege. Die hat Malou den Leuten nicht gezeigt.“ Wenn dann würden wir dort am ehesten Hinweise finden, oder?

„Dann fangen wir dort am Besten an. Sie kennen den Weg?“

Naja, nicht wirklich. „Wenn ich es sehe, erkenne ich es wieder.“

„Besser als gar nichts.“ Er späte den Weg hoch und runter. „Lassen Sie uns loslegen, ich will hier so schnell wie möglich wieder raus. Haben Sie die Kamera?“

Ach ja, die hätte ich in meiner Aufregung jetzt fast vergessen. „Moment.“ Eilig zog ich das Gerät aus meiner Tasche, brauchte aber einen Augenblick, bis ich sie zum Laufen bekam. „Okay, ich bin so weit.“

Lexian gab mir mit einem Handzeichen zu verstehen, dass ich ihm folgen sollte und huschte dann geduckt den Weg entlang.

Die versteckten Laternen boten genug Licht, damit wir uns nicht blind vortasten mussten, doch diese Helligkeit hatte auch ihren Nachteil. Wenn jetzt jemand um die Ecke bog, würde man uns sofort sehen. Allein bei diesem Gedanken legte mein Herz gleich einen Zahn zu. Wieder in die Klauen dieser Leute zu geraten, war das Letzte was ich wollte. Aber zu unserem Glück tauchte niemand auf.

Ich fand es schon ein wenig seltsam. Nicht nur das hier niemand aufpasste, auch dass wir so verhältnismäßig einfach aufs Gelände gekommen waren. Hatte Malou denn keine Sicherheitsvorkehrungen? Nicht das ich mich beschweren wollte, es wunderte mich nur einfach.

Als wir uns dem ersten Gehege nährten, wurde Lexian etwas langsamer. Immer wieder schaute er sich in alle Richtungen um und deutete dann auf einen Zugang, der die Tierpfleger wohl in den hinteren Bereich brachte.

Ich nickte, dass ich verstanden hatte und folgte ihm den schmalen Pfad hinauf. Dabei warf ich einen Blick durch die Glasfassade des Geheges und blieb augenblicklich stehen. Meine Augen mussten mir einen Streich spielen, denn keine zwei Meter von mir entfernt, nur getrennt durch die Barriere, stand ein blauer Dorcas und starrte mich genauso an, wie ich ihn.

„Lexian, bitte sagen Sie mir, dass sie ihn auch sehen.“

Von meinem seltsamen Ton alarmiert, drehte er sich hastig zu mir herum, um dann erstaunt die Augen aufzureißen.

„Sie sehen ihn also auch?“

Er nickte nur stumm.

Ein Gefühl euphorischer Aufregung machte sich in mir breit und ich konnte mir ein „Ich wusste dass ich mir das nicht eingebildet habe“ nicht verkneifen.

Lexian legte sofort einen Finger an die Lippen und zeigte dann auf die Kamera in meiner Hand.

Ach ja, richtig, der Beweis. Nun war Malou fällig!

Voller Tatendrang richtete ich die Kamera auf den blauen Dorcas und drückte auf Aufnahme. Und damit man auch verstand, was man dort sah, flüsterte ich: „Ich befinde mich gerade in dem privaten Zoo von Malou Grabenstein. Es ist kurz nach Mitternacht, Samstag morgen, nur wenige Stunden nachdem Malou der Presse eine Führung durch ihren Zoo gegeben hat. Ich habe keine Ahnung wie das möglich ist, vorhin befanden sich in diesem Gehege noch mehrere Saola-Waldrinder, aber jetzt steht hier ein blauer Dorcas und von den Rindern ist keine Spur zu entdecken.“ Ich schaute zu Lexian. „Okay so?“

Er nickte und hatte dabei ein überaus befriedigtes Lächeln auf den Lippen.

Auch ich lächelte. Dieses Mal würde Malou sich nicht herausreden können.

Als der Dorcas sich in die andere Richtung bewegte, blieb ich mit der Kamera drauf, um auch das Gehege als Beweis mit einzufangen und während ich das Vieh beobachtete, kam mir unweigerlich ein Gedanke. „Wenn der Dorcas wieder da ist, meinen Sie, dass die anderen Proles auch wieder in ihren Gehegen sitzen?“

Das Lächeln auf seinen Lippen wurde breiter und mit einer Geste gab er mit zu verstehen, wieder zum Weg zurückzugehen. Unsere Beweise würden wir wohl doch nicht in den hinteren Bereichen finden, sie saßen wieder in ihren Gehegen. Selbst wenn der Dorcas das einzige Proles in den Gehegen war, müsste dies schon als Beweis ausreichen, doch ich würde trotzdem nachschauen gehen, denn jetzt wollte ich es ganz genau wissen.

Dieses Mal übernahm ich die Führung und siehe da, dort wo eigentlich der weiße Tiger sitzen sollte, waren wieder die Spumas Diva und Carlos. Sie lagen so offen im Gehege herum, als würden sie nur darauf warten, dass ich sie mit der Kamera einfing.

„Das wird ihr sowas von das Genick brechen.“ Ja ich klang ein wenig gehässig, aber nach all den Taten dieser Frau, hatte ich auch jedes Recht dazu.

Zu meiner großen Freude entdeckten wir auch in den anderen Gehegen weitere Proles. Die ganzen anderen Tiere waren jedoch spurlos verschwunden. Das war einfach nur merkwürdig, aber darauf ging ich nicht weiter ein, denn mir war nur wichtig, einen Beweis für Malous Schuld zu finden und das hier war fast so gut wie ein Geständnis.

Zwischen den Gehegen filmte ich auch die Wege und Anlage, damit man mir später keine Manipulation vorwerfen konnte. Die Polizei sollte sofort erkennen können, dass ich mich hier auf Malous Anwesen befand. Darüber dass ich hier illegal eingestiegen war, machte ich mir im Moment überhaupt keine Gedanken, denn das würde einfach verblassen im Gegensatz zu dem was sie getan hatte.

Durch meine Aufregung und den unbändigen Drang immer weiter vorzurücken, achtete ich kaum noch darauf leise zu sein und auf meine Umgebung zu achten. Lexian bremste mich mehrere Mal aus und deutete mir still zu sein. Ich sah und hörte nie jemanden, aber er schien einfach auf Nummer Sicher gehen zu wollen.

Als wir uns jedoch einer ganz bestimmten Voliere näherten, ließ ich mich allerdings nicht mehr aufhalten. Ich war so aufgeregt, dass meine Wangen schon richtig glühten. Es war nicht nur der Beweis in meiner Hand, auch Reese würde mir nun glauben müssen und hoffentlich nie wieder an mir zweifeln. Jetzt jedoch gab es erstmal noch zwei Proles, die ich unbedingt aufs Band bannen wollte. Den ersten entdeckte ich in der Voliere auf einem der oberen Baumstämme hocken. Trotz der schwierigen Lichtverhältnisse strahlte sein weißes Fell fast in der Nacht.

Das Grinsen in meinem Gesicht wurde breiter. „Na Pascha, du kleine Killerbestie.“

Der weiße Toxrin legte die Ohren an und stieß ein eindrucksvolles Fauchen aus. Er ahnte wohl, dass ich nichts Gutes im Schilde führte.

„Ja, zeig der Kamera ruhig deine kleinen Zähnchen, lange wirst du es nicht mehr tun können, denn sobald das Band erstmal bei der Polizei ist, werden du und all deine kleinen Kumpels nähere Bekanntschaft mit den Venatoren von Dömitz machen.“ Dieser Gedanke hatte schon etwas für sich.

Als Lexian mir auf die Schulter tippte, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen, drehte ich mich so herum, dass er kurz ins Bild geriet. Er legte wieder einen Finger auf den Mund und zeigte dann den Weg entlang.

„Ja, Moment, ich will nur noch kurz die Voliere aufnehmen.“ Ich machte ein paar Schritte zurück, um den ganzen Käfig aufs Band zu bekommen. Leider war Lexian im Weg, weswegen ich ihm mit einem Handzeichen bat zur Seite zu treten. „Können Sie einen Schritt zur Seite gehen? Danke.“ Okay, jetzt musste ich nur noch darauf achten, dass Pascha auch gut zu sehen war, dann konnte ich meinem Komplizen auch scho stumm mitteilten, dass wir weitergehen konnten.

Ein Gehege noch, nur noch ein einziges, dann konnten wir uns aus dem Staub machen und sobald wie dann bei der Polizei waren, hieß es für Malou: Aus der Traum. Hier würde sie sich nicht mehr rausreden können. Vielleicht sollte ich, bevor ich das Band der Polizei übergab, auch noch eine Kopie anfertigen. Nur so zur Sicherheit. Nicht dass das Band noch verstand und ich wieder ohne Beweis dastand. Dazu bräuchte ich allerdings einen Computer. Vielleicht hatte Lexian ja ein Notebook in seinem Wagen. Sobald wir hier raus waren, würde ich ihn fragen.

Jetzt jedoch schlichen Lexian und ich erstmal in doch recht zügigem Tempo den Weg entlang, bis hinter einer Weggablung ein ganz bestimmtes Gehege auftauchte.

Sofort begann mein Puls ein kleinen Wenig zu rasen und dieses Mal war es leider nicht nur die Aufregung. Dort war es, das Gehege der – wie ich hoffte – Iubas. Wenn sie wirklich da drinnen waren, wäre das der Beweis, der mich und Reese rehabilitieren würde, denn dann würde jeder der dieses Video sah wissen, dass nicht wir für den Überfall auf die Transporter verantwortlich waren.

„Bitte seid da“, murmelte ich mit widerstreitenden Gefühlen, als ich mich der Glasfassade näherte. Es war wichtig, dass sie da waren, gleichzeitig waren es aber auch immer noch die Iubas, die mich wohl in Stücke gerissen hätten, wenn die Schwarzmähne nicht eine sehr gewöhnungsbedürftige Sympathie für mich entwickelt hätte.

Als direkt am Glas stand und sowohl meinen Blick, als auch die Kamera durch das Gehege gleiten ließ, hielt ich einen kurzen Moment tatsächlich den Atem an. Und dann entdeckte ich sie. Wie zwei faule Hunde lagen sie genau an der Stelle, wo sie sich beim letzten Mal auf den Tierpfleger gestürzt hatten.

„Oh mein Gott, da sind sie“, flüsterte ich und dann wurde meine Stimme ganz aufgeregt. „Siehst du Lexian? Da vorne liegen sie! Wie ich gesagt habe, sie sind hier!“

Lexian drückte sich hektisch den Finger gegen die Lippen und schaute sich dann alarmiert um, aber ich ignorierte ihn einfach. Das hier war zu wichtig.

„Das hier sind die beiden noch verschwundenen Iubas von dem überfallenen Transport“, erzählte ich aufgeregt für die Kamera und drehte sie dann so, das mein eigenes Gesicht ins Bild kam. „Das beweist nicht nur, dass ich die ganze Zeit die Wahrheit gesagt habe, sondern auch, dass Malou für den Überfall auf die Transporter verantwortlich zu machen ist. Nicht Reese und ich waren es, sondern sie.“ Ich drehte die Kamera eilig wieder zurück und zoomte das Bild etwas näher heran, damit sie noch deutlicher zu sehen waren. „Malou Grabenstein hat sie haben wollen, weil der Rüde aus der ersten Generation ist und sie seltene und ausgefallene Proles sammelt. Als Kopf von L.F.A. fällt es ihr natürlich besonders einfach, an diese abnormalen Abkömmlinge …“

„Was zur Hölle haben Sie hier zu suchen?“

Nicht nur ich, auch Lexian wirbelte bei der männlichen Stimme erschrocken herum und plötzlich sahen wir uns nicht nur einem, sondern gleich zwei von Malous Sicherheitsleuten gegenüber. Augenblicklich schlug mir mein Herz bis zum Hals. Oh du verdammter … Keks, wo kamen die den so plötzlich her? Und warum ausgerechnet jetzt? Wir waren doch praktisch schon draußen. Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein.

Einen sehr langem Moment standen wir vier einfach nur da und starrten uns an. Es war als würde jeder auf nur darauf warten, dass der andere die ersten Bewegung machte. Doch dann kniff der rechte von den beiden die Augen leicht zusammen und musterte mich ausgiebig.

„Sie sind doch diese Tierschützerin.“

Hä? Was sollte der Mist, er wusste doch ganz genau, wer ich war, das war schließlich der verdammte Kerl, der mich fast an die Iubas verfüttert hatte. Unwillkürlich wich ich einen Schritt vor ihm zurück.

„Hey, stehen bleiben!“

Ganz sicher nicht. „Lauf!“, brüllte ich nur und rannte dann einfach los.

Lexian zögerte keine Sekunde. Auch er nahm die Beine in die Hand und flog praktisch über den Weg. Der Kerl konnte nicht schießen und nicht klettern, aber rennen, das konnte er. Ich hatte arge Schwierigkeiten ihm auf den Fersen zu bleiben und wäre ich nicht so in Panik vor dem was geschehen könnte, wenn sie mich zwischen die Finger bekamen, hätte er mich vermutlich ungewollt abgehängt. So jedoch holte ich alles raus, zu dem ich fähig war. In meinem Kopf schwirrte nur ein einziger Gedanke herum: Sie dürfen mich nicht kriegen.

„Anhalten!“, rief einer der Männer hinter mir. Ihre Schritte hämmerten schwer auf den Boden. „Bleiben Sie stehen!“

Ich wagte einen kurzen Blick über die Schulter und erschrak, als ich sah, wie nahe sie mir waren. Oh Gott, sie würden mich kriegen!

„Hören Sie gefälligst auf wegzulaufen!“

Lexian gab noch einmal Gas und verschwand um die nächste Ecke. Ich versuchte es ihm gleich zu tun. Wir mussten diese Kerle abhängen, denn solange sie uns auf den Fersen waren, würden wir keine Gelegenheit bekommen über die Mauer zu klettern. Im Moment waren wir hier praktisch gefangen.

Nein, nein, nein, ich würde nicht noch mal zulassen, dass sie mich zwischen die Finger bekamen. Ein zweites Mal würde ich nicht überleben, da war ich mir sicher.

Die Angst vor dem was geschehen könnte, gab mir zusätzlichen Antrieb. Ich schlitterte schon fast um die Kurve und hätte dabei fast noch die Kamera fallen gelassen, aber wenigstens war Lexian jetzt wieder in meinem Sichtfeld. Er hatte ganz schön an Abstand gewonnen. Die beiden Kerle dagegen schienen mir immer näher zu kommen.

Jeder meiner Schritte trommelte auf den Weg und hätte ich nicht so viel Ausdauer, wäre mir wohl schon längst die Puste ausgegangen.

Plötzlich spürte ich, wie etwas hinten an meiner Jacke zupfte und machte den Fehler hastig einen Blick über die Schulter zu werfen, nur um einen von diesen Schränken direkt hinter mir zu erblicken, wie er die Hand nach mir ausstreckte. Dadurch geriet ich aus dem Tritt. „Nein!“, schrie ich noch, da stürzte der Kerl sich auch schon auf mich und riss mich mit sich zusammen zu Boden.

Oh Gott, er hatte mich! Panisch begann ich um mich zu schlagen. Die Kamera fiel mir aus der Hand, als versuchte hektisch an das Messer an meinem Bein zu kommen, doch er wälzte sich halb auf mich und schänkte meine Bewegungsfreiheit damit erheblich ein. Dann war auch noch der zweite Kerl auch da, packte mich an der Schulter und drückte mich mit dem Gesicht voran auf den Boden, sodass sein Kollege sich nicht nur auf mich setzten, sondern mir auch die Arme auf den Rücken zerren konnte.

„Haben wir dich endlich.“

Nein, das konnte mir doch nicht schon wieder passieren, das durfte nicht wahr sein. „Lass mich los, nein, Finger weg!“ Panisch suchte ich nach einem Fluchtweg und entdeckte dabei Lexian, der in einiger Entfernung unentschlossen stehen geblieben war. „Lauf!“, schrie ich ihn an. „Verschwinde! Ruf die Polizei!“ Wenn wenigstens er entkam, konnte er Hilfe holen. Das war wahrscheinlich die einzige Chance die die hatte.

Er zögerte nur eine Sekunde, dann wirbelte er herum und verschwand hinter den exotischen Bäumen des Zoos.

„Mit wem zum Teufel redet sie da?“

„Vielleicht ist sie nicht allein gekommen.“ Der Kerl auf meinem Rücken legte mir etwas an, dass sich verdächtig nach Handschellen anfühlte. „Geh nachsehen, ob da noch jemand ist, ich komme hier schon alleine klar.“

Was zur Hölle … hatten sie Lexian denn nicht gesehen? Er hatte doch direkt vor ihnen gestanden.

„Nein, lasst mich frei, sofort!“ Bitte, ich will das nicht noch mal durchmachen müssen.

Während der eine Kerl von mir runter stieg und mich dann nicht allzu sanft auf die Beine zerrte, wollte der andere sich gerade auf den Weg machen, als ihm die Kamera ins Auge fiel.

„Was haben wir denn hier?“, fragte er, als er sich danach bückte.

Oh nein, meine Beweise. Sie durften das nicht in die Finger bekommen, sonst würden sie den Film einfach vernichten. Panisch dachte ich darüber nach, wie ich an die Kamera kommen könnte, oder sie wenigstens dazu bekam die Pfoten davon zu lassen. „Das ist meine!“, rief ich in einem panischen Versuch, irgendwas damit zu erreichen.

„Sie hat ein Video gedreht.“

„Die Aufnahme läuft noch“, bemerkte der Kerl, der mich fest am Arm gepackt hielt und meine Versuche mich von ihm zu befreien, kaum zur Kenntnis zu nehmen schien. Er hatte wohl das rote Lämpchen entdeckt.

Der Andere drehte die Kamera zwei Mal um sich selber, bis er den Knopf fand, mit dem er die Aufnahme beenden konnte. Das rote Licht erlosch. „Hier.“ Er reichte das kleine Gerät an seinen Kollegen weiter, der es gleich in seiner Tasche verschwinden ließ. „Ich geh schnell nachschauen, ob da wirklich noch jemand ist.“

„Tu das, ich bringe die Frau ins Büro.“

„Geht klar.“

Das ging sowas von gar nicht klar. Ich begann mich so heftig gegen seinen Griff zu sträuben, dass meine Arme davon wehtaten, aber das war mir verdammt noch mal völlig egal. So eine Muskelzerrung konnte heilen, wenn ich erstmal tot war, konnte mir niemand mehr helfen.

Oh Gott, sie würden mich töten. Ich würde sterben und ich konnte nichts dagegen tun, weil dieser Grobian einen Griff aus Stahl hatte. Ich schrie und bockte, doch er zerrte mich einfach mit sich mit. Ich hatte keine Chance. Meine einzige Chance war jetzt noch Lexian. Wenn er entkam und zur Polizei ging, würde vielleicht noch rechtzeitig Hilfe eintreffen.

Bitte, bitte, beeil dich.

 

°°°°°

Kapitel 16

 

„Verdammt, wirst du wohl jetzt mal still halten?!“

Nein, das tat ich nicht. Ich bockte wie ein sturer Esel und trat nach allen Seiten aus, als der Kerl mich in ein Büro schob, das wohl Malous Sicherheitskräften gehörte. Ja verdammt, ich hatte Angst, denn die Erinnerung daran was beim letzten Mal geschehen war, stand mir wieder sehr lebhaft vor Augen und ich zweifelte doch sehr stark daran, dass ich noch mal so ein Glück haben würde, wenn sie mich wieder einem Proles zum Fraß vorwarfen. Also musste ich Kämpfen. Ich musste hier raus, denn ich hing an meinem Leben. Aber leider war der Kerl ein wirklich beeindruckendes Exemplar der Gattung Mann. Es bereitete ihm überhaupt keine Probleme, mich erst durch eine und dann durch eine weitere Tür zu befördern, bis wir in einem Raum waren, in dem ein Haufen Überwachungsbildschirme waren.

Als er dann auch noch begann mich abzutasten, versuchte ich nach ihm zu treten, woraufhin er mich im Nacken packte und mit dem Gesicht voran auf den nächsten Schreibtisch drückte. „Jetzt hör verdammt noch mal mit dem Theater auf“, knurrte er und nahm erst das eine und dann das andere Messer an sich.

Nein, bitte, nicht schon wieder. Panisch ließ ich den Blick über den Schreibtisch wandern, aber da war nichts, was mir helfen konnte. Und dadurch, dass er seitlich von mir stand, konnte ich ihn auch nicht treten. „Nimm deine Finger von mir!“, fauchte ich, als er unter meine Jacke griff.

Er schnaubte. „Bild dir mal keine Schwachheiten ein, ich werde dir nur deine Waffe abnehmen.“

Genau das war ja auch mein Problem. Aber er nahm mir nicht nur meine Messer und meine M19 weg, er fischte auch mein Handy aus der Tasche und legte die ganzen Sachen in eine Ablage auf dem Tisch. Auch die Videokamera landete bei dem Zeug. Dann zog er mich zurück auf die Beine und begann mich wieder durch die Gegend zu zerren.

In der Ecke stand eine zerschlissene Couch, auf die er mich nun zuschob und mich dann so grob an der Schulter herunter drückte, dass ich nicht nur vor Schmerz das Gesicht verzog, sondern auch gar keine andere Wahl hatte, als in die Knie zu gehen.

„Hinsetzen und sitzen bleiben“, befahl er und warf mir noch einen warnenden Blick zu, bevor er sich von mir entfernte, um zu dem Telefon bei den Bildschirmen zu gehen.

Einen kurzen Moment war ich versucht aufzuspringen und mein Glück ein weiteres Mal in der Flucht zu suchen, aber wie weit würde ich schon kommen? Meine Hände waren mal wieder auf meinen Rücken gebunden und meine Waffen weit weg von mir. Das entwickelte sich langsam zu einem ungebetenen Running-Gag.

Aber meine Waffen waren dieses Mal gar nicht so unerreichbar für mich, oder? Sie lagen gleich da vorne auf der Ablage. Vielleicht war er unaufmerksam genug, dass ich meine M19 in die Hand bekommen konnte, bevor er mich aufhielt. Ich hatte noch nie auf einen Menschen geschossen – ja es nicht mal in Erwägung gezogen – aber wenn ich einfach nur hier rumsaß, würde ich diesen Tag nicht überleben.

„Ja, ich bin´s“, sagte der Grobian ins Telefon und warf einen wachsamen Blick in mein Richtung. „Wie haben hier einen kleinen Zwischenfall. Diese verrückte Tierschützerin ist in den Zoo eingedrungen. Kannst du Malou wecken?“

Oh Gott, nein, nein, nein! Ich musste jetzt handeln, ich musste an meine Waffen kommen, verdammt, ich musste einfach irgendetwas unternehmen, bevor Malou hier auftauchte.

„Sie wird es wissen wollen und sicher nach ihren Tieren schauen.“

Gerade als ich all meine Muskeln anspannte und mich zum Aufspringen breite machte, drehte der Kerl sich zu mir um. Keine Ahnung ob ich irgendeinen verdächtige Bewegung gemacht hatte, oder er einfach nur einen sechsten Sinn für Gefahren hatte, aber seine Augen verengten sich misstrauisch, bevor er langsam dem Kopf drehte und damit meinem Blick zur Ablage folgte.

„Ja, okay, ich habe solange ein Auge auf sie.“ Er beendete den Anruf und ging dann auf direktem Wege zu der Ablage. „Ich denke dass stelle ich mal raus. Wir wollen doch nicht, dass du auf komische Ideen kommst.“ Damit nahm er die ganze Ablage und durchquerte einmal den Raum.

„Nein!“, rief ich panisch und musste dabei zuschauen, wie er nicht nur meine Waffen, sondern auch meiner Verbindung zur Außenwelt und meinen Beweisen einfach zur Tür hinaus marschierte. Vermutlich war es einfach nur dumm, aber ich sprang auf die Beine und wollte ihm nachlaufen, doch da stand er schon wieder in der Tür und runzelte verärgert die Stirn.

„Habe ich nicht gesagt, dass du sitzen bleiben sollst?“ Als er auf mich zukam, versuchte ich ihm auszuweichen, doch der Raum war zu klein, die Tür wieder geschlossen und ich konnte nirgendwo hin. Es endete in einem Gerangel, in dem ich ihm so fest vor das Schienbein trat, dass er lautstark fluchte. „Jetzt reicht es mir aber“, knurrte er und ich rechnete schon damit wieder eine gescheuert zu bekommen. Umso überraschter war ich, als er mich einfach nur bei den Armen packte und mich zurück auf das Sofa drückte. „Und wenn du da jetzt nicht sitzen bleibst, binde ich dich an die Heizung.“

Ich glaubte keinen Moment, dass das nur eine leere Drohung war und spürte wie mein Mund unter seinem warnenden Blick staubtrocken wurde. Warum nur war ich wieder hergekommen? Und warum hatte ich Reese vor dem Betreten des Geländes nicht wenigstens eine Textnachricht geschickt, in der ich ihm mitteilte, wo ich sein würde? Verdammt, alles war schiefgegangen und nun saß ich mächtig in der Klemme.

Meine einzige Chance hier mir heiler Haut herauszukommen, war Lexian. Wenn er ihnen entkam und unbemerkt vom Gelände verschwinden konnte, würde er sicher direkt zur Polizei gehen und ihnen erzählen, was geschehen war. Ich musste nur lange genug durchhalten. Und am Besten teilte ich das diesem Kerl auch gleich mit. Wenn ihnen klar war, das die Polizei auf dem Weg hier her war, würden sie sicher zögern mich umzubringen. „Sie werden damit niemals durchkommen.“

Der Mann beachtete mich nicht. Es zog sich nur einen der Stühle unter der Tischreihe hervor und ließ sich mit seinem Handy darauf nieder.

„Haben Sie gehört? Die Polizei weiß das ich hier bin, sie werden jeden Moment hier auftauchen.“

„Das will ich doch hoffen“, sagte er, ohne den Blick vom Handy zu nehmen.

Diese Worte machten mich einen Moment stutzig. Er hoffte dass die Polizei hier auftauchte? Warum? Oh Gott, würden es die gleichen Männer sein, die sich schon mal von Malou haben bestechen lassen? Aber das war doch nicht möglich, oder? Das wäre doch zu viel des Zufalls. Das kleine Gefühl der Hoffnung verpuffte einfach. „Mein Freund weiß dass ich hier bin, Sie können mich also nicht einfach umbringen.“

„Halten Sie jetzt endlich den Mund.“

Ich biss die Zähne zusammen und versuchte Herr meiner eigenen Furcht zu werden. Es war sicher nicht ratsam dem Mann mit der Waffe zu widersprechen, nur … was sollte ich stattdessen tun? Ich hasste dieses Gefühl der Machtlosigkeit. Einfach nur hier zu sitzen und darauf zu warten, was als nächstes geschehen würde, ließ meine Nerven blank liegen.

Ein Blick zur Uhr über der Tür verriet mir, dass es kurz vor vier war. Vier? Aber so lange war ich doch gar nicht in dem Zoo, das konnten niemals drei Stunden gewesen sein. Wie lange würde Malou wohl brauchen, bis sie hier war? Und wie lange die Polizei? Der Kerl jedenfalls schien sich keine Sorgen über das zu machen, was da noch kommen würde. Aber seltsamerweise kam nichts. Ich saß da, so angespannt, dass es mich kaum gewundert hätte, wenn ich einfach zersprungen wäre und die Uhr tickte lautlos vor sich hin. Immer wieder starrte ich darauf, aber die Zeit schien kaum vortzuschreiten. Ich hatte das Gefühl schon eine Stunde hier zu sitzen, vielleicht sogar länger, aber beim nächsten Blick auf die Uhr war es gerade mal vier.

Der Kerl hob nicht einmal seinen Blick von dem Handy. Was auch immer er sich da anschaute, es musste hochinteressant sein und seine ganze Konzentration erfordern. Leider bedeutete das nicht, dass er unaufmerksam war. Immer wenn ich mich bewegte, huschten seine Augen ganz kurz zu mir, um sicherzugehen, dass ich keinen Unfug trieb.

Als gefühlte Stunden später noch immer niemand aufgetaucht war, wurde ich zunehmend unruhiger. Niemand kam und niemand tat etwas. Wahrscheinlich wollten Malous Sicherheitsleute nichts ohne ihre Anweisung unternehmen und die lag sicher tief in ihrem Schlummer versunken in ihrem Bett. Das bedeutete, dass ich bis zum Morgengrauen noch eine gewisse Schonfrist hatte. Bis dahin musste ich es geschafft haben hier zu verschwinden, sonst … ich wollte mir gar nicht vorstellen, was dieses sonst alles bedeuten konnte. Sie würde sicher nicht noch mal versuchen mich lebendig zu verfüttern. Eher würde sie mich vorher erschießen und mich dann in mundgerechten Stücken an ihre kleinen Lieblinge verfüttern. Oh Gott, so wollte ich nicht enden.

Aber noch immer hielt mich die Ausweglosigkeit der Situation fest. Was war nur mit Lexian geschehen? War er schon bei der Polizei, oder hatten die Kerle ihn auch erwischt, aber woanders hingebracht. Oder … nein, er würde mich sicher nicht einfach hier drinnen sitzen lassen und nur seine eigenen Haut retten, sowas durfte ich nicht mal denken.

Die Uhr zeigte kurz nach vier, als die Tür zu dem Überwachungsraum geöffnet wurde. Jetzt geht es los, dachte ich sofort, aber es war nur der andere Kerl, der mich überwältigt hatte. Er warf mir nur einen desinteressierten Blick zu und ließ sich dann neben seinem Kollegen auf den Stuhl plumpsen.

„Wir haben den ganzen Zoo durchsucht, aber da war niemand sonst.“

Der Typ mit dem Handy hob den Kopf. „Sicher?“

„Sicher kann man sich da natürlich nie sein, aber wir haben zumindest niemand sonst entdeckt.“

Das heißt Lexian war ihnen entwischt. Ein neuer Funken Hoffnung machte sich in mir breit. Keine Ahnung warum sie ihn nicht gesehen hatten, wo er doch direkt vor ihnen gestanden hatte, aber wenn ich Glück hatte, hatte damit doch noch nicht mein letztes Stündchen geschlafen.

„Und Malou?“

„Die steht gerade auf.“

Das wiederum war sehr schlecht.

Der Typ mit dem Handy atmete schwer ein und erhob sich dann von seinem Stuhl. „Hab du mal ein paar Minuten ein Auge auf sie, ich geh mir mal schnell ein Kaffee holen.“

„Alles klar.“

„Und pass auf, die ist nicht so harmlos, wie sie tut.“

„Das sind sie doch nie, oder?“

„Auch wieder wahr.“ Der Handykerl warf noch einen wachsamen Blick in meine Richtung und ließ mich dann mit seinem Kollegen alleine.

Ich versuchte mich auf die neue Situation einzustellen. Lexian war frei, Malou allerdings befand sich im Augenblick vermutlich auf den Weg zu mir. Das war sowohl gut, als auch schlecht. Ob dieser Typ mit sich reden lassen würde, wenn ich an sein Ehrgefühl oder den Gerechtigkeitssinn appellierte? Vermutlich nicht. Diese Leute halfen ihrer Chefin sogar dabei Leute kalt zu machen, da würde es mich doch schon sehr wundern, wenn auch nur einer von ihnen plötzlich entdecken würde, dass er im Grunde ein herzensguter Mensch war, der den Leuten helfen wollte.

Wieder schaute ich zur Uhr – nicht dass sich da in den letzten Minuten großartig etwas geändert hätte.

„Keine Sorge, du wirst nicht mehr lange bei uns sein.“

Erschrocken schaute ich zu dem Typen, der mich ganz genau beobachtete. Er konnte nicht das gemeint haben, was ich glaubte. „Sie können mich nicht umbringen, die Polizei ist sicher schon auf dem Weg hier her.“

Er zog eine einzelne Augenbraue hoch, als wollte er fragen: „Willst du wetten?“

Ich schluckte angestrengt und spürte wie eiskalte Klauen mich zu umschlingen drohten. „Sie könnten mein Verschwinden nicht erklären.“

Er setzte zu einer Antwort an, unterbrach sich jedoch gleich wieder, weil sich in dem Moment die Tür zum Büro öffnete.

In Erwartung den Handytyp mit seinem Kaffee zu sehen, drehte ich den Kopf, doch das war niemand vom Sicherheitsteam, es war Malou. Ungeschminkt und in einem weißen Morgenrock, trat sie in den Raum und ließ sich nicht anmerken, was sie bei meinem Anblick dachte.

Ich regte mich keinen Millimeter und doch konnte ich geradezu spüren, wie mein Körper literweise Adrenalin ausschüttete. Egal was sie für mich geplant hatte, es würde jetzt geschehen. Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, was allein ihr Anblick für eine Angst in mir auslöste, doch das mich wunderte, war ihr Gesicht. Der höhnische Ausdruck ihrer Überlegenheit fehlte.

„Da ist sie“, waren die ersten Worte, die sie sagte, aber sie galten nicht mir, sondern den drei Polizeibeamten, die hinter ihr in den Raum traten.

Vor Erleichterung hätte ich fast aufgelacht. Lexian hatte es geschafft! „Gott sei Dank, Sie sind hier. Schnell, Sie müssen diese Frau festnehmen, die Proles, sie sind wieder da, ich habe sie eben gesehen! Lexian kann das bestätigen!“

Die Polizisten tauschten untereinander Blicke.

„Ich habe es Ihnen ja gesagt“, erklärte Malou und presste leidvoll die Lippen aufeinander.

Einer der Polizisten, ein blonder Kerl mit einer krummen Nase ging etwas weiter in den Raum hinein. „Sie sind Frau Shanks?“

„Ja, und diese Frau hält mich hier fest. Sie haben mir die Hände auf den Rücken gebunden und mir meine Sachen weggenommen.“

Der blonde Polizist warf Malou einen tadelnden Blick zu. „Frau Grabenstein, ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass sie sowas nicht tun dürfen. Das ist Freiheitsberaubung.“

„Sie ist unerlaubt auf meinen Grund und Boden eingedrungen. Wer weiß schon wozu diese Frau noch alles fähig ist.“

„Und das kommst ausgerechnet von Ihnen?“, fragte ich ungläubig.

Der Polizist blieb unnachgiebig. „Machen Sie sie los. Sofort.“

Das schien Malou nicht besonders zu gefallen. Trotzdem gab sie dem Mann bei den Bildschirmen ein Zeichen, woraufhin der aufstand und mich unter den wachsamen Augen der Polizei von meinen Handschellen befreite.

Ich wartete gerade mal bis das Metall meine Handgelenke verlassen hatte, da gab ich dem Kerl auch schon eine Schubs und nahm eilig Abstand von ihm.

„Frau Shanks, bitte“, mahnte der Polizist nun mich und wirkte ein wenig verdutzt, als ich direkt auf ihn zustürzte und mit einer Hand nach seinem Arm griff. Ich war einfach nur froh, dass sie hier waren und sich offensichtlich nicht bestechen ließen.

„Sie müssen Sie festnehmen“, sagte ich und zeigte auf Malou. „Sie hält Proles in ihrem Zoo, ich habe Beweise. Auf meiner Kamera ist alles drauf, aber sie haben sie mir abgenommen, zusammen mit meinen Waffen.“

Nun wurde der Polizitst ein wenig misstrauisch. „Sie trugen Waffen bei sich?“

„Ich bin Venator, ich habe dafür eine Genehmigung, aber darum geht es hier doch gar nicht, sondern um die Kamera. Dort ist alles drauf. Lexian und ich waren bei jedem Gehege gewesen, da sind überall Proles drinnen.“

„In diesen Gehegen gibt es keine Proles“, sagte ein etwas zu klein geratener Polizist. „Ich kenne die Anlage.“

„Sie sind da!“, widersprach ich energisch. „Schauen sie sich die Aufnahmen an, dann werden sie es selber sehen. Oder noch besser, gehen Sie gleich in den Zoo.“

Malou schüttelte nur den Kopf. „Völlig durchgeknallt. Man sollte diese Frau besser nicht mehr unbeaufsichtigt lassen.“

„Und Sie sollte man in ein dunkel Loch werfen und einfach vergessen!“, fauchte ich sie an. Wie konnte sie es wagen noch immer so selbstsicher dazustehen und weiterhin das Unschuldslamm zu spielen? Ich hatte sie, ich hatte so viel Beweise, dass ich sie darunter erdrücken konnte. Außer natürlich … „Was haben Sie mit meiner Kamera gemacht?“

„Ich weiß ehrlich nicht wovon Sie sprechen.“

„Natürlich weißt du das du Miststück“, keifte ich und machte einen Schritt in ihre Richtung, woraufhin der Polizist mich sofort ein Stück zurück zog.

„Hey, schön ruhig bleiben.“

Wie bitte sollte ich ruhig bleiben, wenn schon wieder drohte, alles den Bach runter zu gehen. „Wo ist sie? Was hast du mit ihr gemacht?“ Ohne die Kamera hatte ich keinen Beweis und konnte die Polizei weder dazu bringen in den Zoo zu gehen, noch Malou festzunehmen.

Das war der Grund, warum sie noch immer so selbstsicher war, wurde mir klar. Sie hatte meine Beweise verschwinden lassen und nun wäre ich nichts weiter als eine gewöhnliche Einbrecherin.

„Die Kamera liegt nebenan“, kam eine Stimme von der Tür. Der Handytyp war mit seinem Kaffee zurückgekehrt.

Oh mein Gott, sie war noch da?! „Schnell!“, sagte ich und packte den Polizisten beim Arm. „Sie müssen sich das Video ansehen, dann wissen sie wovon ich rede.“

Der Polizist wirkte zwar nicht sehr überzeugt, aber er ergab sich einfach. „Okay, am einfachsten klären wir das wahrscheinlich wirklich, wenn wir es uns einfach ansehen. Wo ist die Kamera?“, fragte er, während er meinen Griff von seinem Arm löste.

„Gleich hier.“ Der Handytyp verschwand wieder aus der Raum. Als er zurück kam, war seine Tasse verschwunden, dafür hielt er aber die Ablage in den Händen, zusammen mit all meinen Sachen.

„Da, das ist sie, das ist meine Kamera, schauen Sie sich die Aufnahme an!“, sagte ich und zeigte aufgeregt auf das kleine Gerät. Ich konnte geradezu spüren, wie die Euphorie mich überschwemmte. Gleich wäre es vorbei, gleich wäre ich rehabilitiert und Malou würde endlich als das entlarvt werden, was sie wirklich war: Eine hinterhältige Schlange, die so falsch war, dass es dafür keinen Vergleich gab.

„Na schön, dann wollen wir doch mal schauen, was wir da haben.“ Der kleine Polizist schnappte sich das Gerät und rückte auf ein paar der Knöpfe herum. Der Kollege neben ihm schaute ihm dabei über die Schulter.

Das Malou jedoch völlig gelassen blieb, verunsicherte mich ein wenig. Hatte sie den Film etwa entfernt? Meine Anspannung wuchs fast ins Unermessliche. Aus meiner Position konnte ich nicht auf den kleinen integrierten Bildschirm schauen, doch dann hörte ich meine füsternde Stimme von dem Band und jeder angespannte Muskel in meinem Körper schien sich zu wachs zu verflüssigen. Das Video war noch da, oh Gott, es war wirklich noch da!

Ja, zeig der Kamera ruhig deine kleinen Zähnchen, lange wirst du es nicht mehr tun können, denn sobald das Band erstmal bei der Polizei ist, werden du und all deine kleinen Kumpels nähere Bekanntschaft mit den Venatoren von Dömitz machen.“

Die Polizisten tauschten einen Blick und schauten dann zwischen mir und Malou hin und her. Sie ließen sich nicht anmerken, was sie dachten.

„Und?“, fragte der blonde Polizist.

Ja, Moment, ich will nur noch kurz die Voliere aufnehmen. Können Sie einen Schritt zur Seite gehen? Danke.

Der kleine Mann stoppte das Video und klappte die Kamera zu. Dabei spielte sich etwas äußerst merkwürdiges in seinem Gesicht ab. „Ich denke wir sollten aufs Revier fahren und uns das Video ein wenig genauer anschauen.“

Ja! Oh mein Gott, ja! „Verhaften Sie Malou besser gleich.“ Ich warf ihr einen triumphierenden Blick zu. „Nicht dass Sie noch auf die Idee kommst sich eilig aus dem Staub zu machen.“

„Wir werden jemand bei ihr zurücklassen, der ein Auge auf sie hat, solange wir das Video sichten“, versprach der dritte Polizist.

Ich runzelte die Stirn. „Warum nehmen Sie sie nicht gleich fest?“

„Weil das hier ein wenig über unsere Kompetenzen hinaus geht.“

Ja, okay, das verstand ich. Es gefiel mir zwar nicht besonders, aber ich verstand es. Wahrscheinlich mussten sie erstmal die Venatoren rufen. Ich schaute noch mal misstrauisch zu Malou. „Aber lassen Sie sie nicht aus den Augen.“

 

°°°

 

Siebenunddreißig. Seit nun mittlerweile siebenunddreißig Minuten saß ich allein in dem Verhörraum auf der Polizeiwache und wartete ungeduldig darauf, dass jemand meine Aussage aufnehmen wurde. Ich wusste das so genau, weil direkt über der Tür praktischerweise eine Uhr angebracht war, die mich sehr genau darüber auf dem Laufenden hielt. Und da ich hier nichts anderes zu tun hallte als rumzusitzen, schaute ich ganz automatisch immer wieder auf die verdammte Uhr. Wofür brauchten die nur so lange?

Nachdem man mich hier reingebracht hatte, wurden mir alle möglichen Fragen gestellt. Ich hatte sie alle Wahrheitsgemäß beantwortet und auch mehr als einmal zugegeben, dass ich mit Lexian in den Zoo eingebrochen war, dann hatten sie sich bei mir entschuldigt und für einen Moment allein gelassen. Leider schien keiner dieser Leute zu wissen, wie lange ein Moment dauerte.

Unruhig lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück und trommelte mit den Fingern nervös auf dem Tisch herum. Ob sie Malou in der Zwischenzeit schon in Gewahrsam genommen hatten? Hoffentlich, nicht das sie in letzter Sekunde noch entkam Das wäre echt übel.

Als die Uhr verkündete, dass ich seit mittlerweile einer Dreiviertelstunde allein in diesem Raum hocke und vor Ungeduld ständig auf meinem Hintern hin und her rutschte, wurde die Tür von außen geöffnet.

„Na endlich“, seufzte ich und drehte mich auf meinem Stuhl herum, bis der blonde Polizist in mein Sichtfeld geriet. „Haben Sie sich die Aufnahme angesehen und Malou verhaftet?“

Er ging gar nicht auf die Frage ein. Stattdessen, trat er nur zur Seite um Platz für die anderen Leute hinter ihm zu machen. „Hier ist jemand, der mit Ihnen sprechen möchte.“

Wer genau das war, erfuhr ich, nachdem vier weitere Männer den Raum betreten hatten. Zwei waren ganz offensichtlich Polizeibeamten. Einer trug zivil, weswegen ich nicht genau sagen konnte, welchen Zweck er erfüllte, doch er hatte eine große, schwarze Ledertasche bei sich. Der vierte Mann jedoch versetzte mich sofort in helle Aufregung.

„Reese!“, rief ich begeistert und sprang sofort von meinem Stuhl auf. Eigentlich sollte ich noch sauer auf ihn sein, weil er mir nicht geglaubt hatte, doch im Moment war ich einfach viel zu glücklich, um noch einen Groll auf ihn zu hegen. Ich schlang einfach die Arme um seinen Hals und drückte ihn an mich. „Du wirst nicht glauben was passiert ist!“, begann ich ausgelassen zu erzählen und ließ wieder ein wenig von ihm ab, um ihn anschauen zu könne. „Ich bin mit Lexian noch mal zum Zoo gefahren. Wir sind über die Mauer geklettert, um Beweise für Malous Betrug zu finden und du wirst nicht glauben, was wir dabei entdeckt haben, die Proles, sie waren alle wieder da! Die Spumas, der Toxrin und auch die beiden Iubas, alle saßen wieder in ihren Gehegen! Ich konnte es zuerst gar nicht glauben, weil sie nur Stunden zuvor weg gewesen waren, aber sie waren wirklich da. Ich habe alles mit einer Videokamera aufgenommen. Damit haben wir sie, dieses Mal wird Malou sich nicht herausreden können!“

Ich strahlte ihn voller Begeisterung an und brauchte einen Moment, um den angespannten Zug um meine Mundwinkel zu bemerken, der meiner Freunde sofort einen kleinen Dämpfer versetzte. „Was ist los? Freust du dich gar nicht? Wir haben es geschafft, wir sind aus dem Schneider.“

„Ja, aus dem Schneider“, stimmte er mir mit einem seltsamen Unterton in der Stimme zu, bevor er mir einen sanften Kuss auf die Schläfe drückte. Sein Arm lag dabei in einer beinahe schon schützenden Geste um meine Taille. „Aber jetzt wird es Zeit, dass wir nach Hause fahren.“

„Nach Hause?“ Stirnrunzelnd machte ich mich von ihm frei und trat einen Schritt zurück. „Hast mir gar nicht zugehört? Ich kann jetzt noch nicht nach Hause. Die Polizei wird sicher noch mal mit mir sprechen wollen.“

Er wich meinem Blick nicht aus, doch ich bemerkte sehr wohl, die Ausdrücke auf den Gesichtern der anderen Männer. Bedauern, Mitleid, Argwohn.

Hier stimmte doch etwas nicht. „Was ist los?“, fragte ich verunsichert, als mir ein Gedanke durch den Kopf schoss. Hatte Malou es etwa schon wieder geschafft, sich irgendwie aus der Affäre zu ziehen? „Das Video, damit gibt es doch keine Probleme, oder? Sie haben es doch alle gesehen.“

„Mit dem Video ist alles in Ordnung“, versicherte Reese mir und strich mir in einer fast schon zärtlichen Geste über die Wange. Das verunsicherte mich gleich noch viel mehr. Reese liebte mich, ja, aber er war niemals der zärtliche Typ, schon gar nicht, wenn andere ihn dabei sehen konnten.

„Was ist es dann? Warum benimmst du dich so komisch?“

Seine Antwort bestand aus Schweigen und einem Blick voller Sorge. Das mochte ich nicht, das war so untypisch für ihn.

Der Kerl in zivil trat an etwas näher und stellte seine Tasche auf dem Tisch ab. „Vielleicht sollte ich ihr doch etwas zur Beruhigung geben.“

„Nein.“ Das Wort kam wie ein Knurren über Reese' Lippen und der Blick den der Kerl bekam, kam fast einem Mordanschlag gleich.

„Aber sie haben eine lange Fahrt vor sich“, widersprach der Kerl. „Es wäre sicherer für Sie und Frau Shanks, wenn …“

„Ich habe nein gesagt! Sie brauch nichts, sie ist für niemanden eine Gefahr!“

Moment, was? „Ich?“, fragte ich verwirrt. „Sie wollen mir etwas zur Beruhigung geben?“ Misstrauisch wich ich vor den Männern zurück. Was war hier los? „Warum?“

Reese erdolchte den Kerl mit einem Blick. Offensichtlich hatte er nicht gewollt, dass ich das zu Hören bekam.

Jetzt war ich mir ganz sicher, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Ich ging weiter auf Abstand und schaute misstrauisch von einem Mann zum anderen. Sie standen wie eine geschlossene Einheit vor mir. Selbst Reese schien zu ihnen zu gehören. Irgendwas in meinem Inneren verknotete sich. „Was geht hier vor?“

Reese Lippen wurden eine Spur schmaler. Er schien einen inneren Kampf auszufechten, unentschlossen was genau er tun sollte und reichte mir dann letztendlich in einer auffordernden Geste seine Hand. „Grace, bitte, lass uns gehen.“

Alle Alarmsirenen schrillten bei mir los. Ich konnte an einer Hand abzählen, wie oft er mich mit meinem Vornamen angesprochen hatte und bitten tat er nie um etwas – niemals. Doch jetzt hatte er beides getan und die ganze Aufregung und Freude war mit einem Schlag wie weggeblasen. Da war nur noch Misstrauen und Verwirrung, weil ich einfach nicht verstand, was hier los war. „Nicht bevor du mir sagst, warum es sicherer wäre, mir Beruhigungsmittel zu geben. Ich hab nichts gemacht, was das rechtfertigen würde.“

Einen Moment noch hielt Reese mir die Hand hin, doch als ihm klar wurde, dass ich nicht danach greifen würde, ließ er sie langsam an die Seite zurück sinken und ballte sie kurz zur Faust, bevor er sich zwang sie wieder zu entspannen. „Niemand macht dich dafür verantwortlich“, sagte er eindringlich. „Es ist in Ordnung, ich bin bei dir.“

Okay, jetzt machte er mir langsam Angst. Ich kannte die Tonlage seiner Stimme, so sprach er mit Celine, wenn er versuchte sie zu beruhigen. „Wofür macht mich niemand verantwortlich?“

Er öffnete den Mund, doch erst beim zweiten Versuch, kam langsam ein „Grace“ über seine Lippen.

„Nenn mich nicht so, bitte.“ Das verunsicherte mich nur und gab mir das Gefühl, als wollte er sich irgendwie von mir distanzieren. Das machte er auch bei Celine. Er sagte niemals Mama oder Mutter zu ihr, er nannte sie immer nur bei ihrem Namen, als wäre sie nur irgendeine Person, die ihm nicht wichtig war.

Reese spannte die Kiefer an. Was auch immer er mir verschwieg, er wollte es mir nicht sagen „Die Polizei hat sich dein Video angeschaut. Mir haben sie es auch gezeigt.“

„Aber das ist doch gut. Damit haben wir Malou endlich.“

Er zögerte, als würde er seine nächsten Worte sorgsam abwägen. „Auf dem Video sind keine Proles zu sehen.“

„Was?“, fragte ich halb belustigt, halb ungläubig und schaute dabei von einem zum anderen, in der Hoffnung, dass irgendwer lachen würde, weil er einen dummen Scherz gemacht hatte. Aber da war nicht mal ein Lächeln, nur ernste Gesichter. „Was soll das heißen, da sind keine Proles drauf? Ich hab meine Stimme gehört, als die Polizisten es sich angeschaut haben. Es ist mein Video.“

„Niemand bezweifelt, dass das Video von dir ist.“

„Aber?“

„Auf der Aufnahme ist kein Proles, nicht ein einziges.“

Ich verstand seine Worte und auch was sie im Zusammenhang bedeuteten, aber ehrlich gesagt, verwirrte er mich einfach nur. „Und was sieht man dann darauf? Dinosaurier?“

„Nein, nur Malous Tiere.“

„Du meinst Proles.“ Ich hatte schließlich die Abkömmlinge aufgenommen. Von ihren Tieren dagegen hatte ich keine Spur finden können – nicht das ich besonders darauf geachtet hätte.

„Nein, Shanks, ich meine Tiere. Du bist von einem Gehege zum anderen gelaufen und hast die Tiere aufgenommen, dabei aber so getan, als hättest du Proles vor dir.“

Es brauchte mehrere Sekunden, bis diese Mitteilung zu mir durchgedrungen war und als sie es dann tat, schüttelte ich ganz entschieden den Kopf. „Was redest du da für einen Mist? Ich war in diesem Zoo und habe Proles aufgenommen. Wenn du mir nicht glaubst, frag doch Lexian, er war dabei.“

Für einen kurzen Moment schaute er mich nur schweigend an. „Lexian ist in Berlin.“

„Was?“ Ich lachte ungläubig. „Erst bilde ich mir die Proles ein und jetzt auch noch Lexian? Hast du eine Ahnung, wie verrückt das klingt?“

Niemand im Raum wirkte belustigt und langsam bekam ich Panik.

„Lexian war bei mir“, versuchte ich ihn ein weiteres Mal zu überzeugen. „Er hat die Polizei gerufen, nur deswegen konnte Malou mich nicht umbringen.“ Auch wenn ich zugeben musste, dass er sich ganz schön viel Zeit dafür gelassen hatte.

Reese jedoch schüttelte den Kopf. „Es war nicht Lexian, der die Polizei alarmiert hat, das waren die Leute von Frau Grabenstein. Du bist gegen drei in den Zoo eingebrochen, hast das Video gedreht und wurdest dann aufgegriffen. Kurz darauf hat die Polizei dich mitgenommen.“

„Gegen drei?“ War er jetzt völlig übergeschnappt? „Es war Mitternacht, als ich mit Lexian über die Mauer geklettert bin. Ich habe fast drei Stunden in diesem verdammten Büro gesessen.“

„Wir haben die Überwachungsbänder der Anlage gesehen“, ergriff nun der blonde Polizist das Wort. „Die Zeit und Datumsanzeige zeigt deutlich, dass Sie gegen drei eingebrochen sind.“

„Dann wurden diese Daten manipuliert!“, ereiferte ich mich sofort. Jetzt bekam ich wirklich Panik. Erst keine Proles, dann kein Lexian und jetzt sollten mir auch noch drei Stunden fehlen? Ich hatte mir das alles doch nicht eingebildet.

„Die Daten können nicht so einfach manipuliert werden, sie werden per Satellit gesendet.“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. Das konnte nicht wahr sein. „Sie lügen. Malou hat Sie bestochen, damit Sie das behaupten!“

„Ich versichere Ihnen, dass das nicht der Fall ist.“

„Sie lügen! In diesem Zoo sind Proles! Ich habe sie gesehen und ich habe sie aufgenommen! Rufen Sie Lexian an, er wird Ihnen alles bestätigen!“

„Wir haben bereits mit Herr Forsberg gesprochen. Er hat glaubhaft versichert, dass er Zuhause ist und nichts von einem Einbruch weiß. Um sicher zu gehen, haben wir auch eine Streife zu ihm geschickt. Er ist genau da wo er behauptet zu sein.“

„Nein das kann nicht sein. Er war bei mir gewesen.“ Selbst wenn er direkt nach dem Einbruch nach Hause gefahren wäre, müsste er sich noch auf den Weg nach Berlin befinden. Man brauchte fast vier Stunden für die Fahrt und wir hatten es gerade mal fünf.

„Shanks, denk doch mal darüber nach. Warum sollte Lexian extra hier her fahren, um mit dir in einen Zoo einzubrechen?“

„Weil er mir geglaubt hat.“ Im Gegensatz zu dir. Die Worte blieben unausgesprochen, doch sie schwebten wie ein Leuchtfeuer direkt zwischen uns.

Reese presste die Lippen aufeinander. „Lexian ist ein Angestellter des Verbands, der eine Beurteilung über uns schreiben soll. Er ist nicht dein Freund.“

„Ich weiß genau wer er ist!“, fauchte ich ihn an und fühlte mich plötzlich in die Ecke gedrängt. Was sie alle behaupteten, konnte nicht stimmen. Es war einfach nicht möglich, dass ich mir das alles eingebildet hatte. „Und die Videokamera“, startete ich einen weiteren Versuch. „Wo habe ich die her? Die hatte ich noch nicht, als ich nach der Führung durch den Zoo gegangen bin. Lexian hat sie mir mitgebracht.“

„Das stimmt nicht.“

„Doch, das tut es. Er war hier. Keine Ahnung, warum er jetzt etwas anderes behauptet, aber er war hier gewesen und hat mir geholfen!“ Vielleicht wollte er mit dem Einbruch nicht in Verbindung gebracht werden, damit sein Strafregister sauber blieb, doch eigentlich schätzte ich ihn so nicht ein.

„Vielleicht sollte sie sich einmal selber das Video anschauen“, bemerkte der Arzt mit einem wachsamen Blick in meine Richtung. „Dann kann sie sich selber davon überzeugen, dass wir die Wahrheit sagen.“

Warum bitte sprach der Kerl über mich, als wäre ich nicht im Raum? Ich konnte ihn hören, falls ihm das entgangen war.

„Ich geh es kurz holen“, sagte eine der Polizisten und verließ den Raum.

„Das brauchen Sie nicht, ich weiß was ich gesehen habe!“, rief ich ihm hinterher.

„Shanks.“ Als Reese den Arm nach mir ausstreckte und einen Schritt auf mich zumachte, riss ich sofort abwehrend die Hände in die Luft und wich noch weiter vor ihm zurück.

„Komm mir nicht zu nahe.“ Ich schickte ihm noch einen Blick, der ihn davor warnte, mir im Augenblick zu nahe zu kommen. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was hier vor sich ging, aber die ganze Welt schien plötzlich einen Dachschaden zu haben. Ich wusste ganz genau was ich gesehen hatte und darum konnte das was die Männer sagten einfach nicht stimmen. Trotzdem spürte ich, wie meine Nervosität immer weiter anwuchs.

Ich biss mir auf die Lippe und sah der Rückkehr des Polizisten sowohl mit Misstrauen, als auch mit Hoffnung entgegen. Wenn wir uns das Video anschauten, würden alle sehen, dass ich recht hatte, sie würden gar nicht anders können.

Als der Kerl dann mit einem Laptop unter dem Arm wieder auftauchte, war ich ein einziges Nervenbündel. Ich versuchte ruhig zu bleiben, als er das Gerät auf dem Tisch abstellte und den Bildschirm aufklappte. Ein par Klicks später startete er ein Videoprogramm und dann hörte ich auch schon meine eigene Stimme.

Ich befinde mich gerade in dem privaten Zoo von Malou Grabenstein. Es ist kurz nach Mitternacht, Samstag morgen, nur wenige Stunden nachdem Malou der Presse eine Führung durch ihren Zoo gegeben hat.“

Ich näherte mich dem Gerät, um voller Anspannung zu verfolgen, was sich auf dem Bildschirm abspielte.

Ich habe keine Ahnung wie das möglich ist, vorhin befanden sich in diesem Gehege noch mehrere Saola-Waldrinder, aber jetzt steht hier ein blauer Dorcas und von den Rindern ist keine Spur zu entdecken. Okay so?“

Das Video zeigte eine Stelle direkt hinter der Glasfassade. Sie war leer. Dann bewegte sich das Bild, als würde es etwas unsichtbarem folgen, aber da war nichts. Es dauerte mehrere Sekunden, bis in einiger Entfernung am Rande ein paar Tiere in Sicht kamen. Aber das war kein Dorcas, das waren die Saola-Waldrinder. Und sie wirkten eher, als wären sie zufällig in die Aufnahme geraten, weil der Fokus eigentlich ganz woanders lag.

„Das kann nicht sein“, murmelte ich völlig geschockt, während mein alter Ego in dem Video fragte: „Wenn der Dorcas wieder da ist, meinen Sie, dass die anderen Proles auch wieder in ihren Gehegen sitzen?“

Die anwachsen Unruhe in mir, steigerte sich fast bis ins unermessliche. Ich griff nach dem Touchpad, um das Video bis zu der Stelle vorzuspulen, von der ich mit Sicherheit wusste, dass ich Lexian aufgenommen hatte: Vor der Voliere des Toxrins.

Ja, Moment, ich will nur noch kurz die Voliere aufnehmen.“ Die Kamera zoomte und die Voliere kam in Sicht. Aber darin war kein weißer Toxrin, sondern nur ein Hainan-Gibbon, der mich verschlafen anblinzelte. „Können Sie einen Schritt zur Seite gehen? Danke.“ Kein Lexian.

Verunsichert wich ich zurück. „Ich verstehe das nicht.“ Hilfesuchend schaute ich zu Reese, doch da war nur dieser besorgte Ausdruck in seinen Augen. „Da war ein weißer Toxrin gewesen, ich habe ihn gesehen. Und Lexian, an der Stelle müsste Lexian sein.“ Aber er war nicht da. Da war nur ich, die begeistert von einem unsichtbarem Proles redete. Ich wirkte einfach nur … verrückt.

Reese atmete einmal tief ein und startete dann einen neuen Versuch sich mir zu näheren. Dieses Mal wehrte ich mich nicht, als er die Arme um mich legte. „Ist schon gut“, sagte er leise in mein Haar. „Wir kriegen das schon hin.“

Hinkriegen? Wie bitte wollte er das wieder hinkriegen. Das waren meine Aufnahmen, aber sie zeigten nicht das was sie zeigen sollten. Es war, als wären die Proles einfach daraus ausradiert worden. „Oh mein Gott, das ist es!“, rief ich und wand mich in Reese Umarmung, bis er etwas locker ließ. „Das sind nicht meine Aufnahmen, Malou hat sie manipuliert, damit alle glauben ich sei verrückt!“

„Shanks …“

„Nein wirklich, so muss es sein. Darum hat sie die Kamera auch nicht verschwinden lassen.“

Aber Reese schüttelte schon wieder den Kopf. „Das ist nicht möglich. Da sind Tiere in den Gehegen, keine Proles.“

„Dann hat sie sie eben noch mal ausgetauscht“, behauptete ich steif und fest. Das musste es sein. „Sie hat sie wieder ausgetauscht und den Film dann manipuliert!“

„Sie hat sie noch mal ausgetauscht? Erst Proles, dann Tiere, dann wieder Proles und dann noch mal Tiere? Sie müsste die Tiere und Proles allein in den letzten Stunden drei Mal vertauscht haben. Wie soll das gehen?“

„Das weiß ich doch auch nicht!“, rief ich und zu meinem Entsetzen brach meine Stimme. Plötzlich wusste ich nicht mehr was ich glauben sollte. Er hatte recht, was ich da sagte, ergab einfach keinen Sinn. Es war nicht nur unlogisch, es war völlig durchgeknallt. Aber ich konnte das was ich da sah auch nicht glauben, denn das würde bedeuten, dass mit mir etwas nicht stimmte. „Es muss für all das eine logische Erklären geben.“

So wie die Männer mich anschauten, hatten die ihre Erklärung bereits gefunden, doch das konnte ich nicht akzeptieren, denn das würde bedeuten … nein, nein, nein.

„Lexian“, rief ich in einem letzten Versuch die Sache noch irgendwie zu retten. Ich begann damit Reese' Mantel zu durchsuchen, bis mir sein Handy in die Hand fiel. Er hielt mich nicht auf, als ich mit zitternden Fingern die Nummer von meinem Komplizen aus dem Adressbuch suchte und es mir dann nervös ans Ohr hielt. Ich musste mit ihm reden. Er war dabei gewesen und konnte das alles richtig stellen.

Es klingelte so lange, dass ich schon befürchtete, er würde nicht abnehmen. Umso erleichterter war ich, als ich vom anderen Ende der Leitung ein schläfriges „Hmh?“ hörte.

„Lexian, ich bin es Grace. Bitte sagen Sie mir, dass sie in dem Zoo waren.“ Meine Stimme war nicht nur dünn und zitterte, es war geradezu ein Flehen.

Mehrere Sekunden lang war es still, dann hörte ich ein schweres Seufzen. „Grace, ich habe keine Ahnung was da bei Ihnen los ist, aber das ist nun das dritte Mal, dass ich heute Nacht aus dem Schlaf gerissen werde und langsam bekomme ich schlechte Laune. Außerdem kann ich Ihnen garantieren, dass ich weder mit Ihnen noch mit jemand anderem in den letzten Jahren in irgendeinem Zoo gewesen bin.“

Nein, nein, nein. „Aber … Sie sind doch extra hergefahren. Es war Ihre Idee.“

„Was war meine Idee?“

„Der Einbruch.“ Plötzlich klang meine Stimme ganz dünn und unsicher. Er war hier gewesen, das konnte keine Illusion gewesen sein.

„Hören Sie eigentlich was Sie da sagen? Ich soll Sie zu einem Einbruch angestiftet haben?“ Er seufzte leise. „Es tut mir leid, wenn Sie Probleme haben, aber ich werde jetzt auflegen. Wir können gerne morgen noch mal miteinander sprechen – wenn ich ausgeschlafen bin. Gute Nacht.“ Und damit beendete er den Anruf.

Das gab mir den Rest. Das Handy entglitt einfach meinen Fingern. Ich bekam nicht mal mit wie es auf dem Boden aufkam. Er war nicht dort gewesen.

Meine Hände begannen zu Zittern. Mir wurde übel und gleichzeitig begann ich zu schwitzen, obwohl mir mit einem Mal eiskalt war. Ich schlang die Arme um mich selber und schüttelte den Kopf. Wie konnte das sein? Ich konnte mir das doch nicht alles eingebildet haben.

„Shanks.“

Alle starrten mich an. Vorsichtig, wachsam, bedauernd und dann sah ich mein eigenes Gesicht auf dem Bildschirm, wie ich aufgeregt von meiner Entdeckung erzählte und die Kamera auf ein scheinbar leeres Gehege richtete, obwohl dort eigentlich zwei Iubas sitzen sollten. Doch ich hatte nichts entdeckt, da waren keine Proles.

Mein Herz begann schneller zu schlagen und das Atmen wurde schwerer. Ich taumelte zurück, bis ich die Wand im Rücken spürte. Meine Gedanken begannen sich zu drehen und zu winden. Sie wirbelten wild durcheinander, in dem Versuch Ordnung in Sinn in das Chaos zu bringen. Lexian war nicht hier gewesen, deswegen hatten die Männer im Zoo ihn auch nicht gesehen. Da war niemand außer mir.

Die Kraft verließ mich. Meine Beine versagten mir einfach den Dienst und ich rutschte an der Wand hinab, bis ich nur noch ein zusammengekauerte Häufchen Elend war. Irgendwas in meinem Inneren verschob sich auf schmerzhafte Weise. Ich spürte meinen Herzschlag wild gegen meinen Brustkorb trommeln.

„Wagen Sie es nicht mit dieser verdammten Spritze in ihre Nähe zu kommen“, knurrte Reese.

Die Entführung, Declan, Sylvan, Logan, das war echt gewesen. Den Zoo, ich hatte ihn wiedererkannt, ich war schon einmal dort gewesen. Malou, Malou hatte irgendwas getan, Malou war in meinem Kopf. Oh Gott, das konnte nicht stimmen.

Ein Wimmern kam über meine Lippen. Sie war in meinem Kopf. Ich vergrub die Hände in den Haaren, als ich die voller Entsetzen die Wahrheit dieser Worte erkannte. Meine Gedanken gehörten nicht mehr mir. Irgendwas in meinem Kopf lief gerade gewaltig schief.

Eine Träne rann mir über die Wange und dann noch eine. Dann spürte ich wie Reese die Arm um mich legte und meinen Kopf schützend an seine Brust zog, doch zum ersten Mal hatte seine Nähe keine beruhigende Wirkung auf mich. Er konnte mich nicht schützen, nicht vor meinem eigenen Geist.

Seine leisen Worte waren nichts als ein bedeutungsloses Murmeln. Jeder Moment und jeder Gedanke wurde bedeutungslos. Alles war falsch und verzerrt.

Ich schloss Augen, als die Tränen immer mehr wurden. Ich war nicht verrückt.

 

°°°°°

Kapitel 17

 

Oh mein Gott, da sind sie, siehst du Lexian? Da vorne liegen sie! Wie ich gesagt habe, sie sind hier!“ Aber da war nichts, nur ein leerer Fleck mitten im Gehege.

Das hier sind die beiden noch verschwundenen Iubas von dem überfallenen Transport“, hörte ich meine eigene aufgeregte Stimme erzählen. Das Bild ruckelte hektisch hin und her, dann kam ich selber mit vor Eifer geröteten und leuchtenden Augen ins Bild. „Das beweist nicht nur, dass ich die ganze Zeit die Wahrheit gesagt habe, sondern auch, dass Malou für den Überfall auf die Transporter verantwortlich zu machen ist. Nicht Reese und ich waren es, sondern sie.“ Wieder drehte ich die Kamera und ein scheinbar leeres Gehege kam in Sicht. Doch dann schlenderte von der Seite her einer der Iberischen-Luchse durch das Bild. Kein Iuba, ja nicht mal ein Proles.

Ich drückte die Lippen aufeinander. Wie war das möglich? Warum waren da normale Tiere? Ich konnte mir das doch nicht wirklich eingebildet haben. Und dann noch die Kamera, die diese Aufnahmen überhaupt erst möglich gemacht hatte. Sie war von Lexian, er hatte sie mir nicht nur gegeben, sondern mich erst auf diese Idee gebracht. Und auch er müsste auf diesem Video sein.

War er aber nicht.

Nur ich.

Ich verstand es nicht. Es ergab keinen Sinn und es machte mich fertig.

Leise und barfuß betrat Reese das Schlafzimmer. In den Händen hielt er einen Teller und ein Glas mit Wasser, mit denen er sich neben mich auf die Bettkante setzte. Ich hatte das Bett nicht mehr verlassen, seit er mich gestern nach unserer Rückkehr aus Dömitz hineingesteckt hatte.

Die Fahrt lag irgendwie im Nebel. Da waren nur ein paar Schnappschüsse, mehr nicht. Ich wusste noch, wie ich im Verhörraum gesessen und geweint hatte, lautlos und völlig verwirrt, weil meine Welt plötzlich keinen Sinn mehr ergeben hatte. Das nächste woran ich mich erinnerte, war, wie Reese mich auf dem Beifahrersitz festgeschnallt hatte und mir zärtlich eine Träne von der Wange wischte, doch alles was ich wahrgenommen hatte, war ein Gefühl der Leere.

Beim nächsten Schnappschuss lag ich zuhause in unserem Bett. Reese und ein fremder Mann sprachen leise miteinander über geistige Verwirrung, Hirnschäden und Spätfolge durch das Toxringift. Meine Augen fühlten sich aufgequollen an, die Lippen spröde und ich fühlte mich völlig verloren. So hatte ich mich nicht mehr seit dem Tod meiner Eltern gefühlt.

Ein weiterer Schnappschuss, wie Reese versuchte mir etwas zu trinken einzuflößen. Dann war da plötzlich mein Laptop neben mir im Bett. Dort lief das Video, dass ich selber gedreht hatte, aber es war so falsch. Reese hatte es angemacht, damit ich die Realität von meinen Hirngespinsten unterscheiden konnte. Seit schaffte ich es nicht mehr den Blick abzuwenden. Ich saß da, den Laptop auf dem Schoß und starrte darauf.

Immer und immer wieder schaute ich es mir an. Stundenlang. Ich hatte nicht geschlafen, ich konnte nichts anderes tun, als dieses Video anzuschauen, in der Hoffnung, dass es mir Antworten geben könnte. Ich war sogar richtig in Panik geraten, als Reese versuchte mir den Laptop wegzunehmen, damit ich ein wenig schlief. Aber ich konnte nicht schlafen, nicht bevor ich verstand, was mit mir geschehen war.

Ich wusste was geschehen war, ich hatte Halluzinationen.Ich bildete mir Dinge ein, die gar nicht existierten und sprach mit Leuten, die gar nicht da waren. Wie eine … Schizophrene.

Nein, nein, nein, ich hatte mir das nicht eingebildet, das konnte einfach nicht sein, dafür war es zu echt gewesen.

Reese stellte das Glas mit dem Wasser und den Teller auf dem Fensterbrett ab. „Du musst etwas essen“, sagte er mit einer so sanften Stimme, dass es mich eigentlich berühren müsste und nahm eines der Brote zur Hand.

Mein Blick blieb starr und völlig ausdruckslos auf den Bildschirm gerichtet. Die einzige Bewegung die ich in den letzten Stunden gemacht hatte, ging von meinem Finger aus, der das Video wieder von vorne startete, wenn es durchgelaufen war. Es konnte mir erklären was geschehen war, ich musste es nur verstehen.

„Shanks“, sprach er mich leise an, als ich nicht reagierte und strich mir vorsichtig eine rote Strähne hinters Ohr. Mit dem Brot tippte er mir vorsichtig gegen die Lippe, doch ich bemerkte es nicht mal. Hier und jetzt existierte nichts anderes als dieses Video. Das was ich sah, konnte einfach nicht stimmen. Es zeigte genau das was es zeigen sollte. Ich erinnerte mich, wie ich die Wege langgelaufen war und auch wie ich die Gehege aufgenommen hatte, aber sowohl die Proles und auch Lexian fehlten.

Reese Worte kamen mir wieder in den Sinn. Warum sollte Lexian, ein praktisch Fremder, mit mir in diesen Zoo einbrechen, um meine Unschuld zu beweisen? Dieser Gedanke verwirrte mich nur noch mehr und ließ mich an meiner geistigen Verfassung zweifeln.

Von der Seite her blinzelte Cherry neugierig in Reese' Richtung. Sie witterte wohl das Essen in seiner Hand.

Seit Reese mich gestern ins Bett gesteckt hatte, lungerte sie ständig im Schlafzimmer herum. Normalerweise ließ sie keine Gelegenheit aus, in jedem noch so ungünstigen Moment auf einen Schoß zu klettern, doch sie schien zu spüren, dass etwas mit mir nicht stimmte. Sie beobachtete mich ständig aufmerksam und wachsam, so als versuche sie zu verstehen, was plötzlich anders an mir war, aber sie kam mir nie zu nahe.

Als Reese klar wurde, dass ich nicht abbeißen würde, ließ er den Arm sinken und musterte mich sorgenvoll. „Soll ich dir etwas anderes zu Essen machen?“

Das Video war zu Ende und ich startete es neu, doch statt einem Dorcas war da nur ein leerer Fleck. Wo war der blaue Dorcas abgeblieben?

„Würdest du etwas trinken?“

Ich konnte mir das doch nicht wirklich alles ausgedacht haben. Natürlich, von Malou Grabenstein konnte ich aus den Nachrichten, oder aus dem Internet wissen, genau wie von ihrem Zoo. Als Milliardärin war die Frau zwar nicht unbedingt eine Berühmtheit, aber eine Unbekannte war sie auch nicht.

„Rede doch wenigstens mit mir.“

Aber was war mit dem ganzen anderen Zeug? War wirklich Gift dafür verantwortlich, dass mein Hirn diese völlig verrückte Geschichte kreiert hatte? Aber wer waren dann meine Entführer und wie war ich nach Dömitz gekommen? Und noch viel wichtiger, was war wirklich geschehen? Das alles ergab überhaupt keinen Sinn. Nicht mal mehr das was geschehen – oder auch nicht geschehen – war, ergab plötzlich noch einen Sinn.

Vorsichtig strich Reese mir mit dem Handrücken über die Wange. „Komm wieder zu dir, Shanks, du machst mir langsam Angst.“

Sicher wusste ich nur noch, dass ich entführt wurde, aber ab diesem Zeitpunkt stimmte nichts mehr. Hatte der Schreck und die Angst in der Mischung mit dem Gift einen psychotischen Schub bei mir ausgelöst? War etwas so Furchtbares mit mir geschehen, dass ich mir lieber diesen Horrortrip ausgemalt hatte? Vielleicht hatten die Leute von L.F.A. ja irgendwie mitbekommen, dass ich nach den Iubas gesucht hatte. Die Männer die mich entführt hatten, konnten die gleichen gewesen sein, die auch die Iubas geklaut hatten. Das würde erklären, wie ich an die Schwarzmähne gekommen war. Aber es würde auch passen, wenn alles so geschehen war, wie ich behauptet hatte.

Mein Stirn legte sich in Falten, als ich erneut zu der Stelle kam, wo Lexian hätte im Bild sein müssen. Er war nicht da, und auch kein weißer Toxrin. Nur ich, ganz allein, die mit etwas sprach, dass gar nicht existierte. Was stimmte hier nur nicht?

Da Reese trotz meines lethargischen Verhaltens nicht aufgeben wollte, trennte er ein sehr kleines Stück von den Brot ab und schob es mir vorsichtig zwischen die Lippen. Es war nichts als reiner Reflex, dass ich es mit der Zunge aufleckte und sogar runter schluckte. Ich merkte es nicht einmal, aber Reese hatte es registriert und wiederholte die Prozedur daher. Drei Mal klappte es, das vierte Stück landete in dem Haufen von Decken, in den Reese mich eingewickelt hatte.

Er klaubte es auf und wollte zu einem neuerlichen Versuch ansetzten, wurde aber in dem Moment von dem Klingeln an unserer Wohnungstür unterbrochen. Ein verärgerter Zug bildete sich um seinen Mundwinkel und im ersten Moment schien er versucht den Störenfried einfach zu ignorieren, doch dann legte er unwillig das Essen zurück auf den Teller und erhob sich.

„Ich bin gleich wieder da“, erklärte er mir und drückte mir einen keuchen Kuss auf den Kopf. Doch anstatt dann zu gehen, schnappte er sich die Katze vom Fußende des Bettes und legte sie direkt neben mich auf die Decke.

Cherry war von dieser Idee jedoch nicht sehr angetan. Sobald er sie losließ, nahm sie Reißaus und rettete sich ans andere Ende vom Bett, von wo aus sie mich misstrauisch und mit zuckendem Schwanz im Auge behielt.

Reese strafte sie mit einem bösen Blick. „Blöde Katze.“

Erst als es ein weiteres Mal an der Tür klingelte, wandte er sich von mir ab und verließ das Schlafzimmer.

Auf dem Video kam ich gerade vor dem Gehege der Spumas zum Stehen. Nein, nicht Spumas, da war ein weißer Tiger drin. Das war ein Fehler, aber wo genau er war, konnte ich nicht entscheiden. Wenn ich mir die Aufnahmen nur oft genug ansah, würde ich ihn schon finden.

Nein, ich konnte ihn nicht finden, das Video war richtig, der Fehler lag in meinem Kopf.

Verdammt, ich war nicht verrückt.

Draußen im Flur wurde die Wohnungstür geöffnet. Gleich darauf schwebte gedämpft Reese' argwöhnische Stimme durch die Wohnung. „Was willst du denn hier?“

„Ich würde gerne mit Grace sprechen“, erwiderte Lexian. „Ist sie da?“

„Ja, aber sie kann im Moment nicht.“

Ein verärgertes Geräusch war zu hören. „Herr Tack, mir ist durchaus bewusst, dass Sie nichts von mir halten, aber ich bin nicht besonders erfreut darüber, dass Grace meinen Namen in ihre Angelegenheiten mit hineingezogen hat, es gehört nämlich nicht unbedingt zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, mich mitten in der Nacht grundlos mit er Polizei zu beschäftigen. Und da Grace nicht an ihr Handy geht und ich sowieso gerade in der Gegend war, ist es wohl nicht zu viel verlangt, wenn sie mir einen Augenblick ihrer Zeit schenkt, damit wir diese Sache klären können.“

„Bist du jetzt fertig? Ich habe wichtigeres zu tun, als mich mit deinem Scheiß auseinanderzusetzen.“

Eigentlich lautete doch nur die Frage, wo genau der Fehler lag. Ab welchem Punkt passte das alles nicht mehr zusammen. Natürlich, aber der Entführung, aber wann genau?

„Herr Tack …“

„Hast du irgendwas an den Ohren? Shanks kann nicht, und das ist nicht nur so dahin gesagt. Sie hatte gestern früh einen Nervenzusammenbruch und hat seit dem keinen Ton mehr gesagt.“

„Was?“ Lexian klang überrascht. „Aber ich habe Freitagabend doch noch mit ihr telefoniert und da klang sie ganz normal.“

War es als die drei Männer mich in den Van zerrten? Oder auf der Fahrt zu Malous Anwesen. Nein, nicht Malou, dort hatten sie mich nicht hingebracht, aber wohin dann?

„Du hast mit ihr telefoniert?“

„Ja. Sie rief mich am Abend an, um sich nach Adrian Lambrecht zu erkundigen, doch ich konnte ihr leider nichts Neues mitteilen. Sie wollte versuchen dieser Frau, dieser Malou Grabenstein, auf diesem Weg etwas nachzuweisen, weil sie sie wohl irgendwie diskreditiert hat.“

Er hatte mir doch ins Gesicht geschlagen. Vielleicht war der Schlag heftiger gewesen, als ich ihn empfunden hatte. Hatte er mir eine Kopfverletzung zugefügt? Nein, die Halluzinationen kamen vom Gift. Aber ich hatte doch gar keine Halluzinationen, das war nur ein Trick, ich konnte mir das nicht eingebildet haben.

„Egal, sie kann im Moment jedenfalls nicht und ich will nicht, dass du hier noch mal auftauchst und mich oder sie mit deinem Scheiß belästigst. Du hast Probleme? Wer nicht? Komm allein damit klar.“

Die Tür knallte mir einem Rums zu.

Was für ein Trick war es, wo liegt der Fehler, aber wann stimmen meine Erinnerungen nicht mehr? Ich brauchte den genauen Zeitpunkt, oder? War der überhaupt wichtig? Das Video würde doch trotzdem weiterhin alles verzerren. Viel wichtiger war doch die Frage, wo waren die Proles. Nein, gab es überhaupt Proles.

Natürlich gab es sie, es musste sie einfach gegeben haben.

Oder?

Reese tauchte wieder im Türrahmen auf und beobachtete mich eine Zeitlang schweigend, wie ich völlig verstört im Bett saß und auf den Bildschirm starrte. Seine Gedanken gehörten ihm allein und auch als er sich mir nährte, ließ er sich seine Besorgnis nicht anmerken.

Wie zuvor bereits ließ er sich wieder neben mir auf die Bettkante sinken und überlegte, ob es im Moment einen Sinn machte, mir noch einmal das Essen anzubieten. „Ich wollte nicht, dass du dich im Stich gelassen fühlst“, sagte er leise und strich mir zärtlich über die Wange. „Ich wollte das Richtige tun, deswegen habe ich es Jilin überlassen.“

Lexian, wie passte Lexian in das Bild? Wenn ich mir nur eingebildet hatte, dass er da war, warum hat mein Hirn ausgerechnet ihn gewählt? Weil Reese mir nicht geglaubt hatte? Weil selbst meine beste Freundin Zweifel an meiner Geschichte bekommen hat?

„Okay, weißt du was, du schläfst jetzt erstmal ein bisschen. Du hast die ganze Nacht kein Auge zugemacht.“ Er streckte den Arm nach dem Laptop aus, doch in dem Moment als ich spürte, wie er das Gerät bewegte, bekam ich Panik und schlug seine Hand weg.

Nein! Er durfte ihn mir nicht wegnehmen! Erst musste ich herausfinden, was falsch gelaufen war. Doch Reese gab nicht nach und als ich noch mal versuchte nach ihm zu hauen, fing er einfach meine Hand ab.

„Shanks, ruhig, ich nehme ihn dir nicht weg.“

Doch, das tat er! Mein Herz begann zu rasen und die Angst kroch wie zähflüssiger Schleim durch meine Adern. Ich wollte ihn wegstoßen und mir meinen Computer wiederholen, doch er klappte da flache Gerät einfach zu und schob es auf seine Seite des Bettes. Gleichzeitig drückte er mich nach unten, sodass ich auf der Seite zum Liegen kam.

„Schhh“, machte er beruhigend, ließ mich aber nicht los, weil ich noch immer versuchte nach ihm zu schlagen. Ich brauchte den Computer, ich durfte jetzt nicht aufhören.

„Alles ist gut. Hier, ich hab ihn dir nicht weggenommen, er liegt hier.“ Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, drückte er meine Hand auf das kühle Gehäuse des Laptops. „Du brauchst keine Angst haben.“

Er war hier, ich spürte ihn unter meinen Fingern. Er hatte ihn mir nicht weggenommen.

Mein Atem ging stockend und ich spürte, wie mir wieder die Tränen kamen.

„So ist gut.“ Vorsichtig ließ er mich los und als er sich sicher war, dass ich nicht noch mal versuchen würde nach ihm zu schlagen, stieß er erleichtert den Atem aus und strich mir immer wieder beruhigend über mein Haar.

Diese Berührung, sie fühlte sich irgendwie surreal an. Alles wirkte so seltsam falsch. Meine Finger krallten sich um den Laptop, das einzige bisschen Realität das ich hatte. Er durfte es mir nicht wegnehmen, denn dort lag die Wahrheit.

Als Reese sich hinter mir wieder bewegte, spannte ich mich an, doch er zog nur meine Decke etwas höher, um mich darin einzuwickeln. „Versuch ein bisschen zu schlafen.“ Seine Finger streiften meine Wange, strichen wieder über mein Haar. Immer und immer wieder. Das Gefühl sollte mich einlullen, doch meine Augen blieben weit offen. Ich hatte nur die Aufnahmen im Kopf. Mein ganzes Denken beschränkte sich darauf. Auch jetzt, wo ich es nicht sah, versuchte ich den Fehler zu finden. Es musste ihn einfach geben, weil sonst … sonst würden alle recht behalten. Aber ich war nicht verrückt.

Am anderen Ende vom Bett bewegte Cherry sich. Sie machte ein paar tapsige Schritte auf mich zu, streckte den Hals und schnupperte an meinem Arm, doch sie kam nicht näher. Einen Moment starrte sie mich einfach nur an, bevor sie wieder auf Abstand ging und es sich auf Reese' Kopfkissen bequem machte.

Langsam zeichnete Reese mit dem Finger meine Ohrmuschel nach, hielt aber kurz inne, als sein Handy zu klingeln begann. Er streckte sich nach dem Fensterbrett und hielt es sich an Ohr. Seine Berührung jedoch unterbrach er dabei nicht. „Ja?“

Aber was wenn es doch stimmte? Was wenn dieses Gift doch etwas mit meinem Kopf angestellt hatte und ich mich nicht mehr auf das was ich sah und hörte, verlassen konnte?

„Unverändert.“

Ich würde alles was ich wahrnahm ab sofort in Zweifel ziehen müssen.

„Der Arzt wird morgen noch mal ach ihr sehen.“

Selbst die Tatsache, dass ich gerade in diesem Bett lag, konnte falsch sein.

„Ich weiß es nicht, Jilin.“

Oder das Reese bei mir war.

„Keine Ahnung, das weiß ich nicht aus dem Kopf.“

War ich überhaupt wieder zuhause, oder befand ich mich noch immer in den Klauen meiner Entführer und das alles hier war nichts weiter als eine völlig absurde Ausgeburt meiner Phantasie?

„Ja, Moment, ich gehe nachschauen.“ Etwas ungelenk erhob Reese sich aus dem Bett. „Ich bin glich wieder da“, sagte er zu mir und verließ mit eiligen Schritten das Schlafzimmer.

Aber das alles fühlte sich so real an. Wie konnte das sein, wenn es nicht so war? Mein Vorstellungsvermögen hatte doch noch nie so blühend gearbeitet. Nein, ich konnte mir das nicht alles eingebildet haben, das war unmöglich. Selbst ein sehr kreativer Mensch würde wohl seine Probleme damit haben.

So viele Fragen, keine Antworten, nur dieses Chaos, dass immer größer zu werden schien. Ich wusste nicht mehr wohin ich meine Gedanken wenden sollte. Und wenn das ganze wirklich nichts als Einbildung war, waren das dann überhaupt noch meine Gedanken?

Plötzlich hatte ich das erdrückende Gefühl in meinem Kopf gefangen zu sein. Ich schrie nach Hilfe und kratzte an unsichtbaren Wänden, bis meine Finger ganz blutig waren aber niemand hörte mich oder kam mir zu Hilfe. Ich war allein, verloren und völlig verwirrt.

Hastig kniff ich die Augen zusammen. Mein Herzschlag beschleunigte sich und meine Hände begannen unangenehm zu kribbeln. Ich krampfte die Finger zusammen und versuchte diesem unwirklichen Gefühl zu entkommen, dabei spürte ich wieder den Laptop. Mein Stückchen Realität. Oh Gott, Reese hatte es mir gegeben, damit ich mich daran festhalten konnte. Ich brauchte Realität und Wahrheit. Was war Wahrheit?

Ein Reflex, geboren in meiner verwirrenden Unsicherheit, ließ mich den Bildschirm hochklappen und sofort lief das Video wieder, damit ich mir selber dabei zuschauen konnte, wie ich langsam dem Wahnsinn verfiel.

Ich durfte nicht auf das hören, was ich sagte, ich durfte nur sehen. Die Bilder, sie zeigten was wirklich geschehen war. Ich lief durch einen Zoo. Dort war ich eines der Saola-Waldrinder. Ich hielt mich an seinem Anblick fest. Das war real, nicht das Dorcas, dass dort sein sollte, sondern das Saola. Es war ein wunderschönes Tier, ein reales Wesen, also warum verstörte sein Anblick mich nur noch mehr?

Als Reese zurück ins Schlafzimmer kam und sah, dass ich den Laptop wieder aufgeklappt hatte, seufzte er leise. „Du sollst doch schlafen“, tadelte er mich und legte sein Handy zurück auf das Fensterbrett. Dann beobachtete er mich einen Moment, als wüsste er nicht genau, war er nun tun sollte.

„Okay.“ Das Wort galt nicht mir, sondern seinen eigenen Gedanken. Er kletterte vom Fußende aus ins Bett und klappte den Laptop wieder zu. Augenblicklich verstummte nicht nur meine Stimme, auch das Gefühl der Panik kehrte zu mir zurück. Ich griff sofort nach dem Computer und als er mich aufhalten wollte, versuchte ich nach ihm zu schlagen, doch diesem Mal war er darauf vorbereitet. Es war ihm ein Leichtes meinen Arm abzufangen und auch noch nach dem anderen zu greifen, als ich versuchte ihn wegzustoßen. Als er den Laptop dann auch noch mit dem Ellenbogen zur Seite schob, stand in meinen Augen die blanke Panik.

„Hey, schhh, schhhh, alles ist gut“, redete er beruhigend auf mich ein, während ich stumm gegen ihn käpfte, um das bisschen Realität, das mir noch blieb, nicht zu verlieren. „Shanks, hör auf damit, dir passiert nichts.“

Oh nein, bitte, bitte, nein.

Irgendwie bewerkstelligte er den Akt sich neben mir auszustrecken, ohne meine Handgelenke dabei freizugeben. Meine Beine verhedderten sich in der Decke.

Reese zog mich mit einem Ruck zu sich heran und klemmte meine Arme zwischen uns beiden ein, sodass ich mich nicht gegen ihn wehren konnte. Er schlang seine Arme um mich und zog mich ganz nahe an sich heran. Dabei murmelte er immer weiter beruhigend auf mich ein, aber ich konnte ihn nicht hören. Da war nur mein hämmernder Herzschlag, der alles andere übertönte und dieser eiserne Griff, der mir zwar nicht wehtat, mir aber jegliche Bewegungsfreiheit nahm.

„Schhh, ganz ruhig“, murmelte er immer wieder. Sein warmer Atem streifte meine Wange. „Atme einfach, ich bin bei dir, du musst nur atmen.“

Oh Gott, was geschah hier nur mit mir. Ich kniff die Augen zusammen und krallte meine Finger in sein Shirt. Da spürte ich es, das sanfte, aber stetige Pochen in seiner Brust. Tränen schossen mir in die Augen. Bitte lass das real sein. Ich brauchte etwas, an dem ich mich festhalten konnte, um nicht verloren zu gehen.

„So ist gut.“ Er zog mich noch ein wenig fester an sich. „Hab keine Angst, wir schaffen das schon.“

 

°°°

 

Tage vergingen, Wochen. Der Januar wechselte in den Februar, doch die Welt um mich herum blieb trüb und verwirrend. Sie besaß keine klaren Linien mehr. Alles schien unwirklich und verschwommen, völlig seines Sinns beraubt. Wahrheiten und Lügen kollidierten und nichts schaffte es mich aus diesem Strudel sinnloser und immer wiederkehrender Gedanken zu befreien. Ich war gefangen in meiner eigenen Welt, in meinem Kopf, in diesem Chaos, aus dem es kein Entkommen gab.

Meine Verletzungen verheilten, mein Geist jedoch sträubte sich vor der Realität.

Reese ließ mich nicht mehr aus den Augen. Er kümmerte sich nicht nur um mich, er bewachte mich mit Argusaugen. Zwei Mal brachte er mich sogar ins Krankenhaus, um mich künstlich ernähren zu lassen, aber er weigerte sich mich einzuweisen, auch wenn die Ärzte ihm immer wieder dazu rieten. Er wollte mich zuhause haben, wo ich sicher war, in einem geborgenen und vertrautem Umfeld.

Ich wurde suspendiert. Reese erzählte es mir, denn auch wenn ich kein Wort sagte, so versuchte er immer wieder mit mir zu reden. Auch meine Waffe nahm man mir weg. Ich bekam es gar nicht wirklich mit, Reese kümmerte sich um alles.

Aber das war nicht alles, was er mir erzählte. In der Zwischenzeit hatte man herausbekommen, woher die Videokamera stammte. Ich hatte sie in einem Laden in Dömitz erworben. Der Verkäufer erinnerte sich daran, wie er sie an eine rothaarige Frau mit einer auffälligen Narbe im Gesicht verkauft hatte. Danach musste ich zu dem Anwesen zurückgelaufen sein. Ich konnte nicht sagen, ob das stimmte, denn ich erinnerte mich nicht daran.

Die Polizei hatte ihre Ermittlungen gegen mich nicht eingedellt, genauso wenig wie der Verband, aber bis mein geistiger Gesundheitszustand geklärt war, kamen sie erstmal nicht an mich heran. Malou dagegen hatte von einer Anzeige wegen Hausfriedensbruch wegen abgesehen, da ich offensichtlich nicht mehr zurechnungsfähig war. Sie hatte sogar angeboten eine Therapie und Medikamente zu bezahlen – ganz die edle Samariterin.

Immer wenn ich ihren Namen hörte, begann mein Herz schneller zu schlagen und meine Atmung beschleunigte sich. Nachdem ich deswegen einmal fast hyperventilierte, verbot Reese jedem in meiner Nähe auch nur den Namen dieser Frau zu erwähnen.

Immer wieder kamen Leute vorbei und versuchten mit mir zu sprechen. Eve und Mace, Aziz, ja selbst Jilin schaute ein paar Mal vorbei. Keiner von ihnen blieb, nur Reese. Reese war immer da. Er hatte wohl Angst mich aus den Augen zu lassen. Er ging nicht mal mehr arbeiten, oder einkaufen. Keine Ahnung, woher wir die Lebensmittel bekamen.

Ich tat nichts anderes, als Tag und Nacht in unserem Bett zu sitzen und auf dem Bildschirm zu starren, um die Wahrheit hinter diesen Bildern zu finden.

Cherry wagte es noch immer nicht sich mir zu näheren. Zwar hielt sie sich meistens irgendwo in meiner Nähe auf und beobachtete mich aus schmalen Augen, als wartete sie darauf, dass der Mensch zurückkehrte, der eigentlich dort sitzen sollte, aber näher heran traute sie sich nicht. Niemand kam mir zu nahe, niemand außer Reese, doch der Trost und die Geborgenheit, die ich bei ihm immer gefunden hatte, weigerten sich halsstarrig zurückzukehren.

Niemand kam an mich heran, nichts interessierte mich, nichts außer meinen Aufnahmen, die ihr Geheimnis einfach nicht preisgeben wollten, egal wie oft ich sie mir auch anschaute. Sie hatten alle Recht an meinem Verstand zu zweifeln, ich traute ihm selber nicht mehr.

An einem Montagmorgen, etwas drei Wochen nach meinem Nervenzusammenbruch, hörte ich, wie Reese sich dem Schlafzimmer näherte. Mein Blick war starr auf den Bildschirm des Laptops gerichtet. Der Ton war aus, weil ich hoffte etwas auf dem Video zu entdecken, wenn meine eigene Stimme mich nicht ablenkte. Ich brauchte den Ton auch nicht. Ich hatte mir die Aufnahmen mittlerweile so oft angeschaut, dass ich ganz genau wusste, wann ich was sagte.

Darum auch hörte ich seine Schritte so genau. Und auch, wie sie verstummten, als er nur in einer Jogginghose im Türrahmen stehen blieb und sein Blick sie wie ein Gewicht aus Blei auf meinen Rücken legte.

„Möchtest du etwas essen?“

Wiedereinmal näherte ich mich Paschas Voliere. Auch jetzt noch spürte ich die Aufregung, weil ich glaubte einen weißen Toxrin darin zu sehen, doch ich wurde nur verschlafen von einem kleinen Äffchen angeblinzelt.

„Na schön, dann erstmal duschen.“ Da der Laptop im Moment nicht auf meinem Schoss stand, sondern neben mir im Bett, konnte Reese problemlos meine Decke zurückschlagen. „Komm“, sagte er, obwohl er nicht erwartete, dass ich mithalf und fasste mich an meine Taille.

Aber ich wollte nicht weg, ich wollte hier bleiben.

„Nein, Shanks“, sagte er streng, als ich versuchte mich aus seinem Griff zu winden. „Erst duschen, dann kannst du weiter schauen.“

Nein, nein, nein! Er sollte mich loslassen, aber er tat es nicht. Ob ich nun wollte oder nicht, er zog mich aus dem Bett, griff dann etwas fester zu und trug mich auf die andere Seite des Flurs ins Badezimmer. Mein Blick klebte so lange wie möglich auf meinem Computer. Etwas tief in mir hatte Angst sich zu weit davon zu entfernen, doch er verschwand aus meinem Sichtfeld, genau wie das Schlafzimmer und das war der Moment, in dem ich einfach erschlaffte.

„Ist schon gut, du kannst gleich wieder zurück“, murmelte er in mein Haar und stellte mich vor der Dusche im Bad ab. Ich ließ es einfach mit mir machen. Keine Regung kam von mir, als er mir erst mein Hemd und dann meinen Slip auszog. „Erinnerst du dich, was ich dir erzählt habe?“, fragte er mich und schob mich behutsam in die Dusche. Dann übte er leichten Druck auf meine Schultern aus, bis ich in der kalten Duschwanne saß. „Ich muss heute ein paar Stunden weg.“

Geübt griff er nach der Brause und hielt sie seitlich von mir weg, als er die Temperatur des Wassers einstellte. „Aber keine Sorge, Eve wird ein Auge auf dich haben und ich bin so schnell es geht wieder da. Lehn den Kopf zurück.“ Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, legte er mir eine Hand unters Kinn und drückte meinen Kopf nach hinten. Dann hockte er sich hinter mich und begann mich systematisch abzuduschen. Dabei glitt seine Hand nicht nur über mein Haar, sondern auch über meinen Körper. Als er über meinen Rippenbogen strich, drückte er die Lippen zu einer grimmigen Linie zusammen.

„Du musst mehr essen“, murmelte er. „Du hast zu viel Gewicht verloren. Wenn du damit nicht aufhörst, muss ich dich ins Krankenhaus einzuweisen. Das willst du doch nicht, oder?“ Er verstummte kurz und flüsterte dann ganz leise: „Zwing mich nicht dazu.“

Das Wasser plätscherte um mich herum in die Wanne. Ich spürte es nicht wirklich, aber ich sah wie es in einem kleinen Strudel im Abfluss verschwand. Wie meine Gedanken und Erinnerungen. Alles war in ein dunkles Loch gesogen worden und nun tapste ich hilflos umher, weil ich das Licht nicht mehr finden konnte.

Reese legte den Duschkopf zur Seite und begann damit mich zu waschen. Erst die Haare, dann den Körper. Er ging behutsam, aber gründlich vor und nachdem er mich ein weiteres Mal ausgiebig abgeduscht hatte, hob er mich heraus und stellte mich tropfnass vor der Dusche auf den Boden.

Cherry tapste heran und blieb neugierig im offenen Türrahmen stehen, als Reese sich eines der großen Handtücher von der Waschmaschine schnappte und mich darin einwickelte. Er steckte es vorne fest und nahm sich ein zweites. Dann begann er mir vorsichtig die Haare trockenzurubbeln. Er war gerade mal halb damit fertig, als es an der Tür klingelte.

Einen Moment tat er nichts, dann seufzte er genervt. „Kann dieses Weib keine Uhren lesen?“ Er trat einen Schritt Richtung Tür, zögerte dann aber noch einmal. Nach einer kurzen Überlegung, schob er mich zurück und drückte meinen Hintern auf das geschlossene Klo. „Bleib hier sitzen, ich bin gleich wieder da.“ Samt dem feuchten Handtuch verschwand er so schnell aus dem Bad, dass Cherry eilig zur Seite sprang und ihm dann freudig hinterher lief. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass er sich auf den Weg in die Küche machte.

Ich saß da, starrte vor mir ins Leere und konnte wieder nur an das Video denken. Irgendwo darin, tief verborgen, musste die Lösung liegen und während ich hier saß und nichts tat, konnte es sein, dass sie einfach an mir vorbei flog. Was wenn genau dies der Moment war, in dem ich sie erkennen konnte, aber verpasste, weil ich nicht hinschaute.

Langsam beschleunigte sich mein Herzschlag und auf einmal hatte ich fürchterliche Angst, etwas wichtiges zu verpassen. Ich durfte nicht wegschauen, ich musste es sehen, solange bis ich es endlich verstand.

Ohne mich bewusst dazu zu entscheiden, erhob ich mich von der Toilette. Der Knoten vor meiner Brust löste sich und das Handtuch viel einfach zu Boden. Ich merkte es nicht einmal, als ich mich in Bewegung setzte und auf zittrigen Beinen hinüber ins Schlafzimmer lief.

Gerade als ich das Bett erreichte, hörte ich Reese etwas Unhöfliches knurren, woraufhin eine weibliche Stimme schnaubte. Meine Finger zitterten, als ich den Laptop berührte. Das Video war die ganze Zeit weiter gelaufen und befand sich nun fast am Ende, wo es weder Tiere noch Proles zu sehen gab. Nur ein verwackeltes Bild, dass immer wieder hin und her schwang, während ich vor Malous Sicherheitskräften floh. Der Weg, ein Baum, ein Stück Mauer, wieder der Weg, Grünfläche, ein Fenster des Hauses.

Was stimmte mit diesem Bilde nicht?

Ich begann damit mir mal wieder alles in Standbildern anzuschauen, um auch nichts zu verpassen.

Auf dem Flur war das Murmeln von zwei Stimmen zu hören. Schritte. Stille. „Shanks!“ Schnelle Schritte. Reese kam ins Schlafzimmer gestürzt und als er mich tropfnass im Bett knien sah, holte er nicht nur erleichtert Luft, er rieb sich auch müde über die Stirn.

„Was ist?“, wollte Eve wissen und warf einen Blick an ihm vorbei auf mich. In ihrem Armen hielt sie ihren dicken Hochzeitsordner und drückte ihn an ihre Brust. Auf ihrer Stirn erschien eine kleine Falte.

„Nichts.“ Er machte kehrt und verließ erneut das Schlafzimmer.

Eve schaute ihm misstrauisch hinterher. „Warum ist sie nackt?“

„Hör auf mich anzustarren, als wäre ich ein Perversling“, knurrte Reese sie an, als er mit dem großen Handtuch in den Händen zurückkehrte. „Sie ist nackt, weil ich sie gerade geduscht habe. Wie gehst du duschen, in einem Schneeanzug?“

Eve bedachte ihm mit einem bösen Blick.

„Wärst du zur vereinbarten Zeit gekommen, wäre sie bereits angezogen gewesen. Ist nicht mein Problem, wenn du keine Uhren lesen kannst.“ Reese trat ans Bett heran und warf von hinten das Handtuch über mich. Als er dann auch noch einen Arm um meine Taille schlang und mich wieder aus dem Bett zog, begann ich mich zu winden. „Nein, erst abzutrocknen, dann kannst du weiter schauen.“

Aber ich wollte nicht und begann mich still gegen ihn zu stemmen.

„Shanks, hör auf, du weißt wie es läuft. Je mehr du dich wehrst, desto länger dauert es. Hier, bleib stehen. So kannst du es immer noch sehen.“ Vorsichtig stellte er mich auf dem Boden ab, doch seinen Griff lockerte er erst, als ich aufhörte mich gegen ihn zu wehren. „Genau, bleib einfach hier stehen.“

Während er ein weiteres mal damit begann mich trocken zu rubbeln, klebte mein Blick weiter auf dem Bildschirm. Es gab jedoch nicht viel zu sehen, da es der Moment war, in dem mir die Kamera aus der Hand gefallen war. Man erkannte nur den nachtschwarzen Himmel, ein paar Baumkronen und ganz am Rand das Dach des Hauses.

Was stimmte nicht mit diesem Bild.

„Sie schaut sich also immer noch dieses Video an“, bemerkte Eve und lehnte sich mit verschränkten Armen an den Türrahmen.

„Es ist das einzige, worauf sie überhaupt noch reagiert.“ Reese ging in die Hocke, um auch noch meine Beine zu trocknen.

„Hältst du es für klug, sie das ständig angucken zu lassen? Es erinnert sie doch ununterbrochen daran, was geschehen ist.“

Reese warf ihr einen genervten Blick zu, während er sich meinen Füßen widmete. „Sie darf vor dem was geschehen ist nicht abgeschottet werden, sie muss es verarbeiten und im Moment halten sowohl ihr Arzt, als auch ich es für ein notwendiges Übel, dass sie es sehen kann. Vielleicht begreift sie so, was wirklich geschehen ist.“ Sobald er mit meinen Beinen fertig war, richtete er sich wieder auf und kümmerte sich noch einmal um meine Haare.

Cherry spazierte unterdessen ins Schlafzimmer, machte einen Satz aufs Bett und kuschelte sich unweit von meinem Laptop in die Decken.

Mein ganzer Körper spannte sich an. Sie war dem Laptop so nahe.

Als ich mich ein wenig bewegte, griff Reese sofort nach mir und hielt mich fest. „Nein, stehen bleiben, wird sind noch nicht fertig“, mahnte er und versuchte nun meine Haare mit nur einer Hand trocken zu bekommen.

Es dauerte ein wenig und ich spürte, wie die Prozedur mich anstrengte, obwohl ich rein gar nichts tat. Meine Muskeln zitterten und mein Atem ging ein wenig schwerer.

„Okay, setzt dich hin“, sagte Reese und wollte mir dabei helfen auf der Matratze Platz zu nehmen, doch er hatte kaum losgelassen, da kletterte ich schon allein hinein. Allerdings war er mit mir noch nicht fertig. Er schmiss das nasse Handtuch einfach auf den Wäschekorb und holte dann aus dem Kleiderschrank meinen kuscheligen Lieblingspulli und eine kurze, graue Schlabberhose. Damit setzte er sich neben mich ins Bett und begann umständlich damit, mich anzuziehen. Erst der Kopf, dann ein Arm.

„Ich kann ihr beim Anziehen helfen“, bot Eve an.

Reese schnaubte abfällig. „Allein schon deine Formulierung zeigt mir, dass du nicht die geringste Ahnung hast. Mann kann ihr nicht beim Anziehen helfen, denn das würde bedeuten, dass sie mitmacht, aber das tut sie nicht.“

Ihre Augen wurden ein kleinen wenig schmaler. „Tu nicht so, als wärst du der große Speziallist. Ich kenne sie schon viel länger als du.“

Dafür bekam sie einen wirklich bösen Blick. „Ich bin mit einer geistig beeinträchtigten Mutter und einem verhaltensgestörten Bruder aufgewachsen.“ Auch der zweite Arm fand seinen Weg in den Pulli. Dann machte er sich daran, mich in die kurze Hose zu stecken. „Darum weiß ich wie man mit solchen Menschen umgehen muss“, fügte er ein wenig bitter hinzu.

Die kleine Falte kehrte auf ihre Stirn zurück. „Solchen Menschen? Ist das eine nette Umschreibung dafür, sie für durchgeknallt zu erklären?“

Mit einem Ruck zog er mir die kurze Hose über den Hintern, dann schnappte er sich die Decke und wickelte mich unterhalb der Taille darin ein. „Shanks ist nicht durchgeknallt, aber im Moment ist sie nun mal nicht sie selbst. Sie braucht Zeit und keine neunmalklugen Weiber, die glauben alles besser zu wissen. Also lass deine Kommentare stecken, ich weiß was ich tue.“

Und da kam der nächste böse Blick. Doch als Reese sich die Bürste vom Fensterbrett schnappte und sich damit hinter mich setzte, um mir vorsichtig die Haare zu kämmen, wurde er sofort etwas weicher. „Das kann ich doch machen.“

Er drückte die Lippen unwillig aufeinander.

„Komm schon.“ Eve drückte sich vom Türrahmen ab und legte ihren Ordner ans Fußende des Bettes. „Ich mach das, sonst kommst du noch zu spät zu deinem Termin. Die Leute vom Verband sind sicher nicht erfreut, wenn du sie warten lässt.“

„Die Leute vom Verband sind mir im Moment einfach mal scheiß egal“, knurrte er, reichte die Haarbürste aber an Eve weiter. „Bleib weg vom Laptop, du hast nicht die Kraft sie zu bändigen.“

Ihre Lippen kräuselten sich spöttisch. „Ich bin Venatorin.“

Er spießte sie förmlich mit seinem Blick auf. „Tu einfach was ich sage und lass die Finger von dem Teil. Shanks hält sich im Moment nicht zurück. Wenn sie dich schlägt, dann schlägt sie richtig zu.“ Damit erhob er sich vom Bett und trat an den Kleiderschrank. „Ich bin kurz duschen“, erklärte er noch und verließ dann den Raum.

Eve ließ sich mit einem tiefen Seufzer hinter mir nieder und begann sehr vorsichtig damit meine nassen Haare zu kämmen. „Manchmal ist dein Kerl ganz schön eingebildet“, bemerkte sie ein kleinen wenig genervt. „Als wenn ich nicht wüsste, wie man jemanden die Haare kämt. Aber keine Sorge, sobald er weg ist, machen wir zwei Hübschen uns einen schönen Tag. Ich hoffe du hast Chips im Haus.“

Ich drückte zwei mal schnell hintereinander die Leertaste, wodurch das Video auf das nächste Standbild sprang. Himmel, Baumkronen und ein kleinen wenig mehr vom Haus. Irgendwas an dem Bild fühlte sich falsch an.

„Ich hab übrigens meinen Hochzeitsordner mitgebracht. Es gibt da ein paar Kleinigkeiten, bei denen du mir unbedingt helfen musst. Du weißt ja, wie schwer ich mich mit Entscheidungen tue. Wenn ich das alles allein regeln müsste, würde ich in zehn Jahren wohl immer noch planen. Deine Hilfe ist also dringend notwendig – nur damit du Bescheid weißt.“

Das Haus, es war das Haus das mich störte. Nur warum?

„Mace ist ja leider keine große Hilfe“, erzählte sie mir weiter. „Immer wenn ich ihn irgendetwas frage, sieht er mich völlig überfordert an und sagt mir, dass ich das entscheiden soll. Ist das zu fassen? Zum Beispiel bei den Farben. Blau und Silber, oder doch lieber Creme und Rot? Das ist doch eigentlich nicht schwer, oder? Aber er tut so, als wenn ich ihm nach einer Lösung für den Welthunger gefragt hätte.“

Damit begann ihre Tirade über Mace erst. Eve versicherte mir mehrmals, dass er sie unbedingt heiraten wolle, aber mit dem organisatorischen Teil eher nichts zu tun haben wollte. Das war Frauenkram, hatte er ihr erklärt. Wenigsten konnte sie ihre Hochzeit so gestalten, wie sie es für richtig hielt, klein und dezent, oder groß und pompös, das war ganz ihr überlassen. Seine Eltern würden dafür aufkommen. Die waren zwar keine Millionäre, aber Geld hatten sie reichlich.

Bei dem Wort Millionäre, spannte ich mich an, doch Eve merkte es nicht, da Reese in dem Moment zurück ins Schlafzimmer kam. „Sie hat noch nichts gegessen“, erklärte er, während er an ihr vorbei nach seinen Sachen auf dem Fensterbrett griff. Portemonnaie, Handy, Schlüssel. „Versuch ihr etwas zu geben, aber nichts Schweres. Ich habe Jogurt im Kühlschrank und auf der Anrichte steht Haferbrei. Du musst sie füttern, aber gib ihr nicht zu viel auf einmal. Und achte darauf, dass sie trinkt – das ist ganz wichtig.“

„Klar, kein Problem.“

So wie er sie anschaute, hatte er da seine Zweifel. „Und vielleicht kannst du sie dazu bewegen ein wenig zu schlafen. Leg sie dazu einfach hin, aber lass die Finger vom Laptop.“

„Ist ja gut, ich hab es verstanden – schon beim ersten Mal.“

„Lass mich das hier bloß nicht bereuen“, murmelte er nach einem langen Blick auf sie und beugte sich zu mir runter, um mir einen Kuss auf den Kopf zu geben. „Ich bin in ein paar Stunden wieder da, Eve leistet dir solange Gesellschaft.“ Bevor er sich wieder aufrichtete, streiften seine Finger noch einmal ganz zart meine Wange. „Falls was sein sollte, ruf an, ich habe mein Handy dabei.“

„Es wird schon nichts passieren. Hör auf dir Sorgen zu machen, wir zwei kommen schon klar.“

Er murmelte etwas Unverständliches, was ihr ein Stirnrunzeln entlockte. „Ich bin so schnell wie möglich zurück“, verkündete er noch, ließ es aber wie eine halbe Drohung klingen. Dann verschwand er ein weiteres Mal aus dem Zimmer. Kurz darauf ging die Haustür.

Eve stieß schwer den Atem aus und legte die Haarbürste zur Seite. „Mein Gott, seit wann ist der Kerl so eine Glucke? Er tut ja gerade so, als stündest du bereits mit einem Bein im Grab, dabei hast du dir nur eine kleine Auszeit genommen, stimmt´s?“

War es das Dach? Oder das Mauerwerk? Warum nur störte der Anblick des Hauses mich so sehr? Ich hatte da Gefühl, dass mein Unterbewusstsein mir etwas mitteilen wollte, aber ich kam einfach nicht darauf, was es sein könnte. Vielleicht bildetet ich mir aber auch einfach nur wieder etwas ein.

Ich kniff die Augen zusammen, atmete einmal ein und schaute wieder hin.

Unverändert.

„So, du wirst jetzt erstmal etwas essen und dann kümmern wir uns um meine Hochzeit.“ Damit verschwand Eve aus dem Raum und kehrte mit einem Becher Jogurt zurück. Ich merkte nicht mal wirklich, wie sie versuchte mir einen Löffel nach dem anderen in den Mund zu schieben und ihr anschließender Versuch mir mit der Schnabeltasse die Reese besorgt hatte, etwas Wasser einzuflößen, stellte ihre Geduld auf eine harte Probe.

Als sie es endlich geschafft hatte, wirkte sie nicht mehr ganz so munter, doch sie versuchte sich ihre Sorge nicht anmerken zu lassen und behielt ihre heitere Maske, während sie ihren Ordner zum Bett holte und damit begann mir ausführlich alles zu erklären. Immer wieder fragte sie mich nach meiner Meinung und hoffte dabei auf irgendeine Reaktion von mir, doch je öfter die ausblieb, desto mutloser schien sie zu werden. Langsam verstand auch sie, dass sie kaum mehr als eine leere Hülle vor sich hatte.

„Ach ja, das habe ich dir ja noch gar nicht erzählt“, bemerkte sie irgendwann aufgeregt. Der Ordner lag aufgeschlagen zwischen uns und mehrere Muster, Listen und Bilder die sie aus Zweitschriften herausgerissen hatte, lagen verteilt auf den Decken. „Ich habe mich nach einer Location für die Hochzeitsfeier umgehört und ein wirklich süßes Restaurant gefunden, dass sowas anbietet. Natürlich habe ich mich auch gleich nach freien Terminen erkundigt und plötzlich waren die der Meinung, ich hätte bereits in drei Wochen einen Termin bei ihnen. Stell dir meine Verwirrung vor, ich rief schließlich gerade zum ersten Mal an.“

Sie griff nach der Schnabeltasse auf dem Boden und hob sie auf. „Nach ein wenig hin und her kam dann heraus, das da ein Mann heiratet, der Evan Raug heißt. Das war ein Chaos sag ich dir. Fast wäre es zu einer Verwechslung gekommen. Nicht nur dass ich in drei Wochen niemals eine ganze Hochzeit auf die Beine stellen könnte, stell dir nur mal vor, dass das andere Pärchen getan hätte, wenn ich den Termin wahrgenommen hätte.“ Sie runzelte die Stirn. „Nicht dass das geschehen wäre, aber das wäre schon eine ziemlich harte Verwechslung. Hier, trink mal einen Schluck.“

Um sich vorzubeugen, stützte sie sich mit dem Arm auf dem Bett ab und drückte mir dann die Tasse an die Lippen. Dabei schob sie unbedacht den Laptop zur Seite, weil er ihr im Weg war.

Die plötzliche Bewegung des Geräts versetzte mich in solche Panik, dass ich einfach zur Seite ausschlug. Meine Hand traf den Becher und ließ ihn durch die Wucht aufspringen. Das Wasser darin klatschte aufs Bett, auf Eve und auf ihre Unterlagen.

Meine beste Freundin saß einen Moment einfach nur überrascht da, doch als sie sich dem Desaster wirklich bewusst wurde, versuchte sie nicht einmal mehr die Fröhliche zu spielen. Ihre ganzen Papiere wurden durchgeweicht, alles was sie sich so mühsam erarbeitet hatte.

Ich hingegen starrte wieder auf dem Laptop und versuchte den Fehler in einem Standbild zu finden, dass ich zwischen dem ersten und zweitem Gehege aufgenommen hatte. Dabei wirbelten meine Gedanken mit ihren Worten durch meinen Kopf. Evan Raug, Chaos, Verwechslung, Hochzeit, Pärchen, Verwirrung, Location, Restaurant.

Eve drückte die Lippen fest aufeinander, sammelte die beiden Teile der Tasse ein und stieg aus dem Bett.

Evan Raug, Chaos, Verwechslung, Hochzeit, Pärchen, Verwirrung, Location, Restaurant. Wo war der Fehler? Was war es, dass mich so sehr störte?

Nach kurzem Zögern verschwand Eve mit der Tasse aus dem Raum und kehrte mit mehreren Handtüchern zurück. Sie nahm ihre nassen Unterlagen und verteilte sie auf dem Boden. Dann brachte sie die nasse Decke raus und breitete mehrere Handtücher auf dem Bett aus.

Es war nicht der Weg und auch nicht die Bepflanzung. Evan Raug, Chaos, Verwechslung, Hochzeit, Pärchen, Verwirrung, Location, Restaurant. War es die Beleuchtung? Nein.

Sobald das erledigt war, kniete Eve sich auf den Boden und versuchte mit den restlichen Handtüchern ihre Papiere trocken zu tupfen.

Was genau war es? Evan Raug, Chaos, Verwechslung, Hochzeit, Pärchen, Verwirrung, Location …

Plötzlich traf mich die Erkenntnis wie ein Faustschlag mitten ins Gesicht. Mit einem Mal stand es mir glasklar vor Augen. Es war völlig abwegig und einfach nur verrückt, gleichzeitig aber auch so brillant und offensichtlich, dass es gar nicht anders sein konnte. Es würde absolut Sinn ergeben und alles erklären, aber erstmal darauf zu kommen, war fast eine Sache der Unmöglichkeit.

Diese verdammte Schlampe Malou hatte uns gelinkt, jeden einzelnen von uns. Mich, Reese, die Medien und auch die Polizei. Die Proles waren die ganze Zeit für jeden sichtbar in ihren Gehegen gewesen, genau wie ihre Tiere. Das war einfach nur … unglaublich. Und wenn es wirklich wahr war, dann würde ich mich bei den Behörden entschuldigen müssen, niemand von ihnen hatte sich der Korruption schuldig gemacht. Aber konnte es denn wirklich stimmen?

Um mich zu versichern, spulte ich das Video bis fast zum Ende durch und hielt es erst an, als wieder der kleine Teil vom Haus sichtbar wurde. Nun erkannte ich auch, was mich daran die ganze Zeit so gestört hatte. Oh mein Gott, ich war nicht verrückt, alles was ich gesehen hatte, war real gewesen, nur … wie war dieses Video entstanden?

Für die Lösung dieser Frage, brauchte ich keine Minute. Dieses missratene Miststück. Jetzt wo ich es wusste, war es ganz einfach, alles ergab plötzlich einen Sinn. Nur eine einzige Sache passte nicht ins Bild: Lexian. Warum er nicht auf dem Video war, verstand ich, nur warum er bestritt mit mir dort gewesen zu sein, entzog sich meinem Verständnis. Hatte er sich vielleicht bestechen lassen?

Plötzlich wurde ich wieder unsicher. Was wenn das doch nicht die Lösung war und ich mir da nur wieder etwas einbildete? Lexian hatte auf mich bisher den Eindruck erweckt über solchen Dingen zu stehen, aber wie gut kannte ich ihn eigentlich? Die ersten Tage war er ein ziemlicher Widerling gewesen. Erst nachdem Reese ihm den Hintern gerettet hatte, war er zugänglicher geworden. Konnte man sich in einem Menschen so sehr täuschen? Und wenn nicht, hatte meine Überlegung dann überhaupt Bestand?

Ich biss mir auf die Unterlippe. Das war geradezu eine Verschwörungstheorie und ehrlich gesagt kam ich mir dabei selber ein wenig verrückt vor, aber jetzt wo dieser Gedanke erstmal da war, wollte er ich nicht mehr loslassen und je länger ich darüber nachdachte, desto logischer erschien es mir. Es konnte nur so sein, denn ich war mir sicher nicht verrückt zu sein – wobei verrückte ja immer behaupteten, ganz normal zu sein.

Nein, tadelte ich mich selber, ich würde nicht noch mal anfangen an mir zu zweifeln. Dann klang meine Idee eben ein wenig durchgeknallt, na und? Es waren schon viel absurdere Dinge geschehen.

Doch mit meiner Erkenntnis tat sich nun auch schon das nächste Problem auf: Wie zur Hölle sollte ich meine Theorie beweisen. Dank Malou und ihren hinterhältigen Intrigen, würde mir kein Mensch glauben. Man hielt mich jetzt schon für verrückt und wenn ich auch nur auf die Idee kommen sollte, irgendwas davon zu sagen, würde das für alle nur eine Bestätigung meines geistigen Zustandes sein. Nicht mal Reese würde mir glauben, dafür war es einfach zu phantastisch.

Dieser Gedanke schmeckte bitter. Malou hatte es geschafft, das Reese meinen Worten nicht mehr traute. Dafür würde sie büßen. Ich würde allen beweisen, wer sie wirklich war und damit meinen Namen nicht nur reinwaschen, sondern auch meine Glaubwürdigkeit wieder herstellen und dann würde Reese nie wieder an mir zweifeln. Nur wie sollte ich das anstellen? Ich musste etwas tun, das sie bloßstellte – und zwar vor Zeugen, glaubhaften Zeugen. Am Besten wäre natürlich die Polizei, nur die konnte ich sicher nicht dazu bewegen mir zu glauben. Wie also sollte ich es machen.

Während ich das Standbild anstarrte, entstand in meinem Kopf langsam ein grober Plan. Er war mindestens genauso verrückt, wie die Lösung ihrer Täuschung. Ich würde ein paar Dinge brauchen. Ein kaputtes Handy, ein handzahmen Proles und einen Zugang zu Malou. Doch damit all das auch etwas brachte, musste ich als allererstes Reese entkommen. Solange er mich bewachte, würde ich mich nicht rehabilitieren können. Ich musste also dafür sorgen, dass er glaubte, es würde mir besser gehen.

Leider war Reese nicht auf den Kopf gefallen. Das war also nichts, was von heute auf morgen funktionieren würde, nicht nachdem ich wochenlang völlig apathisch und stumm gewesen war. Wie lange würde es also dauern, bis ich eine Möglichkeit fand ihm zu entkommen? Eine Woche? Zwei? Oder vielleicht sogar noch länger?

Egal. Es war völlig egal wie lange es dauerte. Irgendwann würde er unaufmerksam werden und das war dann meine Chance für ein paar Tage zu verschwinden, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Ich würde Malou in einem Moment erwischen, in dem sie es am wenigsten erwartete und dann würde ich Reese mindestens eine Woche Vorhaltungen machen, weil er mir nicht vertraut hatte. Doch damit es dazu kommen konnte, musste ich erstmal aus meiner Lethargie erwachen. Darum tat ich etwas, dass ich schon lange nicht mehr getan hatte, ich wandte den Blick freiwillig von meinem Laptop ab und schaute zu Eve, die noch immer mit trauriger Mine auf dem Boden kniete und versuchte ihre Sachen wieder trocken zu bekommen.

Es fiel mir viel schwerer, als ich mir das vorstellte. Das Bedürfnis den Laptop und das Video im Blick zu behalten, war fast übermächtig. In den letzten Wochen war das meine Sicherheitsleine zur Realität gewesen und nur den Blick davon abzulenken ließ meinen Herzschlag sofort schneller schlagen. Ich spürte wie meine Finger unangenehm zu kribbeln begannen und ballte sie, um dieses Gefühl zu unterbinden. Dabei zwang ich mich den Blick auf Eve zu behalten. Sie war Wahrheit, das Video war eine Lüge.

Als würde sie spüren, dass ich sie beobachtete, hob Eve ihren Blick und schien einen Moment verwundert über meine Aufmerksamkeit. Doch dann zwang sie sich ein Lächeln auf die Lippen, das ihre Augen nicht erreichte. „Ist nicht so schlimm“, erklärte sie leise. „Das trocknet wieder.“

Das schon, aber ich wusste wie viel ihr das Zeug bedeutete. Vielleicht … vielleicht sollte ich ihr ja helfen, immerhin war ich es gewesen, die das Wasser ausgekippt hatte. Glaubte ich. Ich war mir nicht ganz sicher. War ich die ganze Zeit wirklich so abwesend gewesen?

Zögernd öffnete ich den Mund, doch ich hatte absolut keine Ahnung, was ich sagen sollte. Plötzlich schämte ich mich einfach nur noch furchtbar für mein Verhalten. Ja, okay, es war ein Schutzmechanismus gewesen, ausgelöst durch meinen Nervenzusammenbruch, aber … naja, es musste nicht logisch sein. Mein Benehmen war mir trotzdem unangenehm.

Eve beobachtete aufmerksam, wie ich sie beobachtete. Sie schien auf etwas zu warten, oder einfach nicht sicher zu sein, was sie tun sollte. Ich musste es sein die den ersten Schritt tat, sie würde auf das reagieren, was ich tat. Was genau das sein sollte, wusste ich bereits, aber ich war mir nicht so sicher, wie ich es in die Tat umsetzen sollte.

Aus dem Bett steigen, damit sollte ich anfangen. Ein ganz einfacher Schritt. Ich konnte das. Leider war das eines von diesen Dingen, die sich in der Vorstellungskraft immer viel leichter gestalteten, als sie es wirklich waren.

Zögernd warf ich einen Blick auf die Bettkante. Sie war keinen halben Meter von mir entfernt, doch der Gedanke mich von dem Computer zu entfernen, nagelte mich auf der Stelle fest. Tu es einfach!, schrie ich mich selber an. Das Video beutetet nichts, rein gar nichts! Ich hatte recht. Das Video war nicht meine Realität und würde mich nicht weiterbringen. Ganz im Gegenteil, es würde mich nur weiter zum Stillstand verurteilen.

Okay, ich konnte das. Mein Herzschlag beschleunigte sich noch ein wenig, als ich mich wieder zum Laptop umdrehte und ihn nicht nur ausschaltete, sondern auch zuklappte. Ich spürte wie mein Atem sofort etwas schwerer ging, doch davon würde ich mich nicht aufhalten lassen. Ich musste diesen Kreislauf durchbrechen und deswegen schob ich mich nicht nur an die Bettkante, ich kletterte auch neben Eve auf dem Boden.

Die Augen meiner besten Freundin wurden ein wenig größer, als ich nach einem der Handtücher griff und damit begann die Papiere abzutupfen. Sie schien sogar einen Moment überrascht den Atem anzuhalten. Ich jedoch kämpfte darum nicht sofort zurück zum Bett zu stürzen und das Video wieder zu starrten. Vergiss es, lenk dich ab, rede.

Reden. Reden war vielleicht gar keine so schlechte Idee. Nur was sagte man in einer solchen Situation? Mein Blick fiel auf ihre Unterlagen und einem Zettel mit Farbvariationen. „Du solltest dich für Creme und Rot entscheiden. Blau und Silber wirken zu kalt.“

Sie blinzelte einmal perplex, dann stieß sie einen glücklichen Schrei aus und in der nächsten Sekunde drückte sie mich auch schon in eine kräftigen Eve-Umarmung fest an ihre Brust.

 

°°°°°

Kapitel 18

 

„Aber guck doch mal wie schön es geschnitten ist.“ Eve fuhr die Linie des Brautjungfernkleides auf dem Bild in dem Katalog nach. „Das würde dir super stehen.“

„Es ist pink.“

Sie seufzte genervt, als hätte sie es mit einem unbelehrbaren Kleinkind zu tun. „Das wird sich schon nicht mit deinen Haaren beißen. Wir werden einfach …“ Als von außen ein Schlüssel in die Haustür gesteckt wurde, unterbrach sie sich einen Augenblick, doch Reese' Ankunft schien ihr nicht interessant genug, um vom eigentlichen Thema abzukommen. „Hier, wenn wir …“

„Ich werde nichts anziehen was pink ist“, sagte ich bestimmt und spürte wie ein Schuss Adrenalin in meinen Körper gepumpt wurde. Reese war hier. Wie sollte ich ihm gegenüber treten?

Mit einem bösen Blick in meine Richtung, blies Eve sich eine lose Haarsträhne aus ihrem Gesicht, die genau in die gleiche Position zurück fiel, sodass Eve sie sich mit der Hand aus dem Gesicht streifen musste. „Du bist anstrengend.“

Sagte die Frau, die mich in ein pinkfarbenes Kleid stecken wollte.

Vom Flur her kamen Schritte näher und gleich darauf erschien Reese in seinem Ledermantel im Wohnzimmer. Nun legte auch mein Herz einen Zahn zu. Es war schon ein gewaltiger Kraftakt für mich gewesen, vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer zu wechseln – besonders da ich den Laptop aus eigenem Antrieb zurückgelassen hatte. Nur Eves pausenloses Gequatsche über die Hochzeit hatte mich die letzten drei Stunden ablenken können. Aber ihm jetzt in die Augen zu sehen, ohne dabei vor Scham im Boden zu versinken, war fast noch schwerer.

Unsere Blicke begegneten sich. Sollte ich lächeln? Vielleicht sogar etwas sagen? Er wirkte so verschlossen und das verunsicherte mich so sehr, dass ich anfing nervös am Saum meines Pullovers herumzuzupfen. Als er sich dann auch noch mit einer leichtfüßigen Eleganz in Bewegung setzte, wie es nur ihm zu Eigen war, schaffte ich es nicht mehr länger seinem Blick standzuhalten. Ich hatte wohl noch nie in meinem Leben so viel Angst vor seiner Reaktion gehabt. Es war nicht mal logisch, dass ich mich davor fürchtete was glaubte ich denn, was er tun würde?

Er sagte kein Ton, als er sich mir nährte und sich fast schon zögernd vor mich hockte. Seine Hand hob sich und legte sich an meine Wange. Die Berührung war sanft und doch zuckte ich drunter zusammen. Mein Körper schüttete weiteres Adrenalin aus und – keine Ahnung warum – machte sich zu kämpf-oder-flieh bereit, aber Reese beugte sich nur vor und gab mir einen sehr keuchen Kuss auf die Schläfe.

Oh Gott. Meine Augen schlossen sich und meine Kopfhaut begann zu kribbeln. Ich spürte seinen warmen Atem und auch wie er seine Stirn gegen meine drückte, als wollte er sich noch nicht von mir lösen. Dabei schien es ihm völlig egal zu sein, dass Eve seine Zuneigung wachsam beobachtete. Auf was genau sie dabei allerdings aufpasste, war mir nicht ganz klar.

Reese atmete hörbar ein. Er schluckte angestrengt, mehrere Mal sogar und als er dann sprach, klang seine Stimme ein wenig brüchig. „Hast du was gegessen?“

Zögernd öffnete ich die Augen und als er die Stirn ein wenig von mir löste, wagte ich es sogar ihm das Gesicht zuzuwenden. „Ein Brot“, erklärte ich leise und zeigte auf den Teller auf dem Tisch. Warum nur fühlte ich mich plötzlich so unsicher?

Reese folgte mit dem Blick meinem ausgestrecktem Finger und entdeckte das eben erwähnte Brot. Okay, ich hatte es nicht ganz aufgegessen, aber man erkannte deutlich, dass ich an der Seite herumgeknabbert hatte. Das Schlucken war einfach unangenehm gewesen. Und, naja, Hunger hatte ich auch nicht wirklich gehabt.

„Okay.“ Er drückte mir noch einen Kuss auf die Schläfe, dieses Mal länger. Es war fast schon eine intime Berührung, nicht sexuell, einfach nur … intim. Seine Hand zitterte dabei ganz leicht. Ich merkte es nur, weil seine Hand noch immer an meinem Gesicht lag. „Ich mach dir etwas anderes. Dauert nicht lange.“

Trotz seiner Worte löste er sich erst von mir, als Eve raushaute: „Gute Idee, ich hab auch Hunger.“ Sie rieb sich über den Bauch, der wie auf Kommando anfing zu knurren. „Einen Bärenhunger sogar“, grinste sie.

Auf Reese' Stirn erschien ein Stirnrunzeln. „Du bist nicht eingeladen. Ich bin wieder da, du kannst also verschwinden.“

„Keine Chance, Grace und ich sind hier noch nicht fertig. Du erhältst also die Ehre uns zu bekochen, während wir zwei Hübschen uns den Katalog zu Ende anschauen.“

Das war nicht unbedingt das, was Reese sich vorgestellt hatte. Einen Moment schien er ernsthaft zu überlegen sie einfach vor die Tür zu setzen, drückte mir dann jedoch stattdessen noch einen dritten Kuss auf die Schläfe und erhob sich. „Ich bin gleich nebenan“, sagte er, nahm den Teller an sich und verließ zusammen mit ihm das Wohnzimmer.

Irgendwie gefiel es mir nicht ihn gehen zu sehen, was einfach nur albern war, da er sich ja trotzdem noch in meiner Nähe befand. Gleichzeit hatte ich aber auch schreckliche Panik vor dem Moment, wenn ich wieder mit ihm allein war, was einfach nur bescheuert war. Das war immerhin Reese, warum also hatte ich auf einmal das Gefühl mich am Abgrund einer tiefen Schlucht zu befinden.

„Alles klar?“, fragte Eve mich leise genug, dass nur ich sie hören konnte. Offensichtlich hatte sie meine Unsicherheit bemerkt und vielleicht sogar gespürt, dass ich mich davor fürchtete mit Reese allein zu sein. Ich würde so viel erklären müssen und ich wusste nicht wie.

„Ja, ich … ich bin nur müde, schätze ich.“ Was für eine lahme Ausrede.

„War ja auch ein ziemlich aufregender Tag für dich. Und viel Schlaf hast du in der letzten Zeit ja auch nicht bekommen.“

Woher wusste sie das? Blöde Frage, sie konnte es nur von Reese wissen.

Aus der Küche hörte man das klappern von Töpfen, gefolgt von einem „Kusch“, das ziemlich energisch war. Gleich darauf stolzierte Cherry mit beleidigt zuckendem Schwanz ins Wohnzimmer. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, marschierte sie wie eine Königin zur Couch, hüpfte zwischen Eve und mir aufs Polster und machte es sich in alter Gewohnheit auf meinem Schoß bequem, als wäre nie etwas gewesen.

Es war etwas das sie schon tausend mal gemacht hatte, doch als ich ihr vorsichtig durchs Fell streichelte und sie dann auch noch anfing genüsslich zu schnurren, konnte ich auf einmal ein wenig leichter atmen. Scheinbar hielt die Katze mich nicht länger für verrückt und wenn ich sie überzeugen konnte, dann würde mir das vielleicht auch mit Reese gelingen – hoffentlich.

Während mir ein wenig leichter ums Herz wurde, zog Eve den Katalog näher zu uns heran. Es war ihr Ernst gewesen, dass sie ihn noch mit mir durchblättern wollte, um wenigstens zu entscheiden, welche Kleider in Frage kommen würden. Ein goldenes, ein grünes und ein taubenblaues kamen in die engere Wahl.

Als Reese zwanzig Minuten später mit zwei dampfenden Schüsseln ins Wohnzimmer kam, klappte Eve den Katalog zu und schaute ihm erwartungsvoll entgegen, nur um dann irritiert das Gesicht zu verziehen, als er eine der Schüsseln vor ihr abstellte. „Was ist das?“

„Suppe.“ Mir reichte er die zweite Schüssel, zusammen mit einem Löffeln.

„Aber davon wird man doch nicht satt“, schmollte Eve wehleidig. „Ich wollte etwas Richtiges zu Essen haben, etwas das den Magen fühlt.“

„Wenn dir etwas nicht passt, da ist die Tür.“ Er zeigte Richtung Flur. „Die Suppe hab ich für Shanks gemacht, nicht für dich.“

Ja, weil mein Magen nach der langen Fastenzeit wahrscheinlich alles andere sofort wieder von sich geben würde.

Eve verdrehte die Augen. „Mein Gott, fühl dich doch nicht immer gleich angegriffen. Ich wollte es nur mal erwähnt haben.“ Die Lippen zu einem Flunsch verzogen, tauchte sie den Löfel in ihre Schüssel und steckte sie anschließend in den Mund. „Hm“, machte sie und schaute ihn erstaunt an. „Die ist echt gut.“

Er ließ das komplett unkommentiert. Stattdessen schob er sich an ihr vorbei und quetschte sich zwischen ihr und mir auf die Couch, sodass sie zur Seite rücken musste.

„Hey, drängel doch nicht so. Du hättest dich auch da hinsetzen können, da ist es wenigstens frei.“

„Aber das hier ist mein Platz. War es schon immer und wird es immer bleiben.“ Ohne sie noch eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte er sich mir zu und bemerkte Cherry auf meinem Schoß. Einen Moment flammte Überraschung in seinen Augen auf, aber er ließ es sich nicht anmerken. Stattdessen richtete er den Blick auf meinen Löffel. „Iss, solange sie noch warm ist.“

Eigentlich hatte ich nicht wirklich Hunger, aber der Duft der von der Suppe ausging, war wirklich lecker und außerdem hatte er sich die Mühe gemacht, sie für mich zu kochen. Also versuchte ich seinen Blick zu ignorieren und widmete mich meinem Essen. Es war zwar noch ein wenig heiß, aber es schmeckte genauso gut wie es roch und schon nach ein paar Löffeln merkte ich, dass es mir wirklich gut tat, etwas zu mir zu nehmen. Ich wurde ruhiger und eine innere Kälte, die ich bisher gar nicht wahrgenommen hatte, wich langsam aus meinem Körper.

Während nur unser Schlürfen und das Klappern von den Löffeln an den Schüsseln zu hören war, gab Reese sich voll und ganz damit zufrieden, mich dabei zu beobachten, wie ich langsam meine Portion leerte. Naja, ich leerte sie zumindest zur Hälfte, danach war ich so voll, dass ich mich wohl übergeben hätte, wenn ich noch einen Löffel zu mir genommen hätte.

Als ich den Löffel zur Seite legte, runzelte Reese die Stirn. „Ich bin satt“, erklärte ich leise und wagte einen vorsichtigen Blick in seine Richtung. „Danke, war lecker.“

„Also da muss ich dir zustimmen“, erklärte Eve und streckte sich ausgiebig. Sie hatte ihre Schüssel natürlich schon längst geleert. „Allerdings bin ich noch immer hungrig.“

Reese warf einen genervten Blick in ihre Richtung. „Musst du nicht ganz dringend irgendwo hin?“

„Oh Mann, bei dir kommt man sich ja richtig willkommen vor. Aber keine Sorge, ich wollte eh gerade gehen. Ich muss noch mal nach Hause, bevor ich zur Nachtschicht gehe.“

„Ich bring dich zur Tür“, erklärte er sofort und erhob sich vom Sofa.

Eve hob eine Augenbraue. „Du kannst es wohl kaum erwarten, dass ich verschwinde, was? Oder willst du dich einfach versichern, dass ich wirklich gehe und mich nicht heimlich irgendwo verstecke?“

„Beides.“

Na wenigstens war er ehrlich.

Doch wirklich eilig hatte Eve es nicht. Erst sammelte sie ganz in Ruhe ihre Sachen zusammen, dann verabschiedete sie sich noch mit einer ausgiebigen Umarmung bei mir und nahm mir das Versprechen ab, mich bei ihr zu melden, wenn ich etwas brauchen sollte – Tag und Nacht.

„Mir geht es gut“, sagte ich leise und tätschelte ihren Arm, während sie mich noch mal an sich drückte.

„Das höre ich gerne. Und denk dran, stell nichts ohne mich an.“ Sie richtete sich auf, Drückte ihre Sachen an die Brust und verschwand mit einem letzten Winken aus dem Raum.

Reese schaute nur kurz in meine Richtung, bevor er ihr folgte.

Ich widmete mich wieder Cherry, die die Aufmerksamkeit sichtlich genoss und lauschte auf die Geräusche aus dem Flur. Irgendwie machte mich der Gedanke dass Eve ging unruhig.

„Falls du mich noch mal brauchst, sag mir Bescheid“, hörte ich Eve sagen. „Und wenn nicht, komme ich trotzdem vorbei.“

Mein Mundwinkel zuckte belustigt nach oben. Das war ja schon fast eine Drohung.

„Ich werde die Türklingel abstellen.“

„Soll mich nicht stören, ich komme schon irgendwie ins Haus.“

Reese gab ein leises Brummen von sich und seufzte dann geschlagen. „Egal wie du das gemacht hast, danke.“

Ich horchte auf. Reese bedankte sich?! Ohje, das war kein gutes Omen. Mein Blick richtete sich aufs Fenster. Keine vier Reiter der Apokalypse, die unheilverkündend über den Himmel ritten, kein zorniger Zeus, der Blitze auf die Erde schleuderte und auch keine Invasion von Aliens, die die Menschheit versklaven wollten. Hm, ich traute der Sache trotzdem nicht.

„Ich habe eigentlich gar nichts gemacht“, kam es ein wenig überrascht von Eve. Wahrscheinlich hätte sie im Leben nicht damit gerechnet, dass Reese sich einmal bei ihr bedanken würde, noch dazu so ernst – ich auch nicht. „Sie hat plötzlich den Computer zugeklappt und das Bett verlassen.“

„Irgendwas musst du getan haben.“

Hatte sie auch. Das Schlüsselwort war von ihr gekommen. Ohne sie hätte ich wahrscheinlich noch weitere Wochen auf meinen Computer gestarrt.

„Vielleicht, vielleicht auch nicht, egal, Hauptsache sie ist wieder zu sich gekommen. Pass auf sie auf.“

Was Reese daraufhin sagte, murmelte er so leise, dass ich es nicht verstehen konnte. Kurz darauf ging die Wohnungstür und Reese erschien wieder im Wohnzimmer.

Plötzlich war ich nicht nur unruhig, sondern auch furchtbar nervös. Ich hielt den Blick halb gesenkt, während er wieder zur Couch kam, nicht sicher was ich tun oder sagen sollte. Vielleicht sollte ich mich bei ihm entschuldigen, oder darüber lachen und das ganze ins Lächerliche ziehen. Nichts von beidem behagte mir und so saß ich einfach weiter da und schaute ihn an, als er sich mit dem Blick auf mir neben mich setzte.

Meine Unruhe wuchs. Erwartete er jetzt etwas? Vielleicht fürchtete ich mich aber auch einfach nur davor, dass er erkennen könnte, was ich vorhatte und versuchen würde mich aufzuhalten. Es gab schließlich keinen Menschen, der mich besser kannte als er.

Als er die Hand ausstreckte und auf meine legte, spannte ich mich an. Seine Gegenwart machte mich so nervös, dass ich plötzlich das dringende Bedürfnis verspürte, ganz schnell das Weite zu suchen, oder mich zumindest im Schlafzimmer zu verkriechen. Gott, was war nur los mit mir?

Sag einfach irgendwas, der Plan ist schließlich, dass er dich wieder für zurechnungsfähig hält! Ich öffnete den Mund, aber kein Ton kam heraus. Als auch der zweite Versuch misslang, späte ich zur Wohnzimmertür und schätze wie lange ich bis dahin brauchen würde.

„Es ist alles in Ordnung.“ Reese ließ seine Hand an meinem Arm hinaufwanden, bis sie an meinem Gesicht zum Liegen kam. Er wirkte so ernst. „Du brauchst nichts sagen.“

Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich schluckte und dann fingen auch noch meine Augen an zu brennen. Plötzlich war das alles zu viel. Ja, ich war mir mittlerweile sicher, dass ich nicht übergeschnappt war, aber die letzten Wochen waren trotzdem nicht einfach so an mir vorbeigegangen.

„Hey, nicht weinen“, sagte Reese uns wischte mir mit dem Daumen eine vorwitzige Träne von der Wange. Nütze nicht viel, die nächste hatte sich schon auf den Weg gemacht. „Alles kommt wieder in Ordnung. Ich bin hier, ich lasse dich nicht allein.“

In dem Moment kam es einfach über mich. Eben noch hockte auf der Kante der Couch und versuchte Herr meiner überschäumenden Gefühle zu werden und in der nächsten Minute saß ich rittlings auf seinem Schoß und klammerte mich an ihn, als wäre er mein Rettungsanker. Cherry war von der Aktion natürlich nicht sehr begeistert. Sie schaffte es gerade noch rechtzeitig zur Seite zu springen, um nicht zwischen uns eingeklemmt zu werden. Ihre Entrüstung über dieses unsagbare Verhalten, drückte sie mit einem empörten Schnauben aus.

Während meine Welt sich in Tränen auflöste und ich all dem Ausdruck verlieh, was ich solange fest in mir verschlossen hatte, hielt Reese mich fest an sich gedrückt, damit ich in meinem Schmerz nicht verloren ging. Es war so viel. Nicht mal jetzt konnte ich mir eingestehen, wie sehr die letzten Wochen mich wirklich belastet hatten. Seit dem Tag als die Iubas meiner Kindheit wieder in mein Leben getreten waren, war so viel schiefgelaufen. Dass ich nicht schon vorher zusammengebrochen war, hatte ich wohl alleine Reese zu verdanken. Selbst wenn er sauer auf mich gewesen war, hatte er immer ein Auge auf mich gehabt. Und nach diesem Samstag auf dem Polizeirevier … es gab wohl keinen zweiten Menschen. Der sich so um mich gekümmert hätte.

Es dauerte sehr lange, bis ich meine Gefühle wieder halbwegs unter Kontrolle hatte und die Tränen langsam versiegten. Meine Augen fühlten sich wund und geschwollen an und ich hatte sicher Rotz und Wasser auf Reese' Hemd geheult, doch er hielt mich die ganze Zeit einfach nur fest und strich immer wieder beruhigend durch mein Haar. Er sagte die ganze Zeit kein Wort, oder versuchte irgendwie mich zu beruhigen, er zeigte mir einfach nur, dass er da war und ich mich auf ihn verlassen konnte, während ich mich von all diesen Gefühlen befreite. Selbst danach hielt er mich noch fest an sich gedrückt, als bräuchte er diesen Kontakt genauso dringend wie. Wir mussten uns einfach beide versichern, dass dieser Teil unserer kleinen Welt noch intakt war, auch wenn um uns herum alles auseinander brach.

Zu meiner eigenen Überraschung tat das weinen mir gut. Es war fast schon befreiend und nahm mir die Angst vor dem was geschehen war. Die Scham war noch immer da, genau wie die Schuldgefühle, weil ich ihm so viel Kummer gemacht hatte und das würde sicher auch nicht so schnell verschwinden, doch nun machte mich seine Nähe nicht mehr nervös. Es war wieder so wie es sein sollte, das Gefühl von Geborgenheit und Wärme war wieder da. Es lullte mich ein, vermischte sich mit meiner Erschöpfung, bis ich angekuschelt an seiner Brust, mit seinem Herzschlag am Ohr einfach einschlief.

Das erste Mal seit Wochen fiel ich in den erholsamen Schlaf, den ich so dringend brauchte. Reese nicht, er bekam nur einen steifen Nacken.

 

°°°

 

Mit einem Ruck fuhr ich am Dienstagmorgen in meinem Bett auf und wusste einen Moment nicht wo ich war. Mein Herz trommelte wie wild in meiner Brust und ich brauchte in paar Sekunden um zu verstehen, dass ich mich im Schlafzimmer befand. Irgendwas hatte mich erschreckt. Ein Traum, mein Traum. Ich konnte mich nicht daran erinnern. Da waren nur zusammenhanglose Fetzen.

Reese lag neben mir und blinzelte mich müde an. Meine abrupte Bewegung musste ihn geweckt haben. Bei seinem Anblick ging ein nervöses Kribbeln durch meine Finger. Er lag neben mir, aber wo war der Laptop?

„Hey, ganz ruhig“, sagte er und stützte sich auf den Ellenbogen auf. Er streckte die Hand aus, als wollte er mich berühren, aber ich brauchte den Laptop. Das Video, ich musste das Video sehen.

Mein Blick flog hektisch durch den Raum. Da, er stand zugeklappt auf dem Boden, direkt neben dem Bett.

Eilig schwang ich die Beine aus dem Bett und bückte mich nach ihm, erstarrte jedoch mit ausgestreckter Hand mitten in der Bewegung. Was zum Kuckuck trieb ich da eigentlich?

Es kostete mich eine enorme Anstrengung, die Hand zur Faust zu ballen und mich wieder aufrecht hinzusetzen. Es war mir wohl noch nie in meinem Leben so schwer gefallen, meine Hand in meinen Schoß zu legen, doch den Blick konnte ich trotzdem nicht abwenden. Dieses Ding ins nicht Mittelpunkt deines Lebens! Nein, das war es nicht, aber in den letzten Wochen war es mein kleines Stückchen Realität gewesen.

Hinter mir raschelten die Decken. Die Matratze senkte sich ein kleinen wenig ab, als Reese hinter mich rutschte. „Es ist okay“, sagte er leise und strich meine Haare zur Seite, um mir einen zärtlichen Kuss auf den Nacken zu hauchen. „Nimm ihn wenn du ihn noch brauchst. Du musst dich zu nichts zwingen, zu dem du noch nicht bereit bist.“

Doch das musste ich. Ich musste ihm zeigen, dass es mir wieder besser ging und das würde ich nicht erreichen, wenn ich weiterhin mit der Nase an diesem Bildschirm kleben würde.

Seine Finger fuhren in einer zärtlichen Geste über meinen Arm. „Du hast alle Zeit der Welt.“

„Aber ich brauche das Video nicht mehr.“ Mit diesen Worten versuchte ich nicht nur ihn, sondern auch mich selber zu überzeugen. „Ich habe genug Täuschungen ertragen.“

Seine Finger erstarrten einen ganz kurzen Moment, bevor sie mit ihrer Liebkosung weiter machten. „Was meinst du damit?“

Verdammt, warum hatte ich das gesagt? Ich konnte ihm ja nun schlecht erklären, dass das Video nur die halbe Wahrheit zeigte. Er würde wahrscheinlich glauben, dass ich einen Rückfall hätte, oder sowas. Das hast du ja toll hinbekommen. Nun sieh mal zu, wie du dich da raus redest.

Ich wandte ihm zaghaft das Gesicht zu, während er geduldig auf meine Antwort wartete und dabei mit seinen Fingern wieder und wieder über meinen Arm strich. Hoch, runter, hoch, runter. „Ich werde mal duschen gehen.“

Ja, super, ergreif die Flucht, das wirkt auch gar nicht verdächtig. Ohne auf meine äußerst lästige innere Stimme zu hören, verließ ich das Bett und flüchtete ins Badezimmer. Leider bemerkte ich erst unter der Dusche, dass ich Sachen zum wechseln vergessen hatte. Sei es drum, ich würde es überleben. Außerdem gab es im Moment wichtigere Dinge, über die ich nachdenken musste: Mein Plan.

Schritt eins hatte ich bereits in die Tat umgesetzt. Ich war aus dem Bett aufgestanden und auch wenn ich mich ungewohnt schwach und kraftlos fühlte, war ich endlich wieder so klar bei Verstand, dass ich mich auf wichtigere Dinge konzentrieren konnte. Der zweite Schritt war nun Reese davon zu überzeugen, dass es mir so gut ging, dass er aufhörte mich zu bewachen. Wahrscheinlich war das der schwierigste Teil meines Plans, obwohl das was danach kam, sich sicher auch nicht ganz einfach gestalten sollte. Das Handy war kein Thema. Ich würde zwar etwas flunkern müssen, aber dafür konnte ich mich ja hinterher entschuldigen. Mein Problem war etwas ganz anderes: Die Schwarzmähne.

Damit mein Vorhaben gelingen konnte, brauchte ich ihn. Nur so würde ich lange genug in Malous Nähe kommen, um sie in ein Gespräch zu verwickeln. Leider bezweifelte ich, dass Historia ihn mir ein Weilchen ausleihen würde. Nein, ich musste ihn selber herausholen.

Wenn ich nur Zugang zu ihm hätte, dann … aber das hatte ich doch! Doktor Glock wäre sicher begeistert, wenn ich auf ein kleines Schwätzchen vorbeischauen würde. Das würde aber bedeuten, ich müsste die Sache an einem Wochenende durchziehen, denn da war Historia nur mit den nötigsten Leuten besetzt. Wie lange würde ich brauchen, um Reese davon zu überzeugen, dass es mir wieder gut ging? Zwei Wochen, drei? Oder noch länger. Ich stand zum Glück nicht unter Zeitdruck, doch ich wollte die Sache so schnell wie möglich beenden und Malou endgültig das Handwerk legen. Vielleicht, wenn ich mir Mühe gab, würden wirklich ein paar Wochen ausreichen. Und am Besten fing ich gleich damit an, indem ich mich wieder in den Alltag stürzte.

Als erstes fiel mir dazu die Arbeit ein, doch das würde man mir sicher noch eine ganze Weile nicht gestatten. Dieser Gedanke war äußerst bitter. Nur wegen dieser schrecklichen Frau stand ich praktisch am Ende meiner beruflichen Karriere. Aber das würde sich ändern. Ich würde das alles wieder in Ordnung bringen und am Besten begann ich damit, indem ich ein schönes Frühstück für Reese machte. Das war eine normale, alltägliche Aufgabe, bei der nichts schiefgehen konnte. Und er würde sich sicher darüber freuen, mich etwas ganz normales und alltägliches tun zu sehen. Ja, das war eine gute Idee.

Entschlossen stieg ich aus der Dusche und tappte klitschnass zur Waschmaschine hinüber, um mir eines von den Handtüchern zu nehmen. Unser Bad war so klein, dass wir sie da lagern mussten. Ich nahm mir das oberste, schüttelte es aus und musste mich mit einem Mal an der Waschmaschine festhalten, weil mir plötzlich schwarz vor Augen wurde.

Verdammt, was war denn jetzt los? Das musste davon kommen, dass ich wochenlang nichts anderes getan hatte, als im Bett zu sitzen. Mein Kreislauf war einfach abgesackt. Zum Glück hatte Reese das nicht mitbekommen, der würde mich sonst wahrscheinlich zurück ins Bett verfrachten.

Okay, ganz ruhig, kontrolliert ein und ausatmen.

Langsam verschwanden die kleinen Punkte vor meinen Augen wieder. Ich blinzelte ein paar Mal, bis auch das seltsame Gefühl verschwunden war. Wahrscheinlich musste ich einfach nur etwas essen, damit es mir wieder besser ging. Kraft tanken und die Reserven wieder auffüllen. Hoffentlich passierte das nicht noch einmal.

Sobald ich mir sicher war, dass ich nicht bei der kleinsten Bewegung einfach umkippen würde, machte ich mich daran mich abzutrocknen. Eingewickelt in mein Handtuch, sammelte ich dann noch die dreckigen Klamotten ein und ging zurück ins Schlafzimmer.

Reese lag noch immer im Bett. Einen Arm hinter den Kopf geklemmt, streichelte er Cherry, die schnurrend auf seiner Brust thronte. Er wirkte nachdenklich, schaute aber sofort auf, als ich den Raum betrat.

Ich schenkte ihm ein, wie ich hoffte, überzeugendes Lächeln und wandte mich dem Wäschekorb zu. Leider musste ich dabei feststellen, dass der schon überquoll. Reese hatte wohl nur das nötigste an Wäsche gewaschen. Ich konnte ihm schlecht einen Vorwurf daraus machen, schließlich hatte er andere Dinge im Kopf gehabt. Dann würde ich eben nachher einfach ein, oder auch zwei Maschinen machen.

„Wollen wir uns nachher einen Film anschauen?“, fragte ich und widmete mich dem Kleiderschrank und der Suche nach passenden Klamotten. Ein Film schauen, war etwas ganz alltägliches. „Ich könnte uns Popcorn dazu machen.“ Ich entschied mich für ein kurzärmliges Shirt und eine einfache Jogginghose. Die Wohnung würde ich heute eh nicht verlassen.

„Wenn du möchtest.“

„Gut, dann haben wir ein Date.“ Ich grinste ihn an und bemerkte dabei den misstrauischen Funken in seinen Augen. Übertrieb ich es gerade? Vielleicht sollte ich nicht ganz so fröhlich sein. Verdammt, ich war einfach keine gute Schauspielerin. „Möchtest du einen bestimmten Film schauen?“

„Nein, ist mir egal.“ Reese beobachtete mich beim Anziehen so genau, dass ich mir vorkam wie unter einem Mikroskop. Bis ich ihn davon überzeugt hatte, dass es mir wieder gut ging, würde das sicher auch noch eine Weile so weitergehen.

Na gut, dann mal auf in den Kampf. „Ich hoffe du hast nicht vor den ganzen Tag im Bett liegen zu bleiben“, bemerkte ich mit einem Augenzwinkern und verließ wieder das Schlafzimmer. Doch sobald ich außer sich war, stützte ich mich an der Wand ab und musste erstmal tief Luft holen. Allein das Anziehen hatte mich mehr angestrengt, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Gott, das konnte doch nicht nur damit zusammenhängen, dass ich drei Wochen lang das Bett gehütet hatte. Wahrscheinlich kam das auch von dem wenigen Essen. Aber ich würde das schon hinbekommen, ich durfte nur nicht aufgeben.

Mir selber Mut zuredend, ging ich in die Küche und schaltete als erstes für Reese die Kaffeemaschine ein. Wenn jemand schon ein Laster hatte, dann sollte es Kaffee sein. An Zigaretten hatte ich mich gewöhnt, aber auf die konnte ich auch verzichten, doch Kaffee roch einfach nur toll. Schade das er nicht schmeckte.

Sobald die Maschine anfing zu arbeiten, spazierte Cherry maunzend in den Raum und wickelte sich solange um meine Beine, bis ich es geschafft hatte, ihr ihren vollen Futternapf in die Ecke zu stellen – danach existierte ich für sie nicht mehr.

Dann war es Zeit sich um das leibliche Wohl zu kümmern. Aus dem Kühlschrank holte ich Bacon und Eier und begann damit daraus Rührei fürs Frühstück zu machen. Ich hatte morgens nur selten Zeit ein größeres Frühstück zuzubereiten, aber heute hatte ich schließlich keine Pläne mehr. Außerdem aß Reese es gerne und nachdem was er die letzten Wochen wegen mir durchgemacht hatte, hatte er das mehr als verdient.

Während der kleingeschnittene Bacon in der Pfanne anfing zu brutzeln, holte ich das große Tablett heraus und begann damit alles bereitzustellen. Teller, Besteck. Salz und Pfeffer. Ein Korb für das Brot. Eigentlich war das gar nicht viel Arbeit, doch ich bemerkte bereits jetzt, wie es schon wieder an meinen Kräften zerrte. Darum stützte ich mich auch mit einem Arm an der Anrichte ab, als ich damit begann, dass Ei unter den Bacon zu rühren. Für jemand anderen musste es aussehen, als wenn ich mich einfach nur lässig abstützte, was auch gut so war, denn Reese kam mit zerzausten Haaren und einer tief auf den Hüften hängenden Pyjamahose in die Küche.

Einen Moment schaute er mir einfach nur dabei zu, wie ich da am Herd stand. Dann trat er hinter mich, legte mir die Hände an die Hüften und hauchte mir einen Kuss auf die Schulter. Wäre ich nicht so sehr damit beschäftigt gewesen auf den Beinen zu bleiben, hätte ich das angenehme Kribbeln durchaus zu würdigen gewusst.

„Ich kann doch das Frühstück machen.“

Oh nein, ich würde mich nicht auf die Ersatzbank schieben lassen. „Ich wusste gar nicht, dass es als Frühstück machen zählt, wenn man eine Packung Cornflakes zur Hand nimmt und ein paar Flakes direkt aus der Schachtel isst.“

Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem halben Lächeln. Ein weiterer Kuss landete auf meiner Schulter, nur ein Stück weiter oben. Den dritten drückte er mir auf den Hals. Sein warmer Atem streifte meine Haut.

Nanu, seit wann war Reese denn so kuschelbedürftig? „Wenn du damit nicht aufhörst, werde ich meine Meinung über dich wohl grundlegend ändern müssen, du butterweicher Softie.“

„Es ist einfach schön dich wieder auf den Beinen zu sehen“, murmelte er dich an meinem Ohr.

Nein, ich würde mir jetzt kein schlechtes Gewissen einreden. Ich hatte einen Nervenzusammenbruch gehabt, das war ein Schutzmechanismus des Körpers, dagegen hatte ich gar nichts tun können.

Damit die Eier nicht anbrannten, schon ich sie mit dem Pfannenränder hin und her. Dabei musste ich ziemlich aufpassen, weil ich die Pfanne ja nicht festhalten konnte, solange ich mich mit einem Arm abstützte.

„Komm, lass mich das machen.“

Einen Moment glaubte ich, dass ich mich durch irgendwas verraten hatten und er nun wusste, dass es mir nicht so gut ging, wie ich ihn glauben machen wollte. Doch dann beruhigte ich mich selber damit, dass das nur Reese war, der eine Auge auf mich hatte. „Es sind doch nur ein paar Eier.“

„Ja, aber du solltest dich noch nicht so überanstrengen. Du hast tagelang …“

„Bitte Reese, es sind nur ein paar Eier.“ Und ich muss dir beweisen, dass es mir gut geht.

Seine Lippen wurden eine Spur schmaler. „Na schön.“ Offensichtlich unzufrieden mit mir, trat er ein Stück zurück. „Kann ich helfen?“

Eigentlich wollte ich das nicht, aber wenn ich jetzt ablehnte, konnte es durchaus passieren, dass er Theater machte. „Du kannst schon mal ein paar Toasts toasten.“

Das tat er dann auch. Außerdem widmete er sich dann auch noch den Sachen aus dem Kühlschrank. Butter, Belag, Jogurt.

Ich machte in der Zwischenzeit die Eier fertig und verteilte sie auf die beiden Teller. Eine kleine Portion für mich und eine Extragroße für Reese. Normalerweise nahm ich auch eine Extragroße, aber ich wusste genau, dass ich die im Moment nicht schaffen würde.

Reese registrierte das natürlich, ließ es aber kommentarlos. Er legte da fertige Toast in den Korb und schnappte sich das Tablett, um es ins Wohnzimmer zu bringen. Dabei bemerkte ich, dass er die Gläser vergessen hatte, also widmete ich mich dieser Aufgabe und in dem Moment geschah es. Kaum dass ich die beiden Gläser in den Händen hielt, wurde mir wieder schwarz vor Augen – schlimmer noch als vorhin im Bad.

Ich griff noch hastig nach der Ablage, dachte dabei aber nicht mehr an die Gläser in meinen Händen. Eine zerschellt an der Schrankkante, das andere viel zu Boden und zerbrach klirrend.

„Shanks, verdammt.“ Eilig stellte Reese das Tablett wieder ab und eilte zu mir, während ich in die Hocke ging und versuchte durch hektisches Blinzeln die schwarzen Flecken vor meinen Augen loszuwerden.

„Schon gut“, murmelte ich, als Reese nach mir ging. „Mir geht es gut.“

Er knurrte etwas Unverständliches, packte mich an der Taille und stellte mich ans andere Ende der Küche, weg von den Scherben.

„Reese, hör auf, mit mir ist alles in Ordnung.“

„Nichts ist mit dir in Ordnung“, widersprach er sofort. „Ich hab doch gewusst, dass du dir schon wieder zu viel zumutest. Dass du es aber auch nie ruhig angehen lassen kannst.“

Verdammt, verdammt, verdammt! „Ich bin nur ausgerutscht, sowas kann passierten“, versuchte ich mich rauszureden.

Sein Blick allein reichte um mir zu verdeutlichen, dass er mir kein Wort glaubte. „Setzt dich ins Wohnzimmer, ich mach das hier weg.“

„Nein, ich kann …“

„Wohnzimmer“, knurrte er mit einer unüberhörbaren Drohung in der Stimme. Entweder ich ging freiwillig, oder er würde mich persönlich dort absetzen und notfalls auch festbinden.

Ich drückte die Lippen unwillig zusammen, wandte den Blick ab und verließ wortlos die Küche. Das war ja super gelaufen. Jetzt würde er erst recht auf jedes kleine Anzeichen von Schwäche bei mir achten. Aber viel schlimmer fand ich die Art, wie er mich weggeschickt hatte, als wäre ich ein kleines, hilfebedürftiges Kind, das nichts allein auf die Reihe bekam. Ja okay, er machte sich Sorgen, das konnte ich auch verstehen, aber doch bitte nicht so.

Niedergeschlagen ließ ich mich auf die Couch plumpsen und schnappte mir eines der Zierkissen und einem wütend draufzuschlagen. Es war ein verdammt schlechtes Gefühl, plötzlich eine Fremde im eigenen Körper zu sein. War es damals nach meinem sechsten Geburtstag auch so gewesen? Diese Zeit lag in einem dichten Nebel und ich konnte mich nur noch an wenig erinnern. An meinen Onkel, wie ich auf seinen Schoß saß und er mir beruhigend über den Kopf streichelte. Auch ein paar Bilder von einer Ärztin mit einem freundlichen Lächeln waren mir geblieben. Und Wynn, die mit Papier und Wachsmaler auf dem Boden saß und einen Regenbogen aus …

Ich erstarrte. Oh mein Gott, Wynn! Wir waren verabredet gewesen, aber das hatte ich völlig vergessen. Nein, nein, nein.

Ich warf das Zierkissen so hastig zur Seite, dass es auf dem Boden landete, aber das kümmerte mich im Moment nicht. Ich musste sie anrufen, sofort. Da ich aber keine Ahnung hatte wo mein Handy war, schnappte ich mir unser Haustelefon und rief so von dort aus an. Dabei begann ich nervöse Furchen in den Boden zu laufen.

Es klingelte, zwei Mal, drei Mal. Dann wurde abgenommen.

„Ja bitte?“ Es war die gleiche Stimme, die ich auch das letzte Mal gehört hatte, nicht meine kleine Schwester.

„Ja, hey, hier ist Grace. Könnte ich bitte mit Wynn sprechen?“ War sie überhaupt da? Es war immerhin ein Werktag.

„Ja, klar, einen Moment.“

Gott sei Dank. Wenigstens eine Sache lief heute mal gut.

Ungeduldig wartete ich, doch als ich wieder eine Stimme hörte, war es nicht die von Wynn. „Tut mir leid, aber Wynn will nicht mit dir sprechen.“

„Was?“ Der Erdboden tat sich unter mir auf. „Warum?“

Reese wählte genau diesen Moment, um mit dem Tablett und Cherry auf den Fersen ins Wohnzimmer zu kommen. Er warf mir einen Blick zu und runzelte die Stirn, während er das Tablett auf dem Tisch abstellte, sagte aber nichts.

„Keine Ahnung. Sie sagt du hattest deine Chance und du hast sie nicht genutzt, also kann es dir nicht wichtig gewesen sein.“

„Aber das stimmt nicht“, protestierte ich sofort. „Ich war krank, ich konnte nicht.“

Die Frau am Telefon gab es weiter. Eine Stimme ertönte im Hintergrund die eindeutig Wynn gehörte. Die Frau seufzte genervt. „Du hättest anrufen und absagen können. Außerdem hat sie deinen Fernsehauftritt gesehen und da hast du nicht krank ausgesehen.“

Wieder hörte man Wynns Stimme.

„Das werde ich ihr nicht sagen“, erklärte die Frau, mit einem eindeutig verärgerten Unterton in der Stimme. Dann sagte sie zu mir: „Tut mir echt leid, aber sie will nicht.“

Ich presste die Lippen aufeinander und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich das traf. „Okay, trotzdem danke.“

„Kein Problem. Bis dann.“ Damit legte sie auf.

Langsam und niedergeschlagen ließ ich das Telefon sinken. Ich spürte genau dass Reese mich beobachtete, doch ich hielt den Blick absichtlich gesenkt. Es tat einfach zu weh und ich wusste doch sowieso was er dazu sagen würde.

„Was ist los?“

Als ich nur den Kopf schüttelte, weil ich ihm im Moment nicht antworten wollte, trat er zu mir und legte mir einen Finger unters Kinn, damit ich das Gesicht hob.

„Sag mir was los ist und friss es nicht in dich hinein.“

Ja, das war wahrscheinlich wirklich keine gute Idee. Dann sag es ihm halt, lass dir aber nicht anmerken, wie sehr es dich getroffen hat. Ich wandte mein Gesicht aus seiner Hand und stellte das Telefon zurück auf seine Station. „Ich war mit Wynn verabredetet, an dem Wochenende, als … als das alles passiert ist. Jetzt denkt sie ich hätte sie mit voller Absicht versetzt, weil es mir nicht wichtig genug war.“ Ich setzte mich auf die Couch und griff nach meinem Teller, damit ich beschäftigt wirkte. Leider war mir der Appetit gerade vergangen. „Jetzt will sie nichts mehr mit mir zu tun haben.“

Natürlich lagen Reese dazu mehrere Dinge auf der Zunge, sowas wie „Du brauchst sie nicht“ und „Sie ist es nicht wert“, doch zu meiner grenzenlosen Erleichterung hielt er sich ausnahmsweise einmal zurück. Er setzte sich einfach nur neben mich, drückt kurz mein Bein und nahm sich dann seinen eigenen Teller.

Das war fast genauso schlimm, wie als wenn er Wynn niedergemacht hatte. Er nahm noch immer Rücksicht auf mich, was bedeutete, dass er sich weiterhin Sorgen um mich machte. Wenn ich ihn nicht davon überzeugen konnte dass es mir wieder gut ging, würde ich mir etwas anderes überlegen müssen, um seinen wachsamen Blicken zu entkommen.

 

°°°

 

„Weiches Ei mit Marmelade? Wirklich?“ Nick verzog angewidert das Gesicht. „Und das esse ich freiwillig?“

„Du isst es nicht nur freiwillig, du liebst es“, erklärte ich ihm. „Aber nur Erdbeermarmelade. Und Pizza isst du am Liebsten mit zwanzig verschiedenen Sorten an Käse. Aber du willst nur Käse drauf haben, nichts anderes.“

„Das kling ja noch annehmbar, aber welcher normale Mensch macht sich Marmelade in sein Frühstücksei?“

Ja, als ich das das erste Mal bei ihm gesehen hatte, hatte ich mich genau das gleiche gefragt. Aber dann hatte er mich aufgefordert zu probieren und entgegen meiner Erwartung hatte es mir tatsächlich geschmeckt. Seitdem aß ich mein Frühstücksei immer mit Erdbeermarmelade. Naja, wenn es nicht gerade Rührei mit Bacon war.

Es war Mittwoch und der Vormittag war so gut verlaufen, dass ich den Vorschlag gemacht hatte, Nick im Krankenhaus zu besuchen. So bekam ich ein wenig Bewegung und frische Luft und Reese konnte sich einmal mehr davon überzeugen, dass ich auf dem Weg der Besserung war – nicht dass ich ihm das so direkt gesagt hätte.

Natürlich hatte sich seine Begeisterung in Grenzen gehalten. Zwar war gestern nach dem Vorfall in der Küche nichts weiter passiert, aber er traute der Sache trotzdem nicht.

Ich hatte dagegengehalten, wenn wirklich etwas passieren würde, wären wir doch gleich im Krankenhaus, mit gut ausgebildeten Fachkräften, die zu meiner Rettung eilen konnten. Der Witz war nicht sehr gut bei ihm angekommen, aber wenigstens hatte er sich am Ende breitschlagen lassen, solange ich versprach mir nicht zu viel zuzumuten. Als wenn ich überhaupt die Chance dazu bekäme, solange er in der Nähe war.

Trotzdem war es ein seltsames Gefühl gewesen, nach der langen Zeit zuhause und allem was geschehen war, wieder raus auf die Straße zu gehen. Die Welt war während meiner Abwesenheit nicht stehen geblieben, aber sie schien noch immer die gleiche zu sein, was bedeutete, dass sich jeder nur um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte – was in meinem Fall gar nicht schlecht war.

Auf dem Weg durch das Krankenhaus war da ein Mann gewesen, der mich ein wenig zu intensiv gemustert hatte, aber ich konnte nicht sagen, ob das wegen meines Auftritts im Fernsehen, oder der Narbe in meinem Gesicht war. Ich verbot mir einfach näher darüber nachzudenken. Besser ich konzentrierte mich auf andere Dinge, wie zum Beispiel Nick, der mich gerade erwartungsvoll anschaute. Hatte er was zu mir gesagt?

„Ähm … was?“

Er schenkte mir ein hinreißendes Lächeln, das, mit dem er mich damals für sich eingenommen hatte. Es zeigte keinerlei Wirkung bei mir. „Du scheinst mit deinen Gedanken ganz woanders zu sein.“

„Tut mir leid, hab gerade nur über etwas nachgedacht.“

Alarmiert richtete Reese seinen Blick auf mich.

Ich konnte mich gerade noch bremsen, bevor ich die Augen verdrehte. Was glaubte er denn bitte, was geschehen würde? Nein, darauf wollte ich lieber keine Antwort haben. „Sag mal, wie läuft es eigentlich mit deiner Physiotherapie?“

„Super!“ Er strahlte richtig. „Wenn ich mich am Barren festhalte, schaffe ich sogar schon allein ein paar Schritte. Noch ein paar Wochen und ich kann endlich hier raus.“

„Oh, so bald schon?“ Damit hatte ich nicht gerechnet.

„Klar. Ich bin echt froh, wenn ich dieses Bett nie wiedersehen muss.“ Er seufzte, als träumte er bereits von der Freiheit. „Die haben mir hier auch schon von so einem Programm erzählt, Leute die mir helfen können wieder auf die Beine zu kommen – also im übertragenden Sinne.“ Er grinste. „Wahrscheinlich werde ich erstmal in irgend so einer billigen Kaschemme unterkommen, aber das wird ja nur vorübergehend sein.“

Auf Reese' Stirn erschien das gewohnte Stirnrunzeln. „Was redest du da für einen Schwachsinn, du wirst bei uns bleiben.“

Dieser Worte überraschten mich nicht. Zwar hatte Reese noch nicht mit mir darüber gesprochen, aber ich hatte es mir schon gedacht. Widerspruch war also zwecklos. Also natürlich konnte ich widersprechen, aber das würde ich nicht tun. Es gab nicht viele Menschen, die Reese wichtig waren. Zwar fürchtete ich, das dadurch Probleme auf uns zukommen würden, aber ich würde mich nicht zwischen die beiden stellen.

Nick schaute erstaunt zu seinem großen Bruder auf. „Bei euch?“

„Natürlich. Du hast auch bei mir gelebt, bevor dieser ganze Mist hier passiert ist.“

„Naja, aber wenn ich das richtig verstanden habe, hast du da noch allein gelebt.“ Dieses mal bekam ich ein entschuldigendes Lächeln von ihm.

Ich erwiderte es es wenig zurückhaltender.

„Und?“

„Naja, wenn du darauf bestehst, werde ich sicher nicht nein sagen.“

Na hoffentlich ging das gut. Heute hatte er keine seltsamen Anspielungen auf seine Erinnerungen gemacht und wie es schien, blieb seine Vergangenheit für ihn weiter im Verborgenen, aber wenn ich nur daran dachte, was er bei meinem letzten Besuch zu mir gesagt hatte, wurde ich doch ein kleinen wenig nervös. Bisher war ich noch nicht mal dazu gekommen es Reese zu erzählen. Erst hatten wir uns in den Flicken gehabt und dann … naja, dann hatte ich mit niemanden mehr gesprochen.

Ich sollte es Reese unbedingt erzählen, aber großartig ändern würde es jetzt auch nichts mehr. Reese hatte bereits entschieden, dass Nick bei uns einziehen würde und ich brachte es nicht übers Herz, dazwischen zu gehen.

Eine sanfte Berührung an der Wange ließ mich aufblicken. Reese schaute mich schon wieder auf diese Art an, bei der ich mir wie auf dem Seziertisch vorkam. „Alles okay?“

„Ja, nur in Gedanken.“ Ich versuchte es mit einem, wie ich hoffte, überzeugendem Lächeln. Leider vertiefte sich die kleine Falte aus seiner Stirn dadurch nur.

„Ich glaube wir sollten uns langsam auf dem Weg nach Hause machen.“

Verdammt, so war das aber nicht geplant gewesen. „Mir geht es gut.“

„Ja, aber du brauchst noch Ruhe und Nick möchte sich jetzt sicher auch ausruhen.“ Er bedachte seinen Bruder mit einem Blick, der ihn deutlich davor warnte, ihm zu widersprechen.

„Ähm … ja, klar, ausruhen.“ Er gähnte so übertrieben, dass es nur gespielt sein konnte. „War ein anstrengender Tag und ich bin ein bisschen Müde.“

Nein, dieses Mal verkniff ich mir das Augenverdrehen nicht. „Ihr beiden seid so durchschaubar“, murrte ich unzufrieden, erhob mich aber trotzdem von meinem Stuhl und zog meine Jacke an. Diese Schlacht war es nicht wert geschlagen zu werden, da sparte ich meine Kräfte doch lieber für andere Dinge auf.

Ich verabschiedete mich noch von Nick mit einem Winken und dem Versprechen, so bald wie möglich wiederzukommen und ließ mich dann von Reese hinaus scheuchen. Nicht das er mich wirklich scheuchte, aber sein Blick allein genügte, um mir zu verstehen zu geben, war er wollte.

Wir waren schon unten am Ausgang, als Reese ganz beiläufig sagte: „Du möchtest nicht, dass Nick bei uns einzieht.“

Ähm was? „Wie kommst du denn darauf?“

„Du bist komplett verstummt, nachdem ich das gesagt habe. Außerdem habe ich dein Gesicht gesehen.“ Er hielt sich etwas links und bog dann auf den Parkplatz ab.

Was bitte glaubte er denn, was er in meinem Gesicht gesehen hatte. „Das ist es nicht. Schon als Nick aufgewacht ist, war mir klar, dass er früher oder später bei uns einziehen würde.“

Seinem skeptischen Blick zu Urteilen, nahm er mir das nicht ab. „Und warum hast du dann so geguckt?“

Wie sagte ich ihm das am Besten? Da lange um den Heißen Brei zu reden noch nie wirklich etwas gebracht hatte, versuchte ich es mit dem direkten Weg. „Nick kann sich an etwas erinnern, aber er weiß nicht dass es eine Erinnerung ist.“

„Ich verstehe nur Bahnhof.“

Okay, sag es einfach. „Als wir uns gestritten haben, war ich ihn besuchen und da hat er sich an unseren ersten Kuss erinnert. Irgendwie.“

Wir hatten unseren Wagen fast erreicht, doch diese Mitteilung ließ Reese augenblicklich stehen bleiben. „Irgendwie?“

„Er hat gesagt, es war als wäre es eine Erinnerung an einen alten Gedanken. Wir haben das nicht näher definiert.“ Ich zucke ein wenig hilflos mit den Schultern. „Er glaubt, es sei einfach nur ein seltsamer Gedanke.“

„An einen Kuss mit dir.“

„Naja, ja.“

Das gefiel ihm offensichtlich nicht. Er presste die Lippen zusammen und griff gleichzeitig in die Tasche seines Mantels, um nach seinen Zigaretten zu fahnden. „Das heißt also, er beginnt sich zu erinnern.“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht war das ein einmaliger Flashback, vielleicht aber auch erst der Anfang.“

Seufzend steckte er sich eine Zigarette zwischen die Lippen und ließ sein Feuerzeug klicken. Er nahm erst einen tiefen Zug, bevor er wieder sprach. „Wenn das noch mal passiert, werde ich mit ihm reden müssen. Ich will nicht, dass das zwischen uns kommt.“

Meinte er jetzt sich und Nick, oder uns beide? Vielleicht ja auch alle drei. Egal. „Vielleicht wird ja auch nichts weiter passieren. Außerdem ist es schon Jahre her.“

„Nicht für ihn.“

Stimmt. Wenn er wirklich begann sich zu erinnern, wären für sein Zeitgefühl nur ein paar Wochen im Krankenhaus vergangen. „Wir werden das schon …“

Ein kleine Junger von sechs, oder vielleicht sieben Jahren stürzte plötzlich laut kreischend um den Wagen herum und rannte fast in mich hinein. Im letzten Moment schaffte er es noch abzubremsen und bevor ich noch dazu kam mich nach einer Gefahr umzuschauen, grinste er mich mit einer großen Zahnlücke breit an.

„Entschuldigung!“, rief er laut, während seiner Mutter weiter hinten versuchte ihn an ihre Seite zurückzupfeifen. Der Kleine hatte allerdings keine Lust zurückzugehen. Er hob die Hand, als wolle er sich verabschieden und riss in der nächsten Sekunde überrascht die Augen auf. „Dich hab ich schon mal gesehen, im Fernsehen!“

Jeder meiner Muskeln spannte sich an und mit einem Mal war ich nur noch auf Flucht gepolt.

„Du bist die Frau, die die beiden Mädchen gerettet hat.“

Mädchen? „Welche Mädchen?“ Nervös verlagerte ich mein Gewicht von einem Bein aufs andere und versicherte mich mit einem Blick, dass Reese noch neben mir war.

„Na die Mädchen vor der Apotheke. Das hab ich in den Nachrichten gesehen und jetzt will ich auch Venator werden. Aber Mama sagt, dass ist gefährlich.“

Er sprach gar nicht von meinem Auftritt bei Malou, sondern von einem Einsatz, der bereits ein paar Monate zurück lag. Damals hatte irgendjemand das Ende der Jagd mit einer Handykamera aufgenommen und ins Internet gestellt. Ein paar Nachrichtensender hatte darüber berichtet, wie ich die zwei Mädchen gerettet hatte. Mir einem Mal konnte ich wieder leichter atmen. Der Kleine hatte mich wirklich kurz erschreckt. „Da hat deine Mama recht.“

Er nickte, als wüsste er genau wovon ich sprach. „Ich will es trotzdem machen, aber ich weiß nicht wie man Venator wird. Weißt du es?“

„Naja, ja.“ Ich bin ja schließlich ein Venator. Wäre schon ziemlich traurig, wenn ich nicht wüsste, wie ich das gemacht hatte. „Aber du bist noch ein wenig jung, um dir …“

„Luca!“, rief die Mutter von dem Jungen laut und beschleunigte mit einem Mal ihre Schritte. Sobald sie uns erreicht hatte, packte sie ihn am Arm und riss ihn praktisch fort von mir. „Bleib weg von dieser Frau.“

„Aber Mama, das ist die Frau, die die Mädchen gerettet hat. Sie ist eine Heldin.“

„Eine Heldin?“ Die Frau lachte so scharf auf, dass sich mir dabei die Härchen im Nacken aufrichteten. „Eine verrückte. Schämen sollten Sie sich. Das man man Sie noch frei herumlaufen lässt, ist skandalös.“

Das traf mich nicht ganz unvorbereitet. Es war trotzdem nicht sehr angenehm und ich spürte, wie ich mich am ganzen Körper versteifte.

„Warum?“, fragte Reese ganz ruhig und blies den Qualm seiner Zigarette aus. Aber seine Stimme täuschte nur über die Wut in seinen Augen hinweg. „Sie laufen ja auch noch frei herum. Oder sind Sie ihrem Betreuer entkommen?“

Vor Empörung schnappte die Frau nach Luft. „Unverschämtheit.“

„Oh glauben Sie mir, das war noch nicht unverschämt. Wenn ich unverschämt werde, dann hört sich das anders an.“ Ganz in Ruhe warf er den Rest seiner Zigarette auf den Boden und trat sie mit dem Fuß auf. „Und wenn Sie meine Frau noch ein einziges Mal belästigen, oder sie nur schief ansehen, dann erfahren Sie, was genau ich damit meine.“

Der Blick, den er ihr zuwarf, ließ sie nicht direkt erbleichen, doch in dem Versuch selbstbewusst zu wirken, regte sie das Kinn, nahm ihren Sohn an der Hand und kehrte uns eilig den Rücken.

Im Weggehen winkte der Junge mir noch zu, doch ich brachte plötzlich nicht mehr die Kraft auf, zurückzuwinken. Ich konnte nur noch daran denken, dass es bestimmte hunderte wie sie gab, die der Meinung waren, ich sei völlig durchgeknallt. Malou hatte nicht nur meine Glaubwürdigkeit zerstört, sie hatte es auch geschafft, das die Leute mich für geistig instabil hielten. Eine Verrückte, nicht mehr zurechnungsfähig.

Das wirst du mir büßen, Schlampe.

Reese starrte der Frau noch verärgert hinterher, bevor er mir eine Hand an die Tailie legte und mich mit sanftem Druck zum Wagen schob. „Komm, lass uns nach Hause fahren.“

 

°°°

 

Ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen, aber ein wenig unbehaglich war mir schon zumute, als ich am Donnerstagmorgen hinter Reese die Gilde betrat. Ich hatte mir nichts vorzuwerfen, denn ich wusste dass ich nicht verrückt war, aber jeder hier hatte davon gehört was passiert war und warum man mich suspendiert hatte – da war ich mir sicher. Und ich sollte recht behalten.

Sobald wir an dem langen Empfangstresen vorbeigingen, schaute Madeline auf und war so überrascht mich zu sehen, dass sie mich einfach nur erschrocken ansah und dabei das Telefon in ihrer Hand völlig vergaß. Das tat sie bestimmt vier, fünf Sekunden, bis ihr wieder einfiel, dass so ein Verhalten ziemlich unhöflich war. Ihr Mund klappte mit einem Klack hörbar zu und das Lächeln an dem sie sich dann versuchte, endete in einer halben Grimasse. „Oh, tut mir leid, natürlich, ich bin noch dran. Um was für ein Proles sagten Sie, handelt es sich?“

Ich bis die Zähne so fest zusammen, das mein Kiefer davon schmerzte. Natürlich hatte ich mit solchen Reaktionen gerechnet, doch deswegen war es noch lange kein schönes Gefühl. Warum hatte Reese ausgerechnet heute am Straßenrand statt unten in der Garage parken müssen? Wären wir von unten gekommen, hätte ich weitaus weniger Aufsehen erregt. Aber ich würde jetzt nicht klein beigeben, ich hatte das hier gewollt und ich würde das jetzt auch bis zum Ende durchziehen – komme da, was da wolle.

Ohne mir anmerken zu lassen, wie sehr Madelines Verhalten mich gekränkt hatte, trat ich hinter Reese in der Arbeitsbereich. Nur wenige der Schreibtische waren um diese Uhrzeit besetzt, aber jeder der mich bemerkte, hatte diesen überraschten und teilweise auch neugierigen Ausdruck im Gesicht. Naja, zumindest solange, bis Reese die Männer finster anstarrte und sie hastig den Blick abwandten.

„Grace!“ Aziz, der gerade vom Korridor hereingeschlendert kam, sah mich, machte zwei Lange Schritte und zog mich in eine dicke Umarmung.

„Lass sie los“, murrte Reese.

Aziz kam der Aufforderung nach – naja, nachdem er mich noch mal kräftig an sich gedrückt hatte. „Wow, du siehst gut aus.“

„Du meinst, gar nicht verrückt?“

Er grinste mich so breit an, dass ich gar nicht anders konnte, als zurück zulächeln. Wenigstens einer hier fiel nicht vor Schreck in Ohnmacht, weil ich von den Toten zurückgekehrt war, noch dazu einer, der meinen Ausbruch bei Malou live und in Farbe miterlebt hatte und ebenfalls glaubte, bei mir sein nicht mehr alles koscher.

Der Gedanke gefiel mir nicht.

Halt durch, du bringst das ja wieder in Ordnung.

„Was machst du hier? So schnell hab ich gar nicht mit dir gerechnet.“

Die kurze Antwort hieß: „Wir haben einen Termin.“ Die lange dagegen war ein wenig komplizierter. Das Treffen mit dem Verband, bei dem Reese am Montag gewesen war, hatte nur wenig mit meiner momentanen Situation zu tun gehabt, hauptsächlich war es um den Überfall auf die Transporter und Lexians Beurteilungen gegangen. So weit Reese es mir erzählt hatte, war Lexian sehr objektiv geblieben. Reese war wohl halbwegs gut weggekommen – zumindest dafür, dass er unseren Anstandswauwau immer feindlich behandelt hatte. Im Grunde hatte er geschrieben, dass Reese ein mürrischer Einzelgänger war, der sein Handwerk verstanden.

Meine Beurteilung dagegen … sie war nicht wirklich schlecht, nicht wenn man es nicht allzu genau nahm. Kurz gesagt: Er hatte darauf hingewiesen, dass ich ein schweres psychisches Trauma hatte und er nicht die richtige Person sei, eine Beurteilung über mich zu verfassen. Es wäre wohl besser mich an einen Psychiater weiterzuleiten und mich erst dann wieder in den Dienst zu lassen, wenn mein geistiger Zustand für stabil erklärt wurde.

Auch wenn das eine bittere Pille war, konnte ich ihm daraus nicht mal einen Vorwurf machen.

„Einen Termin? Mit Jilin?“

„Mit Jilin und dem Anwalt.“ Eigentlich hätte ich gar nicht mit gemusst. Reese wäre es sogar lieber gewesen, wenn ich zuhause geblieben wäre und mir Eve zur Gesellschaft eingeladen hätte. Mir war klar, dass er versuchte das alles von mir fernzuhalten, aber ich musste mich ihm beweisen und bisher hatte ich mit meinem Versuch ihn davon zu überzeugen, dass mit mir wieder alles in Ordnung war, leider keine großen Fortschritte gemacht. Da war nach wie vor dieser wachsame Ausdruck und er behielt mich ständig im Auge. Selbst nachts, wenn er eigentlich schlief, wachte er sofort auf, wenn ich mich auch nur ein kleines Stückchen bewegte – ich hatte die Nachts aufs Klo gemusst, daher wusste ich das. Und das bei einem Mann, den normalerweise nicht mal ein Nebelhorn aufwecken konnte. Wenn das so weiter ging, würde ich in einem halben Jahr immer noch unter einem Mikroskop leben.

„Anwalt. Dann solltet ihr sie wahrscheinlich nicht warten lassen.“ Aziz drückte mir die Schulter. „Viel Glück und sieh zu, dass du wieder auf die Beine kommst. Wir vermissen dich hier.“

„Ich werde mir Mühe geben.“ Oh ja, ich würde dafür sorgen, dass alles wieder in Ordnung kam.

Aziz hob noch einmal die Hand zum Abschied und nahm dann Kurs auf seinen Schreibtisch. Ich schloss mich Reese an, als wir in den hinteren Teil des Gebäudes verschwanden. Hier begegneten wir zum Glück niemanden, der mal ein Blick auf die verrückte Venatorin werfen wollte.

Als wir uns Jilins Büro näherten, hörten wir das leise Murmel von zwei Stimmen. Die eine gehörte unserer Chefin, die andere dem Anwalt, wie ich feststellte, als wir das Büro betraten. Er war ein ziemlich großer und ziemlich dünner Mann mit einer Adlernase, dem sein grauer Anzug mindestens eine Nummer zu groß war.

Sobald die beiden uns bemerkten, erhob der Mann sich und reichte Reese die Hand. „Herr Tack, schön Sie wiederzusehen.“

Reese brummte nur etwas, dass alles und auch nichts bedeuten konnte.

„Und sie müssen Frau Shanks sein.“

Ich nickte und nahm seine Hand. „Ja.“

„Douglas Kern. Freut mich Sie kennenzulernen.“

Hätte ich behauptet, die Freude wäre ganz meinerseits, wäre das eine Lüge gewesen. Wir alle wussten warum wir hier waren und es war kein sehr erfreuliches Thema. Darum nickte ich nur ein weiteres Mal und wagte es erst dann, Jilin ins Gesicht zu schauen.

Sie ließ sich ihre Überraschung, angesichts der Tatsache, dass ich mitgekommen war, nicht anmerken, doch ihre gründliche Musterung meiner Person entging mir nicht. „Dann können wir ja anfangen. Setzt euch hin.“

„Ich stehe lieber“, sagte Reese sofort.

Ich nicht. Auch wenn ich nicht mehr zusammengeklappt war und meine Schwäche sich langsam verflüchtigte, so war ich doch noch immer nicht wieder richtig auf dem Damm, darum ließ ich mich zusammen mit dem Anwalt auf den beiden Stühlen vor dem Schreibtisch nieder. Reese bezog direkt neben mir Stellung, sodass er uns alle im Blick hatte.

Seine Hand fand dabei ihren Weg in meinen Nacken. Ich bekam eine Gänsehaut, als er damit begann mit dem Finger langsam auf und ab zu streifen und war mir dabei nicht sicher, ob er das machte um mich, oder sich zu beruhigen. Vielleicht interpretierte ich da aber auch zu viel hinein und es war einfach nur eine unbewusste Geste.

Der Anwalt, Herr Kern, schaut von Jilin zu mir und blieb dann bei Reese hängen. „Die Situation ist ziemlich ernst. Es gibt zwar immer noch keine klaren Hinweise, die eindeutig beweisen, dass einer von Ihnen, oder sogar Sie beide, an dem Überfall beteiligt waren, aber der Verband glaubt, dass er durch das Wiederauftauchen des einen Iubas genug Indizienbeweise für eine Anklage, beziehungsweise, auch für eine Verurteilung zusammen hat. Erschwerend kommt ihre akute Belastungsreaktion hinzu, Frau Shanks. Man wird es auslegen, als hätten Sie dem Druck durch ihre Tat und deren Folgen nicht mehr länger standgehalten und wären deswegen zusammengebrochen.“

„Aber das stimmt nicht“, widersprach ich sofort. „Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.“

„Wenn das stimmt, könnte da vielleicht ein ärztliches Gutachten weiterhelfen, aber zum Gegenwärtigen Zeitpunkt bin ich mir nicht sicher, in wie weit uns das helfen wird.“

Reese begann mit den Kiefern zu mahlen. „Was können wir tun?“

„Im Moment nicht viel, fürchte ich.“ Frustriert rieb er seine Finger aneinander. „Wenn wir Pech haben, wird man sie in gewisser Weise auch für den Tod von Frau Sieger verantwortlich machen. Natürlich hat keiner von Ihnen beiden geschossen, wozu es zum Glück auch jede Menge Zeigen gibt, aber wenn man Sie für den Überfall verantwortlich macht, könnte man es als Überfall mit Todesfolge auslegen.“

„Fantastisch.“ Reese bewegte sich unruhig.

„Wie sicher ist es, dass es zu einer Anklage kommen wird?“, wollte Jilin wissen.

„Das kann ich im Moment nicht beantworten, da es mehrere Punkte gibt, die noch in der Schwebe hängen. Noch dazu kommt es darauf an, an welchen Staatsanwalt Sie geraten, aber wenn ich eine vorsichtige Schätzung abgeben müsste, würde ich sagen siebzig Prozent.“

Oh Gott, so viel?! „Aber man kann uns doch nicht für etwas verurteilen, was wir gar nicht getan haben.“

„Theoretisch gesehen haben Sie Recht, doch praktisch ist unser Rechtssystem leider nicht perfekt. Das Problem ist Ihre Vorgeschichte, Herr Tack. Sie haben bereits einmal offen zugegeben, Proles verkauft und sich an den Kämpfen beteiligt zu haben.“

„Ich habe mich nie daran beteiligt.“

„Sie haben mit diesen Leuten gehandelt und sie durch ihr Schweigen geschützt.“ Herr Kern öffnete die Hände, als wollte er frage, was Reese glaubte, wie das bei der Anklage ankam.

„Das ist doch scheiße“, knurrte Reese und hatte sichtlich Probleme seine Ruhe zu behalten.

Das war noch milde ausgedrückt. Wir würden wirklich angeklagt werden, und das nur, weil wir zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren.

Natürlich wäre das alles hinfällig, sobald ich Malou drangekriegt hatte, doch was war, wenn ich versagte? „Wenn es zur Anklage kommt und wir verurteilt werden, was erwartet uns?“

„Das kommt darauf an, wer den Vorsitz hat und wie Sie beide sich verhalten.“

„Was meinen Sie damit?“

„Naja, wenn Sie die Schuld eingestehen, wird sich das mildernd auf das Urteil auswirken. Darum ist Herr Tack damals so vergleichsweise milde weggekommen.“

„Und wenn wir es nicht zugeben, oder nur einer die Schuld auf sich nimmt?“

„Dazu müssen wir ihrer beider Vorgeschichte beachten. Herrn Tack würde es in jedem Fall schwerer treffen, da er bereits vorbestraft ist. Auch wenn diese Strafe bereits verbüßt ist, so steht sie doch in seinem Register. Sie dagegen haben bisher eine weiße Weste, wie man so schön sagt. Allerdings wird man in ihrem Fall sowohl das Trauma ihrer Kindheit, als auch ihren aktuellen Zustand berücksichtigen. So wie die Dinge im Moment liegen, ist es nicht unwahrscheinlich, dass man Sie in eine geschlossene Psychiatrie einweist.“

„Wie bitte?“ Ich hatte mich wohl verhört.

„Dieser Gedanke hört sich in ihren Ohren im ersten Moment vermutlich schockierend an, aber wenn man näher darüber nachdenkt, dann wäre das die Option zu der ich tendieren würde. Eine Therapie in der Psychiatrie, bei der die Chance besteht, nach einer gewissen Zeit wieder entlassen zu werden.“ Er richtete seinen Blick auf Reese. „Oder die Gewissheit mindestens zehn Jahre in Haft zu verbringen. Immer vorausgesetzt, einer von Ihnen gibt die Tat zu.“

„Das sind unsere besten Optionen?“ Reese hörte sich nicht nur ungläubig an, er wirkte auch so. „Da muss es doch noch einen anderen Weg geben.“

„Tut mir leid, im Moment sehe ich keinen.“

Das waren nicht nur schlechte Neuigkeiten, das war geradezu eine Katastrophe. Entweder man schloss uns beide weg, oder wenigstens einen und das alles nur wegen mir. Hätte ich nicht darauf bestanden den Transport zu begleiten, wäre nichts von alledem passiert. Reese wurde nur meinetwegen in die ganze Sache mit hineingezogen.

Zum allerersten Mal in meinem Leben wurde mir deutlich bewusst, wie groß der Einfluss meiner Vergangenheit auf mein heutiges Leben hatte. Weil ich nicht loslassen konnte, war nun nicht nur meine Zukunft in Gefahr, mir drohte auch der Verlust des wichtigsten Menschen in meinem Leben. Das konnte ich nicht erlauben. Ich würde Reese für nichts bezahlen lassen, was in meiner Verantwortung lag. „Wenn wir die Schuld eingestehen, wird es nicht so übel werden, oder?“

„Normalerweise nicht, nein.“

Das war so unfair. „Wie lange haben wir Zeit darüber nachzudenken, was wir tun sollten?“ Wie sehr musste ich mich beeilen, um nachzuweisen, dass Malou für all das verantwortlich war?

„Nicht mehr allzu viel. In diesem Moment bereitet man bereits die Anklage vor. Wenn Sie also wirklich auf schuldig plädieren wollen, dann sollten Sie das in den nächsten Tagen tun.“

Tage?! Das war ja noch schlimmer, als ich geglaubt hatte.

Reese reib sich über die Stirn, als würde er Kopfschmerzen bekommen. „Okay, sollte es wirklich so weit kommen, dann mache ich das?“

Ich runzelte die Stirn. „Was machst du?“

„Na was schon? Ich werde sagen, dass ich es getan habe.“

„Was?“ Ich drehte mich auf meinem Stuhl herum, sodass ich ihm direkt ins Gesicht sehen konnte. „Wenn hier jemand den Kopf hinhält, dann werde ich das sein.“ Mich hielten sowieso schon alle für verrückt, mich würden sie höchstens zu einer Therapie verdonnern. Ihn könnten sie in den Knast stecken.

Reese schnaubte. „Bestimmt nicht.“

„Ach nein? Warum nicht? Glaubst du ich packe das nicht?“

„Das habe ich nicht gesagt, aber jeder hat seine Grenzen und deine wurden bereits überschritten.“

„Ach und du kannst natürlich noch etwas zu deinem bereits bestehenden Register gebrauchen.“

Langsam machte sich Verärgerung bei ihm breit. „Im Gegensatz zu dir hängt mein geistiger Zustand nicht schon seit meiner Kindheit an einem seidenen Faden und ich hatte vor kurzem auch keinen Nervenzusammenbruch.“

Das war ein Schlag unter die Gürtelleine. „Du kannst so ein Arschloch sein.“

Seine Lippen wurden etwas schmaler, aber er wich meinem Blick nicht aus. „Die Wahrheit ist nun einmal ein hässliches Miststück und daran wird sich auch nichts ändern, nur weil ich sie in hübsche Worte kleide.“

Nein, würde es nicht, aber wem bitte hätte es geschadet, wenn er das ein wenig einfühlsamer ausgedrückt hätte? Genau, niemanden.

Mit einem schweren Seufzer hockte Reese sich vor mich und legte mir eine Hand aufs Bein. „Du weißt dass ich recht habe, also hör auf dich quer zu stellen. Außerdem ist doch noch gar nichts entschieden, wir diskutieren hier nur eine Möglichkeit.“

„Eine sehr wahrscheinliche Möglichkeit, für den du den Sündenbock spielen willst, obwohl du gar nichts getan hast. Sie könnten dich in den Knast stecken, ist dir das eigentlich klar?“

„Und dich in die geschlossene Abteilung in einer Anstalt, wo sie dich den ganzen Tag unter Beruhigungsmittel setzten. Das wird nicht passieren.“

Seinem eindringlichen Blick hielt ich ohne Probleme stand, aber ich sah ein, dass wir so nicht weiterkamen. Mir hätte gleich klar sein müssen, dass Reese den Märtyrer spielen würde und so wie ich ihn kannte, würde er sich auch nicht mehr davon abbringen lassen. Um ihn zu schützen, würde ich einen anderen Weg einschlagen müssen.

In den letzten Tagen hatte ich angenommen, dass sich in den nächsten Wochen schon eine Gelegenheit ergeben würde, in der ich ihm entwischen konnte, doch mit der drohenden Anklage im Nacken, änderte sich nun alles. Mir blieb also nur noch ein sehr kleines Zeitfenster, ich würde also schon diesen Samstag nach Historia müssen. Das beutete, dass ich spätestens Morgen verschwinden musste und das obwohl ich im Moment absolut keine Ahnung hatte, wie ich das bewerkstelligen sollte.

Nur kein Druck.

 

°°°°°

Kapitel 19

 

Der Rand von Reese' Pizza landete wieder auf seinem Teller und noch während er seinen letzten Bissen herunterschluckte, lehnte er sich auf unserer Couch zurück – Reese mochte den Rand nicht.

„Satt?“

„Hmh.“ Er warf einen Blick auf meinen Teller. Seine war komplett verschwunden, auf meiner lagen noch zwei Stücken.

„Willst du die auch noch?“

„Nein.“

Also hatte er nur überprüfen wollen, wie viel ich gegessen hatte. Ich würde es einfach still hinnehmen, denn es war Freitagabend und darum war es ganz wichtig, dass Reese zufrieden war und gute Laune hatte – naja, was man bei ihm halt unter guter Laune verstand. „Wir haben auch noch Kuchen im Schrank.“

Er zog eine Augenbraue nach oben. „Willst du mich mästen?“

„Nein, höchstens ein bisschen verwöhnen.“ Ich beugte mich zu ihm herüber, gab ihm einen kleinen Kuss auf den Mund und erhob mich dann, um die dreckigen Teller wegzuräumen. „Das hast du dir verdient.“

Sein Blick wurde ein wenig weicher und folgte mir, als ich mit unseren Essensresten in die Küche verschwand.

Während ich die Pizzareste in den Mülleimer verschwinden ließ, ohne Cherry zu erlauben, sich eines davon zu klauen und dann das wenige an Abwasch beseitigte, ging ich in Gedanken noch mal meinen Plan durch.

Nachdem wir gestern wieder zuhause waren, hatte ich lange und intensiv darüber nachgedacht, wie ich es am Besten anstellte, still und heimlich zu verschwinden, ohne dass Reese mich aufhalten konnte. Die Lösung war eigentlich gar nicht so schwer gewesen. Ich musste warten bis er schlief und mich dann klammheimlich aus dem Staub machen. Dabei musste ich dafür sorgen, dass er nicht aufwachte, bevor ich einen Vorsprung hatte, den er nicht mehr aufholen konnte.

Meine erste Idee waren Schlaftabletten, aber davon abgesehen, dass ich meinen Mann nicht mit Medikamenten ausschalten würde – das ging nun wirklich zu weit – hatten wir auch gar keine im Haus. Darum hatte ich eine andere Möglichkeit gewählt. Ich musste dafür Sorgen, dass Reese sich körperlich verausgabte und dann glücklich und zufrieden einschlief. Da er im Moment aber nicht mit mir trainieren gehen würde, gab es nur eines was ich tun konnte: Sex.

Der Gedanke das als Waffe gegen ihn einzusetzen, behagte mir nicht besonders, aber es war schließlich auch zu seinem Besten und sobald er das verstand, würde er es mir sicher verzeihen. Daher hatte ich einen vier-Phasen-Plan ausgearbeitet.

Phase eins: Satt und zufrieden. Es war zwar nur eine Pizza, die ich ihm in den Ofen geschoben hatte, aber Reese mochte Pizza und es wäre vermutlich auch viel auffälliger gewesen, wenn ich ihm ein großes, feierliches Essen zubereitet hätte.

Phase zwei: Wilder, ungezügelter Sex. Ich würde ihn verführen und dafür Sorgen, dass er sich so richtig auspowerte, sodass er hinterher in einen tiefen und erholsamen Schlaf fallen würde. Normalerweise war zwar Reese die treibende Kraft, aber das bedeutete noch lange nicht, dass ich das nicht auch konnte.

Phase drei: Still und leise. Sobald er fest eingeschlafen war, würde ich meine Sachen zusammensuchen. Zu diesem Zweck hatte ich bereits den ganzen Tag immer wieder Kleinigkeiten in eine Reisetasche gepackt, die ich unter dem Bett versteckt hatte. Ich wollte nicht riskieren, dass er vielleicht doch aufwachte und mich dann beim Packen erwischte. Wechselwäsche, Zahnbürste, meinen Laptop – ich würde einige Recherchen zu Malou anstellen müssen, aber das konnte ich nicht tun, solange er in der Nähe war. Das war wohl der schwierigste Teil.

Phase vier: Die Kurve kratzen. Was das bedeutete, bedurfte wohl keiner näheren Erklärung.

Jetzt musste der Plan nur noch gelingen.

Es war wirklich schwer gewesen, mich den ganzen Tag ruhig und gelassen zu geben, während ich eigentlich nur darauf wartete, loszulegen, um die ganze Sache wieder ins Reine zu bringen, doch meiner Meinung nach war mir das ziemlich gut gelungen. Doch nun, wo ich mit meinem Vorhaben bereits begonnen hatte, spürte ich, wie ich ein kleinen wenig nervös wurde.

Es war bereits Wochen her, seit Reese und ich das letzte Mal miteinander geschlafen hatten, eine ungewohnt lange Zeit für uns und auch wenn das hier eine ernste Angelegenheit war, so freute ich mich doch insgeheim über den nächsten Teil meines Plans. Ich vermisste es einfach.

Sobald ich mit dem Abwasch fertig war, verschwand ich noch zu einem kurzen Check ins Badezimmer zum Spiegel. Haare kämmen, zähne putzen. Mein Outfit bestand aus einer grauen Yogahose und einem roten Tanktop, dass ziemlich locker saß. Nicht unbedingt sexy, aber wenn ich mich in einen Mini und Highheels geworfen hätte, wäre das wohl ein wenig auffällig gewesen – nicht dass ich überhaupt einen Mini oder Highheels besaß. Ich sollte wirklich dringend meine Garderobe auffrischen.

Während ich mich selber im Spiegel anstarrte, überlegte ich, was ich noch tun könnte, um wenigstens ein bisschen verführerischer auf ihn zu wirken. Kurzerhand zog ich meinen BH aus. Machte irgendwie keinen großen Unterschied. Egal, besser ging es im Moment eben nicht.

„Du schaffst das“, redete ich meinem Spiegelbild gut zu und verdrängte das aufkeimende schlechte Gewissen in den hintersten Teil meines Bewusstseins. Das konnte ich im Moment nun wirklich nicht gebrauchen. „Na dann mal los.“

Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, hatte Reese sich mit einem Arm hinter dem Kopf auf der Couch ausgestreckt und zappte mit der Fernbedienung gelangweilt und auf der Suche nach etwas Interessantem, von einem Kanals zum nächsten. Über seiner schwarzen Jogginghose war sein weißes T-Shirt ein wenig hochgerutscht und zeigte ein wenig Haut mit einer alten Narbe.

„Weißt du, ich habe nachgedacht“, erklärte ich, als ich zur Couch schlenderte und mich nach kurzem überlegen rittlings auf ihn setzte – hey, der Kerl war riesig und hatte fast die ganze Couch für sich vereinnahmt, irgendwo musste ich schließlich auch sitzen.

„Ach ja?“ Reese zog seine Hand hinter seinem Kopf vor und legte sie mir an die Hüfte. Sein Daumen begann sofort mich zu streicheln – das lief ja schon mal besser, als ich es mir bisher erhofft hatte.

„Hmh.“ Ich beugte mich vor und stützte mich mit den Unterarmen auf seiner Brust ab. Mir entging nicht, dass sein Blick ganz kurz zu meinem Dekolleté wanderte. Aha, es hatte also doch einen Effekt, wenn ich den BH auszog. Das sollte ich mir für die Zukunft merken. „Die Wohnung ist ziemlich klein und da es für Nick sicher blöd wäre auf der Couch zu schlafen, habe ich mir überlegt, dass wir für ihn das Schlafzimmer räumen. Da hat er dann wenigstens ein bisschen Privatsphäre.“

„Und wir schlafen dann wo?“

„Na hier im Wohnzimmer.“

„Das heißt also, statt eine Person auf die Couch zu verbannen, möchtest du zwei Personen dazu verdonnern.“

Na wenn er das so ausdrückte. „Wir könnten das Bett hier in die Ecke stellen, wenn wir die Komode ins Schlafzimmer tun. Das wäre dann hier unser neues Schlafzimmer.“

„Wir könnten auch einfach hier ein Bett für Nick reinstellen.“

„Aber wir sind ständig in diesem Raum.“ Naja, zumindest wenn wir Zuhause waren.

Reese ließ nicht erkennen, was in seinem Kopf vorging, als er mein Gesicht musterte. „Womit hab ich dich nur verdient?“

„Du warst ein böser Junge.“

Eines von seinen seltenen Lächeln erschien auf seinen Lippen. Ich liebte dieses Lächeln. Und wo er nun scheinbar gute Laune hatte, entschied ich, dass es Zeit war zum Angriff überzugehen.

Ich beugte mich zu ihm runter und überwand das letzte Stück, dass uns noch trennte. Reese ließ sich natürlich nicht lange bitten, als ich ihn küsste, doch an seiner Reaktion merkte ich, dass er nur mit einem kleinen Küssen gerechnet hatte und nicht damit, dass ich das hier zu einer ausgiebigen Knutscherei machen wollte – für den Anfang. Er brauchte jedoch nicht lange um umzuschalten und aus dem anfänglich keuchen Kuss, wurde schnell etwas weitaus intensiveres mit Gänsehautpotential.

Oh Gott, wie sehr ich es vermisst hatte ihm so nahe zu sein, wurde mir erst in diesem Moment wirklich bewusst. Wir waren beide zwei ziemlich temperamentvolle Menschen, weswegen bei uns auch häufiger mal die Fetzen flogen, aber auf dieser Ebene hatten wir vom ersten Moment einfach perfekt zusammengepasst.

Ich rutschte ein wenig höher, ließ den Kuss noch drängender werden und spürte wie etwas tief in mir dorthin zurückfand, wohin es gehörte. Ich liebte diesen Mann, ich liebte ihn mit all seinen Macken und Launen und ich würde es nicht erlauben, dass irgendwer ihm Schaden zufügte.

Als plötzlich etwas klapperte und ich gleich darauf spürte, wie er mit seine Hand meinen Oberschenken hinauf strich, hatte ich den Verdacht, dass er gerade einfach die Fernbedienung hatte auf den Boden fallen lassen. Das entlockte mir ein kleines Lächeln. Offensichtlich hatte er das hier mindestens genauso vermisst wie ich.

Er bewegte sich unter mir, um sich ein wenig bequemer hinzulegen und zog mich dann noch enger an seine Brust. Seine Hände strichen langsam über meinen Körper, aber seltsamerweise war das alles, was er tat. Er versuchte weder mir an die Wäsche zu gehen, noch Stellen zu berühren, an denen ich so gerne berührt werden wollte. Dabei spürte ich unter mir eindeutig, was unsere kleine Liaison für Auswirkungen auf ihn hatte. Vielleicht wollte er mich nach allem was geschehen war einfach nicht bedrängen. Nun gut, dann würde ich das eben übernehmen und ihm zeigen müssen, dass ich es guthieß, wenn er anfing aufdringlich zu werden.

Ohne den Kuss zu unterbrechen, erhob ich mich ein wenig. Dann ließ ich sehr langsam die Hand über seine Brust gleiten. Tiefer und immer tiefer, bis ich den Bund seiner Hose erreichte. Aber da ich mir Zeit lassen wollte, schlüpfte ich nicht hinunter. Erstmal wollte ich ihn noch ein wenig reizen. Als wanderte meine Hand noch ein bisschen weiter nach unten, bis ich mein Ziel fand. Doch in dem Moment als ich meine Finger um ihn schloss, schoss seine Hand zwischen uns und packte mich so fest am Handgelenk, dass ich meine Hand nicht mehr bewegen konnte.

Irritiert unterbrach ich den Kuss. „Was ist?“

Einen Moment schaute er mich einfach nur an und seufzte dann ganz leise. „Das sollten wir besser lassen.“

„Was?“ Verwundert setzte ich mich auf und sobald ich an meiner Hand zog, ließ er sie auch los. „Warum?“

Seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Er wich meinem Blick nicht aus, aber er schien mir nicht antworten zu wollen und in dem Moment wurde es mir klar. Er hatte sich nicht zurückgehalten, weil er fürchtete ich könnte mich bedrängt fühlen, sondern weil er mich nicht wollte.

Es war nicht so, dass er mich noch nie zurückgewiesen hatte. Auch ich hatte schon nein gesagt, weil ich keine Lust, oder keine Zeit hatte. Aber dieses Mal machte er das nicht, weil er kein Interesse hätte – oh, Interesse hatte er eindeutig das konnte er nicht verbergen – er tat es, aus einem ganz anderen Grund. „Du willst keinen Sex mit einer durchgeknallten Irren.“

„Das ist es nicht“, widersprach er sofort.

„Ach nein? Na dann, lass uns weiter machen.“ Ich beugte mich vor, aber er hielt mich sofort auf. Klar, die Stimmung war dahin, aber darum ging er hier jetzt auch nicht mehr. „Das ist es also nicht, ja?“ Wut, Frustration und eine riesige Portion Enttäuschung brachen über mich zusammen. Ich stieg so schnell von ihm herunter, dass ich mir das Bein auch noch am Tisch stieß. Es tat weit weniger weh, als der Grund, warum er mich nicht wollte.

„Shanks.“ Auch Reese erhob sich eilig, doch als er nach mir greifen wollte, wich ich sofort vor ihm zurück.

„Ich fasse es nicht. Um das schmutzige Geschirr zu spülen und deine dreckige Wäsche zu waschen, bin ich noch gut genug, aber das hier?“ Ich zeigte von ihm zu mir. „Das geht nicht. Ich bin jetzt beschädigte Ware, sowas will keiner.“

„Du redest Müll. Und du weißt ganz genau, dass ich dich nie gebeten habe irgendwas sauber zu machen. Mich würde es auch nicht stören, wenn wir in einem Saustall leben würden.“

Mir fiel sehr wohl auf, dass er auf den Teil mit der beschädigten Ware nicht einging. Es fühlte sich an, als wenn mir jemand einen glühenden Dolch ins Herz rammen würde. „Spar dir deine Ausflüchte, ich habe es kapiert. Und keine Sorge, ich werde dir sicher nicht noch mal auf die Pelle rücken.“ Mit einer ruckartigen Bewegung drehte ich mich herum und verließ den Raum.

„Wirst du wohl aufhören, ständig vor mir wegzulaufen“, knurrte er mir hinterher, ohne sich abhängen zu lassen.

Ich wusste nicht wohin ich gehen sollte. Ins Schlafzimmer, wo das Bett stand? Sicher nicht. Meine Beine trugen mich einfach in die Küche.

„Verdammt, Shanks!“ Er marschierte in die Küche, während ich gerade nach dem Lappen am Spülbecken griff und anfing die Schränke zu putzen. Nicht das sie dreckig waren, aber ich musste etwas tun, mich ablenken, meine Gedanken in eine andere Richtung wenden. Reese jedoch sah das ganz anders. Er schnappte mich beim Arm und drehte mich herum, sodass mir gar nichts anderes übrig blieb, als ich anzusehen. „Kannst du mir jetzt mal zuhören?!“

„Oh, ich brauche dir nicht zuhören, ich weiß schon was jetzt kommt: Es liegt nicht an dir, es liegt an mir. Oder: Das ist nur zu deinem Besten. Nein warte, jetzt habe ich es: Du bist noch nicht bereit für diesen Schritt, erst müssen wir die Schraube festziehen, die sich in deinem Kopf gelockert hat. Na, wie nahe bin ich dran?“

Er funkelte mich an. „Du laberst einen dermaßen großen Schwachsinn, dass ich gar nicht weiß wo ich anfangen soll.“

„Schwachsinn, dass ist gut. Ich bin schwachsinnig, völlig gaga, durchgeknallt, irre, außerhalb der Norm, nicht mehr klar bei Verstand. Einfach viel zu labil, um normal zu sein.“

„Ich habe nie etwas dergleichen gesagt.“

Ich beachtete ihn gar nicht. Meine Wut hatte Oberhand gewonnen und nun begann ich mich in Rage zu reden. „Aber das kennst du ja schon, nicht wahr? Ist ja nicht das erste mal, dass dir sowas passiert.“

„Was?“

„Du hast ja schon dein ganzes Leben mit Leuten zu tun, die nicht mehr ganz zurechnungsfähig sind.“

In seinem Gesicht veränderte sich etwas. Es war nur eine Kleinigkeit und daher sehr einfach zu ignorieren.

„Erst deine Mutter, dann dein Bruder und jetzt ich. Alle in deinem Umfeld werden verrückt!“

„Shanks, hör auf.“

„Oh mein Gott, das ist es! Es liegt nicht an uns, es liegt an dir. Du machst uns alle wahnsinnig! Und was passiert jetzt? Wirst du mich auch in irgendeine Einrichtung abschieben und mich nur einmal die Woche besuchen, um nicht zu oft daran erinnert zu werden, was aus mir geworden …“

„Du sollst verdammt noch mal damit aufhören!“, brüllte er mir direkt ins Gesicht und brachte mich damit sehr wirksam zum Verstummen.

Es war nicht das erste Mal, dass es mir gegenüber die Stimme erhoben hatte – bei Weitem nicht – aber er hatte mich noch nie auf diese Art angebrüllt. So als meinte er es wirklich ernst, oder könnte es einfach nicht ertragen, nur noch ein weiteres Wort aus meinem Mund zu hören.

Mit einem Mal fühlte ich mich noch schlechter. Es war einfach nur fies von mir, diese Schwachstelle auszunutzen, um ihn genauso zu verletzten, wie er es gerade mit mir getan hatte. Aber ich wollte meine Worte auch nicht zurück nehmen. Ich wollte, dass er fühlte, was ich die ganze letzte Zeit gefühlt hatte und verstand, wie sehr er mir wehgetan hatte.

Er stand da, mit mahlendem Kiefer und geballten Fäusten und ließ mich keinen Moment aus den Augen. Vielleicht befürchtete er ja, ich würde ihn einfach anspringen.

Peinlich berührt wandte ich das Gesicht ab. Auf einmal wollte ich nur noch raus hier. Die Atmosphäre war einfach nur bedrückend und beengend. Ich konnte mich nicht daran erinnert, dass wir uns schon jemals auf diesem erniedrigenden Niveau gestritten hätten. Und nun schienen wir beide nicht mehr zu wissen, was wir sagen oder tun sollten.

Ich schloss die Augen und als ich sie wieder öffnete, sah ich meine Möglichkeit dieser Situation zu entkommen.

Energisch warf ich den Lappen zurück ins Waschbecken und ging zum Mülleimer hinüber. Meine Bewegungen waren ruckartig und verkrampft und in meinem Bemühen die Mülltüte aus dem Eimer zu bekommen, zerriss ich sie fast.

„Was machst du da?“

„Wonach sieht es denn aus?“, fragte ich schnippisch. „Ich werde den Müll rausbringen. Für die Hausarbeit bin ich schließlich noch gut genug, oder reicht mein geistiger Zustand dafür jetzt auch nicht mehr?“

Seine Lippen wurden dünn, als er seinen Kiefer krampfhaft aufeinander drückte. „Ich habe nie auch nur angedeutet, dass ich dich für verrückt oder labil halte.“

„Doch hast du, gerade eben auf der Couch. Und klarer hättest du dich kaum ausdrücken können.“ Zusammen mit meinem verletzten Stolz und dem Schmerz wegen seiner Zurückweisung, ging ich hinaus in den Flur, wo ich in meine Schuhe schlüpfte und mir meine Schlüssel nahm. Ich schaute nicht zurück, als ich die Wohnung verließ und den ganzen Weg in den Hinterhof zu den Mülltonnen, fühlte ich mich einfach nur gedemütigt.

Das hatte Malou mir jetzt also auch noch genommen, mein Freund wollte mich nicht mehr anfassen. Ich hätte nicht gedacht, dass das so wehtun könnte.

Wütend stopfte ich die Mülltüte in die Tonne, knallte dann den Deckel zu und trat auch noch einmal dagegen, einfach weil mir in diesem Moment danach war. Dann schlang ich die Arme um mich selber und stand einfach nur da. Ich wollte weinen, schreien und um mich schlagen, aber nichts davon würde mich ihm wieder näher bringen. Reese wollte mich nicht mehr und das tat einfach nur weh.

Als die Enttäuschung begann in mir Wurzeln zu schlagen, drehte ich mich herum, um ins Haus zurückzukehren. Es war reiner Zufall, dass ich in dem Moment zu unser Wohnzimmerfenster nach oben schaute und ihn dort bemerkte, wie er mich beachtete.

Fast hätte ich gelacht, nicht mal jetzt konnte er mich aus den Augen lassen.

Erst als dieser Gedanke durch meinen Kopf schwebte, ging mir auf, dass sich durch seine Zurückweisung nun ein ganz anderes Problem aufgetan hatte. Auch wenn es in Anbetracht dessen was gerade passiert war völlig unbedeutend schien, so war das Ziel der ganzen Sache doch gewesen, dass ich mich heimlich aus dem Staub machen konnte.

Das konnte ich dann ja jetzt wohl vergessen.

Vielleicht sollte ich einfach wieder ins Bett zurückkriechen und damit anfangen auf meinen Laptop zu starren. Es schien für ihn ja keinen großen Unterschied zu machen, ob ich geistig anwesend war oder nicht.

Du wirst dich jetzt nicht in Selbstmitleid stürzen. Dann ist er eben ein Blödmann, na und? Du kannst ihn trotzdem nicht mit der ganzen Scheiße im Stich lassen. Nein, das konnte ich nicht. Es war egal wie sehr er mich gerade verletzt hatte, ich konnte nicht zulassen, dass er für etwas den Kopf hinhielt, das eine wirklich durchgeknallte Irre verbrochen hatte. Nur wie sollte ich das anstellen?

Ich wandte den Blick von Reese ab und ging zurück ins Haus. Vermutlich wäre es am einfachsten, wenn ich die Situation einfach nutzen würde. Im Moment würde ich sowieso nichts lieber tun als einfach zu verschwinden. Ich konnte den Streit als Grund nehmen und behaupten, ich würde zu Eve gehen und erstmal bei ihr bleiben, weil ich Abstand brauchte. Zwar musste ich meine Sachen dann hierlassen, weil es vielleicht doch ein wenig auffällig wäre, wenn ich eine gepackte Reisetasche unter dem Bett hervorzog, aber ich hatte ja immer noch mein Portemonnaie. Dann musste ich eben in den sauen Apfel beißen und mir die nötigen Sachen neu kaufen. Es war immer noch besser, als zuzusehen, wie er in den Knast ging. Seine Zurückweisung zu verkraften, tat schon weh, aber ihn ganz zu verlieren? Da wäre der nächste Nervenzusammenbruch schon vorprogrammiert.

Sobald ich wieder in die Wohnung trat, versuchte ich in meiner Kränkung neue Kraft für die bevorstehende Schlacht zu finden. Das hörte sich vielleicht ein wenig melodramatisch an, aber ich war mir sicher, dass Reese mich nicht so ohne Weiteres ziehen lassen würde.

Er wartete bereits an der Tür zum Wohnzimmer. „Hast du dich ein wenig beruhigt?“

Ob ich mich … dafür bekam er einen so finsteren Blick, dass er eigentlich hätte schreiend davonlaufen müssen. Aber sowas tat Reese natürlich nicht. Er beobachtete nur mit gerunzelter Stirn, wie ich mir erst meinen Schal um den Hals wickelte und mir dann meine Jacke aus der Garderobe nahm.

„Was wird das, wenn es fertig ist?“

„Denk mal scharf nach, dann kommst du sicher von alleine drauf!“, fauchte ich ihn an und griff in meine Tasche, um zu überprüfen, ob ich auch mein Portemonnaie hatte. Mein Handy würde ich nicht brauchen, das konnte also hier bleiben.

„Wo willst du hin, es ist mitten in der Nacht?“

„Zu Eve, die hält mich wenigstens nicht für völlig bekloppt.“ Diese Aussage war nicht mal eine Lüge. Ich steckte mein Handy zurück in die Jacke und wandte mich der Tür zu. Gleich war ich hier raus, ich musste nur noch …

Reese schoss so schnell durch den Flur, dass er mich noch am Jackenärmel erwischte, bevor ich die Türklinke berühren konnte.

Ich riss mich sofort von ihm los. „Lass deine verdammten Finger von mir!“

„Du wirst jetzt nicht einfach verschwinden.“

„Und ob ich das werde, schau hin.“ Wieder griff ich nach der Tür und dieses Mal schaffte ich es sogar sie ein Stück zu öffnen, doch Reese machte einfach einen Satz nach vorne und schlug sie wieder zu.

„Du bleibst hier.“

„Das hast du nicht zu entscheiden. Ich bin eine erwachsene Frau und du hast mir gar nicht zu sagen, denn so weit ich weiß, bin ich bisher noch nicht entmündigt worden, also verschwinde einfach!“ Ich versuchte seinen Arme wegzuschlagen, weswegen er wieder meinen Ärmel packte und mich zur Seite riss.

„Hör auf damit!“

„Warum sollte ich? Ich will hier raus, also mach verdammt noch mal den Weg frei!“ Ich stieß ihn so hart gegen die Brust, dass er einen Schritt zurückstolperte, denn ich wollte nur noch hier raus. Nicht nur wegen dem was ich vorhatte, in erster Linie wollte ich weg von ihm und irgendwo hin, um meine Wunden zu lecken, doch ich schaffte es nicht mal die Tür zu berühren, da hatte er mich schon an der Jacke gepackt und mit dem Rücken gegen die Wand geschubst.

Es tat nicht weh, einen Moment war ich einfach überrascht, weil ich damit absolut nicht gerechnet hätte und Reese nutzte das sofort aus. Er schnappte sich meine Handgelenke, drückte sie neben meinem Kopf an die Wand und drängte sich so gegen mich, dass er mich mit seinem Körper an der Wand einklemmte. Es entstand ein kleines Handgemenge.

„Hörst du jetzt auf gegen mich zu kämpfen, ich bin nicht dein Feind!“, fauchte er mich an. Auch mit seiner Ruhe war es nun vorbei.

„Es ist mir egal wer du bist, du sollst mich nur einfach gehen lassen!“ Damit ich endlich vor ihm und dieser Erniedrigung fliehen konnte. Aber er ließ nicht locker. Egal wie sehr ich mich auch gegen ihn wehrte, er hatte meinen Bewegungsspielraum so stark eingeschränkt, dass alle meine Versuche vergebene Mühe waren.

„Glaubst du wirklich, ich lasse dich im Dunkeln einfach kopflos zur Tür hinausrennen und nehme es in Kauf, dass dir etwas passiert?!“

„Das kann dir doch egal sein!“, spie ich ihm ins Gesicht. Am Liebsten hätte ich ihn geschlagen. Hätte er mich nicht festgehalten, hätte ich es vielleicht auch getan. „Du willst mich ja eh nicht mehr!“

„Hör endlich mit diesem Scheiß auf, das ist nicht wahr!“

„Natürlich ist es das!“ Ich versuchte ein Hohlkreuz zu machen und mich mit einem Ruck von der Wand wegzustemmen, doch Reese drängte sich einfach fester gegen mich. Sein Gesicht war direkt vor meinem und er war sauer, richtig sauer.

„Ich habe nicht nein gesagt, weil ich dich nicht will, verdammt, aber dein Arzt hat gesagt, du sollst dich nicht zu sehr anstrengen, du brauchst Ruhe und Erholung, damit es dir besser geht!“

„Oh ja, fantastisch! Der Mensch der mir auf der ganzen Welt am meisten bedeutet, weißt mich eiskalt zurück, da geht es mir gleich viel besser!“, erwiderte ich giftig. „Und jetzt lass mich verdammt noch mal los!“

„Und dabei zuschauen wie du einfach abhaust? Du spinnst wohl!“

„Das zumindest behaupten im Moment alle um mich herum!“

Sein Kiefer begann angestrengt zu mahlen. „Das habe ich damit nicht gemeint und das weißt du ganz genau.“

„Ist doch scheiß egal wie du es gemeint hast! Ich will weg von dir, kapierst du das nicht? Ich will dass du deine Flossen von mir nimmst und mich in Ruhe lässt!“

„Ach ja, und was dann? Das letzte Mal als ich dich auf deinen Wunsch hin in Ruhe gelassen habe, hattest du am Ende einen Nervenzusammenbruch. Glaubst du das riskiere ich noch mal?!“

„Und wenn schon! Dann hast du wenigstens einen Grund mich einweisen zu lassen und bist all deine Probleme mit einem Schlag los!“

Frustriert biss er die Zähne zusammen. Wir waren beide wütend und wenn es so weiter ging, würden wir noch anfangen uns gegenseitig zu zerfleischen.

„Ach scheiß drauf“, knurrte er plötzlich und tat das, was er in solch extrem emotionalen Momenten immer tat. Auf der Suche nach ein Stück heiler Welt, überwand er die kurze Distanz zwischen uns und er küsste mich. Nicht zärtlich und sanft, nein, drängend, auf der Suche nach ein wenig Normalität. Doch heute war ich nicht seine heile Welt, ich war verzweifelt und unglaublich wütend auf ihn und diesen ganzen Zustand meines Lebens. So tat ich etwas, dass ich bisher noch nie getan hatte, ich biss ihn – ernsthaft.

Er zischte vor Schmerz und riss den Kopf mit einem Fluch auf der Zunge zurück. Das bedrohliche Funkeln in seinen Augen wurde dunkler. An seiner Lippe war eine kleine, blutende Wunde. Seine Zunge tippte vorsichtig dagegen. „Du hast mich gebissen.“

Reese, der Meister des Offensichtlichen.

„Und wenn du das nochmal machst, werde ich es wieder tun“, drohte ich.

Etwas in seinem Ausdruck veränderte sich. Mit einem Mal wirkte er geradezu entschlossen und noch bevor ich mir darauf einen Reim machen konnte, bog er mir meine Arme plötzlich auf den Rücken.

„Verdammt noch mal, was soll das? Lass mich los!“

„Nein.“ Er schob meine Arme so hin, dass er sie mit einer Hand festhalten konnte und drängte sich dann wieder gegen mich, sodass sie zusätzlich zwischen mir und der Wand eingeklemmt waren. Dann zog er mir den Schal vom Hals und ließ ihn ohne große Beachtung einfach auf den Boden fallen, bevor er mit der freien Hand mein Kinn packte und hielt es so fest, dass ich den Kopf nicht mehr drehen konnte.

Mit einem Mal beschleunigte sich nicht nur mein Puls, auch mein Atem wurde schwerer. „Was machst du?“

Statt zu antworten, schaute er mir nur sehr intensiv in die Augen, bevor er meinen Kopf zur Seite drehte und mir einen federleichten Kuss auf die Halsbeuge hauchte. Diese Berührung stand in so krassem Gegensatz zu der Art wie er mich festhielt, dass ich das Echo davon tief in mir spüren konnte.

Ich versuchte mich mit einer ruckartigen Bewegung gegen ihn zu wehren, doch er presste sich nur noch fester gegen mich und hauchte einen zweiten Kuss auf meine Hals, dieses Mal ein wenig hör.

„Hör auf damit!“

„Warum?“ Der dritte Kuss landete knapp unterhalb meines rechten Ohrs. „Du wolltest doch einen Beweis dafür, dass du im Unrecht bist.“

„Ich habe meine Meinung geändert!“

„Zu spät.“

In diesen zwei Worten lag ein so intimes Versprechen, das mich ein heißer Schauder überlief. Oh Gott, wie konnte er das ausgerechnet jetzt tun? Und warum reagierte dieses verräterische Miststück von Körper auch noch darauf? Ich war verdammt noch mal sauer auf ihn!

Seine Lippen streiften mein Ohrläppchen, bevor seine Zähne mich dort vorsichtig zwickten. „Wenn du mich noch mal beißt, dann beiße ich zurück. Nur so als keine Warnung.“

Warum klopfte mein Herz bei dieser Drohung vor Erwartung einen Tick schneller?

Langsam fuhren seine Lippen an meinem Kiefer entlang. Ich spürte seinen warmen Atem auf meiner Haut und wusste ehrlich gesagt nicht was ich tun sollte, als er meinen Kopf wieder so hindrehte, dass ich ihm in die Augen sehen konnte. Das war genau das was ich gewollt hatte, aber nachdem der ganzen Scheiße in den letzten zwanzig Minuten, sollte ich Zeter und Mordio schreien und ihn von mir stoßen – so fern mir das möglich gewesen wäre.

Vorsichtig strich er mit seinen Lippen über meine und schickte damit ein Kribbeln in jede Region meines Körpers. „Tu das nicht“, versuchte ich es in einem letzten Bemühen meines Widerstands.

Er hielt meinen Blick so fest, dass ich mir darin schon beinahe gefangen vorkam. „Ich liebe dich.“

Damit hatte er diese Schlacht für sich gewonnen. Ich konnte an einer Hand abzählen, wie oft er das zu mir gesagt hatte.

Als er seine Lippen dieses Mal auf meinen Mund drückte, ergab ich mich nicht nur, ich erwiderte seinen Kuss auch so stürmisch, dass er keinen Zweifel mehr daran hatte, dass ich das hier auch wollte. Ich schmeckte Blut und einen Moment schämte ich mich dafür, ihn so fest gebissen zu haben.

Keiner von uns beiden war allzu sanft zu dem anderen. Es war als suchten wir bei dem anderen verzweifelt nach etwas, das uns langsam drohte zu entgleiten.

Nur zögernd, als traute er der Sache noch nicht ganz, gab er mein Kinn frei und als er feststellte, dass ich mich noch immer nicht wehrte, wurde der Kuss sogar noch intensiver. Seine Hand glitt meinen Hals hinab, streifte mein Schlüsselbein und wölbte sich gleich darauf um meine Brust. Das Gefühl schlug ein wie ein Blitzt. Zwar trug ich noch immer mein Top, doch der Stoff war so dünn, dass es kaum einen Unterschied machte. Es war als würde er direkt meine Haut berühren und die Gefühle wecken, die nur er in mir auslösen konnte.

Ich zog an meinem Arm, denn ich wollte nicht tatenlos dastehen, doch bei der kleinsten Bewegung wurde sein Griff sofort fester. „Lass ich los“, verlangte ich.

„Nein“, knurrte er in einem so tiefen Ton, dass ich die Vibration praktisch spürte. Dann verschloss er meinen Mund wieder mit seinem und küsste mich, bis ich kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte.

Als er auf einmal von meiner Brust abließ, hätte ich vor Frust fast laut gestöhnt, doch dann schlüpfte seine Hand unter mein Top und hatte ich geglaubt, es machte kaum einen Unterschied, wenn der dünne Stoff dazwischen war, so wurde ich nun eines besseren belehrt. Ich schnappte nicht nur hörbar nach Luft, als er mich drängender reizte, ich stöhnte auch ungeniert. Das spürte ich in jeder Zelle meines Körpers.

„Mach das noch mal“, forderte er mich auf und als ich es nicht tat, kniff er mich leicht in die empfindliche Spitze, sodass mir gar nichts anderes übrig blieb.

Wieder zog ich an meinen Händen, doch er schien nicht vorzuhaben mich in absehbarer Zeit loszulassen. Eigentlich hätte ich mich in die Enge getrieben fühlen müssen, weil ich ihm im Moment so völlig hilflos ausgeliefert war. Als Nick mich einmal auf eine ähnliche Art bedrängt hatte, hatte ich sogar Angst gehabt. Aber bei Reese? Gott, von diesem Mann würde ich vermutlich niemals genug haben, ganz egal was er mit mir anstellte.

Vor allen Dingen aber war es ein Gefühl von Sicherheit, das ich bei keinem anderen Menschen jemals so gefühlt hatte. Ich wusste einfach, dass er mir niemals absichtlich ein Leid zufügen würde und gerade in solchen Momenten schien er ein Radar zu besitzen, das ihm genau sagte, wie weit er gehen konnte – selbst wenn ich vorher vor Enttäuschung noch eine Stinkwut auf ihn gehabt hatte.

Als ich wieder an meinen Händen zog, einfach weil ich ihn auch berühren wollte, ließ er seine Hand an mir hinab wandern und schlüpfte mit ihr direkt unter den Bund meiner Hose, um mich an meiner intimsten Stelle zu berühren.

Meine Medulla oblongata vergaß für einen Moment die Synapsen zu aktivieren, die zum Atmen nötig waren. Miene Augen schlossen sich, damit ich dieses Gefühl noch intensiver wahrnehmen konnte. „Oh Gott.“ Das fühlte sich so gut an.

Sein Atem strich über mein Gesicht. „Das gefällt dir, nicht wahr?“

Und ob! „Noch besser würde es mir gefallen … oh!“ Egal was er da mit seinem Finger tat, es schnitt mir buchstäblich das Wort ab.

„Ja?“

In einem erneuten Versuch frei zu kommen, zog ich wieder an meinen Armen. „Lass mich los.“

„Du willst was tun?“

„Ja.“

Natürlich bedeutete das noch lange nicht, dass er mich deswegen losließ, jedenfalls nicht so wie ich mir das vorgestellt hatte. „Wie du willst.“ Langsam zog er die Hand wieder aus meiner Hose, was mich dazu bewog die Augen aufzuschlagen. Dass er ausgerechnet jetzt aufhörte, fand ich nicht besonders lustig. Es hatte sich gerade so gut angefühlt. Dann vergrub er auch noch seine Hand in meinen Haaren und zog meinen Kopf leicht nach hinten, um mir einen fast schon groben Kuss zu geben.

Ich wollte mich gerade darüber beschweren, dass er mich noch immer festhielt, da gab er meine Hände endlich frei, griff aber gleichzeitig nach meiner Schulter, um mich auf die Knie zu drücken. Das war zwar nicht ganz das was ich gemeint hatte, aber ich, aber allein der Gedanke war reizvoll genug, um widerstandslos nachzugeben.

Erst als ich vor ihm kniete, ließ er mich ganz los, aber nur um sich das T-Shirt auszuziehen und es achtlos zur Seite zu werfen.

Ich ließ mich nicht lange bitten und griff noch während er beschäftigt war nach seiner Hose, um sie ihm über die Hüfte zu streichen, mein Ziel direkt vor Augen – wortwörtlich.

Mit einem Lächeln auf den Lippen, schaute ich zu ihm nach oben, als ich meine Hand fest um ihn schloss. Ich liebte es sein Minenspiel dabei zu beobachten und wenn ich ganz ehrlich war, musste ich zugeben, dass mich das durchaus anmachte.

Er ließ mich genauso wenig aus den Augen und als ich meine Hand leicht bewegte, öffnete sich sein Mund einen Spalt. Sein Atem wurde deutlich schneller. „Komm schon Shanks“, murmelte er und schob seine Hand wieder in meine Haare. „Du weißt was ich will.“

Natürlich wusste ich das und auch wenn es ein Vergnügen wäre, ihn noch ein wenig weiter auf die Folter zu spannen, beugte ich mich vor und schloss meinen Mund auf ihn. Die Reaktion kam prompt. Sein Griff in meinem Haar wurde ein wenig fester, der Mund öffnete sich etwas weiter und nach einem kurzen Moment stützte er sich mit der freien Hand sogar an der Wand ab. Doch die beste Reaktion war das Geräusch das er von sich gab. Es war ein tolles Gefühl, diese Art von Macht über diesen Mann zu haben.

Als Reese anfing meinen Bewegungen entgegen zu kommen, packte ich ihn an den Hüften, um ihn unter Kontrolle zu halten. Ich reizte und liebkoste ihn, bis er mit einem leisen Stöhnen die Augen zuschloss. Seine Hand grub sich so fest in mein Haar, dass es fast schmerzte, doch ich genoss das Gefühl, denn es zeigte mir, dass er kurz davor war seine Selbstbeherrschung einfach fahren zu lassen.

Ich widmete mich diesem Spiel eine ganze Weile, achtete dabei aber sorgsam darauf, ihn nicht über die Grenze zu treiben. Doch mit der Zeit wurde es reichlich unbequem, auf dem harten Holzboden zu knien, als beschloss ich die Sache an einen bequemeren Ort zu verlegen.

Wortlos entließ ich ihn aus meinem Mund und genoss es einen herrlichen Moment einfach, wie er schwer atmend über mir aufragte.

Als ich dann auch noch meine Hände wegnahm und etwas von ihm wegrutschte, sodass er mein Haar loslassen musste, schlug er irritiert die Augen auf. Er sagte nichts, als ich mich erhob und von ihm wegtrat. Wahrscheinlich befürchtete er einen Moment, dass ich ihn einfach stehen lassen würde, um mich für die Aktion von vorhin zu revanchieren, aber damit lag er komplett daneben.

Langsam und ohne ihn aus den Augen zu lassen, bewegte ich mich rückwärts von ihm weg und zog dabei meine Jacke aus. Ich ließ sie einfach auf den Boden fallen. Als ich dann nach dem Saum meines Tops griff, lächelte ich ihn an, bevor ich es mir in einer Bewegung über den Kopf zog. Auch dass ließ ich einfach fallen und genoss es, wie seine Pupillen sich ein wenig erweiterten.

Die Hose war locker genug, dass ich sie mir nur über die Hüften streifen brauchte, damit sie an meinen Beinen hinunterrutschen konnte. Mein Slip folgte und damit waren alle Barrieren beseitigt.

Mit einem einladenden Blick wandte ich mich zur offenen Schlafzimmertür um. „Ich warte auf dich, Hellboy“, sagte ich verspielt und trat durch die Tür.

Sobald ich außer Sichtweite war, machte ich einen Satz ins Bett und drehte mich eilig auf den Rücken, um mich in eine, wie ich hoffte, sexy Pose zu werfen. Meine Haare landeten dabei nicht besonders attraktiv in meinem Mund und irgendwas bohrte sich unangenehm in meinem Rücken. Ich spukte meine Haare aus und als ich nach dem störenden Gegenstand griff, stellte ich fest, dass es eine von Cherrys Spielzeugmäusen war. Ja genau, die war ganz wichtig im Bett.

Eilig warf ich sie weg und streckte mich dann gerade rechtzeitig wieder aus, um noch zu sehen, wie Reese im Türrahmen erschien. Auch er hatte sich seiner restlichen Klamotten entledigt.

Bei meinem Anblick blieb er einen Moment stehen und schien die Aussicht zu genießen.

„Gefällt dir was du siehst?“, fragte ich ihn neckend und fuhr einladend mit meinen Fingern über meinen Körper.

Statt zu antworten, trat er einfach nur an Bett und beobachtete mich eine Weile.

Okay, er wollte also eine Show? Die konnte ich ihm liefern. Ich schloss meine Augen und begann meine eigenen Berührungen zu genießen.

Früher hätte ich mich niemals getraut sowas vor den Augen eines anderen zu tun, doch die Jahre mit Reese hatten mir zumindest bei ihm so gut wie alle Hemmungen geraubt und ehrlich gesagt fand ich das auch erregend, ihn dabei zuschauen zu lassen. Es war einfach tolles Gefühl zu wissen, dass ihm das gefiel.

Als ein besonders intensives Gefühl in mich hineinfuhr, gab ich ein leises Stöhnen von mir. Die Matratze neben mir senkte sich und gleich darauf spürte ich Reese Hand auf meinem Bauch, die langsam nach unten glitt.

Ich lächelte, ließ die Augen aber geschlossen und genoss es einfach nur, als seine Lippen sich auf mich senkten und mit zarten Liebkosungen begannen meinen Körper zu kosten. Bauch, Rippenbogen, Brust. Oh Gott, das Gefühl war so herrlich.

Die Matratze senkte sich noch ein wenig, als er sich neben mir ausstreckte und so dicht an mich drängte, dass er halb auf mir drauf lag. Er zog mich an sich und suchte meinen Mund für einen weiteren intensiven Kuss, der meine Gedanken benebelte.

Um ihn noch näher zu kommen, drehte ich mich auf die Seite und schlang ein Bein um seine Hüfte. Er gab ein tiefes Grollen von sich, als ich mich so an ihn drängte.

Plötzlich packte er mich und drehte sich mit mir so herum, dass ich auf einmal auf ihm saß. Dabei rollten wir so nahe an die Kante, dass wir fast aus dem Bett fielen Ich schaffte es gerade noch so, mich am Bettrahmen abzustützen. Holla. „Ein wenig stürmisch, wie?“, kicherte ich.

„Wir brauchen ein größeres Bett.“ Er rückte ein wenig zur Seite und brachte uns so beide aus der Gefahrenzone. „Und jetzt solltest du besser beenden, was du im Flur angefangen hast.“ Seine Hände glitten an meinen Oberschenkeln hinauf, immer weiter auf die Mitte zu.

Sofort wurde mein Atem ein wenig schneller. „Sonst?“

„Sonst werde ich mir holen, was ich will.“

Das hörte sich in meinen Ohren eher nach einem Versprechen, als nach einer Drohung an, die dem ein angenehmes Kribbeln durch meinen Körper fuhr. Ich strich mit dem Finger den Rand seiner großen Flächennarbe an seiner Schulter entlang. Als er noch ein Kind war, hatte seine Mutter ihn dort mit einem Topf kochendheißem Wasser übergossen. Seit dem wirkte die Haut dort unecht, wie wachs, das geschmolzen und wieder fest geworden war. Sie war glatt, hatte gleichzeitig aber auch ein paar Hubbel und die Nerven dort waren tot. Er konnte dort absolut nichts fühlen. Dafür war der Rand dieser alten Wunde aber umso empfindlicher.

Warum das so war, wusste ich nicht. Vielleicht wollte sein Körper ihm damit eine Art Ausgleich bieten. Ehrlich gesagt, interessierte mich das im Augenblick auch nicht besonders, aber dieses Wissen machte ich mir schamlos zu nutze, indem ich erst ganz leicht mit den Fingern darüber strich und der Spur dann mit meinen Lippen folgte.

Reese beobachtete ganz genau, was ich da tat. Sein Atem wurde ein wenig schneller und sein Herz pochte wild unter meiner Hand.

Erst als ich fast an seinem Hals angekommen war, löste ich meine Lippen von seiner Haut, aber nur um sie auf seinen Mund zu drücken und ihn zu küssen, bis ihm Hören und Sehen verging – das war keine allzu leichte Aufgabe, da Reese immer gerne die Kontrolle behielt. Auch jetzt griff er wieder ins Geschehen ein, indem er meine Hüfte packte und seine andere Hand gleichzeitig zwischen meine Beine schob.

Ich gab ein Geräusch irgendwo zwischen einem Stöhnen und einem Wimmern von mir, das ihn nur noch mehr anzuspornen schien. Als er dann auch noch eine besonders empfindliche Stelle berührte, blieb mein Kuss einfach auf der Strecke und ich begann mich wegen als der Empfindungen zu winden.

„Halt still“, befahl er und packte meine Hüfte etwas fester.

„Du lässt das immer … so einfach … klingen“, keuchte ich und ließ meine Stirn auf seine Schulter sinken. Oh Gott war das eine süße Qual. Das hielt ich nicht mehr lange aus. „Reese.“

„Noch nicht.“ Seine Lippen streiften mein Ohr. Ich bekam eine Gänsehaut. „Ich werde das hier bis zum Letzten auskosten.“ Um mir zu zeigen, was genau er damit meine, wurden seine Berührungen noch ein wenig drängender.

Ein Knoten von Lust ballte sich in meinem Unterleib zusammen. Mein Atem wurde schneller und ich krallte meine Finger praktisch in Reese' Arme. Dann war es fast so weit und … er hörte einfach auf.

„Nein“, jammerte ich. Manchmal war er so ein verdammter Fiesling. Das war bestimmt seine Rache dafür, dass ich ihn im Flut stehen gelassen hatte. Als er dann auch noch seine Hand wegzog, hätte ich vor Frust fast geknurrt. Zur Strafe zwickte ich ihn in die Schulter, woraufhin er mir einen fast schon schmerzhaften Klaps auf den Hintern gab. „Du bist so gemein.“

„Ach ja?“ Seine Hände strichen über meinen Oberkörper und begannen meine Brüste zu liebkosen. „Soll ich aufhören?“

Ich hob den Kopf und funkelte ihn böse an. „Vielleicht sollte ich dich zur Abwechslung mal ein wenig ärgern“, bemerkte ich und ließ meine Hand zwischen uns gleiten, bis ich ihn umfasste. Sofort hoben sich mir seine Hüften entgegen, aber das reichte mir nicht. Ich wollte ihn endlich spüren, so nahe, wie keinen anderen Menschen.

Während ich mich langsam auf ihn senkte, ließ ich ihn nicht aus den Augen. Ich sah wie sich die Sehnen in seinem Hals anspannten, als sich ein köstliches Gefühl in mir breit machte. Ich war es die gerade das Ruder in der Hand hatte, doch es fühlte sich an, als würde er mich erobern.

Ein leises Stöhnen kam über meine Lippen und als ich mich aufrichtete, spürte ich ihn so tief, dass das Gefühl wie ein Echo in meinem Körper widerhallte.

„Oh scheiße“, kam es nun auch von Reese. Seine Hände fuhren zu meinen Hüften, als wollte er mich auf sich fixieren. Sein Atem ging ein wenig angestrengt und seine Stimme klang rau. „Beweg dich.“

Dazu brauchte ich nun wirklich keine Anweisungen. Ich stützte mich auf seiner Brust ab und fand einen Rhythmus, der uns beide gefiel. Das Gefühl war so intensiv, dass ich praktisch spüren konnte, wie nach all den finstren Wochen das eben in meinen Körper zurückkehrte. Mit einem Mal fühlte ich mich wieder wie ein ganzer Mensch und alles andere außer dieser Moment, wurde bedeutungslos. Solange Reese nur mir gehörte, würde ich jede Prüfung, die mir das Leben entgegenwarf, bestehen.

Als Reese eine Hand über meinen Körper gleiten ließ und sie dann um meinen Hals schloss, schränkte er meine Bewegungsfreiheit ein wenig damit ein. Selbst jetzt noch, wo er theoretisch unter mir gefangen war, musste er die Kontrolle über mich haben. Aber ich merkte trotz allem sehr wohl, dass er bei weitem nicht mehr so ruhig war.

Da mir das so nicht reichte, begann ich mich in seinem Griff zu winden, woraufhin er seine Hand in meinen Nacken schob und mich zu sich herunterzog, bis mein Gesicht knapp über seinem schwebte.

„Wage es nie wieder an mir zu zweifeln“, knurrte er mit rauer Stimme und sein Blick … oh Gott.

„Nie wieder“, versprach ich und meinte es in diesem Moment auch so.

Das genügte ihm. Er zog mich an seine Lippen und küsste mich so stürmisch, dass unsere Zähne aneinander klackten. Gleichzeitig hob er meine Hüften und übernahm das Kommando über die Situation, indem er sich nun bewegte.

Als ich versuchte ihm entgegen zu kommen, packte er mich wieder bei den Hüften und hielt mich fest.

Oh, dieses Gefühl … ich verging geradezu darin und spürte wieder diesen herrlichen Knoten. Allerdings wurden seine Bewegungen so schnell, dass ich den Kuss unterbrechen musste und zu nichts mehr anderem fähig war, als keuchend auf ihm zu liegen. Er war so nahe …

„Sieh mich an“, forderte er mich auf und erst da bemerkte ich, dass ich die Augen geschlossen hatte. „Shanks, sieh mich an, oder ich höre auf.

„Das ist … Erpressung“, warf ich ihm vor, öffnete aber die Augen und begegnete seinem Blick. „Oh Gott.“

„So ist´s gut.“

Die Muskeln in meinem Inneren zogen sich aufs Köstliche zusammen. Es fehlte nur noch ein keines Bisschen, dann … die Welle spülte über mich hinweg und riss mich einfach mit sich. Ich ließ einfach los und spürte, wie Reese mir nur einen Moment später folgte. Gemeinsam versanken wir in dem Meer unserer Gefühle und hielten uns aneinander fest, bis ich mir keuchend wieder meiner Umwelt bewusst wurde.

Ich lag zusammengesunken und angekuschelt auf Reese. Seine Hände befanden sich noch immer auf meinen Hüften und auch wenn sein Atem sich noch nicht wieder beruhigt hatte, war er nun völlig entspannt. Das war einfach nur schön. Solange wir hier lagen und einfach nur den Nachhall genossen, konnte ich mir einreden, dass die Welt völlig in Ordnung war. Gleichzeitig kam ich mir aber auch wein wenig dumm vor, weil ich mich wegen allem was um uns herum los war, so sehr hatte verunsichern lassen, dass ich an seinen Gefühlen für mich gezweifelt hatte.

Als Reese begann, langsam mit seiner Hand über meinen Rücken zu streicheln, gab ich ihm einen Kuss aufs Schlüsselbein und kuschelte mich dann an seine Brust.

„Als wir uns gestritten haben, bei Jilin im Büro … du hast gesagt, dass dieser Kerl im Van … hat er dich wirklich angefasst?“

Wie kam er denn jetzt da drauf? Und ob ich ihm das wirklich erzählen sollte? Ich hatte es ihm nach meiner Entführung absichtlich vorenthalten. Dass ich es ihm im Streit an den Kopf geworfen hatte, war einfach aus der Situation heraus geschehen. Eigentlich sollte er es gar nicht erfahren, denn ich wollte ihn nicht aufregen.

„Shanks?“

Ach verdammt. „Ja“, sagte ich leise. Der Gedanke an Logen reichte jetzt noch aus, um mir einen eisigen Schauer über den Rücken zu jagen. Nicht nur weil er seine Finger nicht hatte bei sich behalten können, der Kerl war einfach brutal gewesen.

Als Reese sich daraufhin unter mir spürbar anspannte, richtete ich mich auf und suchte seinen Blick. „Es hört sich schlimmer an, als es war“, erklärte ich ruhig und strich mit dem Finger über seine Unterlippe. Die Wunde die ich ihm zugefügt hatte, zeichnete sich deutlich ab. Jetzt bereute ich es, ich hätte ihn nicht beißen dürfen. „Er hat mir an den Hintern gegrapscht und als ich ihm sagte er solle aufhören, auch an die Brust, aber ich glaube, er hat es hauptsächlich getan, um mir zu zeigen, dass er es konnte.“ So fern das ganze wirklich geschehen war.

Der kleine Zweifel, der seit meiner Erweckung immer mal wieder meine Aufmerksamkeit forderte, meldete sich zurück zum Dienst. Ich glaubte nicht daran, dass ich verrückt war, oder mir irgendwas eingebildet hatte, aber es gab halt immer noch ein paar Punkte, die nicht ganz in die Geschichte passten. An oberster Stelle stand natürlich Lexian, aber da war auch noch der Verkäufer aus Dömitz, der behauptete, ich hätte die Kamera bei ihm gekauft und dann waren da diese drei Stunden nach Mitternacht, die mir einfach fehlten und für die ich keine Erklärung fand. Mir war noch nie Zeit abhanden gekommen.

Als Reese still blieb, beugte ich mich wieder vor und gab ihm ein Küssen auf die Lippen. „Mach nicht so ein Gesicht. Ich habe mich direkt bei dem Kerl revanchiert, indem ich ihm eine Kopfnuss verpasst habe.“

„So, hast du das?“ Seine Hände glitten von meiner Hüfte aufwärts zu meiner Taille.

„Und nicht nur das, ich habe ihm damit auch die Nase blutig geschlagen. Aber ich würde es trotzdem nicht empfehlen, danach hatte ich Kopfschmerzen.“ Die ziemlich schnell in dem Schmerz untergegangen waren, den Logens Schelle bei mir ausgelöst hatte.

„Mit dir sollte man sich also nicht anlegen.“

Das ließ mich lächeln. „Du hast es erfasst, Hellboy.“

„Dann sollte ich mich mit dir wohl besser gut stellen“, bemerkte er und zog mich zu einem Kuss zu sich herunter.

Na bitte, Stimmung gerettet und als netten Bonus gab es auch noch eine kleine Knutscherei. Dann kam mir eine Idee und ich löste mich wieder von ihm. „Weißt du was?“

„Was?“

„Ich gehe jetzt duschen.“

„Jetzt?“ Er klang ein wenig ungläubig, musste dann aber dabei zusehen, wie ich von ihm runter kletterte und aus dem Bett stiegt.

„Und du kommst mit“, bestimmte ich und griff nach seiner Hand, um auch ihn aus dem Bett zu holen. „Ich brauche schließlich jemanden, der mir den Rücken schrubbt.“ Außerdem musste ich ihn noch immer müde bekommen, denn auch wenn nicht alles nach Plan gelaufen war, das Ziel war noch immer das gleiche. Darum zog ich so lange an ihm, bis er sich mit einem genervten Seufzen dazu breit erklärte mir zu folgen.

 

°°°

 

Wie sich herausstellte, hatte ich bei Phase zwei einen kleinen, aber durchaus wichtigen Punkt nicht mit eingerechnet. Oh, mein Vorhaben trug riesige, leuchtend pralle Früchte. Nach Runde zwei schlief Reese wie das sprichwörtliche Baby, allerdings hatte mein Einsatz auch mich ziemlich erschöpft und so kämpfte ich fast zwei Stunden darum, ihm nicht ins Land der Träume zu folgen.

Ich wartete so lange, weil ich wirklich sicher gehen wollte, dass er im Tiefschlaf war, wenn ich das Bett verließ. Leider fielen mir dabei immer wieder die Augen zu, so dass ich sie erschrocken aufriss und fast schon panisch einen Blick auf die Leuchtziffern unserer Uhr warf. Um kurz nach zwei am Morgen entschloss ich mich dazu, dass es nun an der Zeit war sich in Bewegung zu setzen. So hatte ich noch genug Zeit zu Eve zu fahren und anschließend die Stadt zu verlassen, bevor er überhaupt merkte, dass ich weg war – immer vorausgesetzt, er wachte nicht zu früh auf.

Reese schlief wie fast immer auf dem Bauch, die Decke bis zur Taille herunter geschoben. Noch ein bisschen weiter und ich könnte den Anblick seines nackten Hinterns genießen.

Im Schlaf wirkte er immer so entspannt und viel jünger als sonst, eher seinem Alter entsprechend. Sein Haar stand ihm ein wenig vom Kopf ab und es juckte mich in den Finger dort hindurchzufahren, aber ich widerstand der Versuchung. Ich durfte nicht riskieren, dass er er aufwachte und mich von meinem Vorhaben abbrachte.

Was er wohl denken würde, wenn er aufwachte ich und nicht mehr da war? Hoffentlich machte er sich nicht zu große Sorgen.

Okay, jetzt hatte ich es wirklich lange genug herausgezögert. Langsam, um möglichst wenig Bewegung auf der Matratze zu verursachen, hob ich die Decke hoch und schob mich langsam aus dem Bett. Dabei behielt ich ihn die ganze Zeit im Auge, um sofort reagieren zu können, wenn er sich regen sollte, aber zu meinem Glück schlief er auch dann noch, als ich nackt neben dem Bett stand und auf ihn hinunter blickte.

Es war ein seltsames Gefühl, da ich wusste, dass ich ihn gleich … naja, ich würde ihn nicht wirklich hintergehen, aber es kam dem schon sehr nahe. Das nannte man dann wohl ein schlechtes Gewissen. Aber was sollte ich denn sonst tun? Er ließ mich doch gar keine andere Wahl und irgendetwas musste ich doch unternehmen. Nicht nur um Malou endlich dranzukriegen, auch um meine Glaubwürdigkeit wieder herzustellen. Ich war nicht verrückt und ich musste es ihm und allen anderen beweisen. Aber vor allen Dingen konnte ich nicht zulassen, dass er für etwas ins Gefängnis ging, was er nicht mal getan hatte. Auch wenn es sich falsch anfühlte, ich tat das richtige.

Entschlossen hockte ich mich vor das Bett und zog leise meine Tasche hervor.

Als plötzlich ein leises Maunzen erklang, erlitt ich fast einen Herzstillstand und hätte Cheery beinahe angezischt, sie solle ruhig sein. Zum Glück erinnerte ich mich noch rechtzeitig daran, dass auch ich still sein musste und beließ es daher bei einem mahnenden Blick.

Sich keiner Schuld bewusst, blinzelte sie mich nur vom Fußende des Bettes an, als fragte sie sich, warum ich um diese Zeit bereits auf den Beinen war und ob das bedeutete, dass es heute früher etwas zu Fressen gab.

Ich hatte mich gerade aufgerichtet, als die kleine Mistmade schon wieder maunzte. Verdammt. Eilig schnappte ich sie mir, nahm dann noch meine Tasche und schlüpfte mit einem letzten prüfenden Blick auf Reese aus dem Raum. Und damit auch keine unnötigen Geräusche zu ihm hinein dringen konnten, schloss ich auch noch vorsorglich die Tür, bevor ich die böse Mieze auf den Boden setzte.

„Du bist jetzt still“, befahlt ich ihr und machte mich daran, mir Kleidung aus meiner Tasche zu suchen. Sie war auch still, bis ich Unterwäsche trug. Dann war sie wohl der Meinung, dass ich sie lange genug ignoriert hatte und forderte erneut meine Aufmerksamkeit.

Da mir klar war, dass sie eh keine Ruhe geben würde, bis sie bekommen hatte, was sie wollte, schnappte ich sie mir ein weiteres Mal und brachte sie in die Küche, wo ich ihr eilig einen vollen Futternapf vor die Nase stellte.

Sobald sie versorgt war, konnte ich mich endlich anziehen. Aber ich würde nicht einfach so ohne Nachricht verschwinden. Reese würde durchdrehen, wenn er nicht wüsste was los war. Also schrieb ich ihm noch ein paar kurze Zeilen.

 

Ich bringe alles wieder in Ordnung.

Mach dir bitte keine Sorgen, mir geht es gut.

Such nicht nach mir, ich melde mich bei dir.

 

X

 

Die Nachricht legte ich offen sichtbar auf den Wohnzimmertisch und stellte noch eine schwere Kerze auf die Ecke, damit sie nicht einfach runterfallen konnte. Mein Handy legte ich direkt daneben, damit ihm gleich klar war, dass er mich auf diesem Weg nicht erreichen konnte. Fehlte nur noch eine Sache: Geld.

Ich hatte genug Filme gesehen, um zu wissen, wie einfach es war jemanden über seine EC-Karte aufzuspüren. Darum würde ich gleich noch an einen Automaten gehen und die nächsten paar Tage mit Bargeld auskommen müssen. Und das in einem Monat, wo wir kaum arbeiten waren und deswegen sowieso kaum Geld hatten.

Egal, es musste sein und wir würden das schon irgendwie hinbekommen – das schafften wir immer.

Gerade als ich mich vom Tisch abwandte und hier verschwinden wollte, streifte meine Blick unseren Wohnzimmerschrank und ein plötzlicher Gedanke ließ mich auf der Stelle verharren. Das was ich vorhatte, war nicht ganz ungefährlich, aber es gab Mittel und Wege sich zu schützen.

Ehe ich genau wusste was ich da tat, öffnete ich die rechte Tür des Schranks und starrte auf den unscheinbaren grauen Kasten, den Reese auf meinen Wunsch hin dort fest installiert hatte. Es war ein Waffensafe.

Früher hatte Reese seine Waffe immer irgendwo rumliegen lassen, aber das war mir unangenehm gewesen, also hatten wir uns so ein Teil besorgt. Das Problem dabei war nur, dass ich meine Waffe wegen der Suspendierung nicht mehr zurückbekommen hatte, aber es lag dennoch eine Waffe darin. Leider war das jedoch Reese' Dienstwaffe.

Ich öffnete den Safe und schaute einen Moment das unscheinbare Teil an. Sie könnte mir durchaus nützlich sein, doch es konnte ziemlich üble Konsequenzen haben, wenn ich sie nahm – nicht nur für mich, auch für Reese. Aber ein Bußgeld war immer noch besser als meine Leiche, oder?

Ohne weiter darüber nachzudenken, schnappte ich sie mir, überprüfte das Magazin und versicherte mich, dass sie gesichert war. Dann schloss ich Safe und Schrank wieder und ging zurück zum Tisch, um meiner Nachricht noch eine Zeile hinzuzufügen.

 

P.S. Nein, ich habe nicht vor Malou umzubringen, die Waffe habe ich zu meinem Schutz mitgenommen.

 

Wenn wir uns das nächste Mal sahen, würde Reese mich vermutlich von hier bis nach China blasen, aber im Moment ging es eben nicht anders. Er würde es schon noch verstehen.

Damit gab es hier für mich nichts mehr zu tun. Die Waffe landete in meiner Tasche bei meinen anderen Sache. Schal und Jacke sammelte ich vom Boden auf, die anderen Sachen ließ ich entgegen meiner Natur einfach liegen, ich hatte jetzt nicht die Zeit, da Chaos von gestern Abend zu beseitigen. Fehlten nur noch die Schuhe und die Autoschlüssel. Zwar würde ich den Wagen nicht mitnehmen, da ein Auto der Gilde doch ziemlich auffällig war, aber es war mitten in der Nacht und ich konnte ihn zumindest benutzen, um zum Geldautomaten und zu Eve zu gelangen. Danach würde ich einen Zug, oder einen Bus nehmen, um die Stadt zu verlassen.

Als ich fertig war, warf ich noch einen langen Blick auf die geschlossene Schlafzimmertür und das schlechte Gewissen schlug mit aller Macht zu. „Es tut mir leid, aber ich muss das machen“, sagte ich leise und verließ eilig die Wohnung, bevor ich wieder zu Sinnen kommen konnte.

 

°°°

 

Mit meiner Tasche auf der Schulter, stand ich an Eves Haustür und klingelte zum nun schon vierten Mal. Ich war ein wenig nervös, aber das kam mir im Moment nur zugute, denn das würde meine Geschichte nur unterstützen. Je aufgewühlter ich wirkte, umso besser für mich.

Gerade war ich versucht noch ein fünftes Mal zu klingeln, als ich die verschlafene Stimme von Mace durch die Gegensprechanlage hörte.

„Ja?“

„Mace? Ich bin´s, Grace.“ Kling weinerlicher! „Ich weiß es ist spät, aber bitte, kann ich reinkommen?“ Naja, das hatte auch nicht viel weinerlicher geklungen. Aber Mace war müde und ein Mann, dem fiel der Unterschied wahrscheinlich sowieso nicht auf.

„Ja, klar.“

Als der Summer betätigt wurde, drückte ich die Tür mit der Schulter auf. Dann kniff ich mir noch mal vorsorglich in die Haut unter die Augen, damit alles ein wenig gerötet aussah und machte mich auf den Weg in die zweite Etage.

Mace erwartete mich bereits in der offenen Wohnungstür in nichts als Boxershorts. So wie es aussah, hatte ich ihn nicht nur aus dem Bett gerissen, er schlief auch noch halb. Ich musste schon zugeben, er war recht durchtrainiert, aber an Reese würde nie heranreichen.

„Es tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken, aber … ich wusste einfach nicht wohin ich sonst gehen sollte“, sagte ich sofort und setzte ein besonders klägliches Gesicht auf. „Reese und ich haben uns gestritten und ich … ich will nicht wieder nach Hause. Kann ich vielleicht bei euch bleiben? Nur heute Nacht?“

Seufzend fuhr er sich über den Kopf, wodurch seine Haare zu allen Seiten ab standen. „Klar, komm rein.“ Er trat einen Schritt zur Seite, um mir Platz zu machen. Meine Reisetasche bemerkte er zwar, aber entweder maß er ihr keine große Bedeutung bei, oder er glaubte ich hatte immer so viel Gepäck dabei, wenn ich überstürzt die Wohnung verließ. „Du kannst auf der Couch schlafen.“

„Danke.“

„Alles gut.“ Er schloss die Tür leise. „Soll ich Eve wecken?“

Ich schüttelte den Kopf. Das Mace mir die Tür geöffnet hatte, war ein wahrer Glückstreffer. Wenn ich Eve erzählte, dass es mir nicht gut ging, wäre sie sofort viel aufmerksamer und ich würde mein Glück sicher nicht herausfordern. „Nein, lass sie schlafen, ich will einfach nur … keine Ahnung. Ich brauche nur einen Platz für heute Nacht.“

„Damit kann ich dienen. Geh ruhig schon mal ins Wohnzimmer, ich hole dir nur schnell eine Decke.“

„Danke.“ Während ich ihm zuschaute, wie er den Flur hinunter verschwand, verstärkte sich mein schlechtes Gewissen nun noch. Nicht nur dass ich ihn aus dem Bett geholt hatte, ich log ihn auch noch im vollen Bewusstsein an. Aber es ging nicht anders, ich brauchte dieses Handy. Einfach darum bitten ging auch nicht, weil er dann sicher wissen wollte, wozu ich es brauchte und das konnte ich ihm nicht sagen. Zumindest im Moment konnte ich es niemanden erzählen, weil jeder versucht hätte mich aufzuhalten. So blieb mir gar keine andere Wahl, als weiter in meiner Rolle zu bleiben und niedergeschlagen ins Wohnzimmer zu schlürfen.

Ich schaltete eine kleine Beistelllampe an, ließ meine Tasche neben der schwarzen Ledercouch auf den Boden gleiten und nahm selber auf dem Polster platz. Gott war ich müde. Das einzige was mich im Moment noch wach hielt, war die Aufregung über das, was mir noch bevorstand. Aber sobald sich die Möglichkeit ergab, würde ich erstmal ein ausgiebiges Nickerchen machen.

Als Mace wieder auftauchte, hatte er nicht nur eine flauschige Decke, sondern auch noch ein Kissen bei sich, die er mir reichte.

„Danke.“

„Brauchst du sonst noch etwas?“

„Nein, ich … ich will nur schlafen.“

Einen Moment musterte er mich. Vielleicht wollte er ja feststellen, ob ich irgendwie verrückt wirkte. „Das wird schon wieder.“

Ich bedachte ihn mit einem vagen Lächeln.

„Wenn was sein sollte, wir sind nebenan.“

„Danke.“ Bitte geh wieder ins Bett.

„Okay, dann wünsch ich dir eine gute Nacht.“

„Nacht.“

Er kehrte mir den Rücken und verschwand aus dem Raum. Kurz darauf hörte ich, wie die Schlafzimmertür sich schloss.

Am liebsten wäre ich sofort aufgesprungen und in seinen Hobbyraum geschlichen, aber ich zwang mich ruhig sitzen zu bleiben. Es konnte immer noch sein, dass Eve durch den Trubel aufgewacht war, oder Mace noch einmal herauskam. Nein, es war besser, wenn ich erstmal ein Weilchen still hier sitze blieb und abwartete, bis der Hausherr wieder eingeschlafen war. Da ich aber eigentlich nur wieder schnell weg wollte, stellte die Warterei meine Geduld auf eine harte Probe.

Mein Blick glitt zur Uhr neben dem Fernseher. Kurz vor drei. Reese schlief sicher noch immer den Schlaf der Gerechten. Was würde er wohl als erstes tun, wenn ihm klar wurde, dass ich verschwunden war? Jilin wäre vermutlich eine seiner ersten Anlaufstellen und dann natürlich auch noch die Polizei. Sicher würden sie alle vermuten, dass ich mich auf dem Weg zu Malou gemacht hatte. Mit einer Waffe. Und dem Stempel, dass ich verrückt war. Oh das würde noch Probleme geben. Wenigstens würde niemand von ihnen mein wahres Ziel erraten, nicht bis ich dort wieder verschwunden war.

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, mindestens bis um halb vier still auf meinem Hintern zu sitzen, aber um zwanzig nach drei, hielt es einfach nicht mehr aus. Blieb nur zu hoffen, dass die beiden wirklich wieder tief und fest schliefen.

Sobald ich meinen Hintern vom Polster löste, schlug mein Herz ein kleinen wenig schneller. Ich spähte in den Flur, aber viel zu sehen gab es nicht, da das Licht aus war. Einen Moment überlegte ich es einzuschalten, entschied mich dann aber dagegen. Ich war ein Ninja auf geheimer Mission, die Schatten waren mein Zuhause.

Auf Zehenspitzen schlich ich in den Flur und knallte erstmal mit dem Knie gegen einen Hocker.

Okay, also doch kein Ninja.

Still vor mich hin fluchend warf ich einen Blick zur geschlossenen Schlafzimmertür und rieb mir über das schmerzende Knie. Als alles ruhig blieb, setzte ich meinen Weg fort, dieses Mal achtete ich jedoch darauf, genug Abstand zu den Möbeln zu halten. Leider waren die nicht das einzige Hindernis auf meinem Weg zu Mace' Hobbyraum. Gerade als ich auf Höhe des Schlafzimmers war, ließ mich das laute Knarren der Diele unter mir erstarren.

Mist daran hatte ich gar nicht gedacht. Wenn jetzt einer von den beiden aufwachte, konnte ich nicht mal behaupten, aufs Klos zu müssen, denn das lag in die andere Richtung. Vielleicht konnte ich ihnen ja weismachen, ich hätte mich in ihrer Wohnung verlaufen.

Zu meinem Glück erschien aber niemand von den beiden, also machte ich den nächsten Schritt und wieder ächzte der Boden unter meinem Gewicht.

Ich starrte ihn böse an, doch leider schien ihn das wenig zu beeindrucken. Gott, wenn das so weiterging, würde ich hier mit grauen Haaren herauskommen.

Um nicht noch eine knarrende Bodendiele vor dem Schlafzimmer zu erwischen, machte ich einen sehr großen Schritt und schaffte es dann ohne weitere Zwischenfälle an mein Ziel. Ich schlüpfte eilig in Mace' Allerheiligstes, schloss die Tür und schaltete das Licht ein, damit ich mir auf dem Weg durch den Raum nicht die Beine brach.

Es sah noch genauso aus wie bei meinem letzten Besuch und zu meiner grenzenlosen Erleichterung lag auch das Handy noch auf der Kommode. Wahrscheinlich war ich sogar die Letzte gewesen, die es in der Hand gehalten hatte.

Ohne weitere Zeitverschwendung schnappte ich es mir und versuchte erstmal es einzuschalten. Ging nicht. Entweder jetzt war es richtig im Arsch – was ziemlich unpraktisch für mich wäre – oder der Akku war einfach alle.

Nach einer kurzen Überprüfung stellte ich zwei Dinge fest. Erstens: Es brauchte das gleiche Ladegerät wie mein Handy. Da ich mein Handy aber zuhause gelassen hatte, hatte ich auch das Ladegerät nicht mitgenommen, ich würde unterwegs also irgendwo eines kaufen müssen.

Zweitens: Es war keine SIM-Karte darin. Die würde ich also auch noch besorgen müssen. Egal, ich hatte es erstmal und das war das einzige was im Moment zählte. Zeit hier zu verschwinden.

Ich nahm den gleichen Weg wie zuvor, achtete aber dieses Mal darauf, nicht auf die beiden knarrenden Dielen zu treten. Das Ergebnis war, dass die Diele dahinter nun ächzte. Diese Wohnung hatte sich eindeutig gegen mich verschworen.

Über mich selbst den Kopf schüttelnd, schlich ich zurück ins Wohnzimmer. Das Handy landete bei meinen Sachen in der Tasche. Dann schnappte ich mir noch einen Stift und einen Zettel.

 

Gebt die Schlüssel bitte Reese, der Wagen steht vor der Tür.

Es tut mir leid, dass ich gelogen habe, aber ihr hättet mir das Handy nicht gegeben, wenn ich gefragt hätte. Ihr bekommt es zurück, sobald ich alles geregelt habe.

Und macht euch keine Sorgen, ich weiß was ich tue.

 

Grace

 

Der Zettel landete mittig auf dem Tisch und die Autoschlüssel oben drauf. Dann schnappte ich mir meine Tasche und sah zu, dass ich aus der Wohnung kam, bevor noch mehr Dielen und Hocker die Aufmerksamkeit der Bewohner auf sich lenken wollten.

Sobald Eve erstmal wusste was los war, würde sie genauso wie Reese und jeder andere annehmen, dass ich auf dem Weg nach Dömitz zu Malou war. Irgendwann würde ich auch sicher dort ankommen, doch mein vorheriges Ziel war Historia. Und bis man peilte dass ich dort war, war ich hoffentlich schon wieder weg, um diese ganze Scheiße endlich in Ordnung zu bringen.

Okay, Schwarzmähne, macht dich auf was gefasst, ich bin auf dem Weg zu dir.

 

°°°°°

Kapitel 20

 

Okay, ganz ruhig. Ich hatte eine Mission und die würde mir sicher nicht gelingen, wenn ich nervös war und man mir bereits an der Nasenspitze ansah, dass ich etwas Übles im Schilde führte. Also noch einmal tief durchatmen und sich einfach ganz professionell geben. Ich war Venator, ich hatte das Recht hier zu sein, ja ich war sogar eingeladen worden – so mehr oder weniger. Das und vieles mehr sagte ich mir immer wieder, als ich vermummt mit dem Schal vor dem Gesicht das Hauptgebäude von Historia betrat.

Es war Mittag. Die Nacht war lang und anstrengend gewesen und der Tag würde auch nicht viel besser werden.

Nachdem ich bei Eve abgehauen war, hatte ich mich zum Busbahnhof begeben und erstmal fast drei Stunden warten müssen, bis ich meinen Bus besteigen konnte. Die Fahrt hatte ich genutzt, um ein wenig Schlaf nachzuholen. Gebracht hatte es nicht viel, danach hatte ich mich noch erschlagener gefühlt und mir erstmal einen Engergiedrink besorgt, damit ich nicht einfach beim Laufen einschlief.

Bevor ich mich dann auf den Weg hier her gemacht hatte, war ich erstmal ein wenig Shoppen. Nun war ich Besitzer eines brandneuen Ladegeräts und einer SIM-Karte. Außerdem hatte ich in einer Zooahndung noch einen stabilen Maulkorb und Leine mit Halsband besorgt – beides Kette. Die Verkäuferin hatte mir versichert, dass die Sachen für sehr große und kräftige Hunde gemacht waren. Blieb nur noch zu hoffen, dass sie auch einen ausgewachsenen Iuba würden halten können, der locker ein Kampfgewicht von hundert Kilo auf die Wage brachte.

Ich durchquerte die Vorhalle mit der seltsamen Skulptur und nahm direkt Kurs auf die Anmeldung, wo eine gelangweilte Blondine gerade dabei war ihre Nägel in Form zu bringen – ging es noch klischeehafter? Sie war jedoch aufmerksam genug meine Ankunft zu bemerken und besaß genug Professionalität, um die Feile zur Seite zu legen und mich mit einem doch ziemlich aufgesetztem Lächeln zu begrüßen.

„Kann ich Ihnen helfen?“

„Das will ich doch hoffen.“ Ich stellt meine Tasche zu meinen Füßen auf den Boden und legte meine Hände auf den Tresen. „Ich würde gerne mit Doktor Torin Glock sprechen.“

Sie griff direkt nach dem Telefonhörer, was hoffentlich bedeutete, dass der Mann auch im Haus war. „Wen darf ich melden?“

„Grace Shanks.“

„Einen Augenblick bitte.“

Während sie ein paar Tasten drückte, übte ich mich in Geduld und senkte dabei den Kopf. Den Schal hatte ich mit voller Absicht angelassen, denn ich wollte nicht, dass man ein allzu genau Blick auf mein Gesicht erhaschen konnte. Ich war leider kein Noboby mehr, wie ich vorhin im Bus festgestellt hatte, als ein paar Leute anfingen zu tuscheln und mir wachsame Blicke zuwarfen.

Mein Fernsehauftritt lag zwar schon ein paar Wochen zurück und war nur eine Randnotiz in den Nachrichten gewesen, aber es gab trotzdem genug Leute, die ihn gesehen hatten und wegen meiner roten Haare und der Narbe quer über meinem Mund, konnte ich leider auch nicht einfach in der Menge untergehen. Es war einfach besser, möglichst wenig Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen – besonders in meiner Situation.

Als die Blondine den Hörer wieder auflegte, schenkte sie mir ein weiteres aufgesetztes Lächeln. „Doktor Glock kommt gleich, Sie können so lange dort drüben Platz nehmen.“ Sie nahm sich gerade noch die Zeit auf die Besucherbänke vor der Glasfront zu zeigen, bevor sie sich wieder ihrer Nagelpflege widmete.

„Danke.“ Ich schnappte mir meine Tasche und ließ mich dann tatsächlich auf einer der Bänke nieder, denn ich wusste noch vom letzten Mal, dass es einige Zeit dauern konnte, bis der gute Mann sich einen Moment freimachen konnte.

Während ich wartete, ging ich im Kopf noch einmal ganz genau durch, was ich zu tun hatte. Ich brauchte sowohl einen Zugangscode, als auch eine Schlüsselkarte, damit ich die Schwarzmähne nicht nur aus dem Gehege bekam, sondern mit ihm auch unbemerkt vom Gelände verschwinden konnte.

Von meinem letzten Besuch wusste ich noch, dass Doktor Glock ein Muster als Code benutzte, da er sich keine Zahlenreihen merken konnte. Ich würde also ganz genau aufpassen müssen, wenn er seinen Code eingab. Die Karte würde ich ihm dann in einem günstigen Moment klauen müssen. Der Gedanke behagte mir nicht besonders, aber mir blieb keine Wahl.

Wenn ich beides hatte, würde ich irgendwie dafür Sorgen müssen, ein paar Minuten mit der Schwarzmähne allein zu sein. Alternativ konnte ich Doktor Glock auch niederschlagen, aber das wollte ich eigentlich nicht. Ich wollte die Dinge wieder in Ordnung bringen und keine Menschen verletzen. Nein, besser war ihn irgendwie loszuwerden.

Sobald diese drei Dinge zusammenkamen, würde ich mir die Schwarzmähne schnappen und möglichst unbemerkt vom Gelände verschwinden. Da heute Samstag war, waren nur die nötigsten Posten besetzt. Je weiter sich er Tag dem Abend näherte, desto weniger würden es wahrscheinlich werden. Meine Chancen unbemerkt vom Gelände zu entkommen, standen also gar nicht so schlecht.

Was machte ich mir hier eigentlich vor? Ich hatte absolut keine Ahnung, wie gut oder schlecht meine Chancen waren, ich konnte nichts anderes tun als hoffen. Selbst dann brauchte ich wahrscheinlich noch eine gehörige Portion Glück und davon hatte ich in letzter Zeit ja nicht besonders viel gehabt.

Ich seufzte und ließ meine Gedanken zu Reese abschweifen. In der Zwischenzeit war er mit Sicherheit schon wach und hatte bemerkt, dass ich verschwunden war. Wahrscheinlich war er trotz meiner Nachricht schon ganz krank vor Sorge und fragte sich wo ich war und was ich vorhatte.

Es war kein schönes Gefühl, ihn so im Ungewissen zurückzulassen. Ich musste nur daran denken, wie es ihm im Augenblick gerade ging und dass das meine Schuld war, schon brach das schlechte Gewissen mit aller Macht über mich ein. Natürlich tat ich es, um uns beide aus der Scheiße zu ziehen, aber so wie ich es machte … es fühlte sich einfach nicht gut an.

Wo er wohl im Augenblick war? Versuchte er mich auf eigene Faust zu finden, oder war er schon bei der Polizei? Offizier galt ich ja immer noch als labil, verwirrt und ein kleinen wenig durchgeknallt. Dann hatte ich auch noch seine Waffe mitgenommen. Das war sicher keine Kombination, die Reese, oder auch der Polizei gefiel.

Nicht zum ersten Mal kamen mir Zweifel, was die M19 anging. Ohne die Waffe würde die Polizei frühstens in zwei Tagen nach mir suchen, aber mit? Noch dazu mit der Vermutung, dass ich eine Irre war, die Jagd auf Malou Grabenstein machte? Ich hatte ehrlich keine Ahnung, wie sie in diesem Fall reagieren würden. Allerdings brachte es jetzt auch nichts mehr sich den Kopf darüber zu zerbrechen, sie steckte bereits in meiner Tasche und ein Zurück gab es jetzt nicht mehr.

Vielleicht war Reese aber auch schon auf dem Weg nach Dömitz, um mich aufzuhalten, oder – ein ganz absurder Gedanke – er tat das was ich ihm auf den Zettel geschrieben hatte, machte sich keine Sorgen und wartete geduldig auf meinen Anruf.

Aber sicher doch.

Meine Gedanken wurden je unterbrochen, als die metallene Doppeltür sich öffnete und Doktor Glock mit einem breiten Lächeln auf den Lippen auftauchte.

Ich erhob mich von meinem Platz.

„Frau Shanks.“ Er strahlte mich geradezu an, als er zu mir trat und meine Hand schüttelte. Er wirkte ein wenig zerrupft. Wahrscheinlich war er wieder bei Calypso gewesen. „Das ist ja eine nette Überraschung. Was führt Sie zu mir?“

Okay, jetzt mach nur keinen Fehler. „Ihre Forschung.“

Interessiert hob er eine Augenbraue.

„Bei unserem letzten Treffen hatten Sie darum gebeten, dass ich mal vorbei komme, um Ihnen ein wenig mit dem Iuba zur Hand zu gehen.“

„Darum sind Sie hier?“ Er wirkte hocherfreut, aber dann wurde sein Blick ein wenig unsicher und ich befürchtete schon, dass sie selbst hier oben im Norden mitbekommen hatten, was bei mir los war. Mit dem was er dann fragte, hatte ich allerdings nicht gerechnet. „Und Ihr Freund?“ Er warf einen vorsichtigen Blick in die Runde, als glaubte er Reese versteckte sich irgendwo. „Ist der auch hier?“

Erst wunderte ich mich ein wenig, aber dann fiel mir wieder ein, wie Reese ihn beim letzten Mal bedroht hatte. Er hatte wohl mehr Eindruck hinterlassen, als ich angenommen hatte. „Nein, Reese ist in Berlin.“ Das war keine Lüge. „Ich war gerade in der Gegend eine alte Freundin besuchen und dachte mir, dass ich auf dem Rückweg mal vorbeischauen könnte.“ Das hingegen schon. Trotzdem zeigte ich auf meine Reisetasche, als wäre sie der Beweis für meine Aussage.

Es war fast schon süß, wie sich die Erleichterung auf seinem Gesicht abzeichnete. Doktor Glock hatte wohl nicht oft mit Leuten wie Reese zu tun. „Na dann, lassen Sie uns doch gleich zur Tat schreiten.“

„Natürlich.“ Ich schnappte mir meine Tasche und begleitete ihn zur Doppeltür, wo ich sofort versuchte den ersten Teil meines Plans in die Tat umzusetzen. Leider stand Doktor Glock ziemlich ungünstig, sodass ich nur das halbe Tastenfeld sehen konnte. Seine Zahlenfolge begann mit einer Sieben, mehr sah ich aber leider nicht. Mist.

„Ich hatte ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, Sie noch einmal wiederzusehen“, gestand er mir und hielt mir dann die Tür auf. „Sie wirkten beim letzten Mal nicht sehr erpicht darauf, noch mal mit diesem Proles in Kontakt zu kommen.“

War ich auch nicht gewesen. „Ich war beim letzten Mal ein wenig neben der Spur.“

Er nickte, als wüsste er ganz genau, wovon ich sprach. „Es ist wirklich gut, dass Sie sich dafür entschieden haben. Vielleicht kann ihr Besuch ja Einsteins Stimmung ein wenig heben.“

„Wer ist Einstein?“

Wir nahmen dieses Mal einen anderen Weg, weswegen ich nur mit halben Ohr zuhörte, um mir die Umgebung gut einzuprägen. Vor allen Fingen interessierten mich die Fluchtwege – ich konnte schließlich schlecht mit einem Iuba durch die Vorhalle hinaus spazieren. Das würde der Barbie hinter der Anmeldung trotz Nagelpflege sicher nicht entgehen.

„Oh, entschuldigen Sie, Sie kennen ihn unter dem Namen Schweinehund.“ Er schmunzelte, als hätte er einen Scherz gemacht. „Der Name hat sich hier jedoch leider nicht etablieren können, aber einer der Kollegen fand Einstein passend, Sie wissen schon, wegen seiner Intelligenz.“

Ich nickte verstehend, verkniff es mir aber einen Kommentar dazu abzugeben. Der Name war nicht wirklich einfallsreich, aber wahrscheinlich noch immer besser als Schweinehund.

„Wir haben in den letzten Wochen immer wieder versucht ihn in unserer bestehendes Iuba-Rudel einzugliedern, aber leider ist Einstein gegenüber den anderen Proles äußerst aggressiv. Iubas sind eigentlich Rudeltiere, aber er zeigt kein Interesse an der Gemeinschaft.“

Die hatten hier ein ganzes Rudel voller Iubas? Ich ließ das besser einfach auf sich beruhen. „Er hat vorher mit drei anderen Iubas zusammengelebt. Wenn ich richtig informiert bin, waren es sein Bruder, die Gefährtin des Bruders und ein Sohn.“

„Aber nun scheint er kein Interesse mehr daran zu haben. Es könnte natürlich auch an de Depression liegen.“

„Depression?“ Proles konnten depressiv werden?

„Wir könnten es auch Liebeskummer nennen.“ Er lächelte mich wissen an und wandte sich einer Tür zu unserer linken zu. Dieses Mal stand er günstig genug, dass ich einen unauffälligen Blick auf die Tasten riskieren konnte. Sieben, drei, acht … er bewegte sich und versperrte mir wieder die Sicht. Verdammt! „Ich hab dieses Verhalten schon bei anderen Proles beobachten können.“

Darauf wettete ich. „Sie spielen damit doch nicht etwa auf die Babysache an, oder?“

„Ich weiß Ihnen gefällt dieser Gedanke nicht, aber es ist nun einmal so wie es ist.“ Er drückte die Tür auf und ließ mich voran gehen. Wir landeten in einem weiteren Korridor – wie groß war diese Anlage eigentlich? „Und da Sie nun hier sind, scheinen Sie sich mit diesem Gedanken zumindest abgefunden zu haben.“

Nein hatte ich nicht, aber um eine Milliardärin zu ködern, die sich alles leisten konnte, was sie haben wollte, musste man eben ein wenig einfallsreich sein. „Sagen wir einfach, der erste Schreck hat sich gelegt.“

Er lachte und führte mich tiefer in die Anlage hinein. „Wenn man es genau betrachtet, ist es eigentlich hab so schlimm. Es ist einfach ein Verhaltensmerkmal, das bei den Proles immer mal wieder auftaucht.“

„Es ist trotzdem ziemlich gewöhnungsbedürftig.“

Wir bogen in einen weiteren Korridor und wenn ich mich nicht täuschte, war das der, in dem hinter den Türen die Räume mit den Gehegen lagen. Die Nummern an den Türen kamen mir jedenfalls ziemlich bekannt vor. Und am Ende de Flurs lag sogar ein Notausgang, wenn ich das richtig sah.

„Ja, aber wir müssen auch immer bedenken, Proles sind nicht wie andere Wesen. Sie wurden erschaffen und können daher nicht mit normalen Maßstäben gemessen werden. So, da sind wir.“ Er steuerte eine Tür zu seiner linken an. Seine Hand ging gewohnheitsmäßig zum Tastenfeld. Sieben, drei, acht, sechs, neun.

Ja! Sieben, drei, acht, sechs, neun. Es war wirklich ein Muster. Jetzt durfte ich es nur nicht wieder vergessen.

Sobald er auch noch die Karte durch den Schlitz gezogen hatte und das summen ertönte, drückte er mir dir Tür auf. „So, dann mal hereinspaziert.“

Im Vorbeigehen merkte ich mir ganz genau, wohin der die Karte steckte. Kittel, Außentasche, rechts. Jetzt musste ich nur noch einen Weg finden sie in meinen Besitz zu bringen. Als erstes jedoch würde ich mich einer Aufgabe widmen, die mir schon ein wenig Herzklopfen verursachte.

Bisher hatte ich nur daran gedacht, wie ich an die Schwarzmähne kam, in dem Wissen, dass er mir schon nichts tun würde. Doch jetzt, als ich in den Raum trat, der durch die große Glasfront in zwei Teile getrennt war, machte ich mir zum ersten Mal Gedanken darüber, wie es sein würde ihn wiederzusehen und tatsächlich mit einem Iuba, wie mit einem Hund herumzulaufen. Das Gefühl das mich dabei überkam lag irgendwo zwischen „Oh mein Gott!“ und „Hoffentlich begehe ich nicht gerade den größten Fehler meines Lebens.“

Ich ließ meine Tasche neben der Tür auf den Boden sinken und trat an das Panzerglas heran. Seit meinem letzten Besuch hatte sich in dieser Zelle nicht viel Verändert. Die Decken bildeten noch immer ein wildes Nest aus Stoff, aber er hatte in der Zwischenzeit noch ein großes Stoffkissen bekommen, das ungenutzt in der Ecke lag. Außerdem gab es jetzt eine einfache Hundehütte und etwas Spielzeug, die nicht so aussahen, als wären sie jemals auch nur mit dem Arsch angeschaut worden.

Die Schwarzmähne selber lag zusammengerollt in dem Deckennest und hatte mir den Rücken gekehrt.

Doktor Glock trat neben mich. „Das ist so ziemlich alles, was er den ganzen Tag macht, wenn er nicht gerade versucht einen Fluchtweg zu finden.“

Was ihm aber, wie es aus aussah, bisher nicht gelungen war. „Wenn ihm das wirklich gelingen würde, könnten Sie ihn dann wiederfinden?“

Er schmunzelte. „Ich versichere Ihnen, bisher ist noch kein einziger Proles aus Historia entkommen.“

Das war mir bewusst, aber darauf hatte meine Frage nicht abgezielt. „Das war keine Antwort.“

„Theoretisch ja. Alle unsere Proles sind mit einem Ortungschip ausgestattet.“

Mist.

„Dieses besondere Exemplar allerdings hat sich seinen vor zwei Wochen selber wieder rausgeholt.“

Ich blinzelte. „Er hat was?“

„Er hat ihn sich aus dem Körper herausgebissen. Wir haben dann versucht ihm ein Halsband anzulegen, dass er sich natürlich prompt selbst abgenommen und zerfetzt hat. Wahrscheinlich werden wir ihm einen neuen Ortungschip operativ einsetzen müssen, irgendwo wo er nicht herankommt.“

Oh Mann, ich war wohl das erste Mal in meinem Leben erleichtert über die Intelligenz von Proles. Er hatte ihn sich selber wieder herausgeholt. Allein der Gedanke ließ mich schaudern, das musste doch höllisch wehgetan haben. Und woher hatte er gewusst, dass man ihm etwas eingesetzt hatte? Selbst ein Mensch hätte Probleme sowas zu merken.

„Sie können mit ihm sprechen.“ Er zeigte auf eine kleine Sprechanlage ungefähr einen Meter neben mir. „Vielleicht reagiert er ja auf ihre Stimme.“

Was wohl bedeutete, er wollte, dass ich mit ihm sprach. Und da ich angeblich hier war um ihm ein wenig zur Hand zu gehen, durfte ich mich auch nicht sträuben. Also trat ich an die Sprechanlage, überlegte einen Moment, was man zu einem Liebeskranken Iuba sagen konnte und drückte den Knopf. „Hallo Liebling, ich bin wieder zuhause!“

Es war nicht so, das die Schwarzmähne aufsprang und freudig zu mir gerannt kam, doch der eben noch entspannte Körper wurde auf einmal stocksteif. Sehr langsam hob er den Kopf und drehte ihn, bis er mir direkt in die Augen sehen konnte.

Als der Blick seiner gelben Augen mich traf, fühlte ich mich für einen kurzen Moment an meinen sechsten Geburtstag zurückversetzt und mein Herz begann noch schneller zu schlagen. Irrsinn und Wahn tobten darin, doch da war auch noch etwas anderes, etwas das ich bei einem Proles niemals erwartet hätte und das ich nicht benennen wollte, weil es einfach nur absurd war.

Die Schwarzmähne brach den Blickkontakt nicht ab, als er sich auf die Beine erhob und langsam auf mich zukam, als könnte er nicht glauben, dass ich wirklich hier war. Er wirkte weder freudig überrascht, noch irgendwie aggressiv, einfach nur vorsichtig und vielleicht auch ein kleinen wenig unsicher.

Oh Gott, jetzt fing ich schon an menschliche Gefühle in ihm zu sehen. Das sollte ich besser nicht zur Gewohnheit werden lassen. Dieser Iuba war wie jeder andere nichts als ein gefräßiger Proles und ich war nur hier, weil ich ihn brauchte. Das sollte ich besser nicht vergessen.

Als er die Glaswand erreichte, stellte er sich auf den Hinterbeinen darauf auf und überragte mich so ein kleines Stück – war der beim letzten Mal auch schon so groß gewesen? Hoffentlich behielt die Verkäuferin aus der Zoohandlung recht, ansonsten wüsste ich nämlich nicht, wie ich ihn bändigen sollte.

Er hob die Pfote und tippte damit gegen das Glas. Als ich nicht reagierte, leckte er einem quer darüber und stellte erwartungsvoll die Ohren auf.

Doktor Glock lächelte leise. „Ich habe doch gewusst, dass Sie ihm helfen können.“

Ehrlich gesagt, wollte ich dem Iuba gar nicht helfen. Wenn er für den Rest seines Lebens litt, würde mich das auch nicht interessieren, aber im Moment musste ich das Spiel einfach mitspielen, also legte ich zögernd eine Hand an das Glas und war seltsamerweise überhaupt nicht erstaunt, als er seine Pfote auf der anderen Seite an der gleichen Stelle ans Glas drückte.

„Erstaunlich“, murmelte Doktor Glock und schüttelte den Kopf, als wolle er einen Gedanken loswerden. „Wären Sie bereit zu ihm in das Gehege zu gehen?“

Mein erster Gedanke war es „Sind sie wahnsinnig?!“ zu rufen, aber wenn ich die Schwarzmähne mitnehmen wollte, müsste ich diesen Schritt früher oder später eh machen. Er wird dir nichts tun, er will Babys mit dir. Nein, der Gedanke war auch nicht viel hilfreicher. „Okay.“

„Phantastisch.“ Er schlug seine Hände zusammen und rieb sie erfreut aneinander. „Es stört Sie doch sicher nicht, wenn ich eine Videoaufnahme mitlaufen lasse und mir ein paar Notizen mache, oder?“

„Ähm … klar. Ich meine klar, machen Sie ruhig.“ Ich ließ meine Hand sinken und trat einen Schritt zurück. Der Gedanke dort hinein zu müssen, behagte mir nicht besonders.

Auch die Schwarzmähne sank herunter und setzte sich vor dem Glas auf seinen Hintern. Dabei behielt er mich aber ganz genau im Blick.

„Hervorragend.“ Doktor Glock wandte sich den Schränken zu. Als erstes öffnete er einen kleinen Kühlschrank, wo er eine Dose mit Fleischbrocken herausnahm. Dann öffnete er den langen Seitenschrank, wo eine Anzahl von Ketten und Lederriemen sichtbar wurde. Sie klimperten, als er darin herumwühlte.

„Was ist das?“

„Was? Das?“ Er tippte gegen das Chaos aus Bändern. „Stahlverstärkte Geschirre.“

„Stahlverstärkt?“

„In das Leder sind Stahlfäden eingewebt. Die bekommt selbst der stärkste Proles nicht kaputt.“

Gut zu wissen. Dann hätte ich mir ja dem Umweg zur Zoohandlug sparen können.

„Wir benutzen sie um Proles im nicht betäubten Zustand zu fixieren. Ah da ist er ja.“ Er zog einen braune Ball heraus, der seine besten Tage schon lange hinter sich hatte. Dann nahm er ihn zusammen mit der Dose und drückte mir beides in die Hand. „Bevor sie reingehen, noch ein paar Kleinigkeiten. Als erstes, lächeln Sie ihn nicht an.“

„Nicht mal dann, wenn er einen Witz macht?“

Die Schwarzmähne erhob sich von seinem Platz, lief einmal am Glas auf und ab und begann dann auf meiner Höhe am Glas zu kratzen. Als das nichts brachte, ging er zur Schleuse und begann die Gittertür mit den Zähnen zu bearbeiten.

Keiner von uns beachtete sie.

„Die Körpersprache bei Tieren ist eine andere, als bei Menschen. Wenn ein Mensch lächelt, zeigt er die Zähne, es ist freundlich gemeint. Wenn ein Proles die Zähne zeigt, ist es hingegen ein aggressives Verhalten.“

Hm, so hatte ich das bisher noch nie betrachtet, aber es stimmte durchaus.

„Wenn er sie lässt, fassen Sie ihn ruhig an und versuchen sie sich ihm gegenüber zu behauptet. Sie geben den Ton an, nicht er, verstanden?“

Um ihm zu zeigen, dass ich genau wusste, was er meinte, ging ich zur Sprechanlage und fauchte. „Hörst du wohl damit auf!“

Die Schwarzmähne hielt inne, warf einen kurzen Blick in meine Richtung und lief dann von der Gittertür ab. Wäre das Glas nicht schalldicht, hätte ich ihn vermutlich missmutig grummeln gehört.

„Sehr gut“, lobte Doktor Glock mich. Und keine Sorge, ich bin die ganze Zeit hier. Sollte etwas passieren, drücke ich einfach diesen Knopf.“ Er zeigte auf einen großen roten Knopf an der Wand. „Dann wird ein hochfrequentierter Ton ausgestoßen, der ihn Schmerz und egal was er gerade tut, er wird sofort damit aufhören.“

Eine Waffe wäre mir lieber.

„Versuchen Sie ihn mit dem Ball zum Spielen zu animieren und wenn er etwas gut macht, können Sie ihm etwas von dem Fleisch als Belohnung geben.“

„Alles klar, spielen, füttern, die Beißerchen versteckt lassen und ihm in den Hintern treten, wenn er frech wird. Verstanden.“

Er lächelte. „Sehr schön. Sind Sie dann so weit?“

War ich es? Mein Herzschlag sagte nein und meine Beine wollten das Weite suchen. Ein Angst zu überwinden, die man schon seit klein auf hatte, war leichter gesagt als getan – selbst dann, wenn man die Gewissheit hatte, dass einem eigentlich nichts passieren konnte.

„Wenn Sie noch unsicher sind, können Sie auch erstmal in der Schleuse bleiben und wir schauen wie er sich verhält.“

„Ja, ich denke, dass wäre eine gute Idee.“

„Na schön, dann wollen wir mal.“ Und ohne weitere Verzögerung zückte er seine Schlüsselkarte und öffnete für mich das Tor zu meiner ganz persönlichen Hölle.

Sobald die äußere Tür geöffnet war, hörte ich das leise Fiepen von der Schwarzmähne. Scheinbar wurde ich bereits sehnsüchtig erwartet. Leider wollte mir bei dem Geräusch der Schweiß aus alles Poren ausbrechen. Nun reiß dich mal zusammen, du hast mit ihm schon in einem winzig kleinen Bunker gesteckt. „Okay.“

Meine Beine erstmal in Bewegung zu setzen, war gar nicht so einfach. Sie schienen auf einmal am Boden festzukleben, aber mein Wille war stärker, als jeglicher Fluchtreflex und so trat ich zögernd in den kleinen Zwischenraum der Schleuse.

„Ich bin direkt hier draußen und passe auf. Und die innere Schleuse öffne ich erst, wenn Sie mir das Okay geben“, versicherte Doktor Glock mir noch einmal. „Ihnen kann nichts passieren.“

„In Ordnung.“

Ich bekam noch ein aufmunterndes Lächeln, dann war die Tür zu und ich zusammen mit einem Ball und einer Dose voller Fleischbrocken eingesperrt. Wobei ich hier sicherlich der leckerste Fleischbrocken von allen war.

Hör auf sowas zu denken, das ist nicht hilfreich!

Okay, einfach einmal tief durchatmen.

Die Schwarzmähne stand direkt vor dem Gitter und wartete offensichtlich darauf, dass ich meinen Hintern zu ihm hinein bewegte. Als ich aber nichts anderes tat als dazustehen und ihn mit wild klopfendem Herzen anzustarren, zwängte er eine Pfote zwischen das Gitter und versuchte mich zu erreichen. Aber nicht aggressiv, eher so, als wollte er mich zu sich heranziehen.

„Versuchen Sie sich ein wenig zu entspannen“, hörte ich Doktor Glock über die Sprechanlage sagen. „Er wird ihnen nichts tun.“

Entspannen. Der hatte gut reden.

Los, du kannst das, Team Grace vor!

Super, jetzt war ich schon mein eigener Cheerleader. „Na dann wollen wir mal schauen, was das mit uns beiden hier wird“, murmelte ich und hockte mich hin, um die Sachen abzulegen. Dann richtete ich den Blick wieder auf die Schwarzmähne.

Er schaute erwartungsvoll zurück.

Die Zwischenräume zwischen den Stäben waren nicht besonders groß, gerade mal breit genug, um eine Pfote oder eine Schnauze hindurchzuschieben. Oder auch eine Hand.

Mich dazu zu überwinden, kostete mich mehrere Minuten und ich wischte mir mehrere Male die Handfläche an der Hose ab, bis ich es wagte sie vorsichtig auszustrecken und sie ihm unter die Nase zu halten, wie man das bei einem Hund machte. Durfte ich hier überhaupt so handeln, als wäre er ein Hund? Da er mir einmal quer über die Hand schleckte, durfte ich das wohl.

Davon ermutigt, streckte ich zögernd die Hand durch das Gitter und berührte ihn vorsichtig am Kopf. Bisher hatte ich ihn nur einmal absichtlich berührt und das auch nur, weil es nicht anders ging. Das hier war irgendwie anders. Ich tat es nicht, um ihn zu irgendwas zu bewegen, sondern einfach nur, um ihn anzufassen.

Als er seinen Kopf an meine Hand schmiegte, begann mein Herz gleich noch ein bisschen schneller zu schlagen, doch als nichts weiter geschah und ich ihn dann auch noch anfing zu kraulen, beruhigte es sich auch wieder ein bisschen. „Ja, wer ist ein braves, kleines Monster?“

Als er den Kopf drehte und nach meinem Arm schnappte, zuckte ich zusammen, doch er packte es nur vorsichtig mit den Zähnen und zog dann daran, als wollte er, dass ich zu ihm herein kam.

Gott, gleich würde ich ein Herzinfarkt bekommen.

„Übertreib es nicht, ja?“, murmelte ich und befreite meinen Arm mit einem einzigen Ruck. „Ich muss mich erst noch daran gewöhnen.“

Er fiepte wieder, ließ es sich dann aber gefallen, dass ich ihn kraulte.

„Geben Sie ihm etwas zur Belohnung“, forderte Doktor Glock über die Sprechanlage.

Na gut, dann bekam er eben etwas zur Belohnung. Ich griff nach der Dose, was ihm gar nicht zu gefallen schien, da ich dazu das Kraulen unterbrechen musste und hielt ihm dann ein kleine Stück Fleisch unter die Nase. „Bitte beiß mir nicht nicht in die Finger. Ich mag die nämlich. Alle.“

Er schnüffelte daran und schnappte es sich dann so, dass er noch meine halbe Hand vollsabberte.

„Igitt“ Angewidert wischte ich mir die Hand an der Hose ab.

Er hingegen, sich keiner Schuld bewusst, schaute von der Dose zu mir und leckte sich über die Lefzen, als erwartete er noch ein weiteres Stück.

„Was? Du denkst du bekommst noch eines, ohne etwas dafür zu tun?“ Ich schnappte mir den Ball, steckte ihn durch das Gitter und warf ihn.

Mäßig interessiert schaute die Schwarzmähne dabei zu, wie er wegflog, zwei mal aufditschte und dann mitten im Raum liegen blieb.

„Na los, geh und hol ihn.“

Er setzte sich direkt vor das Gitter und schaute wieder von der Dose zu mir

„Nein, nicht solange du mir den Ball nicht wiederbringst.“

Er bewegte sich keinen Millimeter. Und da ich auf diesem beengten Raum eingesperrt war, konnte ich es auch nicht.

Nun gut, ich wusste was ich zu tun hatte und es brachte gar nichts, das Ganze unnötig in die Länge zu ziehen. Der Plan war nämlich rein und dann so schnell wie möglich wieder raus. Und zumindest im Moment schien die Schwarzmähne in sanftmütiger Stimmung zu sein. Dieser Zeitpunkt war also genauso gut wie jeder andere. Darum klopfte ich gegen die Scheibe, um Doktor Glock auf mich aufmerksam zu machen und zeigte ihm einen Daumen nach oben.

Die Gegensprachanlage knackte. „Soll ich die innere Tür entsichern?“

Ich gab ihm noch einen Daumen nach oben und spürte wie mein Herzschlag sich gleich wieder zu neuen Höhen aufschwang. Oh Gott, ich tat es wirklich und dann auch noch freiwillig.

Die Tür vor mir gab ein Summen von sich, dann hörte ich Doktor Glock sagen: „Sie können die Tür jetzt öffnen.“

Okay, du kannst das. Du musst das können. Für Reese. Genau, darum tat ich das hier, ich machte es nicht nur für mich, ich tat es auch für Reese.

Mir selber Mut zusprechend, richtete ich mich auf und griff nach dem Türknauf. Ein Schwall Adrenalin rotierte in meinem Blutkreislauf, als ich den Knauf drehte und mich dann selber überrumpelte, indem ich die Tür eilig aufriss, bevor ich es mir noch einmal anders überlegen konnte.

Nun war nichts mehr zwischen uns. Die Schwarzmähne saß direkt vor mir und schaute mich an. Dann erhob er sich, beugte sich an mir vorbei in die Schleuse und bevor ich reagieren konnte, hatte er sich die Dose mit dem Fleisch geschnappt und damit das Weite gesucht.

Und ich? Ich stand da und guckte blöd. „Wie es scheint, hast du mich doch nicht so sehr vermisst, murmelte ich und trat nun selber ins Gehege. Mal schauen, ob ich die Dose zurück bekam.

 

°°°

 

„Na los, spring da rüber.“ Ich hielt den Rindfleischbrocken direkt über die Halb-Meter-Hürde und wackelte sogar ein wenig damit herum, in der Hoffnung, dass ihn das irgendwie animieren würde.

Die Schwarzmähne fixierte den Brocken, machte aber keinerlei Anstalten, über die Hürde zu springen.

„Also mit deiner Intelligenz ist es wohl doch nicht so weit her wie alle behaupten, was?“

Wieder ging sein Blick zu dem Futter. Dann umrundete er die Hürde, drängelte mich dabei ein Stück zur Seite und sobald der Fleischbrocken praktischerweise über seinem Kopf baumelte, schnappte er ihn sich schnell und schlang ihn in einem Bissen herunter.

Und ich? Ich stand da wie bestellt und nicht abgeholt, während ich Doktor Glock über die Lautsprecher leise Lachen hörte. „Das hast du doch nur getan, um mich lächerlich zu machen.“

Seine Antwort bestand darin, sich noch einmal die Lefzen zu lecken und mich anzuschauen, als erwartete er einen Nachschlag. Ich hätte schwören können, dass er mich auslachte.

Ich war in der Zwischenzeit seit bestimmt schon drei Stunden hier im Gehege. Am Anfang war es hauptsächlich darum gegangen, wie er sich in meiner Gegenwart verhielt und wie weit ich gehen konnte. Die meiste Zeit war ich ziemlich unsicher gewesen, bis er der Meinung war mir im Schritt schnüffeln zu müssen und ich ihm reflexartig eine gescheuert hatte.

Im ersten Moment war er nur etwas perplex gewesen und ich dachte schon, dass er mich jetzt doch fressen würde, aber er hatte nur die Ohren angelegt und unzufrieden gegrummelt.

Nachdem die Fronten dann geklärt waren, hatte ich angefangen mich ein wenig zu entspannen. Zwar schlug mein Herz immer noch ein wenig schneller, wenn er mir auf die Pelle rückte, oder ich ihm durch sein weiches Fell strich, aber die Angst, dass er jeden Moment über mich herfallen würde, hatte sich ein kleinen wenig gelegt.

Dann hatte Doktor Glock diese Hürde besorgt und seit dem versuchte ich ihn dazu zu bekommen, darüber zu springen. Ich war mir sicher, dass er genau wusste, was ich von ihm wollte, aber er machte sich einen Spaß daraus, alles nur nicht das zu tun. Wer hätte das gedacht? Ich ließ mich von einem Proles vorführen und es störte mich nicht mal besonders.

Als die Sprechanlage knackte, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf den Mann draußen vor dem Glas. „Kommen Sie raus, wir sollten mal eine Pause machen.“

Ich gab ihm einen Daumen nach oben, nahm die Dose an mich, die mittlerweile ziemlich zerkaut aussah und ging zur Schleuse. Das herauskommen gestaltete sich allerdings nicht ganz einfach, da die Schwarzmähne mit hinaus wollte und als ich das nicht erlaubte, schnappte er nach meinem Hosenbein und versuchte mich wieder zurück zu ziehen.

Als ich fünf Minuten später dann doch endlich draußen war, hatte ich ein Loch in der Jeans und die Schwarzmähne behielt mich beleidigt im Auge.

„Es ist erstaunlich, wie anhänglich Proles sein können nicht war?“, fragte der Forscher schmunzelnd.

Anhänglich war gut. „Ich glaube er möchte, dass ich bei ihm einziehe.“ Ich stellte die misshandelte Dose auf die Anrichte und ließ mich dann schwer auf den Stuhl daneben fallen. Zwar war ich nicht mehr so schwächlich, wie noch vor einer Woche, aber die letzte Nacht war anstrengend gewesen und meine Kondition war noch nicht wieder das, was sie eigentlich sein sollte.

„Oh, ich bin sicher, dass ihm das gefallen würde.“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Ich bekomme langsam Hunger. Hier in der Nähe gibt es ein sehr schönes, italienisches Lokal. Wie wäre es, wenn wir uns dort eine Kleinigkeit zu Essen besorgen würden?“

Er hatte noch nicht mal ausgesprochen, da witterte ich schon meine Chance. Er wollte gehen, aber er wollte auch, dass ich mitkomme und ich hatte die Schlüsselkarte noch nicht. Egal, mach was draus! „Wäre es sehr dreist von mir, Sie zu bitten alleine zu gehen und mir etwas mitzubringen? Reese wartet sicher schon darauf, dass ich mich bei ihm melde und ich würde die Pause gerne nutzen, um ihn anzurufen.“

„Oh, natürlich, das ist kein Problem. Sie müssen mir nur sagen, was Sie haben möchten.“

Oh mein Gott, ja! „Italiener sagten Sie? Die haben da sicher auch Pasta.“

„Sicher.“

„Dann nehme ich Spagetti Carbonara, oder Pasta mit Scampis. Je nachdem, was sie da haben.“

„Das lässt sich machen. Möchten Sie auch etwas zu trinken?“

„Ein Mineralwasser.“ Ich erhob mich von dem Stuhl und ging zu meiner Tasche, im mein Portemonnaie herauszuholen. „Reichen Zwanzig?“

„Auf jeden Fall.“

Ich nahm einen zwanziger heraus, verstaute wieder alles – sorgsam darauf bedacht, dass er keinen Blick ins Innere bekam – und richtete mich dann wieder auf. Okay, jetzt oder nie.

Als ich mich herumdrehte, tat ich so, als wäre ich überrascht, ihn direkt hinter mir zu sehen, stolperte und fiel nicht nur gegen ihn – wie ich es eigentlich vorhatte – sondern riss ihn direkt in einem Knäuel aus Armen und Beinen mit mir zu Boden. Zwar landete ich auf ihm drauf, aber wie ich feststellte, war der Mann ziemlich knochig und daher war es kein allzu sanfter Sturz.

„Tut mir leid“, entschuldigte ich mich sofort bei ihm und stemmte mich wieder hoch. Dabei glitt meine Hand wie zufällig zu seiner Kitteltasche. „Verzeihen Sie, das war nicht meine Absicht.“ Da war sie, ich konnte sie fühlen.

„Schon gut.“

Irgendwie schafften wie es uns wieder voneinander zu trennen. Ich entschuldigte mich noch tausend Mal bei ihm und half ihm dann auch noch zurück auf die Beine. Ihm schien das jedoch peinlicher zu sein als mir. Sogar seine Wangen waren ein wenig gerötet.

„Es tut mir wirklich leid“, versicherte ich ihm noch einmal, als er wieder vor mir stand und versuchte seinen Kittel in Ordnung zu bringen.

„Machen Sie sich keine Gedanken, ist ja nichts passiert.“ Er schaute sich ein wenig fahrig um, als wüsste er nicht genau wie er hier her gekommen war, oder was er jetzt tun sollte. „Pasta, Sie wollten Pasta. Ich werde dann mal schnell gehen.“

Als er sich schon abwandte, hielt ich ihn mit einem „Moment“ noch mal auf und bückte mich nach dem zwanziger, der in dem Chaos auf den Boden gefallen war. „Den sollten Sie mitnehmen“, sagte ich und drückte ihn ihm in die Hand. Ich wollte schließlich nicht, dass er allzu schnell wieder hier auftauchte.

„Genau, danke. Ich gehe dann mal schnell das Essen holen.“ Und der Mann der keinerlei Probleme damit hatte, mit einem ausgewachsenen Candir zu kuscheln, ergriff die Flucht, weil eine Frau auf ihn draufgefallen war. Der Gedanke war schon recht amüsant, doch als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, war es nicht die Erheiterung, die das Lächeln auf meine Lippen zauberte. In meiner Hand hielt ich seine Schlüsselkarte.

Erst in solchen Momenten merkte man, welch ungeahnte Fähigkeiten in einem Schlummerten. Wenn das mit der Kariere als Venator nichts mehr wurde, konnte ich mich immer noch als Dieb versuchen. Erst Mace' Handy, jetzt die Karte und gleich noch einen Proles.

Leider versetzte mir dieser Gedanke doch einen ziemlich großen Dämpfer und klatschte gleich noch eine ordentliche Portion auf mein schlechtes Gewissen obendrauf. Wenn ich das alles hinter mir hatte, würde ich eine Kirche besuchen müssen, um für all meine Sünden um Vergebung zu bitten. „Aber noch ist das hier nicht vorbei“, murmelte ich mir selber zu und widmete mich eilig dem langen Schrank in der Ecke. Ich hatte keine Zeit zu verlieren, denn ich musste mit der Schwarzmähne nicht nur hier raus, ich musste ihn auch erstmal Abmarschbereit machen.

Die Ketten und Lederriemen zu entwirren, kostete mich schon allein zwei Minuten, aber dann hielt ich ein stabiles Geschirr mit stahlverstärkten Riemen in der Hand und eine wirklich robuste Leine mit einem Karabiner, der so aussah, als könnte er einen Iuba halten. Aus meiner Tasche holte ich noch den Maulkorb und dann beeilte ich mich durch die Schleuse zu kommen.

Die Schwarzmähne hatte zwar keine Ahnung, was ihn jetzt erwartete, aber er schien sich zu freuen, dass ich wieder bei ihm war.

„Wir machen jetzt einen Kleinen Ausflug“, erklärte ich und hockte mich vor ihm. Die Kette und der Maulkorb landeten neben mir auf dem Boden, sodass er neugierig daran schnüffeln konnte. „Aber nur so als kleine Vorwarnung, wenn du versuchst jemanden zu fressen, werde ich dich erschießen, also benimm dich.“

Ich brauchte einen Moment um zu kapieren, wie genau man diesen Geschirr anlegte. Ich hatte noch nie einen Hund gehabt und somit war es das erste Mal, dass ich mich mit sowas auseinandersetze musste, aber nach einigem herumprobieren, bekam ich es hin.

Zu meiner Verwunderung, ließ er es vollkommen geduldig über sich ergehen. Selbst als ich die Leine an ihm befestigte und mich durch mehrfaches Rucken davon überzeugte, dass das so halten würde, blieb er ganz ruhig. Als ich dann jedoch versuchte ihm den Maulkorb anzulegen, zog er immer wieder den Kopf weg und knurrte mich einmal sogar an.

„Hör auf mit den Zicken, dafür haben wir keine Zeit“, sagte ich ungeduldig. Als er den Kopf wieder grummelnd zur Seite riss, packte ich ihn einfach mit festem Griff im Nacken und stülpte ihm das Ding grob über die Schnauze.

Nun knurrte er richtig.

„Nun hab dich mal nicht so“, murmelte ich und beeilte mich den Verschluss in seinem Nacken zu schließen. „Du bist selber schuld. Würdest du nicht alles fressen wollen, was dir über den Weg läuft, bräuchten wir diese Sicherheitsmaßnahme nicht. Also beschwere dich nicht.“

Sobald der Verschluss zu war und ich mich versichert hatte, dass alles richtig saß, schnappte ich mir die Leine und eilte zur Schleuse.

Die Schwarzmähne hatte ein paar Probleme mir zu folgen, weil er gleichzeitig versuchte sich den Maulkorb mit den Vorderpfoten wieder abzustreifen.

„Hör auf damit“, schimpfte ich und zog ihn mit einem Ruck zu mir heran, der ihn fast auf die Nase beförderte.

Das Schnauben das er daraufhin ausstieß, kannte ich nur zu gut von Cherry. Es kam immer dann, wenn sie mich ihre ganze Empörung spüren lassen wollte.

„Hör auf dich so anzustellen, wir haben dafür gerade wirklich keine Zeit.“ Eilig zückte ich die Schlüsselkarte und brachte uns beide durch die Schleuse. Damit brach sich dann auch die Nervosität bei mir Bahn. Vorher hätte ich mich vielleicht noch mit einer blöden Ausrede herausreden können, aber jetzt bestand kein Zweifel mehr daran, was ich im Schilde führte.

Wie lange war Doktor Glock schon weg? Wie viel Zeit blieb mir noch? Sich jetzt mit diesen Fragen verrückt zu machen, würde mir auch nicht helfen, also verbannte ich sie in den hintersten Winkel meines Kopfes, schnappte mir Jacke, Schal und Tasche und zog die Schwanzmähne dann zur Tür.

„Lass endlich den blöden Maulkorb in ruhe“, schimpfte ich, weil er schon wieder mit den Pfoten daran herummachte.

Zur Antwort rammte er mir das Teil in dem Versuch es an meinem Bein abzustreifen, erstmal in die Kniekehle. Au. An dieser Stelle möchte ich festhalten, dass es ziemlich wehtat, wenn ein Iuba einem ein Stahlmaulkorb gegen das Bein rammte. Der blaue Fleck war jetzt schon vorprogrammiert.

Ungeduldig schubste ich ihn zur Seite, schulterte meine Tasche und betete zu jedem der gerade Lust hatte mich zu erhören, dass ich es hier unbeschadet herausschaffte. Dann öffnete ich mit einem letzten Atemzug die Tür einen Spalt und spähte vorsichtig hinaus auf den Korridor.

Niemand zu sehen.

„Okay, die Luft ist rein.“ Ich war der Schwarzmähne noch einen mahnenden Blick zu. „Benimm dich, verstanden?“

Ob er es nun verstanden hatte oder auch nicht, er schaute mich zumindest erwartungsvoll an. Zumindest bis er mir den Maulkorb ein weiteres Mal gegen das Bein rannte.

Ich gab ein Geräusch von mir, dass sich verdächtig nach einem Knurren anhörte, fasste die Leine dann fester und zog die Tür auf. Mit einem weiteren Blick nach links und rechts versicherte ich mich, dass hier wirklich niemand zu sehen war, dann zog ich einmal kräftig an der Kette und setzte mich eilig Richtung Notausgang in Bewegung.

Die Schwarzmähne folgte mir ohne weitere Probleme. Entweder er spürte meine Anspannung, die mit jedem Schritt zu wachsen schien, oder er freute sich einfach nur darüber, endlich aus seiner Zelle heraus zu sein. Ich musste ihn nicht mal hinter mir her ziehen, er hielt mit mir Schritt und überholte mich kurzfristig so gar.

Mein Blick irrte immer wieder hin und her und ich betete darum, dass sich nicht ausgerechnet jetzt eine von den Türen öffnete. Ausnahmsweise war mir das Glück sogar mal hold, ich erreichte den Notausgang ohne einen Zwischenfall. Trotzdem waren meine Hände ganz schwierig, als ich nach dem Türknauf griff.

„Okay, ich habe keine Ahnung, wo genau wir hier rauskommen, aber mach dich darauf gefasst, dass wir rennen müssen.“

Er antwortete zwar nicht, aber wenigstens war er ein aufmerksamer Zuhörer.

„Okay.“ Bevor ich die Tür öffnete, zog ich noch mal meinen Schal vor dem Gesicht zurecht, dann griff ich ein weiteres Mal nach dem Knauf und zog die Tür auf. Das war der Moment in dem ein kreischender Alarm losging und ich möchte betonen, dass ich nicht die einzige von uns beiden war, die vor Schreck zusammenzuckte.

„Scheiße!“ Damit hatte ich ja nun überhaupt nicht gerechnet, aber jetzt war es bereits zu spät, um sich lange den Kopf darüber zu zerbrechen. Der Sicherheitsdienst würde bestimmt nicht lange brauchen, bis er hier war.

Mit einem Fluch auf den Lippen, riss ich die Tür zur Gänze auf und stürzte einfach ins Freie. Ein kurzer Blick zur orientieren reichte, um mir einen Überblick zu verschaffen. Ich befand mich auf hinteren Teil des Parkplatzes. Theoretisch musste ich nur da vorne um die Ecke und dann konnte ich zum Haupteingang hinauspazieren.

Ein unauffälliger Seitengang wäre mir weitaus lieber, aber ich kannte mich auf dem Gelände nicht aus. Mein einziger Vorteil war, dass es bereits Dunkel wurde – war ich wirklich so lange darin gewesen?

„Komm“, wies ich die Schwarzmähne an und zog noch an der Kette, um ihm zu verstehen zu geben, was ich von ihm wollte und eilte dann hastig an der Mauer entlang. Keine Ahnung ob es meine Anspannung war, die sich auf ihn übertrug, aber die Schwarzmähne wirkte mit einem Mal sehr wachsam. An der Ecke verharrte er, ohne das ich ein Wort sagen musste.

Ich spähte herum und verschaffte mir einen Überblick.

Auf dem Parkplatz standen ein paar Autos und vorne im Pförtnerhäuschen brannte Licht. Verdammt, den Pförtner hatte ich vergessen.

Nachdenklich begann ich an meiner Unterlippe zu kauen. Ich konnte mich von Wagen zu Wagen pirschen und dann geduckt am Pförtnerhäuschen vorbei. Draußen standen genug Bäume, die mir Sichtschutz geben würden, ich musste es nur bis dorthin schaffen. „Einen besseren Plan haben wir nicht.“ Ich schaute zur Scharzmähne. „Bereit?“

Er gab ein seltsames Grunzen von sich, dass mich ein wenig irritierte, aber ich nahm es einfach mal als Zustimmung.

„Dann los.“

Zusammen schlichen wir beide einmal Quer über den Parkplatz. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass er versuchte sich mir anzupassen und was mich noch viel mehr verwunderte, war die Tatsache, dass er bisher noch nicht einmal den Versuch unternommen hatte, davonzustürmen. Von seiner Seite aus hätte ich mit weitaus mehr Schwierigkeiten gerechnet. Aber ich würde mich hüten mich zu beschweren.

Wir blieben so gut es eben ging außerhalb der Lichtkegel der Laternen, als wir von einem Wagen zum nächsten Schlichen. Das nächste Problem ergab sich jedoch schon ziemlich bald. Der am nächsten zum Pförtnerhaus geparkte Wagen stand knapp zwanzig Meter entfernt. Das war an sich nicht besonders fiel, aber zu meinem Glück stand da auch noch eine Laterne, die die Fläche prima ausleuchtete.

Mein Blick glitt zu dem Mann hinter dem Glas, der in eine Zeitung vertieft zu sein schien. War er unaufmerksam genug, dass ich an ihm vorbei kam? „Wir werden es wohl versuchen müssen.“

Ich war grade im Begriff mich wieder in Bewegung zu setzen, als ich noch die Person bemerkte, die sich der Anlage näherte und mich sofort wieder zurück in die Deckung zwang.

„Pssst“, machte ich, als der Iuba leise knurrte und legte ihm eine Hand auf die Schnauze. Er kauerte neben mir auf dem Boden und behielt die Person genauso im Auge wie ich.

Nach ein paar Metern wurde mir klar dass es sich um Doktor Glock handelte. In jeder Hand hielt er eine große Tüte. Bei dem Wissen, dass darin Essen war, fing mein Magen an zu knurren. Ich würde mir bei nächster Gelegenheit irgendwo etwas besorgen müssen, da ich zuhause vergessen hatte, mir etwas einzupacken. Aber das würde ich schon hinbekommen.

Im Moment interessierte mich die Reaktion des Pförtners fiel mehr, er reagierte nämlich überhaupt nicht. Entweder interessierte es ihn nicht, wer da kam oder ging, oder er war so in seinen Artikel vertieft, dass er es gar nicht mitbekam.

Vielleicht würde ich es ja doch noch unbeschadet hier herausschaffen.

Ich wartete bis Doktor Glock das Gebäude betreten hatte, dann nahm ich seine Schlüsselkarte und ließ sie einfach neben dem Wagen auf den Boden fallen. Irgendjemand würde sie sicher finden und ihm zurück geben. „Okay, jetzt oder nie.“

Geduckt eilte ich hinter dem Wagen hervor, hielt dabei aber nicht direkt auf den Ausgang zu, sondern auf die Außenmauer. Die Kette in meiner Hand klirrte leise, als ich mich dagegen drückte und mich dann langsam auf das Pförtnerhaus zuschob.

Irgendwo hinten auf dem Parkplatz hörte ich Geräusche. Wahrscheinlich der Wachdienst, der nachsah, warum der Alarm ausgelöst worden war.

Ich kümmerte mich nicht weiter drum, jetzt hatte ich nur noch mein Ziel vor Auge und das bedeutete mich wieder in Bewegung zu setzten und geduckt unter den Fenstern des Pförtnerhauses vorbeizuschleichen. Mein Herz schlug dabei wie wild und mein Puls dröhnte mir geradezu in den Ohren. Ich rechnete damit, dass jeden Moment jemand „Stoppt den Dieb!“ rief, oder die Schwarzmähne mich irgendwie verraten würde, aber zu meiner eigenen Überraschung, geschah nichts dergleichen. Völlig problemlos passierten wir den Eingang und brachten uns dann eilig hinter ein paar Bäumen in Sicherheit.

Wir waren draußen.

Oh mein Gott, ich hatte es geschafft, wir waren wirklich draußen! „Wir sollten unser Glück aber besser nicht herausfordern“, erklärte ich der Schwarzmähne mit einem Blick zurück auf das Gelände. Zwar würde Doktor Glock ohne seine Karte nicht ganz Problemlos hereinkommen, doch das war wahrscheinlich nur eine Verzögerung von Minuten. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, welche Hölle hier losbrach, wenn sie begriffen, dass ich mit dem Iuba verschwunden war. Besser wir wären dann schon ganz weit weg.

„Komm“, sagte ich zu der Schwarzmähne und zog leicht an seiner Leine. Wir sollten uns eilig aus dem Staub machen und das nicht nur, weil wir noch einen langen Weg vor uns hatten.

 

°°°

 

„Nein, komm her, ich will da lang und … mein Gott, na gut, dann pinkle doch an den blöden Baum.“ Genervt ließ ich die Leine länger, damit er zum gefühlt hundertsten Mal in der letzten Stunde das Bein heben konnte, um seine Duftmarke in die Welt zu setzen. Waren Hunde genauso anstrengend wie so ein Proles? Ich konnte mich wirklich glücklich schätzen Cherry zu haben, die klaute einem höchstens die Wurst vom Brot.

Sobald der Herr seine Arbeit abgeschlossen hatte, konnten wir uns wieder in Bewegung setzten. Nur würden wir unser Ziel erst nächstes Jahr erreichen, wenn wir uns weiterhin in diesem Schneckentempo bewegten.

Leider hatte ich bei meiner tollen Planung nicht bedacht, dass ein Iuba als Begleiter es mir unmöglich machen würde mit einem Taxi oder den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Dömitz zu gelangen. Ein Auto hatte ich leider auch nicht und so blieb mir nun nichts anderes übrig, als die ganze Strecke zu laufen. Schweinehund schien damit kein großes Problem zu haben, aber ich war müde, mir war kalt und wie ich feststellen musste, war Ausdauer etwas, dass einen nach mehreren Stunden Fußweg irgendwann abhanden kam.

Noch dazu mussten wir fernab von den Straßen und Ortschaften unseren Weg finden. Es gab zwar viele ländliche Gegenden die weitestgehend verlassen wirkten, es aber leider nicht waren. In den letzten Stunden hatten wir mehr als einmal hastig in Deckung gehen müssen. Jetzt war es zwar Nacht und im Moment bewegten wir uns am Rand eines Waldabschnitts entlang, aber es war eben auch Dunkel und das einzige Licht spendete der Mond.

Im Moment gab es eigentlich nur zwei Positive Dinge. Erstens: Ich hatte den Iuba. Zweitens: Bisher hatte er nicht einmal versucht abzuhauen. Das Geschirr und die Leine schienen ihn nicht mal zu stören, solange er nur jeden dritten Baum anpinkeln durfte. Trotzdem hätte ich im Moment für eine heiße Dusche, eine warme Mahlzeit und ein weiches Bett morden können.

Es war bereits weit nach Mitternacht, was bedeutete, dass ich nicht mal die Hälfte der Wegstrecke hinter mir hatte. Ich durfte gar nicht daran denken, was noch vor mir lag, sonst würde ich mir wohl einfach ein Telefon suchen, Reese anrufen und ihn bitten mich nach Hause zu holen.

Der Gedanke an ihn rief sofort wieder mein schlechtes Gewissen auf den Plan. Es war egal wie oft ich mir sagte, dass ich das hier auch für ihn tat, die Art wie ich ihn zurückgelassen hatte, fühlte sich einfach falsch an.

Ich war jetzt seit fast vierundzwanzig Stunden verschwunden. Zwar wusste ich nicht, wann genau er aufgewacht war und mein Fehlen bemerkt hatte, doch ihm war sicher auch klar, dass ich mich mitten in der Nacht still und heimlich aus dem Staub gemacht hatte.

Wie schon so oft in den letzten Stunden begann ich mich wieder zu fragen, wo er im Moment war und was er gerade tat. War jemand bei ihm und passte auf, dass er keinen Blödsinn machte? Ich wollte nicht dass er in Schwierigkeiten geriet, nur weil er glaubte, ich würde in welchen stecken.

Okay, es stimmte schon, ich steckte in Schwierigkeiten, ich hatte immerhin einen Proles aus einer staatlichen Einrichtung gestohlen. Ob er das schon wusste? Was würde er denken? Oh Mann, ich sollte aufhören mir die ganze Zeit Gedanken über ihn zu machen. Nicht nur dass ich mich damit selber ununterbrochen verrückt machte, ich hatte im Moment eigentlich wichtigeres, auf das ich mich konzentrieren sollte. Zwar hatte ich jetzt alles zusammen, was ich brauchte und vielleicht wusste Malou sogar schon, dass ich mich auf dem Weg zu ihr befand, aber damit war ich noch lange nicht am Ziel.

Der nächste Schritt meines Plans bestand darin sie zu ködern. Ich musste ihr eine Nachricht zukommen lassen. Wie die lauten sollte, wusste ich schon ganz genau, nur wie ich es machen sollte, war mir noch nicht ganz klar. Sie einfach anrufen ging nicht, sie stand nicht im Telefonbuch – das hatte ich überprüft, als Reese gestern morgen duschen war. Ich konnte auch nicht einfach zu ihr hingehen. Entweder würde sie mich direkt umbringen, oder die Polizei würde mich bei ihr abfangen. Nein, ich musste ihr aus der Ferne eine Nachricht zukommen lassen.

Seufzend schulterte ich meine Tasche neu und merkte erst dass die Schwarzmähne stehengeblieben war, als die Kettenleine sich strafte. Genervt wollte ich ihn schon anfahren, dass seine Blase mittlerweile eigentlich so trocken wie die Sahara sein musste, doch er versuchte gar nicht gegen einen Baum zu pinkeln. Er stand einfach nur da, die Ohren aufgerichtet, als würde er auf etwas lauschen.

Ich wusste nicht was genau es war, vielleicht die angespannte Körperhaltung, oder die Art wie er den Kopf ganz leicht drehte, so als versuchte er etwas zu lokalisieren, aber plötzlich machte sich eine nervöse Unruhe in mir breit und auch ich begann mich aufmerksam umzuschauen.

Wie befanden uns in einem kleinen Waldstück, in dem die Bäume nicht allzu dicht standen. Wenn man genau hinschaute, konnte man zwischen den schmalen Stämmen sogar noch die Landstraße erkennen. Alles war ruhig, vielleicht sogar ein wenig zu ruhig. Eigentlich hörte ich nichts außer meinem Atem und das Raschen der Blätter im Wind und trotzdem hatte ich plötzlich das Gefühl, dass wir nicht länger allein waren.

Das wir um diese Uhrzeit in der gottverlassenen Gegend auf Menschen treffen konnten, bezweifelte ich, doch die Alternative wollte mir gar nicht gefallen.

Als es plötzlich rechts von uns im Unterholz knackte, spürte ich wie das Adrenalin in meine Adern schoss.

Die Schwarzmähne legte die Ohren an und begann leise zu knurren. Fast schon lautlos schlich er ein paar Schritte an mich heran und fixierte einen Punkt zwischen den Bäumen.

„Was ist? Was hörst du?“ Ja, super, frag den Iuba was er hör. Er wird dir sicher antworten.

Direkt vor uns schon sich ein längliches, grünes Wesen langsam auf uns zu. Es war ungefähr eineinhalb Meter lag und vielleicht einen haben Meter hoch. Das Fell an der kleinen Stupsnase war weiß und verdunkelte sich bis zum Ende seines kurzen Schwanzes zu einem sehr dunklen Grün. Die Ohren waren rund und standen ihm seitlich vom Kopf ab. Kurze Schnauze, Greifhände und zwei kugelrunde Knopfaugen.

Verdammt, das war ein Ossa und diese maderartigen Proles jagten niemals alleine. „Das ist nicht gut“, murmelte ich und warf einen Blick zu den Seiten, nur um weitere schimmernde Augen zu entdecken. Zwei, vier, sechs. Vier Ossas und sie wirkten hungrig.

Ganz automatisch griff ich nach meiner Waffe, nur um festzustellen, dass der Platz leer war. Scheiße, ich hatte sie in meine Tasche gesteckt.

Einer der Ossas gab ein Zwitschern von sich, woraufhin alle ein wenig vorrückten.

Die Schwarzmähne senkte den Kopf und bleckte knurrend die Zähne. Sein ganzer Körper war angespannt, bereit jederzeit anzugreifen. Doch was konnte er mit dem Maulkorb schon tun? Ich hatte sowohl ihm, als auch mir jegliche Möglichkeit zur Verteidigung genommen.

Dreck auf Toast. An meine Waffe kam ich so schnell nicht heran, blieb also nur noch die Möglichkeit der Schwarzmähne den Maulkorb abzunehmen und dann zu hoffen, dass er die Scheiße hier überlebte. Ohne ihn wäre mein Köder futsch.

Zwei Mal Dreck auf Toast.

Vorsichtig und ohne unserer Besucher aus den Augen zu lassen, schob ich mich an die Schwarzmähne heran. Einer der Ossas zische mich an, als ich langsam nach dem Verschluss an dem Maulkorb tastete und dann griffen sie plötzlich ohne weitere Vorwarnung an.

Rein aus Reflex schlug ich mit dem langen Ende der Kettenleine nach dem Biest, dass sich direkt auf mich stürzen wollte. Ich erwischte ihn damit so heftig am Kopf, dass ich ihn nicht nur zur Seite schleuderte, sondern ihn mit dem Schlag auch leicht benommen machte. Doch die Freude währte nur von kurzer Dauer, denn schon in der nächsten Sekunde preschte die Schwarzmähe vor und weil ich die Leine noch immer fest im Griff hatte, riss er mich einfach von den Beinen.

Ich landete mit dem Gesicht hab im Dreck. Meine Tasche krachte zu Boden. Die Schwarzmähne jaulte auf, als ein weiterer Ossa sich in meinen Schuh verbiss. Scheiße. Ich trat nach ihm, aber jetzt stürzte sich auch noch der Dritte auf mich. Ich riss noch meine Arme hoch, um meine Kehle zu schützen.

In dem Moment rammte die Schwarzmähne das Vieh von der Seite und schluderte es von mir herunter. Der Stahlmaulkorb musste dem Vieh wehtun, aber mehr als blaue Flecken würde er unseren Angreifern nicht zufügen können. Ich musste das verdammte Ding abmachen!

Mit aller Kraft trat ich den Ossa von meinem Schuh weg und schleuderte ihn damit auf den Ersten. Sie fielen übereinander und begannen sich gegenseitig zu beißen.

Ich nutzte die Gelegenheit und packte die Leine, um die Schwarzmähne mit einem Ruck zu mir heranzuziehen. Es gelang mir wohl nur, weil ich ihn damit überraschte. Das lose Ende der Leine schlug ich einem der Ossa quer über den Rücken, sodass es quietschend zur Seite sprang. Der vierte hatte sich vorne in den Maulkorb verbissen.

Ohne lange zu fackeln griff ich nach dem Verschluss und versuchte die Lasche herauszuziehen, doch in dem Moment machte der Iuba wieder einen Satz nach vorne und einer der Ossas kam wieder auf mich zu.

„Verdammt!“, fluchte ich und schlug erneut mit der Leine zu, um das Mistvieh auf Abstand zu halten. Dann packte ich das Geschirr, weswegen ich von ihm ein Stück nach vorne gezogen wurde. Wieder griff ich nach dem Verschluss und dieses Mal gelang es mir, ihn zu lösen. „Ja!“ Ich ließ die Schwarzmähne los und er stürzte sich ohne Gnade auf seinen Angreifer.

Leider hatte ich bei der Aktion nicht nur die anderen drei Ossas aus den Augen gelassen, sondern auch meine einzige Waffe aus der Hand gegeben. Als ich einen plötzlichen Schmerz am Oberschenkel spürte, wirble ich reflexartig herum und schlug mit der Faust zu.

Der Ossa knurrte und biss nur noch fester zu. Gleichzeitig versuchte der zweite mich von der Seite anzugreifen.

Hecktisch tastete ich auf dem Boden nach einem Stein oder einem stabilen Ast, aber da waren nur Blätter und kleine Zweige.

Einer der Ossas kreischte plötzlich auf, dann gab es ein lautes Knacken und er verstummte abrupt.

Ich schlug währenddessen immer wieder auf den Ossa an meinem Bein ein, auf die Schnauze, aufs Auge, so lange, bis er endlich seine Zähne aus meinem Bein löste, aber der nächste sprang mich von hinten an und begann an fauchend an meiner Jacke zu zerren.

Scheiße, scheiße, scheiße!

Ich hörte ein weiteres Kreischen, Das Knurren wurde lauter und dann wurde der Ossa von mir weggezerrt. In dem Moment entdeckte ich den Ast. Ohne lange nachzudenken, machte ich einen Satz nach vorne, packte ihn mit beiden Händen und wirbelte fast noch in der gleichen Sekunde wieder herum. Gerade rechtzeitig, um das Biest, das gerade auf mich zuhielt zu bemerken.

Der erste Schlag brachte mir genug Zeit ein, um wieder auf die Beine zu kommen. Der zweite und der dritte Schlag hielten ihn auf Abstand. Beim vierten jedoch machte er einen Satz nach vorne und verbiss sich in den Ast.

„Das ist meiner!“, fauchte ich und wirbelte herum, ohne den Ast loszulassen. Da so ein Ossa gut und gerne bis zu fünfzig Kilo wiegen konnte, verlangte mir das einiges an Kraft ab, aber ich hatte genug Adrenalin im Blut, um ihn herumzuschleudern und gegen den nächsten Stamm zu donnern.

Er gab ein seltsames Quietschen von sich, ließ aber los. Ich allerdings setzte sofort nach und schlug mit dem Ast auf das Mistvieh ein. Immer und immer wieder, selbst dann noch, als es versuchte kreischend wegzukriechen. Ich ließ nicht nach, bis es sich nicht mehr bewegte und um mich herum plötzlich eine unheimliche Stille eingekehrt war.

Schwer atmend und bereit sofort wieder zuzuschlagen, drehte ich mich herum, aber gab es kein Ossa mehr, das versuchte mich anzugreifen.

Ein paar Meter weiter stand die Schwarzmähne und schaute mich an. In der Schnauze hielt er noch einen Kadaver. Zwei weitere lagen um ihn herum, direkt neben dem Maulkorb.

Wir hatten es geschafft und das sogar weitestgehend unverletzt. Da war zwar die Verletzung an meinem Bein, aber das war nur eine kleine Fleischwunde, damit würde ich klarkommen.

Erleichtert und erschöpft sackte ich einfach in mich zusammen und gab mir einen Moment zum Luftholen. „Das hätte richtig ins Auge gehen können.“

Die Schwarzmähne spuckte seine Beute aus und fiepte.

„Glaub ja nicht, dass wir deswegen jetzt Freunde sind. Wenn überhaupt, sind wir eine Zweckgemeinschaft.“

Er schnaubte, beugte sich vor und begann den Ossa zu fressen. Na wenigstens ein gutes hatte diese Aktion, ich würde ihn die nächsten Stunden nicht füttern müssen.

Angewidert wandte ich den Blick ab und stützte das Gesicht in die Hände. Mit so einer Scheiße hatte ich gar nicht gerechnet, was einfach nur dumm von mir gewesen war. Ich war Venator und wusste doch am Besten, dass Proles überall und zu jeder Zeit auftauchen konnten. Gott, das würde mir nicht noch einmal passieren.

Ich gab mir ein paar Minuten um wieder zu Luft zu kommen, dann untersuchte ich die Wunde an meinem Bein. Bei dem wenigen Licht konnte ich leider nicht viel sehen, aber mir war jetzt schon klar, dass das unser Vorankommen sicher nicht besser machen würde. Leider gab es im Moment nichts, was ich dagegen unternehmen konnte.

Unzufrieden griff ich nach meiner Tasche und kramte die Waffe heraus. Normalerweise machte man das nicht, aber da ich im Moment keine großen Möglichkeiten hatte, steckte ich sie mir hinten in den Hosenbund. Im Hintergrund hörte ich dabei leider viel zu genau, wie die Schwarzmähne ihre Mahlzeit verspeiste und kurz kam mir der Gedanke, dass ich Judd ja dann nicht anrufen musste – was völliger Blödsinn war, da ich ihn ja sowieso nicht anrufen konnte.

Ich gab der Schwarzmähne noch zehn Minuten, dann rappelte ich mich wieder auf die Beine und sammelte sowohl meine Tasche, als auch den Maulkorb wieder ein.

Obwohl es vielleicht nicht unbedingt schlau war ihm das Ding wieder anzulegen, landete es wieder auf seiner Schnauze – so war es einfach sicherer. Als Dankeschön rammte er mir das Ding wieder gegen das Bein. Zum Glück hatte er sich dafür das unverletzte ausgesucht.

„Na komm.“ Ich angelte nach der Kette und wickelte sie mir einmal um die Hand. „Wir haben noch ein Stückchen vor uns.“

 

°°°°°

Kapitel 21

 

Eine Unterkunft zu finden, in die ich ein so großes Proles hineinschmuggeln konnte, erwies sich als verhältnismäßig schwer. In den meisten Hotels und Pensionen musste man durch ein Foyer an der Anmeldung vorbei, um zum Zimmer zu gelangen. Bis ich endlich ein Motel gefunden hatte, bei dem man die Zimmer direkt vom Innenhof und Parkplatz aus betreten konnte, war ich schon jenseits von Gut und Böse. Wahrscheinlich schaute der Rezeptionist hinter dem Empfangstresen mich deswegen so seltsam an, als er mir die Schlüssel für mein Zimmer überreichte. Das hoffte ich zumindest. An der Schwarzmähne konnte jedenfalls es nicht liegen, den hatte ich vorsorglich draußen halb versteckt hinter einem Baum festgebunden.

Ich blätterte Geld für drei Nächte und die beiden Sandwichs aus dem Kühlregal auf den Tresen, nahm den Schlüssel an mich und verließ das doch recht schäbige Gebäude.

Es war Sonntag und der Himmel begann bereits wieder zu dämmern. Ich hatte seit weit über einen Tag kein Auge mehr zugemacht. War so fertig, dass ich am liebsten einfach im Stehen eingeschlafen wäre. Stattdessen überprüfte ich den Sitz meines Schals, schaute mich dann wachsam nach allein Seiten um und eilte über den Parkplatz zu einer Reihe von Bäumen.

Das Motel lag ein wenig abgelegen an einer Landstraße. Dömitz und Malou waren mit Sicherheit noch mehrere Stunden Fußmarsch von mir entfernt, aber davon abgesehen, dass ich nicht vor hatte mich in der Nähe, oder sogar in der Ortschaft selber zu zeigen und ich sowieso keinen Schritt mehr tun konnte, war das völlig in Ordnung. Außerdem wollte ich mein Glück nicht weiter herausfordern. Bis auf ein paar Kinder, die den Iuba für einen großen Hund gehalten hatten, war ich keinem Menschen begegnet und das wollte ich gerne auch so belassen.

Natürlich hatte ich auf dem Weg hier her immer wieder Leute und Autos von weitem gesehen, aber ich hatte gewusst es zu verhindern, dass sie uns bemerkten.

Bevor ich zischen den Bäumen untertauchte, versichert ich mich noch mal mit einem Blick, dass auch wirklich niemand hier war. Erst dann verschwand ich hinter den Stämmen.

Die Schwarzmähne saß noch genau an der Stelle, an der ich sie zurückgelassen hatte und rammte mit zur Begrüßung mal wieder den verdammten Maulkorb gegen das Bein.

„Ich schwöre dir, wenn du damit nicht aufhörst, werde ich dich mit dem verdammten Teil verhauen.“

Unbeeindruckt von meinem Geknurre, streckte er den Hals, um an den Broten zu schnüffeln, während ich die Kette vom Baum löste und ihn nach einem weiteren prüfenden Blick hinaus auf den Parkplatz zog. Zusammen huschten wir rüber zum Gebäude, bis wir das äußerste Zimmer unten links erreicht hatten.

Meine Finger fühlten sich ganz taub an, als ich die Tür aufschloss. Ich war nicht nur müde, ich war auch bis auf die Knochen durchgefroren und einfach nur froh, als ich mich hinter der Schwarzmähne in das Zimmer schieben konnte.

Sobald ich die Tür hinter uns geschlossen und verriegelt hatte, ließ ich sowohl die Kettenleine, als auch die Tasche fallen und sackte erleichtert dagegen. Geschafft, ich hatte das Handy, den Iuba und war fürs erste sicher untergebracht. Aber damit war ich für heute noch nicht durch. Ich hatte Hunger, ich wollte duschen und ich brauchte dringend eine Mütze voll Schlaf.

Wie es schien, fand auch die Schwarzmähne das Bett interessant. Die Kette hinter sich herziehen, schnüffelte er den Raum ab, knurrte einmal die Wand an und machte dann einen Satz zwischen die weichen Decken.

„Hey!“, beschwerte ich mich und richtete mich mühevoll wieder auf. „Raus da, du hast da nicht zu suchen.“

Er ließ sich demonstrativ auf die Seite fallen und atmete geräuschvoll aus.

„Das kannst du aber sowas von vergessen.“ Ich schnappte mir die Kette und wollte ihn dran herausziehen, doch er stemmte sich mir einfach entgegen. „Kommst du da wohl raus“, schimpfte ich und griff nach dem Geschirr.

Er sprang einfach auf und machte einen Satz ans andere Ende des Bettes. Dann schaute er mich erwartungsvoll an.

Also wirklich, auf diesen Quatsch hatte ich jetzt aber sowas von gar keine Lust, doch wie ich gleich darauf feststellen musste, schienen auch Proles hin und wieder in Spielelaune zu geraten. Anders konnte ich mir sein Verhalten einfach nicht erklären. Die Schwarzmähne schien sich geradezu einen Spaß draus zu machen, alles daran zu setzen, meinen Versuchen zu entgehen.

Am Ende kniete ich auf dem Bett, das Kissen lag auf dem Boden und der blöde Iuba stand immer noch auf der Matratze.

„Du bist die Pest.“

Er wirkte unbeeindruckt.

Mit einem schweren Seufzer gab ich mich vorerst geschlagen. Das beutete noch lange nicht, dass er im Bett bleiben durfte – von wegen, ich würde nicht mal mit ihm im selben Raum schlafen – aber da ich ihn im Badezimmer festketten wollte und ehrlich gesagt keine Lust hatte zu duschen, wenn er direkt daneben saß, konnte er für den Moment bleiben wo er war.

Bevor ich mich allerdings unter meine wohlverdiente Dusche stellte, versicherte ich mich noch einmal, dass der kleine, recht dunkel gehaltene Raum, auch wirklich versiegelt war. Ich hatte einfach zu viele Strapazen auf mich genommen, um ihn nun durch meine Unbedarftheit zu verlieren.

Sobald ich mir sicher war, dass er nicht einfach abhauen konnte, schnappte ich mir ein Satz frischer Wäsche und verschwand damit in das kleine, geflieste Bad. Es war zwar kein Fünf-Sterne-Hotel, aber es war sauber. Zwei Minuten später stand ich unter dem heißen Wasserstrahl und begann mich zum ersten Mal seit Stunden wieder wie ein richtiger Mensch zu fühlen.

Die Hitze vertrieb die Kälte aus meinen Gliedern und eine genauere Untersuchung meines Oberschenkels zeigte mir, dass der Ossa mir nur eine Oberflächliche Wunde zugefügt hatte. Die Schwarzmähne war aus der Schlacht seltsamerweise unbeschadet herausgekommen. Tja, sein dickes Fell war wohl sein Vorteil.

Als ich zum gefühlt zehnten Mal unter der Dusche gähnte, entschied ich, dass es nun an der Zeit war wieder herauszukommen. Ich trocknete mich ab, zog mir was bequemes an und stellte beim herauskommen fest, dass dieser verflixte Iuba sich über das ganze Bett ausgebreitet hatte.

„Wenn du da irgendwelche Zecken drauf verteilst, stopfe ich sie dir ins Maul“, teilte ich ihm mit und ging zu dem kleinen Nachttisch, um Reese' Waffe dort abzulegen. Die dreckigen Klamotten ließ ich neben der Tasche auf den Boden fallen und suchte dann das Halsband und die Kettenleine, die ich in der Zoohandlung erworben hatte heraus. Er trug zwar schon das Zeug aus Historia, aber wie sagte man so schön? Doppelt hält besser und ich wollte es einfach nicht riskieren, dass er in den nächsten Stunden in einem Anfall einer Heißhungerattacke über mich herfiel. Da mir aber jetzt schon klar war, dass er nicht freiwillig aus dem Bett kommen würde, griff ich zu einem kleinen Trick.

Ich hatte mit Absicht zwei Sandwichs gekauft. Eines natürlich für mich, das andere für ihn. Dann sollten wir doch jetzt mal schauen, ob er hungrig war – seine letzte Mahlzeit lag immerhin schon ein paar Stunden zurück.

Noch während ich vor der Tasche hockte, packte ich eines der belegten Brote aus. Dann nahm ich es, zusammen mit der Kettenleine und dem Kettenhalsband und stellte mich damit vor das Bett. „Schau mal was ich hier schönes habe.“ Provozierend wedelte ich damit vor sein Nase herum und als ich einen Schritt zurücktrat, stellte ich befriedigt fest, dass er sich aufrichtete. „Wenn du es haben willst, dann musst du schon herkommen.“

Die Verlockung des Essens reichte nicht nur, um ihn endlich aus dem Bett zu bekommen, ich schaffte es auch ihn damit ins Badezimmer zu locken, wo ich ihm nicht nur das Halsband anlegte, sondern auch beide Leinen an der Heizung befestigte. Erst dann nahm ich ihm den Maulkorb ab und legte ihm sein Futter auf den Boden. „Wohl bekomms.“

In einer unbedachten Geste, die mich selber überraschte, strich ich ihm einmal über den Kopf, erstarrte und riss die Hand dann wieder zurück. Was bitte war das gerade gewesen? „Es wird Zeit, dass ich ins Bett komme.“

Vorher allerdings verspeiste ich noch mein eigenes Sandwich und überlegte, was der nächste Schritt war – naja, nachdem ich ausgeschlafen hatte. Ich musste Malou eine Nachricht zukommen lassen.

Ein Brief mit der Post würde sie sicher erreichen, allerdings würde das mehrere Tage dauern und so lange wollte ich eigentlich nicht warten. Wahrscheinlich wäre es sinnvoller, wenn ich irgendeine von ihren Firmen auswendig machte und dort persönlich eine Nachricht für sie abgab. Sie hatte doch damit angegeben, dass sie Unternehmerin war, also musste sie irgendwo auch einen Firmensitz haben. Jetzt musste ich nur noch herausfinden wo.

 

°°°

 

Langsam ließ ich meinen Blick über den Bürokomplex in der der Innenstadt von Lüneburg gleiten. Viel Glas und Beton, aber nicht sehr auffällig. Neben der Tür verkündete ein dezentes Schuld davon, dass dies der Hauptsitz von Graben Inc. war.

Also ehrlich gesagt, war ich ein kleinen wenig enttäuscht, von Malou hatte ich doch etwas erwartet, dass mich ein wenig mehr beeindruckte, aber dieses Gebäude war einfach nur zweckdienlich.

Meinen Morgen hatte ich damit verbracht herauszufinden, wo ich hin musste und einen Supermarkt mit Frischetheke auswendig zu machen. Mein Budget war zwar ziemlich klein, aber es war wichtig, dass der Iuba satt und zufrieden war und ein Sandwich hielt da nun mal nicht sehr lange vor. Also hatte es für mich zum Frühstück ein belegtes Brötchen gegeben und für die Schwarzmähne drei Kilo Rinderbraten – das sollte bis morgen vorhalten.

Sobald das alles erledigt war, hatte ich mich davon überzeugt, dass das Handy so funktionierte, wie es funktionieren sollte. Zum Glück hatte ich recht gehabt und der Akku war einfach nur leer gewesen. Danach hieß es wieder an die Arbeit zu gehen.

Da es ein wenig auffällig wäre, mit einem Iuba an der Leine durch Lüneburg zu marschieren, hatte ich ihn im Hotel zurückgelassen und mich dann mit dem Bus auf dem Weg hier her gemacht. Und jetzt, eineinhalb Stunden später, stand ich vor diesem Gebäude und hoffte inständig, dass die Schwarzmähne noch immer festgebunden um Badezimmer des Hotels lag. Außerdem wurde ich langsam ein wenig nervös. Zum Glück war es kalt genug, dass sich niemand wunderte, dass ich mir meinen Schal vor mein Gesicht zog Konnte ja niemand ahnen, dass ich das nur tat, um meine auffällige Narbe zu verdecken. Trotzdem bestand immer die Möglichkeit entdeckt zu werden. Also am Besten schnell rein, Nachricht abgeben und wieder raus.

Okay, du kannst das, gib dich einfach selbstbewusst und professionell. Mit einem prüfenden Blick auf meinen Zettel versicherte ich mich, dass ich auch vor dem richtigen Bürokomplex stand, bevor ich meinen ganzen Mut zusammenkratzte, noch einmal tief einatmete und dann mit einem Schwung Anzugträger den noblem Laden betrat.

Von Innen wirkte das Gebäude nicht mehr ganz so schlicht. Es erinnerte mich ein wenig an diese Anwaltskanzleien, die man immer in Serien im Fernseher sah – ja ich mochte solche Serien.

Nach kurzem zögern entschied ich mich zur Anmeldung zu gehen und mich an die Nette Dame hinter dem Tresen zu wenden. „Entschuldigen Sie, vielleicht können Sie mir ja helfen.“ Ich griff in meine Tasche und zog den vorbereiteten Brief heraus. Der Text darin war schlicht und nur zu verstehen, wenn man wusste worum es ging.

 

Ich habe das Kuscheltier.

Wollen Sie es ihrer Sammlung wieder hinzufügen?

Ihr Sparschwein möchte sicher ein wenig abspecken.

 

G.S.

 

Darunter hatte ich noch meine Handynummer gekritzelt. Hoffentlich war Malou schlau genug, um zu kapieren, dass ich ihr den Iuba zum Kauf anbot. Ich hatte mich nicht getraut es noch deutlicher zu schreiben, da ich nicht wusste, durch wie viele Hände dieser Brief gegen würde und ob er Malou überhaupt erreichte.

Ein weiteren Brief mit der gleichen Mitteilung hatte ich bereits vorhin in einen Briefkasten eingeworfen, falls dieser hier wirklich nicht bis zum Empfänger durchkam.

Jetzt aber legte ich den Brief erstmal vor mir auf den Tisch. „Dieser Brief müsste ganz dringend zu Frau Grabenstein. Wo gebe ich ihn am besten ab?“

Die Brünette hinter dem Tresen musterte mich kritisch über ihre Brille hinweg. Mein Outfit passte so gar nicht zur hier herrschenden Kleiderordnung und das nicht nur wegen dem Schal vor meinem Gesicht. Am liebsten hätte ich mir auch noch die Kapuze über den Kopf gezogen, um mein rotes Haar zu verstecken, aber das wäre dann wahrscheinlich doch ein wenig auffällig. „Um was geht es denn?“

Im meine Zukunft. „Das ist privat.“

Sie rümpfte die kleine Stupsnase. „Normalerweise nehmen wir keine Briefe von Privatpersonen an der Rezeption entgehen. Wenn Sie mir also sagen um was es geht, kann ich Ihnen sagen, wohin Sie sich wenden müssen.“

Sie könnte den Brief einfach mir geben.“

Bei der Stimme wirbelte ich so schnell herum, dass ich mit dem Ellenbogen gegen den Tresen knallte, doch der Schmerz war gar nichts zu dem Schreck der mich ereilte, als ich sah, wer da unbemerkt neben mich getreten war. Declan, einer von Malous persönlichen Handlangern. Mein Herz setzte einen Schlag aus, um dann wie verrückt zu rasen. Er war es, keine Frage, dieses falsche Lächeln würde ich überall erkennen.

Ich kümmere mich schon um sie“, sagte er zu der Frau hinter dem Tresen. „Gehen Sie nur wieder an die Arbeit.“

War die Frau vorher schon steif gewesen, so war sie jetzt fast aus Granit. „Natürlich“, sagte sie nur kurz angebunden, wandte sich aber ab und begann einen Meter weiter auf dem Schreibtisch herumzukramen.

Meine Finger krallten sich um den Brief, während ich mich hastig nach allen Seiten umsah und mir selber versicherte, dass er mir hier nichts antun konnte – dafür gab es einfach zu viele Zeugen.

Nervös?“ Sein berechnendes Lächeln zeigte eindeutig zu viele Zähne. „Das sollten Sie auch sein, die Polizei sucht überall nach Ihnen.“

Ach wirklich? Weil Reese sie auf mich gehetzt hatte, oder weil der Iuba sich in meinem Besitz befand? Darüber sollte ich mich mal informieren, wenn ich wieder im Hotel war. Das hieß, falls ich es hier mit heiler Haut herausschaffte. Ich wich einen Schritt zurück und nahm Augenmaß zur Tür.

Keine Sorge, ich habe nicht vor die Bullen zu rufen, dafür bin ich viel zu neugierig, was Sie hier machen.“

Ich zögerte, aber eigentlich bot sich mir hier doch perfekte Gelegenheit. Wenn ich ihm den Brief gab, würde er doch ganz sicher bei Malou ankommen, oder? Die Chancen standen jedenfalls besser, als wenn ich ihn der neugierigen Sekretärin überreichen würde. Okay, gib dich ganz selbstbewusst. „Ich habe eine Nachricht für Malou, die sie interessieren könnte.“

Tatsächlich.“ Er musterte mich ein wenig zu intensiv. Unter diesem Blick musste ich mich zusammenreißen, damit ich nicht nervös herumzappelte.

Tatsächlich. Bei meinem ersten Besuch bei ihr, habe ich etwas mitgenommen, als ich gegangen bin. Ich weiß dass sie versucht hat es sich zurückzuholen und dabei gescheitert ist. Nun, wo sie versagt hat, war ich erfolgreich.“ Ich richte ihm den Brief. „Es befindet sich wieder in meinem Besitz und wenn sie es noch immer Interesse daran hat, wird sie tief in die Taschen greifen müssen. Ich will zwanzig Millionen.“

Sein Lächeln wurde ein wenig breiter, als er den dünnen Umschlag an sich nahm und ihn sich von beiden Seiten anschaute. „Wie kommen Sie darauf, dass Frau Grabenstein mit einer nachgewiesen Geisteskranken Geschäfte machen würde?“

Oh du mieses, kleines Arschloch. „Ich bin nicht geisteskrank, ich habe ihren kleinen Trick durchschaut, nur leider ist mein Ruf bereits ruiniert. Da Malou dafür verantwortlich ist, finde ich es nur gerecht, von ihr einen Ausgleich zu erhalten.“ Ich wich noch einen Schritt zurück. Je mehr Abstand zwischen uns war, desto besser. „Die Nummer steht im Brief. Wenn das Miststück sich entschieden hat, soll sie sich bei mir melden.“

Declans Augen verengten sich leicht. Es war eine kaum wahrnehmbare Bewegung und wäre mir wohl entgangen wenn ich in diesem Moment geblinzelt hätte. „Ich werde es ihr ausrichten“, sagte er leise und ließ den Brief in der Innentasche seiner Jacke verschwinden.

Fast hätte ich mich bei ihm bedankt, doch im letzten Moment konnte ich mich noch bremsen. Stattdessen wandte ich mich ohne ein weiteres Wort ab und marschierte mit steifen Beinen auf den Ausgang zu. Dabei rechnete ich die ganze Zeit damit, dass jemand „Haltet sie!“ brüllte, oder sonst etwas geschah, aber niemand hielt mich auf.

Trotzdem schlug mein Herz mir bis zum Hals, als ich den Eingang passierte und wieder hinaus auf die Straße trat. Ich konnte gar nicht anders, als noch einmal einen Blick zurück zu werfen.

Declan stand noch immer am Tresen und beobachtete mich aufmerksam.

Ich zeigte ihm den Mittelfinger, klappte dann meine Kapuze hoch und machte mich wieder auf dem Weg zum Bus. Bald war das alles vorbei, ich musste nur noch ein wenig länger durchhalten.

 

°°°

 

Ach. Du. Scheiße.

Ich starrte auf den Bildschirm meines Laptops und war mich nicht ganz sicher, ob ich lachen oder weinen sollte. Jetzt war mir klar, was Declans Kommentar sollte. Ich hatte es in die Schlagzeilen geschafft. Wie es schien, war der Raub eines Proles von einer geistig labilen Frau mit einer gestohlenen Waffe interessant genug, dass ich selbst in den größeren Nachrichtensendern erwähnt wurde.

Ich war erst vor zehn Minuten von meinem Ausflug ins Hotel zurückgekommen. Es war schon ziemlich kurios gewesen, wie Schweinehund sich über meine Rückkehr gefreut hatte. Erst lag er nur da und stellte die Ohren auf, als überlegte er ob es sich lohnen würde mich anzuknurren, doch als er mich dann erkannt hatte, war er nicht nur auf die Beine gesprungen, er hatte auch wie verrückt mit dem der Rute gewedelt, als sei er nur ein etwas seltsamer Hund. Die Kette war bei jeder Bewegung gegen die Heizungsrohre gekracht und hatte damit eine Symphonie aus Radau veranstaltet.

Meine Begrüßung war gewesen, ihn anzuzischen, dass er ruhig sein sollte und es mir mit einem Apfel in der Hand und dem Laptop auf dem Schoß, im Bett bequem zu machen. Und jetzt das.

 

Diebstahl in Historia

 

Der Text darunter fasste zusammen, wie ich Samstagabend mit der Schwarzmähne verschwunden war und das seit dem jede Spur von mir fehlte. Des Weiteren klärte der Text die Leser darüber auf, dass ich durch eine Toxrinvergiftung halluzinierte und man sich mir wegen der gestohlenen Waffe nicht nähern sollte. Wenn Sie die Gesuchte sehen, melden Sie es bitte danke bei der Polizei.

Ich klickte mich zurück zur Suchmaschine und klickte einen anderen Link an.

Hier war direkt unter der Überschrift ein großes Bild von mir zu sehen, auf dem ich in die Kamera lächelte. Der Text darunter beinhaltete im Grunde die gleichen Angaben, wie schon der vorherige Artikel, nur dass er hier noch ein kurzes Video gab, das ich aus reiner Neugierde anklickte.

Das Video schien von Sonntagmorgen zu stammen. Ein älterer Reporter interviewte einen etwas beleibten Mann, der in der Hierarchie von Historia wohl sehr weit oben stand. Es war die Rede von Überwachungskameras, auf denen deutlich zu sehen war, dass ich mich mit dem Iuba vom Gelände geschlichen hatte und auf die Frage hin, wie das denn möglich war, begann er von dem Phänomen der Proleszuneigung zu sprechen. Dabei betonte er aber ausdrücklich, dass sowas extrem selten geschah – war wahrscheinlich besser so. Wer wusste schon, auf was für Ideen die Leute sonst kommen würden.

Der Reporter setzte gerade zu seiner nächsten Frage an, als es am Rand der Aufnahme zu kleinen Unruhen kam. Die Kamera schwenkte herum und mir stockte einen Moment der Atem.

Reese.

Er stieg aus unserem Wagen, lief quer über den Parkplatz und verschwand dann eilig im Gebäude. Auf dem Weg dorthin wurde er von Reportern belagert und mit Fragen bombardiert, doch er beachtete niemanden. Er wirkte angespannt und übermüdet. Seine Haare waren völlig zerzaust, so als sei er sich ständig mit den Haaren hindurchgefahren. Und sein Blick … ich hatte ihn noch niemals so gehetzt gesehen.

Mehrere Male spulte ich das Video zurück, um mir die kurze Szene immer und immer wieder anzuschauen. Dann stoppte ich es an einer Stelle, an der er im Profil zu sehen war.

Er suchte mich. Natürlich tat er das, aber warum war niemand bei ihm? Er sollte jetzt nicht alleine sein.

Mein schlechtes Gewissen kehrte mit aller Härte zu mir zurück und einen Moment wollte ich ihn nur noch anrufen und ihm sagen wo ich war, damit diese Sorgenfalten aus seinem Gesicht verschwanden, aber das wäre einfach nur dumm. Ich wollte nicht, dass es ihm schlecht ging, aber ich war schon zu weit gekommen, um jetzt noch umzukehren.

„Bald ist es vorbei“, versprach ich dem Bildschirm und zeichnete Reese' Gesichtskonturen mit dem Finger nach. „Aber ich muss das erst in Ordnung bringen, bevor ich wieder nach Hause kann.“ So war es einfach am Besten. Sobald ich wieder zuhause war, wäre alles wieder gut. Nicht nur zwischen uns, auch in unseren Leben. Bis es allerdings so weit war, musste ich mich von ihm fernhalten, denn er würde nicht nur versuchen mich aufzuhalten. Nach der Aktion die ich gebracht hatte … er würde sie wohl als Bestätigung seiner schlimmsten Befürchtungen sehen und mich komplett aus dem Verkehr ziehen.

Ich konnte ihm nicht mal einen Vorwurf machen. So wie die Dinge lagen, würde ich mich an seiner Stelle vermutlich auch für verrückt erklären. Dass er mich nicht direkt in ein Krankenhaus hatte einweisen lassen, war einzig und alleine seinem Sturkopf zu verdanken. Schon früher hatte er immer alles alleine regeln wollen und versucht die Familie selbst in den schlimmsten Zeiten mit aller Macht zusammenzuhalten. Erst als Celina damals fast Nick umbrachte, hatte er die Notbremse gezogen und sie in einer geschlossenen Anstalt untergebracht. Aber damit hatte er auch seinen kleinen Bruder verloren, denn der war damals noch minderjährig gewesen und Reese hatte mal als Vormund nicht mal in Betracht gezogen. Auch wenn man ihm das vielleicht nicht anmerkte, Familie war für Reese eines der wichtigsten Dinge im Leben und er würde wohl alles Opfern, um die kaputten Reste zusammenzuhalten. Darum würde ich mich auch niemals gegen den Plan aussprechen, Nick bei uns wohnen zu lassen.

Als meine Gedanken anfingen mich zu deprimieren, schob ich meinem Laptop von meinem Schoss und zwang mich meine Gedanken auf andere Dinge zu konzentrieren. Immerhin befand ich mich mittlerweile an einer sehr kritischen Stelle meines Plans. Malou könnte sich jederzeit bei mir melden und dann musste ich bereit sein.

Ich erhob mich, ging rüber zu der schmalen Kommode und griff nach dem Handy, dass ich zum Aufladen dort abgelegt hatte. Reese seine Handynummer hatte ich auf die Kurzwahl gelegt. Wenn es so weit war, musste ich nur zwei Knöpfe drücken und schon hatte ich ihn in der Leitung. Das wäre mein Sichteisnetz und wie ich hoffte, auch mein Zeuge. Zwar würde ich nichts von dem was er sagte hören können, aber er würde alles mitbekommen, was bei mir geschah und – wie ich hoffte – rechtzeitig schalten und eingreifen. Er ahnte noch nichts davon, aber er war ein wichtiger Teil meines Plans. Ich war nicht so dumm, mich noch einmal allein in Malous Nähe zu begeben.

Darum hatte ich dieses Handy so dringend gebraucht. Wenn ich Reese mit meinem anrufen würde, könnte ich mich stumm stellen, ihn jedoch nicht. Meines und wahrscheinlich auch jedes andere Handy funktionierten also verkehrt herum, dabei war es wichtig, dass man ihn nicht hören konnte. Ich wollte nicht, dass Malou zufällig mitbekam, dass da noch jemand in der Leitung war und unser Gespräch belauschte.

Obwohl ich das bereits fünf Mal getan hatte, kontrollierte ich ein weiteres Mal, ob die Nummer auch die richtige war. Dann stand ich da und überlegte, wie ich es festmachen sollte.

Der Plan sah vor das Handy bei der Schwarzmähne am Geschirr unterzubringen. Ich hatte keine Ahnung, was genau geschehen würde, aber ich befürchtete, dass man mich vielleicht filzen würde, bevor ich ihr gegenüber trat. Dem Iuba dagegen würde sich niemand wagen zu nahe zu kommen und sein dickes Fell würde das kleine Gerät einfach verdecken.

Nachdenklich ließ ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Ein paar Kabelbinder wären jetzt sehr hilfreich. Damit könnte ich es einfach an seinem Geschirr festmachen. Leider hatte ich im Moment keine Kabelbinder zur Hand und nach dem was ich gerade gelesen hatte, sollte ich es vermeiden, unnötig in die Öffentlichkeit zu gehen. Aber ich könnte versuchen es mit einer Schnur festzubinden.

Ich war noch mit den Pro und Kontras dieser Option beschäftigt, als die Schwarzmähne im Bad urplötzlich und ohne jeden Grund ein kurzes Jaulen ausstieß. Keine Ahnung warum, aber das Geräusch erschreckte mich dermaßen, dass ich nicht nur heftig zusammenzuckte, sondern mir auch noch das Handy aus der Hand rutschte.

Hätte ich es einfach fallen gelassen, wäre es unbeschadet auf dem weichen Teppich gelandet, aber dank meiner unglaublichen Reflexe und dem Versuch es in der Luft aufzufangen, schlug ich es ausversehen gegen die harte Wand, wo es abprallte, eine Delle hinterließ und in zwei Teile zu Boden fiel. Ich schaute Schweinehund böse an. „Gib es zu, das hast du mit voller Absicht gemacht.“

Er erwiderte meinen Blick sorglos.

„Deine Unschuldsmiene kannst du dir sparen, die kaufe ich dir nicht ab.“ Ich rieb mir einem quer übers Gesicht, bevor ich die beiden Einzelteile vom Boden sammelte und beim Zusammensetzen darum betete, dass es nicht kaputtgegangen war. Naja, noch mehr als vorher. Oh Mann, ich war angespannter, als ich es mir bisher hatte eingestehen wollen und wenn ich nicht langsam etwas von dieser Anspannung loswurde, würde ich demnächst vermutlich einfach in meine Einzelteile zerspringen.

Zu meiner Erleichterung funktionierte das Handy noch genauso wie es sollte, doch das Problem hatte mit der Unterbringung bestand noch immer.

Auf der Suche nach einer Lösung hockte ich mich vor meine Tasche und begann auf der Suche nach etwas nützlichem darin herumzukramen. Ich bekam eine Socke in die Hand. Da war zwar nicht optimal, aber es würde schon gehen und die Farbe würde in seinem Fell einfach untergehen.

Kurz überlegte ich das ganze glich an seinem Geschirr zu belästigen, aber das wäre kontraproduktiv. Ich musste erst auf Malous Anruf warten, bevor ich zum nächsten Schritt übergehen konnte. Also nahm ich die Socke und das Handy und legte beides neben der Waffe auf den Nachttisch. Als ich mich dann wieder auf das Bett setzte und überlegte, wie ich mir die Warterei vertreiben konnte, fiel mein Blick wieder auf den offenen Laptop und das Standbild mit Reese.

Einen Moment schaute ich es mir einfach nur an. Aber die Schuldgefühle plagten mich bei seinem Anblick nur noch schlimmer, also klappte ich den Bildschirm eilig zu und streckte mich daneben auf dem Bett aus. Als mir klar wurde, dass die Schwarzmähne mich interessiert beobachtete, drehte ich mich auf die andere Seite und starrte durch das Fenster in den trüben Nachmittag.

Was Reese wohl gerade tat? War er wieder zurück nach Berlin gefahren, oder noch immer oben bei Historia? Er war wahrscheinlich nur hingefahren, um persönlich mit Doktor Glock zu sprechen. Fast wäre es mir lieber, wenn er einfach zuhause sitzen und auf meinem Anruf warten würde. So machte er sich doch nur unnötig Stress. Außerdem war der Forscher über Reese' Besuch sicher nicht sehr erfreut gewesen.

Gott, im Moment ließ ich wirklich eine Spur aus Scherben hinter mir zurück und ich war mir ehrlich gesagt auch nicht sicher, wie groß der Schaden am Ende sein würde. Klar, ich war unterwegs, um ein paar Dinge zu regeln, aber … ein kleinen wenig fürchtete ich mich auch davor, Reese wieder unter die Augen zu treten. So wie ich ihn zurückgelassen hatte, musste ihm mittlerweile klar sein, dass unser letzter Abend geplant war.

Er hatte gesagt, er liebt mich. Reese war kein Mensch, der oft und offen über seine Gefühle sprach. Wenn er es also tat, waren das sehr wertvolle Momente. Nicht nur für mich, auch für ihn. Aber nun hatte ich das Gefühl, diesen Abend in den Dreck gezogen zu haben.

Mit einem schweren Atemzug schloss ich die Augen und versuchte meine Gedanken auf einen schönen Moment zu richten, damals, als er es zum ersten Mal gesagt hatte. Wir waren gerade mal ein halbes Jahr zusammen gewesen und gerade damit beschäftigt, in unsere gemeinsame Wohnung einzuziehen. Alles war noch frisch und neu gewesen. Nicht nur unsere Beziehung, auch all die Wunden, die Taids Taten bei uns hinterlassen hatten.

Ich wusste noch ganz genau, wie wir den ersten Abend in unserer neuen Wohnung saßen. Überall standen Umzugskartons und halb aufgebaute Möbel herum. Für Cherry war es das reinste Paradies gewesen. Reese hingegen, hatte ich noch nie so viel fluchen gehört.

Das war es, der letzte Karton. Schwer schnaufend stellte ich ihn neben dem bereits vorhandenen Stapel im Flur ab und schlängelte mich dann zwischen unserem ganzen Kram bis ins Wohnzimmer hindurch, wo Reese gerade auf dem Rücken lag und mit dem Kopf halb in unserem neuen Wohnzimmerschrank steckte. „Eve und Mace sind nach Hause gefahren. Ich soll dich später von ihr drücken.“

Da er mit dem Mund gerade zwei Schrauben festhielt, bekam ich zur Antwort nur ein Grummeln.

Geschafft vom Tag, ließ ich mich auf ein Teilstück der Couch fallen und atmete erstmal tief durch. Wer hätte gedacht, dass ich so viel Kram besaß? Dabei waren die Sachen von Onkel Roderick und Wynn … ich presste die Lippen aufeinander und verbot mir den Gedanken zu Ende zu führen. Besser ich konzentrierte mich auf etwas anderes. Ich könnte schon mal damit beginnen die Küche einzuräumen. Oder einfach nur Reese dabei zuschauen, wie er sich Handwerklich betätigte.

Er trug ein schwarzes T-Shirt, das überall Farbkleckse vom Streichen der Wände hatte, außerdem eine alte Jeans, die nicht nur Löcher an den Knien hatte. Da war auch noch ein Riss an seinem Hintern. Ich hatte diese Jeans auf Anhieb gemocht. Schade dass er sie nach dem Umzug wegschmeißen wollte.

Als er sich eine Schraube aus dem Mund pflückte und versuchte sie mit dem Schraubendreher in das Holz zu schrauben, musste ich grinsend daran denken, war er am Morgen mit diesem Mund getan hatte – ich sprach hier nicht von einem Kuss.

Apropos, wo wir schon mal beim Küssen waren, da fiel mir doch glatt etwas ein, was ich ihn schon seit einiger Zeit hatte fragen wollen. „Erinnerst du dich an unseren ersten Kuss?“

Etwas zweifelnd drehte Reese den Kopf gerade so weit, dass er mich sehen konnte, nahm sich dann die letzte Schraube aus dem Mund und begann diese an ihren Platz anzubringen. „Wie kommst du denn jetzt darauf?“

Ich weiß nicht, ist mir gerade so in den Sinn gekommen.“ Ich trat mir die Schuhe von den Füßen und zog die Beine auf die Couch. Ja, das war viel besser. „Und?“

Ja.“

Wäre ja auch traurig, wenn nicht. „Ich hatte dich gefragt, warum du das gemacht hast und du hast gesagt, du wolltest dass ich die Klappe halte. Das war eine Lüge, oder?“

Gib mir mal die Schrauben aus der durchsichtigen Tüte auf dem Tisch.“

Das war keine Antwort.“ Ich erhob mich trotzdem, brachte ihm die kleine Tüte und ließ mich dann direkt neben ihm im Schneidersitz auf dem Boden nieder. „Komm schon Reese, sag es mir.“

Er fische sich eine Schraube aus dem Tütchen und verschwand wieder halb im Schrank. „Nein, es war keine Lüge.“

Das hatte ich nicht hören wollen. „Doch, war es, gib es zu.“

Er stieß ein genervtes Seufzen aus. „Als wir in der Garage standen, hast du ohne auch nur einmal Luft zu holen gequatscht. Ich wollte das nicht mehr hören, also habe ich dafür gesorgt, dass du still bist.“

Das wollte ich nicht glauben. „Du hättest auch einfach weggehen können.“

Ich hab befürchtet, dass du mir folgen würdest.“

Du hast mich also geküsst, obwohl du mich gehasst hast?“

Ich habe dich nie gehasst. Am Anfang bist du mir ziemlich auf den Sack gegangen und warst teilweise ganz schön dreist, aber das war es dann auch schon.“

Tatsächlich? Mir kam etwas in den Sinn, das Onkel Roderick mal zu mir gesagt hatte. Ein Mann würde eine Frau nie küssen, wenn er sie nicht irgendwie anziehen finden würde.

Der Gedanke an meinen Onkel trübte meine Stimmung. Er war jetzt seit fast neun Monaten tot, aber es tat noch genauso weh wie am ersten Tag.

Reese, der meinen Stimmungsumschwung falsch verstand, richtete einen Teil seiner Aufmerksamkeit auf mich. „Falls es dir ein Trost ist, bis zu diesem Kuss habe ich deine Wirkung auf mich unterschätzt.“

Auf meiner Stirn erschien eine kleine Falte. „Was meinst du damit?“

Genau das was ich sage.“ Er ließ sich von mir die nächste Schraube reichen und begann dann wieder den Schraubenziehen zu drehen. „In dem Moment kam es mir wie ein toller Einfall vor. Leider bekam ich diesen blöden Kuss danach nicht mehr aus dem Kopf.“

Wirklich?“

Wirklich.“

Das ließ mich lächeln. „Heißt das, du wolltest mich danach noch mal küssen?“

Er schnaube. „Ich wollte dich nicht nur küssen, ich wollte dich flachlegen.“

Wie nett, da sprach wohl Romantiker aus ihm. Aber Moment mal. „Wenn du das unbedingt wolltest, warum hast du dann beim ersten Mal … also als wir beide … du weißt schon.“ Gott, würde ich jemals darüber sprechen können, ohne vor Verlegenheit zu stottern?

Dieses Mal ließ er sich mit seiner Antwort Zeit. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass du noch Jungfrau warst, du warst schließlich schon seit Wochen mit Nick zusammen.“ Er verstummte kurz. Genau wie mir fiel auch ihm die Erwähnung seiner Familie nicht ganz einfach. „Ich wollte dich, aber das erste Mal … ihr Frauen wollte doch immer, dass es etwas ganz Besonderes wird. Hätten wir beide einfach nur eine nette Nacht miteinander verbracht, wäre das in Ordnung gewesen, aber so … es kam mir nicht richtig vor.“

Aber es war doch etwas Besonderes“, erwiderte ich ruhig. Zumindest für mich war es das gewesen und auch wenn ich heute vieles anders machen würde, das würde ich immer wieder auf die gleiche Art tun.

Reese spähte aus dem Schrank heraus zu mir auf. Er öffnete den Mund, aber ich sollte nie erfahren, was er hatte sagen wollen, denn in dem Moment der Unachtsamkeit rutschte er mit dem Schraubenzieher aus und alles was ich zu hören bekam, war ein derber Fluch.

Als er sich dann aufrichten wollte, stieß er sich auch noch den Kopf am Schrank und ich musste mich stark zusammenreißen, um nicht zu lachen – das hätte er mir sicher übel genommen.

Mit einem typisch finsterem Blick robbte er rücklings aus der Schrankwand und setzte sich dann auf. An seiner linken Hand war Blut.

Zeig mal her.“ Ohne ihm die Chance auf Proteste zu geben, schnappte ich mir seine Hand und stellte fest, dass er sich den Schraubenziehen ins Nagelbett vom Zeigefinger gerammt hatte. „Ich bin zwar keine Expertin, aber ich denke nicht, dass es lebensbedrohlich ist.“

Er schnaubte belustigt.

Warte kurz hier.“ Ich erhob mich und begab mich dann in den Flur auf der Suche nach den Kisten fürs Badezimmer. In einer von ihnen musste der Erste-Hilfe-Kasten liegen. Es dauerte etwas, aber ich fand ich und kehrte erfolgreich mit meiner Beute ins Wohnzimmer zurück.

Ich dachte es ist nicht lebensbedrohlich“, bemerkte Reese skeptisch, als ich mich wieder neben ihm nieder ließ.

Lass uns auf Nummer sicher gehen.“ Außerdem kümmerte ich mich gerne um ihn und ich denke, ihm gefiel das auch – nicht dass er sowas jemals laut aussprechen würde.

Ich öffnete den Kasten, nahm etwas von dem Mull und dem Jod und begann an der Wunde herumzutupfen. Sobald sie sauber war, schnappte ich mir ein Pflaster und wickelte es um seinen Finger. „So, das müsste halten.

Reese senkte seinen Blick nachdenklich auf seine Hand, bevor er sie mir an die Wange legte und sich vorbeugte, um mich zu küssen. Er hatte das mittlerweile schon so oft getan, dass ich es gar nicht mehr zählen konnte und trotzdem war das Gefühl noch immer aufregend und neu.

Danke.“

Hatte er wirklich gerade gesagt, was ich glaubte gehört zu haben? Der Mann der steif und fest behauptete, dass die Worte Danke und Bitte nicht zu seinem Wortschatz gehörten? „Ist doch nur ein Pflaster.“

Nicht für das Pflaster. Für dich.“ Er beugte sich so weit vor, dass sein warmer Atem meine Lippen streifte und mir ein angenehmer Schauder über den Rücken rann. „Ich liebe dich, Shanks.“

Völlig überrumpelt und ja, auch irgendwie erschrocken, war ich einen Moment zu nichts anderem fähig, als ihn einfach nur anzustarren. Das war das erste Mal, dass er es mir so direkt sagte und, oh mein Gott, mein Herz schlug auf einmal wie wild. Leider schien mein Gehirn dadurch einen Kurzschluss erlitten zu haben. Ich sollte etwas sagen, aber ich wusste nicht was und am Ende brachte ich nur ein „Das ist toll“ heraus.

Ach du kacke. „Ich meine, ich weiß.“ Wirklich? Du weißt es? „Nein, was ich sagen wollte, ich auch … also, ich dich …“

Reese unterbrach mein Gestotter, indem er genau das tat, was er auch damals in der Garage der Gilde getan hatte. Er brachte mich zum Schweigen, indem er mich küsste und sowohl meinem Mund als auch meinen Gedanken etwas anderes zu tun gab.

Ich schlug die Augen auf und war lag einen Moment orientierungslos im Dunklen. Ich brauchte ein paar Sekunden um mich daran zu erinnern, dass ich mich in einem Hotel befand und noch ein paar mehr, um mir klar darüber zu werden, dass ich eingeschlafen sein musste. Die Uhr verriet mir, dass es mitten in der Nacht war, nur … warum war ich aufgewacht? Irgendwie hatte ich ein komisches Gefühl und als ich aus dem Bad dann auch noch ein leises Knurren hörte, verflogen auch noch die letzten Fetzen des Schlafs. Die Schwarzmähne hatte seit unserer Ankunft hier nicht einmal geknurrt, warum also …

Plötzlich hörte ich von der Tür leise Geräusche. Nicht als wenn jemand daran vorbei geht, oder klopfen wollte, nein, es war ein Schaben und Kratzen von Metall auf Metall. Sehr leise, so als wolle da jemand keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das war kein Proles, da versuchte jemand sich Zugang zu meinem Zimmer zu verschaffen.

Ich reagierte sofort. Keine Ahnung woher ich das wusste, aber ich war mir plötzlich sicher, egal wer da versuchte in mein Zimmer einzudringen, er kam von Malou und da er nicht an die Tür klopfte und um Einlass bat, war das hier sicher kein Freundschaftsbesuch. Darum rollte ich mich hastig vom Bett, schnappte mir in der gleichen Bewegung die Waffe, das Handy und die Socke vom Tisch und stürzte leise zu der Schwarzmähne ins Badezimmer.

Der Iuba kam sofort auf die Beine, als ich mich mit wild klopfendem Herzen neben ihn hockte. Verdammter Mist, so hätte das nicht laufen sollen, diese blöde Kuh sollte mich doch anrufen.

Mit fliegenden Fingern wählte ich Reese Nummer und hielt mir das Handy ans Ohr. Er klingelte, ein Mal, zwei Mal. „Komm schon, nimm ab.“ Das Klingen verstummte und es war nur noch ein leises Rauchen in der Leitung zu hören. Reese musste abgenommen haben, aber ich konnte ihn ja nicht hören. „Leg nicht auf, hör zu“, flüsterte ich. „Nicht auflegen, verstanden? Du musst zuhören.“ Da ich seine Antwort sowieso nicht hören konnte, schaltete ich eilig den Lautsprecher an, machte dann die Tastensperre ins Handy, stopfte es dann in die Socke und schob es unter das Geschirr in Schwarzmähens Fell. Hastig knotete ich es am oberen Lederriemen fest.

Als nächstes machte ich ihn von den beiden Ketten los, packte aber sein Geschirr, damit er nicht einfach losrennen konnte. Die Glieder klirrten leise.

Gerade als ich nach dem Maulkorb griff, um den Verschluss zu lösen, hörte ich von der Tür ein Knacken. Dann schnappte das Schloss auf und im nächste Moment wurde die Tür leise nach innen geöffnet.

 

°°°°°

Kapitel 22

 

Angespannt starrte ich in den dunklen Raum. Mein Finger lagen noch immer am Verschluss des Maulkorbes. Die Schwarzmähne knurrte leise.

Sehr langsam wurde etwas in den Raum geschoben, dass ich nach einem Moment als Pistole erkannte – und nicht nur eine Pistole, das Ding hatte vorn dran einen Schalldämpfer. Ein Arm folgte und dahinter eine großgewachsene Gestalt, die nur einem Mann gehören konnte.

Verdammt, der musste wirklich von Malou kommen. Warum sonst sollte er eine Waffe bei sich haben? Manchmal hasste ich es recht zu haben.

So leise wie es mir möglich war, löste ich den Verschluss. Der Maulkorb rutschte von der Schnauze, doch ich hielt ihn fest, bevor er runterfallen konnte und legte ihn leise neben mich auf die Fliesen. Dann nahm ich die Waffe und schon sie hinten in meinen Hosenbund. Ich wollte sie nicht benutzen, wenn es nicht unbedingt nötig war.

Wachsam beobachtete ich, wie die Gestalt sich weiter ins Zimmer schob, direkt auf das Bett zu. Aber der Eindringling war nicht allein gekommen, er hatte einen Freund mitgebracht, der sich genauso leise ins Zimmer schlich – und auch er hatte eine Waffe.

Okay, ich sollte ganz dringend etwas unternehmen, sonst könnte das hier ganz schnell ganz böse werden. Warum nur konnte Malou nie nach den Regeln spielen? Schummeln war einfach scheiße.

Als der erste Kerl das Bett erreichte und mit einer Hand nach der Decke griff, während die Waffe auf das Kopfkissen gerichtet war, entschied ich etwas zu tun, dass entweder sehr schlau, oder sehr dumm war. Ich machte die beiden auf mich aufmerksam. „Es ist ziemlich unhöflich einfach in das Zimmer einer Lady einzudringen. Was wenn ich mich gerade umgezogen hätte?“

Mehr brauchte ich nicht um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Beide wirbelten herum und zielten mit den ausgestreckten Waffen aufs Badezimmer.

Okay, also eine dumme Idee. „Das würde ich an ihrer Stelle lassen, sonst könnte es hier sehr unschön werden.“ Damit sie auch verstanden, was genau ich damit meinte, streckte ich mich nach dem Schalter an der Wand und knipste das Licht an.

Die Helligkeit blendete mich für einen Moment, doch das was ich damit erreichen wollte, hatte ich geschafft. Sie sahen was im Bad los war. Ich und ein Iuba Iuba, der nur von mir festgehalten wurde. Gleichzeitig wurde mir aber auch klar, wer genau da in meinem Zimmer stand: Declan und Lagon. Ich versuchte es zu verbergen, aber bei ihrem Anblick erfasste mich eine plötzliche Unruhe, die nichts mit der Situation zu tun hatte.

Reiß dich zusammen und sorg dafür, dass sie dich zu Malou bringen. „Wie Sie feststellen werden, bin ich im Moment das Einzige, was Schweinehund davon abhält, sich einen kleinen Mitternachtssnack zu gönnen.“

Wie um meine Worte zu bestätigen, knurrte die Schwarzmähne in diesem Moment tief und drohend. Braver Iuba.

„Hier, sehen Sie.“ Ich nahm die beiden Ketten von der Heizung und warf sie zu den Männern in den Raum. Der Maulkorb flog gleich noch hinterher. „Keine Ketten, kein Zwang, nur ich.“

Nur an der wachsenden Anspannung in den Gesichtern der beiden Männer war klar zu erkennen, dass ihnen diese Situation gar nicht gefiel. Sie hatten wohl damit gerechnet, mich im Schlaf zu überraschen und den Iuba in einer Kiste oder angekettet vorzufinden. Wahrscheinlich hatten sie mich einfach erschienen wollen – was den Schalldämpfer erklärte – um anschließend in aller Ruhe mit der Schwarzmähne zu verschwinden. Ein Glück das ich aufgewacht hatte.

„Das nennt mal wohl eine Patt-Situation“, bemerkte ich, als von den beiden keine Reaktion kam.

„Scheint so.“ Logen senkte die Waffe ein wenig und zielte genau auf meinen Kopf. „Aber dieses Problem lässt sich schnell beheben.“

Ach du scheiße! „Aber dann haben Sie ein neues und weitaus gefährlicheres am Hals“, bemerkte ich angespannt. „Im Grunde ist es doch ganz einfach, Sie haben jetzt drei Möglichkeiten. Die erste ist, Sie erschießen mich einfach. Der Haken daran ist jedoch ziemlich offensichtlich. Wenn ich erstmal tot bin, dann kann ich Schweinehund nicht mehr festhalten, was bedeutet, er wird sich auf Sie stürzen und Sie vermutlich töten und Fressen. Ich habe ihn seit ein paar Stunden nicht mehr gefüttert, er scheint mir ziemlich hungrig.“

Keiner der Männer ließ mich aus den Augen.

„Die zweite Option ist, Sie erschießen erst mich und sind dann schnell genug um auch Schweinehund eine Kugel in den Kopf zu jagen. Dann sind Sie mich los, aber er ist dann auch tot und ich bin mir nicht ganz sicher, wie Malou darauf reagieren wird. Sie scheint doch ziemliches Interesse an diesem ganz besonderen und nahezu einzigartigen Iuba zu haben.“

Als die Schwarzmähne sein Gewicht verlagerte und sich etwas fester ins Geschirr stemmte, als wollte er jeden Moment losstürzen, packte ich auch mit der zweiten Hand zu – sicher war sicher.

„Die letzte und meiner Meinung nach vernünftigste Chance für uns alle heil und zufrieden aus dieser Sache herauszukommen ist folgende: Sie stecken ihre Waffen weg und bringen mich und Schweinehund zu Malou. Dort bekomme ich dann mein Geld, sie ihren Proles und unsere Wege müssen sich nie wieder kreuzen.“ Ich setzte einen wie ich hoffte überlegenden Ausdruck auf. „Sie haben die Wahl, meine Herren, wie entscheiden Sie sich?“

Das war folgte war eine überaus angespannte Stille, in der ich nichts tun konnte, als zu warten und zu hoffen. Das hier war ein Spiel mit dem Feuer und ich stand kurz davor mir mächtig die Finger zu verbrennen. Ob Reese alles mitbekam? Zu gerne würde ich das Handy herausholen und mich versichern, dass er noch in der Leitung war, aber die beiden Männer waren gerade so fixiert auf mich, dass es wohl ein kleinen wenig auffällig gewesen wäre.

Nach ein paar weiteren Sekunden steckte Declan die Waffe weg und entspannte seine ganze Haltung. „Sie spielen ein gefährliches Spiel.“

Ich zuckte mit den Schultern, als sei mir das gleich. „Ich habe dieses Spiel doch schon längst verloren, aber ich werde das Feld nicht ohne Trostpreis räumen. Wenn das Miststück den Iuba will, muss sie zahlen.“

„Wie Sie wollen.“ Er warf seinem Kumpel einen kurzen Blick zu. „Lass die Waffe sinken, sie kommt freiwillig mit.“

Warum klangen diese Worte in meinen Ohren nur so bedrohlich?

Logan kniff die Augen ein wenig zusammen, tat aber was man ihm gesagt hatte. Allerdings steckte er seine Waffe nicht weg, sondern ließ sie nur sinken.

Die Schwarzmähne verfolgte diese Bewegung mit Argusaugen und knurrte wieder leise. Seine Aversion gegen Waffen hatte er in den Wochen in Historia wohl nicht abgelegt.

„Wäre einer der beiden Herren so freundlich mir meine Schuhe und meine Jacke herüberzuwerfen? Dann können wir die Sache auch gleich hinter uns bringen.“

Warum auch immer, Declan stieß ein Schnauben aus, sammelte dann aber meine Sachen zusammen und warf sie zu mir ins Badezimmer. Das nahm die Schwarzmähne zur Aufforderung sich mit seinem ganzen Gewicht knurrend ins Geschirr zu werden, sodass ich ein Stück nach vorne gezogen wurde.

Sofort riss Logan seine Waffe wieder hoch, doch ich schaffte es das blöde Vieh wieder unter Kontrolle zu bekommen.

„Nur die Ruhe“, sagte ich, als wäre alles in Ordnung und nicht als hätte mir die Schwarzmähne gerade einen Mordsschrecken eingejagt. Sowas konnte er doch nicht bringen, wenn ich nicht darauf vorbereitet war. „Ich werde ihn schon nicht loslassen.“

„Während der Fahrt machst du dem Iuba aber wieder den Maulkorb und die Leine um“, befahl Logan.

Mit einem Schnauben, dass aus tiefster Seele kam, griff ich nach meinem ersten Schuh und zog ihn mir ein wenig umständlich über den Fuß – ich konnte meinen mordlustigen Gefährten ja nicht einfach loslassen. „Klar, und sobald das erledigt ist, erschießen Sie mich einfach. Sie müssen mich wirklich für sehr blöd halten, wenn Sie glauben, ich würde das überhaupt in Betracht ziehen.“ Auch mein zweiter Schuh fand seinen Weg an meinen Fuß.

Logan begann mit de Kiefer zu mahlen. Offensichtlich wollte, oder musste, er den Iuba unbedingt zu Malou bringen. Die Begleiterscheinungen gefielen ihm nur nicht.

„Machen Sie sich keine Sorgen. Solange Sie nett zu mir sind, werde ich ihn nicht loslassen.“ Ich schnappte mir meine Jacke und erhob mich auf die Beine. „Aber sollten Sie jemals wieder versuchen mich anzugrapschen, werde ich mit Freuden dabei zuschauen, wie er sie frisst.“ Es waren nur leere Worte. Ich würde niemals willentlich einen Proles auf einen Menschen loslassen – nicht mal auf so einen perversen Mistkerl. Ich war Venator, ich schützte die Menschen. Ich wollte einfach nur dass er verstand, dass ich im Moment am längeren Hebel saß. Leider wirkte er kein bisschen eingeschüchtert.

„Wie haben Sie mich eigentlich gefunden?“, fragte ich, während ich mich damit abmühte in meine Jacke hereinzukommen, ohne dabei das Geschirr loszulassen.

„Sie haben uns ihre Handnummer gegeben.“ Decaln zuckte gleichgültig mit den Achseln. „Es war nicht schwer es zu orten.“

Fantastisch. Daran hatte ich ja nun überhaupt nicht gedacht.

„Können wir dann?“

Oh Gott, jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich nickte und versuchte dabei ganz locker zu bleiben, als würde ich sowas jeden Tag machen. „Ja, lassen Sie uns gehen, und den Mist hinter uns bringen.“ Ich veränderte meinen Griff ein wenig, sodass der Knoten der Socke unter meiner Hand verborgen war und verließ das Badezimmer.

Die Schwarzmähne sprang sofort nach vorne und versuchte sich auf Logan zu stürzen, der hastig einen Satz zurück machte, aber da ich mit sowas schon gerechnet hatte, konnte ich Problemlos dagegen halten. „Nein, die bösen Männer werden jetzt nicht gefressen. Wir haben einen Termin und dafür brauchen wir sie.“

So wie er knurrte, war ihm das völlig egal. Er wollte sie. Jetzt. Dass ich ihm diesen Wunsch verweigerte, trug nicht unbedingt zu seiner Laune bei.

Die Beiden Männer behielten mich und die Situation sehr genau im Auge. Logan vertraute mir und meinen Fähigkeiten offensichtlich nicht, Declan dagegen war nur wachsam. Ja, ich würde so einer verrückten Tussi mit einem Proles auch nicht unbedingt trauen – besonders nicht, wenn ich im Vorfeld schon einmal versucht hätte sie umzubringen, weil sie ihre Arbeit zu gut machte.

Declan war es, der die Tür öffnete und das Zimmer als erstes verließ. Ich folgte ihm mit einigem Abstand und zog dabei die widerspenstige Schwarzmähne hinter mir her, die es sich offensichtlich in den Kopf gesetzt hatte, Logan hier und jetzt zu fressen. Er knurrte und stemmte sich immer wieder Richtung dem Mistkerl. Es war ein ziemlich mühevoller Akt ihn aus dem Zimmer zu bekommen und ihn praktisch über den dunklen Parkplatz hinter mir herzuschleifen. Doch als ich verstand, auf was genau wir da zusteuerten, blieb ich unwillkürlich stehen.

Das war der silberne Van.

Eigentlich war es völlig egal, womit wir zu Malou fuhren und die Angst die mich bei dem Anblick überkam, sinnlos, doch mit diesem Van hatte alles begonnen und ich musste mich zwingen, meine steifen Beine wieder in Bewegung zu setzten. Dieses Mal gelang es mir nicht, mein Unbehagen zu überspielen.

Das listige Lächeln auf Declans Lippen verdeutlichten, dass er ganz genau wusste, was in mir vor ging. Es wurde sogar noch breiter, als er die Seitentür aufmachte und mit einer einladenden Bewegung zur Seite trat, um mir beim Einsteigen nicht im Weg zu stehen.

Komm schon, du packst das. Du bist dieses Mal nicht alleine. Und nein, ich sprach nicht von der Schwarzmähne, obwohl die schon ein ziemlich guter Abstandhalter war. Reese war bei mir er war am Handy und konnte alles hören. Das sagte ich mir immer wieder, als ich mit Herzklopfen an den Van trat und einen Blick hinein warf. Sah genauso aus wie beim letzten Mal. Wahrscheinlich benutzten sie ihn immer nur für Entführungsopfer und da brauchte man eben ein bisschen Platz.

Okay, dieser Gedanke war nicht gerade hilfreich.

„Na los, rein da mit dir“, sagte ich zur Schwarzmähne, aber wie es schien, hatte er gar keine Lust auf eine kleine Autofahrt. Er knurrte immer noch und kratzte in dem Versuch sich auf die Männer zu stürzen mit den Krallen über den Asphalt. Langsam taten mir vom Festhalten und zerren die Arme weh. „Würdest du dich jetzt bitte benehmen“, knurrte ich und riss ihn mit einem Ruck zu mir heran. In den Van wollte er trotzdem nicht steigen. Ich musste erst selber hereinklettern und ihn dann praktisch hinter mir herziehen. Aber dann hielt der Blödmann sich auch noch mit den Vorderpfoten am Einstieg fest. Mein Gott, hatte das Vieh eine Kraft.

„Würdest du jetzt mal mit dem Schwachsinn aufhören?“, schimpfte ich und riss noch einmal an seinem Geschirr. Er fiel nicht nur gegen mich, wegen dem Schwung knallten wir auch beide gegen die Autowand. Aber wenigstens war er endlich drinnen. „Und jetzt benimmst du dich.“

Es war wohl der scharfe Ton in meiner Stimme, der seinen Widerstand ein wenig schwächte und mir die Möglichkeit gab, ihn in die hinterste Ecke das Vans zu ziehen. Dort setzte ich mich mit dem Rücken zur Wand auf den Boden und zog die Schwarzmähne so nahe wie möglich an mich heran.

Als Logan dann den Kopf zur Tür hereinsteckte und das blöde Vieh wieder nach vorne stürzen wollte, reichte es mir. „Nein!“, fauchte ich und zog ihn mit einem Ruck zurück. Er fiel gegen mich und blieb dann halb auf meinen Beinen liegen. Den Blick den er mir zuwarf, konnte man nur als vorwurfsvoll beschreiben, aber wenigstens hörte er endlich mit dem Theater auf und blieb grummelnd liegen. Und auch wenn er nun das Knurren einstellte, die Anspannung in seinem Körper blieb und als Logan zu uns in den hinteren Teil stieg – so weit wie nur möglich von uns entfernt – ließ er weder ihn noch seine Waffe auch nur für einen Moment aus den Augen.

Auch mich machte die Waffe nervös, aber solange der Iuba wie ein Schutzschild direkt vor mir lag, drohte mir vorerst noch keine Gefahr. Trotzdem spürte ich die wachsende Unruhe, als die Seitentür von außen geschlossen wurde und Declan kurz darauf hinter das Steuer kletterte und den Motor anließ. Für diesen Mist hatte ich eindeutig nicht genug Schlaf bekommen.

Um die Schwarzmähne und auch mich selber zu beruhigen, legte ich ihm eine Hand an den Kopf und begann ich mit gleichmäßigen Bewegungen hinter dem Ohr zu kraulen. Logan beobachtete diese Geste sehr genau, ließ sich aber nicht anmerken, was er dachte.

Als Declan den Wagen in Bewegung setzte und vom Parkplatz des Hotels fuhr, versuchte ich mich einmal mehr daran zu erinnern, dass ich nicht allein war. Es war zwar nicht ganz so gelaufen wie ich mir das vorgestellt hatte, aber das war kein Problem. Ich musste eben nur ein wenig umdenken und weiter an meinem Plan festhalten. Aus dem Grund beugte ich mich auch ein wenig vor und brachte meinen Mund so nahe wie möglich ans Mikro des Handys heran, ohne dass es allzu verdächtig aussah. „Und wir fahren jetzt direkt zu Malous Anwesen?“

Es war nicht Logen, sondern Declan, der antwortete. „Natürlich.“

„Und sie wird sich auch an die Abmachung halten?“

„Natürlich.“

„So natürlich ist das gar nicht“, bemerkte ich etwas spitz. „Schließlich sind Sie gerade in mein Hotelzimmer eingebrochen um mich zu erschießen.“

Logen verzog verächtlich die Lippen. „Hör auf zu heulen. Du hättest sowieso schon längst tot sein sollen. Ich versteh immer noch nicht, warum die Proles dich nicht gefressen haben.“

Arschloch. „Sie haben mich eben ganz doll lieb.“

Hoffentlich bekam Reese das alles mit und verstand was hier los war. Er musste die Polizei verständigen und sie zu Malous Anwesen schicken. Darauf setzte ich. Vielleicht wäre es schlauer gewesen, ihm das noch mit in die Nachricht zu schreiben, aber daran hatte ich nicht gedacht und jetzt war es zu spät. Mein einziges Glück war, dass Reese nicht dumm war. Er würde wissen, was zu tun war – daran musste ich einfach glauben, da ich sonst gerade eine direkte Fahrt zur Hölle gebucht hatte. Ob Ich Malou diesen Iuba nun freiwillig übergab, oder nicht, sie würde sicher niemanden am Leben lassen, der hinter ihr kleines Geheimnis gekommen war.

Oh Gott, hoffentlich funktionierte alles.

Vorne griff Declan nach seinem Handy. Ich verstand nicht alles was er sagte, aber aus dem wenigen das ich mitbekam, schloss ich, dass er mit seiner Arbeitgeberin telefonierte und ihr von ihrem Überraschungsgast berichtete.

Aha, er warnte sie also vor. Ich war mir nicht ganz sicher, ob das gut oder schlecht war, auf jeden Fall machte es mich ein kleinen wenig nervös. Wir würden höchstens zwanzig Minuten brauchen, bis wir auf dem Anwesen waren. Was konnte man in zwanzig Minuten tun, wenn man eine durchgeknallte L.F.S.-Schlampe mit Gottkomplex war? Besser ich dachte nicht zu genau darüber nach, sonst würde ich mich nur selber verrückt machen.

Als die Schwarzmähne wieder anfing zu knurren, festigte ich meinen Griff um sein Geschirr vorsichtshalber ein wenig und warf einen bösen Blick zu Logan. „Würde es Ihnen etwas ausmachen die Waffe wegzustecken? Die Dinger machen ihn aggressiv und es ist sicher keine gute Idee einen Iuba aggressiv zu machen, der nur drei Meter von einem entfernt ist.“

Logan verzog spöttisch die Lippen und wedelte demonstrativ mit der Waffe herum. „Leg dem Vieh einen Maulkorb an.“

„Der Maulkorb ist im Hotelzimmer.“ Nicht dass es einen Unterschied machen würde. Ich war sicher nicht so blöd meinen einzigen Schutz aufzugeben.

„Tja, dann kann ich da leider nichts machen.“ Er zuckte bedauernd mit den Schultern und fing dann wieder an mit der verdammten Waffe provozierend herumzuwedeln. Wahrscheinlich dachte er, das Teil würde mich nervös machen – was es auch tat. Ich mochte es nicht, dass einer mit einer Waffe auf mich zielte. Nicht dass das allzu oft vorkam.

„Sie glauben Sie sind mir mit ihrer Waffe überlegen“, bemerkte ich. Zum Glück wusste er nicht, dass auch ich eine Waffe bei mir trug. „Aber eigentlich zeigen Sie mir damit nur, wie jämmerlich Sie eigentlich sind.“

„Du kleines Miststück“, war alles was er sagte, als er die Waffe hochriss und damit genau auf meinem Kopf zielte.

In dem Moment ging die Schwarzmähne einfach nach vorne. Ich konnte gar nicht so schnell reagieren wie er sich bewegte.

Logen brüllte auf. Ein Schuss löste sich. Quietschende Reifen. Der Wagen geriet ins Schlingern.

Auch ich stieß einen Schrei aus und hängte mich gleichzeitig mit meinem ganzen Gewicht in das Geschirr, sodass die Schwarzmähne zusammen mit mir gegen die Wagenwand geschleudert wurde. Logen flog gegen die Wagentür behielt seine Waffe aber in der Hand.

Dann stand der Wagen still.

Ich kämpfte darum die knurrende Schwarzmähne im Griff zu bekommen. Gleichzeitig stellte ich fest, dass weder ich noch er getroffen wurden. Oben links im Dach war ein Loch, das vorher noch nicht da gewesen war.

„Verdammte Scheiße!“, brüllte Declan und wirbelte zu uns herum. Das war das erste Mal, dass ich ihn anders als ruhig erlebte. Und seine Wut galt nicht mit. „Willst du uns umbringen?!“

„Das Biest wollte sich auf mich stürzen!“, rechtfertigte Logan sich und richtete sich wieder in eine sitzende Position auf.

„Ja, weil Sie mit der Waffe herumgefuchtelt haben“, knurrte ich und riss die Schwanzmähne zu mir heran. „Nein.“

„Steck die verdammte Waffe weg“, fuhr Declan Logan an. „Ich würde gerne lebend bei Malou ankommen!“

Die beiden Männer lieferten sich ein Blickduell, an dessen Ende Logan mit schmalen Lippen nachgab und die Waffe in seiner Jacke verschwinden ließ. Damit war wohl klar, wer hier das Sagen hatte.

„Und der nächste der Scheiße baut, wird von mir erschossen. Egal ob Proles oder Mensch.“ Declan startete den Motor wieder und weiter ging die Fahrt.

Oh Gott, ich sehnte das Ende dieser Nacht herbei. Egal was heute Nacht noch geschah sobald die Sonne aufging, würde alles vorbei sein. So oder so.

 

°°°

 

„So, wir sind da, aussteigen.“

Da Logan noch vor der Seitentür hockte und mich keinen Moment aus den Augen ließ, ging ich einfach mal davon aus, dass diese Worte an ihn gerichtet waren und nicht an mich, denn um Aussteigen zu können, müsste ich an ihm vorbei und er wäre sicher nicht begeistert, wenn Schweinehund auf dem Weg nach draußen einen Happen von ihm nehmen würde – und das würde er, da war ich mir sicher.

Nachdem Declan ein Machtwort gesprochen hatte, war die weitere Fahr vollkommen ereignislos verlaufen. Auf aufregendsten war es noch gewesen, durch das Haupttor auf Malous Anwesen zu fahren, denn draußen am Straßenrand parkte ein Streifenwagen, der laut Declan zum Schutz für Malou eingeteilt war.

Der Witz daran war, dass sie Malou vor mir schützen sollten, also davor dass ich das Gelände unerlaubt betrat und etwas tat, dass ich hinterher bereuen würde. Hinten in dem Van hatten sie mich jedoch nicht gesehen und da Declan und Logan zum Team Malou gehörten, ließ man sie natürlich ohne einen zweiten Blick passieren.

Das war gut. Und schlecht. Gut weil ich jetzt drinnen war und schlecht weil ich jetzt, naja, drinnen war.

Ich hätte die Polizisten sehr gerne auf mich aufmerksam gemacht. Das war schließlich dein Freund und Helfer, aber im Moment würden sie noch im Weg stehen. Erst musste ich Malou konfrontieren und dafür sorgen, dass Reese am anderen Ende der Leitung alles mitbekam. Und dann würde hoffentlich die Polizei einreiten und diesem ganzen Desaster endlich ein Ende machen.

Allerdings musste ich mir doch eingestehen, dass ich ziemliches Herzklopfen hatte, seit wir das Tor passiert hatten. Das Declan den Van auch noch ausgerechnet in der Garage abgestellt hatte, in der sie mich schon bei meinem ersten Aufenthalt hier gebracht hatten, machte es auch nicht unbedingt besser. Blieb nur zu hoffen, dass das kein schlechtes Omen für mich war. Meine Unruhe jedenfalls wuchs mit jedem verstreichenden Moment und übertrug sich langsam auch auf die Schwarzmähne. Es war gar nicht so einfach sich weiter gelassen und selbstsicher zu geben.

Als Declan vorne ausstieg und Logen die Seitentür aufriss, begann er wieder leise zu knurren. Vielleicht erinnerte er sich ja auch an diesen Ort, für ihn war es schließlich auch nicht sein erster Besuch. Und genau wie ich schien er keine guten Erinnerungen damit zu verknüpfen. Gott hoffentlich ging nichts schief.

Sobald auch Logan den Van verlassen hatte, atmete ich noch einmal tief durch. „Na dann wollen wir mal“, murmelte ich und erhob mich auf die Beine.

Die Schwarzmähne reagierte sofort. Er sprang nicht nur auf, er machte gleichzeitig auch einen Satz nach vorne und riss mich ein Stück mit sich.

„Hey!“, beschwerte ich mich und zog ihn wieder zurück. „Ich gebe das Tempo vor, nicht du.“ Sonst würde ich am Ende noch auf der Nase landen. Ich warf ihm einen warnenden Blick zu und trat an die Öffnung.

Hier hatte sich nicht viel geändert. Die gleichen Autos, die gleichen Tore und die gleiche Tür – ein direkter Zugang zu ihrem Proles-Zoo. Ja, hinter dieser Tür befanden sich die Proles. Auch wenn mir manche Dinge noch unklar waren, bei dieser Sache war ich mir absolut sicher. Damit das Malous Schergen bei mir eingebrochen waren, um den Proles zu klauen, wurden auch meine letzten Zweifel besiegt.

Die eben erwähnten Schergen hatten sich ein Stück entfernt vom Van hingestellt und beobachteten aufmerksam, wie ich mit der Schwarzmähne heraussprang. Zu meinem Missfallen entdeckte ich, dass sie beide wieder ihre Waffen in den Händen hielten. Nur keine Panik, du hast selber eine Waffe, erinnerst du dich? Aber die wollte ich nur im äußersten Notfall einsetzen.

„Wisst ihr Jungs eigentlich, was man über Männer mit großen Knarren sagt?“, fragte ich und zog die Schwarzmähne energisch am Geschirr zu mir zurück. Wenn er nicht damit aufhörte, die Kerle ständig fressen zu wollen, würde ich am Ende völlig ausgeleierte Arme haben.

Keiner der Beiden reagierte und bevor ich noch einen blöden Kommentar abgeben konnte, wurde die Tür zum Proles-Park aufgezogen und niemand anderes als die Hausherrin persönlich trat in die Garage.

Eines musste ich ihr ja lassen, selbst um diese Uhrzeit war sie vom Scheitel bis zur Sohle geschniegelt. Ein weißer Hosenanzug und eine Frisur, bei der jedes blonde Haar so perfekt saß, als traute es sich nicht aus der Reihe zu tanzen. Ich dagegen hatte nicht mal Zeit gehabt mir vor unserem Aufbrechen die Haare zu kämmen und sah im Moment vermutlich aus, als wäre ich gerade erst aus dem Bett gefallen – was in gewisser Weise ja auch stimmte.

Ich setzte gerade zu einer sarkastischen Begrüßung an, als die Tür ein weiteres Mal geöffnet wurde und kein anderer als Lexian Forsberg persönlich gesellte sich zu unserer illustren Runde. Mein Mund wurde staubtrocken.

Natürlich war mir in den letzten Tagen mehr als einmal der Gedanke gekommen, dass Lexian für Malou arbeitete weil es einfach eine Menge erklären würde, doch ich hatte diesen Gedanken immer sofort wieder verworfen und mir selber gesagt, dass das nicht stimmen konnte, weil ich nicht glauben wollte, dass jemand dem ich vertraute mich so eiskalt hintergehen würde. Aber nun stand er hier und begrüßte mich in seinem teuren Anzug mit einem einnehmenden Lächeln.

Hallo Grace.“

Das erklärt so einiges.“ Auch wenn ich absolut nicht verstand, wie das möglich war. Da war immerhin noch das Video, dass ich mir nur halb erklären konnte. Oder auch die drei Stunden, die ich einfach verloren hatte. Hatte er mich vielleicht unter Drogen gesetzt, sodass ich glaubte die Proles in den Gehegen zu sehen?

Lexian besaß tatsächlich die Dreistigkeit mir zuzuzwinkern, bevor er an Malous Seite trat und nicht nur ihre Hand nahm, sondern ihr auch noch einen Kuss auf den Mundwinkel gab, der mir mehr über ihre Beziehung verriet, als es seine bloße Anwesenheit bereits tat.

Wenn ich das richtig interpretierte, arbeitete Lexian nicht nur für Malou, sie waren sich auch sehr zugeneigt.

Läuft alles zu deiner Zufriedenheit?“

Ihr Blick richtete sich auf die knurrende Schwarzmähne und ein gieriges Funkeln trat in ihre Augen. Sie wollte diesen Iuba – unbedingt. „Das wird es.“

Erst wenn ich mein Geld bekomme“, erinnerte ich sie und überlegte, wie ich den Rest am Besten anging. Ich musste sie nicht nur zum Reden bringen, ich musste auch dafür sorgen, dass sie alles offen zugab. Reese würde am Telefon zuhören und dann hatte ich endlich meinen Zeugen. „Zwanzig Millionen, dann müssen wir beide uns nie wiedersehen. Wenn Sie versuchen mich auszutricksen, werde ich ihn einfach loslassen und während Sie sich dann mit Schweinehund auseinandersetzen müssen, werde ich einfach vom Gelände spazieren.“

Ihre Lippen kräuselten sich spöttisch. „Schlaues, kleines Biest.“

Besser ein kleines Biest, als ein hinterhältiges Miststück.“

Hinterhältig?“ Sie gab ein vergnügtes Glucksen von sich. Selbst das hörte sich bei ihr elegant an. „Wer von uns beiden hat denn hinterhältig einen Iuba aus Historia geklaut und wird nun von der Polizei gesucht?“

Lassen wir doch die Scheinheiligkeit. Jeder von den Anwesenden weiß wer Sie sind und was Sie getan haben.“

Als die Schwarzmähne sich etwas fester ins Geschirr stemmte, legte ich ihm beruhigend die Hand auf den Kopf.

Malou verfolgte diese Bewegung mit leuchtenden Augen und mir wurde klar, dass sie das auch wollte, eine Verbindung zu einem Proles, der sich nicht nur von ihr berühren, sondern sich auch etwas von ihr sagen ließ. Zum ersten Mal in ihrem Leben beneidete sie jemand anderem um etwas, dass sie sich nicht kaufen konnte.

Wenn ich ehrlich war, musste ich mir schon eingestehen, dass mir das ein kleines Gefühl von Überlegenheit gab. „Die Maske, die Sie der Welt präsentieren ist hier völlig überflüssig“, fügte ich noch hinzu, um ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken.

Das ließ sie schmunzeln. „Maske? Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich verstehe, worauf Sie damit hinaus wollen.“

Sie wollte also Spielchen spielen? Dann würde sie dieses Mal eine böse Überraschung erleben. „Tun Sie nicht so, ich habe ihren kleinen Trick durchschaut.“

Ach ja?“ Sie glaubte mir nicht. Wahrscheinlich dachte sie, dass ich nur versuchte, herauszufinden wie sie das gemacht hatte.

Na dann sollte ich die Karten jetzt wohl mal offen auf den Tisch legen. Hoffentlich lag ich mit meiner Vermutung nicht völlig daneben. „Ja, habe ich. Es ist eine Verwechslung.“

Ihre rechte Augenbraue hob sich ein wenig, blieb aber still.

Nun gut. „Meine beste Freundin brachte mich darauf. Ich sah mir dieses Video an, weil ich das Gefühl hatte, dass damit etwas nicht stimmt. Ziemlich am Ende, wo mir die Kamera aus der Hand gefallen ist, wurde ein Stück vom Haus aufgenommen und etwas daran störte mich. Ich habe ziemlich lange gebraucht um herauszufinden, was es war, aber dann wurde es mir klar, der Winkel war falsch. Ihr Haus ist L-Förmig angelegt. Als man mich das erste Mal herbrachte sind wir rechts außen in der Garage gefahren was bedeutet, dass die Kamera den Mittelteil des Hauses hätte einfangen müssen, aber auf den Aufnahmen wird der linke, äußere Teil gezeigt. Als ich das erkannte, wurde es mir klar, Sie arbeiten die ganze Zeit mit einer Verwechslung, ganz nach dem Moto: Bäumchen wechsle dich. Die Lösung ist ebenso einfach wie brillant. Die Proles waren nie weg. Jetzt in diesem Augenblick sind sie hinter dieser Tür.“ Ich zeigte auf die Tür, durch die sie und Lexian gerade gekommen waren. „Und auch ihre Tiere sind in diesem Moment hier und zwar dort.“ Meine Hand ging in die ungefähre Richtung. „Kurz gesagt, es gibt zwei Zoos.“

Malou war das Lächeln vergangen. Sie sagte noch immer nichts, aber von Belustigung war keine Spur mehr zu sehen.

Okay, dann befand ich mich wohl auf dem Richtigen Weg. „Ihr Anwesen befindet sich mitten in einem Wald, es ist von allen Seiten umschlossen und auch der Zoo selber ist so dicht bepflanzt, dass man selbst mit einem Satellitenbild kaum einen Blick ins Innere bekommt. Niemand außer Ihnen und ihren Angestellten weiß genau wie groß dieses Anwesen oder der Zoo ist und wie alles aufgeteilt wurde und niemand würde vermuten, dass sich zwei identische Zoos auf dem Gelände befinden. So konnten Sie alle täuschen. Aber mich täuschen Sie nicht länger, ich habe Sie und ihr kleines Spiel durchschaut.“

So, haben Sie das.“

Verdammt, gib es endlich zu, Miststück! „Ja habe ich. Als ich das erste Mal hier war, brachten Sie mich in den rechten Zoo zu den Proles. Als die Polizei wenig später hier auftauchte, um meine Aussage zu überprüfen, zeigten Sie ihnen den linken Zoo, den mit den seltenen Tieren. Auch den Medien zeigten Sie diesen Zoo. Ich habe es nicht verstanden, da Sie uns quer durch das Haus geführt haben und ich nicht wirklich auf den Weg geachtet habe.“ Mein Blick richtete sich auf Lexian, der jetzt nicht mehr selbstgefällig, sondern vorsichtig wirkte. „Dann hat Lexian mich dazu angestiftet, noch einmal mit ihm herzufahren und mich von außen zum rechten Zoo geführt, wo ich mir nicht eingebildet habe die Proles zu sehen, sie waren wirklich da. Der Polizei zeigten sie später jedoch wieder den linken Zoo. Ihr eigentlicher Zoo ist der mit den Proles, der andere ist nur ein Sicherheitsnetz, um beispielsweise übereifrige Venatoren in Verruf zu bringen.“ Jetzt gib es zu, damit Reese es hören kann!

Malou neigte den Kopf ein wenig zur Seite und schien mich auf einmal mit neuen Augen zu sehen. „Ich muss gestehen, ich habe Sie unterschätzt. Noch nie hat jemand meinen kleinen Trick durchschaut.“

Ja, das war ein Geständnis! Ich musste mich zwingen ruhig zu bleiben und nicht vor Freude an die Decke zu hüpfen. „Sie haben vorher auch noch nie versucht sich mit mir anzulegen.“ Okay, das war jetzt vielleicht ein wenig dick aufgetragen.

So wie sie die Lippen kräuselte, sah sie das wohl auch so.

Mach weiter und versuch noch mehr aus ihr herauszubekommen. „Eines ist mir jedoch weiterhin ein Rätsel. Wie haben Sie das mit dem Video gemacht?“ Ich hatte zwar eine Vermutung, doch da waren so große Löcher drin, dass wohl ein Elefant hindurchgepasst hätte.

Was, ausgerechnet das haben Sie nicht lösen können?“ Da war sie wieder, ihre Überheblichkeit.

Nein, aber vielleicht wären Sie so gütig mich aufzuklären. Dank Ihnen wird mir ja sowieso niemand mehr glauben.“ Die Bitterkeit in meinen Worten war nicht gespielt.

Sie tippte sich mit dem Finger nachdenklich ans Kinn, als müsste sie diese Bitte gründlich durchdenken. „Warum eigentlich nicht? Es war Lexians geniale Idee.“ Sie tätschelte ihm die Brust, als sei er ein artiges Hündchen. „Nach ihrem Auftritt vor den Kameras hielt man sie bereits für labil, besonders nachdem ich ihre Vorgeschichte öffentlich gemacht hatte und Sie mich angegriffen haben. Als Sie dann Lexian anriefen, sah er sofort eine Chance, die Gefahr die von Ihnen ausging, endlich zu beseitigen. Töten konnte ich Sie ja nun leider nicht mehr ohne den Verdacht sofort auf mich zu lenken.“

Ja, dass hatte sie wahrscheinlich ziemlich angekotzt.

„Aber dank einer schicksalhaften Fügung konnten wir dafür sorgen, die ganze Welt Sie für verrückt hielt, ja Sie selbst haben sogar an ihrem Verstand gezweifelt. Und es war auch noch so einfach.“ Im Gegensatz zu mir, schien sie das äußerst amüsant zu finden.

„Wegen dem Angriff des Toxrins“, mutmaßte ich.

„Genau!“ Sie klatschte begeistert in die Hände, was die Schwarzmähne dazu brachte, wieder nach vorne stürzen zu wollen. Ich riss ihn hastig zurück, aber mir entging nicht, dass Malou ihm einen vorsichtigen Blick zuwarf. Wieder blitzte der Neid in ihren Augen auf. „Als Sie Lexian anriefen, schlug er nicht nur vor, dass Sie meinem Zoo noch mal einen heimlichen Besuch abstatteten, er begleitete Sie auch, um ihre Schritte zu lenken und brachte die Videokamera mit, damit Sie alles dokumentieren konnten.“

Also hatte der Verkäufer in dem Hifi-Laden gelogen. Wahrscheinlich hatte Malou ihm eine Stange Geld gegeben, damit er behauptete, ich hätte die Kamera bei ihm gekauft.

„Er musste nur darauf achten, während der ganzen Zeit nicht ein Wort zu sagen. Aber das war nicht weiter Schwer. Da Sie sich heimlich auf dem Gelände befanden, musste er sowieso still sein, um den Anschein zu wahren, unentdeckt bleiben zu wollen. “

Mistkerl. Ich funkelte ihn wütend an. Mir war gar nicht aufgefallen, dass er die ganze Zeit kein Wort gesagt hatte, aber wenn ich jetzt darüber nachdachte, hatte sie recht. Er hatte sich die ganze Zeit nur durch Zeichen mit mir verständigt.

„Als Lexian dann der Meinung war, Sie hätten genug Material, schickte er mir heimlich eine Nachricht über das Handy, damit ich meine Männer losschicken konnte.“

„Und die kamen dann, kassierten mich ein und taten so, als würden sie Lexian nicht sehen.“

Sie schenkte mir ein listiges Lächeln. „Der Rest war ganz einfach. Während Sie im Büro saßen, wurde Lexian mit einem Helikopter zurück nach Berlin gebracht und ein paar meiner Leute stellten das Video in dem anderen Zoo nach. Sie folgten einfach dem Weg den Sie zuvor gegangen waren und versuchten die Kameraführung ihrer anzugleichen. Es war ein wenig kompliziert, aber es hat geklappt. Dann mussten wir nur noch die Tonspur von dem einen Video auf das andere übertragen und anschließend die Polizei rufen.“

„Und jeder der das Video sah würde annehmen, dass ich aufgrund meiner Vorgeschichte und des Toxringifts halluziniere und geistig nicht mehr zurechnungsfähig bin.“ Ich gab es nicht gerne zu, aber das war genial, so genial, dass ich an meinem eigenen Verstand gezweifelt hatte.

„Es war geradezu lächerlich einfach ihr Leben zu zerstören.“

Dieses verdammte Miststück. „Aber wie hatten Sie die Zeit dazu? Ich habe nur zwanzig Minuten in diesem Büro gesessen, das konnten Sie unmöglich hinbekommen.“

„Nein, Sie saßen knapp drei Stunden dort.“

Was? „Aber die Uhr …“

„War manipuliert.“

Darum hatte ich also das Gefühl gehabt, eine Ewigkeit dort zu sein, ich war es wirklich gewesen. Das war keine Einbildung aufgrund meiner Anspannung gewesen. Nun wurde mir auch klar, wo die drei Stunden abgeblieben waren, die ich mir einfach nicht erklären konnte. Wie nur war ihr das gelungen. Sie hatte es tatsächlich geschafft, dass ich mich selber verwirrte.

Fast hätte ich angefangen mit den Zähnen zu knirschen. „Sie sind schlauer als Ihnen gut tut.“

Da sie das scheinbar für ein Kompliment hielt, strahlte sie mich an.

Damit hatte ich eigentlich alles was ich brauchte, ein Geständnis und einen Zeugen. Hoffentlich hatte Reese bereits die Polizei in Dömitz alarmiert und sie in meine Richtung verwiesen. Wie lange sie wohl brauchen würden um hier aufzutauchen? Wahrscheinlich nicht mehr lange, aber noch waren sie nicht hier, also wäre es wohl am Schlausten, wenn ich Malou und ihr Gefolge noch ein wenig zum Reden brachte. Mal sehen, was ich ihnen noch so entlocken konnte.

Mein Blick richtete sich auf Lexian. Ich konnte noch immer nicht glauben, dass er hier war und die ganze Zeit gegen mich gearbeitet hatte. Das ergab keinen Sinn. Nicht nur dass er eine knappe Woche vor der ersten Begegnung mit Malou in mein Leben getreten war, er arbeitete auch für den Verband der Venatoren. Ja er war selber einmal Venator gewesen. Warum also war er jetzt hier bei der Chefin von L.F.A.? „Und wie passt dieser Mistkerl in das Bild?“

„Lexian?“ Malou drehte sich zu ihm um, als hätte sie vergessen, dass er da war, lächelte ihn dann aber an. „Er unterstützt mich und hilft mir bei Problemen.“

Ja, das hatte ich bemerkt. Obwohl ich ihn hier direkt vor mit hatte, konnte ich noch immer nicht glauben, dass er mich so hintergangen hatte. „Wie können Sie das nur machen?“, fragte ich ihn ganz direkt. „Sie sind doch selber Venator.“

„Ich war einmal Venator, aber nachdem ich Malou kennengelernt habe, beschloss ich, dass ich keinen aussichtslosen Kampf führen möchte.“

„Und stattdessen verschreiben Sie sich lieber dieser kranken Organisation?“

„Malou kann sehr überzeugend sein.“ Lächelnd legte er ihr eine Hand auf den Rücken und strich daran in einer liebevollen Geste hinauf. „Hier werden meine Fähigkeiten wenigstens geschätzt.“

Jetzt ein spöttisches Schnauben auszustoßen, wäre vermutlich nicht sehr angebracht. „Sie meinen wohl, Sie sind ein weiterer Handlanger, der die Drecksarbeit für sie erledigt.“

„Aber nein.“ Von meinem spöttischen Ton schien er sich in keinster Weise angegriffen zu fühlen. „Ich habe sogar eine ziemlich wichtige Aufgabe. Irgendwer muss sich ja schließlich um die Venatoren kümmern, bevor sie zu einem Problemfall werden können.“

„Ich verstehe nicht.“

Die Schwarzmähne drückte sich ein wenig gegen mein Bein. Dabei fixierte er wieder Logen. Er konnte ihn wohl genauso wenig leiden wie ich.

„Ich bin für die Beseitigung von Störfaktoren zuständig.“

Nein, das half mir auch nicht unbedingt weiter. Und so überheblich wie Malou mich anschaute, merkte man das wohl auch.

„Es ist immer gut, jemanden im Verband zu haben. Wie haben Sie denn geglaubt, bin ich an die Informationen über diese seltenen Iubas gekommen?“

Natürlich, Lexian. Jetzt wo ich ein paar Informationen mehr besaß, war das ganz logisch. „Aber das hat nichts mit Störfaktoren zu tun.“

„Nein, hat es nicht“, stimmte sie mir zu. „Aber jemanden im Verband zu haben, birgt für mich noch andere Vorteile.“

Noch andere Vorteile, als Informationsbeschaffung?

Als ich schwieg, weil ich keine Ahnung hatte, worauf genau sie hinaus wollte, seufzte sie theatralisch. „Manchmal werden Venatoren zum Problem und es wäre mit der Zeit wohl ein wenig auffällig, wenn wir diese Leute einen nach dem anderen verschwinden ließen.“

Mit einem Mal wurde mir ganz kalt. Was genau sie damit meinte, Leute verschwinden zu lassen, hatte ich bereits am eigenen Leib erfahren, als sie versuchte, mich an die Iubas zu verfüttern. Ich hatte bereits vermutet, dass es nicht das erste Mal war, dass sie versuchte jemanden auf diesem Weg loszuwerden, aber wie es nun schien, hatten sie auch noch einen anderen Weg gefunden, sich solche Leute vom Hals zu schaffen. Doch irgendwie stand ich auf der Leitung. Was hatte Lexian damit zu tun? Brachte er etwas Venatoren um die Ecke? Aber dazu müsste er doch nicht im Verband sein.

„Sie verstehen es nicht, oder?“

„Wenn ich ehrlich sein darf, nein.“ Ich zog die Schwarzmähne wieder etwas zurück, als er einen Schritt von mir wegmachen wollte.

„Es gibt auch andere Wege Venatoren auszuschalten, ohne sich hinterher mit der Entsorgung ihrer Leichen auseinandersetzen zu müssen.“

Okay, wenn sie gruselig sein wollte, dann hatte sie das gerade geschafft. Diese Kaltschnäuzigkeit … ich hatte eine Gänsehaut und fühlte mich zunehmend unwohl in meiner Haut. Es konnte sicher kein gutes Zeichen sein, dass sie mir so bereitwillig all ihre kleinen Geheimnisse anvertraute.

Unruhig schaute schaute ich mich nach dem geschlossenen Garagentor um. Wo blieb nur die Polizei? Hatte Reese überhaupt mitbekommen, was hier los war, oder hatte das Handy irgendwann den Geist aufgegeben? Nein, denk sowas gar nichts erst!

„Verfahren wegen falschem Verhaltens, Entzug der Lizenzen. Man muss einfach nur ihre Glaubwürdigkeit untergraben und sie diskreditieren. Früher oder später werden sie einfach gefeuert und dürfen fortan nicht mehr als Venatoren arbeiten. Und schon habe ich ein Problem weniger.“

„Sie haben versucht Reese und mich mit Hilfe des Verbandes und Lexian feuern zu lassen“, wurde mir klar.

Sie nickte. „Sie beide waren mir schon lange ein Dorn im Auge und als Diccon Faust Sie und ihren Partner beim Verband meldete, sah ich meine Chance.“ Wieder strich sie ihm über die Brust. „Lexian ist äußerst geschickt darin Chancen zu erkennen und Umstände so zu Leiten, damit das richtige Ergebnis herauskommt.“

Das hatte ich leider schon am eigenen Leib zu spüren bekommen.

„Und dann auch noch wegen der Iubas die ich gestohlen habe. Es schien sich geradezu um einen Glücksfall für mich zu handeln.“ Ihr lächeln verblasste ein wenig. „Aber leider haben Sie sich nicht wie all die andere Venatoren verhalten. Anstatt sich auf ihr aktuelles Problem zu konzentrieren und sich bei Lexian für eine gute Beurteilung einzuschmeicheln, haben Sie ihn kaum beachtet und ständig auf seinen Platz verwiesen.“

„Ich hatte dringende Probleme und wusste, dass er uns nichts konnte.“

„Ist mir aufgefallen. Darum war ich ja auch gezwungen einzugreifen, bevor Sie zu noch einem größeren Problem werden konnten.“

„Warum hätte ich zu einem größeren Problem werden sollen?“ Zu der Zeit wusste ich doch noch gar nichts von Malou.

Sie blitzte mich mit verschlagendem Blick an. „Haben Sie wirklich geglaubt, dass ich Sie nur aus dem Weg haben will, weil sie im Venatoren Ranking so weit oben stellen? Ich bitte Sie, Sie nehmen sich viel zu wichtig.“

Was? „Aber warum haben Sie mich dann entführen lassen?“

„Weil Sie herumgeschnüffelt haben.“ Sie ließ ihren Arm sinken und wirkte nun nicht mehr belustigt. „Dabei sind Sie leider auf etwas gestoßen.“

Ich war bei meinen Recherchen auf etwas gestoßen? „Meinen Sie Adrian Lambrecht?“

„Ein Pseudonym. Mitglieder von L.F.A. benutzen es, um andere Mitglieder vor dem langen Arm des Gesetzes zu schützen. Ich konnte nicht erlauben, dass Sie damit zu einem Vorgesetzten gehen und dann vielleicht noch eine Untersuchung eingeleitet wird, ich muss meine Leute schließlich schützen. Darum habe ich ein paar Meiner Männer losgeschickt, um sie zu holen und sich des Problems zu entledigen. An diesem Tag jedoch wurden Sie von eine Toxrin gekratzt und ich glaubte schon, dass sich das Problem damit erledigt hat.“

Sie hatte mich schon vorher entführen lassen wollen? Dieses Miststück. Da müsste ich diesem verdammten Toxrin ja fast noch dankbar sein. „Aber ich habe mich nicht nur erholt, ich war auch völlig klar bei Verstand.“

Sie nickte. „Darum passte Lexian auch einen günstigen Moment ab um mir mitzuteilen, wann und wo meine Leute sie einsammeln konnten.“

Mein Blick richtete sich auf Lexian. „Sie haben dafür gesorgt, dass ich vom Parkplatz entführt werde?“

„Ich bin sehr gewissenhaft in meinen Aufgaben.“

So ein Scheißkerl.

„Leider wollten die Iubas Sie nicht töten und dann ist Ihnen auch noch die Flucht gelungen, weswegen die ganze Sache so ausgeartet ist. Aber zum Glück findet das ganze heute und hier ein Ende.“

So wie sie das sagte, gefiel mir das absolut nicht. Wo nur blieb die verdammte Polizei? Verschaff dir mehr Zeit, halt sie weiter am Reden! „Wenn wir jetzt schon so ehrlich miteinander sind, warum haben Sie mich in der Nacht in der in geflohen bin, nicht verfolgt?“

„Das war gar nicht nötig, uns war klar, dass Sie versuchen würden nach Dömitz durchzukommen, es ist die nächstliegende Ortschaft. Ich habe auch dort Leute und die standen schon bereit um Sie in Empfang zu nehmen und zu mir zurück zu bringen.“

„Aber ich bin niemals dort angekommen. Jedenfalls nicht so wie Sie sich das vorgestellt haben.“

„Nein, Sie fanden einen Weg die Polizei schon vorher auf sich aufmerksam zu machen.“

Und dafür musste ich auch noch der Schwarzmähne danken. Ohne ihn wäre ich wohl niemals in den Bunker gegangen. Manchmal spielte einem das Schicksal schon seltsame Streiche.

„Daraufhin musste ich komplett umdenken und einen anderen Weg einschlagen. Es war nicht schwer gewesen die Polizei davon zu überzeugen, dass Sie eine Tierschützerin sind, aber dann haben Sie ja dieses Video veröffentlichen müssen und mich so schon wieder in Bedrängnis gebracht.“

So böse wie sie mich anschaute, hatte ihr das wohl nicht besonders gut gefallen. „Ich lasse mich eben nicht gerne für Dinge zur Verantwortung ziehen, die ich nicht begannen habe.“

„Das habe ich sehr wohl bemerkt.“ Einen langen Moment guckte sie mich einfach nur an, doch dann kehrte das das Lächeln auf ihr Gesicht zurück. „Aber heute können wir endgültig einen Schlussstrich unter diese Geschichte setzen.“

Verdammt, langsam bekam ich das Gefühl, sie hatte keine Lust mehr auf unser kleines Kaffekränzchen. Auch die Männer schienen langsam ungeduldig zu werden. Wo blieb nur die verdammte Polizei? Mir gingen langsam die Fragen aus.

Als würde die Schwarzmähne meine wachsende Unruhe spüren, begann er wieder leise zu knurren.

„Die Sache ist zu Ende, sobald ich mein Geld in den Händen halte“, erklärte ich und versuchte mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen.

„Sie glauben wirklich, ich würde mit Venatoren verhandeln?“ Malou stieß ein glockenhelles Lachen aus, bei dem es mir eiskalt den Rücken herunterlief.

Das war nicht gut. Mir schwammen zusehends meine Felle davon. Beschäftige sie! „Danke Ihnen bin ich kein Venator mehr und werde wohl auch nie wieder einer sein können. Daher sind Sie es mir schuldig einen Ausgleich zu schaffen. Ich brauche ein wenig Startkapital, um irgendwo neu anfangen zu können.“

„Sie haben Schneid, dass muss ich Ihnen lassen, aber ich habe nicht vor Ihnen auch nur einen Cent in die Hand zu drücken. Sie haben mich schon genug Zeit und Nerven gekostet und Tote brauchen bekanntermaßen kein Geld mehr.“

Ihre letzten Worte ließen mich nervös schlucken. Ich hatte gewusst, dass sie es so enden lassen wollte, aber eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass zu diesem Zeitpunkt bereits die Polizei eingetroffen wäre. Verdammt, Reese! „Noch bin ich aber nicht tot“, hielt ich dagegen und schaute mich vorsichtshalber schon mal nach einer Fluchtmöglichkeit um.

Genau wie ich wurde die Schwarzmähne immer unruhiger und ich musste wieder mit beiden Händen zupacken, um ihm Einhalt zu gebieten. Ich wollte hier kein Blutbad, ich wollte dass diese Frau für den Rest ihres Lebens hinter Gitter wanderte.

„Nein, noch nicht“, stimmte Malou mir zu. „Aber dieses kleine Problem lässt sich wegen ihrer Dummheit leicht beheben. Sie gelten noch immer als vermisst, eine Verrückte mit einem gestohlenen Iuba, untergetaucht um dem Gesetz zu entgehen. Niemand weiß dass Sie hier sind und dank der Polizisten draußen wird hier auch niemand nach Ihnen suchen.“

Leider hatte sie da nicht Unrecht.

„Man wird weiter nach Ihnen fanden, aber irgendwann wird man den Fall einfach zu den Akten legen. Wer weiß, vielleicht nehmen die Leute an, dass dieser wunderschöne Iuba Sie gefressen haben wird. Es ist eigentlich auch egal.“

Okay jetzt brachte sie mich aber langsam ganz schön in Bedrängnis. Ich schaffte es nicht mehr ganz so gut meine überlegene Maske aufrecht zu erhalten. „Reese wird niemals aufhören nach mir zu suchen.“

„Oh, doch, das wird er“, versicherte sie mir mit einem eifrigen Nicken. „Sobald Sie aus dem Weg sind, werden wir uns pflichtbewusst um ihn kümmern. Wir wollen Sie beide ja nicht trennen, so grausam bin ich nicht.“

Diese Worte verdrängen die Angst und ließen heiße Wut in mir aufflammen. „Wagen Sie es nicht ihm zu nahe zu kommen.“

„Oh“, machte sie schmunzelnd. „Wie herzallerliebst. Sie haben vergessen noch eine Drohung auszustoßen – nicht dass das etwas ändern würde. Tote können schließlich nichts mehr ausrichten.“

Verdammt. Ich zog die Schwarzmähen etwas näher zu mir, als er sich stärker in das Geschirr stemmte. Seine Lefzen hoben sich und ein durchdringendes Knurren vibrierte in seiner Brust.

Langsam machte sich in mir die Angst breit, dass mit dem Anruf etwas schiefgelaufen war und Reese gar nicht wusste, wo ich gerade war. Ansonsten müsste die Polizei doch schon längst hier sein, oder? Verdammt, verdammt, verdammt. Lass dir was einfallen!

Ja, wenn das nur so einfach wäre. „Schweinehund ist noch immer in meinem Besitzt und Sie kommen nur an ihn heran, wenn ich bekommen habe was ich will.“

„Oh es ist fast schon eine Tragödie, weil Sie das wirklich glauben.“ Sie schüttelte bemitleidenswert den Kopf, aber für Sie gibt es kein Entkommen mehr. Soll ich Ihnen verraten warum?“

„Ich bin ganz Ohr.“ Vier Gegner, zwei davon bewaffnet. Ich würde es niemals schnell genug schaffen eines der Garagentore zu öffnen und hinaus zu schlüpfen, bevor sie mich erwischten. Scheiße, warum war ich nur hier her gekommen?

„Weil sie Venator sind.“ Sie senkte den Kopf ein wenig und grinste auf eine Art, bei der mir wirklich Angst und Bange wurde. Sie hatte keine Lust mehr auf dieses Spielchen. „Das schöne an euch Venatoren ist, ihr seid durchschaubar. Ihr wollt die Menschen retten und die Proles töten. Sie benutzen diesen armen Iuba zwar wie eine Waffe gegen mich, aber Sie würden ihn niemals einsetzen, denn trotz aller Verfehlungen bin ich noch immer ein Mensch.“

Ich benutzte ihn nicht als Waffe, ich benutzt ihn als Schild, doch ihr diesen kleinen aber feinen Unterschied zu erklären, erschien mir im Moment ein wenig überflüssig. „Sie vergessen nur, wenn Sie mich töten, dann wird diese Waffe sich gegen Sie richten und wird Sie fressen. Ich bin die einzige, die das im Moment verhindern kann.“

„So, glauben Sie? Sie überschätzen sich, kleines Mädchen, denn ihr Plan hat einen ganz großen Fehler.“ Ihr Lächeln bekam etwas listiges. „Soll ich Ihnen verraten welchen?“

Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich das wirklich hören wollte. Fieberhaft suchte ich nach einem Ausweg und spürte wie mir der Schweiß ausbrach. „Da Sie sich so gerne reden hören, sollten Sie es mir vielleicht wirklich sagen. Ich will schließlich nicht …“ Ich verstummte, als sich die Seitentür zum Gebäude öffnete und einer von Malous Handlangern hereinkam. Nicht nur ich wandte mich ihm zu und die Schwarzmähne nutzte den kurzen Moment, um mit einem Knurren einen Satz nach vorne zu machen. Ich wurde ein Stück mitgerissen, schaffte es aber auf den Beinen zu bleiben und ihn wieder zurückzuzerren.

Malou beobachtete mich einen Augenblick aufmerksam und drehte sich dann mit sichtlicher Verärgerung zu unserem Besucher herum. „Ja?“

„Ich entschuldige mich für die Störung, aber die Polizei ist an der Tür und will ganz dringend mit Ihnen sprechen.“

Oh mein Gott ja! Vor Erleichterung wäre ich fast in mich zusammengesackt. Es hatte funktioniert, Reese hatte alles mitbekommen und Hilfe geschickt. Ich war nicht länger allein. Jetzt musste ich nur noch ein kleinen wenig durchhalten und mir nichts anmerken lassen, dann würde alles gut werden.

Malou runzelte die Stirn. „Die Polizei? Was will sie denn?“

„Das haben sie nicht gesagt, aber es ist wohl wichtig, sonst würden sie um diese Zeit nicht mehr stören.“

„Sagen Sie ihnen, dass ich schon schlafe und mich morgen mit ihnen in Verbindung setzen werde.“, befahl Malou. Diese Stören erfreute sie offensichtlich kein bisschen.

Der Mann ließ seinen Blick kurz zur knurrenden Schwanzmähne schweifen, bevor er ihn wieder auf Malou richtete. „Das habe ich bereits probiert, aber sie bestehen darauf jetzt mit Ihnen zu sprechen.“

Das passte ihr nicht. Sie wollte sich mit ihrem Spielzeug beschäftigen und keine Zeit auf die Gesetzeshüter verschwenden, aber um die Fassade aufrecht zu erhalten, konnte sie nicht ablehnen. „Na schön, sagen Sie ihnen, dass ich in fünf Minuten bei ihnen sein werde.“

„Verstanden.“ Der Mann nickte noch einmal und verschwand dann wieder aus der Garage.

Als Malou sich wieder zu mir herumdrehte, verzog sie unwillig die Lippen. Diese Störung passte ihr absolut nicht. „Wahrscheinlich habe ich das auch wieder auf irgend eine Art Ihnen zu verdanken.“

An dieser Stelle war es vermutlich das Schlauste, einfach den Mund zu halten.

„Egal.“ Sie strich sich einmal über das perfekt frisierte Haar und wandte sich dann Lexian zu. „Bist du bitte so lieb mir den Iuba zu holen und dich unseres kleinen Problems zu entledigen? Ich kümmere mich in der Zeit um die Polizei.“

„Aber natürlich, Schatz.“

Nach diesen Worten machte sich ein ganz ungutes Gefühl in mir breit und meine Erleichterung wich augenblicklich meiner Anspannung. „Was meinen Sie mit holen?“ Sie konnten sich die Schwarzmähne nicht holen, nicht so.

Malou lächelte mich ein wenig verkniffen an und wandte sich dann einfach von uns ab. Im gleichen Moment beobachtete ich angespannte, wie Lexian unter seine Jacke griff und eine Waffe zog. Zuerst verstand ich nicht was es damit auf sich hatte. Declan und Logan hatten auch Waffen und konnten sie nicht gegen mich einsetzten, doch als er den Lauf auf die knurrende Schwarzmähne richtete, wurde mir mein Fehler mit einem Mal siedend heiß bewusst.

Das war keine normale Waffe, das war eine Betäubungspistole, mit der sie die Schwarzmähne ausschalten konnten. Und dann wäre ich ihnen ausgeliefert.

Die Panik und die Angst vor dem was geschehen konnte, wenn sie mir den einzigen Schutz nahmen, den ich hatte, setzte mein Denken einfach aus. Ich dachte gar nicht weiter darüber nach, was ich da tat, ich ließ die Schwarzmähne einfach los und griff in meinen Rücken, um meine eigenen Waffe zu ziehen.

 

°°°°°

Kapitel 23

 

Die Zeit wurde zu zähflüssigem Sirup und plötzlich schien alles wie in Watte gepackt. Declan rief eine Warnung, die Malou auf ihren Absätzen herumwirbeln ließ. Lexian betätigte hastig den Abzug seiner Waffe, doch die Schwarzmähne sprang bereits mit einem weiten Satz direkt auf Logan zu, sodass er sein Ziel mehr als nur knapp verfehlte. Logen versuchte noch seine Waffe hochzureißen, aber da versenkte der Iuba bereits knurrend die gefletschten Zähne in seinem Arm und riss ihn mit sich zu Boden.

Der Mann schrie und begann mit der freien Faust auf das Biest einzuhämmern, während die Schwarzmähne sich aggressiv immer fester in ihn verbiss und damit begann ihm dem Arm zu zerfleischen.

Ich registrierte währenddessen wie Declan seine Waffe herumriss, doch bevor er damit auf den Iuba schießen konnte, hatte ich ihn bereits im Visier.

Einatmen.

Zielen.

Ausatmen.

Schießen.

Der Schuss löste sich und der vertraute Rückstoß traf mich am Arm. Dem Knall folgte ein Schrei von Declan. Die Waffe fiel ihm aus der Hand und fiel klappernd zu Boden. Mit schmerzverzerrtem Gesicht drückte er sich den Arm an die Brust und schaute zu mir herüber. Ich hatte ihm im Unterarm getroffen, mit dieser Hand würde er so schnell nicht mehr schießen.

Als er die Waffe in meiner Hand sah und die Bereitwilligkeit, dass ich noch einmal schießen würde, drehte er sich einfach um und rannte auf die Tür zum Haus zu.

In dem Moment schnappte die Zeit wieder zurück und die Geräusche drangen in all ihrer grausamen Realität an meine Ohren. Oh mein Gott, was hatte ich getan? Ich hatte gerade einen Proles auf einen Menschen losgelassen, in dem vollen Bewusstsein, dass er ihn töten würde, das hatte ich getan.

Es war wie ein Schock für mich. Ich tötete keine Menschen, ich rettete sie, doch nun hatte diese Frau mich dazu gebrach all meine Vorsätze in einem Moment der Panik über Board zu werfen und musste ich dabei zuschauen, wie die Schwanzmähne diesem Mistkerl Logen die Kehle zu blutigem Brei verarbeitete. Selbst wenn ich den Iuba noch von ihm herunterreißen würde, könnte ich ihn nicht mehr retten. Die gurgelnden Geräusche die er von sich gab und das ganze Blut …

Ich riss mich von dem Anblick los und wirbelte zu Malou herum, nur um zu sehen, wie die Tür zum Proles-Zoo gerade ins Schloss fiel. Declan war weg, Lexian war weg und auch Malou war weg. Die Betäubungswaffe lag vergessen auf dem Boden.

Oh nein, so einfach würde ich sie nicht entkommen lassen, nicht nach der ganzen Scheiße die ich hatte durchmachen müssen. Dieses Miststück würde im Knast landen und wenn ich sie selber dort hinschleifen musste.

Ohne noch einen Blick auf die Schwarzmähne zu werfen, fasste ich meine Waffe fester und schlüpfte durch die Seitentür in den Proles-Zoo. Es war dunkel und nur die spärliche Beleuchtung der Anlage spendete ein wenig Licht. Hektisch lief ich um die Hecke herum, musste dann aber erstmal stehen bleiben, weil ich keine Ahnung hatte, wohin die beiden gelaufen waren.

Mein Kopf ging auf der Suche nach einem Hinweis von links nach rechts. Die Wege zu beiden Seiten waren leer. Wo war sie? Da ich sie nicht sehen konnte, schloss ich die Augen und lauschte. Da, das klappernde Geräusch von Absätzen. Links herum.

Kaum dass ich das Geräusch erfasst hatte, rannte ich auch schon wieder los und hatte ehrlich gesagt keine Probleme die beiden schon nach kurzer Zeit einzuholen. Lexian war schnell, aber Malou bremste ihn aus.

Ich war nicht so dumm den beiden hinterherzurufen, aber Lexian hörte meine Schritte über den Kiesweg trommeln. Er warf einen Blick über die Schulter, bemerkte mich und blieb stehen. Malou jedoch schubste er weiter. „Verschwinde“, wies er sie an und trat mir dann in den Weg.

Sie ließ sich nicht zweimal bitten. Keine Ahnung was das zwischen den beiden war, aber wäre das Reese, würde ich nicht einfach so die Beine in die Hand nehmen und das Weite suchen, damit andere meine Probleme lösten.

Da aber nicht Lexian mein Ziel war, sondern Malou, war es ganz großer Mist, dass er mir nun im Weg stand. Leider konnte ich wegen der dichten Bepflanzung nicht einfach links oder rechts an ihm vorbeilaufen. Ich hätte schon mittendurch gemusst und wäre somit wahrscheinlich direkt in seinen Armen gelandet. Mir blieb also gar nichts anderes übrig, als zwei Meter vor ihm abzubremsen, meine Waffe zu heben und damit auf ihn zu zielen. „Gehen Sie mir aus dem Weg.“

„Sorgen Sie doch dafür, dass ich es tue.“ Hinter ihm verschwand Malou um die Ecke und damit auch aus meinem Sichtfeld.

Verdammt. „Ich werde schießen, wenn Sie mich nicht durchlassen“, drohte ich, war mir aber nicht sicher, ob ich das wirklich konnte. Klar, ich musste ja keinen tödlichen Treffer setzen, aber er war ein Mensch. Das mit Declan eben war rein im Effekt passiert, weil ich … weil ich die Schwarzmähne beschützen wollte. Oh mein Gott, was war nur los mit mir?

Er öffnete die Arme, als könne er es kaum erwarten. „Nur zu.“

„Sind Sie verrückt?“

„Nein, aber ich werde es nicht zulassen, dass Sie Malou etwas antun.“ Mehr Vorwarnung bekam ich nicht, im nächsten Moment schon stieß er sich ab und stürzte sich einfach auf mich.

Schlau wäre es gewesen einfach ins Bein zu schießen, aber ich hatte Angst dass ich ihn an der falschen Stelle treffen könnte, also riss ich die Waffe zur Seite, anstatt mich gegen den Angriff zu wehren. Lexian riss mich einfach auf den Boden.

Der Aufprall war hart. Ich knallte auf die linke Schulter und der Schmerz zuckte durch meinen ganzen Arm. Leider blieb mir keine Zeit mich darum zu kümmern, denn schon versuchte Lexian mir die Waffe zu entreißen. Ich schaffte es gerade so sie außerhalb seiner Reichweite zu halten. Gleichzeitig versuchte ich ihn von mir runter zu stoßen, aber er schlug meinen Arm einfach zur Seite und drückte mich zu Boden. Mein Versuch ihm das Knie in die Seite zu rammen, blieb leider auch erfolglos. Ich konnte nichts anderes tun als ihn davon abzuhalten mir die Waffe wegzunehmen.

Ich war mir nicht sicher ob er versuchen würde mich damit zu erschießen, aber ehrlich gesagt legte ich auch keinen Wert darauf es herauszufinden.

In dem entstehenden Gerangel musste ich mehr als einen Treffer einstecken, aber Lexian kassierte mindestens genauso viel. Einmal erwischte ich ihn direkt auf der Nase, sodass er mit einem Schmerzensschrei zurückzuckte. Ich nutzte meine Chance um sofort nachzusetzen, doch er griff in dem Moment in meine Haare und riss sie nach hinten.

„Ahhh!“ Scheiße, das tat weh.

Plötzlich wurde irgendwo in der Ferne eine Waffe abgefeuert. Dem ersten Schuss folgte gleich darauf ein zweiter. Oh nein, die Schwarzmähne! Hatten Malous Leute ihn erschossen? Verdammt nein!

Ich begann mich heftiger gegen Lexian zu wehren, bis ich endlich auf die Idee kam, meine Waffe gegen ihn einzusetzen. Nicht indem ich damit auf ihn schoss, sondern indem ich sie ihm gegen den Kopf knallte. Sie war aus Metall, also würde das auch wehtun. Das Problem war nur, dass er meinen Arm festhielt.

Ich strampelte und buckelte und versuchte auf diese Art mehr Bewegungsfreiraum zu bekommen, während er sein Gewicht ächzend so verlagerte, dass er mir den Unterarm auf die Kehle drücken konnte.

Das war der Moment, in dem ich das Knurren hörte. Die Schwarzmähne! Ich riss den Kopf herum, doch was da mit einem weiten Satz heran gesprungen kam, war kein Iuba, sondern einer von Malous verdammten Spumas.

Lexian, pass auf!“, rief ich noch, doch er schien zu glauben, dass ich ihn nur reinlegen wollte. Er packte meinen Arm und knallte ihm im Versuche mich so zu entwaffnen auf den Boden. In der nächsten Sekunde sprang der Spuma ihn fauchend an und verkrallte sich in seinem Körper.

Lexian schrie auf, als das Vieh sich in seiner Schulter verbiss und wurde von dem Schwung von mir runter gerissen.

Ich rollte mich eilig zur Seite und kam in der gleichen Bewegung wieder auf die Beine. Lexian war ein Mistkerl, aber ich musste ihn retten. Doch bevor ich überhaupt die Gelegenheit bekam meine Waffe zu heben, rammte mich etwas von hinten und katapultierte mich zurück auf den Boden. Dabei fiel mir auch noch Meine Waffe aus der Hand und fiel irgendwo ins Gebüsch. Scheiße.

Hastig drehte ich mich herum und schaute genau in das Gesicht des kleinen Spumas. Verdammt, Malou musste sie aus dem Gehege gelassen haben, um für Ablenkung zu sorgen. „Braves Kätzchen“, murmelte und schob mich ganz langsam rückwärts. Ich musste meine Waffe wiederfinden.

Der kleine Spuma fauchte und fuhr die Krallen aus während Lexians Schreie eine neue Stufe erreichten und dann ganz plötzlich einfach abbrachen. Oh Gott.

Während ich mich Stück für Stück rückwärts schob, beobachtete ich ganz genau, wie sich die Muskeln des kleinen Spumas anspannten. Es dauerte vielleicht drei Sekunden, da setzte er zum Sprung an. Aber ich war vorbereitet. Mit aller Kraft die ich aufbringen konnte, trat ich in dem Moment zu, als er fauchend seine Krallen in mich schlagen wollte.

Mein Tritt erwischte ihn nicht nur am Kopf, er schleuderte ihn auch zur Seite. Scherz zuckte durch mein ganzes Bein, aber für einen kurzen Moment hatte ich mir etwas Zeit erkauft. Hastig kam ich zurück auf die Beine, wirbelte herum und stürzte ins Gebüsch. Meine Waffe, ich brauchte unbedingt meine verdammte Waffe wieder. Wie hatte ich nur so dumm sein können sie fallen zu lassen?

Bei der spärlichen Beleuchtung war es leider nicht ganz einfach zwischen dem ganzen Grünzeug mein Schießeisen zu finden. Ich riss Pflanzen und Blätter aus und tastete hektisch die Erde ab, doch das Grollen des Spumas ließ mich einen schnellen Blick über die Schulter werfen. Er war nicht nur schon wieder auf den Beinen, er rannte auch direkt auf mich zu.

Ich schmiss mich herum, bereit ihn ein weiteres Mal wegzutreten, doch das blöde Katzenvieh hatte aus meinem ersten Angriff gelernt. In dem Moment in dem ich zutrat, bremste es ab und so ging mein Tritt ins Leere. Gleichzeitig hob es mit ausgefahrenen Krallen die Pranke.

Ein Schuss knallte. Der Spuma zuckte und sackte dann einfach in sich zusammen. Ein zweiter Schuss und auch der Spuma, der sich gerade an Lexian satt fraß knickte einfach ein und blieb leblos halb auf seinem Opfer liegen.

Schwer atmend und mit großen Augen starrte ich die beiden einen Moment an. Dann drehte ich hastig den Kopf. „Reese.“ breitbeinig und noch mit erhobener Waffe stand er mitten auf dem Kiesweg. Verdammt, was machte er denn hier?

Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen?!“, brüllte er mich zur Begrüßung an und kam mit weiten Schritten auf mich zu marschiert.

Oh Gott, einen Moment hatte ich wirklich das Bedürfnis mich heulend in seine Arme zu werfen. Er war hier, er war wirklich hier!

Irgendwo weiter hinten im Park knallte schon wieder ein Schuss durch die Nacht und rüttelte mich damit auf. Ich drehte mich wieder herum und begann erneut nach der Waffe zu suchen. „So gerne ich mich jetzt auch von dir anschreien lassen würde, das wird wohl noch ein wenig warten müssen.“ Wo ist nur dieses verdammte Ding? „Erst muss ich Malou zwischen die Finger bekommen, dann …“ Meine Finger streiften über kühles Metall – meine Waffe!

Genau in dem Moment in dem ich danach griff, packte Reese mich am Arm und zerrte mich auf die Beine.

Willst du mich verarschen?!“, fauchte er mir ins Gesicht und treib mich damit wieder ein wenig in die Defensive. „Erst verschwindest du klammheimlich, dann klaust du einen Proles aus Historia und dann bekomme ich mitten in der Nacht diesen verstörenden Anruf!“

Na was hätte ich denn tun sollen? Du hast mir ja kein Wort geglaubt, niemand hat mir ein Wort geglaubt! Alle hielten mich für verrückt und ich musste diese Scheiße doch irgendwie regeln!“

Und du glaubst, was du hier abgezogen hast, ist nicht verrückt?!“

Hm, das war eine Fangfrage, deswegen hielt ich es für besser, sie einfach zu übergehen. „Wir haben jetzt keine Zeit dafür. Malou ist hier irgendwo und wenn wir sie nicht schnell kriegen, lässt sie vielleicht noch mehr Proles aus ihren Gehegen.“ Ohne Rücksicht auf Verluste riss ich mich von ihm los und schlug eilig die Richtung ein, in die Malou verschwunden war.

Verdammt Shanks!“ Reese schickte noch einen sehr einfallsreichen Fluch hinterher, folgte mir dann aber.

Es tut mir leid“, rief ich beim Rennen, einfach weil es mir wichtig war, dass er das wusste. „Aber ich konnte nicht zulassen, dass du für etwas in den Knast gehst, was du nicht getan hast.“ An der nächsten Gabelung blieb ich kurz stehen, direkt neben der Voliere von Pasha. Mit einem kurzen Blick versicherte ich mich, dass der weiße Toxrin noch darin war und schlug dann den Weg in Richtung Spuma-Gehege ein.

Auch Reese sah den kleinen Albino, presste die Lippen aufeinander und rannte mir dann wieder hinterher. „Wenn das hier vorbei ist, kannst du was erleben!“

Hör auf so ein Blödmann zu sein, ich habe getan was getan werden musste!“

Was getan werden musste?!“ Kurz vor der nächsten Abzweigung packte er mich an der Jacke und riss mich zurück, sodass ich fast ins stolpern geriet. „Du hast mich in Angst und Schrecken versetzt, das hast du getan! Hast du eigentlich eine Ahnung, was ich die letzten Tage durchgemacht habe?!“

Ja“, sagte ich leise und bemerkte die kleine Wunde an seiner Lippe. Die Bisswunde, die ich ihm selber zugefügt habe, war noch nicht verheilt. „Und glaub mir, ich habe mich deswegen selber ständig gegeißelt, aber ich musste das machen.“

Seine Lippen wurden eine Spur schmaler, während die Wut in seinen Augen funkelte, doch er blieb still.

Es tut mir leid, aber ich musste dich beschützen.“ Ich beugte mir vor und gab ihm einen kurzen Kuss. „Bitte versteh mich“, murmelte ich noch leise, zog mich dann aber wieder von ihm zurück und wandte mich ab, denn ich hatte noch immer eine Aufgabe zu erfüllen.

Reese gab meine Jacke nur widerwillig frei. Er stieß sogar noch ein unzufriedenes Knurren aus, blieb mir aber auf den Fersen, als ich wieder losrannte. „Dieses Gespräch ist noch nicht beendet“, ließ er mich wissen.

Das ist in Ordnung, aber wir werden sicher einen passenderen Rahmen dafür finden. Im Augenblick ist es nur wichtig, dass wir …“

In dem Moment in dem ich die Weggablung erreichte, schoss eine Hand aus dem Gebüsch hervor. Es geschah so schnell, dass ich erst reagieren konnte, als es schon zu spät war. Die Waffe wurde mir entrissen. Ich erschrak und zuckte zurück und während ich noch einen Schritt zurück stolperte und dabei fast noch über Reese fiel, wurde die Waffe herumgedreht und der Lauf direkt auf mein Gesicht gerichtet.

Die gute Nachricht? Ich hatte Malou gefunden. Die schlechte? Sie hatte im Gebüsch auf uns gelauert und meine Waffe in ihren Besitz gebracht.

Als Reese mit dem Arm zuckte, als wollte er seine eigene Waffe heben, entsicherte Malou mein Schießeisen.

Keine Bewegung“, befahl sie und verengte die Augen drohend. Ihr Kostüm war zerrissen und die Frisur saß bei Weitem nicht mehr so perfekt wie sonst. „Wenn ich auch nur glaube, dass einer von Ihnen etwas Dummes im Sinn hat, dann werde ich einfach abdrücken.“

Ich schluckte, wagte es aber nicht sie auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

Ihnen ist hoffentlich bewusst, dass die Polizei sich auf ihrem Gelände befindet“, bemerkte Reese wachsam. „Sie sollten es nicht noch schlimmer machen, als es im Moment breites der Fall ist.“

Sie neigte den Kopf zur Seite und begann wieder zu lächeln. „Reese Tack, wie schön dass wir einander auch einmal begegnen. Aber ich denke es wäre angebracht wenn Sie ein paar Schritte zurück treten. Ihre Waffe können Sie auf den Boden legen und zu mir rüber schieben. Nur zur Sicherheit.“ Als er nicht sofort reagierte, verdüsterte sich der Ausdruck in ihrem Gesicht. „Sofort außer sie möchten, dass ich schieße.“

Ich wagte es nicht mich zu Reese umzudrehen, doch ich hörte wie er sich bewegte. Kurz darauf schlitterte seine Waffe direkt an mir vorbei und blieb vor Malous Füßen liegen.“

Und nun treten sie ein paar Schritte zurück.“

Das wird nichts ändern“, erklärte er ruhig, kam aber ihrer Forderung nach. „Mittlerweile weiß die Polizei wer Sie sind und was Sie getan haben. Sie sollten besser Schadensbegrenzung betreiben und sich stellen, dann können Sie vielleicht …“

Ich soll mich stellen?“, fragte sie amüsiert und lachtet tatsächlich. „Ist Ihnen gar nicht bewusst wer ich bin? Niemand wird etwas gegen mich sagen, wenn ich in Notwehr zwei Eindringlinge erschieße, die sich mit einem gefährlichen Proles Zugang zu meinem Anwesen verschafft und mich bedroht haben.“

Die Polizei ist auch hier“, betonte er noch mal sehr nachdrücklich.

Sie winkte ab, als sei das völlig unbedeutend und kickte die Waffe auf dem Boden mit einem Tritt ins nächste Gebüsch. „Mann kann alles kaufen. Menschen, Alibis, Aussagen. Es wird mich zwar ein bisschen was kosten, aber ich bekomme das schon wieder hin.“

Glaubte sie das wirklich? Naja, sie wusste ja noch immer nichts davon, dass Reese unser komplettes Gespräch mit angehört hatte. Allerdings würde dieser Zeuge nichts mehr bringen, wenn sie uns erschoss. Ich musste dringend etwas unternehmen. „Lexian ist tot.“

Ein Muskel in ihrem Gesicht zuckte.

Die Spumas die Sie herausgelassen haben, haben ihn getötet.“

Sie haben mich gezwungen sie herauszulassen!“, schrie sie mich an und plötzlich wirkte sie gar nicht mehr wie die Weltgewandte Frau, die die absolute Kontrolle über ihr kleines Imperium hatte. Vielleicht schwang sie noch große Reden, doch sie wusste genauso gut wie wir, dass sie geliefert war und nun begann ihre Maske zu bröckeln, während sich die Verzweiflung einen Weg an die Oberfläche suchte. „Sie haben alles ruiniert, dabei hätten Sie einfach nur sterben müssen!“

Als sie die Waffe höher riss, hob ich automatisch die Hände, um sie zu besänftigen.

Aber ich krieg das wieder hin“, erklärte sie nun etwas ruhig, während sich ihre Lippen zu einem verzerrten Abbild eines Lächelns verzogen. „Ich muss sie nur erschießen, dann ist alles … keinen Schritt weiter!“ Die Hand mit der Waffe ruckte zur Seite und zielte auf einen Punkt hinter mir.

Ich wagte es einen kurzen Blick über die Schulter zu Reese zu werfen. Genau wie ich hatte er die Hände erhoben. Sein Körper vibrierte praktisch vor Anspannung und genau wie ich schien er fieberhaft nach einem Ausweg zu suchen, der ohne irgendwelchen Kugeln in irgendwelchen Körperteilen endete.

Sie sind genauso penetrant wie ihre Partnerin, hab ich recht? Vielleicht sollte ich ja mit Ihnen anfangen.“

Nein!“ Panisch machte ich einen Schritt nach vorne und hatte sofort wieder den Lauf der Waffe vor der Nase. Es war mir egal, besser sie zielte auf mich, als auf ihn. „Er hat mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun, also lassen Sie ihn in Ruhe!“

Shanks“, knurrte Reese mahnend.

Ich ignorierte ihn einfach. „Ich habe das mit Adrian Lambrecht herausgefunden, ich bin aus dem Gehege entkommen und auch ich war es, die das Video veröffentlicht hat.“ Ich hatte nicht den leisesten Schimmer was ich hier trieb, im Augenblick war mir nur wichtig, dass sie Reese nicht mehr bedrohte. „Ja selbst der Verkauf des Iubas heute war nichts weiter als ein Trick von mir. Ich hatte ein Handy bei mir. Alles was Sie in der Garage gesagt haben, wurde mitgeschnitten.“ Gut, das entsprach nicht unbedingt der Wahrheit, aber ich würde mich hüten und ihr erklären, dass Reese ein Zeuge ihrer kleinen, dunklen Geheimnisse geworden war. „Und da ich die Aufnahme an Schweinehund festgebunden habe, werden Sie da auch nicht so einfach herankommen.“

Es war beinahe schon faszinierend zu sehen, wie Malous Zorn ihr häßliches Haupt erhob. „Du kleines Miststück, dafür wirst du … ahhh!“

Etwas großes sprang sie von der Seite an und verbiss sich in ihrem Arm. Malou kreischte. Ein Schuss löste sich. Reese und ich warfen uns gleichzeitig zu Boden.

Die Schwarzmähne, oh Gott, das blöde Vieh lebte noch! Es war wohl nicht nur das erste Mal in meinem Leben dass ich froh war einen Proles zu sehen, sondern über dessen Anblick ich mich geradezu freute. Allerdings nur bis mir klar wurde, dass er sie töten würde.

Er hatte sich in ihren Arm verbissen und zu Boden gerissen. Knurrend beutelte er sie, während sie kreischte und schrie und versuchte loszukommen. Das weiße Kostüm war schon ganz rot und die Waffe war weg. Sie musste sie bei ihrem Sturz verloren haben.

Hektisch suchte ich den Boden danach ab, aber die zwei Sekunden, die ich mir Zeit nahm, entdeckte ich sie nicht. Ich konnte aber auch nicht zulassen, dass er sie tötete, ich wollte diese Frau hinter Gitter sehen.

Als Malou einen besonders spitzen Schrei ausstieß, sprang ich zurück auf die Beine. In diesem Moment zermalmte die Schwarzmähne der Frau nicht nur den Knochen, er zerrte auch solange daran, bis ich Fleisch und Sehnen reißen hörte.

Nein!“, schrie ich und stürzte nach vorne. Einen Schritt kam ich weit, dann wurde ich plötzlich nach hinten gerissen.

„Bist du wahnsinnig?! Du kannst doch nicht unbewaffnet auf einen Iuba zugehen!“, fauchte Reese mir ins Gesicht.

„Er wird mir nichts tun!“, versicherte ich ihm eilig und versuchte mich von seinem Griff loszumachen, doch er packte mich einfach fester und zerrte mich noch weiter zurück. „Verdammt, Reese, lass los, sonst wird er sie töten!“

„Besser sie als du!“

„Reese!“

Vielleicht war es mein Ruf, vielleicht interpretierte die Schwarzmähne die Situation auch einfach nur falsch, weil Reese versuchte mich gegen meinen Willen wegzuzerren. Auf jeden Fall schien er Reese plötzlich als Gefahr für mich einzustufen. In Bruchteilen von Sekunden ließ er von Malou ab, wirbelte mit blutverschmierter Schnauze herum und stürzte direkt auf Reese zu.

„Nein!“, war alles was ich noch schrie, da drehte ich mich auch schon direkt vor Reese. In der gleichen Sekunde rammte die Schwarzmähne mit einer solchen Wucht gegen meinen Rücken, dass ich zusammen mit Reese nach vorne geschleudert wurde.

Das Gewicht presste mir die Luft aus den Lungen, aber wenigstens war ich halbwegs weich auf Reese gelandet.

Als die Schwarzmähne knurrend von meinem Rücken sprang, bohrte er eine Kralle unangenehm in meinen Rücken. Ich zischte, was ihn nur noch wütender zu machen schien.

Reese riss die Arme hoch, als der Iuba an mir vorbei nach ihm schnappte.

„Nein!“, fauchte ich wieder und stieß dem Biest mit aller Kraft in die Seite. Er torkelte ein Stück zurück, wollte aber sofort wieder nachsetzen. Ohne auch nur einen Moment zu zögern rollte ich mich von Reese, kam in der hocke auf und griff dem Iuba links und rechts in die Mähne, als er sich wieder auf Reese stürzen wollte. „Nein habe ich gesagt!“, fauchte ich ihm mitten ins Gesicht.

Die Schwarzmähne versuchte sich mir zu entziehen, weswegen ich noch fester zupackte.

„Hör auf!“

Der scharfe Ton in meiner Stimme ließ ihn zögern. Er knurrte unwillig, schaut zu Reese, bleckte die Zähne und schaute wieder zu mir. Er wollte ihn – unbedingt. Da war dieser Glanz in seinen Augen, der Wahn, der allein den Proles gehörte.

„Nein“, sagte ich noch mal etwas ruhiger, löste wachsam eine Hand aus seiner Mähne und begann ihm beruhigend durch das lange Fell zu streichen. „Hör einfach auf, es ist vorbei.“

Sein Knurren sollte mir wohl sagen, dass er das ganz anders sah, aber wenigstens versuchte er nicht mehr vorzupreschen und den Mann den ich liebte zu fressen. Das würde mir wirklich den Tag vermiesen.

„So ist es gut.“ Ich ließ mich auf die Knie fallen und tastete mit der freien Hand nach seinem Geschirr, einfach weil ich ihn dort besser festhalten konnte.

Erst als ich die Hand um das stabile Leder geschlungen hatte und mir sicher war, dass er mir nicht mehr so einfach entkommen konnte, warf ich einen Blick über die Schulter. „Alles klar?“

Reese lag noch immer auf dem Boden, hatte sich aber halb auf die Seite gedreht und starrte mich und die Schwarzmähne an. Sein Gesicht war eine neutrale Maske, hinter der er seine Gedanken versteckte, doch in seinen Augen lag ein ungläubiger Funke. Zwar wusste er vom Hören, dass ich mich dem Iuba näheren konnte, aber es war eben doch etwas ganz anderes es mit eigenen Augen zu sehen. Er konnte es nicht verstehen.

Willkommen im Club.

„Reese, geht es dir gut?“

„Ja“, sagte er sehr leise und brachte die Schwarzmähne damit wieder zum Knurren. Ohne mich oder das Biest aus den Augen zu lassen, setzte er sich langsam auf. An seiner Wange hatte er ein paar Schrammen. Er öffnete den Mund, schloss ihn nach ein paar Sekunden dann aber wieder. Es hatte ihm die Sprache verschlagen.

Ich wollte gerade einen neunmalklugen Spruch ablassen, um ihn aus seiner Erstarrung zu holen, als ich mir dem leisen Weinen neben uns bewusst wurde.

Malou.

Kaum zwei Meter neben uns hatte sie sich in Embyostellung zusammengekauert und weinte leise. Das weiße Kostüm war zerfetz und überall rot und ihr rechter Arm … der lag einen halben Meter von ihr entfernt im Dreck. Die Schwarzmähne hatte ihn ihr abgerissen und sie für den Rest ihres Lebens verstümmelt.

Eigentlich hätte ich in diesem Moment Genugtuung empfinden müssen, doch alles was ich spürte war Bedauern und Erleichterung. Es war vorbei, Malou war erledigt und Reese und ich waren endlich von jeglicher Schuld frei.

„Wir müssen einen Arzt holen“, bemerkte ich. Nicht dass sie uns noch auf den letzten Metern verblutete.

„Ich kümmere mich darum.“ Als Reese mühsam zurück auf die Beine kam, begann die Schwarzmähne wieder knurrend die Zähne zu fletchen.

„Nein!“, kam es wie aus der Pistole geschossen. Das war etwas das ich nicht erlauben durfte. Es war egal, dass er mir schon mehr als einmal das Leben gerettet hatte, dieser Iuba hatte bereits meine Eltern auf dem Gewissen. Ich würde es nicht erlauben, dass er Reese auch nur ein Haar krümmte. Ich durfte nicht erlauben, dass er überhaupt noch mal jemanden ein Haar krümmte.

Plötzlich begannen meine Gedanken einen ganz anderen Weg einzuschlagen. Ich hatte es geschafft, diese ganze Scheiße war vorbei und nun brauchte ich die Schwarzmähne nicht mehr. Er hatte seinen Zweck erfüllt und jetzt … jetzt war es an der Zeit die Sache ein für alle Mal zu beenden. Ich konnte das tun, was ich vom ersten Moment an hätte tun sollen: Den Tod meiner Eltern rächen.

Eine seltsame Ruhe überkam mich. Ich kniete dort, schaute der Schwarzmähne in die Augen und plötzlich schien für mich alles ein Sinn zu ergeben. Hier konnte es endlich enden. „Reese, wo ist die Waffe?“

Er zögerte einen Moment, schaute sich dann aber nach der Waffe um die Malou hatte fallen lassen. Ich hörte wie er sich über den Kiesweg bewegte, konnte meinen Blick aber nicht von der Schwarzmähne abwenden. Meine Hand begann ein Eigenleben zu bewegen. Plötzlich stand ich neben mir und konnte mich selber dabei beobachten, wie ich damit begann ihn hinter dem Ohr zu kraulen, doch er schien zu spüren, dass sich etwas geändert hatte. Er wurde nicht aggressiv, aber doch ein wenig unruhig.

„Schhh, schhh“, machte ich. „Ganz ruhig.“

Sein Blick glitt nach rechts und er begann wieder leise zu knurren.

„Hier“, sagte Reese und hielt mir die Waffe hin. Dabei achtete er sehr genau darauf, dem Iuba nicht zu nahe zu kommen. Ihm musste klar sein, was ich vorhatte.

Die blutigen Lefzen der Schwarzmähne hoben sich und entblößten sein prächtiges Gebiss.

Mein Griff um das Geschirr wurde fester. Während ich Reese die Waffe aus der Hand nahm, behielt ich meinen Blick starr auf den Iuba gerichtet.

Nun wuchs seine Unruhe. Er sah die Waffe und versuchte vor mir zurückzuweichen, aber ich gab keinen Millimeter nach. Nicht mal von seinem Knurren ließ ich mich einschüchtern. Ich musste das hier tun, ich war es meinen Eltern schuldig und ich musste endlich einen Abschluss finden.

„Nur ein toter Proles ist ein guter Proles“, murmelte ich und hob die Waffe, bis der Lauf direkt auf sein Herz zielte.

Die Schwarzmähne schaute von der Pistole zu meinem Gesicht und gab auf einmal ein Geräusch von sich, dass sie wie ein leises Winseln anhörte. Seine Augen schienen mich zu fragen: „Was machst du da?“ und einen Moment war ich versucht mein Handeln vor diesem Biest zu rechtfertigen. Er hatte es verdient, er hatte so viele Menschen getötet. Er hatte Reese töten wollen und wenn ihm nicht diese dumme Proleszuneigung dazwischengekommen wäre, hätte er auch mich getötet. Es war das Richtige. Dieses Biest hatte es nicht verdient zu leben, während so viele andere wegen ihm gestorben waren.

Diese und noch viele andere Dinge sagte ich mir immer wieder, während ich versuchte mich dazu durchzuringen den Abzug zu drücken, aber irgendetwas hinderte mich daran. Ich war Venatoren, Proles zu töten war mein Job. Ich war gut darin und hatte es schon tausende von Malen getan, doch nun kniete ich hier mit der Waffe in der Hand und versuchte mir immer und immer wieder selber zu erklären, warum es das Richtige war sein Leben zu beenden.

Als er wieder ein winseln ausstieß, wurde mir bewusst, dass ich es nicht konnte. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich in einem Proles mehr als nur ein Monster und plötzlich war ich nicht mehr fähig den Abzug zu drücken. Ich … ich mochte diesen Iuba.

Verdammt, wann war denn das passiert?

„Es geht nicht“, sagte ich leise und verstand mich plötzlich selber nicht mehr. Hilfesuchend schaute ich zu Reese nach oben. „Ich kann ihn nicht erschießen.“

„Soll ich es tun?“

Das war wahrscheinlich gar keine schlechte Idee. Reese hatte sicher nicht so eine Skrupel, aber dann erwischte ich mich dabei, wie ich den Kopf schüttelte und die Waffe in meinen Schoß sinken ließ. „Nein, er …“ Ich holte einmal tief Luft. „Er muss zurück nach Historia.“ Dort würde er für niemanden mehr eine Gefahr sein und gleichzeitig wäre er dort auch sicher.

Ich stieß ein scharfes Lachen aus. Oh Gott, was lief denn bei mir plötzlich falsch.

„Erklärst du mir, was daran so witzig ist?“

„Alle Welt hat versucht mir zu erklären, ich sei verrückt und nun stelle ich fest, dass sie vielleicht recht haben.“ Denn anders war mein Verhalten gerade nicht zu erklären. Das hier war einfach nur verrückt.

Reese enthielt sich eines Kommentars, was aber wohl eher an den eilig herannahenden Schritten lag.

Die Schwarzmähne spannte sich an und begann wieder leise aus der Brust zu knurren. Nur Sekunden später kamen zwei Polizisten um die Ecke und rissen bei dem Anblick des Iubas sofort ihre Waffen hoch.

„Nein!“, rief ich sofort und sprang auf die Beine, um mich schützend vor meine ganz persönliche Bestie zu stellen. Die Waffe fiel dabei achtlos zu Boden. „Nicht schießen, ich habe ihn. Er kann nichts tun.“

Die Polizisten blinzelten verdutzt, als ihnen klar wurde, dass ich den Iuba ohne jeglichen Schutz einfach an seinem Geschirr festhielt. „Wir brauchen einen Käfig, er muss zurück nach Historia. Und wir brauchen ganz dringend einen Arzt.“ Um ihnen zu verdeutlichen, was ich damit meinte – und ja, auch um sich abzulenken – zeigte ich auf die noch immer weinende Malou.

Einer der Polizisten fluchte und griff dann nach dem Funkgerät an seinem Gürtel. Malou würde an der Verletzung wohl nicht sterben, aber sie würde auf Ewig gezeichnet sein.

Ich konnte es mir gerade noch so verkneifen voller Befriedigung zu lächeln. Schadenfreude wäre im Moment wohl sehr unangebracht.

 

°°°

 

Als mir eine Decke um die Schultern gelegt wurde, schaute ich überrascht auf und damit direkt in Reese' Gesicht. „Danke“, sagte ich und griff nach dem Stoff, um ihn mir fester um die Schultern zu ziehen. Dann richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf den Krankenwagen und damit auch auf Malou, die gerade auf einer Trage hineingeschoben wurde. „Was wird jetzt mit ihr geschehen?“

„Erstmal Krankenhaus.“ Reese ließ sich neben mir auf der Freitreppe vor Malous Haus nieder. „Danach wird sie sich für all ihre Taten verantworten müssen.“

Da würde wohl so einiges zusammenkommen. Proleshaltung, Kidnapping, mehrmaliger versuchter Mord, Anführerin von L.F.A. und was man ihr sonst noch alles zur Last legen konnte. Nicht mal sie dürfte es dieses Mal schaffen, da wieder herauszukommen, dafür gab es dieses Mal einfach zu viele Zeugen.

Seit einer guten Stunde war Malous Anwesen das reinste Tollhaus. Alles war voller Polizisten und Ersthelfern. Draußen vor den Toren tummelten sich Scharen von Reportern. Ein gutes Dutzend prolessicherer Transporter blockierten die ganze Auffahrt, während die staatlichen Venatoren aus Dömitz den Großteil der Proles aus dem Zoo verluden. Viele von ihnen sollten nach Historia, weil sie so selten und einmalig waren.

Mir war nur wichtig, dass sie die beiden noch fehlenden Iubas gesichert hatten und damit nun endlich einwandfrei bewiesen war, dass Reese und ich nichts mit dem Überfall zu tun hatten.

Ich hatte bereits eine kurzes Verhör über mich ergehen lassen müssen, war dann aber erstmal zur Seite geschoben worden, weil es im Augenblick noch ein paar wichtigere Dinge zu regeln gab. Allerdings durfte ich vorläufig noch nicht gehen, weswegen ich nun auf der Freitreppe von Malous Haus und beobachtete, wie die Türen vom Krankenwagen zugeschlagen wurden. Eine Minute später fuhr der Wagen bereits mit Blaulicht vom Anwesen.

Au revoir, Malou Grabenstein.“ Die gleichen Worte hatte sie zu mir gesagt, als sie mich zu den Iubas in das Gehege gestoßen hatte. Es war ein passender Abschied, wie ich fand. Und jetzt konnte ich mich um die wichtigen Dinge kümmern.

Ich wagte einen vorsichtigen Blick zu Reese. In der letzten Stunde war er unnatürlich still gewesen. Gut, er war sowieso kein großer Redner, aber eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass er mich von hier bis nach China husten würde. Okay, er war vorhin ein wenig harsch gewesen, aber jetzt saß er einfach nur da und starrte grimmig vor sich hin – also Normalzustand.

Das konnte aber noch nicht alles gewesen sein, da war ich mir sicher. „Bist du mir sehr böse?“

Er schnaubte, als sei allein diese Frage lachhaft. „Du machst dir keine Vorstellung.“ Das er in diesem beherrschten Tonfall sprach, war nicht gerade ermutigend.

„Es tut mir leid“, entschuldigte ich mich zum bestimmt … ach, keine Ahnung wie oft ich mich mittlerweile entschuldigt hatte. „Aber ich habe dir doch geschrieben, dass es mir gut geht und du dir keine Sogen machen sollst.“

Den Blick den er mir daraufhin zuwarf, war nicht schwer zu interpretieren. „Rekapitulieren wir das Ganze doch mal einen Augenblick. Meine Freundin ist wochenlang so apathisch, dass ich kurz davor gewesen war ihr eine Sonde legen zu lassen, weil sie nicht mal mehr gegessen hat. Wie durch ein Wunder kommt sie dann plötzlich wieder zu sich und als sie mir dann hinterlistig weiß macht, dass es ihr wieder besser geht, stehe ich auf und sehe die verdammte Wäsche im Flur.“

Ähm … was? „Was für Wäsche?“

„Unsere Wäsche. Vielleicht erinnerst du dich daran, was wir Freitagabend getan haben.“

Ja da tat ich und es ließ mich lächeln, wofür ich gleich einen finsteren Blick kassierte.

„Als ich aufstand, warst du nicht da. Okay, das ist nicht ungewöhnlich, aber als ich rauskam und gesehen habe, dass unsere Klamotten noch immer im Flur liegen, wusste ich sofort das etwas nicht stimmt.“

„Moment, weil ich die Wäsche nicht weggeräumt habe, hast du gemerkt, dass ich verschwunden bin?“

„Deine Jacke fehlte, genau wie dein Schal. Außerdem gehst du niemals an einem Stück Wäsche vorbei, ohne es ordnungsgemäß wegzuräumen. Das kannst du gar nicht.“

„Das heißt, hätte ich sie weggeräumt, hättest du erst Stunden später gepeilt was los ist?“ Das musste ich mir merken.

Reese schüttelte den Kopf. „Es war einfach ein Warnsignal für mich. Und als ich dich dann nicht finden konnte, dafür aber diese blöde Nachricht, in der du noch erwähnst meine Waffe geklaut zu haben …“ Er verstummte kurz. „Du hast mir eine Heidenangst eingejagt.“

„Du hast geglaubt ich wolle Malou erschießen.“

„Oh ja.“ Er griff in die Tasche seines Mantels und holte sich eine Zigarette heraus. „Ich hab Jilin angerufen und wir sind sofort zur Polizei. Die wollten dann auch noch, dass ich gegen meine geisteskranke Freundin wegen Diebstahls Anzeige erhob, damit ich nicht dafür verantwortlich gemacht werden kann, was auch immer sie mit der Waffe anstellt.“

„Aber du hast es nicht getan.“ Es war keine Frage, ich wusste es einfach, so tickte Reese eben. Er würde mir niemals mit Absicht schaden, er hatte nur herausfinden wollen, wo ich abgeblieben habe.

Das Feierzeug klickte und gleich darauf stieß er eine neblige Rauchwolke aus. „Als wir gerade gehen wollten, rief Eve dann auch noch an und fragte, was los sei. Du seist bei ihr gewesen, aber wieder verschwunden. Sie war zickig, weil sie glaubte, wir hätten uns gestritten und mich dafür verantwortlich gemacht hat.“

Oh je, das hatte ich ja ganz vergessen. „Ich musste irgendwie in die Wohnung kommen, weil ich das Handy brauchte.“

„Ja, das Handy. Sie hat erst gestern herausgefunden, welches Handy du meintest. Sie ist übrigens auch sauer auf dich.“

Das hatte ich wohl verdient. „Ich habe es gebraucht.“

„Ja, genauso wie den verdammten Iuba.“ Er fixierte mich mit seinem Blick. „Als ich gehört habe, was du in Historia abgezogen hast, bin ich aus allen Wolken gefallen. Wie kommt man nur auf die beschränkte Idee einen Proles zu klauen?“

Ich zuckte nichtssagend mit den Schultern. „Ich brauchte einen Köder für Malou.“

Er schnaubte und sog wieder an seiner Zigarette. „Und dann warst du Tagelang spurlos verschwunden.“

„Ich hatte kein Auto und musste herlaufen. Dann bin ich in einem Hotel abgestiegen.“

„Aber nicht hier in Dömitz.“

„Nein. Hier hätte man mich doch sofort geschnappt. Ich hielt es für sicherer etwas außerhalb zu bleiben und mich versteckt zu halten, bis die Übergabe stattfindet.“

„Es war also nicht geplant gewesen, mich mitten in er Nacht aus dem Bett zu klingeln und mir den Schreck meines Lebens einzujagen?“, fragte er sarkastisch.

„Malou sollte mich eigentlich anrufen und dann hätten wir ein Treffen ausgemacht.“

„Stattdessen bekomme ich diesen Anruf und muss mit anhören, wie meine Freundin von irgendwelchen Kerlen bedroht wird.“ Nach einem weiteren Zug, schnippte er die Asche von seiner Zigarette. „Zuerst habe ich gedacht zu halluzinierst wieder, weil du die einzige warst die gesprochen hat. Aber dann hörte ich diese Kerle.“ Das was sich daraufhin in seinem Gesicht abzeichnete, war nur mit dem Wort unheimlich zu beschreiben. Diese Wut. Wenigstens glatt die in diesem Moment nicht mir. Glaubte ich zumindest.

„Logen ist tot.“ Das war sicher. Declan dagegen hatte man mit einem ganzen Haufen von Malous Mitarbeitern bereits verhaftet. Auch sie würden sich alle für ihre Taten verantworten müssen.

„Als mir dann klar wurde, zu wem ihr wolltet, bin ich direkt zur Polizei gefahren und …“

„Du warst hier?“, unterbrach ich ihn. „In Dönitz?“

„Na was hast du denn gedacht? Sonntag war ich kurz in Historia, danach bin ich direkt hier her gefahren. Mir war klar, dass du früher oder später hier auftauchen würdest. Allerdings habe ich nicht erwartet, dass es auf diese Art sein würde.“ Er schüttelte den Kopf, als könnte er es immer noch nicht glauben. „Ich hab das ganze Gespräch übrigens aufgenommen und ein paar von den Polizisten haben auch mit angehört was bei dir los war. Es war also kein Problem sie dazu zu bewegen hier her zu kommen. Allerdings gestaltete es sich ein wenig schwer auf das Gelände zu kommen. Man befürchtete, dass Malou etwas unüberlegtes tun könnte, wenn sie einen Verdacht hätte, warum wir hier waren. Dann versuchten ihre Sicherheitsleute uns den Zutritt zu verweigern.“

Das konnte ich mir vorstellen. „Mich wundert es, dass die Polizei dir gestattet hat mitzukommen.“

„Hat sie nicht.“ Er sog noch einmal an seiner Zigarette, warf sie dann auf den Boden und trat sie aus. „Ich sollte im Wagen sitzen bleiben, aber dann hörte ich den Schuss und bin einfach mit ihnen zusammen hineingestürmt.“

„Da waren sie sicher begeistert.“

„Ich glaube sie haben es nicht mal richtig realisiert. Dann fanden wir die Leiche und gleich danach den Zoo.“ Er verstummte und schüttelte den Kopf. „Zwei Zoos. Ich kann es immer noch nicht glauben.“

„Es war ja auch nicht sehr offensichtlich.“

„Nein, das war es nicht, aber ich schwöre dir, ziehst du so eine Scheiße noch mal mit mir ab war es das mit uns. Das mache ich nicht noch einmal mit.“

Die Bemerkung „Ich hätte das nicht tun müssen, wenn du mir vertraut hättest“ konnte ich mir einfach nicht verkneifen.

Dafür gab es einen wirklich mörderischen Blick.

Seufzend zog ich die Decke ein wenig fester um mich. „Ich mache dir keinen Vorwurf. So wie die Dinge lagen hätte jeder angenommen dass mit mir etwas nicht stimmt.“ Wenn man es genau nahm, hatte es auch jeder angenommen. „Aber es hat verdammt noch mal wehgetan, als du mir nicht geglaubt hast.“

Seine Lippen wurden eine Spur schmaler.

Ich machte ihm wirklich keinen Vorwurf. Wären unsere Rollen vertauscht gewesen, ich war mir nicht sicher, was ich geglaubt hätte. Leider machte es das nicht besser, ich hatte mich trotzdem von ihm im Stich gelassen gefühlt. „Weißt du noch letzten Freitag?“

Er schnaubte. „Ist das eine Fangfrage?“

Ja, okay, den würde er wahrscheinlich wirklich nicht mehr so schnell vergessen. „Du hast mir das Versprechen abgenommen, nie mehr an dir zu zweifeln. Ich hoffe auch du wirst nicht mehr an mir zweifeln – ganz egal wie verrückt die Umstände auch sein werden.“

Er schaute mich an, schweigend, mit diesen dunklen Augen. Ihm schien etwas auf der Zunge zu legen, doch statt es auszusprechen, beugte er sich vor und küsste mich. Nicht fordernd oder drängend, aber auch nicht sanft und zurückhaltend. Es war etwas dazwischen, etwas das mir zeigte wohin ich gehörte und das er mich trotz seiner harschen Worte brauchte.

„Ich bin nur froh, dass es dir gut geht“, murmelte er und lehnte seine Stirn einen Augenblick gegen meine. „Aber wage es nie wieder so eine Scheiße abzuziehen.“

„Keine Sorge, für die nächste Zeit habe ich erstmal genug böse Buben gejagt.“ Oder auch Damen. „Ich glaube ich werde mich erstmal wieder auf Proles konzentrieren. Die sind bei weitem nicht so hinterhältig.“

Er gab ein Geräusch von sich, als könnte er nicht glauben was er da hörte. „Und ich bin immer noch sauer auf dich“, ließ er mich wissen. „Dich in solche Gefahr zu bringen, war einfach nur dumm von dir gewesen.“

„Ich habe halt vom Besten gelernt.“

Und da war er wieder, der finstere Blick. „Ich habe noch nie …“

Ein lauter Knall ließ und beide den Kopf drehen, doch was genau die Ursache war, konnte ich in dem regen Getümmel nicht ausmachen. Dafür fiel mein Blick aber auf einen der Käfige, die überall vor den Transportern herumstanden und darauf warteten eingeladen zu werden. Ich sah Pascha, den weißen Toxrin, genau wie Blue, den blauen Dorcas. Aber was es war das meine Aufmerksamkeit erregte, war der Iuba mit der schwarzen Mähne, der mich seit dem Moment als ich ihn in den Käfig gesteckt hatte, wohl keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte.

„Wenn du mich mal kurz entschuldigst, ich hab noch etwas vergessen.“ Ohne weitere Erklärung ließ ich die Decke von meinen Schultern rutschen und erhob mich auf die Beine. Vom langen Sitzen war mein Hintern kalt und meine Beine steif. Außerdem tat meine Schulter weh, nur konnte ich mich nicht daran erinnern, warum. Irgendwie verschwand diese Nacht sowieso zusehends im Nebel. Wahrscheinlich war ich einfach nur müde und eine Mütze voll Schlaf könnte das alles kurieren.

Ich achtete nicht auf die Helfer, als ich die Auffahrt hinter marschierte und mich dem Käfig mit der Schwarzmähne näherte. Ein paar Polizisten warfen mir kurze Blicke zu kümmerten sich dann aber nicht weiter um mich. Erst als ich praktisch schon am Käfig war und mich davor hockte, hörte ich ein: „Hey, was glauben Sie was Sie da tun?“

Mich verabschieden. Ich warf einen Blick über die Schulter und sah wie ein breitschultriger Venator mit grimmiger Mine direkt auf mich zukam. Ich erkannte ich, brauchte aber zwei Sekunden um mich an seinen Namen zu erinnern. Maddox Jefferson.

Ach Sie sind das“, sagte er, als er bis auf einen Meter an mich herangetreten war, was die Schwarzmähne dazu brachte ihn warnend anzuknurren. „Aber auch Sie dürfen hier nicht ran.“

Keine Sorge, ich lasse ihn schon nicht raus. Ich habe nur etwas vergessen.“ Ohne mich weiter um ihn zu kümmern, steckte ich die Hand durch die Gitterstäbe. Die Schwarzmähne kam sofort ein wenig näher, um seinen Kopf daran zu reiben.

Ich war nicht wirklich traurig, dass er nun zurück nach Historia gebracht werden würde, doch wenn ich ehrlich war, gab es da einen ganz kleinen – also wirklich klitzekleinen – Teil von mir, der das hier vermissen würde. „Mach mir keine Schande“, mahnte ich ihn und kraulte ihm hinter dem Ohr. „Und denk dran, wenn du Scheiße baust, komme ich zu dir und werde dich erschießen.“

Er gab nur ein Grummeln von sich und versuchte mir durchs Gitter hindurch übers Gesicht zu lecken. Allein meinen schnellen Reflexen war es zu verdanken, dass ihm das nicht gelang.

Und das ist einfach nur eklig.“

Da schienen die Meinungen auseinander zu gehen.

Okay Zeit die Sache zu beenden. Ich kniete mich vor das Gitter, griff nach dem Geschirr und zog ihn weiter zu mir heran, bis er seitlich zu mir stand. Er ließ es problemlos mit sich machen.

Die Socke mit dem Handy war unter dem lagen Fell der Mähne nicht ganz einfach zu erkennen, aber mit ein bisschen herumtasten fand ich sie und schaffte es sogar einhändig den Knoten zu lösen. Schon erstaunlich, dass er die kleine Konstruktion während der ganzen Aufregung nicht verloren hatte.

Was ist das?“, wollte Maddox stirnrunzelnd wissen, als ich es herauszog.

Mein Sicherheitsnetz.“ Ich öffnete die Socke, schüttelte das Handy heraus und stellte fest, dass es aus war. Mehrmalige Versuche es ins Leben zurückzurufen brachten rein gar nichts. Entweder war es jetzt endgültig kaputt, oder der Akku hatte wieder seinen Geist aufgegeben. Ich würde es wohl erst erfahren, wenn ich mein Ladegerät zu fassen bekam.

Ich stopfte das Handy sinnloserweise zurück in die Socke und verstaute das Ganze dann in meiner Jackentasche. Dann kniete ich einen Moment einfach vor dem Käfig und erwiderte den eindringlichen Blick der Schwarzmähne. „Nun schau mich nicht so an, das mit uns beiden wäre niemals etwas geworden.“

Er starrte weiter.

Außerdem bin ich bereits glücklich vergeben. Und glaub mir, er ist bei Weitem nicht so haarig.“

Dieses Mal grollte er leise zur Antwort.

Oh ja, knurren kann er fast genauso gut wie du.“

Die Schwarzmähne trat ein wenig näher und kratzte am Boden. Er drückte seinen Kopf gegen das Gitter und fiepte leise. Ich konnte gar nicht anderes als noch mal durch das Gitter zu greifen und mit vorsichtigen Strichen durch seine Mähne zu streicheln. „Mach es gut, Schwarzmähne.“

 

°°°°°

Kapitel 24

 

„Lass Suzanne einen Blick darauf werfen.“

Reese schaute mich an, als hätte ich ihm gerade empfohlen mit Ballettröckchen und Narrenkappe in die Gilde zu gehen. „Das ist nur ein Kratzer“, ließ er mich wissen und drückte dir Tür unten in der Garage auf, um in die Gilde zu kommen.

Nein das war nicht nur ein Kratzer. Wäre es nur ein Kratzer, wäre es mir egal, aber der verdammt Amph hatte ihm in den Arm gebissen und deswegen würde er zu Suzanne gehen, ob er nun wollte oder nicht.

Es blutet immer noch“, bemerkte Kjell und zeigte auf einen roten Fleck, den Reese auf der Türschwelle zurückgelassen hatte.

Oh ja, das war mal ein finsterer Blick, aber Kjell hatte mittlerweile gelernt, sich davon nicht mehr einschüchtern zu lassen.

Es war Montagabend. Die Ereignisse auf Malous Anwesen lagen nun fast einen Monat zurück und nach vielem Hin und her, war ich nun endlich wieder rehabilitiert. Erst letzte Woche hatte ich meine Lizens und meine Waffe zurückbekommen und war seit heute wieder auf der Straße, um meiner einzig wahren Berufung nachzugehen. Dabei hatte ich leider feststellen müssen, dass ich ein wenig eingerostet war. In den nächsten Tagen würde ich mich viel unten in der Trainingshalle herumtreiben müssen.

Wenigstens konnten wir nun endlich zu unserem Normalzustand zurückkehren. Alle Anklagepunkte gegen mich und Reese waren fallengelassen worden. Ja wir hatten sogar eine Entschuldigung in Form eines reich gefüllten Präsentkorbes und einer angemessenen Entschädigungszahlung vom Verband bekommen. Die Pralinen darin waren echt lecker gewesen. Allerdings hatte ich mich mit Nick darum schlagen müssen – ihm hatte sie leider auch geschmeckt.

Vor nicht mal einer Woche war Nick bei uns eingezogen. Wie ich vorgeschlagen hatte, haben Reese und ich unser Schlafzimmer für ihn geräumt und unser Bett ins Wohnzimmer gestellt. Es war zwar ein wenig eng, aber Cherry fand es toll – Hauptsache die Katze war glücklich.

Da wir Nicks ganze Sachen damals hatten einlagern lassen, hatte er ein Großteil von seinem Zeug zurückbekommen. Wir hatten nur wenig ersetzen müssen. Für ihn allerdings … sagen wir einfach mal so: Er musste sich mit seiner Vergangenheit noch ein wenig vertraut machen. Für ihn gehörten diese Dinge alle in das Leben eines Fremden und er tat sich noch ein wenig schwer damit die Situation so wie so war zu akzeptieren.

Natürlich musste er vorerst noch immer regelmäßig zum Arzt und er war auch wieder in psychologischer Behandlung, ja selbst das eine oder andere Medikament musste er nehmen. Seine Erinnerung war zwar nicht zurück und sein Krankheitsbild hatte sich deswegen ein kleinen wenig verändert, aber er war noch immer Nick und Nick konnte unberechenbar sein. Bis jetzt hatte er allerdings keinen Aussetzer gehabt, wofür ich sehr dankbar war. Ich wusste ehrlich nicht wie ich damit umgehen sollte. Es lag zwar schon Jahre zurück, trotzdem vermied ich es mit Nick alleine zu sein.

Als wir im Gänsemarsch die Treppe hinter uns ließen und den langen Korridor betraten, wollte Reese direkt nach rechts ins Arbeitsareal abbiegen. Sein Schreibtisch rief, genau wie die Berichte, doch bevor er auch nur einen Fuß über die Schwelle setzen konnte, schnappte ich ihn am Ärmel und zog ihn unnachgiebig zurück.

Suzanne“, war alles was ich sagte. Ein böser Blick versetzte mich nicht gerade in Angst und Schrecken. Das Einzige was er damit erreichte, war, dass ich fast genervt die Augen verdreht hätte. „Jetzt sei nicht so stur, du blutest alles voll.“

Kjell schob sich grinsend und Schadenfroh an uns vorbei und verschwand eilig in den Büroraum.

Den letzten Monat waren er und Reese allein auf der Straße gewesen. Die drei Wochen davor war Daniel als Ersatzmann für Reese eingesprungen. In knapp zwei Wochen hatte er sein Praktikum in der Gilde abgeschlossen. Wie es dann mit ihm weiter ging, war noch nicht ganz klar. Als erstes müsste er noch seine Prüfung ablegen, wobei ich nicht glaubte, dass die ihm große Schwierigkeiten bereiten würde. Danach müsste er sich entscheiden, wo er seine Ausbildung machen wollte. Bisher hatte er sich noch nicht dazu geäußert, aber ich denke schon, dass er zur Gilde zurückkehren und Reese weiter auf den Keks gehen würde.

Aber nun zurück zum eigentlichen Problem.

Da Reese keinerlei Anstalten machte sich freiwillig zum Krankenzimmer zu bewegen, schleifte ich ihn einfach hinter mir her. Wenigstens leistete er keinen Widerstand. Er grummelte nur etwas in seinen nicht vorhandenen Bart und seufzte äußerst genervt, als ich ihn in Suzannes ganz persönliches Reich schob.

Ist ja gut, jetzt hör auf an mir herumzuzerren“, beschwerte er sich, als ich ihn weiter in den Raum schieben wollte und machte sich von mir frei.

Suzanne die gerade an ihrem Schreibtisch saß und etwas in eine Akte schrieb, schaute sofort auf.

Heute steckte sie in einem rosa Schwesternaufzug, dass ihre doch recht betuchte Figur recht gut ausfüllte. Ihr Dutt saß locker auf ihrem Kopf und dank der Falten in ihrem Gesicht sah man ihr Alter problemlos an.

Als sie bemerkte, wie von Reese Fingerspitzen ein Tropfen Blut auf ihren Klinisch sauberen Boden tropfte, schürzte sie missbilligend die Lippen. „Du nicht auch noch“, schimpfte sie und erhob sich beschwerlich von ihrem Stuhl. „Auf meinen letzten Tagen hier wollt ihr Kinder es mir wohl noch mal besonders schwer machen.“

Wir leben nur, damit du dich gebraucht fühlst“, sagte Reese und verzog dabei keine Mine.

Ach hör auf so ein Stuss zu reden und zieh deine Jacke aus, damit ich sehen kann, was du nun schon wieder angestellt hast.“

Da ich mich da ganz sicher nicht einmischen würde, wenn Suzanne anfing Reese die Liviten zu lesen, setzte ich mich still in die Ecke auf den Stuhl und schaute dabei zu, wie die gildeneigene Krankenschwester meinem Mann zu Leibe rückte.

Eigentlich war es traurig, nur noch ein paar Monate, dann würde Suzanne uns verlassen und in Rente gehen. Verdient hatte sie es allemal, aber ich würde sie vermissen. Diese Frau war manchmal zwar ein wenig gewöhnungsbedürftig, aber sie hatte das Herz am rechten Fleck und bisher hatte sie noch jeden von uns wieder zusammenflicken können.

Wir würden natürlich jemand neuen bekommen – ganz klar, ohne ging es nicht – aber sie wäre dann trotzdem Weg. Schon als ich vor knapp vier Jahren zum ersten Mal durch die Türen der Gilde geschritten war, hatte sie hier gearbeitet. Sie gehörte einfach dazu. Wenigstens würde das einer der wenigen Abschiede in meinem Leben sein, die nicht von jetzt auf gleich kamen, weil der Tod mal vorbeigeschaut hatte. Eigentlich war es also ein schönes Erlebnis.

Als Suzanne begann die Wunde an Reese Arm zu säubern und dabei die ganze Zeit mit ihm schimpfte, als hätte sie es mit einem unbelehrbaren Jungen zu tun, der nichts als Blödsinn im Kopf hatte, musste ich an all das denken, was in den letzten Wochen geschehen war.

Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, hatten die Ereignisse um die Milliardärin Malou Grabenstein Schlagzeile gemacht. Es gab keinen Nachrichtensender und keine Zeitung, die nicht darüber berichtet hatten. Ein Proleszoo? Skandalös. Der Kopf von L.F.A.? Hängt sie! Und dann erst die Geschichte mit Adrian Lambrecht.

Im Moment hatte der Verband alle Hände voll damit zu tun alte Fälle neu aufzurollen und eine gründliche Untersuchung der eigenen Leute zu leiten, um die ganzen Kuckuckskinder zu finden, die sich heimlich bei ihnen eingeschlichen hatten.

Auch über mich war viel berichtet worden. Ein paar Leute hatten mich sogar zur Heldin des Tages erklärt, was ich nicht besonders lustig fand. Ich war keine Heldin, ich hatte nur versucht meinen Hintern zu retten – naja, und den von Reese. Das machte in ihren Augen aber keinen großen Unterschied. Ich war es die bewiesen hatte, dass ich die ganze Zeit die Wahrheit gesagt hatte und damit eine gemeingefährliche Kriminelle aus dem Verkehr gezogen hatte. Damit hatte ich dem ganzen Verein der Prolesschützer einen herben Schlag versetzt, von dem sie sich erstmal erholen mussten.

Ich würde einfach nur froh sein, wenn das alles endlich vorbei war, aber da gestern bereits die Verhandlung gegen Malou begonnen hatte, weil man diese Frau so schnell wie möglich aus dem Verkehr haben wollte, würden die Medien sich wohl noch eine ganze Weile mit dem Thema auseinandersetzen. Auch ich würde zu eine Aussage ins Gericht müssen, denn neben der Tonaufnahme die Reese mitgeschnitten hatte, war ich die Hauptzeugin, auf der der Staatsanwalt seine ganze Anklage aufgebaut hatte.

Es würde mir ein Vergnügen sein, diese Frau in den Knast zu bringen.

Halt die Wunde sauber und lass mich morgen noch mal einen Blick darauf werfen“, ordnete Suzanne an, als sie ihre Sachen wieder zusammensammelte. „Und sieh zu, dass du den Arm ein paar Tage schonst.“

Ich werde mir Mühe geben“, ließ Reese verlauten und erhob sich von der Liege.

Suzanne schnalzte missbilligend mit der Zunge, sie glaubte ihm kein einziges Wort. Das lag nicht nur an seinem Ton, die Erfahrung hatte sie einfach weise gemacht. „Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich dich bereits wieder zusammengenäht habe.“ Sie stellte das Tablett mit ihren Urtensilien seitlich auf der Anrichte ab, wuselte dann zu ihrem Schreibtisch und holte in altvertrauter Geste einen grünen Lolli heraus. „Meine Nachfolgerin wir bei euch wahrscheinlich schon nach einer Woche graue Haare bekommen.“

Wir werden uns zusammenreißen“, versprach ich und erhob mich von meinem Platz, als Reese nach seinem Mantel griff. „Es wird also mindestens zwei Wochen dauern.“

Kopfschüttelnd drückte Suzanne Reese den Lolli in die Hand und scheuchte uns dann sehr nachdrücklich aus dem Erste-Hilfe-Raum.Oh ja, ich würde sie wirklich vermissen.

Auf dem halben Wege durch den Korridor blieb ich verdutzt stehen. „Hey, sie hat mir gar keinen Lolli gegeben.“

Reese schaute mich an, als hätte ich den Verstand verloren – okay, schlechter Vergleich. Dann drückte er mir seinen Lolli in die Hand und marschierte ins Großraumbüro.

Zufrieden wickelte ich den Lutscher aus und steckte ihn mir in den Mund – hmh, Apfel. Das Einwickelpapier landete in meine Jackentasche, dann folgte ich ihm. Nur noch die Berichte schreiben, dann konnten wir nach Hause. Es war zwar noch gar nicht so spät, aber nachdem wir heute Stundenlang hinter einem Rudel von Amphs hinterherjagen mussten, war ich froh, wenn ich meine Beine hochlegen konnte.

Ich war gerade am überlegen, wie ich Reese wohl dazu bekommen würde mich nachher noch zu bekochen, als die anwesenden Venatoren um mich herum plötzlich in Applaus ausbrachen und anfingen zu jubeln. Zuerst verstand ich nicht was los war und schaute mich nach der Ursache um, musste dann aber ziemlich schnell feststellen, dass sie alle mich bejubelten. „Ähm … was hab ich getan?“ Meine Rückkehr war sicher nicht der Grund für diesen Trubel.

Was du getan hast?“ Aziz kam grinsend heran und legte mich einen Arm um die Schulter. „Du hast L.F.A. den Geldharn zugedreht und ihn einen solchen Tiefschlag versetzt, dass sie wohl Jahre brauchen werden, um sich davon zu erholen.“

Diese Worte lösten weiteren Jubel aus.

Ja, unterstützt sie auch noch bei der Scheiße, die sie da gebaut hat“, grummelte Reese und verscheuchte Kjell von seinem Stuhl, um sich selber darauf niederzulassen.

Okay, das fand ich jetzt irgendwie peinlich. „Naja, eins aufm Deckel habe ich trotzdem bekommen.“ Und das war nicht nur so dahingesagt. Wie sich herausgestellt hatte, war Historia trotz meiner edlen Gründe und dem Ergebnis des Diebstahls nicht sehr erfreut darüber gewesen, dass ich einen Iuba hatte mitgehen lassen. Mir waren dreihundert Sozialstunden aufgebrummt worden, weil ich das öffentliche Wohl mit meiner Aktion in Gefahr gebracht hatte. Ich war mir noch nicht ganz sicher, wo genau ich sie abarbeiten würde, aber wenigstens hatte mir niemand die geklaute Waffe zur Last legen können, da Reese sich geweigert hatte das zur Anzeige zu bringen. Man musste sich eben über die kleinen Dinge im Leben freuen.

Aziz drückte mich nur grinsend an sich. „Im Moment bist du jedenfalls unsere kleine Heldin.“

Ich hoffe dieser Zustand hält nicht allzu lange an.“ Ich mochte das nämlich wirklich nicht.

Kopfschüttelnd gab er mir einen Klaps auf die Schulter und wandte sich dann wieder seinen Aufgaben zu. Auch die anderen beruhigten sich wieder und als ich meinen Schreibtisch erreichte, hatten sich die meisten wieder ihren eigenen Aufgaben zugewandt.

Ich dagegen bekam erstmal einen Schreck, als ich sah, was sich da alles auf meinem Schreibtisch angesammelt hatte. „Was zur Hölle ist das alles?“, fragte ich entgeistert und begann die ganzen Aktenstapel durchzusehen.

Reese warf nur einen mäßig interessierten Blick zu mir herüber. „Ablagefläche.“

Super. „Haben wir dafür nicht ein Lager?“

Dein Schreibtisch war näher.“

Ja, was sollte ich dazu noch sagen? Seufzend schnappte ich mir einen Stapel der Akten und machte mich damit auf den Weg nach unten zum Lager. Sollte ich einen der Männer dabei erwischen, wie er noch mal seinen Scheiß bei mir ablud, würde ich ihm diese Akten auf den Kopf hauen. Denen ging es ja wohl zu gut.

Das Lager war ein großer Raum im Keller, der von der Decke bis zum Boden mit überfüllten Regel vorgestellt war. Die Gänge waren schmal und Staub hatte hier auch schon lange keiner mehr gewischt.

Während ich die Akten wegsortierte, musste ich mehr als einmal niesen. Kein Wunder dass die Kerle das keine Lust hatten hier runter zu kommen. Und ich blöd wie ich war, nahm ihnen auch noch die Arbeit ab.

Alles Meckern und Grummeln brachte nichts. Ich brauchte den Platz zum Arbeiten und so blieb mir gar nichts anderes übrig, als das Zeug wegzuräumen. Außerdem konnte man es ja auch so betrachten, dass ich dafür die letzten Wochen frei gehabt hatte – zwar nicht freiwillig, aber trotzdem.

Dafür hatte der Tag heute teilweise ganz schon an meinen Nerven gezerrt. Nicht wegen dem was geschehen war, naja, zumindest nicht direkt. Bei der Jagd nach dem Amphs waren uns zwei junge Mädchen in die Quere gekommen. Nicht mit Absicht, es war einfach ein Fall von zur-falschen-Zeit-am-falschen-Ort. Die eine von ihnen wäre beinahe von einem der Amphs angefallen worden, Kjell hatte sie gerade noch rechtzeitig aus der Schusslinie reißen können. Nichts Außergewöhnliches, wenn man es genau betrachtete.

Was mich bei den Mädchen für einen Moment so aus dem Konzept gebracht hatte, war die ältere der Beiden. Sie hatte zwar braunes Haar gehabt, aber ansonsten war sie fast ein Spiegelbild von Wynn gewesen. Sie hatte sich anders gekleidet und auch anders gesprochen, aber … naja, sie hatte mich eben an meine kleine Schwester erinnert und dafür gesorgt, das meine Gedanken eine ganze Weile beschäftigt waren.

Auch jetzt musste ich wieder daran denken, dass ich mir wegen Malou Grabenstein die einzige Chance versaut hatte die Beziehung zwischen uns beiden wieder in Ordnung zu bringen. Ich meine, natürlich könnte ich einen weiteren Versuch starten wieder mit ihr in Kontakt zu treten, aber wenn ich ehrlich zu mir war, war ich mir nicht sicher, ob ich diese Mühe überhaupt auf mich nehmen wollte. In all den Jahren hatte ich so viel Ablehnung von ihr zu spüren bekommen und auch jetzt nachdem sehr zu meinem Missfallen öffentlich wurde, was in den letzten Wochen alles bei mir los war, hatte sie sich nicht einmal bei mir gemeldet. Nicht um zu erfahren wie es mir ging und auch nicht um die Sache zwischen uns in Reine zu bringen.

Nein, ich würde mich nicht mehr bemühen. So schwer es mir auch fiel, ich hatte genug getan und wenn sie nicht wollte, dann konnte ich sie nicht zwingen. Wenn das zwischen uns jemand wieder in Ordnung kommen sollte, dann würde sie es sein müssen, die den ersten Schritt tat.

Ich stellte die letzte Akte weg, nieste noch einmal kräftig und verließ das Lager. Erste Fuhre erledigt, fehlten nur noch … der Rest.

Als ich wieder auf dem Weg nach oben war, hatte ich gerade die Treppe hinter mir gelassen, als ich Jilin aus ihrem Büro kommen sah. Sie bemerkte mich und gab mir ein Zeichen, dass ich einen Augenblick warten sollte. Also blieb ich stehen und wartete auf sie.

Wie war die Jagd?“, fragte sie ohne auch nur an eine Begrüßung zu denken. Sie wirkte müde. Ein paar Tage Urlaub würden ihr sicher nicht schaden.

Okay. Sieben Amphs, drei davon gingen auf Kjell. Der Junge macht sich gut, wäre nicht schlecht, wenn wir ihn behalten könnten.“

Jilin stimmte meiner Einschätzung mit einem Nicken zu. „Tack sieht das ganz ähnlich wie du.“

Das hatte er aber sicher nicht so direkt gesagt.

Es ist gut dass du wieder da bist, ich sehe es einfach nicht gerne, wenn Tack alleine auf die Straße geht.“

Ich verstehe dich sehr gut.“ Der Job war einfach gefährlich. Ohne manierliche Rückendeckung konnte das schnell mal ins Auge gehen. Ganz egal wie gut Kjell sich mittlerweile machte, er war immer noch ein Anfänger.

Und hier noch eine Kleinigkeit vom Verband: Was du da mit Frau Grabenstein abgezogen hast, egal aus welchen Gründen, sollte besser nicht noch einmal geschehen. Du bist Venator, kein Ermittler bei der Polizei und was du getan hast überschreitet deine Befugnisse bei Weitem.“

Ich runzelte die Stirn. Was sollte denn der Blödsinn? War ja nicht so, dass ich aus Langeweile hinter der Frau her war.

Deine Aufgabe ist es Proles zu töten, nicht Menschen zu jagen, nur Proles, sonst nichts. Haben wir uns verstanden?“

Ja“, sagte ich, konnte meine Unzufriedenheit aber nicht aus meiner Stimme heraushalten.

Natürlich entging ihr das nicht. „Das will ich für dich hoffen, denn sonst kannst du mit Konsequenzen rechnen, die dir nicht gefallen dürften.“ Mit einem gutgemeinten Klopfen auf meine Schulter, wandte sie sich von mir ab. „Gute Arbeit“, murmelte sie beim Weggehen gerade so laut, dass ich es noch hören konnte.

Ein kleines Lächeln erschien auf meinen Lippen. Vielleicht war es nicht meine Aufgabe gewesen dieser Frau das Handwerk zu legen, aber das Ergebnis konnte sich trotz der Schwierigkeiten sehen lassen. Und auch wenn Jilin es nicht so direkt gesagt hatte, war sich doch ein kleinen wenig zufrieden mit mir.

Immer noch lächelnd kehrte ich ins Büro zurück, blieb aber einen Moment an der Tür stehen, um Reese einfach nur zu beobachten. Keine Ahnung was Kjell gerade zu ihm gesagt hatte, aber so wie Reese ihn anschaute, schien er wohl zu überlegen, ihm einfach den Stuhl unter dem Hintern wegzuziehen.

Nach dem ganzen Mist auf Malous Anwesen und der Aussage der Polizei, waren wir zwei direkt zurück nach Hause gefahren. Die Fahrt selber war sehr still verlaufen und da wir beide bei unserer Ankunft so müde gewesen waren, dass wir fast im Stehen eingeschlafen wären, hatte wir auch dann nicht mehr viel miteinander geredet. Aber nach dem Aufstehen … naja, sagen wir einfach mal so, er hatte mir gründlich den Kopf gewaschen. Ich hatte zwar dafür gesorgt, dass er nicht in den Knast musste, aber Begeisterungsstürme würde ich deswegen wohl nie erhalten.

Er hatte ja auch irgendwo recht und das begann nicht erst in dem Moment, als ich mich dazu entschlossen hatte, mich still und leise davonzuschleichen, sondern schon an dem Tag, als wir in der Gilde in Potsdam angekommen waren.

Bereits in dem Moment, als ich den Iubas das erste Mal gegenübergetreten war und gemerkt hatte, wie sehr allein ihr Anblick mir zusetzte, hätte ich die Notbremse ziehen müssen – damit hätte ich uns beiden viel Leid erspart. Tja, wie sagte man so schön? Hinterher war man immer schlauer.

Leider hatte ich erst jetzt verstanden, was er mir schon die ganze Zeit versucht hatte zu sagen. Ich hätte alles verlieren können und das nur, weil ich meine Vergangenheit einfach noch loslassen konnte. Aber jetzt, war die Nachricht endlich zu mir durchgedrungen, weswegen ich auf dem Weg nach Haue vielleicht noch einen kleinen Umweg machen sollte.

Diese Entscheidung fiel mir nicht ganz leicht, trotzdem löste ich mich vom Türrahmen und lief zwischen den Schreibtischen zu Reese hinüber.

Verschwinde einfach, bevor ich noch auf die Idee komme dich zu erschießen“, knurrte Reese gerade quer über den Tisch und zog die Berichte zu sich heran.

Kjell erhob sich grinsend von seinem Stuhl. „Bis morgen dann.“ Er nahm sich noch seine Jacke und machte sich dann eilig aus dem Staub. Nicht das Reese noch auf die Idee kam es sich anders zu überlegen.

Warum willst du ihn denn erschießen?“

Weil er ein Klugscheißer ist.“

Ja, das würde wohl jeder Richter als Begründung durchgehen lassen.

Ich lehnte mich mit dem Hintern neben ihm an den Schreibtisch und schaute dabei zu, wie er nach einer kurzen Überprüfung seine Unterschrift unter die Berichte setzte. „Bevor wir nach Hause fahren, würde ich gerne noch etwas erledigen.“

Und was?“

Ich möchte meiner Eltern besuchen.“

 

°°°

 

Langsam sank die Sonne den Abend entgegen und tauchte die Welt in Dämmerlicht. Eisig kalter Wind strich über das vertrocknete Gras und ließ sie Äste in den Bäumen erzittern. Eine drückende Atmosphäre schien diesem Ort allen Lebens zu berauben.

Teilnahmslos stand ich vor dem Grab meiner Eltern und starrte auf den breiten Grabstein, den sie sich teilten.

 

Victor Shanks       Becca Shanks

 

Eure Sonne sank, bevor es Abend wurde,

nun leuchtet ihr in finsterer Nacht

 

Ich las diese Worte nicht zum ersten Mal, doch mein letzter Besuch lag bereits viele Jahre zurück. Als ich das letzte Mal hier gewesen war, war ich noch ein Kind gewesen und hatte mich an die Hand von Onkel Roderick geklammert.

Der Anblick dieses eher schlichten Steins hatte mich so verstört, dass ich es danach nicht mehr gewagt hatte, auch nur in die Nähe dieses Friedhofs zu kommen. Und nun stand ich hier, den Tod direkt vor Augen und wusste weder was ich denken noch was ich fühlen sollte.

Mit den Jahren waren meine Eltern für mich zu einem Mythos geworden, Heilige, die viel zu früh ihrem Leben entrissen worden waren, doch nun stellte ich fest, dass ich gar nicht mehr so genau wusste warum.

Wenn ich versuchte mich an sie und meine Kindheit zu erinnern, war da ein Gefühl von Liebe, aber nur Bilder vom Grauen des Todes. Der Rest waren nur noch einzelne Schnappschüsse, von denen ich nicht mal wusste, ob sie überhaupt real waren. Ansonsten waren da nur Onkel Rod, Wynn und ich, alles andere lag im Dunklen.

Langsam lies ich mich auf die Knie sinken und begann damit das Grab von alten Blättern zu befreien. Früher war mein Onkel regelmäßig her gekommen und hatte das Grab meiner Eltern gepflegt, doch nach seinem Tod hatte sich niemand mehr darum gekümmert. Ich war dazu einfach nicht in der Lage gewesen und Wynn … ich wusste nicht ob es ihr überhaupt etwas bedeutete. Als unsere Eltern verstarben, war sie gerade mal vier gewesen, wahrscheinlich hatte sie noch weniger Erinnerungen als ich.

Was genau wollte ich eigentlich hier? Das sie mir vergaben, weil ich die Schwarzmähne nicht getötet hatte? Suchte ich Absolution? Oder war das einfach nur der Abschied, zu dem ich bisher nie fähig gewesen war?

Als Kind hatte ich ihren Verlust kaum ertragen können, heute jedoch war der Tod ein Teil meines Lebens. Wenn man es genau betrachtete, war das schon irgendwie ziemlich ironisch. Ich war Venator geworden, um für das Leben zu kämpfen und war damit in eine Welt eingetaucht, in der es mehr Tod gab, als in jeder anderen.

Bisher hatte ich immer behauptet, ich täte das im Andenken an meine Eltern, um sie zu rächen und die Welt in einen besseren Ort zu verwandeln, doch nun kniete ich hier und musste mich fragen, wie viel Wahrheit daran war.

Vielleicht war es gar nicht der Wunsch nach etwas gutem, der mich all die Jahre angetrieben hatte, sondern Wut. Auf die Welt, weil sie das zugelassen hatte, auf mich, weil ich zu schwach gewesen war um sie zu retten und ja, auch auf meine Eltern, weil sie mich viel zu früh verlassen hatten und ich ohne sie in dieser grausamen Realität hatte leben müssen.

Es war völlig bescheuert, denn sie waren ja nicht freiwillig gegangen, aber es änderte nichts daran. Wenn Mama doch nur im Haus geblieben wäre und die Tür geschlossen hätte, oder wenn Papa weggerannt wäre, anstatt den Helden zu spielen, es hätte alles anders laufen können. Aber die Dinge waren nun einmal so wie sie waren und nichts was ich tat, konnte daran noch etwas ändern.

Reese hatte recht, es brachte niemanden etwas, wenn ich mich weiter an etwas klammerte, das nicht rückgängig gemacht werden konnte. So schwer es mir auf fiel mir das einzugestehen, meine Eltern waren tot, genau wie mein Onkel und es war Zeit von meiner Vergangenheit Abschied zu nehmen.

Allein der Gedanke daran, ließ meine Augen brennen, aber ich wusste das es richtig war. Ich durfte nicht länger erlauben, dass das Geschehene länger Einfluss auf mein Leben nahm. Natürlich würde ich weder meine Eltern noch ihr Andenken vergessen. Es gehörte zu mir wie alles was mir in meinem Leben widerfahren war, doch meine Zukunft lag nicht in der Vergangenheit, sie stand draußen vor dem Friedhof und wartete auf mich.

Eine Träne lief mir über die Wange. Eine zweite folgte ihr.

Während um mich herum die Dämmerung zur Nacht wurde, kniete ich still am Grab meiner Eltern und weinte lautlos.

„Es tut mir leid“, flüsterte ich so leise, dass selbst der Wind meine Stimme übertönte. „Aber ich kann nicht länger an euch festhalten.“ Ich war ihnen dankbar. Nicht nur für das Leben das sie mir geschenkt hatten, auch für die wenigen Jahre die wir miteinander verbracht hatten, aber Reese hatte recht, ich schuldete ihnen nichts, nicht mein Leben und auch nichts anderes. Wahrscheinlich würden sie es eh nicht besonders toll finden, wenn sie wüssten, dass ich alles auf dem Gedanken von Rache aufgebaut hatte.

Sie waren meine Eltern, sie würden sicher wollen, dass ich glücklich war und auch wenn ich sie niemals vergessen würde, es war einfach an der Zeit leb wohl zu sagen und mit einem lachenden und einem weinenden Auge darauf zu hoffen, dass wir uns in einem anderen Leben wiedersahen.

Doch der Abschied fiel mir nicht leicht. Ich hockte noch lange am Grab meiner Eltern und rief mir die wenigen Erinnerungen die ich an sie hatte immer wieder ins Gedächtnis. Erst als meine Beine schon ganz steif waren und der kalte Wind die Tränen auf meinen Wangen getrocknet hatte, schaffte ich es mich von dem Grab zu lösen und ihm den Rücken zu kehren.

Seltsamerweise war es nicht nur das Gefühl von Trauer, dass mich auf meinem Rückweg zum Wagen begleitete Ich verspürte eine Erleichterung, wie ich sie noch nie gefühlt hatte und hatte deswegen nicht mal ein schlechtes Gewissen.

Ich fand es merkwürdig, aber es zeigte mir auch, dass ich dieses Schritt schon längst hätte tun sollen. Ich würde ihnen nicht den Rücken kehren. Ihr Grab war hier und ich würde wiederkommen können so oft wie ich wollte, doch nun konnte ich es ohne Schuldgefühle tun, Schuldgefühle, die ich nur gehabt hatte, weil sie gestorben waren, während ich weiterleben durfte.

Nur langsam ließ ich den Friedhof und seine ruhige Atmosphäre hinter mir. Das alte Eisentor quietschte ein wenig, als ich es aufschob und hinaus auf die Straße trat.

Unser Wagen parkte nur ein Stück die Straße herunter. Ich konnte es bereits von hier aus sehen, genau wie ich Reese sah, der mit einer Zigarette in der Hand an der Fahrertür lehnte und mir ruhig entgegen sah. Er war draußen geblieben, weil ich ihn darum gebeten hatte. Diesen Gang hatte ich ganz alleine machen müssen.

Als ich mich ihm näherte, musste er einfach bemerken, dass ich geweint hatte, Aber satt mich darauf anzusprechen, schnippte er einfach nur seine Zigarette weg und nahm mich in die Arme.

„Geht es dir gut?“

Ich nickte und vergrub mein Gesicht an seiner Brust. „Lass uns nach Hause fahren.“ Jetzt konnte ich endlich

 

°°°°°

Epilog

 

„Bin wieder da!“ Mit einem Klicken drückte ich die Tür ins Schloss und wickelte mir den Schal vom Hals. Mein Gott war das heute kalt. Irgendwer hatte vergessen dem Wetter mitzuteilen, dass wir bald schon April hatten. Es sollte gesetzlich dazu verpflichtet sein, endlich wärmer zu werden, „Reese?“

„Küche.“

Das nannte man dann wohl eine liebevolle Begrüßung. Nicht mal Cherry hielt es heute für nötig, mich maunzend an der Haustür in Empfang zu nehmen. Wahrscheinlich war sie wieder bei Nick im Zimmer. Seit er hier eingezogen war, folgte sie ihm auf Schritt und Tritt wie ein kleiner Welpe – er konnte nicht mal alleine aufs Klo gehen.

Es war schon irgendwie merkwürdig. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Cherry sich an ihr Herrchen erinnern konnte. Die beiden hatten nur ein paar Wochen miteinander verbracht, bevor er ins Koma gefallen war, mit Reese und mir lebte sie nun schon mehrere Jahre zusammen. Trotzdem hatte sie einen Narren an ihm gefressen.

Davon würde ich mir die gute Laune aber nicht kaputt machen. Zum einen war es gar nicht so schlimm, nach dem Heimkommen nicht direkt über eine Katze zu fallen und zum anderen hatte ich ein kleines Geschenk für Reese besorgt und war schon gespannt, was er dazu sagen würde.

Sobald ich mich meiner Schuhe und meiner Jacke entledigt hatte, schnappte ich mir die kleine Papiertüte und marschierte damit in unsere Küche.

Reese stand an der Anrichte und kippte gerade Chips aus einer Tüte in eine Schüssel. Flips, Satzstangen und Cracker lagen auch schon bereit, genauso wie mehrere Dips, von denen mindestens einer wie ich wusste, selbstgemacht war. Reese' Käsedip war einfach nur lecker.

„Wie ich sehe, bereitest du schon unseren Filmabend vor.“

„Da Eve und Mace bald kommen und du dich in der Weltgeschichte herumgetrieben hast, blieb mir ja gar nichts anderes übrig.“

Von seinem Nörgeln unbeeindruckt, gab ich ihm einen Kuss auf die Wange und schob die Papiertüte dann in sein Sichtfeld. „Ich hab dir etwas mitgebracht.“

Er musterte erst die Tüte, dann das Logo. Seine Augenbraue ging ein wenig nach oben. „Ich hoffe es ist nicht das, was ich glaube, was es ist.“

Ich wartete wortlos.

Mit einem wirklich leidigen Seufzer legte er die halbleere Chipsverpackung zur Seite und holte die Fünf Dinge heraus, die sich darin befanden.

„Das hier ist zum Nachfüllen“, sagte ich und zeigte auf die beiden kleinen Fläschchen. „Das hier ist sowas wie ein Filter, den musst du hin und wieder austauschen. Im Laden haben sie alles schon vorbereitet. Du musst nur noch dieses Teil auf den Träger schrauben, dann hast du eine funktionierende E-Zigarette.“ Ich schob die beiden Teile so hin, dass er sie auch ja nicht übersehen konnte und grinste ihn breit an.

Mir war von vorne herein klar gewesen, dass ich damit keine Begeisterungsstürme bei ihm auslösen würde, aber so wie er guckte, könnte man glauben, ich hätte seine Oma von einer Brücke geschubst. „An dieser Stelle wäre es angebracht danke zu sagen.“

Nein, als er mich anschaute, war sein Blick nicht voller Dankbarkeit. „Ich mag meine Zigaretten. Das hier ist doch nur überflüssiger Kitsch.“

„Das ist kein Kitsch. Viele Leute sind mittlerweile auf E-Zigaretten umgestiegen.“ Ich machte einen Schmollmund. „Bitte, versuch es doch einfach mal. Wenn es dir nicht gefällt kannst du ja immer noch zu deinen Zigaretten zurück. Und hier, schau mal.“ Ich nahm eines der Fläschchen und hielt es ihm vor die Nase. „Geschmacksrichtung Eisbonbon. Du liebst doch Eisbonbons.“

„Ja, aber deswegen möchte ich sie noch lange nicht rauchen.“

Okay, jetzt fiel es mir doch nicht mehr so ganz leicht, meine gute Laune aufrecht zu erhalten. Vermutlich hätte er sich mehr darüber gefreut, wenn ich ihm eine Stange Zigaretten mitgebracht hätte. „Okay, dann bringe ich sie eben zurück.“ Nein, ich schaffte es nicht meine Enttäuschung aus meiner Stimmer herauszuhalten doch da ich bereits halb mit diesem Ergebnis gerechnet hatte, traf es mich wenigstens nicht unerwartet. Ich würde die Sachen einfach zurück bringen und dann hätte sich das Thema erledigt.

Als ich jedoch nach den Sachen griff, um sie zurück in die Papiertüte zu räumen, griff Reese nach meinem Handgelenk und hielt mich auf.

„Was ist?“

Einen Moment schaute er mich nur an, dann seufzte er ergeben. „Okay, meinetwegen, ich probiere sie aus.“

„Wirklich?“

„Ja, aber nur wenn du nicht so ein Theater darum machst.“

Mit einem Quietschen fiel ich ihm um den Hals und küsste ihn. Als ich mich dann jedoch wieder von ihm lösen wollte, schlang er einen Arm um mich und zog mich fester an sich heran.

„Wo willst du hin?“

„Wir bekommen bald Besuch.“

„Der kann warten.“ Und was genau er damit meinte, zeigte er mir, indem er mich ein weiteres Mal küsste. Dabei war er weder sanft, noch hielt er sich zurück und schon bald wurde aus einem einfachen Kuss sehr viel mehr.

Eigentlich hatten wir im Moment dazu überhaupt keine Zeit, aber ihm so nahe zu sein, ohne all die selbstauferlegten Schranken, die uns eine Zeitlang voneinander getrennt hatten, fühlte sich einfach nur gut an. Ich spürte wie seine Hände die Kurven meines Körpers nachzeichneten und sich auf meinen Hintern legten, um mich festen an sich zu drücken und kam ihm sogar noch entgegen.

Der Kuss wurde gieriger und als ich mich gegen ihn drängte, hob er mich plötzlich hoch und ich fand mich mit dem Hintern auf der Anrichte wieder. Er schob sich zwischen meine Beine und begann mit dem Lippen einen Pfad über meinen Hals zu küssen. Seine Hand schob sich unter meinen Pulli, berührte nackte Haut und ließ mich erschaudern.

Ich schloss die Augen, genoss die Berührungen und gab ein wohliges Seufzen von mir, als er die empfindliche Stelle an meiner Halsbeuge fand. „Hellboy“, flüsterte ich und ließ eine Hand an ihm hinab wandern. Mein Zeilt war seine Hose. Wenn ich die beseitigt hatte, dann …

„Soll ich mit einem lautstarken Räuspern auf mich aufmerksam machen, oder einfach abwarten und schauen, ob ihr mich irgendwann bemerkt?“

Nicks Stimme war wie ein Guss eiskaltem Wassers – naja, zumindest für mich, Reese Erregung konnte ich immer noch deutlich spüren – und sorgte dafür, dass wir einen Moment einfach erstarrten. Verdammt für einen Augenblick hatte ich tatsächlich vergessen, dass wir hier nicht mehr allein wohnten. In nächster Zeit war es nicht unbedingt angebracht, einmal quer durch die Wohnung … naja.

Schwer atmend löste ich mich ein Stück und warf über Reese' Schulter hinweg einen Blick zur Tür, wo Nick mit Cherry auf dem Arm stand und nicht mal versuchte sich das Grinsen zu verkneifen.

„Störe ich?“

Wollte er darauf wirklich eine Ehrliche Antwort? „Nein gar nicht.“

Reese teilte nur allein durch seinen Blick mit, dass er da ganz anderer Meinung war, doch er schwieg und schaute mich einfach nur böse an.

Was bitte hatte ich denn jetzt falsch gemacht? „Brauchst du was?“

„Nein, ich wollte mir nur etwas zu Trinken holen. Allerdings kann ich auch später wiederkommen, falls ihr das hier noch zu Ende bringen wollt.“

Selbst wenn wir das gewollt hätten, jetzt war die Luft erstmal raus. Darum zog ich Reese' Hand unter meinem Pulli hervor, schob ihn ein Stück weg und glitt von der Anrichte. „Eve und Mace müssten eh bald kommen.“

Wie aufs Stichwort, klingelte es in diesem Moment an der Tür.

„Wow“, sagte Nick und wirkte beeindruckt. „Das nenne ich mal einen Treffer.“

Reese atmete schwer aus und wandte sich wieder den Snacks zu. „Geh und räum den Tisch frei“, sagte er zu Nick.

Ich gab ihm noch einen Kuss auf die Wange und schlüpfte dann an den beiden Männern vorbei in den Flur. Wäre Nick nur ein paar Minuten später gekommen, hätte das ganz schön peinlich werden können. In der nächsten Zeit würde ich wohl lernen müssen, meine Hormone unter Kontrolle zu bekommen.

Es klingelte noch ein zweites Mal, bevor ich den Summer betätigen konnte und als Eve dann oben an der Tür war, begrüßte sie mich mit einer so überschwänglichen Umarmung, dass ich darunter leicht in stolpern geriet.

„Ich hab dich so vermisst.“

Ähm ja. „Jetzt übertreib mal nicht, wir haben uns erst letzte Woche gesehen.“

„Ja, aber du meldest dich ja nie bei mir.“ Sie ließ von mir ab und trat zur Seite, damit auch Mace in die Wohnung kam. Seine Begrüßung beschränkte sich auf ein Lächeln und ein kurzes drücke.

„Wir haben Filme mitgebracht“, verkündete Eve und drückte mir ohne viel Federlassen die Tüte aus ihrer Hand in die Arme. „Ich hoffe es sind Chips da.“

Ich machte ein erschrockenes Gesicht. „Verdammt, ich wusste dass ich etwas vergessen habe.“

Sie hielt inne, musterte mich und kniff die Augen dann ganz leicht zusammen. „Das ist nicht witzig.“

„Doch eigentlich schon.“

Mit zwei Schüsseln in den Händen kam Reese aus der Küche, warf einen kurzen Blick in unsere Richtung, verschwand dann aber sofort wieder wortlos im Wohnzimmer.

„Irgendwann schaffe ich es noch ihm Manieren beizubringen.“

Eve lachte und ließ sich von Mace aus der Jacke helfen. „Oh bevor ich es vergesse, ich habe hier etwas für dich.“ Sie überließ ihrem Verlobten ihr Zeug und zauberte aus ihrer Tasche einen Briefumschlag, dem sie mit mit sehr viel Gehabe übergab. „Die ist für dich und Reese.“

Der Umschlag war aus einem schweren und edlen Papier, weswegen ich bereits wusste was drin war, bevor ich die Karte herausgezogen hatte.

 

Nach langer Überlegung und Probezeit,

ist es nun endlich so weit,

wir geben uns das Ja-Wort.

 

Habe ich es mir doch gedacht, das war ihre Hochzeitseinladung. Ort Und Termin standen direkt darunter. Sie wollten noch diesen Sommer den heiligen Bund der Ehe eingehen. „Wow, so schnell.“

„Wir können es eben kaum erwarten.“ Erst grinste sie mich an und dann gab sie Mace einen Kuss. Keiner von ihnen bemerkte, dass ich noch immer meine Zweifel an der Sache hatte.

Ich meine, ich gönnten es ihnen und wünschte ihnen alles Glück der Welt, nur war Eve eben … naja, wie drückte ich das jetzt am Besten nett aus? Unbeständig. Hoffentlich machten die Beiden keinen Griff ins Klo. „Wir werden da sein“, versprach ich trotz meiner Bedenken.

Das ließ meine beste Freundin strahlen. „Natürlich wirst du da sein, du bist immerhin meine Brautjungfer. Außerdem freue ich mich schon darauf Reese in einem Anzug zu sehen. Er wird es sicher hassen.“ In heller Vorfreude rieb sie die Hände aneinander und machte sich dann mit Mace im Anhang auf den Weg ins Wohnzimmer.

Da konnte man doch wirklich nur noch den Kopf schütteln. Allerdings musste ich mir eingestehen, dass die Aussicht darauf, Reese in einem chicen Anzug zu sehen, durchaus etwas für sich hatte.

Ich schwelgte noch mit diesem Gedanken im Kopf, als Reese wieder aus dem Wohnzimmer kam, um wahrscheinlich die restlichen Sachen aus der Küche zu holen. Kurz vorher stoppte er jedoch, trat einen Schritt zurück und musterte mich stirnrunzelnd. „Was ist denn mir dir los?“

Grinsend trat ich auf ihn zu und gab ihn einen kleinen Kuss direkt auf die Lippen. „Ich gebe mich nur gerade einer kleinen Phantasie hin.“

Da ich nichts weiter dazu sagte, schüttelte er nur den Kopf und besann sich seiner eigentlichen Aufgabe.

Ich dagegen ging ins Wohnzimmer. Die Tüte mit den Filmen landete auf dem Tisch und die Einladung legte ich in den Schrank. Nick hockte direkt davor und versuchte offensichtlich unseren alten DVD-Player in Gang zu bekommen. Aha, damit hatte Reese diese Aufgabe wohl auf seinen kleinen Bruder abgewälzt. Cherry saß neben ihm und schaute ganz genau da zu, was er da machte.

„Ich glaube er hängt nicht am Strom.“

„Doch, ich muss ihn nur mit dem Fernseher verbinden.“ Er beugte sich hinter das Gerät, nur um gleich wieder aufzutauchen. „Leider finde ich keinen passenden Anschluss.“

„Lass Mace das machen“, kam es von Eve. Sie hatte es sich bereits auf der Couch gemütlich gemacht. Auf Reese' Platz. Das würde sicher noch Ärger geben. „Los Schatz.“ Als er nicht schnell genug war, gab sie ihm einen kleinen Schubs.

Da man Eve einfach nichts abschlug, kam er ihrer Bitte nach. Dazu mussten Nick und ich allerdings ein Stück zur Seite rutschen, nur Cherry, die bewegte sich kein Millimeter.

Interessiert schauten wir dabei zu, was genau er dort tat, darum bemerkte ich erst dass Reese wieder im Raum war, als er laut und deutlich sagte: „Das kannst du aber mal sowas von vergessen, das ist mein Platz.“

Hatte ich es mir doch gedacht, dass da nicht ohne Folgen bleiben würde.

Eve schaute demonstrativ nach links und nach rechts. „Ich sehe hier keine Reservierung.“

Reese Mundwinkel sanken herab. „Ich habe kein Problem damit dich wieder vor die Tür zu setzten.“

„Versuch es nur.“

Grinsend schüttelte ich den Kopf, das konnte noch ein wenig dauern. Am Besten holte ich mal die restlichen Sachen aus der Küche.

Als ich mich abwenden wollte, bemerkte ich dass Nick mich mit einem Stirnrunzeln beobachtete.

„Was ist?“

Fast schon ertappt richtete er sich ein wenig gerader auf. „Nichts. Ich dachte nur gerade …“ Er verstummte kurz und schüttelte dann den Kopf. „Nicht so wichtig.“ Ohne weiter darauf einzugehen schnappte er sich Cherry vom Boden und setzte sich mit ihr ans äußere Ende der Couch. Dabei vermied er es in meine Richtung zu schauen.

Das wollte mir nicht gefallen. Hatte er sich wieder an etwas erinnert? Hatte es etwas mit seiner Krankheit zu tun? Oder interpretierte ich da einfach zu viel hinein, weil ich bei ihm ständig nach Anzeichen von … naja, von allem, Ausschau hielt?

Egal was es war, dies war im Moment nicht der passende Zeitpunkt es zu klären, nicht solange Eve und Mace hier waren. Außerdem hatte ich gerade eine Aufgabe: Ich musste für das leibliche Wohl sorgen.

So verschwand ich mit der lieblichen Diskussion zwischen Eve und Reese im Ohr, nach drüben in die Küche, um mich um die restlichen Sachen zu kümmern. Da ich nicht Reese war und keine Lust hatte fünf Mal zu gehen, holte ich das große Tablett aus dem Schrank und stellte die letzten beiden Schüsseln und die Dips darauf. Dabei bemerkte ich die E-Zigarette. Reese hatte sie zusammengebaut.

Ein Lächeln erschien auf meinen Lippen. Es war nicht so, dass ich plötzlich etwas gegen sein Rauchen hätte. Okay, ich war nie ein sonderlich großer Fan davon gewesen, aber wirklich störend tat es mich nicht. Aber dieses Teil bot eben eine Reihe von Vorteilen, nicht nur für mich, auch für ihn. Einen Versuch war es allemal wert.

Ich nahm noch den selbstgemachten Dip von Reese und wollte ihn gerade zu dem Rest stellen, als mir die Zeitung in der Ecke ins Auge fiel. Sie war halb zusammengeklappt, trotzdem erkannte ich ein Teil meines eigenen Gesichts auf der Titelseite.

Ich wusste genau was ich darauf sehen würde, schließlich hatte ich die Zeitung selber dort hingelegt. Trotzdem zog ich sie nach vorne und schlug sie auf.

Die Überschrift und der Artikel waren mir völlig egal, es ging mir dabei allein um das körnige schwarzweiß Foto. Es zeigte mich vor Malous Haus, wie ich auf dem Boden kniete, direkt vor dem Käfig, in dem die Schwarzmähne saß. Ich hatte meine Hand durchs Gitter gesteckt. Unsere Köpfe waren so dicht beieinander, dass es fast aussah, als würden ich die Stirn gegen seine lehnen. Trotz dem ganzen Chaos im Hintergrund, hatte das Bild fast etwas friedvolles.

Dieses Foto war durch alle Nachrichten gegangen, Ich wusste nicht einmal, wie genau es zustande gekommen war, denn eigentlich hatte die Polizei darauf geachtet die Medien vom Gelände fernzuhalten, aber scheinbar hatte es doch einer unbemerkt in den Vorgarten geschafft und damit den Schnappschuss seines Lebens gemacht.

Seit diesem Tag hatte ich die Schwarzmähne nicht mehr gesehen und da ich in Historia Hausverbot hatte, würde sich daran wohl auch nichts mehr ändern. Ich wusste nur über Jilin, dass er wieder sicher in seinem Zwinger verwahrt war und das war auch in Ordnung.

Es war vielleicht nicht nachzuvollziehen, besonders nicht wenn ich mich daran erinnerte, für was dieser Proles alles stand, doch irgendwie war ich froh ihn am Leben gelassen zu haben. Vielleicht weil er mir mehr als einmal das Leben gerettet hatte, vielleicht aber auch einfach nur, weil ich meine Vergangenheit endlich akzeptieren konnte, ohne das Gefühl zu haben an meinen Rachegedanken zu ersticken. Was es auch war, es war in Ordnung.

Leise Schritte kündeten davon, dass ich nicht mehr länger allein in der Küche war. Zwei Arme legten sich um meine Hüfte und ein federleichter Kuss streifte meinen Hals. „Dir ist klar, dass ich deine Freundin ermorden werde?“

Ich grinste. „Heißt das, du hast deinen Platz nicht wiederbekommen?“

Er vergrub seine Gesicht an meiner Halsbeuge. „Ich werde mich einfach auf sie drauf setzen.“

Das hieß dann wohl nein. „Es ist doch nur für heute.“ Als er darauf nicht reagierte, drehte ich mich in seinen Armen herum. „Wenn du nett zu Eve bist, dann bekommst du später, wenn wir wieder allein sind, eine ganz spezielle Belehnung von mir.“

Seine Lippen verzogen sich zu einem waschechten Raubtierlächeln. „Ich hoffe dir ist bewusst, auf was du dich da einlässt.“

„Bei dir immer Hellboy.“ Ich zog sein Gesicht zu mir heran. „Bei dir immer“, wiederholte ich noch ein wenig leiser und küsste ihn.

Es lag eine ganze Wagenladung voll Scheiße hinter uns und es hatte Momente gegeben, in denen ich mich in der Finsternis verloren hatte, aber Reese war immer da gewesen. Es klang vielleicht kitschig, aber ja, er hatte mich nie aufgegeben und solange er mir die Hand reichte, würde ich immer wieder zurück ans Licht finden.

„Was macht ihr beiden da drüben?“, rief Eve quer durch die Wohnung. „Ich hoffe nicht das, was Nick uns gerade erzählt hat!“

Okay, vielleicht würde ich Eve selber ermorden. Und wenn ich schon mal dabei war, Nick auch gleich.

 

°°°°°

 

The End

Impressum

Cover: Cover by Kathrin Franke-Mois - Epic Moon Coverdesign
Tag der Veröffentlichung: 30.12.2019

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