Langsam und sehr leise, bewegte Jamal sich um den dicken Stamm der Eiche herum und ging halb hinter dem Holunderstrauch in die Hocke. Der belaubte Waldboden war für diese Jahreszeit sehr trocken und so musste er vorsichtig sein, um keine unnötige Geräusche zu machen. Er durften ihre Aufmerksamkeit auf keinen Fall auf sich ziehen.
Der Wind stand günstig. Selbst wenn sie auf ihn zukamen, würden sie ihn niemals bemerken – nicht bevor sie nicht direkt vor ihnen standen.
Mit den Fingern drückte er die Zweige ein wenig zur Seite, um das junge Paar fünfzig Meter weiter heimlich zu beobachten.
Elicio und Zaira standen zwischen ein paar Erlen und Fichten, auf dem kleinen Platz, den sie oft nutzten, wenn sie sich für einen Lauf durch den Wald verwandelten. Eine schon vor vielen Jahren umgestürzte Eiche, bot ihn ein wenig Sichtschutz und hielt an manchen Tagen auch den schneidenden Wind ab.
Ferox, Zairas Mistowolf lief aufgeregt um sie herum, verlegte sich dann aber darauf, den Boden zu beschnüffeln, als er nicht beachtete wurde. Der graue Wolf besaß keine Rute mehr und sein linkes Ohr war zerfetzt. Niemand wusste wie es dazu gekommen war, er hatte bereits so ausgesehen, bevor Zaira ihm das erste Mal begegnet war. Doch für den Wolf interessierte Jamal sich nicht, sein Interesse galt sowohl Elicio, als auch Zaira.
Es war kalt, das neue Jahre war erst vor wenigen Tagen eingeläutet worden und genau wie er selber, waren die beiden dick eingepackt. Aber da es für die Lykaner sehr umständlich war, sich zu verwandeln, solange sie noch Kleidung trugen, konnte Jamal dabei zusehen, wie die beiden nicht nur Schal, Mütze und Jacke ablegten. Vor allem Zaira behielt er im Auge, als sie damit begann, sich mit zitternden Fingern das Hemd aufzuknöpfen.
Cio sagte etwas zu ihr, aber Jamal war zu weit weg, um es zu verstehen, doch er konnte sie lächeln sehen. Er mochte ihr Lächeln.
Nachdem Zaira ihr Hemd abgelegt und sich auch ihrer Hose entledigt hatte, zitterte sie am ganzen Körper. Mit seinen scharfen Augen glaubte er sogar die Gänsehaut auf ihren Armen zu sehen, doch es war gut möglich, dass er sich das nur einbildete.
Als sie ihren BH öffnete und auch den Slip eilig auszog, beugte Jamal sich ein wenig zur Seite. Zaira war schön. Sie besaß vielleicht keine Modelmaße, aber sie hatte ein Ausstrahlung, die einem den Atem rauben konnte.
Als sie eilig ihre Sachen zusammenpackte und sie dann mitsamt ihrer Brille etwas höher auf den Stamm der Eiche legte, trat Elicio, nur in Jeanshosen, von hinten an sie heran. Einen Moment glaubte er zu sehen, wie sie sich leicht anspannte, als er die Arme um sie schlang und ihr einen zarten Kuss in den Nacken hauchte, doch sie lächelte noch immer.
Für einen kurzen Augenblick stellte Jamal sich vor, dass er dort an Elicios Stelle stehen würde und sie so im Arm halten dürfte. Er hatte sie die letzten Monate so oft heimlich beobachtet, dass er sich gut vorstellen konnte, wie es sein würde. Doch dann tadelte er sich für diesen Gedanken. Er hatte Iesha und sie war alles was er brauchte.
Als Elicio seine Hände langsam an ihrem Körper hinauf wandern ließ, stieß sie ihn verspiel von sich, lachte und warnte ihn davor, ihr noch mal zu nahe zu kommen.
Elicio grinste zwar, wirkte aber nicht ganz so unbekümmert wie sie. Seine Stirn war ein wenig gerunzelt, als er ihr dabei zusah, wie sie sich hastig auf den Boden hockte, die Augen schloss und mit einem tiefen Atemzug die Verwandlung in einem Wolf einleitete.
Elicio trat ein wenig zurück, um ihr genug Raum zu lassen, doch irgendwas schien nicht in Ordnung zu sein. Es war die Art wie er sie anschaute. War er … besorgt?
Jamal verbannte die Frage aus seinem Kopf, als Elicio sich daran machte, den Knopf seiner Hose zu öffnen. Eilig zog er sein Handy aus der Hosentasche, wählte den Fotomodus und startete eine Videoaufnahme. Es würde Iesha sicher gefalle zu sehen, wie Elicio sich auszog und in einen Wolf verwandelte. Vielleicht würde es ihr so gut gefallen, dass sie ihn dafür sogar belohnen würde. Darum zoomte er auch ein wenig heran, als der junge Mann nackt war und seine Sachen neben die von Zaira legte. Er verfolgte mir der Kamera, wie er sich hinhockte, die Hände auf den Boden legte und sich dann mit einem letzten Atemzug verwandelte.
Die Verwandlung eines Lykaners war nicht in helles Licht getaucht, oder hatte gar etwas Mystisches. Man konnte genau sehen, was geschah, wie sich der Körper verformte, dass Fell spross und sich die Haltung veränderte. Wenn Jamal das sah, hatte er immer das Gefühl, als würden die Knochen der Lykaner sich in Gummi verwandeln, sich ein wenig biegen verschieben und strecken, um dann in neuer Position wieder zu erstarren. Es war zu gleichen Teilen faszinierend und beängstigend und für ihn völlig unverständlich, warum es nicht schmerzte. Vielleicht schaltete sich das Nervensytem für die Zeit der Verwandlung ja einfach ab. Er hatte nie so genau darüber nachgedacht.
Es dauerte vielleicht eine Minute, bis Cio sich als großer, schokobrauner Wolf vom Boden erhob und sein Fell ausschüttelte, um sich vom Nachhall der Metarmorphose zu befreien.
Zaira war bereits fertig. Sie war eine kleine Wölfin mit schwarzem Fell, das so dunkel war, dass man meinen könnte, sie wäre ein Teil einer mondlosen Nacht, während dicke Gewitterwolken finster über den Himmel zogen. Wenn sie nur wollte, könnte sie sicher mit den Schatten verschmelzen.
Während sie darauf wartete, dass Elicio fertig wurde, saß sie abwartend neben ihm und ließ sich auch nicht davon stören, dass der grauhaarige Ferox sie immer wieder von der Seite ansprang und ihr spielerisch in den Nacken biss. Erst als er sie dabei fast umwarf, knurrte sie leise und schnappte in seine Richtung.
Jamal war davon einen Moment so abgelenkt, dass ihm fast entging, was dann geschah. Elicio streckte seine Schnauze nach ihr aus, als wollte er sich ihr annähern, oder selber mitspielen, doch bevor er sie berühren konnte, war sie plötzlich auf den Beinen und wich ein Stück vor ihm zurück. Dabei hatte sie die Ohren angelegt.
Die beiden schauten sich einen Moment an, dann begann sie mit der Rute zu wedeln, stellte die Ohren auf und gab ein leises Winseln von sich. Sie sprang einmal in die Luft, wirbelte herum und jagte in den Wald hinein.
Ferox verharrt einen Moment erstaunt und hetzte ihr dann hinterher.
Elicio jedoch zögerte. Nun waren es seine Ohren, die angelegt waren, während er ihr mit den Augen folgte.
Nanu, hatten die beiden sich vielleicht gestritten?
Aus dem Wald erklang ein nahes Heulen, in das sofort ein zweites mit einstimmte.
Elicio schüttelte den Kopf, als wollte er einen Gedanken loswerden und rannte Zaira dann hinterher. Sobald auch er zwischen den Bäumen des Waldes verschwunden war, stoppte Jamal das Video und ließ das Handy wieder in seiner dicken Winterjacke verschwinden. Über diese Aufnahmen würde Iesha sich sicherlich freuen.
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Manchmal war die Welt doch ein richtiger Giftzwerg. Eben noch schlummerte ich seelenruhig vor mich hin und träumte, wie ich als zuckersüßes Regenbogenschaf ein Rudel teuflischer Wölfe in die Flucht schlug, indem ich sie mit Glitzerpuder bestäubte und die dann aus Angst vor mir in einen Zirkus tanzten – keine Ahnung was mein Hirn mir damit sagen wollte – und im nächsten Moment klingelte das Handy auf dem Wohnzimmertisch und beendete damit meine kleine Heldenphantasie.
Im ersten Moment glaubte ich noch, dass es eine seltsame Art von Zirkusmusik sei und wollte schon rufen, dass doch bitte jemand dieses Gebimmel abstellen sollte, doch dann wurde mir langsam bewusst, dass es der Klingelton war, den ich selber eingestellt hatte. Damit war meine Nachtruhe wohl vorerst beendet. Dabei war Schlaf doch so wichtig.
Noch halb in meinem Traum gefangen, tastete ich den Tisch nach dem Störenfried ab, warf dabei fast noch ein Glas auf den Boden, genau wie den Stapel mit der Post, den ich nach dem Einkaufen einfach dort hingeschmissen hatte und wurde trotzdem nicht fündig. Ich musste mich ein wenig aufrichten, bevor ich es endlich zwischen die Finger bekam. Ein verschlafender Blick aufs Display verriet mir zwei Dinge. Erstens: Es war gerade mal kurz nach drei Uhr am Morgen. Zweitens: Die Nummer am anderen Ende war mir unbekannt.
Wenn das ein Klingelstreich war, würde ich gleich jemanden durchs Telefon hindurch erwürgen.
Seufzend nahm ich den Anruf entgegen und ließ mich mit dem Handy am Ohr wieder ins Kissen sinken. „Hm?“, nuschelte ich und überlegte, ob es dem Anrufer auffallen würde, wenn ich einfach wieder einschlief.
Hinter mir begann Cio sich zu regen.
„Zaira?“
Mein müdes Hirn brauchte ein paar Sekunden, um sich darüber klar zu werden, dass die Stimme am anderen Ende Tayfun gehörte. Sofort war ich … naja nicht wach, aber zumindest aufmerksamer. „Ja“, sagte ich vorsichtig. Es wäre nicht besonders ratsam, wenn Cio mitbekam, wer mich da anrief. Und dann auch noch um diese Uhrzeit. Die Beziehung zwischen den beiden hatte sich in den letzten Monaten nicht unbedingt zum Besseren gewandt. Sie schafften es in der Zwischenzeit zwar in ein und dem selben Raum zu sein, aber nur, wenn sie sich beide an dem jeweils anderen Ende aufhielten. Im Grunde kam Cio mit ihm nur klar, wenn Tayfun sich möglichst weit von mir fern hielt.
Eine Hand schummelte sich langsam an meine Hüfte, griff um mich herum und gleich darauf kuschelte sich ein warmer, wohlriechender Körper an mich. Ich versuchte bei Cios Nähe entspannt zu bleiben. Es war nicht leicht.
„Kannst du herkommen?“, fragte Tayfun sehr leise. Seine Stimme klang irgendwie seltsam. Rau und halb erstickt. „Bitte.“
Ich sollte zu ihm fahren? Jetzt? „Warum?“
„Ich …“ Er schluckte und dann glaubte ich ihn schluchzen zu hören, was bei mir sofort die Alarmsirenen schrillen ließ. „Ich brauche Hilfe.“
Ich war mir nicht sicher, ob es der Ton in seiner Stimme war, oder die Worte selber, vielleicht auch eine Mischung aus beiden. Auf jeden Fall richtete ich mich sofort auf und tastete in der Dunkelheit nach dem Schalter an der großen Standleuchte neben der Couch. „Was ist los?“ Ein Klick und das Wohnzimmer war in sanftes Licht getaucht.
Cio stöhnte und riss sich schützend den Arm vor die Augen.
„Ich komm hier nicht weg und … bitte.“ Dieses Mal hörte ich ihn eindeutig schniefen. „Ich weiß nicht, ob sie zurück kommen und … es tut weh.“
Oh Gott, was war da los? „Was ist passiert?“, fragte ich, griff hastig nach meiner Brille und hatte es so eilig, mich von unserer Schlafcouch zu erheben, dass ich fast noch über meine Beine stolperte. Das kam dabe heraus, wenn man gleichzeitig versuchte, sich die Brille ins Gesicht zu schieben.
Cio schob seinen Arm nach unten und beobachtete mich aufmerksam. Ihm musste klar sein, dass etwas geschehen war. Und wenn nicht, wurde es ihm spätestens dann klar, als ich seine Klamotten von der Lehne nahm und sie ihm aufs Bett warf. Ein deutlicheres Zeichen, dass er sich anziehen sollte, konnte ich ihm kaum geben.
„Sie wollten … oh Gott. Bitte Zaira, hol mich ab“, fleht er mit brüchiger Stimme. Nun waren da eindeutig Tränen in seiner Stimme.
Verdammt! „Wo bist du?“ Ich klemmte mir das Handy zwischen Kopf und Schulter und zog eilig meine Pyjamahose aus. Seit den Vorfällen vor drei Monaten, schlief ich immer angezogen.
Ohne mich aus den Augen zu lassen, schob Cio die Decke zur Seite, wälzte sich nackt von der hellen Schlafcouch und griff dabei nach seiner Hose. Die Mühe sich seine Shorts darunter anzuziehen, machte er sich gar nicht.
„Leukos Tempel.“
„Okay, bleib da, wir sind auf dem Weg.“
Das Schluchzen, was er dann ausstieß, traf mich bis tief in die Seele. „Danke.“
„Nicht dafür. Bis gleich.“
Als er daraufhin ohne eine weitere Erwiderung den Anruf beendete, schmiss auch ich mein Handy auf den Sessel und griff mir meine ausgebeulte Jeans von der Lehne.
Cio hatte sich seine bereits über den nackten Hintern gezogen. „Was ist los?“
Das war eine Frage, die sowohl leicht als auch schwer zu beantworten war, hauptsächlich, weil er vermutlich an die Decke gehen würde, wenn er erfuhr, wer uns da mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt hatte. Darum zögerte ich auch, als ich mir die Hose zuknöpfte.
„Schäfchen?“
Ich warf ihm einen kurzen Blick zu, bevor ich ihm den Rücken zukehrte und mein Pyjamahemd auszog. „Das war Tayfun“, sagte ich und griff nach meinem grünkarierten Männerhemd. „Er ist an Leukos Tempel. Wir müssen sofort zu ihm.“
Wie nicht anderes zu erwarten, wurde es hinter mir unnatürlich still. Ich spürte, wie sich sein Blick in meinen Rücken bohrte, knöpfte aber erstmal mein Hemd zu, bevor ich mich wieder zu ihm umdrehte.
Der Ausdruck in Cios Gesicht war praktisch nicht vorhanden. Er stand da, in Jeans und Socken in der Hand und starrte mich einfach nur an.
„Er braucht Hilfe, Cio.“ Auch ich schnappte mir meine Socken. Egal wie groß meine Sorge im Tayfun war, es war Ende Januar und draußen saumäßig kalt – besonders bei Nacht.
„Aber warum braucht er deine Hilfe?“
Ich hatte gewusst, dass es nicht einfach werden würde. „Ich weiß nicht“, sagte ich ehrlich und setzte mich auf die Sofakante, um mir die Socken anzuziehen. „Bitte Cio, irgendwas Schlimmes ist passiert. Er hat am Telefon geweint.“
Das brachte ihn für wenige Sekunden zum nachdenken. Der Vampir würde nicht so einfach mitten in der Nach heulend bei uns anrufen, wenn nicht wirklich etwas Gravierendes geschehen war, aber trotzdem, es war immer noch Tayfun, von dem wir hier sprachen.
Cio hasste Tayfun, weil er glaubte, er würde sich auf mehr als nur platonische Weise für mich interessieren. Deswegen und wegen noch ein paar anderer Gründe. Darum wollte er nicht. Sein ganzer Körper war vor Widerwille angespannt. Jeder durfte mich um Hilfe bitten, nur nicht Tayfun. „Aber warum ruft er ausgerechnet dich an?“
Ich hatte mich gerade erhoben und wollte meine Schuhe holen, zögerte nun aber. Ich wollte, dass er mitkam und ich wollte, dass er es freiwillig tat. Darum trat ich zu ihm und legte ihm eine Hand auf die stoppelige Wange. Ich mochte das Gefühl.
Cio war ein wenig größer als ich und besaß einen durchtrainierten Körper. Sein Schokobraunes Haar war noch vom Schlaf zerwühlt, doch die braunen Augen schauten mir wachsam entgegen. Ich liebte diese Augen. Ich liebte diesen ganzen Mann, auch wenn ich es in der letzten Zeit nicht mehr so zeigen konnte.
„Ich weiß es nicht“, sagte ich leise. „Ich weiß nur, dass er Angst hatte und ich ihn nicht einfach sich selbst überlassen kann. Darum müssen wir zu ihm.“ Bitte, komm mit mir, ich will da nicht alleine raus.
Am liebsten hätte er abgelehnt. Ich sah es ihm genau an, wie er um Worte rang und dann die Lippen fest aufeinander drückte. Aber es gab nur wenige Dinge, die er mir abschlagen würde. Noch dazu hatte ich ihm gerade sehr deutlich gemacht, dass es Tayfun schlecht ging. Cio war ein zu guter Mensch, um diese Tatsache einfach außer Acht zu lassen. Darum wunderte es mich gar nicht, dass er sich in der nächsten Minute widerwillig geschlagen gab.
„Okay“, sagte er. „Aber wenn es ihm nicht so schlecht geht, wie er behauptet, darf ich ihm den Hintern versohlen – allein schon dafür, dass er uns um diese Zeit aus dem Bett geholt hat.“
„Danke“, sagte ich und gab ihm einen kurzen Kuss. Und das meinte ich wirklich so. Ich wusste wie schwer es ihm fiel, Tayfun gegenüber zu treten. Er machte den Vampir zum Teil noch immer dafür verantwortlich, dass wir uns im letzten Jahr fast getrennt hätten. Und er nahm es ihm äußerst übel, dass er mir sein Blut gegeben hatte, als Cio selber für mich nicht greifbar gewesen war. Es war unsinnig, aber in diesem Fall war Cio für logische Argumente einfach nicht zugänglich.
Ich war mir nicht sicher, ob er trotz allen Schwüren und Versprechen noch immer befürchtete, dass Tayfun mich ihm wegnehmen könnte, oder es ihn einfach nur fertig machte, was letzten Sommer geschehen war, ich wusste nur, dass es ihm nicht leichtfallen würde, dem Vampir gegenüber zu treten und das machte diese Zusage umso wertvoller.
„Schon gut“, sagte er, auch wenn es offensichtlich war, dass es nicht gut war und zog sich dann fertig an.
Nachdem wir das nun geklärt hatten, schnappte ich mir Schuhe, Mantel und Schal. Draußen herrschen Minustemperaturen und das es für mich im Augenblick äußerst ungünstig wäre, krank zu werden, murmelte ich mich immer dick ein, bevor ich das Haus verließ.
Dann schnappte ich mir noch mein Handy, fegte dabei fast noch den Flyer für Blutwirte vom Tisch, der heute im Briefkasten gesteckt hatte und versicherte mich, dass er Elektroschocker in meiner Jackentasche einsatzbereit war.
Seit der Entführung vor drei Monaten, verließ ich die Wohnung nicht mehr gerne – nicht mal wenn Cio bei mir war. Und auch wenn ich mich arbeitstechnisch im Moment als Webdesignerin versuchte und dadurch von Zuhause aus arbeiten konnte, musste ich doch hin und wieder hinaus auf die Straße. Der Elektroschocker gab mir ein wenig Sicherheit, auch wenn er meiner Familie ein besorgtes Stirnrunzeln entlockte.
„Hast du alles?“, fragte Cio mich, als er seine Wollmütze auf den Kopf setzte und dann nach der Türklinke griff.
„Autoschlüssel“, sagte ich und klopfte meine Jackentaschen ab.
Cio griff in seine und zog sein klimperndes Schlüsselbund heraus. „Hab ich.“
„Okay, dann los.“ Damit wir hinaus konnten, musste er drei verschiedene Schlösser öffnen. Eines war schon immer da gewesen, die anderen beiden hatte Cio kurz nach meinem Einzug bei ihm angebracht.
Ja, so schwer es mir auch fiel das zuzugeben, die Entführung durch Iesha hatte bei mir mehr Spuren hinterlassen, als mir lieb war. Und da sie noch immer irgendwo da draußen auf freiem Fuß war, hatte ich damit begonnen, mich in unserer Wohnung einzubunkern. Die Dinge dort vor der Tür, ängstigten mich mittlerweile einfach.
Vor ein paar Wochen hatte Cio deswegen ganz vorsichtig das Thema Psychiater angesprochen. Er glaubte, dass es mir gut tun würde, mit jemand Professionellem darüber zu reden. Ich hatte kategorisch abgelehnt. Nicht weil ich glaubte, dass er unrecht hatte, sondern weil es da etwas gab, dass ich einfach nur vergessen wollte. Wenn ich aber zu einem Seelenklempner ging, würde er es zwangsläufig ans Tageslicht zerren und dafür war ich einfach noch nicht bereit.
Sobald die Wohnung offen war, ließ Cio uns aus unserer kleinen Wohnung. Er schloss noch die Tür, nahm dann sofort meine Hand und eilte mit mir die Treppe hinunter.
Wie nicht anders zu erwarten, war es draußen kalt. Schon mit dem ersten Atemzug, bildete sich vor meinem Mund eine kleine Atemwolke. Aber ich musste auch nicht lange in der Kälte bleiben, unser silberner BMW stand direkt am Straßenrand.
Ja, Cio und ich hatten mittlerweile einen eigenen Wagen. Meine Erzeugerin Cayenne hatte ihn uns zum letzten Weihnachtsfest geschenkt. Als ich hatte ablehnen wollen, weil das einfach ein zu großes Geschenk war, hatte sie argumentiert, dass jedes ihrer Kinder von ihr einen Wagen bekommen hätte.
Ich glaube, sie hatte ihn uns geschenkt, weil sie hoffte, dass ich mich dadurch draußen ein wenig sicherer fühlen würde.
Cio öffnete den Wagen mit der Fernbedienung und ließ sich dann hinter dem Lenkrad nieder. Ich schob mich auf den Beifahrersitz und stellte sofort die Heizung an. Nur die paar Meter und ich war jetzt schon halb durchgefroren. Es war so kalt, dass es nicht mal schneite. Wie für diese Jahreszeit nicht anders zu erwarten, waren die letzten Tage einfach nur frostig und grau gewesen.
„Leukos Tempel?“, fragte Cio und startete den Motor. Er sprang mit einem Schnurren an. Das hier war alles andere, als eine Klapperkiste.
Ich nickte. „Das hat er gesagt.“ Schon automatisch griff ich nach dem Sicherheitsgurt und schallte mich fest. Dabei achtete ich ganz genau darauf, dass er mir nicht gegen den Bauch drückte. Mein kleiner Passagier fände es sicher nicht lustig, halb erdrückt zu werden. Aber wahrscheinlich würde er es gut finden, wenn ich seine Existenz mal seinem Vater beichten würde.
Bald, versprach ich, als Cio den Wagen aus der Parklücke lenkte und ein wenig zu schnell durch die Straßen jagte.
Es war nicht so, dass ich Cio die Schwangerschaft verheimlichen wollte. Außerdem wünschte er sich ein Baby, das wusste ich, aber … naja, ich denke, genau da lag das Problem.
Ich war ein Misto, ein Mischling. Ein kleiner Teil von mir war menschlich. Den Rest teilten sich der Vampir und er Lykaner in mir. Ein Misto konnte durchaus Kinder bekommen, aber es war fast immer eine Risikoschwangerschaft. Bei mir war bisher zwar alles gut verlaufen, aber ich hatte immer wieder die Befürchtung, dass Kind doch noch zu verlieren und ich wollte Cio nicht enttäuschen. Mit mir machte er im Moment schon genug durch, diese zusätzliche Belastung brauchte er nicht auch noch.
Lange würde ich es aber nicht mehr verheimlichen können, besonders, da ich in der letzten Zeit ein wenig abgenommen hatte und so ein Babybauch stetig wuchs. Wenn man genau hinsah, konnte man es sogar schon sehen. Kein Wunder, schließlich war in in der Zwischenzeit auch schon vier Monate schwanger.
Die einzigen, die außer mir noch von dieser Schwangerschaft wussten, waren meine Ärztin und mein nicht ganz so zahmer Schoßwolf Ferox. Doch das würde ich bald ändern. In ungefähr zwei Wochen war Valentinstag und ich hatte mir überlegt, dass das ein guter Tag wäre, Cio zu erklären, dass er ab dem Sommer regelmäßig würde Windeln wechseln müssen. Irgendwie freute ich mich mittlerweile darauf, ihm das zu sagen und fieberte diesem Tag deswegen schon ein Weilchen entgegen.
Allerdings würden wir dann umziehen müssen. Im Moment wohnten wir noch in Cios kleiner Wohnung und für uns beide reichte die durchaus, aber mit einem Baby, würde es vermutlich doch ein wenig eng werden.
An einer roten Ampel hielt Cio den Wagen an. Wie er es so oft tat, wenn er die Gelegenheit dazu hatte, streckte er die Hand nach mir aus. Ich sah sie kommen und das war wohl der einzige Grund, warum ich bei der sanften Berührung nicht zusammen zuckte. Aber dass ich mich ein wenig anspannte, konnte ich nicht verhindern.
Seit Owen mich in dieser alten Pferdebox gegen die Wand gedrückt hatte, zuckte mein Körper instinktiv vor jeder Art von Berührung zurück – besonders bei Männern. Nicht nur wegen dem, was geschehen war, es waren auch die Schuldgefühle. Was ich dort getan hatte … ich hatte es ihm bis heute nicht beichten können. Aus Angst und auch aus Scham, denn ich hatte mich nicht gewehrt. Ich wollte Cio nicht verlieren.
Natürlich spürte Cio, dass da etwas war, er war ja nicht dumm, aber bisher hatte er mich noch nicht dazu gedrängt, mit ihm zu reden und wenn ich ganz großes Glück hatte, würde er das auch niemals tun, obwohl ich wusste, dass es ihn belastete. Wahrscheinlich glaubte er, genauso wie alle anderen, dass mein Verhalten ein Nachhall der Entführung war. Theoretisch hatten sie auch alle damit recht, nur wusste niemand von ihnen, was genau es damit auf sich hatte. Und wenn es in meiner Macht stand, dann würde ich dafür sorgen, dass sich daran auch nichts änderte.
Als die Ampel wieder auf grün sprang, legte er die Hand zurück auf den Schalthebel und fuhr weiter.
Bis auf uns waren die Straßen leer. Silenda war zwar die Stadt der Könige, da hier der Alpha meines Rudels lebte, aber es war unter der Woche und auch Lykaner mussten arbeiten gehen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Daher wurde nachts geschlafen, um Tagsüber die rege Betriebsamkeit der Stadt aufrecht halten zu können.
Wenn wir weiter so gut durchkämen, würden wir nicht mal mehr zehn Minuten bis zum Tempel brauchen.
Ich richtete meinen Blick durch das Seitenfenster und bemerkte die vielen halb aufgebauten Stände, die die Straßen säumten. Im Moment konnte man dieses Phänomen in ganz Silenda beobachten, denn am Wochenende würde Prinzessin Cataleya, Tochter von Königin Sadrija und König Carlos, offiziell als Alpha in das Rudel eingeführt werden. Es würde ein mehrtägiges Fest werden, das bereits am Freitag begann und seinen Höhepunkt am Sonntag in der Zeremonie finden würde. Die ganze Stadt war deswegen schon seit Wochen in heller Aufregung und bereits jetzt brodelten die Straßen teilweise vor Erwartung – es wurde schließlich nicht jeden Tag ein neuer Alpha ins Rudel eingeführt. Und die kleine Cataleya war einfach nur bezaubernd.
Ich fragte mich, was Cio und ich bekommen würden. Natürlich war es mir am Wichtigsten, dass der kleine Passagier gesund und munter auf die Welt kam, doch wenn ich ehrlich war, würde ich mich über einen Jungen ein kleinen wenig mehr freuen.
„Gewährst du mir einen Kredit?“, riss Cio mich aus meinen Gedanken und bog nach rechts in eine kleine Seitenstraße ab.
„Hm?“
„Kredit. Du weißt schon, man borgt sich Geld, das man nicht braucht und zahlt dafür exorbitante Zinsen, die man eigentlich nicht hat. Ich bin auch bereit einen hohen Tarif zu nehmen.“
Das war gut zu wissen, aber: „Ich glaube du musst ein wenig deutlicher werden, ich habe nämlich keine Ahnung, worauf du damit hinaus möchtest.“
„In der Eile habe ich mein Portemonnaie Zuhause liegengelassen, aber ich würde dir gerne einen Doller für deine Gedanken geben, um zu erfahren, was dieses unwiderstehliche Lächeln auf deinen Lippen zu bedeuten hat. Deswegen brauche in einen Kredit. So kannst du es mir jetzt schon sagen, aber ich muss erst später bezahlen – natürlich mit Zinsen.“ Er schenkte mir ein hinreißendes Lächeln. „Ich kann sogar ein paar Sicherheiten bieten, wenn es sein muss.“
Das glaubte ich ihm sogar. „Müsstest du mir dann nicht eher einen Euro geben? Wir sind hier schließlich nicht in Amerika.“
„Theoretisch hast du da wohl recht, aber da das Sprichwort lautet: Ein Doller für deine Gedanken, wollte ich es erstmal damit versuchen.“
Dafür bekam er ein Lächeln. „Ich habe nur gerade über die Zukunft nachgedacht.“ Und darüber, was für Überraschungen sie für uns bereit hielt. Aber das würde ich jetzt nicht näher erläutern.
Er schmunzelte. „Der Gedanke an unsere Zukunft lässt dich also so lächeln?“
„Nur wenn ich nicht darüber nachdenke, dass du immer die Zahnpastatube offen lässt.“
„Hey, ich mache sie zu, aber nur, wenn du anfängst, endlich deine Haare nach dem Duschen aus dem Abfluss zu fischen.“
Ähm … ja, das vergaß ich irgendwie immer. „Okay, dann lass die Zahnpasta eben einfach offen.“
Cio schüttelte lächelnd den Kopf, doch als er nun nach links auf die Hauptstraße abbog, verblasste es wieder. Keine hundert Meter entfernt, ragte ein großes Gebäude auf, dass von Zierbüschen und einer großen Rasenfläche umgeben war. Ein langes, steinernes Dach wurde auf zwölf Säulen gestützt. Am hinteren Ende gab es ein erhöhtes Podest, auf dem ein Altar stand. Hinter dem Altar stand das steinerne Abbild unseres Urvaters Leukos, dem ersten Lykaner, der den Legenden nach existiert hatte.
Von unserem Punkt aus, konnte ich das nicht sehen, aber ich wusste wie es im Inneren aussah, da ich bereits mehr als einmal dort gewesen war. Wir hatten unser Ziel erreicht, Leukos Tempel.
Bei seinem Anblick kehrte die Unruhe zu mir zurück, die mich bereits erfasst hatte, als Tayfun mich aus dem Bett geklingelt hatte.
Ich warf einen nervösen Blick zu Cio, als er den Wagen direkt vor den Tempel an den Straßenrand lenkte. Seine Lippen waren schmal und seine Gefühle verkrochen sich hinter der Maske, die er in seinem alten Job als Umbra, perfektioniert hatte.
Als er den Motor abschaltete und den Schlüssel abziehen wollte, legte ich ihm eine Hand auf den Arm. „Er hätte nicht um Hilfe gebeten, wenn er uns nicht brauchen würde.“
„Dich, Schäfchen, dich hat er um Hilfe gebeten, nicht uns.“
Aber Tayfun wusste, dass wir zusammen gehörten und konnte sich sicher denken, dass ich zusammen mit Cio hier auftauchen würde. Außerdem hätte Cio vermutlich einfach wieder aufgelegt, hätte Tayfun ihn angerufen. Deswegen schaute ich ihn nur stumm an, bis er den Blick mit einem tiefen Atemzug abwandte.
„Lass uns einfach nachsehen, was los ist“, sagte er leise und stieg aus dem Wagen.
Ich folgte seinem Beispiel und sobald er den Wagen verschlossen und meine Hand ergriffen hatten, machten wir uns eilig auf den Weg.
Wir betraten den Tempel über die große Freitreppe. Genau wie der Rest dieses Gebäudes, war sie aus Sandstein. Sobald wir das erste Säulenpaar durchschritten hatten, befanden wir uns in einem großen, leeren Netzgewölbe.
Wenn hier Feierlichkeiten stattfanden, war der Raum Reihe um Reihe mit Stühlen gefüllt. Nun aber war er bis auf ein paar vereinzelte Steinbänke an den Seiten leer und verwaist. Niemand war hier, auch nicht Tayfun. „Wo ist er?“
Anstatt zu antworten, hob Cio die Nase in die Luft und begann zu wittern. Als reinrassiger Lykaner war sein Geruchssinn auch in dieser Gestalt weitaus besser als meiner, wenn ich mich in einen Wolf verwandelte. Doch als ein leichter Wind aufkam, brauchte ich seine Nase gar nicht mehr, denn das was ich da roch, sprach alle meine Sinne an. Blut. Und ich sprach hier nicht von einem kleinen Schnitt im Finger, dass musste eine Menge Blut sein. Der Geruch kam vom Altar.
Ich warf Cio einen angespannten Blick zu. Er musste es auch gerochen haben.
„Komm“, sagte er und zog mich auf den Altar zu. Dieses Mal hatte seine grimmige Mine nichts mit dem bevorstehenden Treffen mit Tayfun zu tun.
Je weiter wir in den hinteren Teil vordrangen, desto stärker wurde der Geruch. Ich betete darum, dass mein unkontrollierbarer Bluthunger sich ausnahmsweise einmal zurückhalten würde. Da ich erst vor einer Woche getrunken hatte, könnte ich Glück haben. Oder auch nicht. Das war bei mir immer wie Russisches Roulette. Leider.
Dieses Mal jedoch behielt meine Unruhe die Oberhand, als ich eilig die Stufen des Podest erklomm. „Tayfun?“, rief ich, kurz bevor wir den Altar erreichten. Zwar bekam ich keine Antwort, aber ich hörte ein sehr leises Geräusch. Als würde jemand nach Luft schnappen, gleichzeitig aber versuchen, es zu unterdrücken.
Ich lief ein wenig schneller und musste den Altar umrunden, bevor ich ihn entdeckte. Leider war ich auf diesen Anblick nicht vorbereitet gewesen.
Tayfun war ein großer Vampir mit schwarzem Haar und blassen, rauchgrauen Augen. Selbst für einen Vampir hatte er extrem lange Reißzähne, selbst wenn sie nicht ausgefahren waren. Das auffälligste Merkmal an ihm war aber wohl die weiße Haarsträhne an seiner rechten Schläfe.
Ich hatte ihn selten anderes als mit einem Lächeln auf den Lippen gesehen, aber niemals so. Er saß zusammengekauert mit dem Rücken an den Altar gelehnt und hatte die Arme um den Kopf geschlungen, als befürchtete er Schläge und wolle sich schützen.
„Tayfun!“, rief ich erschrocken, ließ Cio los und eilte an seine Seite. Ich hockte mich neben ihn und wollte nach ihm greifen, doch dann roch ich wieder das Blut und zögerte. Ich wusste nicht woher der Geruch kam, nur dass er verletzt sein musste und ich wollte ihm nicht wehtun. „Tayfun“, sagte ich deswegen etwas sanfter und berührte ihn vorsichtig an der Schulter.
Nur sehr langsam drehte er den Kopf aus seinen Armen heraus und das was ich dann sah, schockierte mich geradezu. Sein Gesicht, es war grün und blau. Das linke Auge war beinahe zugeschwollen und an der rechten Schläfe, genau wie an der Lippe, hatte er blutende Platzwunden. Doch das viele Blut, dass über sein Kinn lief, kam nicht von dort, aus kam aus dem Mund. Sein linker Reißzahn war abgebrochen und wollte einfach nicht aufhören zu bluten.
Im Gegensatz zu den anderen Zähnen, waren die Fänge eines Vampirs Organe und sie zu verlieren, wenn auch nur zu einem Teil, tat furchtbar weh.
„Oh nein“, murmelte ich und berührte ihn vorsichtig am Kinn.
In seinen Augen standen noch immer Tränen und als er sie zukniff, liefen sie über. Er drehte sich ein wenig und auf einmal drückte er sein Gesicht gegen meine Brust und klammerte sich an mich, als sei ich sein rettender Anker.
„Schhh“, machte ich und legte die Arme um ihn. Dabei fiel mir auf, dass sein Jackenkragen ein ganzes Stück eingerissen war. Egal was passiert war, es war ein Lykaner involviert gewesen. Kein Vampir und schon gar kein Mensch, hätten seine Jacke auf diese Art zerreißen können. Und … oh Gott, da waren auch tiefe Kratzer in seinem Nacken. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie er unter der Jacke aussah, wenn schon sein Kopf so übel zugerichtet war.
Seine Hose sah auch nicht besser aus. Sie war dreckig und am Knie aufgerissen. Die meisten Flecken darauf schienen von seinem eignen Blut zu stammen.
Während ich seinen zitternden Körper festhielt und ihm beruhigend über das Haar strich, schaute ich ein wenig hilflos zu Cio auf.
Er wirkte grimmig und das hatte überhaupt nichts damit zu tun, als ich Tayfun in den Armen hielt. „Ich rufe die Wächter und einen Krankenwagen.“
„Nein“, kam es von Tayfun, noch bevor Cio das Handy aus der Tasche ziehen konnte. Sein ganzer Körper zitterte, als er sich ein Stück von mir trennte. In seinen Augen stand Panik. „Keine Wächter, kein Krankenwagen.“
Das gefiel Cio gar nicht und das hatte nichts damit zu tun, dass er seit zwei Monaten selber als Wächter in der Stadt arbeitete. „Hast du mal in den Spiegel geguckt? Du brauchst Hilfe“, versuchte Cio dem Vampir klar zu machen. „Deine Verletzungen sind ernst.“
„Bitte“, sagte er mit brüchiger Stimme. Er hatte sich ein wenig von mir gelöst, doch mit den Händen hielt er sich noch immer an meiner Jacke fest. Das machte es mir einfach seine Knöchel zu sehen. Sie waren bis auf ein paar Kratzer und einer Schürfwunde auf dem Handrücken, unversehrt. Egal was hier passiert war, er hatte sich nicht gewehrt. „Keine Wächter“, flehte er noch einmal. „Kein Krankenwagen.“
Tief einatmend wandte Cio sich ab und strich sich dabei über die Wollmütze. „Du kannst innere Verletzungen haben, ist dir das klar?“
Anstatt zu antworten, drückte er die Augen fest zusammen. Er hatte die Oberlippe hochgezogen. Vermutlich tat es weh, an den abgebrochenen Zahn zu kommen. Er blutete noch immer.
„Tayfun“, sagte ich sanft und legte ihm zögernd eine Hand auf die Wange. „Er hat recht, du musst ins Krankenhaus.“
„Nein, bitte.“
Oh Gott, er wirkte so verzweifelt. Was zur Hölle war hier passiert? So hatte ich ihn ja noch nie erlebt. Er war richtig verängstigt und zeigte diese Angst auch.
Im Allgemein würde man sagen, dass das ein normales Verhalten war, aber Tayfun war in dieser Hinsicht nicht normal. Er war fast sein ganzes Leben der Sklave eines Sadisten gewesen, der sich an dem Schmerz des Vampirs erfreut hatte. Darum hatte Tayfun schon vor langer Zeit gelernt, seine Angst hinter einem Lächeln zu verstecken. Dass er sie nun so offen zeigte, machte mir Sorge.
„Aber dort können sie dir helfen“, versuchte ich in ihn zu dringen.
„Ich will nicht ins Krankenhaus, ich kann den Wächtern nichts sagen.“ Als müsste er sich dazu zwingen, löste er eine Hand aus meiner Jacke und wischte sich mit dem Handballen über das Auge. Dabei verschmierte er das Blut aus der Platzwunde. Er schien es nicht mal zu merken. „Ich weiß nicht wer das war, ich kenne sie nicht. Ich will nicht, bitte.“
Oh verdammt. Mit einem tiefen Seufzen legte ich meine Hand auf die, mit der er mich noch immer festhielt. „In Ordnung, wir rufen niemanden an.“
Cio schnaubte, als könnte er nicht glauben, was ich da sagte, enthielt sich aber jeden weiteren Kommentars. „Und was machen wir stattdessen? Wir können ja nicht einfach mit ihm hier sitzen bleiben.“
Da hatte er wohl recht. „Wir bringen ihn ins HQ. Da gibt es auch Leute, die sich um ihn …“
„Nein.“ Tayfun schüttelte den Kopf und wieder schien ein Anflug von Panik über seine Züge zu huschen. „Ich will nicht, dass sie mich so sehen.“
„Aber“, wollte ich widersprechen.
„Bitte. Nicht ins HQ.“ Er zog die Beine ganz eng an den Körper und vergrub das Gesicht darin, während er mich losließ und seine Arme wieder um den Kopf schlang. Er erweckte den Anschein, als rechnete er jeden Moment mit einem neuerlichen Angriff. „Bitte. Sie sollen mich nicht so sehen.“
Hilflos hockte ich neben ihm und wusste nicht, was ich tun sollte.
„Du kannst nicht hierbleiben“, sagte Cio noch einmal sehr eindringlich. „Du wirst dir hier den Tod holen.“
Tayfun reagierte nicht.
Cio hatte recht. Tayfun musste mittlerweile schon richtig durchgefroren sein und es würde sicher nicht besser werden, wenn er hier weiter auf dem eiskalten Steinboden sitzen würde.
„Vielleicht“, begann ich, verstummte dann aber wieder und schaute mich nach Cio um. Mein Blick sprach wohl Bände, denn der Ausdruck im Gesicht meines Verlobten verdüsterte sich.
„Nein“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Nein, Schäfchen, das kann ich nicht.“
Er wusste also wirklich, in welche Richtung meine Gedanken gingen. Wenn er nichts ins Krankenhaus wollte und auch nicht in das Hauptquartier der Themis, der Ort, wo er arbeitete und wohnte, dann bliebe noch die Möglichkeit, dass wir ihn mit nach Hause nahmen und in dem kleinen Schlafzimmer unterbrachten, dass von uns sowieso nur als Abstellkammer genutzt wurde.
Als er die Bitte in meinen Augen las, bekamen die Züge in seinem Gesicht etwas gequältes. „Tu das nicht, bitte mich nicht darum.“
„Es wäre doch nur für ein paar Tage und wir benutzen das Schlafzimmer doch sowieso nicht.“
Dem konnte er nicht widersprechen, aber er konnte damit beginnen, unruhig auf und ab zu laufen und dabei immer wieder Tayfun anfunkeln, als hätte er es gewagt, um Obdach bei uns zu bitten.
„Nur ein paar Tage.“
Er schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du weißt nicht, was du da von mir verlangst.“
„Doch“, widersprach ich ihm. Ich wusste sogar ganz genau, um was ich ihn da bat. „Er ist mein Freund, Cio. Er hat mich um Hilfe gebeten.“
Cio schnaubte, unterbrach seine Wanderung aber nicht.
„Es wird nichts passieren“, sagte ich leise und fügte dann noch hinzu. „Ich will nur dich.“
Das sorgte zumindest dafür, dass er seine Wanderung unterbrach. Er rieb sich über die Augen, als könnte ihn das beim Nachdenken helfen. Und dann stand er einfach nur da. Eine halbe Minute, eine ganze. Sein ganzer Körper war deutlich angespannt und jeder seiner Instinkte riet ihm, den Vampir nicht in sein Revier zu lassen.
Aber gleichzeitig wusste er, dass es mich verletzen würde. Trotz allem was geschehen war, zählte ich Tayfun zu meinen Freunden und meine Freunde waren mir wichtig. Außerdem hatte ich ihm schon sehr oft gesagt, dass Tayfun niemals eine Konkurrenz für ihn sein würde. Er glaubte und vertraute mir, doch er vertraute dem Vampir nicht. Trotzdem sagte er nach einer weiteren endlosen Minute „Okay“ und ließ den Arm wieder sinken. „Okay, ja, meinetwegen. Für ein paar Tage.“
Da ich wusste, wie schwer ihm das gefallen sein musste, erhob ich mich auf die Beine und stellte mich direkt vor ihn. Ich legte ihm die Hände an die Wangen und zwang ihn so mir in die Augen zu schauen. „Es wird nichts passieren“, versicherte ich ihm noch einmal. „Du bist alles was ich will.“
Er musterte mich, als zweifelte er an meinen Worten, oder könnte sie einfach nicht glauben. „Du musst aufpassen“, sagte er sehr leise zu mir. „Sonst werde ich ihm wehtun.“
Das Problem an diesen Worten war, dass sie der Wahrheit entsprachen. Seit den Ereignissen im letzten September, war der Vampir ein rotes Tuch für ihn. Tayfun brauchte nur eine unbedachte Bewegung in meine Richtung machen, schön würde Cio das Bedürfnis verspüren, ihm den Kopf abzureißen.
Letzten Monat, auf der Weihnachtsfeier im Hauptquartier der Themis, hatte der Vampir mir eine Serviette gereicht und sich einen Spaß daraus gemacht, sie immer wieder wegzureißen, wenn ich sie nehmen wollte. Am Ende habe ich seinen Arm festgehalten, damit er mich nicht mehr ärgern konnte.
Cio hatte es nicht sehr gut aufgenommen, dass wir beide so nahe beieinander gestanden hatten und uns auch noch berührten. Er hatte Tayfun nicht nur von mir weggestoßen, es waren auch mein Vater und zwei Lykaner nötig gewesen, um ihn von dem Vampir fernzuhalten, damit er ihn nicht ernsthaft verletzte.
Ich wusste ganz genau, was ich da von ihm erbat, kam für ihn einer Folter gleich und trotzdem konnte ich Tayfun nicht einfach sich selber überlassen.
„Du wirst ihm nicht wehtun.“ Ich beugte mich vor und gab ihn einen kurzen Kuss. „Ich weiß das. Ihr Umbras seit doch schließlich bekannt für eure Selbstbeherrschung.“
Dafür bekam ich ein schiefes Lächeln, das nicht wirklich glücklich wirkte. „Ich bin kein Umbra mehr, ich bin jetzt Wächter.“
„Einmal Umbra, immer Umbra. Das ist eine Lebenseinstellung. Die wird man nicht so einfach los.“
Seine Augen schlossen sich für einen Moment ein wenig resigniert.
„Wir schaffen das schon“, versicherte ich ihm und strich einmal mit der Hand über seine Brust. Bevor er jedoch auf die Idee kommen konnte, mich in den Arm zu nehmen, trat ich zurück und hockte mich wieder zu Tayfun. Ich war mir nicht sicher, ob er mitbekommen hatte, worüber Cio und ich gesprochen hatten. Er erweckte den Anschein, als wenn er um sich herum im Moment gar nichts wirklich mitkriegen würde. Darum berührte ich ihn sehr vorsichtig an der Schulter. „Tayfun?“
Es dauerte einen Moment, bis er sich regte und die Arme so weit lockerte, dass er den Kopf ein wenig drehen konnte. In seinen Augen lag ein gebrochener Ausdruck.
„Wir nehmen dich erstmal mit zu uns, in Ordnung? Du kannst die nächsten Tage bei uns im Schlafzimmer wohnen.“
Die Worte schienen nicht sofort bis zu ihm durchzudringen und als sie es dann taten, richtete sich sein Blick vorsichtig auf Cio, der ihn finster erwiderte.
„Cio ist damit einverstanden“, versicherte ich ihm.
„Nein“, sagte Tayfun mit brüchiger Stimme und ein sehr unglückliches Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab. „Das ist er nicht. Er hasst mich.“
Das ließ ich unkommentiert. „Komm, steh auf, lass uns gehen.“
Eine Träne rollte aus seinem Auge und folgte der Spur, die ihre Vorgänger bereits genommen hatten. „Ich kann nicht, mein Bein ist taub.“ Er kniff die Augen wieder zusammen. „Ich kann nicht aufstehen.“
Nach diesen Worten fragte ich mich, ob es nicht vielleicht doch besser wäre, wenn wir einen Krankenwagen rufen würden. Stattdessen jedoch schaute ich wieder zu Cio auf.
Der gab ein äußerst verärgertes Geräusch von sich. „Fantastisch“, murmelte er, trat aber trotzdem zu Tayfun, um ihn auf die Beine zu helfen.
°°°
Ich rammte meinen Schlüssel praktisch ins Schlüsselloch unserer Wohnungstür und öffnete sie eilig, damit die beiden Männer direkt reingehen konnten. Im Licht des Hausflurs, sah Tayfun noch blasser aus, als draußen auf der Straße. Er humpelte und hatte Schmerzen. Wahrscheinlich schaffte er es nur sich auf den Beinen zu halten, weil Cio ihn stützte.
Sobald die Tür offen war, eilte ich in die Wohnung. Unsere Räumlichkeiten waren nicht sehr groß. Vom Hausflur aus, trat man direkt in den Wohnraum. Rechts neben der Haustür, gab es ein kleines Bad mit Dusche. Auf der anderen Seite, direkt gegenüber der Haustür, war eine Küchenzeile mit Kühlschrank. Das kleine Schlafzimmer befand sich rechts neben dem Badezimmer und genau darauf eilte ich nun zu.
Da Cio nicht sehr ordentlich war und ich es aufgegeben hatte, ihm hinterher zu räumen, weil er dann nie etwas wiederfand, war es bei uns ein wenig chaotisch. Darum musste ich auf meinem Weg zwei Kartons, die noch von meinem Umzug übrig waren und Cios offene Sporttasche zur Seite schieben, damit die beiden Männer nirgendwo gegen stießen.
Die Tür zum Schlafzimmer war nur angelehnt und knallte gegen weitere Kartons, als ich sie aufdrückte und das Licht einschaltete. Da die Wohnung recht klein war und ich doch recht viele Sachen besaß, hatte ich bei meinem Einzug vor drei Monaten nur das wichtigste ausgeräumt. Mindestens die Hälfte meiner Sachen hatten wir in den Kartons gelassen und sie an der Wand im Schlafzimmer gestapelt. Mit dem schmalen Bett und der Kleidertruhe, die auch noch hier drinnen standen, blieb gerade mal ein schmaler Streifen von einem halber Meter zwischen den Möbeln und Kisten, auf dem man sich bewegen konnte.
Ich räumte nur eilig unsere Klamotten aus dem Bett, warf sie in die Ecke und trat dann hastig wieder aus dem Raum, um den beiden Männern Platz zu machen.
Als Tayfun mit Cios Hilfe an mir vorbei humpelte, sah ich das Ausmaß seiner Verletzungen zum ersten Mal bei Licht und es war noch schlimmer, als ich bei seinem ersten Anblick geglaubt hatte. Durch die beschleunigten Heilkräfte eines Vampirs, hatten die Blutergüsse in seinem Gesicht schon eine sehr tiefe Farbe angenommen. An seinem Kiefer erblühte ein riesiger Fleck, der in allen Farben schillerte. Jemand musste ihn dort mit der Faust getroffen haben und dieser jemand hatte sich nicht zurückgehalten.
Tayfun zischte vor Schmerz und kniff die Augen zusammen, als Cio ihn ins Schlafzimmer schob und ihn vorsichtig auf dem Bett absetzte.
Ich entledigte mich derweil meine Winterbekleidung und Schuhe, ließ die beiden aber nicht aus den Augen.
„Danke“, sagte Tayfun, sobald er saß und legte sich eine Hand an die Rippen. Warum wollte dieser Idiot nur nicht ins Krankenhaus, wenn er so offensichtliche Schmerzen litt?
„Du solltest dich nicht bedanken“, grummelte Cio mit einem finsteren Blick auf ihn. „Ich könnte dich immer noch einfach wieder vor die Tür setzen.“
Auf Tayfuns Lippen erschien ein gequältes Lächeln. Sein Zahn hatte endlich aufgehört zu bluten, aber er tat sicher noch immer weh. Der Schmerz musste unglaublich sein und in den ganzen Kopf abstrahlen. Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass er mit einem gebrochenen Knochen vergleichbar wäre. „Und ich könnte mich nicht wehren“, sagte er mit leiser Stimme. Seine Tränen waren auf der Fahrt hier her versiegt, doch sie hatten deutliche Spuren in seinem Gesicht zurückgelassen. Er wirkte so … gebrochen.
Ich drängte mich an Cio vorbei und hockte mich direkt vor Tayfun. „Hey.“ Vorsichtig legte ich ihm eine Hand aufs Knie und wartete dann darauf, dass er mich ansah. Seine Haare hingen ihm strähnig ins Gesicht. „Wir kümmern uns um dich, okay? Hier bist du sicher.“
Die Bewegung seines Kopfes war so winzig, dass ich das Nicken wohl nur bemerkte, weil ich genau hinschaute.
„Okay. Dann ziehen wir dir jetzt erstmal die Jacke aus.“ Ich griff nach dem Schlitten an seinem Reißverschluss. Tayfun war dabei keine große Hilfe. Er wirkte einfach nur verloren, als ich ihm aus dem Kleidungsstück half und sie achtlos auf meine Kisten warf. Darunter trug er nur ein T-Shirt, doch als ich auch versuchte ihm das auszuziehen, verzog er nicht nur vor Schmerz das Gesicht, er wurde auch eine Spur blasser und mir wurde sofort klar, so würde das nichts werden. Es tat ihm weh, die Arme zu heben.
„Warte, ich geh eine Schere holen.“ Das Shirt musste aus, damit ich sehen konnte, wie er darunter aussah. „Bleib einfach hier sitzen.“
Dieses Mal reagierte er gar nicht. Er schloss einfach nur die Augen. Gott, wie konnte man sowas nur einem anderen Wesen antun? Das war mir unbegreiflich.
Ich erhob mich und begegnete dabei Cios Blick. Er war nicht glücklich mit dieser Situation und schien sich stark zusammenreiße zu müssen, um mich nicht einfach von Tayfun wegzuzerren. Er hatte seine Jacke in der Zwischenzeit auch ausgezogen und stand nun mit verschränkten Armen im Türrahmen. Die Muskeln auf seinen Armen waren angespannt und der Zug um seinen Mund hart.
Ich ging direkt zu ihm, nahm seine Hand und zog ihn mit mir in den Wohnraum. „Er braucht Blut“, sagte ich ohne Umschweife und wie nicht anders zu erwarten, spannte Cio sich sofort an. Dass er daraufhin knurrte, wunderte mich gar nicht. „Nicht meins.“
Ich ließ ihn wieder los, lehnte mich über die Couch und fischte mit dem ausgestreckten Arm nach dem grünen Flyer, den ich gestern aus dem Briefkasten geholt hatte. Ich brauchte zwei Versuche, bis ich ihn zu fassen bekam und mich mit ihm wieder zu Cio umdrehte. „Kannst du da bitte anrufen?“
„Ich wusste gar nicht, dass wir hier jetzt eine Frühstückspension führen und Fastfood anbieten“, murrte er, nahm den Zettel aber entgegen.
„Doch, tun wir. Alternativ könnte ich ihm auch dein Handgelenk hinhalten. Das Problem dabei ist nur, dass ich ziemlich egoistisch bin und dein Blut alleine mir gehört, darum ist das wohl die beste Option, die wir gerade haben.“ Ich tippte auf den Zettel.
„Ist okay, ich rufe an.“ Das ich meinen Anspruch auf sein Blut anmeldete, ließ ihn wenigstens ein kleinen wenig lächeln. Dabei war es nicht mal ein Witz gewesen. Was den Besitzanspruch von Vampiren anging, waren die noch schlimmer, als die Lykaner. Ich war zwar nur zum Teil Vampir, aber auch ich verspürte manchmal dieses unbändige Bedürfnis, mein Eigentum zu verteidigen.
„Danke.“ Im Augenwinkel sah ich, wie er die Hand nach mir ausstrecken wollte, doch bevor er mich berühren konnte, wandte ich mich eilig dem Bad zu und tat so, als hätte ich es nicht bemerkt. Ich hasste es, dass ich ihm ständig ausweichen musste, ich mochte es nicht, ihn vor den Kopf zu stoßen, aber im Moment … jetzt gerade konnte ich das einfach nicht. Darum verschwand ich eilig im Badezimmer, holte eine Waschschüssel und einen Lappen und bewaffnete mich dann noch mit dem Erste-Hilfe-Kasten, bevor ich wieder zu Tayfun ins Schlafzimmer eilte.
Cio stand mit dem Handy am Ohr neben der grauen Ausziehcouch, auf der wir immer schliefen und sprach leise in das Gerät. Sein Blick war auf den Flyer gerichtet, hob sich jedoch und folgte mir, als ich wieder im Nebenzimmer verschwand.
Die Schüssel mit dem Lappen landete auf dem Deckel der Kleidertruhe, der grüne Kasten neben ihm auf dem Bett. Bevor ich allerdings damit begann, mir seine Wunden genau anzusehen, ging ich noch mal kurz an den Kühlschrank und holte aus dem Tiefkühlfach eine Packung gefrorener Erbsen, die ich Tayfun reichte, sobald ich wieder im Schlafzimmer war. „Hier, halt die dir ans Auge. Dann geht die Schwellung ein wenig zurück.“
Er reagierte nicht sofort und als er meiner Aufforderung dann nachkam, waren seine Bewegungen sehr langsam.
„Erzählst du es mir?“, fragte ich ihn und öffnete den Erste-Hilfe-Kasten, um ihm die Verbandsschere zu entnehmen. „Was passiert ist, meine ich.“
„Ist das nicht offensichtlich?“, fragte er leise.
„Wenn es so offensichtlich wäre, müsste ich nicht nachfragen.“ Ich griff nach dem Saum seines Shirts und schnitt es ihm bis hoch zum Halsausschnitt auf. Dann folgte der linke und anschließend der rechte Ärmel. Als ich den Stoff dann entfernte, versuchte ich mir meine Erschütterung nicht anmerken zu lassen. Sein ganzer Brustkorb war grün und blau. An seinen Rippenbogen hatte er einen großen Fleck, der in allen Farben des Regenbogens schillerte. Auch die Arme sahen nicht viel besser aus.
„Ich sah schon schlimmer aus“, sagte er leise.
Okay, vielleicht hatte ich mein Entsetzen doch nicht so gut verstecken können. Ich sollte unbedingt an meinem Pokerface arbeiten.
Ich griff nach dem Lappen, setzte mich neben ihn ins Bett und drehte sein Gesicht vorsichtig zu mir. Bevor ich anfangen konnte ihn zu verarzten, musste ich erstmal das ganze Blut wegwischen. „Sag mir, was passiert ist.“ Nein, dieses Mal war es keine Bitte, es war eine klare Aufforderung.
Er zögerte, schloss dann aber resignierte die Augen, als ich vorsichtig die Platzwunde an seiner rechten Schläfe betupfte.
„Ich weiß nicht, wer sie waren“, sagte er leise. „Ich weiß nicht, was sie wollten. Sie gingen einfach auf mich los.“
„Wen meinst du mit sie?“ Das Geräusch von Schritten ließ mich einen Moment aufblicken. Cio lehnte sich gegen den Türrahmen und beobachtete uns. In seiner Hand hielt er noch immer das Handy. Die nächsten Tage würde er mich wohl nicht mehr aus den Augen lassen.
Tayfun schluckte angestrengt. „Es waren drei Männer. Lykaner. Ich wollte nur etwas Essen gehen. Ich wollte …“ Seine freie Hand ballte sich zur Faust und sein Körper begann wieder zu zittern. „Zwei haben mich festgehalten und der Dritte schlug immer wieder zu.“
„Haben sie etwas zu dir gesagt?“, fragte Cio.
Seine Hand öffnete sich wieder langsam. Er machte den Eindruck, sich nicht erinnern zu wollen, denn sobald er es tat, erschien auf seinen Zügen dieser gehetzte Ausdruck. Ich hatte ihn noch nie so verstört gesehen. „Einer nannte mich … Cupido.“
„Cupido?“ Ich runzelte die Stirn. „Wie dieser kleine Liebesengel?“ Vorsichtig schob ich seine Hand und die Erbsen weg, damit ich an dem Rest seines Gesichts herankam. Dabei geriet sein abgebrochener Reißzahn wieder in mein Sichtfeld.
Tayfun war ein Vampir und als solcher besaß er eine unheimliche Regeneration. Schon in ein paar Tagen würden all seine Wunden und Verletzungen verheilt sein und wahrscheinlich nicht mal Narben zurück lassen – zumindest keine körperlichen. Das alles wäre dann nichts weiter, als eine Erinnerung, die man mit viel Glück einfach vergessen konnte. Sein Zahn jedoch … nichts konnte ihm den zurückgeben – nicht mal die Medizin.
„Weißt du, was sie damit gemeint haben könnten?“, fragte Cio.
„Nein.“
„Hast du in letzter Zeit vielleicht irgendjemandes Frau vernascht, der das herausbekommen haben könnte und nicht allzu glücklich darüber wäre?“
„Cio!“, empörte ich mich und warf ihm einen warnenden Blick zu. Jetzt war wirklich nicht der passende Zeitpunkt, um ihm unterschwellige Vorwürfe und Anschuldigungen um den Kopf zu hauen, mein Mann jedoch ignorierte mich einfach.
Tayfun schüttelte den Kopf. „Die letzte Frau, mit der ich zusammen war, war Romy.“
Dass ich mich bei diesen Worten ein wenig anspannte, hätte mich eigentlich nicht wundern sollen. Romy war eine Kollegin von ihm gewesen. Kalt, unnahbar und drei Mal so alt wie Tayfun. Außerdem war sie das neunzehnte Opfer des Amor-Killers gewesen und bereits seit fast vier Monaten tot.
„Ich mochte Romy“, fügte er noch etwas leiser hinzu.
„Und vor Romy?“, wollte Cio wissen.
Also gleich würde ich Cio ein Kissen ins Gesicht schmeißen. Ich verstand ihn schon, er versuchte herauszufinden, was passiert war und hoffte vielleicht einen Hinweis auf die Täter zu bekommen. Ich konnte das nicht mal auf seinen Job als Wächter schieben, Cio war einfach so. Auch wenn es hier um Tayfun ging, so wollte er etwas gegen diese Ungerechtigkeit unternehmen. Aber im Moment fand ich diese Fragen einfach unpassend.
„Mehrere sogar“, gestand er ein und hob den Kopf an, als ich ihn am Kinn hoch drückte, um das Blut an seinem Hals wegzuwischen. Selbst hier fand ich blaue Flecken. „Aber sie waren alle ledig. Ich rühre Frauen in Beziehung nicht an.“
Diesen Seitenhieb verstand Cio sehr wohl. Die Züge in seinem Gesicht verhärteten sich ein wenig. „Ach nein?“
„Nein, nicht solange nicht alle Parteien damit einverstanden sind.“
Im Klartext, sollte ein Mann sein Okay geben, hätte er kein Problem damit, mit dessen Frau ins Bett zu steigen. Oder sogar mit allen beiden. Tayfun war eben in allen Lebenslagen ein wenig speziell. Das machte wohl einen Teil seines Charmes aus.
„Bitte, Cio, lass es sein“, bat ich ihn leise. Er sollte nicht weiter auf diesem Thema herumreiten. Das führte doch zu nichts. Außer vielleicht, dass er sauer wurde. Es war schon richtig, was er im Tempel gesagt hatte, ich würde aufpassen müssen, denn auch ein Umbra konnte seine Selbstbeherrschung einbüßen.
Er atmete einmal tief ein, als würde ihm das Helfen, diese Situation durchzustehen. „Okay, egal. Was ist passiert, nachdem die drei Kerle auf dich losgegangen sind?“
„Sie ließen mich liegen und gingen weg.“
Er runzelte die Stirn. „Einfach so?“
„Einer trat mir noch gegen die Rippen, dann ließen sie mich allein.“ Er zischte, als ich der Platzwunde an seiner Lippe zu nahe kam.
„'tschuldigung.“
„Haben sie dich am Tempel angegriffen?“
„Nein. Ich hab … ich hab befürchtet, dass sie zurückkommen könnten und habe mich dort versteckt.“
„Wo haben sie dich angegriffen?“
„Was spielt das für eine Rolle?“ Als wir nur still abwarteten, drehte er den Kopf ein wenig weg, als wollte er uns nicht ansehen. „In der Nähe vom Blutstropfen.“
Das war ein Restaurant für Vampire. Lykaner wurden dort zwar auch bewirtet, denn es standen auch zahlreiche normale Gerichte auf der Speisekarte, aber die Attraktion des Ladens, waren die Wirte, die sich auf Bestellung zu einem an den Tisch setzten und bei denen die Vampire trinken konnten, während sie auf ihr Steak oder ihre Lasagne warteten, denn Vampire ernährten sich zwar vom Blut, aber das machte nur einen kleinen Teil ihrer Ernährung aus.
„Um diese Uhrzeit?“, fragte Cio misstrauisch.
Tayfun atmete einmal tief ein, sodass sich sein Brustkorb hob, stockte dann aber. Selbst das schien ihm schon Schmerzen zu bereiten. „Sie haben bis zwei Uhr morgens geöffnet.“
Es war nicht ganz einfach, auch da letzte bisschen Blut zu er wischen. Es war so viel und das Wasser in der Schüssel war schon ganz rot.
„Hatte einer der Männer irgendein besonderes Merkmal?“
Tayfun schüttelte ganz leicht den Kopf. „Ich weiß nicht. Ich hab nicht darauf geachtet.“
„Vielleicht ein Akzent in der Stimme?“, bohrte er weiter.
„Nein.“
Ich griff nach dem großen Tiegel mit der Salbe und begann dann systematisch, Tayfuns Gesicht damit zu versorgen. Dabei fiel mein Blick ein weiteres Mal auf seinem Reißzahn. Was sollte ich damit nur tun? Sollte ich einfach die Finger davon lassen?
„Und was ist mit …“
„Cio“, unterbrach Tayfun ihn schwach. Seine Stimme klang noch immer rau, aber wenigstens war er nicht mehr so aufgelöst. „Bitte, hör auf.“
Was daraufhin folgte, war ein sehr unangenehmes Schweigen. Ich versuchte es zu ignorieren und machte mit meiner Behandlung einfach weiter, doch plötzlich hatte ich das bohrende Gefühl, dass die Situation gleich eskalieren könnte.
Tayfun war nicht unhöflich gewesen und ich konnte verstehen, dass er nicht mehr darüber sprechen wollte, aber das hier war Cios Revier. Cios Wohnung und Cios Frau. Er versuchte irgendwie mit dem Eindringling klar zu kommen und für das Problem eine Lösung zu finden, die nicht damit endete, dass er den Vampir mit einem Arschtritt aus der Wohnung beförderte.
„Alina wird am Wochenende in der Stadt sein“, sagte ich ganz unvermittelt. Das war ein unverfängliches Thema und bot Cio die Gelegenheit, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. „Sie will unbedingt bei der Einführung von Prinzessin Cataleya dabei sein.“
Sein Blick bohrte sich unnachgiebig in meinen Rücken und einen Moment fürchtete ich schon, dass er sich nicht darauf einlassen würde, doch dann atmete er einmal tief durch die Nase ein. „Ich denke nicht, dass sie wegen der Prinzessin kommt. Sie will doch nur wieder mit Anouk rumfummeln.“
Bei der Wortwahl verzog ich das Gesicht, einfach weil es der Wahrheit viel zu nahe kamen.
Alina war meine Cousine und Anouk … mein Cousin. Außerdem waren die beiden ein Liebespaar. Da Tante Lucy und Onkel Tristan Alina aber adoptiert hatten, als sie noch ein ganz kleines Mädchen gewesen war, war die Situation nicht ganz so problematisch, wie man auf dem ersten Blick vielleicht vermutet hätte. Auf den zweiten allerdings schon, denn dieses Geheimnis, hatte das Potential zu einer Katastrophe zu werden. „Sie sieht ihn halt nicht so oft“, entschuldigte ich ihr Verhalten.
Er schnaubte. „Hat sie es denn mittlerweile ihren Eltern gesagt?“
„Nicht das ich wüsste.“ Und das war ein weiteres Problem an der Sache. Anouk und Alina waren bereits seit dem letzten Sommer zusammen, aber außer mir und Cio, wusste nur noch mein Halbbruder Aric und mein bester Freund Kasper davon. Die Familie lebte noch immer in seliger Ungewissheit. Ehrlich gesagt, fürchtete ich mich ein wenig vor dem Tag, an dem sich das änderte.
„Die beiden sind feige“, erklärte Cio und beobachtete ganz genau, wie ich damit begann, die Salbe auf Tayfuns Brust und Rippen zu verteilen. Er war wirklich überall verletzt. „Sie sollten endlich reinen Tisch machen.“
„Leider ist das nicht so …“
Das Klingeln an der Tür unterbrach mich. Ich zögerte, weil ich eigentlich noch nicht fertig war, aber ich wollte Cios Nerven nicht noch weiter strapazieren. Doch genau das würde passieren, wenn er mich und Tayfun aus den Augen lassen müsste, um unseren Besuch herein zu lassen. Außerdem sollte ich wohl kurz mit dem Wirt reden, bevor ich ihn ins Schlafzimmer ließ. Also stellte ich den Tiegel zur Seite und erhob mich. Im Vorbeigehen strich ich Cio kurz über den Arm, blieb aber nicht lange genug, um ihm die Möglichkeit zu geben, mich seinerseits zu berühren.
Die Frau, die ich zwei Minuten später an unserer Wohnungstür begrüßte, trug Freireitkleidung. Sie war brünett, etwas mollig, um die vierzig und ziemlich blass. Das war wohl Berufsrisiko.
„Hi, ich bin Helen.“ Mit einem Lächeln hielt sie mir die Hand hin.
Ich nahm die Hand entgegen und war froh, dass es sich bei dem Blutwirt um eine Frau handelte. Ich hatte keine Ahnung, ob Tayfun beim Trinken Männer oder Frauen bevorzugte, aber ein Mann konnte unbeabsichtigt bedrohlich wirken. Nicht dass Freuen das nicht auch konnten, aber bei einem Mann konnte es eher geschehen. Und diese Frau war höchstens eine Bedrohung für ein paar frischgebackene Plätzchen. „Zaira“, erwiderte ich und bat sie dann mit einer Geste in die Wohnung.
Sie trat hinein, ließ den Blick einmal durch die Räumlichkeiten wandern, nickte Cio zu und widmete sich dann ihrer Tasche. „Ich hasse Formalitäten“, erklärte sie und zog ein schwarze Mappe heraus. „Aber ohne funktioniert es leider nicht.“
„Ähm“, machte ich nicht sehr gescheit.
„Sie bestellen wohl nicht oft Wirte ins Haus.“ Schmunzelnd klappte sie die Mappe auf. Dann präsentierte sie mir eine Art Vertrag. „Wegen der Bezahlung. Außerdem stimmen sie mit ihrer Unterschrift den Regeln der Firma zu.“
„Oh, okay, ähm … sie sind aber nicht für mich hier, sondern für meinen Freund.“
Sie zog eine Augenbraue hoch und drehte sich zu Cio um, der sie mit einem schelmischen Lächeln bedachte. „Ihnen ist aber schon aufgefallen, dass er kein Vampir ist?“
„Nicht für ihn, er sitzt im Schlafzimmer.“ Ich trat etwas näher an sie heran. Das was ich zu sagen hatte, musste Tayfun nicht unbedingt hören. „Okay, das klingt jetzt vielleicht ein wenig seltsam, aber bitte erschrecken sie nicht, wenn ich sie gleich zu ihm bringe.“
Ihr Lächeln verschwand hinter einer neutralen Maske. „Ich werde keinen ausgehungerten Vampir füttern.“
Konnte ich verstehen, denn die konnten ungewollt ziemlich grob werden. „Er ist nicht ausgehungert, er ist …“ Ich zögerte und trat noch ein wenig näher. „Er ist verletzt und hat eine anstrengende Nacht hinter sich. Außerdem geht es ihm nicht gut. Aber er ist keine Gefahr.“
Sie musterte mich kritisch, nickte dann aber. „Wenn sie versuchen mich zu täuschen, werde ich von meinem Recht zu gehen gebrauch machen. Außerdem wird dann eine Strafe auf sie zukommen.“ Sie tippe auf den Vertrag. „Steh alles da drin.“
Okay. Ich hätte ja nicht gedacht, dass es so kompliziert sein könnte, sich einen Wirt ins Haus zu holen. In meiner Vorstellung war das wie Pizza bestellen – vielleicht noch mit einem extra Aufschlag für Käse und Salami. Einmal mehr war ich froh, Cio zu haben. Das einzige was er für sein Blut verlangte … hm, eigentlich verlangte er überhaupt nichts dafür, er gab es mir gerne. „Ich täusche sie nicht“, versicherte ich ihr.
Ob sie mir nun glaubte, oder nicht, wir erledigten die Formalitäten und gingen dann zum Schlafzimmer.
Cio trat sofort zurück, um uns Platz zu machen. Mit zwei Leuten hier drinnen, war der Raum schon voll, mit drei war er eigentlich schon vor Überfüllung geschlossen.
Tayfun saß noch genau dort, wo ich ihn zurückgelassen hatte. Seine Schultern waren gebeugt und das Gesicht halb von der Packung mit den gefrorenen Erbsen verdeckt.
„Tayfun?“, sprach ich ihn an und ging als erstes hinein, doch erst als ich ihn an der Schulter berührte, hob er den Blick. „Wir haben für dich einen Wirt bestellt.“
So wie er meinen Blick erwiderte, schien ihm das bereits bewusst zu sein. Er drehte Helen sein Gesich nur sehr langsam zu und noch langsamer ließ er die Packung mit den Erbsen sinken. Seine Reißzähne jedoch fuhren sofort zu ihrer ganzen Länge aus. Naja, der eine, bei dem anderen fehlte ungefähr ein Drittel. Er musste noch immer wehtun. „Hi“, sagte er leise.
Statt zu antworten, breitete sich auf ihrem Gesicht Bestürzung ab, weswegen Tayfun sein Gesicht sofort wieder abwandte.
Klasse. Dabei hatte ich sie vorher extra noch gewarnt. Ich bedachte sie mit einem finsteren Blick und hockte mich dann vor Tayfun. „Hey.“ Vorsichtig griff ich nach seiner Hand. Wegen der Tiefkühlerbsen war sie ganz kalt. „Du musst essen.“
„Ich weiß.“
Aber da er keine Anstalten machte, Helen zu sich zu rufen, forderte ich sie mit einer Geste auf, näher zu kommen.
Sie kam der Aufforderung auch sofort nach und hatte es zum Glück geschafft, ihren Schreck hinter einer professionellen Fassade zu verbergen. Trotzdem sagte sie nichts, als sie ihm ihr Handgelenk hinhielt.
„Na los.“ Ich gab ihm einen kleinen Stoß. „Sie beißt schon nicht“, scherzte ich. „Das ist deine Aufgabe, falls du das vergessen haben solltest.“
Für den blöden Scherz bekam ich doch tatsächlich ein zurückhaltendes Lächeln. Er nahm ihr Handgelenk und führte es an seinen Mund, wie er es sicher schon hunderte von Malen getan hatte, doch plötzlich erstarrte er und seine Züge verzerrten sich gequält.
„Was ist los?“, fragte ich sofort.
Sein Blick flitzte von ihr zu mir. In seinen Augen lag ein Anflug von Furcht. „Wie?“, fragte er leise und zog sein Kopf ein wenig zurück. Mit einem mal wirkte er zerbrechlicher, als die ganze Zeit. „Wie soll ich das machen? Es tut weh und …“ Er verstummte. Er musste auch gar nicht weiterreden. Es tat weh und er hatte nur noch einen Reißzahn.
Wenn ich ehrlich war, überforderte mich diese Frage ein wenig, denn ich hatte keine Ahnung, wie er es anstellen sollte. Nicht nur weil ein Zahn fehlte, es würde sicher auch furchtbar wehtun, wenn er zubiss.
„Mach du es doch, Schäfchen“, kam es da ein wenig unerwartet von Cio. „Beiß du sie, dann kann er trinken.“
Zu behaupten, dass mich diese Aufforderung verblüffte, wäre noch untertrieben. Das Dilemma zwischen ihm und Cio war zum Teil überhaupt erst zustande gekommen, weil ich Tayfun gebissen hatte. Er hatte entschieden etwas dagegen, wenn ich bei anderen trank. Aber das hier war eine Ausnahmesituation. Außerdem würde ich ja auch gar nicht bei ihr trinken, ich würde nur … naja, zubeißen.
Ich schaute zu Helen hoch. „Ginge das für sie in Ordnung?“
„Mein Pensum erlaubt heute nur noch einen Biss.“
„Ich werde nicht trinken“, versprach ich. Um ehrlich zu sein, widerte mich bereits der Gedanke daran an. Nicht wegen ihr, sondern weil sie nicht Cio war. „Ich werde nur die Haut betäuben und sie beißen. Er trinkt.“
Sie seufzte, als hätte sie es mit besonders anstrengender Kundschaft zu tun, nickte dann aber und reichte nun mir ihr Handgelenk. „Sie sollten darüber nachdenken, ihn in ein Krankenhaus zu bringen.“
Okay, damit stand es fest, diesen Lieferdienst würden wir kein zweites Mal in Anspruch nehmen und sollte ich eine Bewertung abgeben müssen, würde ich auf fehlendes Taktgefühl aufmerksam machen. Im Moment jedoch ignorierte ich ihren Kommentar einfach und hob ihr Handgelenk an meinen Mund.
Ich roch ihren Geruch, er war sauber und gepflegt. Leider tat sich dann das nächste Problem auf, meine Fänge waren plötzlich schüchtern und wollten nicht ausfahren. Ich stand da, bereit zu tun, was man in einem solchen Fall eben so tat, doch meine wichtigsten Werkzeuge verweigerten ihren Dienst.
„Ähm.“ Leicht verwirrt, schaute ich von ihrem Handgelenk zu Cio. Sowas war mir ja noch nie passiert und meine letzte Mahlzeit lag ja nun auch schon einige Tage zurück.
Cios Augenbraue wanderte mit einem fragendem Ausdruck, ein wenig nach oben.
Hm, wie sagte ich das jetzt am Besten. Zu erklären, dass meine Fänge sie nicht appetitlich fanden, wäre sicher nicht sehr nett.
Zu meinem Glück war Cio jedoch nicht dumm. Nachdem er mich einen Moment gemustert hatte, schien er zu verstehen, wo genau mein Problem war und ein sehr zufriedener Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit.
Ich funkelte ihn dafür an. Das war nicht lustig.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte Helen, die unserem stummen Gespräch wohl nicht folgen konnte.
„Nein, nein“, wiegelte Cio sofort ab und hob die Hand, sodass ich sie deutlich sehen konnte. Dabei krümmte er die Finger leicht und seine menschlichen Nägel wurden dunkler und härter, bis sie Krallen eines Wolfes waren. „Alles in Ordnung.“
Fasziniert schaute ich dabei zu, wie er die Hand an seine Halsbeuge hob und mit der Kralle langsam über seine Haut kratzte. Er verletzte sich nicht, aber ich kannte diese Geste. Er hatte sie schon einige Mal gemacht und normalerweise blutete er dann immer.
Es war schon fast peinlich, wie schnell meine Fänge plötzlich aus ihren Taschen im Zahnfleisch rutschten. Ich meine, da war nicht mal Blut, nur diese Geste, die Blut versprach.
Als er dann bei meiner Reaktion dann auch noch anfing zu lächeln, schmeckte ich den süßlichen Geschmack meines Sekrets auf der Zunge. Dafür waren die Reißzähne eines Vampirs gedacht. Zum einen natürlich, um sich durch die Haut des Wirts zu bohren, aber auch, um das Sekret, dass nicht nur die Haut und die Wunde betäubte, sondern auch für einen Endorphintaumel bei dem Wirt sorgte, an die richtigen stellen zu bringen. Und natürlich sorgten sie auch dafür, dass die Wunden während des Trinkens offen blieben, denn unser Speichel hatte eine heilende Wirkung, die so kleine Wunden sehr schnell heilen ließ.
Ohne ihn aus den Augen zu lassen, begann ich das Sekret auf Helens Handgelenk zu verteilen. Dabei fragte ich mich, warum mir das erst gelang, nachdem Cio mir half. Das war nicht normal. Reißzähne waren genau wie Finger ein Werkzeug des Körpers. War ich krank? Lag es vielleicht an der Schwangerschaft? Ich würde meine Frauenärztin bei meinem nächsten Termin danach fragen.
Sobald ich sicher war, dass Helens Haut betäubt war, folgte ich meinen Instinkten und biss zu. Sofort schmeckte ich ihr Blut auf der Zunge, doch irgendwas daran stieß mich ab. Es schmeckte nicht wie das von Cio und meine Zähne verkrochen sich fast augenblicklich wieder in ihren Taschen. Ich versuchte mir meine Verwunderung nicht anmerken zu lassen, als ich das Handgelenk an Tayfun reichte, aber wenn ich ehrlich war, beunruhigte mich das schon ein kleinen wenig.
Helen gab ein kleines, glückliches Seufzen von sich und schloss die Augen. Es war gar nichts gegen die Art wie Cio bei einem Biss von mir reagierte, doch auf das Geräusch, dass sie dabei von sich gab, hätte ich gut und gerne verzichten können.
Als Tayfun den Arm übernahm, zitterten seine Hände ein wenig und als er ihn an den Mund hob, zögerte er wieder. Er wollte das Blut, aber zu trinken ohne die Fänge zu benutzen, war ein seltsamer Gedanke. Noch dazu war es für ihn im Moment schmerzhaft und auch ein wenig umständlich. Darum brauchte er mehrere Versuche, bis seine Lippen sich um die Wunden schlossen.
Er saugte vielleicht eine Minute, bevor er den Mund wieder wegnahm.
Verwundert trat ich an ihn heran, einfach weil er so schnell gar nicht fertig sein konnte und erkannte wo das Problem lag. Ohne seine Zähne, konnte er die Wunden nicht offen halten. Also wiederholten wir die Prozedur mehrere Mal. Am Ende war Tayfun zwar gestärkt, aber ich bezweifelte, dass er satt war. Leider schienen meine Fänge sich mittlerweile aber veräppelt vorzukommen. Ständig wurde ihnen Cios Blut versprochen, dann geschah aber doch nichts. Also beließen wir es für den Moment einfach.
Ich bedanke mich bei Helen mehrmals für ihre Geduld, war aber doch unendlich erleichtert, als ich sie endlich zur Tür hinausschieben konnte. Mittlerweile war ich müde und wegen der Blutsache ein wenig frustriert. Wenigsten hatte mein Blutdurst sich zurückgehalten. Das war so ziemlich das einzige Positive in dieser Nacht.
Bevor ich mich allerdings hinlegen konnte, musste ich noch einmal zu Tayfun zurück. Er sah nicht wirklich besser aus und irgendwie tat es mir weh ihn so zu sehen, einfach weil ich ihm helfen wollte, aber nicht wusste, wie ich das machen sollte.
Im Moment konnte ich nur eines tun, ihm ins Bett helfen und ja, ich deckte ich auch zu. Dann war ich eben eine Glucke, aber ich war der Meinung, dass er es in diesem Moment gebrauchen konnte. Er sollte einfach wissen, dass er nicht alleine war.
„Wenn noch etwas ist, wir sind nebenan“, erklärte ich ihm noch. Ich saß neben ihm auf der Bettkante und strich ihm über den Arm. „Du brauchst nur zu rufen.“
Das entlockte ihm ein kleines Lächeln. Leider erreichte es seine Augen nicht. „Es ist okay, Zaira.“ Seine rauchgrauen Augen richteten sich auf mich. „Geh schlafen, du siehst müde aus.“
Ich sah müde aus? Was sollte ich dann zu seinem Zustand sagen? „Ich will nur, dass du Bescheid weißt. Fühl dich einfach wie Zuhause.“
Anstatt zu Antworten, schloss er die Augen und atmete einmal tief durch.
Vorsichtig drückte ich seinen Arm und erhob mich dann. „Schlaf gut“, sagte ich noch und verließ dann das Zimmer. Um das Licht und die Tür kümmerte sich Cio, was mir die Gelegenheit gab, einmal richtig Luft zu holen. Was da mit Tayfun passiert war, es machte mich traurig und wütend zugleich. Ich mochte keine Gewalt und konnte nicht verstehen, wie jemand einem anderen Wesen sowas antun konnte. Diese Kerle hatten ihn nicht nur verletzt, sie hatten ihm verstümmelt. Der Abgebrochene Reißzahn, war eine Behinderung, mit der Tayfun nun den Rest seines Lebens auskommen musste und das nach allem, was er schon durchgemacht hatte. Das war einfach nicht fair.
„Alles in Ordnung?“, fragte Cio leise.
Ich warf ihm über die Schulter einen Blick zu, begann dann aber mich meiner Jeans zu entledigen und stattdessen wieder in meine Pyjamahose zu schlüpfen. „Es macht mich nur fertig“, sagte ich leise und zog den Bund über meinen Hintern. „Warum macht jemand sowas?“
„Es gibt leider in jeder Gesellschaft Ungeheuer.“
Das wusste ich nur zu gut. Ich musste nur an Iesha denken und bekam schon das Bedürfnis, mich irgendwo zu verkriechen.
Als ich darauf nichts erwiderte, setzte er sich in Bewegung. Ich hörte ihn näher kommen und bereitete mich innerlich darauf vor, dass er mich gleich berühren würde. Eine Hand auf der Hüfte, ein Kuss im Nacken, vielleicht sogar eine Umarmung von hinten. Umso erstaunt war ich, als er mich umrundete und sich vor mich stellte.
Wortlos schauten wir uns an. Da stand so viel zwischen uns, doch er wusste nicht, was genau es war und ich war nicht fähig darüber zu sprechen. Die Situation mit Tayfun machte es sogar noch komplizierter. Doch dann, trotz allem, lächelte er mich plötzlich mit diesem spitzbübischen Funke an, den ich so an ihm liebte.
„Ich hab mich ziemlich gut gehalten, oder?“
Nein, dem konnte ich mich nicht entziehen. Auch ich musste lächeln. „Deine Selbstbeherrschung ist ungebrochen. Du kannst stolz auf dich sein.“
„Hm“, machte er, griff nach meiner Hose, hakte seinen Finger in den Bund und zog er mich langsam näher. „Bist du denn stolz auf mich?“
Mein Lächeln verrutschte ein wenig. Das hatte nichts mit seinen Worten zu tun, es war die Angst vor seiner unmittelbaren Nähe. „Ich bin immer stolz auf dich“, versicherte ich ihn und versuchte meine Muskeln locker zu halten.
„Das höre ich gerne“, murmelte er und beugte sich zu mir vor. Als seine Lippen meine berührten und ich damit begann, den Kuss zu erwidern, wollte ich mich einfach nur hineinfallen lassen. Stattdessen spürte ich, wie mein Körper sich anspannte und mein Herzschlag sich aus den falschen Gründen beschleunigte.
Bleib ruhig, entspann dich, das ist Cio, er würde dir niemals wehtun. In den letzten Monaten hatte ich mir das so oft gesagt, nur irgendwie hatte es noch nie geholfen. Ich musste mich zwingen, meine Arme unten zu lassen und ihn nicht von mir zu stoßen. Als er dann auch noch eine Hand ein meine Hüfte legte und mit den Fingern unter mein Hemd schlüpfte, wurde es sogar noch schlimmer. Es war nur eine kleine Berührung, kaum ein Streifen meiner Haut und trotzdem war diese verdammt Angst mit einem Schlag wieder da. Aber ich musste nun still halten. Besonders nach dem was hier gerade los war, brauchte Cio das. Es war wichtig für ihn, er musste sich versichern, dass zwischen uns alles in Ordnung war.
Ich wusste nicht, ob er es spürte, oder er sowieso nicht mehr gewollt hatte, aber mit einem letzten Streifen seiner Lippen, löste er sich wieder von mir.
„Ich liebe dich“, sagte er so leise, dass ich wusste, diese Worte waren allein für meine Ohren bestimmt.
Es war nicht einfach, aber ich schaffte es mir ein Lächeln auf die Lippen zu zwingen. „Und ich werde nie genug davon haben, das zu hören.“
Damit entlockte ich ihm ein stilles Lachen. „Dann werde ich es dir wohl immer und immer wieder sagen müssen.“ Als er ein Stück zurück wich, konnte ich endlich wieder freier atmen, doch dann griff er nach den Knöpfen an meinem Hemd und begann sie nacheinander zu öffnen. „Wie lange muss ich ihn dulden, bevor ich ihn rausschmeißen darf?“
Das Gefühl, wie seine Hände meine Haut streiften, war sowohl willkommen, als auch angsteinflößend. Bleib ruhig! „Ich weiß nicht. Ein paar Tage, vielleicht eine Woche. Kommt darauf an, wie schnell seine Verletzungen heilen.“
Er schwieg, während er die letzten Knöpfe öffnete. Dann sagte er leise und ohne mich anzuschauen: „Er ist nicht dein Problem.“
„Er ist mein Freund.“ Ich trat zurück und kehrte ihn den Rücken, als ich das Hemd von meinen Schultern gleiten ließ. Zum Teil lag es daran, weil er keinen allzu genau Blick auf meinen Bauch bekommen sollte. Der Rest … daran wollte ich gar nicht denken. Deswegen schnappte ich mir hastig mein Pyjamahemd und streifte es mir über. „Währen ein paar Dinge anderes gelaufen, wäre er heute wohl auch dein Freund.“
„Die Dinge sind nun einmal wie sie sind.“
„Ja, leider“, stimmte ich ihm leise zu und legte mich auf die Couch, um noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Leider waren all die grauenhaften Dinge wie sie waren und niemand konnte etwas dagegen tun.
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„Hier, nimm die.“ Ich hielt Tayfun zwei Ibuprofen und ein Glas Wasser unter die Nase. „Vielleicht gehen damit ja endlich die Kopfschmerzen weg.“
Er versuchte zu lächeln, doch eigentlich sah er einfach nur traurig aus. „Danke“, sagte er schwach und nahm beides entgegen.
Wir hatten Vormittag und er war etwas vor einer halben Stunde aufgewacht. Auf meine Bitte hin hatte Cio ihm auf die Couch geholfen. Hier konnte ich ihn nicht nur besser im Auge behalten, hier war er mit seinen Gedanken auch nicht ganz allein und das fand ich wichtig. Es war niemals gut mit seinen Gedanken allein zu sein, besonders nicht, nachdem einem so etwas schreckliches widerfahren war. „Wenn du sonst noch etwas brauchst …“
„Bitte“, unterbrach er mich. „Mach nicht so ein Aufhebens um mich, das ist nicht nötig.“
„Tu ich doch gar nicht“, behauptete ich und ging wieder hinüber zur Küchenzeile, damit meine Pfannkuchen nicht anbrannten.
„Doch, tust du“, widersprach Cio mir und grinste frech, als ich ihm einen bösen Blick zuwarf. Seltsamerweise verkroch er sich nicht bibbernd vor Angst unter dem flachen Couchtisch. Ich würde wohl an meinem finsteren Blick arbeiten müssen. „Wärst du nicht meine Traumfrau, würde ich sogar behaupten, du seist eine Glucke.“
„Na hab ich ein Glück“, sagte ich und hob den Pfannkuchen aus der Pfanne, um ihn meinem Stapel hinzuzufügen.
„Wenn du anfängst, ihm einen Sabberlatz umbinden und ihn mit den Worten, hier kommt das Flugzeug, fütterst, werde ich mich gezwungen sehen, einzugreifen.“
Oh Mann. „Geh duschen, du Komiker, damit du noch etwas essen kannst, bevor du zur Arbeit musst.“ Ich kippte eine weitere Kelle von dem Pfannkuchenteig in die Pfanne und holte dann das Tablett auf dem Schrank, um den Tisch für ein spätes Frühstück decken zu können.
„Ich würde ja fragen, ob du mitkommst“, sagte Cio leichthin und erhob sich von seinem Sessel, „aber dann werde ich definitiv nicht mehr zum Essen kommen. Dafür aber wahrscheinlich zu spät zur Arbeit.“
Als ich ihm über die Schulter hinweg einen Blick zuwarf, zwinkerte er mir zu und verschwand dann im Bad.
Ich erwiderte dieses Lächeln nicht. Die Worte waren nur zum Teil für mich gedacht gewesen. Nicht das ich glaubte, er würde mich abweisen, wenn ich ihm hinterher kam. Zum Teufel, er würde das Essen dafür vermutlich liebend gern sausen lassen, doch er hatte das nur gesagt, um Tayfun damit einmal wieder vor Augen zu führen, dass ich zu ihm gehörte. Das hatte er heute schon ein paar Mal gemacht. Außerdem … wir hatten schon lange keinen Sex mehr gehabt.
Dieser Gedanke sorgte nicht gerade für ein Hochgefühl bei mir. Es lag nicht an ihm, es lag an mir und ich wusste nicht, wie ich es ändern sollte.
Vielleicht zwei Wochen nach meiner Entführung durch Cios Ex-Freundin, hatte ich ernsthaft versucht, ihm nahe zu sein. Er war toll gewesen, einfühlsam und rücksichtsvoll, doch ich hatte mich nicht wirklich darauf einlassen können. Da waren immer wieder diese Bilder in meinem Kopf gewesen. Das Totenkopfgraffiti und Owens Gesicht. Ich hatte mitgemacht, weil ich das ja auch gewollt hatte, doch sobald Cio eingeschlafen war, hatte ich mich ins Bad geschlichen und leise geweint.
Er wusste es bis heute nicht, ich hatte es ihm nicht gesagt, doch er musste gespürt haben, dass etwas ganz und gar verkehrt lief. Seit dem hatte er nicht mehr versucht mich zu verführen – nicht mal, wenn ich sein Blut getrunken hatte. Selbst seine Scherze, soweit sie dieses Thema betrafen, hatte er bis auf ein Minimum zurückgeschraubt.
Er war damit nicht glücklich, das wusste ich, aber ich wusste nicht, was ich dagegen tun sollte. Darum machte ich das, was ich immer machte, wenn diese Gedanken wieder drohten, an die Oberfläche zu kommen. Ich verdrängte sie und konzentrierte mich auf etwas anderes. Das war bei Weitem leichter, als sich um das eigentliche Problem zu kümmern.
„Ich habe vorhin ein wenig im Internet nachgeforscht“, sagte ich zu Tayfun und wendete den Pfannkuchen. Es zischte und spritzte und auch wenn ich kein Fünf-Sterne-Koch war, so duftete es lecker. „Es gibt Prothesen für Reißzähne, so ähnlich wie eine Krone. Er würde zwar trotzdem nicht mehr funktionieren, aber er würde normal aussehen und die Bisswunde offen halten.“ Ich leerte die Pfanne und goss dann den restlichen Teig hinein. Als es weiterhin still blieb, drehte ich mich zu unserem Gast um.
Das Wasserglas stand halb leer auf dem Tisch. Er starrte es an, während sein Daumen unruhig über seinen Zeigefinger rieb.
Er sah schon besser aus, als noch vor sieben Stunden. Die Schwellung an seinem Auge war zurückgegangen und die Platzwunden hatten sich geschossen, doch sein Gesicht und sein Oberkörper schillerten noch immer in einem Meer aus Blau-, Grün- und Gelbtönen.
„Es wäre nicht perfekt, aber … vielleicht könnte es dir helfen.“
Seine Lippen verzogen sich zu einem freudlosen Lächeln. „Es wird niemals mehr perfekt sein. Ab jetzt wird es immer nur etwas halbes sein. Für mich, für die Wirte.“
Verdammt, ich hatte ihm damit eigentlich aufmuntern und nicht in eine Depression stürzen wollen. „Also“, begann ich langsam und versicherte mich mit einem Blick zum Badezimmer, dass die Tür auch fest verschlossen war. „Ich erinnere mich noch sehr gut an deinen Biss.“
Diese Worte reichten, um seine Aufmerksamkeit zu wecken.
„Es hätte sicher seine Vorteile, wenn dieser Rausch noch so über einen hinein bricht, sondern langsam und beständig anwächst.“ Denn das Sekret eines Vampirs wurde so lange in die Wunde gepumpt, wie der Zahn in der Haut war.
Ein einziges Mal in meinem Leben hatte ich mich beißen lassen und zwar von Tayfun. Cio war dabei gewesen und das Erlebnis … wow. Ich kannte nichts, womit ich es vergleichen konnte. Ich hatte mich gefühlt, als würde ich in einem Meer aus Glück und Licht schwimmen und auch wenn ich es Cio nicht unter die Nase reiben würde, so dachte ich hin und wieder doch ganz gerne daran.
Tayfun musterte mich eine ganze Weile wortlos. Und als er dann den Mund öffnete, hätte ich mit vielem gerechnet, aber nicht mit dem, was er dann sagte. „Dein Pfannkuchen brennt an.“
Erschrocken wirbelte ich herum und riss dann fluchend die Pfanne vom Herd. Er lachte leise, während ich versuchte meine letzte Kreation zu retten. Leider musste ich sehr schnell feststellen, dass es da nichts mehr zu retten gab, denn Grillkohle stand bei uns nun mal nicht auf der Speisekarte.
Verdammt, warum hatte ich das nicht gerochen? Ich hatte doch direkt daneben gestanden. Sei es wie es sei, der Pfannkuchen landete im Müll und die Pfanne im Abwasch. Der Rest war in Ordnung und würde reichen, um zwei hungrige Männer satt zu bekommen.
„Musst du dich bei den Themis melden?“, fragte ich, während ich den Teller mit den Pfannkuchen auf das Tablet stellte.
Die Themis war eine Gruppe im Dienst der Königin, die sowohl für die Rettung von Sklaven, als auch zur Vernichtung der Sklavenhändler und ihren Konsorten, gedacht war. Genau wie mein Vater und meine leibliche Mutter, gehörte Tayfun zu diesen Leuten.
„Ich habe eine Nachricht an die Zentrale geschickt.“ Er verzog das Gesicht, als er sich in die Kissen lehnen wollte. „Sie wissen, dass ich die nächsten Tage … verhindert bin.“
So konnte man das natürlich auch umschreiben, obwohl ich noch immer nicht verstand, wovor er sich eigentlich fürchtete.
Früher war Tayfun selber einmal ein Sklave gewesen und die Themis hatten ihn gerettet. Er hatte mir einmal erzählt, dass er bei ihnen war, weil man dort wusste, wie man mit ihm umgehen musste. Das machte es für mich umso seltsamer, dass er sich nun davor fürchtete, sich wieder in ihre Obhut zu begeben. Die Themis wussten schließlich, wie man mit verletzten und traumatisierten Leuten umging. Ganz im Gegenteil zu mir, für mich war das ungewohntes Terrain. Das Einzige was ich tun konnte, war für ihn da zu sein und ihm zu helfen, wenn er meine Hilfe brauchte.
Vielleicht reichte das ja auch schon. Vielleicht brauchte er im Moment einfach nur einen Platz, an dem er sich sicher fühlen konnte. Und an dem er ein gutes Frühstück bekam.
Ich bestückte das Tablett noch mit Tellern, Besteck und Brot und machte mich dann am Kühlschrank zu schaffen. Wurst für die Männer, Käse für mich und … uh, wir hatten noch Paprika. Ich liebte Paprika. Als Vegetarier, gab es viele Obst- und Gemüsesorten, auf meinem Speiseplan, Paprika stand da ganz oben auf der Liste. Außer die grünen, die mochte ich nicht besonders.
Ich legte meine Beute zu dem Rest auf die Anrichte und tauchte noch einmal tief im Kühlschrank ab. Ich brauchte noch die Vanillesoße für die Pfannkuchen. Wir hatten eigentlich immer welche im Haus, denn Cio war ein kleines Schleckermaul. Er aß zwar nicht oft süße Dinge, aber wenn, dann mit sehr viel Genuss. Das war der einzige Grund, warum ich mich morgens manchmal an den Herd stellte und kochte. Mir würden Cornflakes reichen.
Da die Vanillesoße sich heute ziemlich gut verstecke, musste ich auf der Suche nach ihr alle Fächer durchsuchen. Nein, nein, nein und war das überhaupt noch gut? Ich griff nach der offenen Dose mit der eingelegten Annans und …
Eine Berührung an meinem Hintern ließ mich so heftig zusammenzucken, dass meine Hände gegen die Glasplatte im Kehrschrank stießen. Sie krachte herunter. Essen fiel auf die unteren Fächer und auf den Boden. Ich fuhr herum und sah mit Entsetzen einen dünnen Mann mit blonden Haaren und einer scharf geschnittenen Nase vor mir. Nein!
Eine Welle der Übelkeit überrollte mich. Dann verblasste das Bild und vor mir stand Cio. Seine Haare waren noch feucht und um seine Hüfte hatte er ein Handtuch geschlungen.
„Schäfchen?“, fragte er sanft und musterte mich besorgt.
Ich schloss die Augen und versuchte mein wild pochendes Herz wieder unter Kontrolle zu bekommen. Cio, das war nur Cio. Ich war nicht in dem Stall, Owen ist tot, ich hatte ihn getötet.
„Zaira?“
Meine Augen öffneten sich nur langsam und von dem Lächeln, dass ich auf meine Lippen zwang, tat mir das Gesicht weh. „Tut mir leid, ich hab mich erschrocken.“ Ich senkte den Blick auf das Chaos, dass ich angerichtet hatte, nur um ihm nicht in die Augen schauen zu müssen.
Mit meiner Aktion hatte ich den halben Kühlschrank ausgeräumt. Überall lag Essen herum. Die Eier waren kaputt gegangen, das Glas mit der Tomatensoße zerbrochen und die Dose mit der Suppe aufgegangen. Das ganze Zeit hatte sich nicht nur vor dem Kühlschrank verteilt, es war auch gegen die Schränke und meine Hose gespritzt.
Eine zarte Berührung an der Wange, ließ mich nicht nur aufblicken, sondern mein Herz gleich wieder schneller schlagen. Ich spannte mich an und es war gar nicht so einfach, mein Lächeln beizubehalten.
„I-ich“, stotterte ich und versuchte zurückzuweichen, ohne mit meinen Socken in dem Brei auf dem Boden zu latschen. „Ich mache das nur schnell sauber.“ Ich wollte mich abwenden, doch da griff er nach meinem Handgelenk und hielt mich fest.
Das war beinahe zu viel für mich. Ich spürte, wie mein Atem ein wenig schneller wurde, aber ich konnte nichts dagegen tun.
„Geh dich sauber machen“, sagte er leise und ließ mich wieder los. Dabei strich sein Finger ganz zart über meinen viel zu schnellen Puls. „Ich mach das hier wag.“
„Okay.“ Ich wich eilig vor ihm zurück. „Dann … ihr könnt ja schon mal essen.“ Als ich mich umdrehte, bemerkte ich das Stirnrunzeln auf Tayfuns Stirn, aber darum konnte ich mich jetzt nicht kümmern. Ich brauchte jetzt einen Moment für mich, also eilte ich ins Bad, schloss die Tür und verriegelte das Schloss. Dann sackte ich einfach in mich zusammen.
Es war mir egal, dass meine Hose dreckig war, ich zog die Beine trotzdem an die Brust, verbarg meinen Kopf dazwischen und schlang die Arme darum. Atme, befahl ich mir. Atme einfach.
Gott, wann hörte das nur endlich auf? Der Mistkerl war tot, also warum ließen die Erinnerungen mich nicht einfach in ruhe? Er sollte endlich aus meinem Kopf verschwinden.
Ich wusste ganz genau, warum er trotzdem noch da war. Meine Schuldgefühle fraßen mich schließlich jeden Tag ein kleinen wenig mehr auf. Wegen dem was ich getan hatte und auch, weil ich es noch immer vor Cio verbarg. Er vertraute mir, aber ich … ich betrog ihn jeden Tag aufs Neue.
Ganz am Anfang, vor fast vier Jahre und noch bevor Cio und ich ein Paar geworden waren, hatten wir uns ein Versprechen gegeben. Keine Lügen. Egal was wir angestellt hatten, wir würden uns die Wahrheit sagen. Mit meinem Schweigen belog ich ihn nicht direkt, aber es fühlte sich genauso an. Das machte mich fertig. Das machte ihn fertig, aber ich konnte es ihm nicht sagen. Wenn er wüsste, was ich getan hatte, würde er mich verlassen.
Letztes Jahr hatte ich mich einmal mit ihm gestritten. Ich hatte mich daraufhin bei Tayfun verkrochen und die Nacht bei ihm geschlafen. Es war alles ganz harmlos gewesen. Wir hatten nur einen Film geschaut und waren dabei eingeschlafen, doch als Cio mich bei ihm gefunden hatte, war unsere Beziehung daran fast zerbrochen. Damals war nichts geschehen, aber dieses Mal schon. Diese Schuld würde er mir nicht verzeihen können. Wie sollte er auch? Das was ich getan hatte … es einfach nicht zu verzeihen.
Ich war schmutzig und unwürdig, denn ich hatte es erlaubt. Nein, viel schlimmer, ich hatte sogar mitgemacht. Wenn Cio das jemals erfuhr, würde er mir den Rücken kehren und gehen. Das würde ich nicht verkraften. Oh Gott, ich durfte ihn nicht verlieren.
Ich verbot mir zu weinen. Nicht nur, weil die Männer mich nicht hören sollten, dies war meine Strafe, meine ganz persönliche Hölle für das was ich getan hatte. Ich hatte nicht das Recht zu weinen und um Mitleid zu bitten. Ich hatte schon schlimme Dinge getan. Ich hatte getötet, fünf Leben, die durch mich ihr Ende gefunden hatten, aber nichts davon war so schlimm, wie dieses Geheimnis.
Im Bad hatten wir keine Uhr, darum wusste ich nicht, wie spät es war, als es leise an der Tür klopfte. Da ich damit auch nicht gerechnet hatte, zuckte ich bei dem Geräusch zusammen.
„Schäfchen?“, hörte ich Cios Stimme gedämpft. Die Tür schloss den besorgten Tonfall darin nicht aus. „Alles okay da drin?“
„Ja …“ Ich musste mich räuspern, weil meine Stimme belegt war. „Ja, klar, alles gut. Ich bin gleich fertig.“
Es dauerte einen Moment, bevor er darauf antwortete. „Okay. Ich muss gleich zu Arbeit und ich wollte dich vorher noch sehen.“
Oh Gott, war ich wirklich schon so lange hier drin? „Dauert nicht mehr lange“, versprach ich ihm.
„Okay“, sagte er noch einmal und ich hatte das Gefühl, wäre Tayfun nicht da, hätte er noch etwas hinzugefügt. So aber entfernten seine Schritte sich vom Bad.
Ich dagegen zwang mich, auf die Beine zu kommen und unter die dusche zu steigen. Früher hatte es mir immer geholfen, meine Sorgen und Probleme einfach mit dem Wasser in dem Abfluss verschwunden zu lassen, heute war es nur noch etwas, dass ich tat, weil es getan werden musste. Das warme Wasser zu genießen, fiel mir nicht sehr leicht, denn wenn ich allein unter dem Strahl stand, begann ich nachzudenken und das war etwas, dass ich auch nicht mehr gerne tat. Darum hielt ich die Dusche kurz, schnappte mir dann mein großes Handtuch und trocknete mich damit ab.
Als ich mich gerade darin einwickeln wollte, hielt ich aber nochmal inne und stellte mich stattdessen vor den großen Spiegel an der Wand.
Ich war keine Schönheitskönigin. Ich war es nie gewesen und ich würde es auch niemals sein. Ich aß oft und gerne Gummibärchen und das sah man meinen Hüften und meinem Hintern leider an. Mein schwarzes Haar war etwas mehr als schulterlang und meine Augen waren von einem tiefen Ozeanblau. Ausnahmsweise konnte ich es mal ohne Brille sehen, die ich wegen meiner Kurzsichtigkeit tragen musste. Aber das wohl auffälligste Merkmal an mir war meine große Brust. Sie war auch der Grund, warum ich schon seit meiner Pubertät ausgebeulte Jeans und weite Männerhemden trug. Ich mochte es einfach nicht, wenn man mir dort drauf starrte. Wenn Cio sie sah, gefiel mir das, bei allen anderen konnte ich dankend darauf verzichten.
Direkt zwischen meiner Brust, aufgefädelt an einem einfachen Lederband, hing mein Verlobungsring. Sein Anblick machte mich ein wenig traurig, denn wenn man es genau nahm, war es nicht der Verlobungsring, es war ein Ersatz für den, den ich verloren hatte. Wobei das auch nicht wirklich stimmte, ich hatte ihn nicht verloren, man hatte ihn mir vom Hals gerissen und weggeschmissen.
Es war nun knapp fünf Monate her, seit Cio mich auf einen Spaziergang mitgenommen hatte, um mich bei Sonnenuntergange an einem See zu fragen, ob ich den Rest meins Lebens mit ihm verbringen wollte. Ich hatte ja gesagt und war ihm vor Freude um den Hals gefallen, doch als wir diesen Schritt dann hatten wagen wollten … nein. Ich verbot mir daran zu denken, was an diesem Tag geschehen war. Stattdessen ließ ich meine Hand langsam zu meinem Bauch wandern. In den letzten Monaten hatte ich ein wenig abgenommen. In stressigen Situationen hatte ich schon immer dazu geneigt, den Appetit zu verlieren und die letzten Monate waren mehr als nur stressig gewesen.
Trotzdem war ich nicht wirklich dünner geworden. Mein Bauch wölbte sich ganz leicht, genau da wo der kleine Passagier jeden Tag ein kleinen wenig größer wurde.
Seit vier Monaten trug ich dieses Baby nun schon unterm Herzen. Nein, nicht dieses Baby, Cios Baby. Mein Leib barg Cios Baby. Das war einer der wenigen Gedanken, die mir noch ein Lächeln auf die Lippen zaubern konnten. „Wir haben fast Halbzeit, kleiner Schatz“, erklärte ich meinem Bauch und strich vorsichtig darüber. Ich stellte mir gerne vor, dass der kleine Passagier das spüren konnte.
Am Anfang war der Gedanke jetzt schon ein Baby zu bekommen, noch ein wenig befremdlich gewesen. Ich wusste zwar, dass Cio sich ein Kind wünschte, aber ich war jetzt gerade mal vierundzwanzig. Cio war sogar noch ein Jahr jünger als ich. Diese Schwangerschaft war nicht geplant gewesen, doch nun freute ich mich jeden Tag mehr darauf, bald mein Baby im Arm halten zu können. Und ich freute mich auch darauf, es Cio zu sagen. Noch siebzehn Tage, dann würde ich es tun, denn in siebzehn Tagen war Valentinstag. Das war wohl die größte Freude, die ich ihn an diesem Tag machen konnte. Es war mein Geschenk. Obwohl, wenn man es genau nahm, war er an diesem Geschenk ja beteiligt gewesen.
Dieser Gedanke ließ mich trotz allem Schmunzeln und so hatte ich ein kleines Lächeln im Gesicht, als ich mich in mein übergroßes Handtuch wickelte und das Badezimmer verließ.
Tayfun saß noch immer auf der Couch, Cio auf seinem Sessel daneben. Sie waren gerade beim Essen, schauten jedoch auf, als ich aus dem Bad kam und musterten mich. Naja, Cio musterte mich nur einen kurzen Moment, dann versuchte er plötzlich Tayfun mit Blicken zu erdolchen. „Wenn du nicht willst, dass ich dir wehtue, solltest du besser auf deinen Teller gucken.“
„Cio“, mahnte ich und ging zu seinem Sessel. Das Handtuch war so groß, dass man kaum mehr als meine Füße und meine Arme sehen konnte.
Als er mir missmutig das Gesicht zudrehte, gab ich ihm einen kleinen Kuss. „Danke dass du sauber gemacht hast.“ Ja, mir war sehr wohl aufgefallen, dass er das Desaster beim Kühlschrank restlos beseitigt hatte.
Sein Züge in seinem Gesicht wurden weicher. „Kein Problem.“ Seine Hand legte sich an meiner Hüfte.
Bleib entspannt!
„Alles in Ordnung?“
„Natürlich.“ Ich nahm seine Hand. Es fiel mir leichter sie festzuhalten, als sie dort zu spüren. „Ich hatte einfach nur Lust auf eine sehr ausgiebige Dusche.“
Wir wussten beide, dass das nicht stimmte und auch wenn es nur ein kleines Flunkern war, fühlte ich mich sofort schlecht. In der letzten Zeit flunkerte ich sehr viel. Mir blieb gar nichts anderes übrig. Das war keine Entschuldigung, höchstens eine Erklärung, wenn auch keine gute.
Ich drückte seine Hand noch mal und trat dann zurück. „Ich gehe mich nur rasch anziehen. Bin gleich wieder da.“
„Okay.“
Als ich seine Hand losließ und zum Schlafzimmer ging, behielt er mich im Auge. Wahrscheinlich bemerkte er deswegen nicht, wie Tayfun ihn misstrauisch aus dem Augenwinkel beobachtete. Ich wundert mich war etwas darüber und fragte mich, was nun schon wieder los war, aber da die beiden ansonsten friedlich waren, huscht ich einfach ins Nebenzimmer und schloss die Tür. Dann atmete ich einmal tief durch.
„Okay, kleiner Passagier, Krise überstanden.“ Zumindest für den Moment.
Meine Klamotten lagen zu einem Großteil noch in den Kartons – naja, wenn man von denen auf dem Boden einmal absah. Irgendwie hatte mich das Zusammenleben mit Cio ein wenig unordentlich gemacht. Daran sollte ich schleunigst arbeiten, bevor wir hier noch im Chaos versanken. Ein paar Schränke, in denen ich meine Sachen unterbringen könnte, wären vermutlich ganz hilfreich. Leider mangelte es bei uns sehr stark an Platz und so blieb mir im Moment gar nichts anderes übrig, als aus Kisten zu leben. Aber das würde sich sicher bald ändern. Gezwungenermaßen. Es hatte also einen glücklichen Nebeneffekt ein Baby zu bekommen.
Ich schnappte mir Socken, Unterwäsche und zur Abwechslung einmal eine schwarze Jeans, die ich mit einem rotkarierten Hemd kombinierte. Ich war gerade dabei die letzten Knöpfe zu schließen, als sich die Tür hinter mir öffnete und Cio und den Raum schlüpfte.
„Ich muss los“, erklärte er.
Ich setzte mich auf die Bettkante, um mir auch noch die Socken anzuziehen. „Hast du nicht eine Kleinigkeit vergessen?“
„Vergessen?“
„Deine Uniform?“ Ich wusste, dass er deswegen hier reingekommen war, aber das bedeutete ja noch lange nicht, dass ich ihn nicht ein bisschen aufziehen und auf andere Gedanken bringen konnte. Ich wollte nicht, dass er an den Vorfall mit dem Kühlschrank dachte, wenn er das Haus verließ. Oder mich sogar jetzt noch darauf ansprach. Das gehörte zu den Sachen, die ich lieber verdrängte, weil ich sonst die Büchse der Pandora in meinem Kopf öffnen müsste und ich wusste nicht, wie ich die wieder schließen sollte.
Er grinste spitzbübisch, während er schon nach dem Saum seines Shirts griff. „Du willst doch nur, dass ich mich ausziehe.“
„Mist“, fluchte ich und zog die Beine aufs Bett, um ihm beim Umziehen zuzugucken. „Bin ich so durchschaubar?“
„Ein wenig.“ Er entledigte sich seiner Klamotten und warf gerade seine Hose zur Seite, als sein Handy verkündete, dass für ihn eine Nachricht eingetroffen war. Er warf nur einen kurzen Blick aufs Display, steckte das Handy dann wieder weg, ohne die Nachricht zu lesen und griff dann nach der schwarzen Wächteruniform, die ordentlich an Bügel und Haken an der Wand hing. Der Mann konnte absolut keine Ordnung halten, aber seine Arbeitskleidung behandelte er wie ein rohes Ei.
Ich hatte schon merkwürdige Dinge erlebt.
„Weißt du, wer uns schon lange nicht mehr besucht hat?“, fragte er, als er sich die Hose über den Hintern zog.
Hm, wenn ich genau darüber nachdachte, kamen da eine Menge Leute in Frage, einfach weil wir selten Besuch hatten. Aber wenn er sowas fragte, wollte er damit auf jemanden bestimmten raus. „Wer?“
„Das Frettchen.“ Er schnappte sich das schwarze Muskelshirt und griff dann nach der Jacke. Kombiniert wirkten die Teile wie eine schwarze Militäruniform. Ich fand sie stand ihm. „Das sollten wir unbedingt ändern. Am Besten rufst du gleich mal an und lädst ihn ein. Wenn er sich beeilt, kann er in einer halben Stunde hier sein.“
Wirklich, sehr subtil. „Ich muss arbeiten, Cio. Ich habe einen Kundenauftrag und der muss nächste Woche fertig sein.“
„Naja, er kann sich ja still hinsetzen und dir zuschauen.“ Er griff nach hinten, um seinen Kragen zu richten, bekam ihn aber nicht zu fassen. „Das wäre genauso, als wäre er Zuhause, nur dass er dann hier ist.“
Da ich mir dieses Leid nicht ansehen konnte, erhob ich mich und erledigte die Sache mit dem Kragen selber. „Davon abgesehen, dass es mich wahnsinnig machen würde, wenn mir bei der Arbeit die ganze Zeit jemand über die Schulter gucken würde, ich will nichts von Tayfun. Jetzt nicht und auch nicht in Zukunft. Du kannst beruhigt zur Arbeit gehen, hier wird nichts passieren.“
Diese Antwort stellte ihn leider nicht zufrieden. „Aber du weißt nicht was er will.“
„Es ist egal was er will, wenn ich da nicht mitspiele. Und bevor da jetzt irgendwelche seltsamen Ideen aus deinem Mund kommen, er ist schwer verletzt. Selbst wenn er etwas vorhätte – was ich nicht glaube – könnte er es nicht mal umsetzen. Er kann ja nicht mal richtig laufen.“
Er starrte mich nur an.
„Cio, bitte, vertrau mir.“
„Dir vertraue ich ja, aber ihm nicht.“ Als ich ihn nur stumm anschaute, seufzte er äußerst unzufrieden. „Na schön.“
„Danke.“ Ich beute mich vor und gab ihm einen kleinen Kuss. „Und jetzt geh zur Arbeit, bevor du noch zu spät kommst.“
„Okay, aber … vielleicht solltest du dir deinen Elektroschocker in die Hosentasche stecken.“ Er schaute mich ganz unschuldig an. „Nur so zur Sicherheit.“
„Cio.“
Er grinste. „Weißt du, ich warte noch immer darauf, dass du mir endlich einen Spitznamen verpasst. Bärchen würde mir gefallen, oder auch Held. Mit Baby würde ich mich auch zufrieden geben.“
Oh Mann. „Okay, Bärchenheldbaby, du musst trotzdem zur Arbeit und ich muss an meinen Computer.“
Er lachte leise, küsste mich noch einmal und verließ dann das Schlafzimmer. Ich folgte ihm zur Wohnungstür und schaute dabei zu, wie er die drei Schlösser öffnete. „Ich bringe heute Abend etwas zum Essen mit, dann brauchst du nicht kochen.“
„Okay.“
„Dann bis nachher.“ Er wollte sich noch zu einem Abschiedskuss vorbeugen und ich spannte mich deswegen schon an, doch in dem Moment begann mein Handy auf dem Schreibtisch zu klingeln.
Ich drehte mich kurz danach um und schob ihn dann ohne Kuss aus der Tür hinaus. „Wir sehen uns heute Abend“, sagte ich noch und sobald er nickte, schloss ich die Tür. Da mein Handy auch weiterhin nach Aufmerksamkeit lechzte, eilte ich zum Schreibtisch, doch in dem Moment, als ich es in die Hand nahm, verstummte es. Ein Blick aufs Display, zeigte mir eine äußerst seltsame Nummer. Sie war voller Einsen und Achten. Und sie war mir unbekannt.
Kurz überlegte ich, direkt zurückzurufen, aber eigentlich wollte ich erstmal eine Kleinigkeit essen. Ich hatte zwar keinen Hunger, aber ich war schwanger und deswegen achtete ich sehr genau darauf, drei Mal am Tag wenigstens eine Kleinigkeit zu mir zu nehmen.
Ach, wenn es wirklich wichtig wäre, würde der Anrufer sich selber noch mal melden. Trotzdem nahm ich das Handy vorsichtshalber mit zur Couch, als ich mich neben Tayfun setzte. Es waren sogar noch ein paar Pfannkuchen übrig, von dem ich mir nun einen auf den Teller legte. Dabei bemerkte ich Tayfuns seltsamen Blick. „Stimmt was nicht?“, fragte ich und schmierte mir etwas von der Erdbeermarmelade auf den Pfannkuchen.
Es dauerte einen Moment, bis er darauf reagierte. „Er tu dir weh, oder?“
Ich hatte gerade nach meiner Gabel greifen wollen, schaute ihn nun aber irritiert an. „Was?“
„Ich habe gesagt, er tut dir weh.“
„Wer tut mir weh?“
Der Ausdruck in seinem Gesicht verdüsterte sich ein wenig. „Verkauf mich nicht für dumm, ich kenne die Anzeichen, ich habe es selber durchgemacht. Du bist vorhin fast an die Decke gesprungen, als Cio dich angefasst hat. Du weichst vor ihm zurück und du scheust seine Berührungen. Immer wenn er dir nahe kommt, wirst du stocksteif.“
Mein einem Schlag, wich mir all meine Farbe aus dem Gesicht und ein Ausdruck des Entsetzens machte sich darauf breit. Mehrere Sekunden konnte ich nichts anderes tun, als ihn erschrocken anzustarren. Nicht weil er die Wahrheit erkannt hatte, sondern weil er die Zeichen zu deuten wusste. Er wusste, dass etwas passiert war, weit mehr als eine einfache Entführung von einer mordlustigen Verrückten. Und doch kam er mit seinen Gedanken nicht mal in die Nähe der Wahrheit. Und ich musste dafür sorgen, dass es auch so blieb. Das war etwas, das niemanden etwas anging – auch ihn nicht. „Das ist absurd“, zwang ich mich deswegen zu sagen. Gleichzeitig griff ich nach meiner Gabel. Wenn ich so tat, als wäre alles in Ordnung, dann wäre es das auch. „Cio würde mir niemals wehtun.“
Der Ausdruck in seinem Gesicht wurde weicher. „Zaira, du weißt wer ich bin, du weißt, was ich erlebt habe. Du musst das nicht durchmachen. Ich weiß, dass es wehtut, besonders wenn es ein Mensch ist, den man liebt, aber niemand hat das Recht …“
„Hör auf.“ Die Worte waren ganz leise, doch es schwang eine sehr deutliche Warnung darin mit.
Da Tayfun schon immer vor aggressiven Lykanern zurückgeschreckt war, wunderte es mich gar nicht, dass er mich zwar wachsam im Auge behielt, den Mund aber sofort zuklappte.
Verdammt, war das wirklich so auffällig gewesen, oder hatte Tayfun mein Verhalten einfach nur bemerkt, weil ihm selber so viel Scheiße widerfahren war? Eigentlich war das auch egal, denn wichtig war nur eines: „Cio hat mich noch nie gegen meinen Willen angerührt“, versicherte ich ihm.
Er hörte zu, aber er glaubte es nicht, ich erkannte es an seinem Blick.
„Cio würde sowas niemals tun.“
Er presste die Lippen aufeinander, als wollte er sich selber am Sprechen hindern und drehte den Kopf weg. Seine Hände waren zu Fäuste geballt und ich stellte fest, dass meine es auch waren. Ich kniff einen Augenblick die Augen zusammen und versuchte gegen dieses Gefühl der Angst anzukämpfen. Der Totenschädel, seine Hand auf meiner Haut. Die Geräusche, die er gemacht hatte, der modrige Geruch in der Stallbox.
„Ich kann dir helfen“, sagte er leise. „Wenn du es erlaubst, kann ich dir helfen. Du kannst das beenden.“
„Ich habe es doch schon längst beendet.“ Meine Worte waren kaum mehr als ein Flüstern.
Ich spürte wie er den Blick auf mich richtete. Er verstand nicht, was ich damit meinte und wenn ich ehrlich war, dann wollte ich auch nicht, dass er es verstand. Am Besten wäre es, wenn ich ihn von diesem Thema abbrachte und ihn zwang, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Nur was? Ein unverfängliches Thema wäre wahrscheinlich gut. „Wie läuft die Arbeit?“ Genau, Smalltalk war völlig unverfänglich.
Leider antwortete er nicht darauf.
Ich zwang mich ein Stück von meinem Pfandkuchen abzutrennen und mir das kleine Stück in den Mund zu stecken. Wenn er nicht reden wollte, gut, aber ich würde nicht …
„Zaira“, sagte er leise und dann spürte ich, wie er mir vorsichtig eine Hand auf meine legte. Meine Finger zitterten.
„Bitte“, flehte ich und war mir selber nicht sicher, was genau ich eigentlich von ihm wollte. Sollte er aufhören? Verschwinden? Das kleine, weinende Mädchen in mir tröstend in den Arm nehmen und versprechen, dass alles wieder gut werden würde?
Aber es würde nicht mehr gut werden. Das was ich getan hatte … es würde den Rest meines Lebens an mir kleben und mich nie wieder loslassen.
Meine Augen begann zu brenne und auf einmal spürte ich, wie eine kleine Träne über meine Wange lief. Ich kniff die Augen zusammen, aber das machte es nicht besser. Mit einem Mal wurde ich in einen Strudel aus Bildern gerissen und war plötzlich wieder mittendrin. Ich sah wie Wächter Owen McKinsey in diese verdammte Pferdebox trat, in der Iesha mich hatte einsperren lassen. Ich spürte wieder, wie er mich hochriss und mit dem Gesicht voran gegen die Wand drückte, genau auf das Graffiti mit dem Totenschädel. Ich fühlte wie er sich gegen mich drängte und mich anfasste. Das Geräusch, wie er den Reißverschluss seiner Hose öffnete, verfolgte mich noch heute bis in meine Träume. Aber so schrecklich all das auch gewesen war, es war nichts im Vergleich zu dem, was anschließend geschehen war.
Um der Vergewaltigung zu entgehen, hatte ich ihm erlaubt mich anzufassen – überall. Und ich … ich hatte ihn angefasst – freiwillig. Ich hatte es nicht gewollt, aber ich hatte es tun müssen. Es war ein Trick. Ich musste ihn ablenken, um im richtigen Moment zuschlagen zu können.
Es hatte funktioniert, ich hatte ihn getötet, aber das befreite mich nicht von meiner Schuld, ganz im Gegenteil, es machte sie sogar noch größer. Erst hatte ich ihm erlaubt mich anzufassen und dann hatte ich ein Leben ausgelöscht. Oh Gott, ich hatte es nicht gewollt, aber ich hatte es getan.
„Zaira“, sagte Tayfun ganz sanft und riss mich damit aus dieser entsetzlichen Erinnerung.
Als ich die Augen wieder aufschlug, sah ich, dass er ein Stück näher gerückt war und mir ein Taschentuch unter die Nase hielt. Ich hob meine Finger und stellte fest, dass ich weinte. „Es ist nicht so wie du denkst“, sagte ich leise. Ich wollte nicht, dass er glaubte, Cio wäre zu so etwas unmenschlichem fähig.
„Ist schon gut“, sagte er leise und da ich ihm das Taschentuch nicht abnahm, wischte er mir vorsichtig über die Wange.
„Nein, du verstehst nicht, es war nicht Cio.“
Die Worte reichten, um ihn in Verwirrung zu stürzen. Er musterte meine blasse, aufgelöste Erscheinung und das Zittern meine Hände. „Wenn es nicht Cio war, wer dann?“
Ich biss mir auf die Zunge und bohrte mir dabei die Spitzen meiner Fänge in die Unterlippe.
„Zaira, wer hat dir das angetan?“
Ich wollte es nicht sagen. Nicht um diesen widerlichen Mistkerl Owen zu schützen, ich wollte einfach nur nicht darüber reden. Ich wollte das alles einfach nur vergessen.
„Du musst dich vor mir nicht verstecken.“
Seine Worte waren so sanft und als er mir die Hand aufs Knie legte, spürte ich, wie mir neue Tränen in die Augen stiegen. Er hatte so viel mehr durchmachen müssen. Ich war noch knapp an dem Unglück vorbeigeschlittert, er jedoch hatte es wieder und wieder erlebt. Viele Jahre, ohne Aussicht auf ein Ende seiner Tortur.
Vielleicht war das der Grund, warum ich den Mund aufmachte. Er würde nicht urteilen. Vielleicht lag es auch daran, dass ich einfach mit jemanden darüber reden musste, wenn ich daran nicht zerbrechen wollte. Vielleicht war auch einfach der Zeitpunkt gekommen, an dem ich nicht mehr schweigen konnte. Es konnte auch alles davon sein, oder gar nichts. Doch auf einmal hörte ich mich sagen: „Owen.“
„Owen?“ Mit diesem Namen konnte er nichts anfangen.
„Wächter Owen McKinsey.“ Es war nur ein Flüstern. „Er gehörte zu Iesha. Er war auf dieser Farm, als sie mich entführt hatte. Er kam zu mir und hat …“ Ich verstummte. Das konnte ich einfach nicht sagen.
Tayfun war deutlich blasser geworden, sobald er den Namen von Cios verrückter Exfreundin gehört hatte. Ja, die Wurzel allen Übels hier, war die Frau, die Cio einmal geliebt hatte. Aber heute tat er das nicht mehr und das hatte sie nicht verkraften können.
Es war ihre eigene Schuld gewesen. Niemand anderes konnte etwas dafür, aber das sah sie nicht. Sie sah nur, dass ich ihrem Mann gestohlen hatte und sie wollte ihn wiederhaben. Zumindest hatte sie das, bevor Cio versucht hatte, sie in der Luft zu zerreißen. Ich hatte keine Ahnung, wie sie nach ihrem letzten Zusammentreffen zu ihm stand.
Auf der Suche nach Rache hatte Iesha als der Amor-Killer eine Spur aus Blut und Leichen hinter sich hergezogen, die eigentlich bei mir hätte enden sollen, doch Cio hatte mich vor ihr gerettet. Leider war sie ihm aber entwischt und trieb sich noch immer dort draußen auf den Straßen herum.
Ich wusste nicht, ob sie es nach unserem letzten Zusammenstoß endlich aufgegeben hatte, Cio nachzustellen, oder ob sie noch immer dort draußen lauerte und nur auf ihre Gelegenheit wartete. Ich wusste nur, dass sie seit diesem Vorfall im Wald, niemand mehr gesehen hatte.
„Iesha ist dafür verantwortlich?“, fragte er mich leise.
Dass ich nur wegen ihr dort gewesen war, konnte ich ihr dafür wahrscheinlich die Verantwortung geben, aber ich wusste, dass es ohne ihr Wissen geschehen wäre – nicht dass ich glaubte, sie hätte ein großes Problem damit gehabt. Da es aber zu kompliziert wäre, ihm das alles zu erklären, schloss ich einfach für einen Moment die Augen. „Bitte, ich will nicht darüber reden.“
Er seufzte leise, aber er verstand es. Wahrscheinlich verstand er sogar besser, als mir lieb war. Seine Hand berührte mich an der Wange und zum ersten Mal, seit das alles geschehen war, zuckte ich nicht vor der Berührung eines Mannes zurück. Er wusste wie das war, er wusste so viel besser als alle anderen darüber Bescheid.
„Es wird besser“, sagte er leise und zog mich in die Arme, als er merkte, dass ich mich nicht dagegen wehrte. „Es dauert und die Erinnerung wir nie ganz verschwinden, aber es wird besser. Das verspreche ich dir.“
„Sag es nicht Cio“, flehte ich ihn an. „Bitte.“
„Ich werde nichts sagen“, versprach er mir und schlang seine Arme ein wenig fester um mich.
Ich drehte das Gesicht in seine Brust und zum ersten Mal erlaubte ich es mir wirklich zu weinen.
°°°
Laut ratternd fuhr die rote Kinderachterbahn in Form eines Wurms an uns vorbei und spuckte ein Dutzend Knirpse in die Arme ihrer Eltern, um dann einen neuen Schwarm der Zwerge in sich aufzunehmen, der bereits aufgeregt auf dem Steg darauf wartete, einsteigen zu dürfen.
Ich beobachtete schmunzelnd eine Mutter, die ihrem Sohn versicherte, der Wurm würde ihn nicht fressen, wenn er sich auf einen der Sitze setzte, als Cio mir die Zuckerwatte reichte, die er gerade an dem Stand gekauft hatte. Sie boten rote, blaue und grüne an. Ich hatte die grüne haben wollen. Nicht das es geschmacklich einen Unterschied machte, mir gefiel die einfach nur die Farbe.
Ich zupfte ein Stück davon ab, steckte es mir in den Mund und grinste ihn dann an. „Hm“, machte ich. „Lecker.“
„Und, schmeckt es nach Waldmeister?“
Um ihm diese Frage zu beantworten, zupfte ich noch ein Stück ab und hielt es ihm vor dem Mund. Er nahm es nur zu gerne und leckte mir dabei auch noch mit voller Absicht über den Finger.
„Du kannst es einfach nicht lassen, oder?“
„Nope, das kann ich nicht.“ Er verschränkte seine Hand mit meiner und wir schlenderten weiter die Straße hinunter.
Wir hatten Sonntagmittag und es war nun drei Tage her, seit wir Tayfun in Leukos Tempel gefunden hatten. Es ging ihm schon besser und wenn man von dem Zahn absah, war er schon fast wieder der Alte. Aber noch zeigten sich überall auf seinem Körper Spuren des Übergriffs, weswegen er beschlossen hatte, uns nicht zur Einführung von Prinzessin Cataleya zu begleiten und bei uns Zuhause zu bleiben. Er wollte einfach nicht, dass ihn jemand so sah.
Die Straßen um uns herum waren voller Stände, Händler, Spiele und Karussells. Ganz Silenda war bereits seit Freitag ein einziger Jahrmarkt, auf dem die Besucher sich dicht an dicht drängten. Familien, Pärchen, Freunde. Jung und Alt. Die letzten Tage war es auf den Straßen schon voll gewesen, doch das hier übertraf alles. Die Straße auf der wir gerade entlang schlenderten, war heute wie viele andere sogar für Autos gesperrt und trotzdem platzte sie aus allen Nähten.
Viele der Lykaner waren nur für den heutigen Tag in die Königsstadt Silenda gereist. Jeder wollte miterleben, wie der jüngste Alpha des Königshauses in das Rudel eingeführt wurde. Dabei ging es weniger darum, direkt dabei zu sein, sondern viel mehr darum, dem Erlebnis so nahe zu kommen, wie es nur möglich war.
Die Zeremonie würde in Leukos Tempel stattfinden, aber da es logistisch einfach nicht möglich war, dort tausende von Leuten unterzubringen, waren in der ganzen Stadt große Leinwände aufgebaut worden, auf denen man das Ereignis später verfolgen konnte.
Da meine leibliche Mutter die Cousine von Königin Sadrija war, wäre es mir ein leichtes gewesen, einen Platz im Tempel zu ergattern und leibhaftig zuzuschauen, was dort passierte, aber ich wollte diesen Tag lieber mit meinen Freunden feiern und mich ein wenig auf den Straßen umschauen.
Es war zwar recht kühl, aber mein Mantel und mein Schal würden mich schon warm halten. Und es war auch viel interessanter, durch die Straßen zu wandern, als im Tempel zu sitzen und zu warten.
Jetzt gerade waren wir auf dem Weg zum Siegesbrunnen. Dort wollten wir uns mit meinem besten Freund und der jüngeren Generation meiner Familie treffen.
Da meine linke Hand durch Cios Griff im Moment indisponiert war, zupfte ich die Zuckerwatte direkt mit dem Mund ab.
„Wir sollten nächsten Samstag ins Kino gehen.“
„Okay.“ Ich musste ein wenig näher an Cio rücken, um einem Kinderwangen auszuweichen.
„Okay?“, fragte er und wirkte leicht pikiert. „Das ist alles, mehr fällt dir dazu nicht ein?“
Ich schaute ihn ganz unschuldig an. „Was sollte mir denn noch dazu einfallen? Du möchtest Samstag ins Kino und da an diesem Tag ja nichts Besonderes ansteht, finde ich das okay.“
Er kniff die Augen leicht zusammen, aber einen Moment später schien ihm aufzugehen, was ich hier trieb. „Du nimmst mich auf den Arm.“
„Ich?“, fragte ich scheinheilig. „Ich würde doch niemals so tun, als wüsste ich nicht, dass nächste Woche unser vierter Jahrestag ist, nur um dich ein wenig zu aufzuziehen.“
„Dir ist bewusst, dass es gefährlich werden kann, den bösen Wolf mit einem Stock zu piksen?“
„Sollte ich dem bösen Wolf jemals begegnen, werde ich daran denken“, versprach ich ihm mit der ganzen Ernsthaftigkeit, die ich aufbringen konnte, bevor ich ein weiteres Stück Zuckerwatte mit dem Mund abzupfte. „Wir könnten danach Zuhause etwas kochen“, überlegte ich dann.
Die Skepsis stand ihm ins Gesicht geschrieben. Cio konnte nicht kochen, ehrlich, ich hatte schon miterlebt, wie er hatte Wasser anbrennen lassen. Das war gar nicht so einfach.
„Okay, dann werde ich eben etwas kochen, während du um mich herumwuselst und nicht weißt was du tun sollst, bis ich dich auf die Couch verbanne, damit du das Essen nicht ruinieren kannst.“
Er grinste. „Klinkt nach einem Plan. Dafür übernehme ich dann das Popcorn im Kino.“
„Ich will aber eine große Tüte Popcorn.“
„Du bekommst auch zwei, wenn du möchtest.“
„Ich nehme dich beim Wort“, drohte ich ihm, bevor ich mir noch mehr Zuckerwatte in den Mund stopfte.
Vor uns öffnete sich die überfüllte Straße zu einem belebten Marktplatz, in dessen Mitte ein großer Brunnen stand. Zwei Wölfe aus Bronze thronten darauf. Einer von ihnen lag tot am Boden, der andere hatte siegreich den Kopf erhoben und in einem ewigen Heulen zum Himmel erstarrt. Ich wusste, dass hinter dieser Statur eine Geschichte steckte und ich hatte mir sogar schon ein paar mal vorgenommen, sie zu recherchieren, doch sobald die beiden wieder aus meinem Sichtfeld verschwanden, verflüchtigten sie sich wieder aus meinem Kopf – ganz egal, wie oft ich mir vornahm, es zu ändern.
Der Brunnen selber war über den Winter ausgeschaltet und das Wasser abgelassen worden. Ringsum hatten sich viele Geschäfte in den umliegenden Häusern niedergelassen. Heute standen hier zusätzlich ein paar Spielstände und Fahrgeschäfte, die das Vorankommen nicht ganz einfach machten.
Aus der Suche nach den anderen, ließ ich meinen Blick über die Leute wandern, doch es war Cio, der mich auf die beiden jungen Männer aufmerksam machte, die sich auf dem Brunnenrand niedergelassen hatten. Der eine war großgewachsen, blond und hatte die Augen eines Wolfs, egal in welcher Gestalt er sich befand. Er war recht attraktiv und durch seine Herkunft manchmal ein kleinen wenig arrogant. Außerdem war er mein großer Bruder Aric. Naja, eigentlich war er mein Halbbruder, aber das war eine Kleinigkeit, die weder mich noch ihn interessierte.
Neben Aric, saß mein bester Freund Kasper. Er war ein Mensch mit braunen Augen und braunem, lockigem Haar. Er war etwas kleiner und schmächtiger als mein Bruder. Ach ja, und er war Arics Lebensgefährte. Die beiden liebten sich abgöttisch. Naja, wenn sie nicht gerade miteinander stritten. Aber wenigsten taten sie das auch mit einer Leidenschaft, die einen sofort wissen ließ, wie die beiden zueinander standen.
Als wir auf sie zugingen, schaute Aric sofort auf und allein wenn man seinem Blick begegnete, wusste man, dass er anders als andere Lykner war. Nicht wegen seiner Augen, es war seine Aura. Er war ein Alpha.
Cio und ich waren Omega-Wölfe. Naja, Cio war einer, ich war nur ein Misto, in dem zu einem kleinen Teil ein Lykaner steckte. Die Alphas herrschten über die Betas und Omegas. Es war eine von der Natur gegebene Rangordnung, der sich niemand von uns widersetzen konnte.
Alphas ließen sich schwer bis gar nicht beherrschen, der Rest von uns wollte von ihnen geführt werden. Obwohl man wohl einräumen sollte, dass unsere Instinkte uns befahlen ihrer Führung zu folgen, auch wenn wir das gar nicht wollten. Und wenn Alphas etwas besonders deutlich machen wollten, dann besaßen sie noch einen kleinen Trick, namens Odeur. Das war wie ein Geruch, auch wenn es nicht wirklich einer war. Wenn sie uns damit begegneten, konnten wir gar nicht anders, als uns zu ducken und zu gehorchen.
Im Moment aber war Aric friedlich und begrüßte uns gar mit einem Lächeln, bevor er sich erhob und uns nacheinander kurz in die Arme nahm. Als ich an der Reihe war, spannte ich mich ein wenig an und war froh, dass er mich gleich wieder losließ.
„Wartet ihr schon lange?“, fragte ich und setzte mich neben Kasper auf den Brunnen. Er bekam von mir zur Begrüßung ein Lächeln. Kasper mochte es nicht angefasst zu werden und bis auf seltene Fälle in Ausnahmesituationen, respektierte ich das. Okay, hin und wieder gab ich ihm mal ein Küssen auf die Wange, aber im Moment wollte ich auch ihm nicht unbedingt zu nahe kommen.
„Erst ein paar Minuten“, antwortete Kasper. Er klang schlecht gelaunt. Das war so ziemlich Normalzustand bei ihm, also kein Grund zur Besorgnis. „Und bei dir, alles gut?“
Ich wusste sofort, worauf diese Frage abzielte, aber ich hatte keine Lust, auch nur in die Nähe dieses Themas zu kommen. „Jup. Ich habe jetzt meinen vierten Kundenauftrag. Er kam auf Empfehlung.“
Kasper zog die Nase kraus. „Am Computer zu sitzen, ist doch keine richtige Arbeit. Früher hast du das in deiner Freizeit gemacht.“
„Nein, in meiner Freizeit habe ich Spiele am Computer gespielt. Jetzt bin ich Webdesignerin, das ist etwas ganz anderes. Hier geht es darum …“
„Hallo ihr Süßen!“, rief eine wohlbekannte und etwas schrille Stimme quer über den ganzen Platz. Wir waren nicht die einzigen, die sich nach ihr umdrehten. Sie gehörte zu meiner Cousine Alina und ich musste nicht lange suchen, um sie in der Menge zu finden, dafür war sie einfach zu auffällig.
Von Natur aus hatte Alina rotbraunes Haar, doch diese Haarfarbe hatte ich das letzte Mal an ihr gesehen, als sie dreizehn war. Seitdem probierte sie nacheinander den Regenbogen durch. Heute waren ihre Haare zur Abwechslung einmal blau. Oben hell und je näher sie den Spitzen kamen, desto dunkler wurden sie. Sie war groß, schlank und hatte violette Augen. Außerdem trug sie heute einen neongrünen Mantel, einen pinken Schal und zu ihren schwarzen Stiefeln, einen rotkarierten Rock, der mich doch sehr an eine Schulmädchenuniform erinnerte.
Manchmal vermutete ich, sie zog sich so schrill an, um von ihrer fehlenden rechten Hand abzulenken. Ja, Alina hatte nur noch eine Hand. Nicht dass das irgendjemand störte, aber es war halt ein ziemlich auffälliges Merkmal an ihr.
Cio verzog bei ihrem Anblick das Gesicht. „Ist dir nicht kalt?“
„Oh“, machte sie. „Er sorgt schon dafür, das mir immer schön warm ist.“
Mit er, war der Mann an ihrer Hand gemeint, mein Cousin Anouk.
Anouk war neun Jahre älter als sie und so ziemlich das genaue Gegenteil. Er war ruhig und bodenständig und wirkte mit seinem braunen Haar und seinen braunen Augen neben ihr nicht nur unauffällig, sondern geradezu langweilig. Gut, wenn man es genau nahm, wirkte jeder neben Alina langweilig. Obwohl man Langweilig in diesem Fall auch als Synonym für Normal nehmen konnte.
Anouk war ein wenig größer als sie, hatte ein rundes Gesicht und neben den mandelförmigen Augen ein paar blasse Sommersprossen. Außerdem war er extrem wortkarg, wenn man ihn nicht direkt ansprach. So hob er auch jetzt zur Begrüßung nur die Hand, während Alina von einem zum anderen ging, ihn in den Arm nahm und übertriebene Küsschen auf die Wange drückte – ja, auch mir. Wobei ich das Glück hatte, als ihre Lieblingscousine noch mal extra geknuddelt zu werden.
„Und da ist auch mein Kasper!“, freute sie sich und stürzte sich wie ein Piranha auf ihn, bevor er die Gelegenheit hatte, vor ihr zu fliehen.
„Verdammt, Alina, lass das“, fluchte er auch sofort und versuchte sich ihrem Griff zu entwinden. „Hör auf damit.“
Wie bereits erwähnt, vermied Kasper überflüssige Berührungen, was es für Alina umso amüsanter machte, ihn zu umarmen.
Normalerweise ignorierte ich das, oder mahnte sie höchstens, dass sie ihn in ruhe lassen sollte, weil er das nicht mochte, doch als ich die beiden jetzt sah, hatte ich plötzlich ein ganz anderes Bild vor Augen. Ich sah mich an seiner stelle und einen Mann, der mich knuddeln wollte, weil er es lustig fand.
Dieses widerliche Gefühl tauchte völlig ungebeten auf. Das durfte sie nicht, sie sollte damit aufhören. „Alina, lass ihn.“
„Ach, er mag …“
„Du sollst ihn loslassen, habe ich gesagt!“
Sie erstarrte, er erstarrte und auch die drei anderen erstarrten. Mit einem Mal waren alle Blicke auf mich gerichtet.
Verdammt, aber ich konnte das nicht erlauben. Wenn er das nicht wollte, durfte sie das einfach nicht tun. Es war falsch.
Nur sehr langsam und ohne mich aus den Augen zu lassen, nahm sie ihre Arme von ihm und trat einen Schritt zurück. Unsicher schaute sie von mir zu ihm und wieder zurück. Ihr Mund ging auf, schloss sich dann aber wieder, ohne einen Ton von sich zu geben.
Auch Kasper schien nicht recht zu wissen, was er denken sollte. Er wirkte nicht direkt erleichtert, eher verwundert.
Ich wich all ihren Blicken aus, biss mir auf die Unterlippe und starrte auf den Boden.
„Sag mal, Alina“, begann Cio und zog damit die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. „Da deine Haare vorher Gelb waren, müssten sie dann jetzt nicht eigentlich grün sein?“
Zuerst reagierte niemand, doch dann überlegte Kasper mit einem kurzen Blick auf mich: „Vielleicht trägt sie ja eine Perücke.“
„Ha ha“, machte sie und ging wieder zu Anouk, der sie direkt in die Arme schloss. Sie schaute einen Moment zu mir, konzentrierte sich dann aber auf Cio. „Ich habe einen ausgezeichneten Frisör. Er ist ein wahrer Künstler. Du glaubst gar nicht, was der alles mit Haaren anstellen kann.“
„Also, wenn ich mir deine Haare so ansehe, dann will ich das auch gar nicht wissen“, zog er sie auf.
Meine Hände ballten sich in meinem Schoß zu Fäusten. Ich wusste was sie da taten. Sie versuchten so zu tun, als hätte ich gerade nicht völlig übertrieben herumgeschrien. Irgendwie machte es das aber nur noch schlimmer. Ich war kurz davor einfach aufzuspringen und zu verschwinden. Doch dann wurde ich plötzlich von etwas berührt, der Hauch eines Geruchs, der beruhigend über meine Sinne strich. Odeur.
Ich musste nicht aufblicken, um zu wissen, dass das von Aric kam. Er war der einzige von uns, der zu so etwas in der Lage war.
„Mir gefallen deine Haare“, versicherte Anouk meiner Cousine und drückte ihr einen Kuss auf den Kopf.
Alina streckte Cio die Zunge heraus. „Siehst du, er mag meine Haare.“
Cio winkte ab und setzte sich neben mich auf den Brunnenrand. Dabei griff er ganz beiläufig nach meiner Hand und verschränkte seine Finger mit meinen. „Wenn er sowas sagt, zählt das nicht. Das wäre genauso, als würde Aric sagen, dass er Frettchen liebt.“
Als Kasper den Spitznamen hörte, mit dem Cio ihn bedachte, seit die beiden sich das erste Mal begegnet waren, warf er ihm einen bösen Blick zu. „Und das sagt der Pudel auf Steroide.“
„Ich hab zwar keine Ahnung, wie du immer auf einen Pudel kommst, aber das hier“, - Er klopfte sich gegen die Brust - „ist alles ganz natürlich. Gottes Meisterwerk, wenn du so möchtest.“
„Okay“, unterbrach Alina die beiden. „Bevor ihr beide jetzt damit anfangt, verschiedene Körperregionen zu vergleichen, sollten wir uns vielleicht langsam mal in Bewegung setzten. Wir sind vorhin an einem Schießstand vorbeigekommen und Anouk hat mir versprochen, dass er dort einen Teddy für mich gewinnt.“
Kasper erhob sich. „Klar, warum nicht.“
„Ihr könnte ja schon mal gehen“, sagte Cio. „Ich will noch kurz …“
Bevor er den Satz beendet hatte, erhob auch ich mich. Ich war mir zwar nicht ganz sicher, ob ich mit ihnen mitgehen wollte, aber ich wollte ganz sicher nicht hier mit Cio sitzen bleiben und über das sprechen, was eben passiert war. Darum lächelte ich einfach nur und sagte: „Bin dabei.“ Und um zu verdeutlichen, dass es mir super ging und sie sich keine Sorgen machen brauchten, vertilgte ich die Reste meiner Zuckerwatte. Dann hob ich den Holzstab an, um die die Watte gewickelt gewesen war und grinste ich Cio an. „Siehst du, jetzt habe ich auch einen Stock, mit dem ich den bösen Wolf piksen kann.“
Die Anspielung verstand er sehr wohl und er erwiderte mein Lächeln sogar, doch die Spur von Sorge in seinen Augen, konnte er nicht verbergen. „Dann sollten der böse Wolf sich wohl besser in Acht nehmen“, erklärte er und erhob sich nun selber.
Nach einem weiteren kurzen Blick auf mich, übernahm Alina zusammen mit Anouk die Führung. Cio bildete mit mir das Schlusslicht, wodurch ich Kasper und Aric sehr gut beobachten konnte. Die beiden berührten sich nicht, nicht mal an den Händen, aber sie liefen so dicht nebeneinander, dass ihre Arme sich immer mal wieder streiften. Ein paar mal sah ich auch, wie Aric seinen Finger ausstreckte, als wollte er sicher gehen, dass er noch da war.
Die beiden hatten es wirklich nicht ganz leicht miteinander.
Der Schießstand war nicht weit entfernt und Anouk schaffte es wirklich einen Teddy für Alina zu gewinnen. Einen kleinen, den man in der Hand verstecken konnte. Aber sie freute sich so sehr darüber, als hätte er ihr gerade dem Hope Diamanten überreicht.
Cio dagegen räumte voll ab und selbst Aric hielt sich ganz gut. Als er dann jedoch überlegte, Kasper auch einen Teddy zu geben, drohte der ihm mit Blicken und fragte ihn, ob er sich in Zukunft einen Rock anziehen sollte.
Bevor Cio dazu seine Meinung kund tun konnte, legte ich ihm eine Hand auf den Mund und zog ihn zu einem der Karussells. Leider wurde mir darauf so schlecht, dass ich beschloss, in kein weiteres zu steigen. Das ewige Hoch und Runter schien dem kleinen Passagier nicht so gut zu gefallen. Darum blieb ich mit Anouk draußen stehen, als die anderen vier in eine kleine Achterbahn stiegen. Den Elektroschocker in meiner Jackentasche, hielt ich dabei fest umklammert. Ohne Cio hier draußen zu sein, machte mich eben nervös. Darum hörte ich auch erst wieder damit auf, mir ständig über die Schulter zu blicken, als er wieder bei mir war.
Wir amüsierten uns noch ein einigen Ständen, fuhren mit dem Riesenrad und zogen sogar ein paar Lose, bevor wir uns an einem Stand gebrannte Mandeln und glasierte Äpfel holen. Ich bekam sogar ein kleines Lebkuchenherz von Cio, auf dem aus Zuckerguss eine kleine Wolke drauf war.
„Da ist keine Wolke, das ist ein Schaf“, behauptete er steif und fest, als ich es in meine Jackentasche steckte.
„Dieses Schaf hat aber weder einen Kopf, noch Beine“, erklärte ich und griff wieder nach seiner Hand.
„Es schläft ja auch. Die Beine sind unter seinem Körper.“
„Und der Kopf?“
„Den hat es weggedreht.“
Ich tätschelte seine Brust. „Okay, du hast recht, es ist ein Schaf.“
„Es ist eine Wolke“, sagte nun auch Kasper und tat so, als würde er Cios bösen Blick gar nicht bemerken, während er von der Schokoladenbanane abbiss, die Aric ihm hinhielt.
Alina hüpfte mit Anouk an der Hand an unsere Seite. „Und, was machen wir als nächstes?“
Aric zuckte mit den Schultern. „Ich hab gehört, hier soll es irgendwo ein Geisterhaus geben, wo Leute in gruseligen Kostümen die Besucher erschrecken.“
„Klingt gut“, sagte sie sofort.
„Ja“, stimmte Kasper ihr zu. „Gehen wir in das Haus voller messerschwingender Irrer, die so tun werden, als wollten sie uns umbringen. Das wäre sicher überhaupt nicht traumatisch für Zaira.“
Daraufhin folgten wieder diese Blicke und betretenes Schweigen.
Ich versuchte zu lächeln, aber so sehr ich mich auch anstrengte, es wollte nicht funktionieren.
Cio knurrte ihn an. „Besitzt du ein paar funktionierende Gehirnzellen?“
Kasper bedachte mich einen langen Moment mit einen Blick und seufzte dann leise. Er hatte nicht nachgedacht, bevor er gesprochen hatte und das wurde ihm wohl nun gerade klar.
„Wir können da ruhig hingehen“, sagte ich mit mehr Überzeugung in der Stimme, als mir lieb war. „Ihr braucht keinen Eiertanz um mich herum aufführen.“
Anstatt darauf einzugehen, sagte Anouk: „Zwei Straßen weiter gibt es ein Spaßhaus mit einem Spiegelkabinett.“
„Oh ja“, sagte Alina ein wenig zu fröhlich, um glaubhaft zu klingen. „Lasst uns das machen.“ Sie hakte sich bei Anouk unter und übernahm damit ein weiteres Mal die Führung.
Ich folgte ihnen still und zuckte ein wenig zusammen, als Cio mich überraschend am Arm berührte. Als ich ihn ansah, wirkte er ernst.
„Willst du nach Hause?“, fragte er so leise, dass nur ich ihn hören konnte.
Ich schüttelte den Kopf. Cio hatte sich schon seit Wochen auf diesen Tag gefreut und ich wollte ihm den nicht kaputt machen.
„Sicher?“
Dieses Mal zögerte ich einen Moment, nickte dann aber. „Mit geht es gut.“
Er schien nicht überzeugt, behielt seine Gedanken aber für sich.
Wegen den vielen Besuchern und dem ganzen Gedränge, brauchten wir fast zwanzig Minuten, bis wir ein kunterbuntes Wohnhaus erreichten. Zu jedem anderen Zeitpunkt, sah es sicher ganz normal aus, zur Feier des Tages, hatte man es doch mit bunten Tüchern und verrückten Schildern versehen. Vor die Tür hatte man einen großen Clownskopf gestellt, durch dessen Mund man gehen musste, um das Gebäude zu betreten. An den Fenstern hingen lustige Wesen aus Pappmasche. Ein Mann in einem violetten Affenkostüm, warf immer wieder Konfetti über die Leute in der Schlage und verteilte Bonbons an die wartenden Kinder.
Wir waren zwar keine Kinder mehr, bekamen aber auch ein paar bunte Bonbons, bevor der Affe in einem äußerst seltsamen Gang weiterzog.
Anouk verzog das Gesicht, als er ihm hinter schaute.
„Was ist los?“, wollte Alina sofort wissen.
„Ich hätte meine Kamera doch mitnehmen sollen.“
Wir schauten dem Affen nach.
„Naja“, sagte Cio dann. „Wenn du das unbedingt für die Ewigkeit festhalten möchtest, dann kannst du ja immer noch Kasper fotografieren. So sehr unterscheiden die beiden sich nicht voneinander.“
Jup, hätte Kasper gekonnt, hätte er meinen Freund in dem Moment wohl etwas Schweres auf den Kopf gehauen.
Die Schlange bewegte sich ein kleines Stück nach vorne.
„Es geht nicht um den Affen“, erklärte Anouk. „Es geht um die Gesichter der Kinder. Ihr Staunen und ihre Freude.“
Ich folgte seinem Blick und verstand sofort, war er meinte. Trotz das die Kinder in der Schlange warten mussten, waren sie fröhlich.
Hätte mich eigentlich nicht wundern sollen, dass Anouk so etwas auffiel. Als Photograph, hatte er ein unglaublich gutes Auge für solche doch eigentlich kleinen Alltäglichkeiten.
„Oh“, machte Alina und legte ihm die Arme um den Nacken. Sofort schlossen sich seine Hände um ihre Taille. „Vielleicht kann ich dich ja …“
„Hallo schöner Mann.“
Wie ein einziges Wesen, drehten wir uns geschlossen nach der weiblichen Stimme um und bemerkte eine junge Frau mit platinblondem Haar, die mit leicht ausgestellter Hüfte neben der Schlange stand und Aric sehr unverhohlen musterte.
Er warf ihr nur einen abschätzenden Blick zu, mit dem er den Leuten schon früher erklärt hatte, dass sie weit unter seinem Niveau lagen und sich glücklich schätzen konnten, dass er ihre Existenz überhaupt zur Kenntnis genommen hatte. „Kein Interesse.“
Diese direkte Abfuhr, schien sie nicht zu entmutigen. Sie lächelte ihn sogar noch breiter an, als würde diese kleine Herausforderung sie freuen. „Warum nicht?“
„Weil du kein Frettchen bist“, murmelte Cio und schaffte es gerade noch so sich hinter mir in Sicherheit zu bringen, als Kasper nach ihm schlug. „Zu langsam“, grinste er und legte von hinten die Arme um mich.
Bleib locker!
Die Frau hatte sowohl für Kasper, als auch für Cio nur einen mäßig interessierten Blick übrig. Ihr Interesse galt allein meinem Bruder. „Du bist Aric. Ich erkenne dich, du warst der Prinz.“
Nach diesen Worten verfinsterte sich Arics Gesicht. Wahrscheinlich ging ihm genau das gleiche wie mir durch den Kopf. Eine Trophäenjägerin. Wäre Aric nicht wer er war, hätte sie ihn vermutlich nicht mal bemerkt. Doch es war nicht er, der darauf reagierte, sondern Kasper.
„Du kannst es aufgeben, Trockenpflaume“, erklärte er mit einem harten Blick. „Er steht weder auf Ballontitten mit Aufblasventil, noch auf Blondinen.“
„Ganz im Gegenteil zu dir“, schmunzelte Alina und spielte damit auf Arics Haarfarbe an, was zur Folge hatte, dass sie von beiden Männern einen bösen Blick bekam, der sie nur noch breiter lächeln ließ.
Die Blondine zog nur eine perfekt gezupfte Augenbraue nach oben. „Ich denke, dass du dich da täuschst.“
Kasper fixierte sie mit einem kalten Blick, packte Aric dann am Kragen seiner Jacke und zog ihn zu einem absolut nicht jugendfreien Kuss zu sich heran. Hätten die Eltern in der Umgebung ihren Kindern die Augen zugehalten, es hätte mich nicht weiter gewundert.
„Und da soll noch mal einer behaupten, dass nur Lykaner Revierfixiert sind“, schmunzelte Cio.
Die Blondine beobachtete die beiden mit einem sehr seltsamen Blick. Schock? Unglaube? Ekel? Sie musste nicht nur dabei zusehen, wie Aric den Kuss erwiderte, sondern auch, wie er nach Kaspers Hüfte griff und ihn etwas näher an sich zog. „Verstehe“, sagte sie dann schlicht, kehrte uns den Rücken und stöckelte davon.
Alina kicherte. „Hey Jungs, schaltet mal einen Gang zurück, ihr seid hier nicht alleine.“
Da die beiden aber scheinbar in ihrer eigenen kleinen Welt waren, hörten sie Alina entweder nicht, oder sie ignorierten sie schlicht. Auf jeden Fall sahen sie nicht so aus, als würden sie sich demnächst voneinander trennen wollen.
Grinsend legte Cio sein Kinn auf meine Schulter. „Frettchen sind so anhänglich.“
„Ich würde mich auch nicht gerade darüber freuen, wenn dich eine andere Frau so offen direkt vor meiner Nase anmacht und einfach nicht aufgeben möchte“, erwiderte ich und sagte mir dabei immer wieder im Geiste, dass es Cio war, der mich hier im Arm hielt und das es in Ordnung war.
„Du hast keine Ahnung, wie glücklich es mich macht, das zu hören“, schmunzelte und plötzlich spürte ich seinen Atem an meinem Hals.
Einen Moment erstarrte ich und glaubte Owen hinter mir, der genau das auch bei mir getan hatte. Mein Herz fing wie wild an zu hämmern.
„Schäfchen?“
„Ich muss aufs Klo!“, verkündete ich, machte mich eilig von ihm frei und lief einfach los. „Bin gleich zurück“, sagte ich noch schnell und hoffte, dass er nicht die Panik in meiner Stimme hörte. Folge mir nicht, flehte ich, bleib da.
Natürlich kam er mir trotzdem hinterher. Ich hatte die Hausecke fast erreicht, als er mich einholte. Ich hörte seine Schritte und konnte gerade noch die Hand in die Tasche stecken, bevor er nach ihr greifen konnte. Das Gewicht der Elektroschockers schmiegte sich vertraut in meine Hand.
„Du brauchst mir nicht folgen“, sagte ich und setzte ein hoffentlich überzeugendes Grinsen auf. „Ich bin ein großes Mädchen und kann schon seit Jahren allein aufs Töpfchen gehen.“
Der Witz fruchtete nicht. „Schäfchen, ich …“
„Bitte Cio, ich bin gleich wieder zurück.“ Ohne ihm die Gelegenheit für eine Erwiderung zu geben, trat ich die Flucht nach vorne an und verschwand um die Hausecke herum in der Menge. Dabei versuchte ich nicht nur mein Herz, sondern auch meine Gedanken zu beruhigen. Das hatte ein so schöner Tag werden sollen und mittlerweile war er schlimmer, als der ganze letzte Monat. Warum? Lag es daran, dass ich draußen war?
Natürlich, ich spürte immer eine gewisse Unruhe, wenn ich das Haus verließ, aber heute war es einfach nur schlimm. Vielleicht lag es aber auch einfach nur daran, dass ich Alina vorhin so angefahren hatte und mich deswegen jetzt die ganze Zeit das schlechte Gewissen plagte. Alina war einer der tollsten Menschen, die ich kannte. „Ich werde mich wohl bei ihr entschuldigen müssen“, murmelte ich und seufzte. Und wenn ich schon mal dabei war, auch gleich bei Cio. Ich hatte ihn gerade einfach stehen lassen und das, obwohl ich die Sorge in seinem Gesicht gesehen hatte. Wenn ich … „Uff“, machte ich, als ich in einen Körper hineinrannte.
„Kannst du nicht aufpassen?“, schimpfte eine junge Frau und fuhr zu mir herum.
Ich starrte sie an. Sie starrte mich an. Innerlich stieß ich ein weiteres Seufzen aus. Das hatte mir jetzt gerade noch gefehlt. Ich kannte diese Frau nicht nur, sie war meine Schwester. Meine zweieiige Zwillingsschwester Kiara.
Trotz dass wir zur selben Zeit in der gleichen Gebärmutter gehaust hatten, was sie so ziemlich das genaue Gegenteil von mir. Ihr blondes Haar wirkte irgendwie immer golden und in ihren grauen Augen stand immer ein Sturm. Schlank, schön, anmutig. Und ein wenig Ich-bezogen.
„Ich war in Gedanken“, entschuldigte ich mich bei ihr.
„Aber du wirst doch wohl trotzdem Augen im Kopf haben“, erwiderte sie spitz.
Die Beziehung zwischen uns beiden war nicht ganz einfach. Bis vor vier Jahren, hatte sie nicht einmal gewusst, dass es mich gab. Oder dass sie die Tochter eines Vampirs war. Sie war bei meiner Erzeugerin Cayenne als Prinzessin des Rudels aufgewachsen und wollte bis heute nicht viel mit meinem Teil der Familie zu tun haben. Mein Vater existierte in ihrer Welt nicht und ich nur, weil es sich nicht vermeiden ließ.
Bis vor ein paar Monaten waren wir noch halbwegs miteinander ausgekommen, doch ungefähr zu dem Zeitpunkt, als Iesha damit angefangen hatte Leute umzubringen, war es zwischen uns anders geworden. Sie war schwanger gewesen und hatte mich gebeten, ihr dabei zu helfen, dieses Problem heimlich zu beseitigen. Danach waren ein paar Dinge geschehen, an dessen Ende ich Cayenne ihr kleines Geheimnis offenbart hatte. Seit dem hasste sie mich und ließ mich das auch jedes Mal spüren, wenn wir aufeinander trafen.
„Tut mir leid.“ Ich schloss die Hand ein wenig fester um den Elektroschocker. Auch wenn ich ihn zum Glück noch nie hatte benutzen müssen, fand ich es doch beruhigend, ihn zu spüren.
Sie schnaubte nur und wandte sich wieder ab. Wahrscheinlich hätte sie mich am Liebsten einfach stehen lassen, aber zu ihrem Leidwesen, stand ein Stück weiter an einem Imbissstand meine Erzeugerin Cayenne. Sie war genau wie Kiara groß, blond und einfach nur schön. Selbst mit den vier Hot Dogs in der Hand, mit denen sie sich zu uns umdrehte.
Einen Moment schien sie überrascht, mich neben Kiara zu sehen, dann aber lächelte sie mich mit ihrer ganzen Wärme an und kam zu uns. „Zaira.“ Sie schien versucht mich zu umarmen, doch mit dem Essen in der Hand ging das nicht, deswegen grinste sie nur entschuldigend, während sie einen der Hot Dogs an Kiara weiterreichte. „Bist du ganz allein hier?“
Ich schüttelte den Kopf. „Cio und die anderen sind beim Spaßhaus. Ich wollte nur kurz … aufs Klo.“
Sie bot mir auch einen der Hot Dogs an, doch als ich den Kopf schüttelte, drehte sie sich und hielt ihn dem großen, sandfarbenden Wolf hin, der direkt neben ihr stand – ihr Gefährte Sydney.
Das war ein sehr vertrauerter Anblick. Ich konnte wohl an beiden Händen abzählen, wie oft ich Sydney als Menschen gesehen hatte. In seiner Vergangenheit war irgendwas passiert, weswegen er am ganzen Körper mit großen und kleinen Narben übersät war. Darum versteckte er sich meistens unter seinem Fell. Er glaubte, dass er so die Leute um sich herum vor seinem Aussehen schützte.
„Zum Spaßhaus wollten wir auch noch“, erklärte Cayenne und hielt den Hot Dog fest, bis Sydney ihn zur Gänze verschlungen hatte. Sobald das erledigt war, hielt sie ihm auch schon den zweiten vor die Nase. „Wir waren gerade beim Riesenrad.“
„Da waren wir auch schon.“ Ich warf einen kurzen Blick zu Kiara, die demonstrativ in die andere Richtung schaute. „Tja dann, ich will euch nicht aufhalten.“
Sie winkte ab. „Ach. Lass uns zusammen zum Spaßhaus gehen.“
Ja, das war es, was ich jetzt unbedingt gebrauchen konnte. „Nein, ich … ich war noch nicht auf dem Klo.“ Ich zeigte unbestimmt irgendwo nach links, obwohl ich nicht mal wusste, was da überhaupt war. Wahrscheinlich runzelte sie deswegen auch die Stirn. „Geht ihr ruhig, vielleicht sehen wir uns ja später noch.“
„Ja“, sagte sie und klang ein wenig enttäuscht. „Vielleicht.“
Zum Abschied hob ich noch einmal die Hand und machte dann, dass ich davon kam.
°°°
Ungefähr zehn Minuten, lief ich kopflos durch die Gegend, erst dann machte ich mich wieder auf dem Rückweg. Sollte ich noch länger wegbleiben, würde Cio früher oder später nach mir suchen. Außerdem wollte ich auch nicht, dass er sich um mich unnötig Sorgen machte. Allerdings wählte ich eine andere Strecke, als ich zuvor genommen hatte, weil ich Kiara kein zweites Mal über den Weg laufen wollte.
So kam ich dieses Mal von rechts. Das Spaßhaus ragte an der Ecke bereits auf, doch bevor ich es erreichte, bemerkte ich in einer Lücke zwischen den Massen eine Bank an der Seite. Cio und Aric saßen darauf und schienen in ein Gespräch vertieft zu sein. Von den drei anderen entdeckte ich keine Spur.
Okay, setz ein Lächeln auf und verhalte dich einfach ganz normal. Ich atmete noch einmal tief durch und setzte mich wieder in Bewegung. Als ich jedoch näher kam und einen Gesprächsfetzen von ihnen auffing, wurden meine Schritt fast ohne mein Zutun langsamer.
„… in dem einen Moment ist sie ganz normal und im nächsten habe ich das Gefühl, sie würde am liebsten vor mir weglaufen.“
„Zaira liebt dich.“
Ich erstarrte für eine Sekunde. Keine Ahnung warum, aber meinen Namen zu hören, ließ in mir die Alarmglocken läuten. Und anstatt mich dann wieder in Bewegung zu setzten, ging ich hinter einem Crepesstand in Deckung und lauschte. Ich beugte mich gerade so weit vor, dass ich sie im Auge behalten konnte.
„Das weiß ich und darum geht es auch gar nicht. Es ist … keine Ahnung, wie gehst du mit Kaspers Berührungsängsten um?“ Cio tippte sich nervös auf sein Knie. „Ich meine … wenn du ihn anfassen willst.“
Die Frage schien Aric zu erstaunen. „Willst du mit mir wirklich darüber sprechen?“
Er lächelte ein wenig schief. „Ich will nicht wissen, was du mit ihm hinter verschlossenen Türen treibst. Wirklich, daran habe ich absolut kein Interesse.“ Sein Gesicht verzog sich ein wenig. „Wenn ich ehrlich bin, will ich mir nicht mal vorstellen, dass ihr hinter verschlossenen Türen irgendwas miteinander macht.“
„Übertreib es nicht.“
„Es ist nur … wie machst du das? Wie funktioniert das zwischen euch?“
Aric musterte ihn ein Moment und schien zu verstehen, warum sein bester Freund ihm diese Frage stellte. „Ich spreche ihn an, bevor ich ihn anfasse, oder tue es so, dass er es sehen kann.“
Mir war klar, warum Cio das wissen wollte. Berührungen waren den Lykanern nicht nur wichtig, sie brauchten sie, um gesund zu bleiben. Es war weder gut für ihn, noch für mich, wenn ich versuchte auf Abstand zu bleiben. Nicht nur weil es unsere Beziehung belastete, wenn ich es übertrieb, konnte es uns auch krank machen.
„Mehr nicht?“, fragte Cio ihn. „Das ist alles?“
„Nein.“ Aric lehnte sich auf der Bank zurück und schaute auf das bunte Treiben vor sich. „Anfangs war es noch ein wenig kompliziert, aber mittlerweile weiß ich, wo und wie ich ihn berühren darf und wie weit ich dabei gehen kann. Meistens überlasse ich auch ihm das Ruder und warte, dass er von sich aus kommt. Er spricht auch mit mir und sagt mir, was er möchte.“ Ein kleines Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Er ist gar nicht so abweisend und distanziert, wie er die Leute gerne glauben lässt. Das ist nur ein Schutzmechanismus, mit dem er andere von sich fernhalten will.“
„Also ist er in Wirklichkeit ein kleines Schmusefrettchen?“
Dieser Gedanke erheiterte meinen Bruder. „Oh nein. Du wirst es mir vermutlich nicht glauben, aber Kasper ist eher … wild.“
„Nein, das glaube ich tatsächlich nicht.“ Cio beugte sich vor und legte die Unterarme auf die Knie. „Zuckt er vor dir zurück?“
Bei dieser Frage, überkam mich wieder das schlechte Gewissen.
„Manchmal.“
„Und wie gehst du damit um?“
„Ich mache es ihm nicht zum Vorwurf, oder erlaube, dass er sich vor mir zurückzieht.“ Das Lächeln in seinem Gesicht löste sich auf, als Aric sich meinem Freund zuwandte. „Ich weiß, warum du mich das fragst, aber du kannst Kasper nicht mit Zaira vergleichen. Kasper wurde als Kind misshandelt, das ist etwas ganz anderes. Außerdem ist es viele Jahre her und er hat deswegen mehrere Therapien hinter sich. Er hat gelernt damit umzugehen. Bei Zaira ist das noch frisch. Ich denke, bei ihr wäre es wichtig, sie erstmal zum Reden zu bringen. Sie wurde zwei Mal kurz hintereinander von verrückten Mördern entführt. Sie hat einfach Angst.“
„Ich weiß.“ Seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. „Aber sie redet nicht mit mir und ich weiß nicht, wie ich sie dazu bewegen kann.“
Jemand trat sich neben mich und als ich überrascht aufschaute, sah ich direkt in Kaspers braune Augen. In seiner Hand hielt er zwei Limoflaschen und der Ausdruck in seinem Gesicht fragte mich eindeutig, warum ich mich hier versteckte, anstatt einfach zu den beiden rüber zu gehen.
Ich wandte den Blick schnell wieder ab.
„Hast du sie denn mal direkt darauf angesprochen?“, wollte Aric wissen.
„Die Ärzte haben gesagt, es ist wichtig, dass ich sie nicht bedränge.“ Sein Blick richtete sich nach unten auf seine Schuhe. „Aber das ist jetzt schon Monate her und … keine Ahnung, es macht mich einfach fertig, dass ich sie nicht anfassen kann. Nicht wirklich, verstehst du?“
Auf Arics Gesicht erschien ein schiefes Lächeln. „Ich habe dir gerade erklärt, wie ich mit meinem Freund umgehe, da ist diese Frage doch wohl ein wenig überflüssig.“
Verstehen machte sich auf Kaspers Gesicht breit. Ich konnte seinen Blick auf mir spüren, bevor er einfach hinter der Deckung heraus trat und auf die beiden zuging, als käme er direkt von dem Limostand. „Hast du ihm auch erklärt, welche Stellung wir im Bett bevorzugen?“, fragte er beim Näherkommen spitz. Beide hoben überrascht die die Köpfe. Erwischt. „Oder soll ich das für dich übernehmen?“
„Das weiß ich doch schon längst“, erklärte Cio. „Frettchen drehen sich immer auf den Rücken und lassen sich dann den pelzigen Bauch kraulen.“
Mit dem blöden Spruch handelte er sich von Aric einen finsteren Blick ein.
Kasper reichte seinem Freund eine der Limos, ließ aber nicht erkennen, dass ich mich noch immer hier hinten dem Crepesstand verbarg. „Ist Zaira noch nicht wieder da?“
Diese Frage ließ mich erleichtert aufatmen. Jetzt wusste ich wieder, warum dieser Grummelpeter mein bester Freund war.
Cio schüttelte den Kopf. „Ich gebe ihr noch fünf Minuten, dann gehe ich sie suchen.“
„Du klammerst zu sehr“, erklärte Kasper ihm und stieg neben Aric auf die Bank, um seinen Hintern auf der Rückenlehne parken zu können.
Cio funkelte ihn an. „Ich klammere gar nicht.“
„Doch. Du bist wie eine so eine Helikoptermutter. Ständig besorgt und dann musst du sie von vorne bis hinten behüten. Ein Wunder, dass sie noch atmen kann.“
„Ich schubse dich gleich von der Bank“, erklärte Cio nüchtern. „Und es wird mir auch nicht leidtun.“
Okay, Zeit einzugreifen. Nicht nur weil Kasper diese Show gerade für mich abzog, ich wollte Cio auch nicht noch mehr Sorgen bereiten. Deswegen trat ich in einem günstigen Moment aus meiner Deckung und schlenderte zu ihnen hinüber, als wäre alles völlig in Ordnung.
„Siehst du?“, sagte Kasper und nickte in meine Richtung. „Putzmunter und in einem Stück.“
Natürlich drehte Cios Kopf sich bei diesen Worten sofort zu mir um.
Ich lächelte ihn vorsichtig an. „Sorry, dass es so lange gedauert hat, die Schlange am Klo war ziemlich lang.“
„Kein Problem“, erwiderte er ruhig, war dann aber wohl ein wenig erstaunt, als ich zu ihm kam und auf seinem Schoß Platz nahm, anstatt mich neben ihm auf dem Bank zu setzen. Seine Arme schlagen sich sofort um meine Hüfte, damit ich nicht runterfallen konnte und es war okay. Mein Körper hatte nicht mal das Bedürfnis sich anzuspannen.
Ich gab mich nicht der Illusion hin, dass es vielleicht besser werden könnte. Ich wusste, dass es daran lag, dass Owen mich nicht so berührt hatte. „Wo sind Alina und Anouk?“
Aric nickte zum Spaßhaus rüber. „Wir hatten keine Lust auf den bunten Trubel, aber die beiden wollten ihn sich nicht nehmen lassen.“
„Möchtest du auch rein?“, fragte Cio mich.
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht. Außerdem müssen wir uns sowieso bald einen Sammelplatz suchen, wenn wir die Zeremonie nicht verpassen wollen.“
Cio legte seine Wange an meinen Arm und kuschelte sich ein wenig an mich. „Wir können zum Siegesbrunnen zurück gehen.“
„Bei dem Gedränge?“ Kasper verzog das Gesicht. „Da brauchen wir ja mindestens eine Stunde.“
„Da hinten ist auch einer.“ Aric zeigte die Straße hinunter. „Wir sind dort vorhin vorbei gekommen.“
Cio seufzte. „Ihr beide seid so lauffaul.“
Als ein Handy piepte, griffen alle drei automatisch nahm ihren Jackentaschen. Nur ich nicht, ich hatte meines nämlich Zuhause gelassen.
„Das ist meines“, sagte Cio und warf einen Blick auf das Display. „Ist nur Vincent“, erklärte er dann und ließ es wieder in seiner Jackentasche verschwinden.
Vincent war sein Partner bei den Wächtern. Ich hatte ihn kurz vor Weihnachten kennengelernt, als ich Cio von der Wache abgeholt hatte, weil wir einen Weihnachtsbaum hatten kaufen wollen. Er war nett.
„Will er dich wieder zu einem Männerabend einladen?“, fragte ich und legte ihm meine Arme um den Hals. Warum nur konnte ich mich in seiner Nähe nicht immer so wohl fühlen.
Cio lächelte ein wenig schief. Doch anstatt zu antworten, zeigte der auf das Spaßhaus. Oder besser auf das Liebespärchen, dass gerade Arm in Arm daraus auftauchte.
Alinas Jacke war offen und das Haar ein wenig zerwühlt. Außerdem waren ihre Wangen gerötet. Auch Anouks Frisur saß nicht mehr ganz so perfekt.
„Die scheinen im Spaßhaus Spaß gehabt zu haben“, murmelte Cio so leise, dass man es nur auf der Bank verstehen konnte.
„Ihr habt wirklich etwas verpasst“, begrüßte Alina uns.
Kasper schnaubte. „Ihr scheint euch auch ohne uns amüsiert zu haben.“
Meine Cousine verdrehte nur die Augen. „Tu mal nicht so, als seist du die Unschuld vom Lande. Ich habe euch alle vier schon miteinander erwischt.“
Anouk trat von hinten an sie heran, nahm sie in die Arme und vergrub seine Gesicht in ihrem Haar. Sofort griff sie nach seinen Händen und hielt ihn fest.
„Äh“, machte Cio. „Das bezweifle ich.“
Sie verdrehte die Augen. „Doch noch alle vier auf einmal. Euch beide und euch beide.“ Sie zeigte erst zu Co und mir, dann zu Aric und Kasper.
Das stimmte leider. „Aber auch nur, weil du scheinbar nie gelernt hast anzuklopfen, bevor du ein fremdes Zimmer betrittst.“
„Ich hatte geklopft“, rechtfertigt sie sich sofort. „Mehrmals sogar, nur kam keiner von euch auf die Idee zu reagieren. Mir bleib also gar nichts anderes …“
„Was zur Hölle?!“
Die drei Worte reichten nicht nur, um Alinas Redefluss zu unterbrechen, sie und Anouk rissen auch erschrocken die Köpfe herum und erstarrten dann einfach.
Oh scheiße. Auch ich drehte den Kopf und musste mit Entsetzen feststellen, dass nur wenige Meter von uns entfernt sowohl meine Eltern, als auch die von Alina standen. Der Ausruf war von Onkel Tristan gekommen, ihren Vater.
Fünf Sekunden lang taten wir alle nichts anderes, als uns gegenseitig anzustarren. Dann sprangen Alina und Anouk auseinander, als würden sie in Flammen stehen. Ich konnte nicht sagen, wer von ihnen allen erschrockener aussah.
„Na das wird jetzt interessant“, schmunzelte Kasper und trank einen Schluck von seiner Limo.
Hm, das war noch harmlos ausgedrückt. Besonders wenn man die Gesichtsfarben von Alinas Eltern betrachtete. Onkel Tristan wirkte ein wenig blass um die Nase, wohingegen Tante Lucy so rot war, dass ich befürchtete, sie würde gleich platzen. Meine Eltern dagegen hielten sich neutral im Hintergrund.
„Ähm“, machte Alina nicht besonders intelligent und schaute von Anouk zu ihren Eltern. „Mir war nur kalt gewesen und Anouk wollte …“
„Oh“, unterbrach Tante Lucy sie. Sie war eine rothaarige Schönheit, aber leider auch ein wenig cholerisch. „Keine Sorge, wir haben gerade ganz genau gesehen, was er gewollt hat.“ Sie fixierte ihn, als wollte sie ihm den Hintern versohlen. Mit einem Teppichklopfer. Auf dem sie vorher ein paar Rasierklingen montiert hatte. Viele Rasierklingen. „Darum also hast du sie so oft nach Silenda eingeladen.“
Leider ließ Anouk sich von seiner Tante nicht einschüchtern. „Sie ist nicht mit mir verwandt.“
Alina riss die Augen auf. „Anouk!“
„Nein, Alina, ich habe keine Lust mehr auf dieses Versteckspiel.“
Na ob jetzt unbedingt der beste Zeitpunkt war, es zu beenden? Ich bezweifelte es.
Tante Lucy knurrte. „Sie ist deine Cousine und noch dazu zehn Jahre jünger als du.“
„Sie ist adoptiert.“
Da brachte das Fass wohl zum überlaufen. Lucy machte einen Schritt nach vorne, als wollte sie sich auf ihn stürzen. Im gleichen Moment jedoch, schlang Tristan seine Arme um sie und Alina sprang schützend vor ihren Freund.
„Schatz“, beschwor Onkel Tristan seine Frau. Er war breitschultrig und hatte blonde Haare. „Beruhige dich.“
„Sie ist meine Tochter! Sie gehört zu dieser Familie! Und er ist ihr verfluchter Cousin!“
Mama schlich hinter den beiden entlang und setzte sich dann neben mich auf die Bank, als wollte sie dieses Drama aus der ersten Reihe verfolgen, ohne dass ihr jemand die Sicht versperrte. Dabei schien sie sich ein Lächeln verkneifen zu müssen.
„Das ist nicht lustig“, murmelte ich ihr zu.
Sie grinste nur noch breiter.
Meine Mutter, oder besser gesagt, die Frau die mich aufgezogen und sich damit den Titel als meine Mutter verdient hatte, war klein, zierlich und dunkelhäutig. Ihr kurzes, schwarzes Haar war mit geisterhaften Rosetten durchsetzt. Sie war kein Vampir und auch kein Lykaner. Sie war etwas ganz anderes, ein Ailuranthrop oder auch Werleopard. Wobei man eigentlich besser sagen sollte, sie war ein Werpanther.
„Sie ist auch unsere Tochter“, versuchte Onkel Tristan seine Gefährtin zu beschwichtigen. Ich hatte schon vor langer Zeit erfahren, dass Lucy keine eigenen Kinder hatte bekommen können, darum war ihr das so wichtig. „Und sie wird es auch immer sein.“
„Und er ist verdammt noch mal Viviens Sohn! Die beiden dürfen das nicht!“
„Bitte beruhige dich.“
Sie beruhigte sich nicht. Sie knurrte nur.
„Mama“, sagte Alina zögerlich. „Bitte lass mich erklären. Wir …“
„Das ist unethisch!“, fuhr sie ihrer Tochter dazwischen.
„Ist es nicht“, widersprach Anouk sofort, machte es damit aber nicht wirklich besser. „Mir ist klar, dass es für euch sicher nicht einfach zu verstehen und vielleicht sogar ein Schock ist, aber auch wenn euch das nicht passt, das hier ist keine vorübergehende Laune. Alina ist mir unglaublich wichtig und es ist mir egal, was ihr oder der Rest der Familie darüber denkt.“ Wie um das zu beweisen, trat er neben sie und griff demonstrativ nach ihrer Hand, was meine Tante nur noch lauter knurren ließ. „Alina gehört zu mir und ich lasse sie mir auch nicht wegnehmen.“
Uh, ich war mir nicht sicher, ob das unbedingt die richtige Taktik war.
„Bring ihm zum Schweigen“, knurrte Tante Lucy. „Oder ich tu es.“
Nein, absolut nicht die richtige Taktik.
„Lucy“, sagte Tristan sehr eindringlich. „Ich glaube du solltest ein wenig spazieren gehen.“
„Nein, ich sollte …“
„Doch“, widersprach er ihr und lieferte sich dann mit ihr ein Blickduell. Am Ende gab sie nicht direkt auf. Sie stieß nur ein wütendes Geräusch aus, riss sich los und stiefelte dann in die andere Richtung davon.
Mama sprang sofort von der Bank auf und eilte ihr hinterher. Vermutlich wollte sie sie nicht allein lassen und aufpassen, dass Lucy nach dieser Neuigkeit nichts Dummes tat, wie sie einen neuen Teppichklopfer zu besorgen.
Mein Onkel schaute den beiden Frauen hinterher, bis sie in der Menge verschwunden waren. Dann ließ er seinen Blick nacheinander über uns gleiten und blieb schließlich an seiner Tochter hängen. „Wie lange geht das schon?“
Alina warf einen etwas hilflosen Blick zu Anouk und schaute dann zu mir.
Was hatte ich denn jetzt bitte damit zu tun? Ich war doch nur ein unbeteiligter Zuschauer. Leider hatte ich wegen vorhin noch immer ein schlechtes Gewissen und diesem Dackelblick hatte ich noch nie widerstehen können. „Seit ihr letzten Jahr den Wasserschaden wegen der Waschmaschine hattet“, erklärte ich.
Tristans Schultern versteiften sich ein wenig. „Das war vor einem halben Jahr.“
Mein Vater gab ein seltsames Geräusch von sich. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, er versuchte sich ein Lachen zu verkneifen.
„Schau nicht mich an“, verteidigte ich mich und zeigte auf die beiden Übeltäter. „Das geht alles auf ihr Konto, ich habe damit absolut nichts zu tun.“
„Du hast es gewusst“, sagte er zu mir und ließ dann den Blick nacheinander über uns schweifen. „Ihr alle habt es gewusst.“
Da das offensichtlich war, mussten wir nicht darauf reagieren.
„Wer noch?“
Dieses Mal war es wieder Alina, die das Wort ergriff. „Niemand. Wir wollten es niemanden sagen, bevor die Familie es nicht weiß.“
Er musterte seine Tochter. „Okay, erkläre es mir, denn ich verstehe es nicht.“
„Naja“, wieder schaute sie zu Anouk, der die ganze Angelegenheit mir stoischer Ruhe über sich ergehen ließ. „Anouk hat … also … äh … er mag mich schon eine ganze Weile und letzten Jahr … ich weiß nicht. Er hat mich geküsst und da hab ich gemerkt, dass ich ihn auch ziemlich gerne habe.“
Ziemlich gerne. So nannte man das heutzutage also, wenn man nicht mehr die Finger voneinander lassen konnte. Ich verkniff es mir, das laut auszusprechen. Das hätte sicher nicht zur allgemeinen Stimmung beigetragen.
Tristans Augen wurden eine Spur schmaler. „Es ging also von ihm aus?“
„Naja, beim ersten Mal ja, aber danach …“ Sie verstummte.
Von Tristan kam ein sehr schweres Seufzen. Als er sich dann durchs Gesicht rieb, bemerkte er meinen Vater. „Gibt es einen Grund für dein blödes Grinsen?“
„Oh, ja.“ Mein Vater war ein großer Mann. Wie bei jedem Vampir waren seine Augen von sehr blasser Farbe. Seine waren von einem hellen Eisblau und bildeten damit einen starken Kontrast zu seinem schwarzen Haar. Keine Ahnung warum, aber fast jeder Vampir hatte schwarze Haare, genau wie ich, aber damit hörte die Ähnlichkeit zwischen uns auch schon auf. „Ich freue mich nur gerade darüber, was für eine tolle Tochter ich doch habe. Wenn ich sehe, was andere Töchter so anstellen, habe ich geradezu einen Engel bekommen. Das Schlimmste, was Zaira mir jemals angeschleppt hat, war er.“ Er zeigte auf Cio.
„Hey!“, schimpfte ich und drückte Cio etwas fester an mich. Dem ging es doch wohl zu gut.
So wie Tristan ihn anschaute, wollte er seinem Bruder wohl gerne eine klatschen. Wobei sie ja nicht wirklich Brüder waren. Tristan war ein reinrassiger Lykaner. Die beiden waren aber wie Geschwister aufgewachsen und so waren wir eine Familie, obwohl wir das eigentlich gar nicht waren.
Papas Ausdruck wurde ein wenig weicher. „Anouk hat recht. Ja, Alina ist eure Tochter und ja, sie gehört zur Familie, aber die beiden sind nicht durch Blut miteinander verwand. Es ist vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig, aber es ist nichts Falsches daran.“
Nanu, damit hätte ich ja nicht gerechnet. Besonders nicht, wenn ich daran dachte, wie absolut er gegen die Verlobung zwischen mir und Cio gewesen war.
„Ich denke, ihr solltest diese Nachricht erstmal sacken lassen und eine Nacht darüber schlafen“, fügte mein Vater noch hinzu. „Morgen könnt ihr euch dann dann noch mal in Ruhe zusammensetzten und darüber sprechen.“
Klang vernünftig.
„Außerdem ist das hier weder der richtige Ort, noch die richtige Zeit, um darüber zu diskutieren.“
„Wahrscheinlich.“ Onkel Tristan wandte sich wieder seiner Tochter zu. „In Ordnung, wir belassen es erstmal dabei, aber ich möchte, dass ihr beide morgen ins HQ kommt und dann werden wir uns darüber unterhalten.“
Alina nickte und fragte dann zögernd. „Bist du mir böse?“
„Nein.“ Er schaute von ihr zu Anouk. „Ich bin keinem von euch böse. Es ist nur … seltsam.“
Ob es nun seltsam war oder nicht, sie ließ Anouk los und warf sich ihrem Vater um den Hals, um ihn ganz doll an sich zu drücken. Vor dieser Offenbarung hatte sie wohl mehr Bammel gehabt, als sie bisher zugegeben hatte.
„Schon gut“, sagte ihr Papa und gab sie nach einer kurzen Umarmung wieder frei. „Ich werde auch noch mal mit deiner Mutter sprechen.“
„Danke.“
„Alles ist okay.“ Er drückte noch einmal beruhigend ihre Hand. „Aber ich sollte jetzt wohl besser nach deiner Mutter schauen, bevor sie auf die Idee kommt, jemanden den Kopf abzureißen.“
Alina verzog das Gesicht ein wenig kläglich. „Mama wird sich mit dem Gedanken nicht so leicht anfreunden.“
„Wahrscheinlich nicht. Egal, wir kriegen das schon hin.“ Er drückte noch einmal die Hand, ließ dann seinen Blick nochmals über uns gleiten und kehrte uns dann kopfschüttelnd den Rücken. Das war eine Gedanke, an den er sich erst noch gewöhnen musste.
Mein Vater dagegen schien bester Laune zu sein. Er kam sogar noch einmal grinsend zu mir, um sich mit einem Kuss auf meine Schläfe bei mir zu verabschieden. Er dann verschwand er mit seinem Bruder in der Menge und überließen die unartige Brut wieder sich selber.
„Lief doch gar nicht so schlecht“, bemerkte Aric, während er den beiden mit seinem Blick folgte. „Es ist nicht mal Blut geflossen.“
„Naja“, sagte Cio grinsend. „Aber morgen steht ihnen noch ein Gespräch bevor.“
„Und Tante Vivien und Onkel Roger müsst ihr es auch noch sagen“, überlegte ich. Da gab es schließlich zwei Elternparteien.
„Ich möchte bitte wieder einen Platz in der ersten Reihe“, gab nun auch Kasper noch seinen Senf dazu.
Alina funkelte uns alle nacheinander an. „Ihr seid so unglaublich witzig. Ich kann mich vor Lachen kaum auf dem Stuhl halten.“
Von der Seite trat Anouk an sie heran. Dann nahm er einfach ohne jede Worte ihr Gesicht zwischen die Hände und küsste sie. Er schien erleichtert, dass diese Eröffnung doch verhältnismäßig gut gelaufen war.
Cio schmunzelte. „Na wenigstens haben ihre Eltern das nicht gesehen. Das hätte ihnen vermutlich den Rest gegeben.“
Dem konnte ich nur schwer widersprechen. Es war eine Sache, die beiden miteinander so vertraut kuscheln zu sehen, aber eine ganz andere – wie hatte Alina das einmal ausgedrückt? – sie beim Zungenpetting zu beobachten.
„Wir sollten langsam losgehen“, verkündete Aric und erhob sich von der Bank. „Sonst verpassen wir noch den Anfang von der Zeremonie.“
Da da keiner von uns wollte, folgten wir seinem Beispiel. Alina und Anouk allerdings brauchten noch zwei Extraeinladungen, bevor wir uns auf den Weg machen konnten.
Leider waren wir weder die ersten noch die einzigen, die dem großen Event beiwohnen wollten und sich auf dem Weg zur nächsten Leinwand begaben. Das Gedränge wurde noch schlimmer, als es schon die ganze Zeit gewesen war und zwischendurch verloren wir Aric und Kasper deswegen aus den Augen.
Wir hatten unser Ziel schon fast erreicht, als wir sie wiederfanden und auf einen Parkplatz vor einem großen Einkaufsmark in L-Form zuhielten. Autos fand man hier heute keine, dafür aber eine riesige Leinwand, die man an der Außenwand des Geschäfts hochgezogen hatte. Die Aufnahme lief auch schon, doch im Moment sah man dort nur ein paar aufmerksame Wächter und zwei Umbras um den Altar in Leukos Tempel herum stehen.
Umbras waren Elitesoldaten, oder eher Eliteleibwächter, die einzig dazu gedacht waren, die Alphafamilie zu beschützen.
Cio war bis letztes Jahr ein solcher Umbra gewesen, aber da es sich bei seinem Vorgesetzten um seinen Vater gehandelt hatte und zwischen den beiden einige Spannungen geherrscht hatten, hatte Cio im Zuge eines Streits alles hingeschmissen.
Die Spannungen zwischen den beiden bestanden noch immer, aber mittlerweile bemühten sie sich, den Umgang miteinander zu verbessern. Zu Weihnachten hatten wir seine Eltern sogar zu uns zum Essen eingeladen. Es war ein wenig angespannt gewesen, aber keine von beiden hatte den anderen angebrüllt, oder ihm Vorhaltungen gemacht. Das war schon ein ziemlicher Fortschritt für sie.
Anstatt uns nach vorne durchzudrängen, wo wir die beste Sicht auf die Leinwand hätten, suchten wir uns einen Platz rechts von uns, direkt an der längsseitigen Gebäudewand. So hatten wir noch immer einen guten Blick auf das Geschehen, liefen aber nicht die ganze Zeit Gefahr, angerempelt oder weggedrängt zu werden. Das war sowohl für mich, als auch für Kasper von Vorteil.
Ich hielt Cios Hand fest in meiner. Kasper stand direkt rechts neben mir und ließ es sich gefallen, dass Aric einen Arm um seine Schultern legte, während er abwartend auf die Leinwand schaute. Alina und Anouk nutzten die Wartezeit, um noch ein wenig miteinander rumzuknutschen.
„Das nächste Mal bringen wir ein Brecheisen mit“, verkündete Cio. „Dann bekommen wir die beiden vielleicht auch mal auseinander.“
Grinsend schüttelte ich den Kopf. „Ach, so schlimm sind die beiden doch gar nicht.“
„Das kannst du auch nur sagen, weil du nicht gesehen hast, wo sie ihre Hände vorhin gehabt hat.“
Ähm … ja. Wenn er das schon so betonte, dann wollte ich das auch gar nicht wissen.
„Ich kann euch beide hören“, ließ Alina uns wissen.
„Da ist gut, denn das bedeutet …“
In dem Moment erklang plötzlich ein durchdringendes Wolfsheulen von der großen Leinwand. Es war schon beinahe unheimlich, wie plötzlich die ganze Stadt verstummte und jeder Blick sich gebannt auf die Projektion richtete.
Auch ich fühlte mit einem Mal ein nervöses Kribbeln unter der Haut und spürte mit anwachsender Erwartung, wie der Wolf in mir sein Haupt erhob.
Auf der Leinwand erschien ein älterer Mann und einer schwarzen Robe. Der Seorsum, oder auch Zeremonienmeister. Er lief ein wenig gebeugt, doch sein Blick war erhaben, als er ihn über uns gleiten ließ. Wobei er das ja nicht wirklich tat, es wirkte nur so.
„In neccessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus cariats“, sagte er mit einer klaren und lauten Stimme. Ich hatte nicht den geringsten Schimmer, was das bedeuten sollte.
Von der Seite traten drei Wächter ins Bild. Die beiden äußeren flankierten den Mann in der Mitte, der eine hölzerne Schatulle in in den Händen trug. Sein Haar war an den Schläfen angegraut und der Blick trotz der Feierlichkeiten irgendwie erstarrt.
Ich kannte ihn. Das war Großwächter Hardy Geißler, der erste Mann in der Garde der Königswächter. Außerdem war er auch Ieshas Vater.
Er legte die Schatulle auf den Altar, verbeugte sich dann vor dem Seorsum und verschwand mit den beiden anderen Männern wieder vom Bildschirm.
Der gebeugte Mann trat an den Altar, öffnete die Schatulle und und hob den wohl größten Topas auf der ganzen Welt zusammen mit einem Seidenkissen heraus. Leukos Seele.
Wenn man den Legen glaubt, dann wohnte die Seele des Urvaters aller Lykaner in diesem Stein, um jeden Alpha des Rudels mit Wissen und Macht beizustehen. Ich hatte keinen Schimmer, ob das der Wahrheit entsprach, doch genau wie beim ersten Mal als ich ihn gesehen hatte, machte sich bei seinem Anblick eine nervöse Unruhe in mir breit, die mich dazu brachte, auf die Zehenspitzen zu gehen, um auch nichts zu verpassen.
„Vivat, crescat, floreat“, rief der Seorsum, beugte dann sein Haupt leicht und zog sich vom Altar zurück, um denen Platz zu machen, um die es heute ging. Königin Sadrija, Amarok, König Carlos Amarok und natürlich ihrer knapp sechs Monate alten Tochter Prinzessin Cataleya Amarok.
Königin Sadrija war eine blonde Frau, die immer irgendwie durchscheinend wirkte. Sie war die amtierende Herrscherin des Rudels der Könige. Ihr Wort war Gesetz, ihr Wille geschehe und der ganze Kram. Sie war auch die Cousine von Cayenne und dadurch mit mir verwand.
Ihr Gefährte, König Carlos war groß, stämmig und dunkelhäutig. Außerdem war er auf dem linken Auge blind.
Die kleine Cataleya lag schlafend und dick eingemummelt in den Armen ihrer Mutter. Scheinbar war diese Veranstaltung nicht aufregend genug, um dafür ihr Nickerchen zu unterbrechen.
Wie es schon der Seorsum getan hatte, ließ auch Sadrija ihren Blick einmal über die Leute schweifen und gab einem das Gefühl, nicht nur die Lykaner bei sein im Tempel, sondern auch die vor den Leinwänden direkt anzuschauen.
„Als ich acht Jahre alt war, wurde meine Cousin Samuel geboren“, sagte sie mit deutlicher Stimme und schien an Kontur zu gewinnen. „Er war klein, verschrumpelt und eine Heulsuse.“
Einige Leute lachten leise.
„Wenige Monate nach seiner Geburt, wurde auch er als Alpha in das Rudel der Könige eingeführt. Als meine Tanta Blair ihren Sohn zu genau diesem Altar brachte, fragte ich meine Mutter, wozu der ganze Aufwand. Warum feiern wir Tagelang einen vergleichsweise kurzen Moment und machten so ein Aufhebens darum? Wir hätten es doch auch einfach im kleinen Rahmen bei uns Zuhause tun können.“ Sie hob ihre Hand und strich mit den Fingerspitzen über die Oberfläche des blauen Topas. Sofort veränderten sich ihre Augen und wurden zu denen eines Wolfes. Doch der Blick schien nicht länger ihr zu gehören. Etwas Uraltes starrte uns aus ihren Augen an und sorgte dafür, dass sich die kleinen Härchen auf meinen Armen aufstellten.
„Die Antwort meiner Mutter werde ich nie vergessen. Sie sagte: Weil wir ein Rudel sind und alles miteinander teilen. Das Gute, das Schlechte, die Vergangenheit und auch die Zukunft. Sie sagte, dass wir alle zusammengehören und auch wenn die Alphas die Herrschaft über das Rudel haben, so haben sie nicht das Recht …“
Plötzlich peitschte ein lauter Knall über den Parkplatz. Fast in der gleichen Sekunde gab Kaspar einen Schrei von sich und brach neben mir zusammen.
Ich wirbelte erschrocken zu ihm herum, doch bevor ich begriff, warum er da auf dem Boden lag, oder warum mir der Geruch von frischem Blut in die Nase stieß, brach um mich herum das Chaos aus.
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Cio packte mich, riss mich herum und drückte mich gegen die Hauswand, während er mich gleichzeitig mit seinem Körper abschirmte und seinen Blick hektisch hin und her schießen ließ. Anouk hatte Alina zu Boden gerissen und Aric stand einfach da und starrte Kasper mit weit aufgerissenen Augen an.
Um uns herum, wurden Schreie und Rufe laut. Die Zeremonie von Cataleya wurde einfach fortgeführt, denn an Leukos Tempel bekam niemand etwas von dem Aufruhr hier mit. Die Leute hier jedoch hatten den Knall gehört und begannen wild herumzulaufen und vom Parkplatz zu fliehen, doch ich konnte nur eines denken. Das war ein Schuss gewesen. Ich wusste das so sicher, da mir dieses Geräusch nicht zum ersten Mal in meinem Leben an mein Ohr gedrungen war. Dieser Knall, das war ein verfluchter Schuss gewesen und nun lag mein bester Freund blutend am Boden!
Ein laut des Schmerzes, holte mich wieder in die Realität zurück. Kapser. Oh Gott, Kasper war zu Boden gegangen. Ich versuchte mich von Cio zu befreien, um nach meinem Freund zu sehen, schaffte es aber gerade mal, den Kopf zu drehen.
Kasper lag halb auf dem Rücken. Sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt. Seine Jacke war offen. Auf seinem Bauch breitete sich ein roter Fleck aus. Ich konnte das Blut in der Luft riechen. Es erblühte auf seinem Pullover und tropfte auf das Steinpflaster.
Aric stand erstarrt neben ihn. Seine Augen waren riesig und auf den anwachsenden Fleck gerichtet. Doch plötzlich, als würde etwas in seinem Kopf klick machen, explodierte er einfach in einer Wolke aus Fell, Krallen und Zähnen. Die Nähte seiner Kleidung rissen auf, bis der Stoff nur noch in Fetzen von ihm herunter hing.
Ich konnte kaum glauben, was sich da vor meinen Augen abspielte. Ich hatte schon oft gesehen, wie Lykaner sich verwandelten, doch das hier war wirklich eine regelrechte Explosion. Er verwandelte sich auch nicht in einen Wolf, sondern in etwas, dass irgendwo zwischen Mensch und Tier lag. Es lief auf vier Beine, doch die einzelnen Glieder waren viel zu lang für die eines Wolfes und er bewegte sich auch nicht wie ein Wolf, obwohl er seine vorderen Extremitäten dazu benutzte, nicht nach vorne umzukippen. Es waren Arme mit messerscharfen Klauen, die er benutzte, um sich die störenden Kleidungsstücke vom Leib zu reißen. Er sah aus … er sah aus wie ein Werwolf.
Als ein Mann zu dicht an Kasper vorbeirannte, um sich in Sicherheit zu bringen, schien Aric ihn sofort als Bedrohung einzustufen. Er hob einfach seine Pranke, schlug ihn weg und fletschte die Zähne, als der Mann zwei Meter weiter auf den Boden aufschlug.
„Aric“, sagte Kasper mit schmerzverzerrter Stimme.
Mein Bruder schien ihn nicht zu hören. Er knurrte und stellte sich schützend über Kasper. Geifer tropfte ihm von den Zähnen, während seine Krallen über den Asphalt kratzten.
Als Anouk sich halb aufrichtete, wirbelte Aric sofort zu ihm herum und zog die Lefzen noch höher. Eine Welle von Odeur brach aus ihm hervor und ließ uns alle zusammenzucken.
„Nicht bewegen“, sagte Cio leise. Er ließ Aric keinen Moment aus den Augen. „Der Wolf hat die Kontrolle, er kann nicht klar denken.“
Oh Gott, diesen Zustand kannte ich. Ich selber war bereits ein paar Mal in ihm gewesen. Wenn der Schmerz so plötzlich über einem hereinbrach, dass es sich anfühlte, als würde einem die Seele zerrissen werden, übernahm der Wolf das Kommando, damit man nicht zerbrach. Man wurde nur noch von Gefühlen und Instinkten gelenkt. Ich selber hatte in diesem Zustand einen Mann getötet, der meinen Vater bedroht hatte, aber das was sich hier vor meinen Augen abspielte, war viel schlimmer.
In der Ferne hörte ich Sirenen näher kommen.
Aric warf den Kopf in den Nacken und heulte.
Ich versuchte einen besseren Blick auf Kasper zu bekommen, um herauszufinden, was passiert war. Er blutete am Bauch. Sein Atem kam keuchend und stoßweise. Und dieses Geräusch, dass Wissen, dass Kasper Schmerzen litt, schien Aric mit jedem Moment wütender zu machen und langsam in den Wahnsinn zu treiben.
Er bewegte sich unruhig über ihm, beugte sich nach vorne und schnüffelte an der Wunde. Als Kasper sich bewegte, um sich mit dem Arm am Boden abzustützen, packte Aric ihn an der Schulter. Nicht so als wollte er ihn verletzten. Er zog Kasper nur näher an sich, um ihn zu schützen, nur verstand er nicht, dass er ihm damit zusätzliche Schmerzen zufügte.
Als Kasper gequält aufstöhnte und vor Schmerz die Augen zusammenkniff, fuhr Aric zu uns herum, als machte er uns dafür verantwortlich. Da außer uns niemand mehr in der Nähe war, waren wir in seinen Augen wohl die einzige Möglichkeit.
„Aric“, sagte Cio leise, als mein Bruder damit begann Anouk zu fixieren. „Aric, sieh mich an.“
Nur sehr langsam drehte mein Bruder den Kopf und Cio senkte sofort unterwürfig den Kopf. Er wollte Aric nicht zu einer Herausforderung provozieren.
Die Sirenen kamen näher.
„Komm wieder zu dir“, sagte Cio leise. „Du musst dich beruhigen.“
Aric sah nicht so aus, als wollte er sich demnächst beruhigen. Er strahlte eine Aggressivität aus, die man über den ganzen Parkplatz spüren konnte.
Zögern, weil er sich nicht sicher war, wie Aric reagieren würde, streckte Kasper die Hand nach nach seinem Freund aus. Ich musste mir auf die Zunge beißen, um ihn nicht anzuschreien, dass er das verdammt noch mal seinlassen solle. Sobald die Finger das blonde Fell berührten, hörte Aric auf zu knurren und senkten den Blick auf Kasper.
„Es ist gut“, sagte mein bester Freund leise und legte Aric die Hand auf das wild schlagende Herz. „Alles ist gut.“
Langsam ging Aric in die Hocke und legte dann seine Klaue auf die von Kasper. Er senkte den gewaltigen Schädel und rieb damit über Kaspers Wange.
„Genau, so ist gut und jetzt komm wieder zu mir zurück. Du weißt doch, wie ich es hasse, wenn du meinen strahlenden Prinzen in edler Rüstung spielst.“
Er grummelte.
Ich glaubte nicht, dass Aric verstand, was Kasper da sagte, doch seine ruhige Stimme schien auszureichen, ihn zu besänftigen und die Sicherheit zu geben, die er brauchte, um nicht Vollendens durchzudrehen.
Ich begann mich ein wenig zu entspannen und auch Cio lockerte seine Muskeln wieder. Leider wählten die Fahrzeuge der Wächter genau diesen Moment, um mit lauten Sirenen und quietschenden Reifen auf den Parkplatz einzufahren. Direkt hinter ihnen hielt auch noch ein Notarztfahrzeug, während links und rechts die Wächter aus den Autos purzelten.
Aric sprang sofort auf die Beine, um sich der neuen Gefahr zu stellen. Dabei warf er Kasper auch noch fast um, weswegen dieser vor neuerlichem Schmerz aufkeuchte. Das machte ihn gleich noch wütender und die Situation begann fast zu eskalieren.
Die Wächter versuchten sich noch einen Überblick zu verschaffen, einige waren bei Aric Anblick sofort erstarrt und einer zog sogar seine Waffe aus dem Holster.
„Nein!“, rief Cio quer über den Parkplatz. „Nicht schießen!“
Aus Aric brach eine weitere Welle von Odeur hervor, die so sehr an meinen Sinnen zerrte, dass sowohl Cio als auch ich in die Knie gingen und uns duckten. Selbst wenn wir gewollt hätten, hätten wir uns nicht dagegen wehren können.
Auch die Wächter erstarrten und fielen praktisch in sich zusammen, während sie die Köpfe einzogen. Nur zwei von ihnen waren stark genug, auf den Beinen zu bleiben, aber auch sie senkten eilig die Köpfe, um nicht den Anschein zu erwecken, sie wollten Aric herausfordern.
Leider begann der Stress dann auch noch an meinen Nerven zu zerren. „Oh nein“, murmelte ich, als ich spürte, wie schwarzes Fell durch meine Haut brach. Als Misto hatte ich oft Schwierigkeiten mit der Kontrolle über meine Verwandlung. Bei Stress und starken Gefühlen machte mein Körper manchmal was er wollte und jetzt gerade wollte er den Wolf hervorbrechen lassen, um sich besser schützen zu können.
Cio drehte bei meinen Worten sofort alarmiert den Kopf zu und sah das Dilemma. Seine Kinnlinie verhärtete sich, als er mir eine Hand auf meine legte, doch seine Stimme blieb ruhig. „Entspann dich Schäfchen, atme ruhig ein und aus.“
„Aric“, sagte Kasper wieder. Seine Stimme war angestrengt und unter seinem Rücken hatte sich inzwischen eine kleine Blutlache gebildet. „Aric, hör auf.“
Aber Aric hörte nicht auf. Knurrend fletschte er die Zähne, umrundete Kasper einmal und griff dann wieder nach seinem Arm, als wollte er ihn mitziehen.
„Hör auf!“, fauchte Kasper ihn an.
Als Aric daraufhin den Kopf nach vorne stieß, hätte ich vor Schreck fast aufgeschrien. Ich schaffte es gerade noch so mir die Hand vor den Mund zu schlagen, als sich Aric Zähne warnend um Kaspers Nacken schlossen.
„Senk den Blick!“, zischte Cio sofort, doch das wäre gar nicht nötig gewesen. Kasper lebte nicht erst seit gestern in der verborgenen Welt und hatte schon vor langer Zeit gelernt, wie Lykaner sich verhielten. Aric biss auch nicht wirklich zu. Es machte er den Eindruck, als wollte er seinen Freund in seine Schranken weisen. Alphas waren nun einmal sehr dominant.
Am Rand bewegten sich ein paar der Wächter geduckt hinter Autos und sammelten sich. Sie wollten wohl besprechen, was sie unternehmen konnten, um Kasper von Aric weg und in den Krankenwagen zu bekommen.
Als Aric die Bewegung wahrnahm, löste er seinen Biss und stellte sich wieder leise knurrend über Kasper.
„Wir müssen ihn beruhigen“, murmelte ich und versuchte weiter meinen inneren Wolf im Zaun zu halten. Ich hatte das Gefühl, als würde er direkt unter meiner Haut kratzen.
„Ich glaube nicht, dass er sich im Moment beruhigen lässt“, erklärte Cio genauso leise, ohne ihn aus den Augen zu lassen. „Nicht solange hier so viele Fremde sind.“
„Aber irgendwas müssen wir doch tun. Kasper blutet immer noch. Wenn nun eine Arterie verletzt ist …“ Ich biss mir auf die Lippe, weil ich gar nicht näher darüber nachdenken wollte.
„Wäre das der Fall, wäre er schon längst verblutet.“ Cio schob sich vorsichtig zur Seite, um mich so vor Arics Aufmerksamkeit zu schützen. „Die Wächter werden ihn betäuben und dann wegsperren müssen, bis sein Kopf sich wieder einschaltet.“
Was? „Wenn sie ihn jetzt von Kasper trennen, könnte er sich verlieren“, zischte ich. Und wenn ein Lykaner sich erst einmal verloren hatte, würde er nie wieder mehr als ein einfaches Tier sein. „Wenn er aufwacht und Kasper ist nicht da, wird nur noch schlimmer durchdrehen.“
Cio schaute grimmig zwischen den Leuten hin und her. „Die Wächter müssen weg“, erkannte er dann ganz richtig. Leider würden die nicht einfach so verschwinden und da Aric sich direkt zwischen uns und den Wächtern befand, konnten wir auch nicht mal eben zu ihnen hinüber huschen, um sie vom Parkplatz zu scheuchen.
„Dein Handy“, sagte ich. „Ruf sie an uns sag ihnen, sie sollen sich zurückziehen, bevor Aric noch völlig den Verstand verliert.“
Er gab mir mit einem kaum merklichen Nicken zu verstehen, dass er das tun würde und hob dann sehr langsam eine Hand vom Boden, um sie in seine Jackentasche gleiten zu lassen. Als er sie wieder heraus ziehen wollte, drehte Aric gerade den Kopf, weswegen er sofort in der Bewegung erstarrte.
Kasper lag mittlerweile auf der Seite. Er hatte die Augen zusammengekniffen und biss die Zähe aufeinander. Er musste höllische Schmerzen haben. Seine Lippen bewegten sich die ganze Zeit, als würde er leise mit Aric sprechen.
Ich konnte nicht sagen, ob mein Bruder ihm zuhörte. Er streifte immer wieder unruhig um den Verletzten herum, ohne den Feind aus den Augen zu lassen. Zwischendurch legte er ihm immer wieder die Klaue auf die Schulter, den Arm oder das Bein, als wollte er ihn trösten und ihm versichern, dass er bei ihm war und nicht zulassen würde, dass ihm noch mal jemand verletzte. Dabei verstand er einfach nicht, dass von ihm selber im Moment die größte Gefahr für Kasper ausging. Nicht weil er ihn verletzten würde – nicht mit Absicht jedenfalls – sondern weil er verhinderte, dass man ihm helfen konnte.
Als Aric sich wieder auf die Wächter konzentrierte, zog Cio sein Handy aus der Tasche, wähle eine Nummer aus dem Adressbuch und hielt es sich dann ans Ohr.
Ich warf einen Blick zu Alina und Anouk. Meine Cousine lag auf dem Rücken. Sie wirkte nicht ängstlich, nur wachsam, genau wie mein Cousin, der immer noch über ihr hockte, weil er es nicht wagte, sich zu bewegen. Sie beide behielten meinen Bruder aufmerksam im Auge.
Als sich durch das Handy eine Stimme meldete, spannte ich mich schon an, in Erwartung, dass Aric irgendwie darauf reagieren würde, doch entweder hörte er es nicht, oder es interessierte ihn nicht, weil er es nicht als Gefahr einstufte. Er schaute uns nicht mal an, während er ein weiteres Mal mit seiner Pranke über Kaspers Arm strich und dabei leise knurrte, als er die huschenden Bewegungen hinter den Wächterautos im Auge behielt.
„Hier spricht Wächter Elicio“, flüsterte Cio in sein Handy. „Ich befinde mich auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt in der Fenrisstraße. Es ist ein Schuss gefallen und …“ Er verstummte kurz, als er der Stimme am anderen Ende lauschte. „Ja ich weiß, dass die Einsatzkräfte bereits vor Ort sind. Darum geht es ja, sie müssen sich sofort zurück ziehen.“
Als einer der Wächter hinter einem der Wagen hervor spähte, duckte Aric sich ganz leicht und spannte die Muskeln an, als wollte er sich zum Sprung bereit machen.
„Nein, das ist kein Scherz. Der Wolf auf dem Parkplatz ist Aric Amarok und er versucht seinen Gefährten zu beschützen. Sie dürfen ihn nicht betäuben. Er würde beim erwachen ausrasten und sich verlieren.“
Der Wächter zog den Kopf wieder zurück, aber Aric fixierte die Steller weiterhin.
„Möchten sie Königin Sadrija erklären, warum die Stadtwächter dafür gesorgt haben, dass der Sohn ihrer Cousine zu einem Tier wurde? Oder am Besten erklären sie es gleich Gräfin Cayenne. Sie ist ja bekannt für ihre Nachsicht, wenn es um ihre Kinder geht.“
Aric beugte sich ein wenig zur Seite, schaute dann aber einen Augenblick unter sich, als Kasper die Hand zu einer Faust ballte und strich ihm beruhigend darüber.
„Die Leute sollen sich einfach langsam zurückziehen. Bevor sie hier aufgetaucht waren, hatte er sich schon fast wieder beruhigt. Die Leute machen ihn nervös und … nein, es wird nichts passieren. Ich sitze direkt hinter ihm, mich kennt er.“ Er nickte seinen unsichtbarem Gesprächspartner zu. „Ja, okay“, sagte er noch, dann beendete er den Anruf und ließ die Hand sehr langsam sinken.
„Ziehen sie sie ab?“
Cio nickte und konzentrierte sich nach einem kurzen Blick zu den Wächtern auf meinen besten Freund. „Kasper“, zischte er.
Sofort fuhr Aric knurrend und geifernd zu uns herum.
Cio duckte sich ein wenig tiefer und richtete seinen Blick auf den Asphalt unter sich. „Sprich mit ihm, versuch ihn abzulenken, bis die Wächter weg sind.“
Kasper öffnete die Lider. In seinen Augen stand Schmerz, aber er schien zu verstehen. „Hey Baby“, sagte er mit rauer Stimme und drehte sich ganz leicht, bis er halb auf dem Rücken lag. Sein Gesicht verzog sich dabei vor Schmerz. Die Blutlache unter ihm war noch größer geworden.
Aric reagierte sofort. Er schnappte in die Luft, knurrte lauter und lief einmal nervös um ihn herum. Dann legte er ihm die Pranke mitten auf die Brust, als wollte er verhindern, dass Kasper sich noch weiter bewegte.
„Scheiße, nicht so stürmisch“, ächzte Kasper. „Ich bin gerade nicht in Bestform.“
Hinter den Autos kam Bewegung auf. Die Wächter begannen sich langsam und so leise wie möglich zurückzuziehen.
Aric hob den Kopf und knurrte.
„Komm schon, du weißt, dass ich dein Machogehabe absolut nicht leiden kann.“ Er holte einmal angestrengt Luft. „Schau mich wenigstens an, wenn ich mit dir spreche, du Blödmann.“ Kasper redete immer weiter auf Aric ein, während sich die Rettungskräfte immer weiter zurückzogen. Hauptsächlich erklärte er ihm, dass er von seiner knurrigen Art absolut nicht beeindruckt war und sich das ja nicht angewöhnen sollte, weil sie beide sonst mal ein ernstes Wörtchen unter vier Augen wechseln würden.
Aric hörte ihm zu. Zwar war er immer wieder Blicke auf die Autos, von denen die Leute sich immer weiter zurückzogen, aber er blieb wo er war. Vielleicht zwei Minuten, nachdem bis auf uns sechs alle Leute verschwunden waren, hörte er sogar mit dem Knurren auf. Er behielt weiterhin alles im Auge, aber er begann sich ein wenig zu entspannen. Der Druck seines Odeurs ließ sogar nach und verschwand dann gänzlich.
Ein wenig später wagte Kasper es sogar wieder die Hand zu heben und Aric vorsichtig durch das Fell am Bauch zu streichen. Berührungen waren für Lykaner wichtig, es stärkte die Band und vermittelte Sicherheit.
Weder Cio und ich, noch die anderen Beiden wagten es sich zu bewegen. Wir wollten Aric nicht wieder in Rage versetzen.
Ich wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, aber langsam wurde meine kauernde Haltung unangenehm und ich musste mein Bein anderes hinstellen, wenn ich keinen Krampf haben wollte. Natürlich reichte die kleine Bewegung aus, um sofort seine Aufmerksamkeit wiederzubekommen.
Er schaute uns an, zeigte mir kurz seine strahlenden weißen Zähne und erhob sich. Aber nur, um einmal um Kasper herumzulaufen und sich dann neben ihn zu legen.
„Mein Gott, das ist hier ein riesiger Parkplatz und du machst dich genauso breit, wie Zuhause im Bett“, murrte Kasper und drehte den Kopf, um ihm in die Augen schauen zu könne. „Meinst du nicht, es ist langsam an der Zeit, dass du deinen Verstand wiederfindest?“ Er hob die Hand strich Aric mit dem Handrücken über den Kopf. „Komm schon, ich weiß dass du irgendwo da drinnen bist und deine Bestiennummer finde ich nicht wirklich Ehrfurcht gebietend. Wenn du mich beeindrucken willst, dann zeig mir was sich unter deinem Fell verbirgt. Ich finde es nämlich nicht sehr anziehend, wenn die die ganze Zeit mein Hemd vollsabberst.“
Arics Ohr zuckte. Einmal, zweimal. Dann drehte es sich, als hätte er ein Geräusch aufgefangen und im nächsten Moment hob er den Kopf. In dem Moment hörte ich es auch, ein ganz leises Klicken, wie von einer Handykamera.
Ich wusste nicht, wer von uns den Kopf schneller herumgerissen hatte, Cio oder ich, aber wir entdeckten das Mädchen wohl gleichzeitig. An der Seite, auf der Grünfläche die den Parkplatz umrandete, halb verborgen hinter einem Baum, spähte ein Mädchen ins Freie und machte doch Tatsächlich mit ihrem Handy Bilder von Aric! Hatte die den Verstand verloren?
Auf einmal ging alles ganz schnell, obwohl ich es wie in Zeitlupe wahrnahm. Cio, dessen Blick von dem Teenager zu Aric flitze. Aric, der plötzlich ohne jede Vorwarnung nach oben schoss und aus dem Liegen heraus einen gewaltigen Satz über Kasper hinüber machte.
Ich sah wie mein bester Freund noch versuchte Aric zu packen, doch seine Finger rutschten einfach an dem Fell ab.
Das Mädchen riss die Augen auf, als sie Aric knurrend und mit gefletschten Zähnen auf sich zukommen sah.
In der gleichen Sekunde stieß Cio sich vom Boden ab. Er war vielleicht zwei Meter von Aric entfernt, als er einen Satz nach vorne machte und mit seinem ganzen Gewicht in Aric hinein krachte.
Die Zeit sprang wieder in ihre normale Geschwindigkeit.
Aric und Cio knallten zusammen auf den Boden. Dabei brachte Cio es irgendwie fertig seinen Freund bei dem harten Aufprall auf dem Asphalt von sich wegzustoßen und einmal herumzurollen, sodass er zwar schwer atmend, aber augenscheinlich unverletzt, in der Hocke aufkam. Er senkte sofort den Blick und auch, wenn sein ganzer Körper angespannt war, so wagte er es nicht, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen.
Aric rollte ein Stück weiter, bevor er auf die Beine kam, einmal den Kopf schüttelte und wirklich wütend wurde. Er richtete sich auf. Nicht auf alle Viere, sondern auf den Hinterbeinen und mit einem Mal wirkte er wie der Mythos über die Werwölfe, der die Menschen in der früheren Zeit in Angst und Schrecken versetzte hatte.
Er zog seine Lefzen so hoch, dass sein Zahnfleisch zum Vorschein kam. Ich sah wie seine Muskeln sich anspannten und in dem Moment wusste ich, dass er angreifen würde.
Ich dachte nicht mal eine Sekunde nach, als ich auf die Beine sprang. Vor meinem inneren Auge blitzen nur Bilder auf, wie die beiden aufeinander stießen und sich gegenseitig verletzen würden und in dem Moment, in dem Aric sich abstieß, streckte ich die Hand nach ihm aus und schrie: „Nein!“
Aric blieb sofort wieder stehen und riss den Kopf zu mir herum – genau wie jeder andere Lykaner auf dem Parkplatz. Nicht wegen meines Rufes, sondern wegen dem was ich tat. Ich dünstete Odeur aus. Ich hatte keine Ahnung wie ich es machte, oder wie ich damit umgehen musste, aber ich spürte es.
Es war nicht das erste Mal, dass mir das passierte. Es war auch nicht so stark wie das von Aric, aber er reagierte darauf, indem er nun mich ins Visier nahm.
Cios Blick flitzte sofort zu mir herüber, aber er wagte es nicht sich zu bewegen. Er schaute einfach nur äußerst angespannte dabei zu, wie Aric wieder auf alle Viere hinunter ging und den Kopf auf eine sehr hündische Art zur Seite neigte, als wollte er herausfinden, was es mit mir auf sich hatte.
Unter seinem Blick senkte ich den Kopf und ging langsam wieder auf die Knie hinunter. Das war so nicht geplant gewesen und ich hatte absolut keine Ahnung, was ich jetzt machen sollte.
Aric machte einen zögerlichen Schritt auf mich zu, als wüsste er nicht recht, was er mit mir tun sollte. Er blinzelte, machte noch einen Schritt und blinzelte wieder, während mein Odeur noch immer um uns herum wallte.
Er zog die Lefzen zurück, schüttelte den Kopf und schaute sich dann um, als sei er sich nicht sicher, wie er hier her gekommen war und was genau er hier tat. Sein Blick streifte mich und blieb dann an meinem besten Freund hängen. „Kasper“, flüsterte er mit sehr gutturaler Stimme und plötzlich begann der Wolf von seinem Körper zu schmelzen und sich in sein Innerstes zurückzuziehen.
Ich hielt die Luft an und tat nichts anderes, als ihn anzustarren, bis aus dem Werwolf wieder zu meinem Bruder geworden war, der keuchend und nackt auf dem Parkplatz vor einem Supermarkt hockte.
Sobald auch das letzte Merkmal eines Wolfs von ihm verschwunden war, sprang Cio auf die Beine und riss sich noch während er auf seinen Freund zueilte, die Jacke von den Schultern. Auch Alina und Anouk kamen auf die Beine und eilten den beiden entgegen.
Ich dagegen sackte einfach nur erleichtert auf meinen Hintern und beobachtete, wie Cio die Jacke um Arics Schultern legte. Er sagte etwas zu ihm, doch Aric hörte ihm gar nicht zu. Er sah Kasper, der immer noch blutend am Boden lag und die Hand nach ihm ausstrecke.
Langsam und zögernd kam er auf die Beine stolperte zu seinem Freund hinüber. Seine Hand zitterte, als er neben Kasper auf die Knie fiel, seine Hand ergriff und sie sich gegen die Stirn drückte. Dass er dabei in Kaspers Blut kniete, schien er gar nicht zu bemerken. „Oh Gott.“
Alina kam hinzu und riss sie ihren pinken Schal von den Schultern, während sie neben ihm in die Hocke ging. Sie wickelte ihn Aric um den Hals, doch der schien das gar nicht zu bemerken.
„Ist schon gut“, murmelte Kasper und schloss einen Moment die Augen. „Fang bloß nicht an zu heulen.“ Die Worte klangen vielleicht hart, doch sein Ton war weich und tröstlich.
Aric gab einen ersticken Laut von sich.
Mein Blick kreuzte sich über sie hinweg mit dem von Cio. In seinen Augen lag Erstaunen und auch ein wenig Ehrfurcht. Ja, dass ich das mit dem Odeur konnte, hatte er nicht gewusst. Ich hatte es bisher auch nur einmal getan und da hatte ich es selber gar nicht mitbekommen. Alina hatte es mir hinterher erzählt, aber zu dieser Zeit war so viel los gewesen, dass es mir einfach wieder entfallen war. Es war nicht wichtig für mich gewesen.
Doch als Cio sich nun erhob und zu mir rüber kam, fragte ich mich, ob er das genauso sah. Als er vor mir in die Hocke ging, wortlos mein Gesicht ergriff und mich dann einfach küsste, war ich im viel zu perplex, um irgendwie darauf zu reagieren. „Du erstaunst mich immer wieder“, murmelte er mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. „Danke.“
„Ähm … bitte?“
Er lachte leise. „Du hast keine Ahnung, was du gerade getan hast, oder?“
Doch, die hatte ich. Ich war der Grund, warum die beiden nicht aufeinander losgegangen waren, um anschließend zusammen mit Kasper im Krankenhaus zu landen. „Ich hab das nicht bewusst gemacht.“
„Ich weiß und deswegen würde ich dir trotz meiner Dankbarkeit am liebsten den Hintern versohlen. Du bist einfach aufgesprungen. Was hast du dir nur dabei gedacht?“
„Hm, wenn ich ehrlich bin, habe ich überhaupt nichts gedacht.“
Er seufzte, als hätte er genau das befürchtet. „Okay. Bleib hier sitzen, ich rufe die Wächter zurück.“ Er gab mich frei und begann sich suchend auf dem Parkplatz umzuschauen. Dann ging er hinüber zur Hauswand, wo er bei seinem Manöver sein Handy hatte liegen lassen.
Ich schaute wieder zu Aric. Er zitterte am ganzen Körper.
„Diese Tortur wirst du mir büßen“, murmelte Kasper. „Du wirst mir eine Woche lang jeden Wunsch von den Lippen ablesen. Außerdem will ich meine verdammten Knoblauchchips, ohne mir hinterher von dir anhören zu müssen, dass ich aus dem Mund stinke.“
Aric stieß ein gequältes Lachen aus, in dem sein ganzer Kummer lag und drückte seine Stirn gegen die von Kasper.
Der Teenager stand noch immer am Baum und schien nicht recht zu wissen, ob es besser war einfach dort stehen zu bleiben, oder sie doch lieber das Weite suchen sollte.
Auf der großen Leinwand drückte Sadrija Cataleya an sich, während sie glücklich lächelte. Die Zeremonie war vorbei.
Fünf Minuten später waren die Wächter wieder da. Die Sanitäter und der Notarzt tauchten auf und begannen Kasper zu versorgen. Er wurde auf eine Liege gelegt und zusammen mit Aric in den Krankenwagen geschoben.
Ich saß da, beobachtete das geschäftige Treiben und fror plötzlich bis ins Mark. Das hatte nichts mit dem Wetter zu tun, doch mir wurde auf einmal klar, was hier eigentlich geschehen war. Jemand hatte auf Kasper geschossen. Wir waren nur hier gewesen, um und die Zeremonie anzuschauen und nun war er auf dem Weg ins Krankenhaus.
Langsam erhob ich mich auf die Beine und wich bis zur Hauswand zurück. Dabei schlang ich die Arme um meinen Körper und ließ meinen Blick wachsam über die Umgebung gleiten. Von wo war auf ihn geschossen worden und vor allen Dingen warum? Kasper konnte ziemlich grummelig und unfreundlich sein, aber er hatte doch niemanden etwas getan.
Als meine Finger zu zittern begannen, steckte ich sie in die Jackentasche und umfasste meinen Elektroschocker. Ein Name geisterte durch meinen Kopf. Nein, bitte nicht.
Cio trat mit zwei Wächtern im Gepäck auf mich zu. Als er mich musterte, runzelte er die Stirn. „Schäfchen?“
„Das war Iesha“, flüsterte ich.
Der eine Wächter, ein großer, bulliger Kerl mit einer großen, bulligen Nase im Gesicht, neigte den Kopf leicht zur Seite. „Wer ist Iesha?“
Cio zögerte.
„Der Amor-Killer“, sagte ich leise. „Sie hat wieder versucht mich zu töten.“
„Nein, Schäfchen“, sagte Cio sofort. „ Das …“
„Kaspar hat direkt neben mir gestanden“, fiel ich ihm ins Wort und schaute mich unruhig um. Plötzlich fühlte ich mich beobachtet. „Der Schuss war für mich gedacht.“ Ich legte meine Hand schützend auf einen Bauch. Sie hatte den kleinen Passagier treffen können. Oh Gott, wenn sie nur ein wenig besser gezielt hätte, wäre mein Baby nun tot. „Es fängt wieder an.“
„Nein“, sagte Cio entschlossen. Er griff nach meinem Gesicht und zwang mich ihn anzusehen. „Kasper wurde rechts in den Bauch getroffen, du hast links von ihm gestanden. Iesha ist eine erstklassige Schützin. Wenn sie es gewesen wäre, hätte sie nicht fast einen Meter daneben geschossen. Verstehst du mich?“
„Aber … wer war es dann?“
„Ich weiß es nicht.“ Er nahm mich in die Arme und weil ich sowieso schon so angespannt war, schreckte ich nicht mal davor zurück. „Aber du brauchst keine Angst haben, alles wird wieder gut.“
Wie konnte er sich da so sicher sein? Wie konnte er die Annahme, es sei Iesha gewesen, einfach so abtun? Sie war noch immer hier draußen. Vielleicht beobachtete sie uns genau in diesem Moment.
Das Zittern meiner Finger breitete sich auf meinen Körper aus.
„Schhh“, machte Cio und rieb mir tröstend über den Rücken. „Es ist alles gut, es kommt alles wieder in Ordnung.“
Da war ich ganz anderer Meinung.
Cio drehte sich ein wenig, um die Wächter anschauen zu können. „Ich mache meine Aussage morgen auf der Wache, wenn das in Ordnung geht.“
„Eigentlich ist das gegen das Protokoll und das weißt du.“
„Komm schon Gregor, sie ist völlig fertig. Ich will sie nach Hause bringen.“
„Nein“, sagte ich sofort und schüttelt der Kopf. Der Griff um den Elektroschocker wurde fester. „Wir müssen ins Krankenhaus, ich muss zu Kasper.“
„Schäfchen …“
„Ich muss zu Kasper.“ Ich machte mich von ihm frei und starrte ihm in die Augen. „Ich muss sehen, dass es ihm gut geht.“
Das ging ihm absolut gegen den Strich. „Wir können doch morgen …“
„Nein.“
Er seufzte. „Okay, meinetwegen, wir fahren ins Krankenhaus.“
°°°
Leises Stimmengemurmel drang an mein Ohr. Irgendwo klingelte ein Telefon. Die Schritte auf dem abgenutzten Linoleumboden machten seltsame Geräusche. Weiter hinten saß ein Mann, der leise in sein Handy hinein sprach.
Ich hatte nur Augen für Aric, der mit dem Nerven völlig am Ende neben mir auf dem Stuhl saß und blicklos ins Leere starrte. Irgendjemand hatte ihm Kleidung gegeben, eine schwarze Jogginghose und ein weißes T-Shirt. Schuhe allerdings trug er keine.
Cayenne stand direkt vor ihrem Sohn und strich ihm immer wieder beruhigend durchs Haar. Ihre Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst und ließen sie wirken, als wollte sie jemanden den Kopf abreißen, weil mein ihrem Kind wehgetan hatte, indem man seinen Gefährten verletzt hatte.
Auf der anderen Seite neben ihm saß Kiara. Sie hielt seine Hand fest und wirkte nicht weniger wütend, als Cayenne. Nur Sydney, der zu Kiaras Füßen saß, schien ein Ruhepol in dieser Mischung aus Wut und Kummer zu sein.
Die vier hatten bereits hier gesessen, als ich vor einer knappen Stunde mit Cio im Krankenhaus angekommen war.
Aric hatte seine Mutter angerufen, sobald die Ärzte ihn in das Wartezimmer gesetzt hatten. Sie waren nur kurz vor uns hier aufgetaucht.
Alina und Anouk hatten uns begleiten wollen. Besonders Alina hatte sich große Sorgen um Kasper gemacht, doch dann hatte Lucy ihre Tochter auf dem Handy angerufen. Irgendjemand hatte ihr gesagt, was passiert war und seit meiner schiefgelaufenen Hochzeit, auf der Alina verletzt geworden war, konnte Lucy ein kleinen wenig hysterisch werden, wenn es um das Wohlergehen ihrer Tochter ging. Es war Alina und Anouk gar nichts anderes übrig geblieben, als zu ihren Eltern zu fahren, um sie zu beruhigen.
Cio tauchte mit einem Becher Wasser aus dem rechten Gang auf und kam zu mir. „Irgendwas neues?“, fragte er und reichte mir das Getränk.
Cayenne schüttelte den Kopf. „Er ist immer noch im OP, aber es dauert sicher nicht mehr lange.“
Ob sie das wirklich glaubte, oder es nur sagte, um ihren Sohn zu beruhigen, wusste ich nicht, aber zumindest ich hoffte, dass es der Wahrheit entsprach.
Ich war immer noch der Meinung, dass Kasper nur angeschossen geworden war, weil er neben mir gestanden hatte. Gut, vielleicht nahm ich mich ein wenig zu wichtig, weil ich sofort davon ausging, dass dieser Vorfall mit mir zu tun hatte, aber ich schaffte es auch nicht mir einzureden, dass es nicht so war war. Verdammt, es wäre wirklich zu viel des Zufalls, wenn genau heute jemand an dem Ort, an dem ich mich befand, eine Waffe abfeuerte und dann auch noch ganz ausversehen, unter all den Besuchern, den Mann anschoss, der direkt neben mir stand.
Aber das würde auch bedeuten, dass man mich verfolgt hatte. Wir hatten uns selber erst zehn Minuten, bevor wir dort hingegangen waren, dazu entschieden, dass wir dort … naja, hingehen würden. In der Stadt hatte es heute ein Haufen solcher Sammelplätze gegeben. Niemand hätte vorhersehen können, auf welchen unsere Wahl fallen würde.
Der Gedanke machte mir Angst. Irgendwo war mir die ganze Zeit bewusst gewesen, dass es noch nicht zu Ende war, schließlich war Iesha noch immer auf freiem Fuß, aber bisher hatte ich nicht darüber nachgedacht, was es bedeutete – nicht wirklich. Doch jetzt ließen diese Gedanken mich nicht mehr in Ruhe. Iesha hatte bereits so viel Kummer und Leid verursacht, ich wollte gar nicht wissen, was jetzt schon wieder in ihrem kranken Hirn vor sich ging.
„Hey“, sagte Cio, hockte sich vor mich und griff nach meinen Händen, die noch immer den Wasserbecher umklammerten. „Hör auf damit, du bist nicht dafür verantwortlich.“
Natürlich wusste er was in meinem Kopf vor sich ging. Es stand mir vermutlich mir dicken Buchstaben ins Gesicht geschrieben.
„Du hast nur dafür gesorgt, dass die Situation nicht eskaliert ist, okay?“
Ich wollte das so gerne glauben. Es bestand natürlich die Möglichkeit, dass das ich mich irrte, einfach ein Fall von zur-falschen-Zeit-am-falschen-Ort, aber das erschien mir so unwahrscheinlich, dass allein die Idee sich in meinem Kopf schon lächerlich anhörte.
„Schäfchen.“ Mit sanften Fingern legte er mich die Hand an die Wange. „Es kommt alles in Ordnung.“
Zum Glück blieb mir eine Erwiderung darauf erspart, denn in dem Moment ging die Tür zum OP-Bereich auf und ein Arzt in OP-Kleidung trat heraus. Da Aric sofort aus seinem Stuhl hochschoss und an seiner Mutter vorbei stürmte, musste das wohl der Arzt sein, der sich um Kasper gekümmert hatte.
„Wie geht es ihm“, fragte Aric auch sofort.
Ich eilte mit dem Rest der Familie hinter ihm her.
Der Arzt bedachte uns alle mit einem kleinen Lächeln. „Keine Sorge, er wird wieder vollkommen gesund.“
Oh Gott, vor Freude wäre ich fast in die Knie gegangen. Kasper ging es gut und er würde wieder gesund werden.
„Die Kugel hat keine lebenswichtigen Organe verletzt und auch keine wichtigen Arterien getroffen. Wir werden ihn trotzdem ein paar Tage hier behalten, weil die Wunde ziemlich verdreckt gewesen war, aber ich rechne nicht mit weiteren Komplikationen. In ein paar Tagen darf er sicher wieder nach Hause.“
Aric sah aus, als würde er vor Erleichterung gleich in Tränen ausbrechen. „Kann ich zu ihm?“
Der Arzt nickte. „Sobald er in den Aufwachraum gebracht wurde, wird eine der Schwester sie holen kommen. Aber bitte nur sie. Auch wenn es ein verhältnismäßig einfacher Eingriff war, braucht Herr Brandt doch etwas Ruhe. Sie können ihn morgen alle besuchen.“
„Danke“, sagte Cayenne und nickte dem Mann zu.
„Das ist doch selbstverständlich. Und keine Sorge, es wird alles wieder gut.“
Aric nickte nur. Er hatte sich Hand über die Augen gelegt und ich vermutete, dass er gerade angestrengt versuchte die Tränen zurück zu halten.
„Kopf hoch, junger Mann“, sagte der Arzt gutmütig, klopfte meinem Bruder noch mal auf die Schulter und ließ uns dann wieder alleine.
Bis die Schwester Aric holen kam, verging noch mal fast eine halbe Stunde. Ich wartete, weil ich irgendwie doch hoffte, Kasper noch einmal sehen zu können, aber das passierte natürlich nicht. Nur Aric durfte zu ihm und der war so fertig, dass ich mich nicht mal traute ihn zu bitten, sich später bei mir zu melden, um mich über den Stand der Dinge zu informieren.
Es war letztendlich Cayenne, die mich mit Cio nach Hause schickte und mir erklärte, dass ich keine große Hilfe sein würde, wenn ich wegen des Schrecks demnächst einfach umfallen würde.
Ich fühlte mich zwar nicht so, als würde ich gleich in Ohnmacht fallen, ließ mich aber trotzdem von Cio nach Hause bringen. Eigentlich fühlte ich im Moment … ich wusste nicht einmal, was genau ich fühlte. Es war in drückenden und beklemmendes Gefühl, leer und finster.
Cio warf mir während der Fahrt in unserem Auto immer wieder besorgte Blicke zu. Sein Mund öffnete sich mehr als einmal, aber er schien einfach nicht die passenden Worte zu finden.
„Glaubst du wirklich, dass das nur ein dummer Zufall war?“, fragte ich, als wir an einer Ampel standen. Wir würden vielleicht noch fünf Minuten brauchen, bis wir Zuhause waren. „Glaubst du wirklich, dass das nichts mit Iesha zu tun hat?“
„Ja“, sagte er ohne das kleine Zögern.
„Warum?“
Dieses Mal dachte er erst über die Frage nach, bevor er sie beantwortete. „Iesha will mich. In ihren Augen bist du ein Hindernis, dass zwischen ihr und mir steht.“ Er nahm seine Hand vom Schalthebel und legte sie mir aufs Knie. „Sie hätte keinen Grund gehabt auf Kasper zu schießen. Wärst du nicht mehr da, wäre sie ihrem Ziel aus ihrer Sicht einen Schritt näher, Kasper jedoch hat keinerlei Bedeutung für sie. Es bringt ihr nichts das er verletzt ist.“
Damit wollte er mir wohl klar machen, dass Iesha keine Chance ungenutzt lassen würde, mich aus dem Weg zu räumen. Irgendwie fand ich den Gedanken nicht viel beruhigender.
Als die Ampel auf grün sprang, drückte er kurz mein Knie und setzte den Wagen dann wieder in Bewegung. „Ich weiß nicht, wo Iesha im Augenblick ist, aber ich bezweifle, dass sie auf diesem Parkplatz war.“
„Ich hasse das“, murmelte ich und legte schützend die Arme um den kleinen Passagier. „Sie hätten Iesha niemals aus der Anstalt entlassen dürfen.“ Wäre Iesha noch immer weggesperrt, würden heute noch so viele Leute leben.
„Nein“, stimmte er mir leise zu. „Das hätten sie nicht tun dürfen.“
Während der restlichen Fahr sagte keiner von uns ein Wort. Trotzdem bemerkte ich sehr wohl, wie Cio mich immer wieder wachsam aus dem Augenwinkel beobachtete.
Wieder bekam ich ein schlechtes Gewissen, denn wieder war ich Schuld an seiner Sorge, aber ich wusste auch nicht, wie ich das ändern konnte. Wenn ich meine Mutter nur damals im Schloss nicht aufgehalten hätte, dann wäre Iesha bereits seit Jahren tot und nichts von alledem wäre jemals geschehen.
Aber damals hatte ich noch nicht verstanden, wie krank Iesha wirklich war. Sie hatte unbewaffnet und bewusstlos am Boden gelegen, während um uns herum die Lykaner um den Thron gekämpft hatten. Trotz allem war es mir einfach falsch erschienen, jemanden zu töten. Es gab schließlich genug andere Möglichkeiten, jemanden für seine Verfehlungen zu bestrafen.
Doch heute und hier in diesem Wagen, wünschte ich mir, Mama hätte sie einfach umgebracht. Dieser Gedanke machte mir Angst, denn das war nicht ich. Ich verabscheute Gewalt.
Als Cio den Wagen vor unserem Haus parkte und ich hinaus auf den Bürgersteig trat, fühlte mein ganzer Körper sich seltsam taub an. Ich spürte kaum, wie er meine Hand nahm und mich nach drinnen brachte. Der Weg nach oben in unsere Wohnung, erlebte ich wie in einer Art Trance. Ich wusste wo ich war und was ich tat, nur irgendwie nahm ich das nicht wirklich wahr.
„Weißt du was?“, fragte Cio, als er den Schlüssel ins Schloss stecke. „Du nimmst jetzt erstmal eine schöne, warme Dusche und dann bestellen wir uns eine extra große Pizza mit viel Käse.“
Ich nickte wie auf Autopilot.
Das Schloss klickte und Cio schob die Tür auf. „Und danach …“
Der Rest seiner Worte gingen einfach unter, als mir ein sehr vertrauter Geruch entgegenschlug und dafür sorgte, dass meine Fänge plötzlich aus ihren Taschen fuhren. Blut. In meiner Wohnung roch es nach Blut und ich musste nur ein Blick durch die Tür werfen, um zu verstehen, woher es kam.
Tayfun saß auf der Couch und hatte das Gesicht am Hals einer jungen, rothaarigen Frau vergraben. Als er uns jedoch kommen hörte, hob er den Kopf, was der Frau ein beinahe weinerliches „Nein, nicht“ entlockte.
Ihre Hände streckten sich sofort nach ihm aus, als wollte sie ihn zurückziehen, doch er fing sie in der Luft ab. „Kein Sorge“, sagte er leise und beruhigen. „Geht gleich weiter.“ Er drehte sich mit einem entschuldigenden Lächeln zu uns herum. Seine Fänge waren voll ausgefahren und am Mundwinkel war ein kleiner roter Fleck. „Tut mir leid, ich hab euch erst später erwartet.“
„Ist schon gut“, hörte ich mich sagen, schaffte es aber nicht, meinen Blick von diesem Blutfleck in seinem Mundwinkel abzuwenden. So süß und unwiderstehlich. In meinem Magen breitete sich ein altvertrautes Ziehen aus, dass mir sehr genau erklärte, wonach ihm nun der Sinn stand. Verdammt, ich hasste diesen ewig plötzlichen Bluthunger.
Ich drehte den Kopf und schaute zu Cio, der mich, noch immer den Schlüssel in der Hand, abwartend beobachtete. Er wusste sofort was ich wollte. Meine ausgefahrenen Fänge waren wahrscheinlich ein guter Anhaltspunkt. Und dann begann er auch noch so einladend zu lächeln, dass ich mich am liebsten direkt auf ihn gestürzt hätte.
Stattdessen riss ich mich zusammen und zwang mich erstmal ganz in Ruhe Jacke und Schuhe auszuziehen, bevor ich wortlos ins Schlafzimmer ging, die Tür von innen schloss und mich direkt daneben an die Wand lehnte.
Okay, es war wieder so weit. Ich würde das hinbekommen, das hatte ich die letzten Mal auch. Außerdem liebte Cio es von mir gebissen zu werden und für den Rest hatte er Verständnis. Es würde alles gut gehen.
Während ich mir das immer und immer wieder sagte, hörte ich, wie die beiden Männer im Nebenraum einige Worte miteinander wechselten. Cios Stimme. Er war direkt nebenan. Das Ziehen in meinem Magen wurde stärker und ich spürte, wie das betäubende Sekret erwartungsvoll aus meinen Fängen austrat.
Als die Tür aufging und Cio in den Raum schlüpfte, wandte ich ihm sofort das Gesicht zu und als er mich dann auch noch anlächelte, schaffte ich sogar es zu erwidern.
Er ließ das Schloss an der Tür zuschnappen, legte mir dann eine Hand auf die Wange und stahl sich einen schnellen Kuss. „Wurde ja auch mal langsam Zeit“, schäkerte er. „Ich warte schon seit Tagen darauf.“
Meine Augenbraue wanderte fragend nach oben.
Er grinste nur. „Ich habe damit schon an dem Morgen gerechnet, als die Wirtin hier war und war geradezu enttäuscht, dass du dich dieses Mal so gut im Griff hattest.“
„Naja, gut im Griff habe ich mich ja eigentlich nie“, gestand ich leise, wobei ich das eigentlich nicht musste, denn er wusste es ja bereits.
„Das sollten wir wohl mal wieder auf die Probe stellen, oder?“ Er zwinkerte mir zu, trat zurück und zog sich Pulli und Shirt aus, bis er mit bloßem Oberkörper vor mir stand.
Cio hatte wirklich einen tollen Körper, so ganz anders als ich und normalerweise würde ich an dieser Stelle sofort zu ihm gehen, und meine Hände darüber wandern lassen, einfach weil ich es mochte ihn anzufassen. Seit meinem Aufenthalt auf der Farm jedoch, scheute ich mich immer ein wenig davor, ihn zu berühren, denn wenn er wüsste, was dort geschehen war, würde er mir das sicher nicht mehr erlauben.
Aber er wusste es nicht. Deswegen setzte er sich jetzt ans Kopfende des Bettes, machte es sich dort mit ein paar Kissen im Rücken bequem und schaute mich dann abwartend an.
Mein Blick glitt zur Tür. Cio hatte sie zwar verschlossen, aber ich wusste, dass Tayfun auf der anderen Seite war.
„Keine Sorge, er isst noch.“ Er streckte mir die Hand entgegen. „Komm schon Schäfchen.“
Da es nur schlimmer werden würde, wenn ich zögerte und mir somit gar keine Wahl blieb, setzte ich mich in Bewegung und kletterte rittlings auf seinem Schoß. Ich erlaubte es ihm sogar, seine Hände auf meine Schenkel zu legen und mich näher an sich heranzuziehen.
Diese Momente, wenn ich bei ihm trank, waren in den letzten Monaten so ziemlich die einzigen, in denen ich seine Nähe zulassen konnte. Das Trinken und der Bluthunger lenkten mich einfach so sehr ab, dass ich es schaffte, alles andere bis zu einem bestimmten Grad zu verdrängen.
Auch jetzt wieder, als meine Instinkte mich dazu drängten, dieses Ziehen zu besänftigen, war es mir beinahe egal, dass seine Finger immer wieder sanft über meine Beine strichen.
Langsam legte ich meine Hände auf seine nackte Brust und spürte sofort, wie sein Herzschlag sich ein kleinen wenig beschleunigte. Es war kein Witz gewesen, Cio mochte es wirklich. Nein, er mochte es nicht nur, er genoss es. Er liebte den Endorphinrausch, der so ein Biss mit sich brachte und auch, dass wir beide uns dabei so nahe waren.
Er hatte mir einmal gesagt, das Beste daran sei, dass ich es war und so wunderte es mich gar nicht, dass er nun einladend den Kopf zur Seite neigte und mir damit seine Halsschlagader praktisch auf einem Silbertablett servierte. „Komm schon“, ermutigte er mich auch noch. „Ich weiß ganz genau, dass du so einem Leckerbissen wir mir nicht widerstehen kannst. Jedenfalls nicht allzu lange.“
Damit brachte er mich trotz allem zum Lächeln. „Wenn ich dir jetzt zustimme, wirst du mit deinem Ego später nicht mehr durch die Tür passen“, sagte ich und nahm meine Brille ab, um sie neben ihm ins Bett zu legen. Dann beugte mich vor, bis ich seinen flatternden Puls an meinen Lippen spüren konnte.
Die Verlockung sofort zuzubeißen war groß. Es wäre für ihn nur ein kurzer Schmerz, bevor ich seine Hormone in Wallung bringen und ihn damit einfach auslöschen würde, aber nicht mal den wollte ich ihm zufügen. Also besann ich mich auf meine Selbstbeherrschung und schabte mit meinen Fängen vorsichtig über die empfindliche Haut, um das betäubende Sekret darauf zu verteilen.
„Ich werde einfach seitlich gehen“, erklärte er und schob seine Hände ein wenig hör. Ein Finger schob sich unter mein Hemd und streifte zögernd die Haut über meinem Jeansbund. Es war wie ein vorsichtiges Herantasten, so als sei er sich nicht sicher, ob es in Ordnung war, aber jetzt gerade war ich zu abgelenkt, um irgendwie darauf zu reagieren. Ich spürte es und es war okay und sobald ihm das klar wurde, strich er dort wieder über die nackte Haut.
„Es ist eine ziemlich kleine Tür“, gab ich zu bedenken und hob den Kopf. Ich musste einen Moment warten, bis die Haut auch wirklich taub war.
„Ach, das wird schon klappen“, erwiderte er nonchalant. Dann aber wurde der Ausdruck in seinem Gesicht etwas ernster. Er legte mir eine Hand an die Wange, wie er es schon tausend Mal getan hatte und in seinen Augen erschien ein sehnsüchtiger Ausdruck. „Ich liebe dich, Schäfchen.“
Noch vor nicht allzu langer Zeit hatten mich diese Worte überglücklich gemacht, besonders, da ich Jahre hatte warten müssen, bis er sie das erste Mal ausgesprochen hatte. Doch nun drückten sie nur zusätzlich auf mein schlechtes Gewissen. „Ich dich auch“, sagte ich leise und fuhr mit den Fingern über seine gut definierte Brust.
Er musterte mich einen Moment und sagte dann etwas zögernd: „Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst, oder?“
Diese Frage trieb mich ein wenig in die Defensive. Das er mir das jetzt so direkt sagte, hatte sicher etwas mit seinem Gespräch mit Aric zu tun. Er wollte, dass ich mich ihm öffnete, aber dass er diese Tür aufstieß, konnte ich nicht erlauben. Ich brauchte ihn doch. „Wenn es etwas zu reden gibt, wirst du wie immer der Erste sein, der es erfährt.“
Meine Stimme klang leicht und auch wenn er daraufhin lächelte, erreichte dieses Lächeln seine Augen nicht. Er wusste, dass da etwas zwischen uns stand und wollte, dass ich mich ihm mitteilte. „Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben“, sagte er, als würde er hoffen, dass das endlich meine Zunge lockern würde. „Du bist mein Traum.“
Ich konnte nicht. Besser das Thema auf etwas anderes zu lenken. „Das will ich doch hoffen. Ich glaube, ich müsste dich in dieses Zimmer sperren und an Bett binden, wenn es da noch andere Frauen gäbe, denen du sowas zuflüsterst.“
Diese Mal bekam ich ein ehrliches Lachen.
„Und jetzt“, - Ich strich mit dem Finger über seine Halsbeuge und kratzte mit dem Nagel ein wenig gröber darüber. Keine Reaktion - „würde ich gerne an dir naschen, wenn du es erlaubst.“
Sein leises, kehliges Lachen, ließ mir einen angenehmen Schauder über den Rücken rinnen. „Du, Traumfrau, darfst immer an mir naschen.“
„Für den Anfang, reicht mir jetzt.“ Mit diesen Worten lehnte ich mich vor und fand instinktiv die Richtige Stelle an seinem Hals. Ich bemerkte, wie ihm in Erwartung auf den Biss der Atem stockte, als ich noch einmal mit meinen Reißzähnen über seine Haut kratzte, bevor ich sie tief in seinem Hals versenkte.
Er stöhnte leise und für einen kurzen Moment wurde sein Griff ein kleinen wenig fester, während die ersten Tropfen seines süßen Blutes auf meine Zunge trafen. Ich lehnte mich noch ein wenig fester gegen ihn und begann dann an den kleinen Löchern zu saugen.
„Oh, verdammt!“, fluchte Cio. Seine Hände zuckten, als wollte er sie über meinen Körper wandern lassen, doch das letzte Mal, als er das getan hatte, hatte ich vor Schreck den Biss abgebrochen und war eilig unter die Dusche gesprungen. Nicht weil ich plötzlich das unbändige Bedürfnis gehabt hatte, mich zu waschen, sondern weil es plötzlich Owens Hände gewesen waren, die ich auf meinem Körper gefühlt hatte und nichts Cios. Ich hatte dieses Gefühl abwaschen müssen, sonst hätte ich vielleicht angefangen zu schreien.
Ja, wenn ich bei Cio trank, war es für mich leichter auf seine Nähe einzugehen, aber auch hier waren seit dem Tag auf der alten Farm Grenzen entstanden, die er nicht überschreiten durfte, wenn es nicht in eine Katastrophe enden sollte.
Aber er konnte seine Hände über meine Beine gleiten lassen und sich entspannt zurücklehnen, während er den Hormoncocktail genoss, der durch mein Vampirsekret ausgelöst wurde. „Das fühlt sich so gut an“, murmelte er mit leiser Stimme und stöhnte dann wieder, als ich erneut an der Wunde sog. „Oh Gott, Schäfchen, du bist der Wahnsinn.“
Ich schloss die Augen und genoss es bei ihm zu sein. Vielleicht lief es im Moment nicht so super zwischen uns, aber wenigstens das hier hatte Iesha mit ihren Taten nicht ganz kaputt machen können. Außerdem, wie hatte Tayfun gesagt? Die Erinnerung würde zwar niemals ganz verschwinden, aber mit der Zeit würde es besser werden. Auch wenn es mir schwer fiel das zu glauben, dies hier war nur eine Phase, die uns zwar belastete, aber sie würde vorübergehen.
Dieser Gedanke half mir dabei, mich noch ein wenig zu entspannen und zum ersten Mal hatte ich den Eindruck, dass Tayfun recht haben könnte.
Als würde Cio spüren, dass ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit in seien Armen wirklich wohl fühlte, veränderte sich auch bei ihm etwas. Er gab ein leises Seufzen von sich und begann die Muskeln zu lockern. Da wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass er gar nicht so gelöst war, wie ich die ganze Zeit immer angenommen hatte. Auch wenn er das hier genoss, so war er doch immer ein wenig wachsam.
Seine rechte Hand schob sich wieder ein wenig unter mein Hemd und Stich am Hosenbund zärtlich über meine Haut. Ich bekam davon eine Gänsehaut.
„Oh Gott“, stöhnte er, als ich den nächsten Schwall Blut in meinen Mund sog. Dabei hielt er mich fest und drängte sich ein wenig gegen mich.
Da Bluttrinken bei uns manchmal nur ein Vorspiel war, wunderte ich mich nicht über das, was ich da zwischen meinen Beinen spürte. Ich zwang mich es zu ignorieren. Es war eine ganz natürliche Reaktion. Nicht nur Männer, auch Frauen wurden durch den Biss eines Vampirs häufig erregt. Er hätte es vermutlich nicht mal verhindern können, wenn er es versucht hätte und da er nicht versuchte, mir an die Wäsche zu gehen, war das in diesem Moment völlig in Ordnung.
Ich ließ mir Zeit und genoss dort versteckt in unserem kleinen Schlafzimmer einfach nur unsere Zweisamkeit. Ich lauschte seinen gemurmelten Worten und sog all die kleinen, sanften Berührungen wie ein Schwamm in ich auf. Ich wusste nicht was sich geändert hatte, oder ob es andauern würde, aber im Moment fühlte ich mich einfach nur wohl.
Selbst als ich satt war und meine Reißzähne sich nach getaner Arbeit friedvoll in meinen Mund zurückzogen, blieb ich einfach wo ich war und legte die Arme um seinen Nacken, während ich das Gesicht an seiner Halsbeuge verbarg.
Seine Hand strich vorsichtig über meine Wirbelsäule. Hoch und runter. Hoch und wieder runter. „Schäfchen?“ Seine Stimme klang ein wenig schläfrig.
„Hmh?“
„Ist alles in Ordnung?“
Ich nickte, weil ich im Augenblick nicht sprechen wollte.
Er schlang den Arm um mich und drückte mich ein wenig fester an sich und so blieben wir noch eine ganze Weile einfach sitzen. Doch ich konnte mich hier nicht für den Rest meines Lebens verstecken. Leider. Als sein Körper sich dann noch weiter entspannte und sein Atem tiefer wurde, wusste ich, es war an der Zeit, wieder in die Realität zurückzukehren. „Du solltest dich hinlegen und ein wenig schlafen.“
„Bleib noch.“
Ich richtete mich ein wenig auf, wodurch er seinen Griff lockern musste. „Du bist erledigt und pennst jetzt schon fast ein.“
Er grinste ein wenig schief. Seine Augenlider waren herabgesunken und sein Blick ein wenig glasig, wie immer nach einem Biss. „Du schaffst mich eben. Nicht, dass das etwas Schlechtes wäre.“
„Natürlich nicht“, stimmte ich ihm zu. „Aber du solltest dich trotzdem ein Weichen ausruhen. Ich mache in der Zeit etwas zu Essen.“
„Okay“, gab er sich geschlagen und zeigte mir damit, dass er wirklich schon halb schlief. Doch als er sich vorbeugte, um mir einen Kuss auf die Lippen zu hauchen, schienen seine Lebensgeister wieder zu erwachsen, denn aus der zärtlichen Berührung wurde schnell eine zweite und als ich mich dieser nicht entzog, auch noch eine dritte, bei der er mir eine Hand in den Nacken schob, um mich näher an sich zu ziehen.
Ich ließ es mir gefallen und lehnte mich ihm sogar entgegen, als er seine Hand in meinen Haaren vergrub. Doch auf einmal zog er mich mit einer Verzweiflung an sich, die einen Stich der Panik in mir auslöste. Ich riss mich einfach von ihm los und wäre wohl vom Bett gefallen, wenn er nicht geistesgegenwärtig nach mir gegriffen hätte.
Einen Moment starrte ich ihn einfach nur mit wild klopfenden Herzen an und versuchte mir wieder einmal zu versichern, dass das hier Cio war und ich keine Angst haben brauchte, doch dann bemerkte ich den Kummer in seinen Augen und wandte schuldbewusst den Blick ab. Damit hatte ich ihn verletzt. Mal wieder.
„Es tut mir leid“, sagte er leise.
Hallo schlechtes Gewissen, schön dass du dich unserer illustren Runde auch noch anschließt. Ich schüttelte den Kopf. „Es ist alles okay“, versicherte ich ihm und griff zwischen den Laken nach meiner Brille. „Ruh dich jetzt aus, ich sage dir Bescheid, wenn das Essen fertig ist.“
Er hielt mich nicht auf, als ich aus dem Bett kletterte, oder rief mich zurück, als ich durch die Tür in den Wohnraum schlüpfte und das schmerzte, weil es mir doch zeigte, dass er langsam aufgab. Ich konnte es ihm nicht mal verübeln. Wenn einem immer nur Zurückweisung entgegenschlug, hatte man irgendwann einfach nicht mehr die Kraft zu kämpfen – egal wie sehr man es wollte.
All diese Gedanken drückten mir aufs Gemüt, als ich die Brille auf meine Nase schob.
„Geht es dir gut?“
Aufgeschreckt hob ich den Blick. Verdammt, Tayfun, den hatte ich ja ganz vergessen.
Er hatte sich auf der Couch ausgestreckt und heilt ein Buch in der Hand. Die Wirtin war verschwunden und er wirkte entspannt und zufrieden.
„Und selber?“, fragte ich, weil ich darauf nicht antworten wollte. „Hat alles geklappt?“ Zur besseren Verständigung, deutete ich auf meine Reißzähne.
Er lächelte ein wenig schief, wodurch er seine Fänge offenbarte. Sowohl den guten, als auch den abgebrochenen. Die Schwellung an seinem Auge, hatte sich bereits vor ein paar Tagen zurückgebildet. Die meisten Kratzer und Schürfwunden waren verheilt und die Blutergüsse nur noch dunkle Schatten unter seiner hellen Haut. „Es war etwas … umständlich, aber Tamina hat die Geduld einer Heiligen. Naja, zumindest, wenn ich den Biss nicht mittendrin unterbreche.“
„Wir wollten dich nicht stören“, sagte ich und ging hinüber zur Küchenzeile.
Tayfun zuckte nur mit den Schultern und legte sein Buch zur Seite. „Es ist eure Wohnung. Ich bin schon froh, dass ich bleiben darf, bis ich nicht mehr wie ein halbverwester Zombie aussehe.“
Ich widmete mich dem Vorratsschrank und seinem Inhalt. „Ich glaube, du machst dir zu viele Sorgen“, erklärte ich ihm und suchte mich durch die einzelnen Fächer. Am Ende entschied ich mich ganz einfach dafür, Pasta zu machen. Käsenudeln mit Sahnesoße. Die aß Cio auch ganz gerne. „Du kannst trotzdem so lange bleiben, wie du möchtest.“
Das ließ ihn lächeln. „Oh, ich glaube dein Mann sieht das ein wenig anders.“
Ja, wahrscheinlich. „Gut, dann kannst du eben bleiben, bis du wieder gesund bist.“ Ein Topf mit Wasser landete auf dem Herd und der Schincken aus dem Kühlschrank auf einem Brettchen. Da ich überzeugter Vegetarier war, schon so lang ich mich zurückerinnern konnte, stand Schinken natürlich nicht auf meinem Speiseplan, aber Cio war ein Wolf und der aß sehr gerne Fleisch. Also würde ich den Schinken extra anbraten und später dazu tun, wenn ich mir eine Portion abgemacht hatte.
„Kann ich dir helfen?“
Etwas überrascht, schaute ich auf. Cio half mir nie beim Kochen. Nicht weil er nicht wollte, sondern weil er es nicht konnte. „Brauchst du nicht.“
„Ich würde mich aber gerne ein wenig nützlich machen.“
Na wenn das so war. „Dann komm her. Du kannst den Schinken schneiden.“ Dann musste ich das nicht anfassen.
Als hätte er nur darauf gewartet, schwang er sich sofort auf die Beine und schlenderte an die Küchenzeile. Sein Humpeln bemerkte man nun noch, wenn man wusste, worauf man achten musste. Dass er heute getrunken hatte, war seiner Heilung sehr förderlich.
Ich drückte Tayfun das Messer in der Hand und musste kurz darauf feststellen, dass er definitiv kein Anfänger in der Küche war. Er war sogar gut genug, dass ich ihm mittendrin den Kochlöffel überreichte und ihm erklärte, es sei eingestellt.
„Chefkoch in der Casa Steele -Evers“, witzelte er und rührte im Kochtopf.
Ich lehnte mich mit dem Hintern an den Schrank. „Müsste es nicht eigentlich Evers-Steele heißen? Cio hat schließlich vor mir hier gewohnt.“
Er dachte einen Moment darüber nach, schüttelte dann aber den Kopf. „Du bist du Frau, du kommst zuerst.“
„Na wenn das so ist, dann werde ich nachher eine Liste mit Hausarbeiten erstellen, die ihr beiden Männer für mich erledigt, während ich es mir mit einer Tüte Gummibärchen auf der Couch bequem machen werde.“
Er grinste. „Bekommen wir auch Uniformen von dir?“
„Natürlich.“ Ich nickte mir all der Ernsthaftigkeit, die ich aufbringen konnte. „Jeden von euch beiden steht ein Lendenschurz zur Verfügung.“ Hm, der Gedanke an einen Cio im Lendenschurz hatte schon etwas für sich.
„Und wenn wir fertig sind, werden wir uns links und rechts neben dir mit Palmenwedeln aufstellen und dir frische Luft zufächeln, während wir dich abwechselnd mit Weintrauben und Schokoerdbeeren füttern.“
Ich strahlte ich an. „Das würdet ihr für mich tun?“
Dafür bekam ich ein Lächeln, dass ich nur mit dem Wort hinreißend beschreiben konnte.
Als sich die Tür zum Schlafzimmer öffnete, drehten wir beide die Köpfe. Cio trat heraus und sofort sackte mein Lächeln ein wenig in sich zusammen. Ich hatte nicht vergessen, wie fluchtartig ich aus dem Schlafzimmer verschwunden war. Und auch warum.
„Hey“, sagte ich leise. „Waren wir zu laut?“
Sein Blick glitt von mir zu Tayfun und maß den Abstand zwischen uns. Was er sah, schien ihm nicht zu gefallen. „Nein, alles okay“, erklärte er und kam zu uns rüber, um sich ein Glas aus dem Schrank zu holen. Dabei drängte er sich so nachdrücklich zwischen Tayfun und mich, dass wir weiter auseinander rutschen mussten.
Ich sagte nichts dazu, da es nicht das erste Mal in den letzten Tagen geschah. Stattdessen begann ich damit das Geschirr aus dem Schrank zu räumen und den Tisch für uns drei zu decken. Cio ließ mich dabei keinen Moment aus den Augen und als das Essen dann fertig war, ließ er sich nicht wie gewöhnlich in seinem Sessel nieder, sondern nahm zwischen mir und Tayfun auf der Couch platz.
Er sagte kein Wort, aber irgendwas schien ihn absolut nicht zu gefallen, weswegen er sich gezwungen sah, Maßnahmen zu ergreifen. Ich würde ihn ja fragen, aber solange wir nicht allein waren, würde er nicht offen mit mir sprechen.
Seufzend widmete ich mich meinem Essen. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, dass Tayfun ins HQ zurückkehrte. Dann würde Cio sich endlich wieder ein wenig entspannen können.
Der restliche Abend verlief sehr ruhig. Wir schauten eine Komödie über eine Patchworkfamilie mit einem dutzend Kinder, die sich gegenseitig bekriegten, damit ihre Eltern sich wieder trennten. Da gab es Essensschlachten und Zahnbürsten die ins Klo gesteckt wurden, weswegen ich auf einmal sehr froh war, als Einzelkind aufgewachsen zu sein.
Der Film war fast zu Ende, als ich mich neben Cio zusammenrollte und seinen Schoß als Kopfkissen benutzte.
Beinahe sofort griff er nach mir und begann mir mit den Fingern durchs Haar zu streichen. Tayfun verabschiedete sich kurz darauf für die Nacht und nicht viel später, lagen auch wir im Bett.
Ich war müde und hätte nichts lieber getan, als einfach nur die Augen zu schließen und zu schlafen, doch sobald mein Kopf das Kissen berührte, erwachten die Ereignisse des Tages zu neuem Leben und ich sah wieder und wieder Kasper, der mit einem Schrei blutend zu Boden ging, während Aric sich in seiner Verzweiflung in ein Monster verwandelte, dass in seiner Raserei um sich schlug.
Erneut begann ich mich zu fragen, ob es wirklich nichts weiter als ein großer Zufall gewesen war. Ich wollte daran glauben – so sehr. Cios Argumente klangen überzeugend, doch da war dieses drückende Gefühl, dass mich davor warnte, unachtsam zu werden.
Erst als Cio nach meiner Hand griff und seine Finger mit meinen verschränkte, schaffte ich es endlich den Kopf auszuschalten und zu schlafen.
Der nächste Morgen begann ruhig. Cio musste erst zu Spätschicht und Tayfun schlief noch, als wir gegen zehn die Wohnung verließen, um zu Kasper ins Krankenhaus zu fahren. Ich hatte nicht sehr gut geschlafen und wegen allem was geschehen war, litt ich mal wieder an Appetitlosigkeit. Da ich aber meinen kleinen Passagier nicht vernachlässigen durfte, zwang ich mich zu frühstücken, auch wenn alles in meinem Mund zu einem geschmacklosen Brei wurde, der mir immerzu am Gaumen festkleben wollte.
Als Cio unseren Wagen gegen halb Elf auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus parkte, hatte ich immer noch das Gefühl, irgendwelche Reste im Mund zu haben, doch eine gründliche Untersuchung im Seitenspiegel zeigte mir ein blitzblankes Gebiss.
„Ich muss mich doch ehrlich fragen, was der Wagen dir getan hat, dass du ihm so dringend die Zähen zeigen musst“, schmunzelte Cio, als der den Schlüssel vom Zündschloss abzog.
„Ich zeige hier niemanden die Zähne“, erklärte ich und löste den Gurt. „Ich habe nur etwas geschaut.“
„Ich werde dir einfach mal glauben.“ Er öffnete seine Tür und stieg aus.
Als ich seinem Beispiel folgen wollte, bemerkte ich, dass ihm sein Handy aus der Hosentasche gefallen war. Kurzerhand schnappte ich es mir, steckte es zu dem ganzen anderen Kram in meine Jackentasche und verließ ebenfalls den Wagen.
Heute war es wieder kalt. Der Himmel war klar und trotzdem wirkte die Welt ein wenig trüb. Auf Schnee würden wir dieses Jahr wohl vergebens warten müssen. Das Beste auf das wir hoffen konnte, war vermutlich ekliger Schneeregen. Darauf konnte ich dann auch dankend verzichten.
Der Parkplatz war ziemlich voll und auch im Krankenhaus herrschte reger Betrieb, aber hauptsächlich schien es sich dabei um Patienten und Angestellte zu handeln.
Am Empfangstresen erkundigten wir uns bei einer überarbeiteten Schwester nach Kaspers Zimmer und traten dann über den weißen Linoleumboden in den hinteren Teil zu den Fahrstühlen. Keiner von uns beiden hatte große Lust die Treppe nach oben in die vierte Etage zu nehmen.
Noch während wir warteten, fiel mir auf, wie gut das Gebäude beheizt war. Schon nach kurzer Zeit fing ich an zu schwitzen und zog mir sowohl den Mantel, als auch den Schal aus. Wie Cio das nur immer mit seiner Wollmütze aushielt – das sogar im Sommer – war mir unverständlich.
„Gib her, ich nehme das.“ Er streckte den Arm aus, um meinen Mantel zu nehmen, doch ich zögerte. Da war mein Elektroschocker drin.
„Ist schon gut“, bemerkte ich daher und trat einen Schritt zur Seite, als der Fahrstuhl sich mit einem Pling öffnete und ein Pfleger einen älteren Mann in einem Rollstuhl heraus schob.
Sobald wir dann im Aufzug standen, drückte ich den Knopf für die vierte Etage. Als ich mich umdrehte, bemerkte ich, wie Cio mich nachdenklich mit den Augen abtastete – oder besser gesagt, einen bestimmten Teil von mir.
Ich kniff die Augen ein wenig zusammen. „Starrst du mir gerade auf die Brust?“
Anstatt mich schelmisch anzugrinsen, wie ich es sonst von ihm gewohnt war, huschte sein Blick nur kurz zu meinen Augen und wanderte dann wieder hinunter.
Auch ich senkte den Blick, weil ich mich fragte, ob ich vielleicht einen Knopf verloren hatte und das Hemd nun aufklaffte. Nein, da war alles ordnungsgemäß verstaut, auch wenn ich heute ein etwas engeres Hemd hatte anziehen müssen, weil ich in den letzten Tagen nicht dazu gekommen war die Wäsche zu waschen.
Cio schüttelte ein wenig verwirrt den Kopf. „Halt mich für verrückt, aber ich habe das Gefühl, sie sind größer geworden.“
Oh Mist. Daran hatte ich ja gar nicht gedacht. Er hatte recht. Das kam von der Schwangerschaft. Verdammt.
Er hob die Hände in die Luft und krümmte die Finger, als würde er zwei große Melonen darin halten, schaute dann von ihnen zu mir und wieder zurück. Als er dann auch noch ein Stück näher kam und die Hände nach mir ausstreckte, funkelte ich ihn warnend an.
„Denk nicht mal dran.“
Er grinste mich an, ließ die Hände dann aber an seine Seiten fallen. „Ich habe nur versucht, einen Vergleich anzustellen.“
„Stell den Vergleich in deinem Kopf an.“
Mit seinem folgenden Zwinkern, wollte er mir wohl erklären, dass er das bereits getan hatte.
Ja, so tiefsinnig Männer auch sein konnten, in manchen Dingen waren sie eben doch einfach gestrickt. Ich drehte mich kopfschüttelnd um und sobald der Aufzug in der vierten Etage hielt, traten wir auf einem weißen, sterilen Korridor. Dabei versuchte ich unauffällig an meinem Hemd herumzuzupfen. Ich wollte nicht, dass Cio seine Aufmerksamkeit weiter darauf richtete und am Ende vielleicht wirklich darüber nachzudenken begann.
Hier war es viel ruhiger, als unten und wir mussten uns an mehreren Schildern orientieren, bis wir Kaspers Zimmer fanden. Bisher hatte ich es so gut es ging vermieden, über die gestrigen Ereignisse nachzudenken, doch als ich nun anklopfte und dann die Tür öffnete, schlug mein Herz ein kleinen wenig schneller.
Das Krankenzimmer war klein, hatte zwei Betten und eine Tür zu einem Bad. Das vordere Bett war leer, im hinteren lag Kasper. Er war ein wenig blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Außerdem sah man seinen Haaren an, dass sie heute noch keine Bürste gesehen hatten, aber er war wach.
Neben ihm auf seinem Stuhl saß Aric und wenn ich ihn mit Kasper verglich, wollte ich ihn sofort in der andere Krankenbett stecken. Er sah noch schlimmer aus als gestern. Vermutlich hatte er die ganze Nach kein Auge zugemacht.
„Hey“, begrüßte ich sie, warf meine Jacke samt Schal über das Fußende des leeren Bettes und ging zu ihnen. Aric nahm ich kurz in den Arm und setzte mich dann vorsichtig neben Kasper auf die Bettkante. „Wie geht es dir?“, fragte ich und warf dabei einen Blick auf seinen Bauch. Da er aber ein Shirt trug und zugedeckt war, gab es für mich nicht viel zu sehen.
„Als hätte man auf mich geschossen und mein Mann würde sich dafür die Schuld geben.“
Aric warf ihm einen bösen Blick zu. „Ich hab es jedenfalls nicht besser gemacht.“
„Aber warst es auch nicht, der die Waffe abgefeuert hat, also hört auf so zu tun, als hättest du ein nicht zu verzeihendes Sakrileg begannen.“
Die beiden funkelten sich an.
„Schau dir das an, Schäfchen, wir sind in eine Beziehungskrise geraten.“ Cio ließ sich mit dem Hintern auf dem leeren Bett sinken. „Und ich hatte schon gedacht, der Besuch würde langweilig werden.“
Kasper zeigte ihm den Mittelfinger.
Ich ignorierte sie und sah direkt Aric an. „Es war Iesha gewesen, wenn also, dann bin ich Schuld.“
Nach diesen Worten entstand eine ziemlich drückende Stille, an dessen Ende Cio schwer seufzte. „Zaira …“
„Nein“, unterbrach ich ihm. „Erzähl mir nicht wieder, dass ich mir das einbilde.“
„Aber das kann nicht stimmen“, sagte nun auch noch Aric. „Ich habe mit dem Arzt und auch mit den Wächtern gesprochen. Wenn man nach dem Winkel geht, in dem Kasper getroffen wurde, muss der Schütze mit uns auf dem Parkplatz gestanden haben – und zwar unmittelbar in unserer Nähe. Wäre Iesha dort gewesen, hätte ich sie gewittert. Alle hätten sie gewittert. Du vergisst, sie ist eine Ausgestoßene.“
Und damit hatte sie einen ganz anderen Geruch, als die Lykaner aus dem Rudel der Könige. Hätte sie mit uns auf dem Parkplatz gestanden, wäre sie aufgefallen wie ein bunter Hund.
„Dann war es eben einer von Ieshas Handlangern.“ Auf jeden Fall steckte sie dahinter, da war ich mir sicher. Es musste einfach so sein.
„Das wäre möglich“, sagte Aric. „Aber warum sollte sie es ausgerechnet auf Kasper abgesehen haben?“
Jetzt fing er auch noch damit an. „Kasper war nicht das Ziel. Er hat neben mir gestanden, die Kugel war für mich …“
Cio knurrte warnend. „Hör auf damit das ständig zu sagen!“, fuhr er mich in einem scharfen Ton an.
Ich drückte die Lippen aufeinander.
Wieder kam diese drückende Stille auf, in der jedes Wort falsch zu sein schien.
„Schäfchen“, sagte Cio dann etwas weicher. „Bitte, ich möchte das nicht mehr hören.“ Weil er fürchtete, dass es doch wahr sein könnte und er deswegen Angst um mich hatte. Er war sich war sich gar nicht so sicher, dass Iesha nichts mit dem Vorfall zu tun hatte, wie er tat, er wünschte es sich einfach nur.
Wie hatte ich nur so blind sein können, das bisher nicht zu bemerken? Die Antwort war völlig klar. Ich achtete kam noch auf ihn. Ich war so in meinem Kopf gefangen, dass ich kaum noch etwas anderes wahrnahm. „Tu mir leid“, sagte ich leise und schwor mir, kein Wort mehr darüber zu verlieren. Cio hatte mit mir im Moment schon genug zu tun, er brauchte nicht noch eine zusätzliche Last, die ich ihm auf die Schultern lud.
„Es muss dir nicht leidtun, nur … hör einfach auf, dich auf diese Idee zu versteifen, okay?“
Idee? Das war nicht nur eine Idee! Am liebsten hätte ich ihm die Zähne gezeigt. Stattdessen funkelte ich ihn einfach nur an und drehte den Kopf dann ruckartig zu Kasper. „Haben dir die Ärzte schon gesagt, wann du wieder nach Hause kannst?“, fragte ich in einem etwas zu scharfen Tonfall.
Kasper runzelte die Stirn. „Knurr mich nicht an, nur weil der Kerl ein Idiot ist.“
Klasse.
„Okay“, sagte Aric. „Ich glaube, wir sollten alle einmal tief durchatmen. Kasper ist verletzt und braucht Ruhe und wenn ihr beide euch nicht einkriegt, setzte ich euch vor die Tür.“
„Ach“, erwiderte ich ein wenig spitz. „Wir müssen ruhig sein, aber du darfst an die Decke gehen, weil das ja auch nicht belastend für ihn wäre.“
„Also im Moment finde ich euch alle ein wenig belastend“, bemerkte Kasper trocken. „Ich wurde angeschossen. Warum also streitet ihr euch, anstatt mich mit eurer Fürsorge zu nerven?“
Damit hatte er recht und weil das so war, fühlte ich mich gleich noch ein wenig schlechter. „Es tut mir leid“, sagte ich und griff nach seiner Hand. Dabei passte ich auf, dass ich nicht an den Zugang kam, der mit dem Tropf neben ihm verbunden war.
„Na hoffentlich“, grummelte er. „Die Ärzte haben sich mit meiner Entlassung noch nicht festgelegt. Auf meine Nachfrage, bekam ich die Antwort: Ein paar Tage.“
Naja, damit wussten wir zumindest, dass er nicht allzu lange hierbleiben musste.
Als Cios Handy zu klingeln begann, griff er sich an die Hosentasche, nur um überrascht festzustellen, dass es nicht an seinem angestammten Platz war.
„In meiner Jackentasche.“
Erschrocken schaute er auf. „Was?!“
Ich runzelte die Stirn. Warum war er denn gleich so entsetzt? „Du hast es vorhin im Auto verloren, da habe ich es in meine Jackentasche gesteckt.“ Ich zeigte auf meinem Mantel am Fußende des Bettes.
„Ah, okay.“
War das da Erleichterung auf seinem Gesicht?
„Aber wenn ich ehrlich bin“, sagte Kasper, als hätte es die Unterbrechung gar nicht gegeben, „würden mich ein paar Tage mehr auch nicht stören.“
Aric schnaubte. „Er findet die Schmerzmittel lustig.“
Ich beobachtete noch einen Moment nachdenklich, wie Cio meinen Mantel vom Fußende des Bettes zu sich heranzog, richtete meine Aufmerksamkeit dann aber wieder auf Kasper, um so seine Erheiterung zu bemerken.
„Hey, als ich gestern aus der OP aufgewacht bin, habe ich mich dank der Schmerzmittel super gefühlt.“
Von Aric kam ein seltsames Geräusch, das ich als unterdrücktes Lachen erkannte. „Er hat auf Wolken geschwebt und wusste nicht mehr wer ich bin. Als ich es ihm sagte, konnte er es gar nicht glauben und hat mich immer wieder gefragt, wie er es geschafft hat, sich so einen scharfen Typen zu angeln.“
Sobald mein Bruder das gesagt hatte, röteten sich Kaspers Wangen doch tatsächlich ein wenig. Na so was, das hatte ich ja noch nie erlebt.
„Ich war nicht ganz klar im Kopf“, verteidigte Kasper sich. „Ich hab …“
„Zaira?“
Von Cios seltsamen Ton alarmiert, drehte ich den Kopf. Das Handy lag still neben dem Mantel, doch er war immer noch an der Tasche beschäftigt.
„Ja?“
„Was ist das?“, fragte er ein wenig perplex und zog ein blaues Heft aus der Tasche, um es dann demonstrativ hochzuhalten, damit ich es auch deutlich sehen konnte. Mein Mutterpass.
Verdammt.
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„Hm“, machte ich, ohne Cio oder den Mutterpass auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Damit war die Katze wohl aus dem Sack. „So hatte ich mir das eigentlich nicht vorgestellt.“
Seine einzige Reaktion darauf, bestand darin, die rechte Augenbraue ein wenig anzuheben.
Ach Mann. „Es sollte eine Überraschung werden.“
Cio blieb stumm, genau wie Aric und Kasper. Keiner von den dreien wusste anscheinend, was er dazu sagen sollte.
„Ich wollte es dir am Valentinstag sagen. Irgendwie …“ Ein wenig hilflos hob ich die Hände. „Der Valentinstag erschien mir passen.“
Cio öffnete den Mund. Einmal, zweimal. Dann warf er noch einen kurzen Blick auf das blaue Heft in seiner Hand. Er schien einen Moment zu brauchen, bis die Intonation in sein Hirn vorgedrungen war. „Du meinst, du … du bist schwanger?“
Ich nickte.
Er zeigte auf sich. „Von mir?“
Also für die Frage hätte ich ihm am liebsten den Mutterpass aus der Hand genommen und ihm damit auf den Kopf gehauen. „Von dir, oder vom Postboten. Ich bin mir da nicht so ganz sicher, weil da ja auch noch der Handwerker war, der …“ Ich kam nicht mehr dazu, meinen Satz zu beenden, denn plötzlich ließ er das blaue Heft einfach auf das Bett fallen. Im nächsten Moment fand ich mich in seinen Armen wieder und dann wirbelte er mich doch tatsächlich fröhlich lachend durch die Luft.
„Oh Gott, Cio!“ Ich klammerte mich an seine Schultern und lachte meinerseits. „Lass mich runter, sonst wird mir schlecht.“
Er ließ mich runter, etwa eine halbe Minute später. Vorher sorgte er noch dafür, dass sich die Welt um mich herum drehte und mir ein wenig schwindlig im Kopf wurde. Als ich dann endlich wieder auf meinen Beinen stand und mich an seiner Arme klammerte, um keine Schlagseite zu bekommen und einfach auf den Boden zu klatschen, packte er mein Gesicht und küsste mich. Er küsste mich so stürmisch, dass mir nun davon schwindlig wurde. Und die ganze Zeit hatte er dieses Lächeln im Gesicht, das sein ganzes Gesicht erstrahlen ließ.
„Oh mein Gott“, murmelte er dann an meinen Lippen. „Du bist schwanger!“
„Ich war auch recht erstaunt, als ich davon erfahren habe“, grinste ich und spürte, wie ich vor Erleichterung fast zu schweben begann. Natürlich, ich hatte gewusst, dass er sich freuen würde, aber trotzdem hatte da irgendwo ein kleiner Zweifel gelauert, der sich nicht ganz so sicher wie ich gewesen war.
„Wann hast du davon erfahren? Und … weißt du, was das bedeutet?“ Er hob den Kopf und sah mich erstaunt an. „Wir brauchen ein Babybett und Spielzeug und Windeln und … und wir brauchen eine größere Wohnung und …“ Auf einmal verstummte er einfach und schaute mich mit großen Augen an. Um die Nase wirkte er mit einem Mal ein wenig käsig.
Ich musterte ihn vorsichtig. „Cio?“
„Ich werde Vater.“ Sein Augen waren in Erstaunen weit aufgerissen. „Oh mein Gott, ich werde Vater, Schäfchen.“
„Ja“, sagte vorsichtig und versuchte seine Reaktion abzuschätzen. „Das ist in den meisten Fällen die Folge einer Schwangerschaft. Der Mann, der daran beteiligt war, wird der Vater.“
Er starrte mich nur an. Zwei Versuche waren nötig, bevor er es schaffte, etwas zu sagen. „Ich glaub ich muss mich setzten.“
So wie er aussah, hielt ich es für eine ausgezeichnete Idee. Wäre schon irgendwie peinlich, wenn der große Umbra einfach in Ohnmacht fiel. Also half ich ihm zurück aufs Bett und ließ mich von ihm seitlich zwischen seine Beine ziehen, sodass ich mit der Schulter an seiner Brust lehnte. Dabei strich ich ihm immer wieder beruhigend über den Nacken.
Er schien es gar nicht zu merken. Sein Blick war auf meinen Bauch gefallen und nun starrte er ihn an, als sei er in den Mittelpunkt seines Universums gerutscht. Er schien zu gleichen Teilen begeistert, nervös und fasziniert zu sein. Gleichzeitig schien es ihn aber auch zu überfordern.
Langsam hob er die Hand, als wollte er sie mir auf den Bauch legen, zögerte dann aber, bevor er mich berühren konnte.
„Es ist okay“, sagte ich leise, nahm seine Hand und drückte sie an meinen Bauch.
Erst hielt er sie ganz still, dann strich er vorsichtig darüber. „Ich werde Vater“, flüsterte er und in seinem Gesicht breitete sich wieder das Lächeln aus. „Wir bekommen ein Baby.“
„Ja.“
Plötzlich wurden seine Augen feucht. Er lachte, hob die Hand und wischte sich die Träne aus dem Augenwinkel. „Ist das zu fassen? Ich heule vor Freude.“
Und das war wirklich niedlich. „Keine Sorge“, beruhigte ich ihn. „Ein paar Tränen könne meine Meinung über dich nicht ändern. In meinen Augen bist du immer noch ein ganzer Mann.“
Kasper schnaubte. „In meinen ist er jetzt eine Heulsuse.“
Das veranlasste Cio dazu, den Kopf ein wenig zur Seite zu neigen. „Und was bist du noch mal in deiner Beziehung? Der Mann, oder die Frau?“
Das gab einen bösen Blick von Kasper.
„Oh nein, ich vergaß, du warst ja das Frettchen.“
Ich grinste meinen besten Freund an. Dabei bemerkte ich den Ausdruck auf Arics Gesicht. Schock? Widerwille? Auf jeden Fall wirkte er nicht allzu glücklich. „Aric?“ Ich beugte mich ein wenig vor. „Alles klar?“
Er nickte, sagte aber: „Nein.“
Okay.
Sein Blick huschte von mir zu Cio und blieb dann an meinem Bauch hängen. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt und irgendwie wirkte er ein kleinen wenig angespannt. Dann erklärte er mit einem gequälten Ton in der Stimme: „Der Mistkerl hat meine Schwester geschwängert.“
Nein, darauf fiel mir absolut nichts ein.
Dann geschah etwas äußerst Seltsames. Kasper prustete los und begann lauthals zu lachen. Ich hatte absolut keine Ahnung was daran so lustig war, noch kannte ich so einen Ausbruch von meinem besten Freund, doch der schien sich auf einmal vor Lachen gar nicht mehr einkriegen zu wollen. Er drückte sich sogar die Hand auf den Bauch, als würde davon die Wunde deswegen schmerzen, aber er hörte nicht auf. Die Medikamente schienen wirklich eine seltsame Wirkung auf ihn zu haben.
So wie Aric seine Stirn runzelte, schien er etwas Ähnliches zu denken. Cio jedoch grinste einfach weiter. „Der Tag wir immer besser“, schmunzelte er. „Du bist schwanger, ich werde Vater und das Frettchen hat den Verstand verloren.“
Ich gab ihm einen Klaps gegen die Brust.
Er schenkte mir nur einen kurzen Blick, bevor er ihn wieder auf meinen Bauch gleiten ließ. Dabei schien er nicht aufhören zu können, darüber zu streichen. „Wie lange weißt du es schon?“, fragte er mich leise.
Ohje, vor dieser Frage hatte ich mich am meisten gefürchtet. „Seit drei Monaten.“
Nun flitzte sein Blick doch wieder zu meinem Gesicht.
„Ich habe es erfahren, nachdem … als ich im Krankenhaus war.“ Ich biss mir kurz auf die Unterlippe. „Ich bin ein Misto, Cio. Bisher ist alles gut gegangen, aber Mistos haben oft Fehlgeburten. Ich wollte nicht, dass du dich auf etwas freust und dann enttäuscht bist.“
Im anderen Bett beruhigte Kasper sich allmählich und wischte sich die Lachtränen aus den Augen, während Aric noch immer herauszufinden versuchte, was in seinen Gefährten gefahren war.
„Dann bist du jetzt seit drei Monaten Schwanger?“
Ich schüttelte den Kopf. „Vier Monate. Ich bin jetzt in der siebzehnten Schwangerschaftswoche. Als ich es erfahren habe, war ich schon fast fünf Wochen schwanger. Ich habe es nur selber nicht verstanden, weil … es war so viel los gewesen.“
Das brauchte ich nicht näher zu erklären. Wieder glitt sein Blick auf meinen Bauch. „Vier Monate“, staunte er. Und dann begann er wieder zu grinsen. „Deswegen also.“
Ich sah ihn fragend an.
Er hob die Hand und strich mir frech grinsend über mein Dekolleté, wobei ich mich sofort ein wenig anspannte, doch entweder er bemerkte es nicht, oder er überging es. „Deswegen“, wiederholte er nur.
Ach so, er redete von unserem Gespräch im Fahrstuhl. Ich schüttelte den Kopf, griff über ihn hinweg nach dem blauen Heft und zog daraus das Ultraschallbild von meinem letzten Vorsorgetermin heraus. „Hier.“
Er nahm es und den Blick den er dabei bekam, war einfach nur erstaunt. Das Schwarzweißbild zeigte nicht viel, doch man konnte bereits deutlich den kleinen Körper und den Kopf erkennen. „Das ist unser Baby“, sagte er leise.
„Ja“, stimmte ich ihm zu. „Unser Baby.“
Langsam legte er das Bild zur Seite. Dann drehte er mir das Gesicht zu und begann mich wieder zu küssen. Vorsichtig und zärtlich, um mir all die Gefühle zu zeigen, die gerade in ihm tobten. Ich hatte ihn schon lange nicht mehr so glücklich erlebt.
Vielleicht war es ja doch gut, dass er es jetzt schon erfahren hatte, nur … ich seufzte leidig an seinen Lippen.
Er zog den Kopf zurück. „Was ist?“
„Jetzt brauche ich ein neues Valentinsgeschenk für dich.“
Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. „Du könntest mir so ein T-Shirt kaufen, auf dem steht: Papa ist der Beste.“
„Wie wäre es mit: Papa ist leidet hin und wieder an Wahnvorstellungen?“
„Das gefällt mir sogar noch besser.“ Wieder legte er die Hand auf mein Bauch. „Weißt du schon, was es wird?“
„Ein Baby.“
Dafür bekam ich den entsprechenden Blick.
„Mann kann es erst in ein paar Wochen feststellen, aber eigentlich wollte ich mich überraschen lassen.“
„Du willst es gar nicht wissen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Willst du es wissen?“
„Ich weiß nicht.“ Er warf einen Blick zu Aric und Kasper. Mein bester Freund hatte sich wieder beruhigt und obwohl da noch immer ein amüsiertes Funkeln in seinen Augen war, wirkte er wieder ganz normal. Mein großer Bruder schien jedoch noch immer nicht recht zu wissen, was er davon halten sollte.
Vielleicht lag es aber auch daran, dass Kiara im letzten Jahr schwanger gewesen war und das Kind wegen eines Unfalls nicht nur verloren hatte, sondern niemals eigene Kinder würde bekommen können.
„Du musst das ja noch nicht jetzt entscheiden“, erklärte ich.
„Ich würde auch mal gerne eine Frage stellen“, kam es von Kasper.
Irgendwas an seinen Ton ließ mich misstrauisch werden. „Was?“
„Darf ich dabei sein, wenn du es deinen Vater sagst?“
Diese Frage war irgendwie ein kleiner Schock. Nicht wegen des Inhalts, sondern weil ich bisher – in den ganzen drei Monaten, die ich es bereits wusste – noch nicht ein einziges Mal daran gedacht hatte, wie ich das meinem Vater sagen sollte. Ich hatte immer nur darüber nachgedacht, wie es sein würde, es Cio zu erzählen.
„Ich muss das Land verlassen“, erklärte Cio. „Ich muss mir eine andere Identität zulegen und in den Untergrund gehen, irgendwohin, wo er mich nicht finden kann.“
Oh Mann. „Werden wir gerade ein wenig melodramatisch?“
„Dein Vater durchbohrt mich schon mit seinem Todesblick, wenn ich nur deine Hand halte.“
„Keine Sorge, wenn wir es ihm sagen, darfst du mich als Schutzschild benutzen.“
Er grinste. „Ich bin ehrlich froh, das zu hören. Aber ich sollte mir für den Notfall trotzdem noch einen Plan B überlegen.“
Also manchmal war er wirklich ein Schwarzseher. „Vielleicht freut Papa ja sogar darüber, Opa zu werden.“
Jetzt schnaubte sogar Aric, dabei kannte er meinen Vater am Wenigsten.
Ich funkelte ihn an. „Vielen Dank für deine Unterstützung. Ich weiß es wirklich zu schätzen, wie du meine Bemühungen torpedierst.“
Aric zeigte mir ganz in Alphamanier die prächtigen Beißerchen. „Er hat dich geschwängert.“
„Ich weiß“, bemerkte ich trocken. „Ich war dabei.“
Den verdutzten Blick, denn er danach bekam, ließ Kasper wieder unterdrückt lachen. Ich würde mich dringend mit ihm unterhalten müssen, um herauszufinden, was daran so lustig war, dass er sogar vergaß mürrisch zu sein. Jetzt allerdings genoss ich es einfach nur, Cio glücklich gemacht zu haben und nicht das Bedürfnis zu haben, schnellstmöglich vor ihm zurückzuweichen, weil er die ganze Zeit meinen Bauch berührte.
Ich wollte mich nicht beklagen, aber es wunderte mich. Er war mir gerade so nahe und es störte mich überhaupt nicht. Ich war sogar richtig entspannt. Und dann reichte es wieder, wenn er mich nur mit einem Finger an der Hüfte berührte, um dafür zu sorgen, dass ich wie eine erschrockene Katze fast bis an die Decke sprang.
Aber jetzt wollte ich nicht näher darüber nachdenken. Das war einer dieser seltenen Augenblicke, in dem ich das Geschehene einfach in den hintersten Winkel meiner Erinnerungen verdrängen konnte, um einfach ich zu sein. Und das für mehr als nur diesen kurzen Augenblick.
Fast zwei Stunden saßen wir vier einfach nur zusammen und quatschten. Erst dabei fiel mir auf, wie lange ich das schon nicht mehr getan hatte. Die letzten Wochen und Monate hatte ich kaum etwas anderes getan, als mich Zuhause zu verstecken. Dabei hatte ich gar nicht gemerkt, wie sehr mir das hier gefehlt hatte. Einfach nur zusammen nichts tun.
Ich erfuhr auch erst jetzt, was ich durch meine selbstauferlegte Isolierung alles verpasst hatte. Aric und Kasper hatten Silvester mit Alina und Anouk gefeiert. Ich hatte nicht mal gewusst, dass Alina über Neujahr in Silenda gewesen war. Ich hatte den Tag bei meinen Eltern auf der Couch verbracht und mit ihnen und Cio den Geburtstag meiner Mutter gefeiert.
Zu Cayennes Geburtstag vor zwei Wochen, war die ganze Familie in ein Theaterstück gegangen und Kasper hatte sogar einen Smoking getragen. Meine Erzeugerin hatte mich gefragt gehabt, ob ich zu ihrem Geburtstag kommen würde. Ich hatte mich mit der Entschuldigung, dass es mir nicht gut ginge, Zuhause verkrochen.
Er war schon beinahe ein Wunder, dass Tayfun mich letzte Woche mit seinem Hilferuf aus der Wohnung hatte holen können. Und die Einführungszeremonie war etwas instinktgetriebenes gewesen. Sicher, ich hätte mich dagegen wehren können, aber Cio hatte hin gewollt.
Das muss aufhören, dachte ich bei mir, als Aric gerade von dem Theaterstück erzählte, in dem es um eine moderne Fassung von Adam und Eva gegangen war. In dieser Fassung waren sie nicht die ersten Menschen gewesen, sondern die direkten Nachkommen, die im Luxus gelebt hatten und aus diesem Paradies verbannt wurden, weil Eva den falschen Leuten vertraut hatte – einer Gang, die sich die Schlangen nannte.
Aric erzählte gerade, was sie außerhalb ihres Paradieses erwartet hatte, als er durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen wurde. Gleich darauf steckte eine lächelnde Kiara ihren Kopf durch die Tür. In der Hand hielt sie einen Teddybären, der ein Gipsverband trug und einen aufgenähtes Pflaster am Kopf hatte.
O-kay. Er war zwar ziemlich niedlich und die Geste dahinter nett, aber Kasper war absolut nicht der Typ, der sich einen Teddybären in die Wohnung stellen würde. Ich glaubte nicht mal, dass er ihn in den hintersten Winkel seines Schranken stopfen würde. Sowas landete bei ihm wahrscheinlich direkt im Müllschlucker.
Als sie mich mit Cio zusammen auf dem freien Bett sitzen sah, schrumpfte ihr Lächeln ein wenig in sich zusammen und das lag wohl nicht an Cios Anwesenheit. Sie fing sich jedoch recht schnell wieder. „Hey.“
Sie schlüpfte in den Raum, nickte Cio zu und nahm ihren Bruder kurz in den Arm. Meine Anwesenheit ignorierte sie einfach, als sie sich neben Kasper auf die Bettkante setzte und nach Kaspers Hand griff. „Schau mal, ich hab dir etwas mitgebracht“, erklärte sie und setzte Kasper den Teddy auf die Brust.
„Äh … danke.“
Es war vielleicht ein wenig kleinlich, aber als ich sah, wie Kasper seine Hand schnell unter der von Kiara wegzog, konnte ich nichts gegen die kleine Genugtuung tun, die ich verspürte. Wenn ich seine Hand nahm, zog er sie niemals weg.
„Kiara“, mahnte Aric. „Hör auf ihn anzutatschen, das habe ich dir schon tausend Mal gesagt.“
Auch wenn sie ihr Lächeln im Gesicht behielt, spannte sie ihre Schultern leicht an. „Ich habe ihn nur begrüßt“, rechtfertigte sie sich und stellte den Teddy auf den Nachttisch.
„Wie wäre es, wenn du stattdessen mal Zaira begrüßen würdest?“
Und einfach so war die gute Laune verflogen. Sie starrte erst ihren Bruder an, richtete ihren Blick dann einen kurzen Moment auf mich, als sei es meine Schuld, dass sie meine Anwesenheit zur Kenntnis nehmen musste und murmelte dann ein leises und äußerst widerwilliges „Hallo“ in meine Richtung.
Am Liebsten hätte ich ihr gesagt, dass sie sich die Mühe einfach sparen sollte, denn wir wussten beide, dass sie ich ihr zuwider war. Stattdessen sagte ich einfach nur „Hi“ und richtete mich dann auf. „Ich denke es ist Zeit, dass wir gehen.“ Nicht weil Kiara gekommen war, sondern einfach, weil ich mir meine gute Laune von ihr nicht kaputt machen lassen wollte.
Ich trat zu Kasper, nahm seine Hand und beugte mich sogar vor, um ihm einen kleinen Abschiedskuss auf die Wange zu geben.
„Bäh“, machte er, entzog sich mir aber nicht. „Warum habt ihr Mädchen nur immer das Bedürfnis, einem die Wange vollzuschlabern?“
„Das kommt davon, dass du so niedlich bist“, zog ich ihm auf und war nicht wirklich erstaunt über den mürrischen Blick, den mir dieser Spruch einbrachte.
„Sag mir Bescheid, wie das Gespräch mit deinem Vater gelaufen ist.“
Ich verzog das Gesicht. Der Gedanke erfreute mich noch immer nicht sonderlich. „Klar, mache ich. Und du ruf an, wenn du etwas brauchst.“
„Verlass dich drauf.“ Er schaute zu mir auf und sein Gesicht wurde ein wenig weicher. „Hör auf dir Vorwürfe zu machen, das hier ist nicht deine Schuld.“
Da gingen die Meinungen wohl auseinander, aber ich war schlau genug, dass für mich zu behalten. Ich drückte einfach nur noch mal seine Hand und stellte mir einer gewissen Befriedigung fest, dass Kiara das nicht nur mitbekam, sondern auch merke, dass Kasper sich mir nicht entzog.
Es war albern und idiotisch und würde der Beziehung zwischen mir und Kiara sicher nicht helfen, aber ich war es nun mal leid, immer von ihr vor den Kopf gestoßen zu werden. Das hier war etwas, dass sie mir mit ihrer Zickerei nicht kaputt machen konnte. Kasper war nun einmal mein bester Freund.
Ich verabschiedete mich noch mit einer Umarmung bei Aric und sagte auch ihm, dass er sich bei mir melden sollte, wenn er etwas brauchte und ließ mir dann von Cio in meinen Mantel helfen. Er grinste noch immer wie blöde und deswegen wunderte es mich auch ein wenig, dass er Kiara die Neuigkeit nicht direkt unter die Nase rieb. Das war wohl seine Art, sein Missfallen darüber zu äußern, wie sie in letzter Zeit mit mir umsprang.
Da ich Kinderstube genossen hatte, verabschiedete ich mich mit einem Winken auch bei Kiara, bevor ich zusammen mit Cio das Krankenhaus verließ und in unseren Wagen stieg. Cio ließ mich dabei nur los, wenn es sein musste. Selbst während der Fahrt griff er immer wieder lächelnd nach meiner Hand und meinem nie und warf mehr als einmal einen Blick auf meinen Bauch.
„Wie konnte mir das nur entgehen?“, fragte er, als er den Wagen eine halbe Stunde später vor unserer Haustür parkte.
„Naja“, sagte ich, während er den Motor abstellte und ich mich abschnallte. „Es hat schon seinen Grund, warum ich immer diese weiten Hemden trage.“ Okay, es hatte wahrscheinlich mehr damit zu tun, dass ich mich von ihm nicht mehr richtig anfassen ließ aber ich wollte die Stimmung nicht kaputt machen und ihn unnötig darauf hinweisen.
Leider bemerkte ich dieses wissende Aufflackern in seinen Augen. Seine Gedanken gingen wohl in eine ganz ähnliche Richtung, aber genau wie ich mied er dieses Thema. „Und ich dachte bisher immer, du trägst diese Hemden, weil die mich so scharf machen. Moment, warte.“ Als er sah, wie ich die Wagentür öffnete, stieg er eilig aus und umrundete das Auto.
In gespannter Erwartung, was nun passieren würde, blieb ich wirklich sitzen und konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er mir dann die Wagentür öffnete und mir beim Aussteigen half. „Dir ist bewusst, dass eine Schwangerschaft keine Krankheit ist, die mich zu einem Pflegefall macht?“
„Nope.“ Mit der Fernbedienung verriegelte er unser Auto zog mich dann direkt vor sich, bis ich seinen warmen Atem auf meinem Gesicht spüren konnte. Bis auf das er meine Hand dabei festhielt, berührte er mich nicht. „Ich liebe dich, Schäfchen“, sagte er so leise, dass ich wusste, diese Worte waren nur für meine Ohren bestimmte.
Ich lächelte. „Manchmal frage ich mich, wie ich es nur mit dir ausgehalten habe, bevor du mich mit diesen Worten in deinen Bann geschlagen hast.“
„Oh, das ist einfach zu beantworten.“ Er legte mir lächelnd eine Hand an die Wange und kam mir so nahe, dass unsere Lippen sich fast streiften. In seinen Augen saß der Schalk und funkelte mich vergnügt an. „Du bist verrückt nach meinem Hintern.“
Wahrscheinlich hatte er gerade vorgehabt mich zu küssen, doch nach diesen Worten, begann ich herzlichst zu lachen und musste einen Schritt zurück weichen, um dabei nicht mit meinem Kopf gegen seinen zu knallen. „Hm“, machte er. „Ich bin mir nicht ganz sicher, ob mich wegen deines Gelächters jetzt gekränkt fühlen sollte.“
Immer noch lachend, schnappte ich mir sein Gesicht und gab ihm einen kleinen Kuss. „Ich mag deinen Hintern“, versicherte ich ihm.
„Dann ist ja gut.“ Auch er klaute sich noch einen kleinen Kuss und verschwand dann mit mir im Haus.
Es war wirklich schön, ihn mal wieder so fröhlich und ausgelassen zu sehen. Als wir allerdings oben in die Wohnung traten und wir Tayfun sahen, der gerade aus dem Badezimmer kam, machte ich mir einen Moment doch Sorgen. Nicht weil ich glaubte, er würde etwas seltsames tun, sondern … okay, doch, genau deswegen. Cio tat etwas sehr Seltsames.
„Tayfun!“, begrüßte er den Vampir überschwänglich, trat lächelnd auf ihn zu und noch bevor Tayfun die Chance bekam überrascht zurückzuweichen, nahm Cio ihn in den Arm und drückte ihn einmal kräftig. „Ist das nicht ein wunderbarer Tag?“
Okay, Kasper war hier heute offensichtlich nicht der Einzige, der den Verstand verlor.
Schmunzelnd verriegelte ich die drei Schlösser an der Tür und entledigte mich meines Mantels, während Tayfun unsicher einen Schritt vor Cio zurücktrat und ihn misstrauisch musterte.
„Bist du auf Droge?“
„Oh ja“, er nickte eifrig, trat dann zu mir und nahm mir meinen Mantel ab, weil er scheinbar der Meinung war, eine Schwangere sein nicht allein in der Lage, ihn an den Garderobenhaken zu hängen. „Meine Droge ist meine Frau.“
Kopfschüttelnd trat ich mir die Schuhe von den Füßen und wickelte meinen Schal vom Hals. „Cio hat einfach nur gute Laune“, erklärte ich.
„Natürlich habe ich gute Laune“, erklärte er. „Meine Frau ist von mir schwanger und ich werde Papa.“ Er grinste in das überraschte Gesicht des Vampirs, während er sich selber seiner Jacke entledigte. „Wir könnte ich da keine gute Laune haben?“
Auf einmal hatte ich das starke Gefühl, dass er Tayfun die frohe Botschaft nicht nur überbrachte, weil er sich so freute, sondern um ihm ein weiteres Mal unmissverständlich unter die Nase zu reiben, dass ich zu ihm gehörte. Wahrscheinlich sollte ich ihn dafür tadeln, aber das wollte ich gar nicht, er hatte ja schließlich recht.
Nur langsam glitt Tayfuns Blick von ihm zu mir und einen kurzen Moment wirkte er nicht nur überrascht, sondern auch ein kleinen wenig geschockt. Doch dann begann auch er zu lächeln. „Das ist … toll.“
„Das ist nicht nur toll, dass ist die beste Nachricht meines Lebens.“ Sobald Cio seine Schuhe los war, strebte er der Küchenzeile entgegen. „Und darum werden wir drei Hübschen das jetzt auch anstoßen. Schäfchen, holst du drei Gläser aus der Vitrine? Ich mache den Sekt auf, den meine Elten mir zum Geburtstag geschenkt haben.“
„Ähm“, machte ich, während ich mich bereits zur Vitrine bewegte. „Ich bin schwanger, ich darf keinen Sekt trinken.“
Cio, der mit de Kopf bereits im Kühlschrank steckte, schaute kurz zu mir. „Dann bekommst du halt Saft und stößt damit an.“ Und schon war er wieder in der Kühlbox verschwunden.
Lächelnd trat ich an die Vitrine und versuchte drei der Sektflöten mit einem Griff zu erwischen. Es klappte. Nur leider rutschte eines der Gläser mir dabei aus der Hand und bevor ich es schaffte danach zu greifen, fiel es herunter und zerbrach mit einem Klirren auf der Schrankkante. „Mist“, murmelte ich, stellte die anderen beiden Gläser wieder zurück und begann damit, die Scherben aufzulesen.
„Moment“, sagte Tayfun und kam zu mir. „Ich helfe dir.“
„Nicht nötig, ich hab schon alles.“ Wie zum Beweis, hielt ich die drei Teile der zerbrochenen Flöte hoch, doch er beachtete es gar nicht. Seine Aufmerksamkeit war auf ein kleines Samtsäckchen in der Vitrine gerichtet.
Als ich seinem Blick folgte, verzog ich das Gesicht ein wenig gequält. Dieses kleine Säckchen hatte Tayfun uns letztes Jahr zur Hochzeit geschenkt. Als ich hier eingezogen war und noch versucht hatte, alle meine Sachen irgendwo unterbringen, hatte ich es einfach in die Vitrine gelegt und es seit dem nicht mehr angefasst.
Tayfun jedoch griff nun danach, wog es einen Moment in seiner Hand und schaute mich dann wissend an. „Ihr habt es gar nicht aufgemacht, oder?“, fragte er leise.
Die ehrliche Antwort wäre ein klares Nein gewesen. Als wir es bekommen hatten, hatte allein der Anblick ausgereicht, um Cio rasend zu machen, also hatte ich die Finger davon gelassen. „Hm, naja“, druckste ich ein wenig herum, weil ich Tayfun nicht kränken wollte. Er hatte sich immerhin die Mühe gemacht, uns etwas zu schenken. „Irgendwie sind wir noch nicht dazu gekommen.“
Er verstand auch ohne dass ich es aussprechen musste. „Mach es auf“, forderte er mich auf und hielt es mir hin.
Ich warf einen unsicheren Blick zum Kühlschrank, aus dem Cio gerade mit dem Sekt auftauchte, legte dann die Scherben zur Seite und nahm das Geschenk von ihm entgegen. Zögernd öffnete ich die Verschnürung, drehte das Säckchen dann um und kippte mir den Inhalt in die Hand.
Ein Ring aus Weißgold mit einem Diamanten lag nun in meiner Handfläche. Der Stein war so eingearbeitet, dass es den Anschein erweckte, er sei der Mittelpunkt einer sich öffnenden Rose. Der Ring selber war auf ein schwarzes, geflochtenes Lederband aufgefädelt.
Einen Moment starrte ich das kleine Schmuckstück nur fassungslos an. Das war nicht irgendein Ring, oder überteuerte Geschenk, dass war der Verlobungsring, den Cio mir letztes Jahr in Arkan auf den Finger gesteckt hatte. Greta hatte ihn mir bei der Entführung durch Graf Rouven zusammen mit meinem Peilsender von Hals gerissen und ihn einfach weggeworfen. „Aber … wie …“ Mein Blick glitt von dem Ring zu dem schief lächelnden Tayfun und wieder zurück. „Woher hast du … Cio!“ Ich wirbelte zu meinem Mann herum, der bei meinem Ruf sofort alarmiert aufgeschaut hatte. Da ich aber nicht fähig war noch etwas dazu zu sagen, hielt ich ihm einfach meine offene Handfläche entgegen.
Cio stellte stirnrunzelnd die Sektflasche auf die Anrichte, kam dann zu mir und warf selber einen Blick auf meine Handfläche. Auch seine Augen weiteten sich bei dem Anblick des Rings ein wenig. Vorsichtig griff er nach dem Ring und schaute ihn sich von allen Seiten an, als müsste er sich versichern, dass es wirklich der Ring war, den er selber mir gekauft hatte. „Wo hast du den her?“, fragte er Tayfun und hob den Kopf.
„Ich hab ihn gesucht.“ Er zuckte mit den Schultern, als sei es keine große Sache. „Dein Vater hatte mir erzählt, was damit passiert ist und ich dachte mir, dass ihr euch sicher freuen würdet, ihn zurückzubekommen.“
„Aber … wie hast du ihn gefunden?“ Das Gelände auf dem er mir abhanden gekommen war, war ziemlich groß und völlig überwuchert gewesen. Dort einen kleinen Ring zu finden, ohne zu wissen wo genau man suchen musste, war beinahe aussichtslos.
Tayfun zuckte nur wieder mit den Schultern. „Ich hab zwei Tage erfolglos danach gesucht, am dritten bin ich dann mit einem Metalldetektor hin und eine halbe Stunde später, hielt ich ihn dann in den Händen.“
Ich schaute Cio an, dann drehte ich mich zu Tayfun um und fiel ihm einfach um den Hals. Dieser Ring bedeutete mir so viel, aber ich hätte nicht damit gerechnet, ihn jemals wieder in der Hand halten würde. Und dabei war er die ganze Zeit mit mir im gleichen Raum gewesen. „Danke“, flüsterte ich und drückte ihn noch ein wenig fester an mich.
Er tätschelte mir etwas unbeholfen den Rücken. Nicht weil ihm das unangenehm war, sondern weil er sich nicht sicher war, wie Cio reagieren würde, wenn er mich seinerseits in den Arm nahm. Aber seine Sorge war unbegründet. Sobald ich ihn losließ, trat auch Cio vor. Er jedoch beließ es bei einem kameradschaftlichen Klopfer auf die Schulter.
„Danke. Du hast keine Ahnung, was uns das bedeutet.“
Tayfun lächelte ein wenig verlegen. „Nun macht daraus nicht so eine große Sache, das ist doch nur eine Kleinigkeit.“
Nein, dass war es nicht. Niemand anderes war auch nur auf den Gedanken gekommen, dass für uns zu tun. Nach allem was geschehen war, waren nicht mal wir selber auf die Idee gekommen danach zu suchen. Ich hatte einfach nicht dorthin zurück gewollt und Cio hatte mich einfach nicht unnötig aus den Augen lassen wollen. Ich war ihm wichtiger gewesen, als ein Ring, den man einfach im nächsten Juwelier ersetzen konnte.
Aber das hier war mehr als nur ein einfacher Ring. Er symbolisierte so viel und ich war überglücklich ihn wiederzuhaben. Der neue Ring war … okay, aber dieser hier, der war unersetzbar. Darum hatte ich auch ein Lächeln im Gesicht, als ich ihn Cio wieder aus der Hand nahm. Ich wollte ihn mir sofort wieder umlegen, nur leider musste ich dabei etwas feststellen. „Der Verschluss von der Kette ist kaputt.“
„Ja“, sagte Tayfun entschuldigend. „Ich bin nicht mehr dazu gekommen ihn reparieren zu lassen.“
„Das ist nicht schlimm.“ Cio nahm mir den Ring samt Kette aus der Hand, steckte beides zurück in das Samtsäckchen und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden. „Ich werde mich darum kümmern.“
„Das ist …“ Ich unterbrach mich, als mein Handy zu klingeln begann. Um es zu finden musste ich mich einmal um mich selber drehen und entdeckte es dann halb verdeckt von zwei Zeitschriften auf dem Sofatisch. Ein kurzer Check des Displays zeigte mir eine Nummer, die ich nicht kannte. Nein, Moment, das war nicht ganz richtig. Das war wieder die Nummer mit den vielen Achten und Einsen. Verdammt, ich hatte vergessen zurückzurufen.
Eilig nahm ich den Anruf entgegen. „Ja bitte?“
Leise Atemgeräusche antworteten mir. „Falsch verbunden“, sagte eine seltsame Stimme. Ich konnte nicht mal sagen, ob sie männlich oder weiblich war.
Cio machte sich wieder auf dem Weg zur Küchenzeile um den Sekt zu öffnen. Tayfun hatte es nun übernommen, die Sektflöten aus der Vitrine zu nehmen. Sie landeten auf dem Tisch und die Scherben im Müll.
„Bitte?“
Eine Erwiderung bekam ich nicht, es wurde einfach aufgelegt.
Ähm … okay.
„Was ist los?“, fragte Cio, als er die Flasche und für mich Orangensaft zum Tisch trug.
„Da hat sich wohl jemand verwählt“, sagte ich und legte das Handy zurück auf den Tisch. Als Cio sich dann an mir vorbei drängte, um sich neben mich zu setzen, zog ich die Beine auf das Sofa und setzte mich in den Schneidersitz. Tayfun hatte sich bereits auf dem Sessel niedergelassen und beobachtete nun, wie Cio die Gläser füllte.
„Und … wann soll das Baby kommen?“, fragte er mich, während ich von Cio mein Glas entgegen nahm.
„Stichtag ist der fünfzehnte Juli.“
Tayfuns Augen wurden ein wenig größer. „Das sind ja nur noch fünf Monate.“
Cio reichte auch an ihn eine der Gläser. Dabei hatte er wieder dieses glückliche Lächeln auf den Lippen. „Das ist kaum zu glauben, oder?“ Er griff nach meiner Hand und drückte sie. „Nur noch fünf Monate, dann halten wir unser Baby in den Armen.“
Auch mich ließ dieser Gedanke lächeln.
„Na dann.“ Tayfun hob sein Glas. „Auf euer Baby und die Zukunft.“
Wir folgten seinem Beispiel, stießen mit ihm an und als ich mein Glas dann an meine Lippen führte, fühlte ich mich einfach nur wohl. Cios gute Laune war nicht nur ansteckend, sie war geradezu befreiend. Natürlich gab es einen da einen ganz kleinen Teil, der sich ein wenig ärgerte, weil die Überraschung zum Valentinstag nun dahin war, aber die Freude über das was hier gerade geschah, war wohl das viel größere Geschenk. Ich meine, er hatte Tayfun in den Arm genommen. Tayfun! Außerdem befanden wir uns seit bestimmt zwanzig Minuten in der Wohnung und er hatte mich noch nicht gefragt, wann er unseren Gast vor die Tür setzten dürfte.
Ich konnte nicht mit dem Finger darauf deuten, aber auf irgendeine Art, half Cio das Wissen um unser Baby, mit dieser ganzen Situation besser klar zu kommen. Das war einfach nur … schön.
„Und“, fragte Tayfun dann, als er sein Glas hab geleert hatte. Er stellte es auf den Tisch ab und lehnte sich dann im Sessel zurück. „Wollt ihr noch vor der Geburt heiraten, oder soll das ein Kind der freien Liebe werden?“
Die Frage brachte mich einen Moment aus dem Konzept. Nicht nur, weil ich nicht damit gerechnet hatte, sie zerrte auch für einen kurzen Moment die Erinnerung an unseren letzten Versuch an die Oberfläche.
Cio spürte wohl, was diese Frage bei mir auslöste, doch anstatt Tayfun anzuknurren, wie er es wohl gestern getan hätte, drückte er meine Hand nur ein wenig fester. „Im Moment gibt es wohl ein paar wichtigere Dinge, um die wir uns kümmern sollten“, wich er der Frage aus. Wahrscheinlich weil er sie selber nicht beantworten konnten.
Seit unserem misslungenen Versuch hatten wir nicht mehr darüber gesprochen. Ich schaffte es einfach nicht genauer darüber nachzudenken. Allein der Gedanke daran hinaus in diesen Wald zu müssen, ängstigte mich schon. Zwar war ich in den letzten Monaten zwei oder drei Mal mit Cio im Wald laufen gewesen, aber das hauptsächlich, um meinen Tacker Ferox ein bisschen Bewegung zu verschaffen. Den konnte ich zwar auch alleine hinaus lassen, denn er würde auf jeden Fall zurück kommen, aber ich hatte nun einmal die Verantwortung für ihn übernommen und musste mich um ihn kümmern.
Selbst die Vollmondjagd hatte ich die letzten Monate ausgelassen, weil ich nicht in den Wald wollte, wenn andere Lykaner dort waren und mich jagten. Dass es sich dabei um ein Spiel handelte, dass ich eigentlich liebte, war völlig egal. Es würde zu viele schlimme Erinnerungen ans Licht zerren.
Cio hatte das Thema Hochzeit wohl nicht mehr angeschnitten, weil er mich nicht bedrängen wollte. Ich wusste dass es ihm wichtig war und dass wir früher oder später darüber würden sprechen müssen, aber im Moment hielt er sich um meinetwillen zurück. Es lag ja auch noch genug anderes im Argen, um das wir – oder besser gesagt, ich – auf die Reihe kriegen mussten.
Wenn ich es genau nahm, war ich mir nicht mal sicher, ob wir es überhaupt schaffen konnten zu heiraten, ganz egal wie sehr ich es mir wünschte.
„Was könnte den wichtiger sein?“, fragte Tayfun, der nichts von meinen Gedanken ahnte.
„Naja, da wir das Baby ja nicht einfach auf den Couchtisch legen können, brauchen wir jetzt erstmal ganz dringend eine größere Wohnung“, erklärte Cio. „Am Besten so in den nächsten ein oder zwei Wochen. Danach wird Zairas Bauch zu dick sein, als dass sie die ganzen Möbel problemlos von eine Wohnung in die andere wird tragen können.“
„Hey“, rief ich empört. „Warum soll ich denn die ganzen Möbel tragen?“
„Na damit ich mich zurücklehnen und dir dabei zuschauen kann. Ist doch ganz logisch.“
Klar, ganz logisch. „Und was wird deine Aufgabe sein?“
„Na was schon, ich werde dich anfeuern. Ich besorge mir ein Megaphone und vielleicht auch noch ein paar Pom Poms und werde dir die ganze Zeit zujubeln.“
„Was für ein Glück ich doch habe.“
Er nickte so übertrieben ernst, dass ich nur grinsen konnte. „Das sehe ich ganz genauso. Du bist wohl die glücklichste Frau der Welt und das nur, weil du mich hast.“
Oh Mann. „Wie bescheiden wir heute doch mal wieder sind.“
Seine Erwiderung bestand in einem vergnügten Schmunzeln.
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„Darfst du denn jetzt überhaupt noch lange Strecken laufen? Das kann ziemlich anstrengend werden.“
Auch wenn es irgendwie niedlich war, so musste ich doch stark an mich halten, um nicht mit den Augen zu rollen. „Erstens, schau nach vorne auf die Straße, bevor wir einen Unfall bauen und zweitens, ich bin schwanger und nicht schwerbehindert. Man sieht noch nicht mal wirklich etwas, wenn man nicht genau hinschaut.“
Wie um das zu überprüfen, warf er sofort einen Blick auf meinen Bauch.
Als wenn er durch mein Hemd irgendwas sehen könnte. „Cio, die Straße.“
Er grinste nur, richtete seinen Blick dann aber wieder nach vorne. „Ich will nur nicht … keine Ahnung, ich bin wohl einfach ein wenig …“
„Überfürsorglich?“, schlug ich vor.
„Ja.“ Er griff kurz nach meiner Hand und drückte sie. „Tut mir leid.“
„Besser so, als wenn es dir egal wäre“, beruhigte ich ihn und meinte es auch so. Ich wusste es schon seit Monaten und hatte mich mittlerweile an den Gedanken gewöhnt, für Cio dagegen war es noch neu und das machte ihn eben ein wenig nervös. Er hatte sich dieses Kind so sehr gewünscht und obwohl er es jetzt schon seit zwei Tagen wusste, war es für ihn noch immer ein kleines Wunder.
„Aber vermutlich wäre es besser, wenn du mich nicht mehr einfach umrennen würdest, oder hinterrücks überfällst und mich zu Boden ringst“, überlegte ich laut.
Sein Lächeln wurde noch ein wenig breiter. „Dabei ringe ich dich doch so gerne zu Boden.“
Ich verstand die Anspielung dahinter sehr wohl, doch ich beließ es einfach dabei und konzentrierte mich auf den Weg vor uns. Noch zwei Straßen, dann hätten wir das Haus meiner Eltern erreicht.
Es war Nachmittag und da ich meine Knutschkugel Ferox in den letzten Tagen ein wenig vernachlässigt hatte, war ich zu dem Entschluss gelangt, dass es wohl ein guter Zeitpunkt wäre, ihn zusammen mit Cio ein wenig in den Wald auszuführen. Und wenn wir schon mal dabei waren, könnte ich meinen Eltern auch gleich die frohe Botschaft überbringen.
Ich war mir noch nicht ganz sicher, wie ich das am Besten tat. Vielleicht sollte ich ihnen einen Zettel mit den Worten „Freut euch, ich bin schwanger!“ schreiben. Den könnte ich ihnen auf den Tisch legen und während sie ihn lasen, könnte ich mit Cio und Ferox das Weite im Wald suchen. Wenn ich mich dort die nächsten drei, oder vielleicht auch vier Monate verstecke, hätte mein Vater genug Zeit, sich bis zu meiner Rückkehr runterzuregeln.
Ich könnte mich auch im Bad einschließen und ihnen die frohe Botschaft durch die Tür zurufen. Eine Tür würde er doch sicher nicht so schnell durchbrechen können, oder?
Ach, worum machte ich mir eigentlich solche Gedanken? Mein Vater liebte mich, ich hatte vor ihm sicher nichts zu befürchten. Ich sollte mir eher um Cio Sorgen machen. „Sag mal, wie schnell rennst du eigentlich so im Durchschnitt?“
Er verzog das Gesicht, als er in die Straße meiner Eltern einbog. „Wahrscheinlich nicht schnell genug.“
„Da ist die falsche Einstellung.“
„Das ist keine Einstellung, dass ist eine Tatsache.“ Ein paar vereinzelte Häuser mit großen Grundstücken flogen an an den Fenstern vorbei. „Vielleicht wäre es besser, wenn ich im Wagen warte, während du es ihnen erzählst. Wenn dein Vater die Neuigkeit gut aufnimmt, kannst du mir grünes Licht geben und ich komme rein. Wenn er wutschnaubend aus dem Haus stürmt, gebe ich Gas uns wir sehen uns dann in achtzehn Jahren, wenn Gras über die Sache gewachsen ist.“
„Hey“, protestierte ich.
Er grinste mich nur an und bog dann in die Einfahrt meiner Eltern ein. Noch bevor er hielt, sah ich den roten Fiat meiner Eltern vor der geschlossenen Garage, also war davon auszugehen, dass sie Zuhause waren.
Sobald er den Motor abgestellt hatte, schnallten wir uns beide los, machten aber keinerlei Anstalten, aus dem Wagen zu steigen. Ich lehnte mich einfach wieder zurück, schaute Cio an und musste grinsen, als er genau das gleiche tat.
„Ich glaube ich hatte noch nie so viel Bammel davor, meinem Vater gegenüber zu stehen.“
Sein Mundwinkel zuckte nach oben. „Jetzt weißt du mal wie es mir jedes Mal geht, wenn ich ihm gegenübertreten muss.“
„Übertreiben wir gerade wieder in kleinen wenig?“
Er wiegte den Kopf leicht hin und her. „Vielleicht ein bisschen, aber nicht sehr viel.“
Kopfschüttelnd griff ich nach dem Türöffner. „Na komm. Jäh eher wir es ihnen sagen, desto schneller haben wir es hinter uns.“
„Okay.“ Er atmete noch einmal tief durch und griff nach meiner Hand, bevor ich aussteigen konnte. „Eine Sache noch“, sagte er und wirkte auf einmal sehr ernst. „Falls ich das hier nicht überleben sollte, ich habe mein Testament auf den Tisch gelegt.“
Ich schnaubte, machte mich von ihm frei und stieg aus. Jetzt hatte er mich doch fast gehabt.
Auch wenn wir beide miteinander herumalberten und versuchten das ganze ins Lächerliche zu ziehen, war ich doch nicht weniger nervös als er. Ich hatte absolut keine Ahnung, wie mein Vater auf diese Neuigkeit reagieren würde, aber ich erinnerte mich noch sehr genau an das letzte Mal, als ich ihm etwas ähnliches mitgeteilt hatte – vor ein paar Monaten, als Cio sich mit mir verlobt hatte. Zu behaupten, mein Vater hätte es nicht gut aufgenommen, wäre noch stark untertrieben. Und auch wenn er Cio mir zuliebe nun akzeptierte, war ich mir sicher, dass es ihn nicht weiter stören würde, sollte ich mir einen andern Mann suchen.
Das war wohl auch der Grund, warum ich mit dem Schlüssel in der Hand vor der Haustür zögerte und überlegte, direkt in den Garten zu gehen und erstmal mit Ferox eine Runde zu laufen. Damit würde ich das Unvermeidliche zwar nur herauszögern, aber … naja, ich konnte es dann eben noch ein wenig herauszögern.
„Na komm“, spornte Cio mich an und legte mir eine Hand auf den Rücken.
Ganz ruhig, das ist nur Cio.
„Wir schaffen das schon.“
Ich nickte, auch wenn ich mir da nicht so ganz sicher war wie er, schob dann aber entschlossen den Schlüssel ins Schloss und ließ uns hinein. „Ich bin es!“, rief ich laut, steckte den Schlüssel in meine Jackentasche und wollte gerade mich gerade meines Schals entledigen, als ich aus dem Wohnzimmer ein lauten Rums, gefolgt von einem derben Fluch hörte. Dann klirrte auch noch etwas. Irritiert hielt ich inne. „Papa?“
Als keine Antwort kam, warf ich Cio einen verwirrten Blick zu und durchschritt die zwei Meter, die mich von der Wohnzimmertür trennten.
Der Wohnraum meiner Eltern war recht groß geschnitten. Zwei Türen und eine Treppe gingen davon ab. Eine Tür führte hinaus in den Garten, die andere in die Küche. Über die Treppe gelang man nach oben zu den beiden Schlafzimmern und dem Bad. Der Mittelpunkt des Raumes wurde von einer gemütlichen Sitzgruppierung eingenommen. Direkt hinter der Couch stand der Esstisch, mit den sechs Stühlen.
Als ich nun ins Wohnzimmer trat, entdeckte ich meine Eltern sofort und blieb entsetzt stehen. Sie waren auf der Couch. Naja, meine Mutter war auf der Couch und knöpfte sich hektisch ihre Bluse zu. Mein Vater stand daneben und zog sich hastig seine Hose über den Hintern. Neben dem Tisch lag ein zerbrochenes Glas, als wäre einer beim Aufstehen gegen den Tisch geknallt und hätte es dabei versehentlich herunter geschmissen.
Ich sah sie, machte auf den Absatz kehrt und kollidierte direkt mit Cios Brust. „Geh, geh, geh!“, trieb ich ihn an und schob ihn gleichzeitig in den Flur zurück, aber so wie er grinste, hatte auch er begriffen, in was wir hier hineingeplatzt waren.
Sowas war mir noch nie passiert. Meine Eltern waren sich zwar schon so lange ich mich zurückerinnern konnte immer sehr … zugeneigt gewesen, aber dieser Anblick war mir bisher erspart geblieben. Und wenn ich ehrlich war, hätte ich diesen Zustand gerne beibehalten.
Erst als wir die Haustür fast erreicht hatten, blieb ich stehen, warf Cio einen gequälten Blick zu und schlug meine Stirn dann immer wieder gegen seine Brust.
„Ach komm schon“, schmunzelte Cio. „Hast du gedacht, deine Eltern wüssten nicht, wie man Babys macht?“
Dafür bekam er einen sehr unfreundlichen Blick.
Er grinste nur breiter und dann rief er laut genug, dass meine Eltern es auch hören konnten: „Sollen wir wieder gehen?“
Ich gab ihm hastig einen Klaps auf den Arm. „Bist du wohl still“, zischte ich.
„Nein, nein“, rief meine Mutter munter zurück. „Aber gebt uns noch einen Moment.“
Oh Gott, könnte sich bitte ein großes Loch unter mir auftun und mich einfach verschlucken? Dann würde ich dieser Peinlichkeit wenigstens entgehen.
„Kein Problem“, rief Cio zurück und fühlte sich von dem mörderischen Blick, den ich ihm daraufhin zuwarf, in keinster Weise bedroht.
Der Besuch begann ja schon mal super. Wenigsten war meine Nervosität durch den Schreck ein wenig gewichen.
Ich gab ein äußerst schweres Seufzen von mir, wandte mich der Garderobe zu und begann damit mich seht langsam meine Jacke zu entledigen. Das lenkte mich zwar nicht ab, aber es gab meinen Eltern die Zeit, ihre Garderobe wieder in Ordnung zu bringen. „Wirst du wohl endlich aufhören so blöd zu grinsten“, zischte ich Cio zu, als er seine Jacke neben meine hängte.
Tat er nicht. Stattdessen beugte er sich vor, gab mir einen kleinen Kuss auf die Wange und trat sich dann die Schuhe von den Füßen.
„Ihr könnt jetzt reinkommen“, rief meine Mutter kurz darauf.
Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich da jetzt rein wollte. Nicht nur wegen dem, was ich gerade gesehen hatte, auch wegen dem, was ich ihnen sagen wollte. Aber ich konnte es ihnen ja auch nicht ewig verheimlichen. Es würde sicher auffallen, wenn ich hier irgendwann mit einem Baby im Arm auftauchen würde. Also ließ ich mich von Cio wie ein kleines Kind an die Hand nehmen und nach nebenan führen.
Meine Mutter saß angezogen im Schneidersitz auf der Couch. Von meinem Vater sah ich keine Spur.
„Er macht das Essen“, erklärte meine Mutter, als sie bemerkte, wie ich mich suchend umschaute. „Ihr esst doch sicher mit, oder?“
„Ähm … klar.“ Ich überlegte mich neben sie zu setzen, aber nachdem was ich gerade gesehen hatte, war ich nicht besonders scharf darauf, mich auf die Couch zu setzen. Daher ließ ich mich von Cio mit zum Sessel ziehen und setzte mich auf seinen Schoß. „Was gibt es denn?“
Sie zuckte mit den Schultern, entdeckte dabei ihren BH, der halb unter dem Kissen hervorschaute und stopfte ihn eilig dahinter. „Das wirst du ihn wohl selber fragen müssen.“
Ich warf einen Blick durch den Türbogen in die Küche, wo ich meinen Vater hantieren hörte und verzog das Gesicht. Im Moment war ich nicht so sonderlich scharf darauf ihm gegenüber zu stehen. „Ach, ich lass mich einfach überraschen.“
Mama grinste. „Dir scheint das noch peinlicher zu sein, als deinem Vater.“
Ganz im Gegenteil zu ihr. „Wir waren eben bei Kasper“, erzählte ich in der Hoffnung, dieses Thema schnellstmöglich vom Tisch zu bekommen. „Es geht ihm schon besser. Die Ärzte sagen, dass er nächsten Mittwoch entlassen wird, wenn es keine weiteren Komplikationen gibt.“
Die heitere Stimmung meiner Mutter verschwand. „Hat man in der Zwischenzeit schon etwas neues herausgefunden?“
Es war Cio der den Kopf schüttelte und dabei eine Hand auf meinen Bauch legte, als wolle er den kleinen Passagier schützen. Das machte er in den letzten Tagen reichlich oft und es war … okay. „Die Wächter haben ein paar Zeugen auftreiben können, die bei dem Vorfall dabei gewesen waren, aber niemand hat vor dem Schuss etwas mitbekommen.“ Sein Gesicht wurde ein wenig grimmig. „Der Zeitpunkt war gut gewählt, alle waren auf die Zeremonie konzentriert. Der Kerl hätte direkt vor uns stehen können und wir hätten es vermutlich gar nicht gemerkt.“
„Es war also ein Mann?“
Cio zuckte mit den Schultern und strich mit dem Daumen gedankenverloren über meinen Bauch. „Das können wir nicht mit Sicherheit sagen. Die Auswertung der Überwachungskameras hat auch nichts ergeben. Wir sind darauf zu sehen, aber der Täter muss im toten Winkel gestanden haben. Das Gedränge auf dem Parkplatz war ziemlich groß, deswegen gehen wir im Moment davon aus, dass die Kugel gar nicht für Kasper bestimmt war und er nur versehentlich getroffen worden ist.“
Die Wächter gingen davon aus, ich nicht. Vielleicht wurde ich ja wirklich langsam paranoid, aber ich wurde den Gedanken, dass Iesha dahinter steckte, einfach nicht los. Das behielt ich aber für mich. Nicht nur weil Cio das nicht glauben wollte, es würde einfach nichts bringen, auf diesem Punkt zu beharren, nicht bevor ich einen Handfesten Beweis hatte und ich hatte keine Ahnung, wo ich so einen herbekommen sollte.
Meine Mutter atmete schwer aus. „Wenigstens ist nichts schlimmeres passiert.“
„Ja“, sagte ich leise und ignorierte Cios Blick. Er wusste ganz genau was in meinem Kopf vor sich ging.
Zwanzig Minuten später half ich meiner Mutter dabei den Tisch zu decken. Mein Vater hatte mich nur mit einem kurzen „Hallo“ begrüßt und dann weiter in seinem Topf umgerührt, als ich die Teller aus der Küche geholt hatte. Mama hatte recht, es war ihm noch unangenehmer als mir, in was wir da hineingeplatzt waren.
Zum Essen gab es Kräuterkatroffeln mit Maiskolben, Sauce Hollandaise und Schnitzeln. Für mich hatte mein Vater noch ein wenig Tofu serviert, dass er mir auch direkt auf meinen Teller legte. Er hatte immer welches im Kühlschrank, falls ich zu Besuch kam.
Bevor ich mich auf meinen Stuhl setzte, warf ich noch einen Blick durch das Fenster hinaus in den Garten. Mein ganz persönlicher Hauswolf Ferox lag oben auf dem Dach seiner Hundehütte und ließ gelangweilt eines seiner Beine herunterbaumeln. Er lag niemals in der Hütte, immer oben drauf, oder daneben. Sein Lieblingsplatz war allerdings unter der Tanne im hinteren Teil des Gartens. Dort hatte er sich eine richtig gemütliche Kuhle gegraben und nachdem ich ihn dort etwas Stroh und ein paar Decken hineingetan hatte, hatte er sich dort ein richtig kuscheliges Nest gebaut.
Ferox war kein richtiger Wolf, er war ein Misto, aber nicht so wie ich. Misto bedeutete im Grunde nichts anderes als halb, oder Mischling und genau das war er auch. Seine eine Elternhälfte war ein ganz normaler Wolf gewesen, der andere ein Lykaner.
Niemand wusste woher er ursprünglich kam. Er war einfach irgendwann bei mir aufgetaucht und hatte dann versucht bei mir Anschluss zu finden. Und so wie er aussah, war ich nicht die erste gewesen, bei der er das versucht hatte. Bis auf einem kleinen Stummel fehlte dem grauen Wolf die ganze Rute und sein linkes Ohr war zerfetzt. Ich ging davon aus, dass er versucht hatte, bei einem normalen Wolfsrudel unterzukommen, die aber gemerkt hatten, dass er anders war und ihn nicht bei sich hatten haben wollen. Er hatte auch im Nacken und an den Beinen ein paar kleine Narben, aber nichts was ihn behinderte oder irgendwie einschränkte.
Der Tierarzt hatte gesagt, dass er ungefähr Mitte zwanzig sein musste und die Anlagen hatte, das Alter eines Lykaners zu erreichen.
„Gehst du nachher noch mit ihm in den Wald?“, fragte meine Mutter und setzte sich auf ihren Platz an den Tisch. „Er langweilt sich die letzten Tage.“
Ich nickte und setzte mich auf meinen Platz neben Papa. „Darum sind wir vorbeigekommen. Deswegen und …“ Ich verstummte.
Meine Mutter schaute interessiert auf. „Und?“
„Naja, wir waren ja schon ein paar Tage nicht mehr hier“, sagte ich, wich ihrem Blick aus und nahm mir einen der Mauskolben.
Im Augenwinkel sah ich Cio grinsen, doch es verschwand recht schnell wieder, als auch mein Vater sich zu uns an den Tisch setzte. „Das ist lecker“, sagte er, nachdem er sich eine Kartoffel in den Mund gesteckt hatte.
Mein Vater schaute ihn einen Moment sehr seltsam an. „Das ist eine Kartoffel“, erklärte er, als hielte er Cio für unterbelichtet. „Es gibt nicht viel, was man an einer Kartoffel falsch machen könnte.“
Naja, zumindest solange man nicht Cio hieß.
Cio erweckte den Eindruck, als wollte er noch etwas dazu sagen, gab dann aber nur einen „Wahrscheinlich“ von sich und konzentrierte sich wieder auf das Essen.
Nun nahmen meine beiden Eltern in ihn Augenschein. Spürten sie seine Nervosität? Immerhin gab es da noch diese kleine Nachricht, die immer noch unausgesprochen war.
Als die beiden nicht aufhörten ihn anzustarren, murmelte er: „Schäfchen.“
„Würdet ihr beide bitte aufhören ihn so anzustarren? Er wollte dir nur ein Kompliment über dein Essen machen.“
„Aber er benimmt sich so seltsam“, bemerkte meine Mutter und neigte den Kopf leicht zur Seite.
„Er benimmt sich nicht seltsam“, widersprach ich sofort.
„Natürlich. Normalerweise albert er mit mir herum, aber jetzt starrt er die ganze Zeit auf seinen Teller.“
„Das Essen ist eben lecker“, sagte ich und warf selber einen Blick auf meinen Zukünftigen. Er wirkte wirklich ein wenig angespannt. Lag wohl daran, dass mein Vater nun mit im Raum saß. Ich griff unter dem Tisch nach seinem Bein und drückte es leicht.
So wie meine Eltern mich anschauten, nahmen sie mir den Blödsinn nicht ab, was wahrscheinlich daran lag, dass es … naja, Blödsinn war.
„Okay“, sagte ich dann und legte mein Besteck auf den Tisch. Am Besten brachten wir es einfach hinter uns. „Wir sind nicht nur wegen Ferox hier, sondern auch … äh …“
Mama schob sich noch etwas von ihrem Essen in den Mund, während mein Vater aufmerksam den Kopf hob. „Ja?“
Ich sah erst ihn an, dann sie und dann Cio. Ich öffnete den Mund, überlegte es mir dann aber noch mal anders und erhob mich von meinem Stuhl. Als ich meinem Vater dann die Hand hinhielt und ihn um sein Besteck bat, schaute er zwar etwas verwundert, reichte es mir aber ohne nachzufragen. Außerdem sammelte ich das von Mama, Cio und mir ein. Und wenn ich schon mal dabei war, nahm ich auch gleich das ganze Servierbesteck an mich und trug meine Beute in die Küche, um sie ins Waschbecken zu legen. Ich hielt es einfach für sicherer, keine scharfen Gegenstände in der Nähe meines Vaters zu haben, wenn ich ihm die frohe Botschaft überbrachte.
Als ich mich wieder auf meinen Platz setzte, beachtete ich den irritierten Ausdruck in Papas Gesicht nicht. Mama störte sich nicht daran, dass ich ihr das Besteck weggenommen hatte, sie aß einfach mit den Fingern weiter.
„Okay“, sagte ich dann und griff nach Cios Hand. Dabei fiel mir sehr wohl auf, dass er seinen Stuhl ein wenig zurückgeschoben hatte. Wahrscheinlich um schnell aufspringen zu können. Gar nicht so dumm. „Wir haben euch etwas zu sagen“, begann ich dann.
Papa verschränkte die Hände auf dem Tisch.
Mama aß einfach weiter.
Cio wurde äußerst wachsam.
Ich hatte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich glückliche.
„Ich weiß es schon seit ein paar Monaten, habe es Cio aber erst vor zwei Tagen gesagt.“ Irgendwie fand ich es wichtig, das zu erwähnen.
Meine Eltern schauten mich nur abwartend an.
Okay, jetzt sag es einfach. Ich öffnete den Mund und nichts kam raus. Auch mein zweiter Versuch misslang. Hallo? Sprachzentrum? Jemand anwesend da oben? „Also … als ich … ähm …“
„Zaira ist seit vier Monaten schwanger“, kürzte Cio mein Gestammel ab.
Ich erstarrte, genau wie meine Eltern. Die Kartoffel, die meine Mutter sich gerade hatte in den Mund stecken wollen, wurde durch die Schwerkraft zurück auf ihren Teller befördert.
Die einziger Reaktion meines Vaters bestand darin, dass seine Augen ein kleinen wenig größer geworden waren. Dann, sehr langsam, glitt sein Blick von mir zu Cio und wieder zurück. „Du bist schwanger“, fragte er mit viel zu ruhiger Stimme.
Ich nickte vorsichtig und drückte Cios Hand ein wenig fester.
Papas Mundwinkel zuckte, als müsste er sich von einem Lächeln abhalten. „Wirklich?“
„Jaaa“, sagte ich gedehnt und äußerst misstrauisch.
Nun hielt er sein Lächeln nicht mehr zurück. Es war geradezu ein Strahlen, als würde er sich über diese Nachricht wirklich freuen. „Ich werde Opa?“
Okay, das war viel unheimlicher, als wenn er aufgesprungen wäre und nun rumwüten würde. Darum fragte ich auch ganz direkt: „Wer bist du und was hast du mit meinem Vater gemacht?“
Eine Antwort bekam ich nicht mehr, denn in diesem Moment ließ meine Mutter mit einem „Nein“ ihre Kartoffel zurück auf den Teller fallen, schob ihren Stuhl zurück und erhob sich. „Das verbiete ich“, sagte sie mit einem mahnenden Finger in meine Richtung, drehte sich dann herum und verschwand die Treppe nach oben.
Ich schaute nur verdutzt dabei zu, wie sie in der oberen Etage verschwand. „Ähm“, machte ich nicht sehr gescheit. Hatten meine Eltern jetzt die Rollen getauscht? Bevor ich das fragen konnte, tauchte sie wieder oben an der Treppe auf und fixierte mich.
„Du bist ein böses Kind“, erklärte sie mir. „Du hast Stubenarrest!“ Damit verschwand sie wieder.
Okay, hier lief etwas ganz und gar falsch. Ich hatte nicht mal Stubenarrest bekommen, als ich mit zehn Jahren versucht hatte, aus unserem Badezimmer ein Swimmingpool zu machen und dabei die halbe Wohnung geflutet hatte.
Als sie ein weiteres Mal oben an der Treppe auftauchte, streckte sie mir anklagend den Finger entgegen. Ihr Mund öffnete sich, aber dann drückte sie die Lippen aufeinander, wandte sich ab und verschwand erneut. Irgendwie wirkte sie … unglücklich.
Als die Schlafzimmertür zuknallte, schob Papa seinen Stuhl seufzend zurück. „Ich bin gleich wieder da“, sagte er und folgte meiner Mutter nach oben.
Wir schauten zu, wie er nach oben ging und lauschten darauf, wie die Schlafzimmertür sich leise öffnete und dann wieder schloss.
„Das war seltsam“, bemerkte Cio.
„Ja“, stimmte ich ihm zu.
„Dein Vater scheint sich darüber zu freuen.“
„Ja.“
„Deine Mutter aber nicht.“
„Nein.“
Er schaute mich an. „Bist du sicher, dass wir im richtigen Haus sind?“
Ich schaute mich im Wohnzimmer um, als müsste ich das erst überprüfen. „Es macht auf jeden Fall den Eindruck.“
Nach einem Moment lehnte Cio sich entspannt auf seinem Stuhl zurück und begann zu grinsen. Dabei strich er mit dem Daumen über meine Hand. „Ich lebe noch“, erklärte er mir strahlend. „Dein Vater weiß es und ich lebe noch.“
Auch ich musste lächeln. Nicht das ich wirklich geglaubt hätte, er würde Cio etwas tun, aber diese Reaktion war so ziemlich das Gegenteil von allem was ich erwartet hatte. Kein Streit, keine Anschuldigungen, ja nicht mal böse Blicke. Mein Vater hatte gelächelt. „Wer hätte das gedacht.“
Wir schauten wieder nach oben zur Treppe.
„Deine Mutter hat dir Stubenarrest gegeben.“
„Ist mir aufgefallen.“
„Sie scheint über diese Nachricht nicht sehr glücklich zu sein.“
Mein Lächeln schwand ein wenig. „Nein, nicht wirklich.“ Und ich verstand absolut nicht warum. Meine Mutter liebte Kinder. Ich hatte geglaubt, dass sie vor Freude ganz aus dem Häuschen wäre.
„Vielleicht muss sie sich erstmal an den Gedanken gewöhnen“, überlegte Cio und wandte sich wieder mir zu. „Man erfährt nicht jeden Tag, dass man Oma wird.“
War das der Grund? Irgendwie konnte ich mir das nicht so recht vorstellen.
Ich überlegte, ob ich vielleicht nach oben gehen und mit ihr reden sollte, aber eigentlich wollte ich sie und Papa nicht stören. Nein, erstmal sollte ich abwarten. Aber ich könnte etwas anderes tun. Also schob ich meinen Stuhl zurück und erhob mich.
„Was machst du?“
„Ich hole das Besteck wieder rein.“ Ich gab ihn einen kleinen Kuss auf die Nasenspitze, wich mit einem Grinsen aus, als er nach mir greifen wollte und machte mich auf den Weg in die Küche.
Als ich wieder saß, waren fünf Minuten vergangen. Weitere fünf Minuten später begannen Cio und ich wieder zu essen. Nicht nur weil wir hungrig waren, sondern auch, weil er eine Schande gewesen wäre, das Essen einfach verkommen zu lassen.
Wir hatten bereits aufgegessen, unsere Teller in die Küche getragen und uns auf die Couch gesetzt, als ich oben dir Tür hörte. Kurz darauf kam mein Vater die Treppe herunter. Alleine.
„Was ist mit Mama?“, fragte ich sofort.
Er verzog die Lippen zu einem gequälten Lächeln, als er sich rechts neben uns auf den Sessel setzte. „Deine Mutter freut sich für dich.“
Ich sah ihn zweifelnd an. „Ich weiß wie Mama drauf ist, wenn sie sich freut. Sie hat mir Stubenarrest gegeben.“ Irgendwie kam ich darüber nicht hinweg.
Er musterte mich, lehnte sich dann vor und stützte die Ellenbogen auf die Knie. „Deine Mutter vermisst es ein Kind im Haus zu haben“, sagte er leise. „Sie ist gerne Mutter und … naja, seit du ausgezogen bist, hat sie das Gefühl, dass ihr etwas fehlt.“
Es war unsinnig, aber nach diesen Worten fühlte ich mich schlecht.
„Und jetzt wo du selber Mutter wirst … es ist nicht so, dass sie sich nicht für dich freut, sie hat einfach nur das Gefühl, dass du sie nun nicht mehr brauchst.“
„Aber das ist doch Blödsinn“, widersprach ich sofort.
Sein Lächeln geriet ein wenig schief. „Es ist ein Unterschied, ob man sein Kind noch im Haus hat, oder einer erwachsene Tochter, die bereits ausgezogen ist“, erklärte er leise. „Deswegen …“ Er verstummte und senkte einen Moment den Blick. „Wir denken schon seit einiger Zeit über ein weiteres Kind nach.“
Ich hörte seine Worte, brauchte aber mehrere Sekunden, bis sie in mein Hirn vordrangen und dort einen Sinn ergaben. „Ihr wollt … ihr wollt noch ein Kind?“
Mein Vater lächelte so schüchtern, dass er auf einmal um Jahre jünger wirkte. Gut, er wurde dieses Jahr gerade mal dreiundfünfzig und hatte damit noch nicht mal die Hälfte seiner Lebensspanne erreicht. Da er ein Vampir war, wirkte er auch in diesem Alter gerade mal wie Anfang dreißig, aber es war trotzdem ein seltsamer Gedanke.
„Wollt ihr eines adoptieren?“, fragte Cio. Eines meiner Beine lag über seinem Schoß und er strich schon die ganze Zeit darüber.
Papa zuckte mit den Schultern. „Das wäre eine Möglichkeit.“
Eine? Aber das war doch die einzige. Da Mama ein Ailuranthrop war und Papa ein Vampir, konnten sie keine gemeinsamen Kinder bekommen. Mama könnte höchstens von einem anderen Ailuranthrop, oder einem Menschen schwanger werden und ich war mir sicher, dass das keine Option für meinen Vater war. Außer … „Redest du von künstlicher Befruchtung?“
Mein Vater verzog das Gesicht, als würde allein der Gedanke ihm schmerzen bereiten, aber zu meiner Verwunderung nickte er. „Das wäre die andere Möglichkeit.“
Oh. Das war ein Gedanke, an den man sich erst gewöhnen musste. Ich meine, ich hätte kein Problem damit. Wenn die beiden damit glücklich wären, würde ich mich für sie sogar freuen. Trotzdem musste ich mich an diese Vorstellung erst gewöhnen.
„Aber jetzt genug davon“, beendete mein Vater das Thema. „Erzähl mir lieber von … meinem Enkel.“ Wieder begann er zu grinsen.
Das war äußerst seltsam. „Du bist deswegen gar nicht verärgert“, bemerkte ich.
„Warum sollte ich deswegen verärgert sein?“, fragte er mich erstaunt.
Ich öffnete den Mund, schüttelte dann aber den Kopf. Besser ich erinnerte ihn nicht daran, wie er bei der Verlobung mit Cio reagiert hatte. Stattdessen erzählte ich mit einem Lächeln auf den Lippen, seit wann ich es wusste, wie Cio darauf reagiert hatte und dass ich in zwei Tagen den nächsten Vorsorgetermin bei meinem Frauenarzt hatte. Als ich das Ultraschaltbild herauszog, übernahm Cio das Steuer und unterhielt sich über eine Stunde mit meinem Vater über den kleinen Passagier.
Es war wirklich erstaunlich, die beiden führten wirklich eine lockere Unterhaltung, ohne dass mein Vater dumme Kommentare zum Besten gab. Sowas hatte ich noch nie erlebt.
Nach einiger Zeit geselle sich auch meine Mutter wieder dazu, nahm mich in den Arm und entschuldigte sich dafür, mir Stubenarrest gegeben zu haben. Sie wirkte zwar nicht ganz so überschwänglich, wie ich es von ihr gewohnt war, aber sie freute sich und tatschte immer wieder meinen Bauch an. Wenn Cios Hand dabei im Weg war, schob sie sie einfach weg. Es schien sie wirklich zu faszinieren, dass da ein neues Leben unter meinem Herzen heranwuchs.
Als es draußen bereits anfing zu dämmern, wurde mir erst klar, wie spät es bereits war und das wir heute ja noch etwas vor hatten. Also verzogen Cio und ich uns nach oben in mein altes und nun weitestgehend leeres Zimmer, um uns zu verwandeln, während mein Vater die Essensreste in die Küche trug und sie für sich und meine Mutter noch einmal aufwärmte.
Normalerweise verwandelten wir uns ja draußen im Wald, aber es war Ende Januar und bitterkalt. Darum wurden wir drinnen pelzig und trabten dann hintereinander die Treppe hinunter.
Mama und Papa saßen mittlerweile mit ihrem aufgewärmten Essen auf der Couch und schauten sich einen alten Film auf dem Fernseher an. Als wir herunter kamen, stellte mein Vater jedoch seinen Teller auf dem Tisch ab und folgte uns zur Hintertür.
Ich lief wirklich sehr gerne als Wolf durch den Wald, aber wenn man sich hinter verschlossenen Türen befand, hatte das durchaus seine Nachteile. Darum öffnete mein Vater uns die Tür, trat dann selber hinaus auf die Veranda und schlüpfte dort in ein paar Latschen, damit er uns auch das verriegelte Gartentor öffnen konnte.
Cio folgte ihm direkt, ich jedoch ließ meinen Blick auf der Suche nach meinem Rammbock durch den Garten wandern.
Als meine Eltern das Haus vor knapp drei Jahren gekauft hatten, war dies hier ein etwas verwilderter, aber ansonsten völlig normaler Garten, direkt am Rande der Wälder der Könige gewesen. Vor einem halben Jahr jedoch, hatte ein Bautrupp daraus ein ausbruchsicheres Wolfsgehege gemacht. Die Grundstücksgrenze war ausgehoben und mit Beton ausgegossen worden, damit Ferox sich nicht rausgben konnte, der Zaun maß drei Meter in die Höhe und die beiden Gartentore waren mit Sicherheitsriegeln versehen. Ohne den richtigen Pin ließen sie sich nicht öffnen.
Direkt in der Mitte des Gartens stand die Hundehütte, die Cio und mein Vater zusammen gebaut haben. Rechts neben der Veranda stand ein stabiler Zwinger, in den ich ihn sperren konnte, sollte es aus irgendeinam Grund einmal nötig sein. Links im hinteren Teil standen ein paar Gartenmöbel, direkt neben dem Geräteschuppen und hinten rechts waren mehrere Tannen und eine Eiche, die theoretisch zwar schon zum Wald gehörten, aber noch auf dem Grundstück meiner Eltern standen. Der Wald begann direkt dahinter.
Ich ließ meinen Blick durch den Garten schweifen, konnte meinen quirligen Schatz aber nicht entdecken. Er war nicht mehr auf der Hundehütte, er lag nicht unter den Gartenmöbel und auf der Terrasse war er auch nicht. Das war nicht weiter ungewöhnlich.
Keiner wusste warum, aber Ferox hatte Angst vor meinem Vater. Sobald er den Garten betrat, verzog der aufdringliche Flummi sich in irgendeine Ecke und beobachtete ihn misstrauisch aus irgendeinem Versteck heraus. Darum vermutete ich auch, dass er in seiner Kuhle unter seiner großen Tanne lag. Also machte ich mich auf dem Weg dorthin.
Im Vorbeigehen strich mein Vater mir noch einmal über den Kopf und verschwand dann wieder nach drinnen, während Cio in der offenen Gartentür stand und Fiepte.
Auch ich gab ein Geräusch von mir, in der Hoffnung, Ferox damit heraus zu locken. Ich hatte keine große Lust unter die Tannen zu kriechen. Aber das Auftauchen meines Vaters musste ihn mal wieder so verschreckt haben, dass er nicht herauskommen wollte.
Seufzend ging ich in die hintere Ecke, jaulte dabei ein wenig und spähte unter seine Lieblingstanne, nur leider war er nicht da. Verwirrt hob ich den Kopf und sah mich noch einmal im Garten um, aber außer Cio, der mich neugierig beobachtete, war da niemand.
Irritiert ging ich um den Baum herum und untersuchte die drei anderen Tannen, aber auch da konnte ich ihn nicht finden. Wittern brauchte auch nichts. Ferox Geruch in dieser Ecke war so intensiv, dass ich nicht feststellen konnte, wann er das letzte Mal hier gelegen hatte. Also blieb mir gar nichts anderes übrig, als wieder herauszukommen und mich ein weiteres Mal im Garten umzuschauen.
„Was ist los?“, fragte Cios per Gedankensprache, als ich wieder ins Freie trat.
„Ich kann Ferox nicht finden.“
„Was?“ Nun schaute auch er sich um. „Irgendwo muss er ja stecken, wo sollte er denn sonst sein?“
Tja, das war die Frage. Unter der Tanne lag er jedenfalls nicht und da ich ihn auch sonst nirgends entdecken konnte, trabte ich zur Hundehütte. Zwar konnte ich mir nicht vorstellen, dass er darin lag, aber wo sollte er denn sonst sein? Vorhin jedenfalls hatte ich ihn oben drauf gesehen.
Als ich jedoch dort ankam und den Kopf hinein steckte, war die Hütte, wie nicht anders zu erwarten, leer. „Hier ist er auch nicht“, sagte ich und schaute mich unruhig um. Langsam bekam ich ein ungutes Gefühl. Vorhin hatte ich ihn noch gesehen und Ferox war Fremden gegenüber scheu, wäre also auch nicht zu jemanden gegangen, der außen am Zaun gestanden hätte. Außerdem waren die Tore verschlossen, er wäre hier niemals allein herausgekommen.
War er irgendwie über den Zaun gekommen? Das wäre nicht weiter schlimm. Er stellte nichts an und würde früher oder später wieder auftauchen, aber ich konnte es mir einfach nicht vorstellen. Darum jaulte ich ein paar Mal. Als er immer noch nicht auftauchte, legte ich sogar den Kopf in den Nacken und heulte laut. Auf diesen Ruf reagierte er immer – außer dieses Mal.
Ich tauschte einen Blick mit Cio, der seinen Blick auf den Wald gerichtete hatte, als erwartete er meinen Flohzirkus zwischen den Bäumen auftauchen, aber auch dort blieb alles ruhig.
Wir tauschten einen Blick, dann ging Cio selber noch mal zu den Tannen, während ich nach vorne zu dem Stück neben der Veranda eilte, wo das zweite Tor war. Wie nicht anders zu erwarten, war das Tor verriegelt und der Platz davor leer.
Langsam bekam ich ein wirklich ungutes Gefühl. Ich heulte noch mal nach ihm und trabte wieder weite in den Garten hinein.
Die Hintertür ging auf und mein Vater trat stirnrunzelnd auf die Veranda. „Was ist los?“, fragte er mich.
Ich hätte ihm gerne gesagt, dass wir Ferox nicht finden konnten, aber als Vampir er konnte die Gedankensprache der Lykaner nicht verstehen. Also jaulte ich ein paar mal kläglich, schüttelte dann den Kopf und drehte mich suchend um meine eigene Achse. In dem Moment hörte ich es. Ein ganz leises Geräusch, ein Keuchen und Wimmern, dass von dem kalten Wind fortgetragen wurde.
Ich wirbelte herum, stellte die Ohren auf und als sich das Geräusch wiederholte, richtete sich mein Blick auf den Geräteschuppen.
Ich zögerte nicht, stürzte sofort los und riss dabei noch einen der Gartenstühle um.
„Zaira?“, rief mein Vater.
Der Schuppten stand zu beiden Seiten ungefähr einen Meter vom Zaun entfernt. Ich umrundete ihn eilig und da entdeckte ich ihn. „Oh mein Gott.“
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„Cio!“, rief ich panisch und stürzte zu Ferox. Oh mein Gott. Er lag in dem kleinen Spalt auf der Seite, seine Augen waren völlig verdreht und vor der Schnauze hatte er gelblichen Schaum. Seine Glieder zuckten unkontrolliert und er schien kaum noch Luft zu bekommen. „Cio, komm schnell!“
Ich stupste Ferox an, wimmerte und jaulte, doch er schien nicht mal zu bemerken, dass ich bei ihm war.
Es konnte nur ein paar Sekunden gedauert haben, bis Cio an meiner Seite war, doch es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Er sah Ferox, trat dann sofort wieder zurück und begann ohne jede Scheu sich in der Kälte zu verwandeln.
In der nächsten Sekunde war auch schon mein Vater bei uns. Er brauchte einen Moment um zu verstehen, was er hier sah, dann schob er mich entschlossen zur Seite, griff nach Ferox und zog ihn eilig hinter dem Schuppen hervor. Dabei fiel Ferox ein halb zerkauter Fleischbrocken aus der Schnauze. Als ich den Blick ein wenig hob, entdeckte ich noch weitere Fleischklumpen hinter dem Schuppen und mit einem Mal wusste ich genau, was geschehen war.
„Er wurde vergiftet“, murmelte ich entsetzt. Jemand hatte vergiftete Fleisch über den Zaun geworfen und Ferox hatte es gefressen. Es musste einfach so sein. Dieses Fleisch war nicht von uns. Es war kleingeschnitten, aber wir schnitten sein Futter niemals klein. Er war ein Wolf, er brauchte keine Mundgerechte Stücke.
„Gnocchi!“, rief mein Vater quer durch den Garten. Dann schob er die Arme unter Ferox und wuchtete ihn hoch.
Das Ferox überhaupt nicht auf die Nähe meines Vaters reagierte, machte mir noch mehr Angst. Das war nichts außer dem Röcheln und dem Zucken seiner Beine.
Als Cio seine Verwandlung beendet hatte, schüttelte er einmal den Kopf, um den Kopf wieder klar zu bekommen. Auch sein Blick fiel auf die Fleischköder und wurde zu einer dünnen Linie.
Meine Mutter erschien auf der Veranda und schaute verwirrt dabei zu, wie meine Vater Ferox' schlafen Körper auf das vordere Gartentor zutrug. „Was ist los?“
Anstatt zu antworten, bellte mein Vater: „Hol die Wagenschlüssel und starte den Motor. Schnell!“
Sie zögerte keinen Moment und war im nächsten Moment schon wieder im Haus verschwunden.
Ich eilte hinter Papa her.
„Da liegen Fleischklumpen“, sagte Cio und eilte an meinem Vater vorbei, um das Tor zu entsichern. „Zaira sagt, er wurde vergiftet.“
Papas Lippen wurden schmal. „Wir bringen ihn in die Tierklinik.“
Oh Gott, Ferox im Auto? Was wenn er während der Fahrt erwachte und in Panik geriet. „Wir haben keinen Maulkorb.“
Wir erreichten den Wagen gerade, als Mama aus der Haustür gestürmt kam und das Auto mit der Fernbedienung öffnete.
Cio riss sofort den Kofferraum auf und half meinem Vater dabei, Ferox hinein zu legen. „Fahr bei ihm mit, Schäfchen, du kannst ihn beruhigen, wenn es sein muss.“ Als er zurück trat, bemerkte ich, dass er am ganzen Körper zitterte, aber ich konnte nicht sagen, ob das nur an der Kälte war. „Ich ziehe mir nur kurz etwas an, und komme dann hinterher.“
Nickend sprang ich zu Ferox in den Kofferraum. Eine Sekunde später schlug mein Vater bereits die Heckklappe zu und rannte zur Beifahrertür. Mama saß bereits hinter de Lenkrad und ließ den Motor an.
Ich warf noch einen Blick durch die Heckscheibe und sah zu, wie Cio in der anbrechenden Dämmerung zurück in den Garten rannte, dann fuhr meine Mutter auch schon so schwungvoll an, dass ich gegen die Heckklappe knallte.
„Leg dich hin“, verlangte mein Vater und schnallte sich an.
Das brauchte er mir nicht extra sagen. Der Schwung hatte mich bereits in die Knie gezwungen, aber nun kauerte ich neben meinem Wirbelwind und wusste nicht was ich tun sollte. Seine Augen waren mittlerweile geschlossen, aber da quoll noch immer gelblicher Schaum aus seiner Schnauze. Seine Brust hob und senkte sich hektisch und das Röcheln klang so qualvoll, dass es selbst mich schmerzte.
„Oh Gott“, wimmerte ich und drückte meinen Kopf gegen seinen, während sich Tränen in meinen Augen sammelten. Ich schickte ihm gedanklich Bilder und Gefühle und hoffte, dass er darauf reagieren würde.
Ferox war zwar ein irgendwie ein Misto, konnte sich aber nicht per Gedankensprache unterhalten, jedenfalls nicht so, wie Lykaner es taten, aber er war sehr wohl fähig sich zu verständigen. Wenn Ferox seinen Kopf gegen einen anderen drückte, konnte er durch Bilder aus Erinnerungen und Gefühlen kommunizieren. Das funktionierte aber nicht nur, wenn er es tat. Wenn er genug Vertrauen hatte, konnte er solche Bilde und Gefühle auch empfangen und das war im Moment das einzige, was ich tun konnte.
Ich schickte ihm meine Erinnerungen, in denen ich ihn im Arm hielt und mit ihm kuschelte in der Hoffnung ihn so ein wenig trösten zu können und ihm zu zeigen, dass er nicht alleine war. Ich hatte keine Ahnung, ob er sie im Moment überhaupt verstand, oder das nichts weiter, als ein nutzloser versuch war, aber mehr konnte ich nicht tun.
Er sollte keine Angst haben, er sollte wissen, dass ich hier war und ihn nicht im Stich lassen würde und auch, dass er noch ein bisschen durchhalten sollte. Gott, warum war ich nur nicht schon früher in den Garten gegangen?
Die Fahrt in die Tierklinik am Rande von Silenda dauerte fast zwanzig Minuten und währenddessen musste ich hilflos miterleben, wie das Röcheln von Ferox immer schwächer wurde. Ich jaulte ein um das andere Mal, um meine Mutter zur Eile anzutreiben, auch wenn sie jetzt schon alle Geschwindigkeitsbegrenzungen sehr stark dehnte und mehr als einmal eine rote Ampel missachtete.
Als wir dann endlich mit quietschenden Reifen auf dem Parkplatz vor der Tierklinik hielten, wurde ich durch den Schwung fast gegen die Rückbank geschleudert.
Mein Vater war bereits ausgestiegen und rannte zum Kofferraum, bevor meine Mutter überhaupt die Chance hatte den Motor abzustellen und sich loszuschnallen. In der nächsten Minute stürmte er schon mit Ferox im Arm und mir im Windschatten das Wartezimmer mit der Anmeldung. „Er wurde vergiftet!“, rief er, bevor die brünette Arzthelferin hinter dem Tresen überhaupt eine Chance hatte, etwas zu sagen.
Die Frau war geistesgegenwärtig und hielt sich nicht lange mit Fragen auf. „Kommen sie mit“, sagte sie nur und führte uns an den wartenden Patienten vorbei in einen kleinen Behandlungsraum, der mit allerlei Schränken und medizinischen Geräten ausgestattet war.
Im Vorbeigehen bat sie eine Kollegin Doktor Kniffer wegen eines Notfalls zu holen.
Ich stürmte den Raum direkt hinter Papa.
„Legen sie ihn da drauf“, wies die Tierarzthelferin meinen Vater an und zeigte auf den höhenverstellbaren Behandlungstisch in der Raummitte. Dann war sie auch schon an den Schränken und begann allerlei Dinge herauszusuchen, von denen ich nur ein Bruchteil zu benennen wusste.
Ich stellte mich währenddessen am Tisch auf und drückte wieder meinen Kopf gegen den von Ferox und wäre fast zusammengezuckt, als ich plötzlich ein Gefühl von ihm empfing. Angst. Er hatte fürchterliche Angst und weil sein Körper brannte und schmerzte und er nicht wusste, was los war.
„Schhh“, sagte ich und versuchte ihn mit meinen Erinnerungen zu berühren. „Ruhig, dir kann nichts passieren.“
Ein etwas korpulenter Arzt in einem weißen Kittel mit angehender Glatze, kam in den Raum gerannt. Direkt hinter ihm war noch eine blonde Frau, die zusammen mit ihm zum Tisch stürzte.
„Ich glaube, er wurde vergiftet“, sagte ich aufgeregt und spürte, wie mir wieder die Tränen in die Augen stiegen.
Der Arzt wollte sofort nach ihm greifen, stutzte dann aber. „Das ist kein Hund.“
„Er ist ein Misto“, erklärte ich. „Ein halber Wolf.“
Die Frau schaute mich mit großen Augen an, während die Brünette eilig das ganze Zeit herbeitrug. „Ist er zahm?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, er hat Angst vor Fremden.“
„Cecile, hole bitte einen Maulkorb.“
„Sie können ihm doch helfen“, versicherte ich mich.“
Statt zu Antworten, warf der Arzt mir nur einen kurzen Blick zu.“
„Gehen sie bitte hinaus“, forderte die blonde Frau uns auf.
Ich wollte sofort protestieren. Keine zehn Pferde würden mich jetzt von seiner Seite bekommen, doch Papa schien das zu wissen.
„Wir würden nur im Weg stehen“, sagte er streng.
Wie zum Beweis, schob die blonde in dem Moment einen Ständer mit Kochsalzlösung neben den Tisch und schob mich dadurch zur Seite.
„Aber was ist …“
„Wir helfen ihm im Moment mehr, wenn wir rausgehen.“
Das widerstrebte mir. Ich hatte seine Angst gespürt und wollte ihm auf keinen Fall allein lassen, aber dann trat der Arzt mir in seiner Hektik fast noch auf die Pfote, wodurch ich noch weiter vom Tisch zurückgedrängt wurde.
„Zaira“, forderte mein Vater mich erneut auf.
Ich wich noch einen Schritt zurück und wandte mich dann mit einem letzten Blick auf ihn eilig ab. Ich lief schnell, weil ich Angst hatte, es mir sonst vielleicht noch einmal anders zu überlegen, doch weiter als bis auf den Korridor ging ich nicht. Das konnte ich einfach nicht. Ferox war … oh Gott, jemand hatte ihn mit vergifteten Fleischködern gefüttert. Jemand hatte ihn umbringen wollen, nur … warum? Warum tat jemand sowas schreckliches?
Natürlich, er war kein zahmer Haushund und mied den Kontakt zu Fremden, aber er war nicht gefährlich. Er hatte noch nie jemanden verletzt. Wenn er Angst hatte, oder unsicher war, dann trat er den Rückzug an.
Als ich eine Berührung am Kopf spürte, stellte ich überrascht fest, dass meine Mutter neben mir stand. In dem Moment kam ein weiterer Mann durch den Korridor geeilt und verschwand in dem Behandlungsraum. Dann konnten wir eine ganze Weile nichts anderes tun als zu warten und zu hoffen.
Ich wanderte die ganze Zeit ruhelos hin und her. Selbst als Cio zehn Minuten später auftauchte, ließ ich mich nicht beruhigen. Ich verstand einfach nicht, wie das hatte geschehen können.
„Schäfchen“, sagte er und hockte sich direkt vor mich, als ich zum bestimmt tausendsten Mal an ihm vorbei gehen wollte. Er streckte die Hand aus, als wollte er mich berühren und ich wich instinktiv ein Stück vor ihm zurück. In seinen Augen flackerte einen Moment Kränkung. „Du musst dich beruhigen.“
„Beruhigen?“, fragte ich fassungslos. „Er stirbt vielleicht gerade.“
„Nein“, widersprach er sofort. „Das darfst du nicht mal denken. Dafür ist Ferox viel zu stur. Du weißt doch wie er ist.“
Natürlich wusste ich das, aber das eine hatte mit dem anderen überhaupt nichts zu tun.
Als er dieses Mal die Hand nach mir ausstreckte, kniff ich einfach nur die Augen zusammen und spürte, wie mir die Tränen aus den Augenwinkeln rannen. „Ihm wird nichts passieren, wir haben ihn rechtzeitig gefunden.“
„Woher willst du das wissen?“, fragte ich ihn leise. „Woher willst du wissen, dass er wieder in Ordnung kommt?“
„Weil er ein Kämpfer ist.“
Es wäre so schön, dass einfach glauben zu können. Aber ich hatte noch immer sein Röcheln im Ohr. Ich hatte gesehen, wie schlecht es ihm ging und ich hatte seinen Schmerz gespürt.
„Schäfchen.“ Cio nahm meinen Kopf zwischen die Hände und lehnte sein seine Stirn an meine. Er sprach jedoch erst weiter, als ich die Augen wieder öffnete und ihn ansah. „Alles wird gut werden“, versprach er mir leise.
Ich glaubte ihm nicht, aber das behielt ich für mich. „Wer tut sowas nur?“, fragte ich leise. Der Name Iesha geisterte einen Moment durch den Kopf, aber so verrückt war nicht mal sie. Nicht dass ich ihr nicht zutraute, dass sie Ferox vergiften würde, aber sie wäre sicher nicht so dumm sich zum Haus meiner Eltern zu wagen.
„Ich weiß es nicht“, erwiderte er genauso leise. „Aber wir werden es herausfinden.“
Das hoffte ich, aber wenn ich ehrlich war, konnte ich auch daran nicht so recht glauben.
Sein Daumen strich unter meinem Auge über das feuchte Fell. „Ich habe deine Klamotten mitgebracht. Wie wäre es, wenn du dich verwandelst. Dann hast du etwas zu tun und bis wir zurück sind, gibt es vielleicht schon etwas Neues.“
Bei diesen Worten huschte mein Blick sofort wieder zu der geschlossenen Tür. Seit der zweite Mann dort hinein gegangen war, hatte sich dort nichts mehr geregt und die Tür war zu dick, um mehr als ein Murmeln dahinter zu hören.
„Deine Eltern sind doch hier. Wenn etwas sein sollte, holen sie uns sofort.“
Es war albern, dass ich daraufhin einen Blick zu meinen Eltern warf, um mich durch ihr Nicken darüber zu versichern, dass es stimmte, was Cio sagte, aber es widerstrebte mir einfach meinen Posten zu verlassen. Warum ich mich trotzdem mit Cio zusammen auf den Parkplatz bewegte, um dort meine Sachen zu holen, verstand ich selber nicht. Vielleicht war ich vom Kopf her einfach zu fertig, um mich lange dagegen zu wehren.
In den letzten Tagen war einfach so viel passiert. Eine Woche war es jetzt her, seit Tayfun uns aus dem Bett geklingelt hatte und seit dieser Nacht schien jeder neue Tag auf seine ganz eigene Art an meinen Nerven zu zerren. Es war beinahe noch schlimmer, als die drei Monate, in denen Iesha als der Amor-Killer ihr Unwesen getrieben hatte. Damals hatten wir zwischendurch wenigsten hin und wieder eine Atempause bekommen, aber nun jetzt hatte ich das Gefühl, als würde ich gar nicht mehr zur Ruhe kommen.
Sobald Cio meine Klamotten vom Rücksitz gesammelt hatte, gingen wir wieder in die Klinik hinein und suchten die Toiletten auf. Er wartete draußen, während ich mich verwandelte und mich dann anzog. Auch an meine Brille hatte er gedacht und so trat ich zehn Minuten später fertig angezogen zurück auf den Korridor.
Cio stand direkt vor der Tür und starrte mit dünnen Lippen auf sein Handy.
„Was ist los?“, fragte ich und war mir nicht sicher, ob ich die Antwort wirklich hören wollte. Noch mehr schlechte Nachrichten brauchten wir im Moment wirklich nicht mehr.
„Nichts Wichtiges“, sagte er ausweichend und steckte das kleine Gerät zurück in die Hosentasche, bevor er nach meiner Hand griff und wir uns auf den Rückweg zu meinen Eltern machten. „Ist mit dir soweit alles in Ordnung?“
„Musst du mich das wirklich fragen?“
Er schenkte mir ein schmales Lächeln. „Eigentlich zielte die Frage darauf ab, ob du vielleicht etwas zu Trinken oder zu Essen haben möchtest. Ich könnte dir auf einen Stuhl bringen, oder dich wahlweise auf meinen starken Armen durch die Gegend tragen, wenn du es wünschst.“
Mir war klar, dass er damit versuchte mich aufzumuntern, aber im Moment war mir einfach nicht nach Lächeln zumute. „Ich brauche nichts.“
Ein paar Meter liefen wir schweigend nebeneinander her. Dann fragte er: „Was hältst du davon, wenn wir mal ein paar Tage wegfahren würden. Nur du und ich.“
„Jetzt?“ Also im Moment war mir nach vielem, hauptsächlich nach Heulen, aber nicht nach Verreisen.
„Nicht jetzt sofort. Vielleicht in ein oder zwei Wochen, wenn es Ferox wieder gut geht. Wir könnten in ein schönes Wellnesshotel fahren und es uns ein paar Tage richtig gut gehen lassen. Massagen, Schlammbäder und kleine Gurken auf den Augen.“
„Für sowas haben wir kein Geld“, erinnerte ich ihn und bog mit ihm dann den Korridor nach links ab. Die Tür war noch immer geschlossen, meine Eltern lehnten gegenüber an der Wand.
„Ach, so teuer ist das gar nicht. Wir kaufen einfach mal eine Tüte Gummibärchen weniger, dann klappt das schon.“
„Wir erwarten ein Baby, Cio. In der nächsten Zeit kommt einiges auf uns zu. Da ist so ein Firlefanz nicht drinnen.“
Er öffnete den Mund um zu widersprechen, aber ich schüttelte den Kopf, bevor er auch nur einen Ton herausbekam. „Schäfchen …“
„Nein.“
Unzufrieden presste er die Lippen aufeinander.
„Ich möchte im Moment einfach nicht verreisen“, sagte ich leise. Zuhause fühlte ich mich sicher. In einer fremden Umgebung würde ich vermutlich mit meinem Elektroschocker in der Hand schlafen müssen, um zeitweise überhaupt ein Auge zu zubekommen.
Er seufzte nicht direkt, als er sich geschlagen gab, aber es fehlte nicht mehr viel dazu.
„Tut mir leid.“ Ich wusste ja, dass er es nur gut meinte.
„Ist schon gut.“ Er drückte meine Hand ein wenig fester. Vermutlich wusste er genau, dass meine Ablehnung nur wenig mit unserem Ersparten zu tun hatte.
Als wir meine Eltern erreichten, schüttelte mein Vater seinen Kopf bereits, bevor ich meinen Mund geöffnet hatte. „Wir wissen noch nichts Neues“, sagte er sofort. „Aber es dauert sicher nicht mehr lange.“
Damit hatte er recht. Es dauerte trotzdem noch zehn Minuten, bis die Tür endlich geöffnet wurde und die Brünette Cecile den Kopf herausstreckte. Dabei lächelte sie aufmunternd. Das war doch gut, oder? Sie würde sicher nicht lächeln, wenn Ferox … oh Gott, das wollte ich nicht mal denken.
„Sie können jetzt hereinkommen“, sagte sie und hielt uns die Tür auf. „Der Arzt wird ihnen alles weitere erklären.“
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich war nicht nur die Erste, die sich in Bewegung setzte, ich war auch die Erste, die den Behandlungsraum betrat und fast sofort wieder stehen blieb.
Ferox lag bewegungslos auf dem Behandlungstisch. In seinem Bein steckte ein Zugang, der mit einem Tropf verbunden war und der Tierarzt entfernte gerade den langen Schlauch aus seiner Kehle. Ich brauchte einen Moment, um diesen Anblick zu verarbeiten, bevor ich mich wieder in Bewegung setzten konnte und zu ihm trat. Meine Finger zitterten leicht, als ich die Hand ausstreckte und vorsichtig durch sein graues Fell fuhr. „Wie geht es ihm?“, fragte ich leise.
Cio trat sofort neben mich und griff nach meiner Hand. Meine Eltern blieben fast unbemerkt hinter mir stehen.
„Es war knapp“, sagte der korpulente Arzt. „Und jetzt müssen wir abwarten, was weiter geschieht.“
Ich musste mich zusammenreißen, um meine Finger nicht in sein Fell zu krallen. „Was heißt das?“
„Das heißt sie hatten recht, er wurde vergiftet. Wir haben ihm den Magen ausgepumpt. Er hat vermutlich Pflanzenschutzmittel mit Carbamaten und Organphosphaten zu sich genommen. Hätte er mehr davon gefressen, hätte die Menge durchaus tödlich sein können.“
„Aber jetzt wird er wieder gesund?“ Ich konnte nichts dagegen tun, dass meine Stimme so flehentlich klang. Vor ein paar Jahren hatte ich meinen kleinen Miniyorcki Flair verloren, als sie versucht hatte, meine Eltern gegen ein paar Eindringlinge in unserer Wohnung zu verteidigen. Ich wollte Ferox nicht auch noch verlieren.
„Er wird ein paar Tage hier bleiben müssen, damit er unter Beobachtung bleibt“, antwortete Doktor Kniffer ausweichend. „Wir werden noch einige Untersuchungen mit ihm machen müssen, um sicher zu gehen …“
„Was kann schlimmstenfalls passieren?“, unterbrach ich ihn. Ich wollte keine langen Reden und herumdrucksen hören.
Der Tierarzt schwieg einen Moment. „Im schlimmsten Falle kann die Vergiftung zu einem steifen Gang, Organschäden, Lähmung, oder sogar dem Tod führen.“
Nach diesen Worten musste ich wirklich mit den Tränen kämpfen.
Cio drückte meine Hand. „Wie wahrscheinlich ist das?“
„Im Moment nicht sehr wahrscheinlich. Ich möchte mich noch nicht festlegen, aber sie haben sehr schnell reagiert. Ich denke er hat gute Chancen wieder auf die Beine zu kommen, aber etwas Genaues kann ich erst nach den Untersuchungen sagen. Kopf hoch“, sagte er dann und wollte mir die Schulter tätscheln.
Ich wich instinktiv vor der Berührung zurück und stolperte dabei gegen Cio. „Nicht anfassen“, stieß ich hastig hervor und senkte dann eilig den Blick. Verdammt.
Cio berührte mich beruhigend an der Hüfte und machte es damit nicht unbedingt besser, aber ich zwang mich still zu halten. „Wann wissen sie Genaueres“, fragte er und versuchte so meinen Fauxpas zu übergehen.
Ich spürte den kritischen Blick des Tierarztes.
„Morgen Nachmittag sollten wir ein wenig mehr wissen.“
Ferox Nase zuckte. Keine Ahnung, ob er das im Schlaf tat, oder er langsam zu sich kam, aber ich legte ihm eine Hand auf die Schnauze, damit er mich riechen konnte. „Alles wird gut“, flüsterte ich und drückte meinen Kopf gegen seine. Sofort flutete das Gefühl von Unsicherheit und ein paar verschwommene Bilder in meinen Kopf. „Er wird wach“, flüsterte ich.
„Ferox ist kein normaler Wolf“, erklärte Co daraufhin. „Bei einer Untersuchung hat sich herausgestellt, dass er das Kind von einem wilden Wolf und einem Lykaner ist.“
Ich brauchte nicht aufschauen, um die Reaktion von Doktor Kniffer zu sehen. Sein Schweigen sagte alles.
„Er ist nicht dumm“, fügte mein Vater noch hinzu. „Er verfügt über Intelligenz und auch Sprache. Er hat Angst vor Vampiren und mag keine Fremden.“
„Aber er ist nicht gefährlich“, flüsterte ich in sein Fell. „Er hat noch nie jemanden gebissen.“ Ich fand es wichtig, das zu erwähnen.
„Am besten ist es, wenn sie uns die nötigen Information aufschreiben“, bemerkte der Tierarzt.
Und dass geschah dann auch. Papa kümmerte sich darum, weil ich mich nicht von meiner Knutschkugel trennen wolle. Als die Arzthelferin Cecile mit einem Maulkorb auftauchte, nahm ich ihn ihr ab und machte ihn ihm selber um.
Als sie ihn dann auf einen anderen Tisch legten, um ihn in seine Unterkunft für die nächsten Tage zu rollen, begann er sich zu regen und ich war sofort wieder an seiner Seite, um ihn zu beruhigen. „Es ist alles gut“, sagte ich ihm immer wieder, während ich ihm beruhigende Erinnerungen schickte und langsam begann er sich wirklich zu entspannen.
Da ich mich aber nicht so schnell von ihm trennen konnte, begleiteten Cio und ich ihn noch nach hinten, wo er in einen großen Zwinger unter ein Rotlicht gelegt wurde. Eigentlich war das nicht zulässig, aber es war wichtig für Ferox, damit er nicht ausflippte, wenn er aus der Betäubung erwachte. Deswegen saß ich eine Stunde später noch immer bei ihm. Cio saß davor auf einem Stuhl, meine Eltern aber mussten draußen im Wartebereich bleiben.
Da ich meine Stirn die ganze Zeit an seine drückte, konnte ich spüren, wie er langsam wieder zu sich kam. Ein paar Mal versuchte er sich aufzurichten, aber ich drückte ihn jedes Mal wieder runter und zeigte ihm Bilder, die ihm verdeutlichen sollten, dass er liegen bleiben sollte. Auch die Erinnerung von heute Nachmittag, als er gelangweilt auf seiner Hundehütte gelegen hatte, war dabei.
Als ich daraufhin eine ziemlich klare Antwort bekam, war ich ein wenig überrascht. Nicht weil er versuchte, sich mit mir zu verständigen, sondern wegen dem was er mir zeigte. Der Nachmittag aus seiner Perspektive. Wie er unsere Ankunft miterlebte und freudig auf die Veranda rannte, aber niemand kam heraus. Ich hörte ihre Stimmen und freute mich, aber sie waren noch beschäftigt.
Gelangweilt legte ich mich auf meinen Beobachtungsposten und lauschte. Da, ein Geräusch. Schritte, jemand beobachtete mich.
Wachsam hob ich den Kopf. War da nicht jemand? Im Wald, hinter dem Baum? Ich hob die Nase in die Luft. Ich kannte den Geruch. Mein Nackenfell sträubte sich.
Knurrend sprang ich hinunter. Das hier war mein Revier.
Hinter dem Zaun bewegt sich eine Gestalt. Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen, da war etwas auf dem Kopf. Ich mochte es nicht, wenn ich die Gesichter nicht sehen konnte, das machte mich nervös.
Vorsichtig nährte ich mich dem Zaun. Die Gestalt verbarg sich halb hinter dem großen Kasten in der Ecke. Sie machte komische Geräusche und ging in die Hocke.
Langsam schlich ich aus sie zu. Sie hielt etwas in der Hand. Es roch lecker, aber der Geruch von der Gestalt … sie war der Feind.
„Komm her, Kleiner, hier hab ich etwas ganz leckeres für dich.“
Sie war vor mir, nur wenige Meter entfernt. Ich kauerte auf dem Boden und behielt sie wachsam im Auge.
„Na los, komm er.“
Mein Revier. Ich stürzte nach vorne, direkt auf die Gestalt zu. Ich war schnell.
Sie erschreckte sich und fiel rückwärts auf den Hintern. Die Kopfbedeckung rutschte ihr vom Kopf. Wütende Augen funkelten mich an. Ich knurrte warnend.
„Wie du willst.“ Der Feind stand wieder auf und warf etwas über den Zaun, direkt hinter den Kasten. Es roch gut und …
Ich riss meinen Kopf zurück. Mein Herz raste in meiner Brust. Keine Ahnung ob ich ein Geräusch gemacht hatte, aber plötzlich riss Cio die Zwingertür auf und war bei mir.
„Was ist? Was ist los?“
Sehr langsam wandte ich ihm das Gesicht zu. „Iesha“, sagte ich. „Es war Iesha.“
Es folgten ein paar Sekunden des Schweigens. Sein Blick ließ nicht erkennen, was in seinem Kopf vor sich ging, doch als als er dann mit einem leisen Seufzen nach meiner Hand griff, wusste ich sofort, was er sagen würde. „Schäfchen, ich verstehe …“
„Ferox hat sie gesehen!“, unterbrach ich ihn und riss meine Hand weg. „Er hat es mit gerade gezeigt, also erklär mir nicht wieder, dass ich mir das nur einbilde. Wenn du mir nicht glaubst, dann frag ihn doch selber!“
Nur langsam schaute er von mir zu meiner Hupfdohle.
„Sie hat versucht ihn zum Zaun zu locken, aber er hat sie erkannt und wollte sie beißen, also hat sie die Fleischköder einfach in den Garten geschmissen.“
Zögernd, als könnte Cio diese Tatsache einfach nicht glauben, strich er Ferox vorsichtig über den Hals. Früher konnten die beiden sich nicht leiden und auch jetzt vertrugen sie sich nur, weil ich darauf bestand, aber wenigsten erkannte der Wilde Cios Überlegenheit mittlerweile an und so grummelte er zwar, als Cio seine Stirn gegen Ferox Kopf lehnte, wehrte sich aber nicht dagegen.
Es schmerzte mich ein wenig, dass er mir nicht einfach glaubte, aber ich sagte mir, dass es nicht schlimm war. Er wollte mir einfach nicht glauben, weil das bedeuten würde, dass ich schon wieder in Gefahr war. Er hoffe wahrscheinlich einfach, dass ich mich irrte, oder irgendwas falsch verstanden hatte.
Während ich die Beiden beobachtete, begannen die Gedanken in meinem Kopf zu rasen. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass Iesha so wagemutig und dreist sein könnte, zum Haus meiner Eltern zu gehen. Nicht nur weil sie eine Ausgestoßene war und jeden Wolf des Rudels zwangsläufig auf sich aufmerksam machte, wenn sie in seine Nähe kam. Meine Eltern würden sie in der Luft zerreißen, wenn sie sie zwischen die Finger bekamen. Meine Mutter könnte sich vielleicht noch zurückhalten, aber ich bezweifelte, dass sie eine Begegnung mit meinem Vater überleben würde.
Ich musste auch nicht lange über den Grund nachdenken, warum sie das getan hatte. Ferox war mir wichtig. So stur dieser Wolf auch war, ich liebte ihn abgöttisch und es würde mich schwer treffen, wenn ihm etwas geschah.
Dieser Gedanke reichte aus, um mir noch etwas anderes klar zu machen. Cio hatte die ganze Zeit recht gehabt, der Schuss auf dem Parkplatz war wirklich nicht für mich bestimmt gewesen, aber er war auch nicht zufällig getroffen worden, wie die Wächter annahmen. Kasper war mein bester Freund. „Das ist der Grund“, murmelte ich.
Cio öffnete die Augen und setzte sich wieder auf. „Was für ein Grund?“
„Kasper wurde nicht versehentlich angeschossen, das war Absicht. Er wurde angeschossen, weil er mein Freund ist und es mich fertig machen würde. Darum hat sie auch Ferox das vergiftete Fleisch gegeben.“ Ich zeigte auf meinem Schoßwölf und kam gar nicht dagegen an, dass meine Hände plötzlich zu zittern begannen. „Sie verletzt die die mir wichtig sind, weil sie damit mich verletzt.“ Und dabei war es ihr völlig egal, wie sehr jemand zu schaden kam.
Oh Gott, wer würde der nächste sein und was wenn sie wirklich noch jemanden umbrachte, der mir etwas bedeutete?
Das Zittern wurde schlimmer.
„Hey, ganz ruhig.“ Cio griff wieder nach mir, doch ich wich ihm aus. „Schäfchen“, sagte er gequält. „Du bist nicht schuld daran.“
„Wie kannst du das sagen? Kasper und Ferox wurden nur verletzt, weil ich sie mag.“
„Du bist nicht für ihre Taten verantwortlich.“ Er griff wieder nach mir und dieses Mal ließ er es nicht zu, dass ich weiter auf Abstand ging. Er packte meine zitternden Hände und hielt sie auch fest, als ich versuchte ihn abzuschütteln. „Zaira, hör mir zu. Iesha ist geisteskrank. Niemand trägt die Verantwortung für das was sie tut. Ich nicht, du nicht und auch kein anderer.“
„Aber …“
„Kein aber“, unterbrach er mich rüde und strich mir dann in der vertrauten Geste vorsichtig über meine linke Augenbraue, wo das kleine Loch von meinem Piercing war, dass ich schon seit Jahren nicht mehr getragen hatte. „Kasper ist nicht nur dein bester Freund, du bist auch seine beste Freundin. Er liebt dich und wüsste es sicher nicht zu schätzen, dass du gerade bereust, ihm jemals begegnet zu sein.“ Sein Hand wanderte an meine Wange und blieb dort liegen. „Und Ferox liebt dich auch. Du hast ihm ein Rudel gegeben, eine Familie und damit seiner Einsamkeit ein Ende gemacht.“
Ja, das stimmte alles und ich wusste, dass es sinnlos war, sich deswegen Vorwürfe zu machen, schließlich konnte ich mein Leben nicht allein in einem Wald fristen. Aber ich fühlte mich trotzdem schuldig. „Was soll ich denn jetzt machen?“
„Wir“, korrigierte es mich. „Du bist nicht allein, vergiss das nicht.“
Wie könnte ich? Das war im Moment schließlich das Problem. Mit einem Schlag waren alle in Gefahr, die mir etwas bedeuteten. Oh Gott.
„Alles wird gut“, versprach er mir, obwohl ich die Sorge in seinen Augen sehen konnte. „Ich bringe dich jetzt nach Haus und danach muss ich sowieso zu Dienst. Ich werde eine Anzeige machen und dann werden sich die Wächter um die Sache kümmern.“
Weil das in der Vergangenheit ja so viel gebracht hatte. Die Wächter suchten bereits seit Monaten nach Iesha und nur weil sich da jetzt zwei neue Taten auf ihre Liste gesellten, würde sie nicht wie von Zauberhand plötzlich in einer Zelle sitzen, wo sie für niemanden mehr eine Gefahr wäre.
„Hast du gehört was ich gesagt …“
Die Tür zu dem Raum mit den Zwingern ging auf und die brünette Tierarzthelferin Cecile trat in den großen Raum, blieb aber sofort wieder stehen, als sie die offene Zwingertür sah.
Ferox versuchte sich sofort aufzurichten und knurrte leise, doch ich legte ihm einfach eine Hand auf die Schulter und sagte streng: „Nein.“
Seine Antwort bestand in einem grummeln.
„Nein, Ferox.“
Zwei Sekunden lang lieferte er sich mit mir ein Blickduell, wandte dann aber den Kopf ab und starrte beleidigt auf den Boden.
Cecile zögerte, bevor sie einen Schritt in den Raum machte und die Tür wieder hinter sich schloss. „Sie müssen jetzt gehen und für die Zukunft: Der Zwinger darf nicht offen sein.“
Da ich im Moment größere Probleme hatte, als mit ihr über die Sinnlosigkeit dieser Regel zu diskutieren, während Ferox halb tot war und ich direkt neben ihm saß, beachtete ich sie einfach nicht. Das wir allerdings gehen mussten, konnte ich leider nicht ignorieren. Es dauerte trotzdem seine Zeit, bis ich mich dazu überwinden konnte, Ferox allein zurückzulassen. Als er beim gehen dann auch noch damit begann verzweifelt nach mir zu jaulen, brauch mir fast das Herz.
Meine Eltern waren noch immer im Wartebereich und waren absolut nicht begeistert, als sie erfuhren, was uns eben klar geworden war. Papa wollte mich sofort mit zu sich nach Hause nehmen, damit ich nicht allein war. Cio überlegte kurz, ob er seine Schicht nicht ausfallen lassen sollte. Ich erklärte ihnen, dass ich erwachsen war und keinen Babysitter brauchte. Ich würde nach Hause gehen und Cio zur Arbeit. Außerdem wohnte Tayfun ja noch immer bei uns – nicht das dieser Gedanke Cio sehr beruhigte.
Trotzdem setzte er sich in unseren Wagen und fuhr zur Arbeit, um vor seiner Schicht noch die Anzeige zu machen, während ich mich von meinen Eltern nach Hause kutschieren ließ.
Die ganze Fahr über drehten sich meine Gedanken um das was Ferox mir gezeigt hatte und um das was mit Kasper passiert war. Ich fürchtete, dass das noch nicht alles war, was Iesha sich für mich ausgedacht hatte. Als Amor-Killer hatte sie monatelang gewütet, bevor sie zum Ende gekommen war und hatte Angst, dass sie dieses Mal etwas ähnliches geplant hatte, nur dass die Opfer dieses Mal Leute waren, die mir am Herzen lagen.
Das konnte ich nicht erlauben, das würde ich nicht verkraften. Noch so eine Tortur und ich wäre am Ende meiner Kräfte. Die letzten Monate hatte ich mich verkrochen, aber so durfte es nicht weiter gehen, ich musste etwas tun. Jetzt. Ich musste sie aufhalten, bevor noch etwas schlimmeres passierte und auf die Wächter konnte ich mich nicht verlassen.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich das machen sollte, doch als ich mich von meinen Eltern verabschiedet hatte und das Schloss zu meiner Wohnung aufschloss, wusste ich, dass es so nicht weitergehen durfte. Wenn ich weiter den Kopf in den Sand steckte, würde früher oder später jemand sterben, der mir wichtig war und das konnte ich nicht erlauben.
Zwar wusste ich noch nicht wie genau ich es anstellen sollte, aber ich würde damit beginnen, aktiv nach Iesha zu suchen. Am Besten begann ich erstmal mit einer grundlegenden Recherche und versuchte Informationen zusammenzutragen.
„Alles klar?“, fragte Tayfun von der Couch und erschreckte mich damit halb zu Tode.
Ich war gerade dabei gewesen, die drei Schlösser von innen an der Tür zu verschießen und hatte gar nicht gemerkt, dass er ausgestreckt auf der Couch lag. Sehr zum Leidwesen meines Herzens. „Gott hast du mich erschreckt.“
„Tut mir leid.“ Er grinste ein wenig schief und richtete sich auf. Der Anblick seines abgebrochenen Zahns wurde langsam vertraut. „Ich dachte du hast mich gesehen.“
„Ich war in Gedanken“, sagte ich und trat mir die Schuhe von den Füßen.
„Hab ich gemerkt.“ Er legte das Buch in seiner Hand auf den Tisch und wandte sich zu mir um. „Aber keine Sorge, morgen seid ihr mich wieder los, dann kann das nicht mehr passieren.“
Verwirrt schaute ich auf. „Morgen?“
„Klar. Dank deiner guten Pflege, fühle ich mich wieder wie neu. Es besteht also kein Grund mehr hier zu bleiben. Außer natürlich, ihr beide besteht darauf.“ Ich zwinkerte mir verspielt zu.
Als er mich an seine Verletzungen erinnerte, kam mir ein schier unglaublicher Gedanke und einen Moment konnte ich ihn nur anstarren. „Cupido“, flüsterte ich.
Er runzelte die Stirn. „Was?“
„Du hast gesagt, deine Angreifer hätten dich Cupido genannt.“
„Ja.“
„Oh mein Gott.“ Was wenn das gar keine Anrede war, sondern ein Hinweis. „Cupido ist Amor.“ Auch Tayfun war ein Freund von mir. Plötzlich stand es mir glasklar vor den Augen und ich hätte mir am liebsten selber in den Hintern getreten, weil ich nicht früher darauf gekommen war.
Auf ihrem Rachefeldzug hatte Iesha nicht nur zwei, sondern bereits drei Leute verletzt, die mir wichtig waren. Erst Tayfun, dann Kasper und nun auch noch mein verschmustes Anhängsel.
Als meine Beine drohten unter mir nachzugeben, setzte ich mich eilig in den Sessel.
„Alles okay?“ Tayfun beugte sich ein wenig vor. „Du bist auf einmal so blass geworden. Soll ich dir ein Wasser holen?“
„Es war Iesha“, sagte ich leise, ohne auf seine Frage einzugehen. „Iesha steckt hinter dem Angriff auf dich.“
Er spannte sich wein wenig an. „Wie kommst du darauf?“
„Weil du mein Freund bist.“ Und deswegen musste ich jetzt auch etwas unternehmen. Ich durfte nicht erlauben, dass sie noch mehr Leute verletzte. Einer war schon zu viel, aber mit dreien hatte sie maßlos übertrieben. Bis hierhin und nicht weiter, jetzt war Schluss.
°°°
„Ja, ich verstehe“, sagte Cio, wechselte die Richtung und lief mit dem Handy am Ohr direkt auf die Wohnungstür zu. „Ja, natürlich, dass ist mir schon klar, aber dann müssen wir die alten Sachen eben noch einmal durchgehen.“ Sobald er die Wohnungstür erreicht hatte, machte er wieder kehrt und tigerte zurück zur Küche, nur um mit dem Kreislauf von vorne beginnen zu können. „Wenn es ein muss, dann mache ich es eben selber, aber … ja deswegen sage ich ja aber. Mir ist klar, dass ich involviert bin.“ Die Worte, ich bin ja nicht beschränkt, standen ungesagt in der Luft.
Ich versuchte ihn zu ignorieren und mich auf meinen Bildschirm und den Artikel über kombinierte Persönlichkeitsstörung zu konzentrieren, um mir ein genaueres Bild über die Erkrankung machen zu können. Zu meinem Leidwesen schaffte ich es einfach nicht meine Ohren davon zu überzeugen ihren Dienst wenigstens für ein kleines Weilchen einzustellen.
Seit nun schon zwanzig Minuten telefonierte er mit den Wächtern und lief dabei einen Graben in unseren Teppich. Er war noch nicht lange wach und hatte gerade erst ein verspätetes Frühstück zu sich genommen, als sein Handy geklingelt hatte. Eigentlich war er auf dem Weg ins Badezimmer gewesen, doch scheinbar gab es wegen seiner Anzeige und den Ermittlungen irgendwelche Probleme, die seine Körperpflege erstmal auf die Wartebank schoben. Wenigstens hatte er heute frei.
„Das ist mir eigentlich ziemlich egal und hier geht es auch nicht nur um meine Gefährtin. Jeder in ihrem Umfeld ist in Gefahr. Mittlerweile gab es drei Übergriffe und wir können davon ausgehen das weitere …“ Er verstummte und drückte die Lippen zu einer gereizten Linie zusammen, während er versuchte mit den Augen die Luft in Flammen aufgehen zu lassen. Er war verärgert.
Okay, das hatte keinen Sinn. Bis ich nicht wusste, was genau los war, würde ich mich hier eh nicht konzentrieren können. Also drehte ich mich auf meinem Drehstuhl herum und zeigte ganz offen, dass ich zuhörte, aber leider beschleunigte das die Sache nicht.
Es war gerade mal drei, aber die Sonne stand bereits tief am Himmel. Ich liebte den Winter, ehrlich, doch die kurzen Tage drückten mir doch ein wenig aufs Gemüt. Obwohl meine unruhige Stimmung vermutlich eher mit meiner Situation zusammen hing und dem was ich seit meiner Rückkehr von der Tierklinik machte.
Mit dem Tierarzt Doktor Kniffer hatte ich heute bereits gesprochen. Ferox hatte die Nacht gut überstanden und es ging ihm den Umständen entsprechend gut, aber er fühlte sich dort definitiv nicht wohl und knurrte jeden an, der es wagte den Raum mit den Zwingern zu betreten. Mit den anderen Tieren dort hatte er seltsamerweise keine Probleme. Es waren die Ärzte, Pfleger und Assistenten, die ihn unruhig machten. Ich würde nachher auf jeden Fall noch zu ihm fahren.
Während Cio seinem Gesprächspartner lauschte, wurde der Verdruss in seinem Gesicht immer größer. Nichts war mehr von dem Lächeln übrig, das sein Gesicht hatte erstrahlen lassen, als Tayfun vor ungefähr einer Stunde mit Sack und Pack und einer dankbaren Umarmung unsere Wohnung verlassen hatte. Nicht mal als ich ihm gesagt hatte, er solle sich bei mir melden, wenn er etwas brauchte, hatte das Lächeln auf seinen Lippen kippen lassen. Er war einfach nur froh gewesen den Vampir endlich los zu sein und hatte das ganze Frühstück über mit mir seine Scherze getrieben. Naja, zumindest bis das Handy geklingelt hatte.
„Das verstehe ich ja, aber wir reden hier vom Amor-Killer. Iesha Walker ist gefährlich, die Liste ihrer Vergehen … nein, das sage ich doch gar nicht.“ Er blieb stehen, schloss die Augen und kniff sich einen Moment in den Nasenrücken, während er lauschte. Als er die Augen wieder öffnete und bemerkte, dass ich ihn beobachtete, setzte er ein ziemlich klägliches Lächeln auf. „Seit letzten August, aber wenn sie noch mehr Leute abziehen … das hat damit doch gar nichts zu tun.“
Ich streckte die Hand aus und fuhr sanft mit dem Finger über seinen Bauch. Hatte er abgenommen? Ich war mir nicht sicher, aber der ganze Stress war für ihn sicher auch nicht gut.
„Ja, in Ordnung, ich werde sehen was ich machen kann. Ja, bye.“ Er legte auf, warf sein Handy mit einem schweren Seufzer neben meine ganzen Papiere auf den Schreibtisch und wirkte dabei nicht allzu glücklich.
„Was ist los?“
Der kure Blick in meine Richtung verriet mir, dass er überlegte, die ganze Sache einfach abzutun, aber dann ergriff er meine Hand. „Zu wenig Wächter, zu viel zu tun, keine neuen Hinweise und die Sache liegt nun schon ein halbes Jahr zurück.“
„Was?“
Er zögerte, hockte dich dann vor mich und hauchte mir einen Kuss auf die Hand, als wollte er mich beruhigen. „Sie tun alles was in ihrer Macht steht, aber im Moment kommen sie nicht weiter und deswegen steht der Fall nicht sehr hoch auf der Prioritätenliste.“
„Was?“ Das konnte doch nicht ihr Ernst sein. „Aber … wie kann das sein? Sie hat drei Leute angegriffen.“
„Zwei, Ferox zählt nicht als Person und Tayfun hat keine Anzeige erstattet. Es bleibt also nur der Angriff auf Kasper und der lebt noch.“
Moment, verstand ich das gerade richtig? „Sie wollen nichts machen, weil Kasper nicht tot ist?“ Das war doch wohl ein Scherz. Ein Toter brauchte keine Hilfe mehr, der war schließlich tot und bekam von dem ganzen Scheiß nichts mehr mit. „Ist ihnen nicht klar, dass jeder den ich kenne in Gefahr ist?“
„Doch, aber sie haben keine neuen Anhaltspunkte, an denen sie ansetzen können, also verfahren sie streng nach Protokoll und hoffen …“
„Was? Das ein Wunder geschieht?“ Ich machte mich von ihm los und sprang auf die Beine. „Das können sie doch nicht machen! Verdammt, Iesha ist der Amor-Killer! Sie hat wie viele Leute getötet? Zwanzig? Und da zähle ich nicht mal die Mistos mit, die bei ihrer kranken Jagd gestorben sind! Sie können doch nicht einfach so tun, als …“
„Schäfchen.“ Cio kam aus der Hocke und wollte wieder nach meiner Hand greifen, doch ich wich vor ihm zurück. Ich sah dass ihn das verletzte, aber ich konnte mich jetzt nicht von ihm anfassen lassen, sonst würde ich einfach zusammenbrechen und durchdrehen.
Sie hatte Tayfun angegriffen, auf Kasper geschossen und Ferox vergiftet. Sahen diese Idioten denn nicht, dass sie unbedingt aufgehalten werden musste, bevor sie noch jemanden umbrachte? „Sie können sie doch nicht einfach so weitermachen lassen.“
„Niemand lässt sie einfach weiter machen. Ich habe ja auch nicht gesagt, dass sie aufhören nach ihr zu suchen, nur dass …“
„Nur dass sie es nicht als allzu wichtig einstufen, weil ja seit Monaten keiner mehr ernstlich zu Schaden gekommen ist.“
Cio machte den Mund auf, wusste aber scheinbar nicht was er noch dazu sagen sollte. Er verstand mich, er wollte genauso wie ich, dass das alles endlich ein Ende fand, aber genau wie ich war er im Moment hilflos, denn genau wie die Wächter wussten wir nicht, wo wir ansetzen sollten.
„Geh duschen“, sagte ich schwach und setzte mich zurück auf meinen Stuhl. Dabei achtete ich sehr sorgfältig darauf, ihm nicht zu nahe zu kommen.
Er ging nicht.
„Du musst dir keine Sorgen machen, mir geht es gut.“
„Nein“, sagte er so leise, dass ich es kaum verstand. „Das tut es nicht.“
Ich presste die Lippen aufeinander. Das Offensichtliche zu bestreiten wäre vergebene Mühe.
Er wollte noch etwas sagen, wollte mit mir reden, oder besser gesagt, dass ich mit ihm redete, aber stattdessen zog ich das Dossier heran, dass ich über Iesha angelegt hatte und lauschte auf seine stillen Atemzüge, bis er sich abwandte und im Badezimmer verschwand. Die Tür ließ er offen, sodass ich kurz darauf das Rauschen des Wasserstrahls hörte.
Obwohl es genau das gewesen war, was ich verlangt hatte, fühlte ich mich mit einem Mal vollkommen allein. Nicht nur weil er den Raum verlassen hatte, es war einfach diese Machtlosigkeit, die uns beide niederdrückte. Bei uns gab es schon ohne Iehsa genug Probleme, die alle ich zu verschulden hatte.
Das musste aufhören, aber ich wusste nicht, wie ich das beenden konnte, weswegen ich die gleiche Taktik anwandte, die ich in den letzten Monaten so oft genutzt hatte: Verdrängung. Ich verdrängte diese ganzen Gefühle, die mir die Luft zum atmen nahmen. Die Angst und Unsicherheit, den ganzen Kummer, der eine unüberwindliche Mauer geworden war und auch die Sorge um das, was die Zukunft für uns bereit hielt. Ich verdrängte das was Cio gesagt hatte und auch das, was mich so belastete und konzentrierte mich auf die Aufgabe, die ich mir selber gestellt hatte: Iesha finden. Dazu schlug ich das Dossier auf und ging noch mal die ganzen Notizen durch, die ich mir seit gestern Abend gemacht hatte.
Die erste Seite war ein grober Lebenslauf, wegen dem ich heute sogar schon mit Cayenne und Aric telefoniert hatte. Selbst Cio hatte mir dafür heute schon Rede und Antwort stehen müssen, worüber er nicht allzu glücklich gewesen war.
Iesha war im Sommer vor zweiundzwanzig Jahren hier in Silenda geboren worden, musste aber durch einen Kaiserschnitt auf die Welt geholt werden, weil die Geburt zu lange angedauert hatte und es zu einer fetale Azidose gekommen war. Das war eine Sauerstoffunterversorgung des Kindes. Aus diesem Grund hatte sie auch ein paar Tage länger im Krankenhaus bleiben müssen.
Danach hatte sie eine mehr oder weniger normale Kindheit gehabt.
Da ihre Eltern niemals Gefährten gewesen waren und sie das Ergebnis einer einzigen zusammen verbrachten Nacht gewesen war, hatte Iesha immer im Wechsel bei ihnen gelebt. Zwei Wochen bei ihrer Mutter Victoria, dann wieder zwei bei ihrem Vater Hardy. Allerdings war sie bereits in ihrer Jugend oft durch erhöhte Aggressivität und nicht zu kontrollierendes Verhalten durch dominantere Lykaner aufgefallen. Wenn ihre Erzieher ihr im Kindergarten etwas gesagt hatten, hatte sie die Anweisung in zwei von drei Fällen ignoriert und wenn ihr in der Schule ein Lehrer eine Aufgabe gab die sie nicht machen wollte, hatte sie die Zähne gefletscht.
Eine Zeitlang hatte man angenommen, sie sei ein aggressiver Abstare, ein Lykaner außerhalb der Rangordnung. Abstare waren Einzelgänger, die weder die Gesellschaft von anderen Lykanern brauchten, noch ihren Instinkten unterlagen, die sie zwangen einem Alpha zu folgen. Sie reagierten auch nicht auf Odeur. Zwar konnten sie ihn wahrnehmen, aber er hatte keinen Einfluss auf sie. Das war kein Problem, da sie nur selten provokativ waren und sich trotzdem mit Leichtigkeit in das Rudel einfügen konnten, wenn es ihr Wunsch war.
Diese Überlegung konnte doch durch einen kleinen, harmlosen Test, den Cayenne auf Victorias Bitte hin mit Iesha durchgeführt hatte, als Unsinn abgetan werden. Leider bedeutete das für Iesha zwei Verhaltenstherapien und auch mehrere Ferienaufenthalte in diversen Einrichtungen, die ihr dabei helfen sollten, ihr Aggressionsproblem in den Griff zu bekommen.
Die Bemühungen zeigten nur wenig Erfolg. Zwar wurde Iesha ruhiger, aber das hatte weniger damit zu tun, dass die Bemühungen sich auszahlten, als viel mehr mit ihrem schauspielerischen Talent. Sie tat einfach so, als würde es ihr besser gehen. Leider kam es trotzdem immer mal wieder zu Situationen, in denen ihr Temperament ausbrach.
Noch dazu kam ihr doch eher isoliertes Leben. Wegen ihres Verhaltens, behielten ihre Eltern sie meist im Auge, was zur Folge hatte, dass sie sich nur selten außerhalb des Hofes bewegte. Victoria und Hardy befürchteten einfach, dass es zu irgendwelchen Vorfällen kommen könnte, wenn sie nicht in der Nähe waren und ein Auge auf sie hatten.
Kurz nachdem sie fünfzehn wurde, geriet Iesha auf der monatlichen Vollmondjagd mit einem weitaus älteren Jungen derart in Streit, dass sogar Blut geflossen war und Cayenne hatte eingreifen müssen, um zu verhindern, dass der Junge ins Krankenhaus musste.
Nach diesem Vorfall hatte Aric sich dazu entschlossen, Iesha unter seine Fittiche zu nehmen. Er war damals gerade achtzehn gewesen und war der Meinung, dass es ihr helfen könnte, wenn ein Alpha sie im Auge behielt. Er war mehr oder weniger mit ihr aufgewachsen und fühlte sich gewissermaßen für sie verantwortlich.
Es klappte, wenn auch nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte.
Aric hatte sie ab diesen Tag überall mit hingenommen. Zur Arbeit, zu seinen Freizeitbeschäftigungen, zum Training. Damals hatte sie das Bogenschießen gelernt, aber was sie vor allem gelernt hatte, war, wie es sein konnte, geliebt zu werden.
Dadurch das sie praktisch zu Arics Schatten wurde, verbrachte sie natürlich auch viel Zeit mit dem damals sechzehnjährigen Cio, der als Arics bester Freund natürlich ständig mit ihm zusammen gewesen war.
Cio hatte vorher nicht viel mit ihr zu tun gehabt und ihr nie wirklich Aufmerksamkeit geschenkt. Sie war einfach ein Mädchen, das wie er am Hof lebte und mit dem man hin und wieder etwas zu tun hatte.
Damals befand Cio sich auch noch in seiner ersten richtigen Beziehung, aber die war kurz darauf in die Brüche gegangen und weil die beiden durch Aric ständig aufeinander gehangen hatten, lernten sie einander besser kennen und verliebten sich.
Sobald Iesha mit Cio zusammen gewesen war, veränderte sich ihr Verhalten schlagartig von grundauf. Vielleicht war sie einfach nur ein unglaubliche Schauspielerin, die die Beziehung zu Cio auf keinen Fall riskieren wollte, aber mir einem Mal schienen alle ihre Probleme und Aggressionen sich in Luft aufzulösen, als wären sie niemals vorhanden gewesen und sie wurde … anständig und begann sich einzufügen.
Anfangs hatte man sie natürlich noch genau im Auge behalten, aber mit der Zeit verschwand das Misstrauen und alle Welt glaubte, dass es ihr wirklich besser ginge. Daher gab es auch keine Probleme, als sie mit sechzehn ihren Eltern nacheifern wollte und eine Ausbildung zur Wächterin der Königsgarde begann. Hardy und Victoria sollen geradezu begeistert gewesen sein.
Das Ganze hielt eine ganze Weile an, doch kurz bevor Cio achtzehn wurde, begann für ihn eine Menge Prüfungsstress, wegen seiner eigenen Ausbildung zum Umbra. Die Aufgaben die ihm gestellt wurden, waren wichtig für seine Zukunft, denn sie entschieden darüber, ob er in den aktiven Dienst gehen konnte, um seinen Platz als Lehrling der Umbras an Arics Seite einzunehmen.
Wochenlang hatte er nichts anderes getan als zu lernen, zu trainieren und sich auf den nächsten Schritt vorzubereiten. Dadurch hatte er natürlich viel weniger Zeit für Iesha und das führte zu Problemen.
Nein, sie wurde nicht wieder aggressiv, aber sie machte Cio das Leben ein wenig schwerer, indem sie ihn mit Vorwürfen überhäufte und zum Schluss bei Aric im Bett landete.
Cio hatte mir nicht sagen können, ob sie das aus Rache getan hatte, oder weil sie sich wirklich so vernachlässigt gefühlt hatte, aber als er den einen Morgen im Herbst in Arics Zimmer kam, weil die beiden für einen Lauf im Wald verabredet waren, fand er die beiden nackt im Bett meines Bruders.
Aric war völlig besoffen gewesen und hatte überhaupt nicht kapiert was los war, als Cio sich wutschnaubend auf ihn stürzte, um ihn in der Luft zu zerreißen. Als Umbra wäre es Cio möglich gewesen, den Prinz des Rudels ernstlich wehzutun und Arics Rettung hatte einzig in seinem Odeur bestanden, mit dem er Cio aus seinem Zimmer gejagt hatte.
Danach war alles ein wenig komisch geworden. Cio hatte die Beziehung beendet und kurzzeitig sogar überlegt die Ausbildung hinzuschmeißen. Aric war wochenlang ganz untypisch für einen Alpha reuevoll zu Kreuze gekrochen und Iesha war ein einziges Wrack geworden. Aber trotz dieses Ausrutschers hatte sie Cio noch immer geliebt. Und er sie. Das war der Grund, warum er der Beziehung noch eine Chance gegeben hatte. Sie war ihm trotz alles noch wichtig gewesen und er hatte nicht mitansehen können, wie sehr sie litt.
Nach diesem Vorfall hatte Iesha eine weitere Wandlung durchgemacht. Sie war anhänglich geworden und hatte Cio kaum noch aus den Augen gelassen. Plötzlich hatte sie in jeder anderen Frau eine ernstzunehmende Konkurrentin gesehen war allem gegenüber was Brüste hatte, krankhaft eifersüchtig geworden. Sie war nicht wieder in alte Verhaltensmuster zurückgefallen, aber viel gefehlt hatte auch nicht.
So war es ungefähr ein Jahr gelaufen und dann … naja, dann erschien ich auf der Bildfläche. Ich verliebte mich in diesen unglaublichen Mann und er sich in mich. „Und für Iesha war kein Platz mehr“, murmelte ich und legte das handgeschriebene Blatt zur Seite, um mich den anderen Recherchen und Notizen zu widmen, die ich gemacht hatte.
Nachdem Cio sich von ihr getrennt hatte, war Iesha von ihren Eltern entmündigt worden und für drei Jahre in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie eingewiesen worden. Nicht weil Cio sie verlassen hatte, sondern weil sie damals beim Sturz von Cayenne auf einmal eine grausame und blutrünstige Seite gezeigt hatte, die sie auch mit Freuden ausleben wollte.
Sie hatte meinen Vater verletzt und es genossen, sie hatte versucht mich zu töten und sie hatte von diesem Pfad nicht mehr zurück gekonnt. Ihre Eltern hatten es damals als ihre einzige Möglichkeit gesehen, ihr zu helfen.
Ich wusste nicht genau woran Iesha litt, mir war nur bekannt, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes geisteskrank war. Ich hatte die halbe Nacht mit Tayfun vor dem Computer verbracht und war zu dem Schluss gekommen, dass sie an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung litt. Nur so ließen sich all ihre Symptome erklären. Natürlich konnte ich auch falsch liegen, aber das erschien mir am wahrscheinlichsten.
Um Genaueres zu erfahren, müsste ich auf die Patientenakten von Iesha zugreifen, aber das war gar nicht so einfach.
Ich hatte überlegt, mich in die Datenbank der Psychiatrie einzuhacken. Herauszufinden, wo sie untergebracht gewesen war, war gar nicht so schwer gewesen, aber das war nicht ungefährlich und obendrein auch noch strafbar. Nein, erstmal wollte ich es so versuchen.
Nach ihrer Entlassung vor knapp einem halben Jahr war Iesha aus dem Rudel der Könige ausgestoßen worden und damit hatte das Grauen begonnen. Sie war untergetaucht und hatte Gefolgsleute, unter dem Deckmantel der Plage durch die Mistos ein Ende zu setzten, um sich gesammelt. Viele von ihnen waren heute selber Ausgestoßene und Abtrünnige, aber ich war mir sicher, dass man nicht alle hatte auswendig machen können. Ihr waren bestimmt noch ein paar erhalten geblieben, die sie noch immer unterstützten. Leider war es nicht so einfach herauszufinden, wer dazu gehörte.
Sie hatte einfache Leute um sich geschart, Wächter, Umbras, ja sogar ein paar Betas hatte man unter ihren Anhängern entdeckt. Jeder könnte zu ihr gehören und von ihr beeinflusst werden. Das war es auch, warum ich solche Angst hatte hinaus auf die Straße zu gehen und mit Leuten zusammenzukommen, die ich nicht kannte und denen ich nicht vertraute. Ohne Cio würde ich mich vermutlich nicht mal mehr trauen die Wohnung zu verlassen.
Denk jetzt nicht dran.
Genau, ich hatte gerade wichtigeres zu tun. Also, weiter im Text. Es stellte sich nämlich nicht nur die Frage, wer zu ihr gehörte, sondern auch wie viele es waren und ob es vielleicht jemanden gab, der sie beeinflusste. Wurde sie nur von ihrem Wunsch Cio zurückzubekommen angetrieben, oder war da vielleicht noch mehr?
Natürlich, sie wollte mich aus dem Weg haben und so wie es im Moment aussah, wollte sich mich bis zu meinem Ende noch ordentlich leiden lassen.
Ich wollte mir gar nicht vorstellen, zu was sie sonst noch alles fähig war. Was wenn sie in ihrem Wahn wirklich noch jemanden aus meiner Familie verletzte, oder – oh Gott – sogar tötete?
Plötzlich spuckte mein Hirn völlig ungebeten alptraumhafte Phantasien aus. Meine Mutter mit einem Pfeil in der Brust, die Augen leblos zum Himmel gerichtet. Mein Vater mit geschlossenen Augen und Schaum vor dem Mund, in seiner Hand noch immer die vergifteten Kekse, die sie ihm untergejubelt hatte. Aric, dem sie die Kehle durchschnitt und Kiara, die von ihr in einen tiefen Brunnen gestoßen wurde. Ich sah die Beerdigung von Cayenne und die vielen offenen Särge. Tayfun und Ferox lagen darin, Kasper hatte ein blutendes Loch in der Brust und Alina, lag kalt und leblos da. Selbst ihr buntes Haar wirkte nicht mehr fröhlich. Cios Eltern, Genevièv und Diego. Meine Oma, Tante Lucy und Onkel Tristan. Opa und Anouk und Tante Amber und Tante Vivien und Onkel Roger und auch Sydney.
Oh Gott, es waren so viele.
Als meine Hände zu zittern begannen, schloss ich sie zu einer Faust. Ich durfte nicht in Panik verfallen, ich durfte mich von diesen Bildern nicht ängstigen lassen. Deswegen saß ich doch schließlich hier und vertiefte mich in Ieshas Leben und ihrer Psyche. Ich versuchte sie zu verstehen und aufzuhalten, damit diese Bilder niemals zur Realität werden konnten.
„Ich werde sie aufhalten“, sagte ich zu mir selber und versuchte mir damit Mut zu machen. „Ich darf nicht zulassen, dass sie noch jemanden verletzt.“ Und das würde ich auch nicht. Ich würde sie finden, ich musste mich halt nur ein wenig anstrengen.
In der Dusche wurde das Wasser abgestellt und machte mich damit auf einen weiteren Namen aufmerksam, den ich meiner Liste hinzufügen konnte: Cio.
Natürlich würde sie ihn nicht verletzten, nicht so wie die anderen, einfach weil sie ihn für sich haben wollte, aber der seelische Schmerz den sie ihn zufügte, war nicht weniger real. Ich wusste das er mich brauchte und mich zu verlieren konnte ihn genauso vernichten, wie es mich vernichten würde, ihn zu verlieren, aber das sah sie nicht. In ihrer Vorstellung liebte er sie und nur sie. Sie verstand gar nicht, was sie ihm mit ihren Taten alles antat. Sie merkte nicht, dass sie ihn verletzte und das er nichts von dem wollte, was sie sich wünschte. Wenn sie doch nur ein bisschen …
Als plötzlich neben mir ein Hand piepte, war ich von meinen eigenen Gedanken so angespannt, dass ich vor Schreck zusammen zuckte und mit dem Knie gegen den Schreibtisch stieß.
Mit einem Fluch auf den Lippen suchte ich zwischen den ganzen Papieren nach dem Übeltäter und stellte fest, dass es nicht mein Handy war, dass da eine Nachricht empfangen hatte, sondern dass von Cio. Na wenigstens hatte der kleine Schock mich aus meinen Gedanken gerissen.
Ich wollte das Handy schon wieder weglegen, als ich die Nummer auf dem Display bemerkte, bevor er wieder erlosch. Stirnrunzelnd holte ich das kleine Gerät wieder aus dem Stand-by-Modus, um mir die Sache noch mal genauer anzuschauen.
Die Nummer war nicht unter den Kontakten abgespeichert. Einsen und Achten. Das war doch die gleiche Nummer, die auch mich schon zwei Mal angerufen hatte, oder täuschte ich mich da? Beim zweiten Mal hatte der Anrufer mir gesagt, dass er falsch verbunden war.
Als Cio in dem Moment mit nichts als einem Handtuch um die Hüften aus dem Bad kam und mir ein kleines Lächeln schenkte, als ich mich zu ihm umdrehte, hielt ich das Handy hoch. „Wer ist das?“, fragte ich.
Er warf nur einen mäßig interessierten Blick auf das mobile Telefon, zumindest bist ihm klar wurde, dass es nicht mein Handy war, dass ich da in der Hand hielt. „Nein!“, sagte er und stürzte mit einem plötzlich panischen Blick in meine Richtung.
Einen Moment war ich verwirrt, doch als mir klar wurde, dass er es mir wegnehmen wollte, riss ich es blitzschnell zurück und versteckte es hinter meinem Rücken, sodass seine Hand ins leere. Ich wusste nicht mal warum ich das tat, wahrscheinlich einfach nur weil seine Reaktion mich erschreckte, aber als er nun vor mir stand und mir mit angespannter Miene die Hand entgegen streckte, runzelte ich verständnislos die Stirn.
„Gib mir bitte mein Handy.“
„Warum?“ Es war doch noch nie ein Problem gewesen, wenn ich ein Blick in sein Handy warf. Nicht dass mir bisher jemals danach der Sinn gestanden hätte, aber wenn ich wollte, hätte ich es mit seinem Einverständnis genaustens unter die Lupe nehmen dürfen. Das durfte er auch bei mir.
„Bitte“, wiederholte er angespannt, anstatt mir eine Antwort zu geben.
Plötzlich wurde ich misstrauisch. Ich erinnerte mich an die vielen Textnachrichten, die er in den letzten Wochen bekommen hatte und auch, dass er so gut wie nie darauf reagiert hatte. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie seltsam das war. Und dann war da noch der Besuch bei Kasper im Krankenhaus, bei dem er fast panisch geworden war, als ihm klar wurde, dass Sein Handy in meiner Jackentasche gesteckt hatte.
Sehr langsam und ohne ihn aus den Augen zu lassen, holte ich das Handy wieder hervor und entsicherte die Tastensperre.
„Tu das nicht“, sagte Cio mit einem flehentlichen Blick, als mein Finger über dem Button schwebte, mit dem ich die eingegangene Nachricht öffnen könnte.
Ich zögerte. Es wäre ihm ein Leichtes mir das Handy aus der Hand zu reißen und die Nachricht hastig zu löschen, bevor ich sie sehen könnte, aber er tat es nicht. Er stand einfach nur da und bat mich ihm das Handy zu geben. „Was steht in dieser Nachricht?“, fragte ich leise. Was soll ich nicht lesen?
„Das willst du nicht wissen. Bitte Schäfchen, vertrau mir.“
Einen angespannten Moment geschah gar nichts, doch dann sank das Handy langsam in meinen Schoß. Ich vertraute ihm. Er war wohl der einige auf diesem Planeten, dem ich bedingungslos vertraute, aber … „Wem gehört die Nummer?“
Er sagte nichts.
„Ich wurde von dieser Nummer angerufen.“
Der Ausdruck in seinem Gesicht wurde noch angespannter. „Du wurdest angerufen?“
Ich nickte. „Zwei Mal.“
Langsam sank sein Arm zurück an seine Seite. Seine Lippen waren nur noch ein dünner Strich und er war nervös.
„Wem gehört diese Nummer?“, fragte ich ein weiteres Mal, während sich in mir eine seltsame Unruhe ausbreitete.
Als er meinen Blick nur stumm erwiderte, hob ich das Handy wieder an. Nicht weil ich ihm nicht vertraute, sondern weil da etwas in seinem Blick lag, das ich nicht benennen konnte. Panik? Furcht? Kummer?
Ich zögerte noch einen Moment, aber ich wusste genau, dass diese Sache mich nun nicht mehr in Ruhe lassen würde und auch dass Cio mir nicht sagen wollte, was es damit auf sich hatte. Also senkte ich meinen Daumen und öffnete die Nachricht, doch das was mich erwartete, hätte mich kaum unvorbereiteter treffen können.
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Es war ein Foto von einer jungen, hübschen und äußerst nackten Frau in einer eindeutigen Position – da blieb wirklich gar nichts verborgen. Sie lag auf dem Rücken, räkelte sich wie eine Katze auf weichen Laken und blickte mir verspielt und lüstern entgegen. Aber was mich an daran wirklich entsetzte, war nicht die fehlende Kleidung, oder die eindeutige Aufforderung in ihrem Blick, sondern die Frau selber. Es war nicht irgendwer, es war Iesha und wenn ich nach der Länge ihrer Haare ging, dann konnte diese Fotografie nicht älter als ein paar Wochen sein. Es hätte mich nicht mal gewundert, wenn sie erst vor zehn Minuten gemacht worden wäre.
Zu dem Bild gab es auch eine Nachricht, die mir noch zusätzlich Galle in die Kehle trieb und in mir den Wunsch weckte, das Handy mit einem Flammenwerfer zu Asche zu verbrennen.
Erst wenn du wieder bei mir bist, bist du dort, wo du hingehörst.
Sehr langsam hob ich meinen Blick von dem Display und schaute zu Cio, der äußerst angespannt vor mir stand. Er schien weder zu wissen, welche Reaktion er von mir zu erwarten hatte, noch was er jetzt tun sollte, aber er wusste mit Sicherheit über den Inhalt dieser Nachricht Bescheid. Natürlich wusste er es, sonst hätte er ja nicht versucht mich daran zu hindern, sie zu öffnen.
Wenn ich ehrlich war, wusste ich selber nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Ich wusste nicht mal, was ich denken oder fühlen sollte. Iesha hatte ihm ein Nacktbild von sich geschickt und Cio hatte gewusst was es war, ohne es überhaupt sehen zu müssen.
Fast eine Minute taten wir nichts anderes als uns anzustarren und darauf zu warten, was der andere nun tun würde. Dann, als die Stille zu drückend wurde, seufzte er leise und rieb sich resigniert mit einer Hand über den Nacken. „Es ist nicht das wonach es aussieht.“
Es erforderte einiges an Kraft meine Zähne dazu zu bringen, sich zu öffnen. „Es sieht nach einem Nacktbild von Iesha aus.“
„Ja, aber … dass ist nicht das was du denkst.“
Ach nicht? „Iesha schickt dir also keine Liebesbotschaften in Form von sehr aufschlussreichen Aktfotos und Liebesschwüren, die du mir verheimlichst?“ Das war es, was mich daran wohl am meisten verletzte. Nicht dass er diese Bilder bekam, sondern dass er es mir verschwiegen hatte.
Cio leckte sich einmal nervös über die Lippen. Seine linke Hand öffnete und schloss sich mehrmals. „Okay, ja, doch, aber das hat nichts zu bedeuten, das musst du mir glauben.“
Ich hatte auch nicht angenommen, dass er mich wegen ihres Evakostüms demnächst verlassen würde. Wenn es ihm nur ums Aussehen gegangen wäre, hätte er auch gleich bei ihr bleiben können. „Was denkst du denn, was ich glaube?“, fragte ich sehr leise und verstand selber nicht, wie ich es schaffte so ruhig zu bleiben.
Da er darauf wohl keine Antwort wusste, ließ er den Mund verschlossen. Vielleicht fürchtete er sich auber auch einfach davor etwas falsches zu sagen.
Ich senkte den Blick wieder auf das Handy und bewegte meinen Daumen über das Display. Langsam scrollte ich nach unten und bekam so ein weiteres Bild von Iesha zu sehen. Sie saß nackt und breitbeinig auf einem Sessel und warf dem Betrachter mit einem Zwinkern eine Kusshand zu. Auf dem Dritten Bild trug sie sexy Unterwäsche, die gerade genug verbarg, um das Publikum neugierig zu machen. Danach kam noch ein Bild und noch eines und ein weiteres. Es mussten dutzende sein. Iesha war nicht auf allen nackt, aber auf vielen. Alles was sie dazu geschrieben hatte, waren Liebesschwüre, in denen sie ihm versicherte, dass ihr Herz nur für ihn schlug und sie ihm alles verzieh, was in der Vergangenheit zwischen ihnen geschehen war, sobald er wieder bei ihr war.
Tief in meiner Brust krampfte sich etwas schmerzhaft zusammen. „Wie lange geht das schon?“, fragte ich, ohne den Blick von dem Foto zu nehmen, auf dem sie mit dem Rücken an einer beschmierten Holzwand lehnte. Ihre Hand ließ sie dabei sinnlich an ihrem Körper hinab wandern, während sie die Augen genüsslich geschlossen hatte, als würde sie gerade eine Ekstase durchleben.
Er zögerte „Ein paar Wochen.“
Ein paar Wochen. Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte, aber die Worte hallten in meinen Ohren nach. Iesha machte ihm seit mehreren Wochen eindeutige Avancen und er hatte es mit keine Wort erwähnt.
Ohne ihn anzusehen, legte ich das Handy wieder auf den Schreibtisch. Das machte ich so vorsichtig, las wäre es aus Glas und würde bei zu grober Behandlung in seine Einzelteile zerfallen. Vielleicht war aber auch ich es, die bei der kleinsten Erschütterung einfach wie Glas zerspringen würde. „Sie schickt dir seit ein paar Wochen Nacktbilder und dir fällt nichts besseres ein, als das vor mir zu verbergen?“
Der Zug um seinen Mund wurde noch ein kleinen wenig angespannter. „Ich hielt es für das Beste, wenn du vorläufig nichts davon erfährst.“
Wie bitte? „Du hast es für eine gute Idee gehalten, das vor mir zu verheimlichen?“
Sein Kiefer mahlte angestrengt. „Hör zu Schäfchen, du hast es im Moment schon schwer genug und ich wollte dich damit einfach nicht unnötig belasten.“
„Du wolltest mich nicht belasten?“, fragte ich ungläubig und plötzlich kochte Ärger in mir hoch. Ich wusste nicht einmal warum, aber meine Finger begannen vor Wut zu zittern. „Dann bin ich also auch noch selber schuld, dass du mir nichts davon gesagt hast?“
Seine Augen behielten mich wachsam im Blick. „So habe ich das nicht gemeint.“
„Wie hast du es dann gemeint?
Er drücke die Lippen angespannt aufeinander.
Ich wusste nicht warum, aber sein Schweigen verletzte mich fast noch mehr, als die Bilder, die er vor mir verborgen hatte. „Die ganze Zeit“, sagte ich leise. „Die ganzen letzten Wochen hast du mit Iesha in Kontakt gestanden.“ Während ich mich hier versteckt hatte, weil ich nicht wusste, wo sie war, oder was sie plante. Er hatte es die ganze Zeit gewusst.
„Sie schickt mir die Bilder, ich habe nie darauf reagiert und ich weiß auch nicht, woher sie meine Nummer hat. Schon bei der ersten Nachricht, habe ich es bei den Wächtern zur Anzeige gebracht und …“
Ich schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch und ließ ihn damit augenblicklich verstummen. „Es ist mir egal was sie sie tut, aber es ist mir nicht egal, was du tust. Du hättest es mir sagen müssen.“
Er biss sich einmal auf die Unterlippe, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sie gleich darauf wieder sinken. „Ich habe das zu deinem Besten gemacht. In deinem jetzigen Zustand …“
„In meinem jetzigen Zustand?“, unterbrach ich ihn. „Du weißt von meinem jetzigen Zustand erst seit drei Tagen! Vorher hast du nicht mal gemerkt, dass wir ein Baby erwarten! Du hast nicht …“
„Wie hätte ich es denn merken sollen?“, fuhr er mir dazwischen. „Seit deiner Entführung weiß ich nicht mehr woran ich bei dir bin. Du hast dich nicht nur verändert, sondern auch vor mir verschlossen und wenn ich nur überlege dir nahe zu kommen, schaust du mich schon wie ein Reh im Scheinwerferlicht an. Früher hätte ich keinen Moment gezögert dir davon zu erzählen, aber jetzt bist du eine Fremde und ich weiß nicht mehr was ich machen soll, weil ich keine Ahnung habe wie du reagierst und … scheiße!“ Er drehte sich für eine Sekunde von mir weg, bevor er sich vor mich hockte und nach meinen Händen greifen wollte. „Schäfchen, das hab ich nicht so …“
Bevor er mich berühren konnte, sprang ich von meinem Stuhl auf und wich vor ihm zurück. Plötzlich wurde mir das alles zu viel. Ich wollte nichts mehr davon wissen und ich wollte ihn auch nicht sehen. Ja, ich wusste das alles, ich war schließlich nicht blöd, aber das so vor den Latz geknallt zu bekomme, das war wie ein Schlag ins Gesicht.
„Zaira“, sagte er sofort bedauernd und kam sofort wieder aus der Hocke, doch als er die Hand nach mir ausstrecke, wich ich ihm nicht nur aus, ich machte auch einen großen Bogen um ihn und ging zur Haustür, wo ich mir eilig meine Schuhe anzog. „Wo willst du hin?“
„Zu Ferox.“ Ich griff nach meinem Mantel.
„Allein?“
Darauf musste ich nicht antworten, das war offensichtlich.
Als ich mir die Schlüssel nahm und begann die Schlösser an der Tür zu öffnen, schaffte Cio es nicht mehr mir tatenlos zuzuschauen. Er durchquerte eilig den Raum und bevor ich die Tür aufziehen konnte, drückte er sie fest in den Rahmen.
„Lass mich raus.“
„Nein.“ Er beugte sich mir ein wenig zu. „Du kannst da nicht allein rausgehen. Was ist, wenn du wieder einen Aussetzer hast?“
Aussetzer? Aussetzer?! „Dann werde ich es für mich behalten.“ Ich funkelte ihn an. „Ich will dich ja nicht unnötig belasten.“
Der Seitenhieb ließ ihn mit den Zähnen mahlen. „Ich habe das gemacht, um dich zu beschützen.“
„Ich bin erwachsen.“
„Ja, aber du bist nicht mehr du selber“, hielt er sofort dagegen. „Ich will nicht, dass du allein hinaus gehst.“
„Warum? Hast du Angst, dass ich noch mal entführt werde? Das müsste dich doch freuen, dann wärst du die Fremde endlich los. Oder hast du Angst davor, dass ich nach einer weiteren Entführung zurück komme und noch seltsamer werde und du …“
„Hör auf damit!“, fauchte er mich an. In seinen Augen wetteiferten Kummer mit Wut miteinander. „Ich habe nicht versucht dich zu bevormunden, ich versuche dir zu helfen und wenn du endlich mit mir reden würdest, anstatt die ganze Scheiße in dich hinein zu fressen, würde mir das vielleicht auch gelingen, also stell mich hier nicht als Arschloch hin!“
Ich drückte meine Lippen aufeinander.
„Bitte, rede doch endlich mit mir“, sagte er viel sanfter.
„Ich will nicht mit dir reden, ich will hier raus“, sagte ich, ohne ihn anzuschauen und stieß seinen Arm weg, damit ich endlich die Tür aufreißen konnte, doch bevor ich es schaffte einen Schritt in den Hausflur zu machen, griff er nach meinem Oberarm um … ich wusste nicht warum. Wahrscheinlich wollte er mich einfach aufhalten und zurück in die Wohnung ziehen, doch plötzlich war ich wieder in meinem Alptraum gefangen. Es war nicht Cio, sondern Owen, der mich am Arm packte und dazu brachte verängstigt aufzuschreien und mich so panisch von ihm loszureißen, dass ich erst gegen den Türrahmen knallte und dann im Hausflur zu Boden stürzte.
Als ich dann in das erschrockene Gesicht von Cio schaute, schlug mein Hals mit bis zu Hals und ich zitterte so stark, dass meine Zähne klapperten.
„Schäfchen“, sagte er bestürzt und wollte nach mir greifen.
Ich rutschte mit einem Wimmern vor ihm zurück, bis ich das Treppengeländer im Rücken spürte. Dann griff ich hektisch nach den Streben, zog mich daran auf die Beine und rannte eilig die Treppe hinunter. Als er dann auch noch nach mir rief, wurde ich sogar noch schneller, weil ich Angst hatte, dass er mir folgen würde.
Aber das tat er nicht.
Ich schaffte es hinaus auf die Straße und hinein in unseren Wagen, doch als ich versuchte den Schüssel in das Zündschloss zu stecken, zitterten meine Hände so sehr, dass ich das Loch einfach nicht trat.
Wütend schlug ich auf das Lenkrad und dann saß ich einfach mit wild klopfenden Herzen da und versuchte Luft in meine Lungen zu bekommen. Oh Gott, warum hörte das nicht endlich auf?
Ich spürte wie meine Augen zu brennen begannen und sich meine Finger um das Lenkrad krampften. Ich wusste nicht einmal, warum es mich so traf, dass Cio das vor mir verheimlicht hatte. Es war ja nicht so, dass er hier der einzige mit Geheimnissen war und wenn man seines mit meinem verglich, dann war das was ich verbarg weitaus schlimmer. Er hatte es geheim gehalten, um mich zu schützen. Mein Motiv war viel selbstsüchtiger, denn auch ich schwieg, um mich zu schützen.
Was mich im Moment viel mehr schmerzte, waren die anderen Dinge, die er gesagt hatte. Ich wusste ja, dass ich mich verändert hatte und das nicht mehr so war, wie es sein sollte, aber mir war nicht klar gewesen, dass ich in seinen Augen nur noch eine Fremde war. Nicht mehr sein Schäfchen, sondern jemand, denn er nicht kannte, jemand der ihn nur belastete.
Meine Augen füllten sich mit Tränen und als ich sie zusammenkniff, liefen sie mir haltlos über die Wangen. Alles war so verkehrt und mit jedem neuen Tag schienen wir uns weiter voneinander zu entfernen, dabei wollte ich doch nur, dass es wieder wie früher wurde. Ich wollte mich von ihm in den Arm nehmen lassen und dabei einfach wohlfühlen. Ich wollte ihn küssen und dass er wieder seine Späße mit mir trieb. Ich wollte keine Fremde für ihn sein.
Als das Handy in meiner Jackentasche klingelte, zuckte ich zusammen. Hastig wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht, während ich es aus meiner Jackentasche kramte, doch ein Blick auf das Display, ließen diese ganzen niederdrückenden Gefühle von neuem aufwallen. Es war Cio.
Ich konnte jetzt nicht mit ihm sprechen. Nachdem was gerade passiert war, wusste ich einfach nicht, das ich sagen sollte, also steckte ich es zurück in meine Manteltasche und startete einen neuerlichen Versuch, den Schlüssel ins Schloss zu bekommen. Es klappte und der Motor sprang ohne Probleme an.
Da es weder für mich, noch für den kleinen Passagier gut war, wenn ich mich Hals über Kopf in den Straßenverkehr stürzte, zwang ich mich alles andere aus meinem Kopf zu verdrängen.
Mich auf etwas anderes zu konzentrieren, half mir auch dabei meine aufgewühlte Gefühlswelt ein wenig in den Griff zu bekommen und so hatte ich mich wieder halbwegs beruhige, als ich die Tierklinik erreichte. Die Gedanken in meinem Kopf tobten noch immer und wenn ich nur allzu genau darüber nachdachte, würde ich sicher jeden Moment wieder in Tränen ausbrechen, doch für den Moment schaffte ich es, die Tierarzthelferin Cecile mit einem ziemlich falschen Lächeln zu begrüßen.
Da der Doktor gerade einen vierbeinigen Patienten hatte, ging ich als erstes nach hinten zu Ferox. Ich glaube nicht, dass er sich in seinem ganzen Leben schon einmal so gefreut hatte, mich zu sehen. Er wimmerte, jammerte und jaulte unterbrochen, als ich versuchte mich zu ihm in den Zwinger zu zwängen, ohne das er entkam. Als ich nicht aufpasste, sprang er an mir hoch und schleckte mir einmal quer durch das Gesicht. Da ich ihn gerade begrüßen wollte, hatte ich dabei auch noch den Mund offen.
„Igitt“, war mein einziger Kommentar, als ich gleichzeitig versuchte mir das Gesicht abzuwischen und ihn unten zu halten, während er wie ein Kreisel Kreise um mich drehte.
Nachdem ich ihm bestimmt zehn Minuten lang versicherte hatte, dass ich mich auch freute ihn zu sehen, schaffte ich es endlich meinen Mantel auszuziehen und mich neben ihn zu setzten. In dem Versuch dabei mir auf den Schoß zu kriechen, erwischte seine Zunge mich ein zweites Mal, dieses Mal jedoch beschränkte sich seine Sabber auf mein Kinn. Das war zwar noch immer nichts worüber ich mich freute, aber weitaus besser als ein Zungenkuss von ihm.
„Jetzt ist aber genug“, bestimmte ich und drückte ihn auf den Boden, als er schon wieder auf mich raufspringen wollte. „Wenn du nicht aufhörst, dann werde ich …“
Mein Handy begann wieder zu klingeln. Das war nun schon der dritte Anruf. Meine Lippen wurden ein wenig schmaler. Nicht weil er mich anrief, sondern weil ich nicht wusste, was ich tun sollte. Wenn Iesha nur endlich gefasst werden würde. Wenn … ich seufzte.
Vielleicht hätte ich doch besser auf Cio gehört und diese Nachricht nicht geöffnet. Hätte ich die Nummer nicht gesehen, wäre ich auch gar nicht in Versuchung geraten.
Warum hatte Iesha überhaupt bei mir angerufen? Wollte sie mich auf die Nummer aufmerksam machen? Wollte sie dass ich misstrauisch wurde und der Sache auf dem Grund ging, damit ich die Bilder fand? Aber was glaubte sie damit zu erreichen? Wahrscheinlich wollte sie mir einfach nur noch mehr Schmerz zufügen. Als wenn das, was sie mir bisher angetan hatte, nicht schon reichen würde.
Als Ferox seinen Kopf gegen meinem drückte und mir zeigte, was in den letzten Stunden alles mit ihm geschehen war und wie wenig er diesen Ort und die Leute hier mochte, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf ihn. Ich versuchte ihn zu trösten und ihm klar zu machen, dass ihm hier niemand schaden würde. Ich war mir nicht sicher, ob er mich verstand, aber mit der Zeit begann er sich zu entspannen. Er kuschelte sich einfach an mich, seufzte einmal aus tiefster Seele und ließ sich dann von mir kraulen. Seltsamer Weise half mir das dabei, mich selber zu entspannen und ruhiger zu werden.
Ich wusste nicht wie lange ich schon hier drinnen saß, als mein Handy das nächste Mal klingelte. Im ersten Moment wollte ich es einfach weiter ignorieren, aber dann zögerte ich. Was würde mir das bringen? Ich wollte nicht, dass es so zwischen mir und Cio war und mit meiner Ignoranz würde ich ihn nur verletzten.
Als das Klingeln verklang, starrte ich noch immer meinen Mantel an, aber ich brauchte weitere fünf Minuten, bis ich es über mich brachte das kleine Gerät aus der Tasche zu ziehen und seine Nummer zu wählen.
Zwei Mal klingelte es, bevor am anderen Ende abgenommen wurde.
„Schäfchen?“ Cios Stimma klang angespannt und unsicher.
„Ich …“ Mein Mund klappte wieder zu. Was sollte ich sagen?
„Es tut mir leid“, sagte er leise und schaffte es mit diesen wenigen Worten, dass mir schon wieder die Tränen in die Augen steigen wollte. Er hatte keinen Grund sich zu entschuldigen, denn er hatte nichts falsches getan.
„Nein“, erwiderte ich genauso leise. „Mir tut es leid. Ich hätte nicht an dein Handy gehen dürfen.“
Am anderen Ende wurde schwer ausgeatmet, aber auch Cio schien nicht so recht zu wissen, was er sagen sollte, also dauerte es einen Moment, bis er wieder etwas sagte. „Ich hätte das nicht sagen sollen.“
Vielleicht, aber leider entsprach jedes seiner Worte der Wahrheit. „Mach dir keine Sorgen, mir geht es gut und …“ Ich verstummte „Du hast nichts falsch gemacht.“
Wieder wurde es still.
„Ferox geht es wieder besser“, sagte ich, weil ich einfach nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. „Er hat mir zur Begrüßung einen Zungenkuss gegeben.“
Vom anderen Ende der Leitung bekam ich ein zurückhaltendes Lachen. „Und ich dachte, ich hätte die Exklusivrechte an dir.“
Nun schaffte auch ich es ein kleinen wenig zu lächeln. „Ich habe da auch nicht freiwillig mitgemacht. Er hat seine einfach seine Chance genutzt, als ich den Mund geöffnet habe.“
„Den Trick muss ich mir merken.“ In seiner Stimme klang eindeutig ein Lächeln mit.
„Wenn ich mich recht erinnere, beherrschest du diesen Trick bereits meisterhaft.“
Wieder lachte er. „Du findest mich auf diesem Gebiet meisterhaft?“
„Vielleicht ein kleines bisschen.“ Ich strich Ferox durch das Fell auf seinem Kopf. „Weißt du, vielleicht könnten wir …“ Ich unterbrach mich, als die Tür zum Raum aufging und der betuchte Doktor Kniffer hereinkam.
Ferox begann sofort zu knurren, woraufhin er von mir einen Klaps auf den Hintern bekam.
„Ich muss auflegen, der Arzt ist gerade gekommen und … ich komme nach Hause, wenn ich hier fertig bin, okay?“
„Okay, und … ja, okay.“ Er verstummte einen Moment. „Wir sehen uns dann gleich.“
„Okay.“ Ich wartete einen Moment, ob da noch etwas kam, doch er legte auf, also tat ich es auch und schaute dann zum Arzt hinauf.
Das Gespräch mit ihm dauerte nicht lange. Ferox hatte wohl weniger von dem Pflanzenschutzmittel zu sich genommen, als er ursprünglich angenommen hatte und so wie es im Moment aussah, würde er wieder vollkommen gesund werden. Es gab keine Organschäden, er verhielt sich normal und schien auch vom Bewegungsapparat nicht eingeschränkt zu sein. Doktor Kniffer wollte ihn noch ein paar Tage zur Beobachtung da behalten, um auch mögliche Spätfolgen auszuschließen, aber wenn alles gut verlief, könnten ich ihn in drei bis vier Tagen wieder mit nach Hause nehmen.
Als ich mich nach dem Gespräch von Ferox verabschiedete, wurde er zu einer herzzerreißenden Heulsuse. Sein Jaulen war so klagend und laut, dass ich es noch auf dem Korridor hörte und ich am liebsten wieder zu ihm zurück gegangen wäre, um ihn gleich mitzunehmen. Aber das ging im Moment noch nicht. Erst musste er wieder gesund werden und außerdem war er hier in Sicherheit, denn hier kam Iesha nicht an ihn heran.
Es war noch nicht so spät, aber die Korridore waren weitestgehend leer. Da war nur ein Mann, der unruhig an einer Wand lehnte und eine Angestellte der Klinik. Erst als ich den Wartebereich mit der Anmeldung betrat, wurde es etwas voller. Da war eine kleine Familie, zwei Frauen, ein Pärchen und … Cio.
Bei seinem Anblick blieb ich einen Moment überrascht stehen, bevor ich mich wieder langsam in Bewegung setzte und zögernd auf ihn zutrat, bis ich einem halben Meter vor ihm stehen blieb. Er saß auf einem der Stühle und hatte den Kopf gehoben, sobald ich den Raum betreten hatte. „Wie kommst du denn hier her?“
„Mit dem Taxi.“ Um seine Lippen spielte ein vorsichtiges Lächeln. „Ich bin schon eine Weile hier.“
Was dann wohl bedeutete, er hatte hier bereits gesessen, als wir miteinander telefoniert hatten. „Tja, dann … dann fahren wir wohl zusammen nach Hause.“ Was bitte war das denn für eine dumme Aussage?
Um mich der Unsicherheit des Moments zu entziehen, wollte ich mir meinen Mantel anziehen. Leider stellte ich mich dabei ziemlich dumm an und ließ meinen Schall fallen. Als ich mich danach bücken wollte, hatte Cio ihn bereits aufgehoben. Er stand auf, trat direkt vor mich und begann damit ihn mir um den Hals zu wickeln. Dabei streifte er ein ums andere Mal die Haut an meinem Hals.
„Hast du lange gewartet?“, fragte ich, einfach weil ich diese Stille zwischen uns nicht ertrug. Ich hasste es, wenn es so zwischen uns war.
„Ich bin ungefähr fünfzehn Minuten nachdem du … nachdem du gegangen bist, in das Taxi gestiegen.“
Also hatte er praktisch die ganze Zeit hier gesessen.
Sobald er mit dem Schall fertig war, nahm er mir meinen Mantel ab und half mir hinein. Er richtete auch meinen Kragen, doch anstatt dann zurückzutreten, legte er mir zögernd die Hand auf die Wange.
Als er merkte, dass ich mich ihm nicht entzog, schien ein wenig seiner Anspannung von ihm abzufallen. „Ist zwischen uns alles in Ordnung?“
Nein, wahrscheinlich nicht, aber das lag nicht an ihm.
Ich hob die Hand, legte sie ihm auf die Brust und spürte seinen starken Herzschlag, so wie ich es schon so oft getan hatte. „Ja“, sagte ich und lehnte mich an ihn. „Alles ist in Ordnung.“
Als Cio die Arme um mich wickelte und mich an sich zog, konzentrierte ich mich ganz auf seinen Geruch und seine Nähe, um nicht in meinen Alptraum abrutschen zu können. Bei Cio war ich sicher, bei ihm konnte ich mich geborgen fühlen.
„Es tut mir leid“, flüsterte er so leise, dass niemand außer mir ihn verstehen konnte.
Ich krallte meine Hand ein wenig in sein Hemd. „Vielleicht … vielleicht sollten wir wirklich mal zusammen wegfahren“, überlegte ich und wusste nicht mal, warum ich das sagte.
Sein Griff lockerte sich, als er sich zurück lehnte und mich überrascht anschaute.
„Wenn der kleine Passagier erstmal da ist, werden wir dafür sicher keine Zeit mehr haben.“
„Wahrscheinlich.“ Seine Mundwinkel hoben sich ein wenig. „Obwohl unser Baby ja genug Großeltern haben wird, bei denen wir es vielleicht mal unterbringen können.“
„Genug ist gut. Es wird so viele Großeltern haben, dass es mit ihnen um sich schmeißen kann.“
„Und Tanten und Onkels. Kannst du dir das Frettchen als Onkel verstellen?“ Er ließ mich los, trat zurück und zog sich seine eigene Jacke über.
Ich versuchte mir vorzustellen, wie Kasper mit einem Baby auf dem Arm aussehen würde. „Irgendwie nicht.“
„Ich auch nicht.“ Sobald er seinen Kragen gerichtet hatte, hielt er mir seine Hand hin und sobald ich sie nahm, zog er mich hinter sich hinaus in den kalten Winterabend. „Wenn wir schon mal beim Thema sind … bevor wir nach Hause fahren, würde ich gerne noch etwas erledigen.“
Ich lenkte Cio auf dem Parkplatz nach rechts. „Was denn?“
Er sah mich sehr ernst an. „Es ist eine Mission von aller größter Wichtigkeit. Ich muss dich warnen, es kann gefährlich werden und es besteht die reelle Chance, dass ich von hier bis nach China gepustet werde – samt Föhnfrisur, versteht sich. Außerdem sollten wir uns auf dem Weg vielleicht noch ein paar Ohrenschützer besorgen, damit wir halbwegs unbeschadet aus der Sache wieder herauskommen.“
Oh je, ich wusste was er vorhatte. „Du willst es deinen Eltern sagen.“
Er verzog das Gesicht ein wenig. „Von wollen kann nicht wirklich die Rede sein. Ich möchte mich einfach hinter mich bringen, damit wir uns anschließend den wichtigen Dingen des Lebens widmen können.“
Wichtige Dinge? „Du meinst zum Beispiel eine neue Wohnung?“
„Ich meine Kuchen.“
„Kuchen?“ Hä?
„Klar.“ Er nickte. „Wenn wir das erledigt haben, dann besorgen wir uns irgendwo ein schönes Stück Erdbeerkuchen. Wenn ich mich recht erinnere, haben wir Zuhause auch noch ein Sprühsahne. Und wenn du ganz lieb zu mir bist, darfst du vielleicht auch mal ein Stück naschen.“
Mein Mundwinkel zuckte. Cio mochte Schkokotorte, aber Erdbeeren konnte er nicht ausstehen. „Ich könnte mir einfach mein eigenes Stück kaufen“, bemerkte ich und zog den Wagenschlüssel aus der Tasche.
„Das kannst du mir nicht antun“, rief er beinahe entsetzt. „Damit würdest du mir mein Druckmittel nehmen.“
Schnaubend öffnete ich den Wagen und ließ mich hinter das Steuer gleiten. „Sowas würde ich dir natürlich niemals antun. Aber vielleicht sollten wir vor dem Besuch noch für alle Kuchen holen.“
„Ah, du meinst, wenn mein Vater den Mund voll hat, kann er mich nicht anschreien.“
„Sowas in der Art“, erwiderte ich schmunzelnd.
Cio und sein Vater hatten schon immer eine schwierige Beziehung zueinander gehabt. In der letzten Zeit war es zwar besser geworden, aber als Cio ein Mal das Thema Baby angesprochen hatte, war Diego an die Decke gegangen. Ein Stück Kuchen würde daher sicher nicht schaden. Also machten wir noch einen kleinen Abstecher zu einer Bäckerei, kauften die Hälfte der Auslagen auf und standen dann vierzig Minuten später vor einem alten Herrenhaus, dass nicht nur von Diegos Eltern, sondern auch von meiner Erzeugerin samt Familie bewohnt wurde.
Ich rieb mir fröstelnd die Finger aneinander, während Cio den Kuchen auf der einen Hand balancierend mit der anderen die Klingel betätigte. „Wer weiß“, sagte ich, um Cio ein wenig von seiner Anspannung zu nehmen. „Vielleicht überrascht dein Vater uns ja genauso sehr wie meiner.“
Er warf mir einen zweifelnden Blick zu.
„Hoffen kann man ja noch.“
Bevor er darauf etwas erwidern konnte, wurde die Tür von einer wirklich kleinen Frau mit einem Puppengesicht geöffnet – Genevièv, Cios Mutter. Meine Mutter war ja schon ziemlich kurz geraten, aber Genevièv war noch mal ein ganzes Stück kleiner als sie. Ich hatte nie nachgefragt, aber wenn ich schätzen müsste, würde ich sagen, dass sie so einen Meter fünfzig war. In etwa. Außerdem war sie eine zierliche Blondine mit blauen Augen und einer unglaublich festen Umarmung, wie ich gleich darauf wieder einmal feststellen konnte.
„Cio, Zaira“, begrüßte sie uns, nahm dann erst ihren Sohn in den Arm und drücke auch mich einmal kurz an sich. „Mit euch hab ich ja heute gar nicht gerechnet. Weiß Cayenne, dass ihr kommt?“ Sie trat zurück, damit wir hinein konnten.
„Nein“, sagte Cio und übergab seiner Mutter den Kuchen, um sich von seiner Winterkleidung zu befreien. „Das war eine eher spontane Idee.“
Seine Mutter verengte misstrauisch die Augen, schaute dann von einem zum anderen, nur um mit dem Blick am Ende am Kuchen hängen zu bleiben. „Okay, was hast du angestellt?“
„Das wirst du gleich erfahren.“ Breit grinsend drückte er ihr einen besänftigenden Kuss auf die Wange und griff dann nach meiner Hand. „Ist Papa auch da?“
Sie nickte. „Im Wohnzimmer.“
„Okay, dann auf in den Kampf.“
Bei diesen Worten schaute seine Mutter ihn noch mal seltsam an, sagte aber nichts, als sie uns in das große, offene Wohnzimmer führte. Für meinen Geschmack war es ein wenig zu dunkel und rustikal, doch es war gemütlich.
Die Familie hatte sich um den Tisch versammelt. Meine zweieiige Zwillingsschwester Kiara saß im Schneidersitz auf dem großen Ecksofa und hatte einen Laptop auf dem Schloss. Auf dem Boden vor dem Tisch lag meine Erzeugerin Cayenne, ihr Gefährte Sydney hatte es sich mit dem Kopf auf ihrem Bauch bequem gemacht.
Diego saß mit einer Zeitung in der Hand auf dem Sessel. Er war ein großer Mann. Braune Haare, braune Augen, breite Schultern. Doch das wohl auffälligste Merkmal an ihm waren die drei langen Narben an seiner linken Schläfe.
Als ich hinter Genevièv und dem Kuchen in den Raum trat, runzelte ich bei dem Anblick erstmal die Stirn. Diego und Cayenne lieferten sich aus was-weiß-ich für Gründen, lachend einen Fußkampf. Naja, Cayenne lachte, während sie immer wieder versuchte Diegos Fuß zurückzudrängen. Diego lächelte nur und versuchte knisternd seine Zeitung festzuhalten. Zumindest bis er uns bemerkte.
Er bemerkte uns und drehte den Kopf, wodurch seine Gegenwehr ein Moment ins stocken geriet. Cayenne, die mit seiner Unaufmerksamkeit nicht gerechnet hatte, trat in dem Moment nach ihm und traf ihn am Schienbein. Diego zischte und verzog das Gesicht.
„Ich habe euch gesagt, dass ihr das lassen sollt, weil sich sonst einer von euch wehtut“, bemerkte Genevièv und trug den Kuchen in die Küche.
Cayenne streckte in einem stummen Siegesschrei die Arme in die Luft, bevor sie sich grinsend aufsetzte. Dabei rutschte Sydneys Kopf von ihrem Bauch in ihren Schoß. „Hey“, begrüßte sie uns. „Welcher Wind hat euch den reingeweht?“
„Ein arktischer“, scherzte Cio. „Wir haben Kuchen mitgebracht.“
Diese vier Worten reichten, um die Familie dazu zu bekommen sich innerhalb kürzester Zeit in der Küche zu versammeln. Es gab hier zwar noch ein Esszimmer mit einem langen Tisch, aber meistens aß man hier an der Theke, die die Kochinsel in der Raummitte zu drei Seiten einschloss.
Da es Sydney als Wolf schwer fiel auf einem der Barhocker Platz zu nehmen, verschwand er noch mal kurz im Schlafzimmer, um sich zu verwandeln. Bei seiner Rückkehr saßen alle schon mit Tellern vor der Nase auf ihren Plätzen.
Sydney war ein großer Mann mit hellem Haar, dass ihm etwas länger um den Kopf fiel. Genau wie sein Sohn Aric, waren auch seine Augen immer die eines Wolfes und über die vielen Narben, die seinen Körper überzogen und in seiner Wolfsgestalt immer von seinem Fell verborgen wurden, wusste ich nicht viel. Sie sahen aus wie Biss- und Kratzwunden, doch ich hatte nie gefragt, wie er sie sich zugezogen hatte.
Als er sich neben Cayenne auf den Barhocker setzte und Genevièv seinen Teller reichte, um auch ein Stück Kuchen zu bekommen, starrte Diego verwundert auf seinen Teller, als fragte er sich, warum seine Frau ihm gleich drei Stücken von dem Bienenstich aufgetan hatte.
Da alle anderen nur eines bekommen hatten, wunderte mich das gar nicht. Wahrscheinlich ahnte Genevièv, dass da etwas im Argen lag und hoffte, dass der Zuckerschock ihren Mann fröhlich stimmen würde. Oder ihm die Zähne zusammenklebte.
Ein Weilchen saßen wir einfach nur zusammen und tratschten über Gott und die Welt. Auch Kiara beteiligte sich an dem Gespräch, wobei sie mich weitestgehend ignorierte und ich mich wieder einmal fragte, warum sie plötzlich eine solche Abneigung gegen mich hatte. Unsere Beziehung war schon immer schwierig gewesen, aber jetzt … ich verstand es einfach nicht.
„Gibt es hierfür eigentlich einen Anlass?“, fragte Cayenne und deutete mit einer Geste auf den Kuchen.
„Oh ja“, grinste Cio, nahm meine freie Hand und hauchte einen Kuss darauf, der meine Haut angenehm kribbeln ließ. „Zaira und ich haben tolle Neuigkeiten und wollten das mit euch gebührend feiern.“
„Neuigkeiten?“, fragte Diego ein wenig misstrauisch und trennte ein Stück von seinem Bienenstich ab.
Cio warf ihm einen wachsamen Blick zu, konzentrierte sich dann aber mit einem Lächeln auf seine Mutter. „Zaira und ich haben beschlossen umzuziehen, weil …“ Er machte eine bedeutungsschwere Pause.
„Weil?“, fragte Genevièv.
„Weil wir schwanger sind“, stieß ich hervor, damit wir diesen Teil hinter uns hatten. „Also ich bin schwanger, Cio nicht, er ist nur der Vater.“
„Nur?“ Belustigt zog Cio eine Augenbraue nach oben.
„Du weißt schon was ich meine.“ Ich schaute zu den anderen, um ihre Reaktionen abzuschätzen. Cayennes Gabel steckte in ihrem Mund, aber sie hatte scheinbar vergessen, dass sie sie wieder herausziehen musste. Genevièv schaute uns mit großen Augen an, wohingegen Sydney ein kleines Lächeln auf den Lippen trug. Es würde mich nicht wundern, wenn er es schon längst geahnt hätte. Sydney entging nur selten etwas.
Cio versuchte Diegos Reaktion abzuschätzen. Er sah ein kleinen wenig geschockt aus.
„Du bist schwanger?“, rief Genevièv dann, sprang von ihrem Hocker und kam mit einem seltsamen Quietschen zu uns rüber. Sie beglückwünschte uns und nahm uns in den Arm und dann war auch Cayenne da und nahm uns strahlend in den Arm und auch Sydney gratulierte uns.
Während die Erzeugerfraktion einen Affentanz um uns aufführte, fiel mein Blick auf Kiara, die völlig ausdruckslos auf ihren Teller starrte und sehr langsam ihren Kuchen aß.
Diego hatte bisher noch kein Wort dazu gesagt, doch nun schien er im Begriff den Mund zu öffnen. Das hatte zur Folge, dass sich die Blicke aller anwesenden Frauen mit ihrer geballten Macht warnend auf ihn richteten. Nicht nur die von Genevièv und mir, auch Cayenne schien ihm etwas auf den Deckel geben zu wollen, sollte auch nur ein falscher Ton über seine Lippen kommen. Nur Sydney schaute ganz dezent in eine andere Richtung und schien sich gerade so das Schmunzeln verkneifen zu können.
„Grautiere“, war dann alles was Diego dazu sagte.
Cio nickte ihm zu. „Danke.“
Na bitte, war doch gar nicht so schwer gewesen. Vielleicht ein wenig verkrampft, aber nicht schwer.
„Das ist fantastisch“, schwärmte Genevièv und drückte ihren Sohn ein weiteres Mal an sich. Und dann begann sie von Cio als Baby zu erzählen. Als sie dann auch noch los eilte, um sein Babybuch zu holen, verzog er gequält das Gesicht.
„Mama, bitte“, rief er ihr noch hinterher, aber da war sie schon aus der Küche gestürmt.
Cayenne nahm meine Hand. „Ich freue mich so für euch und wenn ihr mal einen Babysitter braucht, dann sagt nur Bescheid und wir kümmern uns um den kleinen Sonnenschein.“
„Danke“, sagte ich und meinte es auch ehrlich. „Aber du wirst dich wahrscheinlich mit Papa darum streiten müssen.“
Sie sah mich erstaunt an. „Dein Vater weiß es schon?“
Ich nickte.
„Wir haben es ihm vor zwei Tagen gesagt“, erklärte Cio und legte mir eine Hand auf den Oberschenkel. Die Berührung kam so überraschend, dass mein Körper ganz starr wurde. Er warf mir einen kurzen Blick zu, aber auch wenn er sein Lächeln beibehielt, nahm er seine Hand sofort wieder weg und versuchte sich seinen Kummer nicht anmerken zu lassen. „Er hat sich gefreut“, fügte er noch hinzu, um meine Reaktion zu überspielen.
Cayenne machte große Augen. „Raphael hat sich gefreut?“, fragte sie ungläubig.
„Er hat gelächelt“, erzählte ich und rutschte vom Hocker, um so ein wenig Abstand zu Cio zu bekommen. „Und er hat angeboten uns bei der Wohnungssuche zu helfen.“ Das mit meiner Mutter ließ ich unerwähnt. Mein Vater hatte mir das im Vertrauen erzählt.
Mit einem „Ich hab es gefunden“, kam Genevièv zurück in die Küche und legte ein babyblaues Buch mit einem Klapperstorch darauf auf die Theka.
„Mama“, sagte Cio und verzog gequält das Gesicht. „Das will doch niemand sehen.“
Das hinderte Genevièv nicht daran das Buch aufzuschlagen und mir ein Bild zu zeigen, auf dem Diego seinen neugeborenen Sohn in den Armen hielt.
Während ich mir lächelnd Cio als Baby anschaute, bemerkte ich wie Kiara sich still und heimlich von ihrem Platz erhob, ihren Teller in den Abwasch stellte und und wortlos aus der Küche verschwand.
Meine Lippen wurden ein wenig schmaler und wenn ich ehrlich war, dann machte ihr Verhalten mich sauer. Ich hatte ihr nichts getan und immer versucht eine gute Schwester zu sein und trotzdem schaffte sie es nicht mal jetzt Freude zu heucheln. Dabei war das nicht nur mein Baby, sondern auch das von Cio.
Die bekommt keinen Kuchen mehr, schwor ich mir und konzentrierte mich auf ein Bild, auf dem Cio nackig auf seinem Wickeltisch lag und mit großen Augen an seinem Daumen lutschte. Ich würde auch so ein Buch für unser Baby besorgen müssen.
°°°
Skeptisch beobachtete ich, wie Cio die gynäkologischen Instrumente auf dem Tablet interessiert musterte. Es juckte ihn in den Fingern sie anzufassen, ich konnte es ihm ansehen. Bevor er seiner Neugierde allerdings nachgeben konnte, ging die Tür zu der kleinen Praxis auf und meine Ärztin, Frau Dr. med. Sanchez, kam in ihrem weißen Artkittel herein.
„Tut mir leid, dass Sie warten mussten, aber es gab einen kleinen Zwischenfall.“
„Kein Problem.“
Dr. Sanchez war eine Lykanerin in den fünfzigern, mit ein paar Segelohren, die auch ihr braunes Haar nicht verstecken konnte. Aber sie hatte ein herzliches Lächeln und eine sonnige Art, die es einem leicht machte sie zu mögen.
Sie begrüßte erst mich mit einem Händeschütteln und wandte sich dann zu Cio um. „Sie müssen der Vater sein.“
„In all seiner Pracht“, erklärte er stolz und nahm ihre dargebotene Hand.
„Frau Steele hat es ihnen also endlich gesagt.“
Er grinste ein wenig schief. „Ich habe den Mutterpass gefunden.“
„Ah.“ Sie nickt verstehend und ließ seine Hand dann wieder los. „Da bin ich aber froh. So, dann wollen wir mal anfangen.“
Die Untersuchung verlief genau wie all meine vorhergegangenen und meine Ärztin hatte nichts zu beanstanden. Während der Ultraschaltuntersuchung klebte Cios Blick geradezu auf dem Bildschirm und ein Lächeln in seinem Gesicht. Als die Ärztin ihn dann auch noch den Herzschlag hören ließ, bekam er vor Staunen ganz große Augen und wollte meine Hand nicht mehr loslassen. Das machte es mir ein wenig schwer, meinen Bauch von dem kalten Gel zu befreien.
„Es gibt wie immer nichts zu beanstanden“, erklärte meine Ärztin, während sie die aktuellen Werte notierte. „Gibt es sonst noch etwas, dass sie mit mir besprechen wollen?“
Ich setzte mich auf und wollte schon den Kopf schütteln, als mir etwas einfiel. „Eine Sache wäre da, aber ich bin mir nicht sicher, ob das mit der Schwangerschaft zusammenhängt.“
Cio zog fragend eine Augenbraue nach oben.
„Um was geht es denn?“, fragte Doktor Sanchez und legte ihren Stift zur Seite.
„Naja, vor fast zwei Wochen musste ich eine Wirtin beißen und irgendwie ging das nicht.“
Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. „Inwiefern?“
„Meine Fänge wollten nicht ausfahren, nicht bis Cio mir geholfen hat.“ Ich schaute kurz zu ihm hoch. „Es war als verweigerten sie ihren Dienst, wenn sie nicht Cios Blut in Aussicht haben und das finde ich seltsam. Bisher hatte ich damit noch nie Probleme.“
Bevor sie mir antwortete, ließ sie sich einen Moment Zeit. „Ich bin kein Spezialist für Vampire und es könnte verschiedene Ursachen dafür geben. Darf ich fragen, wie oft sie sich bei ihrem Gefährten nähren?“
„Ähm … eigentlich immer. Ich brauche nicht so viel Blut wie reinrassige Vampire und trinke auch weitaus seltener.“
„Hm“, machte sie und tippte sich mit dem Finger ans Kinn. „Er ist also ihre einige Quelle?“
Ich nickte. „Seit gut vier Jahren.“ Ich zögerte. „Letztes Jahr war ich einmal gezwungen bei jemand anderes zu trinken, da hat es aber keine Probleme gegeben.“ Ja, mir fiel auf, dass Cios Griff ein wenig fester wurde. Keiner von uns erinnerte sich gerne daran, bei wem und vor allen Dingen, warum ich gezwungen gewesen war, meinen Blutdurst bei Tayfun zu besänftigen.
Wieder machte sie „hm“ und schaute zwischen uns beiden hin und her. „Das ist wahrscheinlich psychisch bedingt und kann auch daran liegen, dass sie eine sehr enge Verbindung zu ihrem Partner haben. Vielleicht auch beides.“ Sie verstummte kurz und schien ihre nächsten Worte mit Bedacht zu wählen. „Es könnte auch an ihrer Situation liegen.“
„An meiner Situation?“
Sie drehte sich auf ihrem Stuhl zu mir herum und fragte dann sehr sanft: „Wann haben sie diese andere Person gebissen? War das vor ihrer Entführung?“
Mein Rücken wurde ganz steif und Cio legte mir sofort schützend eine Hand auf die Schulter. Natürlich wusste meine Ärztin, was mir widerfahren war, sie hatte mich im Krankenhaus behandelt und war sich über meine Situation voll und ganz im Klaren. „Ja“, sagte ich nach einigem Zögern und bekam mein Zähne dabei kaum auseinander.
Sie seufzte, als hätte sie nichts anderes erwartet. „Ich denke nicht, dass es etwas mit der Schwangerschaft zu tun hat, sondern an dem was sie hinter sich haben. Das Trinken kann eine sehr intime Situation sein, in der sie sich in eine verletzliche Position begeben. Im Moment brauchen sie vor allem Sicherheit und die Gewissheit in einer solchen Situation nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Daher glaube ich, dass diese Reaktion bei ihnen psychischer Natur ist. Sie vertrauen ihrem Mann und dieses Vertrauen erlaubt ihnen, sich bei ihm zu nähren. Nur bei ihm. Aber da sie nicht den Eindruck machen, dass es sie stört, ist das wohl kein Problem.“
„Nein, ich wollte das nur abklären, weil ich es seltsam fand. Alles in Ordnung.“
„Schön.“ Sie lächelte mich wohlwollend an. „Haben sie sonst noch etwas auf dem Herzen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das war alles.“
„Gut, dann lassen sie sich vorne bitte einen neuen Termin geben und wir sehen uns dann das nächste Mal.“
Mit Cios Hilfe erhob ich mich von der Liege und ging dann nach vorne zur Anmeldung. Bevor wir die Praxis allerdings verließen, suchte ich noch einmal die Toilette auf und erledigte, was man da so eben erledigte.
Als ich mir die Hände wusch und dabei in den Spiegel schaute, überlegte ich, was ich morgen kochen sollte. Morgen hatten wir unseren Jahrestag, dann war es genau vier Jahre her, dass ich mit Cio gefangen im Schloss gesessen hatte und zu ihm gesagt hatte: „Verdammt, ich liebe dich.“
Die Erinnerung daran zauberte mir ein kleines Lächeln ins Gesicht. Damals war alles drüber und drunter gegangen und trotzdem hatten wir beide uns gefunden. Und nun würden wir zusammen ein Baby bekommen. Dieser Gedanke sorgte dafür, dass ich noch immer lächelte, als ich aus dem kleinen Bad heraus kam.
Cio lehnte an der gegenüberliegenden Wand und zog die Augenbraue leicht hoch, als er mein Lächeln sah. Er begann selber zu lächeln, stieß sich von der Wand ab und schlenderte auf mich zu, bis er mich mit dem Rücken gegen die Wand gedrängt hatte. Mit einem Arm stützte er sich an der Wand ab, berührte mich aber nicht, während seine Augen mich anlachten. „Hallo schöne Frau, sind sie öfter hier?“
Ah, der Wolf wollte spielen. Nun gut. „Versuchen sie gerade mich anzugraben?“
Er nickte mit einem wölfischen Grinsen. „Das ist normalerweise gar nicht meine Art, aber ihr Anblick hat mich so verzaubert, dass ich gar nicht anders kann.“
Was für ein Süßholzraspler. „Ich fühle mich geschmeichelt ihr Interesse geweckt zu haben und auch wenn es mir schwer fällt so einen Augenschmaus einen Korb zu geben, muss ich ihnen doch leider mitteilen, dass ich bereits glücklich vergeben bin und ihre Annäherungsversuche daher sehr unangebracht sind.“
Er hob die frei Hand und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Davon bekam ich eine Gänsehaut. Das konnte aber auch an seinem Blick liegen. „Vergeben also?“
Ich nickte mit großen, unschuldigen Augen. „Mein Mann ist groß, gutaussehend, stark und auch ziemlich eifersüchtig.“
Sein Mundwinkel zucke. „Dann sollten wir uns von ihm besser nicht erwischen lassen.“
„Und ich bin schwanger“, fügte ich noch hinzu.
Er beugte sich mir ein wenig entgegen. „Je mehr, desto besser.“
Ich zog eine Augenbraue hoch, doch bevor ich noch etwas dazu sagen konnte, hörte ich plötzlich ein „Was erlauben sie sich!“ und dann wurde Cio von mir weggeschubst.
Erstaunt sah ich eine andere Patientin. Sie war älter als ich und mindestens schon im siebenten Monat schwanger. Ihre Tasche hielt sie wie einen mittelalterlichen Morgenstern, den sie Cio jeden Moment über den Kopf ziehen wollte. Sogar die Fänge in ihrem Mund waren drohend ausgefahren.
„Das hier ist doch keine Singlebörse!“ Mit bösem Gesicht machte sie noch einen drohenden Schritt auf sie zu, während er etwas verdutzt abwehrend die Hände in die Luft hielt. „Die Dame hat ihnen bereits gesagt, dass sie nicht zu haben ist und sie sollten sich schämen sie an einem solchen Ort so zu bedrängen. Hinaus mit ihnen, sonst rufe ich die Wächter!“
„Äh“, machte Cio und warf mir einen hilfesuchenden Blick zu. „Schäfchen?“
Ich versuchte es wirklich, aber ich konnte nicht an mich halten und begann zu prusten. Da stand er, mein unglaublich starker Umbra und er ließ sich von einer schwangeren Frau mit Handtasche in die Flucht schlagen.
„Na los, verschwinden sie!“
„Zaira“, flehte Cio und wich noch einen Schritt zurück.
Ohje, es war wohl an der Zeit, dass ich meinem großen Umbra zu Hilfe kam. „Entschuldigen sie“, sagte ich und griff nach ihrem Arm, bevor sie wirklich noch auf die Idee kam, ihm ihre Handtasche um die Ohren zu hauen. „Ich fürchte sie haben da etwas missverstanden. Er hat sich nur einen Spaß erlaubt.“
„Das ist kein Spaß, das ist unerhört!“
„Nein, sie verstehen nicht“, widersprach ich ihr. „Er ist mein Mann und er wollte nur witzig sein. Sowas macht er manchmal.“
Langsam ließ sie ihre Handtasche sinken und schaute dann misstrauisch zwischen uns hin und her. „Sie kennen ihn?“
„Ich bin von ihm schwanger“, erklärte ich und ließ sie wieder los, um meine Finger mit denen von Cio zu verschränken. „Wir sind verlobt.“ Zum Beweis holte ich die Kette mit meinem Ring unter meinem Pullover hervor und zeigte sie ihr. Es war leider noch immer der Ersatzring. „Es ist wirklich alles in Ordnung.“
„Oh“, machte sie und ihre Wangen liefen leuchtend rot an. „Das tut mir leid, ich habe gedacht …“ Sie verstummte und bedachte Cio mit einem entschuldigenden Lächeln. „Ich hatte den Eindruck, sie seien ein Casanova auf Frauenfang.“
„Schon in Ordnung“, sagte er gönnerhaft.
„Tja dann … bitte entschuldigen sie.“ Sie drehte sich herum und verschwand im Warteraum.
Ich sah ihr hinterher und begann dann wieder leise zu lachen.
„Das findest du wohl witzig.“
Grinsend schaute ich ihn an. „Es hat schon etwas für sich zu sehen, wie sich der große Umbra von einer schwangeren Frau mit Handtasche in die Flucht schlagen lässt.“
Er kniff seine Augen ein wenig zusammen, zog mich dann mit einen Ruck zu sich heran und schlag mir lächelnd einen Arm um meine Taille, um mich fest an sich zu ziehen.
Das Lächeln verschwand augenblicklich aus meinem Gesicht und ich erstarrte einfach, während mein Herzschlag sich beschleunigte. Leider aus den falschen Gründen.
Natürlich bemerkte Cio die Veränderung sofort, trotzdem löste er seinen Arm nur zögernd von mir und tat nichts, als ich einen Schritt vor ihm zurückwich. „Ich hab nicht nachgedacht“, sagte er leise.
Nein, warum auch. Früher hatte er sowas ständig mit mir gemacht und es hatte mich nie gestört. Aber jetzt … ja, jetzt war alles anders. „Wir sollten nach Hause fahren, dann kannst du noch etwas essen, bevor du zur Arbeit musst.“
„Schäfchen“, sagte er noch, als ich mich schon abwenden wollte.
Ich biss mir auf die Unterlippe. „Es ist in Ordnung“, sagte ich leise. „Ich war nur überrascht.“
Für einen Moment blieb er still, doch dann stieß er schwer den Atem aus. „Okay, lass uns nach Hause fahren.“
Als ich den geschlagenen Ton in seiner Stimme hörte, kam mein schlechtes Gewissen mit einer solchen Wucht auf mich nieder, dass ich wohl in die Knie gegangen wäre, wenn es stofflich gewesen wäre. „Warte“, sagte ich und biss mir gleich darauf auf die Lippe, weil ich eigentlich gar nicht wusste, was ich tun wollte. Aber er blieb stehen und schaute mich abwartend an.
Ich öffnete den Mund, drei Mal, aber jedes Mal geriet meine Stimme wieder ins Stocken und das nicht nur, weil ich keine Ahnung hatte, was ich sagen sollte. Am Ende legte ich einfach meine Hand auf seine Brust, um durch den Stoff seinen kräftigen Herzschlag zu spüren.
Als er seine Hand auf meine legte, konnte ich ein wenig leichter atmen. „Ich bin für dich da“, sagte er leise, als glaubte er, mir das in Erinnerung rufen zu müssen.
Aber auch nur weil du nicht weißt, was ich gemacht habe. „Ähm … möchtest du … was möchtest du morgen haben?“
„Haben?“
„Essen.“ Ich schaute ihm vorsichtig in die Augen. „Ich wollte doch kochen. Du bezahlst das Popcorn.“
Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. Leider erreichte es sein Augen nicht. „Ich esse was auch immer du mir vorsetzt. Immer vorausgesetzt es ist nicht nur Kaninchenfutter.“
„Dann … dann müssen wir morgen aber noch mal einkaufen gehen.“
Er antwortete mir nicht. Stattdessen hob er die Hand und berührte meine Augenbraue, bevor er zärtlich mein Gesicht entlang strich, bis sie an meiner Wange ruhte. Die Wärme die von ihm ausging, drang nicht nur durch meine Haut, sie schien auch die Kälte in meinem inneren zu vertreiben, die ich bisher gar nicht gespürt hatte.
Als ich seinen Blick nur stumm erwiderte, beugte er sich vor und strich sanft mit seinen Lippen über meine, sodass ich die Berührung bis in meine Zehenspitzen fühlen konnte. Erst als er merkte, dass ich nicht vorhatte mich vor ihm zurück zu ziehen, küsste er mich. Sanft, vorsichtig. Er schien mir einfach zeigen zu wollen, dass ich ihm trotz allem noch wichtig war.
Meine Lider schlossen sich, als ich diesen bittersüßen Kuss erwiderte und meine Finger dabei in seinen Pulli krallte, damit er genau dort blieb, wo er war. Solche Berührungen waren bei uns so selten und kostbar geworden, dass ich diesen Moment für die Ewigkeit festhalten wollte.
Der Kuss wurde nicht drängender und er versuchte auch nicht mich anzufassen, was es mir erlaubte, mich in seiner Nähe weiter zu entspannen. Ich ließ meine Hand an seiner Brust hochgleiten, legte sie in seinen Nacken und spürte die Fransen seines weichen Haares, dass unter seiner schwarzen Wollmütze hervorschaute. Ich hatte es immer geliebt mit der Hand durch sein Haar zu fahren und erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich das schon lange nicht mehr getan hatte.
Als ich meinen Mund öffnete, um den Kuss ein wenig intensiver werden zu lassen, hörte ich hinter mir ein wirklich angewidertes: „Iiih, die küssen sich.“
Überrascht drehte ich den Kopf, sodass seine Lippen meine Wange streifte und sah einen kleinen Jungen von vielleicht sieben Jahren, dem der Ekel ins Gesicht geschrieben stand.
Seine Mutter, die gerade an der Anmeldung stand, hatte nur einen kurzen Blick für uns übrig, bevor sie der Arzthelferin etwas aus ihrer Tasche reichte.
„Ich glaube, wir sollten das in einen etwas privateren Rahmen verlegen“, murmelte Cio an meiner Wange und hauchte mit einen Kuss auf die empfindliche Haut, der mich am ganzen Körper ganz kribbelig machte. „Ich hab es nicht so mit neugierigen Zuschauern.“
Das ließ mich lächeln. „Dann musst du mich aber loslassen.“ Ich wandte ihm wieder das Gesicht zu und stellte fest, dass er mich erstaunt anschaute.
„Ich halte dich gar nicht fest.“
Erst nachdem er das gesagt hatte, bemerkte ich, dass er recht hatte. Ich hielt ihn fest. Meine Hand lag noch in seinem Nacken und spielte mit den Spitzen seiner Haare, während ich mir der anderen seine Hand festhielt, als hätte ich Angst, er würde sonst einfach schreiend weglaufen. „Oh“, machte ich und ließ mit einem verlegenen Lächeln von ihm ab. „Ein Teil von mir scheint sich selbständig gemacht zu haben.“
Er grinste. „Also wenn das dabei heraus kommt, wenn sich ein Teil von dir selbstständig macht, dann hoffe ich, dass dir das öfter passiert.“
„Ich auch“, sagte ich, bevor ich mir darüber im Klaren war, was ich da eigentlich sagte.
Sein Lächeln wurde etwas breiter und endlich erreichte es auch wieder seine Augen. Er gab mir noch einen kleinen Kuss, verschränkte dann seine Finger mit meinen und schlenderte Händchenhaltend mit mir aus der Praxis.
Als wir zehn Minuten später in unserem Auto saßen und Richtung Heimat fuhren, fragte ich mich mal wieder, wie es sein konnte, dass mich Cios Berührungen in der einen Minute in die Flucht schlugen, während ich in anderen Momenten nicht mal darüber nachdachte, wie nahe er mir war. Es musste daran liegen, wie er sich mir näherte. Wenn er mich so berührte, wie Owen es getan hatte, wollte ich instinktiv das Weite suchen, darum konnte ich ihn auch Küssen. Das hatte Owen nicht getan. Er hatte … andere Sachen gemacht.
Ich drehte den Kopf nach links und musterte Cio. Konnte das die Lösung sein? Oder musste ich mich einfach nur konzentrieren und mich immer wieder daran erinnern, dass dieser Mistkerl tot war und Cio nie etwas gegen meinen Willen tun würde.
Als Cio bemerkte, wie ich ihn beobachtete, schenkte er mir ein Lächeln. „Warum schaust du mich so an?“
Das würde er hoffentlich niemals erfahren. Darum schon ich die Gedanken in meinem Kopf hastig zur Seite und sprach etwas an, über das ich schon heute morgen beim Duschen nachgedacht hatte. „Ich möchte die Fotos haben.“
„Was für Fotos?“
„Die auf deinem Handy.“ Ich zeigte auf seine Jackentasche. „Die von Iesha.“
Das Lächeln auf seinem Lippen verflüchtigte sich und seine Schultern spannten sich leicht an. „Was willst du damit?“
„Ich will sie mir ansehen. Vielleicht gibt es darauf ja Hinweise, wo sie gerade ist, oder zumindest wo sie gewesen ist, als sie diese Bilder gemacht hat.“
Sein Gesicht verzog sich, als litte er Schmerzen. „Ich bin mir nicht sicher, ob das so eine gute Idee ist. Iesha ist auf darauf …“ Er warf mir einen kurzen Blick zu, bevor er sich wieder auf den Verkehr konzentrierte. „Außerdem haben die Wächter die Bilder bereits. Sie können sie viel besser analysieren.“
Da hatte er wahrscheinlich recht, aber … wir kannten Iesha persönlich. „Du glaubst also nicht, dass ich etwas finden könnte, was ihnen entgangen ist?“
Noch ein vorsichtiger Blick aus dem Augenwinkel. „Ich halte es einfach für keine gute Idee, wenn du dich mit diesen Bildern beschäftigst.“
„Weil Iesha darauf nackt ist?“, fragte ich ganz direkt.
Er antwortete nicht, aber sein Gesicht sprach bände.
„Ich weiß wie ich aussehe, Cio, und auch das Iesha weitaus hübscher ist als ich.“ Als er den Mund öffnen wollte, schüttelte ich den Kopf, denn ich war noch nicht fertig. „Das ist gestern so ausgeflippt bin, hat nichts mit ihrem Aussehen zu tun, oder dass du sie in ihrer ganzen nackten Pracht bewundern konntest, sondern damit, dass du es mir nicht gesagt hast. Du warst mit ihr zusammen. Wenn du noch Interesse an ihr hättest, dann hättest du sie nicht verlassen. Du liebst mich, ich vertraue dir und nur weil sie dir diese Bilder schickt, beginne ich nicht plötzlich an die zu zweifeln.“
Er schien ein wenig überrascht. „Du bist nicht sauer, weil ich sie so gesehen habe?“
„Gegenfrage: Habe ich denn einen Grund dazu?“
Das ließ ihn wieder lächeln. „Absolut nicht.“ Er wurde wieder ein wenig ernster. „Iesha ist nicht hübscher als du.“
„Ich habe einen Spiegel und auch zwei funktionierende Augen.“ Naja, zumindest wenn ich meine Brille auf der Nase hatte.
Als vor uns eine Ampel auf rot schaltete, bremste Cio den Wagen ab. „Als ich damals mit Iesha zusammen kam, hat sie mindestens zwanzig Kilo mehr gewogen. Sie hatte schöne Rund- … äh, ich meine, sie hatte Rundungen.“ Er verstummte kurz und verzog dabei das Gesicht. „Was ist sagen will, damals fand ich sie attraktiv. Sie hat während unserer Beziehung abgenommen. Ich habe kein Problem damit gehabt, weil sie sich so wohler gefühlt hat, aber vorher hat sie mir besser gefallen.“
Das erstaunte mich jetzt aber doch. „Iesha war dick?“
Cio schüttelte lächelnd den Kopf, weil ich nur auf diesen Punkt einging. „Ja. Ich mag keine dürren Klappergestelle, da bekommt man doch Angst, dass sie einfach in der Mitte durchbrechen, wenn man sie nur mit dem Finger antippt.“
Jetzt hatte er mich überrascht. Ich wusste ja, dass Cio nicht sehr oberflächlich war, aber dass er jemanden wie mich vorzog, hätte ich nicht gedacht. „Vier Jahre“, sagte ich, „und ich entdecke immer noch neue Seiten an dir.“
Grinsend legte er den Gang ein, als die Ampel wieder auf grün sprang und fuhr wieder los. „So bleib das Leben interessant.“
Es zeigte auf jeden Fall, dass es da immer noch ein paar Facetten gab, die bisher verborgen geblieben waren. Einen Moment überlegte ich, was es da vielleicht sonst noch zu entdecken gab, schob den Gedanken dann aber recht schnell zu Seite, um aufs eigentliche Thema zurückzukommen. „Gibst du mir die Bilder?“
Er antwortete nicht sofort und wirkte auch nicht sehr glücklich mit diesem Gedanken, aber schlussendlich sagte er: „Ja, ich gebe sie dir, wenn wir Zuhause sind.“
„Danke. Und ihre Nummer will ich auch haben. Vielleicht kann ich sie zurückverfolgen.“
Nun wirkte er geradezu gequält, aber er sagte nichts weiter dazu. Ich konnte ihn verstehen. Iesha war auch nicht das Thema Nummer Eins auf meiner To-do-Liste, aber leider beherrschte sie einen Großteil unseres Lebens und dieser Tatsache konnte ich mich nicht verschließen. Nicht wegen dem was sie bisher getan hatte, sondern wegen dem was sie noch tun würde, wenn sie niemand aufhielt. Ich hatte keinerlei Zweifel daran, dass sie mir und denen die mir wichtig waren weiterhin schaden würden.
Bei der Überlegung um sie kam mir eine Frage in den Sinn, vor dessen Antwort ich mich fürchtete. Was würde sie tun, wenn sie irgendwann erkannte, dass ihr Kampf um Cio sinnlos war? Ich traute es ihr durchaus zu, dass sie ihn in ihrem Zorn verletzen könnte.
Diesen Gedanken fand ich so schrecklich, dass ich ihn augenblicklich wieder aus meinem Kopf verbannte. Ich sollte den Teufel nicht an die Wand malen und das Schicksal herausfordern. Es würde mich nur zusätzlich verrückt machen und noch mehr Probleme brauchte ich im Augenblick nun wirklich nicht.
Als wir Zuhause ankamen, kam ein kalter Wind auf und der Himmel begann sich mit dunkeln Wolken zu füllen. Ich warf einen Blick nach oben, bevor ich das Haus betrat und fragte mich, ob wir dieses Jahr vielleicht doch noch Schnee bekommen würden, oder das einfach die Vorboten eines drohenden Regenschauers waren.
Sobald wir unsere Wohnung betreten hatten, interessierte mich das Wetter jedoch nicht mehr. Hier drinnen war es so kuschelig warm, dass ich mich sofort aus meinen Winterklamotten schälte. Als ich danach jedoch zur Küche streben wollte, um zu schauen was unser Kühlschrank zu bieten hatte, griff Cio nach meiner Hand und hielt mich zurück.
Fragend schaute ich ihn an. „Was ist?“
Seine Antwort bestand darin mich zu sich heranzuziehen, mein Gesicht zwischen die Hände zu nehmen und mir einen Kuss zu rauben, bevor er lächelnd von mir abließ und mir sein Handy in die Hand drückte. „Ich bin kurz duschen“, erklärte er und verschwand dann auch schon im Bad.
O-kay. Ich war mir nicht ganz sicher was das gerade gewesen war. Nicht dass ich mich beschweren wollte, aber … naja, auch wenn ich es vermisste, solche Momente kamen bei uns halt nicht mehr so häufig vor. Vielleicht hatte Tayfun ja recht gehabt und es würde mit der Zeit wirklich besser werden.
Mit diesem Gedanken im Kopf ging ich hinüber zum Kühlschrank, schnitt mir eine Paprika auf und setzte mich dann mit meinem Snack an den Computer. Das Dossier von Iesha schob ich erstmal zur Seite und während ich an meinen Paprikastreifen knabberte, lud ich die Bilder von Cios Handy auf meine Festplatte.
Ich stellte schnell fest, dass sie ihm das erste Bild Anfang Dezember geschickt hatte und von da an jeden bis jeden zweiten Tag ein neues. Insgesamt waren es siebenunddreißig.
Unwillkürlich musste ich mich fragen, was wohl im Kopf dieser Frau vor sich ging, dass sie sich ihm so anbiederte, besonders da Cio auf keines der Bilder in irgendeiner Form reagiert hatte. Einem logisch denkenden Wesen müsste doch sofort klar sein, dass es nichts brachte. Na gut, Iesha war zwar nicht dumm, aber bei ihr konnte man schon lange nicht mehr von einem gesunden Geist reden und wenn ich versuchte ihren Gedankengängen zu folgen, würde ich vermutlich nur einen Knoten im Hirn bekommen.
Ich drückte jedes der Bilder auf eine DIN A4 große Seite aus, fügte auf der Rückseite das Datum und die Nachricht der Tages hinzu und begann sie mir nacheinander gründlich anzuschauen, um einen ersten Eindruck zu bekommen. Dabei stellte ich schnell fest, das die ersten zwölf Bilder bei weitem nicht so freizügig waren. Auf den ersten beiden war sie sogar komplett angezogen. Danach zeigte sie sich zwar in Unterwäsche, die zwar sexy war, aber immer noch … na gut, nicht unbedingt züchtig, aber annehmbar. Erst danach kamen die ersten Nacktbilder, in deren Verlauf sie immer mutiger und offener wurde.
Ich war gerade bei Bild Nummer neunzehn angekommen und knabberte an dem letzten Stück meiner Paprika, als Cio aus dem Bad kam und in Shorts zur Küchenzeile ging.
„Möchtest du auch etwas?“
„Nein, ich hab schon“, sagte ich gedankenverloren und blätterte aufs nächste Bild. Auf den meisten Fotos war nicht viel von der Umgebung zu sehen. Nur hier ein Stückchen grauer Tapete und dort die Ecke von einem gerahmten Bild an der Wand. Sie schien ziemlich genau darauf geachtet zu haben, was sie ihm schickte und was darauf alles zu sehen war. Hauptsächlich sie. Stehend, liegend, sitzend. Auf einem befand sie sich auf den Knien, als erwartete sie, jeden Moment von hinten begattet zu werden.
Mein Cousin Anouk war Photograph und ich hatte einige seiner Arbeiten gesehen. Er hatte unter andrem auch schon wunderschöne Aktfotos von Pärchen und einzelne Personen gemacht, bei deren Anblick ich unwillkürlich an die Worte sinnlich und leidenschaftlich hatte denken müssen, aber diese Bilder hier hatten nichts davon. Vielleicht war ich voreingenommen, aber ich fand diese Bilder einfach nur vulgär und aufdringlich.
Ich beschäftigte mich bestimmt eine Stunde mit den Bildern, bevor ich keine Lust mehr hatte, mir Ieshas nackten Hintern anzuschauen und sie in das Dossier steckte. Es gab da noch eine Sache, die ich überprüfen wollte: Die Nummer, von denen aus sie die Bilder geschickt hatte.
Natürlich war ich nicht so dumm zu glauben, dass die Wächter das noch nicht versucht hatten, aber ich wollte, nein musste, mich einfach selber versichern, dass man sie auf diesem Wege nicht auswendig machen konnte. Leider musste ich sehr schnell feststellen, dass es gar keine richtige Handynummer war, sondern das alles über einen Internetprovider verschickt worden war.
Gerade als ich versuchte Ieshas Account zu hacken und mir damit Zugriff auf ihre Daten zu verschaffen, kam Cio in seiner chicen Wächteruniform aus dem Schlafzimmer und gesellte sich zu mir an den Schreibtisch.
„Na Sherlock Holmes, haben sie den Fall schon gelöst?“
„Nein, aber ich weiß jetzt, dass Iesha auf dem Rücken ein Muttermal in Form von Texas hat.“
Er grinste, stützte sich mit einem Arm auf dem Schreibtisch und mit dem anderen auf dem Stuhl ab und schaute mir über die Schulter. „Was machst du da?“
„Ich denke nicht, dass ich ihnen das verraten sollte, Mister Watson. Sie sind ein Gesetzeshüter und müssten mich wohl festnehmen, wenn sie wüssten, dass ich mich gerade illegal an der Datenbank eines Unternehmens zu schaffen mache.“
Cio verzog das Gesicht. „Nein, das solltest du mir wirklich nicht verraten.“
Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und schaute zu ihm nach oben. „Wann bist du wieder da?“
„Wenn nichts dazwischen kommt, dann endet mein Dienst um elf.“ Er beugte sich ein wenig vor und gab mir einen kleinen Kuss. „Du musst nicht auf mich warten. Ich mache dich einfach wach, wenn ich nach Hause komme, damit du dann in die Küchen gehen und deinem hungrigen Mann etwas zu Essen machen kannst.“
Schnaubend griff ich nach seinem Hand und reichte es ihm. „Du kannst mich ja anrufen, wenn du Pause hast.“
„Nichts anderes würde mir einfallen.“ Er nahm das Handy entgegen und ließ es in seiner schwarzen Uniformjacke verschwinden. „Und du beschäftige dich nicht den ganzen Tag mit diesem Müll. Denk dran, hin und wieder musst auch du arbeiten.“
„Ha ha“, machte ich und tat beleidigt, als er sich grinsend einen weiteren Kuss stahl, bevor er sich von mir verabschiedete und sich auf dem Weg zur Arbeit machte.
Ich brauchte noch zwanzig Minuten, bis es mir gelang an die Daten des Accounts zu kommen. Leider brachte mich das meinem Ziel keinen Schritt näher, denn Iesha war nicht dumm genug gewesen, ihren Namen und ihre Anschrift dafür zu benutzen. Ja selbst die E-Mail-Adresse würde sich vermutlich als ein Fake herausstellen. Das ganze lief auf den Namen Jamal Keskin.
Trotzdem zog ich meinen Notizblock heran und notierte mir alles, um zu schauen, ob ich über diesen Namen an weitere Informationen kommen könnte. Vielleicht benutzte Iesha ihn ja als Pseudonym und war darunter auch noch an anderer Stelle im Internet vertreten. Jeder Hinweis konnte wichtig sein.
Ich schloss gerade die Seite und verwischte alle meine Spuren, die darauf hindeuten, dass ich etwas getan hatte, dass im allgemein als illegal bezeichnet wurde, als mein Handy klingelte.
Einen Moment war ich versucht es einfach zu ignorieren, weil es noch in meiner Jackentasche steckte, aber dann siegte meine Erziehung. Es könnte immerhin etwas Wichtiges sein. Zum Beispiel Kasper, oder jemand aus der Tierklinik. Also eilte zu meiner Jacke und heilt mir das Handy ans Ohr, ohne nachzuschauen, wer mich da sprechen wollte. „Ja?“
„Hallo Schatz, ich bin es.“
Papa. „Hey“, sagte ich und bewegte mich wieder zurück zu meinem Schreibtisch. „Was gibt es?“
„Nichts weiter, ich wollte nur mal … Moment.“ Es knisterte in der Leitung, dann war die Stimmer meines Vaters nur noch gedämpft zu hören. „Schau mal oben in der Kommode.“
Meine Mutter antwortete etwas, aber so leise, dass ich es nicht hören konnte.
„Im Schlafzimmer, Gnocchi, wo den sonst?“ Egal was sie darauf erwiderte, es ließ ihn lachen, bevor er sich wieder mir widmete. „Tut mir leid, deine Mutter findet ihren … ähm, sie sucht etwas.“
Am Besten ich fragte erst gar nicht weiter nach. „Schon okay. Was wolltest du denn?“
„Der Postbote war gerade da und hat ein Paket für dich abgegeben.“
„Für mich?“ Gerade war ich dabei den Namen Jamal in die Suchleiste einzugeben, nun aber runzelte ich die Stirn. Nicht nur weil es mich wunderte, dass meine Post bei ihm landete, sondern auch, weil ich mich nicht daran erinnern konnte, etwas bestellt zu haben. „Von wem ist es denn?“
„Von einem Versandhaus.“
Okay, ich bestellte eigentlich nie etwas in einem Versandhaus. „Was ist denn drin?“
„Woher soll ich das wissen, ich besitzt keinen Röntgenblick.“
Also manchmal war es wirklich schwer sich erwachsen zu verhalten und nicht die Augen zu verdrehen. „Dann mach es doch auf.“
Er seufzte, als hätte ich von ihm verlangt sofort herzukommen und meine Fenster zu putzen. „Moment.“
Während ich den Geräuschen lauschte, wie er sich durch das Haus bewegte, zog ich meinen Notizblock heran und malte ein dickes Fragezeichen neben dem Namen.
„Weißt du schon etwas Neues von Ferox?“, fragte mein Vater. Den Geräuschen zu folge, vergriff er sich gerade an der Schublade in der Küche.
„Es geht ihm besser. Ich war gestern da und fahre nachher noch mal hin.“ Das Fragezeichen bekam zwei Hände und zwei Beine. Und da ich gerade schon dabei war, gleich auch noch ein Gesicht mit einem Kussmund. „In ein paar Tagen kann ich ihn wieder abholen.“
„Du hörst dich nicht sehr erfreut an.“
„Naja, ja, ich meine nein.“ Ich seufzte. „Ich hab nur Angst, das jemand noch mal etwas ins Gehege wirft und wir beim nächsten Mal nicht rechtzeitig da sind.“ Neben das erste Fragezeichen kam noch ein zweites. Auch dem verpasste ich ein Gesicht und Gliedmaßen.
„Ich werde mir deswegen etwas überlegen“, versprach Papa. Etwas klapperte.
Die beiden Fragezeichen bekamen noch drei Herzchen. „Ich habe überlegt, ihn ein Weilchen woanders unterzubringen. Vielleicht privat, irgendwo außer Reichweite von Iesha.“
„Das wäre eine Idee. So wäre …“
Ein lauter Knall und das durchdringende Geräusch einer schmerzhaften Rückkoppelung, ließen mich mit einem Zischen das Handy wegreißen. Durch den Schwung flog es mir aus der Hand und segelte quer durch den Raum. Es prallte vom Sessel ab und blieb daneben auf dem Boden liegen.
„Scheiße“, fluchte ich und fasste mir sofort ans Ohr. Mein Trommelfell piepte wie das schrille Klingeln einer Pfeife. Was zur Hölle war das gewesen?
Mir klingelndem Kopf erhob ich mich von meinem Stuhl und sammelte das Gerät wieder ein, doch als ich es mir ans Ohr hielt, war nur ein Besetztzeichen zu hören. Darum beendete ich die Verbindung und rief ihn an. Er knackte in der Leitung. Einmal, zweimal und dann teilte mir eine nette Frauenstimme mit: „Der Teilnehmer ist zur Zeit nicht zu erreichen, bitte versuchen sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal.“
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Verwirrt nahm ich das Handy vom Ohr und starrte auf das Display, in der Annahme, ich hätte mich verwählt, was eigentlich ziemlich unlogisch wäre, da ich die Nummer aus der Kontaktliste benutzt hatte. Und auch die Anzeige auf dem Display, zeigte, dass ich keinen Fehler gemacht hatte.
Verwundert legte ich auf, setzte mich auf den Sessel und probierte es ein weiteres Mal. Dabei rieb ich mir gedankenverloren über mein schmerzendes Ohr, das gerade einen Tinnitus entwickelte.
Wieder knackte es zwei Mal, bevor mir die körperlose Frauenstimme mitteilte, dass ich meinen Vater auf diesem Wege im Moment nicht erreichen würde. Also beendete ich den Anruf ein weiteres Mal und tippte die Nummer des Haustelefons dieses Mal per Hand in das Tastenfeld ein. Die innere Unruhe, die dabei langsam von mir Besitz ergriff, schob ich so gut es eben ging zur Seite, weil es einfach albern war, sich deswegen Sorgen zu machen.
Okay, es hatte laut geknallt und dann war die Verbindung weg gewesen, aber dafür konnte es tausend Gründe geben. Leider bekam ich aber auch bei diesem Versuch nicht zu meinem Vater durch. Also wählte ich die Nummer von meinem Handy. Zwei Mal. Erfolgslos. Es klingelte zwar, aber niemand ging ran.
Jetzt wurde ich doch langsam nervös.
Bleib ruhig, sagte ich mir selber und versuchte es auf dem Handy meiner Mutter, wurde dort aber direkt auf die Mailbox umgeleitet. „Verdammt noch Mal“, fluchte ich und rief erneut auf dem Handy meines Vaters an, kam aber leider zu keinem neuen Ergebnis.
Ich begann auf meiner Unterlippe herumzukauen. Sollte ich vielleicht hinfahren und nachschauen ob alles in Ordnung war, oder übertrieb ich einfach nur.
Mein Blick glitt zum Fenster. Der Himmel war noch dunkler geworden, aber das war nicht der Grund, warum ich nicht hinaus wollte. Cio war nicht hier und er hatte das Auto genommen. Ich wollte da nicht allein raus.
Wahrscheinlich war es nur eine Lappalie und ich reagierte nur so angespannt, wegen dem was in der letzten Zeit so alles los war. Es gab eine ganz einfache Erklärung dafür. Wahrscheinlich ist das Telefon heruntergefallen und kaputt gegangen. Und mein Vater rief nicht über sein Handy zurück, weil er gerade versuchte das Haustelefon zu retten. Genau, das musste es sein.
Diese Überlegung war so zufriedenstellend, dass ich erneut die drei Nummern durchprobierte und darum flehte, dass irgendjemand am anderen Ende abnehmen würde.
Ich wurde nicht erhört und begann wieder auf meiner Unterlippe herumzukauen. Leider passte ich dabei nicht auf und rammte mit meinen Fangzahn so heftig ins Fleisch, dass es nicht nur anfing zu bluten. Der kurze Schmerz ließ mich auch zischen. Mit einem kurzen Lecken meiner Zunge war das zwar wieder behoben, aber im ersten Moment tat es trotzdem weh und mein eigentliches Problem war damit immer noch nicht gelöst.
Okay, ruhig bleiben, es war sicher alles halb so schlimm. Ich würde mich jetzt erstmal wieder meine Aufgabe widmen und es später noch einmal probieren. Also erhob ich mich, setzte mich wieder an meinen Schreibtisch und starrte auf meinen Notizblock. Der Name Jamal Keskin blitzte mir entgegen. Automatisch glitt mein Blick auf das Dossier von Iesha.
Drei Leute hatte sie angegriffen, drei Leute innerhalb von einer Woche. Die Vergiftung von Ferox lag nun zwei Tage zurück. Kasper wurde vor sechs Tagen angeschossen und der Angriff auf Tayfun hatte vor neun Tagen stattgefunden.
Das Echo des Knalls hallte durch meine Erinnerung. Nein, sagte ich mir, griff aber trotzdem wieder zu meinem Handy. Iesha hatte Papa sicher nicht angegriffen. Mein Vater gehörte zu den Themis, er war kampferprobt und könnte höchstens aus der Ferne durch eine Waffe ausgeschaltet werden, aber der Knall hatte definitiv nicht nach einem Schuss geklungen. Ich wusste wie Schüsse sich anhörten, ich hatte selber schon eine Waffe abgefeuert und das war ein ganz anderes Geräusch gewesen.
Trotzdem stieg meine Anspannung, als ich mir das Handy erneut ans Ohr hielt. Nachdem ich weitere fünf Minuten erfolglos versucht hatte, sie irgendwie zu erreichen, sprang ich von meinem Stuhl und begann damit mich anzuziehen.
Es war nichts passiert, ich machte mir grundlos Sorgen und würde meinen Vater den Kopf abreißen, weil er mir so einen Schreck eingejagt hatte, aber ich musste hinfahren. Ich musste mich einfach versichern, dass alles in Ordnung war.
Als ich jedoch fertig angezogen an der Tür stand und im Begriff war die Schlösser zu öffnen, zögerte ich. Es war eine Sache hinauszugehen und mich ohne Cio in meinen Wagen zu setzten, aber eine ganz andere eine halbe Stunde durch die Stadt zu latschen, um meinen Eltern den Marsch zu blasen.
Vielleicht sollte ich Cio anrufen. Aber wenn gar nichts war, würde ich ihn nur unnötig in Alarmbereitschaft versetzen. Vermutlich würde er sogar sofort herkommen, um nachzuschauen, ob alles in Ordnung war. Das konnte ich nicht tun. Er brauchte den Job, wir erwarteten ein Kind.
Unsicher schaute ich von der Tür zu meinem Handy. Es verstrich eine Minute. Dann eine weitere. Ich wälzte das Problem von einer Seite auf die andere und am ende rief ich mir ein Taxi. Wenn wirklich etwas passiert war, konnte ich Cio immer noch anrufen. Aber das musste ich nicht, denn es war nichts geschehen, ich übertrieb einfach nur.
Trotzdem stieg ich zehn Minuten später in ein Taxi und gab dem Fahrer die Adresse meiner Eltern. Meinen Elektroschocker hielt ich dabei fest umklammert. Ich kannte den Kerl nicht und sollte er irgendetwas komisches machen, würde ich ihm das Teil in den Nacken drücken, bis er zuckend in sich zusammensackte.
Nervös und unruhig beobachtete ich während der Fahrt die vorbeiziehende Stadt. Von dem Straßenfest war nichts mehr zu sehen und trotz des trüben Himmels pochte das Leben in den Straßen. Frauen, Männer, Kinder. Familien und Freunde. Sie alle wirkten so … arglos. Keiner von ihnen kümmerte sich noch um die Taten des Amor-Killers.
Das Gedächtnis des Rudels war lang, doch manche Ereignisse verloren an Bedeutung, wenn sie den Leuten nicht immer und immer wieder vor Augen geführt wurden.
Als uns auf halbem Wege zu meinen Eltern ein Krankenwagen entgegen kam, versteiften sich meine Schultern und mein Herz begann einen Zahn zuzulegen. Gleichzeitig schollt ich mich aber auch einen Dummkopf. Nur weil da ein Krankenwagen mit Blaulicht Richtung Hospital fuhr, hieß das noch lange nicht, dass er auch bei meinen Eltern losgefahren war. Die Stadt war große und den Patienten hätten sie überall einsammeln können. Ich durfte mich nicht verrückt machen, sonst würde ich noch durchdrehen.
Trotzdem wurde ich die Anspannung nicht mehr los und als das Taxi zehn Minuten später in die Straße meiner Eltern abbog, überkam mich ein Déjà-vu in Form eines Alptraums.
Vor dem Haus meiner Eltern standen Wächterfahrzeuge und ein Notarztwagen. Die Nachbarn von gegenüber waren aus ihrem Haus gekommen und begafften von ihrem Garten aus neugierig das Geschehen. Links und rechts von dem Gehwegen quetschten sich Schaulustige, um ein Blick auf das zu erhaschen, was geschehen war.
„Nein“, flüsterte ich und war einen Moment völlig erstarrt, als der Taxifahrer langsam den Wagen anhielt und mir mitteilte, dass er nicht weiterfahren konnte.
Ich hörte ihn kaum. Das Einzige was ich wahrnahm, waren die vielen Leute und Fahrzeuge, genau wie die ganzen Blinklichter.
Das war schon einmal passiert. Damals, als die Ailuranthropen noch Jagd auf meine Mutter gemacht hatten. Mein Hund war gestorben, meine Eltern entführt und in unserer Wohnung hatten zwei Leichen gelegen. Wie in Trance griff ich nach der Wagentür und öffnete sie.
„Hey“, rief der Taxifahrer, als ich bereits im Begriff war auszusteigen. „Sie haben noch nicht bezahlt.“
Ich blinzelte ihn an.
„Geld“, machte er deutlich. „Sie müssen für die Fahrt bezahlen.“
Mein Blick glitt zum Taxameter. „Ja“, sagte ich mit seltsam fremde Stimme, griff in meine Jackentasche, um mein Portemonnaie herauszuholen und zog gleichzeitig mein Elektroschocker mit heraus.
Die Augen des Taxifahrers wurden eine Spur größer, als er die Waffe sah, sagte aber nichts, als er bemerkte, wie ich mit zitternden Fingern versuchte das Geld aus meiner Brieftasche zu fischen. Ich hatte keine Ahnung, wie viel ich ihm da gab. Ich nahm einfach zwei Scheine, gab sie ihm nach vorne und stieg dann aus dem Wagen. Dabei hielt ich meinen Elektroschocker die ganze Zeit fest in der Hand.
Erst als meine Füße den Gehsteig berührten, schien mein Körper sich langsam aus der Erstarrung lösen zu können. Bei den ersten Schritten schien ich die Füße noch kaum vom Boden zu bekommen, doch je näher ich dem Haus meiner Eltern kam, desto schneller wurde ich. Am Ende rannte ich, während ein schmerzlicher Gedanke in meinem Kopf Gestalt annahm. Iesha hatte wieder zugeschlagen. Sie hatte meine Eltern angegriffen und nun war die Straße voller Einsatzkräfte.
Mit Ellenbogenkraft arbeitete ich mich durch die Schaulustigen und erntete dafür mehr als einen empörten Ruf, aber das war mir völlig egal. Ich musste zum Haus, ich musste erfahren was geschehen war. Oh Gott, was hatte Iesha nur getan?
Als ich das Absperrband erreichte und darunter durchtauchen wollte, erschien direkt vor mir ein braunhaariger Wächter. „Moment“, sagte er und wollte nach mir greifen.
Instinktiv wich ich vor ihm zurück und hob meinen Elektroschocker. „Nicht anfassen.“ Es war kein Angriff, es war nur eine Warnung, mit der ich mich selber schützen wollte. Ich hatte überhaupt nicht vor meinen kleinen Schutzengel einzusetzen, aber das sah der Wächter wohl anders.
Er sah den Elektroschocker, machte einen Schritt vor mir zurück und legte wachsam die Hand auf die Pistole an seinem Gürtel, als rechnete er damit, dass ich mich jeden Moment auf ihn stürzen würde. „Bitte, nehmen sie die Waffe herunter.“
Scheiße. Mit großen Augen schaute ich von ihm zu dem Schocker und wieder zurück und fragte mich, ob er wahnsinnig geworden war.
„Ich werde mich nicht wiederholen.“
Ein paar der Schaulustigen um uns herum schnappten nach Luft und traten eilig den Rückzug an. Dadurch machten sie auch die anderen auf uns aufmerksam und innerhalb von Sekunden war der Gehweg um mich herum leer und ich stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
„Ich muss ins Haus“, sagte ich und spürte, wie mein Herzschlag sich weiter beschleunigte.
„Darüber können wir reden, sobald sie die Waffe haben sinken lassen.“
„Nein, sie verstehen nicht … hier wohnen meine Eltern.“ Ich merkte, wie sich von der Seite weitere Wächter nährten und konnte nicht verhindern, dass mein Atem sich beschleunigte. Owen war ein Wächter gewesen, genau wie Darja und sie beide hatten es nicht gut mit mir gemeint.
Der braunhaarige Wächter besah mich mit einem sehr merkwürdigen Blick. „Wir werden mit ihren Eltern reden, aber erst geben sie uns die Waffe.“
Auf keinen Fall. Mein Haar schlug mir ins Gesicht, als ich den Kopf hektisch hin und her schüttelte. Das konnte ich nicht, ich brauchte sie zum Schutz. „Sie gehört mir.“ Ich biss mir auf die Lippe und ließ meinen Blick einen Moment zum Haus flitzen. Ich musste wissen, was mit meinen Eltern los war. „Lassen sie mich ins Haus.“
„Nicht mit der Waffe.“ Der Braunhaarige streckte die Hand aus, als wollte er mich mit dieser Geste bitten, ihm den Schocker auszuhändigen, doch er sorgte damit nur davor, dass ich hastig vor ihm zurückstolperte, bis ich den Zaun unseres Gartens im Rücken spürte.
Die Anzahl der Wächter um mich herum hatte sich auf sieben erhöht und auch wenn sie nicht näher kamen, si behielt jeder Einzelne von ihnen mich wachsam im Auge.
Meine Hände begannen zu zittern und ich spürte wie die Panik in mir aufstieg. Einen kurzen Moment interessierten meine Eltern mich nicht mehr, es war nur noch wichtig, wie ich mich dieser Situation entziehen konnte, ohne dass sie mich in die Finger bekamen. Wächter waren nicht gut, ich durfte mich nicht von ihnen erwischen lassen, sie waren nicht wie Cio. „Cio“, sagte ich leise. „Redet mit Cio.“ Sie mussten ihn kennen, er war schließlich einer von ihnen.
„Wir werden mit Cio reden“, versprach der Kerl und klang wirklich aufrichtig. „Aber vorher müssen sie mir den Elektroschocker geben.“
Meine Finger begannen so stark zu zittern, dass ich die Hand fester um das kleine Gerät schlang, damit es mir nicht aus der Hand fallen konnte. Dabei betätigte ich versehentlich den Schalter. Der Schocker schaltete sich ein und das unverwechselbare tackernde Geräusch erklang zusammen mit bläulich weißen Blitzen, die durch den relativ dunkeln Tag noch deutlicher zu sehen waren.
Innerhalb von Sekunden waren sieden Pistolen auf mich gerichtet.
„Legen sie die Waffe nieder und heben sie die Hände über den Kopf!“, befahl der Braunhaarige.
Meine Hände klammerten sich so fest um den Elektroschocker, dass sie ganz weiß wurden und mein Atem fiel mittlerweile so hektisch über meine Lippen, dass man fast schon von hyperventilieren sprechen konnte. Ich musste hier weg, sofort!
Hastig sah ich mich nach einer Fluchtmöglichkeit um, ohne die Wächter dabei aus den Augen zu lassen und bemerkte dabei das vordere Gartentor. Es war einen knappen Meter von mir entfernt. Ich musste nur vier Zahlen eingeben, dann könnte ich durch den Garten ins Haus zu meinen Eltern flüchten, aber … was wenn meine Eltern gar nicht da waren? Was wenn Iesha … oh Gott, was sollte ich tun.
Ein Wimmern kam über meine Lippen. Das tackernde Geräusch dröhnte in meinen Ohren und als sich dann ein etwas klein geratener Wächter links neben mir auffällig bewegte, wirbelte ich zu ihm herum und stieß den Schocker in seine Richtung. „Bleiben sie weg!“, schrie ich, aber er hatte gar nicht näher kommen wollen, wie mir bereits in der nächsten Sekunde klar wurde, als mich jemand von hinten an der Schulter packte.
Ein Ablenkungsmanöver, wurde mir klar, als im gleichen Moment ein zweite Wächter herabgesprungen kam, mein Handgelenk packte und meinen Arm schmerzhaft gegen den Zaun knallte, sodass mir der Elektroschocker aus der Hand fiel.
„Nein!“, schrie ich und begann nach hinten auszutreten, aber das brachte nichts. Irgendjemand verdrehte mir den Arm auf den Rücken und presste sich mir seinem ganzen Körper gegen mich. Das war der Moment, in dem ich aus Leibeskräften zu schreien begann.
Ich war mir nicht ganz sicher, was als nächstes geschah. Die Bilder vor meinen Augen waren wie Momentaufnahmen, völlig zusammenhanglos und von Angst und Panik begleitet. Ich spürte Handschellen an meinen Armen. Jemand warnte mich davor meine Gestalt zu wandeln. Eine Frau sprach beruhigend auf mich ein, während ich auf dem Boden saß. Ein Auto, ich kauerte auf dem Rücksitz. Durch das Trenngitter wurde ich von wachsam von einem Mann beobachtet, der auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. Arme griffen nach mir und zerrten mich heraus. Vor mir ragte ein großes Backsteingebäude auf. Männer und Frauen in schwarzen Uniformen. Eine vergitterte Tür, eine lange Bank. Wieder eine Frau, die leise auf mich einredete. Als sie die Hand nach mir ausstreckte, begann ich wieder panisch zu schreien.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich mich in diesem seltsamen Zustand befand, oder wie viel Zeit vergangen war, bis die Welt um mich herum sich wieder normalisierte und ich begann meine Umgebung wieder wahrzunehmen. Es war, als erwachte ich aus einer Trance und im ersten Moment war ich völlig orientierungslos.
Ich kauerte in der Ecke eines trostlosen Raumes. Drei Wände waren aus Beton, eine mit Gitterstäben. Es gab ein kleines Fenster, ein Klo in der Ecke und mehrere Metallbänke. Das war auch schon alles.
Meine Arme hatte ich dich um meinen Körper geschlungen, meine Knie angezogen und meine Brille war verschwunden. Meine Finger waren eiskalt. Ich war allein in diesem Raum, aber irgendwo konnte ich das leise Murmeln von Stimmen hören. Nein, das war kein Raum, das war eine Zelle und ich war schon einmal hier gewesen.
Ich blinzelte, als ich begann mich daran zu erinnern, was geschehen war. Der Knall am Telefon, das Taxi, die Wächter, die mich umzingelt hatten.
Mein Atem wurde wieder schneller. Die Wächter, sie mussten mich festgenommen haben und jetzt … jetzt saß ich in einer Zeller. Oh Gott, ich saß in einer Zeller und … was war mit meinen Eltern? Wie lange würden sie mich hier festhalten?
Ich kniff die Augen und versuchte meinen immer noch viel zu schnellen Herzschlag zu beruhigen. Entspann dich, atme langsam ein und aus. Ich musste nur erklären, was hier los war, dass es sich um ein Missverständnis handelte und ich nicht vorgehabt hatte, irgendjemanden anzugreifen. Dann würden sie mich sicher wieder gehen lassen. Doch mein Körper verweigerte mir den Dienst. Ich war vor Angst geradezu gelähmt und wusste nicht was ich tun sollte. Sollte ich rufen und auf mich aufmerksam machen, oder würde meine Situation sich dadurch nur noch verschlimmern?
Das Murmeln der Stimmen wurde lauter und erst nach einigen Sekunden wurde mir klar was das bedeutete. Da näherte sich jemand der Zelle. Nein, es waren mehrere Leute.
Unwillkürlich drängte ich mich mit dem Rücken näher an die Wand und konnte spüren, wie die Angst sich wieder in mir festkrallte. Mein Blick war auf das Gitter gerichtet und so sah ich die vier Personen, die sich näherten sofort. Es waren zwei Frauen und zwei Männer. Drei von ihnen trugen die Uniformen der Wächter, eine der Frauen trug eine gelbe Kluft mit der Aufschrift Notarzt und hielt einen Koffer in der Hand.
„Da ist sie“, sagte einer der Männer. Ich erkannte ihn als den braunhaarigen Wächter. Er hatte einen frischen Kratzer an der Stirn.
Die Wächterin schloss die Zelle auf und trat dann zur Seite, um den anderen Platz zu machen.
Ich spürte wie mein Herzschlag sich wieder beschleunigte und ich wieder anfing zu zittern, als sie hereintraten.
Die Notärztin schenkte mir ein freundliche und besänftigendes Lächeln, als sie sich mir vorsichtig näherte. Sie war schlank, hochgewachsen und hatte dunkles Haar. „Hallo. Mein Name ist Amanda und man hat mich gerufen, damit ich ihnen helfe.“
Ich starrte sie nur an. Ich wollte eine Hilfe, ich wollte hier raus. Ich wollte wissen was mit meinen Eltern war und ich wollte zu Cio, aber irgendwie war ich nicht in der Lage meinen Mund zu öffnen und irgendwas davon zu sagen. Das Einzige was ich konnte, war sie mit großen Augen anzusehen, als sie unter den wachsamen Blicken der Wächter ihren Koffer unweit von mir auf einer Bank abstellte.
„Gestatten sie es mir, dass ich sie untersuche?“
Die Frage reichte, damit sich mein Kopf in Bewegung setzte. Einmal nach links, einmal nach rechts. Ich wollte jetzt nicht angefasst werden, auf keinen Fall.
„Es wäre aber wichtig. Sie hatten anscheinend einen Zusammenbruch.“
„Nicht anfassen“, flüsterte ich und zog meine Beine noch näher an mich mich.
Sie musterte mich einen Moment, setzte sich dann aber still neben ihrem Koffer auf die Bank. Dabei fiel mir sehr wohl auf, dass sie mir noch näher gekommen war. „In Ordnung, vielleicht sollten wir uns erstmal unterhalten. Wissen sie warum sie hier sind?“
Weil ich mich ohne Cio auf die Straße gewagt hatte.
Sie wartete, aber als keine Antwort kam, fragte sie mit sanfter Stimme: „Oder haben sie daran keine Erinnerung?“
Natürlich erinnerte ich mich und mein Schweigen würde mich nicht weiter bringen, deswegen zwang ich mich, meinen Mund zu öffnen. „Ich wollte zu meinen Eltern.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, sie haben versucht einen Wächter anzugreifen.“
Bitte was? „Ich habe niemanden angegriffen.“
„Sie sind mit einem Elektroschocker auf einen Wächter losgegangen.“
„Nein“, sagte ich und biss die Zähne zusammen. „Ich wollte zu meinen Eltern. Den Schocker brauche ich, mein Vater hat ihn mir gegeben. Damit kann ich mich schützen.“
Einen kurzen Moment schwieg sie. Dann fragte sie wieder mit dieser sanften Stimme: „Vor was müssen sie sich denn schützen?“
Ich biss die Zähne zusammen. Ihnen zu sagen, dass ich mich damit unter anderem vor den Wächtern schützen konnte, würde in diesem Moment wohl nicht gerade dazu beitragen, sie von meiner geistigen Gesundheit zu überzeugen.
In die Stille hinein, die sich ausbreitete, als sie auf meine Erwiderung warteten, erklangen Schritte und kurz darauf erschien ein großer, bulliger Wächter mit einer großen, bulligen Nase an der Zelle. „Joyce, hast du noch die Akte von der Ruhestörung gestern Abend?“
Die Wächterin nickte. „Liegt auf meinem Schreibtisch.“
„Danke.“ Der Mann wollte sich schon wieder abwenden, doch da fiel sein Blick auf mich und auf seiner Stirn erschien eine tiefe Furche. „Ist das nicht Elicios Gefährtin?“
„Cio“, flüsterte ich, als ich seinen Namen hörte.
Die drei Wächter in der Zelle schauten erst ihren Kollegen an, dann mich.
„Ihr Name ist Zaira Steele“, sagte die Wächterin. „Wir haben ihre Personalien aus ihrem Ausweis.“
„Sie hat mich angegriffen“, erklärte der braunhaarige Wächter. „Sie tauchte an meinem letzten Einsatzort auf, brabbelte seltsames Zeug und ging dann mit einem Elektroschocker auf mich los.“
Der große Mann musterte mich erneut. Ich brauchte einen Moment, um mich an ihn zu erinnern. Er war uns auf dem Parkplatz vor dem Einkaufsmarkt begegnet. Sein Name war Gregor.
„Ich glaube, sie ist geistig ein wenig labil“, fügte der Braunhaarige noch hinzu.
Ich biss die Zähne zusammen. Vielleicht ging es mir nicht gut, aber ich war sicher nicht labil.
Gregor ließ sich nicht anmerken, was in seinem Kopf vor sich ging. „Ich werde Elicio benachrichtigen“, verkündete er und verschwand dann wieder irgendwo im Gebäude.
Nach diesen Worten wäre ich fast in Tränen ausgebrochen. Sie wollten Cio holen. Wenn Cio hier war, würde alles wieder gut werden. Ich musste nur noch ein wenig warten.
„Haben sie das gehört?“, fragte die Notärztin mich. „Man wird ihren Gefährten verständigen.“
„Ich bin nicht taub.“ Auch wenn ich auf dem linken Ohr noch immer ein leises Klingeln hörte.
„Wir könnten die Wartezeit doch dazu nutzen, sie mal kurz zu untersuchen, hm?“
Ich fasste sie wachsam ins Auge. „Nein.“
„Aber sie hatten …“
„Nicht anfassen“, sagte ich leise, aber in meine Stimme hatte sich ein drohendes Knurren mit eingeschlichen und ich spürte, wie meine Haut zu prickeln begann. Der Wolf kratzte unter der Oberfläche. Das alles hier war einfach zu viel.
Sie seufzte mit zusammengepressten Lippen. „Darf ich sie dann untersuchen, wenn ihr Gefährte eingetroffen ist?“
Ich ersparte es mir ihr ein weiteres Nein vor den Latz zu knallen. Mir ging es gut, ich brauchte mich nicht untersuchen zu lassen, denn ich wusste ganz genau was geschehen war. Sie hatten mich in die Enge getrieben und in Panik versetzt. Sie hatten mich gegen meinen Willen angefasst und in eine Zelle gesperrt. Ich war weder verrückt noch labil, ich war ein in die Ecke gedrängtes Tier.
Da diese Amanda wohl kapierte, dass ich nicht gewillt war mir ihr darüber, oder etwas anderes zu sprechen, begann sie sich leise mit den Wächtern zu unterhalten, während ich meinen Blick auf die offene Zellentür gerichtet hatte und darauf wartete, dass Cio dort auftauchte.
Fünf Minuten vergingen, zehn, fünfzehn. Da draußen auf dem Korridor eine Uhr hing, konnte ich das sehr gut nachverfolgen.
Es waren genau siebenundzwanzig Minuten vergangen, als draußen wieder Schritte zu hören waren, die sehr eilig in unsere Richtung kamen. Drei Männer in Uniform tauchten vor der Zelle auf, doch ich hatte nur Augen für einen von ihnen.
„Cio“, sagte ich leise und Tränen stiegen mir in die Augen.
„Oh mein Gott, Schäfchen.“ Mit besorgter Mine eilte er an den Wächtern vorbei in die Zelle, fiel vor mir auf die Knie und schoss mich ohne nachzudenken in die Arme. „Alles ist gut“, sagte er leise, als ich mein Gesicht an seiner Jacke vergrub und meine Finger in dem Stoff verkrallte.
Ich konnte nicht antworten. Ich war zu nichts anderem fähig, als mich an ihm festzuhalten, während stimme Tränen über meine Wangen liefen.
„Ich bin hier“, versicherte er mir und strich mir mit der einen Hand beruhigend über den Rücken. Die andere hatte er auf meinen Kopf gelegt. „Dir kann nichts passieren.“
Ein paar Minuten war nichts anderes zu hören, als Cios beruhigende Worte. Mein Körper zitterte noch immer, doch nun vor Erleichterung. Seine Anwesenheit erlaubte es meinem Herzen auch endlich sich ein wenig zu beruhigen. Darum wollte ich ihn auch nicht loslassen, als er sich ein wenig von mir löste, um mir ins Gesicht sehen zu können.
„Was ist geschehen?“, fragte er mich sanft und wischte mir eine Träne von der Wange. „Wo ist deine Brille?“
Ich schaute ihn nur an. Dann glitt mein Blick langsam zu dem braunhaarigen Wächter.
Er drehte den Kopf um zu erfahren, wen ich da anschaute. „Warum sitzt sie in dieser Zelle?“
„Weil sie mich mit einem Elektroschocker angegriffen hat“, erklärte der Braunhaarige.
Cios ganzer Körper erstarrte. „Was hast du gesagt?“ Seine Stimme war gefährlich leise geworden. Darin war kein Knurren, doch seine Augen waren nicht länger die eines Menschen.
Die Atmosphäre im Raum schien sich zu verändern. Während die Lykaner Wölfe gewesen, hätte sich ihnen allen das Fell gesträubt.
Auch der Braunhaarige schien das zu bemerken. Sein wachsamer Blick war nicht länger auf mich gerichtet. „Ich habe gesagt, sie hat mich mit einem Elektroschocker attackiert. Darum war es nicht nur mein Recht, sondern auch meine Pflicht …“ Er kam nicht mehr dazu seinen Satz zu beenden. In dem einen Moment redete er noch, im nächsten wurde von Cio an der Kehle gepackt und mit dem Rücken gegen das Gitter gestoßen.
Der Mann begann sofort zu röcheln und panisch mit den Händen an Cios Armen zu zerren, doch Cio war ein Umbra. Seine Fähigkeiten und seine Stärke war denen von anderen Lykanern bei Weitem überlegen und er war so zornig, dass ich wohl nicht die Einzige war, die glaubte, er würde ihm gleich das Genick brechen.
„Was hast du ihr angetan?!“, fauchte Cio dem Mann ins Gesicht.
Die Notärztin sprang erschrocken auf die Beine, während die anwesenden Wächter auf die beiden Männer zueilten und versuchten Cio von seinem Kollegen wegzureißen.
„Was hast du mit ihr gemacht?!“, brüllte er ihn an.
Der Mann konnte nur mit einem panischen Röcheln antworten.
„Lass los, verdammt noch mal“, fluchte ein anderer Wächter. Erst jetzt erkannte ich ihn als Vincent, Cios Partner.
Auf der anderen Seite stand Gregor und versuchte Cios Finger wegzubiegen. „Du bringst ihn um!“
„Das hat er verdient!“, sagte Cio so zornig, dass es selbst mir eiskalt den Rücken herunter lief.
Ich musste ihn aufhalten. Ich hatte keine Ahnung was in ihn gefahren war, aber wenn Cio glaubte mich schützen zu müssen, würde er töten. Er hatte es schon einmal gemacht. „Cio“, sagte ich leise. Eigentlich hätte meine flehende Stimme die Geräusche der Rangelei nicht übertönen dürfen, aber er riss sofort den Kopf herum, um nach mir zu sehen.
Vincent und die anderen Wächter nutzten den Moment seiner Unaufmerksamkeit und schafften es endlich ihn von dem Kerl loszureißen.
Der Mann sackte hustend und röchelnd am Gitter zusammen, während die anderen durch den Schwung zurück stolperten und Schwierigkeiten hatten, Cio unter Kontrolle zu bekommen.
„Hör auf!“, blaffte der blonde Vincent seinen Partner an und drängte ihn mit den anderen an die Rückwand der Zelle. Links und rechts hielt jeweils ein Mann einen Arm fest, Vincent hatte seine Hände an Cios Brust und hielt ihn so fest. „Beruhige dich endlich!“
„Ich werde diese Missgeburt umbringen!“, fauchte Cio. „Er wird ihr nie wieder zu nahe kommen!“
Vincents Blick fiel einen kurzen Moment auf mich. „Wovon zur Hölle redest du? Niemand kommt deiner Frau zu nahe.“
Cio knurrte. „Zaira besitzt diesen Elektroschocker zur Verteidigung! Sie hätte Jacob nicht attackiert, wenn er vorher nicht irgendwas gemacht hat! Sie würde niemals grundlos angreifen!“
„Ich habe gar nichts gemacht“, krächzte Jacob mit rauer Stimme und bekam dann einen Hustenkrampf. Die Wächterin und die Notärztin hockten bei ihm und schauten sich seinen Hals an. „Sie wollte in das Haus, in dem wir einen Einsatz hatten und als ich sie aufhalten wollte, hatte sie plötzlich den Elektroschocker in der Hand und hat sich geweigert ihn auszuhändigen.“
Die Wächterin Joyce nickte. „Ich war dabei, ich habe es gesehen. Wir haben ihr gesagt, sie soll die Waffe sinken lassen, daraufhin hat sie den Elektroschocker eingeschaltet.“
„Das war ein Versehen“, sagte ich leise und bekam damit die allgemeine Aufmerksamkeit. „Ich habe mit Papa telefoniert und dann hat es geknallt. Ich bin zu ihrem Haus gefahren und da waren überall die Wächter. Er wollte meinen Schocker haben, ich konnte ihn ihm nicht geben. Sie haben ihre Waffen gezogen.“
„Ihr habt mit euren Waffen auf sie gezielt?!“ Cio sah aus, als wollte er gleich einen Massenmord begehen.
„Sie hat ihren Elektroschocker eingeschaltet“, verteidigte dich Joyce sofort. „Sie erweckte den Eindruck geistig verwirrt zu sein.“
„Sie hätte einfach nur ihre Waffe sinken lassen müssen“, krächzte Jacob.
Tief aus Cios Kehle drang ein drohendes Knurren. „Sie hat ein Trauma, du Arschloch! Sie braucht dieses Teil um sich sicher zu fühlen. Ihr habt ihr Angst gemacht, als ihr ihn ihr wegnehmen wolltet und dann habt ihr sie auch noch in eine verdammte Zelle gesperrt!“ Seine Muskeln wölbten sich, als versuchte er sich loszumachen, um sich erneut auf den anderen Mann zu stürzen.
Vincent schaute wachsam von Cio zu seinen Opfer. „Ihr solltet Jacob rausbringen, damit sich die Situation ein wenig entspannen kann.“
Cios Reaktion darauf war ein tiefes Grollen. Er ließ den Wächter keinen Moment aus den Augen, als er von Joyce und der Notärztin auf wackligen Beinen aus der Zelle gebracht wurde. Die anderen drei Wächter hielten ihn trotzdem noch fest, bis er irgendwann knurrte: „Lasst mich endlich los!“
„Bleibst du auch schön artig hier?“, fragte Vincent. „Wenn du Jacob folgst, werde ich dich in dieser Zelle einsperren, bis du dich wieder beruhigt hast.“
„Der Mistkerl soll sich einfach fernhalten.“ Er zerrte an seinen Armen. „Und jetzt nehmt eure Finger weg.“
Das taten sie auch. Langsam und sehr wachsam, als wollten sie sich sofort wieder auf ihn stürzen, sollte er auch nur eine falsche Bewegung machen. Doch Cio beachtete sie nicht weiter. Er machte sich einfach frei, stieß Vincent dann auch noch grob mit der Schulter an, als müsste er seinen Frust irgendwie loswerden und hockte sich dann wieder zu mir.
Sobald er meine Wange berührte und die Reste der Tränen wegwischte, schien der ganze Zorn sich einfach aufzulösen. „Na komm“, sagte er sanft und nahm meine Hand. „Ich bringe dich nach Hause.“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich muss wissen, was mit Mama und Papa ist. Ich weiß nicht was passiert ist. Da war nur dieser Knall und sie wollten mich nicht ins Haus lassen.“ Meine Finger krampften sich verzweifelt um seine Hand. „Ich glaube Iesha hat schon wieder etwas gemacht.“
Cio zögerte. „Okay, der Reihe nach, was ist passiert?“
Also erzählte ich es ihm. Er hörte aufmerksam zu. Erst als ich zu der Stelle kam, wo die Wächter mich in die Enge getrieben und in eine Zelle gesteckt hatten, wurden seine Lippen schmal. Einen kurzen Moment sah er aus, als wollte er sich doch noch mal auf die Suche nach Jacob machen, aber am Ende sagte er nur. „Okay, ich werde herausfinden, was passiert ist und dann kümmern wir uns darum, in Ordnung?“
„Ich mache das“, erbot sich Vincent, der die ganze Zeit aufmerksam zugehört hatte. „Wartet hier.“
Cio widersprach nicht, als sein Partner zusammen mit dem namenlosen Wächter die Zelle verließ, obwohl ihm genauso klar sein musste wie mir, dass Vincent nur dafür sorgen wollte, dass Cio und Jacob sich nicht noch einmal über den Weg liefen. Er zog mich einfach nur auf die Beine, nahm mich vorsichtig in den Arm und hielt mich fest.
„Es war ein Missverständnis“, sagte Gregor und trat zu uns. Sofort versteifte ich mich ein wenig. „Du solltest es Jacob nicht nachtragen. Außerdem hat er seine Abreibung von dir bereits bekommen.“
Cios Augen verengten sich zu wütenden Schlitzen. „Sag mir nicht was ich zu tun habe. Für euch mag das vielleicht ein unbedeutender Zwischenfall sein, aber für Zaira …“
„Nicht“, sagte ich leise.
Er drückte die Lippen aufeinander.
„Jacob konnte es nicht wissen.“
Dem konnte Cio leider nicht widersprechen und so drückte er nur missmutig die Lippen aufeinander, bis Vincent wieder zu uns in die Zelle kam.
„Ich hab mit Joyce gesprochen“, sagte er auch gleich ohne Umschweife. „Wie es aussieht, hat eine Frau Steele einen Notruf getätigt. Joyce wusste nicht genau was los war, nur dass es eine Explosion in der Küche gegeben haben sollte und der Mann von Frau Steele dabei verletzt worden ist.“
„Papa“, flüsterte ich.
„Was für eine Explosion?“, wollte Cio wissen.
„Das weiß ich nicht, wir haben noch einen Bericht vorliegen. Vielleicht ist etwas beim Kochen schiefgelaufen, oder etwas mit der Stromleitung und den Küchengeräten.“
„Papa hat nicht gekocht“, widersprach ich sofort. „Wir haben telefoniert.“
Vincent schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. „Dann hat es wahrscheinlich irgendwo einen Kurzschluss gegeben.“
Und warum hatte dann das Telefon nicht mehr funktioniert? Oder warum waren da so viele Wächter gewesen? Das passte nicht zusammen.
Cio strich mir beruhigend über den Rücken, als er merkte, wie meine Schultern sich wieder anspannten. „Weißt du wo ihre Eltern jetzt sind? Noch im Haus, oder …“ Er beendete die Frage nicht, das brauche er auch nicht.
Nun wurden Vincents Lippen ein wenig schmaler. „Joyce sagte, sie wurden ins Krankenhaus gebracht. Der Frau geht es gut, aber der Man wurde bei der Explosion verletzt.“
„Oh Gott“, war alles was ich sagen konnte, dann drohten meine Beine einfach unter mir nachzugeben.
°°°
„Mama!“ Als ich meine Mutter mit zwei Wächtern in dem Wartebereich der Station entdeckte, riss ich mich von Cios Hand los und rannte zu ihr. Wir waren bestimmt schon seit zwanzig Minuten im Krankenhaus, hatten uns aber durchfragen müssen, um herauszufinden, wo genau mein Vater im Moment war, da man ihm bisher kein Zimmer zugewiesen hatte. Das ließ mich hoffen, dass seine Verletzungen nicht so schlimm waren, wie ich die ganze Zeit angenommen hatte. Leider wurde meine Hoffnung mit einem Schlag zunichte gemacht, als ich das verweinte Gesicht meiner Mutter sah, dass sie sich ununterbrochen mit einem völlig aufgeweichtem Taschentuch abtupfte.
„Donasie“, war alles was sie sagte, bevor ich sie in die Arme schloss. Sie zitterte am ganzen Körper und das machte mir noch größere Angst, als die Nachricht, dass mein Vater wegen dieser Explosion ins Krankenhaus gebracht worden war.
„Was ist los?“, fragte ich, als sie sich ein Stück von mir trennte und sich wieder mit dem Taschentuch über das Gesicht wischte. „Die Wächter haben nur gesagt, es gab eine Explosion.“
Cio trat mit besorgter Mine neben mich und berührte mich vorsichtig am Arm. „Und das Raphael ins Krankenhaus musste.“
„Es war eine Bombe“, sagte Mama halb verzweifelt und schaute kurz zu den Wächtern. „Eine Paketbombe. Ich war gerade oben und habe meinen Lieblings-BH gesucht, als ich den Knall hörte. Ys-oog lag bewusstlos in der Küche und da war überall Blut. Seine Hände und sein Gesicht.“ Sie schluchzte auf.
Jegliche Farbe wich aus meinem Gesicht und mein Herz setzte tatsächlich einen Schlag aus. Mir wurde schlecht. „Nein“, flüsterte ich, denn ich brauchte nur einen kurzen Augenblick, um mir über die ganze Tragweite dieser Worte klar zu werden. Papa hatte mich angerufen, weil ein Paket seine Adresse geschickt worden war, ein Paket mit meinem Namen drauf. Er hatte es nur geöffnet, weil ich ihn darum gebeten hatte. Ich war schuld, dass es in seinen Händen explodiert war.
„Schäfchen!“, rief Cio erschrocken, als die Welt um mich herum plötzlich begann sich zu wanken und schwarze Flecken sich vor meinen Augen auftaten. Er griff nach meinen Armen und als ich das nächste Mal blinzelte, saß ich auf einem Stuhl und er drückte mir den Kopf zwischen die Beine, während er mir besorgt über den Kopf strich. „Atme einfach“, sagte er. „Nur atmen.“
„Donasie.“ Mama kniete vor mir und hatte eine Hand auf mein Bein gelegt. „Alles ist gut.“
Ich konnte nicht antworten. Er war wegen mir verletzt worden. Iesha hatte meine Vater angegriffen. Mein ganzer Körper begann unkontrolliert zu zittern.
„Hey, schhh, ganz ruhig.“ Cio wickelte seine Arme halb um meine Schultern in meinen Kopf und zog mich an seine Brust.
„Sollen wir einen Arzt holen?“, fragte ein Mann. Er musste zu einem den Wächtern gehören.
„Es ist meine Schuld“, sagte ich mit lebloser Stimme.
„Nein“, sagte Cio sofort. „Du kannst nichts …“
„Das Paket war für mich“, unterbrach ich ihn und brachte ihn damit sehr wirksam zum Schweigen. Ich konnte spüren, wie sich sein ganzer Körper versteifte. „Er hat mich angerufen. Er hat gesagt, da wäre ein Paket für mich gekommen. Ich wollte dass er es aufmachte, um mir zu sagen, was darin ist. Dann war da dieser laute Knall.“
Zwei Schuhe traten in mein Sichtfeld. Männerschuhe. Ich schreckte automatisch zurück.
„Ganz ruhig“, sagte Cio sofort und setzte sich auf den Stuhl neben mich, um mich wieder in den Arm zu ziehen. „Ich bin hier, dir kann nichts passieren.“
„Das ist nicht wahr.“ Ich drehte den Kopf und sah sein besorgten Blick. „Tayfun.“ Meine Stimmer war ganz leise. „Kasper. Ferox. Papa.“ Mein Blick wanderte zu Mama. „Wer ist der nächste.“
„Niemand“, knurrte Cio. „Wir kriegen Iesha, sie wird niemanden mehr verletzen?“
„Iesha?“, fragte der rechte Wächter. Er war sehr attraktiv mit seinem dunkeln Haar und dem feingemeißelten Gesicht.
„Sprechen sie mit meiner Vorgesetzten. Wächterin Elaine, sie ist mit dem Fall betraut. Bei ihr bekommen sie alle Einzelheiten.“
„Ich würde aber gerne von ihnen …“ Der Mann verstummte, als er Cio mordlüsternen Blick auf sich spürte.
„Holen sie sich ihre Informationen bei Wächterin Elaine. Meine Gefährtin steht im Moment für keine Befragung zur Verfügung.“ Er durchbohrte den Kerl beinahe mit seinen Augen. „Frau Steele hat ihnen sicher schon alles nötige gesagt. Wenn sie noch etwas wissen möchten, können sie sich morgen an mich wenden.“
Das passte den Kerl nicht. Natürlich sah er an der schwarzen Uniform, dass Cio selber ein Wächter war, aber auch von Kollegen ließ man sich nicht gerne bei der Arbeit behindern. „Nun gut“, sagte er dann mit leichter Verärgerung. „Bitte verlassen sie die Stadt nicht und halten sie sich für weitere Befragungen zur Verfügung, wir werden mit Sicherheit noch mal auf sie zukommen.“ Bei dem letzten Teil warf er Cio einen scharfen Blick zu, doch der bemerkte es nicht mal.
Auch meine Mutter schien die Anwesenheit der Wächter mit einem Schlag vergessen zu haben, denn ein etwas klein geratener Vampier in einem weißen Kittel kam mit einem ersten Ausdruck im Gesicht zügig auf uns zu.
Meine Hand packte sofort die von Cio und drückte sie so fest, dass es ihm eigentlich wehtun müsste, aber er zuckte nicht einmal mit der Wimper.
„Doktor Ziegler.“ Mama sprang sofort auf die Beine und griff in einer nervösen Geste nach den beiden Ketten an ihrem Hals. Eine tränenförmige Phiole und ein silbernes Medaillon. Beides Dinge, die sie einmal von meinem Vater bekomme hatte. Ihr Gesicht war äußerst angespannt. „Wie geht es ihm?“
Doktor Ziegler begrüßte Cio und mich mit einem knappen nicken, konzentriere sich dann aber auf meine Mutter. „Er war zwischenzeitlich wach, schläft aber nun. Wir haben ihm etwas gegen die Schmerzen und ein Beruhigungsmittel gegeben.“
Übersetzt: Sie hatten ihn ruhig gestellt.
„Er wird gerade fertig gemacht und dann auf sein Zimmer gebracht, dann können sie ihn sehen.“
Auch wenn Mama ein wenig erleichtert schien, wurde der Griff um ihre Ketten etwas fester. „Wird er … er kommt doch wieder in Ordnung, oder?“
Der Arzt antwortete mit einem knappe nicken und in dem Moment fiel mir auf, wie viel ich in letzter Zeit mit Ärzten, Pflegern und Krankenhäusern zu tun hatte. Wenn das so weiter ging, würde das bald zu einem alltäglichen Ereignis werden. Bei dem Gedanken wollte ich kichern und gleichzeitig weinen.
„Ihr Mann hat Glück gehabt, die Menge des Sprengstoffes hat nicht ausgereicht, um für dauerhafte Schäden zu Sorgen.“ Seine Stimme war kühl und Effizient. Er schien nicht viel davon zu halten, lange um den heißen Brei herumzureden. „Er hat oberflächliche Hautabschürfungen und ein gestauchtes Schlüsselbein, das vermutlich vom Sturz herrührt. Seine Hände und seine rechte Gesichtshälfte haben Verbrennungen ersten und zweiten Grades davongetragen. Da er ein Vampir ist, werden wir diese Wunden alleine abheilen lassen, aber er wird wohl Narben davontragen. Außerdem vermuten wir wegen der äußeren Krafteinwirkung ein Schädel-Hirn-Trauma.“
Oh Gott.
„Schhh“, machte Cio und rieb mir beruhigend über den Rücken, als das Zittern meines Körpers wieder stärker wurde.
„Im Moment können wir leider noch nicht einschätzen, wie stark sein Kopf in Mitleidenschaft gezogen wurde, aber bitte machen sie sich keine Sorgen. Er war wach und er hat mit uns geredet. Trotzdem werden wir ihn wegen der Gehirnerschütterung erstmal im Auge behalten, denn wir wollen keine möglichen Hirnblutungen oder anderen Komplikationen riskieren.“
Mama gab ein sehr seltsames Geräusch von sich.
„Können wir ihn sehen?“, fragte Cio.
Der Arzt schüttelte den Kopf. „Heute nicht mehr. Frau Steele darf zu ihm, aber Besuche sind frühstens morgen möglich.“
„Und wie lange muss er hier bleiben?“, fragte meine Mutter.
„Das kommt ganz darauf an, wie gut der Heilprozess voranschreitet. Da Herr Steele ein Vampir ist, könnte es sein, dass er das Krankenhaus bereits in einer Woche wieder verlassen darf, aber mit Sicherheit lässt sich das zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen, da ich nicht vorhersehen kann, ob und wenn welche Komplikationen noch auf ihn zukommen. Im Moment kann ich nur sagen, er ist stabil und er schläft, alles Weitere …“
„Ys-oog!“, rief meine Mutter aus, als sich eine Doppeltür öffnete und eine Krankenschwester ein Krankenbett mit angehängten Infusionsbedingt herausschob.
Ich erhob mich ruckartig auf die Beine, als sie dort hinrannte, schaffte es aber nicht mich zu bewegen. Der Mann mit dem schwarzen Haar in dem Bett … oh Gott. Er war nicht nur blass, er war kreidebleich. Sein Kopf und seine rechte Gesichtshälfte waren dick bandagiert. Um den Hals trug er eine Halskrause. Er hatte Kratzer und Blutergüsse. Und seine Hände.
Man hatte meinen Vater bis zur Brust zugedeckt, doch seine Arme lagen auf der Decke und ich konnte sehen. Seine Hände waren bis hinauf zu den Ellenbogen in weiße Verbände eingewickelt. Umso deutlicher traten die starken mit Jod behandelten Hautabschürfungen an seinen Oberarmen zutage.
Der Arzt hatte gesagt, dass er nur schlief, aber … er sah aus wie tot. Die bleche Hautfarbe und die vielen Verletzungen … das war meine Schuld. Ich war dafür verantwortlich, dass er so schwer verletzt worden war, denn ich hatte ihm gesagt, er solle das Paket öffnen. Nur wegen mir lag er nun in diesem Bett.
„Schäfchen, sieh mich an“, verlange Cio.
Aber hätte er es nicht aufgemacht, dann hätte ich es geöffnet, weil ich niemals auf den Gedanken gekommen wäre, dass Iesha uns eine Bombe ins Haus schicken würde.
„Schäfchen.“ Er legte mir eine Hand auf die Wange und drehte meine Gesicht, sodass ich seinem besorgtem Blick begegnete. „Das ist nicht deine Schuld.“
Wenn ich dieses Paket geöffnet hätte, wäre der kleine Passagier verletzt worden.
„Hast du das verstanden? Du kannst nichts dafür.“
Ich hätte meine Baby verlieren können.
„Hörst du was ich sage?“
Ich hätte Cios Baby verlieren können.
„Zaira, atme.“
Cios Baby könnte tot sein.
„Zaira verdammt, atme und beruhige dich!“
Mit einem Mal fiel mir das Atmen schwer. Mein Herzschlag beschleunigte sich und meine Finger begannen unangenehm zu kribbeln.
„Zaira!“ Cio packte mich grob am Oberarm. „Beruhige dich!“
Meine Brust fühlte sich eng an und vor meinen Augen begannen schwarze Flecken zu tanzen. Ich spürte wie mir der Schweiß ausbrach. Mir wurde schwindlig und mein ganzer Körper begann unkontrolliert zu zittern, während die Beine unter mir drohten nachzugeben. Dabei wurde mir furchtbar schlecht.
„Ich brauche hier Hilfe!“, rief Cio. In seine Stimme hatte sich ein panischer Ton geschlichen.
Oh Gott, hätte ich dieses Paket aufgemacht, wäre mein Baby jetzt tot.
„Zaira, komm schon Schäfchen, bitte beruhige dich. Atme einfach.“
Das Gefühl der Furcht war plötzlich übermächtig. Schwarzes Fell brauch aus meiner Haut hervor. Ich wollte mich losreißen, wollte mich verstecken, aber mein Körper gehorchte mir nicht. Da war nur dieses überwältigende Gefühl der Angst. Angst vor dem was war, Angst vor dem was kommen könnte, Angst um mein Baby. Mein kleines, unschuldiges Baby.
Als plötzlich Leute eilig auf uns zugelaufen kamen, bekam ich Panik. Ich stieß einen Schrei aus und versuchte Cio von mir zu stoßen, doch er weigerte sich mich loszulassen und so landete ich halb auf dem Boden, währen dich mit großen Augen die Fremden auf mich zukommen sah.
„Nein!“, schrie ich und begann mich heftiger zu wehren. Mein Atem kam nur stoßweise. Mein ganzer Körper kribbelte unangenehm und ich begann mich zu verwandeln. Ich musste hier weg, ich musste meinen Baby in Sicherheit bringen, ich musste dafür sorgen, dass es nicht in Gefahr war.
Stimmen reden auf mich ein. Irgendjemand zog eine Spritze.
„Nein!“, rief Cio und schlug sie ihm hastig aus der Hand. „Sie ist schwanger!“
Krallen, Zähne, plötzlich raste ein grauenhafter Schmerz durch meinen Körper. Es war schlimmer als damals im Schloss, als die Panik mich zur Verwandlung gezwungen hatte.
Meine Wahrnehmung verschob sich. Plötzlich wirkten die Leute unwirklich, verloren an Konturen und schienen nur noch aus Schatten und Silhouetten zu bestehen.
Ich gab ein Wimmern von mir und biss nach einer Hand, die nach mir griff. Meine Krallen kratzen über den glatten Boden. Wo war ich? Was war hier los? Wer waren all die Wesen?
Hastig versuchte ich zurück zu weichen und verhedderte mich in irgendwas. Ich jaulte auf, fiel auf meinen Hintern und rutschte weg, wodurch ich mit der Schulter gegen einen Stuhl krachte und ihn umriss. Geräusche, Stimmen. Ich riss den Kopf herum, als mich etwas am Rücken berührte und knurrte warnend, während ich versuchte zurückzuweichen. Es klappte nicht richtig, meine Beine hatten sich in irgendwas verheddert.
Eine Gestalt schob sich vor mich und streckte den Arm nach mir aus. Doch Geruch war mir vertraut, doch ich konnte ihn nicht zuordnen. Mein Herz schlug wie wild und alles schien Gefahr zu bedeuten. Ich schnappte nach der Hand und biss so fest zu, dass ich Blut schmeckte. Dann wirbelte ich herum und versuchte loszurennen.
Für einen kurzen Moment geriet ich aus dem Tritt, dann waren meine Beine endlich frei und ich konnte losrennen.
Hinter mir hörte ich das Jaulen und Heulen der Gestalten, was mich nur noch mehr antrieb.
Meine Beine drohten auf dem glatten Untergrund immer wieder wegzurutschen. Immer wieder kam ich an diesen Gestalten vorbei. Sie waren überall. Hinter mir hörte ich Schritte. Sie verfolgten mich. Ich brauchte ein Versteck, musste mich in Sicherheit bringen und der Gefahr entkommen. Nein, nicht entkommen, vernichten. Ich musste die Gefahr ausschalten, aber die Furcht trieb mich immer weiter.
Als ich neben mir ein Jaulen hörte, rannte ich eilig nach links in einen dunkeln Raum. Hier standen Gebilde, vom Boden bis zur Decke. Viele verschiedene Dinge lagen darin. Dieser Ort roch … seltsam. Der Geruch stach mir in die Nase und ließ sie unangenehm kribbeln.
Eilig rannte ich nach hinten und schob mir mit kratzenden unter das unterste Fach. Es war eng und ich passte kaum darunter. Meine Bewegungsfreiheit war dort stark eingeschränkt, aber ich schaffte es mich zu drehen. Von oben und hinten war ich nun geschützt und alles was von vorne kam, würde Bekanntschaft mit meinen Zähnen machen.
Ich versuchte gerade mich noch ein wenig weiter nach hinten zu schieben, als mehrere der Gestalten in den Raum rannten. Eine von ihnen roch nach Blut und auch sie war es, die sich vor mein Versteck kauerte und mich anjaulte.
Meine Lefzen zogen sich hoch und meiner Kehle entrang sich ein warnendes Knurren. Sollte die Gestalt auch nur versuchen sich mir noch weiter zu näheren, würde es böse für sie enden.
Die Gestalt jaulte wieder. Neben dem Blut verströmte sie etwas vertrautes, aber auch besorgtes. Es ging ihr nicht gut.
Ich rückte noch etwas näher an die Wand, während sie mich immer und immer wieder leise und eindringlich anwimmerte.
Schritte drangen an meine Ohren, ein paar Füße tauchte vor meinem Versteck auf. Die vertraute Gestalt begann zu knurren, weswegen sich mir sofort das Fell im Nacken aufrichtete und ich drohend die Zähne fletschte.
Die Gestalt richtete sich halb auf und die Füße traten zurück. Ich verstand was dort vor sich ging, ich hörte nur ihr jaulen. Es klang wütend. Die Füße verschwanden wieder aus meinem Sichtfeld, dann war die Gestalt wieder vor der Lücke und wimmerte mich leise an. Der Ton war ruhig und besänftigend, der Klang vertraut.
Mein Knurren verstummte, aber ich behielt ihn wachsam im Auge.
Das Wimmern wurde leise, als wollte mir die Gestalt zeigen, dass von ihm keine Gefahr ausging, mein Herzschlag begann sich ein wenig zu beruhigen, doch meine Wachsamkeit ließ nicht nach. Ich hatte keine Ahnung, wo ich hier war, oder was diese Kreaturen von mir wollten. Sie sollten weggehen und mich in Ruhe lassen, damit ich nachdenken konnte.
Da nagte etwas an meinem Hinterkopf. Ich musste etwas tun, etwas wichtiges, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, was es war. Ich konnte mich an gar nichts erinnern und ich hatte keine Ahnung, warum das so war. Da war nur dieses Gefühl der Furcht, das mich vor einer Gefahr warnen wollte. Ja, genau, ich war in Gefahr, aber ich konnte nicht sagen, woher genau die kam.
Ich musste die Gefahr beseitigen. Egal was es war, ich musste sie vernichten, weil … ich wusste nicht warum. Damit ich in Sicherheit war? Ja, aber da war noch mehr. Warum konnte ich mich nicht erinnern?
Als die Gestalt mich wieder anjaulte, verengte ich meine Augen leicht. War sie die Gefahr? Musste ich sie ausschalten? Meine Instinkte sagten mir nein, aber ich blieb trotzdem misstrauisch. Besonders als sie sich flach auf den Boden legte und leise Geräusche von sich gab.
Langsam wurde ich ruhiger, doch diese Ruhe war sofort wieder dahin, als die Gestalt mir eine Hand entgegenstrecken wollte. Meine Lefzen gingen sofort zu einer lautlosen Warnung nach oben, woraufhin mir ein Geruch entgegen schlug, drückend und bitter. Kummer. Die Gestalt war traurig und ich begann mich zu fragen warum. Warum lag da eine traurige Gestalt und wimmerte mich an? Ich verstand es nicht, aber ich hatte das Gefühl es wissen zu müssen.
Einen Moment schaute mich die Gestalt nur an. Der Blick seiner braunen Augen schien sich in meinen Kopf zu bohren und am Rande meines Bewusstseins streifte mich das Wissen. Ich versuchte danach zu greifen, als die Schatten sich begannen zu lichten, doch in dann bewegte sich die Gestalt und weckte damit erneut alle meine Alarmsirenen.
Grollend bleckte ich mein scharfes Gebiss, aber die Gestalt versuchte gar nicht wieder nach mir zu greifen. Sie setzte sich auf, jaulte etwas zu den anderen Gestalten im Raum und machte dann irgendwas an seinem Ohr.
Misstrauisch behielt ich sie alle im Auge, begann aber gleichzeitig darüber nachzudenken, wie ich ihnen entkommen könnte. Das Versteck an das ich mich geflüchtet hatte war sicher, ja, aber wie sich nun herausstellte, war es gleichzeitig auch eine Falle. Die Gestalten versperrten mir die Flucht und plötzlich machte mich das sehr nervös.
Unruhig versuchte ich in dem schmalen Spalt nach vorne zu robben. Wenn ich nur die Tür erreichte, konnte ich ihnen entkommen, doch sobald ich mich bewegte und meine Krallen über den Boden kratzten, beugte die Gestalt sich wieder vor um zu sehen, was ich da tat. Sie begann wieder in meine Richtung zu jaulen, was ich mit einem Zähnefletschen erwiderte.
Als sie dann kurz verschwand, behielt ich wachsam seine Beine im Auge. Gleich darauf wurden große Kisten in den schmalen Spalt geschoben.
Augenblicklich wich ich vor ihnen zurück, doch erst einen Moment später wurde mir klar, was die Gestalten damit bezweckten: Sie schnitten mir den Weg ab. Aber … nein. Sie wollten mich hier nicht weglassen. Dabei durften sie mich doch nicht festhalten, dass konnten sie mir doch nicht antun.
Ich fiepte leise und kläglich und schaute mich nach einem anderen Fluchtweg um. Ich könnte herauskommen und versuchen an ihnen vorbei zustürmen, doch die Gefahr, dass sie mich dann einfach packten, war viel zu groß als dass ich das riskieren konnte.
Wimmernd zog ich mich in meine Ecke zurück und lauschte auf das unverständliche Jaulen der Gestalten. Sie schienen darüber zu kommunizieren. Wenn ich doch nur wüsste, was sie sagten, vielleicht konnte mir das helfen, aber so sehr ich mich auch anstrengte, ihre Töne ergaben in meinen Ohren einfach keinen Sinn.
Als eine weitere Gestalt auftauchte, brach das Jaulen einen kurzen Moment ab, nur um dann wieder von neuem loszugehen. Gleich darauf kauerte die Gestalt mit den braunen Augen wieder vor dem Spalt und spähte zu mir in der Ecke, aber dieses Mal war sie nicht alleine, da war noch eine zweite bei ihr. Diese war anders. Nicht wegen dem Aussehen, es war ihre Ausstrahlung.
Sie jaulte mir etwas zu, woraufhin sich mir der Pelz sträubte. Ich zog die Lefzen wieder hoch und drückte mich fest an die Wand. Auch wenn der Geruch vertraut war, so schien von diesem hier eine Gefahr für mich auszugehen.
Plötzlich schien etwas von ihm auszugehen, was direkt auf meine Instinkte abzielte. Vor Schreck versuchte ich zurückzuweichen und stieß mir dabei aber nur den Kopf. Als die Angst wieder in mir aufstieg und ich versuchte weiter zurück zu weichen, verschwand dieses Etwas genauso schnell wie er aufgetaucht war. Ich knurrte und bleckte die Zähne und die beiden Gestalten zogen sich wieder ein wenig zurück.
Was genau sie dann taten, konnte ich nicht erkennen. Es machte den Eindruck, als würde die neue Gestalt sein Fell abstreifen, bevor er sich auf den Boden hockte und die anfingen zu wogen, bis die Silhouette begann sich zu verändern.
Ich verstand nicht genau was dort passierte, stand da ein ganz anderes Wesen vor mir. Es kam auf den Spalt zu, legte sich davor nieder und blickte mich ungewandt an. Wieder kam dieses Etwas auf mich zu und das machte mich mit einem Schlag so wütend, dass ich das etwas zu ihm zurückschickte.
Einen Moment schien er erstaunt und dann hörte ich sein Jaulen. In meinem Kopf. Vor Schreck knallte ich wieder gegen das Brett über mir. Irgendwas fiel herunter und knallte mit einem Scheppern auf den Boden.
Die Gestalt mit den braunen Augen jaulte aufgebracht, woraufhin die kauernde Gestalt knurrte. Auch ich begann zu knurren und versuchte an der Wand zu kratzen, doch genau wie der Boden war die aus Stein. So kam ich hier nicht weg.
Als die Gestalten sich wieder zurückzogen und anfingen einander anzujaulen, behielt ich sie, so gut es eben ging, misstrauisch ihm Auge. Dann taten sie etwas sehr seltsames. Sie fingen an die ganzen Sachen auf der anderen Seite aus dem Raum zu tragen. Als sie damit fertig waren, machten sie auch die unteren Bretter weg, sodass der Spalt verschwand. Anschließend werkelten sie auf meiner Seite.
Aus meinem Blickwinkel konnte ich nicht sehen was sie dort taten, aber es hörte sich ganz ähnlich an. Als die Geräusche dann auch direkt über mir aufkamen, versuchte ich erschrocken wegzukriechen, aber da waren noch immer die Kisten im Weg.
Ich biss hinein, um sie notfalls auch zu zerfetzen, doch da tauchte wieder die Gestalt mit den braunen Augen auf und griff entschlossen nach unten, wodurch ich zurück in meine Ecke gedrängt wurde.
Keine Ahnung wie lange sie Zugange waren, aber irgendwann verklangen die ganzen Geräusche und die meisten Silhouetten verließen den kleinen Raum.
Etwa klickte. Das Geräusch kam mir bekannt vor, aber ich konnte es nicht zuordnen und plötzlich wurde es in dem Raum seltsam still.
Ich hob die Nase, witterte, konnte aber außer mir nur noch die beiden Gestalten im Raum wahrnehmen. Sehen tat ich aber nur den, der direkt vor meinem Versteck stand. Wobei ich eigentlich nur seine Füße sehen konnte. Was hatten sie nun schon …
Plötzlich verschwand das Brett über mir. Vor Schreck machte ich einen Satz zurück, knallte an die Wand und wollte auf die andere Seite rennen, aber da gab es auch keinen Spalt mehr. Ich wollte zur Tür, aber die war verschlossen. Sie hatten mich eingesperrt und mir jede Möglichkeit genommen, mich irgendwo zu verbergen.
Die Gestalt mit den braunen Augen stand wachsam an der Wand und hielt das Brett fest. Die andere saß vor der Tür und hatte den Blick auf mich gerichtet.
Ich rannte an der weitesten entfernten Ecke an der Wand entlang, kratzte am Boden und biss ich die Wand in dem Versuch einen Weg hier raus zu finden, doch es gab keine Möglichkeit zur Flucht.
Meine Rute klemmte ich bis unter den Bauch, als ich mich knurrend zusammenkauerte. Würde auch nur einer der beiden mir zu nahe kommen, würden sie meine Zähne zu spüren bekommen. Aber niemand von ihnen nährte sich mir. Der eine blieb einfach sitzen. Der andere legte das Brett auf den Boden und ließ sich dann selber daneben sinken. Dabei ließ er mich genauso wenig aus den Augen, wie ich ihn und seinen Freund.
So saßen wir eine ganze Weile da. Keiner regte sich, ja sie jaulten nicht einmal mehr. Wir taten nichts, als uns anzuschauen. Sehr lange.
Irgendwann erstarb das Knurren in meiner Kehle und noch viel später begann meine Position unangenehm zu werden, weswegen ich die Beine anzog und mich wachsam auf den Boden legte. Sie taten immer noch nichts. Was nur wollten sie von mir? Warum hatten sie mich hier eingesperrt?
Immer wieder schaute ich von einem zum anderen. Mit der Zeit stellte ich fest, dass die braunäugige Gestalt viel öfter im Mittelpunkt meines Interesses lag. Er hatte etwas an sich, dass mein Blick instinktiv immer wieder auf sich zog. Nur was?
Irgendwo tief in mir drin lauerte noch immer die Unruhe, bereit jederzeit wieder über mich zu kommen, doch sein Geruch … irgendwas daran erweckte meine Neugierde.
Misstrauisch musterte ich ihn und regte die Nase, in der Hoffnung sein Geruch könnte mir eine Erklärung liefern. Wie vorhin schon streifte da etwas am Rande meines Bewusstseins entlang. Es war zum greifen nahe, doch immer wenn ich mich danach ausstrecken wollte, entglitt es mir wieder.
Und wenn ich etwas näher ging? Würde er mir etwas tun? Er hatte sich schon eine ganze Zeit nicht mehr bewegt und schien auch nicht bedrohlich, eher so als würde er auf etwas warten, doch konnte ich leider nicht sagen, was das sein sollte.
Ich zögerte, aber nach einer Weile setzte ich mich auf, einfach um zu schauen, wie die beiden reagierten. Sie behielten mich zwar im Auge, taten aber ansonsten gar nichts. Selbst als ich aufstand blieben sie ruhig.
Ich war mir selber nicht ganz sicher warum ich das tat, aber ich machte einen Schritt auf den Braunäugigen zu und fiepte leise. Seine einige Reaktion bestand darin den Kopf ein wenig zu heben.
Wachsam schaute ich noch mal zu dem an der Tür und machte dann einen weiteren Schritt. Dabei hielt ich mich an der Wand.
Langsam und vorsichtig nährte ich mich ihm, bis ich nur noch den Kopf ausstrecken musste, um an seinem Bein zu schnuppern. Er tat immer noch nichts.
Ich duckte mich ein wenig und regte den Hals, bereit sofort die Flucht zu ergreifen, doch das war nicht nötig.
Einen Moment fragte ich mich, ob irgendwas nicht mit ihm stimmte, weil er sich absolut nicht bewegte und stupste ihn vorsichtig an, nur um dann sofort ein Stück zurück zu weichen, falls er doch etwas tun würde, aber nichts geschah. Ich tat es noch einmal, biss dann sogar in sein seltsames Fell und zog an ihm, aber außer dass er etwas überrascht schien und sich anschließend wieder richtig hinsetzte, ließ er mich in Ruhe.
Nachdenklich neigte ich den Kopf zur Seite. Was war das nur für eine seltsame Gestalt? Erst jagte er mich, dann jaulte er mich an und trieb mich aus meinem Versteck und nun saß er einfach da. Ich fiepte und kläffte ihn einmal an.
Sein Gesicht verzog sich zu … wie hieß das? Er machte das oft. Er … er lächelte!
Moment, woher wusste ich, dass er das oft machte? Etwas in meinem Kopf rutschte in greifbare Nähe, eine Gefühl. Vertrauen. Nein, es war etwas anderes. Es war … ich hatte dafür kein Wort.
Vorsichtig nährte ich mich ihm wieder und zupfte erneut an seinem Fell. Als er nur weiter lächelte, kam ich noch näher und begann sein Bein gründlich zu beschnüffeln. Immer höher und plötzlich roch ich Blut. Es war nicht frisch, aber es war da. Ich kannte dieses Blut, ich … mochte es?
Als ich den Kopf hob, ging mir erst auf, wie nahe ich ihm inzwischen gekommen war. Mein Kopf war direkt vor seinem und ich konnte direkt in seine Augen sehen.
Diese Augen, sein Blick, irgendwas wollten sie mir sagen. Eine Erinnerung. Wie aus den dunklen Tiefen eines Sees drang sie immer weiter an die Oberfläche und plötzlich schwebte ein Name durch meinen Geist.
„Cio“, flüsterte ich.
Sein Arm zuckte und dann begann er ihn sehr langsam zu heben.
Ich trat sofort einen Schritt zurück, bereit zuzubeißen, wenn er mir wehtun sollte, aber ich verspürte nicht mal das Bedürfnis ihn anzuknurren. Cio durfte das, Cio hatte das schon oft getan.
Eine weitere Erinnerung fand ihren Weg in meinem Kopf und noch eine. Wie er mich berührte, wie er mich an sich zog und was für ein Gefühl das war. Doch die Erinnerung war nichts zu dem was ich verspürte, als er zögernd mein Fell berührte und über die Haut darunter strich.
Mein Körper begann zu kribbeln und zu summen.
„Schäfchen?“, fragte er leise und ich war erstaunt, dass ich sein Jaulen plötzlich verstand.
Ich neigte den Kopf zur Seite, denn auch das kam mir bekannt vor.
„Bist du wieder bei mir?“ Als seine Hand zu meinem Ohr strich, schmiegte ich mich in die Berührung, schüttelte dann aber den Kopf, weil es kitzelte. „Du darfst dich nicht verlieren“, sagte er leise. „Ich brauche dich doch.“
Seine Stimme klang so traurig, dass ich wieder näher trat und mich mit dem Kopf in sein Schoß legte, um ihn mit meiner Gegenwart zu trösten. Ich war mir nicht sicher, was das bringen würde, wusste aber gleichzeitig, dass es genau das Richtige war.
Als ich spürte, wie er begann durch mein Fell zu streichen, spannte ich mich einen Moment an, doch es hatte etwas Vertrautes und ließ mich langsam ruhiger werden.
„Ich weiß dass du Angst hast“, sagte er leise. „Ich weiß auch, dass im Moment alles scheiße ist, aber wenn du uns die Chance gibst, werden wir auch das zusammen durchstehen. Du darfst nur nicht aufgeben.“
„Aufgeben.“
Seine Hand verharrte einen Moment, strich dann aber weiter. „Nein, nicht aufgeben. Ich werde nicht aufgeben und du darfst das auch nicht.“
„Warum?“
„Weil es falsch wäre.“ Er verstummte kurz. „Wenn du aufgibst, dann hätte sie gewonnen. Du darfst sie nicht gewinnen lassen. Du bist viel stärker als sie.“
„Ich bin ein Schäfchen“, sagte ich leise.
„Du bist mein Schäfchen und du bist viel stärker als das hier. Bitte, gib nicht auf und komm zu mir zurück.“
„Weil du mich brauchst“, sagte ich leise und spürte, wie die Erinnerungen meines Lebens langsam zurück in meinen Geist sickerten. „Weil du ohne mich durchdrehst.“
„Weil du das Wichtigste in meinem Leben bist. Du und der kleine Passagier.“
Abrupt richtete ich mich auf und erschreckte Cio damit für einen kurzen Augenblick. „Ich bin schwanger“, sagte ich ihm und schaute mich im Raum um. Verdammt, wo warum war ich in einem Lagerraum für Krankenhausbedarf? Und warum war Aric hier und … mit einem Mal brach alles wieder über mich hinein. Ich wich zurück und schaute Cio mit großen Augen an.
„Schäfchen?“, fragte er besorgt.
„Sie hat Papa verletzt“, flüsterte ich und spürte wie die Angst zu mir zurückkehrte und mein Atem schneller wurde.
„Nein, bleib ruhig, deinem Vater geht es gut“, sagte er und kam eilig auf die Knie. Seine Hände griffen nach meinem Kopf und zwangen mich in anzuschauen. „Bitte, konzentriere dich auf mich, drifte nicht wieder ab.“
„Aber unser Baby …“
„Unserem Baby geht es gut, mit ihm ist alles in Ordnung.“
„Aber was, wenn ich das Paket geöffnet hätte?“, fragte ich und spürte, wie die Angst wieder ihre Klauen in mich hinein schlug. „Wenn ich die Explosion abbekommen hätte … der kleine Passagier …“
„Nein, hör auf damit!“, sagte er streng. „Tu das nicht, steigere dich nicht da hinein. Dem Baby geht es gut und ihm wird nichts passieren.“
„Das kannst du nicht wissen.“
„Doch, weil ich dafür sorgen werden.“
„Du kannst nicht …“
„Was haben wir uns versprochen?“, unterbrach er mich rüde und hielt meinen Blick fest. „Welches Versprechen haben wir beide niemals gebrochen?“
„Wir sagen uns immer die Wahrheit.“
„Genau. Und dieses Versprechen werde ich genauso halten, wie das, das ich dir jetzt gebe: Ich lasse nicht zu, dass dir oder unserem Baby etwas passiert. Bei mir bist du sicher, oder zweifelst du plötzlich an meinen Fähigkeiten?“
„Nein, aber …“ Hilflos schaute ich von ihm zu Aric, der uns aufmerksam beobachtete. „Was du da versprichst, ist nicht möglich. Nicht mal wenn du immer bei mir wärst.“
„Doch“, widersprach er mir. „Ich passe auf dich auf, ich passe auf euch beide auf. Euch wird nichts passieren.“
Mir war klar, dass er alles in seiner Macht stehende tun würde, um diese Worte wahr werden zu lassen, aber das war einfach nicht machbar. Das Leben ließ sich nur zu einem kleinen Teil kontrollieren, das Meiste jedoch lag außerhalb untereres Einflussbereiches. Er hatte keine Kontrolle über die anderen Menschen, das Wetter, oder die Welt an sich.
Natürlich war mir klar, dass er von Iesha sprach, aber nicht mal darauf konnte er Einfluss nehmen – wir alle nicht. Wir konnten immer nur warten und reagieren, warten und reagieren, warten und reagieren.
„Schäfchen.“
„Warten und reagieren“, murmelte ich laut und schüttelte den Kopf. „Alles gerät außer Kontrolle und niemand kann daran etwas ändern.“ Ich begann wieder zu zittern. „Niemand kann …“
Eine Welle von Odeur rammte Cio und mich wie ein Rammbock. Ich duckte mich nicht nur, ich hatte auch das Gefühl, als blies mir da jemand ordentlich das Hirn durch und als ich zögernd aufschaute, sah ich, dass Aric sich erhoben hatte. Er fixierte mich mit seinem Blick und kam langsam auf mich zu.
„Schließ deine Augen“, flüsterte er durch Gedankensprache in meinem Kopf.
„Aber ich …“
„Mach es einfach.“
Ich hasste diesen Alphamist, einfach weil ich ich nicht dagegen wehren konnte. Es war so schwer und mir blieb gar nichts anderes übrig, als seinem Befehl zu gehorchen und die Augen zuzukneifen. Nicht weil ich glaubte, mir drohe von ihm eine Gefahr. Aric konnte ziemlich überheblich sein, aber seit er wusste wer ich war, hatte er nie anders als ein großer Bruder gehandelt.
„Atme“, sagte er. „Ich will, dass du nur atmest.“
Also tat ich es. Ich lag mit geschlossenen Augen da, spürte Cios Warme Hände an meinem Kopf und atmete.
Der Druck des Odeurs ließ nach und wurde zu einem streicheln, dass meine Sinne beruhigte und es auch schaffte wenigsten ein bisschen Ordnung in meine wirren Gedanken zu bringen.
Cio hatte recht. Wenn ich mich da hineinsteigerte und vor lauter Angst vor dem was geschehen könnte den Verstand verlor, war niemanden geholfen. Ich würde Iesha damit nur in die Hand spielen. Aber das durfte ich nicht. Ich musste sie aufhalten und der ganzen Sache ein Ende setzten, damit sowas wie mit Papa kein weiteres Mal passieren konnte. Damit mein Baby sicher sein konnte. Ich musste endlich aufhören, mich wie ein Opfer zu fühlen.
Mehrere Minuten kauerte ich einfach nur am Boden und versuchte mich mit Arics Hilfe zur Ruhe zu bewegen. „Ich weiß nicht was ich tun soll“, sagte ich irgendwann leise und öffnete die Augen wieder. „Es wird immer schlimmer.“
„Wir dürfen nicht aufgeben“, murmelte Cio und legte seine Stirn an meine. „Wir haben schon so viel Scheiße durchgemacht, das hier schaffen wir auch. Wir müssen nur noch ein bisschen länger durchhalten.“
Fast hätte ich geschnaubt. „Bei dir klingt das so einfach.“
„Es ist nicht einfach, aber wir werden es schaffen. Doch dazu brauche ich deine Hilfe, denn allein bekomme ich das nicht hin.“ Ich lächelte ein wenig schief. „Du weißt dich, ohne doch bin ich aufgeschmissen.“
Langsam setzte ich mich auf und schaute zwischen den beiden Männern hin und her. „Wenn wir doch nur …“ Als mein Blick auf Cios Hand fiel, stockten mir die Worte im Mund. Da war Blut und … Löcher. „Ich hab dich gebissen.“
Sein Blick huschte kurz nach unten, bevor er sich eilig den Ärmel über das Handgelenk zog. „Das ist nicht so schlimm.“
„Aber ich hab …“
„Schäfchen“, unterbrach Cio mich. „Du warst nicht bei dir, ich habe versucht dich festzuhalten und ich nehme es dir nicht übel. Es hat nicht mal wirklich wehgetan, sondern nur ein bisschen geblutet. Ich habe mich schon schlimmer verletzt, als ich versucht habe ein Bild an die Wand zu nageln. Erinnerst du dich?“
Natürlich erinnerte ich mich. Wie könnte ich auch vergessen, dass er sich selber mit dem Hammer so ungünstig auf den Finger geschlagen hatte, dass der Knochen angebrochen gewesen war? Und das auch nur, weil er versucht hatte, den Nagel mit nur einem Schlag in die Wand zu bringen. „Es ist nicht das Selbe.“
„Nein, ist es nicht, aber es ist mir egal. In ein paar Tagen sieht man es schon nicht mehr und jetzt will ich nichts mehr davon hören.“
Aber nur weil er das so wollte, war die Sache noch lange nicht vergessen. Ich hatte ihn gebissen, verdammt und das nur, weil ich ausgeflippt war und er mir hatte helfen können.
„Du kannst nichts dafür“, sagte er noch einmal, weil ihm wohl klar war, dass dieser Gedanke mich nicht so einfach in ruhe lassen würde. „Du hattest eine heftige Panikattacke und nachdem was du vorhin schon durchgemacht hast, bin ich einfach nur froh, dass es dir gut geht.“
„Vorhin?“, fragte Aric.
Cio warf ihm nur einen kurzen Blick zu. „Lass uns nach Hause fahren, dann kannst du dich ein wenig ausruhen.“
„Zeit zum Nachdenken, ist im Moment wohl nicht so gut für mich.“
„Dann schauen wir uns eben einen Film an. Bitte.“
„Für mich wird es auch Zeit“, sagte Aric, als glaubte er, es könnte helfen. „Als Cio mich angerufen hat, hätte ich Kasper fast ans Bett binden müssen, damit er bleibt wo er ist. Ich sollte ihm wohl sagen, dass mit dir wieder alles in Ordnung ist, damit er sich keine Sorgen macht.“
Na das mit mir alles in Ordnung war, bezweifelte ich aber, doch ich verstand ihn und wenn ich ehrlich war, wollte ich auch nicht länger in diesem Abstellraum sitzen. „Ja“, sagte ich deswegen nur. „Lass uns nach Hause fahren.“ Das Erlebte würde ich deswegen sicher nicht hinter mir lassen können, aber weiter hier zu sitzen und sich ein grauenhaftes Szenario nach dem anderen auszumalen, würde mir sicher auch nicht weiterhelfen. Ich musste mich einfach zusammenreißen, denn nur so würden wir diese Sache überstehen.
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Träge schwebten die Blasen des Bildschirmschoners über den Monitor. Ich lag auf der Couch und beobachtete, wie sie links und rechts am Rahmen abprallten und wieder in die Mitte zurück fielen. Eigentlich sollte ich mich aufraffen. Ich hatte einen Kundenauftrag zu erledigen, aber nach dem, was geschehen war … ich würde mich nicht konzentrieren können.
Mein Blick schweifte zu unserem Couchtisch. Ein kleiner Muffin mit einer rosafarbenen Glasur stand darauf. Mit Zuckerschrift war eine Vier darauf gemalt worden. Cio hatte ihn mir heute morgen mit den Worten: „Verdammt, ich liebe dich“ überreicht, bevor er zur Arbeit aufgebrochen war. Heute war es genau vier Jahre her, dass wir gefangen in einem Zimmer im Hof der Lykaner gesessen hatten und ich diese Worte zu ihm gesagt hatte.
Ja, wir hatten heute unser vierjähriges Jubiläum und auch wenn Cio darauf bestand, mir war absolut nicht nach feiern zumute. Die Zahl vier, schien mich heute zu verhöhnen, denn Iesha hatte mittlerweile vier Anschläge auf die, die mir wichtig waren, verübt und ich hatte Angst vor dem, was sie als nächstes tun könnte.
Das Dossier über sie lag offen neben dem Muffin. Ein Teil der Bilder und Notizen waren drumherum verteilt. Ich hatte schon wieder darüber gehockt und versucht in dem ganzen Chaos eine Spur, oder einen Hinweis zu finden, der diesen Alptraum endlich beenden würde. Ich konnte damit einfach nicht aufhören, aber da war nichts – absolut gar nichts.
War eigentlich auch dumm von mir zu glauben, dass ich etwas entdecken konnte, was den Experten von den Wächtern entgangen war. Aber ich musste einfach etwas tun, sonst würde mich das Warten und Herumsitzen irgendwann in den Wahnsinn treiben.
Jetzt hatte sie schon meinen Vater angegriffen. Ich war heute noch nicht da gewesen, Cio würde später mit mir ins Krankenhaus fahren, aber ich hatte schon mit ihm telefoniert. Er sagte, es ginge ihm gut und ich sollte mir keine Sorgen um ihn machen, doch so wie ich ihn kannte, sagte er das nur, um mich nicht zu beunruhigen. Leider war ich nicht mehr so naiv und leichtgläubig, wie noch mit sechs Jahren. In seinen Händen war eine Bombe explodiert, es konnte ihm also gar nicht gut gehen. Und sicher wäre er auch erst wieder, wenn Iesha endlich hinter Schloss und Riegel saß.
Das Schlimmste an der Situation war im Moment wohl, nicht zu wissen, wie es nun weiter ging. Es machte mich auf eine Art mürbe, gegen die ich einfach nicht ankam. Nach wie vor war ich mir sicher, dass Cio der Einzige war, dem keine Gefahr drohte, aber die anderen? Auch wenn ich es gerne tun würde, ich konnte sie ja schlecht alle wegschließen.
Was wenn meine Mutter die nächste war? Oder Alina? Meine Cousine tat keiner Seele etwas zuleide.
Übermorgen würde ich Ferox abholen und auch wenn ich mich freute, dass er wieder aus der Tierklinik rauskam, verursachte dieser Gedanke bei mir doch Bauchschmerzen, denn was sollte Iesha daran hindern, ihn noch ein weiteres Mal zu vergiften, oder sogar noch schlimmeres zu tun?
Und dann auch noch Kasper. Wenn nichts dazwischen kam, würde Aric ihn in drei Tagen wieder mit nach Hause nehmen, aber was dann? Wäre er dann plötzlich sicher, weil Iesha ihn ja schon einmal angeschossen hatte? Führte sie vielleicht eine Liste, die sie nach und nach abharkten konnte? Oder würde sie ihn noch einmal angreifen, wenn sich für sie die Chance ergab? Dieser Zustand von Unwissen war fast schlimmer, als wenn das Telefon klingeln würde, um mir vom nächsten Unglück zu berichten.
Seufzend drehte ich mich auf den Rücken und starrte hoch zur Decke. Meine Hände legten sich dabei schon ganz automatisch schützend auf meinen Bauch.
Was wenn Iesha uns noch Jahrelang bedrohen würde? So unwahrscheinlich war das gar nicht, schließlich waren die Wächter bereits seit einem halben Jahr hinter ihr her, ohne ihr auch nur ein Schritt näher gekommen zu sein. Ich wollte mein Baby nicht bekommen, solange sie noch ihre kranken Pläne in die Tat umsetzte. Ich hatte Angst, es nicht vor ihr schützen zu können. Wusste sie überhaupt, dass ich von Cio schwanger war? Machte es einen Unterschied? Ich wusste es nicht, denn es war mir einfach nicht möglich, mich in diese Frau hineinzuversetzen.
Um Iesha zu fangen, müsste man ihr eine Falle stellen, nur wie? Sie war sicher nicht so dumm sich einfach aus ihrem Versteck herauslocken zu lassen. Ich brauchte einen Lockvogel, jemand dem sie nicht widerstehen könnte, aber da kam eigentlich nur Cio in Frage und das würde ich nicht mal in Betracht ziehen.
Vielleicht würde sie auch mich als Lockmittel akzeptieren, aber das konnte ich nicht riskieren, solange ich mit dem kleinen Passagier unterwegs war. Nein, das war keine Option.
Was ich brauchte, waren mehr Informationen, denn alles was ich bisher zusammengetragen hatte, war nicht viel mehr als ein gewissen Grundwissen über sie. Ja, ich hatte Cio über ihre Vorlieben und Abneigungen ausgefragt, aber da war nichts hilfreiches dabei gewesen. Wenn man es genau nahm, dann kannte er sie ja auch gar nicht mehr so gut, denn die drei Jahre in der Psychiatrie hatten sie verändert.
Vielleicht war genau das der Punkt, an dem ich ansetzten sollte, die Psychiatrie. Ich könnte hinfahren und mit ihren ehemaligen Ärzten und Pflegern sprechen, aber würden sie sich mir überhaupt mitteilen? Ihre Akte fiel schließlich unter die ärztliche Schweigepflicht, oder? Andererseits hatte sie wegen ihrer Taten alle ihre Rechte im Rudel verloren. Leider wusste ich nicht mal, wo genau sie in diesen drei Jahren untergebracht worden war. Es hatte mich nie interessiert, ich war einfach nur froh gewesen, dass sie für mich keine Gefahr mehr darstellte. Jetzt allerdings sah die Sache ganz anders aus.
Während im Wandschrank die Uhr leise vor sich hin tickte, überlegte ich, wer wissen könnte, wo sie untergebracht gewesen war. Die Einzigen, die mir da in den Sinn kamen, waren ihre Eltern. Victoria war von ihrer Tochter getötet worden, aber Hardy war noch quicklebendig. Ob er mir helfen würde, wenn ich ihn darum bat? Es ging hier immerhin um seine Tochter.
Nachdenklich kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Ich glaubte nicht, dass er Ieshas Taten guthieß, aber … naja, Blut war immer noch dicker als Wasser. Das würde ich wohl nur herausfinden, wenn ich mit ihm sprach.
Seine Telefonnummer herauszufinden wäre sicher nicht weiter schwer, doch wahrscheinlich wäre es besser, wenn man so ein Thema persönlich besprach.
Ich hatte keine Ahnung von Hardys Dienstzeiten, oder was er den ganzen Tag so machte, doch ich wusste wo er arbeitete und lebte: An Sardijas Hof. Sollte ich einfach mal hinfahren?
Mein Blick glitt zur Uhr. Kurz nach elf. Cio hatte erst in drei Stunden Feierabend und ich wollte auf keinen Fall allein nach draußen gehen. Eigentlich hatte er heute ja frei, aber dadurch, dass er gestern früher von der Arbeit musste, hatte er die Schicht mit einem Kollegen getauscht.
Natürlich könnte ich einfach noch die drei Stunden warten und mich dann mit ihm auf den Weg machen, doch er machte sich schon genug Sorgen und besonders heute wollten wir eigentlich einfach mal abschalten, aber jetzt wo dieser Gedanke einmal da war, ließ er sich nicht mehr so leicht abschütteln. Ich wusste zwar nicht, ob es irgendwas bringen würde, aber ich durfte auch keine Chance ungenutzt lassen – nicht wenn so viele Leben davon abhingen. Also was sollte ich jetzt tun?
Ich konnte das ganze vergessen, oder später mit Cio an den Hof fahren. Ich könnte auch einen anderen Tag mit ihm Hardy aufsuchen. Was ich aber auch tun könnte, wäre jetzt zu fahren. Ohne ihn. Aber alleine nach draußen gehen? Schon bei dem Gedanken daran begann ich mich unwohl zu fühlen. Da blieb eigentlich nur noch eine Option übrig: Ich musste mir eine andere Begleitung suchen. Nur wen?
Grübelnd setzte ich mich auf der Couch auf, griff über das Dossier hinweg nach meinem Handy und begann meine Kontakte durchzuschauen. Meine Eltern fielen aus, genau wie Kasper. Sollte ich es mal bei Aric versuchen? Der würde es wahrscheinlich sofort Cio sagen. Das war keine gute Idee. Nicht das ich es vor Cio verheimlichen wollte, aber ich wollte nicht, dass er sich unnötig Sorgen machte. Alina fiel auch aus, aber da war ja noch Anouk. Hm.
Ohne lange darüber nachzudenken, wählte ich die Nummer von meinem Cousin. Da Samstag war, hatte ich gute Chancen, dass er heute nicht arbeitete. Trotzdem klingelte das Handy vier Mal, bevor ich am anderen Ende ein tiefes „Hallo“ hörte.
„Hey, ich bin es. Ich wollte mal fragen, ob du gerade beschäftigt bist, oder ob du vielleicht ein wenig Zeit für mich erübrigen könntest.“
„Für was?“
„Naja, ich müsste mal kurz in den Hof, aber Cio ist nicht hier.“ Ich zögerte einen Moment. „Ich möchte nicht alleine fahren“, fügte ich dann noch etwas leiser hinzu.
Er schwieg einen Moment. „Ich zwanzig Minuten kann ich bei dir sein.“
„Wirklich? Das ist … danke. Klingel einfach an der Tür wenn du da bist, ich komme dann runter.“
„In Ordnung. Bis gleich.“
„Bist gleich.“ Ich legte auf und schaute etwas verwundert auf mein Handy. Jeder andere hätte mich jetzt erst ausgefragt, was ich da will und ob das wirklich eine so gute Idee war. Naja gut, das hier war Anouk. Der sagte sowieso nie mehr, als er musste und konzentrierte sich meistens aufs Wesentliche. Auf jeden Fall hatte ich jetzt einen Begleiter und das war im Moment das Wichtigste. Also erhob ich mich von der Couch, nahm eine schnelle Dusche und machte mich dann fertig.
Bei meinem Blick in den Spiegel, glänzte noch immer mein Ersatzring an meinem Hals und ich fragte mich, wann ich meinen Verlobungsring wiederbekam. Bei all dem Trubel hatte Cio wahrscheinlich einfach vergessen die Kette zum Juwelier zu bringen. Ich konnte es ihm nicht übel nehmen, schließlich hatten wir im Moment genug anderes Zeug um die Ohren.
Seufzend zog ich mich an. Nicht mal für so eine Kleinigkeit hatten wir im Moment den Kopf.
Ich war gerade dabei meine Schuhe anzuziehen, als es an der Tür klingelte. Über die Sprechanlage versicherte ich mich, dass es Anouk war. Erst dann ging ich nach unten.
Als ich unten die Haustür öffnete und ihn in der offenen Tür eines Taxis sah, fiel mir erst wieder ein, dass er ja gar kein Auto hatte. Mist. „Tut mir leid, dass ich dich so plötzlich aufgescheucht habe“, entschuldigte ich mich, als ich zu ihm eilte und er mich auf die Rückbank rutschen ließ. „Ich gebe dir das Geld für das Taxi zurück.“
Er winkte nur ab und rutschte dann neben mich auf den Rücksitz. „Bringen sie uns bitte zum Hof der Lykaner“, wies er den Taxifahrer an.
Der Mann mit dem schütteren Haar nickte und setzte den Wagen wieder in Bewegung.
„Nein wirklich“, sagte ich. „Wenn wir nachher zurück kommen, muss ich nur kurz hoch Geld holen, dann …“
„Es ist in Ordnung, Zaira“, versicherte Anouk. Er trug einen grünen Schal, den er sicher von Alina bekommen hatte. Sowas würde er sich sicher nicht alleine kaufen.
„Okay, dann … danke.“
Seine einzige Erwiderung bestand in einem kaum sichtbaren Nicken. Nicht weil er nicht meinte, was er sagte, sondern weil Anouk so wortkarg war, dass man ihm alles aus der Nase ziehen musste. Die einzige Person, mit der er richtige Unterhaltungen führte, war Alina und ich war mir nicht sicher, ob es einfach an Alina lag, oder daran, dass die beiden ein Pärchen waren.
Diese Überlegung erinnerte mich an etwas anderes. In den letzten Tagen war so viel los gewesen, dass es einfach untergegangen war. Irgendwie ging in den letzten Tagen sehr viel unter. „Wie lief das Gespräch mit Tante Lucy und Onkel Tristan?“
Er verzog das Gesicht, als würde er Schmerzen leiden. „Ich lebe noch.“
„So schlimm?“
Einen Moment musterte er mich, als sei er sich nicht sicher, ob er wirklich mit mir darüber spreche wollte, einfach weil er über sowas niemals sprach. „Onkel Tristan ist nicht begeistert, aber er wird sich nicht quer stellen.“
„Tante Lucy schon?“
Zu meiner Überraschung schüttelte er den Kopf. „Nein. Nachdem sie den ersten Schreck verdaut hatte, drohte sie mir nur noch, mir meine Körperteile einzeln vom Torso abzutrennen, sollte sie herausfinden, dass das nur ein dummer Zeitvertreib meinerseits ist. Sie findet, ich bin zu alt für Alina.“
Mein Mundwinkel zuckte. Das war zwar nicht nett, aber auf was Besseres konnten die beiden wohl nicht hoffen. „Und warum dann das Gesicht?“
„Mein Vater hat mich enterbt.“
Ich schaute ihm in die Augen und wusste absolut nicht was ich dazu sagen sollte. Davon abgesehen, dass ich nicht gewusst hatte, dass es bei Onkel Roger etwas zu erben gab, hätte ich niemals im Leben mit einer solchen Reaktion gerechnet.
Onkel Roger war ein sanfter Mann. Gut, okay, irgendwann vor hundert Jahren oder so, war er mal ein Umbra gewesen und die waren im allgemein zwar still und zurückhaltend, einfach weil das so in der Stellenbeschreibung stand, aber niemals harmlos, aber seinen Sohn enterben? Was genau sollte das bedeuten? Dass Anouk kein Geld bekam, wenn er einmal starb, oder hatte er mit ihm gebrochen? Ehrlich gesagt traute ich mich nicht zu fragen. „Das ist … äh … er muss sich sicher nur an den Gedanken gewöhnen.“
„Nein“, widersprach Anouk sofort. Er versuchte unbeteiligt zu wirken, doch auch einem wortkargen Menschen sah man an, wenn ihn etwas belastete. „Er hat mir erklärt, dass ich mich erst wieder bei ihm melden darf, wenn ich wieder zur Besinnung gekommen bin.“
Ach du … ich hatte ja geahnt, dass es Probleme geben würde, wenn diese Geschichte irgendwann mal rauskam, aber mit den größten Schwierigkeiten hatte ich bei Alinas Eltern gerechnet. „Und deine Mutter?“, traute ich mich zu fragen. „Was sagt die dazu?“
„Sie möchte das ich glücklich bin. Selbst Opa und Oma haben damit kein Problem. Oma freut sich sogar, dass wir es nicht mehr verheimlichen.“
„Moment, soll das heißen, Oma wusste es schon?“
„So direkt hat sie es nicht gesagt, aber es hat den Anschein.“ Ein kleines Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Ihr ist aufgefallen, dass wir auf ihrem Geburtstag letztes Jahr eine Weile verschwunden waren und auch, dass Alina mich in den letzten Monaten ein wenig zu oft besucht hat.“
Das Taxi wurde ein wenig langsamer, als wir an einer Kreuzung abbogen.
„Und was willst du jetzt wegen deines Vaters machen?“
„Gar nichts.“
„Gar nichts?“
Sein Blick richtete sich auf die Windschutzscheibe, als müsste er erst genauer darüber nachdenken. Als er mich dann wieder anschaute, blitzte in seine Augen Wut auf. „Ich werde mir mein Glück nicht zerstören lassen, nur weil er so engstirnig ist. Ich bin erwachsen, ich habe mein eigenes Leben und wenn er nicht daran teilnehmen möchte, dann ist das seine Entscheidung.“
In meinen Ohren klang das eher verletzt als stur. Das sein Vater diese Beziehung so rigoros ablehnte, schien ihn wirklich getroffen zu haben. Ich konnte es verstehen. Bei meiner Verlobung im letzten Jahr hatte mein Vater ganz ähnlich reagiert und hätte er nicht eingelenkt … ich war mir nicht sicher, wie es geendet hätte. „Es brauch sicher nur ein wenig Zeit.“
Seine Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. „Mein Vater ist nicht wie Raphael. Ich bin sein Sohn und er hat mich lieb, daran zweifle ich keinen Moment, aber er lebt nur für meine Mutter.“
„Aber dann kann vielleicht deine Mutter mit …“
„Nein“, unterbrach er mich sofort. „Ich möchte nicht, dass meine Mutter ihn zu etwas bringt, wenn er sich doch innerlich dagegen sträubt. Auch wenn er dann nach außen hin so tun würde, als wäre alles in Ordnung, würde er es mich doch spüren lassen. Er ist in seinen Ansichten leider sehr festgefahren und das zwischen Alina und mir passt nicht in sein Weltbild. Ihm ist es gleich, dass Alina adoptiert ist, sie gehört zur Familie und ich soll mich nach einer anderen Frau umsehen.“
Das Taxi fuhr durch den Kreisverkehr und nahm dann die Straße, die nach oben zum Hof der Lykaner fuhr.
Mein Blick richtete sich nach draußen, als wir die breite Zufahrtsstraße zum Hof nahmen. Links und rechts ragten alte, hohe Eichen auf, deren Geäst sich über der Straße miteinander verwoben hatte. Es war als würde man durch einen langen Tunnel fahren. „Und Alina, was sagt sie dazu?“
„Sie hat versucht mit meinem Vater zu sprechen. Er hat ihr einfach den Rücken gekehrt und ist in sein Arbeitszimmer gegangen.“ Seine Hand ballte sich zur Faust. „Er hat sie nicht mal angehört.“
Was wohl der Grund war, warum Anouk seinen Vater einfach so aus seinem Leben strich.
Ich lehnte mich ins Polster zurück und seufzte innerlich. Familie war manchmal einfach nur zum Kotzen. Ich meine, okay, ich hatte den Gedanken, dass mein Cousin und meine Cousine was miteinander zu laufen hatten am Anfang auch ziemlich seltsam gefunden, aber es war nichts verwerfliches daran und wenn die beiden miteinander glücklich waren, sollten wir uns doch für sie freuen. Selbst wenn es nichts auf Dauer war und die beiden sich irgendwann wieder trennen sollten, dann war das ihre Sache. Aber den eigenen Sohn abzulehnen, weil einem die Wahl der Freundin nicht gefiel war einfach nur scheiße von Onkel Roger. Besonders im Moment, wo alles so drunter und drüber ging, war es doch besonders wichtig, dass wir eine Familie waren. Wenn Alina und Anouk nun etwas geschah und Onkel Roger sich weiter so quer stellte … er würde es sich niemals verzeihen können.
Ich würde es mir niemals verzeihen können.
„Tust du mir einen Gefallen?“, fragte ich ihn leise.
Er schaute mich nur abwartend an.
„Pass auf dich und Alina auf. Ich will nicht dass euch auch noch etwas zustößt.“
Nach diesen Worten nahm er ganz unerwartet und untypisch für ihn meine Hand und drückte sie leicht. Die Berührung kam so unerwartet, dass ich mich sofort anspannte und eine kurzen Moment versucht war, ihm meine Hand zu entreißen.
Er schien es zu spüren und ließ mich deswegen wohl auch gleich wieder los, doch sein Blick ruhte ungewandt auf mir. „Alina wird nichts passieren, sie ist in Arkan und wird vorerst auch dort bleiben.“
„Nur weil Iesha bisher nur Leute aus Silenda angegriffen hat, heißt das nicht, dass es auch so bleiben wird. Sie ist unberechenbar.“
„Mag sein, aber sie scheint sich im Moment nur auf dein direktes Umfeld zu konzentrieren, was bedeutet, dass sie hier ist.“
Das war kein wirklich beruhigender Gedanke. „Dann solltest du vielleicht auch die Stadt verlassen“, murmelte ich.
Dazu sagte er nichts. Vielleicht weil er sich das schon selber überlegt hatte. Auch wenn ich ihn verstehen konnte, einfach weil es in meiner Gegenwart nicht mehr sicher war, so war der Gedanke doch bitter.
Die Zufahrtsstraße neigte sich dem Ende und vor uns kam die große Außenmauer des Schlossgeländes in Sicht. Sie war aus groben Stein und maß sicher an die zehn Meter. Oben auf liefen die Wächter der Königsgarde in ihren schwarzen Militäruniformen Patrouilliere. Diese Uniformen sahen fast genauso aus wie die der Stadtwächter, nur hatten die Wächter der Garde noch ein kleines Emblem auf ihrer Uniform. Ein Wolf auf einer Krone.
Das Taxi hielt direkt vor dem bewachten Tor. Es stand offen, als wollte es jedermann einladen hereinzukommen, doch niemand konnte den Hof der Königin betreten, ohne sich vorher bei den Wächtern anzumelden und mitzuteilen, was genau man hier wollte.
Sobald Anouk den Fahrer bezahlt hatte, stiegen wir aus. Dabei konnte ich es nicht verhindern, dass ich ganz automatisch nach dem Elektroschocker in meiner Jackentasche griff. Cio hatte dafür gesorgt, dass ich ihn wiederbekam, noch bevor wir gestern ins Krankenhaus gefahren waren.
Sobald da Taxi abgefahren war, gesellte ich mich an Anouks Seite und trat mit ihm zusammen in die Warteschlange der Bittsteller. Es waren nur drei Leute vor uns. Ein älterer Mann und ein Pärchen, bei dem die Frau ohne Punkt und Komma redete und gar nicht zu merken schien, dass ihr Mann die Umgebung viel interessanter fand, als ihr Gequatsche.
Als wir an der Reihe waren, zogen Anouk und ich unsere Ausweise ohne Aufforderung aus der Tasche und übergaben sie an den diensthabenden Wächter, damit er unsere Namen in seine Liste eintragen konnte.
Während sein Kugelschreiber über das Klemmbrett huschte, fragte er: „Was ist der Grund ihres Besuchs?“
„Ich bin für ein Gespräch mit Großwächter Hardy Geisler hier.“
Als der Wächter und Anouk mich daraufhin etwas genauer betrachteten, verzog ich keine Mine. Ja, es war Absicht gewesen, es so klingen zu lassen, als würde Ieshas Vater mich zu einem Termin erwarten und nein, ich hatte deswegen kein schlechtes Gewissen. Das hier war wichtig.
Nach einem letzten kritischen Blick, trug der Wächter mein Anliegen in seiner Liste ein und gab uns dann unsere Ausweise zurück. „Rechts am Schloss vorbei, Richtung Menagerie, noch vor der Koppel. Großwächter Hardy hat sein Büro in der Kaserne unten links.“
„Danke, ich weiß wo das ist.“ Ich lächelte ihm noch einmal zu und huschte dann eilig an ihm vorbei.
Als ich vor vier Jahren den Hof zum ersten Mal betreten hatte, war mir vor Staunen fast der Mund runter geklappt. Ich wusste nicht mehr, was genau ich damals erwartet hatte, aber sicher keine moderne Variante einer mittelalterlichen Burg.
Der Vorhof, in dem man vom Tor aus trat, war eher karg gestaltet. Von hier aus gelangte man zu den Wirtschaftsgebäuden und den Orten der täglichen Geschäften, was bedeutete, dass selbst bei dieser Kälte hier viel Betrieb herrschte. Vampire und Lykaner beider Geschlechter und jeglichem alters, ergaben eine geschäftige Mischung.
Wirklich beeindruckend war aber der Teil, der rechts hinten dem offenen Fallgitter lag. Dort, versteckt im hintersten Winkel, lag das Hauptquartier der Themis, der Arbeitsplatz meiner leiblichen Eltern. Doch was jedem neuen Besucher ein staunendes Wow entrang, war die kreisrunde Auffahrt vor dem riesigen Schlossportal.
Jetzt im Winter war es nicht ganz so beeindruckend, weil der Brunnen wegen der Jahreszeit abgestellt war und die vielen Beete zugedeckt, doch im Sommer war es einfach nur eindrucksvoll, genau wie das Schloss selber.
Schon das Portal war mit seinen handgearbeiteten Schnitzereien von Wölfen, Wäldern und dem Vollmond, ein einzigartiges Kunstwerk. Das Schloss selber war so mit Efeu behangen, dass es ein wenig verwunschen wirkte. Auch die kunstvollen Buntglasfenstern, versteckten Erker und zahllosen Türme und Balkons untermalten diese Wirkung. Selbst jetzt noch, nachdem ich mehrere Jahre hier gearbeitet und es somit bereits sehr oft gesehen hatte, flößte es mir noch immer eine gewisse Ehrfurcht ein.
Dieser Ort, an dem der Alpha unseres Rudels lebte, war nun einmal etwas ganz Besonderes und allein das Wissen, dass Königin Sadrija irgendwo in diesen Mauen war, ließ mich ein kleinen wenig leichter atmen. Das war albern. Zwar war sie mit mir verwand, aber ich hatte ja nie wirklich viel mit ihr zu tun gehabt. Trotzdem, sie war der mächtigste Wolf in unserem Rudel und hatte nun mal diesen Effekt auf die Omegas – ich machte da keine Ausnahme.
Jetzt allerdings war weder das Schloss, noch Sadrija für mich von Bedeutung, denn mein Weg führte ich rechts an dem Prachtbau vorbei und es war ziemlich unwahrscheinlich, dass ich meiner Großcousine begegnen würde.
Anouk hielt sich an meiner Seite. Er lief nahe genug, dass ich mich nicht alleine fühlte, berührte mich dabei aber nicht. Trotzdem bemerkte ich seinen nachdenklichen Blick.
„Es gibt nicht viele Leute, die so viel Zurückhaltung beweisen. Wärst du Alina, hättest du mich schon am Telefon gefragt, was ich hier will.“
Seine Erwiderung bestand in einem leichten Schulterzucken, dass alles und auch nichts bedeuten konnte.
„Iesha muss aufgehalten werden“, sagte ich und hielt mich weiter rechts, wo ein großes, nichtssagendes Gebäude mit einem leichten Spitzdach stand. Die Fassade war grau und hatte fast so viele Fenster wie das Schloss. Naja, zumindest wie der vordere Teil des Schlosses, denn nach hinten zu den Gärten und Wäldern der Könige, ginge es noch viel weiter. „Mir ist klar, dass die Wächter ihren Vater wahrscheinlich schon befragt haben und das sicher auch viel besser können als ich, aber … ich weiß nicht, ich muss es einfach versuchen.“
„Du musst dich vor mir nicht rechtfertigen, ich verstehe dich.“
Dafür bekam er ein kleines Lächeln. „Du willst mir also nicht sagen, dass ich das doch besser den Profis überlassen soll?“
„Die Profis haben bisher nichts erreicht“, war seine Erwiderung. Er warf mir einen kurzen Blick zu. „Vielleicht hast du mehr Glück.“
Ein weiteres Mal an diesem Tag erstaunte Anouk mich. Alle sagten mir immer, dass ich mich da nicht zu sehr reinhängen und es anderen überlassen sollte. Natürlich war mir klar, dass sie das machten, weil sie nicht wollten, dass mich diese Situation noch mehr belastete, als sie es ohnehin schon tat, aber es war doch ganz nett einmal keine Steine in den Weg gelegt zu bekommen.
Wir brauchten noch fünf Minuten, bis wir den Eingang zur Kaserne erreichten. Eine Tür, die genauso unauffällig und nichtssagend wie der Rest des Gebäudes war. Direkt daneben standen mehrere Bänke, die von ein paar Leuten besetzt waren. Manche trugen ihre Uniform, andere standen nur da und rauchten eine Zigarette. Ich mochte keine Zigaretten und konnte auch nicht verstehen, wie die Leute sich das freiwillig antun konnten.
Anouk hielt mir die Tür auf und ließ mich vorgehen, was mich ein kleinen wenig nervös machte. Es war nicht so, dass die Korridore mit Wächtern überfüllt waren, aber da waren doch einige und ich erinnerte mich nur zu gut daran, dass sowohl Darja, als auch Owen einmal zu ihnen gehört hatten. Die beiden hatten hier gearbeitet und gelebt. Dieses Gebäude war ihr Zuhause gewesen und jetzt war ich sozusagen direkt in ihr Nest marschiert.
Als ich spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte, trat ich unwillkürlich einen Schritt zurück und als der Mann am Ende des Korridors mich ein wenig zu genau musterte, wurde der Griff um meinen Elektroschocker noch fester.
„Hier.“ Anouk hielt mir seine Hand hin.
Verständnislos schaute ich von seiner Hand zu ihm.
„Du hast mich angerufen, um nicht allein zu sein.“ Er hielt die Hand ein wenig höher. „Es ist okay.“
Eigentlich sollte ich … keine Ahnung, vielleicht peinlich berührt sein. Wäre er Kasper, oder Aric, würde ich keinen Moment zögern. Alina hätte mir ihre Hand nicht mal angeboten, sondern direkt zugegriffen, aber bei Anouk war das irgendwie immer seltsam für mich. Und doch kam ich nicht umhin mich ein wenig besser zu fühlen, sobald ich meine Finger mit seinen verschränkte.
„Das Büro ist gleich da drüben.“ Er zeigte auf eine offene Tür, links den eintönigen Korridor hinunter. Da direkt vor dem Raum ein großes Schild von der Decke baumelte, das verkündete, dass dort der Großwächter zu finden sei, wunderte ich mich auch nicht, woher er das plötzlich wusste.
Ich atmete noch einmal tief ein und nahm dann langsam Kurs auf unser Ziel. Leider wurde mir bei unserem Näherkommen klar, dass ich gar nicht genau wusste, wie ich den Großwächter nach seiner Tochter fragen sollte. Für mich war dieses Gespräch wichtig, aber es ging würde dabei um seine mordende Tochter gehen. Das war sicher kein einfaches Thema. Deswegen zögerte ich, als ich an der offenen Tür stand.
Das Büro war schlicht gehalten. Ein einfacher Schreibtisch, links noch ein paar praktische Bücherregale und rechts eine ganze Reihe von Aktenschränken. Es gab auch eine große Pinnwand mit zahlreichen Listen und einer Karte, aber sowohl Zimmerpflanzen, als auch Gardinen oder Vorhänge suchte man hier vergeblich.
Mit dem Hinter an dem Schreibtisch lehnte ein recht breitschultriger Mann mit angegrautem Haar und einem auffälligen Tribialtattoo auf dem rechten Oberarm. Es schaute aus dem Ärmel seines schwarzen T-Shirts heraus. Er wirkte wie Anfang fündig und musste daher doppelt so alt sein. Das war Großwächter Hardy, Ieshas Vater.
Er hielt einen Ordner in der Hand und unterhielt sich mit den beiden Wächtern, die direkt vor ihm standen. Den einen von ihnen kannte ich sogar, das war Wächter Mirko, einer der beiden Männer, die mich im letzten Jahr wegen dem Amor-Killer bewacht hatten. Er war immer nett zu mir gewesen, doch ihn so unerwartet vor mir zu sehen, ließ ein mulmiges Gefühl in mir aufsteigen.
Da ich nichts weiter tat als dazustehen und die drei Männer uns anscheinend nicht bemerkten, hob Anouk die Faust und klopfte an die offene Tür, um auf uns aufmerksam zu machen.
Das leise Gespräch der drei Männer verstummte, als sie sich zu uns umwandten. Ieshas Vater und der unbekannte Wächter ließen sich nicht anmerken, ob sie wussten, wer ich war, der leicht gedrungener Mirko, mit dem nussbraunem Haar und dem kantigen Kinn jedoch lächelte bei meinem Anblick und grüßte mich mit einem Nicken.
„Kann ich ihnen helfen?“, erkundigte der Großwächter sich nüchtern.
„Ähm“, machte ich und zögerte einen Moment. „Wenn sie einen Moment Zeit hätten, würde ich mich gerne mit ihnen unterhalten.“
Seine Lippen wurden ein wenig schmaler. „Eigentlich habe ich sehr viel zu tun.“
„Es dauert auch nicht lange“, beeilte ich mich zu sagen. „Es geht um … ah.“ Ich warf einen Blick zu den beiden anderen Wächtern. „Ich würde gerne mit ihnen über Iesha sprechen.“
Sowohl Wächter Mirko, als auch der andere richteten sich bei diesen Worten ein kleinen wenig gerader auf und nun wirkte keiner von beiden mehr sehr freundlich. Hardy jedoch rieb sich nur müde über die Stirn, als sei er dieses Thema einfach nur noch leid. Wahrscheinlicher war aber, dass es ihn genauso belastete, wie mich.
„Ich habe bereits mit den Wächtern der Stadt, der Königin und auch deinem Vater darüber gesprochen.
Also wusste er doch wer ich war.
„Ich weiß weder wo sie ist, noch was sie als nächstes tun wird“, fügte er noch hinzu. „Ich habe keine neuen Informationen für dich.“
Er wollte also nicht mit mir darüber sprechen. Ich konnte es ihm nicht verdenken, aber ich konnte auch nicht so einfach wieder gehen. „Ich bin nicht hier um ihnen Vorwürfe zu machen“, sagte ich. „Ich versuche nur sie zu finden.“
Der müde Ausdruck verschwand hinter einer neutralen Maske. „Ich möchte dir keine Vorschriften machen, aber ich denke du bist die Letzte, die nach ihr suchen sollte.“
Dem durchdringenden Blick standzuhalten, war nicht ganz einfach. „Ich muss sie aber finden, weil sie …“
„Geh nach Hause, Zaira und überlass die Suche Leuten die etwas davon verstehen. Ich habe keinerlei Interesse an einem Gespräch mit dir.“
Das nannte man dann wohl einen sehr direkten Korb.
Anouk richtete sich ein wenig gerader auf. „Zairas Vater liegt seit gestern im Krankenhaus, weil Iesha ihm eine Paketbombe ins Haus geschickt hat. Zaira ist nicht hier, um sie für die Taten ihrer Tochter verantwortlich zu machen, sie möchte nur ein paar Minuten ihrer Zeit. Das dürfte meines Erachtens nach in dieser prekären Situation nicht zu viel verlangt sein.“
Die Lippen des Mannes wurden deutlich schmaler. Sein Blick jedoch hatte etwas geschlagenes, als er von uns zu seinen Männern glitt. „In Ordnung“, sagte er dann, klappte seinen Ordner zusammen und warf ihn achtlos aus den Schreibtisch. „Mikro, David, wir unterhalten uns später.“
„Bist du dir sicher?“, fragte dieser David.
„Ja, es ist alles gut, macht dass ihr hier rauskommt.“
Sowohl Mirko, als auch David schienen nicht der Auffassung zu sein, dass alles gut war und auch ich würde mich dieser Meinung nicht anschließen, aber sie verließen gehorsam das Büro und schlossen sogar die Tür, sobald Anouk und ich eingetreten waren.
Hardy musterte mich und auch Anouk genauso wie unsere verschränkten Hände.
„Er ist mein Cousin“, fühlte ich mich verpflichtet zu erklären.
Das schien dem Großwächter ziemlich egal zu sein. „Was möchtest du wissen?“
Ja, das würde jetzt wahrscheinlich ein wenig schwierig werden, aber ich würde mich nicht abwimmeln lassen. „Ich möchte wissen, in welcher Psychiatrie Iesha behandelt wurde und ich möchte Zugang zu ihren Akten. Wenn es sich einrichten lässt, würde ich auch gerne mit ihren Ärzten und Pflegern sprechen.“
Wenn ich die Blicke der beiden richtig interpretierte, hatte damit wohl keiner von ihnen gerechnet.
„Du willst Zugang zu Ieshas Krankengeschichte?“, versicherte Hardy sich noch einmal, als glaubte er sich verhört zu haben.
Ich nickte. „Iesha war bereits vor ihrem Klinikaufenthalt …“ Ich wedelte mit der Hand und suchte nach dem richtigen Wort.
„Unzurechnungsfähig“, bot Hardy an.
„Ja, wahrscheinlich. Aber wirklich schlimm ist es erst nach ihrer Entlassung geworden, was bedeutet, dort muss etwas passiert sein. Ich will herausfinden was das ist.“
Er bedachte mich mit einem undurchdringlichen Blick, seufzte dann und stieß sich von seinem Schreibtisch ab, um sich dahinter auf seinen Stuhl nieder zu lassen. „Setzt euch doch.“
Es dauerte einen Moment, bis wir der Aufforderung nachkamen, weil wir den einen Stuhl erst noch an den Schreibtisch holen mussten.
Als wird dann saßen, verschränkte Großwächter Hardy seine Hände auf der Tischplatte und musste dann erstmal nach Worten suchen. Dieses Thema schien ihm nicht ganz leicht zu fallen und als er sich dann endlich dazu entschloss den Mund zu öffnen, klingelte auch noch mein Handy.
„Mist“, fluchte ich und schaute ihn entschuldigend an, während ich es aus meiner Jackentasche fischte. Im Moment war es nicht gut, wenn ich nicht an mein Handy ging und sich irgendwer Sorgen um mich machte. Als ich sah, wer mich da anrief, fluchte ich gleich noch mal. „Ja?“
„Wo verdammt noch mal steckst du?!“, fuhr Cio mich an. In seiner Stimme klang eindeutig ein Hauch von Sorge mit.
Genau das hatte ich eigentlich verhindern wollen. „Ich bin am Hof der Lykaner.“
„Was?“ Er schien zu glauben, sich verhört zu haben. „Ist was passiert? Brauchst du …“
„Es ist alles okay“, beruhigte ich ihn hastig. „Ich bin nicht allein, Anouk ist bei mir und ich bin gerade in einem Gespräch. Kann ich dich danach zurückrufen?“
„Nein. Nein das kannst du nicht. Was zur Hölle treibst du mit Anouk am Hof? Ich habe extra früher Schluss gemacht und komme nach Hause, aber du warst nicht hier. Hast du eine Ahnung, was für einen Schrecken du mir eingejagt hast?“
„Das wollte ich nicht. Ich hab gedacht, ich bin vor dir zurück und dann hätte ich es dir erzählt. Ich bin gerade in einem Gespräch mit Großwächter Hardy und der hat nicht viel Zeit. Bitte Cio, lass uns nachher reden.“
Das ließ ihn einen Moment verstummen, aber das schwere Seufzen das folgte, überraschte mich nicht im Mindesten. „Das geht nicht, Schäfchen, du kannst nicht …“
„Bitte Cio, es ist wichtig.“
Seine Unzufriedenheit war praktisch durchs Telefon zu spüren. „In Ordnung, okay, meinetwegen. Bleib da, ich mache mich auf den Weg und hole dich ab.“
Ähm … okay, so war das eigentlich nicht gedacht gewesen. „Ist gut. Anouk und ich sind bei der Kaserne.“
„Okay, dann sehen wir uns gleich.“
„Bis gleich“, verabschiedete auch ich mich und ließ das Handy dann in meinen Schoß sinken. So viel zum Thema, Cio keine unnötigen Sorgen zu bereiten. Hatte ja prima funktioniert. „Tut mir leid“, entschuldigte ich mich.
„Bringen wir es einfach hinter uns.“
„Okay, ja. Ich möchte die Erlaubnis haben, weil …“
„Das habe ich verstanden“, unterbrach er mich. Dabei war er nicht grob, er schien das Gespräch einfach nur so kurz wie möglich halten zu wollen. „Und ich fürchte, dass du einer Fehlinformation unterliegst. Ieshas bedenkliches Verhalten begann nicht erst mit dem Sturz von Königin Cayenne, sie hat schon in ihrer Kindheit ein sehr auffälliges Verhalten gezeigt.“
Ich nickte. „Ich weiß. Ich habe mit Cayenne darüber gesprochen und sie hat mir von ihrem Aggressionsproblem berichtet und auch davon, dass die Therapien nicht geholfen haben, beziehungsweise, dass sie viel geschauspielert hatte, um normal zu wirken.“
„Es war weit mehr als das“, bekannte Hardy. „Schon als kleines Kind war Iesha fasziniert von … morbiden Dingen. Das erste Mal wirklich aufgefallen ist es, als Umbra Diego mit den Kindern einen nächtlichen Ausflug in den Wald machte und sie dabei einen Vogel tötete. Das Jagdverhalten bei jungen Lykanern ist nichts ungewöhnliches, nur hat Iesha es genossen. Sie fand gefallen daran, schwächere zu verletzen und Tiere zu töten, einfach weil sie es konnte. Sie war vielleicht sechs oder sieben Jahre gewesen, als ich sie das erste Mal darauf angesprochen hatte und sie sagte mir, sie mochte den Geschmack von Blut.“
Das war wirklich morbide. Lykaner waren Tiere und ja, es gab auch welche, die jagen gingen. Zwar war das heutzutage kein weit verbreitetes Verhalten mehr, einfach weil es zu viele Alternativen gab und es nun mal bequemer war sich sein Steak im Supermarkt zu holen, um es anschließend in einer Pfanne zu braten, aber es gab Jagdgesellschaften, die Wild rissen. Manche von ihnen ließen sich dabei sogar ganz in ihren Wolf fallen und verspachtelten es dann roh, doch im Allgemein, wurde dieses Wild dann mitgenommen und zu Mittagessen verarbeitet.
Ein Tier zu töten, einfach weil man es konnte und sich überlegen fühlen wollte … naja, das war für einen Lykaner eher ungewöhnlich. Sowas machten eigentlich nur Menschen.
„Victoria und ich haben sie zu einer Verhaltenstherapie geschickt und manchmal wurde es besser, aber sie fiel immer wieder in alte Muster zurück. Es war für sie wie eine Sucht, eine inneres Drängen, gegen das sie nicht ankam. Besonders wenn es ihr schlecht ging, oder sie viel Stress hatte, machte sie diese seltsamen Sachen. Es war ihr Ventil.“ Er rieb sich mit dem Daumen immer wieder über den Handballen. „Als sie mit Cio zusammen kam, wurde es besser. Der Junge hat ihr gut getan. Es war, als hätte sie endlich einen Weg gefunden ihre Energien auf andere, normale Dinge zu konzentrieren und den Überschuss so abzubauen. Ihr Arzt sagte, es könnte auch daran liegen, dass sie … naja.“ Er verzog das Gesicht, als würde sein Gedanke ihm unangenehm sein. „Das tat, was junge Verliebte nun mal so tun.“
Aha. Er meinte wohl, dass Iesha sexuell aktiv geworden war.
„Aber dann bekamen die beiden eine Krise, woran die Beziehung fast zerbrochen ist Iesha kam irgendwie mit Gräfin Xaverine, oder einem ihrer Anhänger in Kontakt. Ich weiß bis heute nicht, wie es dazu kam, doch sie begann sich der Gräfin und ihren Plänen zu verschreiben.“
Wie bitte? Iesha hatte schon Cayennes Sturz zu Xaverines Leuten gehört? Das kam unerwartet. Ich hatte zwar nie darüber nachgedacht, wie genau es dazu gekommen war, dass sie sich der Gräfin angeschlossen hatte, aber damit hatte ich nicht gerechnet.
„An dem Morgen, als hier am Hof alles so aus den Fugen geraten war und wir versucht haben das Schloss zu schützen, damit Gräfin Cayenne fliehen konnte, war sie es gewesen, die die Tore geöffnet hatte.“
Mein Mund ging auf, aber die Worte blieben mir im Halse stecken. Ich erinnerte mich genau an diesem Morgen. Ich wusste noch wie ich mit Diego und Kasper um mein Leben gerannt war, ohne zu wissen was überhaupt los war. Ich wusste auch noch, wie Diego einen Wolf hatte töten müssen, der ihm die Kehle raus reißen wollte. Das waren Bilder, die ich niemals vergessen würde.
„Nachdem sie das gemacht hat …“ Er stockte und schloss dann einen Moment den Mund. Sein Blick war mittlerweile auf den Tisch gerichtet, als fiele es ihm so leichter zu sprechen. „Nachdem Königin Sadrija das Rudel übernahm … ihr blieb keine andere Wahl als … Königin Sadrija hat Iesha für ihre Taten und der Mitwirkung am Umsturz …“ Er räusperte sich. „Königin Sadrija erkannte die Gefahr, die von Iesha ausging und gab uns die Wahl: Entweder Iesha ging in die Psychiatrie und musste anschließend das Rudel verlassen, oder sie …“ Wieder brach er ab. Er musste auch gar nicht weiter sprechen. Wenn Sadrija Iesha schon damals als eine solche Gefahr eingestuft hatte, war die einzige andere Möglichkeit das Rudel vor ihr zu schützen, die Todesstrafe.
Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte. „Sie haben also schon damals gewusst, wie gefährlich sie war? Sie haben gewusst, wozu sie fähig war?“ Und sie haben sie einfach leben und weitermachen lassen?! Ich sprach es nicht aus, aber die Worte standen deutlich im Raum.
„Sie ist meine Tochter.“ Es war keine Entschuldigung, einfach nur eine Tatsache.
Meine Hand legte sich schützend auf meinen Bauch. Ich wollte es nicht, besonders nicht nach allem was ich wegen dieser Frau hatte erleiden müssen und was sie getan hatte, aber ich konnte ihn verstehen. Iesha war trotz allem sein Kind.
„Die erste Zeit in der Psychiatrie war für sie schwierig, aber nach ein paar Monaten schien es besser zu werden. Sie hat zwar nie viel erzählt, aber sie hatte dort Freunde gefunden und begann sich einzugliedern. Das einzige Problem war Elicio. Sie fragte immer wieder nach ihm und wollte dass er sie besuchen kam. Sie verstand nicht, dass er eine neue Beziehung hatte und nachdem Victoria ihr einmal klipp und klar erklärt hat, dass Elicio mit ihr abgeschlossen hat und sie sich gefälligst auf ihre Genesung konzentrieren sollte, anstatt einer alten Liebe hinterherzutrauern, begann Iesha ihre Mutter zu hassen.“
Darum also hatte sie Victoria getötet.
„Auf ärztliche Anordnung haben wir alles vor ihr verborgen, was mit ihrem alten Leben zu tun hatte und jedes Mal wenn Victoria sich weigerte Ieshas Entlassungspapiere zu unterschreiben, begann sie ihre Mutter ein kleinen wenig mehr zu hassen. Es war ihr egal gewesen, ob sie noch Teil des Rudel sein würde, wenn sie herauskam. Sie hatte sich eingebildet, dass die Mauern der Psychiatrie sie von Elicio fernhielten. Sie glaubte alles würde wieder gut werden, sobald sie wieder zusammen seien.“
„Hat sie denn gar nicht gewusst, dass er nun mit mir zusammen war?“, traute ich mich zu fragen.
Er zuckte mit den Schulter. „Victoria und ich waren ihrer einzigen Besucher und keine von uns beiden hat es ihr gesagt, aber ich denke, sie hat es zumindest geahnt. Es war egal, es machte keinen Unterschied für sie. In ihren Augen gehört Elicio zu ihr. Nur wenn er bei ihr ist, ist ihre Welt in Ordnung. Und deswegen ist es auch so wichtig, dass du dich von ihr fernhältst. Ich weiß nicht was sie tun wird, wenn sie dich zwischen die Finger bekommt, aber ich weiß, dass sie zu allem fähig ist.“
Ja, das wusste ich auch. „Es macht keinen Unterschied“, sagte ich sicherer als ich mich fühlte. „Iesha bedroht nicht nur mich, sondern jeden der mir nahe steht. Ich kann mich nicht mehr tatenlos in meiner Wohnung verstecken und auf ein Wunder hoffen. Daran gehe ich langsam kaputt. Und jetzt … ich bin schwanger, darum muss es aufhören.“
Anouks Kopf wirbelte so hektisch zu mir herum, dass mir bewusst wurde, wie wenig bisher über diese Tatsache darüber Bescheid wussten. Ich hatte es noch nicht mal Alina gesagt.
Großwächter Hardy senkte den Blick, als würde ihm diese Nachricht den Gnadenstoß versetzen. „Das darf Iesha niemals erfahren.“
So sah ich das auch. „Bitte, gewähren sie mir Zugang zu ihren Krankenakten. Ich muss es einfach versuchen. Ohne Gerichtsbeschluss, oder dem ausdrücklichen Befehl der Alphas, komme ich nur über sie daran, darum bitte, helfen sie mir. Ich bin langsam wirklich verzweifelt.“
Er wirkte so müde. „Heute habe ich wirklich keine Zeit mehr dafür und auch in den nächsten Tagen sieht es nicht gut aus, aber … am Donnerstag habe ich frei. Wenn du wirklich in die Heilanstalt Sanare fahren möchtest, um selber Fragen zu stellen, können wir Donnerstag Vormittag dorthin fahren.“
Donnerstag, das wären noch vier Tage. „In vier Tagen kann viel passieren.“
„Vorher habe ich aber keine Zeit.“ Bedauernd öffnete er die Hände. „Donnerstag oder später.“
Wenn ich ehrlich war, gefiel mir das nicht besonders. Ich würde lieber sofort ins Auto steigen und hinfahren, aber davon abgesehen, dass Cio auf dem Weg hier her war und wir heute noch etwas vor hatten, konnte ich auch nicht verlangen, dass alle ihre Termine über den Haufen warfen, nur weil ich etwas wollte. „Okay, dann Donnerstag. Wann soll ich hier sein?“
„Sei um acht hier. Wir werden ungefähr drei Stunden fahren.“
Ich nickte und erhob mich. „Danke“, sagte ich, als ich ihm meine Hand über den Schreibtisch reichte. „Für alles. Mir ist klar, dass das für sie auch nicht einfach ist.“
„Nein, das ist es nicht“, sagte er und ergriff meine Hand. „Pass bitte auf dich auf. Iesha ist …“ Er verstummte.
„Ich will nicht, dass ihr etwas passiert, ich will nur dass es ein Ende hat.“ Trotz allem was passiert war, meinte ich es genauso wie ich es sagte. Ja, ich wollte das Iesha für das was sie getan hatte bestraft wurde und auch wenn es sich manchmal anders anhörte, wünschte ich ihr nichts Schlechtes, nur … naja, sie sollte einfach die Bedeutung dessen verstehen, was sie getan hatte.
Großwächter Hardy verabschiedete sich auch bei Anouk mit einem Händeschütteln und begleitete uns dann noch bis zu seiner Bürotür. Er wirkte niedergeschlagen, als wir ihm den Rücken kehrten und das Gebäude verließen und zum ersten Mal fragte ich, was er in all den letzten Monaten hatte durchleben müssen.
Victoria war nie seine Gefährtin gewesen, aber ein Teil seines Lebens und die Taten seine Tochter konnten auch nicht spurlos an ihm vorbeigegangen sein. Nicht nur die Toten waren Opfer von Ieshas Treiben geworden, sie hatte auch ihre Spuren auf denen hinterlassen, die zurückgeblieben waren.
Als ich hinter Anouk aus dem Gebäude in den kalten Tag trat, atmete ich erstmal tief durch und begann über das nachzudenken, was ich gerade erfahren hatte. Iesha hatte schon immer Probleme gehabt, dass wusste ich schon, aber die erzwungene Trennen von Cio war zu einem verhängnisvollem Katalysator geworden, der in ihr Wahnvorstellungen … ich stutzte, als ich bemerkte, wie Anouk meinen Bauch anstarrte. „Wir haben es bisher noch niemanden außer unseren Eltern gesagt“, erklärte ich. „Kasper und Aric wissen es zwar auch schon, aber sie haben es eher zufällig mitbekommen.“
Er verzog sein Gesicht ein wenig, als er sich Richtung Hoftor in Bewegung setzte. „Momentan ist es vielleicht gar nicht schlecht, das noch geheim zu halten, aber … Alina wird nicht begeistert sein wenn sie erfährt, dass alle es vor ihr wussten.“
„Wahrscheinlich“, stimmte ich ihm zu und dachte darüber nach lieber zu bleiben wo ich war, schließlich hatte ich Cio gesagt, ich würde an der Kaserne sein. Aber eigentlich dürfte es kein Problem sein, wenn ich ihm ein wenig entgegen kam. „Ich werde sie morgen anrufen und es ihr erzählen.“
„Danke.“ Sein Mundwinkel hob sich ein wenig. „Sie kann es riechen, wenn ich etwas vor ihr verheimliche.“
„Geht dir dein Pokerface etwa verloren, wenn sie in der Nähe ist?“
Aus dem gehobenen Mundwinkel wurde ein kleines Lächeln, doch eine Erwiderung ersparte er sich.
Wir hatten schon fast das offene Tor erreicht, als ich dort mir zwei wohlbekannte Leute entdeckte. Kiara stand dort in einem taubenblauen Kleid, über das sie einen langen, schwarzen Mantel gezogen hatte und unterhielt sich lachend mit Tayfun.
Einen Moment war ich ein wenig irritiert, weil ich nicht mal gewusst hatte, dass die beiden sich kannten. Außerdem lehnte Kiara sonst immer alle ab, was mit Vampiren zu tun hatte, einfach weil sie sich nicht der Wahrheit ihrer Herkunft stellen wollte.
„Wir können hier auf Cio warten“, meinte Anouk, als er mein plötzliches Zögern bemerkte, doch in diesem Moment drahte Tayfun den Kopf, als würde er meinen Blick spüren und bemerkte mich.
Sobald er mich sah, wurde sein Lächeln breiter und er winkte mich zu sich heran. Das Lächeln auf Kiaras Gesicht hingegen wirkte mit einem Mal sehr gezwungen und unter der Oberfläche erschien ihre Abneigung.
„Hoffentlich braucht Cio nicht mehr so lange“, murmelte ich und ging mit Anouk zu ihnen herüber. „Hey“, begrüßte ich die beiden mit einem Lächeln, konzentrierte mich dann aber auf Tayfun, da meine Schwester nicht den Eindruck machte, mit mir sprechen zu wollen. Dabei achtete ich genau darauf, ihm nicht zu nahe zu kommen. Ich wollte gerade nicht zur Begrüßung in den Arm genommen werden und das nicht nur, weil Cio jeden Moment auftauchen könnte. „Wie geht es dir, alles wieder gut?“
„Es wird schon“, sagte er mit einem schiefen Grinsen, bei dem ich seinen abgebrochenen Reißzahn deutlich sehen konnte. „Man gewöhnt sich an alles.“
Bedauern regte sich in mir. Das war nur passiert, weil ich ihn gern hatte. „Es tut mir leid“, murmelte ich.
„Warum? Du warst es ja nicht, die …“
„Das sollte es auch“, unterbrach Kiara ihn und funkelte mich an. „Ich hab ihn schon früher gesagt, es wäre für ihn besser, wenn er sich von dir fernhält. Leider hat er nicht auf mich gehört.“
Nach diesem direkten Schlag fiel es mir nicht ganz leicht mein Lächeln bei mir zu behalten. „Ich habe nie gewollt, dass sowas passiert.“
„Das weiß ich“, sagte Tayfun sofort und warf Kiara einen mahnenden Blick zu. „Ich mache dir auch keine Vorwürfe.“
„Aber das solltest du.“ Sie musterte mich, als sei ich etwas Widerliches. „Ich hoffe nur, dass Iesha versteht, wie wenig ich mit dir zu tun habe und es ihr gar nichts bringen würde, wenn sie mich angreift. Und das eine sagte ich dir: Wenn Mama oder Papa wegen dir etwas geschieht, dann kannst du etwas erleben.“
Das saß. Nun verschwanden auch noch die Reste meines Lächelns und ich war nicht einmal fähig zu kontern, einfach weil ich selber diese Befürchtung hatte. Niemand der mir wichtig war, war noch sicher.
„Wie armselig“, sagte Anouk auf einmal und bekam damit Kiaras ungeteilte Aufmerksamkeit. Leider bestand die hauptsächlich aus Herablassung.
„Und du bist?“
Er musterte sie einmal auf seine stumme Art, wandte sich dann mir zu und sagte: „Da kommt Cio.“
Und tatsächlich. Gerade parkte er den Wagen am Straßenrand. „Dann sollten wir rausgehen.“ Ich nickte Tayfun noch einmal zu. „Wir sehen uns.“
„Hoffentlich.“ Er lächelte. „Ich melde mich.“
„Okay.“ Ich wandte mich noch einmal an Kiara, verkniff es mir dann aber noch etwas in ihre Richtung zu sagen.
„Weißt du“, bemerkte Anouk nüchtern, als wir an den beiden vorbei gingen. „Es gibt Leute, die sind es nicht wert, dass man sie in seinem Leben hat. Deine Schwester ist so jemand.“
Ich hörte wie Kiara hinter mir nach Luft schnappte.
Mir war klar, dass er mich nach ihrem Angriff damit nur ein wenig aufmuntern wollte und deswegen sah ich mich auch gezwungen ihm ein kleines Lächeln zu schenken, aber ich fühlte es nicht. Kiaras Ablehnung, besonders in dieser Situation, es machte mich einfach nur … naja, nicht wirklich traurig und auch nicht wütend. Es war eine Mischung, von beidem, weil ich einfach nicht verstand was los war.
Dann hatte ich im letzten Jahr halt verraten dass sie schwanger war, obwohl ich ihr versprochen hatte das nicht zu tun, aber ich hatte es doch nicht gemacht um sie zu verletzten. Sie hatte sich dumm verhalten und sie hatte noch etwas viel Dümmeres vorgehabt. Ich verlangte ja nicht, dass sie mich plötzlich lieben sollte, aber was sie hier trieb war einfach nur scheiße von ihr.
Am Tor nickte ich den Wächtern zu, bevor ich an die Seite trat, wo Cio bereits neben dem Wagen auf mich wartete und mich mein Näherkommen auf eine Art musterte, als würde er befürchten, irgendein Teil von mir sei abhanden gekommen.
„Mir geht es gut“, erklärte ich, bevor er den Mund öffnen konnte.
Das hatte einen wirklich bösen Blick von ihm zufolge, der jedoch darin endete, dass er meine Hand nahm und mich in die Arme zog. „Mach das einfach nicht noch mal. Zumindest nicht, ohne mir wenigstens eine Nachricht zu hinterlassen.“
Ich versuchte entspannt zu bleiben, wirklich, nur leider spielte mein Körper da nicht ganz so mit. „Versprochen.“ Vorsichtig löste ich mich aus seiner Umarmung, behielt aber seine Hand in meiner. Cio sah von der Nachtschicht ein wenig müde und zerzaust aus. „Dann sollte ich dir wohl auch besser gleich sagen, dass ich am Donnerstag mit Großwächter Hardy in die Heilanstalt Sanare fahre.“
Da war es mit der gespielten Entspannung vorbei. „Was?“
„Darum war ich hier. Ich will Ieshas Krankenakte sehen und deswegen fahren wir am in die Heilanstalt.“
Seine Lippen wurden ein wenig schmaler, aber er hielt den Mund.
„Ich weiß, dass dir das nicht gefällt und wenn du mitkommen willst, werde ich nicht nein sagen, aber ich kann einfach nicht mehr rumsitzen und nichts tun. Iesha ist wie ein Geist. Sie bleibt verschwunden, es gibt keine neuen Spuren, kein gar nichts und es muss endlich aufhören.“ Denn sonst würden wir niemals sicher sein.
Es passte ihm nicht. Ich sah es an dem verkniffenen Zug um seinen Mund und auch daran, wie er einem Moment meinen Blick auswich, als läge ihm etwas auf der Zunge, was er unbedingt am Rauskommen hindern wollte. „Okay“, sagte er dann trotz allem und setzte ein schiefes Lächeln auf. „Wann fahren wir?“
Anstatt ihm zu antworten, beugte ich mich vor und gab ihm einen Kuss. „Danke.“
„Versprich mir nur, dass du aufpasst und nicht alleine auf sie jagt machst, falls du wirklich etwas finden solltest. Ich will nicht, dass du Iesha zu nahe kommst.“
„Hast du so großes Vertrauen in meine Fähigkeiten?“
Er verzog so gefällt das Gesicht, dass ich grinsen musste. „Leider ja.“
°°°
„Er hat schlechte Laune“, erklärte meine Mutter und ignorierte Papas bösen Blick. „Vorhin hat er die Krankenschwester angefaucht, als sie ihm den Zugang neu gelegt hat.“
„Ja, weil die Frau eine Schlächterin ist“, verteidigte mein Vater sich grummelnd mit einem Ton, der verkündete, dass die ganze Welt gegen ihn war. „Ihr macht es Spaß, ihre Patienten zu quälen. Die hat mir die Nadel praktisch durch den ganzen Arm gerammt.“
Mama verdrehte die Augen. „Er ist so ein Baby, wenn er krank ist.“ Sie saß mit gerunzelter Stirn im Schneidersitz neben meinem Vater im Krankenhausbett und versuchte zu stricken. Ihre ganze Konzentration lag auf ihrer Handarbeit, als könnte sie die Laschen mit purer Willenskraft dazu bekommen, ihrem Wünschen zu gehorchen.
Ich hatte weder eine Ahnung, woher sie die Nadeln, noch die Wolle hatte. Bisher hatte ich nicht mal gewusst, dass sie sich fürs Stricken interessierte und das was sie da tat, sah auch ziemlich nach erstem Versuch aus. Auf jeden Fall hatte es keinerlei Ähnlichkeit mit dem Strickmuster auf der Zeitschrift, die sie auf Papas Beine gelegt hatte.
Es war kurz nach zehn. Als Cio und ich vor einer Stunde hier aufgetaucht waren, hatte eine Pflegerin gerade die Reste des Frühstücks abgeräumt. Papa lag in einem dunkelblauen Pyjama mit kurzen Ärmeln im Bett und war wohl der wehleidigste Patient, den ich jemals erlebt hatte. Doch so wie er aussah, hatte er wohl auch jedes Recht dazu.
Trotz der Heilkräfte eines Vampirs und der Tatsache, dass der Vorfall bereits drei Tage zurück lag, waren seine Hände noch immer dick bandagiert. Ich hatte keine Ahnung, wie es darunter aussah und ich war mir auch nicht sicher, ob ich das wissen wollte, nicht wenn ich noch immer die verblassten Kratzer und Blutergüsse auf seinen Armen sehen konnte. Doch das war gar nichts zu seinem Kopf.
Seine rechte Gesichtshälfte war noch immer von einem Verband verdeckt. Man hatte ihm auf dieser Seite sogar einen Teil seiner Haare abrasiert, wodurch der Rest ein wenig chaotisch zu allen Seiten Abstand. Die Augen waren frei und zum Glück unverletzt, aber er hatte dunkle Ringe darunter, die durch die Blutergüsse drumherum jedoch nur schwer zu erkennen waren. Er sah aus, als wäre er in eine heftige Schlägerei geraten, oder eben, als sei etwas in seinen Händen explodiert.
Sein einziges Glück war es gewesen, dass er beim Öffnen des Pakets den Telefonhörer zwischen Kopf und Schulter eingeklemmt hatte. Dadurch war sein linke Seite so gut wie unberührt geblieben und die Wucht hatte ihn auch nicht so frontal getroffen, als hätte er sich dabei darüber gelehnt.
Leider hatte sich der Verdacht der Gehirnerschütterung bestätigt, aber auch die war bei weitem nicht so extrem, wie es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte. Es war nur ein schwacher Trost, doch der Arzt hatte mir mehr als einmal versichert, dass es ihn auch weitaus schlimmer hätte treffen können. Narben würden sich jedoch nicht vermeiden lassen und ihn nicht nur für den Rest seines Lebens begleiten, sondern ihn auch immer an diesen Tag erinnern.
„Ich bin kein Baby“, grummelte mein Vater und schien es unerhört zu finden, dass Mamas Strickzeug mehr Interesse von ihr bekam, als er. Er wirkte müde und ausgelaugt, genau wie meine Mutter. „Ich habe es einfach nur satt in diesem Bett zu liegen und den ganzen Tag die Wand anzustarren. Da kann ich auch genauso gut Zuhause auf der Couch liegen.“
„Nur mit dem Unterschied, dass du da keine Ärzte hast, die im Notfall zur Stelle sind“, gab ich zu bedenken. Cio und ich hatten es uns in den Besucherstühlen neben dem Bett bequem gemacht.
„Ich sehe nicht wirklich, wo da der Nachteil wäre“, bemerkte Papa. „Dann wäre dieses ewige Piken und herumdoktern wenigstens vorbei.“
„Du bleibst wo du bist“, bestimmte Mama ohne von ihrer Arbeit aufzuschauen.
Mein Vater gab ein leidiges Seufzen von sich, was Cio zum Grinsen brachte.
„Die Jagd auf Skhän schreckt ihn nicht, doch wehe da kommt jemand mit einer Nadel.“ Als mein Vater ihn darauf anfunkelte, wurde sein Lächeln noch breiter. Solange mein Vater das Bett hüten musste, fühlte er sich wohl sicher.
„Oh!“, sagte da Mama plötzlich, war ihr Strickzeug ohne Rücksicht auf Verluste einfach auf Papa und stieg dann eilig aus dem Bett, um an ihre Tasche zu kommen.
Papa drehte den Kopf, um ihr zu folgen und auch wenn er versuchte es zu verstecken, sah ich ganz genau, wie er dabei vor Schmerz leicht das Gesicht verzog.
Wieder brodelten die Schuldgefühle in mir hoch und es wunderte mich gar nicht, dass Cio meine Hand sofort ein wenig drückte. Ihm war diese Regung natürlich auch nicht entgangen.
„Ich war gestern kurz bei Bronco und bin dabei an diesem kleinen Laden vorbeigekommen“, erzählte meine Mutter und zog mit einem strahlenden Gesicht eine nichtssagende weiße Tüte aus ihrer Tasche, mit der sie sich zurück aufs Bett setzte. „Ich fand das so süß, da musste ich es einfach kaufen.“ Sie überreichte mir die Tüte und beachtete den misstrauischen Blick in meinem Gesicht gar nicht.
Bei meiner Mutter konnte man leider nie wissen, was einen erwartete, aber da auch mein Vater lächelte, öffnete ich die Tüte todesmutig und warf einen Blick hinein. „Oh“, machte ich, als ich den weichen Stoff sah. Als ich ihn herausholte und auf meinem Schoß ausbreitete, entpuppte er sich kleiner Babystrampler in einem hellen grün. Die linke Seite war gestreift, dir Rechte einfarbig mit einem gestreiften Babywolf darauf, der einen Schnuller im Mund hatte. Auf der gestreiften Seite war ein einfarbiger Mond mit einem friedlich schlafendem Gesicht.
Vorsichtig strich ich mit den Fingern über den Strampler. Bisher hatte ich mich nicht getraut irgendwas für den kleinen Passagier zu kaufen. Nicht nur weil ich mich die meiste Zeit Zuhause verkrochen hatte, ich hatte auch Angst gehabt, dass Cio zufällig darüber stolpern würde, oder dass vielleicht doch noch irgendwas schief ging. Dann hätte ich Sachen für ein Baby, aber kein Baby. Dieser Gedanke war einfach nur fürchterlich gewesen.
„Und?“, fragte Mama. „Wie findest du ihn?“
Meine Antwort bestand aus einem Lächeln. „Der erste Strampler für den kleinen Passagier.“
„Damit ist es dann wohl offiziell, wir bekommen ein Baby.“ Cio beugte sich vor und gab mir einen Kuss auf die Wange.
„Jetzt fehlt nur noch der ganze Rest.“
„Inklusive des Babys, aber das habe ich dir ja bereits in den Ofen geschoben.“ Als er liebevoll meinen Bauch tätschelte, bemerkte er die leicht verengten Augen meines Vaters. „Äh, ich meine …“
„Er meint, wir müssen jetzt gehen, weil wir noch Kasper besuchen wollen, bevor wir Ferox aus der Tierklinik abholen.“ Ich erhob mich vom Stuhl, beugte mich über das Bett und gab Mama einen Kuss auf die Wange. „Danke, der Strampler ist wirklich toll.“
„Das freut mich. Sobald ich etwas Zeit habe, schaue ich mal, ob ich deine alten Babysachen finde. Vielleicht ist da ja noch etwas für das Kleine dabei.“
„Das würde mich freuen.“ Ich beugte mich auch über Papa und gab ihm vorsichtig einen Kuss auf die linke Wange. „Wenn du was brauchst, rufst du an, okay?“
„Mir geht es gut“, beruhigte er mich sofort. „Gib mir nur noch zwei oder drei Tage, dann helfe ich euch bei der Suche nach einer neuen Wohnung.“
„Zwei oder drei Tage, genau“, erwiderte ich spöttisch.
Mama warf ihm einen finsteren Blick zu, während sie ihr Strickzeug wieder aufnahm. „Wenn du nicht mit dem Blödsinn aufhörst, werde ich dich ans Bett fesseln.“
Er erwiderte ihren Blick vergnügt. „Versprochen?“
„Oh nein!“, sagte ich eilig und richtete mich auf. „Das lasst ihr.“
„Was?“, fragte Mama ganz scheinheilig. „Fesselspielchen?“
„Mama!“ Ich drehte mich herum und wollte mir meinen Mantel schnappen, um eilig aus dem Raum zu fliehen. Ich musste nun wirklich nicht mitbekommen, dass es Leute gab, die sich auch nach fast fünfundzwanzig Jahren Ehe noch wie hormongesteuerte Teenager benehmen konnten – besonders nicht, wenn es sich dabei um meine eigenen Eltern handelte. Doch Cio war bereits aufgestanden und hatte sich meinen Mantel schon über den Arm gehängt.
„Wir schauen morgen noch mal vorbei“, versprach ich, schnappte mir Cios Hand und flüchtete aus dem Raum. Solchen Situationen war ich bereits oft genug ausgesetzt gewesen und wusste daher aus Erfahrung, wie das Enden konnte. Meine Eltern besaßen einfach kein Schamgefühl – nicht mal in meiner Gegenwart.
Sobald wir auf dem Korridor hinunter gingen, um zu den Fahrstühlen zu kommen, warf Cio noch einen wachsamen Blick über die Schulter, als würde er befürchten, verfolgt zu werden. „Dein Vater freut sich vielleicht auf sein Enkelkind, aber mit seinen tödlichen Blicken werde ich wohl für den Rest meines Lebens leben müssen.“
„Nur wenn du nicht lernst, wann es angebracht ist zu sagen, wem man einen Braten in die Röhre geschoben hat.“
Er grinste nur.
„Okay, du hast wahrscheinlich recht.“
„Du traust mir immer so viel zu.“ Unbefangen legte er mir einen Arm um die Taille und zog mich an seine Seite. „Das kratz ganz schön an meinem Ego.“
„Da dran kann man kratzen?“, spottete ich und versuchte damit mein Unbehagen zu überspielen. Das war zu nahe und zu viel. Das war wie … nein! Das hier war ganz anders. Das hier war Cio und Cio darf das. Es ist in Ordnung, es kann nichts passieren.
„Es ist schwierig“, gestand er, „aber ein wunderschöner Diamant würde es vielleicht schaffen.“
„Ein Diamant?“
„Diamanten gelten nicht nur als die teuersten und edelsten Steinen auf der ganzen Welt, ihre Reinheit und ihr Glanz in den tausend Facetten die sie abstrahlen, machen jeden einzelnen von ihnen zu etwas Seltenen und ganz Besonderen.“ Er schenkte mir ein raubtierhaftes Grinsen. „Mein Diamant ist sogar einzigartig und er gehört mir allein.“
Ich zog skeptisch eine Augenbraue nach oben. „Ich bin dein Diamant?“
„Der schönste von allen“, versicherte er mir, gab mich dann frei und rief den Fahrstuhl.
Ja, es war albern, aber ich war eine Frau und was er da sagte, bezauberte mich so sehr, dass ich gar nicht anders konnte als mich geschmeichelt zu fühlen. „Hätte ich nicht schon zugesagt deine Frau zu werden, hättest du mich ab jetzt für den Rest deines Lebens am Hals.“
Er drehte sich zu mir herum und trat dann sehr selbstgefällig vor mich. Als seine Hand in der vertrauten Geste meine Augenbraue berührte und sich dann auf meine Wange legte, begann meine Haut zu kribbeln und auf einmal war das hier kein Spaß mehr. „Ist das ein Versprechen?“, fragte er leise.
„Ja.“ Solange er mich wollte, würde ich nicht gehen, denn das würde mich zerstören. Und deswegen war es für mich auch so wichtig, dass er niemals erfuhr, was in diesem Stall passiert war. „Solange du mich willst.“
Sein Lächeln schwand, als sein Daumen sanft über meine Haut strich. „Es gibt nichts, was mich dazu bringen könnte, doch nicht mehr zu wollen.“
Doch, das gab es. „Nicht mal wenn der Diamant an deinem Ego kratzt?“, scherzte ich.
„Nein“, sagte er ganz ehrlich. „Nicht mal dann.“
Mein Herz begann ein wenig schneller zu schlagen, als er sich vorbeugte. Leider verkündete der Fahrstuhl genau in diesem Moment, dass er angekommen war und gerne ein paar Leute auf die Etage entlassen würde.
Da Cio und ich aber genau im Weg standen und deswegen eilig zur Seite treten mussten, wurde aus dem Kuss nichts. Damit war der romantische Augenblick leider vorbei und auch wenn Cio weiter mit mir rumschäkerte, diesen besonderen Kuss bekam ich nicht mehr.
Kaspers Zimmer lag eine Etage tiefer. Im Grunde sah es genauso aus wie das von meinem Vater, nur dass er bisher keinen Mitbewohner bekommen hatte und das zweite Bett daher noch immer leer war.
Da die Tür offen war, kündigte ich uns mit einem Klopfen am Türrahmen an. „Hey.“
Kasper, der gerade mit einer Zeitschrift im Schoß auf seinem Bett saß, schaute auf. „Ich dachte schon, dass du mich vergessen hast.“
Oh ja, da war sie wieder die gute Laune, die ich so an ihm liebte. „Wie könnte ich dich vergessen?“, fragte ich und ging zu ihm rüber, um ihn mit einem kleinen Schmatzer auf der Wange zu begrüßen. „Wo ist Aric?“
„Der müsste bald kommen. Ich habe ihn gestern Abend nach Hause geschickt, damit er mal wieder duscht und eine Nacht richtig durchschläft.“ Er klappte seine Zeitschrift zusammen und legte sie auf den Tisch neben sich. „Er ist völlig fertig, weil er von der Arbeit immer direkt hier her kommt. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft er auf dem Stuhl eingepennt ist, sich aber trotzdem weigerte nach Hause zu fahren.“
Ich schnappte mir besagten Stuhl und ließ mich darauf fallen, während Cio sich mit dem Hintern an Kaspers Bett lehnte. „Er will dich nicht alleine lassen.“
„Das weiß ich, ich bin ja nicht blöd.“
Cio öffnete den Mund, aber ich warf ihm einen warnenden Blick zu, der ihn sofort grinsen ließ.
„Wie geht es dir denn?“
„Ich habe immer noch ein Loch im Bauch, wenn du das meinst.“
Nein, das fand ich absolut nicht witzig und das merkte er wohl auch.
„Mir hängt die Frage einfach zum Halse raus“, murrte er zur Entschuldigung. „Ich bin einfach nur froh, dass ich hier morgen endlich raus kann.“
„Warum?“, fragte Cio und verschränkte die Füße. „Ich dachte dir gefallen die Schmerzmittel so gut.“
Dafür bekam er ein bösen Blick von Kasper.
„Hör auf ihn zu ärgern“, mahnte ich ihn. „Er ist krank und es geht ihm nicht gut.“
„Und wo ist da der Unterschied zu vorher?“, fragte er mit so aufrichtiger Neugierde, dass man glatt glauben konnte, er würde es ernst meinen. Zu seinem Leidwesen lachte aber keiner von uns beiden. „Da versucht man mal witzig zu sein und dann ist das Publikum auch noch anspruchsvoll.“
„Erinnere dich bitte an das letzte Mal, als du witzig sein wolltest und dich anschließend eine Frau mit ihrer Handtasche durch die Praxis meines Frauenarztes jagte.“
Als Kasper daraufhin die Augenbraue hob, erzählte ich ihm von der Dame, die Cio für einen Lüstling gehalten hatte und entlockte ihm damit eines seiner seltenen Lächeln.
Aric kam nicht sobald, wie Kasper geglaubt hatte und so saßen wir nicht nur noch ein ganzes Weilchen bei ihm im Krankenzimmer, er erfuhr auch, wie unsere Eltern auf die Nachricht der Schwangerschaft reagiert hatten.
„Es geschehen also doch noch Wunder“, war sein Kommentar dazu und versuchte sich dabei ein wenig gerader aufzusetzen. Seine Decke rutschte ihm dabei auf die Hüfte und sein Gesicht verzog sich für einen Moment vor Schmerz, was sofort wieder meine Schuldgefühle schürte. „Habt ihr es schon Alina gesagt?“
Bei der Erinnerung an das letzte Telefonat mit ihr, verzog ich das Gesicht. „Sie hat mir dir Freundschaft gekündigt und aufgelegt, weil ich es ihr nicht sofort gesagt habe. Zwei Sekunden später hat sie wieder angerufen und verkündet, dass sie bei der Geburt dabei sein würde und ich ihr gar nicht widersprechen brauche. Da ich es ihr so lange verschwiegen habe, sei ich es ihr schuldig sie mitkommen zu lassen.“
Auf Kaspers Gesicht zeichnete sich Ekel ab. „Nichts für Ungut, aber warum sollte jemand freiwillig mit in den Kreißsaal gehen wollen, um sich das ansehen zu wollen?“
Cio schmunzelte. „Also wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, dass ich mich schon darauf freue.“
„Du freust dich darauf Zaira vor Schmerz schreien zu hören?“, fragte er skeptisch?
„Nein du Schwachkopf, ich freue mich darauf, dass mit ihr zu erleben.“
Also was meine eigenen Gefühle betraf, waren die eher gemischt. Natürlich freute ich mich auf den kleinen Passagier, was jedoch die Schmerzen betraf, hatte ich schon ein wenig Bammel davor. Ich hatte irgendwo gelesen, dass die Schmerzen bei einer Geburt so groß waren, dass ein Mann daran sterben würde. Diese Information fand ich nicht sehr beruhigend, besonders da ich Schmerzen verabscheute.
„Ich kann ehrlich sagen, ich freue mich ein schwuler Mann zu sein.“
„Frettchen“; korrigierte Cio ihn schon ganz automatisch.
Kasper funkelte ihn an. „Pudel.“
„Du stehst also auf meine Frisur?“ Cio tat so, als würde er sich seine Haare richten, was ein wenig albern aussah, da er ja wie immer seine schwarze Wollmütze auf dem Kopf hatte. „Kann ich verstehen.“
Obwohl Kasper zu einer Erwiderung ansetzte, kam er nicht mehr dazu sie auszusprechen, denn seine Aufmerksamkeit glitt sofort zu Aric, als dieser in den Raum trat und auch wenn er seine mürrische Miene beibehielt, so leuchteten seine Augen auf.
„Tut mir leid, dass ich erst jetzt komme“, entschuldigte Aric sich beim Hereinkommen und ging direkt zum Bett, um Kasper einen Kuss auf den Mund gegeben. „Ich hab meinen Wecker nicht gehört.“
„Und du glaubst, dass ich dir deswegen jetzt die Hölle heiß machen werde?“
Als ich sah, wie ungezwungen Aric seinen Freund berührte, kam ich nicht gegen den Funken Neid an, der in mir aufglomm. Früher war es für meinen Bruder schwer gewesen, auch nur nach der Hand meines besten Freundes zu greifen, weil er sich unwohl dabei gefühlt hatte, seine Liebe zu einem Mann offen zu zeigen. Dazu waren noch Kaspers Berührungsängste gekommen, die eine zusätzliche Belastung für die beiden dargestellt hatten. Heute jedoch gingen die beiden so ungezwungen miteinander um.
Bei Cio und mir war es genau andersherum gewesen. Wir hatten nie Probleme mit der Nähe des anderen gehabt, nicht mal in unseren Anfängen. Jetzt jedoch war alles scheiße und es fiel mir schwer, mein Lächeln beizubehalten, wenn ich sah, wie glücklich die beiden trotz allem miteinander waren.
Als Cio einen blöden Spruch abließ und Aric damit drohte ihn zu verhauen, wenn er nicht nett zu Kasper war, glitt mein Blick zu ihm und zum ersten Mal begann ich mich zu fragen, ob ich das zwischen uns wirklich wieder hinbekommen würde. Was wenn ich meine verdammten Ängste nicht in den Griff bekam und das hier nicht nur eine vorübergehende Phase war, sondern meine, nein, unsere Zukunft? Ich glaubte nicht, dass Cio ewig mit diesem Halben klar kommen würde. Nicht weil er nicht wollte, sondern weil er darunter litt.
Ich war nicht dumm. Ihm fiel das Ganze mindestens genauso schwer wie mir und es machte mir Angst nicht zu wissen, was diese Situation aus ihm machen konnte. Er war toll so wie er war und ich wollte nicht, dass sich das änderte – besonders nicht wegen mir.
Als hätte er meinen Blick gespürt, lächelte er mich an und warf mir eine Kusshand zu.
Genau diese Kleinigkeiten waren es die ich meinte. Ich wollte nicht, dass er das verlor, denn das war es doch, was ein Teil von ihm ausmachte. Ich musste diese Scheiße einfach überwinden. Ich musste.
Wir blieben noch ein Weilchen, bevor wir uns auf den Weg in die Tierklinik machten, um Ferox abzuholen. Ich freute mich darauf meine kleine Hupfdohle wie nach Hause zu holen, sah dem Ganzen aber mit gemischten Gefühlen entgegen, weil mir noch immer diese kleine Angst im Nacken saß, dass Iesha ihn noch einmal verletzten würde. Das letzte Mal hatten wir Glück gehabt, aber ich bezweifelte, dass mir das Schicksal ein zweites Mal so hold sein würde.
Da Doktor Kniffer gerade einen Patienten drinnen hatten, als wir ankamen, mussten wir eine halbe Stunde im Wartebereich Platz nehmen. In meiner Hand hielt ich dabei ein Geschirr für Hunde und einen Maulkorb. Zwar konnte ich Ferox draußen einfach frei lassen, weil ich wusste, dass er seinen Weg alleine nach Hause finden würde, aber ich wollte nicht, dass er sich schon überanstrengte, weswegen wir heute Morgen noch in einer Zoohandlung gewesen waren, um das Zeug zu besorgen. Ich war gespannt, wie Ferox darauf reagieren würde. Er hatte noch nie in seinem Leben auch nur ein Halsband getragen und bei seiner ersten und einzigen Autofahrt war er halb tot gewesen. Der Weg nach Hause würde sicher witzig werden.
Als der Arzt endlich kam, fiel das Gespräch mit ihm sehr kurz aus. Im Grund gab er uns nur einen abschießenden Bericht über Ferox Zustand und Tabletten, die ich ihm zwei Mal am Tag geben sollte. Dann überreichte er uns auch schon an die Arzthelferin Cecile, die uns nach hinten in das Zimmer mit den Zwingern brachte.
Sobald wir den Raum betraten, rastete Ferox völlig aus. Er sah uns, sprang auf die Beine um drei Mal am Gitter hinauf zu springen, nur um dann den Kopf in den Nacken zu werfen und ein Heulen auszustoßen, dass uns all sein Leid mitteilte.
„Sind wir heute eine keine Dramaqueen?“, begrüßte ich ihn und ging vor dem Zwinger in die Hocke, um ihn durch Gitter zu streicheln.
Seine Antwort bestand aus Winseln, kläffen und einem Zungenschlecker direkt durch mein Gesicht. Keine Ahnung wie er es trotz des Gitters fertig brachte, aber ich war froh, dieses Mal den Mund geschlossen gehabt zu haben.
„Lach nicht“, grummelte ich Cio an, während ich mir mit dem Jackenärmel das Gesicht trocken wischte. „Das ist nicht lustig.“
„Das behauptest du.“
Auch die Arzthelferin Cecile grinste, enthielt sich aber jeglichen Kommentars.
„Okay, dann wollen wir mal.“ Ich trat an die Zwingertür, entriegelte sie und schlüpfte eilig hinein. Schließen musste sie jedoch Cio, da ich sofort von sechzig Kilo Wolf angesprungen wurde und das Geschirr samt Maulkorb fallen lassen musste, um eine weitere Knutschattacke abzuwehren. „Ist ja gut, ich hab dich ja auch vermisst“, erklärte ich ihm, als ich mich mit ihm zusammen auf den Boden hockte. Aber da wir uns ja seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gesehen hatten, dauerte das kleine Begrüßungsritual noch ein kleinen wenig, bis er sich so weit herunter geregelt hatte, dass ich mit meiner eigentlichen Mission beginnen konnte.
Als erstes holte ich ein paar Leckerlis aus meiner Jackentasche, die ich ihm zusammen mit dem Geschirr vor die Nase hielt. Das Futter inhalierte er praktisch, dem Geschirr schenkte er keinerlei Beachtung. Darum holte ich noch was von dem Fressen aus meiner Jackentasche und während ich ihm das mit geschlossener Hand unter die Nase hielt, begann ich ihm das Geschirr über den Kopf zu ziehen.
Da er so damit beschäftigt war, an meinen Fingern herumzuknabbern, um an die Leckerlis darin heranzukommen, bemerkte er es zuerst gar nicht und ich freute mich schon darüber, dass das leichter ging, als ich mir das vorgestellt hatte, doch als ich ihm das Teil weiter über den Rücken zog und dann unter ihm durch nach dem Verbindungsstück griff, um das Ganze zu schließen, ging ihm auf, dass hier etwas ganz uns gar nicht stimmte. Er machte einen Satz zurück, schlüpfte damit aus dem Geschirr heraus und stand dann einen halben Meter entfernt da, um mich misstrauisch zu mustern.
„Das war dann wohl nichts“, kommentierte Cio schmunzelnd.
„Schön dass du das Offensichtliche noch betonen musst.“ Dann eben noch ein Versucht. Ich lockte ihn wieder mit den Leckerlis heran, dieses Mal aber mit offener Hand und während er sie eilig verschlang, zog ich ihm das Geschirr erneut über den Kopf. Dabei griff ich auch noch in seinen Nacken, damit er nicht wieder abhauen konnte. Es endete in einer Rangelei, bei der er sich das verdammte Ding immer wieder abstreifte.
„Verdammt, wirst du wohl still halten“, fluchte ich irgendwann frustriert.
Ferox knurrte und kratze mit den Krallen über den Boden, um meinem Griff zu entkommen. Er war verständlicherweise nicht sehr angetan von der Idee und versuchte sich mit allen vier Beinen aus meinem Griff zu befreien.
„Ich würde ja mal behaupten, seine Antwort lautet nein“, schmunzelte Cio.
Ich hatte grade keine Zeit darauf einzugehen.
„Wenn du Hilfe brauchst, sagst du Bescheid, okay?“
„Ich schaffe das schon.“
Als Ferox mir bei dem Versuch meinem Griff zu entkommen nach meinem Arm schnappte, reichte es mir. Ich drückte ihn auf den Boden, packte ihn im Nacken und schwang mich über seinen Rücken, um ihn unten zu halten. Dann versuchte ich ihm mit der anderen Hand das Geschirr überzustülpen. Leider drehte der Blödmann immer wieder den Kopf weg.
„Ich glaube Ferox mag das Halsband nicht.“ Cio hatte die Arme vor der Brust verschränkt und beobachtete sehr interessiert, wie ich mich hier mit diesem sturen Wolf abrackerte. „Vielleicht gefällt ihm die Farbe ja nicht.“
„Gleich schnalle ich besser dir den Maulkorb um“, drohte ich ihm und schaffte es endlich diesem widerspenstigen Wolf das Teil über den Kopf zu ziehen. Noch ein zweiminütiger Kampf und ich hatte ihm das Ding nicht nur angelegt, sondern auch geschlossen.
Draußen applaudierte Cio.
Ferox dagegen war nicht sehr begeistert davon. Erst hüpfte er zwei Mal, als hoffte er, dadurch davon los zu kommen, dann schüttelte er sich mehrmals und als das auch nicht funktionierte, biss er danach und versuchte er sich vom Leib zu zerren.
„Nein“, sagte ich, griff seinen Kopf und schaute ihn streng an. „Das ist pfui.“
Er knurrte unwillig.
„Und dass lässt du auch. Guck mal, ich habe hier auch noch etwas Feines für dich.“ Das Feine bestand aus einem Fleischstück, dass ich samt Tüte aus meiner Jackentasche zog – ja, ich hatte mich auf dieses Erlebnis gründlich vorbereitet. Vor seinen Augen holte ich das Stück heraus und ließ es in den Korb des Maulkorbs fallen. „Hm, ist das lecker.“
Der Wild musterte erst mich, dann den Kopf und machte einen Schritt zurück.
„Ach komm schon. Ich weiß dass du es willst.“
Er machte noch einen Schritt zurück, was Cio wieder lachen ließ.
Ich rutschte ein Stück auf ihn zu und er sprang an mir vorbei auf die andere Seite. Dieses Spielchen trieben wir mehrere Minuten, bis es mir zu bunt wurde und ich das gleiche Manöver wie mit dem Geschirr anwandte. Am Ende steckte seine Schnauze in dem Korb, er aß beleidigt sein Stück Fleisch und ich konnte die Leine an dem Ring seines Geschirrs einharken.
Leider war die ganze Prozedur damit noch nicht ausgestanden. Davon abgesehen, dass Ferox auf dem Weg nach draußen alles und jeden anknurrte – ja, das schloss auch Wände und Stühle mit ein – versuchte er sich die ganze Zeit den Maulkorb wieder abzustreifen, indem er ihn mir beim Laufen immer wieder gegen den Oberschenkel rammte. Es brachte nichts, außer dass mein Bein Zuhause sicher grün und blau wäre.
Das nächste Problem ergab sich am Auto, in das die dieser sture Wolf absolut nicht einsteigen wollte. Wäre er nicht angeleint gewesen, hätte er wohl bei meinen Versuchen durch Köder, Streicheleinheiten und gutem Zureden das Weite gesucht. Ich übergab Cio sogar die Leine, kletterte auf den Rücksitz und versuchte ihn so hineinzulocken, aber er schien mir nicht zu glauben, dass es im Inneren des Wagens sicher war.
Da wir nach zwanzig frustrierenden Minuten immer noch kein Stück weiter gekommen waren und Cio keine Lust mehr hatte in der Kälte zu stehen, schnappte er sich Ferox einfach und hob ihn trotz seines Gezappels in den Kofferraum. Hätte der Wilde keinen Maulkorb umgehabt, hätte er wohl nach Cio geschnappt. So haute er ihm nur den Korb ins Gesicht.
Sich das Schmunzeln zu verkneifen, als ich nach der Leine griff, damit Cio den Kofferraum schließen konnte, erwies sich als ausnehmend schwierig. Darum drehte ich den Kopf weg und begann beruhigend auf Ferox einzureden, damit er während der Fahrt nicht durchdrehte. Trotzdem mussten wir zwischendurch noch einmal anhalten, damit ich zu ihm in den Kofferraum klettern konnte, ohne mit dem Gesicht an der Heckscheibe zu landen. Das beruhigte Ferox zwar auch nicht, aber so konnte ich ihn besser festhalten.
Als wir das Haus meiner Eltern erreichten, hatte meine Mutter die Mülltonnen so in die Einfahrt gestellt, dass wir am Straßenrand direkt vor einer Laterne parken mussten. Zum Glück musste ich durch die Heckklappe aussteigen, denn so würde ich die Beifahrertür nicht mehr aufbekommen.
Cio schaltete den Motor aus, umrundete den Wagen und öffnete dann wieder den Kofferraum, in dem Ferox schon wieder kläglich vor sich hinwinselte.
Ich glaubte ich hatte diesen Wolf noch nie so glücklich erlebt, wie in dem Moment als er aus dem Wagen springen konnte. Sein Pech nur, dass ich noch immer die Leine festhielt. Er kam nicht weit, zog mich durch den Ruck aber ein wenig nach vorne, weswegen Cio hastig nach dem Geschirr griff, damit ich nicht mit der Nase voran auf dem Asphalt landete.
„Das üben wir aber noch mal“, schmunzelte er und übernahm die Leine.
Ich verzog das Gesicht, während ich aus dem Kofferraum kletterte. „Ich hoffe doch nicht, dass wir das noch allzu oft machen müssen.“
„Stimmt, ich hab dich auch lieber neben mir auf dem Beifahrersitz.“
Ich schloss den Kofferraum und wandte mich dann dem Garten zu. Der Code der vorderen Gartentür war schnell eingegeben und sobald wir alle drinnen waren und Ferox seine Fessel los war, rannte er erstmal quer durch den Garten nach hinten unter seine Tanne, um sich dort zu verkriechen. Dabei wirkte er nicht wirklich verängstigt, eher wachsam und misstrauisch.
Es bereitete mir Unwohlsein ihn so sehen zu müssen. Selbst als er damals zu uns gekommen war und die ersten Tage im Zwinger gelebt hatte, war er zwar vorsichtig, aber neugierig gewesen.
„Das wird schon wieder“, sagte Cio und griff nach meiner Hand. Wir standen vor den Stufen der Veranda und beobachteten die Bäume in der Ecke.
Wahrscheinlich hatte er recht. „Was wenn sie noch mal hier auftaucht?“
Mit seiner Erwiderung ließ er sich Zeit, dann stellte er eine Frage, anstatt zu antworten. „Möchtest du erstmal hier bleiben? Du weißt schon, um ein Auge auf ihn zu haben?“
Wenn ich ehrlich war, nein. Nicht dass ich mich hier nicht sicher fühlte, aber Cios Wohnung war in den letzten Monaten eine Art Zuflucht für mich geworden. Hier hatte Iesha schon einmal zugeschlagen. In die Wohnung würde sie nicht so leicht kommen.
„Ich glaube nicht, dass ihm noch eine Gefahr droht“, sagte Cio leise und wandte mir das Gesicht zu. „So schrecklich es klingt, Ferox hat sie bereits abgeharkt.“
„Du meinst, sie führt eine Liste mit Leuten die mir wichtig sind und arbeitet die nach und nach ab?“
Mit einem tiefen Atemzug drehte er sich zu mir um und legte mir eine Hand auf die Wange. „Wir werden das schaffen, in Ordnung? Wir dürfen nur nicht aufgeben. Du wirst schon sehen, alles wird gut.“
Ich wollte ihm so sehr glauben. Ich wollte endlich wieder in Frieden leben und ohne Angst auf die Straße gehen können, aber Iesha hatte mir bereits viel zu oft gezeigt, wie unberechenbar sie war. Darum trat ich einfach zurück und ließ seine Hand los. „Ich mache Ferox mal etwas zum Fressen, dann können wir los.“ Ohne auf eine Reaktion zu warten, trat ich auf die Veranda, schloss die Hintertür auf und ging ins Haus.
Da meine Mutter sich noch bei Papa im Krankenhaus befand, war außer mir niemand da. Normalerweise störte mich das nicht, aber als ich nun durchs Wohnzimmer ging und dann in die Küche trat, blieb ich erstmal unwillkürlich stehen.
Mama musste versucht haben die Spuren der Bombe zu beseitigen, aber es hatte nicht geklappt. Die Anrichte und die Hängeschränke neben dem Kühlschrank waren angesenkt. Der Toaster war verschwunden, aber die weiße Fläche an der Wand zeigte ganz genau, wo er gestanden hatte. Von der Schublade fehlte die Blende, als wäre sie während der Explosion offen gewesen. Das Gehäuse des Kühlschranks war angeschmort. Auch auf dem Boden fand ich Spuren, ohne danach suchen zu müssen.
Es war, als wäre ich in ein Stillleben von Ieshas Tat getreten. Es machte mir eine Gänsehaut und führte mir vor Augen, wie knapp mein Vater mit seinem Leben davon gekommen war. Vielleicht stimmte es was die Wächter sagten und die Menge darin war nicht tödlich gewesen, aber Iesha hatte verletzten wollen und das hatte sie auch geschafft.
Meine Lippen wurden schmaler und ich versuchte die Umgebung zu verdrängen, als ich durch die Küche in den Hauswortschaftraum ging, wo ein Kühlschrank nur mit Fleisch für Ferox stand. Einiges von dem Zeug musste ich wegschmeißen, da Ferox die letzten Tage nicht Zuhause gewesen war um es zu fressen, aber ich fand noch etwas was gut war und taute gleich ein paar Portionen für die nächsten Tage auf.
Als ich dann ich die Küche ging, um sein Futter in kleine Stücken zu schneiden und ihm eine der Tabletten vom Tierarzt hinein zu drücken, musste ich mir meinen Schal vom Hals wickeln, da er mir drei Mal in den Napf hing. Dabei versuchte ich nicht so sehr auf die Rückstände der Explosion zu achten – leider nur mit mäßigem Erfolg. Ich musste nicht einmal hinschauen, um zu sehen, wie mein Vater den Karton geöffnet hatte und dann durch die Küche geschleudert worden war, meine Phantasie spielte es mir immer und immer wieder vor meinem inneren Auge ab. Ich war wirklich froh, als ich die Küche endlich verlassen konnte und den vollen Napf nach draußen trug.
Cio hatte sich mit dem Rücken an das Geländer der Veranda gelehnt und beobachtete Ferox, der langsam durch den Garten schlich und hin und wieder irgendwo das Bein hob, um sein Revier zu markieren. Als er zu der Stelle kam, an der Iesha gestanden hatte, knurrte er sogar den Wald an, als würde er sie noch irgendwo darin vermuten. Selbst als ich ihm seinen Napf hinstellte, kam er nicht wie sonst freudig angelaufen. Er lief geduckt zu mir und spitze beim Fressen immer wieder die Ohren, als würde er eine Gefahr vermuten. Er fühlte sich hier nicht mehr sicher.
„Na komm“, sagte Cio und hielt mir seine Hand hin, als der Wilde alles vertilgt hatte und seine Hundehütte in Augenschein nahm, als überlegte er auf seinen Stammplatz zu springen. „Es wird schon nichts passieren.“
Leider war ich mir da nicht so sicher, weswegen ich noch einen Moment brauchte, um mich davon zu überzeugen, dass es nichts brachte hier in der Kälte zu stehen und zu frieren. Zuhause wäre ich nützlicher. Dort konnte ich mich wieder dem Dossier von Iesha widmen. Vielleicht würde ich etwas finden, dass ich bisher übersehen hatte. Und dann war da ja auch noch dieser Name, Jamal Keskin. Bisher war ich noch nicht dazu gekommen, an dieser Stelle weiter zu forschen.
Das war der einzige Antrieb der mich dazu brachte das Haus zu verschließen und mit Cio durch das Gartentor das Grundstück meiner Eltern zu verlassen. Ferox folgte mir dabei auf dem Fuße und war leicht beleidigt, als er nicht mir raus durfte.
„In ein paar Tagen, gehen wir laufen“, versprach ich ihn. Zuerst musste ich einfach sicher gehen, dass er wieder ganz okay war. Wahrscheinlich war ich einfach nur überfürsorglich, aber ich wollte nicht riskieren, dass er auf halber Strecke zusammenbrach.
Sein Blick verriet mir, was genau er von dieser Fürsorge hielt.
„Wenn er könnte, würde er dir jetzt den Stinkefinger zeigen“, bemerkte Cio und schlenderte mit mir zum Auto.
„Würde er nicht“, widersprach ich und hielt ihm die offene Hand hin. „Er ist gut erzogen.“
Das ließ er unkommentiert. Stattdessen richtete sich sein Blick auf meine Hand. „Muss ich wissen, was du von mir erwartest?“
„Autoschlüssel. So wie du geparkt hast, kannst du Beifahrer spielen.“
„Was, passt du da mit deinem Babybauch etwa nicht mehr durch?“, fragte er, während er den Schlüssel aus seiner Jackentasche fischte und ihn mir überreichte.
Genau, daran lag es.
Da ich mich auf keine solche Diskussion einlassen wollte, ging ich wortlos zur Fahrerseite und schloss den Wagen auf. Doch Cio wollte sich mit meiner stummen Antwort nicht zufriedengeben und folgte mir einfach. So schaffte ich es zwar noch die Tür zu öffnen, doch als ich dann einsteigen wollte, griff er mit der linken Hand nach dem Wagendach und versperrte mir so den Weg.
Ich seufzte sehr lautstark, als ich mich zu ihm umdrehte. „Ich habe das Gefühl, du möchtest mir noch etwas sagen.“
Seine Augen musterten mich sehr eindringlich. Dann legte er auch noch die rechte Hand an den Wagen und drängte mich so mit dem Rücken gegen das Auto. Er berührte mich nicht, aber auf einmal kam ich mir ziemlich gefangen vor und ich musste einmal tief durchatmen um nicht den Impuls nachzugeben, ihn einfach von mir zu stoßen.
Als er nichts sagte und auch nichts anderes tat, als mich anzuschauen, wurde ich ein wenig unruhig. Auf einmal hatte ich das Gefühl, als versuchte er mich zu durchleuchten und was er dabei zutage fördern könnte, würde uns beiden nicht gefallen, doch bevor ich dem Mund öffnen konnte, um dieser Situation irgendwie zu entkommen, beugte er sich vor und streifte meine Lippen ganz zärtlich mit seinen.
Ich bekam nicht nur eine Gänsehaut, das war wie ein Sprühregen aus Funken, der auf meinen ganzen Körper prasselte. Keine Ahnung was in ihn gefahren war, oder warum er auf einmal meine Nähe suchte, aber als er aus der sanften Berührung einen richtigen Kuss machte, kam ich ihm zögernd entgegen.
Das Gefühl, das mich durchströmte war eine Mischung aus allem was ich liebte und mir vertraut war und dieser unterschwelligen Furcht, die mittlerweile mein Leben beherrschte.
Ich versuchte sie zu verdrängen und mich einzig und allein auf ihn zu konzentrieren, doch je stärker ich es versuchte, desto mehr begannen die Linien zwischen dem was geschehen war, und dem was hier passierte zu verwischen. Ich wollte es nicht und wusste auch nicht, warum es ausgerechnet in diesem Moment wieder geschah, doch ich spürte wie mein Körper sich wieder anspannte und das obwohl er mich noch immer nur mit dem Mund berührte. Es wurde so schlimm, dass ich hastig den Kopf wegdrehte und die Augen zukniff, in der Hoffnung meinen Atem ruhig zu halten und meinem Herzen zu versichern, dass es keine Notwendigkeit gab die Flucht zu ergreifen.
Ich rechnete damit, das Cio gekränkt sein, oder eine Erklärung verlangen würde. Stattdessen fuhr er mit den Lippen über meine Wange, während sein warmer Atem meine Haut streichelte. „Du musst nur noch ein bisschen durchhalten“, flüsterte er. „Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas passiert.“
Erstaunt drehte ich ihm das Gesicht zu und begegnete seinem Blick. Das war es, was gerade in seinem Kopf vor sich ging? Wie kam er denn jetzt darauf?
„Ich weiß dass du dir Sorgen machst und Iesha ständig in deinem Kopf herumspukt. Mir geht es doch nicht anders.“
Leider war das nur die halbe Wahrheit. Von der anderen Hälfe ahnte er noch nicht einmal etwas.
„Aber wir haben uns und niemand wird es jemals schaffen, zwischen uns zu kommen.“ Seine Finger lösten sich vom Wagen und berührten mich in einer zärtlichen Geste am Hals. „Das lasse ich nicht zu.“
„Du kannst das Schicksal nicht kontrollieren.“
„Ich glaube nicht an Schicksal“, erwiderte er sofort. „Aber ich glaube an uns. Ich liebe dich Schäfchen.“
Aber nur, weil du die Wahrheit nicht kennst.
Er schaute mich an, als würde er auf etwas warten, doch als da nichts kam, erschien auf seinen Lippen ein schiefes Lächeln, das seine Augen nicht erreichte und die Spur von Kummer nicht verschleiern konnte. „Bitte, halte noch ein bisschen durch. Es wird besser werden.“
Manchmal wünschte ich wirklich, ich könnte die Welt mit seinen Augen sehen und könnte aus dem gleichen bodenlosen Brunnen des Optimismus schöpfen, der ihn schon sein ganzes Leben zu begleiten schien. Ich verstand einfach nicht, woher er die ganze Kraft nahm, während ich langsam aber sicher zu einem Wrack mutierte und nicht wusste, wie ich das ändern sollte. Ohne ihn hätte ich mich schon längst verloren.
„Du zitterst ja“, bemerkte er.
Ich schaute hinunter auf meine Hände und merkte erst dann, dass er recht hatte. „Ist ja auch ziemlich kalt.“ Wobei das wahrscheinlich gar nicht von der Kälte kam.
„Wo ist denn dein Schal?“
Wie um zu prüfen, was er meinte, griff ich an meinen Hals, wo er nicht war. Natürlich nicht. Wäre er da gewesen, hätte Cio ja nicht gefragt. „Der muss noch in der Küche liegen. Ich hab ihn abgenommen, als ich Ferox' Fressen gemacht habe.“
Seine Lippen hoben sich ein wenig, als würde ein lustiger Gedanke durch seinen Kopf schweben. „Okay, steig ein, damit du nicht erfrierst. Ich hole dir nur noch schnell deinen Schal.“
„Danke.“
„Für dich immer.“ Er beugte sich noch mal vor und hauchte mir einen Kuss auf die Lippen, bevor er zurück trat und dann mit einem Zwinkern in meine Richtung um das Auto herum lief. Er war schon auf dem Gehsteig, als ich ihm mit einem „Warte“ noch mal zum stehen brachte.
„Das hier wirst du wohl brauchen“, bemerkte ich, zog meine Schlüsselbund heraus und warf ihn ihm über das Autodach zu. Er bedanke sich mit einem Luftkuss und verschwand gleich darauf im Haus.
Ich schaute ihm noch einen Moment hinterher, wurde aber plötzlich abgelenkt, als ich ein durchdringendes Knurren hörte. Verwundert richtete ich meinen Blick auf Ferox, der mit gesträubtem Fell und gefletschten Zähnen am Zaun stand. Als er dann auf einmal den Kopf zum Himmel hob und ein durchdringendes Heulen ausstieß, stellten sich mir bei dem Ton die Härchen auf den Armen auf und ein eiskalter Schauder rann mir über den Rücken. Ich wusste nicht genau was es war, aber auf einmal hatte ich das Gefühl, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte.
Als er dann auch noch damit begann geifernd in den Zaun zu springen, als wollte er sich direkt dadurch beißen und im gleichen Moment hinter mir ein Motor gestartet wurde, war es wohl einfach ein Instinkt und das plötzliche Gefühl von Gefahr, dass mich dazu veranlasste den Kopf zu drehen. Doch als ich den silbernen Wagen sah, der direkt auf mich zuraste, konnte ich nur noch die Augen aufreißen.
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Eine wertvolle Sekunde stand ich einfach nur mit aufgerissenen Augen da und sah den Wagen direkt auf mich zukommen. Er versuchte nicht mal zu bremsen. Es war rein instinktiv, dass ich mich auf den Fahrersitz warf und im gleichen Moment auch meine Beine auf den Sitz zog. In der nächsten Sekunde schon, krachte der silberne Wagen in die Karosserie von meinem.
Die Tür wurde in den Rahmen gedrückt, der ganze Wagen erzitterte von dem Aufprall. Das Metall kreischte, die Windschutzscheibe splitterte. Ich schrie erschrocken auf, als die Scherben der Seitenscheibe auf mich nieder regneten und die ganze Karosserie ein Ächzen von sich gab. Doch über all den Lärm hörte ich noch immer den Motor des anderen Wagens und das Heulen von Ferox.
Ich spürte kaum, wie schnell mein Herz trommelte, oder wie weit ich die Augen aufgerissen hatte, als ich durch die gesplitterte Scheibe sah, wie der andere Wagen den Rückwärtsgang einlegte und ein Stück zurück fuhr. Was ich aber sehr wohl wahrnahm und mir das Blut in den Adern gefrieren ließ, war die Frau mit dem eiskalten Blick hinter dem Steuer.
Iesha.
In dem anderen Wagen saß Iesha und sie hatte den Rückwärtsgang nur eingelegt, um anschließend noch einmal das Gaspedal durchzutreten.
Oh Gott, wie würde mich noch mal rammen, sie wollte mich umbringen.
Panisch griff ich nach rechts, um mich abzustützen. Dabei drückte ich ausversehen auf die Autohupe. Der durchdringende Ton verband sich mit dem Jaulen von Ferox.
Ich musste so schnell wie möglich von der Fahrerseite weg, aber ich kam hier nicht raus. Ich schaffte es gerade noch so auf den Beifahrersitz zu rutschen und die Arme um mich zu schlingen, da rammte der Wagen mich auch schon zum zweiten Mal und schüttelte das ganze Auto durch. Ich wurde gegen die Tür geschleudert und knallte mit dem Kopf gegen das Fenster. Glas splitterte und fiel in den Innenraum, die ganze Karosserie knirschte und kreischte und irgendwas bohrte sich schmerzhaft in meinen Arm, während ich einen Schrei ausstieß und versuchte meinen Bauch zu schützen. Neben mir explodierte der Airbag und drückte mich für einen Moment in den Sitz.
Draußen hörte ich ein Brüllen. Der Motor heulte wieder auf, Reifen quietschten, Ferox sprang immer wieder gegen den Zaun.
„Iesha!“, hörte ich Cio wütend nach dieser Verrückten brüllen. Durch die zersplitterten Scheiben und meinen vor Angst geweiteten Augen sah ich, wie er auf die Straße hetzte, als der silberne Wagen eilig wendete und dann mit Gas davon fuhr.
Einen Moment schien Cio die Verfolgung aufnehmen zu wollen, doch dann rannte er zurück zum Wagen und stürzte auf die Tür zu. Als sein Gesicht vor der zerbrochenen Fensterscheibe erschien, hörte ich ein Wimmern und brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass es von mir kam.
„Oh Gott, Schäfchen, geht es dir gut?“ Er fasste nach dem Griff und versuchte die Tür aufzuzerren, doch sie war verzogen und klemmte. „Zaira?“
Ich war nicht fähig zu antworten, als ich die Furcht und Panik in seinem Gesicht sah.
„Verdammt!“, fluchte Cio, da die Tür sich trotz aller Kraftanstrengung keinen Millimeter bewegte. Er eilte um den Wagen herum, aber diese Tür würde sich auch nicht öffnen lassen. Iesha hatte den Wagen gegen die Laterne gedrückt und auch dort war alles verzogen.
Mit einem „Scheiße!“ kam er zur Motorhaube und streckte mir seine Hand durch die kaputte Windschutzscheibe entgegen. „Schäfchen, bitte sag etwas.“
Ich konnte ihn und seine Hand nur anstarren. Meine Zähne begannen zu klappern und mein Körper zitterte. Ich wollte hier raus, aber alles war verbogen und zerbeult. Meine Hände waren voller Talkumpuder vom Airbag. Mein Arm tat weh und da war Blut. Oh Gott, ich saß blutend in einem Autowrack.
Cio knurrte, als er auf die Motorhaube sprang, sich den Ärmel seiner dicken Jacke über die Hand zog und dann begann die Reste der Windschutzscheibe aus dem Rahmen zu wischen. Ein paar der Splitter ritzten den Stoff an, sodass ein Teil der Füllung herausquoll. „Ich bin hier“, sagte er dabei immer wieder. „Du brauchst keine Angst haben, ich bin bei dir.“
Und ob ich Angst hatte. Iesha hatte versucht … sie wollte … „Hol mich hier raus“, wimmerte ich und spürte, wie das Zittern stärker wurde. Sie war hier gewesen. Sie hatte auf der anderen Straßenseite gelauert und versucht mich zu überfahren. „Bitte Cio, hol mich raus.“
„Ich bin schon dabei.“ Scherben knirschten und ein paar fielen in den Wageninnenraum.
Als ich mich bewegte, spürte ich einen stechenden Schmerz im Arm und erst dann verstand ich, warum er so schmerzte. Da steckte etwas drin. Ich konnte nicht mal sagen, was es war, aber es hatte sich durch den Mantel direkt in meinen Arm gebohrt.
Es sah so grotesk aus, dass ich einen kurzen Moment versucht war einfach zu kichern. Aber dann merkte ich nur, wie mein Atem immer hektischer wurde und am Rande meines Sichtfeldes schwarze Flecken auftauchten.
„Du musst ruhig bleiben“, beschwor Cio mich, als er die letzten Reste der Windschutzscheibe entfernte und dann nach meiner Hand griff.
Ich konnte ihn nur mit großen Augen anstarren, während ich merkte, wie schwarzes Fell durch meine Haut stieß.
„Bitte Schäfchen, beruhige dich“, flehte Cio mich an und tastete nach meinem Gesicht. Seine Finger zitterten. Oder war ich es, die zitterte? „Denk an das Baby. Es ist nicht gut wenn du dich aufregst, bitte bleib ruhig.“
Der kleine Passagier. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich schon die ganze Zeit schützend eine Hand vor den Bauch hielt. Wieder kam ein Wimmern über meine Lippern. „Ich will hier raus.“
„Ich helfe dir hier raus, aber zuerst musst du mir sagen, ob dir etwas wehtut.“
„Mein Arm“, flüsterte ich zähneklappernd. „Mein Kopf.“
„Sonst nichts?“
„Ich will hier raus“, flehte ich nur wieder.
„Okay.“ Cio schob auch seinen Kopf in den Wagen und streckte die Arme nach mir aus. „Gib mir deine Hände. Komm schon Schäfchen, du kannst das.“
Ja. Ja ich konnte das und ich musste das. Ich musste hier raus. Doch als ich meinen Arm bewegte, fuhr ein stechender Schmerz in meine Schulter und als ich im Augenwinkel auch noch eine Bewegung wahrnahm, begann ich wieder zu wimmern.
Auch Cio drehte für einen Augenblick den Kopf, beruhigte mich dann aber mit den Worten: „Ist schon gut, das ist nur euer Nachbar. Und jetzt komm her.“
Unser Nachbar von gegenüber kam mit einem Brecheisen zum Wagen gerannt. „Ich habe die Wächter und den Notarzt gerufen“, rief er Cio schon beim Nährkommen zu. „Sie müssten gleich hier sein.“
„Hörst du Schäfchen, Hilfe ist unterwegs und jetzt komm.“
Als er nach meinen Händen griff, fand ich endlich die Kraft mich zu bewegen.
„Ja, so ist gut“, spornte er mich an, als ich mich auf dem Sitz drehte.
Unser Nachbar kam um den Wagen herumgerannt und ließ sein Brecheisen achtlos auf den Bürgersteig fallen. Er wollte die Hände frei haben, um helfen zu können. Und er war auch nicht der einzige. Auch aus den anderen Häusern tauchte die eine oder andere Person auf.
„Genau so.“ Als ich mich vorbeugte, griff Cio nach meinen Ellenbogen, um mich zu stützen. Dabei zog er an mir und half mir so durch die Windschutzscheibe auf die Motorhaube zu klettern.
Immer wenn ich meinen Arm bewegte, schoss ein beißender Schmerz durch meinen Arm, doch ich versuchte weder darauf, noch auf die schwarzen Flecken vor meinen Augen zu achten. Und dann plötzlich war ich draußen und wurde von Cio in die Arme genommen.
„Oh Gott“, murmelte er und klammerte sich genauso verzweifelt an mich, wie ich mich an ihn, während er mein Gesicht schützend an seiner Brust barg. „Ich bin hier, alles wird gut“, flüsterte er dabei. Sein Körper war nicht nur angespannt, er zitterte auch. „Ich bin bei dir.“
Aus der Ferne waren Sirenen zu hören, die schnell näher kamen und kurz darauf hielt nicht nur ein Notarzt und ein Sanitätsfahrzeug quer vor dem Haus meiner Eltern, sondern auch drei Wagen der Wächter. Die Türen wurden praktisch alle gleichzeitig aufgestoßen, um einen Schwung von Helfern auf die Straße zu entlassen.
Als sie sich und jedoch mit schnellen Schritten näherten, klammerte ich mich nicht nur fester an Cios Jacke, mein ganzer Körper versteifte sich.
„Ist schon gut“, murmelte er und legte mir eine Hand an den Kopf. Unter uns knackte das Blech der Motorhaube. „Hab keine Angst.“
Ich wusste nicht genau was es war, aber plötzlich begann ich zu weinen und wurde von meinen Schluchzen geradezu geschüttelt. Ich bekam nicht richtig mit, was die Leute um mich herum sagten und wer da alles war. Ich spürte nur, wie Cio irgendwann von der Motorhaube rutschte und mich auf seine Arme hob, als würde ich kaum mehr als eine Feder wiegen. Erst dabei wurde mir das ganze Ausmaß der Situation bewusst.
Ich sah unseren Wagen, in dem ich eben noch gekauert hatte und konnte kaum glauben, was mit ihm passiert war. Das war nicht nur ein Totalschaden, es sah aus, als wäre eine Horde Elefanten darüber marschiert. Hätte ich versucht wegzulaufen, anstatt geistesgegenwärtig in den Wagen zu springen … ich wäre jetzt tot. Iehsa hatte versucht mich zu überfahren und nur dem Wagen war es zu verdanken, dass es nicht passiert war. „Sie wollte mich töten“, murmelte ich. „Unser Baby … sie hätte … oh Gott.“
Cios griff wurde ein wenig fester, als er mich gefolgt von den Helfern ins Haus meiner Eltern trug. „Sie hat es aber nicht geschafft.“ Er verfrachtete mich ins Wohnzimmer, wo er mich vorsichtig auf die Couch absetzte, doch als er sich einen Schritt entfernen wollte, um nach der Decke auf der Lehne zu greifen, krallte ich mich so fest in seine Jacke, das er nicht weg kam.
„Ist schon gut“, sagte er sofort und setzte sich neben mich. „Ich bin hier, ich lasse dich nicht allein.“
Was wohl der einzige Grund war, warum ich in diesem Moment nicht völlig zusammenbrach. Er war es auch, der mich davon überzeugte die Jacke auszuziehen, damit die Notärztin mich untersuchen konnte, wobei er mehr als einmal darauf hinwies, dass ich schwanger war.
Ich merkte kaum was um mich herum los war. Da waren nur all diese Fremden, die sich durch das Wohnzimmer meiner Eltern bewegten. Und die Tür zum Garten, sie stand offen. Ferox stand draußen auf der Veranda und starrte mich mit einem konzentrierten Blick an.
Cio tippte eilig etwas in sein Handy. Ich bekam eine Spritzte und aus meinem Arm wurde etwas entfernt, dass wohl ein Stück der Plastikverkleidung aus dem Wagen war. Ich hatte Schnitte im Gesicht und an den Händen. Ein großer Kratzer und oberflächliche Schürfwunden zogen sich über meinen Hals. Mein Kopf tat weh, aber dem kleinen Passagier ging es gut. Das Schlimmste was ich erlitten hatte, war der Schreck.
Immer wieder waren da Leute, die auf mich einredeten und während der Arzt irgendwas zu Cio sagte, tauchten mehrere Wächter neben uns auf. Einen von ihnen erkannte ich als Gregor. Die Frau neben ihm war diese Joyce.
„Kannst du uns sagen, was geschehen ist?“, fragte sie Cio ganz direkt.
Cio fuhr so wütend zu ihr herum, dass sie einen wachsamen Schritt zurück machte. „Du willst wissen was passiert ist?!“, fauchte er sie an. „Mein Verlobte und unser ungeborenes Baby wären fast gestorben, weil die Wächter zu inkompetent sind Iesha Walker endlich zu schnappen und sich lieber mit Strafzetteln und harmlosen Vandalismus beschäftigen, anstatt sich endlich vernünftig um diese durchgeknallte Mörderin zu kümmern!“
„Hey, ganz ruhig.“ Gregor hob beschwichtigend die Hände. „Wir verstehen ja, dass diese Situation für dich sehr beängstigend ist, aber wir sind hier um zu helfen und es …“
„Wenn ihr helfen wollt, dann geht da raus und fangt dieses verdammte Mitstück endlich!“, unterbrach Cio ihn und deutete dabei mit dem Finger sehr nachdrücklich auf die Tür. „Sie saß in einem silbernen Hyundai mit einem münchener Kennzeichen! Der Wagen ist Schrott, da sie damit zwei Mal mein Auto mit voller Absicht gerammt hat – während meine Frau darin saß! Es dürfte also nicht schwer sein diese scheiß Karre zu finden und diese Geisteskranke festzunehmen – zumindest nicht, wenn ihr euch endlich auf die Suche macht, anstatt mich hier mit dummen Fragen zu löchern!“
„Die Suchmeldung ist schon längst draußen“, sagte Joyce sofort. „Euer Nachbar hat das Kennzeichen bereits durchgegeben, als er die Sache gemeldet hat. Sie wird nicht weit kommen.“
Cio schnaubte, wandte sich von den beiden ab und setzte sich neben mich auf die Couch. Dabei zog er die Decke um meine Schultern zurecht, bevor er den Arm um mich legte und mich an sich zog. Er zitterte noch immer am ganzen Körper.
Ich nicht. Selbst das klappern meiner Zähne hatte aufgehört. Das musste an dem Berührungsmittel liegen. Es machte mich für meine ganze Umwelt irgendwie … taub. Ich saß da und bekam alles mit. Der Schreck saß mir noch in den Gliedern und jedes Geräusch um mich herum erweckte sofort meine Aufmerksamkeit, weil ich eine Gefahr dahinter vermutete, aber irgendwie war ich von dem allen abgeschirmt. Ich fror bis auf die Knochen, doch nichts um mich herum berührte mich. Nichts bis auf Cios Zittern. Ich hatte ihn noch nie so aufgewühlt gesehen.
„Du weißt wie es läuft“, sagte Gregor. „Jede Information kann hilfreich sein.“
„So ein Schwachsinn.“ Cio funkelte ihn an. „Was ist hilfreich daran, wenn ich euch sage, dass ich noch mal ins Haus gegangen bin, weil ich den Schal holen wollte? Ich war drinnen, als Iesha versuchte Zaira zu töten. Ich stand hier und hörte Ferox heulen, also bin ich raus in den Garten. Da hörte ich den Lärm von der Straße. In der ersten Sekunde dachte ich an einen Unfall, doch dann war da das Hupen meines eigenen Wagens und Zairas Schrei. Ich bin sofort raus gerannt und als ich an der Haustür war, sah ich gerade noch, wie dieser verdammt Hyundai direkt in meinen Wagen fuhr. Wisst ihr was für ein Gefühl das ist?“
Statt zu antworten, fragte Joyce: „Ist dir der Wagen vorher schon mal aufgefallen?“
Er schaute sie an, als sei sie das Dümmste, was ihn in seinem ganzen Leben jemals begegnet war. „Glaubst du wirklich, dass es dazu gekommen wäre, wenn mir der Wagen schon mal aufgefallen wäre?“
„Er stand auf der anderen Straßenseite“, sagte ich leise. Es waren die ersten Worte, die aus meinem Mund kamen, seit ich Cio angefleht hatte, mich aus unserem Wagen zu holen. „Ich hörte wie der Motor gestartet wurde und sah dann nur noch, wie er direkt auf mich zufuhr.“
Joyce nahm mich ins Visier. „Das heißt, sie hat draußen auf euch gewartet?“
Hatte sie das? Oder war sie uns gefolgt? War es das erste Mal, dass sie uns so nahe gewesen war, oder hatten wir sie bisher einfach nie bemerkt?
„Es ist eure Aufgabe, das herauszufinden“, bemerkte Cio scharf. „Wenn ihr sowas nicht mal rausfinden könnt, wozu seid ihr denn eigentlich gut?“
„Jetzt halt aber mal die Luft an!“, schnauzte Joyce ihn an. „Wir sind Wächter, keine Zauberer und von dir ist bisher auch nichts Hilfreiches in diesem Fall gekommen!“
„Was vielleicht daran liegt, dass man mich nicht daran arbeiten lässt!“
Bevor Joyce darauf etwas erwidern konnte, legte Gregor ihr eine Hand auf die Schulter. „Das reicht jetzt“, sagte er und schaute dabei von einem zum anderen. „Cio, ich verstehe dich, aber du weißt auch, dass wir an dem Fall arbeiten und jeder Spur nachgehen, doch auch wir stoßen irgendwann an unsere Grenzen.“
Cio knurrte ihn an. „Spar dir deine Plattitüden. Ich bin vielleicht noch nicht lange Wächter, aber ich sehe was möglich ist und das ist weit mehr als das was getan wird. Also kannst du dir …“
„Zaira!“
Bei dem Ruf schauten nicht nur ich und Cio auf, auch die beiden Wächter drehten sich herum, um zu sehen, wer da gerufen hatte. Cayenne stürmte mit einem besorgtem Ausdruck im Gesicht ins Wohnzimmer. Bei ihr war nicht nur Sydney, sondern auch Cios Eltern.
Als sie zur Couch geeilt kam, beachtete sie die Wächter gar nicht, sie hatte nur Augen für mich. „Oh Gott“, sagte sie und griff nach meinem Arm. „Geht es dir gut? Was ist passiert? Diego sagt, Iesha wäre hier aufgetaucht.“
Genevièv war nur einen Moment später an der Couch und schlang ihre Arme um ihren Sohn. „Alles wird gut“, versprach sie ihm. Die Sorge stand ihr ins Gesicht geschrieben.
„Entschuldigen sie bitte“, sagte Joyce und trat einen Schritt vor. „Ich verstehe ihre Sorge, aber das hier ist eine Befragung der Wächter und wir sind …“
Noch während Cayenne zu ihr herumfuhr, explodierte ihr Odeur um sie herum und ließ nicht nur die Wächter zusammenzucken. „Sie sind hier fertig“, sagte sie mit einer eindeutigen Drohung in der Stimme.
Joyce und Gregor duckten sich nicht nur gleichzeitig, sie traten auch wie eine Einheit vor meiner Erzeugerin zurück.
„Kommen sie“, sagte Diego zu den beiden und winkte sie zu sich. „Wir sollten uns unterhalten.“
Es war offensichtlich, dass die beiden nicht wollten, doch Cayennes Odeur hatten sie nichts entgegen zu setzen. Das Cios Vater auch noch der Tribunus Umbra war und damit im Rudel nur einen Schritt unter den Alphas stand, veranlasste sie wohl dazu, erstmal den Rückzug anzutreten und zusammen mit Diego im Flur zu verschwinden. Cayenne und Genevièv blieben jedoch und drängten mit ihren Fragen so lange, bis Cio ihnen erzählte, was genau geschehen war.
Ich sagte kein Wort und entzog mich auch Cayennes Berührung. Es noch mal zu hören, war als würde ich wieder in diesem Wagen sitzen und alles noch einmal erleben. Nicht mal Cios schützende Umarmung konnte mich von dem Gefühl der Machtlosigkeit befreien. Ich hatte nichts tun können, gar nichts. Ich war ihr ausgeliefert.
Cio war mit seiner Erzählung fast fertig, als Diego wieder zu uns kam. Die Wächter schien er abgewimmelt zu haben.
„Dieser Angriff passt nicht ins Bild“, sagte Genevièv am Ende der Erzählung. „Die anderen Male hat sie immer aus der Ferne agiert, oder wenigstens so, dass man sie erst im Nachhinein mit der Tat in Verbindung bringen konnte. Sie ist immer sehr kontrolliert und plant ihr Vorgehen. Dies hier scheint eher aus einem Impuls heraus geschehen zu sein.“
„Du meinst, es war eine Tat im Affekt?“ Diego nickte. „Das habe ich auch schon überlegt. Nicht nur weil sie gesehen und eindeutig identifiziert wurde. Es war reiner Zufall, dass Cio noch einmal ins Haus gegangen ist und Zaira allein gelassen hat. Wäre Cio bei ihr gewesen, hätte sie es nicht getan, denn sie will ihn haben und nicht verletzten. Das ist noch ein Punkt, der für ein impulsives Handeln spricht. Diesen Vorfall hätte sie unmöglich planen können.“
„Vielleicht hat sie die beiden verfolgt und auf eine Gelegenheit gehofft“, überlegte Cayenne. Sie saß neben mir auf der Sofalehne und schien sich unentwegt daran hindern zu müssen, ihre Hände nach mir auszustrecken.
Diego wiegte den Kopf hin und her. „Möglich, aber unwahrscheinlich. Die Gefahr, bei einer solchen Aktion geschnappt zu werden, ist extrem hoch und das Vorgehen war leichtsinnig – etwas dass sie normalerweise nicht ist. Nach meinem Ermessen war das eher eine impulsive Handlung.“
„Ja, aber was kann diesen Impuls ausgelöst haben?“, fragte Cayenne.
Genevièv legte die Hand auf Cios Schulter. „Zaira sagte, dass sie auf der anderen Straßenseite gestanden hat. Vielleicht hat sie etwas mitbekommen, dass sie in Rage gebracht und so übereilt hat handeln lassen.“
„Aber wie konnte sie denn wissen dass wir hier sein würden?“, fragte Cio. „Wir waren den ganzen Tag unterwegs und wussten selber nicht mal, wann wir hier ankommen würden. Außerdem wussten außer uns nur Kasper, Aric und ihre Eltern, dass wir Ferox abholen. Wenn sie also nicht plötzlich hellseherische Fähigkeiten erlangt hat und in die Zukunft sehen kann, hätte sie unmöglich wissen können, dass wir heute hier sein würden.“
Diego schüttelte den Kopf. „Du vergisst das Personal aus der Tierklinik.“
„Sie könnte euch auch den ganzen Tag verfolgt haben“, bemerkte Genevièv.
Dieser einfache Satz reichte, damit mir noch kälter wurde.
„Nein“, widersprach Cio. „Das glaube ich nicht. Ferox ist weit intelligenter als ein normales Tier und er kennt Ieshas Geruch. Er sieht sie als Feind an – nicht nur wegen den Giftködern, auch wegen dem was letztes Jahr im Wald passiert ist. Als er sie vorhin gerochen hat, ist er völlig ausgerastet. Wäre sie uns gefolgt, hätte er sie schon an der Tierklinik bemerkt. Sie muss also hier auf uns gewartet haben.“
Diego schüttelte den Kopf. „Nicht zwingend. Es gibt noch weitere Möglichkeiten, aber das klärt leider nicht ihr übereiltes Handeln.“ Mit einem grimmigen Blick verschränkte er die Arme vor der Brust. „Sie verändert ihr Muster und das gefällt mir nicht. Diese Tat hatte etwas Verzweifeltes und wenn sie verzweifelt ist, dann wird sie noch unberechenbarer und gefährlicher, als sie ohnehin bereits ist. Wir müssen uns also fragen, was geschehen ist, dass sie plötzlich so aus ihrer Rolle fällt.“
Als Cio sich versteifte, drehte ich den Kopf, um sein Gesicht sehen zu können. Er wirkte angespannt. „Ich habe sie geküsst“, sagte er langsam.
Cayenne runzelte die Stirn. „Was meinst du?“
„Am Auto. Bevor ich reingegangen bin, um den Schal zu holen, habe ich Zaira geküsst. Wenn Iesha wirklich auf der anderen Straßenseite gestanden und es gesehen hat …“
„Dann könnte das der Auslöser gewesen sein.“ Diego nickte. „Iesha will dich so dringend zurück, dass ein solcher Anblick für sie sicher schwer zu ertragen ist.“
„Dann ist es meine Schuld“, sagte Cio und schaute zu seinem Vater, als wollte er, dass er ihm widersprach. Dabei wurde sein Griff fast schmerzhaft fest, doch seltsamerweise störte mich das nicht. Es machte mir keine Angst. Nichts schien durch dieses Taubheitsgefühl hindurch zu dringen. „Wenn ich sie nur nicht …“
„Nein“, unterbrach Diego seinen Sohn mit strenger Stimme. „Ein Opfer ist niemals für die Taten des Täters verantwortlich.“
„Aber ich bin hier nicht das Opfer“, erwiderte Cio heftig. „Ich war der Katalysator und Zaira droht nur Gefahr, weil Iesha sie als Hindernis ansieht. Wenn ich nicht wäre, dann …“
„Was?“, fragte Diego in einem herablassenden Tonfall. „Wäre sie plötzlich sicher? Denkst du darüber nach sie zu verlassen? Glaubst du wirklich, Zaira könnte dann ein glückliches und friedliches Leben führen?“
„Diego“, begann Genevièv, wurde aber durch eine Geste von ihm sofort wieder zum Schweigen gebracht.
„Zu diesem Zeitpunkt ist es völlig egal, ob du bei ihr bist oder nicht, denn Iesha hat Zaira als Störfaktor eingestuft und wird so oder so versuchen, diesen zu beseitigen. Ob es nun schon offiziell ist oder nicht, Zaira ist deine Frau und sie trägt dein Baby unter ihrem Herzen, also wirst du die Verantwortung tragen und zu ihr stehen. Du wirst sie nicht einfach sitzen lassen.“
Cio funkelte ihn an. „Das würde ich niemals tun und das habe ich auch gar nicht gemeint.“
„Was dann?“
Cios Lippen wurden dünn und sein Blick trüb.
„Du denkst, es wäre alles anders gekommen, wenn du von Anfang an bei Iesha geblieben wärst“, erkannte Diego ganz richtig. Er trat nach vorne, packte Cios Schulter und zwang seinen Sohn ihm in die Augen zu schauen. „Wahrscheinlich hast du recht. Vielleicht wäre Zaira heute dann nicht in Gefahr, aber diese Seite war schon immer in Iesha gewesen und wäre früher oder später auf die eine oder andere Art zutage getreten.“ Er sah ihm fest in die Augen. „Ich gebe es zu, ich war mit vielen deiner Entscheidungen nicht einverstanden und wünsche mir auch heute noch, dass du manches anders machen würdest, aber was ich für meinen Sohn auf keinen Fall will, ist eine Beziehung zu dieser Frau und das nicht nur weil sie gefährlich ist. Iesha hat dich niemals glücklich gemacht. Vielleicht ist dir das selber gar nicht klar, aber du bist nur mit ihr zusammen gewesen, weil sie nach deiner Trennung von Solaine da war.“
Er schnaubte.
„Dein Vater hat recht“, mischte sich nun auch Genevièv ein. „Solaine war dir wichtig gewesen und du warst niemals glücklicher, als mit Zaira. Zwischen dir und Iesha dagegen hat es von Anfang an nicht gestimmt.“
Das mochte stimmen, aber Iesha war für einmal viel mehr als ein Lückenbüßer gewesen. Vielleicht sahen die anderen es nicht, weil in der Beziehung zwischen Cio und Iesha von Anfang an so viel kaputt gewesen war und auch wenn es heute keine Bedeutung mehr hatte, er hatte sie wirklich einmal geliebt.
„Zaira ist ohne doch nicht besser dran“, sagte Diego eindringlich. „Hast du das verstanden? Sie ist deine Frau und sobald wir die Gefahr beseitigt haben, wird alles wieder gut werden.“
Cio gab ein ungläubiges Geräusch von sich. „Du meinst, wenn es bis dahin noch nicht zu spät ist. Hast du eine Ahnung wie knapp das heute war? Hätte Zaira versucht zur Seite zu springen, oder wegzulaufen, anstatt in den Wagen zu springen, wäre sie jetzt tot – Iesha hätte sie einfach überfahren!“
„Aber sie ist nicht tot“, sagte Diego viel sanfter, als es für ihn üblich war. „Sie ist hier, bei dir.“
Wie um sich dessen zu versichern, legte er die Hand auf meinen Kopf und drückte mich wieder an sich. „Ich kann sie hier nicht beschützen“, sagte er leise und es musste ihn eine unglaubliche Kraft kosten, sich diese Tatsache einzugestehen. „Sobald sie auch nur die Wohnung verlässt, ist sie in Lebensgefahr. Nicht mal Zuhause ist sie sicher. Was ist wenn Iesha das nächste Mal eine Bombe mit einem Brief schickt? Oder es ihr irgendwie gelingt, das Essen zu vergiften, bevor ich es in die Wohnung bringe? Sie könnte auch einfach auf dem Haus gegenüber sitzen und mit einer Waffe durchs Fenster schießen. Selbst die Wohnungstür ist kein wirkliches Hindernis. Es gibt so viele Möglichkeiten, die Ieshas krankes Hirn sich ausdenken kann und ich weiß nicht …“ Zum Ende hin brach seine Stimme ein wenig weg. „Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.“
„Ihr seid nicht alleine“, versicherte Cayenne ihm.
„Was bringt das?“, fuhr er sie an. „Ihr seid doch genauso machtlos wie ich!“
„Wir werden uns etwas überlegen“, versuchte Genevièv ihren Sohn zu beruhigen.
„Diese Überlegungen bringen doch nichts!“, fauchte er. „Es würde nicht einmal etwas bringen, wenn ich sie zu ihrer eigenen Sicherheit in einen Bunker sperre. Es müsste nur ein anderer Mensch wissen wo Zaira ist und schon ist sie wieder in Gefahr, weil er zu Iesha gehören könnte. Das einzige was helfen würde wäre, wenn Zaira sich in Luft auflöst, aber das ist nicht möglich.“
Diego setzte zum Sprechen an, schloss den Mund aber wieder, als Gregor in dem Moment in den Raum trat. Er wirkte ernst und frustriert.
„Was ist los?“, fragte Genevièv ohne Umschweife. Sie ahnte wohl, dass er keine guten Nachrichten brachte.
„Wir haben den Wagen gefunden. Er wurde aufgegeben, da die Schäden zu groß waren, um damit weiter zu fahren. Die Kollegen haben ihrer Spur danach noch ein Weilchen folgen zu können, aber …“
„Sie ist wieder entkommen“, sagte Cio grimmig.
„Es scheint, als sei sie zu jemanden in den Wagen gestiegen und weggefahren“, bestätigte er seine Vermutung.
Genevièv zog die Augenbrauen zusammen. „Ein Taxi?“
„Unwahrscheinlich. Wir tippen auf einen Komplizen, der sie aufgelesen hat, damit sie sich dem Zugriff entziehen konnte.“
„Wer hätte das gedacht“, murmelte Cio und strich mir beruhigend über mein Haar, denn diese Nachricht ließ mich wieder zittern.
Erst jetzt wurde mir klar, wie sehr ich gehofft hatte, dass man sie erwischen würde. Es war das erste Mal seit Monaten, dass sie gesehen wurde. So wie die Dinge lagen, hatte sogar eine sehr reelle Chance bestanden, sie endlich festzunehmen, aber nun war sie schon wieder weg. Jemand hatte ihr geholfen, damit sie einfach weiter machen konnte. Sie würde mich töten.
Gregor verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. „Wir werden eine rund-um-die-Uhr-Bewachung …“
„Das ist nicht nötig“, sagte Cayenne. „Danke für ihre Information und jetzt gehen sie bitte.“
Das Runzeln auf Gregors Stirn kam nicht unerwartet. „Bitte entschuldigen sie, aber ich glaube sie verstehen nicht. Wir …“
„Ich verstehe sehr gut“, unterbrach Cayenne ihn, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, auszusprechen. „Aber in diesem Fall zweifle ich an den Fähigkeiten der Wächter. Darum verzichten wir auf ihre Hilfe.“ Sie bedachte ihn mit ihrem Alphablick, der unmissverständlich sagte, dass sie sich nicht wiederholen würde.
„Sie sind nicht befugt, den Schutz der Wächter abzulehnen“, erwiderte Gregor ruhig und in dem Moment musste ich ihm trotz allem für seinen Mut bewundern. Es gab nicht viele Leute, die es wagten Cayenne die Stirn zu bieten. Er wirkte auch nicht eingeschüchtert, als er sich an Cio und mich wandte. „Ihr solltet den Schutz der Wächter zu eurer eigenen Sicherheit annehmen. Wenn ihr keine rund-um-die-Uhr-Bewachung wollt, können wir euch auch in ein sicheres Haus bringen.“
Cio neigte den Kopf leicht zur Seite. „Du glaubst ich vertraue den Wächtern?“
Er seufzte. „Elicio, ich habe dir bereits gesagt, dass wir in diesem Fall tun was wir können. Es tut mir leid, dass wir bisher keine Ergebnisse …“
Sein Schnauben unterbrach seinen Kollegen. „Du glaubst, das ist mein Problem? Sagt die der Name Wächterin Darja Vasilieva etwas?“ Als Gregor daraufhin schwieg, verzogen Cios Lippen sich zu einem bitteren Lächeln. „Ich mag dich Gregor, du bist ein guter Wächter, aber nicht mal dir würde ich meine Frau anvertrauen. Du und auch jeder andere könnte zu Iesha gehören.“
„Du musst aber irgendjemanden vertrauen“, hielt Gregor dagegen. „Das hier schaffst du nicht alleine.“
„Das muss er auch gar nicht“, antwortete Cayenne für ihn. „Bitte gehen sie jetzt und glauben sie mir einfach, wenn ich ihnen sage, dass für die Sicherheit der beiden gesorgt sein wird.“
So wie Gregor aussah, glaubte er ihr nicht und wenn ich ehrlich war, ich auch nicht. Wenn Cayenne ein Möglichkeit hätte, uns das Leben zu erleichtern, dann hätte sie die doch schon langst genutzt. Aber auch wenn es ihm nicht passte, sah er ein, dass er hier wohl auf verlorenem Posten Kämpfte. „Nun gut“, sagte er und wandte sich wieder direkt an Cio. „Wenn du es dir anders überlegst, du weißt wo du uns finden kannst.“
„Danke.“
Gregor nickte, warf Cayenne dann noch einen kühlen Blick zu und verließ den Raum dann erneut.
„Zaira ist hier nicht mehr sicher“, sagte Cayenne leise, sobald der Wächter außer Hörweite war. „Iesha ist wieder entkommen und mit diesem Angriff hat sie gezeigt, dass sie keine Grenzen mehr kennt.“
Diego nickte. „Sie ist an einem Punkt, an dem für sie nur noch ihr Ziel zählt – koste es was es wolle. Sie kann nicht mehr hier bleiben.“
Cio sah seinen Vater zweifelnd an. „Und wo soll sie hin? Ieshas Verbündete könnten überall sein. Erinnert euch doch nur daran, was sie als Amor-Killer getan hat und was für Leute ihr zur Seite gestanden haben. Sie hatte Umbras und Wächter in ihren Reihen.“
„Darum gibt es nur noch eine Möglichkeit“, erklärte Cayenne. „Du hast es doch selber gesagt. Ihr müsst euch in Luft auflösen.“
„Man kann sich nicht einfach in Luft auflösen“, sagte ich leise. „Wir sind nicht aus Rauch.“
Niemand ließ sich seine Überraschung anmerken, weil ich mein Schweigen endlich gebrochen habe.
„Vertrau mir, wenn ich dir sage, dass es doch geht.“ Sie erhob sich von der Sofalehne. „Wir werden euch hier wegbringen, an einen Ort, wo euch niemand finden kann und ihr sicher seid. Ich muss nur kurz etwas klären.“ Sie gab niemanden die Gelegenheit zu widersprechen, schon hatte sie uns den Rücken gekehrt und ging über die Treppe nach oben. Einen Moment später hörte ich, wie sich die Badezimmertür schloss. Nicht mal Sydney hatte sie mitgenommen.
War es dumm zu hoffen, dass sie wirklich einen Ausweg kannte?
„Wo soll dieser Ort sein?“, fragte Cio niemand bestimmten.
„Ich weiß es nicht.“ Diego schaute die Treppe hinaus und so wie er dabei die Augenbrauen zusammengezogen hatte, schien ihm dieser Gedanke nicht zu gefallen.
„Aber was ist mit den anderen?“, fragte ich ein wenig und hob den Kopf. „Was ist Alina und Aric? Was ist wenn Iesha wütend wird, weil wir verschwinden und diese Wut an ihnen auslässt? Oder glaubt wir würden zurück kommen, wenn sie nur genug Schaden anrichtet?“
Genevièvs Lippen wurden schmal. Daran hatte wohl niemand von ihnen gedacht. „Dann werden wir auch sie in Sicherheit bringen müssen.“
„Meine ganze Familie? Was ist mit meiner Oma, oder Tante Amber?“
„Ich werde dafür sorgen, dass sie alle geschützt sein werden“, versprach Diego. „Du bist Ieshas Hauptziel. Sie tut das alles nur, um dich zu verletzen und Cio von dir zu trennen. Ich werde die Wächter der Garde und vielleicht ein paar der Themis nutzen, um sie alle in Sicherheit zu bringen.“
„Aber nicht an den selben Ort“, sagte Genevièv sofort.
„Nein, nicht am selben Ort“, stimmte Diego ihr zu.
Ich war mir nicht sicher, ob das ausreichen würde. Natürlich, Diego hatte schon recht, Ieshas Fokus lag auf mir und sie würde sich sicher nicht den gleichen Aufwand betreiben Anouk zu finden, wie sie es bei mir tun würde, aber … was wenn doch? Was wenn sie nicht so gut geschützt wären, wie ich es sein würde – immer vorausgesetzt, Cayenne konnte Wort halten?
„Dadurch können wir sie vielleicht sogar dazu bewegen, aus ihrem Versteck zu kommen“, überlegte Diego. „Wenn all ihre Ziele verschwinden und Cio nicht mehr in ihrer Reichweite ist, wird sie vielleicht unsicher und dadurch unvorsichtig.“
Das wäre zu schön um wahr zu sein.
Bis Cayenne wieder nach unten kam, vergingen noch ein paar Minuten und auch wenn ich in ihren Augen einen Hauch von Sorge sah, so wirkte sie entschlossen. Doch anstatt zu uns zu kommen, winkte sie Sydney zu sich und flüsterte einen Moment mit ihm. Erst als er nickte, erhob sie sich und kam wieder zu uns. „Wir holen jetzt ein paar Sachen von euch und dann wird Sydney euch wegbringen. Außer uns beiden wird niemand erfahren, wo ihr sein werdet.“
Das Stirnrunzeln, das schon die ganze Zeit in Diegos Gesicht saß, vertiefte sich noch. „Das meinst du nicht ernst.“
„Doch“, sagte sie fest. „Auch ihr beide werdet nicht erfahren, wo Zaira und Cio sich aufhalten werden und jetzt fang gar nicht erst an mit mir zu diskutieren. Ich weiß, dass ihr niemals etwas tun würdet, was euren Sohn schaden könnte und auch das ihr Geheimnisse bewahren könnt, aber je weniger Leute davon wissen, desto sicherer ist es für sie. Das müsst ihr selber einsehen.“
„Das wird Raphael aber nicht so sehen“, bemerkte Genevièv und warf mir einen kurzen Blick zu.
„Davon abgesehen, dass Raphael nicht hier ist, ist er verletzt. Außerdem wird er wollen, dass Zaira sicher ist.“
So zweifelnd wie alle sie anschauten – ja selbst Sydney – war hier wohl niemand ihrer Meinung. Natürlich wird er wollen, dass ich sicher war, aber wenn er mitbekam, dass ich untergetaucht war und nicht wusste, wo ich abgeblieben war … er wäre alles andere als erfreut. „Redet erst mit Mama und den Ärzten, bevor ihr es ihm sagt“, verlangte ich. Ich wollte nicht, dass diese Nachricht seinen Zustand verschlechterte.
Cayenne nickte. „Mach dir keine Sorgen, ich werde es ihm schonend beibringen.“
„Das wird keinen Unterschied machen“, bemerkte Cio.
Darauf ging Cayenne nicht weiter ein. „Los jetzt, auf mit euch.“
Ich war von diesem Plan nicht wirklich überzeugt, einfach weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass es irgendwo einen Ort gab, an dem wir vor Iesha sicher waren. Allein die heutigen Ereignisse hatten die wenige Sicherheit, die mir die Welt noch gegeben hatte, in ihren Grundfesten erschüttert, aber als Cio sich erhob, ließ ich mich von ihm auf meine wackligen Beine ziehen. Die Decke rutschte mir dabei von den Schultern und fiel zu einem Knäule zurück auf das Sofa.
Als ich mich danach umdrehte, geriet Ferox in mein Blickfeld und rief mir in Erinnerung, dass ich da eine Kleinigkeit vergessen hatte. „Was ist mit Ferox?“, fragte ich leise. Ich konnte ihn doch nicht einfach hier zurück lassen. Besonders nicht, nachdem Iesha heute schon wieder hier aufgetaucht war.
Auch die anderen drehten sich nach dem Wolf um, der noch immer in der offenen Hintertür stand und mich mit kritischem Blick bewachte.
„Ich kann ihn nicht hier lassen.“
„Dann musst du ihn eben mitnehmen“, bemerkte Cayenne pragmatisch.
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Wie Irrlichter glitten die Lichtkegel der Autoscheinwerfer über die dunklen Gebäude und verdrängten die Dunkelheit für den kurzen Moment ihrer Berührung. Die Schatten waren fast schwarz und ich konnte spüren, wie in ihnen etwas lauerte und unserem Wagen mit seinen Blicken folgte. Es war albern, aber trotzdem konnte ich gar nicht anders als Cios Hand ein wenig fester zu halten, während wir durch den beinahe stillen Abend auf das landwirtschaftliche Betriebsgelände der Gracia-Ökonomie einbogen – auch bekannt als der Sitz des Gracia-Rudels.
Bis wir vor einer halben Stunde die Stadtgrenze zu Neuss überquert hatten, war mir nicht klar gewesen, wohin Sydney uns fuhr und das nicht nur, weil wir zwei Mal den Wagen gewechselt und immer wieder in eine andere Richtung gefahren waren. Cayenne und Sydney hatten uns auch nicht sagen wollen, wohin die Fahrt ging. Diese ganzen Sicherheitsmaßnahmen hatten aus einer achtstündigen Fahrt fast elf gemacht, weswegen es nun schon fast Mitternacht war.
Wir waren heute nicht um ersten Mal hier. Bereits vor knapp vier Jahren hatten uns die Umstände schon einmal zu diesem Rudel der Simultanen geführt und auch damals war die Situation ähnlich ausweglos gewesen.
Cayenne vertraute diesen Leuten, oder besser gesagt, sie vertraute der weiblichen Alpha dieses Rudels, denn sie war meine Oma. Nicht das ich viel mit ihr zu tun hatte, oder überhaupt schon mal ein Wort mit ihr gewechselt hatte. Ich war mir nicht mal sicher, ob sie meine Existenz bisher wahrgenommen hatte, schließlich war ich früher ein kleines, dreckiges Geheimnis gewesen.
„Das gefällt mir nicht“, murmelte ich, als Sydney langsam zwischen den Wirtschaftsgebäuden des Gehöfts hindurchfuhr, um zum hinteren Teil zu gelangen, wo das Haupthaus und die Wohnhäuser der Rudelmitglieder standen. „Dieser Ort ist nicht geheim. Ich habe ich damals an Gräfin Xaverine verraten.“ Und Iesha war zu dieser Zeit eine Anhängerin der Gräfin gewesen.
„Es existieren kaum noch Lykaner die wissen, dass Cayennes Mutter noch lebt“, versuchte Sydney mich mit seiner einlullenden Stimme zu beruhigen. „Besonders nicht im Rudel der Könige. Und noch viel weniger wissen, wo sie zu finden ist, oder dass ich euch beide hier her gebracht habe.“
Links und recht zogen mehrere Ställe an uns vorbei. Als die Scheinwerfer die Scheune streiften, erschien in ihrem Licht ganz kurz ein älterer Mann, der gerade mit zwei Eimern darin verschwand.
„Aber Iesha könnte es herausfinden.“
„Schhh“, machte Cio, beugte sich zur Seite und drückte mir einen Kuss auf den Kopf. „Das ist ein Rudel der Simultanen. Trotz der ganzen politischen Anstrengungen sind die Rudel untereinander noch immer viel zu misstrauisch, als das Iesha glauben könnte, wir würden uns bei einem von ihnen verstecken.“
„Besonders, da ihr beide nie den Kontakt zu Celine gesucht habt“, fügte Sydney noch hinzu. „Außerdem werde ich, sobald ich euch abgesetzt habe, weiter nach Berlin fahren und so eine falsche pur legen.“
In der Theorie hörte sich das ganz fantastisch an, doch nachdem was heute geschehen war … ich wusste nicht, ob ich mich jemals wieder sicher fühlen konnte. Besonders nicht an einem fremden Ort mit einem fremden Rudel.
Sydney umfuhr ein großes Silo. Dahinter tauchten die Häuser des Rudels wie durcheinandergewürfelte Bauklötze aus der Nacht auf. Manche waren flach, andere hatten ein oder zwei Etagen, aber sie alle standen um das große Haupthaus in der Mitte herum. Es gab hier weder eine Struktur, noch eine klare Ordnung. Man hatte die Häuser einfach irgendwo hingestellt und die Wege zwischen ihnen dadurch zu verschlungenen Pfaden und engen Gassen gemacht.
In einigen Fenstern sah ich noch Licht Leuchten, viele davon beim Haupthaus, die meisten Häuser waren jedoch dunkel, da ihre Bewohner um diese Zeit schon in ihren Betten lagen. Auf dem Land begann der Tag eben früh, da gab es nur wenige Nachteulen.
Im Kofferraum hörte ich Ferox unzufrieden grummeln. Diego hatte irgendwoher eine große Hundebox besorgt, in die wir ihn gesteckt hatten. Er war nicht begeistert gewesen und hatte uns das die ersten zwei Stunden laut und sehr ausdauernd deutlich gemacht. Danach hatte sein Enthusiasmus ein wenig nachgelassen, aber wirklich ruhig war er erst auf dem letzten Drittel der Fahrt geworden.
Sydney musste ein wenig kurbeln, um mit dem Wagen zwischen den Häusern durchzukommen. Das Geräusch des Motors ließ in dem einen oder anderen Haus die Lichter hinter den Fenstern aufgehen und ein paar Leute kamen sogar nach draußen, um zu schauen was hier los war. Es war schließlich nicht normal, dass hier nachts ein Auto herumfuhr. Aber sie beobachteten nur, wie wir direkt vor dem Haupthaus hielten.
Gerade als Sydney den Motor abstellte, traten aus dem fünfstöckigen Gebäude drei Leute auf die überdachte Veranda, die das komplette Haus einmal umrundete. Zwei Männer und eine Frau und auch wenn es lange her war, so erkannte ich jeden einzelnen von ihnen in der spärlichen Außenbeleuchtung.
Da Ferox in seiner Box unruhig wurde, blieb ich sitzen, als Sydney und Cio ausstiegen und steckte die Hand in die Box. Es hätte mich eigentlich nicht wundern dürfen, dass ich sofort eine feuchte Zunge daran spürte. Das Ganze machte meinen Wilden genauso nervös wie mich.
Cio blieb draußen vor dem Wagen stehen, als glaubte er eine Barriere zwischen mir und dem Feind errichten zu müssen, während Sydney den Leuten entgegen kam. Eine schlanke, zierliche Frau mit karamellbraunem Haar nahm ihn zur Begrüßung sogar kurz in den Arm. Das war meine Großmutter Celine, Cayennes Mama. Trotz ihrer knapp siebzig Jahren, wirkte sie gerade mal wie Mitte dreißig.
Direkt neben ihr stand ein großgewachsener, dunkelhäutiger Mann mit breiter Nase und einem militärisch kurzem Haarschnitt. Er hatte breite Schultern und überragte Celine um einen ganzen Kopf. Das war Ayko, der Alpha des Gracia-Rudels und der Gefährte meiner Großmutter.
Hinter ihm stand noch ein dunkelhäutiger Mann. Keenan, ein Beta und Aykos Stellvertreter. Er war etwas gedrungen, hatte ein rundes Gesicht und seinem Ausdruck zufolge, schlechte Laune. Die Arme hatte er abwehrend vor der Brust verschränkt und sein Blick verriet deutlich, dass es ihm lieber wäre, wenn wir ganz schnell wieder verschwanden. Ja, nicht nur das Rudel der Könige reagierte auf Lykaner aus anderen Rudeln allergisch.
Er blieb sie stumm, als Sydney sich mit den beiden Alphas unterhielt und ihnen einen Brief übergab – wahrscheinlich war er von Cayenne.
Celine nickte ein paar Mal, dann wandte sich die Gruppe geschlossen zum Wagen um und ging auf ihn zu.
„Dann wird es jetzt wohl ernst“, murmelte und zog meine Hand aus der Box, um meine Jacke zu schließen. Ferox fing sofort an zu jammern, als bedeutete der Verlust meiner Hand, dass wir uns nie wieder sehen würden. „Übertreiber.“
Als ich dir Tür des Wagens öffnete, schlug mir sofort die kalte Nachtluft zusammen mit den Gerüchen von weiten Feldern und Nutzvieh entgegen.
Cio reichte mir die Hand, um mir beim Aussteigen zu helfen und zog mich dann an seine Seite. Dabei behielt er Keenan sehr genau im Auge. Er zeigte es vielleicht nicht so offen, aber ihm behagte diese Station genauso wenig wie mir.
Die Einzige, die mit dieser Konstellation überhaupt kein Problem zu haben schien, war Celine. Sie begrüßte uns mit eine Lächeln und einem „Schön dass ihr gut angekommen seid“, doch als sie die Hand nach mir ausstreckte, als wollte sie mich am Arm berühren, machte ich instinktiv einen Schritt hinter Cio. Diese Frau war zwar meine Großmutter, aber auch eine Fremde und vor allen Dingen gehörte sie einem anderen Rudel an.
Ihr Lächeln verrutschte ein wenig. „Verstehe“, war jedoch alles was sie sagte.
„Sie sind einfach nur erschöpft“, versuchte Sydney mein Verhalten zu entschuldigen.
Ayko legte seiner Gefährtin eine Hand auf die Schulter. So wie ich ihn in Erinnerung hatte, war er nett, konnte aber auch ziemlich streng sein – besonders wenn es um die Sicherheit seines Rudels ging. „Am Besten ihr holt einfach eure Sachen und dann zeigen wir euch, wo ihr unterkommen könnt.“
„Ich nehme die Taschen“, sagte Cio und zog mich mit sich zum Kofferraum. Sobald er die Heckklappe auch nur berührte, fing Ferox in seiner Box an Theater zu machen. Er kratzte an der Box, winselte und jaulte, sodass ich sofort die Hand durchs Gitter steckte, als die Klappe oben war.
„Heute sind wir aber mal wieder ein wenig theatralisch, was?“
Seine Antwort bestand in einem Knurren. Das galt allerdings nicht mir, sondern Keenan, der hinter mich getreten war.
„Das ist also euer zahmer Hauswolf.“
Ich warf ihm einen kurzen Blick über die Schulter zu. „Er ist weder ein Wolf, noch ist er zahm.“
Wie um das zu bestätigen, flechte Ferox die Zähne.
„Ferox ist ein Misto. Er ist zur Hälfte Lykaner. Er ist intelligent und kann sprechen.“ Ich drehte mich halb zu den anderen um. „Aber er ist kein Haustier. Ignoriert ihn einfach, dann macht er das gleiche mit euch.“
„Er kann sprechen?“, fragte Celine zweifelnd.
„Sprechen ist vielleicht zu viel gesagt“, meinte Cio und zog meine gelbe Reisetasche neben der Box aus dem Kofferraum, um sie sich über die Schulter zu hängen. „Mit Leuten denen er vertraut, kommuniziert er über ein Art Gedankensprache. Die anderen starrt er höchstens böse an.“
Okay, Ferox war hier wohl nicht der einzige, der übertrieb. „Er ist harmlos, wenn man ihn in Ruhe lässt“, sagte ich und griff nach dem Öffner.
„Hey, Moment“, hielt Keenan ich auf. „Du glaubst doch nicht, dass er hier frei rumlaufen darf.“
Also wenn ich ehrlich war, hatte ich genau das geglaubt. „Er geht nicht an das Nutzvieh, wenn ihr das befürchtet. Er geht auch nicht in die Häuser. Er wird einfach nur in meiner Nähe bleiben und sich verkrümeln, wenn ihm jemand zu nahe kommt.“
„Wir haben vorhin einen Zwinger für ihn hergerichtet“, sagte Ayko. „Da kannst du ihn rein machen.“
Der Gedanke, Ferox schon wieder in einen Zwinger zu sperren, nachdem er die ganze letzte Woche erst in der Tierklinik gewesen war, gefiel mir absolut nicht. Schon den Garten von meinem Vater fand ich zu klein, aber da ich regelmäßig mit ihm in den Wald ging, der er auch mal alleine herumstromern durfte, konnte ich damit leben. Aber so ein Zwinger war nichts weiter als ein kleiner Käfig. „Habt ihr für mich auch einen Zwinger?“, fragte ich daher ein wenig spitz. „Ich bin auch ein Misto. Wer weiß schon, was ich anrichte, wenn ich hier frei herumlaufe. Nein wartet.“ Ich hob die Hände. „Ich gehe einfach zu ihm in den Zwinger. Das spart Platz.“
Ayko neigte den Kopf leicht zur Seite. „Wenn du das möchtest, steht es dir frei das zu tun.“
„Ayko“, mahnte Celine und schaute mich dann entschuldigend an. „Ob Misto oder nicht, er ist ein Tier Zaira, er kann hier nicht rumlaufen.“
„Ja, das könnt ihr auch so viel besser beurteilen als ich, weil ihr ihn ja auch so gut kennt.“
Als Reaktion auf meine scharfe Stimme, begann Ferox wieder leise zu grollen.
„Schäfchen“, versuchte Cio die Situation zu schlichten, doch ich brachte ihn mit einem „Vergiss es“ zum Schweigen. Ich wusste selber nicht, woher diese Angriffslust kam und es interessierte mich auch nicht. Ich drehte mich einfach wieder zur Box um und zog sie ein Stück nach vorne. Es war ein Krampf gewesen, Ferox da hinein zu bekommen und weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass ich es brauchen würde, hatte ich sein Geschirr und seine Leine bei Papa liegen lassen. Folglich musste ich ihn samt Box zum Zwinger bringen.
„Warte, ich helfe dir“, sagte Keenan und trat vor, doch als er die Hand nach der Box ausstreckte, schlug ich sie weg und knurrte warnend.
„Bleib weg von ihm.“ Es wurde doch gerade klar und deutlich gesagt, dass Ferox keine Fremden mag, oder?
Keenan funkelte mich an. „Hör zu Mädchen, es ist mir ziemlich egal was du für Probleme hast, aber machst du das noch mal, dann wirst du dir …“
„Pass auf was du sagst“, warnte Cio ihn und schien mit einem Mal zu wachsen.
„Okay, Schluss jetzt“, unterbrach Celine die aufkommenden Spannungen. „Keenan, geh nach Hause, wir sehen uns morgen, Zaira und Cio kümmern sich selber um ihren Wolf.“
Fast hätte ich wieder geknurrt. Ich wusste nicht mal genau warum mich das so aufregte. Weil das nicht mein Rudel war? Weil fremde Alphas versuchten mich herumzukommandieren? Oder lag es einfach daran, dass sie nicht verstanden, dass Ferox weit mehr als ein Tier war? Ich erwiderte jedenfalls Keenans Funkeln, bis er sich mit einem Schnauben abwandte und zwischen den Häusern verschwand.
Cio half mir dabei die Box aus dem Wagen zu heben. Unsere beiden Reisetaschen hatte er sich dabei über den Rücken gehängt. Zum Glück war er ein Lykaner. Zwar war es etwas umständlich, aber sicher nicht anstrengend.
„Ich werde dann jetzt weiter fahren“, bekannte Sydney, als wir all unsere Sachen aus dem Wagen geholt hatten. „Wenn es etwas Neues geben sollte, werden wir euch benachrichtigen. Und denk dran, kein Kontakt zum Rudel.“
Ich nickte mir zusammengepressten Lippen. Ich wollte nicht hier bleiben, abgeschnitten von allem was ich kannte und liebte, denn ich glaubte nicht daran, dass wir hier sicher waren und fühlte mich an diesem Ort unwohl. Wäre Cio nicht bei mir, hätte ich Sydney wohl angefleht, damit er mich wieder mitnahm, so jedoch sagte ich nur: „Bis bald.“
Sydneys Blick wurde ein wenig weicher, wodurch seinem vernarbten Gesicht die Strenge genommen wurde. „Gebt auf euch Acht und haltet durch.“ Er gab Cio zum Abschied noch die Hand, nickte den anderen zu und dann konnte ich nur noch dabei zuschauen, wie er den Wagen umrundete und hinter das Steuer stieg. Zwei Minuten später verschwanden seine Rücklichter zwischen den Häusern.
Auch wenn ich Sydney mochte, hatte ich nie eine enge Beziehung zu ihm gehabt, doch jetzt hatte ich den irrationalen Wunsch, er möge umkehren und zurückkommen. Ich hatte mich noch nie so verloren gefühlt, wie in diesem Moment. Nicht mal Cio, der mich mit einem festen Händedruck daran erinnerte, dass er direkt neben mir stand und mich nicht alleine lassen würde, konnte an diesem Gefühl etwas ändern.
„Da es hier draußen nicht wärmer wird, sollten wir uns wohl langsam in Bewegung setzten“, bemerkte Ayko mit einem eindeutig auffordernden Tonfall in der Stimme, also packten Cio und ich Ferox' Box links und recht und folgten den Alphas des Gracia-Rudels.
Unser Weg führte uns im Zickzack zwischen den Häusern hindurch. Einmal links, dann recht und wieder links. Einen kurzen Moment konnte ich die weiten, leeren Felder erblicken, die das kleine Dorf wie einen kostbaren Schatz von allen Seiten bewachten, dann versperrten mir die Häuser auch schon wieder die Sicht.
Ich hatte es schon damals seltsam gefunden, dass sich dieses Rudel auf einem so offenen Gelände niedergelassen hatte. Kein Wald, keine Bäume, nur ein paar karge Sträucher, die kaum Deckung boten. Wenn sie sich hier verwandelten, mussten sie unheimlich aufpassen, nicht von den Menschen entdeckt zu werden. Das war kein Ort für mich.
Zum Zwinger war es nicht weit, doch als ich ihn sah, blieb ich erstmal wie angewurzelt stehen und fragte mich, ob sie sich mit mir gerade einen bösen Scherz erlaubten. Das … Ding hatte drei Holzwände. Die Front war mit Maschendraht gezogen und oben drauf hatte man ein Wellblech als Dach gelegt. An sich war das ja in Ordnung, nur sah das Teil aus, als würde der kleinste Windhauch es einfach umhauen.
Der Maschendraht war an mehreren Stellen geflickt worden. Mehrere der Holzlatten waren herausgebrochen und verwittert und nur notdürftig mit Holzplatten geflickt worden und im Dach war ein Loch, durch das selbst ich locker gepasst hätte. Und das war nur der äußere Anschein, von innen fing ich besser gar nicht erst an.
„Es wirkt ein wenig heruntergekommen, aber es ist stabil“, erklärte Celine mit einem Lächeln. „Er wird da nicht heraus kommen.“
„Das bezweifle ich“, murmelte Cio so leise, dass nur ich es hören konnte.
Ich musste ihm zustimmen. Ferox war sogar schon ein paar Mal alleine aus dem Garten meines Vaters herausgekommen, wobei wir bis heute nicht wussten, wie er das angestellt hatte und der war im Gegensatz zu diesem Gebilde Fort Knox. „Soll nicht unser Problem sein“, murmelte ich zurück und trug mit ihm zusammen die Box in den Zwinger.
Bevor ich meine kleine Dramaqueen allerdings heraus ließ, prüfte ich den unebenen Erdboden, weil ich befürchtete, dass hier Splitter und Glas herumliegen könnten, doch ich fand nur ein paar Zweige, zwischen dem Stroh. In der Ecke stand auch noch ein Eimer mit Wasser. Das war es auch schon.
Als ich das Gitter der Box dann öffnete, stürmte Ferox nicht heraus, sondern schnupperte erstmal misstrauisch und schlich dann an meine Seite. Dabei schaute er mich an, als wollte er mich fragen, ob das hier wirklich mein Ernst war.
„Es ist nicht für lange“, versprach ich ihm und hockte mich zu ihm hinunter, um meinen Kopf gegen seinen zu drücken. Sofort strömten Bilder von Papas Garten und dem Wald der Könige auf mich ein. „Ja, mach mir doch auch noch ein schlechtes Gewissen.“
Als ich mich von ihm löste und den Zwinger verließ, begann er unruhig zu jaulen und zu Wimmern. Er versuchte sich mit aus dem Kabuff zu drängen und fand es gar nicht lustig, dass ich ihm die Holztür direkt vor der Nase zuschlug. Er sprang mit seinem ganzen Gewicht dagegen. Ein Mal, zwei Mal. Dann stellte er sich daran auf und heulte sein Leid zur Welt hinaus.
„Es wird ihm hier gut gehen“, versicherte Celine mir wieder.
Ich sparte mir eine Antwort. So systematisch wie Ferox den Zwinger mit den Augen absuchte, glaubte ich nicht daran, dass er allzu lange darin sein würde, aber diese Kleinigkeit behielt ich für mich, als ich mit Cio an der Seite vom Zwinger entfernte und wieder hinter unseren Gastgebern her lief.
Das Haus zu dem sie uns brachten, lag direkt neben dem Haupthaus. Hinter den Fenstern brannte noch Licht und als Ayko gegen die Tür klopfte, dauerte es nur einen kurzen Moment, bis sie von innen geöffnet wurde und eine betuchte Frau in den mittleren Jahren darin erschien. Sie hatte ein nettes Gesicht und ein herzliches Lächeln auf den Lippen und auch wenn ich sie noch nie in diesem Morgenmantel gesehen hatte, so konnte ich mich an sie erinnern. Leider wusste ich nicht mehr wie sie hieß.
„Da seid ihr ja endlich“, begrüßte sie uns und trat einen Schritt zurück, um uns hinein zu lassen. Dabei legte sie einen Finger auf die Lippen. „Leise, Chloé schläft schon.“
Ayko nickte, warf uns einen mahnenden Blick zu, als würde er vermuten, wir wollten das Haus wie eine Horde Elefanten stürmen und ging als erstes hinein. Celine war direkt hinter ihm und Cio und ich bildeten das Schlusslicht.
Der Flur in den wir traten, war kurz und bis auf ein paar Bildern an den Wänden, die zumeist ein rothaariges Mädchen in verschiedenen Altersstufen zeigten, völlig leer. Links waren zwei geschlossene Türen, von denen die eine mit einem blauen Namensschild versehen war, das verkündete, dieses Zimmer gehörte Chloé. Auch rechts waren zwei Türen. Die hintere war offen und führte eindeutig in ein gefließtes Badezimmer. Dann gab es geradezu noch eine Tür, durch die wir in ein etwas unordentliches Wohnzimmer geführt wurden. Wobei es nicht wirklich unordentlich war, die Möbel passten nur nicht zusammen. Es gab eine weiße, leicht durchhängende Couch. Daneben stand ein graumelierter Sessel, über dem eine grünkarierte Decke lag. Der Couchtisch war ein flacher Baumstumpf mit einer schwarzen Holzplatte oben drauf. Direkt gegenüber stand ein massiver Wohnzimmerschrank aus Buche und links unter den Fenster fand sich noch eine längliche Kommode aus einem sehr dunkeln Holz.
Unter dem Tisch lag ein blauer Teppich mit Wellenmuster und von der Tür aus ging ein kurzer, brauner Läufer mit roten Kleeblättern. Das Gebilde, dass von der Decke hing und den Raum mit mehreren Glühbirnen erhellte, erinnerte mich stark an Poseidons Dreizack – oder auch den Dreizack des Teufels. Es gab noch einen Türrahmen in einen weiteren Raum, der eine sehr seltsame Maserung hatte. Nahm man das alles zusammen, ergab das ein sehr skurriles Bild.
„Wollt ihr euch setzten?“, fragte die Hausherrin. „Oder etwas trinken?“
„Nein“, sagte Ayko und schüttelte noch nachdrücklich den Kopf. Im Licht sah er müde aus. „Es ist schon spät, und ich will ins Bett, darum machen wir es kurz. Zaira, Cio, das ist Roselyn.“
„Nennt mich Rosi, das tun alle.“
Wir nickten ihr zu.
„Rosi hat sich angeboten, euch für die Dauer eures Aufenthalts bei sich aufzunehmen. Sie hat noch eine Tochter und ich denke, es versteht sich von selbst, dass ihr euch benehmen und auch helfen werdet. Außerdem gibt es ein paar Regeln. Mein Wort ist hier Gesetz, was bedeutet, dass ihr beide euch mir ohne Murren umordnen werdet. Verstanden?“ Er sagte das beinahe höflich, doch sein Blick gab uns unmissverständlich zu verstehen, dass er besonders den letzten Teil absolut ernst meinte.
„Ja“, sagte Cio. „Aber bitte tun sie nicht wieder so, als wären wir dumme, kleine Kinder, die vom Leben keine Ahnung haben, so wie sie es das letzte Mal getan haben. Wir sind hier, weil Cayenne uns hier her geschickt hat und nicht weil wir gerade nichts besseres zu tun hatten.“
Ayko machte den Mund auf, aber bevor er etwas sagen konnte, hob Celine die Hand, was ihm ein Stirnrunzeln entlockte.
„Wir verstehen, dass eure Situation schwierig ist, aber …“
Cio schnaubte. „Unsere Situation ist nicht schwierig. Mit schwierig kommen wir klar. Diese Situation ist lebensgefährlich.“
„Natürlich“, sagte sie nach einem Moment des Schweigens. „Ich wollte es nicht herunterspielen, sondern nur sagen, dass ihr zwar unsere Gäste seid, für euch aber die gleichen Regeln wie für alle anderen gelten. Ihr werdet hier nicht auf der faulen Haut liegen und euch bedienen lassen, sondern euch an der Arbeit hier am Hof beteiligen und tun was man euch sagt. Außerdem ist es euch beiden untersagt das Gelände ohne vorherige Absprache zu verlassen – zu eurer eigenen Sicherheit.“
„Des weiteren werdet ihr den Kontakt mit der Außenwelt auf ein Minimum reduzieren. Kein Computer, kein Internet, oder andere Kommunikationsmittel. Notebooks, Tablets und was es da sonst noch gibt, alles tabu. Sydney hat gesagt, ihr habt eure Handys in Silenda gelassen und von Cayenne Ersatzgeräte bekommen. Ich will, dass ihr diese ausschließlich im Notfall benutzt. Kein Kontakt zu Familie, Freunde, oder Bekannte. Haben wir uns verstanden?“
„Und was ist mit Pizzaservice?“, fragte fragte Cio neugierig. „Oder wenn ich im Wettbüro anrufen möchte, um meinen Tipp abzugeben?“
Uh, Celine konnte echt finster gucken. „Das hier ist kein Spaß. Ihr seid hier, weil …“
„Wir wissen warum wir hier sind und was auf dem Spiel steht“, unterbrach Cio sie grob. „Und ich habe ihnen auch gerade gesagt, sie sollen uns nicht wie dummer Kinder behandeln. Ich weiß ja nicht wie das hier bei ihnen im Rudel abläuft, aber ich bin ein erwachsener Mann und Wächter der Stadt Silenda, darum würde ich darum bitten, dass sie aufhören uns zu belehren, als wüssten wir nicht, was es bedeutet unterzutauchen. Das Leben meiner Gefährtin ist in Gefahr und keiner von uns beiden würde etwas tun, um den Schutz, den sie uns hier bieten können, zu mindern.“
Dass er den kleinen Passagier nicht erwähnte, war kein Zufall. Nach wie vor gab es nur sehr wenige, die von unsrem Nachwuchs wussten und sie alle waren der Meinung gewesen, dass es besser war, wenn wir das vorerst so beließen.
„Wir sind ihnen dankbar für ihre Hilfe. Wir werden uns mit einbringen und uns an die Regeln des Rudels halten, aber wir lassen uns nicht herumschubsen. Haben sie das verstanden?“
„Niemand hat vor euch herumzuschubsen“, sagte Ayko. „Ich möchte nur, dass ihr versteht, wie es hier läuft.“
Ich hatte eher den Eindruck, als wollte er uns klar machen, dass er hier das Sagen hatte und wir hier nur geduldet wurden, weil Celine das so wollte. Das war bereits vor vier Jahren so gewesen, als man Cayenne vom Thron gestürzt hatte und wie es schien, hatte sich an dieser Einstellung nichts geändert.
„In Ordnung“, ergriff Celine dann das Wort. „Es ist spät, wir sind alle müde und sollten dieses Gespräch lieber auf morgen verlegen. Dann können wir alles weitere klären.“
„Das ist denke ich das Beste“, stimmte Rosi zu und harkte sich bei Ayko am Arm ein. „Morgen beim Frühstück, kann dir auch niemand widersprechen, da alle den Mund mit Essen voll haben werden.“
Als die beiden den Raum verließen, machte es den Eindruck, als würde Rosi ihren Alpha nur hinausbegleiten, doch ich hatte den starken Verdacht, dass sie ihn vor die Tür setzten wollte, bevor ihre Tochter noch wach werden konnte. Oder das hier wirklich zu einem Streit eskalierte.
Celine folgte den beiden, drehte sich aber an der Tür noch einmal zu uns um. „Ich weiß die Umstände sind nicht schön, aber trotz allem freue ich mich, dass du und dein Verlobter hier seid. Das war schon längst einmal überfällig.“
Sie hatte Interesse daran mich kennen zu lernen? Das letzte Mal als ich hier gewesen war, hatte sie meine Anwesenheit nicht mal zur Kenntnis genommen. „Ja, wahrscheinlich“, sagte ich daher nur. Im Moment hatte ich wirklich keine Lust mich mit ihr zu unterhalten.
„Wenn ihr etwas braucht, könnte ihr euch an Rosi oder mich wenden.“
„Danke.“
„Na dann sehen wir uns morgen früh beim Frühstück im Haupthaus. Gute Nacht.“
Sie nickte uns noch einmal zu und lief beim hinausgehen fast noch in Rosi hinein, die gerade zurück kam. Auch die beiden Frauen wünschten sich noch eine gute Nacht, dann strahlte Rosi uns mit einem müden Lächeln an. „So, die beiden wären wir los. Und da ihr sicher müde seid, machte ich den Rest kurz und zeige euch euer Zimmer. Hier ist das Wohnzimmer, wie ihr sicher schon erkannt habt und dort geht es in die Küche.“ Sie zeigte durch den Türrahmen mit der seltsamen Maserung. „Ihr könnt euch dort bedienen, wie ihr wollt, aber bitte hinterlasst keine Sauerrei. So, dann folgt mir mal.“
Rosi zeigte uns noch das kleine Badezimmer mit der Dusche und erklärte, dass ihr Schlafzimmer für uns tabu war. Zu Chloé ins Zimmer durften wir, aber nur, wenn Chloé es erlaubte. Außerdem hatte es ab zehn Uhr abends ruhig zu sein, damit ihre Tochter schlafen konnte.
Da keiner von uns große Lust auf eine Party hatte, sollte das ein Problem sein.
Das Zimmer das sie uns gab, lag direkt neben dem Bad und konnte mit dem Wort Abstellraum beschrieben werden. Es gab ein Mittelgroßes Bett mit rosaroten Bettzeug, auf dem saftige Erdbeeren abgedruckt waren, eine Kommode mit einem kleinen Fernseher darauf und einen kleinen Kleiderschrank. Auf dem Dielenboden lag ein flauschiger Teppich und genau wie im Wohnzimmer wirkten alle Sachen wild durcheinander gewürfelt.
„Ich weiß, es ist ziemlich klein“, entschuldigte sich Rosi und wischte mit der Hand ein unsichtbares Stäubchen von der Anrichte. „Aber es wird ja sicher nicht für lange sein.“
„Es wird schon gehen“, versicherte Cio ihr und stellte unsere Taschen vor der Kommode auf den Boden. „Wir brauchen nicht viel Platz und sind meistens sehr pflegeleicht.“
Dafür bekam er ein kleines Lächeln. „Dann wünsche ich euch beiden nun eine gute Nacht. Und Falls doch noch etwas sein sollte, klopf einfach an meine Tür.“
„Danke, aber wir kommen schon klar. Nacht.“
Noch ein Lächeln, dann waren wir zum ersten Mal seit Stunden alleine.
Als er sich versicherte, dass die Tür auch wirklich zu war, streifte ich meine Jacke ab und ließ mich auf das frisch bezogene Bett sinken. Auf einmal fühlte ich mich irgendwie … verloren. Nicht nur wegen dem was heute geschehen war. Iesha hatte es wirklich geschafft uns zu verjagen. Wir hatten nicht länger bleiben können und jetzt … jetzt waren wir hier.
„Ist alles okay?“
Ich wollte lächeln und Ja sagen, einfach weil man das in so einer Situation tat, um es nicht noch schlimmer zu machen, aber stattdessen spürte ich, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Ja, alle sagten, dass hier sei nur vorübergehend, aber wie lange war vorübergehend? Tage? Wochen? Oder sogar Monate? Ich bezweifelte, dass Iesha plötzlich gefasst wurde, nur weil wir uns vor ihr versteckten. Würde ich den kleinen Passagier hier zur Welt bringen müssen? Fernab von alles was ich liebte und kannte? Weit weg von der Familie?
Als das Brennen schlimmer wurde, kniff ich die Augen zusammen und spürte wie mir eine Träne über die Wange kullerte. Dabei klammerte ich meine Hände in die weiche Decke. Falsch, alles war hier falsch. Selbst der Geruch der Bettwäsche stimmte nicht.
Ich sah nicht wie Cio zu mir kam, hörte aber seine Schritte und als ich spürte, wie er mir die Träne von der Wange wischte, öffnete ich die Augen und schaute direkt in sein Gesicht, denn er hatte sich vor mich gekocht.
„Es tut mir leid“, sagte er leise. „Wenn ich könnte …“
„Es ist nicht deine Schuld“, unterbrach ich ihn und nahm seine Hand in meine. „Wir haben im Moment eben einfach … Pech.“ Bei diesem Wort rollte eine weitere Träne über meine Wange und etwas tief in mir brach. Es war nicht nur das Iesha es auf mich und jeden abgesehen hatte, der mir am Herzen lag, ich fürchtete mich. Das war nicht das erste Mal in meinem Leben, aber noch nie zuvor hatte ich diese Art von Furcht gespürt.
Wir waren nicht nur allein, wir waren auch von allem Abgeschnitten. Wenn Zuhause etwas geschah, wir würden es nicht erfahren. Wenn Iesha etwas tat … niemand würde es uns sagen. Das war, als wäre einem etwas Wichtiges genommen wurden. Diese ganze Situation war einfach nur noch … ausweglos.
„Ich habe Angst“, gestand ich in das Schweigen hinein. „Ich habe solche Angst.“ Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Angst gehabt, denn noch nie war ich dazu verdammt gewesen, so blind zu sein.
Cio beugte sich vor und zog mich in seine Arme. „Ich bin bei dir“, murmelte er, während eine weitere Träne sich ihren Weg bahnte. „Ich lasse dich nicht allein.“
Und diese Gewissheit war im Moment wahrscheinlich das Einzige, was mich nicht vollständig zusammenbrechen ließ. „Es soll einfach aufhören.“
„Das wird es“, versprach er und löste sich so weit von mir, dass er mir ins Gesicht sehen konnte. „Wir müssen nur noch ein wenig durchhalten. Und wenn das alles erstmal vorbei ist, dann werden wir ein schönes, langweiliges Leben mit zwei Komma fünf Kindern Kindern haben und in einem Haus mit einem Hund und einem weißen Gartenzaun leben. Und wenn ich besonders gute Laune habe, baue ich uns auch noch einen Swimmingpool.“
Bei der Vorstellung hoben meine Mundwinkel sich ein wenig. „Wir können uns keinen Hund holen, wir haben Ferox.“
„Ach, so ein kleiner Hund wird ihn schon nicht stören. Vielleicht einen Corgie, oder einen Zwergpudel. Aber keinen Chihuahua. Die finde ich gruselig.“
„Du findest Chihuahuas gruselig?“
„Ja. Hast du dir die mal angeschaut? Also so richtig?“ Er ließ mich los, aber nur um sich neben mich auf das Bett zu setzen. Dabei ließ er meine Hand nicht los. „Die haben so große Augen, die ihnen immer halb aus dem Kopf quellen. Da bekommt man ja Angst, dass sie ihnen jeden Moment vor die Füße fallen.“ Er schüttelte sich vor Grauen gespielt übertrieben. „Stell dir nur mal vor, du musst nachts aufs Klo und dann steht dieses Ding plötzlich vor dir. Das wäre der pure Jumpscare. Ich würde dann wahrscheinlich anfangen, wie ein kleines Mädchen zu kreischen.“ Er verzog das Gesicht. „Nein, ich glaube, dass ersparte ich dir lieber.“
„Danke.“
„Hey, das mache ich nicht für dich. Ich will nur nicht, dass Zweifel an meiner Männlichkeit aufkommen.“
Ich stieß ihn leicht mit der Schulter an. „Nein, das meine ich nicht. Ich meine … das du da bist.“ Und es trotz allem schaffst mir ein Lächeln zu entlocken.
„Ich werde immer da sein“, versprach er und drehte mein Gesicht zu seinem. „Ich liebe dich, Schäfchen.“
Es waren nicht nur die Worte, oder die sanfte Berührung an meiner Wange, es war vor allen Dingen der Ausdruck seiner Augen, der mich dazu brachte mich vorzubeugen und seine Lippen mit meinen zu streifen, doch bevor ich dazu kam den Kuss zu vertiefen, hörte ich hinter mir am Fenster ein leises Geräusch, das mich nicht nur Augenblicklich herumwirbeln ließ, sondern auch meinen Herzschlag in ungeahnte Höhen trieb. Dabei drängte ich mich instinktiv in Cios Richtung und haute ihn auch noch fast meinen Ellenbogen in die Rippen.
„Hey, ganz ruhig“, sagte Cio sofort und griff nach meinen Armen. „Sieh hin, das ist nur Ferox.“
Und tatsächlich. Das Ding, dass sich da die Nase an der Scheibe plattdrückte und mit der Pfote leise am Glas kratzte, war mein Ausbrecherkönig. Aber trotz der Tatsache, dass ich ihn erkannte und wusste, dass mir von ihm keinerlei Gefahr drohte, wollte mein Sacherzschlag sich einfach nicht beruhigen. Ich kniff sogar die Augen zusammen und versuchte es mit kontrolliertem Atem, aber ich hatte das Gefühl, dass es schlimmer statt besser wurde. Die Begegnung mit Iesha hatte mich wohl mehr mitgenommen, als mir bisher klar gewesen war.
„Schhh“, machte Cio und rieb mir über den Rügen. „Alles ist gut.“
„Oh Gott.“ Ich drückte mir mit den Fingern in den Nasenrücken und spürte wie mir schon wieder Tränen aufstiegen. „Ich kann das nicht. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte.“
„Du hältst das bist zum Schluss aus.“ Als ich nicht reagierte, nahm er mein Gesicht in die Hände und zwang mich ihn anzuschauen. „Du kannst das, Schäfchen, du bist stark.“
„Nein, ich …“
„Doch. Du bist stark, ich weiß das und du willst doch wohl nicht behaupten, dass ich ein Lügner bin, oder?“
Nein, das war er nicht, aber auch er konnte sich täuschen. „Wie machst du das?“, fragte ich ihn leise. „Nach allem was passiert ist, wie kannst du da noch so sein?“ Ich verstand es wirklich nicht.
Sein Blick wurde ein wenig weicher. „Weil ich dich habe.“
Ich lachte scharf auf. „Ein hysterisches Wrack?“
„Nein.“ Mit sanften Fingern strich er mir eine Strähne aus dem Gesicht. „Eine Frau, die trotz allem was sie schon durchgemacht hat, noch immer aufrecht steht und die mir jeden Tag aufs Neue zeigt, dass es in meinem Leben etwas gibt, wofür sich das Kämpfen lohnt.“
Ich war mir nicht sicher, ob diese Frau von der er da sprach noch existierte. Vielleicht war ich das mal gewesen, aber heute? Ich erkannte mich manchmal selber nicht wieder. Cio hatte es doch gesagt, ich war zu einer Fremden geworden.
„Wir sollten laufen gehen.“
„Was?“
„Laufen, mit Ferox. Wir nehmen uns eine Auszeit, um den Kopf frei zu bekommen. Hier sind wir sicher, hier kennt uns niemand und nachts werden die Menschen uns auch nicht sehen.“ Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Wir waren schon so lange nicht mehr richtig laufen, das wird uns sicher beiden guttun.“
Auf meinen Lippen erschien ein bitteres Lächeln. „Ob es uns gut tun wird oder nicht, wir haben versprochen zu gehorchen und Celine hat eindeutig gesagt, wir dürfen das Gelände nicht verlassen.“
„Sie hat aber nicht spezifiziert, welches Gelände sie genau meint“, hielt er sofort dagegen. „Sie könnte auch das Revier des Rudels gemeint haben und das erstreckt sich auf die Stadt Neuss.“
„Du weißt, dass sie das nicht gemeint hat.“
„Nein, das weiß ich nicht.“ Er erhob sich und als ich seinem Beispiel nicht folgte, nahm er meine Hände und zog auch mich auf die Beine. „Komm schon Schäfchen, nur ein paar Stunden. Wir sind zurück, bevor sie etwas merken.“
„Wir sollen aber nicht verschwinden, ohne ihnen Bescheid zu sagen.“
„Ich schreibe ihnen eine Nachricht.“
„Das ist nicht das Selbe.“ Ich wollte nicht. Mir leuchteten seine Argumente zwar ein und vielleicht würde so eine kleine Pause wirklich helfen den Kopf frei zu bekommen, aber eigentlich war ich … fertig. Die Idee sich einfach in irgendeiner Ecke zu verkriechen, gefiel mir viel besser. „Wir sollten wirklich hier bleiben“, fügte ich daher noch hinzu.
Das kleine Lächeln auf seinen Lippen verblasste und ich sah die Enttäuschung in seinen Augen. Er schien sich diesen Ausflug wirklich zu wünschen, so als wäre er es, der diese Auszeit dringen nötig hätte, um das Erlebte zu verarbeiten und wieder ein wenig Kraft zu tanken.
Ich durfte ihm das nicht verweigern, nicht wenn ich ihn aus so einfache Weise glücklich machen konnte. „Aber wir haben ja noch nie das gemacht, was wir sollten“, gab ich zu bedenken. „Und ich sehe keinen Grund, warum wir nun damit anfangen sollten.“
Seine Augen leuchteten auf. „Wirklich?“
„Natürlich.“ Auch wenn mir schon bei dem Gedanken dort draußen schutzlos herumzulaufen ein wenig anderes wurde. Aber Cio würde bei mir sein und so lange Cio da war, war meine Welt in Ordnung. „Aber wir sollten zurück sein, bevor jemand unsere Abwesenheit bemerkt.“
„Ich wusste doch, dass da noch immer irgendwo meine kleine Rebellin steckt.“
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„Cio!“, lachte ich, als er mich anrempelte und mir verspielt in den Nacken biss. „Hör auf mir das Fell vollzusabbern.“ Ich schüttelte mich und sprang zur Seite, als er einen neuen Angriff wagte. „Cio!“
Er blieb stehen, schaute mich mit großen, unschuldigen Augen an und sagte doch tatsächlich: „Ich mach doch gar nichts.“
„Natürlich machst du was. Du springst mich die ganze Zeit an.“ Ich setzte mich wieder in Bewegung.
„Das kannst du mir nicht beweisen“, erklärte er und trottete an meine Seite.
Es war fast Morgen. Der Horizont glühte bereits im Dämmerlicht und ließen die Dunkelheit nicht mehr ganz so finster wirken. Ich wusste nicht genau wie spät es war, aber ich war mir sicher, dass wir schon längst hätten zurück sein sollten. Nicht das mich das im Moment störte. Zum einen hatten wir Aykos Gehöft schon fast erreicht und zum anderen hatte Cio recht gehabt. Die Nacht hier draußen war … befreiend gewesen.
Ich wusste nicht, ob es an der fremden Umgebung oder dem lag, was gestern geschehen war, aber zum ersten Mal seit … keine Ahnung wann, hatte ich wirklich Spaß gehabt und zumindest Zeitweise die Bedrohung vergessen können, die sich wie schwarze Wolken bedrohlich über uns getürmt hatten. Zwar war ich nun todmüde und hatte ein Loch in der Flanke, weil Ferox beim Spielen zu übermütig geworden war, aber ich verspürte einen inneren Frieden, der mir fremd geworden war. Der nächtliche Ausflug in die winterliche Kälte hatte wirklich geholfen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Ich war einfach nur glücklich und entspannt. Nein, wir waren glücklich und entspannt.
Nicht mehr weit von uns entfernt, sah ich bereits die Gebäude der Gracia-Ökonomie wie Schatten im Zwielicht aufragen. Die Felder waren weit und leer, nur in der Ferne sah ich eine einsame Gestalt über Feldwege laufen.
Cio und ich liefen unserem Ziel in dem Graben neben der Straße entgegen. Hier gab es ein paar Bäume und hin und wieder auch karge Sträucher, die uns auf dem offenen Gelände etwas Deckung gaben. Ich hoffte nur, dass ich mir hier keine Kletten einfing. Eine Rückverwandlung mit Kletten im Fell war nicht zu empfehlen, weil sie manchmal einfach an der Haut kleben blieben und das war ziemlich unangenehm.
„Weißt du worauf ich mich jetzt freue?“, fragte Cio. Er lief so dicht neben mir, dass unser Fell sich bei jeder Bewegung streifte.
„Da ich leider nicht über hellseherische Fähigkeiten verfüge, wirst du es mir wohl sagen müssen.“
Ferox rannte an uns vorbei, als wollte er alle Geschwindigkeitsrekorde brechen, versuchte dann abrupt stehen zu bleiben und überschlug sich halb, weil er zu viel Schwung hatte. Er landete auf der Seite, was ziemlich schmerzhaft aussah, aber er sprang einfach zurück auf die Beine, als wäre nichts gewesen, lief ein paar Meter zurück und schnupperte sehr interessiert an einem kahlen Strauch.
„Auf ein warmes, weiches Bett.“ Er rempelte mich spielerisch an. „Vielleicht bekomme ich meine Freundin ja auch noch dazu, mich mit einer einspannenden Massage ins Land der Träume zu schicken. Was meinst du?“
„Hm“, überlegte ich gespielt übertrieben. „Was bietest du mir denn für diesen Gefallen?“
„Zum einen darfst du dann neben mir schlafen und zum anderen verspreche ich hoch und heilig, dass ich dann nicht schnarchen werde.“
Ich hob eine Augenbraue. „Du schnarchst sowieso nicht.“
„Umso besser. Das bedeutet, dass sich mein Versprechen auf jeden Fall erfüllen wird.“
Oh ja, er hatte ganz eindeutig einen Sprung in der Schüssel.
Als wir an Ferox vorbei liefen, entschied dieser, dass er nun genug an dem Strauch geschnüffelt hatte, hob das Bein und pinkelte auf die interessante Stelle.
„Ich würde dir sehr gerne diesen Gefallen erweisen, aber da gibt es ein kleines Problem.“ Ich machte einen kleinen Hüpfer über ein Loch im Boden und blieb dann stehen, bis Cio wieder neben mir war.
„Und das wäre?“, fragte er neugierig und stellte dabei die Ohren auf.
„Das ich wahrscheinlich noch vor dir einschlafen werde. Das würde heißen, ich …“
„Pssst“, machte Cio und duckte sich ein wenig.
Ich war stolz auf mich, dass ich nicht vor Schreck erstarrte, oder die Beine in die Hand nahm, um das Weite zu suchen, sondern mich einfach auf den Boden fallen ließ. Das lag wohl vor allen Dingen daran, dass ich die Stimmen im gleichen Moment gehört hatte. Männlich, mindestens zwei Leute, morgendliche Spaziergänger. Hoffentlich hatten sie keinen Hund dabei.
Da Ferox nicht peilte, dass wir in Deckung gegangen waren und auf uns zu spazierte, als wäre die Welt ein Paradies voller Regenbogen und Einhörner, knurrte ich leise in seine Richtung.
Er blieb verdutzt stehen, duckte sich dann ein wenig und schlich zu uns rüber. Leider waren die Stimmen der beiden Männer bei meinem Knurren verstummt und dann fragte auch noch einer: „Hast du das gehört?“, obwohl ihre Ohren eigentlich nicht dazu hätten fähig sein sollen.
„Ja“, antwortete der zweite Mann dann auch noch.
Cio legte die Ohren an und hob den Kopf ein wenig, doch leider stand der Wind so ungünstig, dass die Witterungen von uns weggeweht wurden.
„Ich glaube, dass kam von da“, sagte der erste Mann.
„Schnell, hinter den Strauch“, befahl Cio und machte sich sofort daran seinem eigenen Befehl Folge zu leisten.
Von Menschen ging in einer solchen Situation nur eine geringe Gefahr aus, besonders da die meisten bei unserem Anblick nicht an drei Wölfe denken würden, sondern an streunende Hunde, aber man musste das Schicksal ja nicht herausfordern – besonders nicht, wenn ein Rudel von Lykanern hier ihren Sitz hatte. Also folgte ich Cio eilig und stieß auch Ferox an, damit er mitkam. Keine Sekunde zu früh, denn kaum das meine Schwanzspitze hinter dem Busch verschwunden war, traten zwei Männer an den Rand des Straßengrabens und schauten den zugewucherten Abgang hinunter.
Ich musste mich ein wenig zur Seite lehnen, um einen Blick auf die beiden zu erhaschen. Sie trugen beide Stiefel, Jeans und dicke Arbetsjacken, die sie bei der Kälte warm halten würden. Bei dem größeren der Beiden, schaute noch der Kragen eines schwarzen Rollkragenpullovers hervor. Er war groß und ziemlich breitschultrig. Sein Haare waren braun und über sein linkes Auge zog sich senkrecht eine Narbe bis auf die Wange.
Der Mann neben ihm war etwas kleiner und schmaler. Sein blondes Haar war zu einem großen Teil unter der grauen Wintermütze verborgen. Aber sein Gesicht … es wirkte irgendwie verzerrt. Eine Ruine aus Narben, die sich weiter bis zum Hals zogen. Seine Augen konnte ich nicht sehen, da er eine schwarze Sonnenbrille trug, aber wenn ich den Rest von ihm sah, dann würde ich darauf tippen, dass er entweder Blind war, oder die Augenpartie so schlimm entstellt war, dass er sie lieber hinter der Brille verbarg.
Bei ihrem Anblick klingelte irgendwas in meiner Erinnerung, aber ich konnte die beiden nicht recht zuordnen. Hatte ich sie beim letzten Besuch hier schon einmal gesehen?
Als er seine Lippen zu einem Lächeln verzog, sah das irgendwie seltsam aus. „Ich rieche kleine Königswölfe.“
„Kommt raus“, sagte der große Mann. „Wir wissen dass ihr da seid und Ayko will euch sehen.“
„Ganz dringend sogar“, fügte der entstellte Mann noch hinzu.
Nun, das zumindest erklärte, warum sie mein leises Knurren gehört hatten. Wenn sie von Ayko sprachen, mussten sie zum Gracia-Rudel gehören.
„Das hört sich irgendwie nicht so an, als wollte er uns zu einem exklusiven Frühstück einladen“, murmelte Cio mir zu, als er sich aus unserer Deckung erhob und ein paar Schritt nach draußen machte. „Seid ihr unsere Eskorte?“, fragte er die beiden Männer.
Der Blonde stieß ein fröhliches Lachen aus. „Wir sind der Suchtrupp, der euch mit einem Arschtritt zurück zum Hof befördern soll.“
Auch ich tauchte hinter der dem Strauch auf – Ferox war direkt an meiner Seite.
„Wenn ihr den Arschritt weglasst, dann kommen wir freiwillig mit“, versprach Cio mit all der Ernsthaftigkeit, die er aufbringen konnte.
„Deal“, sagte der Blonde und winkte uns zu sich. Aber der Winkel der Geste stimme nicht ganz, so als wüsste er nicht genau wo wir waren, obwohl wir ganz offen da standen. Wahrscheinlich war er wirklich blind.
„Bleibt unten im Graben“, befahl der große und trat ein Stück zurück. Erst dabei bemerkte ich, dass der Blonde sich bei ihm untergehakt hatte. „Da fallt ihr nicht so auf.“
Cio schaute die beiden an, als wollte er ihnen einen neunmalklugen Spruch an den Kopf knallen, einfach weil sie das offensichtliche noch einmal betonten, aber ich bat ihn mit einem einfachen Blick darum, es einfach gut sein zu lassen. So wie es sich anhörte, würde es sowieso gleich ärger bekommen, da mussten wir nicht auch noch weiteren Streit provozieren.
„Na gut“, seufzte er, trottete zu mir und stupste mir gegen die Nase. „Aber dafür müssen wir wegen der Massage noch mal neu verhandeln.“
Nun war es an mir zu seufzen, aber aus einem ganz anderen Grund.
Während die beiden Männer oben den Rückweg antraten, taten wir es hier unten. Dabei glitt mein Blick immer wieder zu ihnen. Sie mussten in den mittleren Jahren sein, aber ich kam einfach nicht darauf, warum sie mir so bekannt vorkamen. Auch die Stimme hatte mir nichts gesagt.
Wir waren vielleicht fünf Minuten gelaufen, als der Braunhaarige mich anfunkelte. „Gibt es einen Grund, warum du uns so anglotzt?“
Der aggressive Ton ließ mich einen Moment aus dem Schritt geraten. „Es ist nicht wegen …“ Ich verstummte, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich das Taktvoll formulieren konnte.
„Sie hat eine Schwäche für Männer“, erklärte Cio und lief etwas dichter. „Es liegt einfach in ihrer Natur.“
Neben mir gab Ferox ein Winseln von sich, rannte dann los, nur um ein paar Meter weiter wieder stehen zu bleiben und an der gefrorenen Erde zu schnuppern.
Ein leicht verbittertes Lächeln erschien auf den Lippen des Blonden. „Ich denke ja, es liegt an den Narben“, vermutete er. „So was sieht man eben nicht alle Tage.“
„Nein“, widersprach ich sofort. „Ich versuche mich nur zu erinnern, woher ich euch kenne.“
Der große Mann warf mir einen prüfenden Blick zu, als zweifelte er an meinen Worten. Dann sagte er: „Denk dir ein bisschen Blut dazu, dann kommst du vielleicht darauf.“
„Cooper!“, schimpfte der Blonde und versetzte ihm einen leichten Stoß. Dann lächelte er entschuldigend. „Tut mir leid, ich bin immer noch dabei ihm ein paar Manieren beizubringen. Es hat sich herausgestellt, dass das eine Lebensaufgabe ist.“
Zu den fehlenden Manieren konnte ich nichts sagen, aber das Wort Blut löste bei mir eine ganze Kaskade an Bildern aus und ausnahmsweise betrafen sie einmal nicht mich.
Das Büro von Ayko. Ein Gespräch mit Kiara durch den Laptop, die im Aufruhr um den Thron verloren gegangen war. Lykaner, die einen halbtoten Mann und seinen verzweifelten Freund in den Raum brachten. Blut. Alles war voller Blut gewesen. „Ihr seid die Männer aus dem Rudel in Itzehoe.“Der halbtote Mann hatte also wirklich überlebt.
Der Blonde verzog die Lippen traurig. „Dieses Rudel gibt es schon lange nicht mehr. Wir waren die einzigen Überlebenden und haben uns Aykos Rudel angeschlossen.“
Cooper funkelte mich an, als sei es meine Schuld, dass sein Gefährte an diese schmerzhafte Zeit erinnert wurde. Vielleicht war es auch so. „Ich habe deinen Namen vergessen“, sagte ich, anstatt auf das Thema oder den Blick einzugehen.
„Nathan.“ Er lächelte mich an. „Ich bin Nathan und der Brummbär neben mir ist mein Gefährte Cooper.“
Richtig, die beiden waren keine Freunde, sie waren sogar Gefährten. Jetzt wo er es sagte, fiel es mir auch wieder ein.
„Und keine Sorge. Cooper knurrt zwar gerne, ist im Grunde aber ein kleiner Teddybär.“
Nun funkelte Cooper seiner Freund an. Gefiel ihm wohl nicht als harmlos dargestellt zu werden. „Ich glaube ich werde dich irgendwo aussetzen.“
Das ließ Nathan herzlichst auflachen. „Du und welche Arme?“
Die Antwort darauf war so leise, dass ich sie trotz meiner guten Ohren nicht hörte, aber da Copper von Nathan einen empörten Klapps bekam, war es wohl nichts nettes gewesen.
Den Hof des Gracia-Rudels erreichten wir ungefähr zehn Minuten später. Mittlerweile war die Dämmerung so weit fortgeschritten, dass wir alles problemlos sehen konnten. Den Hof, die Ställe und auch die ganzen Lykaner, die bereits fleißig bei der Arbeit waren und uns misstrauisch beobachteten, als wir an ihnen vorbei gingen. Besonders viele von ihnen folgten dabei mit ihren Blicken Ferox, der dich an mich gedrängt neben mir her lief und die Umgebung aufmerksam im Auge behielt. Nur eine falsche Bewegung und er würde sicher die Beine in die Hand nehmen und erstmal das Weite suche.
Nathan und Cooper wollten uns direkt zum Haupthaus bringen, aber sobald wir das große Silo umrundet hatten und auf den Hauptweg traten, der uns an unser Ziel führen würde, sahen wir die kleine Gruppe, die sich am Rand der Häuser versammelt hatte. Unter ihnen war auch ein dunkelhäutiger Mann, der wie ein schlecht gelaunter Ayko aussah.
Eine Frau tippte ihm auf die Schulter, als wir näher kamen und zeigte dann auf uns. Er drehte sich, schaute uns an und … ja, eindeutig schlechte Laune.
Wahrscheinlich war es feige, aber ich ließ mich so weit zurückfallen, bis ich hinter Cio lief.
Er warf mir zwar einen kleinen Blick über die Schulter zu, sagte aber nichts.
Etwa zwei Meter vor der Gruppe blieben wir stehen.
Ayko versucht uns mit seinem Blick zu durchbohren, weswegen ich mich ein wenig duckte, doch seine Worte richteten sich dann an Cooper und Nathan. „Wo habt ihr sie gefunden?“
„An der Straße“, sagte Nathan. „Sie waren gerade auf dem Rückweg zu uns.“
Etwas an diesen Worten schien Ayko zu stören, denn seine Lippen wurden ein wenig schmaler. „Ruf die anderen an und sag ihnen sie können zurück kommen.“
„Sind schon unterwegs.“ Es war wieder Nathan, der das sagte, doch es war Cooper, der ihn mit einem undurchschaubaren Blick auf uns wegführte.
„Geht wieder an die Arbeit“, sagte Ayko und erst als die Gruppe um ihn herum sich auflöste, verstand ich, dass er die ganzen Leute meinte. Die einzigen die zurück blieben – und uns einmal abgesehen – waren Ayko selber, Celine, die ich erst bemerkte, als die Menge sie nicht mehr verdeckte und Aykos zweiten Mann Keenan, der mit verschränken Armen an einer Hauswand lehnte.
Ayko fixierte erst Cio und mich, ließ seinen Blick dann aber auf Ferox gleiten, der sofort wachsamer wurde. „Zwei Dinge“, sagte er und schien bemüht dir Ruhe zu bewahren. „Ihr musstet nur zwei Dinge tun. Den Wolf im Zwinger lassen und auf dem Hof bleiben. Zwei einfache Regeln und ihr habt nicht mal eine Nacht durchgehalten, bevor ihr sie gebrochen habt.“
Cio richtete sich ein wenig auf. „Bei allem Respekt, wir haben keine ihrer Regeln gebrochen. Ferox ist allein aus dem … Zwinger abgehauen und sie haben gesagt, wir dürfen das Gelände des Rudels nicht verlassen. Ganz Neuss gehört doch zu ihrem Revier, oder täusche ich mich da?“
Ach Cio.
In Aykos Wange zuckte ein Muskel.
„Wie bitte soll der Wolf allein aus dem Zwinger entkommen sein?“, mischte sich Keenan in das Gespräch ein. „Die Tür war verriegelt und die Wände weisen keine Löcher auf. Er wird ja wohl nicht hinauspaziert sein und die Tür hinter sich wieder geschlossen haben “
Cio drehte sich fragend zu mir herum, aber wenn ich ehrlich war, wusste ich darauf auch keine Befriedigende Antwort.
„Naja, solange ich mir den Zwinger nicht angeschaut habe, kann ich das nicht mit Sicherheit sagen, aber ich würde mal darauf tippen, dass er durch das Loch im Dach geklettert ist.“
Celine hob eine der eleganten Augenbrauen. „Er ist durchs Dach geklettert?“
Ich zuckte nur mit den Schultern. „Das ist für ihn nicht weiter schwer. Einfach an den Maschendraht hochspringen, sich festhalten und rausklettern.“
Ja, da zuckte eindeutig ein Muskel in Aykos Gesicht. „Wenn du wusstest, dass er sowas kann, warum hast du uns nicht darauf hingewiesen?“
„Ich wusste es nicht.“
„Was sie damit meint“, mischte sich Cio ein. „Sie hätte es so gemacht, wenn sie an seiner Stelle gewesen wäre.“
„Außerdem habe ich letzte Nacht mehr als einmal erwähnt, dass er ziemlich intelligent ist und damit eigentlich ziemlich deutlich gemacht, dass so ein Kabuff ihn nicht halten kann, wenn er nicht drinnen bleiben möchte. Er hasst es auf so engen Raum eingesperrt zu sein. Wäre er nicht durchs Dach, hätte er solange die Wände oder den Maschendraht bearbeitet, bis er hinaus gekommen wäre.“
„Immer vorausgesetzt, er hätte sich nicht einfach ins Freie gebuddelt.“
Ayko hob die Hand und drückte sich mit Daumen und Ziegenfinger gegen den Nasenrücken.
„In Ordnung“, ergriff Celine das Wort. „Bringt in einfach wieder in den Zwinger, dann belassen wir es dabei.“
Der war gut. „Wie?“
„Was wie?“
„Wie sollen wir ihn in den Zwinger schaffen? Er geht da sicher nicht freiwillig rein und einfangen lässt er sich auch nicht.“ Naja, ich kannte da schon den einen oder anderen Trick, aber den würde ich ihnen sicher nicht verraten. „Er ist ziemlich stur und hat seinen eigenen Kopf.“
So wie Celine mich anschaute, war ihr das wohl bewusst. „Du willst mir doch nicht wirklich weiß machen, dass du nicht in der Lage bist, ihn in den Zwinger zu bringen, wenn du das wirklich willst.“
Also wenn sie es so ausdrückte … doch, irgendwie schon.
„Der Wolf ist doch jetzt völlig uninteressant“, fuhr Ayko dazwischen. „Wir haben euch hier aufgenommen und versprochen für eure Sicherheit zu sorgen, doch ihr habt euch wie zwei dumme Kinder einfach davongeschlichen und das nur weil ihr euch ein wenig amüsieren wolltest. Ich musste meine Leute von ihrer eigentlichen Arbeit abziehen und sie auf die Suche nach euch schicken, weil keiner wusste, wo ihr ward.“
Cio trat einen Schritt vor. „Wir haben eine Nachricht aufs Bett gelegt, in der wir mitgeteilt haben, dass wir am Morgen zurück kommen würden, es bestand also kein Grund, jemand nach uns auf die Suche zu schicken.“
Uh, dass nannte ich mal einen mörderischen Blick. „Von der Tatsache einmal abgesehen, dass wir euch Unterschlupf gewährt und zugestimmt haben, euch zu verstecken. Doch das kann weder ich noch mein Rudel, wenn ihr gegen uns arbeitet. Noch gestern hast du mir groß und breit erklärt, dass ihr keine kleinen Kinder seid und auch nicht so behandelt werden wollt, aber ihr verhaltet euch so. Verantwortungsvolle Erwachsene würden nicht so töricht handeln und alles so leicht aufs Spiel setzen. Euer Verhalten war unverantwortlich, leichtsinnig und Gefährlich. Wenn ihr die Regeln nicht beachtet, kann niemand eure Sicherheit garantieren!“
Cio ließ sich von dem kleinen Ausbruch nicht einschüchtern – ganz im Gegenteil zu mir. „Wir brauchten diesen Ausflug, wir beide“, erwiderte er ruhig. „Sie verstehen das wahrscheinlich nicht, aber es war wichtig gewesen. Außerdem bin ich ausgebildeter Personenschützer. Ich bin wohl in der Lage auf meine Gefährtin aufzupassen.“
„Hast du das auch gedacht, als sie gestern fast von einem Auto zermalm wurde?“, fragte Keenan leise und schaute mit Genugtuung dabei zu, wie Cio sich deutlich anspannte. „Hast du geglaubt du wärst Herkules und hast dich vor das Fahrzeug gestellt? Oder war es nicht viel mehr so, dass du sie aus den Augen gelassen hast? Meines Wissens nach lassen Personenschützer ihre Schützlinge nicht aus den Augen.“
Dieser Mistkerl Das war nicht nur ein Schlag unter die Gürtellinie gewesen. Ihm die Schuld für etwas zu geben, dass sich seiner Kontrolle entzog, war einfach nur bösartig und ich würde sicher nicht still dabei zuschauen und es einfach hinnehmen.
Als ich warnend zu knurren begann, explodierte eine Welle von Odeur um uns herum. Mein Kopf senkte sich ein wenig und ich zeigte diesem Arschloch auch die Zähne, aber nur bis ich bemerkte, dass aller Blicke plötzlich auf mich gerichtet waren. Im Ersten Moment war da nur Überraschung, aber daraus wurde schnell Erstaunen, Verwirrung und Verärgerung. Doch erst als sich Cio das Fell sträubte und er sich schützend vor mich schob, wurde mir klar, dass das Odeur von mir kam. Vielleicht lag es aber auch an Aykos drohendem Knurren.
„Was“, fragte der Alpha mit einem deutlich drohenden Unterton in der Stimme und fixierte mich auf eine Art, die mir absolut nicht gefiel, „hat das zu bedeuten?“
Celine trat einen Schritt näher zu ihm und auch Keenan hatte sich von der Wand abgestoßen, doch die beiden wirkten nicht, als wollten sie ihren Alpha beruhigen. Sie schienen ihm eher den Rücken stärken zu wollen.
„Sie ist kein Alpha“, sagte Cio sehr deutlich, war aber nicht so dumm, ihm dabei direkt in die Augen zu schauen. „Sie ist ein Omega.“
„Omegas haben kein Odeur.“ Seine Augen verengten sich ein wenig. „Was für ein Spielchen treibt Cayenne hier?“
„Cayenne weiß nichts davon.“ Cio machte einen Schritt zur Seite, um mich praktisch abzuschirmen. „Zaira macht das nicht mit Absicht. Sie ist fünfundzwanzig und es ist bisher ist das drei Mal geschehen.“ Die Tatsache, dass diese drei Male im letzten halben Jahr waren und zwei davon sogar in den vergangenen zwei Wochen, unterschlug er einfach. War wahrscheinlich besser so.
Ayko Fixierte ihn mit einem Blick, der sehr deutlich machte, dass er ihm kein Wort glaubte. „Omegas haben kein Odeur“, wiederholte er sehr leise. „Und ich lasse mich nicht gerne täuschen.“ Seine Augen glitten zu mir. „Und jetzt gibt es nur noch eine Art, dass zu klären, wenn ihr bleiben wollt.“
Ich machte unwillkürlich einen Schritt zurück und stieß dabei mit meinem Hintern gegen Ferox, dem sich mittlerweile Das Fell sträubte. Er verstand vielleicht keine Sprache, aber auch er spürte die Anspannung, die mit jeder Sekunde wuchs.
„Tritt zur Seite.“
„Nein.“ Cio schien über sich hinaus zu wachsen. Ihm sträubte sich nicht nur das Fell, als er die Zähne bleckte, er senkte auch seinen Kopf. Ein klares Zeichen dafür, dass die Sache hier gleich eskalieren würde, wenn ich nicht irgendwas tat. Aber ich konnte mich nicht bewegen. Die Aura die von Ayko ausging, trieb mich zum Rückzug.
„Ayko“, sagte Celine und legte dem Alpha eine Hand auf die Schulter. „Hör auf.“
Nun knurrte er seine eigene Gefährtin an. „Es ist mir egal, ob sie deine Enkelin ist, in diesem Rudel …“
„Schau sie dir an“, verlange Celine. „Kein Alpha wäre so unterwürfig, nur weil du ein wenig herumknurrst.“
Da war etwas dran. Wenn zwei Alphas aus verschiedenen Rudeln sich gegenüberstanden, dann gab der eine entweder widerwillig nach, oder es wurde so lange aufeinander herumgehackt, bis die Sache geklärt war. Ich jedoch sah aus, als wollte ich mich in Luft auflösen, um dieser Situation zu entgehen und das nicht nur, weil ich kein Alpha war.
Die plötzliche Bedrohung, die von ihm ausging, rüttelte an meinen Ängsten und ich konnte spüren, wie sie langsam nach oben trieben, um wieder ihre Klauen in mich zu schlagen.
„Ayko“, mahnte Celine noch einmal.
Seine Lippen wurden schmal, als sein Blick sich in mich bohrte. Doch dann schien ihm aufzugehen, dass seine Gefährtin recht hatte. Es gefiel ihm nicht, besonders nicht, da Cio ihn so offensichtlich herausforderte. Ayko war nicht unser Alpha, darum hatte er nur eine begrenzte Macht über uns und Cio wirkte in keinster Weise eingeschüchtert von ihm. Sollte es zu einer Auseinandersetzung kommen, würde nicht er es sein, der am Ende auf dem Boden liegen würde.
Ja, Ayko war ein Alpha, aber Cio war ein ausgebildeter Umbra. Das wusste der Anführer des Gracia-Rudels genauso gut, wie er um den Ausgang einer direkten Konfrontation wusste. Aber er war nun einmal der Herscher an diesem Ort. Darum fiel es ihm wahrscheinlich auch so schwer, den Blick von mir abzuwenden. Es schien ihm all seine Kraft zu kosten, die Augen zu schließen, einmal tief durchzuatmen und damit die Situation ein wenig zu entspannen. „Geht mir aus den Augen“, befahl er. „Verwandelt euch, geht frühstücken und dann macht ihr euch an die Arbeit. Celine wird euch eine Aufgabe geben.“
Als er die Augen wieder öffnete, war sein Blick zwar noch streng, aber er wirkte nicht mehr, als wollte er mich auf meinen Platz verweisen. „Und wagt es nicht noch einmal den Hof ohne unser Wissen zu verlassen.“
„Werden wird nicht“, versprach Cio wachsam. Er traute dem Frieden nicht so ganz.
Ayko nickte einmal abgehackt, kehrte uns dann wortlos den Rücken und machte sich auf dem Weg zum Haupthaus.
Sein Beta Keenan warf uns noch einen undefinierbaren Blick zu und schloss sich dann seinem Alpha an.
Celine blieb bei uns zurück. „Ich hoffe das war euch eine Lehre. Ihr seid hier nur geduldet. Ayko ist ein guter Mann, aber er hat euch nur aufgenommen, weil ich ihn darum gebeten habe. Ihr bring Unruhe in das Rudel und ihr tätet gut daran, noch auch noch extra Ärger zu provozieren.“
„Wir wollten keinen Ärger verursachen“, sagte ich leise.
Cio drehte sich zu mir herum und schmiegte seinen Kopf beruhigend gegen meinen.
„Geht jetzt und macht euch fertig. Wir sehen uns dann beim Frühstück.“ Ihr Blick glitt auf Ferox. „Und …“
„Nein“, unterbrach ich sie, bevor sie mir wieder sagen konnte, ich sollte ihn in den Zwinger bringen. „Ich werde ihn nicht in diesen Kabuff sperren. Es wäre die Mühe nicht wert, denn er würde dort eh wieder abhauen.“
Sie verengte die Augen leicht. „Dann werde ich meinen Leuten sagen, sie sollen ihn wieder einsperren.“
Ich wich ihrem Blick nicht aus. „Viel Glück dabei, aber solange sie ihn nicht betäuben, wird ihnen das nicht gelingen.“ Dafür war der Wilde einfach zu schnell und zu gewitzt.
Celine schien es gar nicht zu gefallen, dass ich mich ihr widersetzte und das auch noch so direkt. Aber ich war einfach zu müde, um die Sache schonend anzugehen. Wenn sie die Zeit ihrer Leute verschwenden wollte, ich würde sie nicht daran hindern – naja, zumindest nicht, solange sie meinem Tacker nicht wehtaten, oder ihm Angst machten.
„Wir sind gleich wieder da“, erklärte ich und wandte mich dann mit Cio Richtung Rosis Haus. Ferox blieb natürlich in unserer Nähe, als wir uns auf den Weg machten.
Eigentlich wollte ich nur noch ins Bett und ausgiebig schlafen. Die Nacht war lang gewesen, genau wieder gestrige Tag und auch wenn der Schrecken nur noch dumpf in der Erinnerung lauerte, so war er doch da. Aber nach dem Aufruhr, den wir heute schon angerichtet hatten und der Weigerung Ferox wieder einzusperren, sollten wir uns nichts weiteres aufs Kerbholz laden. Also gingen wir ins Haus, verwandelten uns, duschten und zogen uns an.
Von den Anwohnern des Hauses war niemand da und so blieben wir ungestört, bis wir uns auf dem Weg zum Haupthaus machten.
Ich war trotz allem ein wenig überrascht, als ich hinter Cio ins Freie trat und sah, wie zwei Männer und drei Wölfe hinter Ferox herrannten – immer rund um Roselyns Haus herum. Einmal. Zweimal. Beim dritten Mal rannte Ferox auf die Veranda und versteckte sich hinter mir. Dabei funkelte er seine Verfolger böse an.
Sowohl Cio als auch ich schmunzelten, sparten uns aber jeglichen Kommentar, als wir rüber zum Haupthaus gingen. Trotzdem kam ich nicht umhin mich zu fragen, ob diese Leute nichts besseres zu tun hatten, als mit dem Wilden Einkriegezeck zu spielen. Etwas anderes war das für ihn im Moment nämlich nicht, nur ein Spiel. Eines, dass wie es schien, ihn langsam nervte.
Das Frühstück im Rudel war … chaotisch. Die Küche war riesig. An vier runden Tischen hatten jeweils ein Dutzend Leute platz. An der Kochinsel in der Mitte, saßen mindestens noch mal genauso viele Lykaner und wer keinen Platz mehr ergattern konnte, der saß auf der Anrichte, oder lehnte an der Wand, um auf einen freiwerdenden Platz zu lauern. Dazwischen liefen überall Kinder aller Altersklassen herum.
Ich sah Roselyn neben einem rothaarigen Mädchen sitzen, dass um die zehn sein musste. Am Tisch daneben knurrte Cooper ein junges Mädchen an, das Nathan etwas vom Teller stibitzte. Sie lächelte nur, gab Cooper einen Kuss auf die Wange und aß es dann trotzdem. Keenan und Ayko sah ich nicht, aber Celine saß an der Kochinsel und köpfte gerade ein Frühstücksei.
Die Tische selber waren über und über mit Essen bedeckt und wenn man an seinem Tisch nicht fand was man suchte, stand man eben auf und bediente sich an einem anderen. Wer mit seinem Essen fertig war, ging zu einem der drei Spülen und wusch sein Frühstücksgeschirr ab. Einem fiel ein Glas klirrend auf den Boden. Ein anderer stieß einen lauten Pfiff aus, um jemanden auf sich aufmerksam zu machen. Es war bunt, voll und so laut. Ich fühlte mich auf Anhieb fehl am Platz.
Da es auch Cio ein wenig zu viel Trubel war, machten wir einfach zwei Teller voll und setzten und mit denen dann in den Korridor auf den Boden. Leider stellte sich bei mir wieder das alte Problem der Appetitlosigkeit ein, dass ich immer bekam, wenn ich unter Stress stand, oder mich etwas bedrückte. Nur das Wissen um den kleinen Passagier und Cios wachsamen Blick veranlassten mich dazu wenigstens ein wenig zu essen. Nach den letzten Monaten müsste ich eigentlich aussehen wie ein Spargeltarzan. Warum das nicht so war, war mir ein Rätsel. Zwar hatte ich abgenommen, aber nicht so viel, dass es wirklich auffiel.
Wir hatten unsere Mahlzeit noch nicht ganz beendet, als Celine mit einer jungen Frau im Schlepptau aus der Küche kam. „Ah, da seid ihr ja. Erinnert ihr euch noch an Shiva?“ Sie zeigte auf ihre Begleitung.
Bei dem Anblick der dunkelhäutigen Schönheit mit den langen, schwarzen Haaren und den blauen Augen bekam ich sofort schlechte Laune. Nicht mal die grüne Arbeitslatzhose konnte sie entstellen und die war wirklich hässlich. Ihre Nase war zwar etwas zu groß und die Lippen ein wenig schmal, doch das verlieh ihr einfach nur Charakter.
Ja ich konnte mich an Shiva erinnern, aber vor allen Dingen erinnerte ich mich daran, dass sie immer wieder versucht hatte Cio schöne Augen zu machen. Nicht das sie damit Erfolgt gehabt hätte, aber so wie sie ihn jetzt schon wieder anlächelte, konnte ich mich meiner aufkommenden Besitzgier nicht ganz erwehren und so war es gar nicht meine Schuld, dass ich ihm eine Hand aufs Bein legte und damit sehr deutlich machte, dass das mein Mann war. „Ja, ich erinnere mich“, sagte ich und funkelte sie warnend an.
Als Cio seine Hand grinsend auf meine legte, bekam er von mir einen bösen Blick. Der sollte nur nicht so selbstgefällig sein.
„Das ist gut. Shiva wird euch zeigen, was ihr zu tun habt und euch helfen, wenn ihr bei der Arbeit Schwierigkeiten habt, oder Hilfe braucht. Hör auf sie.“
„Klar“, sagte Cio und schob sich dann den Rest seines Brotes in den Mund.
„Gut. Ich hab dann auch noch zu tun. Wir sehen uns dann später.“ Celine nickte uns noch kurz zu und verschwand dann Richtung Büro.
Mein Blick blieb jedoch auf Shiva, die dezent an mir vorbei schaute und Cio angrinste. „Hätte ja nicht gedacht, dich noch mal wiederzusehen.“
„Tja, die Wege des Herren sind unergründlich.“
Ihr Lächeln wurde ein wenig breiter und dann stellte sie auch noch die Hüfte aus, als wollte sie so unauffällig auf ihren Hintern aufmerksam machen. „Ich freue mich auf jeden Fall.“
Hallo? War ich plötzlich unsichtbar? „Wir sind verlobt.“ Okay, das war nicht sehr subtil gewesen, aber nun konnte sie mich wenigstens nicht mehr ignorieren. „Soll ich dir meinen Ring zeigen? Er ist wirklich hübsch.“
Als Cio leise lachte, ignorierte ich ihn einfach.
Shiva schien einen Moment überrascht, lächelte aber tapfer weiter. „Da sollte ich wohl gratulieren.“
„Ob du uns gratulierst oder nicht ist mir ziemlich egal, aber wenn du jemandem schöne Augen machen möchtest, such dir einen Kerl, der noch frei ist. Das hier ist meiner und den kriegst du nicht.“ Okay, ich hatte ehrlich keine Ahnung, woher das plötzlich kam und so wie Cio mich anschaute, hatte ich ihn damit auch überrascht. Aber wahrscheinlich war es gar nicht so schlecht, die Grenzen gleich aufzuzeigen.
Shiva zog eine Augenbraue nach oben. „Ganz schön besitzergreifend.“
„Ich bringe mal unsere Teller weg“, erbot sich Cio, gab mir beim Aufstehen noch einen Kuss auf die Wange und verschwand dann in der Küche.
Ich nutzte die Zeit seiner Abwesenheit um auf die Beine zu kommen und Shiva noch ein paar sehr deutliche Blicke zu senden.
„Ganz ruhig, kleiner Grizzly“, murmelte Shiva. „Ich bin nur an Freiwild interessiert.“
Bevor ich dazu noch etwas sagen konnte, war Cio schon wieder da und griff direkt nach meiner Hand. Leider konnte er sich dabei sein blödes Grinsen nicht verkneifen. Es freute ihn scheinbar, dass ich meinen Anspruch auf ihn gelten machte. Blödmann.
„Na dann kommt mal ihr zwei.“ Shiva übernahm die Führung, doch schon als wir das Haupthaus verließen, bleiben wir alle wieder wie angewurzelt stehen. Das Bild, dass sich uns da bot, war einfach nur … lächerlich. Fast zwei Dutzend Lykaner, sowohl als Mensch als auch als Wolf, liefen hinter Ferox her und versuchten ihn scheinbar in Richtung Zwinger zu treiben. Sogar zwei kleine Jungs waren darunter. Einer der Männer blutete an der Hand, als wäre er gebissen worden. Und was machte Ferox? Er machte sich ein Spaß daraus, Haken zu schlagen und im Zickzack zwischen den Leuten umherzulaufen. Er rannte auf eine Veranda, nur um gleich darauf über die Brüstung zu springen und das Haus zu umkreisen.
Als eine Frau nahe genug war um ihn zu packen, schleckte er ihr einmal quer durch das Gesicht und schlüpfte dann zwischen ihren Beinen hindurch, nur um den einen Jungen über den Haufen zu rennen.
Shiva beobachtete das Treiben zwei Minuten. „Du solltest ihn wirklich einfangen, er macht die Tiere nervös.“
Diese Aussage war einfach nur lächerlich. „Willst du mir etwa erklären, dass die Tiere auf eurem Hof keine Wölfe kennen?“
„Sie kennen ihn nicht.“
Na wenn das so war: „Dann versuch doch dein Glück.“
Sie schaute mich einen Moment an, setzte sich dann aber wirklich in Bewegung und schloss sich der Meute an. Damit war auch das zweite Dutzend voll und Cio und ich konnten schmunzelnd dabei zuschauen, wie Ferox sich einen Spaß daraus machte, die Lykaner durch die Gegend zu jagen.
„Das könnte noch eine Weile dauern“, bemerkte Cio nach ein paar Minuten.
„Ich könnte Ferox rufen und es beenden.“
Er schaute dabei zu, wie Shiva versuchte den Wilden zu fassen und dabei über ein Brett stolperte, das an der Hauswand lehne. Naja, es lehnte zumindest daran, bis Shiva es umrannte und fast mit der Nase im Dreck landete. „Ach, lass ihm doch seinen Spaß, er scheint sich wirklich gut zu amüsieren.“
„Aber wenn ich nicht bald etwas zu tun bekomme, dann schlafe ich noch im Stehen ein“, gab ich zu bedenken.
„Sollte das passieren, fange ich dich auf. Versprochen.“ Er grinste mich an. „Wenn Ferox die Leute weiter so ablenkt, dann könnten wir uns sogar ins Bett schleichen und eine Runde schlafen. Ich glaube nicht, dass das im Moment jemand merken würde.“
Das war natürlich auch keine Schlechte Idee.
Am Ende jedoch kam Ayko aus dem Haus, sah stirnrunzelnd was hier draußen los war und knurrte einmal, woraufhin sich die ganze Meute verstreute.
Ich pfiff nur schmunzelnd nach Ferox und dann schlossen wir uns Shiva an, um im Stall mit den Kühen zu helfen.
°°°
„Ha!“, machte Nathan und warf seine Karten triumphierend auf den Tisch, nur um dann in die Runde zu grinsen. „Gewonnen!“
Die anderen am Tisch ließen ließen ihre Karten stöhnend sinken.
„Mit dir spiele ich nicht mehr“, ließ Celine verlauten. „Du schummelst doch.“
„Nein“, widersprach Cooper ihr und schob seine Karten zurück in den Stapel. „Er hat wirklich immer so ein verdammtes Glück. Spiel bloß nie Strippoker mit ihm.“
Nathans Grinsen wurde noch breiter, wodurch sein entstelltes Gesicht sich zu seiner seltsamen Grimasse verzog. „Worüber beschwerst du dich, Schatz? Hast du jemals wirklich verloren, wenn ich dafür gesorgt habe, dass du dich ausziehen musst?“
Coopers Mundwinkel zuckte.
„Okay“, sagte Shiva und erhob sich eilig von ihrem Stuhl. „Das ist mein Stichwort, ich werde jetzt erstmal die Bestellkarten holen.“
„Ich will Pizza“, rief ihr Vater ihr hinter.
„Das ist ja mal was ganz Neues“, bemerkte Roselyn und sammelte die Karten vom Tisch, um sie neu zu mischen.
Ich spähte über den Rand von Ieshas Dossier und überlegte, woher Nathan wusste, welche Karten er auf der Hand hatte. Wahrscheinlich waren sie mit Blindenzeichen geprägt. Super kombiniert, Mister Holmes. Naja, eigentlich müsste es in meinem Fall ja Miss Holmes heißen.
Über mich selber den Kopf schütteln, zog ich die Beine auf den Sessel und lehnte den Ordner daran.
Es war Nachmittag und vor den Fenstern begann bereits die Dämmerung. Cio war draußen und half dabei den Zaun der Kuhweide zu reparieren, den eine besonders grantige Dame heute eingetreten hatte.
Ich war bereits vor einer halben Stunde aus dem Stall gekommen und nach einer langen Dusche und einer extra Kuscheleinheit mit Ferox, hatte ich mir das Dossier von Iesha geschnappt und war damit in den großen Gemeinschaftsraum im Haupthaus gegangen. Nicht dass ich mich nach Gesellschaft sehnte. Wenn ich ehrlich war, hätte ich mich viel lieber in meinem kleinen Zimmer verkrochen, aber Celine bestand darauf, dass wir uns nicht abkapselten. Ich vermutete ja eher, dass sie uns im Auge behalten wollte, damit wir nicht einfach wieder Fahnenflucht begannen.
Das hatte gestern noch zu einer riesigen Diskussion geführt. Nachdem wir ja die ganze Nacht unterwegs gewesen waren, hatten Cio und ich gestern nach der Arbeit einfach nur noch ins Bett gewollt. Da Celine und Ayko aber scheinbar dem Glauben verfallen waren, wir würden uns aus dem Staub machen, sobald wir außer Sichtweite waren, hatten sie darauf bestanden, dass wir uns wie der Rest des Rudels nach getaner Arbeit hier einfanden.
Am Ende hatten wir die Erlaubnis bekommen uns schlafen zu legen. „Ausnahmsweise“ wie sie mehrfach betont hatten. Ich war mir vorgekommen, wie ein unartiges, kleines Kind mit Helikoptereltern. Einfach nur lächerlich. Niemanden hier schien aufzugehen, dass wir bereits erwachsen waren. Gegen diese Leute hier war mein Vater ja der reinste Chorknabe.
Heute hatte ich leider keine Ausrede gehabt, um der Meute zu entgehen und so saß ich nun in dem riesigen Gemeinschaftsraum, der das komplette, linke Erdgeschoss im Haupthaus einnahm.
Es gab Tische mit Stühlen und bequeme Couchgarnituren, die überall im Raum verteilt waren. An den Wänden befanden sich Regale und Schränke und strategisch platzierte Raumtrenner sorgend hier und wenigsten für den Anschein von ein wenig Privatsphäre.
Genau in der Raummitte gab es noch einen modernen Kamin. Er war Kegelförmig und von mehreren bequemen Sesseln umringt. Die Flammen darin tanzten fröhlich hinter einer runden Glasscheibe und wärmten den ganzen Raum.
„Oh, das gibt es doch nicht“, schimpfte Celine und warf genervt ihre Karten auf den Tisch, während Nathan jubelnd einen Arm in die Luft streckte. „Rein statistisch gesehen, müsstest du doch irgendwann einmal verlieren.“
„Wir können ihn nächste Runde ja mal ausschließen“, überlegte Keenan. „Nicht dass das deine Chancen auf einen Sieg erhöhen würde.“
Celine zeigte mit dem Finger auf ihn. Ihr Blick dabei ließ mich an einen Scharfschützen denken, der gerade sein Ziel gefunden hatte. Leider schien Keenan sich davon nicht einschüchtern zu lassen.
Mit einem lauten „Hier kommen die Bestellkarten!“ kam Shiva zurück in den Raum und löste damit eine Lawine aus Tumult aus. Die Lykaner sprangen praktisch alle gleichzeitig auf, um ihr die bunten Flyer aus der Hand zu reißen und zu entscheiden, wer, was, wo, bestellte.
Ich war nur froh, dass ich meine Beine bereits auf den Sessel gezogen hatte. Das war der einzige Grund, warum ich nicht über den Haufen gerannt wurde. Mann, wenn man das sah, bekam der Spruch, ein Rudel hungriger Wölfe, eine ganz neue Bedeutung.
Danach wurde es im Raum erstmal ziemlich laut. Es wurden verschiedene Listen für die einzelnen Restaurants herumgereicht, wo jeder seine Wünsche eintragen konnte. War wahrscheinlich einfacher, bei sechs verschiedenen Restaurants zu bestellen, als einen Lieferservice zweihundert Bestellungen aufs Auge zu drücken. Da hätten sich die Wölfe wahrscheinlich schon gegenseitig angeknabbert, bevor das Essen kam.
„Willst du gar nichts?“
Bei Aykos Stimme, schlug ich nicht nur hastig das Dossier zu, ich fuhr auch reflexartig zu ihm herum und schaute ihn mit schreckensweiten Augen an. Verdammt, wo kam der denn so plötzlich her?
„Soll ich dir eine Karte holen?“
„Ähm … nein.“ Ich schaute wieder zu dem wilden Durcheinander. Da wollte ich nun wirklich nicht mit hineingezogen werden. „Ist schon okay.“
Er neigte den Kopf zur Seite und musterte mich. „Kein Hunger?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich nehme mir nachher einfach einen Apfel.“
„Sicher?“
Warum war er denn heute so freundlich zu mir? Gestern wollte er mir noch den Kopf abreißen. „Ja, aber … Cio hätte bestimmt gerne etwas. Er ist aber noch draußen und repariert den Zaun. Vielleicht könnten wir ihm eine Hawaii-Pizza mitbestellen?“
„Natürlich.“ Er gab mir einen väterlichen Klaps auf die Schulter, bei dem ich mich nicht nur versteifte, sondern mich ihm auch sofort entzog. Als die kleine Falte auf seiner Stirn erschien, senkte ich den Blick.
„Nicht anfassen“, sagte ich so leise, dass er meine Worte bei dem Lärm wohl nur verstand, weil er direkt neben mir stand und ein super Gehör hatte. Als er dann auch noch anfing mich kritisch zu beäugen, wäre ich am liebsten aufgestanden und einfach gegangen. „Cio mag seine Pizza mit viel Käse.“ Bitte, verschwinde einfach und lass mich in Ruhe.
Scheinbar verstand er den Wink mit dem Zaunpfahl. „Ich werde daran denken“, erklärte er und ging dann mit einem nachdenklichen Blick auf mich hinüber zu Celine an den Tisch. Er sagte etwas zu ihr, woraufhin sie zu ihm aufschaute, doch als er ihr dabei mit den Fingern über den Nacken strich, entwand sie sich seiner Berührung.
Verwundert ging mir auf, dass ich das nicht zum ersten Mal bemerkte. Schon gestern war mir aufgellen, dass sie sich immer wieder seiner Nähe entzog. Nicht so wie ich bei Cio, es machte eher den Eindruck, als würde sie das nerven. Wenn ich genau darüber nachdachte, war das schon damals bei unserem Besuch so gewesen.
Ich hatte die beiden nie gesehen, wie sie sich geküsst hatten, oder einfach nur Händchen hielten. Sie waren zwar eine Front, aber sie machten nicht den Eindruck eines Liebespaares. Ayko schien zwar immer wieder ihre Nähe zu suche, aber sie blockte ihn immer ab. So als wären sie nur Freunde. Konnte das sein?
Wiedereinmal musste ich mir eingestehen, dass ich über diese Leute – meine Großmutter – im Grunde gar nichts wusste. Nicht aus ihrer Vergangenheit, oder überhaupt aus ihrem Leben. Natürlich wäre es ein leichtes, das zu ändern, aber im Moment … eigentlich wollte ich gar nichts wissen. Nachher mochte ich sie noch und dann gebe es weitere Menschen in meinem Leben, um die ich mir Sorgen machen müsste. Das konnte ich nun wirklich nicht gebrauchen.
Darum widmete ich mich wieder meinen Unterlagen, während das Rudel seine Wünsche äußerte und Shiva anschließend den Raum verließ, um die Bestellungen aufzugeben. Das würde wohl ein Weilchen dauern.
Langsam begann ich wieder durch die Fotos von Iesha zu schauen und ließ mir beim Betrachten jedes Einzelnen reichlich Zeit. Dabei war es manchmal gar nicht so einfach, nur auf den Hintergrund zu achten. Es war nicht nur die Tatsache, dass sie auf den meisten Bildern nur spärlich bekleidet war – falls sie überhaupt etwas trug, mit der Zeit hatte ich den Eindruck, sie wollte mit den Bildern auch etwas ausdrücken.
Auf vielen der Fotos lächelte sie – manchmal verspielt, manchmal verheißungsvoll – aber nur selten reichte es an ihre Augen heran. Es war immer etwas Kaltes und Berechnendes hinter ihren Blicken. Vielleicht auch ein wenig Verzweifelt.
Naja, um solche Bilder an einen Mann zu schicken, der bereits mehr als einmal sehr deutlich gemacht hatte, dass er absolut nichts mit einem zu tun haben wollte, musste man wirklich schon ein wenig verzweifelt sein. Da fragte man sich doch, was in ihrem Kopf vorgegangen war, als sie auf die Idee zu dieser Bilderserie gekommen war. Hey, ich erinnere ihn mal daran wie ich nackt aussehe, dann wird er seine Frau und das Kind schon verlassen?
Bei dem Gedanken legte ich schützend eine Hand auf meinen Bauch. Von dem kleinen Passagier wusste sie zum Glück nicht – davon ging ich jedenfalls aus. Ich wollte gar nicht wissen, was das bei ihr anrichten würde, wenn sie von der Schwangerschaft wüsste. Würde sie das daran hinter mir wehzutun, weil es ja Cios Kind war, oder würde sie das erst recht anspornen, meinem Leben ein baldiges Ende zu bereiten?
Im Augenblick war ich eigentlich einfach nur froh, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, wo wir waren. Leider war da immer noch die Angst, dass sie es herausfinden konnte. Allein der Auffahrunfall hatte mir mal wieder sehr deutlich gemacht, zu was sie alles bereit war, nur um ihre Ziele zu erreichen.
Was sie wohl im Augenblick trieb? Hatte sie schon mitbekommen, dass Cio und ich verschwunden waren, oder glaubte sie noch, dass alles nach Plan verlief? Gab es überhaupt einen Plan, oder handelte sie einfach frei nach Schnauze und nahm die Dinge, wie sie sich gerade ergaben?
Ich hoffte nur, dass Diego Wort gehalten hatte und auch all die anderen in Sicherheit gebracht worden waren. Wobei ich bezweifelte, dass mein Vater sich in irgendein sicheres Versteck hatte bringen lassen. Wahrscheinlicher war eher, dass er Cayenne mittlerweile den Kopf abgerissen hatte und nun mit allen Mitteln versuchte ihr meinen Aufenthaltsort zu entlocken, damit er herkommen und mich selber in Sicherheit bringen konnte.
Vielleicht wäre das die klügere Idee gewesen. Papa hat Mama ganze zwanzig Jahre vor einer Meute todbringender Ailuranthropen verstecken können und wenn ich im meinem jugendlichen Leichtsinn nicht einfach aus seinem Handlungskreis ausgebrochen wäre, dann würden wir heute wohl immer noch in Koenighain ein sicheres und äußeres ermüdendes Leben führen.
Andererseits hätte ich dann niemals Cio kennengelernt und Kasper würde auf der Suche nach der wahren Liebe noch immer durch fremde Betten hüpfen. Okay, das war maßlos übertrieben und wenn Kasper meine Gedanken hören könnte, würde er mir vermutlich den Mittelfinger zeigen. Aber wäre ich damals nicht gegangen, wäre mir viel erspart geblieben und ich würde mich heute nicht in Lebensgefahr befinden.
Hätte man mich vor einem Jahr gefragt, hätte ich ohne zu zögern gesagt, dass die guten Dinge in meinem Leben die Schlechten bei Weitem übertrafen. Heute war ich mir da leider nicht mehr so sicher.
In den vergangenen Monaten war so viel passiert und manches davon hatte sich so tief in meine Seele gegraben, dass ich nicht mehr wusste, wie ich davon loskommen sollte.
Natürlich, auch in Koenigshain hätte mein Leben einen unerwarteten Verlauf nehmen können, aber wäre das wirklich so weit ausgeartet, wie es nun der Fall war?
Diese Gedanken waren müßig, einfach weil es darauf keine zufriedenstellende Antwort gab und sie mich bei dem Bergan Problemen, der sich über mir auftürmte, nicht weiterbrachten. Sie drohten mich einfach nur in tiefe Depressionen zu stürzen und die konnte ihr im Moment nicht auch noch gebrauchen.
Als Celine bei den Kartenspielern einen Jubelschrei ausstieß, schaute ich einen Moment auf. Da hatte wohl endlich jemand gewonnen.
Ich konzentrierte mich wieder auf das Foto von Iesha. Auf diesem hier war sie von der Seite zu sehen. Sie trug nur schwarze Strapse und hatte den Rücken durchgedrückt. Die Arme hatte sie um den Kopf gelegt, sodass nur der der vordere Teil ihres Gesichts zu erkennen war. Das Bild strahlte Einsamkeit aus.
Der Gedanke ließ mich schnauben. Einsamkeit, so ein Blödsinn. Wahrscheinlich hatte sie ihm dieses Foto nur geschickt, weil durch die Pose ihre Brüste sehr gut zur Geltung kamen.
Was würde Cio wohl davon halten, wenn ich ihm solche Bilder schicken würde? Also nicht so nutige wie die von Iesha, sondern professionelle Aktaufnahmen von einem Fotografen? Mein Cousin war Fotograf.
Okay, von Anouk würde ich mich sicher nicht nackt ausziehen, Familie und Berufsehre hin oder her, das würde wirklich ein wenig zu weit gehen. Aber Anouk kannte doch sicher eine professionelle Fotografin, die sowas machen würde.
Mein Gott, wo kam diese Idee jetzt eigentlich her? Meine Probleme begannen schon, wenn Cio nur meine Hand ergriff und nun wollte ich mich vor einer Wildfremden ausziehen, um mich ablichten zu lassen? Das war doch einfach nur noch lächerlich. Ich sollte meinen Kopf wirklich dringend mit anderen Gedanken füllen.
Leider würde das Iesha-Problem nicht einfach verschwinden, nur weil ich es auf Eis legte, also blieb mir gar nichts anderes übrig, als die Seite umzublättern und mich der nächsten zu widmen, in der Hoffnung, dort den entscheidenden Hinweis zu finden, der diesen Alptraum beenden könnte.
Seite um Seite blätterte ich um, studierte das Bild, nur um festzustellen, dass es keinerlei hilfreiche Merkmale aufwies.
Ich war so in meine Aufgabe vertieft, dass ich Cio erst bemerkte, als er mir ein „Hallo, schöne Frau“ ins Ohr hauchte. Vor Schreck hätte ich ihm fast den Ordner um die Ohren gehauen und das hatte absolut nichts mit meinem Zustand zu tun. „Musst du mich so erschrecken?“
„Nein, aber es war einfach zu verlockend.“ Mein böser Blick schreckte ihn keineswegs ab. Er stützte sich links und rechts auf den Lehnen des Sessels ab, beugte sich vor und gab mir einen Kuss auf die Lippen. Das ich ihn nicht erwiderte, ließ ihn nur umso breiter grinsen. „Hm, schwerer Fall“, murmelte er und beugte sich gleich noch mal vor und hauchte mir noch einen Kuss auf die Lippen. „Ich liebe die schweren Fälle.“
„Du stinkst“, teilte ich ihm mit. Nein, das sollte keine Beleidigung sein, er roch wirklich nach Kuhstall.
Er lachte leise und kehlig „Du sagst immer so nette Dinge zu mir.“
Mein Mundwinkel zuckte. „Das war nicht nett, das war die Wahrheit.“
„Wie schon gesagt, nett.“ Er hockte sich vor den Sessel und legte mir dabei eine Hand aufs Bein. „Ich wollte nur kurz nach dir schauen und sehen, ob alles in Ordnung ist.“
„Kurz? Das heißt du verlässt mich gleich wieder?“
„Naja, wie du gerade so schön angemerkt hast, ich stinke, da Kühe leider nicht nach lieblichen Rosen und Flieder duften. Also ja, ich werde dich gleich wieder verlassen und in die Arme meiner Geliebten Dusche entschwinden. Aber danach gehöre ich wieder ganz dir.“
„Da kann ich mich ja auf etwas freuen.“
„Kannst du“, stimmte er mir zu. „Sobald ich wieder zurück bin, werde ich nicht neben dir stehen, meine beeindruckenden Muskeln spielen lassen und jeden böse angucken, der dir zu nahe kommt. Würde dir das gefallen?“
Oh Mann. „Es reicht schon wenn du bei mir bist.“
Er nickte gespielt ernst. „Du hast wahrscheinlich recht. Wenn die Damenwelt hier mitbekommt, was ich alles zu bieten habe, könnte es passieren, dass du mit den Muskeln spielen und jeden böse angucken musst, um mich zu verteidigen.“
Hatten wir heute mal wieder ein mächtig eindrucksvolles Ego. „Geh duschen, du größenwahnsinniger Adonis. Und beeil dich, dass Essen müsste bald kommen.“
„Adonis?“ Er grinste äußerst selbstgefällig. „Das gefällt mir, dass können wir als Spitznamen beibehalten.“
Das mit dem Größenwahnsinnigen hatte er natürlich überhört. „Was, gefällt dir Bärchenheldbaby etwa nicht mehr?“
„Das ist ein wenig zu lang für einen Spitznamen.“ Er beugte sich vor, gab mir noch einen Kuss und erhob sich dann. „Bin gleich wieder da.“
„Ich werde hier sei und auf dich warten.“
„Das hoffe ich doch.“ Er zwinkerte mir noch verspielt zu, bevor er mit wiegenden Schritten den Raum verließ.
Bildete ich mir das nur ein, oder war er entspannter, seit wir hier waren? Vielleicht war aber auch ich es, die hier ein wenig zur Ruhe kommen konnte und das hatte sicher auch Auswirkungen auf ihn. Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein, weil ich es mir so wünschte.
Als ich den Blick wieder auf meine Unterlagen senken wollte, ging mir auf, dass die Kartenspieler am Tisch mich alle Lächelnd beobachteten. Ja selbst Keenan hatte ein Schmunzeln auf den Lippen und bei Cooper lächelten zumindest die Augen.
Ähm … okay. „Hab ich etwas im Gesicht?“
Das ließ Nathan lachen. „Nein, das sind alles nur unbelehrbare Spanner, die dich und deinen Freund niedlich finden.“ Während er das sagte, schaute er weiter geradeaus und spielte mit den Händen an seinen Karten herum. Das war ein wenig gewöhnungsbedürftig, da ich seitlich von ihm saß.
Schon seltsam, wie sehr man es gewohnt war, die Mimik des Gesprächspartners unterbewusst zu lesen. Wenn man mit jemanden sprach und der einen dabei nicht anschaute, war das schon beinahe unhöflich und … Moment. „Was meinst du mit Spanner?“
„Na das hier alle furchtbar neugierig auf euch sind.“ Er drehte den Kopf ein wenig, schaute mich aber trotzdem nicht an. Okay, das konnte er ja auch nicht. „Darf ich mal neugierig sein?“
„Ähm … von mir aus.“
„Was hat es mit diesem Bärchenheldbaby auf sich.“
Oh je, das hatten sie gehört? Ich klappte den Ordner auf meinem Schoß zu, als sich nun alle neugierig zu mir umwandten – musste ja nicht jeder mitbekommen, was ich mir hier anschaute. „Naja, dass ist so ein Ding zwischen uns beiden. Cio möchte, dass ich mir einen Spitznamen für ihn aussuche.“
Coopers Augenbraue ging ein Stück nach oben. „Und das ist das Beste, was du zustande gebrach hast?“
Nathan versetzte seinem Mann einen kräftigen Hieb mit den Ellenbogen in die Seite. „Hör auf damit, dass ist doch ihre Sache.“
Ach du liebe Güte. Ich begann zu grinsen. „Nein, das ist nur eine Verarschung. Ich habe keinen Spitznamen für ihn.“
„Warum nicht?“, fragte Roselyn ehrlich interessiert.
„Naja, keine Ahnung, Cio ist doch schon sein Spitzname.“
Shiva schob das Blatt in ihrer Hand zusammen. „Abkürzung von Theodor, nehme ich an.“
„Nein, nicht Theo, Cio. Abkürzung von Elicio.“
„Elicio?“ Keenan runzelte die Stirn. „Was ist das denn für ein seltsamer Name?“
Wirklich, die wollten jetzt über Cios Namen sprechen? „Elicius war einer der Beinamen des römischen Gottes Jupiter. Er ist also gewissermaßen nach einem römischen Gott benannt worden.“ So jedenfalls hatte er sich bei mir vorgestellt, als ich ihn damals kennengelernte hatte: Der göttliche Elicio. Die Erinnerung ließ mich lächeln.
Celine hob eine Augenbraue. „Seine Eltern haben scheinbar großes von ihm Erwartet.“
Diego auf jeden Fall, nur ob diese Erwartungen auch erfüllt wurden, da war ich mir nicht ganz sicher. Nicht dass ich mich beschweren wollte – auf keinen Fall – nur Diego hatte da so seine eigenen Vorstellungen, weswegen das Verhältnis zwischen den beiden immer ein wenig angespannt war. Wobei ich sagen musste, dass sich das in der letzten Zeit wirklich gebessert hatte. Sie konnten zumindest schon in einem Raum sitzen, ohne sich über die Existenz des jeweils anderen aufzuregen.
„Hm“, mache Roselyn und legte nachdenklich ein Finger ans Kinn. „Das löst das Problem mit dem Spitznamen aber noch nicht.“
Problem? Ich hatte bisher nicht gewusst, dass das ein Problem war. Aber da sah man es mal wieder, man lernte nie aus.
„Sie kann ihn ja Püppchen nennen“, schlug Cooper vor.
Keenan lachte. „Da wäre Darling doch wesentlich angebrachter.“
„Mir würde Sweetie gefallen“, überlegte Shiva. „Oder Sexy. Baby, Honey. Lovely!“
Okay, die würde ich auf jeden Fall im Auge behalten.
Celine schüttelte den Kopf. „Ein Kosename muss etwas persönliches sein. Da erstellt man keine Liste und sucht sich dann den schönsten raus.“
„Ach nein?“, fragte Shiva. „Warum nicht?“
Oh je, da hatte ich ja eine Diskussion ausgelöst. Und die ließ auch nicht so schnell nach. Irgendwie war das ein wenig surreal. Aber wenn sie Spaß daran hatten, mich sollte es nicht stören. Es war sogar ganz witzig. Die Namen Pirat und Held würde ich mir merken und ihm später erzählen, die würden ihm sicher gefallen.
Sie überlegten immer noch, welches der Beste Spitzname für meinen Mann sein könnte, als es dass erste Mal an der Tür klingelte. Shiva erhob sich zusammen mit einem Dutzend Leuten und damit begann die Essensschlacht.
Das ganze Essen entgegen zu nehmen und dann auch noch an die richtigen Leute zu verteilen, war nur mit dem Wort Chaos zu beschreiben. Zwischendurch wunderte es mich wirklich, das nichts zu Boden ging. Im Gegensatz zu den letzten Mahlzeiten, ging auch niemand in die Küche. Sie machten sich alle hier im Gemeinschaftsraum breit. Das war sowas wie ein wöchentliches Ritual, wie mir erklärt wurde.
Nachdem auch der letzte Lieferant das Essen gebracht hatte, wurde mir von irgendwem die Pizza von Cio in die Hand gedrückt. Ich öffnete die Schachtel um festzustellen, ob es auch wirklich die richtige Pizza war und stellte dabei fest, dass sie nicht geschnitten war.
Das war wieder so typisch Lieferdienst.
Damit Cio die Pizza bei seiner Rückkehr nicht in einem Stück essen musste, legte ich sie zusammen mit dem Dossier auf den flachen Couchtisch und erhob mich von meinem Platz. Im Raum wurden zwar ein paar Messer hin und her gereicht, aber bis das bei mir ankam, wäre das Essen sicher kalt. Also machte ich mich auf den Weg in die Küche, denn wie hieß es so schön? Selbst war die Frau.
Als mein Blick das Fenster streifte, bemerkte ich Ferox, der zu mir hinein schaute. Er gab ein leises „Wuff“ von sich und war dann auch schon wieder verschwunden. Wahrscheinlich hoffte er wieder jemanden zu finden, der mit ihm Fangen spielte. Das hatte sich hier seit gestern zu einem richtigen Sport entwickelt.
Solange er Spaß dabei hatte, sollte mich das noch stören.
Die Küche war, wie nicht anders zu erwarten, bis auf mich völlig verwaist. Natürlich, einen hungrigen Wolf bekam man nicht von seinem Essen weg – schon gar nicht, wenn das ganze Rudel anwesend war und man befürchten musste, dass die anderen einem was von seinem Teller stibitzten. Das schien hier eine allmorgendliche Disziplin zu sein.
Ich musste mehrere Schubladen öffnen, bis ich fand was ich suchte. Zwar hatte ich auf einen Pizzaschneider gehofft, aber mir fiel nur ein Messer in die Hand. Da es aber bei näherer Betrachtung Wasserflecken aufwies, entschied ich mich es sicherheitshalber noch einmal abzuspülen. Nicht das ich glaubte, die hätten hier dreckiges Besteck in ihren Schubladen, aber man konnte ja nie wissen, wie lange das schon rumlag und es kurz abzuwaschen, dauerte auch nicht lange. Dann nur noch das Handtuch …
Die plötzliche Berührung an meinem Schenkel warf mich so heftig zurück in meinen Alptraum, dass mein Denken völlig aussetzte. Ich wirbelte einfach herum und stach mit dem Messer zu.
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Mitten in der Luft wurde meine Hand von einem Arm abgeblockt – Cios Arm. Seine Reflexe waren schnell und doch streifte die scharfe Klinge die Haut und ein Hauch von Blut stieg mir in die Nase. Dann stand er einfach nur da und schaute äußerst erstaunt von dem blutbesudelten Messer zu mir. Seine Augenbraue hob sich fragend. Er wirkte nicht erschrocken, oder sauer, einfach nur überrascht, weil er mit einer solchen Reaktion niemals gerechnet hätte.
Meine Hand krampfte sich um den Griff des Messers, während mein Herz mir bis zum Hals schlug und ich zu verstehen versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Und dann wurde mir auf einmal klar, was ich hier fast getan hätte. Oh mein Gott, wäre Cio nur ein kleinen wenig langsamer gewesen, hätte ich mit einem Messer auf ihn eingestochen. Ich hätte ihn nicht nur verletzt, sondern töten können und das nur, weil diese kleine Berührung mich an einen Ort katapultiert hatte, an den ich niemals wieder zurückkehren wollte.
Entsetzt über mich selber, ließ ich das Messer einfach fallen und wich so eilig zurück, dass ich mit dem Rücken gegen die Anrichte krachte. Das Messer kam mit der Spitze auf, hüpfte noch einmal ein Stück hoch und fiel dann auf die Seite. Ich konnte nichts anderes tun, als schockiert darauf zu starren.
Ich hatte mit einem Messer auf Cio eingestochen. Oh Gott, ich hatte ihn verletzt. Ich!
Sehr langsam ließ Cio seinen Arm sinken und warf einen kurzen Blick auf die feine Schnittwunde, bevor sich seine Augen auf mich richteten. Er wich nicht zurück, oder kam näher, er blieb wo er war und schaute mich einfach nur an. „Möchtest du mir das erklären?“
Ich presste meine Lippen aufeinander und wich seinem Blick aus. Das war etwas, dass ich nicht erklären konnte – niemals. Er würde es nicht verstehen, er würde sich von mir abwenden. Als er mich vor ein paar Monaten in Tayfuns Bett gefunden hatte, war unsere Beziehung fast in die Brüche gegangen, das hier würden er mir niemals verzeihen.
„Schäfchen?“
Ich schüttelte den Kopf und wollte die Flucht antreten, doch ich kam nicht mal einen Schritt weit, bevor er mir den Weg verstellte und mich damit wieder rücklings gegen die Anrichte trieb.
„In Ordnung, wenn du nicht reden möchtest, dann werde ich jetzt reden.“
„Es gibt nichts zu reden“, sagte ich sehr leise.
Erst schaute er mich nur an, dann schnaubte er. „Du machst wohl Witze.“ Er neigte den Kopf ein wenig, um mir ins Gesicht schauen zu können. „Du hast gerade mit einem Messer nach mir gestochen und das nur weil … ja, keine Ahnung warum und genau da liegt das Problem. Ich weiß nicht was los ist, oder was ich falsch mache, weil du es mir nicht sagst.“
Ich biss mir auf die Unterlippe und überlegte fieberhaft, wie ich dieser Situation entkommen konnte. Ich wollte mit ihm nicht darüber reden. Nein, das war nicht richtig, ich durfte es nicht, weil ich sonst das Wichtigste in meinem Leben verlieren würde.
Er wartete, als hoffte er, dass ich etwas dazu sagen würde. Als das nicht geschah, drückte er unwillig die Lippen aufeinander. „Gott, das ist … weißt du eigentlich wie fertig mich das macht? Immer wenn ich dich anfasse, schreckst du vor mir zurück und versuchst es dann zu überspielen. Ja selbst wenn du mal nicht vor mir zurückweichst, spannst du dich an. Seit wir zusammengezogen sind hatten wir einmal Sex und da warst du so verkrampft, dass ich mich seit dem nicht mehr getraut habe dich anzufassen, dabei liebe ich es dich anzufassen. Und jetzt das. Das ist doch nicht mehr normal.“
Scheiße. „Was, machst du mir jetzt Vorwürfe, weil ich mich nicht drei Mal am Tag von dir flachlegen lasse?“
„Drei mal am Tag?“ Er wirkte geradezu fassungslos. „Wir hatten seit Monaten keinen Sex mehr!“
Ja, weil ich dabei jedes mal in diese Scheune zurück katapultiert wurde und mich daran erinnerte, wie dreckig und unwürdig ich war. Ich hatte es nicht gewollt, aber ich hatte ihn betrogen und verheimlichte es ihm. Ich ertrug es einfach nicht, wenn er mich berührte.
„Bitte Schäfchen, dass kann so nicht mehr weitergehen. Das ist nicht normal, nicht für dich. Irgendwas frisst dich von innen heraus auf, ich sehe es doch und … verdammt, warum redest du nicht endlich mit mir? Ich verstehe es einfach nicht.“ Er machte einen Schritt auf mich zu und streckte die Hand nach mir aus, doch ich wich instinktiv vor der Berührung zurück. Seine Lippen wurden schmal. „Ich weiß dass du Schlimmes durchgemacht hast und ich habe dir weiß Gott genug Zeit gelassen, aber das hier“ - Er hob den Arm und zeigte mir sehr nachdrücklich die Schnittwunde. -„das geht zu weit. Ich will, dass du mir sagst, wo das Problem liegt. Jetzt. Und dann werden wir eine Lösung finden. Zusammen.“
Nein, nein, nein. Ich schüttelte den Kopf, ich durfte es nicht aussprechen.
„Doch, du redest jetzt mit mir.“
Ich drückte die Lippen so fest zusammen, dass mir davon das Gesicht schmerzte.
„Warum, verdammt, warum sagst du es mir nicht einfach? Was bitte ist so schlimm, dass du glaubst mit mir nicht darüber sprechen zu können?“ Als ich nur stumm den Blick senkte, schien irgendwas in ihm zu reißen. „Scheiße!“, fluchte er, drehte sich herum und trat einen der Stühle quer durch die Küche.
Der Krach ließ mich zusammenzucken und noch weiter von ihm abrücken. Ich schlang die Arme um mich selber und kämpfte mit den Tränen. Ich wollte hier raus.
„Mach doch einfach den Mund auf!“, fauchte er mich an, schien es aber gleich wieder zu bereuen, denn der scharfe Ton sorgte nur dafür, dass ich noch weiter vor ihm zurückwich.
Seine Hände schlossen sich zu Fäusten, als überlegte er damit auf irgendwas einzuschlagen und seine Augen waren geradewegs auf mich gerichtet. Vielleicht überlegte er, ob er mich irgendwie zum Reden zwingen konnte. Vielleicht fragte er sich aber auch einfach nur, ob das hier überhaupt noch einen Sinn hatte. Doch die Worte die dann aus seinem Mund kamen, überraschten mich selbst in dieser Situation. „Hat es etwas mit Tayfun zu tun?“, fragte er sehr leise und atmete dann einmal tief ein, als müsste er sich selber überwinden die nächsten Worte auszusprechen. „Ist etwas … ist zwischen euch etwas geschehen, dass du mir nicht sagen willst?“
Ja, es war etwas geschehen, dass ich ihm nicht sagen wollte, aber das hatte nichts mit dem Vampir zu tun. Darum schüttelte ich auch kaum merklich den Kopf.
„Was dann? Was ist hier los? Warum darf ich dich nicht anfassen, ohne dass du mit einem Messer auf mich losgehst?“
Es war wohl das Ton in seiner Stimme, der mich dazu veranlasste, dass ich den Kopf hob. Leider bemerkte ich dabei, dass wir nicht mehr so allein waren, wie ich geglaubt hatte. Zwei Männer und eine Frau standen draußen vor der Tür und spähten wachsam in die Küche.
„Warum?“, fragte er erneut. Entweder er hatte unsere Zuschauer nicht bemerkt – was sehr unwahrscheinlich war – oder es war ihm egal, weil er die Sache einfach endlich klären wollte.
„Es war keine Absicht“, sagte ich leise.
Er schnaubte und wirkte einen Moment, als wollte er noch einen Stuhl durch die Küche treten. „Ich weiß dass es keine Absicht war! Du bist wohl das friedensliebendste Wesen auf diesem ganzen verdammten Planeten und trotzdem hätte ich jetzt wohl ein scheiß Messer in der Brust zu stecken, wenn ich nur ein kleinen wenig langsamer gewesen wäre!“
Er hatte recht. In dem Moment, in dem er mich berührt hatte … ich hätte ihn töten können. „Es tut mir leid.“
„Ich will keine Entschuldigung, ich weiß dass du es nur getan hast, weil du dich erschrocken hast. Ich habe die Panik in deinen Augen gesehen, aber diese Reaktion war völlig überzogen und deswegen verdiene ich endlich eine Antwort. Das kann so einfach nicht weiter gehen, ich will das nicht mehr.“
„Dann geh doch!“, fauchte ich ihn an und verlor dabei den Kampf gegen die Tränen, denn diese Worte aus meinem eigenen Mund zu hören, tat einfach nur weh. „Mach Schluss und verschwinde einfach, dann hast du diese ganzen beschissenen Probleme nicht mehr!“
Cio schaute mich einfach nur geschockt an. Mit diesen Worten hatte er wohl genauso wenig gerechnet wie ich. Und zum ersten mal verstand ich, dass ich nicht nur schweig, weil ich Angst hatte ihn zu verlieren, sondern auch weil ich mich für das was geschehen war schämte. Diese Scham ging so tief, dass ich sogar meine Beziehung dafür aufs Spiel setzte. Aber ich konnte es ihm einfach nicht sagen. Entweder wir schafften es so, oder wie schafften es gar nicht.
„Ist es das was du willst?“, fragte er mich leise. „Soll ich gehen?“
Ich kniff die Augen zusammen, sodass noch mehr Tränen überliefen und schüttelte den Kopf.
„Dann rede mit mir!“, verlangte er zum bestimmt hundertsten Mal. „Sag mir, warum ich davor Angst haben muss, meine eigene Frau zu berühren.“
„Hör doch einfach auf.“
„Nein, ich werde nicht aufhören. Ich will dich endlich wieder in den Arm nehmen und problemlos küssen können. Ich will mit dir herumalbern und ja, ich will auch mal mit dir schlafen und auch die ganze andere Scheiße, die wir früher gemacht haben, aber das geht nur, wenn du mich endlich helfen lässt!“
Dabei konnte er mir aber nicht helfen. „Es wird besser werden“, versprach ich ohne zu wissen, wie ich dieses Versprechen halten sollte. „Du musst nur … ich brauche … Zeit.“
„Du brauchst keine Zeit, du brauchst Hilfe. Es wird nicht besser werden, es wird jeden Tag schlimmer.“ Er wandte einen Moment seinen Blick ab, als würde ihm das dabei helfen seine Gedanken zu ordnen. „Bitte Schäfchen, ich will dich endlich wieder anfassen können, ohne …“
„Verdammt, seit wann bist du so sexbesessen?!“, fuhr ich ihn an, einfach weil Angriff die beste Verteidigung war und ich mir nicht mehr anders zu helfen wusste. „Wenn du es so nötig hast, dann hol dir doch einfach einen runter, so wie andere Männer es auch tun!“
„Es geht hier nicht um den verdammten Sex, sondern darum, dass du dich immer weiter von mir zurückziehst und ich nicht verstehe warum!“ Er funkelte mich an. Ja, er war wütend, aber hauptsächlich war er verzweifelt. „Ich werde nicht so einfach aufgeben, dass kannst du vergessen, also wie wäre es, wenn du es uns beiden endlich einfacher machen würdest und mit mir sprichst. Dein Schweigen macht es nämlich nur noch schlimmer und ich habe keine Ahnung, wie lange wir beide das noch aushalten.“
Als er das aussprach, was ich schon die ganze Zeit befürchtet hatte, entkam mir ein Schluchzer. Warum konnte er es nicht endlich gut sein lassen?
„Okay, du willst es nicht anders. Entweder du sprichst mit mir, oder ich werde …“
„Was?!“, fauchte ich ihn an. „Was wirst du tun, Elicio?! Was könntest du mir noch antun?! Ich lebe bereits in einem Alptraum!“
„Antun?“, fragte verwirrt. „Ich würde dir doch nichts …“
„Du hast keine Ahnung was los ist und trotzdem stehst du hier und verlangst, dass ich dir Rede und Antwort stehe! Bist du schon mal auf die Idee gekommen, dass es dir nicht gefallen würde, was ich zu sagen habe?! Das ich schweige, weil ich dich nicht …“ Oh Gott, ich schlug die Hand vor den Mund und schüttelte den Kopf.
„Schäfchen.“ Nun wirkte er ehrlich betroffen.
„Lass mich in ruhe!“ Ich stieß mich von der Anrichte ab und stürmte aus dem Raum. Vorbei an Cio, der noch seine Hand nach mir ausstreckte, um mich aufzuhalten, vorbei an den Schaulustigen, die sich mittlerweile verdreifacht hatten und vorbei an der offenen Tür zum Gemeinschaftsraum, wo ich fast noch einen kleinen Jungen umrannte, der gerade herauskam.
Cio folgte mir und rief ein paar mal meinen Namen, aber ich blieb nicht stehen. Ich rannte hinaus ins Freie, ignorierte Ferox, der freudig angesprungen kam. Meine Füße folgten eilig dem Pfad zu Roselyns Haus. Es war ein Wunder, dass ich dir Tür erreichte, ohne das Cio es schaffte mich einzuholen.
Ich stürmte direkt in unsere Zimmer, schmiss von innen die Tür zu und drehte den Schlüssel genau in dem Moment, als Cio das Haus betrat. Aber da hatte ich schon abgeschlossen und war an der Wand einfach zusammengebrochen.
Als er von außen versuchte die Tür zu öffnen und merkte, dass das nicht klappte, begann er dagegen zu hämmern. „Schäfchen? Macht die Tür auf.“ Klopf klopf. „Bitte, lass mich rein.“ Klopf klopf klopf. „Zaira, bitte, schließ mich nicht aus.“
Ich vergrub den Kopf in den Armen und versuchte meiner Tränen Herr zu werden, während ich fieberhaft darüber nachdachte, was ich tun sollte.
„Komm schon, es tut mir leid.“ Klopf Klopf. „Ich hätte dich nicht so bedrängen dürfen.“
Er hatte recht, es wurde immer schlimmer. Das war wie ein Strudel in den Abgrund und ich wusste nicht, wie ich ihm entkommen sollte. Warum nur gab es in diesem Alptraum keinen Ausgang? Warum hatte das nur mir passieren müssen? Warum?
„Zaira, bitte.“
Der verzweifelte Ton in seiner Stimme, ließen neue Tränen in meinen Augen aufwallen. Ich konnte das nicht. Ich konnte nicht aufmachen und mit ihm reden. Ich konnte nicht mehr so tun, als wenn alles in Ordnung wäre.
Cio schlug einmal so heftig gegen die Tür, dass sie im Rahmen erzitterte. „Scheiße!“
Ich drückte mir die Hände auf die Ohren und versuchte alles auszuschließen. Ich wollte nichts mehr sehen und auch nichts mehr hören, aber seine Worte waren in meinem Kopf. Jedes einzelne schallte in meinen Gedanken, mit dem einzigen Ziel, mir immer und immer wieder vor Augen zu führen, wie ausweglos diese Situation langsam wurde.
„Schäfchen“, hörte ich seine leise Stimmte durch die Tür. Es war schon fast ein Flehen und ich es tat einfach nur weh ihn so zu hören, weil ich wusste, dass es meine Schuld war. Ich war Schuld, dass es ihm schlecht ging. Ich hatte das alles zu verantworten. Ich wusste nicht mehr weiter.
„Nein verdammt!“
Erst bei dem Ruf wurde mir klar, dass Cio nicht der einzige dort draußen war. Ich hörte noch eine leise Männerstimme und egal was sie sagte, Cio war davon nicht sehr angetan, denn er rief wieder: „Ich habe nein gesagt!“
Das schien dem Mann dort draußen ziemlich egal zu sein. Eine murmelnde Stimme wurde eindringlicher, aber nach mehreren Minuten, in denen Cio kein Ton mehr von sich gegeben hatte, verstummte aus sie. Als es dann wieder an der Tür klopfte – etwas zurückhaltender – wusste ich sofort, dass es nicht Cio sein konnte.
„Zaira?“
Wusste ich es doch. Das war Celine. Ich drückte die Lippen fest zusammen.
„Bitte lass mich rein, sonst werde ich jemanden holen, der die Tür öffnet.“
Natürlich. Mein Leben war noch nicht beschissen genug, jetzt gestand man mir nicht mal mehr ein kleinen wenig Privatsphäre zu. „Ich will nicht mit dir reden“, sagte ich leise und haute mit fast die Brille von der Nase, als ich mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht wischte. Ich wusste dass sie mich gehört hatte, sie war immerhin ein reinrassiger Lykaner.
„Du musst auch nicht mit mir reden, aber dann hör mir wenigstens zu.“
Vielleicht hätte ich ihr besser erklären sollen, dass sie mich in ruhe lassen sollte.
„Zaira, ich werde dich kein zweites Mal bitten und egal wie du dich entscheidest, am Ende werden wir beide in diesem Raum sitzen und du wirst mir zuhören.“ Sie schwieg einen Moment. „Falls es dir hilft, außer uns ist niemand im Haus. Cio ist mit Ayko nach draußen gegangen.“
Nein, es half nicht wirklich. Obwohl ich Cio gerade nicht sehen wollte, machte es das irgendwie sogar noch schlimmer, denn eigentlich wollte ich ihn hier bei mir haben. Das war nicht nur paradox, das war geradezu verrückt. „Ich will nur alleine sein.“
„Wenn du das nach unserem Gespräch immer noch willst, dann werde ich dafür sorgen, dass man dich in ruhe lässt.“
Verdammt. Ich hasste es, wenn die Leute mich vor eine Wahl stellten, die eigentlich keine war – besonders wenn ich mich so fühlte, als würde ein Teil von mir jeden Moment einfach auseinanderfallen. Aber was blieb mir anderes übrig, als die Tür zu öffnen? Klar, ich könnte aus dem Fenster klettern und einfach abhauen, nur gab es keine Ort, an den ich mich zurückziehen konnte.
Ich machte mir nicht die Mühe aufzustehen, um den Schlüssel im Schloss zu drehen. Ich streckte einfach nur den Arm aus, bis es klickte und wickelte ihn dann wieder schützend um meinen Körper.
Celine brauchte keine Extraeinladung. Sie kam in den Raum, sah mich auf dem Boden sitzen und schloss dann wieder die Tür hinter sich. Einen Moment schien sie zu überlegen, ob sie sich zu mir an die Wand setzten sollte, aber dann ging sie doch zum Bett und ließ sich dort nieder. „Ich möchte dir von einer Frau erzählen, die ich einmal gekannt habe. Ihr Name war Kimberly gewesen. Sie war die Tochter von der Kammerzofe meiner Mutter und ist wie ich damals am Hof der Lykaner aufgewachsen und war eine meiner besten Freunde gewesen.“
Ich zog die Beine fester an und ließ den Blick gesenkt. Ich wollte nichts von irgendeiner alten Freundin und deren Probleme hören, ich hatte genug eigene.
„Als Kimberly neunzehn war, lernte sie einen Mann kennen. Sein Name war Sylas. Die beiden lernten sich lieben, zogen zusammen nach Silenda und heirateten kaum ein Jahr später. Ich hatte damals nicht viel Zeit, traf mich aber trotzdem so wie es mir möglich war mit ihr. Im Schloss, im Café, oder auch mal bei ihr. Sylas war mir immer sehr sympathisch gewesen und die beiden führten eine Vorzeigeehe, die mich manchmal ganz neidisch werden ließ. Im Gegensatz zu mir hatte sie das Glück gehabt, ihren Gefährtin frei wählen zu dürfen.“
In ihrer Stimme schwang eine Sehnsucht mit, die von Kummer geradezu getränkt war. „Einmal war ich mit Kimberly in einem Restaurant gewesen. Wir haben miteinander geschnattert. Es war warm und deswegen hat sie wohl ihren Ärmel hochgezogen. Da sah ich zum ersten Mal die blauen Flecken. Sie hatten die Form von einem Handabdruck.“
Jetzt ging das wieder los. „Cio hat mir noch nie wehgetan.“
„Ich bin froh das zu hören, aber dass hatte ich damit auch gar nicht andeuten wollen.“
Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr das glauben sollte. Tayfun hatte schließlich auch schon vermutet.
„Also hör zu. Ich sprach sie natürlich auf die Flecken an, doch sie begann nur zu lachen und sagte mir, dass sie miteinander herumgeturnt hatten und dabei etwas übermütig geworden sind. Sie zog es ins lächerliche und machte Witze darüber. Das machte sie auch noch, als ich die Platzwunde an ihrer Lippe sah und als sie mit zwei gebrochenen Rippen in die Notaufnahme eingeliefert wurde. Wenn man sie darauf ansprach, erzählte sie einem immer, dass sie einfach nur tollpatschig war und scherzte darüber, dass man sie wohl besser in Polsterfolie dick einwickeln sollte, bevor sie sich noch ausversehen das Genick bricht. Kimberly war immer eine sehr lustige und lebensfrohe Frau gewesen.“
Sie verstummte einen Moment, als sie in ihre eigenen Erinnerungen eintauchte. „Das zumindest war sie gewesen, als sie Sylas kennenlernte. Doch mit der Zeit … sie lachte immer noch, aber ihre Augen wirkten dabei trüb. Sie scherzte weiterhin, aber … es war nicht mehr das selbe. Immer wenn ich sie wiedersah, schien sie ein kleinen wenig zerbrechlicher. Ich vermutete das Sykas sie schlug und versuchte mit ihr zu reden, aber sie wimmelte mich immer ab, doch als sie dann mit einem gebrochenen Kieferknochen ins Krankenhaus gebracht wurde, konnte ich nicht mehr tatenlos dabei zuschauen.“
Ihre Lippen wurden schmal. „Ich ging zu Sylas und drohte ihm mit all meiner Alpha- Autorität. Sollte er Kimberly auch nur noch ein Haar krümmen, dann würde ich dafür sorgen, dass er es bereute.“ Sie verstummte einen Moment. „Ich habe ich damit helfen wollen, aber leider habe ich es damit nur schlimmer gemacht. Ich war eine Prinzessin aus dem Rudel der Könige und er hat Angst vor mir bekommen. Deswegen entschied er, dass es wohl das beste war, wenn er und Kimberly ans andere Ende des Landes zogen. Ich habe sie nie wieder gesehen.“
War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen. „Weißt du was aus ihr geworden ist?“
„Ja.“ Als sie ihren Blick direkt auf mich richtete, war mir klar, dass es nichts gutes sein konnte. „Sie ist zwei Monate später an einem Schädelbruch gestorben. Sylas hat sie geschlagen und sie ist mit dem Kopf auf eine Tischkante geknallt. Er hat sie einfach liegen lassen, weil er glaubte sie sei nur bewusstlos. Als sie am nächsten Morgen immer noch dort lag, wurde ihm klar, dass er sich geirrt hatte.“
Das war nicht nur traurig, das war entsetzlich. Ich hatte es noch nie verstehen können, wie ein Wesen einem anderen praktisch grundlos so verletzen konnte. „Ich verstehe nicht, warum du mir das erzählst. Ich habe dir schon gesagt, dass Cio mir niemals wehtun würde. Bevor er mich schlägt, würde er sich selber aus dem Fenster stürzen.“
„Ich habe dir das erzählt, weil du eine Lehre aus dieser Geschichte ziehen kannst. Ich hätte dir auch von Cayenne und ihrem Leben erzählen können, denn sie enthält die gleiche Lehre, aber mit der Geschichte deiner Mutter bist du sicher vertraut.“
Erzeugerin, nicht Mutter. „Ich verstehe nicht worauf du hinaus willst.“
„Ich will darauf hinaus, dass es niemals gut ist zu lügen, oder Geheimnisse zu hüten, die so groß sind, dass sie einen selber von innen heraus auffressen und langsam aber sicher zerstören.“
Ich biss mir auf die Lippe und drehte meinen Kopf zur Seite.
„Ich weiß nicht was los ist und ich will dich auch gar nicht bedrängen, aber es ist offensichtlich, dass dich etwas bedrückt, etwas über das du scheinbar nicht mit Cio sprechen willst.“ Pause. „Oder kannst.“
Scheiße. „Es ist nichts.“
„Doch, da ist sehr wohl etwas.“
Eine Spur von Odeur streifte mich. Es fühlte sich anders an, als wenn Cayenne und Königin Sadrija es machten, aber konnte es spüren. Ein Streicheln der Sinne, gedacht um zu beruhigen.
„Du musst mit mir nicht darüber sprechen, aber ich möchte dass du weißt, dass ich dir zuhören werde, solltest du es dir anders überlegen und jemanden zum Reden brauchen.“
„Du bist eine Fremde für mich.“
„Manchmal ist es einfacher mit Fremden über solche Probleme zu sprechen, als sich denen anzuvertrauen, die einem nahe stehen.“
„Nein“, sagte ich leise und zog meine Arme noch enger um mich. Es war ein praktisch Fremder, der mir das hier angetan hatte.
Celine seufzte leise. „Es ist nicht gut, wenn du versuchst das mit dir allein auszumachen und es weiter in dich hinein frisst. Es macht dich kaputt.“ Sie musterte mich einen Moment. „Selbst ich sehe den Unterschied zwischen dem Mädchen, dass hier vor vier Jahren ein Auto gestohlen hat, um das Rudel der Könige zu retten und der jungen Frau heute, die sich immer wachsam nach allen Seiten umsieht und es vermeidet anderen zu nahe zu kommen.“
Oh je, an das Auto erinnerte sie sich noch? „Es war Cio, der es geklaut hat, nicht ich.“ Genaugenommen hatte er ihren Autoschlüssel geklaut. Ich wusste bis heute nicht, ob sie ihren Wagen jemals zurückbekommen hatte.
„Du hast ihn aber nicht aufgehalten“, schmunzelte sie, wurde jedoch sehr schnell wieder ernst. „Cio ist ein guter Mann und er liebt dich, aber dein Schweigen verletzt ihn.“
Als wenn ich das nicht selber wüsste. Er war schließlich der Mann den ich liebte und den ich besser kannte, als jedes andere Wesen auf diesem Planeten. Aber es würde ihn noch viel mehr verletzen, wenn er wüsste was ich getan hatte, das wusste ich genau.
„Denk bitte über meine Worte nach und wenn du schon nicht mit mir oder ihm darüber sprechen möchtest, dann such dir jemand anderen, dem du dich öffnen kannst. So wie es im Moment ist, wirst du jedenfalls irgendwann unter deinem Geheimnis einfach zerbrechen und ich möchte nicht, dass du so endest wie Kimberly, weil du zu stolz bist bist dir helfen zu lassen, oder Angst vor dem hast, was dann geschehen könnte. Kein Geheimnis der Welt ist es wert, dass man sich dafür selber zugrunde richtet.“
Da täuschte Celine sich. Wenn man es tat, um jemand anderen zu schützen, war es das manchmal doch wert. Leider war ich mir nur zu bewusst, dass ich es tat, um mich zu schützen. Natürlich, ich machte es auch um Cio nicht zu verletzten, aber hauptsächlich, weil ich mich davor fürchtete, dass er mich verlassen könnte und ich mich dafür schämte. Ich wusste nicht, was ich ohne ihn machen sollte.
„In Ordnung, belassen wir es erstmal dabei.“ Sie strich sich über die Jeans, zupfte dabei einen Fusel ab und erhob sich dann. „Drüben wartet noch ein Schnitzel auf mich. Begleitest du mich zurück ins Haupthaus, oder möchtest du hier bleiben? Allein.“
Haupthaus? War sie wahnsinnig geworden? Nach dem was gerade geschehen war, konnte ich mich nie wieder außerhalb dieses Zimmers blicken lassen. Oh Gott, wir hatten Zuschauer gehabt. Wahrscheinlich war ich für die Leute hier jetzt sowas wie eine messerschwingende Irre.
„Niemand wird dich belästigen, oder diesen Vorfall Beachtung schenken.“
Super, sie war also auch noch eine Hellseherin. „Natürlich werden sie.“
„Nein, werden sie nicht. Bei uns ist es nicht wie im Rudel der Könige. Wir leben viel enger zusammen und bei uns ist es ziemlich normal Dinge von anderen mitzubekommen. Jeder hier weiß wann es angebracht ist die Privatsphäre des anderen zu respektieren.“
„Vielleicht werden sie nichts sagen, aber jeder wird sich seinen Teil denken.“
„Jeder? Es haben vielleicht ein Dutzend Leute mitbekommen, was geschehen ist und die werden sich hüten es weiter zu tratschen.“
„Ach ja? Warum?“
„Weil das hier eine unserer obersten Regeln ist und glaub mir, wenn ich dir sage, dass Ayko sehr darauf bedacht ist, seine Regeln hier durchzusetzen.“
Der Zweifel stand mir ins Gesicht geschrieben.
„Na komm.“ Celine trat zu mir und reichte mir ihre Hand. „Cio wird dich bestimmt auch sehen wollen.“
Cio. Ich wollte zu ihm, aber wie sollte ich ihm nach dem was gerade geschehen war wieder unter die Augen treten? Das Messer … ich hatte ich fast abgestochen und das nur, weil ich mich erschreckt hatte. Gott, ich hätte ihn töten können.
„Oder soll ich ihn zu dir schicken?“
Hier, wo wir alleine wäre und er mir wieder Fragen stellen konnte? Ich wollte ihn nicht sehen, aber auch nur, weil ich Angst vor der Begegnung hatte. Viel lieber wollte ich ihn in die Arm nehmen und mich versichern, dass zwischen uns alles in Ordnung war. Oder zumindest, dass er noch da war und ich ihn noch nicht ganz verloren hatte.
Ich nahm Celines Hand nicht. Stattdessen wischte ich mir noch mal durchs Gesicht, rückte meine Brille zurecht und kam dann aus eigener Kraft auf die Beine. Keine Ahnung warum, aber es widerstrebte mir einfach die Leute hier anzufassen. Wahrscheinlich weil sie von einem anderen Rudel waren.
Celine ließ nicht erkennen, ob ich sie damit gekränkt hatte, sie wartete einfach bis ich aufrecht stand und ging dann als erstes nach draußen.
Ich folgte ihr etwas langsamer, doch als sie die Haustür öffnete und von der Veranda Stimmen zu uns hinein drangen, zögerte ich.
Das entging Celine natürlich nicht. Sie bedachte mich mit einem aufmunternden Blick und schob die Tür dann so weit auf, dass ich sah was dort draußen los war.
Cio saß mit dem Rücken zu mir auf den Stufen der kurzen Verandatreppe und hatte den Kopf in seine rechte Hand gestützt. Er wirkte gebeugt, lauschte aber den leisen Worten von Ayko, der rechts neben ihm stand und ihm in einer väterlichen Geste die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Der Alpha schien ihn trösten, oder wenigstens beruhigen zu wollen.
Die beiden waren auch nicht allein. Keenan stand mit verschränkten Armen vor ihm und Roselyn saß links neben ihm auf der Treppe. Sowohl sie als auch der Beta schauten auf, als die Tür geöffnet wurde. Cio dagegen schien es gar nicht zu merken.
Celine wechselte einen kurzen Blick mit Ayko, bevor sie hinaus trat. „Wir sollten zurückgehen, bevor unser Essen kalt wird.“
Keenan schnaubte. „Du meinst wohl, bevor die anderen alles aufgegessen haben.“ Mehr sagte er nicht, nur das. Dann drehte er sich einfach um und ging.
Roselyn sagte gar nichts, sie folgte seinem Beispiel einfach und schloss sich ihm an.
Ayko drückte Cios Schulter mir einem leisen „Das wird schon“ und streckte Celine dann die Hand entgegen, als erwartete er, dass sie sie nahm. Sie jedoch schien es nicht mal zu merken, als sie die Veranda verließ, um zu ihrem Essen zu kommen.
Der Alpha ließ sich nicht anmerken, was in seinem Kopf vor sich ging. Er warf mir nur einen kurzen Blick zu und schloss sich den anderen an. Der Einzige der sich nicht regte, war Cio. Er musste wissen, dass ich hinter ihm in der offenen Tür stand, einfach weil er es immer wusste, wenn ich in der Nähe war, aber er ließ es nicht erkennen.
Unschlüssig schaute ich von ihm ins Haus hinein und musste darum kämpfen meinem Fluchtreflex nicht nachzugeben.
„Ayko sagt, dass du für mich eine Pizza mitbestellt hast. Mit extra viel Käse.“
Seine Stimme reichte aus, um mich zum Bleiben zu bewegen. „Sie war nicht geschnitten.“
„Das ist wieder so typisch Lieferservice.“
Ich zögerte noch einen Augenblick, setzte mich dann aber in Bewegung. Zuerst überlegte ich, ob ich mich zu ihm setzten sollte, aber ich traute mich nicht. Also ging ich die Treppe hinunter und blieb dann etwas unentschlossen vor ihm stehen.
Vielleicht sollte ich mich noch mal entschuldigen, oder … mir fiel nichts ein. Da war nur diese Mauer, die zwischen uns aus dem Boden zu schießen schien und je länger ich schweigend vor ihm stand, desto größer und breiter schien sie zu werden.
Ich öffnete den Mund zwei Mal, ohne zu wissen, was ich sagen sollte und war fast schon so weite einfach wieder ins Haus zu flüchten, da hob er endlich den Kopf und sah mich an. Ihn schien der gleiche Kummer niederzudrücken, der auch von mir Besitz ergriffen hatte.
Einen endlos langen Moment taten wir nichts anderes als uns einfach nur anzuschauen, dann hob er einfach seine Hand und streckte sie mir beinahe schon flehend entgegen.
Mir wurde klar, dass ihn diese Situation genauso verunsicherte wie mich, einfach von uns beiden im Moment keiner wusste, was er von dem anderen zu erwarten hatte. Ich konnte gar nicht anders als meine Hand in seine zu legen und wehrte mich auch nicht gegen ihn, als er mich rittlings auf seinen Schoß zog und die Arme fest um mich schlang. Ich erwiderte die Geste einfach, vergrub mein Gesicht an seiner Schulter und hoffte, dass wir doch noch einen Weg aus dieser Miesere finden würden, der uns nicht beiden das Herz brach.
„Verlass mich nicht“, flehte Cio und zog mich noch fester an sich.
°°°
Ein Strahl links, ein Strahl rechts, ein Strahl links, ein Strahl rechts.
„Wie machst du das?“, fragte Cio frustriert und schaute dabei zu, wie die Milch aus dem Euter meiner Kuh spritzte und mein Melkeimer immer voller wurde, wohingegen seine Kuh ihn eben fast getreten hätte, weil sie langsam ungeduldig wurde.
Ich grinste ihn an. Ein Strahl links, ein Strahl rechts. „Talent.“
Er runzelte die Stirn, beobachtete meine Bewegungen und fing dann plötzlich an dreckig zu grinsen. „Oh, natürlich, jetzt wird mir einiges klar.“
Verwirrt hielt ich inne. „Was wird dir klar?“
Statt zu antworten, grinste er nur noch breiter und widmete sich dann wieder seiner Kuh.
Ich konnte ihn nur verständnislos anschauen und mich fragen, ob ich wirklich so auf der Leitung stand, aber ich hatte wirklich keine Ahnung, was er damit andeuten wollte. Ihn noch mal fragen und mir die Blöße geben, das wollte ich aber auch nicht, also machte ich einfach mit meiner Arbeit weiter.
Draußen war es noch dunkel. Die Sonne würde die Nacht frühstens in einer Stunde ablösen und Frühstück würde es erst geben, wenn wir mit den Kühen fertig waren. Hätte ich mich nicht in eine dicke Jacke gewickelt, würde ich wohl vor Kälte zittern. Zum Glück war ich das von meiner Arbeit mit den Pferden von früher gewohnt.
Ein bisschen erinnerte mich das hier auch daran und wenn ich ehrlich war, vermisste ich es mich um die Tiere zu kümmern. Der Job als Webdesigner war okay, aber es war halt doch etwas ganz anderes, als die körperliche Arbeit mit den Pferden. Wie lange war es jetzt her, dass ich das letzte Mal auf einem Pferd geritten war? Ich konnte mich nicht genau daran erinnern. Ich wusste nicht mal mehr, welches Pferd es war. Da war einfach so viel anderes in meinem Kopf.
Draußen am offenen Stall lief Ferox vorbei. Er hatte nicht mal einen Blick für uns übrig. Er tauchte nur kurz mit der Nase am Boden auf und verschwand dann wieder in die Nacht. Da war er wohl gerade etwas interessantem auf der Spur.
„Okay, es ist eindeutig, ich habe dafür einfach kein Talent.“
Ich schaute zu Cio hinüber, der ein wenig genervt auf seinem Schemel saß. „Dafür brauch man kein Talent, nur ein wenig Gefühl. Pass auf, ich zeig es dir.“ Vorher allerdings brachte ich noch meinen fast vollen Eimer in Sicherheit. Ich hatte keine Lust noch mal von vorne anzufangen, oder die Sauerei wegzuwischen, sollte die Kuh auf die Idee kommen nach ihm zu treten.
Als ich mich dann neben Cio hockte, nahm ich seine Hände. „So und nun pass auf. Du musst direkt an die Wurzel der Zitzen greifen. Mach mit Daumen und Zeigefinger einen Ring und dann Druck ausüben. Nach unten. Gleichmäßige Bewegungen.“
Strahl links, Strahl rechts.
„Genau so“, sagte ich und nahm die Hände weg und schon versiegte die Quelle wieder.
Cio lehnte sich seufzend zurück. „Ich bin ein hoffnungsloser Fall. Am besten ich mache draußen noch mal den Zaun kaputt, dann kann ich da wieder helfen und muss mich nicht …“ Er unterbrach sich, als ein Handy klingelte.
Zuerst wunderte ich mich woher es kam, weil ich den Klingelton nicht kannte. Da waren zwar noch andere Leute im Stall, aber das klingeln ertönte direkt neben mir. Erst als Cio das fremde Handy aus der Tasche zog und mich damit daran erinnerte, dass wir Cayenne ja Ersatzgeräte mit einer Geheimnummer bekommen hatten, fiel mir wieder ein, dass unsere Mobilgeräte ja Zuhause auf dem Wohnzimmertisch lagen.
Als er sich das Handy ans Ohr hielt und seinen Gesprächspartner mit einem „Ja?“ begrüßte, machte sich in mir einen sehr ungutes Gefühl breit. Die einzige Person, die diese Nummer hatte, war Cayenne. Wenn sie uns hier anrief, obwohl doch eigentlich Kontaktverbot herrschte, dann war doch schon wieder etwas passiert. Noch dazu kam die Uhrzeit.
Bitte, nicht schon wieder.
Cio lauschte erstmal nur und obwohl seine Mimik sich verfinsterte, schien er nicht beunruhigt. Das war doch ein gutes Zeichen, oder? Und dann zog sich auch noch sein Mundwinkel hoch. „Keine Sorge, wie haben hier reichlich zu tun. Im Moment lerne ich gerade Melken.“ Er warf mir einen Blick zu und verzog dabei gequält das Gesicht.
Ähm … okay, war doch nichts passiert? Wollte Cayenne vielleicht einfach nur wissen, wie es uns ging? Aber das war doch ziemlich gefährlich. Selbst eine sichere Leitung konnte abgefangen werden. Ich wusste zwar nicht ob Iesha technisch versiert war, aber Zweck des Ganzen hier war es doch, dass wir uns in Luft auflösten.
Da ich nichts erfahren würde, bevor Cio aufgelegt hatte und sich das Gespräch noch ein wenig hinzuziehen schien, nutzte ich die Wartezeit, um die beiden Kühe fertig zu melken, denn die verloren langsam ihre Geduld mit uns. Wir sollten wahrscheinlich mit Shiva sprechen, damit sie uns andere Aufgaben gab, irgendwas wo wir uns sinnvoll nützlich machen konnten.
Ich war gerade noch dabei Cios Kuh fertig zu machen, als er sich bei seinem Gesprächspartner verabschiedete und mit einem erleichterten Seufzen sein Handy wieder in der Jackentasche verschwinden ließ. „Gott, nicht mal hier hat man vor ihm Ruhe?“
Als ich fragend zu ihm aufsah und dabei meine Arbeit einstellte, landete der Schweif der Kuh demonstrativ in meinem Gesicht.
„Das war mein Vater. Er hat angerufen um uns über den Stand der Dinge zu informieren, damit wir bleiben wo wir sind und vor Langeweile nicht auf komische Ideen kommen.“
Ich schnappte mir den Eimer und den Schemel und stellte das ganze an die Seite. „Was denn für komische Ideen?“
„Die sichere Zuflucht verlassen und Jagd auf Iesha machen, oder zurückzukommen um sicherzugehen, dass Kasper und Co. sicher weggeschlossen sind.“
„Weggeschlossen?“ Hatte Diego sie etwas einsperren lassen?
Cio grinste sein spitzbübisches Lächeln. „Du darfst nicht immer alles so wörtlich nehmen. Sie haben alle zusammen mit ein paar Wächtern oder Themis in sichere Unterschlüpfe gebracht. Naja, fast alle.“
„Lass mich raten, mein Vater hat sich geweigert und dementsprechend ist auch meine Mutter bei ihm.“
„Ja und nein.“ Er zog sich den einen Schemel heran und ließ sich darauf nieder. Dabei griff er nach meiner Hand und zog mich auf seinen Schoß. Ich versuchte entspannt zu bleiben. „Deine Mutter ist sicher untergebracht, dein Vater nicht, der treibt sich wohl die ganze Zeit im HQ der Themis herum und versucht von dort aus Iesha auf die Spur zu kommen. Meine Eltern, Sydney, Cayenne und Kiara sind auch noch in Silenda.“
„Kiara?“ Das hatte Cayenne erlaubt?
„Naja, sie ist nicht wirklich in Silenda. Sie gondelt irgendwo in der Weltgeschichte herum. Sie hat sich wohl geweigert sich zu verstecken, weil sie ihrem ach so wichtigen Job nachgehen muss.“
Kiara war eine Art Diplomatin, oder vielleicht auch Botschafterin, die zwischen dem Rudel der Könige und den ganzen Simultanen-Rudeln vermittelte und wichtige Angelegenheiten klärte. Ihre Position war schon wichtig, aber … „Sie setzt für ihren Job ihr Leben aufs Spiel?“ Von meinem Vater hatte ich ja nichts anderes erwartet, aber Kiara? War ihr ihr Job wirklich so wichtig?
„Sie glaubt wohl, ihr wird nichts passieren, weil sie die nächsten Tage Silenda immer mal wieder verlassen muss. Königin Sadrija hat wohl ein neues Gesetzt wegen der Reviergrenzen erlassen und ein paar von den Simultanen-Rudeln weigern sich das zu unterschreiben. Darum muss sie persönlich dorthin.“
Naja, wie gesagt, das war schon wichtig, aber mein Leben würde ich für diese Aufgabe nicht aufs Spiel setzten. Besonders nicht, wenn man sie so leicht an jemand anderen übergeben kann. „Ich finde das ziemlich leichtsinnig.“
Er zuckte nur mit den Schultern. „Du kennst doch die Nudel, sie hat ihren eigenen Kopf und da es im Moment ziemlich ruhig in Silenda ist, scheint unser verschwinden sie Situation wirklich beruhigt zu haben.“
Das konnte aber auch daran liegen, dass Iesha die Ziele ausgegangen waren. „Haben sie in der Zwischenzeit denn irgendeine Spur von Iesha gefunden?“
Bedauernd schüttelte er den Kopf. „Keine Spur, keine Attacke mehr, seit dem Anschlag auf dich vor drei Tagen. Sie Verhält sich ruhig.“
Das war gut. Und auch schlecht. „Also scheint sie wirklich nicht zu wissen, wohin wir und die anderen verschwunden sind.“
„So macht es zur Seit zumindest den Anschein. Es kann natürlich auch sein, dass sie uns das einfach nur glauben machen möchte und in Wirklichkeit schon wieder etwas ausheckt.“ Er sah mich ernst an. „Deswegen müssen wir trotzdem weiterhin vorsichtig sein. Nur weil wir hier sind, heißt das nicht, dass wir wirklich sicher sind.“
Leider. „Und mein Vater? Hat Diego etwas über ihn gesagt?“
Cio verzog das Gesicht. „Als er gehört hat, was passiert ist und dass Cayenne uns einfach weggebracht hat, ist er wohl ein kleinen wenig ausfallend geworden. Deine Mutter konnte ihn aber wieder beruhigen. Er hat sich daraufhin aber selber aus dem Krankenhaus entlassen.“
Ja, weil er von seinem Bett aus nichts unternehmen konnte. „Das ist wieder so typisch er. Anstatt erstmal zu genesen und wieder auf die …“ Ich stockte, als ich eine Bewegung in meinem Bauch spürte und legte ganz automatisch die Hand darauf.
„Was?“, fragte Cio und folgte der Bewegung ein wenig ängstlich. „Was ist, alles okay?“
„Es hat getreten.“
„Wirklich?“
„Ja.“ Ich öffnete meine Jacke, nahm dann seine Hand und legte sie genau auf die Stelle, wo ich den Tritt gespürt hatte.
Cio vergaß fast zu atmen, als er still auf eine Bewegung wartete. Leider schien der kleine Passagier aber keine Lust zu haben, sich noch mal bemerkbar zu machen, oder war einfach wieder eingeschlafen.
„Ich spüre nichts“, sagte Cio nach einem endlos langem Moment mit leichter Enttäuschung.
„Könnte daran liegen, dass es sich gerade nicht bewegt“, bemerkte ich.
Er strich mit der Hand von links nach recht über meinen Bauch und pikte sogar einmal vorsichtig hinein, in der Hoffnung, den kleinen Passagier damit eine Reaktion zu entlocken, aber der wollte seinen Vater lieber auf die Folter spannen. „Weißt du, wir haben bisher noch gar nicht über Namen geredet.“
„Was wohl daran liegt, dass wir noch nicht wissen, was es wird.“ Obwohl ich darüber in den letzten Monaten ja schon ein paar Mal nachgedacht hatte. Zu einem Ergebnis war ich aber bisher noch nicht gekommen.
„Also ich hoffe ja, dass es ein Mädchen wird“, erklärte er und legte seine Hand wieder flach auf meinen Bauch.
Draußen vor dem offenen Stalltor tauchte Ferox wieder auf. Er versicherte sich, dass wir noch hier waren und rollte sich dann mitten im weg zu einer flauschigen Kugel zusammen.
„Mir wäre ehrlich gesagt ein Junge lieber“, sagte ich. „Die sind nicht so zickig, wenn sie in die Pubertät kommen.“
Cio grinste. „Wie würdest du einen Jungen denn nennen wollen?“
„Ich weiß nicht.“ Gedanklich ging ich die Namen durch, über die ich schon nachgedacht hatte. „Cedric finde ich schön, oder auch Oskar.“
„Oskar? Wirklich? Da kannst du ihn ja auch gleich Igor oder Oggie nennen.“
„Igor?“ Wie kam er den jetzt auf den Blödsinn? „Er ist doch nicht Frankensteins Diener.“
„Hm, wie wäre es dann mit … Kermit, oder Obi-wan? Oh, nein, ich weiß.“ Er schnippte mit dem Finger. „Wir nennen ihn Homer.“
Ich schüttelte prustend den Kopf. „Und wenn es ein Mädchen wird, dann nennen wir sie Miss Piggy, oder Maggie, oder was?“
„Maggie ist ein hübscher Name“, gab er zu bedenken. „Wir könnten sie auch Pebbles nennen, aber bloß nicht Pippi. Wenn ich als Kind den Namen Pippi Langstrumpf gehört habe, musste ich immer aufs Klo pinkeln.“
Oh Mann. „Wird das hier eigentlich eine ernste Namenssuche?“
„Natürlich.“ Er nickte so ernst, wie es ihm möglich war. Sein Grinsen jedoch strafte ihn Lügen. „Wie wäre es mit den Ninja Turtles? Leonardo, Michelangelo, Donatello und Raphael.“
Ähm … „Du willst ihm gleich vier Namen geben?“
„Was? Nein.“ Er winkte ab, als wäre schon allein der Gedanke völlig abwegig. „Wir brauchen dann natürlich vier Kinder. Obwohl dein Vater ja schon Raphael heißt“, überlegte er. „Dann brauchen wir eben nur noch drei.“
Ich schnaubte über so viel Unsinn. „Wie wäre es, wenn wir erstmal dieses eine auf die Welt bringen, bevor wir uns um die weitere Familienplanung kümmern?“
„Gedanken machen kann man sich ja schon mal.“ Er strich wieder über meinen Bauch. „Aber wir müssen dann natürlich auch mit einrechnen, das zwischen den drei Jungs immer mal wieder ein Mädchen kommen könnte.“
Okay, langsam bekam ich die Vermutung, Cio wollte sein eigenes Fußballteam zeugen. „Wie würdest du denn einen Jungen nennen? Oder auch ein Mädchen?“
„Über einen Jungen habe ich nie nachgedacht, aber ein Mädchen könnte man Nadja, oder Rebecca nennen. Miranda fand ich auch immer schön.“
„Miranda?“ Warum musste ich bei diesem Namen an eine kleine Hexe denken?
„Klar, warum nicht? Ist auf jeden Fall besser, als Miss Piggy.“
Dem konnte ich nicht widersprechen. „Okay, dann nennen wir einen Jungen Oskar und ein Mädchen Miranda“, erklärte ich und erhob mich von seinem Schoß.
„Äh“, machte Cio und folgte meinem Beispiel, als ich einen der vollen Milcheimer nahm. „Das ist hoffentlich nicht dein letztes Wort.“
„Warum, was hast du gegen den Namen Oskar auszusetzen?“
Zusammen mit ihm trat ich hinaus ins freie und ging hinüber zum großen Tank. Ferox sprang natürlich sofort auf die Beine und wollte mich überschwänglich begrüßen, doch ein warnender Blick hielt ihn davon ab mich anzuspringen und dabei die Milch über den Vorplatz zu verteilen. Freudig hinter mir herdackeln konnte er aber trotzdem.
„Wegen Oscar aus der Mülltonne.“
Ich sah ihn verständnislos an.
„Oscar aus der Mülltonne? Sesamstraße? Na, klingelt es?“
„Um ehrlich zu sein, habe ich die Sesamstraße nie geguckt.“
Cio wollte sich gerade strecken, um die Milch in den Tank umzukippen, doch nach diesem Satz hielt er mitten in der Bewegung inne und schaute mich an, als sei ich ein Alien von einem weit entfernten Planeten. In seinen Augen war das wahrscheinlich der einzige Grund, warum ich niemals diese Show gesehen habe. „Nicht mal als Kind?“
„Nein.“
„Bildungslücke.“
Ich schnaubte, schob ihn zur Seite und kippte meine Milch als erstes um. „Ich habe eben mehr auf den Sandmann gestanden.“
Als der Eimer leer war, ließ ich ihn runterhängen. Ferox steckte sofort seinen Kopf hinein und begann die Seiten abzulecken. Es schien ihm zu schmecken.
Cio schüttelte nur ungläubig den Kopf und leerte auch seinen Eimer. „Im Vergleich zur Sesamstraße war der Sandmann sowas von langweilig.“
„Nein, war er gar nicht. Ich fand den Sandmann immer toll.“ Stritten wir uns hier gerade wirklich, wegen Kindersendungen? Uns war doch wirklich nicht mehr zu helfen.
Er drehte sich für eine Erwiderung zu mir um, hielt jedoch vor dem Sprechen inne und runzelte die Stirn.
„Was ist los?“, fragte ich und folgte seinem Blick. Auch Ferox hob den Kopf aus dem Eimer und spitzte die Ohren.
Gerade fuhr ein Auto auf dem Hof. Seine Scheinwerfer streiften die Gebäude, bevor er an die Seite fuhr. Das Licht ging aus, genau wie der Motor und obwohl es noch dunkel war, spendeten die Lampen in den Ställen genug Licht, um den Wagen in einen sanften Schein zu tauchen. Ein gelber Mini Cooper mit einem schwarzen Dach.
„Aber das ist doch …“ Ich verstummte.
„Kiara“, sagte Cio und schaute dann ein wenig angespannt dabei zu, wie meine Schwester in all ihrer Pracht aus ihrem Wagen stieg und dann noch einen Reisekoffer vom Rücksitz holte.
Ich verstand ihn. Eigentlich sollte doch niemand wissen, dass wir hier waren und nun tauchte meine Schwester hier auf. Wen das nicht interessierte, war Ferox, der steckte seinen Kopf einfach wieder in den Eimer, um auch noch die letzten Reste sauber zu lecken.
„Hat dein Vater gesagt, dass sie hier auftauchen würde?“
„Nein.“ Und das schien ihm gar nicht zu gefallen. Hätte Diego gewusst, dass Kiara hier auftauchen würde, hätte er es uns sicher gesagt. Das Telefonat lag schließlich nicht mal eine halbe Stunde zurück.
„Ist das schlecht?“
„Ich bin mir nicht ganz sicher.“
Kiara schlug die Tür ihres Wagens zu, schaute auf und bemerkte uns. Einen Moment schien sie einfach nur überrascht uns zu sehen. Dann runzelte sie die Stirn und schaute sich um, als glaubte sie auf dem falschen Hof gelandet zu sein. Da das nicht der Fall war, hob sie die Hand und winkte uns zu, bevor sie uns den Rücken kehrte und sich mit ihrem Rollkoffer auf dem Weg zum Haupthaus machte.
Ich schaute ihr hinterher und hatte auf einmal das unbändige Bedürfnis meine Sachen zu packen und schnellstens das Weite zu suchen, war einfach nur albern war. Das Verhältnis zwischen uns war zwar nicht das Beste, aber sie war ganz sicher keine Gefahr.
„Wahrscheinlich besucht sie Celine“, überlegte Cio.
„Oder das Gracia-Rudel gehört zu den Simultanen, die sich weigern das neue Gesetz zu unterschreiben.“
„Das kann auch sein.“
„Aber es gefällt dir nicht.“
„Nein, tut es nicht, es soll schließlich niemand wissen, dass wir hier sind.“ Er warf mir einen kurzen Seitenblick zu und nahm dann meine Hand. „Ich werde wohl nachher mal mit der Nudel reden.“
War wahrscheinlich besser, wenn er das machte. Mit mir würde sie sowieso nicht sprechen. „Lass uns erstma duschen gehen und dann was frühstücken.“
„Was?“, fragte er erstaunt. „Gefällt die mein neues Parfum etwas nicht? Odé Stall mit einem Hauch von Kuh?“
„Nein, aber wenn es dir so gut gefällt, dann kannst du ja bei den Kühen bleiben. Ich jedenfalls werde jetzt duschen gehen.“ Ich ließ meinen Worten Taten folgen, indem ich mich in Bewegung setzte, was Ferox gar nicht lustig fand, da ich seinen Eimer mitnahm, um ihn auszuspülen und dann wegzuräumen.
Zum Glück gab es da noch einen zweiten Eimer, doch zu seinem Leidwesen, setzte der sich zusammen mit Cio auch in Bewegung und so blieb ihm gar nichts anderes übrig, als uns Winselnd hinterherzulaufen und am Ende enttäuscht zu sein, weil er ihn nicht mehr zum auslecken bekam. Doch da er sich uns auf dem Weg zu Roselyns Haus begleitete, konnte die Enttäuschung nicht allzu groß sein. Vielleicht hoffte er aber auch einfach nur auf eine Mahlzeit, die mehr beinhaltete, als die Milchreste in einem Eimer.
Da ich meinen kleinen Spaßvogel ja lieb hatte, bereitete ich in Roselyns Küche sein Frühstück vor, während Cio schon mal das Bad besetzte. Er danke mir, indem er das Fleisch inahlierte, kaum dass ich ihm die Schüssel auf die Veranda gestellt hatte. Ihn zu ermahnen langsamer zu fressen, würde nichts bringen, also ging ich einfach wieder ins Haus um machte mich selber fertig, sobald Cio aus dem Bad kam.
Als wir dann endlich so weit fertig waren und uns auf dem Weg zum Haupthaus machten, begann der morgen gerade zu dämmern. Wir waren auch nicht die einzigen, deren Mägen knurrten und so gab es an der Haustür einen kleinen Stau. Wir brauchten bestimmt eine Minute, um über die Türschwelle zu gelangen und dann stolperte ich auch noch über die vielen Schuhe, die hier im Flur herumlagen.
„Bilde ich mir das nur ein, oder wird das hier jeden morgen voller?“
Cio grinste nur und schob mich seitlich an zwei Männern vorbei, die uns gerade entgegen kamen. „Ich denke, dass der Flur einfach ein wenig zu schmal ist.“
Daran könnte es natürlich auch liegen.
Gemeinsam kämpften wir uns durch den Korridor zur Küche vor, die heute wirklich voller war, aber da hinter der Schwelle das Frühstück wartete, ließen wir uns nicht aufhalten.
Ich wollte gerade hinter Cio hineingehen, als ich bemerkte, wie Celine und Kiara zusammen rechts aus dem Büro kamen. Celine hatte ihrer Enkelin dabei einen Arm um die Taille gelegt und lachte über irgendwas, das meine Schwester gesagt hatte. Die beiden schienen ziemlich vertraut miteinander. War das also vielleicht doch nur ein Freundschaftsbesuch?
„Oh, schau, da sind gerade zwei Plätze frei geworden.“ Bevor ich überhaupt verstand, was da geschah, hatte Cio mich schon in die Küche gezogen und zu einem der hohen Hocker an der Kochinsel gestellt. Er selber nahm direkt daneben Platz, bevor eine Frau sich den Hocker zu eigen machen konnte und grinste mich dann an. „Siehst du, so bekommt man hier einen Stuhl.“
Im Richtigen Moment da sein und ihn sich dann rücksichtslos aneignen. Wem es Spaß macht. „Gibst du mir den Korb mit dem Brot?“
Er tat es.
Während ich mir eine Scheibe auf den Teller legte und zwischen den Bergen an Essen nach dem Käse Ausschau hielt, bemerkte ich die Celine mit Kiara in den Raum kam. Sie steuerten direkt auf den Tisch zu, der uns am nächsten war. Zwar waren dort keine Plätze frei, aber sobald die Alpha sich nährte, änderte sich dieser Zustand. Ein kleiner Junge und Shiva erhoben sich von den Stühlen, um den beiden Platz zu machen. Shiva begrüßte Kiara dabei sogar überschwänglich, als sei sie eine alte Freundin.
„Hier.“ Cio hielt mir den Käse unter die Nase und drehte sich dann um zu schauen, was da meine Aufmerksamkeit erregt hatte. „Sie scheint wohl öfters hier zu sein.“
Den Eindruck hatte ich auch, denn kaum dass sie sich auf ihrem Stuhl niedergelassen hatte, kamen drei junge Männer an und begannen wirklich heftig mit ihr zu flirten.
Kiara lachte kokett und schien die Aufmerksamkeit in vollen Zügen zu genießen.
Ich nahm Cio den Käse aus der Hand und belegte damit mein Brot. Zwar würde ich es niemals offen zugeben, aber es kränkte mich doch, dass meine Schwester diese Leute behandelte, als gehörten sie zur Familie, wohingegen sie mir gegenüber nur die kalte Schulter zeigt. „Hat Shiva dir schon unsere Aufgaben für später gegeben?“
Cio, der sich sein Brot mit drei Schichten Wurst, Käse, Salat und noch mehr Wurst belegte, schüttelte den Kopf. „Aber ich gehe mal davon aus, dass es wieder etwas ein sein wird, bei dem wir anschließend nach Stall riechen.“
Hm. „Wenn dich der Geruch stört, kann ich ja mal mit ihr reden, dann lässt sie dich vielleicht die Klos putzen.“
„Klos? Dafür bin ich doch viel zu schade.“
„Ach so?“ Gut zu wissen. Dann würde ich ihn ab sofort Zuhause das Bad putzen lassen. Immer. „Was schwebt dir denn so vor?“
„Ich weiß nicht, in der Sonne liegen und die Aussicht genießen?“
Das Schnauben kam nicht von mir, sondern von dem dunkelhäutigen Mann, der gerade hinter Cio vorbeigehen wollte. Ayko kam zu ihm, legte ihm einen Arm um die Schultern und erklärte. „Schon mal ein Dach gedeckt? Das Dach vom Haupthaus muss nämlich repariert werden. Da bist du der Sonne schön nahe und hast bei der Arbeit in alle Richtungen eine wunderschöne Aussicht.“
Oh oh.
Im Gegensatz zu mir, ließ sich Cio von diesen Worten nicht beeindrucken. „Klingt gut. Kommst du mit rauf und sorgst dafür, dass ich nicht runter falle, oder wirst du unten stehen und mich auffangen, falls ich abrutsche?“
Grinsend setzte Ayko zu einer Antwort an, doch in dem Moment lachte Celine so laut, dass nicht nur wir uns neugierig nach ihm umschauten. Die Alpha des Rudels hatte schon ganz rote Wangen vor Lachen und schien sich nicht mehr einkriegen zu können.
Kiara saß selbstzufrieden neben ihr.
Aykos Lippen wurde eine Spur schmaler. „Wir haben nicht gewusst, dass sie kommen würde. Eigentlich hatten wir erst nächste Woche einen Termin mit ihr.“
Als würde sie spüren, dass wir sie beobachteten, drehte sie lächelnd ihren Kopf. Leider verblasste der Ausdruck in ihrem Gesicht ein wenig, als sie mich bemerkte. Umso mehr überraschte es mich, als sie sich von ihrem Platz erhob und zu uns rüber kam. Nein, Moment, sie kam nicht zu uns, sie wollte zu dem jungen Mann, der uns gegenüber saß und sich mit Keenan unterhielt.
„Emilio, hey, wie geht es dir?“
„Hey, na Maus.“ Der Mann legte sein Essen zur Seite und nahm sie kurz in den Arm. Selbst als sie sich von wieder von ihm löste, ließ er seinen Arm um ihrer Taille liegen. „Du hast uns ja schon lange nicht mehr besucht.“
„Ich hatte viel zu tun, du weißt schon, die Arbeit. Nur deswegen habe ich es ja auch endlich her geschafft.“ Sie stibitzte sich ein Stück Gurke von seinem Teller und schob es sich in den Mund.
„Wie wäre es mal mit Urlaub?“
„Oh nein, das geht nicht“, sagte sie noch halb kauend und schluckte dann runter. „Meine Arbeit ist wichtig und ich liebe meinen Job.“ Sie griff noch mal nach dem Essen auf seinem Teller und warf mir dabei einen kühlen Seitenblick zu. „Und ehrlich gesagt wüsste ich auch gar nicht, was ich mit so viel freier Zeit anfangen sollte. Wirklich. Ich weiß gar nicht wie Arbeitslose das schaffen den ganzen Tag Zuhause zu sitzen und nicht zu tun.“
Das zerkaute Brot in meinem Mund wurde zu Pappe. War das ein Seitenhieb gewesen? Ich hatte einen Job!
Ich warf einen kurzen Blick zu Cio, aber der war wieder in sein Gespräch mit Ayko vertieft. Wahrscheinlich hatte ich mir das auch nur eingebildet.
„Die Beine hochlegen und den Tag genießen“, erwiderte dieser Emilio und nahm sich nun selber etwas von seinem Teller.
„Am Besten noch mit Gummibärchen, was? Da wird man doch nur dick und träge.“
Okay, auch wenn sie nicht mal in meiner Richtung schaute, dass war ganz eindeutig an mich gegangen. Mein Brot sank zurück auf meinen Teller. Mir war der Appetit vergangen.
„Du hast schon seltsame Vorstellungen.“ Emilio schüttelte lächeln den Kopf. „Wie lange bleibst du dieses Mal?“
„Leider nur bis morgen, dann muss ich zurück an den Hof. Wir erwarten einen Botschafter vom Torvus-Rudel und Königin Sadrija legt großen Wert auf meine Anwesenheit.“
„Du bist eine große Nummer, wie?“
Sie lächelte nur verschmitzt. „Während die einen sich in dunkeln Ecken verstecken, machen die anderen eben etwas aus ihrem Leben.“
Okay, das musste ich mir nicht länger mit anhören. „Ich geh schon mal raus“, sagte ich leise und kletterte von meinem Hocker.
Cio unterbrach verwundert sein Gespräch. Sein Blick glitt auf meinen Teller zu dem kaum angerührten Brot. „Was ist los?“
„Nichts.“ Ich warf einen kurzen Blick auf Kiara, die zwar so tat, als würde sie sich noch immer angeregt unterhalten. Aber ich war mir sicher, dass sie mir zuhörte. „Ich will mal nach Ferox schauen, nicht das er irgendwelchen Unfug treibt.“
Bei der Bemerkung vertiefte sich das Runzeln auf seiner Stirn. Er wusste genau, dass ich gequirlte Scheiße redete, denn Ferox brauchte ganz sicher keinen Aufpasser. Aber etwas in meinem Ton musste ihn gewarnt haben, denn er fragte nicht nach. Seit gestern behandelte er mich sowieso äußerst vorsichtig. „Okay, ich esse nur noch auf, dann komm ich auch.“
„Lass dir Zeit.“
°°°°°
Das Wohnzimmer war ruhig. Roselyn stand zusammen mit ihrer Tochter Chloé in der gemütlichen Küche und kochte für uns alle etwas leckeres zum Abend. Wir hatten uns entschlossen, heute im Haus zu essen und ich war wirklich dankbar dafür. Ich hatte keine Lust meiner Schwester heute noch mal zu begegnen. Wenn ich ganz großes Glück hatte, würde sie vielleicht schon im Morgengrauen wieder aufbrechen, sodass ich ihr vorerst gar nicht mehr begegnen musste.
Hatte ich schon gedacht, die kleinen Seitenhiebe beim Frühstück wären gemein gewesen, dann war das gar nichts zu den unterschwelligen Schlägen, die sie beim gemeinsamen Mittagessen mit Ayko und Celine ausgeteilt hatte. Selbst unsere Großmutter hatte hin und wieder missbilligend die Stirn gerunzelt und Cio war drauf und drang gewesen, ihr unterm Tisch einen kräftigen Tritt gegen ihr Schienbein zu verpassen. Der einzige Grund warum er es nicht getan hatte, war mein bittender Blick.
Ich wollte einfach nicht, dass es wegen mir zu einer Auseinandersetzung kam. Irgendwann würde Kiara sich schon wieder einkriegen.
Als die zehnjährige Chloé in der Küche kicherte, hob ich einen Moment den Blick zu dem kleinen Zimmer, das Roselyn uns gegeben hatte. Cio hatte vorhin noch mal mit Ayko sprechen wollen und war eben erst wieder aufgetaucht. Seine Begrüßung hatte allerdings nur aus einem Lächeln und einer Kusshand bestanden, bevor er in das kleine Zimmer verschwunden war.
Ich fragte mich, was er nun schon wieder ausheckte. Naja, vermutlich wollte er sich einfach nur etwas sauberes anziehen, bevor es Essen gab.
Um mir die Wartezeit zu verkürzen, konzentrierte ich mich wieder auf den Ordner in meinem Schoß. Ich saß im Schneidersitz auf dem Sofa und fragte mich, ob das überhaupt zu etwas führen würde, oder ob ich mich damit nur selber verrückt machte.
Eigentlich war ich heute ja mit Hardy verabredet gewesen, um mit ihm in die Heilanstalt Sanare zu fahren. Da hätte ich bestimmt etwas neues erfahren. Hier jedoch hatte ich nur das was ich mitgebracht hatte. Ich durfte ja nicht mal einen Computer benutzen, um mir weitere Informationen zu besorgen. Das war schon frustrierend, besonders wenn man einfach nicht weiter kam.
Nachdenklich blätterte ich zum bestimmt tausendsten Mal durch das Dossier und hoffte dieses Mal etwas zu finden, dass mir die ganze Zeit entgangen war. Hauptsächlich schaute ich meine zusammengetragenen Notizen durch. Im Augenblick hatte ich kein Interesse daran, mir die Nacktbilder schon wieder anzusehen und mir dabei vorzustellen, dass Iesha sie für Cio gemacht hatte.
Allein zu wissen, dass diese Verrückte da draußen war und an meinen Mann dachte … manchmal würde ich bei diesem Gedanken am Liebsten knurren. Aber dann überkam mich wieder die Angst, zu was sie alles fähig war. Sie hatte getötet, sie hatte verletzt, sie hatte …
Eine Berührung an der Schulter brachte mich nicht nur dazu, das Dossier erschrocken zur Seite zu werfen, sodass sich die Notizen und Fotos wie Schnee über Tisch, Couch und Boden verteilten, ich machte einen regelrechten Hüpfer, bei dem ich auch noch ein Kissen vom Sofa warf und selber fast hinterher fiel.
Im ersten Moment hockte ich nur mit wild schlagendem Herzen da, dann wirbelte ich mit großen Augen zu Cio herum und bemerkte sowohl den verletzten Blick, als auch seine zusammengepressten Lippen. Verdammt, ich hatte es schon wieder getan.
Warum konnte das nicht endlich aufhören? Ich wollte das nicht. Ich wollte ihn nicht verletzten oder zurückweisen, aber dieser verdammte Reflex wollt einfach keine Ruhe geben.
Cio schaute mich ungewandt an. Er hoffte auf eine Erklärung, darauf dass ich mich ihm endlich anvertraute, doch mit jeder verstreichenden Sekunde, wurde die Enttäuschung in seinem Gesicht größer. Trotzdem versuchte er tapfer zu Lächeln. „Ich wollte nur sagen … ich hab vorhin mit Ayko gesprochen. Wir haben die Erlaubnis, am Valentinstag zum Essen auszugehen.“
Was? „Wirklich?“
„Ja. Ich habe die letzte Stunde herumtelefoniert und wirklich noch eine Reservierung bekommen.“
Drei Tage vor dem Valentinstag? „Das … ist toll.“
Sein Lächeln wurde ein wenig traurig. „Ja, vermutlich“, sagte er leise. „Wir haben einen Tisch für achtzehn Uhr bekommen.“
Nach diesen Worten ging es mir gleich noch schlechter. Trotz allem hatte er sich darüber Gedanken gemacht, dass bald Valentinstag war. Nein, nicht nur das, er hatte sogar etwas organisiert und ich hatte nicht mal ein Geschenk für ihn. Er hatte es für uns gemacht. Ich war in dem ganzen Chaos nicht mal auf die Idee gekommen, dass wir etwas machen könnten. Wenn ich ehrlich war, hatte ich den Valentinstag einfach vergessen.
Einen Moment wartete er noch in der Hoffnung, dass da vielleicht doch noch etwas käme, aber ich brachte es einfach nicht fertig den Mund zu öffnen.
„Dann … dann haben wir wohl ein Date“, war alles was ich sagen konnte.
Sein Kummer legte sich so plötzlich über ihn, dass selbst ich ihn spüren konnte. „Ja, wahrscheinlich“, murmelte er schwach und wandte sich von mir ab.
Ich wollte ihm sagen, dass er nicht weggehen sollte, dass mir meine Reaktion leid tat und dass ich ihn liebte, aber stattdessen saß ich einfach nur da und schaute tatenlos dabei zu, wie er mit hängenden Schultern in den Korridor verschwand. Einen Moment später hörte ich, wie sich dir Tür zu unserem Zimmer schloss.
Eine tiefe Hoffnungslosigkeit überkam mich. Mein Verhalten, diese ganze Scheiße, es belastete ihn. Er wusste, dass irgendwas nicht stimmte, aber … wie sollte ich mit ihm darüber sprechen? Was ich getan hatte, war aus meiner Notlage heraus geschehen, ja, aber es änderte nichts an der Tatsache, dass ich es freiwillig getan hatte. Wenn ich Cio deswegen verlor … das würde ich nicht ertragen. Und dennoch wusste ich, dass es so nicht weitergehen konnte. Wenn ich mich nicht endlich dazu durchrang, mit ihm darüber zu sprechen, würde mein Schweigen unsere Beziehung ruinieren.
Aber … wie sollte ich es ihm sagen? Das war ja nun mal keine Kleinigkeit, die man mal so nebenbei erwähnen konnte. Ich war mir einfach nicht sicher, ob es besser wäre still zu sein, oder mein Schweigen endlich zu brechen. Ich war unsicher, ängstlich und … feige. Ja, ich war feige.
So konnte es nicht weitergehen.
In der kleinen Küche hörte ich Roselyn den ihren Töpfen hantieren. Chloé sagte etwas, woraufhin ihre Mutter lachte. Die beiden waren abgelenkt. Cio war alleine in unsere Zimmer.
Ich musste es tun.
Aber ich konnte nicht.
Als ich mich von der Couch erhob, war es nur um das angerichtete Desaster zu beseitigen. Langsam und bedächtig sammelte ich die Fotos und Notizen zusammen und verstaute sie wieder sorgfältig in ihrem Ordner. Dabei ging mein Blick immer wieder zum Flur und als ich fertig war, schaffte ich es nicht, mich zurück auf die Couch zu setzten. Ich stand einfach nur da, mit dem Ordner im Arm und starrte in den Flur.
Ich durfte ihn nicht länger verletzten.
Als ich den Ordner geschlossen auf dem Tisch ablegte, war ich mir nicht ganz sicher, was genau ich da tat, ich wusste nur, dass ich etwas tun musste. Ich musste … ich musste vertrauen. Und trotzdem kostete mich jeder Schritt neue Überwindung. Selbst als ich es durch den Flur geschafft hatte, stand ich bestimmt noch zwei Minuten vor unserer Zimmertür, bevor ich es überhaupt wagte die Hand auf die Klinke zu legen. Sollte ich vorher anklopfen? Würde das überhaupt einen Unterschied machen? Hinter der Tür war es so still.
Mir blieb gar nichts anderes übrig, als meinen ganzen Mut zusammenzukratzen und langsam die Tür aufzudrücken. Doch sobald ich ihn mit hängenden Schultern auf der Bettkante sitzen sah, verließ mich das bisschen Courage, dass ich hatte finden können. Ja, ich schaffte es nicht einmal über die Türschwelle zu treten.
Cio hatte mich natürlich schon längst bemerkt und wandte mir nun langsam das Gesicht zu, doch das war dann auch schon seine einzige Regung. Kein Wort kam über seine Lippen, da war nur dieser trostlose Blick, der mich wieder an das erinnerte, was gestern geschehen war. Das Messer in der Küche. Wie wir auf der Veranda gesessen hatten und nichts anderes taten, als uns aneinander zu klammern, obwohl ich all seine Fragen hatte spüren können.
Ich biss mir auf die Unterlippe und versucht nicht so feige zu sein, aber die richtigen Worte zu finden, war gar nicht so leicht. Nicht nur, dass ich keine Ahnung hatte wo ich beginnen sollte, ich würde es auch noch aussprechen müssen.
Eine Minute verging. Und noch eine. Als ich nur still dastand und nichts weiter tat als über eine möglichst unbemerkte Flucht nachzudenken, wandte er sich wieder von mir ab.
Verdammt, jetzt mach endlich den Mund auf! „Ich habe dich angelogen.“
Bei diesen Worten spannten sich seine Schultern ein wenig an. Langsam hob er den Blick, sagte aber nichts dazu.
Oh Gott, war mir in meinem Leben schon einmal etwas so schwer gefallen? Nervös begann ich an meinem Hemd herumzuzupfen, zwang mich dann aber auch sofort wieder damit aufzuhören. „Letzten Oktober, als ich … als Iesha mich entführt hat, da war … auf dieser heruntergekommenen Farm. Ich … ich habe dir erzählt, dass ich die morschen Bretter der Pferdebox herausgetreten habe und so entkommen bin, aber … das ist nicht wahr. Dort gab es keine morschen Bretter.“ Die Box war trotz der ganzen Graffitis sogar in so gutem Zustand gewesen, dass selbst ein reinrassiger Lykaner Probleme gehabt hätte, dort hinauszukommen. „Ich hab das gesagt, weil … ich konnte dir nicht die Wahrheit sagen. Bitte, ich wollte nicht lügen, aber … ich … das konnte ich dir nicht sagen.“
Cios Augen verengten sich ein wenig, als versuchte er den Grund dafür direkt aus meinem Kopf zu ziehen.
„Und jetzt …“ Mist. „Nachdem … als sie mich in die Box gesperrt hatten, saß ich da erstmal eine ganze Weile. Vorne waren drei Leute, die darauf aufpassen sollten, dass ich keine Dummheiten machte. Einer von ihnen war Wächter Owen McKinsey. Und irgendwann … also er … er öffnete die Box und kam herein und …“ Verdammt, warum musste das nur so schwer sein? „Er hat mich gepackt und gegen die Wand geschleudert und dann … bitte, ich hab versucht mich zu wehren, aber er war zu stark, ich kam nicht gegen ihn an.“
Es war geradezu erschreckend, wie sehr sich Cio auf einmal anspannte.
Mein Finger tippte nervös gegen den Türrahmen und meine Stimme wurde zu einem Flüstern, während die Bilder, die ich so sehr zu verdrängen versuchte, wieder auf mich einströmten. „Ich konnte das nicht zulassen“, sagte ich leise. „Er hat mich mit dem Gesicht gegen die Wand gedrückt und mich angefasst. Ich habe mich gewehrt, aber er hat meinen Arm verdreht und … ich musste doch etwas tun. Ich wollte es nicht, aber ich musste.“ Nun sag es einfach, dann hast du es hinter dir! „Ich hab gesagt … ich … ich musste es freiwillig machen. Ich hab gesagt, dass ich es freiwillig mache, wenn er aufhört mir wehzutun und dann … ich hab mich ausgezogen und anfassen lassen und ich …“ Scheiße!
Meine Augen begannen zu brennen und ich schaffte es nicht länger seinem Blick standzuhalten. Aber jetzt hatte ich schon angefangen, jetzt konnte ich es auch hinter mich bringen. „Ich habe ihn angefasst. Ich musste ihn ablenken und deswegen … ich wollte nicht, aber ich habe es getan und als er anfing es zu genießen … ich habe ihm die Eier so fest zusammengedrückt, wie ich nur konnte, aber er wollte nicht ohnmächtig werden. Und dann hat auch noch meine Verwandlung eingesetzt und meine Hand rutschte ab und … alles ging plötzlich so schnell. Ich habe mich dann auf ihn gestürzt und ihn den Kehlkopf zerdrückt. Dann habe ich den kleinen Jungen gepackt und bin durch das offene Boxentor abgehauen.“
So, jetzt war es raus. Meine Seele lag blank und offen vor ihm und ich konnte nicht mehr zurück.
Zwischen uns breitete sich eine scheinbar unendliche Stille aus. Ich konnte nicht erkennen was Cio dachte. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos, nur seine Hände hatten sich so sehr zusammengeballt, dass sie zitterten.
„Bitte“, sagte ich leise und konnte nicht verhindern, das meine drohenden Tränen in meiner Stimme mitschwangen. „Es tut mir leid und hätte ich nur einen anderen Weg gewusst, aber mir ist nichts eingefallen und … ich wollte das nicht, das musst du mir glauben.“
Seine Lippen wurden zu einer grimmigen Linie. Seine Atmung wurde schwerer, als müsste er sich zwingen ruhig zu bleiben. Doch dann sprang er plötzlich auf und schlug mit einem Wutschrei die Lampe vom Nachttisch herunter. Sie krachte an die gegenüberliegende Wand und zersprang in ihre Einzelteile.
Ich zuckte zusammen und spürte, wie mir eine Träne über die Wange lief, doch Cio war noch nicht fertig. Die Zerstörung der Lampe schien ihm nicht zu reichen. Er trat mit solcher Wucht gegen den kleinen Schrank, dass er nicht nur die Tür eindrückte und die halbe Seitenwand wegbrach, der Schrank kippte auch um und schlitterte durch den halben Raum. Dann packte er seine offene Tasche, wirbelte mit ihr herum und warf sie direkt durch das kleine Fenster. Die Scheibe zerbrach und ging in einem Regen aus Scherben klirrend zu Bruch ging.
Vor Schreck machte ich einen Schritt zurück und als ich dann die Wut in seinen Augen funkeln sah, konnte ich das Brennen in meinen nicht länger unterdrücken. Meine Tränen begannen einfach zu laufen. „Es tu mir leid“, flüsterte ich mit zitternder Stimme. „Bitte … es tut mir leid.“
Dieser Zorn die ihn auf einmal umgab … ich hatte es gewusst, ich hätte nichts sagen sollen, aber nun war es zu spät. Er kannte die Wahrheit und jetzt hasste er mich. Weil ich dreckig war, weil ich mit einem anderen rumgemacht und es ihm so lange verheimlicht hatte.
Als Cio die Augen zusammenkniff, als wollte er sich dazu zwingen, sich zu beruhigen, hielt ich es nicht mehr aus. Ich musste hier weg. Also tat ich das, was ich gleicht hätte tun sollen, ich wirbelte herum und trat die Fluch an.
Nur einen Moment hielt ich kurz an, als Roselyn erschrocken in den Flur gestürzt kam. Ich nahm sie kaum wahr, ich wollte einfach nur schnell hier weg. Ich nahm mir nicht mal die Zeit mir Schuhe anzuziehen, als ich zur Haustür hastete. Doch gerade in dem Augenblick, als ich nach der Klinke griff, wurde ich am Handgelenk gepackt und zurückgerissen. Im nächsten Moment wurde ich mit dem Gesicht an Cios Brust gedrückt und seine Arme schlossen sich wie Stahlklammern um mich.
„Nein!“, schrie ich und versuchte mich zu wehren, doch er ließ nicht los.
„Schhh“, machte er sanft und drehte sich mich dem Rücken gegen die Tür, als würde er mir so zusätzlich den Fluchtweg versperren wollen. „Lauf nicht weg, bitte, lauf nicht weg.“
Ich wollte mich von ihm wegdrücken, doch dann bemerkte ich, wie er am ganzen Körper zitterte.
„Es muss dir nicht leidtun“, flüsterte er. Seine Stimme klang ein wenig brüchig.. „Du hast nichts falsch gemacht, Schäfchen. Bitte, du hast nichts falsch gemacht.“
„Ich hab es freiwillig gemacht!“, schrie ich ihn an und versuchte mich von ihm loszumachen. „Ich hab es erlaubt!“
„Nein“, sagte er sofort, ohne auch nur einen Millimeter nachzugeben. „Nein, das hast du nicht. Das war nicht freiwillig.“
Das war der Moment, in dem ich haltlos in Tränen ausbrach und mich an Cio klammerte. Seine Arme waren der einzige Grund, warum ich nicht einfach auf dem Boden zusammensackte.
„Schhh“, machte er und strich mir beruhigend über den Rücken, als er merkte, dass ich nicht länger versuchte mich gegen ihn zu wehren. „Es ist gut“, murmelte er, genau wie hundert anderer Dinge, die mich beruhigen sollten. Dabei ließ er sich langsam an der Tür auf den Boden sinken, als würde er es selber nicht mehr schaffen, sich auf den Beinen zu halten. „Alles ist gut.“
Ich landete auf seinem Schoß und tat nichts anderes als zu weinen. Wegen dem was ich erlebt hatte, wegen dem mich noch immer quälte und auch wegen all dem Kummer, denn ich ihm deswegen bereitet hatte. Ich klammerte mich einfach in der Geborgenheit seiner Arme an ihm und ließ den ganzen Schmerz, der uns beide seit Monaten belastete heraus.
„Du hast alles richtig gemacht“, murmelte er und schob seine Hand in meinen Nacken. In seiner Stimme schwang ein Hauch von Tränen mit. „Der Drecksack ist tot, er hat bekommen was er verdient hat, dir kann nichts mehr passieren.“
Aber das stimmte nicht. Er war immer da, zu jeder Zeit, ob Tag oder Nacht. Genau das war ja das Problem. Er lebte in meiner Erinnerung und meinen Gedanken und wollte sich von dort einfach nicht vertreiben lassen.
„Komm Chloé“, hörte ich Roselyn leise sagen. „Wir sollten besser nach dem Essen schauen.“
Eine Tür wurde geschlossen.
Ich konnte nichts anderes tun, als mich schluchzend an Cio zu klammern. All die Qualen und jetzt weigerte er sich mich loszulassen. Ich konnte nicht mehr, ich brach völlig zusammen und nur er war der Grund, warum ich dabei nicht einfach zerbrach.
„Es tut mir so leid“, schluchzte ich und spürte wie meine Tränen sein Hemd durchnässten. „Es tut mir leid.“
Seine Umarmung wurde noch ein wenig fester. „Du hättest es mir gleich sagen sollen“, tadelte er mich leise. Seine Stimme klang ein wenig rau. „Warum nur hast du die ganze Zeit nicht mit mir gesprochen?“
Weil ich feige war, weil ich mich geschämt hatte und weil ich furchtbare Angst hatte. „Ich wollte nicht …“ Oh Gott. „Du hättest mich verlassen.“
„Nein“, widersprach er sofort. „Ich würde dich niemals verlassen, nicht deswegen.“
Aber warum nicht? Nachdem was ich getan hatte, wie konnte er mich da noch immer im Arm halten? Warum jagte er mich nicht davon? „Ich will dich nicht verlieren.“
Cio gab ein Geräusch von sich, dass sich nach einem unterdrückten Schluchzen anhörte. Sein Griff wurde so fest, dass es fast wehtat, als er mir einen Kuss auf den Kopf gab. „Du wirst mich nicht verlieren, hörst du? Ich werde immer bei dir sein, ganz egal was passiert. Ich liebe dich.“
Das gab mir den Rest. Es hatte Jahre gebraucht, bis er diese Worte das erste Mal hatte sagen können und sie jetzt in einem solchen Moment zu hören, ließ den ganzen Kummer in mir überlaufen, bis ich drohte daran zu versinken. Aber er ließ mich nicht los. Er war mein Anker, der dafür sorgte, dass ich nicht einfach davon geschwemmt werden konnte.
Es dauerte sehr lange, bis meine Schluchzer verklangen und die Tränen langsam versiegten und die ganze Zeit war er da und hielt mich schützend in seinen Armen. Immer wieder versicherte er mir, dass alles gut sei und ich nichts falsch gemacht hätte – außer vielleicht, dass ich so lange geschwiegen hatte.
„Ich hatte Angst, dass du mich verlässt“, flüsterte ich und spürte, wie mir bei diesen Worten wieder die Tränen in die Augen stiegen. „Es war meine Idee. Ich hab ihm gesagt, ich mache es freiwillig, wenn er …“
„Das war nicht freiwillig“, betonte er erneut und löste sich so weit von mir, dass er mir ins Gesicht schauen konnte. Auch seine Augen waren ein wenig gerötet. „Er hat dir keine Wahl gelassen. Und wenn du hättest noch weiter gehen um dich zu schützen, wäre es in Ordnung gewesen. Du hast alles richtig gemacht.“
„Aber als das mit Tayfun im letzten Jahr passiert ist …“
„Da habe ich falsch reagiert.“ Er hob eine Hand und versuchte die Tränen von meiner Wange zu wischen, ohne mir dabei die Brille von der Nase zu hauen. „Und das hier ist etwas völlig anderes.“
Ich kniff die Augen zusammen.
„Schäfchen, sieh mich an.“
Es dauerte einen kurzen Moment, bis ich dieser Aufforderung nachkommen konnte.
„Ich liebe dich“, sagte er und schaute mir dabei direkt in die Augen. „Ich werde dich nicht verlassen und du brauchst dich für nichts zu schämen.“
„Aber …“
„Nein, kein aber. Hier, pass auf.“ Als er sein Gewicht leicht verlagerte, um an seine Hosentasche zu kommen, richtete ich mich ein wenig auf und versuchte mir selber die Wangen mit der Hand trocken zu wischen.
Keine Ahnung was genau ich in diesem Moment erwartete, aber mit Sicherheit nicht das, was er aus seiner Hosentasche zog und mir dann mit geöffneter Handfläche hinhielt. Ein silberner Ring mit einem kleinen Diamanten, der in die Fassung einer sich öffnenden Rose eingearbeitet war. Der Ring hing an einem geflochtenen Lederband.
„Du hast den Verschluss reparieren lassen.“
Er lächelte vorsichtig. „Das habe ich gleich am nächsten Tag erledigt“, erklärte er mir und wiegte dabei Ring und Kette in seiner Hand. „Ich hatte überlegt ihn dir am Valentinstag wiederzugeben, aber jetzt …“ Er ließ den Satz offen verklingen und einen Moment macht sich in mir die Angst breit, dass er ihn mir gar nicht mehr geben wollte. Doch dann hielt er mir die Hand hin. „Ich weiß, dass ich schon zwei Mal gefragt habe und auch schon zwei Mal ein Ja von dir bekommen habe, aber wie sagt man so schön? Aller guten Dinge sind drei. Deswegen würde ich von dir gerne noch einmal wissen: Würdest du mit mir den Rest deines Lebens verbringen, auch wenn ich vermutlich immer eine Niete in der Küche sein werde?“
Ich konnte es kaum fassen, aber ich begann wirklich zu lächeln. Er hatte all das von mir gehört und er wollte trotzdem noch mein Gefährte werden. „Wir könnten dich bei einem Kochkurs anmelden.“
„Dann sollten wir uns aber vorher versichern lassen – nur für den Notfall, du weiß schon, falls ich die ganze Küche abfackle und der Kursleiter mich verklagt.“
Mein Lächeln fiel wieder ein wenig in sich zusammen. „Willst du das wirklich? Trotz … allem?“
„Ja.“ Schlicht und direkt.
Ich konnte nicht anders, als die Arme um seinen Hals zu schlingen und mich an ihn zu klammern. „Ja“, sagte ich. Wahrscheinlich hatte er keine Ahnung, was es mir bedeutete. Er wies mich nicht zurück, er wollte mich noch immer. „Du bekommst auch beim dritten Mal ein Ja.“
Auch er nahm mich in den Arm. „Damit machst du mich ein weiteres Mal zum glücklichsten Mann auf der Welt.“
Dieser Moment war irgendwie surreal. Er wusste alles und wollte mich trotzdem noch. „Womit habe ich dich nur verdient?“
„Vielleicht warst du in einem früheren Leben einmal sehr unartig.“
Das entlockte mir tatsächlich ein kleines Lachen. „Wenn du der Preis dafür bist, wenn ich unartig bin, werde ich wohl ein ziemlich unartiges Mädchen werden müssen.“
Dieses Mal lachte er. Aber es war nicht von Dauer. Seine Arme schlossen sich wieder fester um mich, als hätte er Angst mich sonst zu verlieren. „Es tut mir so leid“, flüsterte er. „Ich hab es einfach nicht verstanden. Ich dachte die ganze Zeit … ich weiß nicht, dass sie dich geschlagen hätten. Als ich dich fand warst du so verängstigt. Du warst verletzt und überall mit blauen Flecken und Schürfwunden übersät. Ich habe einfach angenommen … Gott, ich bin so dumm.“
Nein das war er nicht. So wie ich die Geschichte dargestellt hatte, musste er zu diesem Schluss kommen. Er konnte nicht wissen, dass die ganzen Kratzer und Blutergüsse von der Jagd durch den Wald stammten und dem Moment, als Iesha und ihre Leute versucht hatten mich aus dem alten Dachsbau zu ziehen. Ich hatte gewollt, dass jeder dachte, sie hätten mich geschlagen, denn das war einfacher gewesen, als ihnen die Wahrheit zu sagen.
„Wenn ich nur früher da gewesen wäre. Wenn ich nur nicht so begriffsstutzig gewesen wäre und …“
„Du hast mir das Leben gerettet“, unterbrach ich ihn. „Ohne dich wäre ich heute nicht mehr hier.“
Dazu sagte er nichts und das machte mir deutlicher als es Worte hätten tun können, dass er sich ernstlich die Schuld daran gab.
Ich löste mich von ihm. „Du warst da, als ich dich brauchte.“ Als ich seine Hand nahm und sie auf meinen Bauch legte, senkte er den Blick darauf. Der Ring drückte gegen meinen Pulli. „Du warst da, als wir dich brauchten. Ohne dich wären wir nicht mehr hier.“ Nicht ich und auch nicht der kleine Passagier. Das war die ganze Wahrheit.
„Dann bin ich ja ein richtiger Held.“
„Du warst schon immer mein Held.“ Jetzt noch mehr als jemals zuvor. Natürlich, mir war klar, dass unsere Probleme nicht einfach verschwanden, nur weil er jetzt die Wahrheit kannte, aber der Unterschied zu vorher war, dass es nun keine Geheimnisse mir zwischen uns gab und er trotzdem noch hier war. „Und du wirst immer mein Held sein.“
Als Cio vorsichtig seine Hände von mir frei machte und an meinen Hals griff, hielt ich ganz still. Er zog an der Kette, bis der Verschluss vorne war und mit ein bisschen Fummeln gelang es ihm sie mir abzunehmen, um sie durch die Richtige zu ersetzen.
Als der kleine Silberring an meinem Dekolleté zum Ruhen kam, durchflutete mich ein Glücksgefühl, wie schon lange nicht mehr. Hier gehörte er hin, dieses kleine Zeichen eines Versprechens und der Liebe zwischen Cio und mir. „Ich liebe dich“, flüsterte ich.
Cio griff nach meinem Gesicht und nahm mir vorsichtig die Brille ab. „Ich habe es vermisst, dass zu hören“, erwiderte er genauso leise und streifte meine Lippen vorsichtig mit meine. „Du hast das schon so lange nicht mehr gesagt.“
„Es tut mir leid.“
Meine Entschuldigung wurde wurde von seinem Kuss verschluckt. Er war nicht aufdringlich oder drängend, es war einfach nur eine zarte Berührung, die ich bis tief in meine Seele spüren konnte.
Ich hatte das schon oft gefühlt und noch nie genug davon bekommen, doch dieses Mal war es wie schon lange nicht mehr. Da waren keine Geheimnisse mehr zwischen uns, keine Lügen und Halbwahrheiten. Meine schlimmsten Ängste lange blank vor ihm, doch er nutzte sie nicht um mich zu zerstören, sondern um das was uns einmal verbunden hatte von Grund auf zu erneuern.
Oh Gott, ich liebte ihn so sehr, dass es fast schmerzte.
Vorsichtig berührten Cios Finger den Ring. Dabei streiften seine Finger meine Haut. Für ihn war dieser Moment nicht weniger kostbar als für mich. Auch er musste sich versichern, dass alles in Ordnung war, oder, naja, irgendwann wieder in Ordnung sein könnte.
Als er seine Hand jedoch höher schob und sanft die zarte Haut an meinem Hals liebkoste, keimte wieder dieser Hauch von Angst, der mich immer in dann überfiel, wenn die Erinnerung an dieser schrecklichen Vorfall wieder das Kommando übernehmen wollte.
Schon ganz automatisch spannte sich mein Körper an, doch ich versuchte mir wie immer nichts anmerken zu lassen. Ich wollte diesen Moment nicht kaputt machen, aber Cio hatte es natürlich gemerkt.
Er ließ mich nicht los, aber er löste den Kuss, als er seine Stirn gegen meine lehnte. „Was mache ich falsch?“, fragte er mich leise.
Er? Fast hätte ich gelacht, aber das hier war nicht lustig, nicht mal im Ansatz. „Nichts. Du kannst nichts dafür. Es ist …“ Ich senkte den Blick.
„Es ist was?“
Wie sollte ich ihm das sagen? Wie konnte man das erklären? Wenn ich ihm sagte, dass es seine Berührungen waren, die mir Angst machten, würde ihn das verletzten. Und er machte ja auch nichts falsches, es lag ausschließlich an mir.
„Schäfchen?“
Man sollte glauben, jetzt wo er die Wahrheit wusste, würde es mir leichter fallen darüber zu sprechen, aber dem war nicht so. Tayfun hatte zu mir gesagt, mit der Zeit würde es leichter werden, doch er hatte vergessen zu erwähnen, dass ich mich dabei eher auf einen Marathon, als auf einen Sprint einstellen sollte.
Ach ja, da gab es vielleicht doch noch eine Kleinigkeit, die ich erwähnen sollte. „Tayfun was es.“
Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Was?“
„Es war … als er bei uns war. Er hat verstanden, warum ich vor dir … warum ich immer so …“
„Warum du immer vor mir zurückgeschreckt bist.“
„Ja.“ Obwohl es ja nicht nur bei ihm war. Aber er war eben der, der mich am Häufigsten berührte, also fiel es bei ihm umso mehr auf. „Er hat verstanden, dass etwas passiert war, aber er dachte, du seist es gewesen. Ich musste es ihm sagen, damit er nicht denkt, dass du es warst. Du würdest sowas niemals tun.“
Es war ihm anzusehen, dass er dem Vampir allein für die Vermutung, er könnte mir etwas antun, am liebsten den Kopf abgerissen hätte. Aber er beschränkte sich auf ein: „Nein, würde ich nicht“ und zog mich in seine Arme. „Ich würde dir niemals etwas tun.“
„Ich weiß.“
Gott, im Moment war alles so falsch. Selbst die Dinge die sich noch richtig anfühlten, waren von der Realität verzerrt worden. Und das alles nur, weil es da eine Frau gab, die etwas wollte, was sie nicht haben konnte. Meinen Mann. Sie konnte Cio nicht haben, er gehörte mir. Heute, morgen und immer.
Meine Finger krallten sich besitzergreifend in sein Hemd. Cio reagierte sofort darauf, indem er mir beruhigend über den Rücken strich.
Als Cio leise lachte, schaute ich verwundert zu ihm auf und fragte mich, ob er sich gerade über mich lustig machte. „Was ist?“
„Jetzt haben wir beide unsere Valentinsgeschenke schon früher bekommen.“ Er schmunzelte mich an. „Jetzt muss ich dir auch ein T-Shirt kaufen.“
Wie schaffte es nur immer, mich selbst in solchen Momenten zum Lächeln zu bringen?
Als es an der Tür vom Wohnzimmer zum Flur klopfte, stand ich nicht auf, drehte aber den Kopf. Erst jetzt wurde mir wirklich bewusst, dass wir noch immer im Flur vor der Haustür saßen. Und auch, dass hier ein ziemlich frisches Lüftchen wehte.
„Ja?“, fragte Cio.
Roselyn steckte erst nur den Kopf in den Flur und als sie uns da sitzen sah, schlüpfte sie ganz hindurch. „Ich wollte nur sehen, ob mit euch alles in Ordnung ist.“
Cios Arme schlossen sich ein wenig fester um mich. „Entschuldige bitte, wir wollten dich nicht stören.“
Sie musterte uns und ihr musste sehr wohl aufgehen, wie verheult ich aussah. Also drehte ich das Gesicht einfach wieder an Cios Brust und verbarg mich bei ihm, als er mir schützend eine Hand auf den Hinterkopf legte.
„Geht es euch beiden denn gut?“
Nein, nicht wirklich, aber das würde sich hoffentlich bald ändern.
„Mit uns ist alles in Ordnung“, sagte Cio. „Allerdings … ich habe deine Lampe und dein Nachtschränkchen kaputt gemacht.“ Er zögerte. „Und meine Tasche durch dein Fenster geworfen.“
Ah, stimmte ja. Das erklärte zumindest die kalte Luft.
Cio seufzte. „Es tut mir leid, ich werde dir den Schaden ersetzen. Es wird nicht mehr vorkommen.“
„Das erklärt zumindest den Lärm, den ich gehört habe“, erwiderte sie schlicht.
„Et tut mir leid.“
„Schon okay.“ Sie atmete einmal tief durch, als fragte sie sich, was sie mit uns anstellen sollte. „In Ordnung. Am Besten ihr kommt erstmal essen. Dann besorgen wir eine Plane um das Fenster abzudichten und machen sauber.“
Cio lächelte schwach. „Bei der Gelegenheit sollte ich vermutlich auch meine Sachen wieder einsammeln. Sonst laufe ich demnächst nackt durch die Gegend.“
Nicht das das unbedingt etwas schlechtes wäre. Aber da Shiva hier auch noch rumrannte, war das wahrscheinlich wirklich das Beste was wir tun konnten. Wir wollen sie ja nicht auf falsche Ideen bringen.
°°°
Kalter Wind strich um das Haus und veranlasste mich, meine Hände fröstelnd in meine Ärmel zu ziehen. Selbst die alte Holzbank auf der Veranda vor dem Haupthaus war kalt und langsam befürchtete ich, Frostbeulen am Hintern zu bekommen, doch ich wollte nicht hinein gehen. Da Kiara sicher erst später abreisen würde,war die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich noch drinnen aufhielt sehr hoch und im Moment hatte ich einfach nicht die Kraft für eine Begegnung mit ihr.
Die Nacht war lang gewesen. Und ziemlich kalt, obwohl ich sie in Cio Armen verbracht hatte. Das kaputte Fenster hatten wir nur notdürftig mit einer dicken Plane abdichten können und selbst der Stapel Decken, den Roselyn uns noch zusätzlich gegeben hatte, hatte nur begrenzt geholfen.
Es war nicht wichtig, da wir beide sowieso nur wenig geschlafen hatten. Wir hatten ein wenig geredet, aber dieses Thema war … brisant, sodass wir die meiste Zeit nur schweigen beieinander gelegen hatten und unseren eigenen Gedanken nachhingen.
Ich wusste einfach nicht, wie ich über das was geschehen war und was es aus mir gemacht hatte, sprechen sollte und Cio traute sich nicht nachzufragen aus Angst, etwas falsches zu sagen. Ja, ich hatte endlich diesen Schritt gewagt, aber es würde noch ein weiter Weg bis ans Ziel sein – falls wir es überhaupt erreichen würden.
Super, das war jetzt genau das was ich brauchte, noch mehr negative Gedanken.
Seufzend verschränkte ich die Arme gegen die Kälte vor der Brust und beobachtete Ferox, der gerade auf die Sträucher vor der Brüstung pinkelte. „Lass das bloß nicht Ayko sehen, der zieht dir die Ohren lang.“
Bei meiner Stimme hob Ferox neugierig die Ohren und sobald er fertig war, stellte er sich an der Brüstung auf und winselte mich an.
„Was ist los, was willst du?“
Noch ein Winseln. Dann stieß er sich mit den Hinterbeinen ab und im nächsten Moment stand er oben auf der Brüstung drauf. Okay.
„Dir ist aber schon bewusst, dass du keine Katze bist, oder?“
Ob ihn das nun bewusst war oder nicht, er freute sich, dass ich mit ihm sprach. Sein ganzer Hintern wackelte, als er den kleinen Stummel daran freudig hin und her schlug. Das war dabei nicht das Gleichgewicht verlor und auf den Boden klatschte, wunderte mich wirklich.
„Was machst du denn da oben?“
Er gab ein leises „Wuff“ von sich, senkte dann die Nase und begann die Brüstung neugierig zu beschnüffeln.
Wenn ich das richtig verstand, vertrieb er sich einfach die Langeweile mit seinem Unsinn. Die Leute hatten keine Lust mehr ihm hinterher zu jagen und Wald gab es hier nicht, weswegen er auch nicht dort herumstromern konnte.
„Pass bloß auf, dass du dir nichts brichst. Wir waren gerade erst in der Tierklinik, falls du dich erinnerst.“
Ich wusste nicht ob er irgendwas von meinen Worten verstand, aber bei dem Wort Tierklinik, hob er den Kopf wieder und schaute mich an. Ein kleines Winseln kam aus seiner Kehle. Dann maß er die Tiefe zum Verandaboden, sprang herunter und lief zu mir.
Da er mit den Worten Privatsphäre und aufdringlich nichts anfangen konnte, hüpfte er direkt zu mir auf die Bank und drückte seinen Kopf mit so viel Schwund gegen meinen, dass es ein Tock gab.
„Hey“, beschwerte ich mich und griff nach ihm, doch bevor ich ihn wieder runterschieben konnte, strömte eine ganze Flut von Bildern in meinen Kopf. Der Garten meines Vaters, die Bäume vor dem Zaun, Cio und ich die Nachts mit ihm durch die Wälder jagten. Ich sah Mama in ihrer Panthergestalt durch den Garten schleichen und Papa, der auf der Veranda stand und sich von Ferox Knurren nicht beeindrucken ließ. Dass alles wurde von einem überwältigenden Gefühl wie Heimweh begleitet. Ferox fand es hier lustig, aber es war alles so fremd.
„Du willst nach Hause, was mein Süßer?“ Ich lehnte mich wieder ein wenig zurück und strich ihm durch das graue Fell.
Er winselte.
„Ich weiß, aber wir müssen noch ein wenig hier bleiben.“
Schritte auf dem Gehweg, ließen mich den Kopf drehen. Nathan und Cooper nährten sich den Haupthaus. Wahrscheinlich wollten sie zum Frühstück.
Ferox winselte wieder.
„Ach nun übertreib aber mal nicht, so schlimm ist es hier doch gar nicht.“
Auf den Stufen der Veranda verzog Nathan seine Lippen zu einem Lächeln. „Manche würden ja behaupten, Leute die mit ihren Tieren sprechen seien verrückt.“
„Es ist ja auch verrückt. Ausgenommen sind natürlich die, deren Tiere auch antworten.“
Nathan blieb grinsend stehen und richtete sein Gesicht in meine Richtung. Cooper ging noch zwei Schritte weiter, bevor er es merkte und selber anhielt. Er machte weniger den Eindruck sich mit mir unterhalten zu wollen, er schien Nathan nicht aus den Augen lassen zu können.
„Es stimmt also wirklich?“, fragte der blinde Mann. „Er kann sprechen? Keenan hat sowas behauptet.“
„Es ist weniger sprechen“, erklärte ich und strich dem Wilden über den Kopf. „Er kann durch seine Gedanken Bilder und Gefühle in die Köpfe anderer Leute projizieren.“
„Also zeigt er anderen Leuten einen Film?“
„Manchmal. Manchmal sind es aber auch nur Standbilder. Es ist nicht immer ganz einfach zu verstehen, was er möchte, denn er denkt in manchen Dingen anders. Cio hat mal sein Wurstbrot mir ihm geteilt und ein paar Tage später kam Ferox an und zeigte mir dieses Brot. Ich dachte er möchte eines, also hab ich ihm eins gemacht. Er hat es nicht gefressen, zeigte mir aber immer wieder das Brot.“
„Und was wollte er?“
„Er wollte mit Cio kuscheln?“
Nahan runzelte die Stirn. „Wie kommt er denn von dem einen auf das andere?“
„Cio hat ihm das Brot gegeben.“
Er lachte. „Na darauf muss man erstmal kommen. Und wo wir schon mal beim Thema sind, wo steckt er überhaupt? Ihr seid doch sonst unzertrennlich.“
„Er ist drinnen und holt was zum Frühstücken.“ Roselyns Kühlschrank war leider ziemlich leer gewesen. „Er müsste gleich wieder hier sein.“
„Warum Frühstückt ihr denn nicht drinnen?“
Ich öffnete den Mund, sagte aber kein Wort, denn in dem Moment ging die Tür zum Haupthaus auf und die Antwort kam mit ihrem großen Rollkoffer aus dem Haus spaziert.
Als erstes bemerkte Kiara Cooper und begann zu lächeln, doch dann sah sie mich mit Ferox auf der Bank sitzen und etwas Bösartiges begann in ihren Augen zu funkeln. Wirklich, anders konnte man das war nicht sagen.
Mit einem „Hey!“, ließ sie ihren Koffer stehen und umarmte Cooper, als sei er ein alter Freund, den sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. „Schön das ich euch noch treffe, so kann ich mich noch verabschieden.“
Cooper sah nicht so aus, als würde er sich über ihren Überschwang freuen, ließ es aber über sich ergehen.
„Du fährst schon wieder?“, fragte Nathan.
Sie seufzte übertrieben leidig. „Die Arbeit. Du weiß ja sicher wie das ist. Im Gegenteil zu manch anderen hier.“
Was zur …! Ich biss die Zähne zusammen.
„Und wann beehrst du uns wieder?“
„Großmutter hat mich zum Osterfest eingeladen.“ Sie schnappte sich ihren Koffer und rollte damit hinüber zu Nathan. „Vielleicht werde ich euch auch schon früher besuchen. Ich bin hier schließlich immer willkommen.“
Cooper gab ein Schnauben von sich und verschwand ins Haus. Er hatte wohl keine Lust mehr sich das anzuhören.
Ich hätte es ihm gerne gleichgetan, aber ich wollte mich nicht davonzuschleichen. Wegen ihr war ich schon hier draußen geblieben, irgendwann war auch mal genug.
„Also ich freue mich auf jeden Fall immer, wenn du uns besuchst.“ Nathan legte meiner Schwester einen Arm um die Schulter und drückte sie kurz an sich. „Aber es würde sicher nicht schaden, wenn du hin und wieder ein Geschenk für mich mitbringen würdest.“
Sie lachte, als hätte er einen urkomischen Witz gemacht. „Ich werde es mir merken. Aber jetzt muss ich erstmal los. Wir sehen uns.“
„In meinem Fall wohl er nicht.“
Sie lachte wieder, griff ihren Koffer fester und ging mit ihm dann die Treppe hinunter. Unten jedoch hielt sie noch einmal an und drehte sich wieder zu ihm um. „Und eins noch: Komm Zaira besser nicht zu nahe. Ihre Freunde haben die dumme Angewohnheit umgebracht zu werden.“ Sie kehrte uns wieder den Rücken. „Au revoir!“, rief sie noch mit einem Winken, doch da war ich bereits hochgefahren und rannte praktisch die Stufen der Veranda hinunter.
Es war ein Impuls. Die Wut war so plötzlich da, dass ich einfach nicht anders konnte, denn das war eine Sache, über die man keine Scherze machte.
Keine Ahnung ob sie mich kommen hörte. Es schien ihr egal zu sein, den sie ignorierte mich einfach. Deswegen sah sie auch nicht kommen, wie ich wütend die Arme nach ihr ausstreckte und ihr eine Stoß versetzte, bei dem sie nicht nur nach vorne stolperte, sondern auch noch ihren Koffer aus dem Griff verlor.
Kiara brauchte eine Sekunde um sich zu fangen, doch dann wirbelte sie extrem wütend zu mir herum und funkelte mich an. „Spinnst du?“
„Ich? Das könnte ich genauso gut dich fragen! Was ist dein verfluchtes Problem?!“
Ein paar Leute, die gerade zum Frühstück wollten, blieben stehen, als ich meine Schwester anschrie. Es war mir egal.
„Was mein verfluchtes Problem ist?“ Sie warf einen kurzen Blick zu Nathan, als wollte sie sichergehen, dass er uns zuhörte. „Du bist es! Du bist mein verfluchtes Problem! Du bist wie ein Krebsgeschwür, machst dich überall breit und zerstörst alles, was du berührst! Ich war eine verdammt Prinzessin, mit einer strahlenden Zukunft! Jeder hat mich geliebt, ich war das Goldkind des Rudels und dann kamst du daher und hast alles kaputt gemacht!“
Was zur Hölle … „Ich?!“ Wie kam sie denn jetzt da drauf?
„Tu doch nicht so!“, fuhr sie mich an. „Alles lief bestens, doch kaum bist du da, bin ich plötzlich eine Missgeburt, meine Mutter wird vom Thron gestürzt und ich muss um mein Leben laufen! Du hast mir alles genommen! Für dich dagegen lief alles Bestens! Du hast einen Mann der dich über alles liebt und für dich sterben würde! Ihr wollt heiraten und ihr bekommt ein Baby! Ich kann keine Babys bekommen und daran bist du schuld, denn nur wegen dir kam der Amor-Killer in unser Haus!“
Das traf mich unvorbereitet. Nicht einmal Ferox, der an meine Seite schlich als wollte er mich im Norfall schützen, konnte mich vor diesem Schlag bewahren.
„Mir ist nichts mehr geblieben und dafür bist du verantwortlich!“ Sie funkelte mich mit einer Wut an, die ihre Seele zu verzehren drohte. „Und jetzt geht die Scheiße schon wieder los! Wegen dir leidet Aric, denn nur wegen dir wurde Kasper angeschossen! Und nur wegen dir wurde Tayfun zusammengeschlagen! Tu uns allen ein Gefallen und lass dich endlich von Iesha umbringen, damit wir alle in Ruhe weiterleben können!“
„Kiara!“ Cio stürmte aus dem Haus und drückte die Teller in seiner Hand einfach dem nächstältesten in die Hand. Er musste gehört haben was Kiara gesagt hatte, denn er sah aus, als wollte er meiner Schwester den Kopf von den Schultern reißen.
„Nein“, sagte ich und eilte zu ihm, um ihn aufzuhalten, doch Cio nahm einfach meinen Arm und schob mich zur Seite. „Cio!“
„Ich habe deine Scheiße endgültig satt!“, fauchte er, als er auf sie zuhielt.
Kiara wich nicht zurück, aber einen Moment wirkte sie, als hätte sie es gerne getan.
„Cio!“, rief ich wieder, packte ihn am Arm und versuchte ihn zurückzuhalten. Ich wusste genau, dass es mir nur gelang, weil er es zuließ.
„Seit vier Jahren höre ich mir diesen Mist von dir inzwischen an, ohne etwas dazu zu sagen und das auch nur, weil du ihre verdammte Schwester bist und sie mich gebeten hat, mich da rauszuhalten, aber jetzt gehst du zu weit! Wenn dein Leben beschissen ist, ist das deine eigene Schuld, Zaira kann ganz sicher nichts dafür!“
„Ach nein?! Mach doch mal die Augen auf! Sie hat dir den Kopf so verdreht, dass du nicht einmal mehr geradeaus sehen kannst! Und ich verstehe nicht einmal warum. Fickt sie so gut? Wahrscheinlich lutscht sie deinen Schwanz so oft, dass dir das Hirn schon in die Hose gerutscht ist!“
Es war schon erstaunlich, wie laut entsetztes Schweigen klingen konnte.
Cio knurrte leise. „Du solltest aufpassen, was du sagst.“
„Warum, kannst du die Wahrheit nicht ertragen? Du musst es doch selber einsehen, als sie auf der Bildfläche erschien, ist alles den Bauch runtergegangen!“
Cio sah aus, als könnte er nicht glauben, was er da hörte. „Nicht ich bin es, der hier die Augen aufmachen muss, sondern du! Zaira ist nicht aufmerksamkeitsheischend in den Hof gestürmt, hat mit den Armen gewedelt und laut gerufen, dass sie ein Misto ist und Cayenne ihre Mutter! Im Gegensatz zu dir, weiß sie was Zurückhaltung bedeutet und muss sich nicht immer in den Mittelpunkt spielen – das ist etwas, dass nur du tust! Und wenn du mal ein wenig nachdenken würdest, würde dir vielleicht klar werden, dass das alles auch ohne Zaira passiert wäre!“
Sie schnaubte.
Das schien Cio erst richtig sauer zu machen. „Wer war es, der Cayennes Lebensgeschichte aufgeschrieben hat?!“, fauchte er sie an. „Sydney! Wer hat die Bücher geklaut? Xaverine! Wer verriet Cayennes Geheimnis? Königin Sadrija! Das alles wäre auch geschehen, wenn Zaira nicht aufgetaucht wäre! Und als es dann geschah, was machst du? Du rettest dich in einen kleinen Bunker und sitzt es dort aus, bis andere die ganze Scheiße geregelt haben! Weißt du was Zaira gemacht hat?! Sie ist mit mir in das verdammte Schloss geschlichen, direkt ins Herz des Feindes und hat geholfen, die Sache zu beenden! Sie wurde niedergeschlagen, angeschossen und musste dabei zusehen, wie man ihren Vater gefoltert hat! Sie stellte sich direkt vor Cerberus, um ihre Eltern zu schützen, sie hat versucht Aric zu helfen, als er gegen Cerberus antrat und hat ihre Mutter vor den Fängen der Ailuranthropen gerettet! Und das alles, während du in deinem Bunker gesessen und rumgeheult hast, weil die bösen Buben dir deine Krone geklaut haben!“
Mit jedem Wort war Kiara ein wenig blasser geworden, aber nun kehrt ihre Wut mit einem Schlag zurück. „Du kannst es drehen, wie du willst, aber sie bringt trotzdem Unglück! Nur wegen ihr gab es den Amor-Killer! Wäre sie nicht gewesen, wärst du heute noch immer glücklich mit Iesha zusammen und nichts von allem wäre passiert! Es sind dutzende von Leuten gestorben und das ist allein ihr Verdienst!“
„Das glaubst du?“ Cio gab ein ungläubiges Lachen von sich. Es klang nicht sehr freundlich. „Als Zaira auftauchte, war die Beziehung zu Iesha schon so gut wie beendet. Sie hat mir Aric gefickt, wusstest du das? Zwischen Iesha und mir hat es nur noch Wut und Misstrauen gegeben, aber das hast du natürlich nicht mitbekommen, weil du viel zu sehr damit beschäftigt warst, dich von allen verhätscheln und auf ein Podest stellen zu lassen. Du hast Zaira von Anfang an nicht leiden können, weil du plötzlich nicht mehr im Mitpunkt gestanden hast und du es einfach nicht ertragen kannst, wenn die Welt sich nicht allein um dich dreht.“
„Du laberst Scheiße! Ich kann sie nicht leiden, weil sie den Amor-Killer in unser Haus gebracht hat und ich nun niemals ein Baby haben werde!“
„Du warst schwanger!“, fauchte Cio und machte einen wütenden Schritt auf sie zu. Es fiel mir nicht ganz leicht, ihn zurückzuhalten. Und von den Leuten, die sich mittlerweile schweigend um uns versammelt hatten, schien keiner gewillt, einzugreifen. Nicht mal Ayko oder Celine, die aus dem Haus aufgetaucht waren. Sie standen nur still daneben. Entweder weil sie neugierig waren, oder, um eingreifen zu können, falls es nötig sein würde. Ich schätzte ein wenig von beidem.
„Du warst zu dumm ein Kondom zu benutzen und hast dann versucht mit Zairas Hilfe heimlich abzutreiben, weil du das Baby nicht wolltest!“, fauchte Cio sie an. „Das Einzige, was man Zaira vorwerfen kann, ist, dass sie naiv war. Sie wollte dir helfen, weil sie gehofft hat, dass sich dadurch etwas zwischen euch ändern würde, doch du hast sie nur ausgenutzt und dabei auch noch in Kauf genommen, dass meine Beziehung zu ihr in die Brüche geht! Bis heute bist du noch noch mal auf die Idee gekommen, dich dafür bei mir oder ihr zu entschuldigen! Warum auch? Es betraf ja weder dich noch dein Leben! Und wäre Zaira von der Bildfläche verschwunden, umso besser für dich! Immer geht es nur um dich!“
„Es geht hier nicht um mich! Es geht darum, dass sie deine Ex zu einer Mörderin gemacht und mir damit meine Zukunft genommen hat! Nur wegen ihr gab es den Amor Killer!“
„Den Amor-Killer hat Iesha geschaffen, weil sie gestört ist! Sie hat ihre Mutter getötet, weil die sie in die Psychiatrie eingewiesen hat! Sie wollte Cayenne töten, weil sie Zairas Mutter ist! Sie wollte Zaira töten, weil sie in ihr jemanden gefunden hat, denn sie für ihre eigenen Fehler verantwortlich machen konnte! Diese ganze Mistoscheiße war nichts weiter, als ein Rachefeldzug, mit dem sie ihre wahren Absichten verschleiert hat! Sie wollte alle bestrafen, die ihr ihrer Meinung nach ein Leid angetan haben! Iesha ist krank! Sie hat diese Leute getötet, weil es ihr Spaß macht!“
„Iesha war meine Freundin! Zaira hat aus ihr dieses Monster gemacht!“
„Iesha war schon immer ein Monster, wir waren nur zu blind es zu sehen! Zaira hat uns die Augen geöffnet und das ist die Wahrheit, nur kannst du sie scheinbar nicht ertragen!“
„Die Wahrheit? Du willst die Wahrheit? Hier hast du sie: Nur wegen ihr ist Rouven tot! Erst hat sie ihn in Verruf gebracht und dann hat sie ihn erschossen!“
Cio sah aus, als würde er gleich einen Mord begehen. „Rouven war ein rassistischer Mistkerl, der den Tod verdient! Als Zaira ihn beschuldigte, hätte er mit Sadrija reden können, um alles klarzustellen, stattdessen hat er sie entführt und versucht sie zu töten! Er hat ihr keine Wahl gelassen! Hätte sie ihn nicht erschossen, hätte er sie umgebracht! Verstehst du das überhaupt?! Deine Zwillingsschwester hätte tot sein können! Nach diesem Vorfall hast du dich nicht mal nach ihr erkundigt und gefragt, ob es ihr gut geht und trotzdem hat sie immer noch darauf gehofft, eine Beziehung zu dir aufbauen zu können! Sie hat dich zu unserer verfluchten Hochzeit eingeladen, sie wollte dich trotz allem dabei haben, aber bist du gekommen? Nein! Du hast nicht mal den Schneid aufgebracht uns zu sagen, dass du nicht auftauchen würdest! Warum auch, es war ja nicht deine Hochzeit! Und was passierte, als Iesha sie entführen ließ? Du hast nicht mal deine Hilfe angeboten!“
„Ich war bei Aric im Krankenhaus, er wurde wegen ihr verletzt!“
„Er wurde verletzt, weil Ieshas Gefühle während ihres Klinikaufenthalts zu einer Obsession geworden sind und sie nicht mehr klar denken kann! Sie liebt mich nicht, sie will mich nur haben, weil sie glaubt, ihr Leben würde dann wieder in Ordnung kommen! Und während du sicher im Krankenhaus gesessen und darüber lamentiert hast, wie ungerecht die Welt doch zu dem armen, kleinen Goldkind ist, hat deine Schwester schon wieder um ihr Leben gekämpft! Hat dich das interessiert? Nein! Es hat dich nicht interessiert, dass sie in Gefahr war! Es hat dich nicht interessiert, dass sie jeden Moment sterben könnte! Es hat dich nicht interessiert, dass sie unter Einsatz ihres Lebens einen kleinen Jungen vor einer Horde durchgeknallter Fanatiker gerettet hat! Und es hat dich auch nicht interessiert, dass dieser Scheißkerl Owen …“
„Cio!“ Ich zerrte so heftig an seinem Arm, dass er sich nicht nur im Satz unterbrach, sondern er auch noch halb zu mir herumgewirbelt wurde. Ich war nicht begeistert davon, dass er seiner Wut freien Lauf ließ, aber das war etwas, das absolut nicht hier her gehörte. Das brauchte ich ihm nicht sagen, ein Blick von mir reichte und er verstand.
Seine Lippen wurden ein wenig schmaler. Er war noch immer zornig, als er sich ihr wieder zuwandte. „Solange es nicht um dich geht, interessiert dich gar nichts. Du bist der absolut egoistischste Mensch, der mir in meinem ganzen Leben begegnet ist.“
Das saß. Es war ihr genau anzusehen, wie sie sich nach diesen Worten von ihm distanzierte. „Ja, im Gegensatz zu deiner kleinen Heldin, die ja so aufopferungsvoll und edelmütig ist. Wir sollten ihr zu Ehren einen Tempel errichten und ihr jeden Sonntag huldigen.“
Er schüttelte den Kopf, als könnte er einfach nicht glauben, was er da hörte. „Und genau das ist der Unterschied zwischen euch. Zaira ist eine Heldin, doch trotz allem was sie getan hat, würde sie niemals auf die Idee kommen, sich dafür lobpreisen zu lassen. Sie tut, was sie für richtig hält, ohne darüber nachzudenken, welche Vorteile ihr das einbringen könnte. Sie tut es einfach, weil es richtig ist. Du dagegen möchtest, dass die Leute dich anbeten, obwohl du nichts für sie getan hast. Du wurdest mit einem goldenen Löffel im Mund geboren und warst erschüttert, als man ihn dir wegnahm. Jetzt bist du in der Realität angekommen und musst feststellen, dass das Leben kein Zuckerschlecken ist. Du musst arbeiten, um dich zu beweisen und weil du das nicht hinbekommst, versuchst du jemanden zu finden, dem du die Schuld für alles geben kannst, aber da spiele ich nicht länger mit. Es ist mir scheiß egal, ob du ihre Schwester bist und ob Zaira das gut heißt oder nicht, wenn du mit diesem Mist nicht aufhörst, wirst du es in Zukunft mit mir zu tun bekommen.“
„Ach, unsere strahlende Heldin brauch plötzlich einen edlen Ritter?“, fragte sie spöttisch. „Glaubst du, deine Drohungen werden irgendwas ändern? Das hier wird nie aufhören! Sie zieht eine Spur aus Leichen hinter sich her und bringt jeden in Gefahr, den sie berührt! Es geht schon wieder los! Was muss passieren, damit du endlich aufwachst?“
„Es geht hier nicht darum aufzuwachen, es geht darum Iesha aufzuhalten. Du stehst hier großspurig und hältst große Reden. Du genießt es richtig, dass die Leute hier um uns herum stehen und zuhören, weil du damit einmal mehr im Mittelpunkt stehst. Du bist jetzt seit einem Tag hier und in dieser ganzen Zeit hast du nichts anderes getan, als Zaira in Verruf zu bringen und allen mitzuteilen, was für eine tolle Person du doch bist.“
Kiara funkelte ihn an. „Ich bin hier, weil ich arbeite. Im Gegensatz zu deiner kleinen Heldin, habe ich einen Job. Ich vermittle zwischen den Simultanen und dem Rudel, das ist eine wichtige, politische Position. Was hat Zaira gemacht, seit sie hier ist? Ich meine natürlich, außer dumm herumzusitzen und Löcher in die Luft zu starren?“
„Sie hat einen Job, sie ist Webdesignerin. Aber davon angesehen, hilf sie hier auf dem Gehöft mit und erledigt alle Arbeiten die man ihr aufträgt, ohne auch nur auf die Idee zu kommen, sich zu beklagen. Und wenn sie mal nichts zu tun hat, dann nutzt sie jede freie Minute, um eine Lösung für das Problem mit Iesha zu finden. Sie hat Nachforschungen angestellt und Informationen eingeholt, damit das hier irgendwann ein Ende hat.“
„Und, wie läuft es damit?“ Kiara schaute sich sehr auffällig um. „Nicht sehr erfolgreich wie mir scheint.“
Okay, das reichte jetzt. Ich fuhr zu ihr herum. „Was hast du getan, um zu helfen?“
Sie funkelte mich an, als könnte sie es kaum glauben, dass ich es gewagt hatte sie anzusprechen. „Warum sollte ich ausgerechnet für dich irgendwas tun? Es ist ja nicht mein …“ Sie verstummte abrupt, aber jeder hier wusste ganz genau, was sie hatte sagen wollen. Mit diesen wenigen Worten, hatte sie gerade vor Publikum alles bestätigt, was Cio ihr vorwarf.
„Es ist ja nicht dein Problem“, beendete ich ihren Satz leise.
Als sich nach diesen Worten die Blicke unserer Zuhörer auf sie richteten, war es wohl das erste Mal in ihrem Leben, dass ihr die allgemeine Aufmerksamkeit nicht gefiel. Auf einmal schien sie ihr sogar richtig unangenehm zu sein. Doch entgegen meiner Erwartungen, sagte sie nichts mehr. Sie bückte sich einfach nach ihrem Koffer und kehrte uns nach einem letzten hasserfüllten Blick auf mich den Rücken, um mit wütenden Schritten davonzustapfen.
„Haltet sie auf“, befahl Celine, gerade als Kiara um die nächste Hausecke verschwand. „Ich will nicht, dass sie in ihrem aufgewühltem Zustand in den Wagen steigt.“
Mehrere Leute aus dem Gracia-Rudel setzten sich gleichzeitig in Bewegung und liefen ihr hinterher.
Als Celine sich zu uns herumdrehte, bekamen wir beide das, was man wohl als Alpha-Blick bezeichnete. Ich griff ganz unwillkürlich nach Cios Hand und schob mich ein wenig näher an ihn.
„Du kannst dir seine Worte sparen“, sagte Cio ohne den Hauch von Reue. Er war immer noch sauer. „Du hast keine Ahnung, was sie die letzten Jahre immer wieder mit Zaira abgezogen hat. Sie hat jedes Wort verdient.“
Zu meinem Erstaunen widersprach Celine nicht. Sie sagte nur schlicht: „Das hätte man aber sicher auch anders regeln können.“
„Sie hat Zaira gesagt, sie soll sich von Iesha umbringen lassen. Sie kann froh sein, dass ich sie nicht übers Knie gelegt und ihr den Arsch versohlt habe.“
Ob es so schlau war, Celine das über ihre Lieblingsenkelin ins Gesicht zu sagen?
Celine durchbohrte ihn Wortlos mit ihrem Blick, blieb aber still, als sie uns den Rücken kehrte und in die Richtung verschwand, in die auch Kiara gegangen war. Wahrscheinlich wollte sie noch mal mit ihr reden, bevor sie ins Auto stieg und wieder nach Hause nach Silenda fuhr.
Ayko allerdings blieb wo er war. Er fragte nur schlich: „Habt ihr nicht alle etwas zu tun?“, woraufhin sich die versammelte Mannschaft innerhalb von Sekunden in alle Himmelsrichtungen verstreute.
Cio jedoch blieb wo er war und schaute den Alpha herausfordernd an, als wartete er nur darauf, dass auch Ayko ihm eine Standpauke halten wollte.
„Schau mich nicht so an“, sagte der Alpha jedoch nur und sprang leichtfüßig die Treppe herunter. „Ich bin nicht Celine und meiner Meinung nach habt ihr nichts falsch gemacht. Es war schon lange überfällig, dass ihr das mal jemand sagt. Mir waren leider die Hände gebunden. Es käme nicht gut an, wenn ein Alpha aus einem Simultanen-Rudel das hübsche Goldkind angreift – wenn auch nur verbal.“
„Celine sieht das nicht so“, murmelte ich.
„Wenn es um ihre Tochter oder Enkel geht, lässt Celine sich von Gefühlen leiten. Darum hat sie sich auch nicht eingemischt. Auch wenn ihr beide nicht in unsrem Rudel seid, so gehört ich doch zur Familie. Wäre es anders, hätte sie euch in den Boden gestampft, sobald ihr auch nur die Stimme gegen Kiara erhoben hättet. Sie wird sich schon wieder einkriegen.“ Sein Lächeln wurde ein wenig raubtierhaft. „Mir jedenfalls hat es den Tag versüßt.“
Er war schon ein wenig eigenartig. Langsam glaubte ich, dass er nicht mit uns direkt ein Problem hatte, sondern nur damit, dass wir einem anderen Rudel angehörten. Wären wir Teil seiner Lykaner, könnten wir wahrscheinlich sogar Freunde werden.
„Schön das wir dich amüsieren konnten“, bemerkte Cio spitz. „Würdest du auch so reagieren, wenn das jemand mit Celine abziehen würde?“
Ach du …
Erschrocken sah ich zu Cio auf.
„Du magst ein Alpha sein, aber auch du solltest manchmal überlegen, wann es schlau ist einen dummen Spruch abzulassen.“
Das Lächeln war aus Aykos Gesicht verschwunden. Er schien es nicht gutzuheißen, von einem Jungspund in die Schranken gewiesen zu werden – schon gar nicht von einem, der nicht mal zu seinem Rudel gehörte. Das war nicht nur provokant, das war geradezu eine Herausforderung. Kein Alpha ließ sich eine so offene Herausforderung bieten.
„Er meint das nicht so“, schritt ich ein und versuchte Cio ein Stück zurück zu ziehen. Genauso gut hätte ich versuchen können einen Berg zu bewegen. Es hätte den gleichen Effekt. „Er ist nur verärgert. Das hat nichts mit dir zu tun.“
Keiner der beiden ließ sich auch nur anmerken, ob sie mich gehört hatten. Sie starrten einander an, als wollten sie sich allein durch Blicke gegenseitig in den Boden rammen. Als Ayko dann auch noch leise knurrte, schlich Ferox schatzsuchend hinter mich.
„Cio“, flehte ich und zog wieder an seinem Arm und endlich – ENDLICH – senkte er widerwillig den Blick.
„Ihr solltet Frühstücken gehen“, sagte Ayko mit einem deutlichen Knurren in der Stimme. „Und mir eine Weile aus dem Weg gehen.“
Drei Sekunden, so lange dauerte es, bis Cio meine Hand ein wenig fester griff und sich langsam abwandte. Aber er bewegte sich nicht zum Haupthaus, er ging auf Roselyns kleine Hütte zu und zog mich mit sich – Ferox folgte uns hastig. Seine Schultern waren dabei angespannt und der Kiefer so fest auseinandergedrückt, dass es eigentlich schmerzen musste. Es wunderte mich fast, dass er nicht vor Anspannung vibrierte.
Als wir uns dem Haus nährten, rechnete ich damit, dass wir auch hinein gingen, aber zu meiner Verwunderung, zog er mich daran vorbei.
Eins ums andere Haus passierten wir. Leute kamen an uns vorbei und schauten uns hinterher.
Ich blieb still und folgte ihm einfach. Zumindest bis wie die offenen Felder erreicht hatten, die das kleine Dort umschlossen. „Cio“, sagte ich leise und das reichte schon, um ihn zum Anhalten zu bewegen.
Seine Lippen drückte er zu einem festen Strich zusammen, so als würde er sich selber am sprechen hindern wollen.
„Kiara hat das nicht so gemeint. Sie ist nur verletzt, weil …“
„Oh, Kirara hat jedes Wort genau so gemeint wie sie es gesagt hat“, unterbrach er mich. „Sie hatte schon immer ein Talent dafür andere für ihre eigenen Fehler verantwortlich zu machen.“
„Das ist es nicht“, sagte ich leise, denn bei dem Streit war mir endlich klar geworden, warum sie sich in der letzten Zeit wie die größte Zicke auf diesem Planten verhielt. „Sie ist eifersüchtig.“
Der Zweifel stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Nicht weil sie auf dich steht“, sagte ich sofort, weil ich gleich verstand, wohin seine Gedanken gingen. „So toll, dass wirklich jede Frau hinter dir her ist, bist du nun auch wieder nicht.“
„Danke“, sagte er trocken.
Ich rückte lächelnd näher und legte ihm die Arme um den Nacken. „Du vergisst, dass du nicht kochen kannst. Viele moderne Frauen wollen aber gerne mal bekocht werden.“
Auch er legte die Arme um mich und spürte wohl, dass ich mich sofort ein wenig anspannte. Aber er ließ es auf sich beruhen. „Dann kläre mich auf: Auf was ist sie eifersüchtig?“
„Auf die Unterschiede. Du musst verstehen, sie hat in den letzten Jahren praktisch alles verloren, über das sie sich definiert hat. Dann wurde sie schwanger. Ja, sie wollte es nicht, aber jetzt sieht sie … naja, in ihren Augen bin ich der Glückspilz. Ich habe einen Mann, ich werde bald heiraten und jetzt bin ich auch noch schwanger und jeder der davon erfährt, freut sich darüber. Wäre da nicht die Sache mit Iesha, würden wir zwei wohl das perfekte Leben führen. Sie hat nur ihre Arbeit.“
„Aber daran ist sie selber Schuld.“
„Das weiß ist, aber das macht es nicht weniger schwer für sie.“
„Das ist aber noch lange kein Grund, so eine Show abzuziehen.“
„Nein ist es nicht“, stimmte ich ihm zu.
Er atmete leise aus und legte sein Kinn auf meinen Kopf. „Alles in Ordnung mit dir?“
Nein, das war es nicht. Auch wenn meine Worte die Wahrheit waren, so hatte das was Kiara gesagt hatte mich doch verletzt. Besonders die Sache mit dem Baby. Iesha war an diesem Abend nicht wegen mir in Cayennes Haus eingedrungenen. Sie hatte meine Erzeugerin töten wollen und Kiara war dabei zwischen die Fronten geraten. An diesem Abend wäre der Amor-Killer gekommen, egal ob ich da gewesen wäre, oder nicht, aber trotzdem fühlte ich mich dafür irgendwie verantwortlich.
Da Kiara das Ungeborene die ganze Zeit hatte loswerden wollen, war ich gar nicht erst auf den Gedanken gekommen, dass sie vielleicht unter dem Verlust leiden könnte. Okay, mein Kopf war voll gewesen, aber trotzdem. Vielleicht hatte sie ja recht, vielleicht zog ich das Unglück ja wirklich magisch an.
„Schäfchen?“
„Sie wissen das ich schwanger bin.“ Es war einfacher ihm das zu sagen, als zu erklären, was wirklich in meinem Kopf vor sich ging. „Bevor du herausgekommen bist, hast sie es laut gesagt. Jetzt wissen es alle die dabei waren.“
Er seufzte leise, als hätte er sowas bereits befürchtet. „Na dann hoffe ich, dass die Leute hier wenigstens einen Babyparty für uns schmeißen werden.“
Und da war es wieder, mein Lächeln.
°°°°°
Klitschnass schob ich spät am nächsten Abend die Tür zur Duschkabine auf und trat barfuß auf den kalten Fliesenboden, nur um nach einem kurzen Rundblick festzustellen, dass ich vergessen hatte mir ein sauberes Handtuch mit ins Badezimmer zu nehmen. Super, das hatte mir gerade noch gefehlt. Genervt von mir selber seufzte ich und steckte dann nach kurzem Zögern den Kopf aus dem Bad. Von der kühlen Luft bekam ich sofort eine Gänsehaut am ganzen Körper.
Die Tür zu dem kleinen Zimmer, dass ich mir mit Cio teilte stand weit offen. Ich hörte die Geräusche des angestellten Fernsehers daraus. Von Roselyn und ihrer Tochter sah und hörte ich nichts, aber wahrscheinlich war es trotzdem besser, wenn ich nicht nackt durchs Haus ließ – besonders nicht, wenn ich dabei auch noch alles volltropfen wurde. „Cio?“
Es dauerte einen Moment, bis er auftauchte und als er meine nassen Haare sah, begann er zu lächeln. „Sie haben gerufen, Mylady?“
„Kannst du mir bitte ein Handtuch bringen?“
Ein schelmisches Funkeln trat in seine Augen. „Was bekomme ich denn dafür?“
„Eine zufriedene Frau.“
Das ließ ich schmunzeln. „Zufriedene Frauen sind gut für das Seelenheil eines Mannes.“ Er verschwand wieder in dem kleinen Zimmer. „Außerdem sind zufriedene Frauen sehr … aufgeschlossen.“
Er nun wieder. „Aufgeschlossen, ja?“
„Natürlich.“ Als er wieder im Flur auftauchte, hielt er ein großes, gelbes Handtuch in de Händen, doch anstatt es mir zu reichen, drängte er sich zum mir in das kleine Badezimmer und schloss vorsorglich die Tür. „Wenn ich dafür sorge, dass es meiner Gefährtin gut geht, sorgt meine Gefährtin dafür, dass es mir gut geht“, erklärte er mit Inbrunst der Überzeugung und griff nach meinem Arm.
Einen kurzen Moment war ich versucht mir das Handtuch zu schnappen und mich ihm zu entziehen, einfach weil ich es als seltsam empfand, nach allem was war, tropfnass und nackt vor ihm zu stehen. Das hatte ich seit … wenn ich ehrlich war, konnte ich mich nicht mehr daran erinnern, wann er mich das letzte Mal nackt gesehen hatte. War es, als wir das letzte Mal Sex hatten? Dieser Gedanke steigerte mein Wohlbehagen nicht unbedingt. Außerdem fiel mir sehr wohl auf, wie sein Blick sehnsüchtig über meinen Körper wanderte, während er vorsichtig meinen Arm trocken rubbelte.
„Das ist also ein ausgezeichneter Anreiz für mich, dafür zu sorgen, dass du zufrieden bist.“
Okay, bleib ruhig, Cio war nur in Spiellaune. „So so, dann ist das also nichts weiter als Eigennutz“, bemerkte ich und hoffte, dass mein Unsicherheit nicht gar so deutlich aus meiner Stimme herauszuhören war.
„Du hast es erfasst“, stimmte er mir zu. „Alles was ich tue, tue ich ausschließlich für mich.“
„Gut zu wissen.“
Er gab meinen Arm frei, nur um sich den zweiten zu schnappen. „Darum ist dir hoffentlich klar, dass ich hierfür eine Gegenleistung erwarte. Ein Kuss würde mir gefallen.“
„Gibt es auch eine Alternative?“, fragte ich und schmunzelte über seinen Gesichtsausdruck. Das waren wohl nicht die Worte gewesen, die er hatte hören wollen.
„Al-ter-na-ti-ve?“, fragte er, als hätte er es mit einem komplizierten Fremdwort zu tun. „Ich biete dir hier ein unvergessliches Ereignis mit mir und meinen Lippen als Ehrengast und du fragst mich allen Ernstes nach einer Alternative?“
„Scheint so.“
Er schnaubte, als könnte er es einfach nicht glauben. „Ich glaube, ich wurde in meinem ganzen Leben noch nie so gedemütigt. Alternative.“ Sein Kopfschütteln war geradezu empört.
Oh je, da hatte ich ja etwas angerichtet. „Du bist doch jetzt nicht etwa beleidigt, oder?“
„Doch bin ich.“ Er nickte sogar noch mal sehr nachdrücklich, als er dabei jedoch mit dem Handtuch weiter wanderte, um meinen Oberkörper abzutrocknen, nahm ich ihm das Handtuch ab. Das … konnte ich einfach noch nicht. „Darum solltest du dir jetzt dringen etwas einfallen lassen, um das wieder in Ordnung zu bringen.“
„Hm“, machte ich und wickelte mich in das Handtuch ein. Bedeckt fühlte ich mich einfach sicherer, besonders wenn er so nahe vor mir stand. „Ich könnte dir bei Gelegenheit ein Essen kochen.“
So übertrieben wie er nachdachte, musste ich schwer an mich halten, um nicht zu kichern. „Das ist für den Anfang nicht schlecht. Was hast du noch zu bieten?“
„Ich schimpfe nicht mehr, wenn du die Zahnpasta offen liegen lässt.“
„Nein, das nicht. Was anderes.“
Da wollte es heute jemand aber wirklich wissen. Nun gut, vielleicht sollten wir dann wirklich auf den ursprünglichen Plan zurückgreifen. „Naja“, sagte ich zögernd und verschränkte die Arme unschuldig auf dem Rücken. „Vielleicht wäre ein Kuss ja doch keine so schlechte Idee.
In seinen Augen glomm Interesse auf. „Warst du es nicht gerade gewesen, die um eine Alternative gebeten hat?“
„Ich glaub, ich war geistig ein wenig verwirrt.“ Mit einem Nicken wollte ich meinen Worten Nachdruck verleihen. „Das passiert mir manchmal in deiner Gegenwart. Du weißt schon, weil du so umwerfend bist. Da kann ich einfach nicht klar denken.“
Ein kleines Raubtierlächeln umspielte Cios Lippen, als er etwas näher rückte. „Versuchen sie etwa gerade mir zu schmeicheln, Frau Steele?“ Seine Stimme war ein wenig leiser geworden.
Ich spürte seine Berührung am Schlüsselbein und auch wie er mit dem Finger eine Linie nach oben zog. „Ich versuche es nicht nur, ich habe es getan.“
„Dann müsse sie jetzt aber auch mit den Folgen leben.“ Mit einem verspielten Lächeln beugte er sich vor und holte sich den Preis für seine Hilfe und ich hatte nichts daran auszusetzen. Ganz im Gegenteil. Als er sich gleich darauf wieder von mir lösen wollte, legte ich ihm sogar eine Hand an die leicht stoppelige Wange, um ihn noch ein wenig zum Bleiben zu bewegen.
Solche Momente, in den ich mich fast völlig entspannen konnte, waren so selten geworden, dass ich jeden einzelnen von ihnen bis zum letzten Tropfen auskosten wollte. Ich liebte Cio und ich liebte es von ihm geküsst zu werden. Doch je länger wir dort in dem kleinen Bad standen, desto mehr veränderte sich die Atmosphäre um uns herum und der Kuss wurde zu weit mehr, als dem Schäkern zweier Liebender.
Ich spürte lange vergessene Gefühle in mir aufwallen und wie sehr ich es genoss ihm so nahe zu sein. Einfach nur hier zu stehen und ihn zu küssen war wie ein Traum, den ich so schnell nicht aufgeben wollte.
Langsam ließ ich meine Hand in seinen Nacken wandern und zog ihn noch näher an mich. Mein Körper drängte gegen seinen, doch dann fasste er nach meiner Hüfte, als wollte er mich noch näher an sich ziehen. Das war wie ein Guss eiskalten Wassers und ich erstarrte einfach. Ich schaffte es gerade noch so den Impuls zu unterdrücken ihn von mir zu stoßen, aber ich griff automatisch nach seinem Arm und hielt ihn mit verkrampften Fingern fest. Nicht weil ich die Berührung weiter spüren wolle, er sollte ihn nur einfach nicht bewegen.
Cio brauchte zwei Sekunden um zu verstehen, dass etwas nicht stimmte. Und noch eine, um seine Lippen von mir zu lösen. „Schäfchen?“
„Ich …“ Verdammt. Ich hätte wissen müssen, dass das dabei herauskommen würde. „Ich sollte mich abtrocknen, sonst erkälte ich mich noch. Ich darf mich aber nicht erkälten, das ist nicht gut für den kleinen Passagier.“ Ich schob seine Hand weg und wollte eilig vor ihm zurückweichen, doch da packte er meine Hand und hielt mich genau da wo ich war.
„Mach das nicht“, sagte er sehr leise.
Ich senkte den Blick und biss mir auf die Unterlippe. Dabei sagte ich mir immer wieder, dass das Cio war und Cio mir niemals etwas tun würde. Es gab also keinen Grund für mein rasenden Herzschlag.
„Weich nicht vor mir zurück“, bat er mich leise. „Wenn du es nicht willst, sag es einfach, ich werde dich nicht bedrängen, aber bitte, weich nicht vor mir zurück.“
Ha, der war gut. Wie sollte ich das versprechen? Meine Reaktionen kamen manchmal so instinktiv, dass ich erst hinterher verstand, was ich da getan hatte und dann konnte ich meistens nur noch Schadensbegrenzung betreiben.
„Schäfchen, sieh mich an.“ Als ich seiner Bitte nicht sofort nachkam, tippte er mir zwei Mal gegen das Kinn, bis ich das Gesicht hob. „Es ist in Ordnung, höchst du? Ich liebe dich und wir kriegen das schon hin.“
„Und wenn nicht?“, fragte ich leise. Was wenn das jetzt immer so sein würde und wir niemals wieder das bekamen, was wir früher hatten?
Auf seinen Lippen erschien ein kleines Lächeln. „Dann müssten wir beide uns ein gemeinsames Hobby zulegen. Ich wollte ja schon immer einem Canastaverein beitreten.“
„Wolltest du nicht.“
„Okay, wollte ich nicht, aber ich würde es versuchen, wenn du es auch versuchst. Okay?“
Nein, dieses Mal funktionierte sein Versuch witzig zu sein nicht. „Ich weiß nicht ob ich das kann. Das ist … ich kann nicht einfach … es passiert automatisch und …“ Verdammt, ich konnte das nicht erklären.
„Hey.“ Er berührte mich an der Wange und lehnte seinen Kopf gegen meine. „Wir bekommen das hin. Zusammen. Du musst nur ein wenig Vertrauen haben.“
Glaubte er das wirklich? Ich hatte da so meine Zweifel.
„Okay?“, fragte er, als ich ihn nur still ansah und ich nickte, einfach weil er es erwartete und ich ihn nicht enttäuschen wollte. „Okay. Dann trockne dich jetzt ab, bevor du dich wirklich noch erkältest. Ich gehe in die Küche und mache uns Popcorn. Dann können wir uns unter der Decke zusammen kuscheln und irgendein Film schauen. Was hältst du davon?“
„Hört sich gut an.“
Dafür bekam ich ein sanftes Lächeln. „Dann haben wir ein Date.“ Er klaute sich noch einen schnellen Kuss und verschwand dann zur Tür hinaus.
Es war traurig, was für eine Erleichterung sich in mir breit machte, sobald ich wieder allein war. Das hatte nichts damit zu tun, wie er versuchte diese Situation zu meistern und das er versuchte auf mich einzugehen. Es war einzig die Tatsache, dass er draußen war und mich so nicht anfassen konnte.
Bei diesem Gedanken fühlte ich mich einfach nur schrecklich, besonders da ich ihn ja in meiner Nähe haben wollte, aber jedes Mal wenn er mich berührte, stieg die Gefahr, dass der Moment wieder eskalierte und die Folge daraus wäre, dass ich ihn wieder verletzte. Aber genau das wollte ich nicht. Ich wollte nicht der Grund für seinen Schmerz und seinen Kummer sein. Leider war ich eine tickende Zeitbombe, die beim kleinsten Auslöser hochgehen konnte.
Bei dem Vergleich verzog ich angewidert von mir selber das Gesicht und begann mich abzutrocknen.
Cio hatte die Geduld eines Heiligen und besonders jetzt wo er wusste was los war, würde er nicht nur rücksichtsvoll sein, sondern mir auch alle Zeit der Welt lassen. Das Problem dabei war einfach nur, dass ich schnellstens ein Ende herbeisehnte und jedes Mal wenn er es erneut versuchte, mich nur wieder daran erinnerte, wie weit ich eigentlich noch von meinem Ziel entfernt war.
Wenn es doch nur einen Weg gebe die ganze Sache zu beschleunigen. Oder wenigstens ein mal einen Erfolg vorweisen könnte, etwas das mir Mut machte und mir zeigte, dass nicht alles umsonst war und es nicht immer so weitergehen würde. Ein kleines Erfolgserlebnis würde mir doch schon reichen. Nur sah ich keine Chance so etwas zu bekommen.
Mit diesen trüben Gedanken zog ich mir meine schwarze Jogginghose und mein graues T-shirt an und setzte mir die Brille auf die Nase, bevor ich das kleine Bad verließ.
Ich war kaum in den Flur getreten, das stieg mir bereits der Geruch von süßen Popcorn in die Nase. Der Witterung folgend fand ich es zusammen mit Cio im Schein der neuen Nachttischlampe in unserem Bett, wo er sich entspannt ausgestreckt hatte und die Schüssel auf seinem Bauch balancierte. Auch er hatte sich umgezogen und trug nun ganz ähnliche Sachen wie ich. Das Fenster hatte Roselyn heute reparieren lassen, diese Nacht liefen wir also nicht wieder Gefahr, dass uns unsere Nasen abfroren.
Einen Moment blieb ich im Türrahmen stehen und beobachtete ihn einfach nur, wie er mit der Fernbedienung durch die einzelnen Kanäle zappte und zu entscheiden versuchte, welchen Film wir uns anschauten. Seit gestern war er allgemein ein wenig entspannter, wenn auch aufmerksamer. Wahrscheinlich war er jetzt einfach nur froh, dass die Sache raus war, aber auch ihm würde ein positives Erlebnis nach all dieser verkorksten Zeit sicher gut tun. Wenn seine Berührungen nur nicht immer so einen Kurzschluss in mir auslösen würden, das würde die ganze Sache …
Ein plötzlicher Gedanke ließ mich den Kopf heben. Was wäre, wenn ich das einfach umgehen könnte? War das überhaupt möglich?
„Kommst du heute noch rein, oder willst du den Abend an der Tür verbringen?“, fragte er mich schmunzelnd und warf sich ein paar Popcorn in den Mund.
Vielleicht. Wenn ich es richtig anging, könnte es vielleicht funktionieren.
Als ich mich immer noch nicht regte, runzelte Cio die Stirn. „Alles in Ordnung?“
„Ja“, sagte ich langsam und ließ mir den Gedanken noch einmal durch den Kopf gehen. „Nur … ich würde gerne etwas probieren. Ein … Experiment.“
„Ein Experiment?“
Statt einer Antwort, trat ich in das Zimmer und schloss die Tür. Dann zögerte ich einen Moment, weil ich nicht recht wusste, wie ich es anfangen sollte. Leider wurde mir dadurch klar, dass wir uns auf dieser Ebene wirklich fremd geworden waren, aber vielleicht konnte ich das ja beheben.
Ich ging durchs Zimmer und kniete mich neben ihn auf die Matratze. Cio beobachtete sehr aufmerksam, wie ich dann meine Brille abnahm und sie zusammen mit der Popcornschüssel auf den Boden stellte. „Ähm, kannst du … könntest du dein T-Shirt ausziehen?“
Einen Moment wirkte er einfach nur überrascht, doch dann setzte er sich auf, zog es sich über den Kopf und warf es zusammen mit seiner Mütze achtlos ans Fußende des Bettes. „Und nun?“
„Mach es dir bequem.“
„Du machst es ja ganz schön spannend“, bemerkte er, während er sich wieder zurücklehnte, mich dabei aber keinen Moment aus den Augen ließ. „Sagst du mir was du vorhast?“
Nein, dass tat ich nicht. Stattdessen streckte ich die Hand nach ihm aus und strich sanft über die feste Haut auf seinem Bauch. Als seine Muskeln unter dieser Berührung zuckten, lächelte ich.
Cio hatte einen tollen Bauch, ein Sixpack und eine gut definierte Brust, doch am besten gefielen mir seine Arme. Früher habe ich manchmal ganze Abende damit verbracht, an ihn gekuschelt dazuliegen und ihn dort zu streicheln, aber nun war das ein ganz neues Gefühl. Es war, als müsste ich ihn neu kennenlernen, weil ich das schon so lange nicht mehr getan hatte.
Langsam ließ ich meine Fingerspitzen über seien Bauch gleiten, zog die Konturen und Muskeln nach und spürte dabei sehr deutlich seinen Blick auf mir, doch davon ließ ich mich nicht ablenken. Ich machte das hier nicht nur für ihn, sondern auch für mich, einfach um zu sehen, ob ich es konnte.
Als meine Hand zu seiner Brust glitt, bekam er eine Gänsehaut und erschauderte. Ich streichelte ihn einfach weiter. Hinauf zu seinem Hals, über die Schulter und zurück zur Brust. Er blieb locker und entspannt, doch dann spürte ich eine leichte Berührung an meinem Ellenbogen.
„Nein“, sagte ich sofort und hielt seinen Arm fest. „Nicht anfassen. Das ist die einzige Regel, du darfst mich nicht anfassen.“
Er runzelte die Stirn.
„Bitte, ich will was ausprobieren, aber das geht nur so.“
Etwas schien ihm nicht wirklich zu gefallen, doch als er meinen Blick sah, sagte er schlicht: „Okay“, und ließ seine Hand wieder sinken.
Okay. Zögernd begann ich wieder ihn zu berühren. Ich wusste noch ganz genau, wo er es gerne hatte und je entspannter er wurde, desto mehr begann auch ich mich zu entspannen. Als ich ihn an der Seite berührte und er zuckte, weil es kitzelte, begann ich wieder zu lächeln. Das hier war nicht schlimm, das war … normal. Es war einfach richtig und auch wenn ich sehr wohl mitbekam, wie seine Hand sich ein paar Mal bewegte, als wollte er nach mir greifen, blieb mir das Gefühl von Angst fern.
Langsam strich ich ihm mit gespreizten Fingern über die Brust, immer höher, bis hinauf zu seinem Hals. Ich spürte wie sein Puls sich ein wenig beschleunigte und auch seinen Blick durch die gesenkten Augenlider und konnte der Versuchung nicht widerstehen.
Ich beugte mich vor und gab ihm einen Kuss. Erst auf die Brust, dann auf die Schulter und dann ließ ich meinen Atem sachte über seine Halsbeuge wandern. Mir war klar, dass ich hier mit dem Feuer spielte. Nicht nur weil ich Cio reizte, sondern auch weil die ganze Aktion nach hinten losgehen konnte. Aber ich musste es einfach versuchen.
Leider wurde es mit der Zeit ein wenig unbequem neben ihm zu knien, also streckte ich mich nach kurzer Überlegung neben ihm aus und rückte an ihn heran. Dabei bemerkte ich sehr wohl, wie er kurz die Muskeln in seinem Arm anspannte, als wollte er ihn um mich legen, um mich näher an sich zu ziehen, aber er tat es nicht. Er drehte nur das Gesicht und erwiderte ruhig meinen Blick, während ich wieder damit begann ihn zu streicheln. Runter, hoch, wieder runter, weiter als zuvor.
Ich war mir nicht ganz sicher, wie weit ich eigentlich gehen wollte, doch als ich mit dem Finger an seinem Hosenbund entlang strich und spürte wie seine Muskeln unter dieser Berührung flatterten, beugte ich mich vor, um seine Lippen sanft mit meinen zu streifen. Einmal, zweimal. Doch erst als ich merkte, dass sein Atem ein wenig schneller geworden war, machte ich daraus einen richtigen Kuss.
Darauf schien er nur gewartet zu haben. Es fiel ihm sichtlich schwer seine Hände dort zu lassen wo sie waren, aber den Kuss erwiderte er mit einer drängenden Intensität, als versuchte er wenigstens auf diese Art das Steuer zu übernehmen. Cio war eben einfach nicht der passive Typ.
Als ich meine Hand an sein Gesicht legte und der Kuss noch intensiver wurde, schon ich sogar mein Bein über seines, einfach um ihm näher zu sein und zu schauen, ob ich es konnte. Und eine ganze Weile reichte das. Wir lagen einfach nebeneinander, küssten uns wie wir es schon lange nicht mehr getan hatten und genossen den Moment. Dabei spürte ich selber, wie tief in mir etwas erwachte, dass ich verloren geglaubt hatte. Nicht nur die Sehnsucht nach ihm, sondern Lust nach weit mehr.
Da ich allerdings nicht glaubte dazu schon bereit zu sein, ließ ich meine Hand von seinem Gesicht zum flatternden Puls an seinem Hals wandern.
Als ich das fühlte, begannen meine Fänge zu kribbeln und fuhren zu ihren vollen Länge langsam aus ihren Taschen, bis sie beim Küssen ein wenig störten. Doch Als Cio das mitbekam, wurde sein Puls deutlich schneller. Er wusste was das bedeutete – naja, zumindest was es früher immer bedeutet hatte. Aber wenn ich ihn jetzt biss … ich war mir nicht sicher, ob er sich dann noch an die Regel halten konnte. Im Rausch der Endorphine dachte man manchmal eben nicht mehr ganz klar.
Trotz allem schien Cio meine plötzliche Unsicherheit zu spüren. Er strich mit seinen Lippen zärtlich über meine und fragte mit leiser und rauer Stimme: „Alles in Ordnung?“
„Ja“, konnte ich ganz ehrlich sagen, zog mich aber ein wenig vor ihm zurück. „Ich frage mich nur gerade, wie gut deine Selbstbeherrschung ist.“
Sein Mundwinkel hob sich ein wenig. „Nicht anfassen, dass ist die einzige Regel und habe vor mich daran zu halten.“
Ich könnte es versuchen. Was könnte im schlimmsten Falle schon passieren? Messer waren im Moment ja keine in der Nähe. Okay, das war ein blöder Gedanke. Aber ich wollte das hier noch nicht enden lassen. Seit langer Zeit waren wir beide zusammen und fühlten uns dabei einfach nur wohl, also verbot ich mir an schlimme Konsequenzen zu denken und küsste ihn wieder. Wir hatten so viel Nachzuholen und ich wollte davon keine Sekunde mit unnötigen Gedanken verschwenden.
Nur langsam ließ ich meine Finger zu seiner Brust gleiten und spürte wie sein Herz schnell und kräftig gegen meine Hand schlug. Ich küsste ihn, liebkoste sein Gesicht mit meinen Lippen und glitt dabei instinktiv immer tiefer, bis ich seinen stetigen Puls gegen meine Lippen pochen spürte.
Meine Fänge produzierten bereits das betäubende Sekret, das ihn nicht nur für meinen Biss empfänglich machte, sondern auch eine Welle von Glücksgefühlen durch seinen Körper schwemmen würde. Allein bei der Erinnerung daran und dem Gefühl, wie ich mit den Fängen über die empfindliche Haut schabte, ließ seinen Puls gleich schneller schlagen.
Es war mir ein Bedürfnis ihn zu beißen, ein Hunger den nur er stillen konnte und der nur wenig mit der Gier nach seinem Blut zu tun hatte. Oh Gott, ich wollte es so sehr.
„Tu es“, flüsterte er und spannte dabei seine Halsmuskeln ein wenig an. „Komm schon Schäfchen, ich bleib auch artig.“
Das Drängen in seiner Stimme ließ mich alle Vorsicht fahren lassen. Ich biss einfach zu und versenkte meine Fänge tief in seinem Hals, bis ein herrlicher Schwall Blut in meinen Mund floss.
„Oh Verdammt!“, fluchte Cio und spannte für einen Moment seinen ganzen Körper an. Ich hatte zu früh zugebissen, das musste wehgetan haben, doch das Sekret, das in die Wunde gepumpt wurde, erfüllte seine Aufgabe augenblicklich und schickte seine Sinne auf eine Reise durch den Rausch aus Endorphinen.
Er stöhnte leise und griff mit beiden Händen in die Bettdecke, um sich selber daran zu hindern etwas unüberlegtes zu tun. Dabei stellte er sein Bein auf und bewegte das Becken, wodurch ich auf noch etwas anderes aufmerksam gemacht wurde.
Ich sog einen weiteren Schwall Blut in meinen Mund, schloss dabei die Augen und horchte tief in mich hinein. Im Augenblick fühlte ich mich einfach nur gut und erfreute mich daran ihm etwas gutes zu tun. Da war keine Angst und auch keine Zweifel. Es war fast so wie früher. Darum wagte ich es auch meine Hand wieder über seinen Körper wandern zu lassen, immer tiefer, bis zum Bund seiner Hose. Aber dieses Mal hielt ich dort nicht an. Ich ließ meine Finger darunter schlüpfen.
Er spürte es. Sein Atem wurde schneller und sein Körper spannte sich leicht an, als müsste er sich auf die Berührung vorbereiten. Doch alles geistiges Zureden half nur bedingt, wenn der Körper sich in seinen Gefühlen verlor. Darum wunderte es mich auch nicht, dass seine Hand hochschnellte, als ich ihn umfasste. Doch entgegen meiner Befürchtung, griff er nicht nach mir, sondern nach seinem Bein und hielt sich an seiner Hose fest.
Nach dieser ersten Berührung schaffte er es aber einfach nur dazuliegen und zu genießen, während ich ihm all das gab, was mir im Moment möglich war. Es war wie ein Taumel zwischen Realität und Illusion. Ein Traum, in dem bittersüße Quallen einen erbeben ließen und der Wunsch aufkam, nie mehr in die Wirklichkeit zurückkehren zu müssen.
Cio war schon immer jemand gewesen, der sich völlig ungeniert hatte fallen lassen können und auch jetzt hielt er sich nicht zurück. Er flüsterte meinen Namen, während sein Atem schneller wurde und ihm nur noch stoßweise über die Lippen fiel. Mit jedem schnellen Pulsschlag tropfte weiter süßes Blut in meine Kehle und ließ mich an seinem Rausch teilhaben.
Ich spürte wie er sich dem Hochgefühl näherte und war bei ihm, als die Lust über ihm zusammen schwappte. Sein Blut wurde noch süßer und noch während er versuchte in die Realität zurückzufinden und seinem Atem zu beruhigen, begann er sich wieder zu entspannen und einfach in dem Nachhall zu schwelgen.
Ich ließ mich nicht drängen, nahm noch einen langen Zug von seinem Blut, was ihn noch einmal stöhnen ließ, bis ich meine Fänge herauszog und die Wunde mit einem Kuss versiegelte.
„Das war … erstaunlich“, murmelte er leise und drehte mir sein Gesicht zu. Er hob die Hand, zögerte einen Moment, legte sie mir dann aber doch an die Wange. „Du bist erstaunlich.“
Drei kleine Worte, mehr brauchte er nicht, um mich damit wieder zum Lächeln zu bringen. „Ich hatte einen guten Lehrer.“
Er ging auf den Scherz nicht ein. Stattdessen beugte er sich vor und begann mich zu küssen. Es war nicht so drängend wie vorher, doch als er sich dann auf die Seite wälzte und mich dadurch gleichzeitig auf den drehte, packte ich ihn beim Arm und entzog mich ihm.
„Nicht.“
Sein stummer Blick sagte mehr, als er es wohl mit Worten hätte ausdrücken können.
„Es ist okay“, versicherte ich ihm. „Das hier war für dich.“
Dieser Erklärung schien ihn nicht wirklich zufriedenzustellen. „Dein kleines Experiment. Ich erinnere mich.“ Seine Augen forschten in meinem Gesicht.
„Mir geht es gut“, versicherte ich ihm und konnte mich glücklich schätzen, dass es ausnahmsweise einmal der Wahrheit entsprach. Hier in diesem Bett, waren nur Cio und ich. Keine bösen Erinnerung, kein Gefühl von Angst, nur wir beide. „Danke.“
Langsam breitete sich ein schelmisches Lächeln auf seine leicht geschwollenen Lippen aus. „Eigentlich müsste ich mich ja bei dir bedanken.“
„Warum? Du warst ja mein Versuchskaninchen, nicht umgekehrt.“
Grinsend strich er meinen Arm hinunter. „Weil du mir mal wieder gezeigt hast, dass es sich durchaus lohnt dich zu behalten.“
„Behalten?“ Ich zog eine Augenbraue nach oben. „Du möchtest damit doch wohl nicht etwa andeuten, dass ich dein Besitz bin.“
„Und ob ich das will.“ Er glitt mit der Hand noch ein wenig tiefer, bis sie auf meinem Bauch zum Liegen kam. „Das hier gehört alles mir.“
„Und ich habe immer gedacht, ich sei ein eigenständiges Lebewesen.“
„Tja, falsch gedacht. Aber zum Glück hast du ja mich, damit du …“ Er stockte mitten im Satz. Sein Blick flitzte erstaunt zu meinem Bauch und heftete sich erstaunt darauf. „War das …“
Ich nickte. „Der kleine Passagier ist wach.“
In dem Moment in dem ich das sagte, spürte ich einen zweiten Tritt. Es war wie ein leichtes Blubbern – hörte sich komisch an, aber genauso fühlte es sich an. Ein Blubbern, wie ein Kitzeln von innen.
Vor Erstaunen wurden Cios Augen immer größer. Er hielt nicht nur seine Hand ganz still, aus Angst sonst etwas verpassen zu können, einen Moment stellte er sogar das Atmen ein.
Das war so süß, dass ich gar nicht anders konnte, als deswegen leise zu kichern. Natürlich geriet dadurch mein Bauch ein wenig in Bewegung.
„Das war jetzt aber nicht das Baby.“
„Nein“, stimmte ich ihm zu.
Vorsichtig schob er mein T-Shirt hoch, bis mein ganzer Bauch frei lag. Er legte wieder die Hand darauf und schien erstaunt, dass man wirklich schon eine kleine Schwellung sah, die vorher nicht da gewesen war.
„Du hast abgenommen“, sagte er leise und konnte den leicht vorwurfsvollen Ton nicht ganz aus seiner Stimme heraushalten.
Okay, vielleicht war es doch nicht die Schwellung, die er in dem Moment beachtete. „Das ist während einer Schwangerschaft nicht ungewöhnlich“, erklärte ich. „Viele Frauen nehmen dabei ein wenig ab.“
So wie er mich anschaute, hegte er an dieser Aussage wohl so seine Zweifel.
„Frag meine Ärztin, wenn du mir nicht glauben willst.“
Er brauchte es nicht aussprechen, aber es war eindeutig, dass er genau das bei meinem nächsten Arztbesuch machen würde. Jetzt jedoch hatte er anderes im Sinn. Er rutschte im Bett herunter, bis sein Gesicht auf einer Höhe mit meinem Bauch war. Sein sanfter Kuss ließ meine Haut angenehm kribbeln. „Hallo kleine Beule.“
Beule? Da hatte ich mich ja wohl verhört. „Untersteh dich den kleinen Passagier als Beule zu bezeichnen.“ Beule hörte sich an, als es etwas Schlechtes, das jeden Moment aufplatzen könnte. Mit einem bösen Blick auf ihn strich ich mir über den Bauch. „Keine Sorge mein Schatz, du bist keine Beule. Dein Vater hält sich nur für unglaublich komisch.“
Er grinste mich nur kurz an, bevor er seinen Kopf neben meinem Bauch auf der Matraze bettete und zärtlich über meine Haut strich. „Okay, kleine … Kugel.“ Er grinste frech. „Nur damit wir uns hier richtig verstehen, ich halte mich nicht nur für komisch, ich bin komisch. Das muss ich auch sein, weil deine Mutter … naja, manchmal ist sie schon komisch, aber meistens unabsichtlich.“
„Hey!“ Ich hob die Hand und strich ihm durchs Haar.
„Aber dafür ist sie verständnisvoll und klug und stark. Sie ist einfach eine tolle Frau. Außerdem ist sie wunderschön. Wenn man ihre Augen sieht, oder ihr Lächeln, dann ist deine Welt voller Sonnenschein.“
Okay, dass mit der Beule würde ich ihm wohl noch mal verzeihen können.
„Ihr Lächeln … so können nur Engel lächeln.“
Engel? „Haben Engel nicht meist blondes Haar?“
„Pssst“, machte er. „Das hier ist ein Privatgespräch. Also, wo war ich? Ach ja, deine Mami. Also, ich will ja hier nicht so besitzergreifend rüberkommen, aber deine Mami gehört mir. Allerdings bin ich bereit, sie zeitweise auch mit dir zu teilen und sie dir hin und wieder auch mal ganz zu überlassen. Allerdings musst du mir diesen Gefallen dann auch ab und zu erwidern. Du weißt schon, Elternzeit, in der man ungestört sein kann und die Kinder artig ihr Mittagsschläfchen halten.“
Versuchte er gerade mit dem kleinen Passagier um mich zu verhandeln? Das war wirklich süß.
„Ich liebe deine Mutter“, fügte er noch leise hinzu. „Wir beide können uns wirklich glücklich schätzen sie haben.“
Und das sagte ausgerechnet der Mann, der mich trotz allem was er in der letzten Zeit wegen mir durchmachen musste, nicht mal auf die Idee kam mich einfach sitzen zu lassen. Oh Gott, wenn er noch sowas sagte, würde ich hier gleich anfangen zu heulen.
„Außerdem muss ja irgendjemand die ganze dreckige Wäsche waschen, die wir zwei Hübschen produzieren.“
Bitte? „Und damit hast du gerade alle Pluspunkte die du in den letzten Minuten bei mir gesammelt hast, wieder verloren.“
So wie er grinste, schien ihn das nicht wirklich zu beunruhigen. Blödmann.
°°°
Mit fummelnden Fingern stand ich im Bad vor dem Spiegel und versuchte das Stroh aus aus meinen Haaren zu bekommen. Cio hatte mich in einem Anfall von Übermut damit beworfen und als ich seinen Angriff erwidert hatte … naja, sagen wir so: Es war gut dass ich geflohen war, um mich für unser Valentinsdate fertig zu machen, sonst würde ich jetzt vermutlich in einem Strohballen stecken.
Gerade als ich meine Arme nach hinten streckte, ging die Tür zum Bad auf der Täter kam breit grinsend und ohne eine Spur von Reue, herein. Er hatte sowohl seine Hemd, als auch seine Socken auf dem Weg hier her verloren. „Hallo, Lieblingsfrau.“
„Lieblingsfrau?“ Ich beobachtete durch den Spiegel, wie er hinter mich trat, meine Hände wegschob und sich selber daran machte, meine Haare von dem ganzen Stroh zu befreien. „Dir ist schon klar, dass du damit andeutest, dass es da noch andere Frauen gibt?“
„Natürlich gibt es da noch andere Frauen“, erklärte er in einem Ton, der mich wissen ließ, dass es dumm von mir war anzunehmen, dass ich die einzige in seine Leben wäre. „Unter anderem hätten wir da sowohl meine als auch deine Mutter. Und natürlich deine Großmütter – obwohl ich ja sagen muss, dass ich Marica ein kleinen wenig lieber habe.“ Er legte ein paar Halme zu den anderen und trat dann zurück. „Dann haben wir da noch Alina und das Frettchen.“
Ich schnaubte und griff nach der Haarbürste. „Kasper ist ein Mann.“
„Das behauptet er zumindest immer, einen Beweis dafür habe ich bis heute noch nicht bekommen.“ Er verzog das Gesicht, als hätte er plötzlich etwas Ekliges im Mund. „Okay, wenn ich ehrlich bin, möchte ich das auch gar nicht.“
„Du lässt nach, Häschen“, neckte ich ihn. „Du hast gerade indirekt zugegeben, dass du Kasper magst.“
„Häschen?“ Er zog die Augenbraue ein wenig hoch. Auf den Teil mit Kasper ging er gar nicht erst ein. „Hast du zur Feier des Tages endlich einen Spitznamen für mich gefunden?“
Als seine Finger mich von hinten berührten, spannte ich mich automatisch an. Er merkte es natürlich sofort und hielt inne. Verdammt.
„Nicht von hinten“, flüsterte er und zog die Hand weg.
Ich ließ mein Arm mit der Bürste sinken und drehte mich halb zu ihm um. „Was?“
Ein sanftes Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Nicht von hinten“, wiederholte er. „Nicht an der Hüfte. An der Hand ist okay.“ Er berührte mich dort und strich dann vorsichtig meinen Arm hinauf. „Am Arm auch.“
Er versuchte sich zu merken, wo er mich gefahrenlos berühren konnte und wo nicht. Oh Gott, am liebsten hätte ich ein schlechtes Gewissen bekommen, aber er ließ es gar nicht zu. Er rückte einfach ein Stück näher und hauche mir zärtlich einen Kuss auf die Schulter, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. „An der Schulter ist auch okay.“ Seine Finger glitten höher, streiften meine Schulter und wanderten zu meinem Hals. „Der Hals … nicht“, murmelte er und nahm sofort die Hand weg, als er merke, dass ich mich wieder anspannte. Dabei war die Frage in seine Augen zu lesen, was genau Owen mit mir getan hatte, dass ich mich nicht mal am Hals berühren lassen konnte und einen kurzen Moment flammte sogar Wut darin auf, aber er überspielte es mit einem Lächeln. „Im Gesicht ist okay“, führte er seine Aufzählungen weiter fort und legte seine Hand an meine Wange. „Und auch an diesen unwiderstehlichen Lippen.“
Als er sich langsam vorbeugte, als wollte er mir die Zeit geben zu erkennen, was nun passieren würde, begann mein Herz ein wenig schneller zu schlagen. Und dann küsste er mich so vorsichtig, als wäre ich etwas sehr Kostbares, dass zerbrechen könnte, wenn er nicht gut auf mich Acht gab.
Einen Moment war es wieder genauso wie früher. Ich wollte diese Berührung und verspürte auch keine Angst, obwohl er mir so nahe war. Das hier war ganz anders, als das, was ich mit Owen erlebt hatte. Ja klar, dieser Mistkerl spukte noch immer irgendwo in meinem Hinterkopf herum, aber das hier war Cio und Cio würde mich niemals verletzten. Darum war ich wohl auch ein wenig enttäuscht, als er den Kuss ziemlich schnell wieder beendete und mich frech angrinste.
„Und weißt du was noch okay ist?“, fragte er mich, als sei es ein großes Geheimnis. In seinen Augen saß der Schalk.
„Verrat es mir.“
Er trat einen Schritt zurück und strich sich dann provozieren über die nackte Brust. „Gar nichts zu tun und darauf zu warten, dass du mich wieder als Versuchskaninchen benutzt.“ Als er mich dann auch noch zuzwinkerte, konnte ich gar nicht anders, als sein Grinsen zu erwidern.
„Das hat dir wohl gefallen.“
„Oh ja“, gab er ganz offen zu und knüpfte sich die Hose auf.
Ich wandte mich kopfschüttelnd wieder dem Spiegel zu, um auch noch das letzte bisschen Stroh aus meinem Haar zu kämmen. Dabei beobachtete ich durch den Spiegel, wie er sich langsam auszog, ohne mich auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Doch erst, als er mir den nackten Hintern zudrehte und die Tür für die Dusche aufschob, wurde mir klar, was er hier eigentlich gerade trieb. „Hey“, beschwerte ich mich und drehte mich wieder zu ihm herum. „Ich wollte gerade duschen gehen.“
„Tja, dann hättest du wohl etwas schneller sein müssen“, ließ er mich wissen und trat eilig in die Dusche. Grinsend schob er dir Tür zu und schaltete dann ohne hinzuschauen, das Wasser an. In der nächsten Sekunde sprang er mit einem erschrockenen Laut zur Seite. Selbst Schuld, wenn er mich ärgern musste, anstatt darauf zu achten, ob das Wasser schon warm war.
Grinsend machte ich mich wieder daran, meine Haar zu kämmen und einmal mehr wurde mir bewusst, was für ein unbeschreibliches Glück ich doch hatte, ihn zu haben. Es gab bestimmt nicht viele Männer, die nach dem ganzen Mist noch so Nachsicht und vor allen Dingen einfühlsam wären. Ich wusste wirklich nicht, was ich ohne ihm machen würde. Doch eigentlich schon. Ich würde vermutlich heulend in der Ecke sitzen und mich und mein Leben bemitleiden. Aber das würde er niemals zulassen.
Während Cio sich den Tag von Körper wusch, legte ich die Haarbürste zur Seite und inspizierte meinen Kulturbeutel ein wenig genauer. Er wollte mich in ein feines Restaurant ausführen und ich hatte absolut nichts dabei.
Ein Kleid samt Schuhe und passender Handtasche, hatte ich mir vorhin von jemanden aus dem Rudel leihen müssen. Roselyn hat das arrangiert, als sie mitbekommen hatte, wie ich beinahe schon verzweifelt meine ganzen Klamotten durchgeschaut habe, um irgendwas zu finden, dass nicht nach Freizeit oder Arbeit aussah. Und jetzt fand ich nicht mal einen verdammten Mascara. Wahrscheinlich hätte ich nicht mal daran gedacht, wenn wir nicht so übereilt hätten aufbrechen müssen.
Mein Blick glitt zum Spiegelschrank. Roselyn hatte doch sicher nichts dagegen, wenn ich mich ein wenig bei ihren Sachen bedienen würde, oder? Ich brauchte ja nicht viel. Aber bevor ich mit dem Wunderwerk des modernen Stylings überhaupt anfangen konnte, musste ich erstmal unter die Dusche, doch die war leider noch immer von Mister Witzig besetzt. Also lehnte ich mich mit dem Hintern an das Waschbecken, verschränkte die Arme vor der Brust und versüßte mir die Wartezeit, indem ich Cio bei der Körperpflege beobachtete.
Das war schon ein ziemlich toller Anblick. Die ganze Kabine war bis auf einen milchigen Streifen auf Hüfthöhe komplett durchsichtig. Es gab also recht viel zu sehen und ich nutzte es schamlos aus.
„Wäre ich nicht bereits nackt, würde ich behaupten, du ziehst mich gerade mit deinen Blicken aus“, bemerkte Cio und hielt den Kopf in den Wasserstrahl, um sich die Haare auszuspülen.
„Selber schuld.“ Er war schließlich dafür verantwortlich wie er aussah. Und dann hatte er sich auch noch vorgedrängelt.
„Unersättliches Weib.“
Ja, das ließen wie wohl einfach mal so stehen. „Sag mal, wie kommen wir eigentlich zum Restaurant?“
„Mit dem Auto.“
„Wir haben ein Auto?“
„Ayko leiht uns eines.“ Er drehte das Wasser ab, trat aus der Dusche und schnappte sich das Handtuch, dass ich für mich dort hingelegt hatte. Sehr nett. „Ich werde dich also wie ein Gentleman durch die Stadt kutschieren und dir sogar beim Aussteigen helfen, wenn du das wünschst.“
„Klinkt nach einem Plan.“ Da die Dusche nun frei war, knöpfte ich mein Hemd aus und ließ es zusammen mit meinem BH auf den Boden fallen. „Öffnest du mir auch die Tür?“
„Ich schiebe dir sogar deinen Stuhl zurecht.“
Grinsend schälte ich mich auch aus meinen restlichen Klamotten und stieg dann unter die Dusche. Im Gegensatz zu Cio jedoch, achtete ich darauf, dass das Wasser warm war, bevor ich mich darunter stellte. „Da du mein Handtuch geklaut hast, darfst du mir übrigens ein neues holen.“
„So, darf ich das?“
„Ja, du hast meine Erlaubnis.“
Mehr brauchte er nicht, um sich sein Handtuch um die Hüfte zu wickeln und einen Moment nach draußen zu verschwinden.
Ich genoss in der Zeit das warme Wasser und freute mich auf den bevorstehenden Abend. Wann waren Cio und ich eigentlich das letzte mal richtig ausgegangen? Nur wir zwei? Das war wohl letztes Jahr zum Herrentag gewesen.
Als ich frisch geduscht und porentief rein die Nebelschwaden der Dusche verließ und mir das neue Handtuch schnappte, stand er vor dem Spiegel, um sich zu rasieren. Auf seinen Schultern glänzte es noch leicht feucht.
Ich wusste nicht, was an diesem Anblick mich in diesem Moment so glücklich machte. Vielleicht war es einfach nur die Tatsache, dass es so normal und alltäglich war. Einen Moment stand ich jedenfalls einfach nur da, schaute ihm zu und verspürte dabei einen tiefen Frieden. Erst dabei wurde mir klar, wie sehr ich diese ganzen Kleinigkeiten in der letzten Zeit vermisst hatte und als ein Gefühl von Sehnsucht in mir aufkam, gab ich ihm einfach nach.
Barfuß trat ich von hinten an ihn heran und strich mit dem Finger langsam seine Wirbelsäule hinunter.
Er hielt in seinem Tun inne und warf mir durch den Spiegel einen Blick zu. „Was ist?“
„Nichts.“ Ich hauchte ihm einen Kuss zwischen die Schulterblätter und lehnte meine Stirn an seinen Rücken. Sein Geruch umfing mich. „Ich habe das vermisst.“
Cio legte seinen Rasierer auf dem Waschbecken ab und drehte sich zu mir herum. Am Kinn und unter der Nase klebte noch ein wenig Rasierschaum. „Jetzt hast du es ja wieder“, sagte er und zog mich an meinem Handtuch ein wenig näher zu sich. Es fiel nur nicht herunter, weil ich es dabei festhielt. „Und du kennst doch den Spruch: Es kann nur besser werden.“
Das jedenfalls blieb zu hoffen. Doch nachdem was gestern Abend geschehen war … naja, ich hatte mein kleines Erfolgserlebnis bekommen und die Zukunft wirkte nicht mehr ganz so düster.
„Und nach dem heutigen Abend wirst du mir restlos verfallen sein.“
Ach wirklich? „Danke für die Vorwarnung.“
Er setzte zu einer Erwiderung an, als es im Bad zu klingeln begann. Dieses Mal erkannte ich gleich, dass es der Klingelton von seinem Handy war und drehte mich danach um.
„Dein Vater?“
„Das werden wir gleich herausfinden.“ Er schob sich an mir vorbei und bückte sich nach seiner Hose. Kurz darauf hielt er sich das Handy ans Ohr. „Ja bitte?“
Solange er mit seinem Vater beschäftigt war, nahm ich seinen Platz vor dem Spiegel ein und kümmerte mich um meine Haare. Ich hatte sie gerade einmal durchgebürstet und griff nun nach dem Föhn, als ich von Cio ein überraschtes „Wirklich?!“ hörte. Neugierig drehte ich mich wieder zu ihm um.
„Das ist ja phantastisch! Ja, klar, bin schon auf dem Weg.“ Er nickte einmal. „Okay, dann bis gleich. Und vielen Dank.“ Als er den fragenden Ausdruck in meinem Gesicht sah, grinste er nur und drückte mir einen Schmatzer auf die Nasenspitze. „Ich muss noch mal kurz weg etwas abholen.“
„Jetzt?“ Wir mussten in einer knappen Stunde doch schon im Restaurant sein, damit unser Tisch nicht anderweitig vergeben wurde.
„Geht leider nicht anders.“ Eilig klaubte er seine Sachen auf dem Boden zusammen. „Ich hab noch ein kleine Überraschung für dich, darum …“ Er hielt kurz inne und überlegte. „Am Besten treffen wir uns einfach um sechs im Restaurant.“
„Ähm … okay.“
„Nimm dir ein Taxi, oder lass dich fahren, dann …“ Er stockte und musterte mich. „Bekommst du das alleine hin?“
Jetzt war es an mir zu lächeln. Zwar hatte ich mir das ein wenig anders vorgestellt, schließlich wollte er mir ja die Türen öffnen und beim Aussteigen helfen, aber er schien sich über das was da gerade am Telefon los war wirklich zu freuen und das würde ich ihm sicher nicht kaputt machen. „Ich frage Celine, ob sie mich hinbringen kann.“
„Bist du dir sicher?“
„Ja, ich schaff das. Und nun geh schon, dann kann ich mich wenigstens ohne deine lüsternen Blicke fertig machen.“
Grinsend gab er mir noch einen Kuss und schmierte mir dabei die Reste von seinem Rasierschaum ins Gesicht. „Über die lüsternen Blicke werden wir uns später noch mal unterhalten“, erklärte er mir und verschwand dann ohne ein weiteres Wort, oder gar einen Abschiedskuss zur Tür hinaus.
Okay, also tschüss sagen, hätte er ja nun schon noch gekonnt, oder? Aber da er so schnell los musste, um für mich eine Überraschung zu besorgen, wollte ich mal nicht so sein. Außerdem hatte ich so wirklich ein wenig mehr ruhe, um mich fertig zu machen. Vielleicht schaffte ich es ja sogar, ihn später mir meinem Aussehen zu überraschen. Wenn ich mir ein wenig mühe gab, konnte mir das durchaus gelingen.
So verbrachte ich die nächste dreiviertel Stunde damit mich herauszuputzen und auf Hochglanz zu polieren. Das war schon ein kleiner Unterschied, denn normalerweise machte ich nur das Nötigste und war nach zehn Minuten fertig. Ich war eben noch nie eine von den Frauen gewesen, die stundenlang im Bad stehen konnten, nur um sich zu schminken.
Jetzt aber tat ich genau das. Ich überlegt sogar meine Brille hier zu lassen, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Meine Kontaktlinsen waren zu Hause und blind durch die Gegend laufen konnte mit einer Beule am Kopf enden – ich sprach da aus Erfahrung.
Zwar war ich nie ein Mensch gewesen, der besonders hohen Wert auf sein Äußeres legte, aber einen kleinen Tick hatte ich doch: Unterwäsche. Es musste immer ein passendes Set sein und alles aus feinster Spitze. Ich liebte es mich in edle Stücke zu hüllen und so entschied ich mich für ein schwarzes Set. Das passte perfekt zu dem eleganten Abendkleid, das Roselyn mir besorgt hatte. Es war schwarz, lang und auch wenn der hohe Beinschlitz nicht ganz so meins war, der herzförmige Ausschnitt glich das wieder aus.
Am Ende rückte ich meinen Haaren sogar noch mit dem Lockenstab zu Leibe, damit sie mir nicht nur langweilig und glatt um den Kopf hingen und war ein ganz kleinen wenig stolz auf mich, als ich das Ergebnis im Spiegel sah. „Ich werde ihn umhauen“, erklärte ich meinem eigenen Spiegelbild. „Der wird Augen machen.“
Mein Spiegelbild antwortete mit einem Lächeln, dass mich sehr zufrieden stellte. Dann war es auch schon Zeit sich auf den Weg zu machen. Natürlich musste ich mir noch die Schuhe anziehen und sowohl das neue Handy, als auch meinen Elektroschocker in die kleine, schwarze Handtasche stecken, aber dann war ich fertig.
An der Haustür schnappte ich mir noch meinen Mantel und rief Roselyn zu, dass ich jetzt gehen würde, doch sobald ich die Haustür öffnete, tat sich vor mir ein Hindernis auf.
„Halt!“, rief ich mit Nachdruck und hielt Ferox damit gerade noch so davon ab mich anzuspringen. „Wage es ja nicht, lass deine Pfoten auf dem Boden, sonst stecke ich dich in eine Badewanne und dann werde ich dich waschen, bist du sauber bist und mich nicht mehr dreckig machen kannst.“
Kläglich wimmernd lief er vor mir einmal auf und ab, wagte es aber nicht mich überschwänglich zu begrüßen, da er den scharfen Ton in meiner Stimme sehr wohl wahrgenommen hatte.
„Gute Junge“, lobte ich ihn. „Komm, du darfst mich noch zum Haupthaus begleiten, aber nur damit wir uns gleich richtig verstehen, du wurdest nicht ins Restaurant eingeladen, du musst hier bleiben. Okay?“
Er stellte die Ohren auf und guckte mich an.
„Ich glaube, das müssen wir gleich noch ein wenig genauer klären.“ Ich zog meinen Mantel etwas enger, weil es hier draußen schon ganz schön kalt war und ein sehr frischen Lüftchen um meine Beine wehte. Dann folgte ich dem Steinpfad rüber zum Haupthaus. Dabei musste ich ziemlich aufpassen nicht zu stolpern. Nicht nur wei es für mich ungewohnt war auf hochhackigen Schuhen zu laufen – ich machte das halt nicht oft – der Weg war auch dunkel, da er um diese Zeit nur noch von der spärlichen Verandabeleuchtung der Häuser beschien wurde. Außerdem war da so ein neunmalkluger Wolf, der mir ständig direkt vor die Füße lief, als wollte er prüfen wie standfest ich war.
„Also gleich trete ich dir in den Hintern“, erklärte ich beim dritten mal und umrundete ihn.
Weiter vorne lachte jemand. „Das wäre aber nicht sehr nett“, bemerkte Nathan, der mir mit Cooper und Ayko entgegen kam.
„Mich zum Fallen zu bringen aber auch nicht.“ Ich blieb stehen, als die drei Männer mich erreichten und ignorierte Ferox, der sich deswegen in die Schatten verzog. Fangen spielen war okay, aber zu nahe musste man diesen Leuten deswegen ja noch lange nicht kommen.
„Wow“, sagte Ayko und musterte anerkennend von oben bis unten. „Du siehst heute wirklich wunderschön aus.“
Jup, bei diesen Worten kroch tatsächlich eine leichte Röte in meine Wangen. „Danke.“ Und das sagte er, obwohl ich den Mantel trug. Vielleicht würde ich Cio in dem Kleid heute Abend ja wirklich ein bisschen verzaubern können. Und wo wir schon einmal beim Thema waren. „Könnt ihr mir sagen wo ich Celine finde? Cio musste schon weg und ich hatte gehofft, dass sie mich …“
„Ich weiß schon“, unterbrach Ayko mich. „Cio hat Bescheid gesagt, bevor er gefahren ist und darum gebeten, dass dich jemand zum Restaurant bringt. Deswegen waren wir gerade auf dem Weg zu dir.“
Ach so? „Ich dachte Celine könnte …“ Ich ließ den Satz einfach verklingen, als ich Aykos Gesicht sah.
„Celine ist noch beschäftigt.“
Den Eindruck hatte ich auch. Wahrscheinlich musste sie mir aus dem Weg gehen, weil ich ihre Lieblingsenkelin angemacht hatte. Dabei war doch alles von dem was Cio gesagt hatte die Wahrheit gewesen. „Ich verstehe.“
„Nimm es ihr nicht übel.“
Naja, wenigsten hatte ich noch eine andere Großmutter und die würde ein so schlechtes Verhalten wie Kiara es an den Tag legte, mit Sicherheit nicht durchgehen lassen.
Was regte ich mich eigentlich so auf? Ich wusste doch genau wie sie war und kannte auch die Gründe dafür. Es war nur einfach Kindisch, wie Celine sich verhielt. Und die war meine Oma. „Ist egal, Hauptsache ich komme irgendwie ins Restaurant.“ Ich wollte ja meinen Abend mit Cio nicht verpassen.
„Cooper hat angeboten dich zu fahren“, erklärte Ayko und nickte zu dem griesgrämigen Mann mit der langen Narbe neben sich.
„Wirklich?“, fragte ich erstaunt und entlockte Nathan damit sofort ein Lachen. Aber mal ehrlich, bisher hatte Cooper nicht den Eindruck gemacht, als würde er meine Existenz freiwillig zur Kenntnis nehmen.
„Ach, lass dich von seiner Art nicht täuschen“, sagte Nathan und tätschelte seinem Mann den Arm. Langsam gewöhnte ich mich daran, dass er den Kopf überhaupt nicht bewegte, wenn er sich mit den Leuten unterhielt. „In Wirklichkeit ist er einfach nur ein wenig schüchtern und kann es nicht so zeigen, wenn er jemanden mag.“
Cooper warf ihm einen Blick zu, als fragte er sich, ob er das ernst meinte. „Du fährst gleich im Kofferraum mit.“
„Da kann ich mich wenigstens hinlegen.“
Klar, immer das positive sehen. In Nathans Welt war das Glas wohl auch immer halb voll.
„Ihr solltet aufbrechen“, bemerkte Ayko. „Sonst kommt Zaira noch zu spät zu ihrer Verabredung.“
Und das ging ja mal gar nicht, besonders nicht heute. Also verabschiedeten wir uns von Ayko und sobald er mir noch einen schönen Abend gewünscht hatte, machten wir uns auf den Weg zu dem Wagen der beiden. Der stand zum Glück nicht so weit weg, ich hatte da schließlich noch immer das Problem mit den hohen Absätzen und der Dunkelheit. Ach ja, und der diesem aufdringlichen Wolf, der gar nicht einsehen wollte, dass er hierbleiben sollte.
Ich zeigte ihm immer wieder Bilder von ihm und dem Gracia-Hof und dass ich später wieder zu ihm kommen würde, aber selbst nach mehreren Gesprächen, gab er nur ein stures Grummeln von sich.
Zum Schluss holte Cooper mir noch einen riesigen Kauknochen, den ich Ferox vor die Nase hielt, aber ich war mir dennoch nicht sicher, ob er hierbleiben oder mir folgen würde, sobald er seine Mahlzeit vertilgt hatte. Da ich aber keine Zeit mehr hatte, da ich sonst zu spät kommen würde, hoffte ich einfach auf das Beste und stieg zu den beiden Männern in den Wagen.
Auf der Fahrt unterhielt Nathan mich mit alten Geschichten über Cayenne. Ich war ein wenig erstaunt zu erfahren, dass er ein alter Freund von ihr war und sie bereits gekannt hatte, als sie noch mit meine Vater leiert gewesen war. Und auch das sie bei ihm in der Kneipe gearbeitet hatte, was mein Vater wohl damals nicht sehr lustig gefunden hatte.
Als wir das kleine Restaurant mit Namen Avoir Faim erreichten, war es bereits kurz vor sechs und die Lokalität schon gut besucht. Ich bedankte mich noch bei den beiden und verabschiedete mich mit einem Winken, bevor ich mir meine Handtasche über die Schulter hängte und die Gaststätte betrat.
Es war ein sehr kleines Restaurant in rot und dunklen Brauntönen. Vielleicht zwanzig Tische, die alle gut besucht waren. Das Ambiente war sehr ansprechend und die Gerüche in der Luft ließen mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Zur Feier des Tages hatte war der Raum dezent mit Herzen und kleinen Engeln geschmückt worden. Ich fand es ein wenig kitschig, aber vor allen Dingen mochte ich den kleinen Cupido nicht mehr. Das weckte einfach zu viele schlimme Erinnerungen. Leider ließ sich das an einem solchen Tag nicht vermeiden, also versuchte ich nicht darauf zu achten.
Stattdessen regte ich den Hals in der Hoffnung Cio vielleicht schon irgendwo an den Tischen zu entdecken, aber da waren überall nur Pärchen und als ich die Luft prüfte, konnte ich auch nur den Geruch von Menschen wahrnehmen.
„Kann ich ihnen helfen?“
Vor Schreck griff ich mir an die Brust, stellte aber sogleich fest, dass mich nur einer der Kellner angesprochen hatte. Gott, mein Herz. „Ja, ähm … mein Verlobter hat hier für sechs Uhr einen Tisch reserviert. Entweder auf den Namen Evers, oder Steele.“
„Schauen wir doch mal.“ Der Kellner lächelte mich freundlich an und deutete mir mit einer Geste ihm zu seinem Empfangspult zu folgen, wo er in einem Buch nachschaute. „Ah, da haben wir ihn ja auch schon, sechs Uhr Evers. Bitte folgen sie mir doch.“ Er nahm noch eine Bestellkarte aus einem Fach und führte mich dann quer durch das Restaurant zu einem kleinen Tisch direkt am Fenster.
„Möchten sie schon etwas bestellen?“, fragte er, während er die Kerze auf dem Tisch anzündete.
„Nein danke, ich warte noch auf meinen Verlobten, er müsste gleich kommen.“ Ich hängte meinen Mantel über die Stuhllehne und setzte mich dann.
„Vielleicht schon etwas zu trinken?“
Joa, das ginge wohl. „Eine Apfelschorle wäre nett. Danke.“
„Natürlich, ich bringe sie ihnen sofort.“ Er legte die Bestellkarte noch auf den Tisch und entschwand dann.
Das Plätzchen hier war recht hübsch. Durch das Fenster hatte man Aussicht auf einen kleinen Park mit einem Teich, der von vereinzelten Laternen beschien wurde. Das einzige was mich störte – von Cios Fehlen einmal abgesehen – war die kleine Amor-Figur, die neben der Kerze auf dem Tisch stand.
Ich starrte sie eine geschlagene Minute böse an, bevor ich sie entschieden wegdrehte und beim Blick aus dem Fenster darüber nachdachte, was für eine Überraschung Cio wohl für mich hatte. Heute war immerhin Sonntag und da gab es nicht allzu viele Möglichkeiten.
Als der Kellner mir ein paar Minuten später mein Getränk brachte, wurde die Frage nach meiner Überraschung langsam nebensächlich, ich fragte mich nur noch, wo Cio blieb. Steckte er vielleicht irgendwo im Stau fest? Auf jeden Fall war es kein besonders tolles Gefühl am Valentinstag mit einem Glas Apfelschorle alleine in einem Restaurant zu sitzen.
Um mir die Wartezeit zu vertrödeln, begann ich die anderen Pärchen an ihren Tischen zu beobachten. Da war ein wirklich altes Ehepaar und die Frau schimpfte ununterbrochen mit ihrem Mann, doch der lächelte nur selig und aß in Ruhe seinen Fisch. Vielleicht war er ja taub und hatte sein Hörgerät ausgeschaltet.
Am Tisch daneben saß eine Frau in den mittleren Jahren, die einen deutlich jüngeren Begleiter hatte.
Das Pärchen ein Stück weiter konnte kaum die Finger voneinander lassen. Sie wirkten wie frisch Verliebte und so wie sie sich mit Blicken anschmachteten, würden sie sicher nicht mehr lange sitzen bleiben.
Ich nahm einen Schlug von meiner Schorle und warf dabei einen Blick auf die Uhr an der Wand. Hm, zwanzig nach sechs. Wo blieb Cio nur? Eigentlich hatte ich ja damit gerechnet, dass er schon vor mir hier sein würde und nun war ich hier allein und drehte Däumchen.
Als er zehn Minuten später noch immer nicht aufgetaucht war und der Kellner mir schon den einen oder anderen bösen Blick zugeworfen hatte, weil ich die ganze Zeit einen Tisch besetzte, ohne etwas zu essen, holte ich mein Ersatzhandy aus der Tasche und rief ihn an. Dabei sagte ich mir immer wieder, dass ihm sicher nur etwas dazwischengekommen war und es keinen Grund für meine aufkommende Sorge gab. Vielleicht war er ja auch irgendwo mit dem Wagen liegen geblieben. Seltsam war nur, dass er nicht anrief um Bescheid zu sagen, damit ich mir keine Sorgen machte. Oder auch, dass sein Handy jetzt klingelte, aber niemand am anderen Ende abnahm.
Der Gedanke an meinen Vater stieg auf, wie ich nach der Explosion versucht hatte ihn anzurufen, aber niemand ans Telefon gegangen war.
Nein, ich würde mich jetzt nicht selber verrückt machen. Wahrscheinlich gab es für alles eine ganz vernünftige Erklärung. Iesha wollte ihn für sich haben, es würde ihr nichts bringen ihn in die Luft zu jagen. Außerdem wusste sie doch gar nicht wo wir waren. Diese Gedanken waren also unsinnig. Trotzdem versuchte ich noch ein zweites und drittes Mal ihn anzurufen und als das nicht brachte, schickte ich ihm eine Nachricht, dass er sich bei mir melden sollte, weil ich mir Sorgen machte.
Gerade als der Kellner kam, legte ich das Handy wieder zur Seite. „Es tut mir leid, aber sie müssen etwas bestellen, sonst muss ich ihren Tisch anderweitig vergeben.“
„Aber mein Begleiter …“ Ich verstummte, als ich den unnachgiebigen Ausdruck in seinem Gesicht sah. „Gut dann … bringen sie mir doch bitte eine Tomatensuppe als Vorspeise.“
„Sehr gerne.“ Er nickte und verschwand dann auch wieder.
Ich jedoch wurde langsam unruhig. Es war einfach nicht Cios Art mich zu versetzten und schon gar nicht ohne sich bei mir zu melden. Oder in der Situation, in der wir beide uns befanden.
Trotz der Zweifel und der immer größer werdenden Sorgen um ihn, verbot ich mir die Horrorszeneariern, die sich mein Geist ausmalen wollte. Ihm war nichts passiert, es ging ihm gut, er verspätete sich eben nur etwas. Nur weil in der letzten Zeit alles Mist gewesen und so viel geschehen war, musste das noch lange nicht heißen, dass jetzt irgendetwas passiert war.
Fünf Minuten lang sagte ich mir das immer und immer wieder, dann hielt ich es nicht mehr aus und rief ihn noch mal an. Leider hob am anderen Ende wieder niemand ab. Vielleicht hatte er sein Handy ja verloren, dann konnte er natürlich nicht ran gehen, aber wie wahrscheinlich war das bitte?
Okay, ich war offiziell besorgt. Es ging gar nicht anders. Die letzten Wochen hatten mir einmal zu oft gezeigt, dass selbst aus den harmloseren Situationen Katastrophen werden konnten. Darum rief ich noch mal an und noch mal. Und schickte sogar noch eine Nachricht, aber alles bleib unbeantwortet.
Als der Kellner mit der Suppe kam, beachtete ich ihn nicht mal. Ich hatte schon wieder das Handy am Ohr, aber ohne nennenswertes Ergebnis.
Was sollte ich nur tun, wenn ich ihn nicht erreichte?
Okay, erstmal musste ich mich beruhigen und logisch vorgehen. Vielleicht … vielleicht war er ja wieder um Gracia-Hof gefahren. Mir fiel dazu zwar kein guter Grund ein, aber man konnte ja nie wissen. Als wählte ich Celines Nummer und dieses Mal wurde am anderen Ende auch abgehoben.
„Gracia-Ökonomie.“
„Celine? Ich bin es, Zaira. Sag mal, ist Cio vielleicht wieder bei euch?“
„Cio? Ist er denn nicht bei dir?“
Okay, das war ja nun mal eine sehr dumme Frage gewesen. Warum sollte ich bitte anrufen und fragen, wenn er hier bei mir war? „Nein, ist er nicht, dabei waren wir schon vor einer dreiviertel Stunde verabredet gewesen. Er geht auch nicht an sein Handy ran.“
Sie schwieg einen kurzen Moment. „Also ich hab ihn das letzte Mal gesehen, als er losgefahren ist. Moment, ich frag mal Ayko.“
Am Ende fragte sie nicht nur Ayko, sondern das halbe Rudel, aber eines wurde sehr schnell klar, er war nicht dort.
Celine versprach mir, dass sie sich bei mir melden würde, wenn er dort auftauchen sollte und sagte mir, dass er wahrscheinlich nur eine Panne hatte und ich mir keine Sorgen machen sollte. Leider schaffte sie es dabei nicht den besorgten Ton aus ihrer Stimme herauszuhalten. Das Ayko im Hintergrund rief, er machte sich jetzt mit ein paar Leuten auf die Suche nach Cio, half auch nicht wirklich dabei meine Sorge zu mindern.
„Sollen wir dich abholen kommen?“, fragte Celine am Ende noch.
„Nein, ich … vielleicht kommt er ja noch.“ Ich hatte da zwar meine Zweifel, aber ich wollte dass er noch hier auftauchte. Darum ließ ich mich von ihr auch nicht umstimmen, als sie es noch ein paar Mal versuchte. Aber ich konnte ihr zumindest versprechen mich wieder zu melden, sollte doch noch etwas sein.
Als ich dann aufgelegt hatte, saß ich wieder da und wusste nicht was ich tun sollte. Ich konnte ihn nicht mal suchen gehen, weil ich keine Ahnung hatte, wohin er gefahren war, oder was genau er vorgehabt hatte. Aber vielleicht … würde er es Aric sagen, wenn er eine Überraschung für mich geplant hatte? Immerhin waren die beiden beste Freunde. Doch wahrscheinlich hatte man ihn genauso wie uns dazu angehalten sein Handy Zuhause zu lassen, bevor man ihn und Kasper wegbracht hatte. Es würde also auch kein Sinn machen ihn anzurufen.
Was könnte ich noch tun? Was sollte …
Als das Handy in meine Hand plötzlich piepte, riss ich es so eilig hoch, dass es mir fast aus der Hand rutschte. Ich hatte eine Nachricht bekommen und … Oh Gott, sie war von Cio!
Als ich das sah, fielen mir nicht nur ein paar Felsbrocken vom Herzen, nein, es war schon ein ganzer Berg mit den Ausmaßen vom Himalaya. „Ich hoffe deine Entschuldigung ist gut“, murmelte ich düster, war aber gleichzeitig einfach nur froh ein Lebenszeichen von ihm zu erhalten. Das Glück war jedoch nur von kurzer Dauer, denn das war keine Nachricht die er mir da geschickt hatte, es war ein Bild.
Einen unendlichen Moment konnte ich nur voller Entsetzten auf das Foto schauen. Was ich da glaubte zu sehen, konnte einfach nicht sein. Dieses Bild … es konnte nicht existieren, das war unmöglich. Doch die Erinnerungen die es mit sich brachte waren so lebhaft, dass ich das Handy nur schockiert auf den Tisch fallen lassen konnte, während ich gleichzeitig aufsprang, um so viel Abstand wie möglich dazu zu bekommen.
Mein Stuhl kippte um und einige Leute schauten erschrocken zu mir hinüber. Ich merkte es gar nicht. Ich konnte nur dieses Bild anstarren, ein Bild von dem Moment, als Owen mich mit dem Gesicht voran gegen die Stallwand gedrückt und mich mit seinen schmierigen Händen begrapscht hatte.
Als der Kellner kam und mich fragte, ob alles in Ordnung sei, hörte ich seine Stimme, aber ich war nicht fähig zu antworten. Wer hatte dieses Bild gemacht? Ich war mit Owen allein gewesen, da war sonst niemand, wie also konnte ein Beweis für dieses Vergehen existieren? Wie kam dieses Foto zu Cio? Wie …
Die Berührung des Kellnerns an meinem Arm ließ mich fast aus der Haut fahren. Ich stieß so heftig gegen den Tisch, dass nicht nur mein Glas, sondern auch die Kerze umfiel.
Der Keller reagierte sofort, doch als er dabei einen Blick auf mein Handy warf, schnappte ich es mir mit zitterten Finger und drückte es an meine Brust. Ich wollte nicht, dass er das sah. Dieses Foto sollte es gar nicht geben. Oh Gott, warum nur ließ dieser Vorfall mich nicht endlich los? Warum nur hatte Cio mir das geschickt? Was wollte er mir damit sagen? Was …
Als das Handy wieder zu klingeln begann, ließ ich es vor Schreck fallen, aber dieses Mal war es keine Nachricht, jemand versuchte mich anzurufen, doch ich konnte nichts anderes tun, als zitternd auf das kleine Gerät zu starren.
Erst als es ein zweites Mal zu klingeln begann und der Kellner fragte, ob er einen Arzt rufen sollte, weil ich so blass war, schaffte ich es meine verkrampften Finger zu lösen und das Handy wieder aufzuheben. Als ich es jedoch wieder in den Händen hielt, hatte es bereits wieder aufgehört zu klingeln. Ein Blick jedoch reichte um mir zu verraten, dass es Celine gewesen war, die da versucht hatte mich zu erreichen. Ich brauchte zwei Versuche, um sie zurückzurufen.
„Zaira?“ Ihre Stimme klang angespannt.
„Ja?“ Meine klang hohl.
„Bist du noch in dem Restaurant?“
„Ja.“
„Okay, dann blieb da. Cooper und Nathan sind auf dem Weg zu dir um dich abzuholen. Geh bitte mit ihnen.“
Was? „Warum?“
Einen langen Moment blieb sie still, so als wüsste sie nicht genau wie sie das nächste sagen sollte. „Wir haben Cios Wagen über das GPS-Signal gefunden, über das wir alle unsere Autos orten können.“
Mein Griff um das Handy wurde fester. Ich wusste was sie sagen würde. Ich hoffte, je flehte geradezu darum, dass ich mich irrte, aber noch bevor sie es aussprach, war mir klar, was ich gleich zu hören bekommen würde.
„Cio saß nicht in dem Auto und wir konnten ihn bisher nicht finden.“
Nein. Bitte nein.
„Er ist verschwunden.“
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„Am Besten machst du dir gar nicht so viele Gedanken“, sagte Nathan, als Cooper unbeachtet der roten Ampel einfach über die Kreuzung fuhr und gleich darauf in eine schmale Nebenstraße einbog. „Wir wissen ja noch gar nichts genaues und vielleicht …“
„Nat“, mahnte Cooper und warf mir durch den Rückspiegel einen wachsamen Blick zu. „Lass gut sein.“
Ganz kurz schien Nathan noch etwas sagen zu wollen, besann sich dann aber eines besseren und verfiel in Schweigen.
Ich hörte ihnen gar nicht richtig zu. Voller Anspannung beobachtete ich die Lichter der Scheinwerfer, die über den Asphalt der nächtlichen Straßen krochen und unheimliche Schatten in der Dunkelheit bildeten. Dabei hielt ich meinen Verlobungsring so fest umklammert, dass ich davon sicher schon einen Abdruck in der Hand hatte. Ich spürte es nicht, ich nahm kaum etwas wahr. Da waren nur diese unzähligen Fragen in meinem Kopf. Wo war Cio? Warum hatte er mir dieses Bild geschickt? Wie war er überhaupt zu diesem Bild gekommen?
Die letzte Frage ließ sich recht leicht beantworten. Er konnte es nur von Iesha haben, aber wie nur hatte sie das angestellt? Wie war sie an das Foto gekommen? Woher hatte sie seine neue Nummer? Außer Cayenne, Celine und mir besaß sie doch niemand.
Nein, widersprach ich mir selber im gleichen Moment, da gab es noch jemand, der die Nummer hatte: Die Person mit der Cio vorhin im Bad telefoniert hatte. Ich hatte keine Ahnung wer das war, ja ich wusste nicht einmal, ob es ein Mann oder eine Frau war, aber Da Cio von dieser Person angerugen worden war, musste sie seine Nummer folglich auch haben. Leider erklärte das noch lange nicht, wie Iesha Cio dieses Bild hatte zukommen lassen können, oder warum er es mir geschickt hatte. Was wollte er mir damit sagen?
Konnte es sein … wollte er vielleicht … nachdem er dieses Bild gesehen hatte … verdammt! Ich schaffte es nicht mal diesen Gedanken in meinem Kopf zu formulieren. Aber diese Angst war da, dass er sich das ganze vielleicht doch noch mal anders überlegt hatte, jetzt, nachdem er nicht nur gehört, sondern auch gesehen hatte, was im Stall geschehen war.
Wollte er mich verlassen? War er deswegen vielleicht einfach verschwunden, weil er es nicht ertragen konnte mir noch einmal gegenüber zu stehen? Aber das würde er doch nicht tun, oder? Er liebte mich doch und noch vorhin hatte er mit mir seine Scherze getrieben.
Angespannt beobachtete ich, wie links und rechts die Wohnhäuser an dem Wagen vorbeiflogen. Cooper fuhr mit viel zu hoher Geschwindigkeit, aber mir war das noch nicht schnell genug. Wenn ich nicht bald erfuhr, was hier los war, würde ich noch durchdrehen.
Mein Körper war zum zerreißen gespannt, als Cooper endlich das Tempo drosselte. Er bog noch einmal nach rechts in eine ziemlich einsame Industriestraße ab und sagte dann: „Da sind sie.“
Sofort regte ich den Kopf, aber außer mehreren Autos die kreuz und quer herumstanden und die Fahrbahn blockierten und ein paar Gestalten, die sich dazwischen bewegten, konnte ich nicht viel erkennen. Ich musste warten bis er hinter einem silbernen Kombi hielt und ich aussteigen konnte.
Meine Handtasche ließ ich einfach auf der Rückbank liegen, als ich die Tür aufstieß und noch vor den beiden Männern in die kalte Nachtluft trat. Ich gab mir einen Moment um mich zu orientieren. Mehrere Bürokomplexe, ein paar kleine Läden, eine Eckkneipe. Was hatte Cio in dieser Gegend gewollt und warum hatte er seinen Wagen hier zurückgelassen?
Auf der Suche nach Celine ließ ich meinen Blick schweifen, doch es war Ayko den ich zuerst entdeckte. Er stand zusammen mit zwei Frauen und Keenan halb im Scheinwerferlicht eines blauen Audis und nickte immer wieder, während er Keenan lauschte.
Meinen Ring noch immer fest umklammert, wartete ich gar nicht erst auf Cooper und Nathan, sondern machte mich sofort auf dem Weg zu Ayko, doch kurz bevor ich ihn erreichte, sah ich etwas, dass mich abrupt anhalten ließ.
Oh.Mein. Gott.
Die Scheinwerfer des blauen Audis waren nicht an, weil jemand vergessen hatte sie auszuschalten, sie leuchteten etwas an. Einen schwarzen Wagen, der sich die Schnauze an einer ziemlich standfesten Laterne eingedrückt hatte. Die ganze Motorhaube war verbogen und die Seite wies eine Delle und zerkratzen Lack auf. So als sei ihm jemand reingefahren. So als hätte ihn jemand von der Straße abgedrängt.
Ich merkte kaum wie ich mich mit langsamen Schritten auf die Unfallstelle zubewegte. Meine Beine machten sich einfach selbständig und dann roch ich es. Ein intensiver Geruch nach Parfum, so als hätte jemand versucht seinen Geruch zu überdecken, aber das nutzte nichts, ich nahm Cios Geruch trotzdem war, genau wie den von Iesha und … Blut.
Die ganzen Unsicherheiten verschwanden hinter einer eiskalten Angst. „Nein“, flüsterte ich. Das konnte nicht sein. Iesha konnte nicht hier gewesen sein, das war nicht möglich. Niemand wusste das wir hier waren.
Ich schüttelte die Betäubung ab und eilte zu dem Wagen.
„Hey!“, rief jemand, als ich ihn dabei fast über den Haufen rannte.
Jemand kam mit schnellen Schritten näher und kurz bevor ich den Wagen erreichen konnte, packte mich jemand am Arm. Celine. „Verdammt, was machst du denn hier? Cooper!“, rief sie quer über die Autos hinweg.
Ich riss mich von ihr los und stürzte zur offenen Tür des Wagens. Hier war der Blutgeruch noch stärker, genau wie der von Cio. Überall im Wagen roch es nach ihm und der Airbag … er war aufgeplatzt. Blut klebte am Lenkrad, als sei er beim Aufprall mit dem Kopf dagegen geknallt. Die Sitze waren leer.
„Warum hast du sie hergebracht?“, hörte ich Celine aufgebracht hinter mir fragen. „Du solltest sie zum Hof fahren.“
„Sie wollte hier her“, erwiderte Cooper schlicht.
„Ich habe dir einen ausdrücklichen Befehlt erteilt.“
„Sie hat ein Recht zu erfahren was hier los ist“, sagte er unnachgiebig. „Es geht immerhin um ihren Gefährten, aber mir ist schon klar, warum du dass nicht verstehst.“
Jemand knurrte, doch es war nicht Celine, wie ich feststellte, als ich mich zu ihnen umdrehte. Das Knurren kam von Ayko, der sich uns mit großen Schritten nährte.
„Pass auf was du sagst“, grollte er. „Die Beziehung zwischen Celine und mir geht dich nichts an.“
Widerwillig senkte Cooper den Kopf.
Ich achtete nicht auf den Disput zwischen ihnen. Ich griff einfach nur nach Celines Arm und riss sie zu mir herum. „Was ist hier passiert? Wo ist Cio?“ Denn mittlerweile war mir klar, dass er sich nicht einfach aus dem Staub gemacht hatte, nicht wenn mir immer noch Ieshas Geruch in die Nase steig. Das konnte nämlich nur bedeuten … oh bitte, mach das ich mich Täusche.
Ihre Mine wurde äußerst angespannt. „Wir wissen es nicht, der Wagen war bereits leer als Ayko hier ankam.“
Nein.
„Du musst jetzt ruhig bleiben“, schob sie schnell hinterher und wollte nach meiner Schulter greifen, doch ich wich vor ihr zurück. Das schien sie zu kränken.
„Wir wissen wo er war“, übernahm Ayko. „Bei einem Bekannten von mir, der als Juwelier arbeitet – er ist nur ein Mensch und weiß nichts von der verborgenen Welt. Ich habe den Kontakt zwischen den beiden hergestellt. Cio hat bei ihm etwas in Auftrag gegeben. Es war ziemlich kurzfristig und mein Bekannter ist deswegen sogar extra heute noch in seinen Laden gefahren, damit es rechtzeitig fertig wird. Ich hab schon mit ihm gesprochen. Cio war gegen halb sechs bei ihm, um es abzuholen.“ Er hob die Hand und präsentierte mir eine kleine, schwarze Samtschachtel. „Die haben wir im Fußraum gefunden. Sie muss vom Sitz gerutscht sein, als er gegen die Laterne gefahren ist.“
Das war es? Deswegen hatte Cio sich vorhin noch mal voller Freude auf den Weg gemacht?
Mit zitternden Fingern nahm ich Ayko die Schachtel aus der Hand und klappte den Deckel auf. Darin lag ein schlichtes, herzförmiges Medaillon an einer sehr langen Silberkette. Das Zeichen der Unendlichkeit war darin eingeätzt.
Vorsichtig nahm ich es heraus und öffnete es. Im Inneren verbarg es zwei Bilder. Auf dem einen waren Cio und ich zu sehen, wie wir uns küssten. Es war vor zwei Jahren auf einem Grillfest bei Cayenne entstanden. Alina hatte es gemacht.
Das zweite war ein Ultraschallbild vom kleinen Passagier, kaum mehr als ein Klecks auf dunklem Grund, aber ich kannte es, weil ich es mir so oft angesehen hatte. Es musste es sich kopiert oder abfotografiert haben, ohne dass ich es mitbekommen hatte.
Als ich spürte wie meine Augen anfingen zu brennen, klappte ich es eilig zu und wollte es zurück in die Schachtel legen. Dabei bemerkte ich, das da noch etwas auf der Rückseite eingraviert war. Ich wusste nicht genau welche Worte ich erwartete, als ich es umdrehte, aber mit Sicherheit nicht das.
Und so, im Kusse, sterb ich.
Ich schlug mir die Hand vor dem Mund. Das waren Romeos letzte Worte an Julia gewesen, bevor er das Gift von ihren Lippen geküsst hatte, weil er in einer Welt ohne sie nicht leben wollte – nein, wollte war das falsche Wort, konnte. Er konnte in einer Welt ohne sie nicht leben.
Manch einer würde dies als Liebesschwur vielleicht ein wenig morbide finden, doch ich verstand was Cio mir damit sagen wollte. Ein Leben ohne mich wäre für ihn nicht lebenswert. Ich war die Einzige für ihn, bis zum bitteren Ende.
Aber jetzt war er weg. Ieshas Geruch lag in der Luft und er war weg. Iesha war hier gewesen, Iesha hatte uns gefunden.
Erst in diesem Moment wurde mir das volle Ausmaß meiner eigenen Gedanken bewusst. Iesha war hier gewesen, genau an der Unfallstelle und jetzt war sie wieder weg, genau wie Cio. „Iesha hat ihn.“ Diese Erkenntnis traf mich so heftig, als hätte sie mir jemand mit einem Vorschlaghammer ins Gesicht geknallt und für einen Moment war mein ganzes Denken eingestellt.
Ayko neigte den Kopf leicht zur Seite. „Was hast du gesagt?“
„Wer ist Iesha?“, fragte Nathan.
Keenan verlagerte unruhig sein Gewicht von einem Bein auf das andere. „Das ist die Braut, wegen der die beiden sich bei uns verstecken. Du weißt schon, die die der Kleinen hier nach dem Leben trachtet.“
„Iesha hat Cio.“ Nur so konnte es sein. Cio wäre nicht einfach verschwunden, nicht heute, nicht nachdem er extra noch dieses Medaillon geholt hatte. Nicht aus so heiterem Himmel. „Iesha war hier, sie hat ihn sich geschnappt und ist mit ihm verschwunden. Darum ist er nicht hier, darum geht er nicht an sein Handy.“ Darum hatte ich auch dieses Bild von seiner Nummer bekommen. Es war nicht Cio gewesen, der mir das geschickt hatte, nein, das war Iesha. Ich hatte keine Ahnung, woher sie das Bild hatte, aber ich war mir sicher, Iesha hatte es mir von seinem Hand geschickt. Cio würde sowas nicht machen.
„Er hat sein Handy bei sich?“, fragte Keenan.
Ich schaute ihn nur hilflos an. Woher sollte ich wissen, was mit dem Handy geschehen war, nachdem sie mir dieses Bild geschickt hatte. Ich wusste nicht mal wie sie es geschafft hatte Cio in ihre Gewalt zu bringen, denn er war sicher nicht freiwillig mit ihr gegangen. Er musste wegen des Unfalls bewusstlos gewesen sein, oder so schwer verletzt, dass er sich gegen sie nicht hatte wehren können. Oh Gott, was wenn er verletzt war? Sie würde ihn doch sicher nicht ins Krankenhaus fahren lassen, oder?
„Woher willst du wissen, dass Iesha etwas mit Cios Verschwinden zu tun hat?“, fragte Celine. „Vielleicht ist er ja nur ausgestiegen um …“
„Um was?!“, fragte ich sie scharf. Es war mir egal, dass sie mir eigentlich nur helfen wollte. „Einen Spaziergang im Mondschein zu machen?!“
„Hey“, sagte Keenan. „Komm mal wieder runter.“
Ich ignorierte ihn. „Ich kann sie riechen. Die Witterung, dass ist ihre. Sie war hier und jetzt ist sie wieder weg, genau wie er! Man braucht nicht wirklich viel Grips um zu verstehen was das Ergebnis dieser Rechnung ist!“
Daraufhin folgte einen Moment betretenes Schweigen.
Warum nur hatte ich ihn allein gehen lassen? Wir hatten doch gewusst, dass es trotz allem gefährlich sein konnte. Aber in den letzten Tagen war alles so ruhig gewesen. Wir hatten uns in dieser falschen Sicherheit gewiegt und einfach nicht geglaubt, dass hier etwas geschehen könnte. Unser Plan war auf uns zurückgefallen.
Wir hatten gehofft, dass Iesha unvorsichtig auf der Suche nach uns unvorsichtig werden würde, aber nun war das genaue Gegenteil eingetroffen. Wir waren es die nicht richtig aufgepasst hatten, weil uns von allen Seiten gesagt worden war, sie könnte uns hier nicht finden. „Wie hat sie uns gefunden?“, fragte ich und spürte wie die Panik in mir aufstieg. Er war weg. Cio war weg und ich wusste nicht wohin sie ihn gebracht hatte. Oh Gott, was würde sie mit ihm machen?
„Ich weiß nicht.“ Ayko mahlte mit dem Kiefer. Die Situation behagte ihm nicht. Er war es nicht gewohnt, dass sich die Dinge so extrem seiner Kontrolle entzogen. „Keenan, benachrichtige unseren Kontaktmann bei der Polizei, er soll dafür sorgen, dass sich die richtigen Polizisten um diesen Fall kümmern. Und sieh zu, ob es eine Möglichkeit gibt Cios Handy orten zu lassen. Außerdem soll eine Gruppe die Stadt durchkämen. Vielleicht ist sie dumm genug hier irgendwo in einem Hotel abzusteigen.“
Iesha? Dumm? Würde mir diese Situation nicht den Boden unter den Füßen wegreißen, hätte ich wohl gelacht.
„Sie sollen alle herkommen und die Witterung aufnehmen. Und geht ein paar Klinken putzen, vielleicht hat ja irgendjemand etwas gesehen.“
Keenan nickt und noch während er sich umdrehte und sich von uns entfernte, holte er sein Handy heraus.
„Cooper, fahr Zaira bitte zum Hof und sorg dafür, dass …“
„Nein!“, rief ich, bevor er aussprechen konnte. „Ich werde mich bestimmt nicht irgendwo verstecken, wenn Cio in der Gewallt dieser Verrückten ist!“ Ich musste ihn finden. Ich konnte nicht nur tatenlos rumsitzen, ich musste mich auf die Suche nach ihm machen. Noch war er nicht weit weg, noch hatte ich eine Chance, ich musste mich nur sofort auf den Weg machen.
„Zaira“, sagte Celine, aber ich ignorierte sie und ging zurück zu dem Unfallwagen. Ich musste nur Ieshas Spur folgen. Am Ende würde ich Cio finde und dann würde ich diesem Miststück ein für alle Male den Kopf abreißen, damit sie sich nie wieder an meiner Familie vergehen konnte. Dieses Mal war sie zu weit gegangen, hier war Schluss.
„Zaira, sei doch bitte vernünftig“, versuchte Celine es noch einmal, als ich der Spur vom Auto aus auf die andere Straßenseite folgte.
Ich ignorierte sowohl ihre Worte, als auch der Tatsache, dass sie mir hinterher lief. Ich brauchte meine ganze Konzentration, um die Spur nicht zu verlieren und bedauerte es zum erste Mal in meinem Leben, dass ich kein reinrassiger Lykaner war. Ja, mein Geräuschsinn war bei weitem besser als der der Menschen, aber lange nicht so gut wie der eines Lykaners. Darum glaubte ich auch der Wind sei schuld, als die Witterung plötzlich endete.
Ich ging ein Stück zurück, um die Fährte wiederzufinden und versuchte dabei nicht darüber nachzudenken, dass sich Ieshas Geruch mit dem von starkem Parfum und Cio vermischte, aber auch beim zweiten Versuch endete die Spur an der selben Stelle.
„Nein.“ Ich ging zurück und versuchte es noch einmal. Ich wollte nicht einsehen, dass die Spur hier wirklich zu Ende war, denn das würde bedeuten, dass ich ihn so nicht finden konnte. Doch auch beim dritten Mal endete die Spur genau am Straßenrand, so als wären sie hier in einen Wagen gestiegen und weggefahren.
Ich ballte die Hände und kniff die Augen zusammen, während ich versuchte ruhig zu bleiben. Mir war es egal, dass mir alle mitleidig zuschauten. Ich musste ruhig bleiben und logisch vorgehen, denn wenn ich jetzt meiner aufsteigenden Panik nachgeben würde, hätte sie gewonnen. Wenn ich mir wirklich eingestand, dass Cio weg war und ich ihn nicht finden konnte, dann würde ich einfach zusammenbrechen. Aber ich durfte nicht zusammenbrechen, ich musste stark bleiben und ihn finden.
„Zaira …“
„Was?!“, fauchte ich Celine an und funkelte sie verzweifel an. „Ich kann nicht gehen, ich kann ihn nicht einfach so im Stich lassen, ich muss ihn finden, sonst wird sie ihm …“ Ich stockte. Finden, natürlich, das war es! „Ich muss zum Hof, sofort! Ferox ist dort, Ferox kann ihn finden.“
„Dein Wolf?“, fragte sie zweifelnd.
„Ferox kann mich über hunderte von Kilometern hinweg finden!“, fuhr ich sie an. Sie sollte ihre Zweifel gefälligst für sich behalten. „Ich könnte jetzt von hier aus nach Spanien fahren und früher oder später würde er dort auftauchen, ohne den kleinsten Hinweis darauf, wo ich bin! Er wird Cio finden!“ Mich hatte er im letzten Jahr auch gefunden, als niemand sonst wusste, wo er mich suchen sollte.
„Ich fahr dich“, bot Cooper an und zog die Autoschlüssel aus seiner Hosentasche. „Steig ein.“
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Keine Minute später saß ich wieder auf dem Rücksitz und hätte Nathan am liebsten angebrüllt, dass er sich gefälligst beeilen sollte, aber er war nun mal blind und musste sich auf unbekanntem Gelände von Cooper zum Wagen helfen lassen, um nicht gegen die ganzen Autos zu laufen.
Als Celine dann auch noch hinten mit einstieg, hätte ich fast geknurrt. Nicht wegen ihrer Anwesenheit, sondern weil Cooper noch immer nicht hinterm Steuer saß. Er wurde noch einmal von Ayko abgefangen, der ein paar Worte zu ihm sagte. Erst als ich kurz davor war vor Ungeduld zu platzen und schon überlegte ihm den Wagenschlüssel wegzunehmen um selber zu fahren, stieg er endlich ein und startete den Motor.
Auf der Fahrt zum Hof sparte es sich selbst Nathan mich mit Schönreden aufzuheitern. Er wechselte zwar ein paar Worte mit Cooper, ließ mich aber ansonsten in Ruhe. Sie alle ließen mich in Ruhe, auch wenn ich hin und wieder ihre Blicke spüren konnte. Celine schien sogar ein paar Mal versucht mich anzusprechen zu wollen, besann sich dann aber eines besseren.
Ich wollte auch nicht reden. Ich war viel zu angespannt, um jetzt eine vernünftige Unterhaltung zu führen. In meinem Kopf drehten sich die Gedanken allein um Cio. Wo war er jetzt? Ging es ihm gut? Konnte Ferox ihn finden? Oh Gott, er musste es einfach können. Ferox kannte Cio genauso gut wie mich, er konnte ihn sicher aufspüren. Ich musste nur fest genug daran glauben.
Die Fahrt zum Hof kam mir ewig vor. Obwohl Cooper kaum den Fuß vom Gaspedal nahm, hatte ich das Gefühl die Zeit die wir brauchten würde sich endlos dehnen und mit jeder Sekunde die wir länger unterwegs waren, gaben wir Iesha die Möglichkeit sich weiter von uns zu entfernen. Waren sie wieder auf dem Weg nach Silenda, oder schlug Iesha sich in eine andere Richtung durch? Ich würde es erfahren, sobald wir am auf dem Hof waren.
Die letzten Häuser von Neuss zogen an uns vorbei. Auf der Landstraße wurde der Wagen noch ein wenig schneller, bis endlich die ersten Gebäude vom Sitz des Gracia-Rudels aus der Dunkelheit auftauchten. Als er in die Einfahrt einfuhr, wurde er auch nur langsamer, um niemanden über den Haufen zu fahren, oder genau wie der andere Wagen frontal eine Laterne zu knutschen.
Ich wartete nicht mal bis der Wagen richtig stand, bevor ich nach der Tür griff und sie öffnete. „Ferox!“, rief ich schob beim Aussteigen und sah mich hektisch nach allen Seiten um. „Ferox, komm her!“
Ein paar Leute, die am Abend noch mal die Tiere in den Ställen kontrollierten, schauten bei meinen Rufen neugierig in meine Richtung.
„Ferox!“, rief ich noch ein drittes Mal und sah ihn dann hinter dem Kuhstall auftauchen.
Er hielt kurz an, gab ein leises „Wuff“ von sich und rannte dann so freudig auf mich zu, als hätten wir uns seit hundert Jahren nicht mehr gesehen. Er brauchte vielleicht drei Sekunden zu mir und hopste dann um mich herum, als wäre er ein Flummi.
Nur leider hatte ich für eine ausgiebige Begrüßung jetzt keine Zeit. „Nein“, sagte ich und packte ihm am Nacken, um ihn ruhig zu halten.
Er fiepte leise.
„Ruhig.“ Ich kniete mich auf den kalten Boden und packte seinen Kopf. „Du musst mir helfen“, sagte ich zu ihm, während ich meine Stirn gegen seine drückte und ihm Bilder von Cio schickte.
Ferox stellte sofort die Ohren auf und wedelte mit dem kleinen Stummel.
„Finde ihn“, sagte ich und schickte noch ein paar Bilder. Heute aus dem Bad und von der Strohschlacht nach dem Mittagessen. „Finde ihn“, wiederholte ich und startete damit das Spiel, dass ich ich schon vor so vielen Monaten beigebracht hatte. „Finde Cio“, forderte ich ihn auf und ließ ihn dann los. „Na los, finde ihn.“
Einen Moment schaute er mich nur an, dann fiepte er wieder, lief einmal im Kreis um mich herum und begann auf dem Boden herumzuschnüffeln.
„Nein, nicht so.“ Ich schnappte ihn mir wieder, aber dieses Mal zeigte ich ihm keine Bilder von Cio sondern wie er mich letztes Jahr nach der Entführung gefunden hatte. Von meiner misslungenen Hochzeit im Wald und der Transporter, in dem sie mich weggeschleppt hatten. Ich zeigte ihm die Spiele, die wir gespielt hatten und wie er mich aufgespürt hatte. Dann schickte ich wieder Bilder von Cio, in denen meine ganze Angst und Sehsucht um ihn mitschwangen. „Finde ich“, fehlte ich Ferox an und verbot mir das Brennen in meinen Augen. „Bitte, finde Cio.“
Als ich ihn dieses Mal losließ, stand er nur da und schaute mich hilflos an. Er jaulte leise, lief hin und her und jaulte wieder.
„Warum?“, fragte ich ihn leise. „Warum kannst du mich finden, aber nicht ihn?“
Er drücken seinen Kopf gegen meinen und zeigte mir Cio, wie er vor Stunden in den schwarzen Wagen gestiegen und vom Hof gefahren war.
„Das weiß ich“, sagte ich leise und kniff die Augen zusammen. Dabei zeigte ich ihm den schwarzen Wagen, der sich um die Laterne gewickelt hatte. Und ich zeigte ihm auch ein Bild von Iesha.
Die Reaktion kam prompt. Ihm sträubte sich nicht nur das Fell, bis er doppelt so große wirkte, er knurrte auch aus tiefster Kehle.
„Bitte“, fehlte ich ihn an und spürte wie mir die Kehle engt wurde, weil ich langsam verstand, dass es keinen Zweck hatte ihn zu bedrängen. Er hatte einfach keine solche Verbindung zu Cio wie zu mir, auch wenn ich nicht verstand warm. Was machte mich in seinen Augen so anders? Wie schaffte er es mich immer und überall aufzuspüren?
„Zaira“, sagte Celine sanft und erst als sie mich ansprach, fiel mir auf, dass sie und die beiden Männer ausgestiegen waren und ich schon die ganze Zeit beobachteten. „Komm steht auf, bevor du noch krank wirst. Wir werden Cio schon finden.“
Diese Worte gaben mir den Rest. In der letzten Zeit hatte ich sie so oft gehört. Wir werden Iesha finden, aber niemand hat irgendwas gefunden. Sie war und blieb verschwunden und nun … nun war auch Cio weg.
Mein tapfere Fassade bröckelte und dann kamen die Tränen.
°°°
Es ging ihm gut, sie würde ihn nie etwas antun – niemals. Das sagte ich mir immer und immer wieder. Ich musste, sonst würde ich verrückt werden und einfach zusammenbrechen. Iesha hatte Cio in ihrer Gewalt, aber sie würde ihm nichts tun. Sie wollte ihn nur für sich, das war alles, mehr nicht. Es würde ihm gut gehen. Er war zwar nicht freiwillig bei ihr, aber sie würde sich gut um ihn kümmern. Ob sie ihn nun wirklich liebte oder nicht, sie glaubte es zumindest und darum musste sie sich einfach um ihn kümmern.
Aber sind es nicht die, die wir am meisten lieben, die wir auch am tiefsten verletzen? Was wenn er etwas tat, dass sie nicht guthieß? Oder wenn sie einfach nicht verstand dass sie ihm schadete? Sie war immerhin verrückt. Niemand konnte sagen was in ihrer verqueren Welt richtig und falsch war. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, würde sie wohl alles in ihrer Macht stehende tun, um ihr Ziel zu erreichen. Oh Gott, ich konnte mir gar nicht ausmalen, was Cio bei ihr alles passieren konnte.
Es war fast sieben, was bedeutete, dass er seit knapp vierzehn Stunden verschwunden war. Vierzehn Stunden! Das war mehr als ein halber Tag. Ich war nicht mal annähend so lange in ihrer Gewalt gewesen und kämpfte noch heute mit den Folgen der Geschehnisse.
Müde rieb ich mir übers Gesicht und versuchte … keine Ahnung, meine Gedanken zu ordnen? Nicht durchzudrehen? Ich hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Wie auch?
Verdammt, ich musste ihn finden. Ich musste!
Celine trat mit einer Teetasse in der Hand an die Couch im großen Arbeitszimmer. Bereits vor Stunden hatte sie mich hier drauf gesetzt und seit dem nicht mehr aus den Augen gelassen. Keiner wollte mich aus den Augen lassen. Sie fürchteten wohl um das, was ich dann tun würde. Aber außer die halbe Nacht zu weinen und die Stunden darauf dumpf dazusitzen und zu grübeln, hatte ich gar nichts gemacht.
„Hier“, sagte sie und stellte die Tasse direkt vor mich auf den Tisch und nahm dann neben mir Platz. „Trink das, das wird dir gut tun.“
„Wie das? Hat der Tee Zauberkräfte und kann wünsche erfüllen, wenn ich ihn getrunken habe?“
Sie seufzte leise. „Zaira …“
„Lass es“, sagte ich und hob die Hand, um ihr zu verdeutlichen, dass es mir ernst war. „Nichts was du sagst oder tust kann mir helfen, also lass mich einfach in ruhe.“ Ja, vielleicht war es gemein von mir sie so vor den Kopf zu stoßen, aber ich hatte einfach nicht mehr die Kraft mir diese ganzen nutzlosen Plattitüden von ihr und den andern anzuhören. Das bisschen Energie was ich noch hatte brauchte ich, um durchzuhalten, bis mir endlich eine Idee kam, wie ich meinen Mann wiederfand.
„Und du glaubst diese Haltung hilft Cio?“, fragte sie. „Was glaubst du wie es für ihn sein wird dich wiederzusehen und ein Wrack vorzufinden?“
Ich funkelte sie wütend an. „Tu nicht so als wüsstest du irgendetwas über ihn oder mich. Du hast keine Ahnung wer ich bin, oder was ich schon getan habe. Als ich das letzte Mal hier war, hast du nicht mal ein einziges Wort mit mir gesprochen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob du überhaupt registriert hast, wer ich war.“
So wie sie mich daraufhin anschaute, hatte sie damals entweder wirklich nicht verstanden wer ich war, oder es war ihr einfach nicht bewusst gewesen, dass sie mich wirklich so links liegengelassen hatte. „Es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe, ich wollte nie …“
„Wann ist mein Vater hier?“, unterbrach ich sie, weil ich ihre Entschuldigung nicht hören wollte.
Celine hatte Cayenne noch gestern Abend angerufen, sobald sie es geschafft hatten mich ins Haus zu kriegen. Ich hatte auch schon kurz mit Papa gesprochen. Er wollte herkommen und mich abholen. Nein, das war falsch. Ich hatte darauf bestanden dass er herkam und mich abholte, denn hier war ich nicht mehr länger sicher und ich wusste, dass Iesha nicht mehr in der Gegend war. In Silenda hatte ich die größere Chance ihr auf die Spur zu kommen.
„So in ein bis zwei Stunden schätze ich.“
Mit einem „Ich hab´s!“, stürmte ein junger Mann in den Raum und schwang ein Handy in der Luft hin und her. „Es war gar nicht so schwer.“
Ayko und Keenan, die beim großen Schreibtisch standen und die Köpfe über ein paar Papieren zusammengesteckt hatten, schauten gleichzeitig auf.
„Du hast es entsichert?“, fragte Ayko.
Der junge Mann nickte und blieb direkt vor ihm stehen, um ihm das Handy zu überreichen.
War das nicht Cios Handy? Wo hatten sie das gefunden? Und wann? Warum hatte mir niemand gesagt, dass sie es gefunden hatten?
„Es wurden zwei Nummern gewählt. Eine von deinem Bekannten und dann die von …“ Der junge Mann warf mir einen flüchtigen Blick zu. „Es wurde damit ein Bild versendet.“
„Nein!“, rief ich und sprang auf, als ich diese Worte hörte. Ich versuchte so schnell um das Sofa zu kommen, dass ich fast noch über die Lehne fiel, doch als ich bei Ayko ankam, um ihm das Handy zu entreißen, riss er es schnell aus meiner Reichweite und versteckte es hinter seinem Rücken. „Tu das nicht“, flehte ich ihn an. „Bitte.“
Der junge Mann sah mich mitleidig an. „Vielleicht solltest du es dir wirklich nicht anschauen.“
„Warum?“ Ayko schaute von dem jungen Mann zu mir. „Was ist auf dem Bild zu sehen?“
Keiner von uns antwortete. Der Kerl schien sich sogar woandershin zu wünschen.
„Nun?“
Verdammt. Ich senkte den Blick und spannte die Schultern an. Nicht weil ich ihn schlagen wollte, obwohl mir der Gedanke einen kurzen Moment kam. Ich wollte nicht darüber sprechen. Aber noch viel weniger wollte ich, dass jemand dieses Foto sah. „Der schlimmste Moment in meinem ganzen Leben“, sagte ich leise und schwor mir, das Iesha dafür büßen würden mir das immer und immer wieder anzutun.
Einen endlos langen Moment schaute Ayko mich einfach nur an. „Du weißt was das für ein Foto ist?“
„Ja.“ Allein schon dieses eine Wort, war eine regelrechte Qual. „Sie hat es mir gestern im Restaurant von seinem Handy aus geschickt.“
„Können wir mit Hilfe des Fotos Cio finden?“
Ich schüttelte den Kopf. „Sie hat das nur geschickt um mich zu quälen.“ Und mein Leid zu verlängern.
Er seufzte geräuschvoll, gab das Handy dann aber an mich weiter.
Ich fackelte nicht lange es vom Speicher zu löschen. Selbst den Blick der Schnellansicht vermied ich dabei, Hauptsache diesen Bild verschwand endgültig von diesem Planeten. „Ihr hättet mich auch einfach nach dem Pin fragen können.“
Als Ayko nur stumm das Handy nach anderen Dingen durchforstete, kniff ich misstrauisch die Augen zusammen.
„Warum habt ihr mir nicht gesagt, dass ihr es habt? Wo habt ihr es eigentlich her?“ Da wieder keine Antwort kam, musste ich mich schwer zusammenreißen, um nicht zu knurren. „Ihr wolltet es vor mir verheimlichen.“
Keenan schnaubte. „Bilde mir mal nichts ein. Wir haben befürchtet, dass da etwas drauf ist, was dich aufregen könnte, deswegen haben wir dir nichts gesagt.“
„Warum hätte da etwas drauf sein sollen, was mich aufregt?“
„Weil wir es hier in der Nähe gefunden haben“, erklärte Celine und erhob sich selber vom Sofa. „Ein paar Leute von uns haben es nicht weit von hier entfernt im Straßengraben gefunden.“
„Aber wie es scheint, ist sie nur hier vorbeigefahren und hat es dabei aus dem Fenster geschmissen“, bemerkte Ayko und schmiss es auf seinen Schreibtisch. „Es ist nutzlos.“
Ich brauchte einen Moment, um mir über de vollen Umfang ihrer Worte klar zu werden. Sie haben gedacht Iesha hätte darauf eine Nachricht für mich hinterlassen. Ein Video, ein kurzer Text, oder noch ein Foto. Und sie hatten es mir verheimlichen wollen, weil sie … was? Dachten ich könnte mich aufregen? Oder das Ich Angst bekäme? „Ihr wolltet das vor mir verheimlichen“, sagte ich leise und spürte wie ein ohnmächtige Wut in mir aufstieg. „Wäre euer kleiner Laufbursche nicht so übereifrig gewesen, hätte ich davon überhaupt nichts erfahren.“ Dann hätten sie sich alle das Bild angeschaut, ohne dass ich es wüsste.
Der junge Mann runzelte die Stirn, als ich ihn als Laufburschen bezeichnete.
„Wir hielten es für das beste dich zu schonen“, erwiderte Celine ruhig. „In deinem Zustand solltest du dich nicht unnötig aufregen.“
„Ihr habt nicht das recht mir irgendwas vorzuenthalten“, knurrte ich und spürte, wie ich am ganzen Körper zu zittern begann. „Cio ist mein Mann und ihr seid nur irgendwelche Fremden, die sich für wichtiger nehmen, als sie sind. Wie könnt ihr euch das Recht herausnehmen zu entscheiden, was ich wissen darf und was nicht?!“
„Zaira“, sagte Celine und hob besänftigend die Hände. „Du solltest dich beruhigen und …“
„Ich will mich aber nicht beruhigen!“, schrie ich sie an. „Ihr habt keine Ahnung wer Iesha ist und zu was sie alles fähig ist und dennoch glaubt ihr den vollen Durchblick zu haben?! Wenn ihr etwas auf diesem Handy gefunden hättet, wärt ihr gar nicht in der Lage gewesen es richtig zu deuten!“
„Wir wollten dir doch gar nichts verheimlichen, wir wollten nur …“
„Es ist mir scheiß egal was ihr wolltet!“, schrie ich sie an und spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, als aus meiner Wut eine tiefsitzende Verzweiflung wurde. „Vielleicht mag es in eurem Rudel normal sein, dass vierundzwanzigjährige wie kleine Kinder behandelt werden, doch im Rudel der Könige bin ich eine erwachsene Frau und ich habe es satt von euch wie ein dummes, naives …!“
„Zaira!“
Bei dem Ruf meines Namens war ich so überrascht, dass ich nicht nur mit dem schreien aufhörte, sondern auch zur Tür herumwirbelte. Nicht wegen dem Ruf selber, sondern weil es die Stimme meines Vaters war.
Ich sah noch wie er durch den Raum auf mich zukam, dann war er auch schon bei mir und zog mich in eine schützende Umarmung. „Papa“, wimmerte ich und wurde zu dem kleinen, naiven Mädchen, von dem ich gerade noch behauptet hatte, dass ich es nicht sei. Aber das war das erste Mal seit Cios Verschwinden, dass ich es mir erlauben konnte, bei jemanden Schutz zu suchen und mich für einen kurzen Moment trösten zu lassen – wenigstens für einen ganz kleinen Augenblick.
„Oh Gott sei Dank, dir geht es gut“, murmelte er und drückte mich ganz fest an sich.
Aber er war nicht der einzige, der den Raum betreten hatte. Mit ihm zusammen waren auch Genevièv und Cayenne in den Raum gekommen. Sydney trat in seiner Wolfsgestalt hinter ihnen ein.
„Was ist hier passiert?“, verlangte Genevièv zu wissen. Sie war äußerst angespannt und trotz ihrer Grüße von einem Zwerg, machte sie den Eindruck gleich jemanden ernstlich wehzutun. „Was ist mir meinem Sohn geschehen?“
„Ginny“, sagte Cayenne und legte Cios Mutter eine Hand auf die Schulter. „Denk an das was ich dir im Wagen gesagt habe. Das Gracia-Rudel trägt keine Schuld an seinem Verschwinden.“
Sie drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, aber ich besaß diese Zurückhaltung heute nicht. Sie zu sehen und ihre Stimme zu hören, machte mich so unglaublich wütend, denn sie war es gewesen, die uns hier her geschickt hatte.
„Was, hast du ihr auch falsche Versprechungen gemacht?!“, fauchte ich sie an und löste mich aus der Umarmung meines Vaters. „Du hast uns gesagt, wir wären hier sicher! Wir haben dir geglaubt und jetzt hat diese Schlampe Cio und stellt mit ihm weiß-Gott-was an! Hast du eine Ahnung, wie es ist Iesha und ihren Launen ausgeliefert zu sein?!“
Im ersten Moment schien Cayenne einfach nur überrascht und bestürzt darüber, dass ich sie anschrie. Es verletzte sie und sie brauchte zwei Sekunden, um sich davon zu erholen. „Es tut mir leid, aber …“
„Ich will deine scheiß Entschuldigung nicht! Wir haben dir und deinem Urteil vertraut und jetzt ist er weg! Wie hat das passieren können, außer dir und Sydney hat doch niemand gewusst wo wir sind! Wem hast du unserem Aufenthaltsort verraten, hä?! Bei wem konntest du nicht deine Klappe halten?!“
„Zaira, ich …“
„Weißt du wie das ist nicht zu wissen wo er ist und was sie gerade mit ihm macht?! Hast du auch nur den Hauch einer Scheißahnung was du angerichtet hast?! Ich hätte dir niemals vertrauen dürfen, schließlich weiß ich doch schon aus der Vergangenheit, wie dumm viele deiner Entscheidungen waren, ich bin der beste Beweis dafür!“
Cayenne wurde bei meinen Worten deutlich blasser. „Jeder macht mal Fehler.“
„Das hier ist nicht nur ein verdammter Fehler, das ist eine ausgewachsene Katastrophe! Hätte Papa uns weggebracht, wäre das hier nicht passiert! Er hat dich jahrelang versteckt, genau wie mich und Mama und es nie etwas passiert! Du hast es nicht mal eine Woche geschafft!“
Diese Worte hatten sie getroffen. Sie drückte nicht nur die Lippen aufeinander, sie wandte auch den Blick ab, aber das war mir egal. Sie hatte uns hier her geschickt, sie trug dafür die Verantworten, denn sie war die einzige gewesen, die wusste wo wir waren.
„Zaira.“ Papa berührte mich am Arm. „Was du da sagst ist nicht fair.“
„Ich scheiß auf fair!“, fuhr ich ihn an und trat zurück. „Ist es fair was mit uns passiert ist, oder dass diese Leute hier denken, es wäre in Ordnung, wenn sie mir Sachen verheimlichen, weil sie ja ach so schlau sind und alles besser wissen?!“
Celines Blick wurde streng. „Niemand hier hat dir etwas verheimlichen wollen.“
„Ich habt sein Handy gefunden und es mir nicht gesagt! Und jetzt erzählt mir nicht wieder, es sei zu meinem Besten gewesen! Das einzige was zu meinem Besten wäre, ist, wenn ihr Cio findet und … nein, lass mich!“, fauchte ich meinen Vater an, als er meine Hand griff und mich zu sich herumdrehte.
„Zaira …“
„Nein, ich will dir nicht zuhören!“, fauchte ich ihn an und versuchte mich von ihm loszureißen, aber sein Griff um meine Hand wurde nur noch fester. „Lass los!“
„Ich weiß was du durchmachst, aber es hilft niemanden, wenn du …“
„Woher zum Teufel willst du wissen was ich durchmache?!“, schrie ich ihm ins Gesicht. „Mama wurde niemals entführt!“
„Nein, aber Cayenne.“
Dieser eine Satz reichte um mein Denken für einen Moment ins stocken zu bringen. Er hatte recht. Damals, lange Zeit vor meiner Geburt hatte es eine Zeit gegeben, in der Cayenne meinem Vater alles bedeutet hatte. Und genau wie bei mir und Cio, war auch bei ihnen an dem einem Tag noch alles in Ordnung gewesen und am nächsten, da war sie einfach weg.
„Ich weiß sehr gut was das für ein Gefühl ist nicht zu wissen was mit dem anderen passiert ist und wie es ihm geht. Du fühlst dich hilflos und zum Nichtstun verdammt. Und die Leute sollen an besten an ihren guten Ratschlägen ersticken, weil sie nicht helfen. Ich hätte deinem Onkel Tristan damals fast eine reingehaun, weil er mich nicht in Ruhe lassen wollte.“ Er warf einen kurzen Blick zu Cayenne rüber, deren Gesicht völlig ausdruckslos geworden war. „Aber es hilft nicht. Es hilft dir nicht und es hilft den anderen nicht.“
Ich hörte seine Worte und wollte ihm widersprechen. Ich wollte ihn anschreien, dass er doch keine Ahnung hatte, doch da war nur diese innere Verzweiflung, die ein Ventil forderte, bevor es mir das Herz zerriss. Und dann, ganz plötzlich und ohne jede Vorwarnung, kamen die Tränen. Erst war es nur eine, doch sie war nur der Vorbote für das was da noch kam. Heiß und salzig strömten sie aus mir heraus. Ich versuchte noch mich von ihnen nicht überwältigen zu lassen, Cio brauchte mich und ich musste stark bleiben, aber es hatte keinen Zweck.
Als der erste Schluchzer kam, nahm Papa mich wieder in die Arme und barg mich an seiner Brust, als wäre ich wieder sein kleines Mädchen, dessen Welt er mit ein paar Worten in Ordnung bringen konnte. Aber meine Welt kam nicht wieder in Ordnung. Ich erstickte beinahe an den Schluchzen und dem Leid, der mir meine Kehle zuschnürte und Herz zu zerquetschen drohte.
Cio war weg und ich konnte nichts dagegen tun.
„Schhh“, machte mein Vater und strich mir immer wieder tröstend über den Rücken, während alle anderen im Raum nur still dabei zuschauen konnten, wie meine Seele von meinem Schmerz in Stücke gerissen wurde, denn sie waren genauso hilflos wie ich.
„Ist ja gut, wir werden ihn finden.“
„Wie denn?“, schluchzte ich und schaffte es nicht mich zu beruhigen. „Ich … versucht … seit Monaten … Iesha … zu finden.“ Und sie waren ihr keinen Schritt näher gekommen. Ich bezweifelte, dass sich das nun ändern würde, nur weil sie Cio gestohlen hatte. Ja, genau das war es was sie getan hatte, sie hatte ihn mir gestohlen.
„Ich weiß es noch nicht, aber wir werden nicht aufgeben, das verspreche ich dir.“
Gott, ich wollte keine Versprechungen mehr hören. Sie alle sagten doch immer nur das gleiche, ohne nennenswerte Ergebnisse. Bleib stark, es wird besser werden. Wir schaffen das schon. Du wirst sehen, wir werden sie kriegen. Ich konnte es einfach nicht mehr hören.
Genevièv schaute angespannt von mir zu Celine und dann zu Ayko. „Würde mich jetzt bitte jemand darüber aufklären, was genau hier passiert ist?“
Celine tauschte einen kurzen Blick mit Cayenne und begann dann zu erzählen. Von dem Juwelier und dem Medaillon, dass ich samt Schachtel auf den Tisch gestellt hatte. Sie erzählte, wie er noch einmal losgefahren war, um es abzuholen und auch, wie ich angerufen hatte, weil er nicht im Restaurant erschien war. Und sie endete damit, wie Ayko den Wagen gefunden hatte – ohne Cio.
„Wir haben die Polizei verständigt“, sagte Ayko, sobald eine Gefährtin geendet hatte. „Ein paar von Sadrijas Leuten arbeiten dort und kümmern sich darum. Bisher haben sie noch nichts brauchbares gefunden, aber sie gehen davon aus, dass Cios Auto von der Straße abgedrängt wurde und er deswegen gegen die Laterne gefahren ist.“
„Der Spuren zufolge, war er höchstens leicht verletzt“, führte Keenan weiter aus. „Am Wagen hat man Lackreste von einem roten Wagen gefunden, aber leider konnte man sie bisher noch keinen Fahrzeugtyp zugeordnen.“
„Geruchsspuren gab es auch keine“, sagte Celine noch. „Jedenfalls keinen nennenswerten. Alles was wir gefunden haben, verlief sich sehr schnell wieder im Sande.“
„Zeugen haben wir leider auch keine gefunden.“ Keenan seufzte. „Oder brauchbare Hinweise.“
Cayenne rieb sich über die Stirn. „Also wissen wir, dass wir gar nichts wissen.“
Alles wie gehabt.
„Ich werde Diego anrufen“, sagte Genevièv. Sie sah müde aus und um ihre Augen hatten sich tiefe Sorgenfalten in die Haut gegraben. „Er sollte wissen was hier los ist und … ja.“ Sie drückte die Lippen aufeinander.
Mitfühlend drückte Cayenne ihren Arm. „Cio ist stark, das war er schon immer. Ihm wird nichts geschehen.“
Das kannst du nicht wissen, hätte ich am liebsten gesagt, aber ich war viel zu sehr damit beschäftigt mein Schluchzen zu unterdrücken und meine Tränen in den Griff zu bekommen.
Genevièv sagte nichts dazu. Sie kehrte uns nur den Rücken und verließ das Büro.
Celine schaute ihr einen Moment hinterher. „Hab ihr in Silenda denn überhaupt keine Hinweise auf ihren Verbleib?“
Cayenne schüttelte den Kopf. „Nichts. Ich weiß nicht wie sie das mach. Es ist als wäre sie unsichtbar.“
Das war sie mit Sicherheit nicht. „Ich kann sie finden“, sagte ich leise und wischte mir mit den Händen die feuchten Schlieren aus meinem Gesicht.
Alle im Raum starrten mich an, als sei ich ein verrückt geworden.
„Sie ist hinter mir her. Immer wenn sie aus der Versenkung aufgetaucht ist, dann meinetwegen. Ich muss ihr nur die Chance geben mich zu kriegen, dann wird sie wieder auftauchen.“ Das zumindest hoffte ich. Jetzt wo sie Cio hatte, war ich mir da nicht mehr so sicher, denn sie hatte ja nun was sie wollte. Trotzdem musste ich es versuchen. Schluss mit verstecken.
„Das machst du nicht“, kam es von Papa. Seine Stimmer war angespannt und jetzt zum ersten Mal seit seiner Ankunft, nahm ich ihn wirklich wahr. Seine rechte Wange und auch ein Teil der Schläfe war runzlig und zerfurcht. Es wirkte, als hätten dort Flammen geleckt. Wäre er ein Mensch, würde ich behaupten diese Brandnarbe wäre ein paar Monate alt. Sie wirkte nicht mehr frisch, aber völlig abgeheilt war sie auch noch nicht. Und sie würde ihn für den Rest seines Lebens entstellen.
Ich senkte den Blick und stellte fest, dass es seinen Händen nicht besser erging. An manchen Fingern fehlten sogar die Nägel.
Als er bemerkte, was ich mir da anschaute, schob er die Hände hinter den Rücken, so als wollte er mich damit nicht belasten. „Wir werden eine Möglichkeit finden Cio zurückzuholen, aber du wirst nicht den den Lockvogel spielen.“
Ich brauchte einen Moment, um mich von dem Abblick zu erholen und darauf zu besinnen, was ich gerade gesagt hatte. „Das hast du nicht zu entscheiden.“
„Ich bin dein Vater und ich werde …“
„Aber ich bin nicht deine Leibeigene.“ Ich trat ein Schritt vor ihm zurück. Von meinem Entschluss würde ich mich sicher nicht mehr abbringen lassen. „Die letzten Monate habe ich nichts anderes getan als mich zu verstecken und für was? Sie hat Cio.“
Seine Eisblauen Augen schienen mich zu durchbohren. „Hast du vergessen, was das letzte Mal geschehen ist, als du dich als Lockvogel versucht hast?“
Nein, das hatte ich nicht. Es hatte damit geendet, dass ich Graf Rouven Deleo und Wächterin Darja Vasilieva töten musste, damit ich selber mit dem Leben davon kam. Noch heute hatte ich deswegen manchmal Alpträume. „Das macht keinen Unterschied. Ich kann nicht erlauben, dass sie ihn behält.“
„Und ich kann nicht erlauben, dass du dich in Gefahr bringst.“
Wir starrten uns an.
„Du kannst mich nicht aufhalten.“ Sobald ich wieder in Silenda war, würde ich alles daransetzten dieses Miststück zwischen die Finger zu bekommen. Sie würde es noch bereuen, mir jemals begegnet zu sein.
Sein Blick verfinsterte sich. „Unterschätze mich nicht, Zaira. Ich werde weder erlauben, dass du dein Leben, noch das deines Babys aufs Spiel setzt. Notfalls werde ich dafür sorgen, dass man dich einsperrt.“
Da er genug Leute kannte, die dazu durchaus in der Lage waren, glaubte ich ihm aufs Wort. Aber es änderte nichts. Ich war in diesem Spiel die Schlüsselfigur und damit wohl die einzige, die Iesha dazu bringen konnte zum Spielen herauszukommen. Allein das Bild, das sie mir geschickt hatte, zeigte doch schon, dass sie mit mir noch nicht fertig war. Cio musste sich schon in ihrer Gewalt befinden haben, als sie es mir zukommen ließ und sie hatte es trotzdem getan.
Ich glaubte nicht, dass das ihr Abschiedsgruß war. Sie wollte mir damit nur zeigen, dass noch weiter gehen würde, denn sie hatte nur ein Teil ihrer Ziele erreicht. Cio war bei ihr, ja, aber ich lebte noch und das würde sie mit Sicherheit nicht akzeptieren können.
In die angespannte Stille hinein, kam Genevièv aus dem Flur. Sie war so mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, dass sie gar nicht merkte was hier los war. „Diego wird die Schutzhaft der anderen aufrecht erhalten“, erzählte sie. „Genau wie ich ist er der Meinung, dass es zum jetzigen Zeitpunkt noch zu gefährlich wäre, sie wieder nach Hause zu lassen.“
Alina und Kasper. „Geht es ihnen gut?“
Genevièv nickte traurig. „Es gefällt ihnen nicht unbedingt, aber sie sind sicher und bei ihnen gab es bisher auch keine Zwischenfälle.“
Ja, weil sie nicht in Ieshas Fokus standen. Sie waren alle nur ein Mittel zum Zweck Es gab für Iesha sicher einfachere Möglichkeiten mich zu verletzen, als meine Familie und Freunde aufzuspüren, um ihnen etwas anzutun.
Unter den Blicken der Anwesenden ging ich zum Couchtisch und nach die schwarze Samtschatulle an mich. Das Medaillon darin … ich konnte es mir nicht um den Hals hängen. Cio hatte es mir geben sollen und auch er war es, der es mir umhängen sollte.
Ich schloss die Hand um die Schatulle. Er würde es mir umhängen, dafür würde ich sorgen. Bis dahin aber würde das Medaillon dort bleiben wo es war. Sicher verwahrt. „Ich gehe nur kurz unsere Sachen packen, dann können wir los.“
Niemand sagte ein Wort, als ich das Büro verließ, aber ich konnte ihre Blicke im Rücken spüren. Besonders der meines Vaters schien mich durchbohren zu wollen. Mir war jetzt schon klar, ich würde nicht nur darum kämpfen müssen Cio wiederzubekommen, sondern auch gegen meinen Vater, denn er würde es niemals erlauben, dass ich mich wissentlich in Gefahr brachte. Aber das war mir egal, ich würde mich auch von ihm nicht aufhalten lassen.
°°°°°
„Aber ich will nicht zu dir, ich will nach Hause!“
Papa fuhr auf seinem Sitz wütend zu mir herum. Zum Glück standen wir gerade an einer Ampel, sonst hätte dieses Manöver böse für uns enden können. „Jetzt gerade ist es mir ziemlich egal, was du willst, ich werde dich nicht alleine lassen. Du kommst entweder mit zu mir nach Hause, oder ich bringe dich in Schutzhaft. Du kannst es dir gerne aussuchen, aber die Option, völlig allein bei dir zu Hause zu sitzen, besteht nicht.“
Ich drückte Lippen fest aufeinander.
„Zaira“, sagte mein Vater nun etwas sanfter. „Es wäre im Augenblick nicht gut, wenn du alleine bist. Und davon abgesehen, läuft diese Verrückte noch immer allein da draußen herum. Nur weil sie Cio in ihrer Gewalt hat, heißt das noch lange nicht, dass sie es nicht mehr auf dich abgesehen hat. Es wäre unverantwortlich, dich in dieser Situation allein zu lassen.“
Aber genau das war doch mein Ziel. Iesha würde sich eher an mich heranwagen, wenn ich allein wäre. Wenn mein Vater und all die anderen um mich herumschwirten, war es unwahrscheinlicher, dass sie versuchte Kontakt zu mir aufzunehmen und ich war mir sicher, dass sie genau das tun würde. Ja, sie hatte Cio, aber das war nur der halbe Sieg. Auf der neunstündigen Fahrt zurück nach Silenda, war ich mir dieser Sache immer sicherer geworden. Iesha würde mich früher oder später Kontaktieren. Zumindest hoffte ich das, denn ich wusste sonst nicht, wie ich ihr auf die Spur kommen sollte.
„Cio würde sicher auch nicht wollen, dass du jetzt allein bist“, setzte mein Vater noch nach, als glaubte er, es würde etwas bewirken. Tat es auch, nur leider nicht so, wie er sich das wahrscheinlich vorgestellt hatte.
Diese verzweifelte Wut kam ganz plötzlich. „Cio ist nicht hier, um seine Meinung beitragen zu können und er taucht auch nicht auf, nur weil du mich in Geiselhaft nimmst und Scheiße laberst, weil du glaubst, so deinen Willen zu bekommen!“, fauchte ich ihn an.
Er hätte zurück fauchen sollen, oder wenigstens ein wenig wütend werden, weil ich ihn so angefahren hatte. Stattdessen wurde der Ausdruck in seinem Gesicht ganz weich. „Ich weiß mein Schatz.“
Ich wandte demonstrativ den Blick aus dem Seitenfenster und drückte die Lippen zusammen.
„Zaira …“
Hinter uns hupte ein Auto und da Papa nicht sofort reagierte, tat es das gleich noch ein zweites Mal.
Papa seufzte, drehte sich in seinem Sitz wieder richtig hin und fuhr weiter. Er war müde und geschafft von der langen Fahrt. Naja, von beiden Fahrten, schließlich war er die Strecke jetzt zwei Mal direkt hintereinander gefahren und ich machte es ihm nicht unbedient leichter.
Ich verstand ihn ja, aber er musste auch mich verstehen. Es war kurz nach sieben, was bedeutete, dass Cio seit knapp sechsundzwanzig Stunden von niemanden mehr gesehen worden war. Sechsundzwanzig Stunden, das war über einen Tag. Iesha hatte ihn seit einem Tag in ihrer Gewalt und niemand konnte etwas dagegen tun.
Neben mir auf der Rückbank fiepte Ferox und legte seinen großen Schädel in meinen Schoss. In weiser Voraussicht waren Papa und Cayenne mit zwei Wagen gekommen – nicht dass es deswegen einfacher gewesen wäre Ferox hinein zu kriegen. Er mochte Autos nicht, aber was er noch viel weniger mochte, waren Vampire. Ich hatte ihn in den Wagen reinschupsen und schnell den Kofferraum zuschlagen müssen, damit er auch drinnen blieb.
Daraufhin war er wild im Wagen umhergesprungen, war gegen die Decke, die Wände und die Sitze geknallt und hatte herzzerreißend gejault. Ich hatte über eine halbe Stunde gebraucht, um ihn dazu zu kriegen, sich ruhig neben mich auf den Rücksitz zu legen. Meinen Vater hatte er die nächsten drei Stunden nicht aus den Augen gelassen. Jetzt war er genau wie wir einfach nur noch erschöpft und würde vermutlich ein paar Purzelbäume schlagen, sobald er hier rauskam und merkte, wo wir uns befanden.
Als wir in Papas Straße einbogen, musste ich daran denken, wann ich das das letzte Mal getan hatte. Also wir Ferox aus der Klinik geholt hatten. Cio hatte neben mir am Steuer gesessen. Aber jetzt war er nicht hier. Jetzt wusste ich nicht mal wo er war. Ich biss die Zähne zusammen.
Als Papa in die Einfahrt seines Hauses einfuhr, überlegte ich, ob ich noch einen letzten Versuch starrten sollte, aber mir war klar, dass es im Moment nichts bringen würde. Ich würde einfach warten bis er schlief und dann nach Hause fahren. So müde wie er nach der letzten Nacht war, konnte das nicht allzu lange dauern.
Sobald der Wagen stand, öffnete ich auf meiner Seite die Tür. Ich hatte nicht mal mehr die Zeit auszusteigen und aus dem Weg zu gehen, Ferox rannte einfach über mich rüber und weg war er. Er wartete auch nicht draußen, oder so, nein, er rannte am Garten vorbei und verschwand schnurstracks in den Wald.
Hm, den würde ich in den nächsten Stunden wohl nicht wiedersehen. Das hieß, ich musste das hintere Gartentor öffnen, damit er bei seiner Rückkehr in den Garten kam. Vielleicht sollte ich ihm auch noch etwas zu futtern hinstellen, obwohl er bei sich bei seinem kleinen Ausflug sicher selber etwas besorgen würde.
Ich stieg aus dem Wagen, ging aber nicht zur Haustür, was meinem Vater sofort ein Stirnrunzeln entlockte, doch als er sah, dass ich im Garten verschwand, sagte er nicht weiter dazu und kümmerte sich um das Gepäck.
Auf dem Weg zum Hinten Tor überkam mich wieder dieses Gefühl. Auch hier war ich das letzte Mal zusammen mit Cio gewesen. Wir hatten hier gestanden und Ferox beobachtet. Aber jetzt war er nicht hier, er war bei ihr und … keine Ahnung. Ich wusste nicht was bei ihm los war und das machte mich so fertig. Hatte sie ihn in irgendeinen Raum gesperrt? Einen Keller, oder einen Käfig? Rief er um Hilfe, oder wartete er einfach nur ab was als nächstes geschah?
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er nach Hilfe schrie. Er würde abwarten und auf eine Chance hoffen. Vielleicht suchte er aber auch den Raum nach einer Fluchtmöglichkeit ab. Natürlich nur wenn ihm das Möglich war. Es konnte ja auch sein, dass sie ihn gefesselt hatte.
Bei dem Gedanken griff ich unwillkürlich nach dem Ring an meinem Hals. Was wenn sie ihn wirklich gefesselt hatte? Was würde sie tun, wenn er nicht die Chance hatte sich gehen sie zu wehren? Vielleicht musste sie ihn ja auch gar nicht fesseln, vielleicht war er vom Unfall so verletzt, dass er gar nicht in der Lage war zu fliehen oder sie abzuwehren.
Ich biss die Zähne zusammen. Iesha liebte Cio, sie würde ihn nicht verletzen und ich musste aufhören mir solche Horrorszeneariern vorstellen. Es half ihm nicht und mich würde es nur fertig machen. Ich musste einfach darauf vertrauen, dass er sich aus eigener Kraft befreien konnte, oder wenigsten klar kam, bis ich ihn gefunden hatte. Er konnte das, ich wusste das, ich musste nur Vertrauen haben.
Als die Hintertür aufgesperrt wurde, drehte ich mich nicht herum. Auch nicht als ich die Schritte auf der Veranda hörte.
„Zaira, komm rein“, bat mich mein Vater.
Damit er mich besser im Auge behalten konnte.
Ich wollte ihn anschreien, dass ich erwachsen war und er das nicht mit mir machen konnte, doch stattdessen öffnete ich einfach wortlos das hintere Gartentor und ging dann zu ihm auf die Veranda.
Mein Vater machte den Eindruck, als wollte er etwas tröstendes zu mir sagen, doch ich schüttelte nur den Kopf und ging an ihm vorbei ins Haus, nur um sofort wieder stehen zu bleiben und die Couch anzustarren. Dort hatten wir gesessen, nachdem Iesha versucht hatte mich zu überfahren. Er hatte mich in eine Decke gewickelt und festgehalten, während er sich eingestanden hatte, dass er mich nicht schützen konnte.
Am Ende war es gar nicht ich gewesen, die den Schutz gebraucht hatte, sondern er.
„Soll ich uns etwas zu Essen machen?“, wollte Papa wissen, als er hinter mir ins Wohnzimmer trat und die Tür verschloss.
„Ich habe keinen Hunger.“ Langsam ging ich zu den beiden Reisetaschen rüber, die Papa neben den Sessel gestellt hatte. Die gelbe gehörte mir, die schwarze Cio.
„Du musst aber etwas essen. Wenn schon nicht für dich, dann wenigstens für das Baby.“
Leider konnte ich dem nicht widersprechen.
„Ich werde uns jetzt etwas zu Essen machen und du isst es bitte auch“, sagte Papa und verschwand mit einem besorgten Blick auf mich nach nebenan in die Küche.
Da ich gerade keine Lust auf eine Diskussion mit ihm hatte, beließ ich es einfach dabei und kniete mich neben Cios Tasche auf den Boden. Ich wollte sie nicht aufmachen, nur … keine Ahnung, ich brauchte etwas von ihm, etwas das er berührt hatte. Noch gestern morgen hatte er darin herumgewühlt, weil er keinen sauberen Pulli mehr gefunden hatte. Ich hatte noch seine Worte im Ohr, wie er gescherzt hatte, dass er sich jetzt einen von meinen Pullis klauen müsste, damit er bei der Arbeit im Stall nicht zu einem Eisklumpen wurde. Ich hatte nur erwidert, dass es in Ordnung war, solange es bei einem Pulli blieb und er die Finger von meiner Unterwäsche ließ. Darin wolle ich ihn nämlich nicht sehen.
Seine Antwort hatte in einem Lachen bestanden und der Aussage, dass er wohl niemals in der Lage sein würde meine Körbchen zu füllen. Aber jetzt lachte er wahrscheinlich nicht mehr. Jetzt war er bei ihr und … ich weiß nicht, hatte er Angst?
Bisher war mir dieser Gedanke noch gar nicht gekommen. Cio war immer so stark und unerschütterlich, dass es einfach absurd schien, dass er sich vor irgendetwas fürchten könnte. Aber jetzt, allein bei ihr und ihren Launen ausgeliefert …
Ich wollte diesen Gedanken nicht weiter ausführen. Mir vorzustellen was sie ihm antun könnte, würde mich nur fertig machen, aber das durfte nicht geschehen. Ich musste stark bleiben. Er verließ sich darauf, dass ich ihn fand. Ich musste ihn einfach finden, doch das schaffte ich sicher nicht, wenn ich hier herumsaß und seine Tasche anstarrte, als könnte sie ihn mir zurückbringen. Darum zog ich auch meine Reisetasche zu mir heran, holte das Dossier von Iesha heraus und machte mich damit auf der Couch breit.
Ich verteilte die ganzen Fotos und Notizen vor mir auf dem Tisch. Einzeln hatte ich mir das Zeug schon so oft angeschaut und war nie auf einen Hinweis gestoßen, vielleicht würde ich mehr sehen, wenn ich das Gesamtbild betrachtete.
Iesha auf einem Bett, Iesha in einem Sessel, Iesha vor einem Fenster, Iesha auf dem Boden, Iesha vor einer Holzwand. Keine auffälligen Merkmale, nur … wie waren die Fotos eigentlich entstanden? Sie wirkten nicht sehr professionell, eher so, als seien sie mit einer guten Handykamera aufgenommen worden. Warum war mir das bisher eigentlich noch nicht aufgefallen?
Ich beugte mich vor, um eines der Bilder genauer unter die Lupe zu nehmen. Gab es einen Selbstauslöser bei Handykameras? Ich hatte so eine Funktion nie gebraucht, deswegen war ich mir nicht ganz sicher, aber selbst wenn es sie gab, um solche Bilder mit dem Handy und dem Selbstauslöser aufnehmen zu können, brauchte man sehr viel Zeit und noch mehr Geduld – nicht dass ich glaubte, sie wäre nicht motiviert genug gewesen, um sowas zu tun. Nein, aber es wäre viel einfacher, wenn sie jemand anderen beauftragt hätte, diese Bilder von sich zu machen. Das konnte nur bedeuten, dass sie von jemand anderen abgelichtet worden war.
Jemand half Iesha. Nun, das war keine neue Information, aber wenn man sich diese Bilder so anschaute, dann musste es jemand sein der ihr nahe stand. Ich würde mich nicht vor jedem beliebigen Menschen nackt ausziehen. Iesha und ich waren zwar grundverschieden, aber sie besaß doch sicher so etwas wie ein gewisses Schamgefühl, oder?
Da fiel mir ein … ich hatte doch irgendwo einen Namen aufgeschrieben. Was wenn das gar kein Pseudonym war wie ich angenommen hatte, sonder einer ihrer Helfer? Was wenn es genau der war, der diese Bilder von ihr gemacht hatte? Dann müsste er doch wissen wo genau sie sich aufhielt.
Dieser Gedanke brachte mich dazu meine Notizen zu ergreifen und sie nach dem Namen zu durchforsten. „Kann ich mal deinen Computer benutzen?“ Wo war er nur, wo hatte ich ihn notiert?
Statt mir zu antworten, unterbrach Papa sich bei seiner Arbeit in der Küche und kam ins Wohnzimmer, nur um sofort stehen zu bleiben, als er die Bilder auf seinem Tisch sah. Sein Blick glitt von einem zum anderen und blieb dann am Ende an mir hängen. „Was ist das?“
„Nachforschungen.“ Ah, da war er ja, Jamal Keskin. Das war ein südländischer Name, oder? Ich legte die anderen Papiere neben mich auf die Couch und schaute zu ihm auf. „Darf ich nun mal an deinen Computer.“ Meiner stand schließlich noch immer bei mir Zuhause und dort wollte er mich ja nicht hinlassen.
Papa schaute noch einmal auf die Bilder von Iesha und rieb sich dann unruhig übers Kinn. „Zaira …“
„Die Bilder hat Iesha an Cio geschickt“, unterbrach ich ihn, bevor er mir einen Vortrag halten konnte. „Ich habe sie nicht, weil ich so auf Pornos stehe. Es geht dabei nicht um Iesha, sondern um das was da noch mit auf den Bildern ist. Hinweise über ihren Aufenthaltsort.“
Das schien es in seinen Augen nicht unbedingt besser zu machen. Vielleicht suchte er aber auch nur nach Worten, die mich dazu bringen sollten mich still in eine Ecke zu setzen, während andere für mich die Suche übernahmen. Er erweiterte meinen Blick jedenfalls mehrere Sekunden, kam dann aber nicht mehr dazu etwas zu sagen, denn es klingelt an der Haustür.
Unentschlossen ging sein Blick zum Flur, dann stieß er den Atem aus und setzte sich in Bewegung. „Warte hier.“
Ja was sollte ich denn sonst tun? Glaubte er ich würde mich in Luft auslösen, wenn er mich nur einen Moment aus den Augen ließ. Wahrscheinlich hatte er diese Befürchtung wirklich. Und auch wenn ich ihm keinen Schrecken einjagen wollte, war ich kurz am überlegen einfach nach oben in sein Schlafzimmer zu gehen, wo der Computer stand. Was mich davon abhielt war das Geräusch der sich öffnenden Haustür und die tiefe Stimme, die gleich darauf an mein Ohr drang. Diego.
Gab es Neuigkeiten? Hatte er etwas gehört? Ich war schon halb aufgestanden, als er mit meinem Vater ins Wohnzimmer trat. „Habt ihr ihn gefunden?“
Erst als Diego den Kopf schüttelte, wurde mir klar wie groß meine Hoffnung gewesen war. Warum schließlich sollte er sonst um diese Uhrzeit hier auftauchen, wo seine Frau doch den ganzen Tag unterwegs gewesen war?
„Ich bin nur hier, um euch auf den neusten Stand zu bringen, bevor ich nach Hause fahre.“ Sein Blick glitt über die Bilder auf dem Tisch, aber entweder er kannte sie schon, oder sie waren ihm einfach egal. „Ich hielt es so für besser, als das über das Telefon zu klären.“
Der kleine Hoffnungsschimmer wurde von einer tiefen Trostlosigkeit zerquetscht. Natürlich, was hatte ich denn auch anderes erwartet? Iesha hielt sich seit Monaten verborgen, sie würde jetzt bestimmt nicht leichtsinnig werden, nur weil sie Cio hatte – besonders jetzt nicht mehr.
„Willst du was trinken?“, fragte mein Vater.
Diego schüttelte den Kopf und setzte sich rechts von mir in den Sessel. „Nein danke.“ Einen Moment saß er einfach nur da und rieb sich dann müde durchs Gesicht, doch seine Besorgnis konnte er damit nicht verschwinden lassen. „Es gibt noch nichts Neues“, begann er.
Papa trat durch den Raum zur Couch und setzte sich neben mich auf die Lehne. Als er auch noch meine Hand nahm, entzog ich mich ihm nicht.
„Deine Freunde und Familie sind weiterhin sicher untergebracht. Königin Sadrija hat sogar noch ein paar Wächter der Königsgarde als Verstärkung zu ihnen geschickt. Außerdem hat sie nun auch die Themis mit eingespannt. Das ist zwar nicht ihr Spezialgebiet, aber sie waren schon immer sehr gut darin gewesen, verschwundene Leute aufzuspüren und sie haben einen wesentlich größeren Handlungsspielraum, als die Wächter der Stadt.“
„Ist es ein offizieller Auftrag?“, fragte mein Vater.
Diego nickte. „Oberste Priorität.“
Das bedeutete, dass jeder Themis der entbehrlich war sich mit nichts anderem als Cios Verschwinden beschäftigen durfte. Warum fühlte ich keine Erleichterung, als ich das hörte?
„Vor eurem Haus stehen Wächter. Ja ich weiß, dass du das eigentlich nicht willst“, sagte Diego, ehe ich den Mund aufmachen konnte. „Aber du brauchst Schutz. Die Situation ist im Moment schwer einzuschätzen. Iesha hat was sie will und wir können einfach nicht sagen, wie groß die Gefahr noch ist in der du schwebst, weil wir nicht wissen, ob sie sich damit zufrieden gibt, oder dich noch immer töten will.“
Ich ließ ihn aussprechen, bevor ich sagte: „Schick sie weg.“
„Zaira“, begann mein Vater. „Sie sind …“
„Darja Vasilieva“, sagte ich sofort. „Die Wächterin die auf mich aufpassen sollte und am Ende versuchte mich zu erschießen.“ Und sie war nicht die einzige gewesen. Owen McKinsey hatte auch zu den Wächtern gehört, die mich vor dem Amor-Killer hatten schützen sollen. Am Ende hatte er nicht nur zu mir gehört, sondern auch versucht mich zu töten. Das behielt ich natürlich für mich, aber Darja sollte Argument genug sein.
„Diese Leute sind vertrauenswürdig“, sagte Diego.
Oder auch nicht. „Ich werde nicht in diesem Haus bleiben, wenn da irgendwo Wächter sind, die ein Auge auf mich haben sollen. Ihr könnt nicht wissen, ob sie zu Iesha gehören, also entweder verschwinden die beiden, oder ich tue es.“ Und solange da jemand war, der mich überwachte, würde ich mich nicht so einfach aus dem Staub machen können.
Nachdenklich senkte Diego den Blick. „Würdest du ein paar Themis erlauben?“
„Nein. Ich will niemanden in der Nähe haben, den ich nicht kenne. Ich bin doch schon hier bei Papa, was soll mir denn hier groß passieren?“
Es war ihm anzusehen, dass ihm das nicht gefiel. „Wenn dir etwas passiert, wird Cio mir das niemals verzeihen“, sagte er leise.
Fast schon automatisch griff ich nach dem Ring an meinem Hals. „Cio ist nicht hier und du bist nicht für meine Entscheidungen verantwortlich.“
„Aber falls er zurück kommt …“
„Falls?“ Ich glaubte mich verhört zu haben. „Du meinst wohl sobald“, korrigierte ich ihn.
Diego antwortete nicht.
Irgendwas tief in mir drin zog sich schmerzhaft zusammen und machte mir das Atmen schwer. „Er wird zurückkommen.“
Papa drückte meine Hand etwas fester. „Natürlich wollen wir das, aber, Zaira, es … wir wissen nicht was sie mit ihm gemacht hat und je länger jemand verschwunden ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, ihn noch …“
„Sie liebt ihn!“, fauchte ich ihn an, als ich mich von ihm losriss. Cio, tot? Niemals! „Sie hat ihn entführt, weil sie ihn für sich haben möchte und nicht weil sie ihn umbringen will!“
Diegos Lippen wurden schmal. „Du kannst nicht wissen was sie mit ihm vorhat. Ich glaube auch nicht, dass er bei ihr auf diese Art in Gefahr ist, aber … Cio wird nicht freiwillig bei ihr bleiben.“
Natürlich würde er das nicht, aber er was doch nicht dumm. Wenn er eine Chance sah, würde er sicher sofort das Weite suchen, aber er würde sie nicht bis aufs Blut reizen. Er kannte sie besser als jeder einzelne von uns, sie waren immerhin mal ein Paar gewesen. Er wusste wie er mit ihr umgehen musste und konnte sie einschätzen. „Cio wird nichts passieren.“
Keiner der beiden Männer sagte etwas dazu.
Erst das Klingeln eines Handys durchbrach die daraufhin aufkommende Stille. Diego griff in seine Jackentasche und nach einem kurzen Check seines Displays hielt er sich das kleine Gerät ans Ohr. „Ja?“ Als Diego sich plötzlich kerzengerade aufsetzte, zog ich die Augenbrauen zusammen. „Wiederhole das noch mal“, forderte er seinen Gesprächspartner auf und egal was der ihn daraufhin sagte, es veranlasste meinen Schwiegervater in Spe dazu aus die Beine zu springen und mit einem unruhigen Lauf durch das Zimmer zu beginnen.
Das macht Cio auch immer, schoss es mir durch den Kopf, während ich ihn beobachtete.
Was auch immer da am Telefon los war, Diego lauschte mehrere Minuten konzentriert jedem Wort und als er das Handy dann sinken ließ, schaute er uns an, als hätte er einen Geist gesehen. „Sie haben Iesha festgenommen.“
Ich erwiderte seinen Blick, nicht fähig die Worte zu verarbeiten und ihn einen Sinn zu geben. Aber es gelang mir einfach nicht. „Iesha wurde festgenommen?“
Er nickte. „Vor einer Stunde in Koblenz. Die Stadtwächter haben sie von dem Fahndungsfoto erkannt, als sie die Stadt verlassen wollte und haben sie festgenommen.“
„Du meinst … sie haben sie?“
Er nickte wieder.
Meine Hände begannen zu zittern. Sie hatten Iesha festgenommen. Oh Gott, sie hatten Iesha festgenommen. Ich sprang auf die Beine, weil ich nach dieser Nachricht einfach nicht mehr sitzen bleiben konnte. „Und Cio? Was ist mit Cio?“ Ging es ihm gut?
Dieses Mal schüttelte er leider den Kopf. „Sie war allein gewesen und scheint sich zu weigern die Fragen der Wächter zu beantworten.“
„Was soll das heißen?“ Ich machte einen Schritt auf ihn zu und packte ihn am Arm. Ich merkte es nicht einmal. „Wo ist Cio?“
„Das wissen wir nicht. Sie scheint ihn irgendwo versteckt zu haben.“
Dann war er jetzt ganz allein irgendwo gefangen und kam nicht heraus. Was war wenn er verletzt war und Pflege brauchte? Oder Essen und trinken? Es reichten schon drei Tage um zu verdursten. Oder wenn es kalt war? Nachts sanken die Temperaturen noch immer weit unter Null Grad. „Wir müssen zu ihr, sofort.“
Ich ließ Diego los.
„Sie wird hergebracht.“
Her? „Hier her?“
„Zum Hof. Morgen um neun soll sie Königin Sadrija vorgeführt werden. Sie wird dafür sorgen, dass sie uns unsere Fragen beantwortet.“
Als Alpha war ich das möglich, aber bis morgen um zehn waren es noch vierzehn Stunden. Was wenn ihm in dieser Zeit etwas passierte? Aber Koblenz war auch nicht glich um die Ecke. Selbst wenn ich mich jetzt auf dem Weg zu ihr machen würde, wäre sie schon lange weg, bevor ich dort ankäme.
„Was soll ich machen?“, fragte ich und schaute von Diego zu meinem Vater. Auf einmal fühlte ich mich so machtlos. „Ich kann nicht …“ Ich konnte doch nicht einfach hier herumsitzen und nichts tun, während Iesha in greifbare Nähe gerückt war.
Doch genau das war es was Diego wollte. „Gar nichts“, sagte er. „Du kannst im Moment nicht helfen.“
„Aber ich kann doch auch nicht einfach herumsitzen und nichts tun.“ Dann würde ich durchdrehen. Immer nur warten, immer nur hoffen, das ging einfach nicht. „Ich muss zu Iesha.“
„Du kannst sie morgen sehen. Königin Sadrija hat dir die ausdrückliche Erlaubnis gegeben bei dem Verhör dabei zu sein, wenn du das möchtest.“
Papa lauschte diesen Worten mit wachsender Anspannung. „Im Schloss?“
„Ich werde bei ihr sein“, sagte Diego sofort, als er verstand, worauf mein Vater hinaus wollte. „Ich passe auf sie auf.“
Er schnaubte. „Ich erinnere mich daran, dass wir so eine Situation schon einmal hatten und du mir ein ganz ähnliches Versprechen gegeben hast.“
„Und ich habe mein Versprechen gehalten.“
Nur das die Sache damit geendet hatte, dass ich von Sadrija zu meiner eigenen Sicherheit festgesetzt wurde, anstatt die mein Vater gegen meinen Willen beschlossen hatte, die Stadt mit ihm zu verlassen. „Ich gehe ins Schloss“, sagte ich, bevor Papa noch weitere Einwände bringen konnte. „Ich muss sie sehen.“ Und ihr den Kopf abreißen.
Als würde Diego meine Gedanken ahnen, nahm er mich scharf ins Visier. „Du darfst dem Verhör nur beiwohnen, wenn du dich benimmst. Andernfalls kann es passieren, dass die Wächter dich vom Hof entfernen.“
Darauf ging ich nicht weiter ein, denn ich würde ganz sicher nicht versprechen, artig zu sein. Erst würde ich sie ausquetschen und dann würde ich sie ganz ausversehen eine Treppe hinunter stoßen, damit sie sich das Genick brach. „Wie hat man sie eigentlich geschnappt?“, fragte ich, um nicht weiter auf Diegos Worte eingehen zu müssen. „Und was hat sie in Koblenz gemacht?“ Was Cio auch dort? Sollte ich vielleicht doch dorthin fahren?
„Ich weiß nicht was sie dort gemacht hat.“ Diego trat ganz untypisch für ihn unruhig von einem Bein auf das andere. „Sie wurde aufgegriffen, als sie eine Autopanne auf der Autobahn gehabt hat, mehr weiß ich auch noch nicht. Aber ich muss jetzt Ginny anrufen, sie muss das wissen.“
Und sie erfuhr es auch. Weitere Informationen jedoch gab es nur noch wenige.
Diego blieb noch die halbe Nacht bei uns und telefonierte unentwegt mit den Wächtern von Koblenz und denen von Silenda. Er sprach mit Königin Sadrija und auch kurz mit den Themis. Man schickte sogar ein Bild von Iesha nach Silenda, um sicher zu gehen, dass sie auch wirklich die richtige Frau hatten, doch in all dem
Chaos und den wenigen Informationen erfuhren wir eines nicht, was mit Cio geschehen war.
Ich saß während dieser ganzen Zeit nur angespannte auf dem Sofa und spielt unentwegt mit meinem Ring herum, im dem Versuch wach zu bleiben. Ich wollte nicht schlafen, ich hatte Angst davor etwas zu verpassen, wenn ich nicht mehr aufmerksam war und ein Nacht ohne Cio zu verbringen … ich wusste nicht wie mir das gelingen sollte.
Aber gegen drei am Morgen machte mein Körper mir ein Strich durch die Rechnung. Ich wollte nur mal kurz die Augen schließen, weil sie so brannten, doch als ich sie nach einer kurzen Minute wieder öffnete, lag ich ausgestreckt und zugedeckt auf der Couch und wurde von der Sonne geblendet.
Blinzelnd versuchte ich mein müdes Hirn dazu zu bringen, sich daran zu erinnern, wie ich auf dem Sofa meiner Eltern gelandet war und warum da lauter Nacktbilder von Iesha auf ihrem Tisch lagen. Als ich mich dann nach Cio umschauen wollte, kam die Erinnerung wieder und ein dumpfer Schmerz machte sich in meiner Brust breit.
Er war nicht hier und keiner wusste, was mit ihm geschehen war, weil Iesha ihn entführt hatte. Aber man hatte sie geschnappt und … verdammt, wie spät war es eigentlich?
Ich fuhr auf und atmete erleichtert aus, als die Uhr verkündete, dass es erst kurz nach halb acht war. Das bedeutete, dass ich noch über eine Stunde hatte um ins Schloss zu kommen. Es bedeutete aber auch, dass Cio bereits seit achtunddreißig Stunden verschwunden war. Eineinhalb Tage in Ieshas Gewalt. Nein, denn man hatte sie gestern Abend festgenommen. Man hatte sie endlich gefangen und damit dem ganzen Spuk ein Ende bereitet. Wir mussten nur noch herausfinden wo Cio war, dass war endlich wieder alles in Ordnung.
„Ich muss nur noch ein kleines bisschen durchhalten“, sagte ich zu mir selber, um mir Mut zu machen und schwang die Beine von der Couch. Erst da fiel mir auf, dass ich ganz alleine im Raum war, aber von der Haustür hörte ich Stimmen. Mein Vater, er rede leise, als wollte er mich nicht stören, doch obwohl die Frauenstimme bei ihm mir bekannt vorkam, konnte ich sie nicht zuordnen.
Ich strich mir meine Haare aus dem Gesicht, nahm mir meine Brille vom Tisch und erhob mich, um zu schauen, wer da an der Tür war. Dabei sagte ich mir, dass wir Cio heute finden würden. Sobald Iesha in Silenda war, würde sie uns alles erzählen müssen und dann würde ich ihn holen gehen. Heute würde das alles endlich ein Ende finden.
Warum nur hörten sich diese Worte in meinen Ohren wie eine Lüge an? War mein Leben wirklich zu so einem Alptraum geworden, dass ich selbst dem kleinsten bisschen Hoffnung misstrauen musste?
Ich fragte mich das immer noch, als ich in den Flur trat und unseren Besuch erblickte. Was zur Hölle? „Was willst du denn hier?“, fragte ich angespannt.
Nicht nur mein Vater, auch unsere Besucherin, meine zweieiige Zwillingsschwester Kiara drehten sich zu mir herum. Die Tatsache dass sie hier war, war schon seltsam, doch dass sie auch noch mit meinem Vater im Flur stand und sich scheinbar ganz gesittet mit ihm unterhielt, das war … keine Ahnung, das hatte es einfach noch nie gegeben.
Kiara verabscheute ihren Erzeuger fast so sehr wie mich, weil er sie immer daran erinnerte, dass sie zu einem kleinen Teil selber ein Vampir war und das würde sie am Liebsten einfach vergessen.
„Ich wollte mit dir reden.“ Ihr Blick ging von mir zu unserem gemeinsamen Vater und wieder zurück. In ihrer Hand hielt sie einen alten Schuhkarton. „Mama hat mir gesagt was mit Cio passiert ist und … es tut mir leid.“
Es tat ihr leid? „Was?“, fragte ich und schaffte es dabei nicht die Schärfe aus meiner Stimme zu lassen. „Was tut dir leid? Das er weg ist? Das du ein Miststück bist? Dass du hier auftauchst, weil du wieder eine Chance siehst dich in den Mittelpunkt zu spielen?“
„Zaira“, mahnte Papa. Wahrscheinlich hegte er noch immer die heimliche Hoffnung, irgendwann eine Art Beziehung zu seiner anderen Tochter aufzubauen.
Ich knurrte unwillig. „Du hast keine Ahnung was sie gesagt hat. Sie möchte, dass ich mich von Iesha umbringen lasse, damit ihr anderen endlich in Frieden weiterleben könnt. Das hat sie mir ins Gesicht gesagt.“
Nun traf sie auch der Blick meines Vaters.
Kiara biss die Zähne zusammen. „Ich bin hier um zu helfen.“
„Du?“ Ich lachte scharf auf. „Du willst mir helfen? Warum? Was springt für dich dabei heraus? Wie könntest ausgerechnet du helfen?“
Sie wurde ein wenig distanziert. „Ich bin mit Cio aufgewachsen, er ist wie ein Bruder für mich und ich war früher einmal Ieshas Freundin gewesen. Ich weiß Dinge von ihr, die ihr nicht wisst.“
„Iesha wurde verhaftet. Sie wird heute Sadrija vorgeführt, was bedeutet, dass Cio spätestens heute Abend wieder Zuhause sein wird. Deine Hilfe ist also überflüssig.“
„Zaira“, sagte mein Vater noch einmal, aber dieses Mal in diesem Ton, der mir sagen sollte, dass er eigentlich besseres von mir erwartete und ich ihn gerade ziemlich enttäuschte.
Ich knurrte noch einmal – sehr nachdrücklich sogar – und ging zurück ins Wohnzimmer, wo ich mir die Decke schnappte und sie grob zusammenlegte.
Als mein Vater mit Kiara in Zimmer trat, war ich gerade beide die Bilder von Iesha zusammenzuschieben. Ich beachtete weder sie noch ihn, als ich alles wieder im Ordner verstaute und dann zu meiner Reisetasche ging, um nach frischer Kleidung zu suchen.
„Schatz“, versuchte mein Vater es ein weiteres Mal, doch ich ging nur schweigend nach oben und verschwand mit knallender Tür im Badezimmer. Helfen. Sie wollte helfen. Kiara half niemals, nicht wenn es dabei nicht um sie ging. Was versprach sie sich von dieser scheiß Scharade? Im Moment hatte ich doch wirklich genug um die Ohren, sie brauchte ich nun wirklich nicht mehr. Doch als ich frisch geduscht und sauber angezogen wieder nach unten kam, war sie noch immer da. Sie hatte im Sessel Platz genommen und unterhielt sich schon wieder mit Papa. Die Schuhschachtel stand vor ihr auf dem Tisch.
Das sollte der Mist? Sie hatte noch nie freiwillig ein Wort mit meinem Vater gewechselt, warum also tat sie es jetzt?
Als Papa mich auf der Treppe hörte, schaute er kurz zu mir hoch und erhob sich dann von der Couch. „Ich mache mal Frühstück. Und du wirst auch etwas Essen.“ Den letzten Teil schickte er mit einem mahnenden Blick zu mir, bevor er sich abwandte und in der Küche verschwand.
Ich blickte misstrauisch zu Kiara hinunter. „Egal was für ein Spielchen du hier treibst, heute habe ich nicht die Kraft dazu, also gehst du am besten wieder.“
Sie ging nicht. Stattdessen schlug sie die Beine übereinander und sah mich herausfordernd an, als wollte sie sagen: „Zwing mich doch.“
Am liebsten hätte ich mit den Zähnen geknirscht.
„Ich komme gerade direkt von Großwächter Hardy, oder genauer gesagt, aus Ieshas altem Zimmer und ich habe dir etwas mitgebracht.“ Sie nickte zu dem Karton auf dem Tisch. „Ieshas Schatzkiste. Frisch aus ihrem geheimen Versteck geklaut.“
Mein Blick glitt zu dem Schuhkarton. Der war von Iesha? „Was meinst du mit geheimen Versteck?“
„Ich spreche von Ieshas Angewohnheit Sachen hinter Sockelleisten zu verstecken, Dinge, von denen sie nicht will, dass andere sie sehen. Ihr Schatz, sozusagen, etwas das nur ihr allein gehört und von dem niemand sonst etwas weiß.“
Das hörte sich irgendwie ein kleinen wenig paranoid an.
„Ich war vorher auch noch in dem Wächterquartier gewesen, in dem sie während ihrer Ausbildungszeit gewohnt hat, aber entweder hat sie dort nichts versteckt, oder ich habe nicht an der richtigen Stelle gesucht. Die Fußleisten jedenfalls waren alle fest mit der Wand verankert gewesen.“
Sehr langsam und ohne sie aus den Augen zu lassen, ging ich die Treppe herunter und setzte mich auf meinen Stammplatz auf der Couch. „Und wie sollte mir ihre Schatzkiste dabei helfen Cio zu finden?“
Sie schob mir die Kiste über den Tisch hinweg zu. „Keine Ahnung, ich hab noch nicht reingeschaut, aber Ieshas Schatzkisten sind für sie wie Tagebücher für andere Mädchen. Wenn man irgendwie in die verquere Welt ihrer Gedanken kommen möchte, dann wohl hiermit.“
Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich die verdrehte Welt von Ieshas Geist betreten wollte, trotzdem zog ich die ramponierte Schachtel zu mir heran. Sie war ziemlich alt und an manchen Stellen zerknickt. Als ich den Deckel abnahm, stellte ich fest, dass er an einer Stelle tief eingerissen und mit Klebeband wieder repariert wurde.
Was ich in der Kiste fand war ein Durcheinander an Krimskrams. Ein kleiner, kaputter Traumfänger, an dem nur noch eine Feder ging. Ein rotes Feuerzeug, dass sogar noch funktionierte. Ein Bild von einem pummeligen Mädchen, das verdammte Ähnlichkeit mit Iesha hatte. Auf dem Bild konnte sie nicht älter als zehn sein. Sie saß auf einer Schaukel und grinste in die Kamera. Auf der Rückseite stand das Wort: Erfolg. Keine Erklärung.
Münzen, eine Muschel, ein gelbes Quietscheentchen und ein goldener Ohrring, an dem ein kleiner Diamant baumelte.
„Hey, das ist meiner!“, sagte Kiara erstaunt und schnappte ihn sich aus meiner Hand, um ihn ein wenig genauer unter die Lupe zu nehmen. „Das ist wirklich meiner.“
„Na dann hoffe ich, dass du den anderen noch hast.“ Ich wühlte mich weiter durch die Kiste, fand aber nichts anderes, als diese kleinen Erinnerungsstücke, mit denen ich nichts anfangen konnte. Erst als ich fast alles auf den Tisch geräumt hatte und mein Vater gerade mit einem vollen Tablett ins Wohnzimmer kam, um den Tisch zu decken, stieß ich ganz unten am Boden auf ein dünnes Schreibheft.
Ich versuchte es so herauszuziehen, dass die ganzen Krümel und Fusseln in der Kiste blieben. Es stand nichts auf dem Umschlag, aber man sah ihm auf dem ersten Blick an, dass es sehr oft zur Hand genommen worden war. Es roch ziemlich muffig, irgendwie … moderig.
Als ich die erste Seite aufschlug, fiel mir eine schwarze Feder in den Schoß. Ich wollte sie zu den anderen Sachen auf den Tisch legen, doch als ich sie aufhob, bemerkte ich die rostrote Farbe an der Spitze. Nein, das war keine Farbe, das war … „Irgh.“ Angewidert ließ ich sie auf den Tisch fallen.
„Was ist?“, wollte Kiara wissen.
„Das ist Blut.“ Ich warf einen Blick auf die offene Seite des Heftes. Rostrote Schrift und eine kleine Zeichnung von einem … ich war mir nicht sicher was das sein sollte. Ein Fisch? Ein Vogel? „Sie hat in dieses Heft mit Blut geschrieben?“
Mein Vater horchte auf und unterbrach sich bei seinen Vorbereitungen, um einen Blick über meine Schulter zu werfen. „Was ist das für ein Heft?“
„Es lag in der Kiste.“ Ich rückte meine Brille zurecht und auch wenn es mir widerstrebte, beugte ich mich ein wenig vor, um die krakelige Schrift zu entziffern. „Sie sehen mich nicht“, las ich vor. „Niemand sieht mich, nur was ich ihnen zeige, nur wenig, nur die Oberfläche, nichts was darunter liegt. Mein Wesen bleibt geheim, verborgen in den Tiefen, wo niemand es finden kann.“ Es ging noch weiter, aber ich blätterte auf die nächste Seite um, wo ein abstraktes Bild von einem Bein zu sehen war. Darunter stand: „Es gibt Dinge die man nicht sieht, Momente in deinen einen alles egal ist, Worte die einen verletzen, Lieder die man nicht hören will, Erinnerungen die einem das Herz brechen.“
„Das scheint eine ziemliche Abstraktion eines Poesiealbums zu sein“, bemerkte Kiara.
„Ein Einblick in ihre verqueren Gedanken, wie du gesagt hast.“ Ich klappte es zu und schmiss es zurück in die Kiste. Auf den Armen hatte ich vor Ekel eine Gänsehaut. Ich wollte gar nicht wissen, mit was für Blut sie das geschrieben hatte. Ihrem eigenen? Tierblut? Am Besten ging ich noch einmal unter die Dusche, um diese widerliche Gefühl loszuwerden. „Aber es ist egal, es ist wertlos.“
„Lass es bitte trotzdem hier“, bat mein Vater Kiara. „Ich würde es mir später gerne noch mal ansehen.“
„Klar, kein Problem. Gib es nur Großwächter Hardy zurück, wenn du fertig bist.“
Er nickte. „Mach ich und …“ Ganz untypisch für ihn, zögerte er einen Moment. „Möchtest du zum Frühstück bleiben?“
Die Frage kannst du dir sparen, dachte ich und war umso überraschter, als Kiara nach einen kurzen Augenblick „Klar, warum nicht?“ sagte.
Wäre ich noch so angespannt wegen dem bevorstehenden Besuch am Hof der Lykaner, hätte ich mich wohl nicht nur gewundert, sondern dem plötzlichen Sinneswandel von Kiara auf den Zahn gefühlt, denn niemand machte von heute auf morgen eine hundertachtzig Grad Drehung und änderte seine Meinung, wenn er so festgefahren war – absolut niemand.
°°°
Unsere Schritt hallten gedämpft von den hohen Wänden wieder, als wir den großen Thronsaal von Königin Sadrija und König Carlos betraten. Direkt gegenüber der eindrucksvollen Flügeltüren, durch die man den Saal betrat, standen auf einem erhöhten Podest die Throne unserer Alphas. Die Wände links und rechts waren Säulen mit drei Torbögen, die in die angrenzenden Tanzsäle führten. Ich wusste das, auch wenn ich es heute nicht sehen konnte, da schwere, goldene Brokatvorhänge vor die einzelnen Durchgänge gezogen worden waren und den Thronsaal somit von ihnen abtrennten.
An den Säulen und Zwischenräumen hatten sich Wächter der Königsgarde wie stumme Staturen aufgereiht. Links und rechts von dem Podest standen insgesamt sechs Männer und Frauen in einer brauen Lederuniform. Umbras, die Leibgarde der Alphas. So wie Cio früher einer war und seine Eltern heute noch.
Genevièv war nicht bei uns, als wir den Saal entlang schritten. Sie war draußen beim meinem Vater geblieben, weil sie, wie sie sagte, hier drinnen keine Hilfe wäre und befürchtete, sie würde Iesha einfach den Kopf abreißen, wenn sie sie zu Gesicht bekam.
Papa war nicht freiwillig draußen geblieben, aber Vampiren war es schon sei jeher verboten das Heim der Alphas zu betreten und da meine Großcousine Königin Sadrija es nicht für wichtig befand, dass mein Vater an diesem Verhör teilnahm, hatte sie auch keine Einladung für ihn ausgesprochen.
Ich selber verdankte meinen Aufenthalt hier nur Diego und seinem Posten. Er war der Tribunus Umbra, der Chef der Leibgarde und stand damit nicht nur über jedem anderen Lykaner im Rudel – von den Alphas einmal abgesehen – er hatte auch eine ziemlich enge Verbindung zum Königshaus.
Er war im Moment auch der Einzige, der mich begleitete. Ohne ihn hätte ich mich wahrscheinlich gar nicht so recht getraut den Saal zu betreten. Nicht wegen Königin Sadrija, die gerade zusammen mit einem versteinerten Großwächter Hardy und Wächter Mirko Vukelić in einem langen, taubenblauen Kleid direkt vor dem Podest stand, sondern wegen ihrem Mann König Carlos.
Das letzte Mal als ich ihm begegnet war, hatte ich seinen Bruder Graf Rouven Deleo beschuldigt der Amor-Killer zu sein. Danach hatte ich ihn nur noch einmal aus der Ferne gesehen, als meine Großcousine mich zu Rouvens Tod befragt hatte. Ich war es gewesen, die den kleinen Bruder des Königs erschossen hatte und auch wenn es aus Notwehr heraus geschehen war, hatte ich keine Ahnung, wie ich ihm nun gegenübertreten sollte.
Als wir uns nun dem mit rotem Teppich bezogenen Podest nährten, unterbrach Sadrija sich bei ihrem Gespräch und wandte sich zu uns um.
Diego machte sofort eine formelle Verbeugung vor ihr. „Eure Majestät.“
Ich hing mit meiner ein wenig hinterher, weil ich das einfach nicht gewohnt war. Ja ich war mit der Königsfamilie verwand, aber wirklich viel Kontakt hatte ich nicht zu ihnen.
Als Königin Sadrija uns zunickte, glitt mein Blick zu Großwächter Hardy. Seine Mine war völlig ausdruckslos, doch er hatte tiefe Ringe unter den Augen. Ich konnte mir wahrscheinlich gar nicht vorstellen, wie er sich im Moment fühlte. Nicht nur das seine Tochter eine Mörderin war, sie wurde nun auch noch der Königin vorgeführt. Dieser Tag konnte nur auf eine Art enden, denn die Gesetze des Rudels waren deutlich und kein Alpha würde jemanden wie Iesha am Leben lassen. Sie hatte dem Rudel geschadet. Nein, das hier war nicht nur ein Verhör, es war auch der Gang zum Henker.
In mir regte sich nicht mal das kleinste bisschen Mitleid mit dieser Frau. Ich wollte dass sie bekam was sie verdiente. Ich wollte dass sie für all ihre Taten bestraft wurde. Ich wollte dass sie dafür litt, dass sie mir Cio weggenommen hatte.
Als ich eine Hand an meinem Arm spürte, schreckte ich vor der Berührung zurück und stieß gegen Diego. Zu spät ging mir auf, dass es nur Sadrija war. „Tut mir leid.“
„Das muss es nicht.“ Königin Sadrija hatte eine schwere Vergangenheit hinter sich und noch heute wirkte sie deswegen immer ein wenig zerbrechlich und abwesend. Irgendwie hohl und unbeteiligt, so als wäre sie kein Teil dieser Welt mehr. Das blonde Haar und die helle Haut verstärkten diesen Eindruck nur noch. „Ich habe gerade Nachricht erhalten, dass Iesha Walker in wenigen Minuten hier sein wird.“
Diese Worte reichten, um meine Anspannung gleich noch ein wenig zu steigern. Einerseits hatte ich eine furchtbare Wut auf diese Frau und würde sie am Liebsten in der Luft zerreißen, andererseits war sie das Monster meiner Alpträume. Schon bei unserer ersten Begegnung hatte Iesha mir Unbehagen bereitet. Heute fürchtete ich ihre Gegenwart und das machte mich nervös. Das war keine gute Gefühlskombination.
„Du wirst nichts sagen“, mahnte Königin Sadrija mich. „Es wird dich vielleicht aufwühlen sie zu sehen, aber du wirst dich während der Befragung still verhalten, sonst werden die Wächter die aus dem Thronsaal entfernen.“
Ich nickte, dass ich verstanden hatte und warf einen unsicheren Blick hinauf zu König Carlos, der sich bisher nicht von seinem Thron bewegt hatte. Er beobachtete mich nur mit ruhigem Blick. Oder beobachtete er seine Gefährtin? Das konnte ich nicht wirklich mit Sicherheit sagen.
Königin Sadrija wandte sich an Hardy. „Auch du wirst dich ruhig verhalten. Denk dran was ich dir gesagt habe, wenn es dir zu viel wird, dann geh einfach hinaus. Niemand hier wird dich dafür verurteilen.“
„Ja, Majestät.“
Ich Blick wurde ein wenig weicher, als sie ihm die Hand auf die Schulter legte. „Nichts von dem was geschehen ist, ist deine Schuld. Sie mag deine Tochter sein, aber sie ist ein eigenständiges Wesen und damit ganz allein für ihre Taten verantwortlich.“
Ob er das nun auch so sah, oder nicht, er schwieg einfach mit schmalen Lippen. Iesha konnte das größte Monster dieser Welt sein, sie war immer noch sein Kind und auch wenn es wohl niemanden gab der das verstehen konnte, auf irgendeine Art liebte er sie. Sie war seine Tochter.
Königin Sadrija drückte ihm kurz die Schulter, dann wandte sie sich dem Podest zu. Sie hatte gerade mal die erste Stufe betreten, als ein wirklich großer Wächter mit einem wirklich breitem Kreuz mit langen Schritten den Thronsaal betrat. Wow, das war wirklich ein Schrank von einem Mann. Der war mindestens zwei Meter zehn und machte den Eindruck einen LKW mit bloßen Händen stemmen zu können.
Er achtete weder auf die anderen Wächter, noch auf uns, als er zum Podest kam und meine Großcousine mit einer Verbeugung begrüßte. „Eure Majestät. Die Wächter aus Koblenz und Iesha Walker sind gerade eingetroffen.“
„In Ordnung, führt sie hinein.“
Während der Mann sich erneut verbeugte und dann auf dem Absatz kehrt machte, um seinem Auftrag nachzukommen, spannte sich mein ganzer Körper an. Ich griff nach dem Ring an meinem Hals. Sie war hier. Nach all den Monaten war sie hier und ich würde ihr gleich gegenüberstehen. Oh Gott, sie war wirklich hier.
„Ruhig“, sagte Diego und stelle sich direkt neben mich. Auch er wirkte angespannt. Das war so völlig untypisch für ihn. Normalerweise ließ er sich niemals anmerken, was in seinem Kopf vor sich ging. Er hatte es praktisch zu einer Meisterschaft gemacht, seine Gefühle hinter einer emotionslosen Maske zu verbergen, aber nun ging seine Unruhe praktisch in Wellen von ihm aus.
Er machte sich Sorgen um seinen Sohn und das ließ mich noch besorgter werden. Das ist nicht nötig. Iesha ist hier und gleich werden wir erfahren, wo sie Cio versteckt hat. Alles wird gut.
Ich konnte mir so gut zureden wie ich wollte, meiner Nervosität war das egal. Sie hatte sich mit meiner Ungeduld verschworen und machte mich dadurch zu einem reinen Nervenbündel. Mein Herz schlug mir bis zu Hals. Das wurde auch nicht besser, als ich ein ganzes Bataillon von Schritten auf den Thronsaal zukommen hörte.
Der erste der den Saal betrat, war wieder dieser Riese in seiner schwarzen Uniform. Er führte sechs Männer an, in deren Mitte Iesha in den Raum geführt wurde.
„Nein, bitte“, rief sie verzweifelt und versuchte sich von den Wächtern loszumachen. „Bitte, ich schwöre, ich weiß nichts, sie müssen mich gehen lassen, bitte, ich habe nichts falsch gemacht.“
Keiner der Männer reagierte, doch ich runzelte die Stirn. Diese Stimme, sie klang irgendwie falsch. So weinerlich und flehend. Iesha war nicht der Typ, der um etwas flehte.
„Ich habe nichts damit zu tun“, beschwor sie die Männer. „Bitte, sie müssen mir glauben.“ Sie wirkte verängstigt.
Ich trat einen Schritt vor um sie besser sehen zu können.
„Zaira“, mahnte Diego mich, doch ich hörte ihn kaum, denn in dem Moment als sie an mir vorbeigeführt wurde, setzte mein Herz für einen Schlag aus.
„Aber das ist …“, begann ich und spürte sie mir das Entsetzen die Kehle zuschnürte. Oh Gott, das konnte nicht wahr sein. Ich schaute verstört von Diego zur Königin und dann wieder zurück zu Iesha, in der Hoffnung, dass ich mich irren würde, doch der zweite Blick auf sie verstärkte meinen Eindruck nur. „Nein!“, schrie ich und wollte einen Moment auf etwas einschlagen.
Sadrija richtete sofort ihren warnenden Blick auf mich, doch das war mir egal. „Das ist nicht Iesha!“, schrie ich sie an und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Fremde zwischen den Wächtern. „Sie haben die Falsche!“
Die junge Frau schaute sofort erschrocken zu mir. „Da, sie hören es, ich bin das nicht. Sie haben die falsche verhaftet, ich habe nichts getan.“
Auf Sadrijas Stirn erschien ein Runzeln. Sie schaute von der Imitation zu mir und dann zu Ieshas Vater. „Hardy?“
Auch er betrachtete das Mädchen mit einer Mischung aus Verwirrung und Erleichterung.
Sie war genauso groß wie Iesha, hatte die gleiche Haarfarbe, die gleiche Statur und das gleiche Gesicht, aber sie war etwas älter, die Augen waren ein wenig anderes und ihr Haar war viel länger. Es waren wirklich nur Kleinigkeiten, die sie von Iesha unterschieden, doch auch Hardy sagte: „Das ist nicht meine Tochter.“
Vor Wut stieß ich einen Schrei aus, denn plötzlich machte sich in meinem Herzen ein unerträglicher Schmerz breit. Wenn das hier nicht Iesha war, dann war sie noch immer da draußen und machte weiß-Gott-was mit Cio. „Nein!“, schrie ich wieder. All meine Hoffnungen auf diesen Moment waren einfach dahin. „Nein, nein, nein!“
„Zaira.“ Diego wollte nach meinem Arm greifen, doch ich wich ihm aus. Ich wandte mich einfach von dem aufkommenden Chaos ab und stürmte aus dem Saal hinaus in die große Eingangshalle, ohne mich noch einmal nach dem Drama umzudrehen.
Ich konnte es einfach nicht glauben. Es war nicht mehr als der Bruchteil einer Sekunde nötig gewesen um all meine Hoffnungen auf eine Ende dieser ganzen verdammten Scheißsituation mit einem Schlag zu vernichten. Wie konnte man nur so inkompetent sein die falsche zu verhaften und es nicht mal zu merken? Ich hatte nur ihre Stimme hören müssen um zu wissen, dass da etwas nicht stimmte.
„Scheiße!“, schrie ich und stürmte zum Hauptportal hinaus ins Freie. Als die Wachposten mir dabei wachsame Blicke zuwarfen, schnauzte ich sie auch noch an, dass sie nicht so blöd glotzen sollten. Erst da spürte ich die Tränen auf meinen Wangen.
Oh Gott, das war nicht Iesha gewesen, es war noch nicht zu Ende. Warum? Warum konnte nicht einmal etwas klappen? Warum hatte sie Cio holen müssen? Warum konnte sie nicht einfach normal sein und loslassen?
Als ich halb die große Freitreppe vor dem Portal hinuntergegangen war und versuchte mir die Augen aus dem Gesicht zu wischen, bemerkten mein Vater und Genevièv mich. In dem einen Moment standen sie noch am Wagen meines Vaters, im nächsten eilten sie bereits mit besorgten Minen auf mich zu.
„Was ist?“, fragte Genevièv schon bevor sie mich erreicht hatten. „Was ist passiert?“
„Was passiert ist?“ Meine Stimme klang ein wenig spitz und von meinem scharfen Lachen taten mir selber die Ohren weh. „Die haben die Falsche! Das da drinnen ist nicht Iesha! Sie haben eine verdammte Doppelgängerin verhaftet und die hier her geschleift!“ Mein ausgestreckter Arm zeigte hoch zum Schlossportal. „Ich habe keine Ahnung wer die Frau ist, aber Iesha ist noch immer irgendwo da draußen und hat Cio in seiner Gewalt, das ist passiert!“
Genevièv schaute erst ungläubig, dann schockiert, nur um sich mit einem gemurmelten „Entschuldigt mich bitte“ von uns zu verabschieden und im Schloss zu verschwinden.
Ich konnte nur hilflos meinen Vater anstarren. „Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte ich und betete darum, dass er eine Antwort für mich hatte. „Sie hat ihn immer noch.“
„Ach Schatz.“ Er streckte die Arme nach mir aus, doch ich stollperte vor ihm zurück.
„Ich will keine Umarmung, oder Trost, ich will wissen, was ich jetzt tun soll!“
Angespannt ließ er die Hände wieder sinken. „Das ist nicht so einfach zu beantworten. Wir müssen einfach weiter suchen und …“
„Und wenn das noch Tage, oder Wochen dauert? Wir haben keinen Hinweis, nicht den kleinsten! Hast du eine Ahnung was sie ihm in dieser Zeit noch alles antun kann? Ich war nur ein paar Stunden in ihrer Gewalt und ich habe mich bis heute nicht davon erholt!“
Seine Lippen wurden ein wenig schmaler. Er wollte mir helfen, das war mir bewusst, aber in dieser Angelegenheit war er genauso machtlos wie ich. „Wir müssen einfach weiter nach Spuren und Informationen suchen. Irgendwann werden wir auf etwas stoßen …“
„Irgendwann? Irgendwann in einem Jahr? Irgendwann in zehn Jahren? Was wenn wir ihn niemals finden und er für immer …“
„Nein“, unterbrach er mich. „So wirst du nicht anfangen zu denken. Wir werden ihn finden. Da musst du dir immer wieder sagen. Wir. Werden. Ihn. Finden. Hast du das verstanden?“
Ich biss die Zähne zusammen. Mit einem Mal kam mir alles so sinnlos vor. Wir hatten keine neuen Spuren, keine Hinweise, keine Ahnung wo wir suchen mussten. Das Einzige was wir wussten war, dass er nicht hier war. Um ihn zu finden bräuchten mir mehr Informationen, irgendwas dass wir bisher noch nicht wussten und dem wir bisher noch nicht nachgegangen waren. „Das ist es“, sagte ich, als mir ein Gedanke kam. Es gab da eine Sache, der wir noch nachgehen konnten. „Warte hier“, sagte ich noch, dann verschwand ich auch schon wieder durch das Portal.
Mein Vater rief noch nach mir, wahrscheinlich weil er wissen wollte, was los war, aber das würde er schon früh genug erfahren. Jetzt musste ich erstmal mit jemand anderem sprechen und dieses Mal schien mir das Glück wenigstens ein kleinen wenig hold zu sein, denn als ich wieder in der Eingangshalle war, sah ich genau den Mann aus dem Thronsaal kommen, den ich sprechen wollte. Großwächter Hardy.
Er war nicht allein, sein Wächterkollege Mirko war bei ihm und redete energisch auf seinen Vorgesetzten ein, doch Hardy schüttelte nur immer wieder den Kopf, als wollte er nicht hören, was der andere zu sagen hatte.
„Herr Walker“, rief ich ihn bereits, während ich noch auf ihn zueilte.
Er hob sofort den Kopf und wenn ich vorher schon geglaubt hatte, seine Mine sei versteinert, so war sie nun völlig emotionslos. „Zaira, ich …“
„Ich möchte in die Psychiatrie fahren. Jetzt“, unterbrach ich ihn, bevor er mich abwimmeln konnte.
Seine Lippen wurden ein wenig schmaler. „Ich weiß dass das für dich …“
„Sie haben es mir versprochen. Dass ich zu unserem Termin nicht kommen konnte, hatte ihre Tochter zu verschulden und auch an dieser Situation ist sie schuld.“ Ja, es war absolut nicht richtig von mir, dass ich diesen Trumpf ausspielte, aber das war mir in diesem Moment egal, denn hier ging es weder um mich, noch um ihn. Es ging darum diesem Miststück das Handwerk zu legen. Und mir war es auch egal, das Wächter Mirko mich deswegen praktisch mit seinem Blick aufspießte. „Bitte. Sie ist verrückt und sie hat Cio. Ich weiß sonst einfach nicht mehr was ich noch tun soll.“
Er wollte nicht. Ich sah es ihm an, wie er nach einer Ausrede suchte, die ihn aus dieser Lage befreien konnte.
„Bitte“, sagte ich noch einmal. „Bitte helfen sie Cio. Ich kann ihn nicht bei ihr lassen.“
„Zaira …“
„Ich bin schwanger.“ Ich legte schützend eine Hand auf meinen Bauch. „Ich glaube nicht, dass Iesha das weiß, aber ich habe Angst davor was sie tun könnte, wenn sie es erfährt. Bitte, ich weiß nicht mehr weiter.“ Es gab sonst einfach keinen Strang mehr an dem ich ziehen konnte.
Ich wusste nicht ob es die Schwangerschaft war, oder ob er einfach nur ein guter Mann war, der helfen wollte, doch er stimmte mit einem schweren Seufzen zu. Leider konnte er aber nicht von jetzt auf gleich einfach so den Hof verlassen. Er brauchte noch eine gute halbe Stunde, um seine Sachen so weit zu regel, dass er gehen konnte. Das war gar nicht schlecht, denn so hatte ich genug Zeit meinen Vater davon zu überzeugen, dass das eine gute Idee war.
Okay, er fand nicht, dass das eine gute Idee war, aber nachdem ich ihm gesagt hatte, dass ich erwachsen war und meine eigenen Entscheidungen traf, konnte er mir nicht mehr widersprechen. Vielleicht war es aber auch Diegos Zuspruch. Er kam ungefähr zehn Minuten später heraus, um uns mitzuteilen, was darin vor sich ging.
Das Mädchen war Mitglied eines Simultanen-Rudels, dass seinen Sitz in der Nähe von Koblenz hatte und hatte absolut nichts mit Iesha zu tun. Dass die Wächter die einfach aufgegriffen und hier hergebracht hatten, würde sicher Probleme mit ihrem Alpha geben, aber das interessierte mich im Moment nicht. Ich fieberte nur dem Moment entgegen, als Großwächter Hardy endlich bei uns auftauchte und ich zusammen mit ihm und meinem Vater ins Auto steigen konnte.
Auf der fast zweistündigen Fahrt wurde nicht viel geredet. Hardy hatte einfach nichts zu sagen und starrte die meiste Zeit nur grübelnd aus dem Fenster. Papa versuchte ein paar Mal ein Gespräch mit mir anzufangen, wahrscheinlich um mich ein wenig abzulenken, aber meine Gedanken waren so mit anderen Dingen beschäftigt, dass es sich immer wieder ziemlich schnell im Sande verlief.
Erst kurz vor unserem Ziel, als Ieshas Vater den genauen Weg zur Heilanstalt Sanare beschrieb, wurde die Stille im Wagen ein wenig vertrieben. Aber als wir uns dem großflächig umzäunten Gelände der Psychiatrie nährten, wuchs meine Unruhe wieder ein wenig.
Die Straße war sauber und Ruhig und das Areal hinter dem Zaun mit den hohen Büschen schien sehr gut gepflegt.
Als wir vor der großen Einfahrt hielten, weil wir uns über eine Sprechanlage anmelden mussten, um eingelassen zu werden, sah ich in dem Garten, trotz der Kälte, ein paar Leute, die unter Aufsicht einen kleinen Spaziergang machen.
Auf dem ersten Blick wirkten sie recht normal, gar nicht verrückt und durchgeknallt, wie man das von einem solchen Ort erwarten würde, aber die dich eingemummelten Pflegekräfte, behielten sie sicher nicht aus Langeweile im Auge.
Es dauerte einen Moment, bevor die nette Dame an der Sprechanlage uns Zutritt gewährte und die Tore automatisch öffnete. Sie bat uns auf den Besucherparkplatz zu fahren und uns dann bei ihr an der Anmeldung zu melden.
Wer jetzt glaubte, das Gelände würde in irgendwie einem normalen Krankenhaus ähneln, der irrte sich. Ich hatte er den Eindruck mich in einem sehr gut gepflegten Park zu befinden. Selbst als wie den Wagen verließen und über die angelegten Wege das Gebäude betraten, das große Ähnlichkeit mit einem alten viktorianischen Haus hatte, änderte sich der Eindruck nur wenig. Das Foyer wirkte warm und einladend, nicht kalt und steril. Und auch hier schienen die wenigen Leute die sich hier befanden nicht geisteskrank. Keiner redete in Zungen, oder sprach mit einem unsichtbaren Gesprächspartner. Niemand schrie herum oder saß verstört in der Ecke. Weder Mann noch Frau machten seltsame Dinge. Es war alles nur unheimlich ruhig. In einem Gebäudekomplex, in dem so viele Leite lebten, sollte man doch meinen, das wenigstens eine gewisse Geräuschkulisse vorhanden war.
Vielleicht war es ja diese seltsame Stille, die mich dazu brachte mir über die Arme zu reiben, als Hardy mit der Frau an der Anmeldung sprach. Es hatte sicher nichts damit zu tun, dass Iesha drei Jahre an diesem Ort gelebt hatte, nur um nach ihrer Entlassung das Wort Verrückt neu zu definieren.
Da wir ohne Termin gekommen waren und Hardys Bitte nicht alltäglich war, mussten wir fast eine Stunde warten, bis ein Arzt Zeit für uns hatte. Die Dame von der Anmeldung brachte uns in einen privaten Besucherraum, der direkt an das Foyer anschloss. Es machte fast den Eindruck, als wollten sie uns von den Patienten fernhalten. Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein, weil ich irgendetwas suchte, um meinen Kopf zu beschäftigen und nicht die ganze Zeit darüber nachzudenken, wo Cio gerade war, was er tat und wie es ihm ging.
Der Raum bot eine gemütliche Wohnlandschaft mit Tisch, Sessel und Hocker. Der Boden war mit einem blauen Teppich ausgelegt und an der Wand gab es noch eine Sprechanlage mit Hörer. Ansonsten gab es hier nichts. Nicht mal Gardinen. Dafür aber Gitter vor den Fenstern.
Als die Tür sich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich öffnete, kam ein älterer, großgewachsener Mann mit schütterem, grauen Haar und einem weißen Arztkittel herein. Auf seiner Nase throne eine Brille und unter dem Arm trug er drei dicke Ordner mit sich herum.
„Entschuldigen sie, dass sie so lange warten mussten“, begrüßte er uns, während der die Tür schloss. Er wirkte ein wenig gehetzt. „Sie haben leider einen ungünstigen Tag erwischt. Viel zu tun.“ Er kam zu uns und reichte als erstes Hardy auf dem Sessel die Hand. „Hallo Herr Geisler, schön sie wiederzusehen.“
„Hallo, Doktor Lott.“ Hardy wirkte nicht ganz so begeistert.
Auch Papa und ich reichten ihm die Hände und setzten uns mit ihm zusammen dann auf die Couch.
„Uff“, machte er, legte die Akten vor sich auf dem Tisch und lehnte sich erstmal zurück. „Verzeihen sie mir, aber ich bin schon den ganzen Tag auf den Beinen.“
„Kein Problem.“
„Da bin ich aber froh.“ Er gab ein schweres seufzen von sich, bevor er einmal in die Runde lächelte. „So, dann verraten sie mir doch mal, worum es hier geht. Mir wurde gesagt, sie möchten die Akten ihrer Tochter abholen?“
Hardy nickte dumpf und erzählte ihm dann in einer kurzen Zusammenfassung, was seit Ieshas Entlassung vor fast einem Jahr geschehen war und warum genau wir hier waren. „Im Grunde möchte ich, dass sie Zaira alle ihre Fragen beantworten und mir zeitnahe Ieshas Akten heraussuchen und sie mir zukommen lassen.“
„Hm“, machte Doktor Lott und schaute ernst von einem zum andern. „Patientenakten darf ich nicht so einfach herausgeben, ich …“
„Iesha ist nicht mehr Teil des Rudels“, unterbrach Hardy ihn. „Außerdem wurde sie bereits vor ihrer Einweisung hier entmündigt und damit habe ich das Recht zu entscheiden, wer Einblick in die Akten nehmen darf.“
Das schien dem Arzt nicht sonderlich zu gefallen, aber er beließ es dabei. „Nun gut“, sagte er dann und wandte sich direkt an mich. „Sie haben Fragen?“
„Ja, ich … also im Grunde würde mich interessieren, an was genau Iesha leidet und was sie hier getan hat, oder ob sie sich irgendwie auffällig benommen hat.“
„Wir sind hier in einer Psychiatrie, fast alle unsere Patienten benehmen sich auf die eine oder andere Art auffällig. Deswegen sind sie hier, damit wir ihnen helfen können zu heilen.“
Was bei Iesha ja nicht sehr gut funktioniert hatte. „Es geht darum irgendeinen Hinweis zu bekommen, der uns bei der Suche nach meinem Mann helfen kann und auch Iesha festzunehmen.“
„Hm“, machte er wieder und lehnte sich auf der gelben Couch zurück. „Dieses Gespräch habe ich bereits vor einem halben Jahr mit den Wächtern der Garde geführt.“
„Ich bin aber kein Wächter“, hielt ich sofort dagegen. „Bitte, helfen sie mir, geben sie mir irgendwas. Ich weiß nicht was sie mit ihm macht, aber ich weiß genau, dass es ihr bei ihr nicht gut geht. Wir müssen die beiden finden – unbedingt.“
Er seufzte theatralisch, als sei er hier der leidtragende. „Ich glaube nicht, dass mein Wissen über Frau Walker ihnen groß helfen wird, ihre Zeit bei uns liegt schließlich schon ein wenig zurück und mittlerweile ist viel …“
„Nicht mal ein Jahr“, sagte ich. „Iesha wurde erst im letzten August aus dieser Einrichtung entlassen, das liegt also nicht mal ein Jahr zurück.“
„Juli“, korrigierte er mich und seufzte dann noch mal sehr geräuschvoll. „Na schön. Frau Walker leidet an einer kombinierte Persönlichkeitsstörung, die sich bei ihr oft in Aggression, oder Faszination von Gewalt ausdrückt. Sie hat Schwierigkeiten damit die Realität zu akzeptieren und sich in ihr zurechtzufinden. Manche Dinge sind für sie … anders, nicht so eindeutig, wie sie für uns wären, verstehen sie?“
ich nickte. Das Cio sie nicht wollte, war eindeutig, nur verstand sie das nicht.
„Als sie damals hier ankam, war sie … schwierig, nicht bereit zur Mitarbeit. Mit der Zeit jedoch verstand sie, dass sie hier nicht rauskommen würde, solange sie die Tabletten verweigerte und sich eine Besserung bei ihr einstellte. Es dauerte fast zwei Monate, bis sie zu mir kam und sagte, sie wolle geheilt werden. Leider war das nur ein Täuschungsversuch gewesen, mit dem sie hoffte schneller gehen zu können. Sowas versuchen die Patienten hier oft, darum kennen wir die Anzeichen.“
Verübeln konnte ich es ihr nicht. Würde man mich an einen solchen Ort sperren, würde ich auch alles tun um von hier wegzukommen.
„Bis sie dann wirklich so weit war mit der Therapie zu beginnen, vergingen weitere Monate, doch als sie es dann meines Eindrucks nach endlich verstanden hatte, begann sie sich zu bemühen. Natürlich funktioniert so eine Heilung nicht von Heute auf morgen. Es brauchte Zeit, sie hatte gute und auch schlechte Tage, aber wir konnten bei ihr eine kontinuierliche Besserung sehen. Sie wurde ruhiger und umgänglicher und gliederte sich auch in die Gemeinschaft ein.“
„Sie hat sie getäuscht.“
Ein Muskel an seiner Wange zuckte. „Ja und nein. Sie machte die Therapien mit, nahm ihre Medikamente und pflegte sogar mehrere Freundschaften hier in der Einrichtung. Sie wurde ruhiger und auch klarer. Bevor wir sie entlassen haben, wurde sie von mehreren Spezialisten untersucht und sie alle kamen zu dem selben Ergebnis. Wenn sie weiterhin ihre Medikamente nimmt, dann gab es keinen Grund mehr sie noch länger in dieser Einrichtung zu beherbergen.“
Er hatte Scheiße gebaut. Er wusste es erst jetzt im Nachhinein, aber er hatte Scheiße gebaut und versuchte sich nun zu rechtfertigen, wo die Dinge schon wieder so aus dem Ruder liefen. Aber ich hatte kein Interesse an seinen Fehlentscheidungen, oder seinen Entschuldigungen, ich wollte Cio finden. „Nichts von dem was sie gesagt haben, hilft mir.“
„Ich habe doch schon gesagt, dass ich …“
„Bitte“, flehte ich ihn an. „Geben sie mir etwas, irgendwas. Sie hat hier die letzten drei Jahre ihres Lebens verbracht, erst danach ist sie zu einer psychopathischen Mörderin geworden, die sogar ihre eigene Mutter umgebracht hat. Sie müssen mir doch etwas sagen können, schließlich stand sie unter ihrer Aufsicht.“
Einen Moment schaute er mich nur schweigend an. „Vielleicht“, begann er dann langsam. „In ihrer Zeit hier war Iesha mit zwei anderen Patienten sehr eng befreundet. Einer von ihnen ist noch immer hier und vielleicht kann er ihnen ja etwas Hilfreiches mitteilen.“
„Ja, okay, ich würde gerne mit ihm sprechen.“
„Ich muss sie aber warnen. Dieser Patient ist … unberechenbar. Er verfügt über einen scharfen Verstand und eine ausgesprochen gute Beobachtungsgabe und er liebt Psychospielchen, wenn ich das so ausdrücken darf.“
Mein Vater runzelte die Stirn. „Ist er gefährlich?“
„Unter Aufsicht nicht, nein.“
Das hörte sich irgendwie so an, als sei er es doch. „Warum ist er denn hier?“
„Das darf ich ihnen nicht sagen, das fällt unter die Schweigepflicht. Aber ich sollte sie warnen, dass ein Gespräch für sie nicht einfach werden wird.“
„Wird er mir denn etwas sagen?“
„Wenn er etwas weiß, ja, aber er wird sie dafür arbeiten lassen und es wird ihnen nicht unbedingt gefallen, was er sonst noch sagt. Er hat ein Talent dafür die Schwachpunkte seiner Gesprächspartner zu finden. Er ließ Informationen nicht nur aus dem was sie sagen, er beobachtet sie sehr genau, ihr Verhalten, ihre Körpersprache, den Ton in ihrer Stimme.“
„Das ist mir egal, ich will trotzdem mit ihm sprechen.“ Wenn es mir helfen würde Cio zurückzubekommen, würde ich für ihn sogar auf dem Tisch tanzen.
„Nun gut, dann schaue ich mal, ob er für ein Gespräch in der Verfassung ist.“ Doktor Lott erhob sich von der Couch. „Und ob er überhaupt mit ihnen sprechen möchte.“ Das tat er, indem er zu der Sprechanlage an der Tür ging und sich darüber zehn Minuten mit jemanden leise unterhielt. Danach erklärte er nur noch, dass wir uns einen Moment gedulden müssten, er würde gleich gebracht werden.
Während wir warteten, fragte ich mich, was für jemand das war, der Iesha seinen Freund nannte. Ich wusste nicht mal, ob wir einen Mann oder eine Frau erwarteten, doch so wie der Arzt sich über den Patienten geäußert hatte, musste er genauso verrückt sein wie Iesha.
Ein wenig beunruhigte mich dieser Gedanke schon und auch mein Vater schien von der Entwicklung des Gesprächs nicht sehr begeistert. Der Einzige der ruhig blieb war Ieshas Vater. Entweder er wusste schon, wer hier gleich auftauchen würde, oder er hatte einfach nur resigniert.
Als ich nach meine Kette griff und begann nervös an meinem Ring herumzufummeln, wurde die Tür von außen geöffnet und ein schlanker Mann trat gefolgt von zwei männlichen Pflegern in den Raum. Mir stockte für einen kurzen Moment der Atem. Das war nicht möglich. Eine kurze Sekunde glaube ich wirklich, Cio vor mir zu sehen.
Ich musste einmal blinzeln, um mir darüber klar zu werden, dass der Kerl zwar einige Übereinstimmungen mit Cio hatte, er es aber nicht war. Es war nicht wir vorhin, als ich eine Iesha-Doppelgängerin vor Augen hatte, aber die Ähnlichkeit war trotzdem verblüffend.
Dieser Mann trug Hauslatschen, eine schwarze Jogginghose und ein graues T-Shirt. Er war etwas größer als Cio und schmaler. Außerdem weniger muskulös. Die Haare waren dunkler, die Augen ein wenig weiter auseinander und der Mund schmaler. Doch wenn ich die Brille abnahm und ihn nur aus dem Augenwinkel betrachtete, könnte ich wirklich glauben, Cio vor mir zu haben.
Und das war ein Freund von Iesha? Das war doch krank!
Genau wie ich ihn, musterte auch er mich und die fremden Leute im Raum. Ein halbes Lächeln erhelle sein Gesicht, doch seine Augen blieben kalt und leer. „Hallo Schäfchen“, begrüßte er mich.
Diesen Namen aus seinem Mund zu hören, war wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Ich versteifte mich und spürte wie mein Herzschlag sich beschlenigte. Er hatte Cios Kosenamen benutzt. Er hatte mich tatsächlich Schäfchen genannt! Wie konnte er davon wissen? Wie konnte er wissen, wer ich war?
Mein Vater legte mir eine Hand auf die Schulter und drückte sie ganz leicht, als wollte er mich beruhigen und mir zeigen, dass ich nicht allein war. Natürlich war ihm nicht entgangen, wie der Mann mich genannt hatte.
„Mein Name ist Zaira Steele“, sagte ich und versuchte dabei gleichgültig und unnahbar zu wirken. Er sollte nicht merken, wie sehr mich dieses eine Wort aufwühlte.
„Nah“, machte er und neigte de Kopf leicht zur Seite. Dann musterte er mich ein weiteres Mal. „Ich verstehe es nicht“, sagte er dann. „Du siehst nicht mal im Entferntesten wie ein Schaf aus, warum also nennt Elicio dich so? Will er dir damit sagen, du seist dumm und hast nur Wolle im Kopf?“
Er wusste wirklich, wer ich war und auch wer Cio war. Es hätte mich nicht so überraschen sollen. „Es ist ein Paradox. Er sagt mir damit, wie er mich sieht. Gleichzeitig meint er damit aber auch das genaue Gegenteil von dem was er sagt.“
„Das Gegenteil von einem Schaf? Das wäre … ein Wolf? Also meint er damit, du seist ein dummer Wolf? Wie nett.“
„Sanft, nicht dumm.“ Ein Schäfchen mit Zähnen und Krallen.
„Schafe haben ein sehr kleines Gehirn. Sie sind dumm“, erklärte er und schaute dann wieder von einem zum anderen. „Und, was soll ich nun hier?“
Es war Doktor Lott, der den Mund öffnete. „Frau Steele hätte ein paar Fragen zu Iesha an dich, wenn du bereit wärst, dich mir ihr zu unterhalten.“
„Iesha.“ Er kostete den Namen, als sei er eine Delikatesse. Dabei sanken seine Augenlider ein kleinen wenig herab. „Ich erinnere mich. Sahnig weiße Schenkel, kleine feste Brüste und eine Muschi, die …“
„Damian!“, mahnte Doktor Lott.
Hardys Gesicht war zu einer undurchdringlichen Maske erstarrt.
Damian lächelte nur, auch wenn seine Augen kalt blieben. Er schien mit Absicht schockieren und provozieren zu wollen. Und er schien auch nicht dumm zu sein, denn nach einem weiteren Rundblick fragte er: „Wo ist Elicio?“ Als niemand antwortete, verzogen seine Lippen sich zu einem berechnenden Grinsen. „Iesha hat ihn, darum seid ihr hier.“
Nein, er war wirklich nicht dumm, dafür schien er aber sehr kalt zu sein. Mein Gefühl sagte mir, er sei gefährlich. Ich kam nicht umhin mich zu fragen, warum er hier weggesperrt war.
„Okay“, sagte er dann. „Ich beantworte dir deine Fragen. Aber für jede Antwort, darf ich auch dir eine Frage stellen.“
„Mir?“ Ich runzelte die Stirn. „Warum willst du mir Fragen stellen?“
Er zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Mir ist langweilig und hier drinnen gibt es kaum Abwechslung. Es könnte interessant werden.“
Das Gefiel mir nicht wirklich. Es gab da bereits eine Verrückte, die viel zu viel über mich wusste, einen zweiten brauchte ich nicht. Aber es ging hier um Cio. Wenn es sein musste, würde ich es auch mit hundert Wahnsinnigen aufnehmen, Hauptsache ich würde ihn wieder in meine Arme schließen können.
„Also?“, fragte er und zog eine Augenbraue nach oben.
Ich nickte. „Okay.“
Der Griff meines Vaters verstärkte sich ein wenig.
Damians setzte sich lächelnd in Bewegung, was die beiden Pfleger dazu veranlasste, sich ein wenig anzuspannen, doch ihr Patient ging nur zum Hocker und ließ sich mit gespreizten Beinen darauf plumpsen.
Ich öffnete den Mund, doch er schüttelte den Kopf. „Nee nee, die erste Frage geht an mich, sonst haust du mich nachher noch übers Ohr.“ Er stützte die Ellenbogen auf seine Knie und beugte sich mir entgehen. In seinen Augen erschien ein seltsames Glänzen. „Wie viele Leute hast du getötet?“
Diese Frage überrumpelte mich. Ich hatte mir vielem gerechnet, aber sicher nicht damit. Ich warf einen kurzen Blick zum Arzt, doch der schien nicht eingreifen zu wollen. Seine Konzentration galt allein Damian, so als versuchte er seine Gedanken direkt aus seinem Kopf zu bekommen. Er schien auf jede kleine Regung des Mannes zu achten.
„Komm schon“, säuselte Damien, als versuchte er mich mit seiner stimme einzulullen. „Ich weiß von Iesha, dass Blut an deinen Händen klebt. Erzähl es mir.“
Er wollte mich verunsichern und wenn ihr ehrlich war, hatte er damit Erfolg.
Natürlich, ich könnte einfach lügen, aber er wusste bereits Dinge über mich. Wenn ich nicht bei der Wahrheit blieb, konnte es passieren, dass er meine Fragen nicht beantwortete. Das konnte ich nicht riskieren. „Fünf“, sagte ich leise und spürte, wie mein Vater sich versteifte. Klar, er wusste nur von vier. Von Owen wusste so gut wie niemand, aber dieser Kerl hier wusste dank Iesha jetzt schon Dinge über mich. Vielleicht hatte sie ihm ja auch das gesagt? Dieser Gedanke beunruhigte mich gleich noch mehr, aber ich durfte nicht riskieren ihn anzulügen, nicht wenn die Chance bestand, dass er mir helfen konnte.
„Fünf.“ Damian klang richtig fasziniert. „Ich weiß nur von zwei.“
Verdammt.
„Na los, du bist dran.“
Arschloch. „Wie gut warst du mit Iesha befreundet? Ich meine, wie viel weißt du über sie?“
„Uh“, machte er und rieb sich über die Schenkel, als würde ihr die Erinnerung an sie Freude bereiten. „Ich weiß sehr viel. Ich weiß, dass sie Schokolade liebt. Ich weiß, wozu sie Jamal alles gebracht hat und ich weiß, was für Geräusche sie macht, wenn mein steifer Schwanz tief …“
„Damian!“
„… in sie reingefickt hat.“
Ja, ich habe es verstanden, du hast mit Iesha geschlafen. „Jamal?“, fragte ich, denn der Name ließ mich hellhörig werden. Jamal Keskin, das war der Name, auf den ich bei meinen Nachforschungen getroffen war. Ihn jetzt hier zu hören, das war doch sicher kein Zufall. „Wer ist Jamal?“
„Oh nein, jetzt bin ich erst wieder dran.“
„Jamal war auch mit Iesha befreundet“, sagte einer der Pfleger. „Iesha, Damian und Jamal. Die drei waren immer zusammen, wobei Jamal nicht wirklich ihr Freund war. Wenn man die drei zusammen sah, hatte man eher das Gefühl, dass Jamal den beiden anderen hinterher lief. Er suchte bei ihnen Anhang.“
Damians warf ihm einen bösen Blick zu. „Du bist ein Spielverderber.“ Niemand beachtete ihn, aber das schien ihn nicht weiter zu interessieren. Seine Aufmerksamkeit glitt wieder zu mir. „Dein erster Toter, wie und warum hast du ihn umgebracht?“
Oh Gott. Warum musste er mich ausgerechnet sowas fragen? „Hast du keine anderen Themen?“
„Nein.“
„Warum willst du das wissen?“
„Vielleicht bin ich ja blutrünstig und weide mich an dem Schmerz anderer.“
Nein, er wollte mich nur aus der Fassung bringen, weil ich das Spaß machte. Darum hatte er ein Thema gewählt, das mir Unbehagen bereitete, aber ich würde mich von ihm sicher nicht aus dem Konzept bringen lassen. Er wollte wissen, wenn ich getötet hatte? Bitte, dann sollte es eben so sein. „Cio war verletzt und wurde bedroht.“ Meine Hände ballten sich bei der Erinnerung zu Fäusten. „Ich bin ausgerastet und habe dem Mann der mich festhielt die Zähne in den Hals geschlagen, damit er mich loslässt und ich Cio helfen konnte.“
„Du hast ihm die Kehle herausgerissen“, erkannte er ganz richtig. „Mord aus Leidenschaft. Wie … niedlich.“
Diesen Kerl fand ich von Minute zu Minute abstoßender. Am Besten war es, einfach schnell meine Fragen zu stellen, dann könnte ich wieder abhauen. „Weißt du, wo Iesha Cio hingebracht haben könnte, beziehungsweise, wo sie sich im Moment aufhält?“
„Nein. Ich hab schon seit Monaten nichts mehr von ihr gehört, nicht mehr, seit sie mir erzählt hat, wie sie ihre Mutter umgebracht hat und dass sie Elicios kleinem, niedlichen Schäfchen auf der Beerdigung begegnet ist.“
Moment. „Du wusstest, dass sie der Amor-Killer ist?“
Seine Lippen verzogen sich zu einem selbstgefälligen Lächeln. „Ich wusste es nicht nur, es war meine Idee. Sie kam mir, als ich gerade tief in ihren kleinen Muschi kam. Es war ein netter Nachmittag. Ich erinnere mich noch sehr genau daran. Jamal war auch da und hat uns zugeschaut. Das tat er oft, aber sie hat ihn nur zwei oder drei Mal rangelassen. Sie benutzte ihn hauptsächlich dazu, sich von ihm beißen zu lassen.“
Dazu fiel mir gar nichts mehr ein. Nicht nur, weil ich mir nicht erklären konnte, wie sie bei der strengen Bewachung hier Orgien feiern konnten. Zu hören, dass er der Ursprung der Amor-Geschichte war, war ein Schock. Dieser Mann war für all das Leid verantwortlich. Wegen ihm hatte ich Höllenquallen durchgestanden. Er war Amors Ursprung.
„So, nun bin ich wieder dran und da ich gerade zwei Fragen beantwortet habe, bist du mir nun auch zwei Antworten schuldig.“
Verdammt, er hatte recht. „Was willst du wissen?“
„Der zweite Tote, wie und warum?“
Ich hätte es mir eigentlich denken können. „Ich habe mich verwandelt und ihm die Kehle herausgerissen, weil er meinen Vater erschießen wollte.“ Denk nicht dran, lass die Erinnerungen nicht.
„Du tötest, um zu beschützen.“ Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Erzähl mir von dem Dritten, wie und warum hast du es getan?“
Auf einmal ging mir auf, worauf das hier zusteuerte. Ich hatte fünf Leute getötet. Wenn ich diese Frage weiter beantwortete, würden wir früher oder später bei Owen landen und das war etwas, dass ich nicht erzählen würde. Das bedeutete, dass ich ihm nur noch zwei Fragen würde stellen konnte. Scheiße!
„Ich warte.“
„Es war … ein Unfall, vielleicht auch Notwehr.“ Ich musste schlucken, als ich daran zurück dachte, was ich in diesem Moment für Ängste ausgestanden hatte. „Er wollte mich erschießen, ich nahm ihm die Waffe weg. Als er versuchte sie zurück zu bekommen, löste sich ein Schuss. Dann war er tot.“
Er schnalzte mit der Zunge. Dabei legte er seine Hände locker in seinen Schoß. „Das ist ja langweilig.“
Nein, das war nicht langweilig, es war schrecklich gewesen. Denk jetzt nicht daran! Ich musste mich zusammen reißen. Ich hatte nur noch zwei Fragen und ich musste mir ganz genau überlegen, was ich mit ihnen anfing. Das mit Owen würde nämlich nicht über meine Lippen kommen. „Weißt du, was Iesha mit Cio geplant hat?“
„Ihn lieben und ehren, bis dass der Tod sie scheidet. Ein kleines Haus, mit einem weißen Gartenzaun und Swimmingpool. Einmal hat sie sogar über gemeinsame Kinder gesprochen. Sie möchte ein Mädchen und einen Jungen haben.“
Mir wurde beinahe schlecht und das hatte nichts mit meiner Schwangerschaft zu tun. Was sie sich da wünschte, es klang so normal. Und doch … wenn ich nur daran dachte, dass sie mir Cio Kinder haben könnte, starb etwas tief in mir.
„Dieser Gedanke gefällt dir nicht.“
Dazu brauchte ich nichts sagen.
„Nun gut, dann möchte ich jetzt wissen …“ Er machte eine Pause und musterte mich. Auf einmal verzogen seine Lippen sich zu einem widerlichen Abbild eines Lächelns. „Der fünfte Mord, wie und warum hast du ihn begannen?“
„Was?“ Ich richtete mich ein wenig gerader auf. „Aber der Vierte …“
„Interessiert mich nicht. Es ist der fünfte, über den du nicht sprechen willst, ich sehe es dir an. Was ist passiert, Schäfchen.“
Ich spannte mich so sehr an, dass nicht nur mein Vater die Stirn kraus zog. „Ich habe keine Fragen mehr.“
„Oh doch, die hast du“, sagte er selbstgefällig. „Komm schon, lass uns noch ein wenig spielen. Wir sind hier doch alle Freunde und so wie du hier reagierst, interessiert es nun sicher auch die anderen, was passiert ist.“ Er bedachte mich mit einem lauernden Blick. „Oder willst du, dass deine Begleiter sich mit dieser Frage beschäftigen? Was könnte es sein, was das dumme Schäfchen verheimlicht? Sie könnten auf den Gedanken kommen, dass es nicht aus Notwehr oder Schutz geschehen ist. Bist du vielleicht eine Mörderin? Hast du jemanden eiskalt umgebracht? Gehörst du vielleicht auch hier rein?“ Er beugte sich zu mir vor. „Soll ich dir sagen, warum ich hier bin?“
Meine Finger begannen zu zittern. Ich versuchte es zu verbergen.
„Ich habe eine Frau in meinem Keller gebracht“, erzählte er mir leise. „Sie durfte …“
„Das reicht!“, unterbrach mein Vater ihn und zeigte ihm seine Fänge. „Ich beende dieses widerliche Spiel. Du weißt gar nichts, du versuchst nur dich aufzuspielen und deine krankhaften Neigungen zu befriedigen.“
Er erwiderte den Blick meines Vaters mit kühler Genugtuung. „Ich weiß, wer Iesha hilft. Ich weiß, wie diese Person heißt und auch wo sie sich befindet. Außerdem weiß ich, dass Iesha nicht nur regelmäßig Kontakt zu dieser Person hat, sondern sie auch sehr oft trifft.“
Das sorgte erstmal für Schweigen. Das war ein Hinweis. Nein, das war nicht nur ein Hinweis, damit könnten wir sie endlich in die Finger bekommen und Cio retten.
„Du lügst“, sagte Papa.
Er hob eine Augenbraue und breitete offen die Hände aus. „Warum solle ich lügen? Es würde mir nicht helfen. Ich bin nur hier, um mich ein wenig zu amüsieren.“
Oh Gott, das waren die Informationen, die ich brauchte. „Stell mir eine andere Frage.“
„Nein.“
Ich drückte die Lippen aufeinander. Ich wollte es ihm nicht sagen. Ich wollte nicht einmal mehr daran denken. Es war schon schwer genug gewesen, es Cio zu erzählen. „Bitte.“
„Nein.“
Verdammt! „Kann ich mich mit ihm unter vier Augen unterhalten?“
„Nein“, sagte Doktor Lott und schüttelte bedauernd den Kopf. „Es tut mir leid, aber das kann ich nicht verantworten. Nicht nur wegen dem, was er tun könnte. Er ist ein Patient dieser Einrichtung und liegt damit in meiner Verantwortung. Ich will nicht, dass sie ihn aufregen.“
Ihn aufregen? Ich sollte ihn nicht aufregen?! Ich kniff die Augen zusammen. Am liebsten hätte ich zu heulen begonnen. „Er hat … ich …“ Ich konnte es nicht sagen. Verdammt, ich konnte einfach nicht!
Papa griff meine Hand. „Du musst da nicht machen, Schatz. Wir werden Cio auch so finden.“
„Und wie?“
„Wir werden einfach weiter suchen, so wie wir es die ganze Zeit getan haben.“
Damian grinste. „Da sie nun alle hier sind und mich mit Fragen löchern, scheint das bisher ja sehr gut funktioniert zu haben.“
Er hatte recht. Cio war nun schon seit zweiundvierzig Stunden verschwunden. Das waren fast zwei Tage und wir waren keinen Schritt weiter gekommen. Wie lange konnte Cio es bei Iesha aushalten? Ich hob den Blick zu Damian. Er wirkte nicht selbstgefällig, nur abwartend und vielleicht auch ein wenig neugierig. Er hatte die Information, die ich brauchte. Tu es für Cio. „Ich tötete ihn, weil er versuchte mich zu vergewaltigen.“
Da mein Vater noch immer meine Hand hielt, konnte ich spüren, wie sein ganzer Körper sich anspannte.
Ich wagte es nicht, den Kopf zu heben. Ich konnte ihre Blick spüren.
„Jamal“, sagte Damian mit zufriedener Stimme. „Jamal hilft ihr.“
Der Pfleger runzelte die Stirn. „Jamal wurde ein Jahr vor Iesha entlassen.“
„Und deswegen können die beiden keinen Kontakt mehr haben?“ Damian schnaubte. „Jamal würde alles tun, was Iesha von ihm verlangt. Er ist hin und weg von ihr. Ihr glaubt, Iesha sei von Elicio besessen? Das ist gar nichts im Vergleich zu dem, was zwischen ihr und Jamal abläuft. Sie brauch ihm nur anzuschauen und schon würde er für sie Morde begehen. Sie ist seine Göttin. Es ist weit mehr als eine Obsession, er ist geradezu abhängig von ihr.“
„Wo“, fragte ich leise? „Wo befindet sich Jamal?“
„Das war jetzt aber eine zweite Frage.“
Ich knurrte. Ich hielt das hier einfach nicht mehr länger aus, doch ihm entlockte das nur ein müdes Lächeln, wegen dem ich am Liebsten noch einmal geknurrt hätte.
„Na gut, ich will mal nicht so sein, die Antwort bekommst du gratis. Vorausgesetzt, du siehst mich an. Schau mir in die Augen, kleines Schäfchen, damit ich was zum Träumen habe.“
Scheiße. Tu es für Cio! Der Gedanke an ihn, war alles, was mich in diesem Moment zusammen hielt. Trotzdem schaffte ich es nur sehr langsam den Kopf zu heben und in diese kalten Augen zu schauen. Ich erheiterte ihn. „Wo?“, fragte ich.
„Ganz in deiner Nähe. Egal was du tust, er ist immer ganz in deiner Nähe und beobachtet dich. Jede Sekunde, bei jedem Schritt, überall.“
Ich wurde beobachtet? Ein Stalker? Das war zu viel. Ich wusste nicht warum, aber das war einfach zu viel für meine angespannten Nerven. Ich schoss einfach von der Couch hoch und stürmte aus dem Raum, während ich spürte, wie mir die Tränen aus den Augen rannen.
„Sie hasst dich, Schäfchen“, rief Damian mit noch hinterher. „Du bist der Teufel ihrer Welt. Egal was du tust, sie wird einen Weg finden dich zu töten.“
°°°°°
Neun Tage. Nun war es bereits neun verdammte Tage her, dass ich Cio das letzte Mal berührt hatte. Neun Tage, in denen ich kaum geschlafen und noch weniger gegessen hatte und noch immer gab es nicht die geringste Spur über seinen Verbleib. Ich stand kurz vor dem durchdrehen.
Mein Blick war starr auf das Durcheinander auf meinem Tisch gerichtet. Die Notizen und Bilder zu Iesha, der Schuhkarton den Kiara gebracht hatte, eine Tüte mit Zeug, dass wir aus der Sockelleiste in ihrem Zimmer in der Psychiatrie geholt hatten, Kopien von ihrer Patientenakte. Es war so viel, dass es zum Teil auf dem Boden und auch meiner Couch lag, aber es war nicht – absolut gar nichts – dabei, was mir irgendeinen Hinweis auf ihren oder Cios Verbleib lieferte.
Ich stützte meinen Kopf in die Hand und schloss für einen Moment die Augen. Ich war jetzt seit sechs Tagen wieder Zuhause, weil ich es bei meinem Vater einfach nicht mehr ausgehalten hatte. Die ständigen Blicke und das Bevormunden hatte mich halb in den Wahnsinn getrieben. Am Ende hatte ich meinen Vater angeschrien und war mit knallender Tür aus dem Haus gestürmt, weil ich es einfach nicht mehr ausgehalten hatte. Es war einfach zu viel geworden.
Das hatte meinen Vater natürlich nicht daran gehindert, mir zu folgen, sodass es mitten auf der Straße einen weiteren Streit gegeben hatte. Zum Schluss hatte ich mich bei ihm für meinen Ausbruch entschuldigt – naja, am nächsten Tag hatte ich das getan – ihm aber deutlich gemacht, dass ich nicht bei ihm bleiben wollte und die ständige Überwachung satt hatte. Seit dem schrieb er mir fast stündlich Nachrichten, oder rief an und mindestens ein Mal am Tag kam er vorbei um nach mit zu schauen. Heute hatte ich seinen Besuch zum Glück schon hinter mir, aber er war auch nicht der einzige.
Cayenne hatte mich besucht und Diego und Genevièv, doch am Häufigsten tauche Tayfun auf und der blieb auch immer am längsten. Seine Anwesenheit störte mich nicht so sehr wie die der anderen. Er versuchte nicht ständig mir gut zuzureden, oder mir zu erklären, dass ich essen und schlafen müsste. Meistens saß er einfach nur still auf der Couch und schaute fern. Ich war mir sicher, dass Papa ihn auf mich angesetzt hatte, um mich im Augen zu behalten.
Noch dazu hatte ich seit diesem verdammten Klinikbesuch ständig das Gefühl beobachtet zu werden. Selbst hier in der Wohnung. Deswegen hatte ich auch ein Laken vor das große Fenster gehängt. Es war albern, aber … es war mir ein Bedürfnis gewesen.
Ich hatte niemanden bemerkt, aber das hatte nichts zu bedeuten, denn vorher hatte ich ja auch nichts gemerkt. Vielleicht hatte diese Damian ja auch gelogen und sich nur einen riesigen Witz auf meine kosten erlaubt, weswegen ich nun an Verfolgungswahn litt, aber ich wurde dieses Gefühl einfach nicht mehr los.
Jamal. Dieser Name ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Diego hatte per Alpha-Beschluss alles konfisziert, was er im Zusammenhang mit diesem Namen gefunden hatte, aber das war nicht viel. Er war ein Vampir und musste so zwischen dreißig und fünfzig Jahre alt sein. Bilder gab es keine, genauso wenig wie Adressen. Es machte den Anschein, als hätte er vor seinem Klinikaufenthalt nicht existiert und danach auch nicht mehr.
An seine Klinikakten waren wir bisher noch nicht rangekommen, wir wussten nur, dass er wegen einer abhängigen und posttraumatischen Belastungsstörung in der Heilanstalt Sanare gewesen war. Dann hatte Diego irgendwo auch noch ein paar Geburtsurkunden mit dem Namen Jamal Keskin ausgegraben. Sieben Stück insgesamt. Einer hatte den Kampf mit dem Krebs nicht überstanden, ein anderer war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, ein dritter wurde als Baby entführt und wurde wieder gesehen, ein weiterer war auf dem Weg zur Arbeit spurlos verschwunden. Dieser Name schien den Leuten nicht viel Glück zu bringen. Mir auch nicht, denn die Suche nach ihm verlief sich genauso im Sande wie die nach Cio und Iesha.
Neun Tage.
Müde rieb ich mir übers Gesicht und machte mich ein weiteres Mal daran in diesem Chaos irgendetwas zu finden, dass mich einen Schritt vorwärts brachte. Ich hatte die letzten Tage kaum etwas gegessen und hat so gut wie gar nicht geschlafen und langsam machte sich das bemerkbar. Meine Augen brannten, als ich eines von Ieshas Fotos zur Hand nahm und mich zum bestimmt tausendsten Mal frage, wo sie gerade war.
Es gab weder ein Lebenszeichen von ihr noch von Cio und auch sonst war seit dem Valentinstag nichts mehr geschehen. War das die Ruhe vor dem Sturm, oder hatte sie einfach das was sie wollte und interessierte sich für die anderen Dinge nicht mehr? Keine Fotos mehr die mich quälten, keine Anschläge, kein Nachricht, kein gar nichts. Sie war einfach … weg.
Konzentriere dich, mahnte ich mich und nahm mir die Lupe vom Tisch um das Foto in der Hand genauer zu untersuchen. Nicht dass ich das nicht schon unzählige Male getan hätte, aber was sollte ich denn sonst tun?
Auf diesem Bild lag sie auf einer Decke, die sie auf einem Holzboden ausgebreitet hatte. Sie trug rote Unterwäsche und tat so, als würde sie das Körbchen ihres BHs herunterziehen. Die Brustwarze schaute halb heraus und ihr verklärter Blick sagte: „Ich will dich.“
„Ja, nur will er dich nicht.“ Langsam ließ ich die Lupe über das Bild wandern. Schaute mir die Decke genauer an, suchte daran sogar nach einem Etikett, begutachtete den Boden und legte das Bild nach fünf Minuten niedergeschlagen zurück auf den Tisch. Kein neuen Erkenntnisse. Natürlich nicht.
Auf dem nächsten Bild saß sie mit einem Buch in einem Sessel. Der Sessel war auch auf einigen der anderen Bilder zu sehen, doch hier war sie bekleidet. Nicht dass das einen Unterschied machte, denn einen Hinweis lieferte es mir trotzdem nicht.
Drei Bilder, vier. Ein Bild im Bett, eines wo sie auf dem Boden kniete, das wo sie mit gespreizten Beinen auf dem Sessel saß und in die Kamera lächelt, als sei sie das Schärfste was der Welt passieren konnte. Ich schaute mir den Sessel an und die verputzte Wand dahinter. Da war wieder eine kleine Ecke von dem Bild an der Wand zu sehen. Nein, das war ein Poster, aber was für eines konnte ich nicht sagen. Ansonsten war da jedoch nichts. Naja, von Iesha selber einmal abgesehen.
Seufzend ließ ich Lupe und Bild in meinen Schoß sinken und schaute frustriert darauf. Dabei landete die Lupe so auf dem Foto, dass ihr Hals stark vergrößert wurde. Ich runzelte die Stirn. Da war ein Fleck, der mir vorher noch nicht aufgefallen war. Ein Leberfleck? Dreck?
Ich sichte mit dem Daumen darüber, aber der Fleck blieb. Also nahm ich noch mal die Lupe zu Hand und sah mir die Sache ein wenig genauer an. Ich brauchte einen Moment um zu erkennen, was ich da sah. Das war Blut. Hatte sie sich verletzt, oder … hatte sie sich beißen lassen?
Dieser Gedanke kam mir wohl, weil dieser Damian etwas in der Richtung gesagt hatte. Einen Biss sah man nicht, aber das war normal, da der Speichel eines Vampirs die Wunde recht schnell heilen ließ. Aber wenn ich mir die Augen ansah und das leicht entrückte Lächeln, dann war das durchaus möglich. Das könnte der Beweis dafür sein, dass dieser Jamal wirklich bei ihr war und Damian damit zumindest in diesem Punkt die Wahrheit gesagt hatte. Bedeutete das, dass auch der Rest stimmte?
Ich warf einen Blick zu dem Laken vor meinem Fenster und fühlte mich plötzlich wieder sehr unwohl. Wahrscheinlich zuckte ich deswegen auch so heftig zusammen, als es an meiner Tür klingelte. Konnte aber auch an der Anspannung, oder der ganzen vertrackten Situation liegen. Auf jeden Fall bekam die Tür eine finsteren Blick und ich war versucht meinen Besuch einfach zu ignorieren. Ich wollte niemanden sehen. Leider hatte ich vor vier Tagen gelernt, dass man meine Wohnung stürmen würde, wenn ich nicht reagierte.
In Ordnung, so schlimm war es nicht gewesen. Cayenne hatte nach mir schauen wollen und als ich nicht geöffnet hatte, war sie zu dem Entschluss gekommen, dass sie meinen Vater in Panik versetzen sollte. Er besaß nur leider keinen Schlüssel für meine Wohnung, Cios Eltern dagegen schon, also hatten sie die auch noch alarmiert.
Am Ende hatte die komplette Elternfraktion verrückt vor Sorge meine Wohnung gestürmt und mir anschließend eine Standpauke gehalten, als wäre ich erst drei Jahre alt. Auf dieses Theater hatte ich nicht noch mal Lust, also erhob ich mich und ging an die Tür.
Nach einer kurzen Unterhaltung über die Sprechanlage wusste ich, dass Tayfun unten stand und Essen vom Chinesen mitgebracht hatte, das sogar noch warm war.
Am Liebsten hätte ich ihn wieder weggeschickt, aber ich drückte trotzdem den Summer und entriegelte die Tür. Vielleicht weil ich seine stille Gesellschaft doch ein wenig genoss. Wenn Cio nicht hier war … es war einfach so still. Nicht nur wegen der fehlenden Geräusch. Es war einfach ein ganz anderes Gefühl, wenn noch jemand mit im Raum war und sei es nur um ein Buch zu lesen. Man fühlte sich dann nicht so abgeschnitten und einsam.
Ziemlich paradox, wenn man bedachte, dass ich doch eigentlich allein sein wollte. Wobei das auch nicht ganz stimmte. Ich wollte nur einfach nicht mehr diese Blicke ertragen und das alle um mich herumschwirrten, als würde ich jeden Moment entweder völlig ausrasten, oder einfach tot umfallen. Darum öffnete dich die Tür auch einen Spalt und setzte mich dann wieder auf die Couch, um mich erneut den Fotos zu widmen.
Dieser Blutfleck an ihrem Hals interessierte mich. Ich glaubte nicht, dass er mir wirklich weiterhelfen könnte, aber er zeigte mir, dass ich die ganze Zeit etwas doch sehr Offensichtliches übersehen hatte. Vielleicht hatte ich noch etwas anderes übersehen, einen Hinweis, der Helfen konnte.
Das war der Grund, warum ich mit der Überprüfung der Bilder noch mal von Vorne begann, als ich Geräusche auf dem Hausflur hörte. Wieder untersuchte ich das erste Bild mit der Lupe und lauschte dabei darauf, wie Tayfun die Wohnung betrat und die Tür hinter sich schloss. Kalte Luft und der Geruch von Essen begleitete sie.
„Mein Gott, ist das heute draußen frostig.“ Er erschauderte, als er das Essen auf den ganzen Papieren abstellte. „Ich glaube wir sind auf dem besten Weg zu einer zweiten Eiszeit.“
Ich ging nicht darauf ein, warf nur einen kritischen Blick auf das Essen, in der Befürchtung es würde meine Unterlagen beschmieren. Aber alles war ordentlich in einer Tüte verstaut. „Was würde einen Vampir dazu bewegen, mit einer verrückten Lykanerin zusammenzuarbeiten?“
Er war gerade dabei sich den Schal vom Hals zu wickeln, hielt aber mitten in der Bewegung inne. „Was?“
„Ich hab dir doch von diesem Jamal erzählt. Eben habe ich auf einem der Fotos an Ieshas Hals Blut gefunden. Scheint so, als hätte Damian die Wahrheit erzählt.“
„Hattest du mir nicht gesagt, der Kerl ist durchgeknallt?“ Er warf seine Jacke samt Schal über den Sessel und trat sich die Schuhe von den Füßen. Dann ließ er sich ungeachtet der ganzen Papiere neben mir aufs Sofa plumpsen und zog die Tüte mit dem Essen heran.
„Das ist er auch.“ Oder besser gesagt, er war völlig krank. „Aber diesen Jamal gibt es und er scheint bei Iesha zu sein.“
„Es könnte auch ein anderer Vampir gewesen sein. Nur weil der Typ aus der Psychiatrie behauptet, dass der andere Kerl bei ihr ist, muss das noch lange nicht heißen, dass es stimmt“, gab er zu bedenken und holte eine Box aus der Tüte. Er warf einen kurzen Blick hinein und stellte sie mir dann vor die Nase. „Gebratener Reis, bon Appetit.“
Allein der Gedanke etwas zu essen, beschwerte mir schon Magengrummeln, aber meine letzte Mahlzeit lag einen Tag zurück. Das war nicht gut für den kleinen Passagier. Deswegen legte ich auch das Foto und die Lupe zur Seite und nahm die Stäbchen entgegen. „Ob es nun Jamal ist, oder ein anderer Vampir, ist egal. Wichtig ist nur die Frage, warum er Iesha hilf. Bei einem Lykaner kann man das irgendwie noch nachvollziehen, besonders wenn es diese Fanatiker der Gräfin sind, aber was hat ein Vampir damit zu tun?“
Er zuckte mit den Achseln und nahm sich selber eine Wärmebox aus der Tüte. „Keine Ahnung, vielleicht sind sie Freunde, oder er schuldet ihr etwas.“
„Das muss dann aber eine große Schuld sein“, bemerkte ich und schaufelte mir mithilfe der Stäbchen etwas Reis in den Mund. Es schmeckte wie Pappe.
„Eine bessere Antwort habe ich im Moment leider nicht zu bieten.“ Als er mir den Kopf zudrehte, verschwand sein Lächeln hinter einer gerümpften Nase. „Wann hast du zuletzt geduscht?“
Vor zwei Tagen. „Was geht dich das an?“
„Okay, ich denke, nach dem Essen solltest du erstmal duschen gehen, sonst bleibt der Geruch irgendwann noch in den Postern hängen.“
Vielleicht hätte ich ihn doch besser vor der Tür stehen gelassen. „Und, wen interessiert es?“ Ich stocherte in meinem Reis herum. Cio würde es interessieren, aber der war ja nicht hier.
„Mich interessiert es“, sagte er ganz ernst. „Und dich sollte es auch interessieren.“
Aber das tat es nicht. Im Moment gab es nur eine Sache die mich interessierte und die hatte nichts mit fehlender Hygiene zu tun.
„Na komm schon.“ Er gab mir einen leichten Stoß mit der Schulter. „Du gehst duschen und wenn du fertig bist, dann helfe ich dir wieder das ganze Zeug durchzusehen, in Ordnung?“
Ich wusste nicht warum ich auf den Deal einging. Ich wusste auch nicht wie er es immer schaffte mich zum Essen zu bringen, oder dass ich mich mal ein paar Stunden hinlegte um zu schlafen, aber es gelang ihm jedes Mal. So aß ich auch dieses Mal fast den ganzen Reis auf und verschwand anschließend im Badezimmer.
Als ich wieder heraus kam, saß Tayfun schon über die Papiere gebeugt da.
Nach einem Blick über seine Schulter wusste ich, dass es sich dabei um ein Schriftstück aus Ieshas Krankenakte handelte. „Irgendwas Interessantes?“
„Nein, nur wieder ein Bericht über ihr Verhalten.“
Ja, davon hatte ich auch schon den einen oder anderen gelesen.
Frisch geduscht und sauber eingekleidet, kletterte ich über die Rücklehne des Sofas und ließ mich neben ihn auf das Sofa plumpsen, um wieder nach meiner Lupe zu greifen und das Studium von Ieshas Fotos aufzunehmen. Leider stellte ich nach einer Weile fest, das der Körper bei Schlafentzug irgendwann anfängt zu streiken. Mir fielen immer wieder die Augen zu und zweimal fiel mir die Lupe aus der Hand.
„Leg dich doch ein wenig hin“, sagte Tayfun, als ich mir müde die Augen rieb. „Wenn ich etwas finde, dann wecke ich dich.“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich muss das hier machen.“
„Ich werde mich hüten dir zu widersprechen, aber wenn du so müde bist, übersiehst du die Hälfte.“
Super, jetzt musste er mir auch noch mit Logik und guten Argumenten kommen. „Aber was wenn …“
„Glaubst du er würde das wollen? Dass du hier sitzt bist du umfällst? Und jetzt mach mich nicht wieder an und erzähl mir, dass er nicht hier ist um uns zu sagen was er will. Es ist egal wo er ist, ich weiß dass er will, dass es dir gut geht.“
Nur das es mir nicht gut ging, nicht ohne ihn.
„Na komm.“ Tayfun nahm mir einfach die Lupe aus der Hand und drehte sich dann nach der Decke auf der Lehne um. „Ich verspreche dir, dass ich dich in spätestens zwei Stunden wecken werde.“
„Das hast du das letzte mal auch versprochen und am Ende habe ich fast fünf Stunden geschlafen“, meckerte ich, als ich die Decke entgegen nahm.
„Hey, ich bin selber eingepennt, das kannst du mir also nicht verworfen. Mildernde Umstände, wenn du so willst.“
Ohne darauf einzugehen, rollte ich mich neben ihm zusammen und zog mir die Decke bis ans Kinn. Nur zwei Stunden, dann würde ich weitermachen. Ich hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da spürte ich auch schon den Sog des Schlafs und driftete ab in eine andere Welt, wo die Farben leuchteten und die Konturen seltsam verschwommen waren. Es war die Abstraktion eines großen Raumes in erdigen Tönen. Er kam mir entfernt bekannt vor, doch erst als ich die ganzen Flaschen und Gläser auf dem Tisch sah und direkt daneben die filigrane Maske, die ich zu meinem Maskenball getragen hatte, wurde mir klar, dass es Arics altes Zimmer im Schloss war.
Aus der Anlage im Regal tönte Musik. Die Tür zum Zimmer stand offen, als seien Alina und Aric gerade erst hinausgerannt und als ich an mir hinunter schaute, stellte ich fest, dass ich Jeans und das karierte Hemd trug, das Cio mir zu meinem zwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte.
Mein Herz begann ein wenig schneller zu schlagen. Ich wirbelte zur Couch herum, sicher dass ich dort Iesha finden würde, doch sie war leer. Der ganze Raum war leer, da war nur ich.
„Ich steh auf diese Karohemden.“
Bei Cios Stimme, drehte ich mich so schnell herum, dass ich nicht nur gegen den flachen Tisch stieß, sondern wohl auch darüber gefallen wäre, wenn mich nicht zwei starke Arme gepackt hätten. Als ich dann aufblickte, sah ich ihn. Er stand direkt vor mir, jeder Zug so vertraut. „Cio“, flüsterte ich und spürte sie sich mein Herz schmerzhaft zusammenzog.
Seine Fingerspitze berührte das kleine Loch an meiner Augenbraue. Das Piercing hatte ich schon seit Jahren nicht mehr getragen, aber irgendwas daran faszinierte Cio, sodass es es immer mal wieder berührte.
Die vertraute Geste ließ mir die Tränen in die Augen steigen, doch bevor sie überlaufen konnten, beugte er sich vor und küsste mich. Nicht vorsichtig oder sanft, nein, er packte mich an de Hüfte und küsste mich, als wollte er mich erobern.
Ich spürte wie er sich dabei gegen mich drängte und mein ganzer Körper begann nach ihm zu schreien. Cio, er war hier, bei mir und ich konnte ihn fühlen. Nicht nur weil ich meine Arme um seinen Nacken schlang und ihn festhielt, seine Nähe war ein Wiederklang in meiner Seele, der mein ganzes Sein erfüllte.
Als er mich rückwärts schob, bis ich zwischen ihm und der Wand gefangen war, ließ ich es einfach geschehen. Ich hielt ihn nicht auf, als er begann mein Hemd aufzuknöpfen und seine Lippen eine Spur über meinen Hals hinunter zu meiner Brust zogen. Ich seufzte nur, als er die empfindliche Stelle fand und sie reizte. Meine Augen gingen flatternd zu und mein Herz schlug immer schneller.
„Cio.“ Langsam ließ ich meine Hände an ihm hinunter wandern. Über seine Brust und … was zum Teufel?
An meinen Fingern spürte ich eine warme, klebrige Flüssigkeit. Ich zog die Hände zurück und sah, dass sie ganz rot waren. Plötzlich stieg mir der Geruch von Kupfer in den die Nase. Blut, das war Blut.
Erschrocken schaute ich zu Cios Brust. Er trug kein Shirt mehr und … oh mein Gott, da wo sein Herz sein sollte, klaffte ein tiefes Loch. Alles war voller Blut und es kam immer mehr.
In dem Moment öffnete Cio lächelnd den Mund. „Ich liebe dich Schäfchen“, sagte er, während weiteres Blut wie ein endloser Sturzbach über seine Lippen floss.
Mit einem Ruck war ich nicht nur wach, sondern saß auch noch aufrecht auf meiner Couch. Einen Moment wusste ich nicht wo ich war und versuchte mich zu orientieren. Erst als ich Tayfun am andere Ende der Couch bemerkte, erinnerte ich mich, was hier los war und das ich nur geträumt hatte. Nicht dass das einen großen Einfluss auf mein rasendes Herz hatte.
„Alles okay?“, fragte Tayfun mich, als ich mir mit der Hand müde durchs durchs Gesicht rieb.
Im Raum war es ziemlich dämmerig, nur die Stehlampe neben der Couch brannte. Die Sonne war schon untergegangen. Um das zu wissen, musste ich nicht erst das Laken am Fenster herunternehmen. „Du hast mich mehr als zwei Stunden schlafen lassen.“
Darauf ging er nicht ein. Er hatte ein paar Papiere auf dem Schoß, doch im Moment galt sein Interesse mir.
„Ich ab nur schlecht geträumt“, erklärte ich, bevor er mir Fragen stellen konnte. Aber einen Moment hatte sich dieser Traum so echt angefühlt. Wenn ich mich nur darauf konzentrierte, dann konnte ich noch immer den Druck seinen Körpers spüren, genau wie diesen intensiven Kuss.
Nach dieser Antwort musterte Tayfun mich erst recht. „Geht es dir denn gut?“
Ob es mir gut ging? Fast hätte ich gelacht. „Wie soll es mir denn gut gehen?“, fragte ich bitter und wandte den Blick auf den Tisch mit den ganzen Notizen, Bildern und Papieren. Wenn ich doch nur einen Hinweis finden würde. Irgendeinen und mochte er auch noch so klein sein. Nur etwas, dass mich endlich weiter brachte.
„Ich wünschte, ich könnte etwas für dich tun“, sagte Tayfun leise.
Ja, das wünschte ich auch. Aber im Moment war er genauso machtlos wie alle anderen auch – wie ich. Er und ich, wir konnten beide nichts anderes tun als hier zu sitzen und zu hoffen, dass es irgendwo in dieser Berg aus Papieren …
Ich stutzte, als mein Blick über eines der Fotos glitt. Es war das Bild, auf dem sie mit dem Rücken an einer beschmierten Holzwand lehnten und dabei ihre Hand mit geschlossenen Augen an ihrem Körper hinabwandern ließ.
Ich hatte schon oft über diesem Bild gesessen und versucht die Graffitis im Hintergrund zu entziffern. Aber es war zu wenig zu sehen, um den Schriftzügen einen Sinn zu geben. Doch da war etwas, dass ich bisher immer für ein seltsames Zeichen gehalten hatte, halb abgeschnitten vom Rest des Schriftzugs. Nur … was wenn das gar kein Schriftzug war?
Mit einem Mal ging mein Herzschlag viel zu schnell. Ich konnte mich gerade noch so zusammenreißen, dass meine Finger nicht zitterten, als ich nach dem Bild griff, um mir dieses weiße Graffiti genauer anzuschauen. Die Form war wie zwei übereinanderliegende Kugel. Von der Seite aus ging ein weißer Strich ab, der am Bildrand verschwand.
„Das kann nicht sein“, sagte ich leise und griff gleichzeitig nach einem Stift und Papier. Ich legte das Foto auf das Blatt und malte den Teil des Bildes, den man nicht auf der Fotografie sah.
Tayfun beugte sich zu mir rüber, um zu sehen was ich da malte. „Hast du etwas entdeckt?“
Statt zu antworten, beendete ich meine Zeichnung. Ich war nie ein großer Künstler gewesen, aber dieses eine Bild hatte sich so in meine Erinnerung gegraben, dass sich das Symbol wie von selber vervollständigte.
Als ich den Stift nach zwei Minuten zur Seite legte und dabei das Foto noch einmal zurechtrückte, damit es wirklich richtig passte, zitterten meine Hände doch.
Tayfun runzelte die Stirn. „Ein Totenschädel?“
Nicht nur ein einfacher Totenschädel, ein lachender Totenschädel mit zwei gekreuzten Knochen unter sich. Es war einer dieser Knochen, dessen Ende noch mit auf der Fotografie war. „Ich weiß wo dieses Bild gemacht wurde“, sagte ich leise und erinnerte mich daran, wie Owen mich in dieser Pferdebox gegen die mit Graffiti beschmierte Wand gedrückt hatte, genau auf das höhnische Lächeln des Totenschädels.
„Was?“
Mit zitternden Fingern zeigte ich auf das Foto. „Ich weiß wo das ist.“ An dem Ort, an dem mein schlimmster Alptraum begann. Und dann ging mir die Bedeutung meines Wissens auf. Iesha war dort gewesen, um dieses Bild zu machen, ein Bild, dass laut Datum erst diesen Monat entstanden war. „Oh mein Gott“, sagte ich und sprang Augenblicklich auf die Beine. Dass ich mir dabei auch noch das Knie am Tisch stieß, ignorierte ich einfach. „Wir müssen da sofort hin!“
„Was? Wohin?“
„Zu der alten Farm. Das ist die Box, in der Owen mich … wo Iesha mich gefangen gehalten hat.“ Ich eilte zur Tür und versuchte in dem Durcheinander aus Schuhen meine zu finden. Gott, warum hatten wir davon nur so viele.
„Moment, du glaubst Iesha ist auf dieser Farm, auf der sie letztes Jahr mit ihren Anhängern die ganzen Leute abgeschlachtet hat?“
„Warum denn nicht?“ Das, ein Schuh hatte ich, der andere lag nur ein Stück weiter. „Das Foto beweist, dass sie in den letzten Wochen noch mal da gewesen ist und ganz ehrlich, wer würde schon auf die Idee kommen, dort noch mal nach ihr zu suchen? Das ist ein perfektes Versteck. Sie kennt den Ort und die Umgebung und keiner würde glauben, dass sie, nach alles was geschehen ist, noch mal dorthin zurück kehrt.“
Tayfun wirkte nicht sehr überzeugt. „Okay, dann fahren wir hin und schauen nach.“
„Genau das ist der Plan.“ Ich griff meine Jacke und die Schlüssel aus der kleinen Schale.
Auch er erhob sich. „Sollen wir jemanden unsere Entdeckung mitteilen?“
Diese Frage ließ mich einen Moment inne halten. Wahrscheinlich wäre es schlau es jemanden zu sagen, aber weder die Wächter noch die Themis würden mich mitnehmen, wenn ich ihnen davon berichten würde. Mein Vater würde mich vermutlich sogar wegsperren, damit ich diesem Ort nicht zu nahe kam. Und was wenn sie mich fragten, wie ich anhand dieser kleinen weißen Ecke auf dem Bild erkannt hatte, wo sich der Rest des Graffitis befand? „Nein“, sagte ich. „Wir schauen uns die Sache erstmal alleine an. Später können wir immer noch erzählen, was wir gefunden haben.“ Oder wenn wir aus irgendeinem Grund Verstärkung brauchten. Oh Gott, Cio könnte dort sein, jetzt genau in diesem Augenblick.
„Okay, aber … wie kommen wir dahin? Dein Auto ist Schrott und ich habe keines.“
Verdammt, daran hatte ich gar nicht gedacht. Ein Taxi würde uns sicher nicht dorthin fahren und dann auch noch warten, bis wir fertig wären, es war immerhin eine Fahrt von fast zwei Stunden. Kasper und Aric konnte ich nicht fragen, die befanden sich noch immer in Geiselhaft, genau wie Alina und Anouk. Und alle anderen die mir in den Sinn kamen, würde mich einfach hier zurück lassen, weil sie mich nicht in Gefahr bringen wollten. Hilflos schaute ich zu ihm rüber. „Kennst du nicht jemanden mit einem Wagen, der uns fahren würde?“
Er dachte einen Moment darüber nach. „Ich glaube ich kenne da jemanden, aber du wirst nicht sehr begeistert von ihr sein.“
„Ihr?“
Er machte den Mund auf, schüttelte dann aber den Kopf und zog sein Handy aus der Tasche. „Lass mich erstmal fragen, ob sie Zeit hat, dann sehen wir weiter.“ Während er sich das kleine Gerät ans Ohr hielt, fragte ich mich, wen er da wohl gerade anrief. Jemand von dem ich nicht begeistert sein würde?
Nun, eigentlich war es auch egal, wen er da um Hilfe bat, Hauptsache war, dass sie sich beeilte und nicht versuchen würde mich hier zurückzulassen.
Die Ungeduld nagte an meinen Nerven. Immer wieder trat ich von einem Bein auf das andere, als ich ihn beobachtete und nachdem er endlich aufgelegt hatte, fragte ich sofort: „Und?“
„Sie kommt.“ Tayfun steckte das Handy zurück in seine Hosentasche. „Fünfzehn Minuten, dann ist sie hier.“
Fünfzehn Minuten. Das war nicht so gut wie sofort, aber besser als gar nichts. „Und sie ist zuverlässig?“
„Eigentlich schon.“
Eigentlich hörte sich wiederum nicht so gut an.
„Sie wird kommen“, versprach er, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte. „Lass mich noch kurz aufs Klo gehen, dann können wir los.“
Ich wollte ihm sagen, dass er es sich gefälligst verkneifen sollte, schließlich konnte es sein, dass Cio genau in diesem Moment auf dieser schrecklichen Farm war und auf unsere Hilfe wartete, aber wir hatten immerhin eine lange Fahrt vor uns und mussten sowieso noch warten.
Also zappelte ich ungeduldig vor der Haustür herum, nahm den Schlüssel ständig von einer Hand in die andere und kontrollierte drei Mal, ob ich auch wirklich meinen Elektroschocker in der Jackentasche hatte. Als er dann endlich fertig war, nahm ich seine Hand und zerrte ihn praktisch nach unten auf die Straße, nur um dort die nächsten Minuten nervös weiter zu zappeln.
„Hey.“ Tayfun zupfte so lange an meiner Hand, bis ich mich ihm zuwandte. „Ganz ruhig kleiner Reißzahn. Es wird alles gut gehen. Okay?“
Ich nickte, auch wenn ich mir da gar nicht so sicher war. Ich hatte schon ein paar Mal geglaubt, dass alles gutgehen würde, aber es hatte nie funktioniert. Noch dazu waren wir gerade auf dem Weg zu dem Ort, an dem Owen … an dem … oh Gott, ich hatte nie wieder dort hingewollt.
Als sich auf der Straße ein Wagen nährte, drehte Tayfun das Gesicht. „Ah, da ist sie.“
Auch ich schaute in die Richtung. Im Schein der Straßenlaternen nährte sich uns ein mir äußerst bekannter gelber Mini Cooper. „Kiara?“, fragte ich und war doch ein wenig erstaunt. „Was hast du denn mit Kiara zu tun?“
„Hey, nicht gleich so geschockt. Du bist immer noch meine Lieblingsfreundin.“
„Das war keine Antwort.“
„Du willst es wohl ganz genau wissen.“ Er zwinkerte mir zu und winkte dann, um Kiara auf uns aufmerksam zu machen. „Wir arbeiten beide am Hof, da trifft man sich halt immer mal wieder.“
„Aber du hast ihre Handynummer.“
„Ich mag sie, Zaira und wir haben uns auch ein paar mal getroffen. Wir sind Freunde.“
Ich wusste nicht warum, aber irgendwie störte mich die Vorstellung, dass Tayfun mit meiner Schwester befreundet war und sei es nur platonisch. Wenn ich ehrlich war, konnte ich mir sowieso nur sehr schwer vorstellen, dass Kiara überhaupt Freunde hatte. Das war vielleicht gemein, aber ich hatte sie nie irgendjemanden gesehen.
Da der Wagen gerade an den Bordstein fuhr und direkt vor uns hielt, behielt ich meine Gedanken besser für mich. Ich war ehrlich nicht begeistert sie mitzunehmen, aber es war mir viel wichtiger Cio zu finden. Für ihn würde ich weit mehr tun, als ein paar Stunden ihre Gegenwart zu ertragen und so zögerte ich auch nicht und öffnete direkt die Beifahrertür, um mich auf den Sitzt gleiten zu lassen.
„Mach nichts dreckig“, war Kiaras Begrüßung. „Ich habe den Wagen gerade erst reinigen lassen.“
Okay.
Tayfun schob sich auf den Rücksitz. „Das heißt hallo, schon dich zu sehen, wie geht es dir und was treibt dich zu dieser späten Stunde noch aus dem Haus?“
Sie warf ihm durch den Rückspiegel einen Blick zu. „Ihr treibt mich aus dem Haus und nach ihrem Befinden muss ich nicht fragen, das weiß ich auch so.“
War ja auch nicht schwer zu erraten. „Wir müssen noch mal kurz zum Haus von meinen Vater. Ich will Ferox mitnehmen.“
„Wo mitnehmen? Hier in diesem Wagen?“ Sie sah mich beinahe schon entsetzt an.
„Ich könnte ihn auch einfach laufen lassen, aber dann würde er dreimal so lange brauchen und wir würden dann die halbe Nacht in der Kälte stehen. Deine Entscheidung.“
Sie gab nur ein sehr undeutliches Murmeln von sich und legte den Gang ein.
„Ich dachte du willst deinem Vater nichts sagen“, kam es von der Rückbank.
„Ferox ist im Garten, ich werde ihn heimlich rausholen.“ Ich musste nur schnell sein und darauf achten, dass er sich nicht zu laut freute, wenn er mich sah.
„Wo geht es überhaupt hin?“, fragte Kiara und drückte das Gaspedal ein wenig durch. Die Straßen waren weitestgehend leer. So spät war es zwar noch nicht, aber das hier war ein eher ruhiger Stadtteil.
„Ich habe auf den Fotos von Iesha eine Spur gefunden“, erklärte ich, zögerte mit dem nächsten Teil aber einen Moment. „Wir müssen zu der Farm, auf der Iesha letztes Jahr die Jagd nach den Mistos gestartet hat.“
„Ja okay, ich weiß wo das ist.“
Ich musterte sie misstrauisch. Nicht weil sie wusste wo das war. Die Farm war letztes Jahr ziemlich oft durch die Medien der verborgenen Welt gegangen, sondern weil sie keinen dummen Kommentar abgab, oder rummeckerte, wegen ihrem Tank oder sonst etwas. Das war immerhin eine zweistündige Fahrt raus aus der Stadt.
„Was?“, fragte sie, als sie meinen Blick bemerkte.
„Ich frage mich nur gerade, warum du mir so bereitwillig hilfst und dich dabei wie ein netter Mensch verhältst.“
Von der Rückbank kam ein belustigtes Schnauben.
Sie zuckte nur mit den Schultern. „Du hast doch gewollt, dass ich dir helfe. Jetzt kannst du nicht mehr behaupten, ich sei ein egoistisches Miststück, denn das hier hat absolut keine Vorteile für mich.“
Wäre ich kleinlich, könnte ich diese Aussage dementieren, aber im Moment war mir nur wichtig Cio zu finden. Alles andere konnte warten.
°°°
Langsam brachte Kiara ihren gelben Mini Cooper zum Stehen und schaltete den Motor aus. Die Scheinwerfer allerdings ließ sie brennen, damit wir nicht in völliger Finsternis versanken.
Im Licht konnte ich die zugewucherten Felder und die vereinzelten Bäume erkennen, die bis hinten zur Baumgrenze des Waldes immer mehr wurden. Aber vor allem sah ich die alte, verlassene Farm mit dem vermoderten und halb eingestürzten Farmhaus. Zumindest bis ich den Kopf ein wenig drehte.
Dort, rechts vom Haus waren noch zwei kleine Ställe und eine offene Scheune, die voller Gerümpel war. Ein Stück hinter der Scheune gab es noch ein altes Getreidesilo, doch der schiefe Wasserturm, den ich bei meinem letzten Besuch hier noch gesehen hatte, war nun weg. Naja, wahrscheinlich war er nicht weg, sondern nun umgefallen und lag nun hinter dem Haus.
„Ganz schön unheimlich hier“, bemerkte Kiara und öffnete die Wagentür, bevor ich sie warnen konnte. Zu spät. Ferox sah seine Fluchtmöglichkeit, sprang vom Rücksitz auf nach vorne und rannte über Kiara rüber, um eilig nach draußen zu gelangen. So wie Tayfun auf dem Beifahrersitz fluchte, musste er ihn bei der Aktion auch noch mit der Kralle am Bein erwischt haben.
Kiara dagegen saß einfach nur da und schaute mit offenem Mund auf ihre Beine, als könnte sie nicht glauben, dass da gerade ein drei Tonnen schwerer Wolf drüber gerannt war.
„Er mag keine Autos“, entschuldigte ich mich und stieg bei mir auf der Seite aus dem Wagen an.
Meine Schwester knurrte und verließ dann gleichzeitig mit Tayfun den Wagen. „Wäre der Köter nicht so zerlumpt, würde ich mir aus ihm jetzt einen Bettvorläger machen“, schimpfte sie. „Er hat mir ein Loch ins Kleid gerissen.“
Interessiert schaute Tayfun sich die Sache an. „Ach was“, sagte er. „So schlimm ist es doch gar nicht.“
War es wirklich nicht. Es war nur ein kleiner Riss am Schenkel, aber das Kleid war trotzdem ruiniert. „Ich ersetze es dir“, bot ich ihr an und beachtete sie dann nicht mehr, denn der hintere der beiden Ställe geriet in mein Sichtfeld. Da war es geschehen, dort hatte Owen .. dort hatte er mir wehgetan.
Mein Herz klopfte wie wild in meiner Brust. Nicht nur der kleine Hoffnungsschimmer, der mich hier hergeführt hatte, ließ es schneller schlagen, es waren auch die Erinnerungen, die sich ungebeten ihren Weg aus der Versenkung bahnten und meinen Kopf überfluteten. Ich hatte nie mehr hier her zurück gewollt.
„Alles klar?“, fragte Tayfun und gesellte sich an meine Seite. Auch sein Fokus richtete sich auf den Stall. Er kannte keine Einzelheiten, aber er wusste dass etwas passiert war und auch, dass es hier geschehen war. „Wenn du möchtest, dann kann ich nachschauen um sicherzugehen, dass das Foto auch wirklich hier gemacht wurde.“
„Nein ich …“ Ich schaute zu ihm auf, in diese Augen, die viel zu viel verstanden. Wie nur hatte er es geschafft mit dem zu Leben, was ihm widerfahren war? Ihm war es tausend mal schlimmer ergangen, aber ich war hier das Wrack. „Ich mach das schon.“
Als er nach meiner Hand griff, entzog ich sie ihm nicht. Ich pfiff nur nach Ferox und setzte mich dann langsam in Bewegung. Kiara schloss sich uns an.
Meine Beine waren schwer wie Blei. Ich wollte dort nicht wieder hinein. Vor einem halben Jahr hatte ich so viel auf mich genommen, um von dort wegzukommen und jetzt war ich wieder hier. Leider wurde die Erinnerung mit jedem Schritt realer. Als ich den Zugang zum Stall erreichte, blieb ich direkt an der Schwelle stehen. Meine Füße weigerten sich auch nur einen Schritt weiter zu gehen, während mein Atem immer schneller wurde. Ich kniff die Augen zusammen.
Tayfun drückte meine Hand. „Du musst dir das nicht antun. Ich kann …“
„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich kann das.“ Als ich die Augen wieder aufschlug, begegnete ich Kiaras Blick. Sie hatte keine Ahnung von den Dingen, die hier drinnen geschehen waren, aber sie musste etwas ahnen. Zumindest verstand sie, dass dieser Ort für mich mit schlechten Erinnerungen verbunden war. Es war die Art wie sie mich anschaute, still und ohne jede Überheblichkeit.
„Komm, Ferox“, rief ich den Wilden und schon als er an mir vorbei den Stall betrat, zog er die Lefzen hoch und begann leise zu knurren. Als würde er etwas riechen oder wahrnehmen, was uns anderen verborgen war. Vielleicht roch er ja Iesha.
Ich atmete noch einmal tief durch und setzte mich dann in Bewegung, immer hinter dem grollenden Wolf hinterher, der wachsam und halb geduckt durch die Stallgasse lief.
Der Gang durch den Stall war nicht so schwer, wie das was hier geschehen war Cio zu beichten, doch ich spürte das Unbehagen wie eine eisige Kälte, die sich in meine Knochen frass und das hatte absolut nichts mit dem Wetter zu tun.
„Hier war schon lange niemand mehr gewesen“, bemerkte Kiara mit Blick auf drei Klappstühle, von denen zwei umgeworfen waren. Auf einer Holzkiste daneben stand ein eingestaubtes Radio. Ich konnte mich noch genau an den Klang von ihm erinnern.
Denk nicht dran! Hastig wandte ich den Blick ab und setzte mich wieder in Bewegung. „Der Eindruck kann täuschen.“
Vor mir rannte Ferox von links nach rechts und schnüffelte überall. Erst an einer der hinteren Boxen blieb er stehen. Er schaute durch das geöffnete Gatter, sein Fell sträubte sich und sein Knurren wurde dunkler.
Das war die Box, dort war es geschehen. Nur langsam trat ich hinter ihn und musste mich zwingen hineinzuschauen. Der Totenschädel grinste mir von der Wand gegenüber entgegen.
Das war zu viel, ich konnte das nicht. „Ich muss weg.“ Ich riss mich von Tayfun los und stürzte zurück in die Richtung, aus der wir gerade erst gekommen waren.
„Zaira!“, rief Tayfun mir hinterher, holte mich aber erst ein, als ich schon wieder im Freien warn. Er griff wieder nach meiner Hand und ließ auch nicht los, als ich versuchte mich von ihm frei zu machen und von hier wegzukommen. „Hey, schon gut“, sagte er und legte mir eine Hand auf die Wange. „Du bist nicht allein hier, dir kann nichts mehr passieren, oder? Ich pass auf dich auf.“
Ich verstand das und ich glaubte ihm auch, doch es hatte nicht die gleiche beruhigende Wirkung auf mich, wie es bei Cio der Fall gewesen wäre. Ich konnte nur mit großen Augen zurück zu zum Stall starren, wo Kiara mit gerunzelter Stirn stand und mich beobachtete. „Ich kann da nicht wieder rein, ich kann das nicht.“ Ich schüttelre den Kopf. „Ich dachte ich kann es, aber es geht nicht, ich …“
„Ist schon gut“, versuchte Tayfun mich zu beruhigen. „Gib mir einfach das Bild, dann schaue ich nach.“
Das Bild in meiner Hosentasche. Mit zitternden Finger zog ich es heraus und hielt es ihm hin, doch als er es nahm, schaffte ich es nicht ihn loszulassen. Es war albern, aber ich wollte hier nicht allein sein.
„Gib mir das Foto“, sagte Kiara und streckte die Hand aus. „Ich werde schauen, ob das Bild wirklich hier gemacht wurde.“
Okay, das konnte ich Ich konnte ihr das Bild gehen und sie schauen lassen, doch als sie sich damit umdrehte und wieder im Stall verschwand, überkam mich das schlechte Gewissen. Eigentlich sollte ich da reingehen und das machen. Es war meine Aufgabe Iesha zu finden und Cio zu retten, aber wenn ich nur daran dachte noch einmal da rein zu gehen, würde ich am Liebsten zum Auto stürzen und schnellstens das Weite suchen.
„Hey.“ Tayfun nahm mich bei den Schultern und drehte mich zu sich herum. Dabei ignorierte er Ferox, der in einem weiten Bogen um uns herum schlich und den Vampir dabei misstrauisch im Auge behielt. „Atme einmal tief durch.“
Ich tat es, einfach weil es leichter war auf ihn zu hören, als mich mit meinen Gedanken zu beschäftigen.
„Genauso so, das machst du gut.“
Ich konnte mir ein bitteres Schnauben nicht verkneifen. „Gut?“ Ich strich mir durch die Haare und schaute mich um, ohne zu wissen, wonach ich überhaupt suchte. „Ich bin hier um Cio zu helfen, doch stattdessen gerate ich in Panik und würde am Liebsten wegrennen.“
„Und was an dieser Reaktion ist verkehrt?“
Was daran verkehrt war? Ich machte den Mund auf, um ihm ganz genau zu erklären, was daran verkehrt war, nur das mir nichts Gescheites einfiel. Weil ich stark sein musste und mutig? Weil ich Cio helfen musste? Weil man es von mir erwartete? Das alles hörte sich irgendwie falsch an. „Ich weiß nicht“, war das, was ich letztendlich antwortete.
„Weil du nichts falsch gemacht hast. Du hast den Hinweis gefunden und jetzt bist du hier. Diese eine Kleinigkeit kannst du anderen überlassen. Das ist in Ordnung.“
Nein, war es nicht, nicht für mich, aber er würde das nicht so sehen, also blieb ich einfach still und wartete angespannt auf Kiaras Rückkehr.
Es kam mir wie Stunden vor, dabei konnten es nur wenige Minuten gewesen sein, als sie mit einem ernsten Ausdruck auf dem Gesicht wieder zu uns nach draußen trat. „Es wurde hier gemacht“, sagte sie, bevor jemand fragen konnte. „Eindeutig. Die Graffitis stimmen mit denen an der Wand überein. Wann auch immer das Bild entstanden ist, sie war hier gewesen.“
Obwohl ich es bereits geahnt hatte, beunruhigte mich die Bestätigung meiner Vermutung ein wenig. „Dann ist sie es vielleicht immer noch.“ Oder sie hatte Spuren hinterlassen, die zu ihrem jetzigen Aufenthaltsort führten. Darum ging ich auch auf die Knie und rief Ferox zu mir.
Er kam nicht. Er schaute nur voller Misstrauen zu Tayfun und bewegte sich kein Stück.
Manchmal wüsste ich zu gerne, was sein Problem mit Vampiren war. „Tayfun, kannst du mal ein Stück weggehen?“
Konnte er und nachdem er nach Ferox' Meinung weit genug entfernt war, kam der Wolf auch endlich zu mir und ließ sich von mir heranziehen, bis ich meinen Kopf gegen seinen lehnen konnte. „Wir spielen jetzt ein Spiel“, sagte ich zu ihm und sandte ihm Bilder von Cio. „Kannst du Cio finden, oder … Iesha?“ Auch von ihr schickte ich Bilder in seinen Geist, woraufhin er sofort zu knurren begann. „Finde sie“, sagte ich und ließ von ihm ab. „Na los, such sie, finde sie.“
Erst schaute er mich an, dann guckte er in die Runde, als fragte er sich, ob das mein Ernst war, doch dann senkte er die Nase auf dem Boden und begann in die ganze Umgebung abzuschnüffeln.
Ich kam wieder auf die Beine und schaute angespannt dabei zu, wie er den ganzen Hof und die Gebäude beschnüffelte, doch je mehr Zeit verging, desto größer wurde meine Überzeugung, dass wir umsonst hier rausgefahren waren und dies schon wieder eine Sackgasse war.
Nachdem er zum dritten Mal von einem Stall zum anderen ging, war ich schon versucht ihn noch einmal zu mir zu rufen, um die ganze Prozedur zu wiederholen. Ich wollte einfach sicher gehen, dass er wirklich verstanden hatte, was ich von ihm wollte. Doch auf einmal verharrte er an einer Stelle und beschnüffelte sie sehr intensiv. Als er den Kopf dann leicht hob, knurrte er leise und rannte dann los.
„Ich glaube er hat etwas“, sagte ich und rannte ihm sofort hinterher, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Tayfun und Kiara blieben direkt hinter mir.
Hatte er Cio gefunden? War er auf seine Witterung gestoßen? Oder liefen wir gerade direkt in Ieshas Arme? Es war egal, solange wir nur irgendwas an unserem Ziel fanden, dass mich aus dieser elenden Ungewissheit herausriss.
Ferox führte uns von den Ställen weg zur Rückseite des halb eingestürzten Haupthauses. Hier wuchs das Gras und das Unkraut so hoch, dass es mir bis an die Knie reichte. An manchen Stellen war es so hoch, das Ferox sogar kurz darauf verschwand, doch da wo er hinwollte, war es kürzer, so als sei es dort plattgetrampelt oder kurzgeschnitten worden.
An der Rückseite gab es eine Hintertür, die nur noch halb in den Angeln hing. Die Fenster links und recht waren kaputt und löcherig. Ich dachte schon das sei Ferox Ziel, doch er rannte noch ein paar Meter weiter und kratzte dann winselnd am Boden vor der Hauswand. Nein, nicht an der Hauswand, was war etwas anderes.
„Eine alte Kohleluke“, erkannte Tayfun ganz richtig.
„Und da sollen wir runter?“ Kiara wirkte alles andere als begeistert.
Ferox kratzte wieder, lief dann einmal quer rüber und jaule, als fragte er sich, warm wir hier noch blöd herumstanden, anstatt das Teil endlich zu öffnen.
„Offensichtlich.“ Als ich neben Ferox in die Hocke ging und nach den Griffen fasste, beschleunigte mein Herzschlag sich ein wenig. Leider tat sich ein Problem auf, als ich versuchte die Luke hochzuziehen. Am unteren Rand, halb verborgen vom Gras, war ein Vorhängeschloss.
„Sieht neu aus“, bemerkte Tayfun.
Was bedeuten konnte, dass Cio vielleicht wirklich dort unten war. „Wir müssen es aufbrechen.“
„Und wie?“, fragte Kiara ein wenig spitz. „Ich trage selten eine Brechstange mit mir herum. Ihr etwa?“
„Das nicht aber … gib mir die Wagenschlüssel.“ Tayfun streckte ihr die Hand entgegen. „Die meisten Leute haben eine Radschlüssel in ihrem Kofferraum.“
„Sowas hab ich da noch nie gesehen, aber bitte, versuch dein Glück.“ Sie übergab ihm ihren Schlüssel und dann mussten wir wieder warten.
Tayfun beeilte sich, aber trotzdem verlagerte ich immer wieder nervös mein Gesicht von einem Bein aufs andere, bis er tatsächlich mit einem Radschlüssel zurückkehrte. Das Schloss aufzuhebeln dauerte nicht mal hab so lange. Das Schloss war vielleicht neu, aber der Verschluss schien noch aus der Zeit zu stammen, als diese Farm noch in Betrieb war. Tayfun brauchte nur ein wenig Kraft, dann knackte es und das Schloss war weg.
Er nahm den Radschlüssel in die andere Hand, öffnete die beiden Klappen der Luke und dann konnten wir ein paar Treppenstufen sehen, die langsam in der Dunkelheit dort unten verschwanden.
„Ist ja gar nicht gruselig“, murmelte Kiara mit einem kritischen Blick in die Tiefe.
Tayfun grinste sie an. „Was hast du denn erwartet? Eine gemütliche Eisdiele mit nettem Ambiente?“
Auch ich schaute in die Tiefe und sog die Luft ein. Ein Hauch von Ieshas Witterung stieg mir in die Nase, aber nichts von Cio. Waren sie vielleicht doch nicht hier? Um diesen Gedanken ganz schnell wieder zu verscheuchen, holte ich mein Handy aus der Jackentasche und schaltete die Taschenlampenfunktion ein.
„Warte“, sagte Tayfun und holte sein eigenes Handy heraus. „Lass mich vorgehen.“ Er schob mich ein wenig zur Seite und trat dann prüfend au die ersten Stufen. Als sie unter seinem Gewicht nicht nachgaben, stieg er langsam in die Tiefe.
„Du bleibst hier“, sagte ich zu Freox und folgte ihm dann.
Kiara seufzte. „Schade dass diese Worte nicht für mich gedacht waren.“ Auch sie holte ihr Handy heraus und tat es uns dann gleich.
Ich verkniff es ihr zu sagen, dass niemand sie zwang mit nach unten zu kommen, aber ich war viel zu sehr damit beschäftigt, auf den Stufen nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die Treppe war ziemlich steil und die Stufen sehr schmal und verdreckt. Aber zu meiner Verwunderung gab es keine Spinnenweben. Das konnte ein Zeichen dafür sein, dass jemand regelmäßig diesen Weg ging. Iesha? Ihr Geruch lag auf jeden Fall in der Luft, auch wenn er für meinen Geschmack schon ein wenig zu schal war.
Vor mir sah ich Tayfun als Schemen. Genau wie bei mir, schwenkte er sein Licht hin und her, um alles zu sehen. Leider war da nicht sehr viel. Diese Luke führte nicht wirklich zu einem Kohlekeller. Die Treppe und die Wände waren aus Holz, das bei jedem unserer Schritte ächzende Geräusche von sich gab. Erst unten traten wir auf einen Betonboden, genau wie auf eine Tür.
„Verschlossen“, teilte Tayfun mir mit, als er die Klinke probierte. Wieder hing ein Vorhängeschloss davon und er löste dieses Problem genau wie oben nur dauerte es hier ein wenig länger. Tayfun klemmte sich sogar einmal den Finger ein, was zu ein paar derben Flüchen führte.
„Arschfalte?“ Kiara zog eine Augenbraue nach oben. „Den muss ich mir merken.“
Hinter ihr gab es ein Getöse auf der Treppe und als wir alle alarmiert herumfuhren, kullerte uns Ferox direkt vor die Füße. Kiara schaffte es gerade noch auf dem kleinen Raum zur Seite auszuweichen, um nicht umgerissen zu werden. Er musste auf der Treppe weggerutscht sein.
„Also langsam glaube ich, er hat es auf mich abgesehen“, murmelte sie.
Ich hockte mich nur auf den Boden um sicherzugehen, dass er sich nicht ernsthaft verletzt hatte. Er jedoch rappelte sich nur wieder auf die Beine, schüttelte sich das Fell aus und warf der Treppe einen bösen Blick zu, als sei sie Schuld an seinem Sturz.
Das bedeutete dann wohl, es ging ihm soweit gut und da es nichts bringen würde, ihm eine Standpauke zu halten, seufzte ich einfach nur und kam wieder auf die Beine. So bekam ich gerade noch mir, wie Tayfun das Schloss aufbrach und die Tür nach innen aufschwang.
Dahinter war es dunkel, aber nun konnte ich Iesha eindeutig riechen. Sie war hier gewesen, vor gar nicht allzu langer Zeit.
Tayfun war mir einen kurzen Blick zu, griff das Wagenkreuz ein wenig fester und trat dann vorsichtig in den Raum dahinter.
Meine Anspannung stieg, als ich ihm folgte. Wenn Iesha wirklich hier war, war sie mittlerweile von dem ganzen Lärm gewarnt worden. Das bedeutete, sie konnte sich hinter jeder Ecke verstecken und uns überraschend anspringen. „Pass auf“, raunte ich Ferox zu und trat mit ihm an der Seite dann hinter Tayfun durch die Tür.
Genau wie auch der Treppenaufgang, war der Raum dunkel, doch schon als ich das Licht einmal durch den Raum schwenkte, wurden mir mehrere Dinge klar. Der Raum war klein. Es gab eine Matratze, einen wohlbekannten Sessel und mehrere Kartons, aber ansonsten war der Raum leer. Keine Möglichkeit sich zu verstecken. Cio war nicht hier und Iesha auch nicht.
Die Enttäuschung und der Kummer breiteten sich wie ein Geschwür in meiner Kehle aus, doch das hinderte mich nicht daran zusammenzuzucken, als plötzlich die Glühbirne an der Decke anging.
„Ganz ruhig, das war nur ich“, sagte Kiara und nahm ihre Hand vom Schalter an der Wand. Dann ließ sie den Blick einmal durch den kargen Raum schweifen. „Also mit schöner wohnen wird das hier wohl nichts.“
Ich sparte mir meinen Kommentar und machte mich daran die Sachen zu durchsuchen. Ieshas Geruch hing eindeutig in diesem Raum, was bewies, dass sie hier gewesen war. Vielleicht fanden sich noch Spuren, irgendwas das darauf hindeutete, wo sie nun war. In dem provisorischen Bett fand ich nichts. Weder unter der Matraze noch in dem Bettzeug und auch die drei Kartons beinhalteten nur ein paar Klamotten, aber nichts nützliches. Ich untersuchte sogar den Sessel, falls sie dort irgendwas versteckt haben sollte, aber da war auch nichts. Das war nichts als ein kleiner Raum, mit einem Betonboden und vier Wänden mit Holzverkleidung und einer niedrigen Decke.
Cio war nicht hier, Iesha war nicht hier und es gab keine Hinweise. „Scheiße!“, fauchte ich und trat mit voller Wucht gegen einen der Kartons.
„Zaira …“
„Nein! Nix Zaira! Ich war mir so sicher gewesen, dass wir hier Cio finden würden, oder wenigstens irgendein Hinweis, stattdessen habe ich uns ganz umsonst in die Walachei geführt!“
„Naja nicht ganz“, widersprach Kiara. „Wir können zumindest beweisen, dass Iesha hier gewesen ist und das ist mehr, als die Wächter bisher erreicht haben.“
„Und was bringt uns das?!“ Cio war immer noch verschwunden und wir standen wieder am Anfang unserer Suche.
Ich begann unruhig auf und ab zu laufen und versuchte mich wieder zu beruhigen. Es hatte keinen Zweck jetzt auszurasten. Sie waren nicht hier, aber sie waren noch irgendwo dort draußen und es war meine Aufgabe sie zu finden.
Ich wusste jetzt zumindest dass sie hier gewesen war. So wie es hier aussah, konnte sie auch noch nicht allzu lange fort sein. Vielleicht ein paar Tage. Sicher war das ihr Versteck gewesen, bevor sie sich Cio geholt hatte, aber jetzt … ja, wo war sie jetzt?
Kiara rieb sich unruhig über die Arme. „Wir sollten die Wächter informieren. Vielleicht finden die ja noch etwas, dass uns entgangen ist.“
„Das ist eine gute Idee“, stimmte Tayfun ihr zu. „Und wir machen einfach das was wir bisher auch gemacht haben.“
„Und was soll das bringen?“ Ich drehte mich herum und fiel dabei fast über Ferox, der durch den Raum schlich und alles beschnüffelte.
„Es hat uns hergebracht“, sagte Tayfun.
Ja, das hatte es, aber wie lange besaß ich die Fotos nun schon? Zwei Wochen? Drei Wochen? Erst dann hatte ich etwas entdeckt.
Wenn ich nur vorher aufmerksamer gewesen wäre, dann hätte Iesha Cio vielleicht gar nicht in die Finger bekommen. Aber ich hatte es erst heute gesehen. Ich konnte doch nicht noch mal drei Wochen suchen, bis ich wieder etwas fand. Iesha konnte ihm in der Zeit alles mögliche antun. Oh Gott, ich durfte gar nicht darüber nachdenken, sonst würde ich gleich völlig durchdrehen.
Als ich fast ein zweites Mal über Ferox stolperte, blieb ich stehen und schaute ihn böse an. Er schnüffelte an der Wand herum und kratzte dann unten am Boden.
Zuerst dachte ich mir nichts dabei, weil das glatter Beton war und Iesha sicher nichts darunter versteckt hatte, doch dann sah ich die schäbige Fußleiste. Wer bitte brachte in so einem Raum, in dem es nicht mal einen manierlichen Boden gab eine Fußleiste an der Wand an? „Jemand der gerne etwas dahinter versteckt“, beantwortete ich meine eigenen Frage und eilte zu Ferox.
Ich kniete mich etwas zu hart hin, schob meinen Tacker zur Seite und begann die Fußleisten abzutasten.
„Aber natürlich“, sagte nun auch noch Kiara, drängte sich an Tayfun vorbei und hockte sich zu mir, um mir zu helfen.
Der Vampir beobachtete uns mit gerunzelter Stirn. „Was macht ihr da?“
„Ieshas Gemeininteresse lüften“, sagte Kiara und hielt dann mit der Hand inne. „Hier, hier ist es.“ Sie zog an der Leiste und sie ging ganz leicht ab. Dahinter war ein flacher Hohlraum. Kiara schaute mich kurz an, griff dann hinein und zog eine Schachtel Zigaretten heraus.
Ich wollte schon fragen, warum Iesha glaubte Zigaretten verstecken zu müssen, schließlich schreckte sie nicht mal vor Körperverletzung oder Mord zurück, doch als sie die Schachtel anhob, klapperte es darin. Sie fackelte nicht lange damit sich den Inhalt auf die Hand zu schütten. Es waren zwei USB-Sticks, ein schwarzer und ein silberner.
„Na das nenne ich doch mal einen Volltreffer“, sagte Kiara und gab mir die Sticks grinsend.
Ich drehte sie in der Hoffnung darauf vielleicht eine Beschriftung zu finden, doch nichts deutete daraufhin, was für Daten sie gespeichert hatten. War auf ihnen überhaupt etwas drauf? Naja, es wäre schon ziemlich verrückt leere Sticks so zu verstecken. Das bedeutete: „Ich brauche einen Computer.“
„Mein Laptop ist Zuhause“, sagte Kiara beinahe entschuldigend.
Meine auch. „Dann sollten wir uns auch den Weg machen.“ Denn was auch immer hier drauf war, es könnte mich zu Cio führen.
„Und was ist mit den Wächtern?“, fragte Tayfun, als ich wieder auf die Beine kam.
Ich kaute kurz auf meiner Unterlippe. Wenn wir jetzt die Wächter riefen, würden sie mir die Sticks garantiert abnehmen. Darum sagte ich auch: „Jetzt nicht, ich will erst sehen was auf den Sticks ist.“ Und mir eine Kopie machen, bevor man sie mir abnahm. Vielleicht würde ich die Sticks auch nicht den Wächtern geben, sondern den Themis, die hatten wesentlich besserer Computerfachleute. Das musste ich entscheiden, nachdem ich gesehen hatte, was darauf war.
Entschlossen schloss ich die Sticks in meine Hand und wandte mich dann der Tür zu. „Lasst uns gehen.“ Denn vielleicht würde ich hiermit endlich Cio finden.
„Sollen wir versuchen das Schloss wieder an die Tür zu machen?“, fragte Kiara mit einem Blick auf die Kisten.
Ich schüttelte den Kopf. „Iesha war schon eine Weile nicht mehr hier gewesen und falls sie in den nächsten Stunden wirklich noch mal hier auftaucht, würde sie so oder so merken, dass wir hier gewesen waren.“
Dieser Gedanke schien Kiara absolut nicht zu behagen. Sie schaute sich nervös um und ich erinnerte mich nur zu gut daran, dass sie mit mir nicht in Verbindung gebracht werden wollte, weil sie Angst vor Iesha hatte. Ich konnte es ihr nicht mal verübeln, aber jetzt hatte ich weder die Zeit noch die Muße Rücksicht auf sie zu nehmen, also drängte ich erneut zum Aufbruch und machte mich als erstes auf dem Weg zur Tür. Doch es war Ferox, der zuerst die Treppe erreichte.
Auf dem Weg nach oben stellte er sich nicht so dumm an wie auf dem Weg nach unten, doch als es hieß, er sollte zurück in den Wagen, knurrte er unwillig, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in den Wald.
Einen Moment überlegte ich ihm nachzulaufen und ihn einzufangen, aber Ferox war von hier aus schon einmal allein nach Hause gelaufen und das Gartentor bei meinem Vater hatte ich offen gelassen, damit Papa wusste, ich hatte ihn geholt.
Ferox würde allein klarkommen, also stieg ich einfach in den Wagen und sobald Tayfun den Radschlüssel wieder ordnungsgemäß verstaut hatte, versuchte Kiara sich als Rennfahrer.
Ich sagte nichts dagegen. Je schneller sie war, desto schneller würde ich an meinem Computer sein und vielleicht endlich herausfinden, wo sie Cio versteckt hielt. Es war nur eine geringe Hoffnung, aber im Moment war es alles was ich hatte und darum klammerte ich mich die ganze Fahrt über an diesen Gedanken.
Auf dem Hinweg hatten wir knapp zwei Stunden gebraucht, die Rückfahrt schafften wir in eineinhalb. Als wir bei mir vor dem Haus aussteigen, gab ich meiner Schwester kaum die Zeit den Wagen abzuschließen. Ich war schon halb im Haus, als sie und Tayfun mir hinter geeilt kamen. Selbst die Wohnungstür schloss ich nicht ab, sobald ich drinnen war. Ich stürmte einfach nur hinein, nahm mir gerade noch die Zeit meinen Mantel auszuziehen und auf die Couch zu werden, dann saß ich auch schon an meinem Schreibtisch und wartete ungeduldig darauf, dass der Computer hochfuhr.
Kiara, die hinter Tayfun in die Wohnung kam, ließ den Blick einmal durch die Wohnung streifen, während sie die Tür hinter sich schloss. Es war das erste Mal dass sie hier war. „Nett“, war dann ihr einziger Kommentar. „Aber vielleicht sollte hier jemand mal aufräumen.“
Selbst Tayfun ignorierte sie. Er kam einfach zum Schreibtisch und stützte sich mit den Händen auf meine Rückenlehne, als ich den ersten USB-Stick in meinen Rechner steckte. Zu meinem Erstaunen war das Ding nicht mal Passwortgeschützt. Ich konnte direkt darauf zugreifen. Darauf gab es nur einen Ordner und der war mit dem Namen Elicio benannt worden.
Als ich das las, musste ich schlucken, aber ich zögerte nicht ihn zu öffnen und da auch hier kein Passwort verlangt wurde, wurde mein Bildschirm sofort mit hunderten von Bilddateien überflutet. Und das war nicht mal übertrieben. Der Zähler unten in der Leiste erklärte mir, dass es weit über tausend Bilder auf diesem Stick waren. Jedes Einzelne von ihnen war mit einem Datum versehen und wenn es von einem Tag mehr als ein Bild gab, waren sie noch nummeriert.
Das erste Bild in der Liste war lange bevor ich Cio kennengelernt hatte entstanden. Es musste zu der Zeit gewesen sein, als er mit Iesha zusammenkam. Ich öffnete es in dem Moment, als auch Kiara sich zu uns gesellte und über meine Schulter hinweg einen Blick auf den Bildschirm warf.
Von dem Foto dass daraufhin den Monitor einnahm, schaute mir ein lächelnder Cio entgegen. Gesicht und Schultern waren in Großaufnahme, weswegen man nicht viel von der Umgebung sah, aber wenn ich raten müsste, würde ich behaupten, es sein in den Schlossgärten aufgenommen worden.
Langsam hob ich die Hand an den Bildschirm und fuhr die Kontur seines Gesichts nach. Er wirkte auf dem Bild so ausgelassen und jung. Wie alt er da wohl gewesen war? Fünfzehn? Sechzehn?
Ich nahm die Maus wieder zur Hand und klickte weiter zum nächsten Bild. Wieder Cio. Und noch eines und ein weiteres. Auf jedem einzelnen von ihnen war Cio zu sehen und zwar ausschließlich Cio. Keine Freunde, keine Verwandten und auch keine Iesha. Auf vielen von ihnen schaute er in die Kamera, aber mindestens genauso viel waren unbemerkt von ihm aufgenommen worden. Es war, als würde ich Cio beim Älterwerden zuschauen.
Anfangs schien er auf allen Bildern glücklich zu sein, doch dann, ganz plötzlich, veränderte sich etwas in seinem Gesicht. Er lächelte noch immer wenn die Kamera auf ihn gerichtet wurde, aber es wirkte irgendwie gezwungen und auf den Aufnahmen, die scheinbar ohne sein Wissen entstanden waren, wirkte er meist traurig oder nachdenklich. Das war bestimmt die Zeit gewesen, nachdem er Iesha mit Aric erwischt hatte.
Dann zeigte sich bei ihm eine erneute Veränderung und er schien wieder aufzublühen. Eine Kontrolle des Datums sagte mir, dass es die Zeit gewesen war, als ich ohne Erlaubnis in sein Leben geplatzt war. Er wurde wieder mehr zu dem jungen Mann, der er auf den ersten Bildern gewesen war.
Ich klickte immer weiter, bis ich ein Foto erreichte, dass an meinem zwanzigsten Geburtstag aufgenommen worden sein musste, bei Aric im Zimmer, bevor ich dazugestoßen war. Er sah an diesem Tag so glücklich aus. zu dem Zeitpunkt als es gemacht wurde, war er es wahrscheinlich auch noch gewesen.
Als ich zum nächsten Bild weiter klickte, hielt ich einen Moment inne. Nicht nur weil es existierte, genau wie vierhundert weitere, sondern auch weil es laut Datum zu einem Zeitpunkt entstand, als Iesha offiziell noch in der Heilanstalt Sanare gewesen war. Und auch, weil Cio um ersten Mal nicht allein darauf abgebildet war, ich war bei ihm. Er hatte mir den Arm um die Schultern gelegt und schlenderte mit mir durch die Fußgängerzone von Silenda. Es war keine Nahaufnahme, jemand hatte uns aus einiger Entfernung fotografiert.
Beim Anblick dieses Bildes wurde mir ganz anders. Ich erinnerte mich an den Tag. Wir wollten etwas essen gehen und waren dabei noch ein wenig bummeln gewesen. Dieses Bild sollte nicht existieren.
Langsam klickte ich zum nächsten weiter. Cio wie er gerade das Fitnessstudio betrat, dass er heute nur noch sehr selten besuchte. Wieder eine Aufnahme aus einiger Entfernung. Auf dem nächsten Bild kam er gerade aus dem Haus seiner Eltern. Cio wie er den Bürgersteig entlang ging, Cio vor einer Bäckerei, Cio vor dem Haus meiner Eltern, Cio wie er mich mit einem Kuss an der Haustür begrüßte.
„Oh mein Gott“, sagte ich und klickte wie auf Autopilot immer weiter. Damian hatte recht gehabt, wir waren beobachtet worden. Nein, nicht nur beobachtet, jemand hatte Cio geradezu gestalkt. Egal wo er hingegangen war, immer war eine Kamera auf ihn gerichtet gewesen und weder er noch ich hatten es jemals bemerkt.
„Das ist krank“, sagte Kiara und warf mir einen vorsichtigen Blick zu.
Bilder mit ihm in der Stadt, Bilder aus dem Wald, ja ich fand selbst Bilder, auf denen er als Wolf zu sehen war. Und es hörte einfach nicht auf. Selbst als Iesha in Namen von Amor Morde begannen hatte, wurde er abgelichtet. Ja ich fand selbst eines, dass ihn auf unserer Hochzeit vor dem Tempel im Wald zeigte.
Das letzte Bild war an dem Tag aufgenommen worden, als Iesha versucht hatte mich zu überfahren. Es zeigte wie Cio und ich morgens händchenhaltend das Haus verließen, um ins Krankenhaus zu Papa zu fahren.
Danach gab es keine Fotos mehr. Natürlich nicht, denn danach waren wir ja untergetaucht.
„Wir sollten diese Bilder sofort zu den Wächtern bringen“, sagte Kiara mit einem Ernst in der Stimme, der ganz ungewohnt für sie war. „Ihr wurdet verfolgt und zwar über Monate hinweg. Das müssen wir melden.“
„Nein“, widersprach ich sofort. Ich wollte erst noch sehen, was auf dem anderen Stick war. Die Bilder konnten noch so beunruhigend sein, sie lieferten mir keinen Hinweis auf Cios oder Ieshas Aufenthaltsort.
„Aber …“
„Noch nicht.“ Ich schloss die Datei und tauschte den Stick gegen den anderen aus. Fast rechnete ich mir einer Flut aus weiteren Bildern, dass was ich darauf fand, war fast noch schlimmer. Es waren Videos. Kleine Filmchen, nach dem Format, aufgenommen mit Handy. Vielleicht drei oder vier Dutzend. Das erste Video trug an Datum von vor knapp zwei Jahren, ein Jahr bevor Iesha entlassen worden war.
Es stimmt also, dachte ich. Dieser Jamal musste die Aufnahmen gemacht haben. Damian hatte es doch gesagt, er war immer in meiner Nähe. Fast wäre ich aufgestanden und hätte mir meinen Elektroschocker geholt, doch stattdessen startete ich das erste Video auf dem Stick.
Es war eine Aufnahme von Cio, der bei Cayenne im Garten nur in kurzen Hosen auf einem Liegestuhl lag und sich in der Sonne brutzeln ließ. Ein paar Sekunden war nur er zu sehen, dann trat ich von Haus aus in den Garten und ging zu ihm hinüber.
Der Kameramann zoomte ein wenig heran, als ich Cio mit einem Kuss begrüßte und mein Mann, übermütig wie er war, mich zu sich zog, bis ich rittlings auf seinem Bauch saß.
Ich erinnerte mich noch sehr gut an diesen Moment. Wir hatten herumgealbert und dann hatte Cio noch die Flasche mit der Sonnencreme aus dem Gras gepflückt und mich gebeten, ihn damit einzuschmieren – auf dem Bauch. Er hätte es selber gekonnt, aber er hatte behauptet, dass ich das viel besser machen würde. Am Ende hatten wir solange miteinander herumgeknutscht, bis Diego in den Garten gekommen war und verkündete, dass das Essen fertig sei.
Das war auf dem Video nicht zu sehen. Man sah nur, wie wir miteinander herumknutschten und naja, Cios Hand sich auch ihren Weg unter mein Hemd suchte. Es war ein schöner Moment gewesen, doch jetzt wo ich wusste, dass man uns dabei beobachtet hatte, fühlte ich mich auf eine Art erniedrigt und beschämt, die ich nicht für möglich gehalten hatte.
Man hatte uns nicht nur beobachtet, man hatte uns dabei auch noch gefilmt und diese Aufnahmen waren bei Iesha gelandet. Das war … widerlich. „Wer macht sowas?“, fragte ich leise, ohne eine Antwort zu erwarten. Ich bekam auch keine.
Tayfun ließ nicht erkennen was er dachte und Kiara wirkte einfach nur entsetzt. Nicht wegen dem was sie da sah, sondern wegen dem was es bedeutete.
Es gab noch weiterer solcher Videos. Die meisten waren völlig harmlos, solange man dabei nicht bedachte, dass sie von einem verrückten Stalker heimlich aufgenommen worden waren. Dann stieß ich auf eines, bei dem mir das Datum irgendwie bekannt vorkam. Was jedoch es bedeutete, verstand ich erst, als ich es öffnete.
Zuerst sah man kaum etwas, ein paar Gestalten die in einem Berg aus Stroh hockten. Ich erkannte Umbra Logen und auch Iesha und Owen. Sie fummelten an etwas herum, dass zwischen ihnen lag.
„Halt mal die Taschenlampe höher“, wies Iesha Logan an.
Der Kameramann ging näher heran und filmte über Ieshas Schulter hinweg das, was sie da machten.
Zuerst verstand ich nicht was sie da machten, doch in dem Moment als Kiara „Oh mein Gott!“ ausrief und sich angeekelt wegdrehte, traf mich die Erkenntnis.
Iesha hielt ein Messer in der Hand und stach es in die Brust einer Frau. „Jetzt bekommst du, was du verdienst du, Misto-Schlampe.“
Scheiße, das war eine Aufnahme von Victorias Leichenschändung. Ich klickte nicht nur das Video weg, ich riss auch noch die Hände hoch, als würde ich sie irgendwie besudeln, wenn ich weiter Kontakt mit der Maus hatte.
Das Stroh, sie waren auf dem Heuboden des Stalls am Hof. Darum war mir das Datum so bekannt vorgekommen, es war der Todestag von Victoria, der Tag, an dem alles begonnen hatte und Iesha zur Mörderin ihrer eigenen Mutter geworden war.
„Vielleicht sollten wir uns das nicht weiter ansehen“, überlegte Tayfun.
Kiara gab ein äußerst seltsames Geräusch von sich. „Ach meinst du?“, fragte sie ein wenig sarkastisch. „Ich ich hatte gerade vorgehabt mir Popcorn zu machen.“ Sie entfernte sich vom Schreibtisch und setzte sich auf die Couch. Um die Nase war sie ein wenig grün.
Ich konnte sie verstehen, ich verspürte auch das Bedürfnis mich übergeben zu gehen. Aber ich musste wissen, was da noch alles drauf war. Wenn ich nichts fand, würde ich mir auch diese Aufnahme noch mal bis zum Ende anschauen, denn sie könnte etwas gesagt haben, das mir weiter half. Aber jetzt erstmal ignorierte ich sowohl Tayfun als auch Kiara und startete das nächste Video in der Hoffnung, nicht wieder einen Slasherfilm vor Augen zu haben.
Am Anfang wusste ich nicht so recht, was ich da sah. Es war ziemlich dunkel, doch als die Kamera sich richtig einstellte, erkannte ich, das es ein Raum war. Nein, nicht nur ein Raum, es war das Wohnzimmer meines Vaters. Bei Nacht.
„… doch nicht so wichtig“, hörte ich meine eigenen Stimme murmeln.
Was darauf folgte, war das leise Lachen von Cio. „Also hast du wirklich schon mal daran gedacht.“
Das Bild bewegte sich ein bisschen, als würde sich der Kameramann anders hinsetzten. Dann zoomte das Bild auf die Couch heran und mir wurde klar, dass der Stalker vor dem offenen Wohnzimmerfenster gehockt haben musste.
„Na und“, hörte ich mich selber murmeln und vergrub das Gesicht an seiner Brust.
In dem Moment wurde mir klar, was und vor allen Dingen welchen Moment ich da gerade sah. Es war die Nacht, nachdem ich Victorias Leiche gefunden hatte und Cio und ich im Wohnzimmer auf der Couch eingeschlafen waren. Ich hatte ein Alptraum gehabt und war erwacht und dann hatten wir …
„Damit dich zu beißen, kann ich leider nicht dienen, aber ich hoffe das Erlebnis mich zu beißen, gleicht diese Ungerechtigkeit ein kleinen wenig aus.“
Nach diesen Worten konnte ich mir selber dabei zuschauen, wie ich mit Cio Sex hatte. Ich wusste nicht warum, aber das zu sehen war viel schlimmer als all die anderen Videos und Fotos. Nicht nur weil es die Sehnsucht nach Cio in mir erwachen ließ, es war so ein tiefer Eingriff in meine Intimsphäre, dass es mich einfach nur verletze. Dieser Moment hatte nur Cio und mir gehört und nicht dem Spanner vor dem Fenster, oder Iesha.
Als wir zu der stelle kamen, an der Cio damit begann mir mein Hemd aufzuknöpfen, schloss ich das Video und war einen Augenblick versucht es einfach zu löschen. Doch ich konnte nicht. Ich wusste nicht warum, aber ich konnte nicht. Ich war einfach nur noch Taub.
„Zaira …“
„Ich glaube ich schaue mir die restlichen Videos alleine an.
Tayfun öffnete den Mund um zu widersprechen.
„Bitte.“
Das gefiel ihm nicht. Wahrscheinlich fürchtete er um das, was ich dort noch alles sehen würde. „Na gut, aber ich bleibe hier.“
Das war mir egal. Ich nahm einfach meine Kopfhörer und blendete so ihn und Kiara aus. Trotzdem sa ich bestimmt noch fünf Minuten da, bis ich so weit war mir das nächste Video anzuschauen. Und es wurde nur noch schlimmer.
°°°°°
Ein Themis zu sein, bedeutete, dass man einiges an Privilegien und Freiheiten im Rudel besaß. Im Rahmen ihrer Arbeit gab es so einige Gesetze, die nicht für sie galten, da sie nicht nach menschlichen Maßstäben handelten. Ihre Gegner waren Leute, die man wohl liebevoll als Gauner bezeichnen konnte. Die Wahrheit war schlimmer. Die Vampire und Lykaner, die von den Themis gejagt wurden, waren Mörder, Vergewaltiger, Zuhälter, Sklavenhändler, Psychopathen, oder auch kurz zusammengefasst, Skhän.
Den Skhän konnte man so einige Dinge nachsagen, aber nichts davon würde man als gut bezeichnen. Sie überfielen Dörfer, raubten die Leute aus der verborgenen Welt und verkauften sie dann an den Meistbietenden.
Die Aufgabe der Themis war es nun, dem entgegen zu wirken. Sie befreiten die Sklaven und nahmen nur selten Gefangene.
Mein Vater arbeitete für die Themis, genau wie meine Erzeugerin, zwei meiner Onkels und eine Tante. Es waren die Umstände ihres Lebens gewesen, die sie dazu gebracht hatten sich dieser doch sehr speziellen Gruppe anzuschließen.
Früher, als ich noch unter den Menschen lebte, hatten mein Vater die Geschichten über die Themis immer so klingen lassen, als würden sie nur die Sklaven befreien und wieder nach Hause zu ihren Familien schicken. Sie waren die Guten, die Helden, die mit den weißen Westen, doch unter diesen weißen Westen trugen sie schwarze Hemden.
Als ich vor vier Jahren die verborgene Welt betrat, hatte ich mir nie genauere Gedanken darüber gemacht, was es wirklich bedeutete ein Themis zu sein, oder dass man, wenn man einen Sklaven befreite, zwangsläufig auf die Leute traf, die diese Sklaven zu Geld machen wollten.
Die Skhän waren keine netten Zeitgenossen, mit denen man vernünftig bei einem Essen alles besprechen konnte. Wenn sie die Gelegenheit bekamen, töteten sie die Themis eiskalt und ohne Gewissen, um ihre Lebensgrundlage nicht zu verlieren. Die Themis reagierten darauf, indem sie zuerst den Abzug drückten und jeden Skhän töteten, der ihren Weg kreuzte.
Sie waren keine Vergewaltiger, Zuhälter, Sklavenhändler, oder Psychopathen, aber so gut wie jeder von ihnen war ein Mörder mit Erlaubnis der Königin. Okay, manche von ihnen waren vielleicht doch ein wenig psychopathisch.
Als ich das damals erkannte und damit auch herausfand, dass fünf Leute aus meiner Familie regelmäßig töteten, hatte ich gelernt, dass die Welt sich nicht in schwarz und weiß aufteilte. Nur weil man gutes tat, war man nicht unbedingt ein guter Mensch und nur weil man etwas schlechtes tat, gehörte man nicht gleich zu den Bösen.
Noch heute viel es mir nicht immer ganz einfach, die Grautöne zu akzeptieren, einfach weil ich jemand war, der Gewalt verabscheute. Aber ich selber hatte auch schon getötet und sah mich trotzdem nicht als Mörderin an. Jemand anderes würde das vielleicht anders sehen.
Iesha jedoch war für mich ein klares Schwarz. Sie war gefährlich, sie war grausam und nachdem was ich auf diesen USB-Sticks noch alles gefunden hatte, war sie sogar noch gestörter, als ich bisher angenommen hatte.
Insgesamt existierten darauf drei Videos, die mich und Cio in sehr intimen Momenten zeigten. Das Hauptaugenmerk lag wie bei den Fotos auf Cio, doch da wir ständig zusammen gewesen waren – besonders in den letzten Monaten – war auch ich auf vielen von ihnen zu sehen. In der Stadt, wenn wir unterwegs waren, im Wald, während wir uns verwandelten, auf dem Straßenfest zur Ernennung von Prinzessin Cataleya zu einem Alpha.
Ich zog meinen Mantel ein wenig fester um mich, als ich mich daran erinnerte, dass der Schuss auf Kasper gefilmt wurde. Der Knall hallte noch immer in meinen Ohren wieder.
„Alles klar?“, fragte Tayfun und zog ganz der Gentleman die Tür zum Hauptquartier der Themis für mich auf, um mich als erstes hinein zu lassen.
„Nur in Gedanken“, murmelte ich und trat aus der kalten Luft in die Wärme des Gebäudes. Sofort stieg mir der Geruch von abgestandenem Kaffee entgegen.
„Hey.“ Tayfun nahm mich am Arm und drehte mich zu sich herum. „Wir geben das Zeug Future, sie ist diskret.“
„Sie wird trotzdem sehen, wie Cio und ich …“ Ich drückte die Lippen aufeinander. Ich war nicht prüde, besonders nicht zusammen mit Cio, aber dass da jemand gewesen war, der dass alles heimlich beobachtet und aufgenommen hatte, um es sich später noch einmal anzuschauen und auch weiterzureichen, das war … es machte mich einfach fertig. Das waren Momente gewesen, die nur Cio und mir gehört hatten und nun waren sie befleckt. „Jeder der sich damit beschäftigt wird es sehen.“
„Ja.“
Ich schnaubte, nicht sicher, ob ich ihn für seine Aufrichtigkeit küssen oder hauen sollte. „Lass es uns einfach hinter uns bringen.“
„Okay.“ Tayfun legte mir den Arm um die Schulter und führte mich den Korridor entlang, auf die Geräusche der Zentrale zu.
Tayfun und Kiara hatten die Nacht bei mir verbracht. Beide hatten steif und fest behauptet, dass sie keine Lust mehr hatten so spät noch nach Hause zu fahren, aber ich war nicht auf den Kopf gefallen. Sie waren geblieben, weil sie mich nicht hatte alleine lassen wollen.
Sie waren beide irgendwann auf meiner Couch eingeschlafen, während ich mir die Aufnahmen alle zweimal angeschaut hatte. Ich hatte nichts gefunden, was mich weiterbrachte. Nur verstörende Videos, die ich nun wahrscheinlich nicht mehr aus meinem Kopf bekommen würde.
Als Tayfun am Morgen erwacht war, hatte ich noch immer am Computer gesessen und auf die Frage hin, was wir nun tun sollten, hatte ich mich dazu entschieden zu den Themis und somit auch zu meinem Vater zu gehen, um ihnen alles zu sagen was wir herausgefunden hatten und darauf zu hoffen, dass sie noch etwas finden würden.
Mir war klar, dass sie auch die Wächter hinzuziehen würden und das war auch okay. Mich graute es nur vor einer Sache: Der Totenschädel. Früher oder später würde unweigerlich die Frage aufkommen, wie ich auf die alte Farm gekommen war und das war etwas, dass ich ihnen nicht beantworten konnte. Hoffentlich würde Papa dafür sorgen, dass sie mich damit in Ruhe ließen.
Als wir in die Zentrale des HQs traten, war es dort verhältnismäßig ruhig. Ein Telefon klingelte. An den Computern saßen drei Leute und an dem großen Besprechungstisch in der Raummitte, stand Murphy, ein Arbeitskollege und Freund von meinem Vater und beugte sich gerade über ein paar der Papiere, die er dort ausgebreitet hatte.
Bei meinem Eintritt, richtete er sich auf und schenkte mir ein Lächeln. „Hey, welch seltener Besuch. Suchst du deinen Vater?“
„Hm, ja und nein.“ Ich war nicht wirklich scharf darauf meinem Vater erzählen, was wir herausgefunden hatten und vor allen Dingen wie.
„Wahrscheinlich sollte er das auch hören“, half mir Tayfun und schaute sich suchend im Raum um. „Und Future. Wir brauchen ihre Fähigkeiten.“
Murphys Stirn schlug falten. Er war sowas wie die rechte Hand vom Chef hier und obwohl er erst in den mittleren Jahren war, gehörte er wohl schon zu den Veteranen der Themis. Er gehörte zu den beiden Männern, die diese Gruppe gegründet hatten. „Um was geht es denn?“
„Iesha Walker.“ Ich zog die beiden Sticks aus meiner Jackentasche. „Die haben wir gefunden.“
„Am besten wir unterhalten uns ein wenig ungestörter“, fügte Tayfun noch hinzu, da er mein Unbehagen spürte.
Murphys Blick richtete sich auf die USB-Sticks. Er war ein großer Mann mit breiten Schultern und einer schmalen Hüfte, doch das wohl auffälligste Merkmal an ihm war seine schiefe Nase. Ich wollte gar nicht wissen, wie oft die gebrochen gewesen sein musste, um am Ende so auszusehen. „Okay, geht in den kleinen Besprechungsraum. Ich hole die beiden und komme dann nach.“
Tayfun nickte und führte mich dann in einen kleinen Nebenraum, in dem zwei große Tische nebeneinander an der Wand standen. Es waren Pläne und Papiere darauf ausgebreitet und die Wände hinter voller Pinnwände, die alle ziemlich überfüllt waren mit Fotos und Vermisstenanzeigen.
Bei ihrem Anblick versteifte ich mich ein wenig. Nicht wegen ihrer großen Zahl, sondern weil so wie die Dinge lagen auch Cios Bild unter ihnen sein könnte. Auch er wurde vermiss. Zwölf Tage ohne das kleine Lebenszeichen von ihm oder Iesha. Das war zermürbend und machte mich fertig. Warum nur verhielt sie sich im Moment so still? Plante sie etwas, oder war sie einfach untergetaucht, jetzt wo sie hatte was sie wollte?
„Hey, Kopf hoch.“ Tayfun drückte mich ein wenig an sich. „Future wird schon irgendwas finden. Sie ist eine Magierin, wenn es um Computer und den ganzen Mist geht.“
„Nenn meine einzig wahre Leidenschaft noch einmal Mist und ich werde dafür sorgen, dass die ganze Welt dich ab sofort unter dem Namen Hans Wurst kennt.“ Eine Vampirin mit langem schwarzen Haar, dass sie zu einem Pferdeschwan an den Kopf gebunden hatte, trat in den Raum. Sie hatte violette Augen und leicht abstehende Ohren. Außerdem zog sie sich immer ein bisschen wie ein greller Hippie an. Und mit ihren Fähigkeiten war sie durchaus in der Lage all seine Daten so zu manipulieren, dass sogar in seiner Geburtsurkunde der Name Hans Wurst stehen würde. Wobei sein richtiger Name ja eigentlich Yusuf Demir war.
Es fühlte sie wie eine Ewigkeit an, seit er mir das anvertraut hatte, dabei war das erst letztes Jahr gewesen.
Tayfun schenkte ihr ein einnehmendes Lächeln. „Da würde mir Dick S. Ding besser gefallen.“
Sie lächelte nur und lehnte sich dann mit dem Hintern gegen einen der Tische. Dabei musterte sie uns aufmerksam. Besonders Tayfuns Arm, der noch immer um meine Schulter lag.
Mir war es egal was sie dachte. Es war in Ordnung, schließlich war das hier nur Tayfun. Er war nur ein Freund und trotz der offensichtlichen Merkmale in meine Augen nicht mal ein richtiger Kerl. Also nicht dass er das nicht wäre, aber … keine Ahnung, aber Tayfun war eben nur Tayfun. Ich könnte ihn mit einer guten Freundin vergleichen.
Vielleicht fiel es mir ja deswegen so leicht mich von ihm einfach so in den Arm nehmen zu lassen, ohne dabei Panik zu bekommen. Wenn ich es genau nahm, dann war Owens Anwesenheit in mein Kopf in den letzten Tagen sowieso auf ein Minimum zurückgegangen. Für ihn war da im Moment einfach kein Platz drin, den meine Gedanken drehten sich ununterbrochen um Cio.
Als jedoch mein Vater mit Murphy den Raum betrat, nahm Tayfun nicht nur seinen Arm wag, er trat sogar einen Schritt zur Seite. Hatte wohl etwas damit zu tun, dass Papa guckte, als würde er den Kerl notfalls auch mit einer Brechstange von mir entfernen.
„Hey Schatz.“ Als er mich in den Arm nahm, spannte ich mich leicht an. „Kommst du klar?“
„Muss ich ja wohl.“ Ich machte mich von ihm frei und hielt dann die beiden Sticks hoch, sodass die Themis sie sehen konnten. „Die hier haben wir in einem Versteck von Iesha gefunden. Wie waren in der Wand versteckt.“
Die Blicke gingen erst zu den Sticks und blieben dann in meinem Gesicht kleben. Mein Vater wirkte dabei, als zweifelte er an seinen Ohren.
„Was genau meinst du damit, wenn du sagst, ihr habt sie aus einem Versteck von Iesha?“
Okay, das fing nicht besonders gut an. Ich wechselte einen kurzen Blick mit Tayfun und erzählte ihnen dann wie wir letzte Nacht auf die alte Farm gefahren waren und was wir dort gefunden hatten. Ja, ich erzählte ihnen auch, dass ich mir die Fotos und Videos angesehen hatte, aber die Tatsache, dass ich heute Morgen noch von allem eine Kopie gemacht hatte, behielt ich für mich.
Nachdem ich verstummt war, schien mein Vater nicht genau zu wissen, wie er jetzt reagieren sollte. Einerseits schien er mir eine Standpauke halten zu wollen, weil ich so leichtsinnig gewesen war dort alleine und ohne sein Wissen hinzufahren. Andererseits wollte er genauer darauf eingehen, weil das vielleicht endlich ein Hinweis war. Zum Schluss wandte er sich jedoch zu meiner Überraschung direkt an Tayfun. „Du hast mir versprochen ein Auge auf Zaira zu haben, doch stattdessen gehst du das Risiko ein nicht nur eine, sondern gleich meine beiden Töchter in die Arme eine Psychopathin zu führen, anstatt mich und die Wächter zu informieren, damit wir der Sache nachgehen können.“
Wusste ich es doch, er hatte Tayfun auf mich angesetzt. Eigentlich sollte ich jetzt sauer werden, aber im Moment war mir das egal. „Ich habe das entschieden, nicht Tayfun und wir waren zu keiner Zeit in Gefahr. Außer ein paar Spinnen war niemand dort.“ Und die waren gruselig genug.
Mein Vater warf mir einen bösen Blick zu. „Aber das habt ihr im Vorfeld nicht gewusst. Ihr hättet da auf Iesha und weiß Gott noch was treffen können. Ihr habt euch dumm verhalten, alle drei, aber besonders du. Du bist schwanger, Zaira. Mit solchen Aktionen bringst du nicht nur dich, sondern auch dein Baby in Gefahr.“
Autsch, das hatte ich wohl verdient. „Hätte ich das nicht selber in die Hand genommen, hättet ihr wieder alles mögliche vor mir verborgen, weil ihr glaubt, dass ich nicht damit zurecht komme, aber das stimmt. Noch dazu sind diese Videos privat. Glaubst du ich möchte das hunderte von Leuten sie sich hinter meinen Rücken anschauen, ich aber selber nichts davon weiß?“
Er gab ein unwilliges Geräusch von sich, beließ es aber dabei. Vorerst.
„Woher wusstet ihr eigentlich wo ihr suchen musstet?“, wollte Murphy wissen. „Diese alte Farm ist ja nicht das Naheliegendste.“
Ich spannte mich an, vor dieser Frage hatte ich mich gefürchtet. „Ich hab die Graffitis erkannt“, sagte ich, ohne den Grund dafür zu nennen.
Future neigte den Kopf leicht zur Seite. „Welche Graffitis?“
„Die von Ieshas Foto.“ Ich holte den in der Zwischenzeit zerknickten Zettel aus meiner Jackentasche und reichte ihm meinem Vater.
„Das ist der Ort, wo Iesha letztes Jahr Zaira gefangen gehalten hat“, erklärte Tayfun. „Es ist nicht viel von der Wand dahinter zu sehen, deswegen hat sie es auch erst jetzt erkannt.“
Mein Vater reichte das Bild an Murphy weiter und der an Future.
„Viel sieht man da wirklich nicht“, stimmte sie zu.
Murphy kaute nachdenklich an seiner Unterlippe herum. „Ich muss es den Wächtern mitteilen und auch Königin Sadrija.“
Da ich mir das schon gedacht hatte, nickte ich nur.
„Mal sehen, vielleicht geben sie sich ja mit meiner Aussage zufrieden und lassen dich in Ruhe.“ Er wandte sich Future zu. „Du kümmerst dich um die USB-Sticks?“
„Ich werde mich gleich dran setzten.“ Auffordernd hielt sie mir die Hand entgegen, doch ich zögerte damit sie ihr zu geben. Natürlich verstand sie sofort wo das Problem lag. „Ich mach das nicht hier in der Zentrale, ich geh in mein Büro und sichte erstmal alles alleine. Keine Sorge, ich bin diskret und werde nur die Daten weiterleiten, die wirklich relevant sind.“
Meine Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. „Das sorgt nicht gerade für Begeisterungsstürme bei mir.“ Denn es bedeutete, dass mindestens noch eine Person alles sehen würde und wenn Future der Meinung war, dass etwas Hilfreiches darauf war, vielleicht auch noch andere. Aber wenigstens war sie nicht Iesha, oder irgendein perverser Spanner. Außerdem war das im Moment der einzige Hinweis den wir hatten und was war schon ein wenig Entwürdigung im Tausch gegen Cio? Nichts und darum überreichte ich die Sticks auch an Future.
„Ich mach mich dann sofort an die Arbeit.“ Sie nickte mir noch mal zu und verschwand dann mit dem Bild und den Sticks aus dem Raum.
„Ich werde dann auch wieder gehen“, sagte ich und wollte mich in Bewegung setzten, doch mein Vater hielt mich mit einem „Nein, warte bitte“ auf.
„Ich würde gerne noch mit dir reden. Wenn du also nichts dringendes zu tun hast, geh doch bitte runter in den Gemeinschaftsraum. Ich muss noch kurz etwas mit Murphy besprechen, dann komme nach.“
Ich hatte es doch gewusst, dass er es nicht einfach gut sein lassen konnte und war kurz versucht ihm zu erklären, dass Zuhause noch Arbeit auf mich wartete, aber dann würde er in ein oder zwei Stunden sicher dort auftauchen. So oder so, um ein Gespräch kam ich nicht herum, darum zuckte ich einfach nur mit den Schultern und sagte. „Klar, ich warte unten.“
„Ich komme mit“, bot Tayfun an und da niemand Einspruch erhob, begleitete er mich nach unten in den Gemeinschaftsraum der Themis.
Er wartete, bis wir durch die Zentrale auf den Korridor getreten waren und er sicher war, dass weder mein Vater noch Murphy ihn hören konnten, bevor er erleichtert ausatmete. „Puh, ist ja besser gelaufen, als ich gedacht habe.“
Naja, noch stand mir ein Gespräch mit meinem Vater bevor und so wie ich Papa kannte, würde er Tayfun sicher auch noch mal zur Seite nehmen, um ihm zu erklären, was in seine Augen, Sicherheit für seine Töchter, bedeutete.
Ich fand es noch immer faszinierend, dass er nicht nur mich, sondern auch Kiara in seine kleine Ansprache miteinbezogen hatte. Es war wohl das erster Mal, dass er Kiara offiziell als seine Tochter bezeichnet hatte. Und wo wir schon mal beim Thema Papa waren: „Er hat dich also dazu angestiftet auf mich aufzupassen.“
Mit einem einnehmenden Lächeln, wie nur Tayfun es konnte, schob er sich an mir vorbei, um am Ende des Korridors als erstes die Treppe in Angriff zu nehmen. „Nein, ganz so extrem war das gar nicht. Ich habe mitbekommen was mit Cio … was während deiner Abwesenheit passiert ist und hab gesagt, dass ich mal bei dir vorbeischauen werde, weil du sicher einen Freund gebrauchen kannst. Da hat er nur gemeint, dass es sicher nicht schlecht wäre, wenn ich auch ein Auge auf dich habe. Wirklich“, fügte er noch hinzu, als er den Zweifel in meinem Gesicht bemerkte. „Wenn du mir nicht glaubst, frag ihn.“
Ich bezweifelte, ob er mir die Wahrheit sagen würde und eigentlich war es auch egal. Besser Tayfun als Gesellschaft, als mein Vater, der mir immer besorgte Blicke zuwarf, wenn er der Meinung war, dass ich nicht hinschaute. „Wäre er an meiner Stelle und wäre es Mama die verschwunden ist und nicht Cio, würde er es keine Minute hinnehmen, nicht in alle Einzelheiten eingeweiht zu sein. Aber von mir erwartet er, dass ich mich still in die Ecke setzte und einfach abwarte. Weil ich eine Frau bin. Und schwanger.“ Und unnütz.
Tayfun lief die letzten beiden Stufen runter und wartete dann, bis ich bei ihm war, bevor er wieder den Mund öffnete. „Tja, schade für ihn, dass du genauso bist wie er.“
Ich schnaubte. „Ich bin kein bisschen wie mein Vater.“
„Ach nein?“ Er grinste. „Das heißt, du nimmst es einfach hin nicht in alles eingeweiht zu sein und sitzt still in der Ecke?“
Nebeneinander liefen wir den lagen Korridor mir den Wohnquartieren der Themis hinunter. Nicht alle Mitglieder der Themis wohnten in der Stadt. Manche waren nur hin und wieder hier und bezogen dann für die Zeit ihres Aufenthalts ein Zimmer hier unten. Oder sie hießen Tayfun und wohnten dauerhaft hier unten.
„Nur weil ich nicht tatenlos herumsitzen will, heißt das noch lange nicht, dass ich wie er bin.“
„Du bist also nicht stur? Oder hingebungsvoll? Hilfsbereit. Loyal. Geduldig.Tapfer. “
Ich schnaubte. „Ich bin ganz sicher nicht tapfer.“
„Meinst du? Also ich finde schon.“
Wir bogen nach links ab.
„Wäre ich tapfer, hätte ich mich nicht monatelang vor Iesha versteckt, nur um am Ende die Stadt zu verlassen. Jemand der tapfer ist, lässt sich nicht in die Flucht schlagen.“
„Nur weil es Zeiten gibt, in denen wir unsere eigenen Wunden lecken müssen, heißt das noch lange nicht, dass wir nicht mutig sind“, berichtigte er mich. „Wenn es darauf ankommt, sitzt du nicht heulend in der Ecke und bemitleidest dich, oder machst andere für dein Elend verantwortlich.“
„Ich mache Iesha dafür verantwortlich.“
Nein, er lächelte nicht. „Weil sie verantwortlich ist, nicht weil du einen Schuldigen brauchst.“ Er hielt vor dem Gemeinschaftsraum und deutete mir vorzugehen.
Das Zimmer war sehr groß und erdigen Tönen gehalten. Im hinteren Bereich gab es eine Küchenzeile mit einem großen Tisch, an dem man gemütlich zusammensitzen konnte. Der vordere Raum wurde von drei verschiedenen Couchgarnituren eingenommen, die nicht zueinander passten. Es gab einen Fernseher der nie benutzt wurde, eine Dartscheibe in der noch ein paar Darts steckten und ein Haufen Poster zu allen möglichen Themen.
Ich setzte mich rechts an der Wand auf die grüne Couch. Wir saßen immer hier, ohne bestimmten Grund. Ich hatte auch schon mit Cio hier gesessen.
„Ich bin nicht mutig“, sagte Tayfun und ließ sich direkt neben mich plumpsen. Dabei fiel ein Kissen herunter, nach dem er sich dann bücken musste.
„Du arbeitest für die Themis.“
„Die brauchen mich nicht weil ich mutig bin, sondern weil ich es nicht bin.“ Er stopfte sich das Kissen in den Rücken und schaute mich dann an. „Ich hab mein ganzes Leben von anderen bestimmen lassen, weil ich Angst hatte … keine Ahnung wovor.“
Doch, er wusste es und ich wusste es auch, weil er es mir einmal gesagt hatte. Tayfun war süchtig nach Zuneigung und tat alles um diese zu bekommen, auch wenn die Leute die sie ihm früher gegeben hatten, nicht gut zu ihm gewesen waren.
„Lass dir einfach von einem Feigling sagen, dass du mutig bist und auch, dass ich dich dafür bewundere.“
Feigling? „Wie kommst du darauf, dass du ein Feigling bist?“
Er lächelte ein wenig schief. „Weil ich weiß wer ich bin. Es ist okay, ich lebe damit schon mein ganzes Leben und jetzt schau mich nicht so skeptisch an.“
Vielleicht sah er das wirklich so, aber in meinen Augen stimmte das nicht. Nachdem was er in seinem Leben bisher schon hatte erleiden müssen, stand er immer noch aufrecht. Ich war fast an der Sache mit Owen zerbrochen, Tayfun dagegen hatte sein halbes Leben unter der Herrschaft eines sadistischen Meisters verbracht, der sich an dem Schmerz und der Furcht eines Kindes geweidet hatte. Ich konnte mir wahrscheinlich nicht mal die Hälfte von den Dingen vorstellen, die er hatte über sich ergehen lassen müssen. „Du bist ein Überlebender.“
Das hatte ein verwirrtes „Was?“ zur Folge.
„Es ist vielleicht ein abgedroschener Spruch, aber was uns nicht umbringt, dass macht uns stärker. Du hast überlebt, damit bist du wohl einer der stärksten Leute die ich kenne. Und stark und mutig sind zwei Worte, die untrennbar miteinander verbunden sind.“
Er schaute mich, drehte dann mit einem Schnauben den Kopf weg und tippte sich nervös mit dem Finger aufs Bein. „Du hast keine Ahnung wovon du sprichst.“
„Warum glaubst du, dass du ein Feigling bist?“
Was auch immer der Grund dafür war, nach dieser Frage scheute er sich mich wieder anzuschauen. Er tippte immer wieder nervös mit dem Finger auf sein Bein und drückte die Lippen aufeinander, als wollte er sich selber daran hindern den Mund zu öffnen.
„Tayfun?“ Ich legte ihm eine Hand aufs Bein und damit auch auf den nervösen Finger.
„Ach es ist … egal, vergiss es einfach, nicht so wichtig.“
Es war geradezu erschreckend, wie plötzlich er sich vor mir zurückzuziehen schien. Nicht körperlich, eher so, als wäre ich ihm auf irgendeine Art zu nahe getreten und hätte damit eine Grenze überschritten – oder ich wäre kurz davor sie zu überschreiten.
Ich überlegte ob ich weiter in ihn drängen sollte, aber das würde nichts bringen, wenn er nicht reden wollte. Ich kannte diesen Zustand selber nur zu gut. Wenn ich ihn bedrängte, dann würde ich ihn nur in die Flucht schlagen und das wollte ich nicht. „Es ist wichtig und wenn du jemals mit mir darüber sprechen willst, dann bin ich da, okay?“
„Es ist wirklich nichts“, sagte er leise und hörte sich dabei irgendwie traurig an. „Außerdem hast du im Moment doch genug eigene Sorgen.“
„Das schon, aber …“ Ich stockte, als ich eine kleine Bewegung in meinem Bauch spürte. Der kleine Passagier war aufgewacht und forderte nun um Aufmerksamkeit.
Wäre Cio hier, würde er wahrscheinlich wieder seine Hände auf meinen Bauch legen und eine Unterhaltung mit dem kleinen Passagier anfangen. Cio freute sich so sehr auf dieses Baby und jetzt war er nicht hier. Was wenn ich ihn wirklich niemals finden würde? Wenn unser Baby niemals seinen Vater kennenlernen würde? „Wolltest du je Kinder haben?“
Sein Blick richtete sich auf meinen Bauch. „Nein.“
„Warum? Magst du keine Kinder?“
„Doch, aber nachdem was ich alles durch habe … ich wäre kein guter Vater.“
Wäre ich eine gute Mutter? „Was mache ich, wenn wir Cio nicht finden?“
„Ich … ich weiß nicht.“
Ein Klopfen am Türrahmen ließ und beide aufblicken.
Eine rothaarige Lykanerin mit einer langen Narbe an der Kehle lächelte uns an. Sie sah aus wie Ende dreißig und trug einen Sari, obwohl sie eindeutig Europäerin war. Ich hatte sie hier schon ein paar Mal gesehen, aber noch nie mit ihr gesprochen.
„Lavea“, begrüßte Tayfun sie. „Was gibt es?“
„Nichts. Ich hab nur gerade nichts zu tun und wollte mir was zu Essen holen. Ich störe doch nicht, oder?“
Tayfun runzelte zwar die Stirn, schüttelte aber den Kopf.
„Super.“ Sie kam in den Raum, aber anstatt sich zur Küche zu begeben, kam sie zur Couch und setzte sich neben mich. „Hey, ich bin Lavea.“
„Ähm … hi.“ Als sie mir ihre Hand hinhielt, schüttelte ich sie.
„Du bist Ryders Tochter, oder? Ich hab euch hier schon ein paar Mal zusammen gesehen.“
Ryder war der Deckname von Papa. Alle Themis arbeiteten mit Decknamen. Lavea war wahrscheinlich auch nicht ihr richtiger Name.
„Ja, er ist mein Vater.“
„Rayder ist ja ein toller Kerl. Mein Vater war so … ach, besser fange ich von dem gar nicht erst an.“ Sie winkte ab und lächelte liebenswert. „Aber das kann hier manchmal auch ein echt harter Job sein.“
„Wahrscheinlich“, bemerkte ich, weil ich das Gefühl hatte, sie erwartete eine Erwiderung und warf Tayfun einen fragenden Blick zu, doch der behielt die Frau wachsam im Auge.
„Manchmal ist es besonders für die Angehörigen schwer. Kommst du denn damit klar?“
Okay, das fand ich langsam seltsam. „Ich bekomme davon nicht so viel mit. Papa trennt seine Arbeit vom Privatleben.“
„Das ist wohl auch besser so. Wir haben in unserem Leben ja auch so schon immer …“
„Sag mal Lavea, was wird das hier?“, mischte Tayfun sich ein.
Mit dem scharfen Blick, den sie ihm daraufhin zuwarf, konnte man Beton schneiden, doch das nette Lächeln blieb auf ihren Lippen. „Was meinst du? Ich unterhalte mich nur. Kommunikation ist in der heutigen Welt alles.“
„Ich habe eher das Gefühl, du versuchst sie in eine Gespräch zu verwickeln, um sie dann zu diagnostizieren.“
„Diagnostizieren?“ Nun war ich verwirrt. „Was meinst du damit?“
„Lavea ist gelernte Psychologin. Normalerweise kümmert sie sich um die befreiten Sklaven.“
Was?
Als ich mich verwundert zu ihr umdrehte, erwiderte sie meinen Blick einen Moment, seufzte dann aber ergeben.
„Das ist eigentlich nicht meine Art, aber dein Vater macht sich Sorgen um dich und hat mich gebeten einmal mit dir ins Gespräch zu kommen.“
„Mein Vater hat … was?!“ Das letzte Wort war ein Knurren, aber ich konnte es nicht fassen. Papa hatte eine Psychologin auf mich angesetzt? „Das ist nicht ihr Ernst.“
„Doch und nachdem was ich alles gehört habe, ist es vielleicht gar nicht so verkehrt, wenn du mal jemanden zum Reden hast.“
„Oh“, machte ich und erhob mich von der Couch. „Ich werde Reden und zwar sofort.“ Ohne auf sie oder Tayfun zu achten, schob ich mich an ihnen vorbei und marschierte aus dem Raum. Sorge hin der her, mir einen Psychoklempter unterzujubeln ging zu weit, egal ob er mein Vater war oder nicht.
Hinter mir hörte ich Tayfun nach mir rufen, doch ich beachtete ihn genauso wenig wie Themis, an denen ich auf meinem Weg nach oben vorbei kam. Es war mir egal, dass er mir hinterher lief, ich kochte vor Wut und hatte wirklich große Lust meinem Vater den Kopf abzureißen.
In der Zentrale hatte sich in den letzten zwanzig Minuten nicht geändert, außer das Murphy und mein Vater nicht mehr länger in dem kleinen Besprechungsraum waren, sondern in der Hauptzentrale an einem Computer. Murphy saß auf einem Stuhl. Mein Vater stand neben ihm und zeigte ihm etwas auf dem Bildschirm.
Mit den Worten „Du hast nicht wirklich versucht mir einen Seelendoktor unterzujubeln, oder?!“ stürmte ich in den Raum. Wobei die Frage sich eigentlich erübrigte, da er genau das getan hatte.
Nicht nur mein Vater, alle Anwesenden drehte sich zu mir herum und schauten neugierig dabei zu, wie ich mich vor Papa aufbaute.
„Glaubst du wirklich ich sei verrückt und brauche eine ärztliche Behandlung?“
„Das eine hat mir dem anderen nichts zu tun“, erwiderte er ruhig. „Und ja, ich glaube dass du Hilfe brauchst.“
„Das ist doch …“ Da fehlten mir glatt die Worte. „Das hast ganz sicher nicht du zu entscheiden und schon gar nicht auf eine so hinterlistige Art!“
„Hast du in den letzten Tagen mal in den Spiegel geschaut?“, hielt er sofort dagegen. „Du stehst kurz vor einem Zusammenbruch, weigerst dich aber dir helfen zu lassen.“
„Ich brauche keine Hilfe, Cio braucht Hilfe und du hast nicht das recht sowas zu machen!“
Von meinem Geschrei ließ er sich nicht beeindrucken. „Es ist mir egal, ob du mir dieses Recht einräumst, du brauchst Hilfe und das nicht erst seit gestern. Bisher habe ich mich zurückgehalten, weil Cio wenigstens noch ein bisschen auf dich eingehen konnte, aber jetzt ist er weg und das gibt dir den Rest. Ich sage es in aller Deutlichkeit, du hättest dich schon vor Monaten in Behandlung begeben sollen, besonders nachdem was du in der Heilanstalt gesagt hast.“
Dieser letzte Teil war wie ein Schlag mitten ins Gesicht. „Das geht dich nichts an.“
„Zaira.“ Er streckte die Hand nach mir aus, doch ich zuckte so heftig davor zurück, dass ich mit dem Rücken gegen Tayfun stieß. Papas Lippen wurden schmaler. „Ich will dir nichts Böses und du solltest mit jemanden darüber reden.“
„Cio weiß es.“ Ich funkelte ihn an und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, welches Gewicht dieses Thema für mich hatte. „Tayfun weiß es. Nur weil ich nicht mir dir darüber gesprochen habe, heißt das noch lange nicht, dass ich mich niemand anderem anvertraut habe!“
Papas Blick huschte kurz zu Tayfun und er schien für einen kurzen Moment wirklich betroffen, weil ich einem Freund und nicht ihm mein Herz ausgeschüttet hatte. Aber er war mein Vater und er konnte doch nicht wirklich erwarten, dass ich mit diesem Thema zu ihm kam.
„Halt dich in Zukunft da raus, ich habe das im Griff und es geht dich nichts an.“
Sein Blick schien mich zu durchbohren. „Du hast im Moment gar nichts im Griff.“
Das so vor den Kopf geknallt zu bekommen, riss mir fast den Boden unter den Füßen weg. Ich spürte wie meine Augen zu brennen begannen und war mich nicht sicher ob aus Wut oder Kummer. Ich wusste nur, dass ich ihn anschreien wollte, damit er den Mund hielt. Stattdessen drückte ich die Lippen aufeinander und wandte den Blick ab. Das musste er mir nicht sagen, das wusste ich auch ohne seine sogenannte Hilfe.
„Schatz“; begann Papa.
Mit einem „Ich hab was!“ stürmte Future die Zentrale und holte mich damit aus dem Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. „Ich habe eine Adresse in … huch, 'tschuldigung.“ Sie hatte es so eilig zu Murphy zu kommen, dass sie nicht nur einen Kollegen fast über den Haufen rannte, sondern noch einen Stuhl umriss, den sie eilig wieder aufstellte. In der nächsten Sekunde war sie schon bei Murphy und klatschte vor ihm ein Blatt Papier auf den Schreibtisch. „Das Elternhaus von Großwächter Hardy.“
Ieshas Vater? Sie meinte doch nicht …
„Wie kommst du auf die Adresse?“, wollte Murphy wissen.
Nach einen kurzen Blick auf mich, beugte auch mein Vater sich interessiert über den Papierausdruck.
„Auf dem Stick mit den Fotos waren drei versteckte Ordner mit weiteren Bildern. Aber nicht von Elicio, sonder von Iesha selber. Auf einem steht sie an einem kaputten Fenster. Ich hab das Bild vergrößert und ein Straßenschild entdeckt. Und nach einem kurzen Check habe ich herausgefunden, dass dort früher die Eltern von Großwächter Hardy Walker gewohnt haben. Das Haus ist schon vor einer Ewigkeit halb abgebrannt und bisher hat sich noch niemand die Mühe gemacht sich um die Ruine zu kümmern.“
„Und jetzt ist sie da?“, fragte Murphy, während er sich schon vom Stuhl erhob und nebenbei sein Handy aus der Tasche kramte.
„Keine Ahnung, aber sie war zumindest da.“
„Okay, ich gebe den Wächtern Bescheid, Ryder, sammel ein paar Leute zusammen, du hast fünf Minuten.“
Papa nickte und wandte sich zu mir um.
„Wage es nicht mir zu sagen, dass ich hierbleiben soll.“
So wie er mich anschaute, hatte er genau das vorgehabt, aber das konnte er vergessen. Future hatte mir gerade eine Chance aufgezeigt, Cio zu finden und ich würde nicht artig hier sitzen und Däumchen drehen, während andere meine Schlachten schlugen. Nicht in diesem Fall.
°°°
„Du wartest im Wagen“, ordnete Papa, mit der strengsten Stimme die er aufbringen konnte, an. „Ich will nicht, dass du … hey! Ich hab gesagt, du sollst im Wagen bleiben!“
Noch während er das sagte, öffnete ich die Wagentür und stieg aus.
„Verdammt, Zaira!“
Ohne ihn zu beachten, versuchte ich mir schnell ein Bild von der Situation zu machen. Die Straße war voll. Von den Themis waren gerade drei Wagen eingetroffen, aus denen links und rechts Vampire und Lykaner herauspurzelten und sich selber versuchten einen Überblick zu verschaffen.
Die Straße in einem der Randbezirke von Silenda selber war weitgehend gesperrt. Ein halbes Dutzend Wagen der Wächter standen herum und mindestens doppelt so viele Wächter liefen zwischen ihnen umher, wobei ein Teil im wechselseitigem Verkehr immer wieder das große Haus auf der anderen Straßenseite verließ, oder betrat.
Mit dem doch recht großen Garten drumherum, war es sich einmal ein sehr schönes Einfamilienhaus gewesen, doch nun war der Zaun zum Teil umgerissen, oder nicht mehr vorhanden, der Garten verwildert und das Haus selber eine ausgebrannte Ruine. Ein Großteil des Daches fehlte, genau wie die Seitliche Wand. Intakte Fenster gab es keine mehr, dafür aber jede Menge verkohltes Mauerwerk und abgebranntes Holz.
Der Geruch nach Asche und Rauch war nicht mehr vorhanden, was nur bedeuteten konnte, dass dieser Brand schon mehrere Jahre zurückliegen musste. Leider vermisste ich auch die Witterung von Cio und Iesha, was mir gar nicht gefiel. Aber das musste nicht viel bedeuten, sie konnten trotzdem darin sein.
Klar und die ganzen Wächter die hier seit bestimmt einer halben Stunde aus und ein gingen hatten sie bisher nicht bemerkt, weil sie glaubten sie wären ein Teil der Einrichtung.
Ich biss die Zähne zusammen. Okay, dann waren sie eben nicht hier, aber es könnte Hinweise geben, irgendwas das uns weiterhalf.
Als Papa mit großen Schritten um den Wagen herum kam, um mich vermutlich auch mit Gewallt zurück in den Wagen zu stopfen, lief ich eilig zu Murphy hinüber, der mit Tayfun bei einem Wächter stand und sich über den Stand der Dinge informieren ließ. Doch erst als ich bei den drei Männern ankam, wurde mir klar, dass der Wächter Cios Partner Vincent war.
Er stockte mitten im Satz, als er sie sah. „Zaira …“
Ich hielt ihn mir einem Kopfschütteln auf. „Sag mir nur dass er hier ist.“
Das konnte er nicht. Stattdessen ließ er mich nur sein Bedauern spüren. „Wir haben in dem Gebäude niemanden gefunden, aber wir sind sicher dass er hier gewesen ist.“
Mir richteten sich die kleinen Härchen auf den Armen auf. „Was sagst du da?“
„Im Haus gibt es noch einen intakten Raum. Er war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Darin haben wir das gefunden.“ Erst als er die Hand hob, bemerkte ich den Klarsichtbeutel. Darin steckte ein Stück schwarzen Wollstoffs.
„Oh mein Gott“, sagte ich und riss ihm die Tüte aus der Hand. Das war Cios Wollmütze, die die ich ihm gekauft hatte. Ich hätte sie unter tausenden erkannt.
„Außerdem riecht es in dem ganzen Raum nach ihm.“
Meine Finger verkrampften sich um das Plastik. Er war hier gewesen. Er war wirklich hier gewesen. „Er war hier“, flüsterte ich, dann machte ich einfach auf dem Absatz kehrt und rannte quer über die Straße auf das Haus zu.
Vincent und Tayfun riefen nach mir, aber davon ließ ich mich nicht aufhalten. Ich musste es mit eigenen Augen sehen und … keine Ahnung, aber er war hier gewesen. Oh Gott, Cio war in diesem Haus gewesen, aber jetzt … jetzt war er es nicht mehr.
Ich hörte wie sie mir hinterher rannten, aber niemand hielt mich auf. Selbst der Wächter an der Tür schaute nur ein wenig irritiert, als ich an ihm vorbei in das halb abgebrannte Haus rannte, tat aber nichts um mich aufzuhalten. Doch sobald ich über die Schwelle getreten war, musste ich meine Schritte verlangsamen. Der Boden hier war, rußgeschwärzt und brüchig. Die Flammen die hier gewütet haben mussten, hatten sogar die Tapeten von den Wänden gefressen. Eine halb verbrannte Kommode lag unter einem gesprungenen Spielgel und in der Luft lag ein Hauch von Cio.
Ich hörte weder auf den Ruf meines Vaters, noch achtete ich auf die Wächter in dem ausgebrannten Korridor. Ich filterte Cios Geruch aus der Luft und folgte ihm eilig in den hinteren Teil des Hauses, wo eine Treppe in die Tiefe führte. Wieder ein Keller, Iesha schien dafür eine Vorliebe zu entwickeln.
Auf den Stufen nach unten musste ich aufpassen. Die Treppe schien in einem wesentlich besserem Zustand zu sein, als der Rest des Hauses, doch sie war verdreckt und knarrte bei jedem Schritt und ich wollte nicht riskieren zu stürzen.
Unten erwartete mich ein kurzer Korridor, von dem insgesamt drei Türen abgingen, die alle mehr oder weniger noch intakt waren. Auch wenn das Löschwasser dem Haus den Rest gegeben hatte, die Flammen schienen nicht bis hier unten vorgedrungen zu sein.
Die Türen waren alle offen und gut ein Dutzend Wächter trieben sich hier unten herum.
Ich folgte meiner Nase, die mich zur am Weitesten entfernten Tür führte und je weiter ich kam, desto stärker wurde der Geruch nach Cio. Direkt an der Türschwelle musste ich einmal tief durchatmen, bevor ich es wagte in den Raum dahinter zu treten und mit einem Mal wurde ich von seinem Geruch überschwemmt.
Genau wie in dem Keller auf der Farm, gab es hier nicht viel zu sehen. Der Boden war mit blauer Auslegwarte ausgelegt. In der Ecke gab es eine alte Matratze auf der ein Schlafsack lag. Ein paar Kisten dienten als provisorischer Tisch mit Hocker und an der Wand waren mehrere Bretter und Ziegelsteine zu einem Regel aufgetürmt worden. Die Fächer jedoch waren leer.
Als ich weiter in den Raum trat, entdeckte ich den massiven Stahlring über der Matratze, genau wie Cios Geruch, der von dort ausging.
Dort hatte sie ihn gefangen gehalten. Auf der Matratze hatte er gelegen, festgebunden wie ein Tier.
Ich starrte den Schlafsack darauf an, nahm den vertrauten Geruch wahr und mir wurde klar, Cio war nicht nur hier gewesen, wir mussten ihn ganz knapp verpasst haben. Die Witterung war nicht frisch, aber älter als fünf oder sechs Tage konnte sie auch nicht sein.
Als jemand neben mich trat, wusste ich sofort, dass es mein Vater war. „Er war hier gewesen“, sagte ich leise und versuchte mich nicht vorzustellen, wie er festgebunden wie ein Tier auf dieser Matratze gelegen hatte. Es klappte nicht. „Sie hat ihn hier festgehalten.“
„Kein Blut.“
Einen kurzen Moment fragte ich mich, was er mir damit sagen wollte und als ich es dann verstand, hätte mich eigentlich Erleichterung überkommen müssen, aber dem war nicht so.
Hätte sie Cio geblutet, ob nun wegen dem Unfall, oder weil Iesha ihn verletzt hatte, dann wären auf der Matratze und auf dem Schlafsack Flecken zurückgeblieben. Blutflecken ließen sich nicht so einfach entfernen. Doch nur weil hier kein Blut zu sehen war, hieß das noch lange nicht, dass es ihm gut ging, es bedeutete einfach nur, dass er keine blutenden Wunden gehabt hatte. „Sie hat ihn seit zwölf Tagen.“
„Wir werden ihn finden.“
Aber wann? Morgen? Nächste Woche? In einem Monat? Niemals? Papa hatte es mir doch selber gesagt, je länger eine Person verschwunden war, desto schwieriger wurde es sie wieder aufzuspüren. Ich wusste das Iesha Cio niemals ernsthaft schaden würde, nicht wenn er tat was sie wollte, aber was würde sie tun, wenn er sich ihr widersetzte?
Ich wollte stark bleiben und mich nicht unterkriegen lassen, aber langsam begann ich wirklich zu verzweifeln. Wenn ich ihn nun wirklich nicht fand, was sollte ich dann tun? Wo verdammt noch mal hatte sie ihn hingebracht? Dass sie hier gewesen waren zeigte doch, dass sie immer noch in der Nähe waren. Oder war das hier nur ein kurzer Zwischenstopp gewesen, bis sie ihn richtig wegbringen konnte?
Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass sie vielleicht gar nicht mehr in Silenda und Umgebung waren. Sie könnte mir ihm genauso gut bereits das Land verlassen haben. Die Ailuranthropen hatten meine Mutter sogar auf einen anderen Kontinent schaffen wollen. Was würde Iesha davon abhalten nicht genau das gleiche mit Cio zu machen, wenn sie ihn so ganz für sich allein hätte? „Nichts“, beantwortete ich meine eigene Frage.
Da Papa meine Gedanken nicht kannte, konnte er mit dem Wort nichts anfangen, aber ich spürte seinen Blick auf mir.
„Sie könnte ihn überall hingebracht haben.“ Dass er mir nicht widersprach, war fast noch schlimmer, als zu wissen, dass Cio hier gelegen und auf Rettung gewartet hatte. Aber es war niemand gekommen. Wenn ich in Gefahr war, war er immer sofort zur Stelle, aber ich? Ich stand nun hier und musste mir eingestehen, dass ich versagt hatte. Ich war zu spät gekommen.
Als ich das Gewicht meines Versagens auf mir lasten spüren, schlang ich die Arme um mich selber. Der Schmerz der mir mein Herz zerriss, kam so plötzlich, dass ich am Liebsten geschrien hätte. Doch da waren nur diese verdammten Tränen, die niemanden halfen und sich trotzdem nicht aufhalten lassen wollten. Ich stand da, heulte und es brachte rein gar nichts.
Papa trat wortlos näher und wollte mich in der Arm nehmen, aber ich wich vor ihm zurück. Das wollte ich nicht, das hatte ich nicht verdient. Es sollte nur endlich aufhören.
„Zaira …“
Ich schüttelte den Kopf und wandte mich ab. Diesen Ort zu sehen, zu erfahren wie es Cio hier ergangen war … ich konnte das nicht. Ich konnte nicht machtlos hier herumstehen, das würde ich nicht verkraften.
Cio hatte mir gesagt, ich besaß Zähne und Krallen, Tayfun hatte mir gesagt ich sei mutig und tapfer. Doch nun wo ich feige den Raum verließ und über die alten Holztreppe wieder nach oben ging, wurde mir deutlich vor Augen geführt, dass sie beide Unrecht hatten. Ich war weder das eine noch das andere, ich war einfach nur nutzlos und wusste nicht wie ich damit fertig werden sollte. Dabei ging es hier nicht mal um mich. Cio war der Leidtragende und ich war es die rumheulte, weil das Leben so ungerecht war, doch ich konnte nicht damit aufhören.
Als ich die Treppe hinter mir ließ, warfen ein paar der Wächter mir Blicke zu, aber sie ließen mich ziehen. Keiner hielt mich auf meinem Weg nach draußen auf. Nicht mal Papa war mir gefolgt. Erst als ich draußen war und vor lauter Tränen kaum noch etwas sehen konnte, brachte eine vorsichtige Berührung am Arm mich zu sehen. Ich musste nicht aufblicken um zu wissen, dass es Tayfun war.
„Komm“, sagte er und griff vorsichtig nach meinem Ellenbogen. „Ich bring dich nach Hause.“
Ich wehrte mich nicht, als er mich zu einem der Wagen von den Themis schaffte und mich auf den Beifahrersitz setzte. Dass ich das einfach mit mir machen ließ, sagte wohl mehr über meinen Zustand aus, als ich mir bisher hatte eingestehen wollen.
„Warte hier. Ich hol nur kurz die Wagenschlüssel und sage deinem Vater Bescheid.“ Er warf die Wagentür zu und ließ mich allein.
Allein. Ich fühlt mich völlig allein. Ich wusste nicht warum, aber irgendwie war es viel schlimmer zu wissen, dass er hier gewesen war und ich ihn nicht hatte rechtzeitig retten können, als noch immer planlos herumzuirren.
Er war hier gewesen. Sie hatte ihn in dieses ausgebrannten Haus ihrer Großeltern im Keller an die Wand gebunden Ich hatte die ganze Zeit gedacht, das sie ihn … keine Ahnung, in ein Zimmer gesperrt hätte, aber liegend auf einer altem Matratze festgekettet … selbst Cio musste sich in einer solchen Lage hilflos und ausgeliefert fühlen.
Eigentlich hätte mir klar sein müssen, dass sie ihn fesselte, um ihn in seiner Bewegungsfreiheit einzuschränken. Anders könnte sie es gar nicht schaffen ihn zu kontrollieren. Aber wenn seine Hände festgebunden waren, dann konnte er gar nichts tun. Nichts essen, nichts trinken, er könnte nicht mal aufs Klo gehen.
„Oh Gott.“ Ich kniff die Augen zusammen, als mir mit einem schlag die ganze Tragweite meiner Gedanken klar wurde. Cio war ihr nicht nur ausgeliefert, er war auf sie angewiesen. Sie musste ihn füttern und … anfassen. Selbst wenn sie ihn nur mit einem Lappen wusch, sie wäre ihm näher, als er es ihr jemals freiwillig erlauben würde.
Und wenn er ihr ausgeliefert war, dann konnte sie wirklich alles mit ihm machen. Würde sie das tun? Würde sie so weit gehen, auch wenn er das nicht wollte? Würde sie seine Wünsche respektieren, oder einfach nur das tun, was sie selber wollte?
Ich konnte das nicht, ich konnte nicht darüber nachdenken. Was wenn ihm etwas ähnliches widerfuhr wie mir? Ja, er war ein Mann, aber das bedeutete gar nichts, wenn die einen die durchgeknallte Exfreundin entführt hatte.
Hätte ich die Graffitis nur früher erkannt. Ich hatte die Fotos bereits bevor wir zum Gracia-Rudel gebracht wurden und hatte den Hinweis trotzdem erst fast zwei Wochen nach seiner Entführung entdeckt. Wenn ich es schon vor einer Woche gemerkt hätte, dann hätten wir ihn aus diesem Haus geholt, aber nun war er wieder weg und ich hatte keine Ahnung mehr wo ich noch suchen sollte.
Als Tayfun in den Wagen stieg, lief mir noch eine letzte Träne über die Wange. Ich fühlte mich einfach nur noch erschöpft, leer, alleine.
„Dein Vater weiß Bescheid dass ich dich nach Hause bringe. Er wird später noch mal vorbei kommen und dir erzählen, wenn sie hier noch etwas finden. Bis dahin leiste ich dir ein wenig Gesellschaft.“
Finden. Was sollten sie hier schon noch finden? Iesha hatte sicher keine Nachsendeadresse für uns hinterlassen, oder eine Einladung um Tee am Sonntag. Genau wie auf der Farm hatte sie wahrscheinlich überhaupt nichts hinterlassen, was in irgendeiner Weise hilfreich wäre. Nur weiterer kranker Kram, bei dem sich ein der Magen umdrehte.
„Du musst dich anschnallen, Zaira.“
Ich tat es, weil er es wollte, nicht weil ich besonderen Wert darauf legte. Es war doch sowieso alle sinnlos. Ohne Cio war nichts mehr so wie es einmal war. Ohne Cio konnte ich nie wieder sein, wie ich einmal war und das wo wir uns doch gerade erst wieder ein wenig angenähert hatten.
Bei diesem Gedanken fühlte ich mich gleich noch viel hohler.
Während Tayfun den Motor anließ und den Wagen ausparkte, sah ich nicht mal mehr die Wächter auf der Straße. Ich wusste sie waren da, genau wie die Themis, doch mein Blick und meine Gedanken waren ins Nichts gerichtet. Ich hatte das Gefühl es sei einfach alles weg und nichts und niemand würde daran jemals wieder etwas ändern können.
Tayfun fuhr nicht sehr schnell und ich konnte während der ganzen Fahrt immer mal wieder seine Blicke auf mir spüren, aber er sagte nichts. Nicht weil er nicht wüsste was er sagen sollte, eher so, als wollte er mir Zeit und Raum für meine Gedanken geben. Er musste einfach spüren, dass sich nach diesem kurzen Besuch im Keller bei mir irgendwas geändert hatte. Dieser Raum da unten mit dem Metallring an der Wand, er hatte mir meine Kraft und meine Hoffnung gestohlen. Alles war irgendwie einfach weg. Und das wurde auch nicht besser, als wir bei mir Zuhause ankamen und er mich in meine Wohnung schob.
Das erste was ich sah, waren die ganzen Fotos und unterlagen, die über den Tisch, die Couch und den Boden verteilt waren. Selbst auf dem Bildschirm meines Rechners konnte ich Dateien über Iesha erkennen. Alles drehte sich nur noch im sie, denn sie hatte mir das Wichtigste in meinem Leben genommen.
„Ich kann es wegräumen, wenn du möchtest“, bot Tayfun an, als er meinen Blick bemerkte.
Ich schüttelte nur den Kopf, legte meinen Mantel ab und ging in unser kleines Schlafzimmer, in dem wir eigentlich niemals schliefen. Alles war anders und doch sah alles genau wie immer aus. Das ungemachte Bett, meine Kisten die sich an der Wand stapelten. Cios Uniform von den Wächtern.
Langsam trat ich vor den Anzug und strich mit der Hand über den strapazierfähigen Stoff. Er roch noch nach Cio.
Ich wusste noch genau wie stolz er gewesen war, als er ihn das erste Mal angezogen hatte. Durch seine abgeschlossene Ausbildung als Umbra, hatte er bei den Wächtern nur einen Crashkurs belegen müssen, um anschließend zu der Abschlussprüfung zugelassen zu werden. Er war unter den besten drei seiner Gruppe gewesen.
„Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben.“
Als ich die Hand wieder sinken ließ, machte ich mir nicht mal die Mühe Tayfun anzuschauen. „Er hat sich nicht mal verabschiedet“, sagte ich leise. „Als ich ihn das letzte Mal sah … wir waren im Bad und haben uns für unser Date fertig gemacht. Wir wollten eigentlich zusammen zum Restaurant fahren, aber da bekam er den Anruf vom Juwelier. Er wollte es nur kurz zu ihm und mich dann treffen. Dabei war er so aufgeregt, dass er gegangen ist, ohne sich zu verabschieden.“
„Das tut mir leid.“
Ich schlang meine Arme um mich selber. „Ich vermisse ihn so fürchterlich“, gestand ich und spürte wie mir wieder die Tränen in die Augen stiegen. „Ich habe solche Angst um ihn.“
Langsam, als wüsste er nicht, ob ich das gutheißen würde, trat er an mich heran und nahm mich in die Arme. Das war der Moment, in dem ich zusammen brach. Das letzte bisschen Kraft verließ mich und ich weinte. Ich weinte um mich, ich weinte um Cio und ich weinte um unser ungeborenes Baby. Ich weinte um das was wir verloren hatten und das was wir vielleicht niemals bekommen würden. Ich weinte bis mein ganzer Körper von meinen Schluchzen geschüttelt wurde und Tayfuns Arme das einzige waren, was mich noch zusammenhielt.
Wie hatte das alles so weit kommen können? Wo hatte ich den Fehler gemacht? Ab welchem Punkt war alles so fürchterlich schiefgelaufen?
Es war nichts falsch daran, dass ich mit Cio zusammengekommen war. Er war das Beste, was mir in meinem ganzen Leben widerfahren war und wenn die ich die Chance hätte, würde ich trotz aller Widrigkeiten alles daran setzen ihn wieder für mich zu gewinnen. Mittlerweile war ich sogar bereit für ihn gegen Iesha anzutreten.
Ja, ich scheute noch immer Konfrontationen und ja, sie machte mir noch immer Angst, aber noch viel beängstigender fand ich den Gedanken Cio für immer zu verlieren.
„Ich kann das nicht ohne ihn“, weinte ich und versuchte mein Schluchzen zu unterdrücken. „Ich darf ihn nicht verlieren.“
Mir sanften Fingern wischte Tayfun mir die Tränen von der Wange. „Es geht ihm sicher gut.“
Nein, es ging ihm nicht gut. Es konnte ihm gar nicht gut gehen, solange er in ihrer Gewalt war. „Was soll ich nur ohne ihn machen?“
„Du bist nicht allein.“ Als ich darauf nicht reagierte, legte er mir einen Finger unters Kinn und drückte mein Gesicht sanft nach oben, bis ich in dieser rauchgrauen Augen sah. „Ich werde dich nicht allein lassen, dass verspreche ich dir.“
In jedem anderen Moment hätte ich mich über diese Worte wohl gefreut und gelächelt, doch jetzt konnte ich nur daran denken, dass er nicht Cio war und seine Worte daher nichts bedeuteten. Nichts hatte ohne Cio noch eine Bedeutung. „Ich kann nicht allein sein.“
Sein Daumen strich vorsichtig über meine Wange. „Du bist nicht allein“, sagte er leise und noch bevor ich verstand was er da tat, beugte er sich vor und küsste mich.
°°°°°
Im ersten Moment war ich viel zu überrumpelt, um irgendetwas anderes zu tun, als vor Schreck zu erstarren während er seine Lippen gegen meine drängte. Es fühlte sich seltsam an und irgendwie war ich nicht in der Lage, mich aus meiner Erstarrung zu lösen und etwas dagegen zu tun. Ich konnte nur denken: Er küsst mich. Oh Gott, Tayfun küsst mich! Was soll ich nur tun?
Ich konnte gar nichts tun. Ich stand einfach nur entsetzt da, während mir klar wurde, dass Cio die ganze Zeit recht gehabt hatte. Ich hatte es nicht sehen wollen, einfach weil ich Tayfun mochte und ihn nicht als Freund verlieren wollte, aber nun konnte ich es nicht länger leugnen. Tayfun wollte für mich mehr sein als nur ein einfacher Freund. Seine Berührungen waren so zärtlich, dass es gar nicht anders sein konnte und auch wenn es kribbelte und irgendwie angenehm war, so fühlte es sich doch völlig falsch an.
Es dauerte einen Moment, bis Tayfun zu bemerken schien, dass ich nicht auf seine Annäherungsversuche reagierte. Er löste sich wieder von mir und egal was er dann in meinen Augen sah, es veranlasste ihn den Blick zu senken und mich freizugeben.
Als hätte mein Körper nur auf diesen Moment gewartet, stolperte ich sofort vor ihm zurück. Dabei stieß ich nicht nur schmerzhaft mit dem Oberschenkel gegen das Fußende des Bettes, ich fiel auch noch halb auf die Matratze. Währenddessen schaffte ich es nicht ihn aus den Augen zu lassen. Es war fast, als fürchtete ich mich vor dem was er noch tun könnte.
Tayfun erwiderte meinen Blick leicht gequält. „Zaira, ich …“
„Nein“, sagte ich und schüttelte den Kopf hektisch hin und her. Das hätte er nicht tun dürfen. Er wusste doch, dass es für nur Cio gab, also warum hatte er das überhaupt versucht? „Geh.“
Dieses kleine Wort schien ihn mehr vor den Kopf zu stoßen, als die Tatsache, dass ich auf seinen Kuss in keinster Weise reagiert hatte. Seine Hände ballten sich kurz, dann drehte er sich weg, als wollte er meiner Aufforderung nachkommen, nur um sich wieder zu mir zurück zu drehen. „Ich dachte du wolltest es.“
„Ich?“ Jetzt war ich auch noch selber schuld daran? „Wann habe ich jemals gesagt, dass du mich küssen sollst?“
„Nicht mit Worten, aber du hast … du bist …“ Er stockte und biss die Zähne zusammen. „Du hast mich nie weggeschickt, nicht mal wenn Cio wollte dass ich verschwinde.“
„Weil du mein Freund bist, aber doch nicht deswegen.“
„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Das stimmt nicht, da ist mehr. Du hast dich für mich gegen Cio gestellt. Er wollte diese Freundschaft nicht, aber das war dir egal. Du hast mir das mit Owen zuerst erzählt und die letzten Tage war ich der Einzige der bei dir bleiben durfte.“
Oh verdammt, das konnte er doch nicht ernst meinen. „Ich musste dir das mit Owen erzählen, weil du geglaubt hast, dass es Cio gewesen wäre.“
„Cio hat es ja nicht mal bemerkt“, hielt er sofort dagegen. „Der Mann hat praktisch den ganzen Tag mit dir verbracht und hatte trotzdem keine Ahnung was mit dir los war. Ich habe nicht mal einen Tag gebraucht und schon wusste ich was mit dir geschehen ist.“
„Das kannst du ihm nicht zum Vorwurf machen, er hat nicht die gleichen Erfahrungen wie du gemacht. Im Gegensatz zu uns beiden ist er nicht kaputt.“
„Wir sind nicht kaputt, wir sind … anders.“
Worüber zum Teufel diskutierten wir hier eigentlich?
„Außerdem, die ganze Zeit …“ Er suchte nach Worten. „Du kannst mir nicht erzählen, dass du nie etwas gemerkt hat. Selbst dein Vater hat mich einmal gefragt, was da zwischen uns läuft.“
Was? „Zwischen uns läuft gar nichts. Du bist nur ein Freund und da wird auch niemals mehr sein. Ich will dich nicht küssen, oder irgendwas anderes und die letzten Tage habe ich deine Gesellschaft genossen, weil du mich nicht wie die anderen behandelt hast und ständig versucht warst mich zu bevormunden und nicht weil da irgendwas zwischen uns wäre.“
Das verletzte ihn. Er hatte wirklich geglaubt, dass er mehr als nur ein Freund wäre. „Das stimmt nicht.“
„Doch, das stimmt. In meinem Leben gibt es nur einen Mann und das ist Cio, nicht du.“
Nach diesen Worten sah ich bei Tayfun zum ersten Mal eine ganz andere Seite. Nicht den lustigen Vampir oder das verletzliche Opfer, nein, da war ein Funke Wut. „Cio ist nicht hier.“
„Aber er wird wiederkommen.“
„Und wenn nicht? Was wenn wir ihn niemals wieder sehen? Was wenn er vielleicht sogar schon tot ist? Du kannst doch nicht den Rest deines Lebens auf ihn warten.“
Die Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht und einen Moment konnte ich nicht atmen. Tot? Das war etwas was ich noch nicht mal zu denken gewagt hatte. „Ich. Werde. Ihn. Finden.“
„Und wenn nicht?“
„Ich werde ihn finden!“, fauchte ich ihn an, weil ich es nicht länger ertrug das zu hören. Cio war nicht tot. Iesha liebte ihn und auch wenn es ihm nicht gut ging, er war am Leben und wartete nur darauf von mir nach Hause geholt zu werden.
„Nein, wirst du nicht“, sagte er mit einer Kälte in der Stimme, die mich frösteln ließ. „Iesha ist dir immer einen Schritt voraus. Sie spielt nur mit dir und amüsiert sich wahrscheinlich köstlich über deine Versuche Cio zu finden. Du musst ihn aufgeben, oder du wirst bei dem Versuch ihn zu finden alles verlieren. Deine Familie, dein Baby, dein Leben.“
Was war mein Leben ohne Cio schon wert? „Und was soll ich deiner Meinung nach sonst tun? Ihn einfach vergessen und mit dir bis an Ende meiner Tage glücklich sein?“
Sein Schweigen war mir Antwort genug.
„Cio ist mein Glück. Ohne ihn hat mein Leben keinen Sinn und einen anderen Mann will ich schon gar nicht.“
„Das ist doch dumm!“, fauchte er mich an. „Du darfst dich nicht von ihm abhängig machen, denn er wird nicht wiederkommen, versteh das doch endlich!“
„Das kannst du nicht wissen!“, schrie ich zurück und versuchte den Schmerz der mich bei diesem Gedanken überfiel zurückzudrängen. „Du hast keine Ahnung und will nichts mehr davon hören!“
„Warum? Weil ich das ausspreche, was sich sonst niemand traut? Er ist seit fast zwei Wochen spurlos verschwunden!“
„Wir haben heute etwas gefunden!“
„Nix haben wir gefunden, nur ein leeres Haus.“ Er machte einen unruhigen Schritt zur Seite und strich sich dabei nervös über den Mund. „Ich weiß dass es schwer zu akzeptieren ist, aber du musst nun einmal den Tatsachen ins Auge sehen. Je schneller du das tust, umso schneller wird es dir wieder besser gehen.“
„Ich werde es niemals akzeptieren“, sagte ich mit einem deutlichen Grollen in der Stimme.
Augenblicklich versteifte Tayfun sich ein wenig. Mir aggressiven Lykanern hatte er noch nie umgehen können, dafür war er von seiner Vergangenheit viel zu sehr geprägt. „Er hat dich nicht verdient, er weiß nicht mal was er an dir hat.“
„Du hast keine Ahnung wovon du da sprichst. Ich bin das wichtigste in seinem Leben.“
„Das Wichtigste?“ Er lachte scharf auf. „Letztes Jahr hat er dich wie Scheiße behandelt und dich fast betrogen. Sowas würde ich dir niemals antun.“
„Es war ein Missverständnis. Er bereut es und er hat sich entschuldigt.“
„Ein Missverständnis? Er ist völlig ausgerastet. Nimm doch verdammt noch mal die Scheuklappen ab, Cio ist nicht gut für dich.“
„Ach, aber du bist es, oder was?“
Als er mich mit seinem stechenden Blick fixierte, verdunkelten seine Augen sich, bis sie fast schwarz waren und einen Moment befürchtete ich, er wolle mich mit seinem Joch belegen, dem hypnotischen Blick eines Vampirs. Bei einem reinrassigen Lykaner oder einem richtigen Vampir funktionierte das nicht, aber ich war ein Misto und daher leider anfällig dafür. Doch es war nicht sein Wunsch mich zu manipulieren, es war der Ärger, der seinen Blick verdunkelte.
„Du hast keine Ahnung, was ich bereit wäre für dich zu tun“, sagte er leise. „Was ich schon für dich getan habe.“
Was war nur plötzlich in Tayfun gefahren? So kannte ich ihn überhaupt nicht, das war doch nicht normal für ihn. Und wenn ich ehrlich war, verunsicherte mich nicht nur das was er sagte, sondern sein ganzen Verhalten. Es war fast so als wünschte er sich dass Cio nie wieder kommen würde. „Es ist mir egal was du bereit wärst für mich zu tun. Du wirst für mich niemals mehr als ein Freund sein.“
„Ich bin jetzt schon mehr als ein Freund für dich, im Moment kannst du es dir noch nicht eingestehen, weil du glaubst du müsstest so handeln wie du es tust, aber das ist falsch. Du bist Cio zu nichts verpflichtet und …“
„Raus.“
„Nein, du wirst dir das jetzt anhören. Du …“
„Raus aus meiner Wohnung und komm nie wieder!“, schrie ich ihn aus vollem Halse und mit einer solchen Wut an, dass er vorsichtig vor mir zurückwich.
Er biss die Zähne zusammen und versuchte sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. „Zaira, ich will doch nur dein …“
„Du sollst verschwinden!“, fauchte ich und machte einen drohenden Schritt auf ihn zu. „Verschwinde aus meiner Wohnung und verschwinde aus meinem Leben!“
Sein Adamsapfel hüpfte einmal auf und ab und eine kurze Sekunde schien er nach Worten zu suchen, die mich besänftigen oder umstimmen konnten, doch dann wich er noch ein Stück zurück. „Okay“, sagte er dann und wich dabei meinem Blick aus, als könnte er es nicht länger ertragen mich anzuschauen. „Ich gehe, aber ich werde nicht aus deinem Leben verschwinden. Dafür bist du mir zu wichtig.“
„Geh endlich!“
Er drückte seine Lippen fest aufeinander und auch wenn ihm noch etwas auf der Zunge zu liegen schien, so wandte er sich nach einem letzten Blick auf mich ab und verschwand aus dem kleinen Schlafzimmer.
Ich lauschte voller Anspannung auf die Geräusche aus dem Nebenraum. Wie er seine Jacke nahm und zur Tür ging. Für einen Moment kehrte ruhe ein, so als zögerte er wirklich zu gehen, doch dann hörte ich wie er die Wohnung verließ und die Tür mit einem Klicken hinter ihm ins Schloss fiel.
Mich hielt nichts mehr auf meinem Platz. Ich stürmte so übereilt aus dem Schlafzimmer, dass ich mich erneut am Bett stieß, aber das war egal. Ich wollte nur die Tür erreichen und die drei Schlösser verriegeln. Aber selbst als ich die geschlossen hatte, fühlte ich mich nicht besser.
Was war hier gerade geschehen? Er hatte mich geküsst und dann … was? Sollte das eine Liebeserklärung gewesen sein? Und was hatte er sich überhaupt dabei gedacht? Ich hatte immer geglaubt Tayfun mochte Cio, aber nun hatte ich den Eindruck, er wünschte sich dass er weg blieb, um seinen Platz bei mir einnehmen zu können. Das war doch krank!
Cio war nicht tot und es war völlig egal, dass Iesha mir im Moment noch einen Schritt voraus war, denn ich würde ihn finden und wieder nach Hause bringen. An etwas anderes wollte ich gar nicht denken.
„Es geht ihm gut“, flüsterte ich und hatte auf einmal das Gefühl, dass diese Frau ein weiteres Mal etwas in meinem Leben zerstört hatte. Wäre Cio hier, wäre Tayfun sicher niemals auf so eine hirnverbrannte Idee gekommen. Sie machte alles kaputt. Selbst wenn sie nicht da war schaffte sie es mein Leben zu zerstören. Und auch jetzt war sie hier. Ich musste mich nur umschauen und schon sah ich ihr Gesicht.
Ich wollte sie nicht mehr sehen, ich wollte dass das alles verschwand und aufhörte, aber ich sah die ganzen Fotos und von jedem schien sie mich höhnisch anzustarren, als wollte sie mir noch einmal verdeutlichen, dass sie noch immer am längeren Hebel saß. Ich konnte das nicht mehr. Allein der Anblick ihrer Unterlagen reichte um mir das Atmen zu erschweren. Auf einmal wollte ich nichts mehr davon sehen.
Keine Ahnung wie, aber plötzlich stand ich am Tisch und wischte alles mit einem Schlag herunter, aber das reichte noch nicht. Ich wollte dass das alles verschwand. Ich wollte das alles wieder so wurde wie im letzten Jahr, als Cio und ich beim Sonnenuntergang auf diesem Steg gesessen hatten und er mir den Heiratsantrag gemacht hatte. Aber das ging nicht, denn sie ließ uns nicht in ruhe.
Plötzlich begannen all die Gefühle die sich in den letzten Monaten in mir aufgestaut hatten zu brodeln und zu kochen. Es war Schmerz und Verzweiflung, die mich nach dem Tisch treten und in all den Papieren wüten ließen. All der Kummer drohte mich zu überwältigen, als ich damit begann die Unterlagen zu zerreißen und durch die Gegend zu schmeißen. Nicht nur wegen Iesha, ich war auch wütend auf Cio. Er hätte vorsichtiger sein müssen. Warum hatte er nicht besser auf sich acht gegeben? Hätte er besser aufgepasst, wäre es niemals so weit gekommen. Nein, noch viel besser wäre gewesen, er hätte von Anfang an die Finger von dieser verrückten Schlampe gelassen.
Hätten Hardy und Victoria nur ein Kondom benutzt, oder entschieden, dass sie das Miststück abtrieben, bevor es so viel Unheil über die Welt bringen konnte. Es gab so viele Wege wie man die ganze Scheiße hätte verhindern können, aber nichts davon war eingetroffen und nun stand ich hier in den Scherben meines Lebens und schmiss mit Sachen um mich, weil ich mir einfach nicht mehr anders zu helfen wusste.
Es war mir egal, dass meine Lupe in die Vitrine krachte und dann in einem Scherbenhaufen zu Boden ging. Es interessiere mich nicht, dass der Schirm der Lampe zu Bruch ging, als sie umfiel und es war mir einerlei, dass der Couchtisch irgendwann mittendrin ein Bein einbüßte. Da war nur dieser verdammte Schmerz, den ich weinend und schreiend rauslassen musste, damit er mich nicht zerriss.
Als ich herumwirbelte und die Couch sah, auf der Cio und ich jede Nacht zusammen schliefen, wollte ich sie verbrennen, denn er war nicht hier. Seit zwei Wochen schlief ich dort allein.
Plötzlich hasste ich dieses Teil. Ich holte aus und trat dagegen – einmal, zweimal. Ich hob das Bein für einen dritten Tritt, doch durch den Schwung rutschte ich auf den ganzen Papieren aus. Im nächsten Moment krachte ich seitlich auf den Boden. Ich war gerade noch geistesgegenwärtig meine Arme um meinen Bauch zu schlingen, da spürte ich auch schon wie mein Kopf auf etwas Hartes aufschlug.
Ein Ozean aus Sternen explodierte hinter meinen Augen und ein plötzlicher Schmerz ließ alles einen Moment schwarz werden. Ich blinzelte, aber alles war irgendwie unscharf. Kurz fragte ich mich wie ich auf dem Boden gelandet war und warum mein Kopf so wehtat. Es dauerte einen Moment bis ich mich daran erinnerte und dann konnte ich auf einmal nur noch weinen. Ich konnte einfach nicht mehr, ich war am Ende. Ich lag da, weinte und wusste nicht was ich noch tun sollte. Wenn es doch nur endlich aufhören würde.
Leider funktionierte im Leben selten etwas so wie man sich das wünschte. Es gab keine guten Feen, die einem drei Wünsche erfüllten, wenn das Leben erstmal in Scherben lag, war es schwer wieder einen Weg hinaus zu finden und so lag ich einfach da und weinte. Ja selbst als die Tränen irgendwann versiegten, blieb ich einfach liegen, denn es machte keinen Unterschied.
Ich fühlte den Schmerz in meinem Kopf, ich fühlte den Schmerz in meinem Herzen und ich wusste es würde niemals wieder irgendwas in Ordnung kommen. Cio war weg und mit jedem weiteren Tag der ins Land zog wurde die Wahrscheinlichkeit geringer, dass ich ihn jemals wieder würde in die Arme nehmen können. Am Liebsten würde ich einfach einschlafen und nie wieder aufwachen, dann wäre all das endlich vorbei.
Dieses Schicksal war mir jedoch nicht vergönnt. Ich konnte nichts anderes tun als hier liegen und atmen. Zug um Zug, Herzschlag um Herzschlag. Immer weiter, ohne dass ein Ende in Sicht war.
Die Zeit stand still und verstrich in Zeitraffer. Alles wirkte so unwirklich, doch dann spürte ich etwas in meinem Bauch. Der kleine Passagier war wach geworden und machte sich bemerkbar. Ganz automatisch legte ich eine Hand darauf. Was machte ich hier eigentlich? Ich sollte nicht hier liegen und in meinem Kummer versinken. Ich durfte nicht aufgeben, denn selbst ohne Cio gab es noch jemanden, der mich brauchte.
Dieser Gedanke schmerzte und dennoch half er mir dabei mich langsam aufzusetzen. Dabei nahm der Schmerz in meinem Kopf zu und als ich vorsichtig nach der Beule tastete, stellte ich fest, dass Blut an meinen Fingerspitzen klebte. Ich hatte mir beim Sturz den Kopf an dem abgebrochenen Tischbein angestoßen. Wenn ich mich hier so umsah, konnte ich froh sein, dass nichts schlimmeres geschehen war. Überall lagen zerrissene Papiere, Trümmer und zerbrochenes Glas.
Ich sollte es aufräumen, aber im Moment schien ich nicht mal die Kraft zu haben aufzustehen. Was sollte ich denn jetzt tun?
Vielleicht war es eine Fügung des Schicksals, oder einfach nur Zufall, doch kaum dass ich mir diese Frage gestellt hatte, begann mein Handy zu klingeln. Es dauerte ein bisschen, bis ich es in meiner Jackentasche geortet hatte und noch länger, bis ich auf die Beine gekommen war und es an mich genommen hatte. Bis dahin war es schon längst wieder verstummt.
Ich ließ mich vorsichtig in Cios Sessel sinken und checkte das Display. Cayenne hatte angerufen. Da ich nicht wollte, dass sie sich Sorgen machte, setzte ich dazu an sie zurückzurufen, doch am Ende war es nicht ihre Nummer die ich wählte, sondern die meines Vaters. Es klingelte genau drei Mal, bevor ich seine Stimme hörte.
„Was ist los mein Schatz, alles in Ordnung?“
Das Ja lag mir schon auf der Zunge, doch es war ein Nein, dass mir über die Lippen kam. „Nichts ist in Ordnung.“ Ich spürte wie mir wieder die Tränen in die Augen stiegen. „Kannst du herkommen und mich abholen?“
„Was ist passiert?“ Mein Vater klang alarmiert.
Wo sollte ich da anfangen? „Ich will nicht allein sein“, flüsterte ich und wunderte mich selber darüber, wie hilflos ich in diesem Moment klang.
„Du bist allein?“ Im Hintergrund hörte ich ein paar Stimmen, die erst lauter und dann wieder leiser wurden. „Warum bist du allein? Tayfun sollte doch bei dir sein.“
„Ich wollte dass er geht.“
Vielleicht war es der Ton in dem ich das sagte, er fragte jedenfalls nicht näher nach. Stattdessen gab er nur ein „Ich bin auf dem Weg“ von sich. „Fünfzehn Minuten, dann bin ich bei dir.“
Ich schloss die Augen und spürte wie mir eine Träne über die Wange lief. „Danke.“
Es waren keine Fünfzehn Minuten, sondern nur zwölf, bis ich hörte wie sich jemand an meiner Tür zu schaffen machte. Einen kurzen, verrücken Moment glaubte ich Cio würde nach Hause kommen, aber dann fiel mir wieder ein, dass Papa ja einen Ersatzschlüssel für unsere Wohnung hatte und das Meer aus Kummer breitete sich wieder in all seiner Pracht vor mir aus.
Drei Schlösser klickten, dann schwang die Tür auf und mein Vater trat herein. Er warf nur einen Blick auf mich und das Wohnzimmer und aus seiner Besorgnis wurde Entsetzen. „Scheiße, Zaira.“ Er machte sich nicht mal die Mühe die Tür zu schließen, als er zu mir gestürzt kam. Er sah nur mich und das Blut an meinem Kopf und machte auf einmal den Eindruck jemanden fürchterlich wehtun zu wollen. „Was ist passiert?“
„Ich wollte … ich bin gestürzt und habe mir den Kopf angeschlagen.“
Vorsichtig beugte er sich über mich untersuchte die Wunde mit spitzen Fingern. „Nur eine kleine Platzwunde“, murmelte er und lief dann den Blick einmal durch den Raum schweifen. Dann hockte er sich vor mich. „Was war hier los?“
Ich wollte schon den Kopf schütteln, doch die kleinste Bewegung reichte schon aus, um das sofort zu bereuen. „Kann ich mit zu dir kommen?“ Ich wollte nicht mehr hier sein.
„Natürlich.“ Er musterte mich eingehen. „Sagst du mir was hier geschehen ist?“
Wo sollte ich da anfangen? „Cio ist nicht hier“, flüsterte ich und spürte wie mir wieder die Tränen in die Augen stiegen. „Ich kann nicht mehr.“
Papa gab ein Seufzen von sich, als hätte er damit bereits gerechnet und drückte vorsichtig meine Hand. „Okay. Als erstes kümmere ich mich um deinen Kopf. Dann packen wir ein paar Sachen zusammen und fahren zu mir, in Ordnung?“
Ich nickte vorsichtig. „Ja.“
„Ach Schatz, es wird schon wieder alles in Ordnung kommen.“
Das wünschte ich mir so sehr, doch langsam aber sicher bezweifelte ich das.
°°°
„In Ordnung, dann können Sie sich jetzt wieder anziehen.“ Frau Doktor med Sanchez erhob sich von ihrem Hocker und ging hinüber zu ihrem Schreibtisch, während meine Erzeugerin Cayenne weiter auf den Bildschirm des Ultraschaltgerätes schaute, als könnte sie das Ungeborene dort noch immer sehen.
Ich griff mir eine Handvoll Papiertücher und wischte mir das Gel vom Bauch. Dann setzte ich mich auf und begann damit mein Hemd wieder zuzuknöpfen.
„Ich muss ihnen leider mitteilen, dass ich mit den Ergebnissen ihrer heutigen Untersuchung absolut nicht zufrieden bin“, erklärte meine Ärztin mir und kritzelte dabei ein paar Werte in meinen Mutterpass.
Tja, damit hätte ich eigentlich rechnen müssen.
„Sie haben Vitamin- und Nährstoffmangel. Heute scheinen sie sich allgemein in keinem guten Zustand zu befinden.“ Sie schaute von dem Mutterpass auf und nahm mich ins Visier. „Ich würde darauf tippen, dass sie zu wenig essen und unter großem Stress stehen.“
Stress? Fast hätte ich gelacht.
Cayenne schaute von mir zu der Ärztin. „Ihr Gefährte wurde entführt.“
Keine Ahnung ob es die Direktheit meiner Erzeugerin war, oder die Aussage an sich – wahrscheinlich beides – aber Doktor Sanchez sagte erstmal gar nichts dazu. Sie saß nur da und erwiderte Cayennes Blick einen ganze Weile, als glaubte sie, dass sei ein schlechter Scherz. Schließlich sagte sie schlicht: „Verstehe.“
Da ich mir schon gedacht hatte, dass das irgendwie zur Sprache kommen würde, regte ich mich nicht mal darüber auf. Wahrscheinlich hatte Papa Cayenne sogar dazu angestiftet, das Ganze zum Thema zu machen und sich von der Ärztin Rat zu holen, denn Mittlerweile war Cio seit fünfzehn Tagen verschwunden und mir ging es immer schlechter. Seit meinem Zusammenbruch vor drei Tagen funktionierte ich eigentlich nur noch auf Autopilot und auch wenn Papa nichts sagte, er machte sie fürchterliche Sorgen um mich.
„Das ist natürlich eine äußerst schwierige Situation und ich kann wahrscheinlich gar nicht nachfühlen wie es ihnen im Moment geht, aber trotz allem müssen sie weiterhin an ihr Baby denken.“
Tja, wenn das nur so einfach wäre, wie sie es klingen ließ.
„Haben sie denn jemanden der für sie da ist und sich um sie kümmert?“
„Ja.“ Jede Menge Jemande sogar. „Ich wohne gerade bei meinem Vater.“ Mama war genau wie die andern noch immer irgendwo in Schutzhaft, aber gestern hatte Diego mir bei seinem Besuch erzählt, dass man am überlegen war alle wieder nach Hause zu schicken. Das bedeutete, dass man Iesha nicht mehr als ganz so großes Risiko einstufte und das war nicht gut. Wahrscheinlich lauerte sie nur darauf, damit sie wieder zuschlagen konnte.
„Das ist gut.“ Sie musterte mich. „Darf ich fragen wann sie sich das letzte mal genährt haben? Sie haben mir erzählt, dass sie das nur bei ihrem Gefährten tun.“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe keinen Hunger.“
„Cio ist vor zwei Wochen verschwunden“, half Cayenne aus.
Nein, nicht zwei Wochen, fünfzehn Tage. Manche mögen das vielleicht kleinlich finden, aber für mich war mittlerweile jeder Tag ohne Cio eine Qual.
„Das ist nicht gut“, murmelte meine Ärztin. „Ihre schlechten Werte kommen auch daher, dass ihnen Blut fehlt. Sie müssen sich nähren und zwar dringend.“
Nähren? Wie bitte sollte ich das denn machen? „Ich habe keinen Hunger.“
„Sie hat sich auch schon eine ganze Weile nicht mehr verwandelt“, fügte Cayenne noch hinzu. „Normalerweise muss sie das alle zwei Tage machen.“
Sie hatte recht. Warum war mir das bisher nicht aufgefallen? Wenn ich keine Zeit oder Muße hatte laufen zu gehen, dann verwandelte ich mich normalerweise vor dem Duschen oder nach dem Aufstehen für eine halbe Stunde, weil die Verwandlung sonst einfach über mich kommen würde, aber seit Cio weg war, war ich nicht einmal zum Wolf geworden. Nicht mal in stressigen Situationen, wo ich eigentlich immer dazu neigte.
„Das gefällt mir nicht“, sagte meine Ärztin und fixierte mich mit einem strengen Blick. „Ich möchte dass sie einen Termin im Krankenhaus machen und auch dass sie sich umgehend nähren. Dass sie kein Hunger verspüren, obwohl sie schon so lange kein Blut mehr zu sich genommen haben, ist kein gutes Zeichen und sie gefährden damit nicht nur sich selber, sondern auch ihr Baby.“
Das wusste ich selber. „Ich kann von niemand anderem trinken.“ Das hatte ich ihr doch schon beim letzten Mal erklärt. Meine Fänge fuhren ohne Cio nicht aus.
„Im Krankenhaus haben sie Mittel und Wege ihnen auch dabei zu helfen.“
Ja, einen Schlauch, der direkt von der Ader eines Wirts in den Magen eines Vampirs führte.
„Frau Steele, es ist sehr wichtig dass sie das tun.“
„Ich werde für sie einen Termin machen“, bestimmte Cayenne. „Und auch dafür sorgen, dass sie ihn wahrnimmt.“
„Gut.“ Sie wandte sich wieder ihrem Schreibtisch zu und zog eine Visitenkarte aus ihren Unterlagen, auf deren Rückseite sie etwas schrieb. „Wenn es Probleme gibt, rufen sie mich umgehend an. Ich habe auch meine private Nummer aufgeschrieben.“ Sie erhob sich, doch statt mir übergab sie die Karte an Cayenne. „Sie können mich Tag und Nacht anrufen.“
Dankend nahm Cayenne die Karte entgegen.
„Ich werde ihnen auch noch eine Broschüre für Beratungsstellen mitgeben. Vielleicht sollten sich auch mal dort vorstellig werden. Manchmal hilft das.“
Das bezweifelte ich doch stark, doch da ich im Moment nicht gefragt war, hielt ich einfach den Mund und ließ die beiden machen. Sie würden das sowieso über meinen Kopf hinweg entscheiden. Die letzten Tage hatten das alle getan und wenn ich ehrlich war, war es mir egal.
Als ich mich mit Tayfun gestritten hatte … irgendwas in mir war dabei zu Bruch gegangen. Nicht wegen dem was er getan hatte, sondern wegen seinen Worten. Ich bekam diesen einen Satz nicht mehr aus dem Kopf. Was wenn Cio schon tot war?
Ich glaubte nicht wirklich daran, aber da war auf einmal diese Angst, die mich und all meine Gedanken lähmte.
Vielleicht war es im Moment gar nicht schlecht, wenn andere für mich das Ruder übernahmen. Ich selber hatte schließlich nichts auf die Reihe bekommen. Darum ließ ich die beiden Frauen die Situation diskutieren und schloss mich Cayenne einfach an, als sie sich verabschiedete und die Praxis verließ.
Leider war mein Martyrium damit noch nicht beendet, denn draußen im Wartezimmer saßen Papa und Sydney und mein Vater ließ sich von Cayenne haarklein berichten, was Doktor Sanchez gesagt hatte. Besonders die Sache mit dem Blut machte ihnen Sorgen und so wunderte ich mich gar nicht, dass mein Vater bereits das Krankenhaus am Handy hatte, noch bevor wir die Praxis verlassen hatten.
Einen Termin für mich gab es jedoch erst am Nachmittag und das auch nur, weil Cayenne es in die Hand nahm, sonst hätte ich frühstens in einer Woche einen bekommen. In manchen Momenten zahlte es sich eben doch aus früher einmal Alpha des Rudels gewesen zu sein.
Auf dem Parkplatz verabschiedeten Papa und ich uns von Cayenne. Meine Erzeugerin hatte noch einen Termin und Papa wollte mich schnellstmöglich wieder nach Hause bringen. Allerdings mussten wir vorher noch mal ins HQ der Themis. Es war zwar abgeklärt, dass mein Vater in den nächsten Tagen nicht aktiv am Dienst teilnehmen würde, aber auch bei den Themis fiel ein Haufen Papierkram an und den konnte er auch von Zuhause aus erledigen.
Papa nahm nicht den normalen Eingang zum Hof, sondern die Hintertür, wo die Themis sogar einen kleinen Parkplatz für sich hatten. Hier hatten vielleicht zehn Autos platz, aber meistens wurde er eh nicht voll.
„Möchtest du hier draußen warten oder mit reinkommen?“, fragte er, als er den Wagen in die Parklücke fuhr, die dem Hintereingang am nächsten war.
„Ich warte“, sagte ich leise. Mein Blick war durch das Seitenfenster gerichtet, aber wirklich sehen tat ich nichts.
„Okay, ich beeil mich auch.“ Er stellte den Motor ab und schnallte sich los. „Was hältst du davon, wenn wir anschließend was einkaufen und ich dann etwas schönes koche?“
„Wenn du möchtest.“
Er setzte dazu an etwas zu sagen, doch dann nahm er nur meine Hand und drückte sie leicht. „Bin gleich wieder da“, versprach und stieg dann aus.
Ich beobachtete ihn, wie er zur Hintertür ging. Direkt an der Hauswand standen genau wie vorne am Eingang mehrere Bänke, die trotz des kalten Wetters gut besetzt waren. Im Gebäude war rauchen nicht gestattet und so mussten ein paar Hartgesottene auch diesem Wetter trotzen.
Mein Vater begrüßte seine Kollegen im Vorbeigehen, verschwand dann aber direkt im Gebäude, ohne noch für einen kleinen Plausch stehen zu bleiben und das lag sicher nicht am Wetter. Er wollte mich nicht solange aus den Augen lassen, nicht nachdem was beim letzten Mal passiert war.
Die Wunde an meinem Kopf hatte er geheilt, aber in meiner Wohnung sah mal noch immer die Spuren meines Zusammenbruchs. Wir hatten nicht aufgeräumt, denn ich hatte nur so schnell wie möglich dort raus gewollt und im Moment hatte ich einfach nicht die Kraft wieder dorthin zurückzukehren. Es war ein Fehler gewesen ohne Cio in der Wohnung zu sein, genauso wie es ein Fehler gewesen war, mit zum Haus von Ieshas Großeltern zu fahren.
Die Themis und die Wächter hatten das ganze Gebäude vom Dach bis zum Keller gründlich untersucht. Ja sie hatten selbst die Sockelleisten abgesucht in der Hoffnung dort einen weiteren Hinweis zu finden, doch alles was ihnen in die Hände gefallen war, waren ein paar Sachen, die Iesha bei ihrem Aufbruch zurückgelassen hatte. Nichts von Bedeutung, genau wie auf der Farm.
Als Papa mir das erzählte, hatte ich mich einfach nur taub gefühlt und seit dem wollte dieses Gefühl nicht mehr weichen. Seit drei Tagen tat ich praktisch nichts anderes mehr als auf der Couch zu sitzen und ins Leere zu starren. Es erschien mir einfach alles so sinnlos.
Die Leute auf der Bank lachten über irgendwas. Bis auf einen waren sie mir alle unbekannt und diesen einen kannte ich nur vom Sehen.
Cio hatte auch mal überlegt den Themis beizutreten, hatte es dann aber doch nicht getan, weil er mich nicht alleine lassen wollte. Wäre es anders gekommen, wenn er es doch getan hätte?
Es war müßig sich was-wäre-wenn-Fragen zu stellen, denn egal wie es in einer alternativen Welt hätte laufen können, es änderte nichts an der Realität. Die blieb wie sie war, egal wie sehr man sich das Gegenteil wünschte.
Seufzend verschränkte ich die Arme vor der Brust. Papa hatte den Motor ausgeschaltet und langsam wurde die Wärme hier drinnen von der Kälte vertrieben. Ob ich den Wagen einfach wieder anstellen sollte? Ich war noch mit den Pro und Kontras dieser Frage beschäftigt, als die Hintertür des Gebäudes aufschwang. Doch es war nicht Papa der dort heraus kam, sondern der dem ich im Moment am allerwenigsten begegnen wollte: Tayfun.
Er hatte sich zwar einen Schal um den Hals gebunden trug aber keine Jacke, so als hatte er eigentlich gar nicht vorgehabt heraus zu kommen, doch als er sich nun suchend auf dem Parkplatz umschaute, musste ich nicht lange raten um herauszufinden nach wem er Ausschau hielt.
Da hier draußen nur drei Autos standen und Tayfun den Wagen meines Vaters kannte, brauchte er nur einen Moment um ihn zu finden. Wahrscheinlich wusste er von Papa dass ich hier draußen war, nur leider war mir nach unserem letzten Treffen nicht sehr nach einem Gespräch mit ihm. Das war wohl auch der Grund, warum ich mich verspannte, als er zum Auto kam und an die Fensterscheibe klopfte.
Ich schaute demonstrativ in die andere Richtig. Als er dann noch mal mit den Knöcheln gegen das Glas schlug, verriegelte ich sogar den Wagen, damit er nicht auf die Idee kam einfach einzusteigen. Das war vielleicht kindisch, aber im Moment hatte ich absolut keinen Nerv für eine Begegnung mit ihm. Ich wollte einfach nur das er mich in Ruhe ließ und wieder verschwand.
Leider hatte er anderes im Sinn, wie ich feststellte, als mein Handy mir eine eingehende Nachricht ankündigte. Ich griff danach, einfach um beschäftigt zu wirken, bereute es aber, sobald ich sah, dass sie von Tayfun war.
Es tut mir leid, bitte lass uns reden.
Ich schnaubte nur und ließ das Handy in meinen Schoß sinken. Ich wollte nicht mit ihm reden. Ich wollte ihn nicht einmal sehen, aber das schien ihn nicht zu interessieren, denn gleich darauf klingelte mein Handy wieder. Ich ignorierte es, doch Tayfun schien der festen Überzeugung zu sein die Sache aus der Welt zu schaffen, denn es klingelte wieder. Doch erst beim dritten Piepen gab ich nach und warf wieder einen Blick auf mein Display.
Das letzte was ich wollte war dich zu verletzen.
Ich hab es falsch verstanden und war dann einfach gefrustet.
Es wird nicht wieder passieren, dass verspreche ich dir.
Noch während ich die drei Nachrichten las, ging noch eine weitere ein.
Ich will dich deswegen nicht verlieren. Ich hab nicht viele Freunde und du bist mir wichtig. Bitte sprich mit mir.
Verdammt. Ich wollte nicht, aber dann machte ich den Fehler einen Blick aus dem Seitenfenster zu werfen und ihn zitternd vor dem Wagen zu sehen.
Er schenkte mir ein vorsichtiges Lächeln, wodurch ich seinen Reißzahn sah und mich wieder daran erinnerte, wie er den anderen verloren hatte. Er hatte mich angerufen und tagelang bei uns gewohnt. Nicht nur weil er wenig Freunde hatte, sondern weil er sich bei uns sicher gefühlt hatte. Iesha hatte auch ihm übel mitgespielt.
Wahrscheinlich würde ich es bereuen, aber ich rang mich dennoch dazu durch den Wagen wieder zu entriegeln und meine Tür zu öffnen. Dann schaute ich ihn einfach nur abwartend an. Er hatte sich zwar schon entschuldigt, aber er war es, der die Sache wieder in Ordnung bringen wollte. Das Problem dabei war wohl, dass er selber nicht genau wusste, wie er das zwischen uns wieder in Ordnung bringen sollte.
„Es tut mir leid“, begann er und verlagerte sein Gewicht unruhig von einem Bein auf das andere. „Das was ich gesagt habe und auch … der Kuss.“
Ich schaute ihn nur stumm an, zum Teil weil ich ihm nicht so einfach verzeihen konnte, aber zum Teil auch weil ich nicht wusste was ich sagen sollte. Die Dinge die er über Cio gesagt hatte … darüber konnte ich nicht so einfach hinweg sehen.
„Ich werde es nie wieder tun und bitte… sag Cio nichts davon.“
Es verschweigen? „Ich habe vor Cio keine Geheimnisse.“ Ich hatte eines gehabt und man hatte je gesehen, was dabei herausgekommen war. Sowas wollte ich nicht noch einmal durchmachen.
„Er wird mich in der Luft zerreißen.“
„Nein wird er nicht, wenn ich ihn darum bitte.“
Tayfuns Lippen wurden ein wenig schmaler. Das war absolut nicht das was er hören wollte. „Wenn du es ihm sagst, wird er eine Freundschaft zwischen uns nicht länger akzeptieren.“
Nein, das würde er nicht. Es war ja jetzt schon schwer für ihn, aber wenn er ein Beweis bekam, dass er die ganze Zeit recht hatte, dann würde er Tayfun anknurren, sobald er nur in meine Nähe kam. Aber das war eigentlich völlig egal. „Kann es den zwischen uns überhaupt noch eine Freundschaft geben?“, fragte ich ihn ganz direkt.
„Ich habe mich doch entschuldigt.“
„Das habe ich nicht gefragt.“
Tayfun wandte das Gesicht ab, aber ich sah den Kummer darin trotzdem. „Ich wollte einfach nur … ich dachte.“ Er drückte die Lippen aufeinander. „Weißt du was? Egal. Vergiss es einfach.“ Als er sich von mir abwandte, zog er die Schultern hoch und das hatte sicher nichts mit der Kälte zu tun.
„Tayfun“, rief ich ihm hinterher und als er nicht reagierte, sondern weiter auf den Hintereingang zuging, stieg ich sogar aus. „Tayfun, warte.“
Das tat er nicht. Er ging an den seinen Kollegen vorbei und verschwand eilig im Gebäude.
Wahrscheinlich hätte ich ihm hinterherlaufen sollen, denn es war offensichtlich, dass ich ihn verletzt hatte, aber wenn ich ehrlich war wusste ich nicht was das bringen sollte. Ich hatte nie verstanden, dass ich Tayfun so wichtig war, aber jetzt … ich war mir nicht sicher wie ich damit umgehen sollte.
Seufzend lehnte ich mich mit dem Rücken an den Wagen uns starrte ins Leere. Eigentlich hatte ich im Moment doch schon genug Probleme, auch ohne dass er mir noch ein schlechtes Gewissen machte. Ich wollte ihn doch nicht vor den Kopf stoßen, aber nachdem was er getan hatte, konnte ich nicht einfach so tun als wenn da nichts wäre, so war ich einfach nicht. Wobei es wohl die Dinge waren die er gesagt hatte, die ich ihm einfach nicht verzeihen konnte.
Ich begann gerade mich zu fragen wo mein Vater blieb, als mein Handy erneut eine Nachricht ankündigte.
In der Annahme sie sei wieder von Tayfun, hob ich das Handy und war einen Moment verwundert. Die Nummer war mir nicht nur unbekannt, es war auch keine Textnachricht, sondern ein Video. Mit einem Mal überkam mich ein sehr ungutes Gefühl. Die letzte unbekannte Nummer auf diesem Handy war von Iesha gewesen, genau wie das letzte Foto, dass man mir geschickt hatte.
Sowohl Hoffnung als auch Furcht machten sich in mir breit, als ich das Video auf mein Handy lud. Es konnte nicht sehr lang sein, trotzdem dauerte es fast eine Minute, bis es fertig war. Das Standbild verriet nicht viel von dem was auf mich zukommen würde, es ließ nur ein Stück Stoff erkennen.
Wahrscheinlich hätte ich die Datei nicht allein öffnen sollen, aber ich konnte gar nicht anders als die Aufnahme zu starten und schon die ersten drei Sekunden reichten aus, damit mir eiskalt wurde. Es war nur das Summen einer Melodie zu hören, doch die Stimme gehörte eindeutig Iesha.
Meine Hände krampften sich um das Handy, als das Bild in Bewegung geriet. Es glitt über einen blauen Stoff, eine Decke.
„So erschöpft, mein armer Liebling“, hörte ich Iesha sagen.
Ein Stück nackter Haut geriet ins Bild, doch es dauerte einen Moment, bis ich kapierte, dass es ein Knie war.
„Er schläft wie ein Murmeltier.“
Langsam kam ein muskulöser Oberschenkel in Sicht. Eine Hüfte, bei der der Schritt nur notdürftig mir der blauen Decke verdeckt war.
Ich schlug entsetzt die Hand vor den Mund, als die Kamera immer höher wanderte. Erst der Bauch, dann die Brust. Ich musste das schlafende Gesicht nicht sehen um zu wissen, dass das Cio war. Cio, der splitternackt in ihrem Bett lag. Die Augen waren geschlossen, seine Brust hob und senkte sich in einem ruhigen Rhythmus.
„Cause all of me“, begann Iesha im Hintergrund zu singen. „Loves all of you. Love your curves and all your edges, all your perfect imperfections.“
Das Bild bewegte sich, als würde Iesha ihre Position verändern und dann musste ich zusehen, wie sie eine Hand nach ihm ausstreckte und ihm damit zärtlich über die Brust strich.
„Give your all to me, i'll give my all to you. You're my end and my beginning, even when I lose I'm winning.“
Cio schlief einfach weiter. Er seufzte leise, regte sich aber ansonsten nicht.
Als die Kamera wieder bewegt wurde, kam Iesha mit ins Bild. Sie lächelte in die Kamera und wirkte dabei glücklich, zeigte aber mehr als mir lieb war. Sie hatte sich ein Laken bis unter die Achseln gezogen, aber es war deutlich, dass auch sie darunter nichts trug.
„Cause I give you all, all of me, and you give me all, all of you.“ Mit leuchtenden Augen beugte sie sich vor und gab Cio einen Kuss mitten auf den Mund. Dann schaute sie direkt in die Kamera. „Er gehört mir“, erklärte sie triumphierend. „Du bist nichts gegen mich und das hier soll dir auf Ewig in Erinnerung bleiben.“
Das Bild zoomte heran, bis nur noch Cios Kopf zu sehen war, dann war die Aufnahme zu Ende.
Einen Moment stand ich einfach nur voller Entsetzen da und wusste nicht was ich denken sollte. Plötzlich zuckte ein stechender Schmerz durch meinen Unterleib. Es tat so weh, dass ich einen spitzen Schrei ausstieß und reflexartig die Arme um meinen Bauch schlang. Das Handy fiel zu Boden .
Ich versuchte gegen den Schmerz anzuatmen und auf den Beinen zu bleiben, aber mit einem Mal wurde er so heftig, dass ich einfach in die Knie ging und mich zusammenkauerte, um es ein wenig erträglicher zu machen. Verdammt, was war denn jetzt los?
Als mein Bauch sich zusammenkrampfte, gab ich ein Wimmern von mir und kniff die Augen zusammen.
„Hey, alles okay bei dir?“
Oh Gott, was waren das bloß für Schmerzen? Ich hatte das Gefühl, mein ganzer Unterleib würde sich immer wieder krampfhaft zusammen ziehen.
„Hey, Missy.“ Eine Hand berührte mich an der Schulter. Sie gehörte zu einer Vampirin. „Was ist los?“
„Weiß nicht.“ Ich spannte mich an, als dieser entsetzliche Schmerz mich ein weiteres Mal heimsuchte. „Ich bin schwanger“, brachte ich unter zusammengepressten Zähnen heraus.
„Oh Scheiße.“
„Ich rufe einen Krankenwagen.“
„Geht Ryder holen, dass ist seine Tochter.“
„Ganz ruhig“, sagte die Frau. „Versuch langsam und kontrolliert zu atmen.“
Mit einem Mal bekam ich fürchterliche Angst um mein Baby. Ich war ein Misto und bei uns kam es nicht selten vor, dass wir die Kinder verloren. „Nein, bitte nicht.“
„Atme einfach.“
„Der Krankenwagen ist unterwegs.“
Doch bevor der Krankenwagen auch nur die Chance hatte einzutreffen, war mein Vater da, kreideweiß und mit Sorge im Gesicht. Genau wie die anderen versuchte er beruhigend auf mich einzureden, während eine Schmerzwelle nach der anderen über mir zusammen brach.
Es tat so fürchterlich weh, dass ich begann zu weinen und die Angst zu Panik wurde. Ich wollte mein Baby nicht verlieren.
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„Sie haben noch einmal Glück gehabt.“ Meine Ärztin Doktor Sanchez stand an meinem Krankenhausbett und sah mir ernst an. „Aber sie können so nicht weitermachen. Ihr Baby ist ein Kampfer, aber es hätte nicht viel gefehlt und sie hätten es verloren.“
Meine Hände krallten sich in die weiße Bettdecke.
Es war Stunden her, dass sie mich ins Krankenhaus gebracht hatten. Stunden in denen ich immer wieder geweint hatte. Nicht wegen des Schmerzes, sondern aus Angst vor dem Unbekannten.
Man hatte mir Medikamente gegen den Schmerz und zur Beruhigung gegeben. Jetzt fühlte sich alles irgendwie taub an. Nicht nur mein Körper, auch mein Herz.
„Ab sofort müssen sie Bettruhe halten und Stress vermeiden, sonst kann ich für nichts mehr garantieren.“
„Ich werde dafür sorgen, dass sie sich ausruht“, versprach mein Vater. Er war mir die ganze Zeit nicht einmal von der Seite gewichen und auch jetzt griff er wieder nach meiner Hand. „Sowas wird nicht noch einmal passieren.“
Doktor Sanchez nickte. „Ich verstehe dass die Situation für sie nicht ganz einfach ist, aber im Moment müssen sie an ihr Kind denken. Sie sind erst in der zwanzigsten Schwangerschaftswoche. Wenn wir das Kleine jetzt schon auf die Welt holen müssten, würden seine Überlebenschancen gegen Null tendieren. Verstehen sie das?“
Ja, ich verstand. Wenn ich wollte das mein Baby überlebte, musste ich die Suche nach Cio aufgeben.
Cio.
Meine Augen begannen wieder zu brennen.
Was hatte dieses Video zu bedeuten? Warum hatte er zusammen mit Iesha nackt in einem Bett gelegen? Das wonach es aussah, konnte nicht der Wahrheit entsprechen. Er würde mir das nicht antun und er würde sie nicht so nahe an sich heranlassen – nicht freiwillig. Hatte sie ihn dazu gezwungen, oder war das einfach nur eine krankhafte Scharade von Iesha? Es war auf jeden Fall nicht das was ich glauben sollte.
„Frau Steele, verstehen sie was ich sage?“
„Ja.“ Ich räusperte mich. „Ich habe es verstanden.“
Ihr Blick wurde mitfühlend. „Es tut mir leid dass sie das durchmachen müssen, aber sie müssen sich zurücknehmen, so ist es das Beste.“
Für mich vielleicht, aber nicht für Cio.
Eine Träne rollte über meine Wange.
„Und wie geht es jetzt weiter?“, wollte mein Vater wissen. Er wirkte müde und mindesten zehn Jahre älter als noch heute morgen. Er hatte vorhin sogar kurz mit meiner Mutter telefoniert, obwohl das eigentlich strengstens verboten war. Aber er hatte das gebraucht, denn es hatte nicht nur das Leben meines Babys auf dem Spiel gestanden.
„Wir werden sie zwei oder drei Tage zur Beobachtung hier behalten. Dadurch dass sie zum Teil ein Vampir ist, sind auch ihre Regenerationsfähigkeiten verbessert, sodass es ihr bald wieder gut gehen müsste. Das ist aber kein Freifahrtschein.“ Sie sah mich streng an. „Wenn sie das Krankenhaus verlassen, ist weiterhin Ruhe angesagt, damit es nicht noch einmal zu einem solchen Vorfall kommen kann. Lassen sie es sich gut gehen und vermeiden sie nach Möglichkeit jeden Stress, dann sollte es keine Probleme mehr geben.“
Ich nickte.
„In Ordnung.“ Sie drückte mir die Schulter und wandte sich dann an meinen Vater. „Wenn sie einen Moment haben, dann würde ich gerne unter vier Augen mit ihnen sprechen.“
Statt sofort zuzustimmen, beugte er sich mir leicht entgegen. „Kommst du solange klar?“
Wieder schaffte ich es nur zu nicken. Es machte keinen Unterschied ob er hier war oder nicht, denn im Moment versank meine Welt in Finsternis. Nicht nur wegen der Angst die ich empfand, vor meinem geistigen Auge spielten sich immer wieder die Aufnahmen vom Handy ab und Ieshas Stimme hörte in meinem Kopf einfach nicht auf zu singen.
Du bist mein Ende und mein Anfang, selbst wenn ich verliere, gewinne ich. Ich biss die Zähne zusammen.
„Okay. Ich bin gleich vor der Tür.“ Papa erweckte nicht wirklich den Anschein mich alleine lassen zu wollen und doch folgte er meiner Ärztin nach draußen, während ich Iesha in meinen Gedanken immer und immer wieder dieses Lied singen hörte. Ich sah wie sie ihn berührte und küsste und hätte am liebsten geschrien. Sie hatte mir gesagt, dass es mir auf Ewig in Erinnerung bleiben würde und wie es aussah, sollte sie recht behalten.
Wenn ich nur verstehen könnte, was ich dort wirklich gesehen hatte, aber dazu müsste ich mir die Aufnahme noch einmal anschauen und ich hatte keine Ahnung wo im Moment mein Handy war. Wahrscheinlich hatte Papa es oder es lag noch im Hof. Ich hatte bisher auch noch niemanden etwas von dem Video gesagt.
Was würde es bringen? Man konnte die Nummer sicher wieder nicht zurückverfolgen und das was dort zu sehen war, ich wusste nicht ob ich das jemand zeigen wollte. Das war so … persönlich. Nicht nur weil Cio dort nackt und hilflos …
Meine Gedanken machten jäh eine Vollbremsung. In der Aufnahme hatte Cio auf dem Rücken geschlafen. Cio schlief niemals auf dem Rücken, er schlief immer auf der Seite und selten mal auf dem Bauch. In vier Jahren Beziehung hatte er keine Nacht auf dem Rücken verbracht. Aber in dem Video hatte er es gemacht, ganz eindeutig.
Außer … was wenn er gar nicht geschlafen hatte, sondern bewusstlos gewesen war? Hatte Iesha ihm Drogen gegeben, oder ihm etwas ins Essen gemischt? Ich brauchte mein Handy. Sofort.
Ich griff neben mich und wollte mich aufrichten, stoppte jedoch mitten in der Bewegung. Was würde es bringen, wenn ich mir die Aufnahme jetzt noch einmal anschaute? Ob ich nun recht hatte oder nicht, es würde nichts ändern und mich nur wieder stressen. Es gab nichts was diese Situation für mich erträglicher machen könnte. Ich konnte nichts tun und wenn ich es doch versuchte, würde ich nur das Leben vom kleinen Passagier in Gefahr bringen.
Ich war machtlos, zum Nichtstun verdammt und der Situation völlig ausgeliefert.
In meinem Kopf hörte ich Ieshas höhnisches Lachen und dann begann sie wieder zu singen.
Cause all of me, loves all of you.
Ich kniff die Augen zu und versuchte ihre Stimme auszusperren, doch es wurde nur schlimmer. Endlich wurde es mir klar, sie hatte Cio und ich konnte absolut nichts dagegen tun.
Die erste Träne kam noch zögerlich, genau wie die zweite, doch als mein Vater fünf Minuten später wieder in den Raum kam, weinte ich so bitterlich, dass ich nicht glaube jemals wieder damit aufhören zu können. Mit diesem Video hatte Iesha mich zu einer Entscheidung gezwungen. Entweder meinen Baby, oder Cio.
Es war keine wirkliche Wahl, denn auch Cio würde von mir nur eines erwarten: Ich musste den kleinen Passagier schützen. So würde ich unser Baby retten, doch den Mann den ich liebte musste ich aufgeben. Nein, nicht aufgeben, aber ich durfte mich nicht länger an der Suche nach ihm beteiligen. Ich konnte hoffen und warten, doch das fühlte sich an, als würde ich ihn im Stich lassen.
°°°
Zärtlich strich ich mit dem Finger die Konturen seiner Wangenknochen nach. Wie ein düsterer Schatten lauerten dunkle Ringe unter den Halbmonden seiner Wimpern. Trotz der Tatsache, dass er schlief, wirkte er nicht entspannt. Eher im Gegenteil. Er wirkte unruhig. Sein Mund war zu fest aufeinander gedrückt und angespannt, als würde er selbst im Schlaf keine Ruhe finden. Seine Haut war zu blass und hinter den Lidern bewegte sich unentwegt das Auge, als würde er selbst in seinen Träumen versuchen zu entkommen. Ihn so zu sehen, tat mir in der Seele weh. Wo bist du nur?
Als das Bild heranszoomte, stoppte ich das Video. Ich wollte Iesha weder sehen noch hören.
Es waren jetzt vier Tage vergangen, seit ich dieses Video das erste Mal gesehen hatte und mittlerweile waren mir mehrere Dinge klar geworden. Ich hatte mich getäuscht. Ich hatte geglaubt, dass Iesha Cio nichts antun würde, aber dieses kurze Video bewies mir, dass ich falsch lag.
Dass Cio nicht glücklich war, bei ihr zu sein, war mir klar, doch er wirkte nicht nur unglücklich, er wirkte geradezu gequält. Auch die Tatsache, dass er nackt neben ihr schlief, während sie wach war, passte absolut nicht zu ihm.
Wenn ich neben ihm lag, durfte ich mich nicht bewegen, weil er in den meisten Fällen sofort aufwachen würde. Iesha aber bewegte sich nicht nur neben ihm, sie sprach auch nicht gerade leise. Dass er sich trotzdem nicht bewegte, bestärkte mich nur in meiner Vermutung, dass sie ihm etwas verabreicht hatte. Und dann waren da noch seine Handgelenke und der gerötete Ring um seinen Hals. Als ich die Aufnahme das erste Mal gesehen hatte, hatte ich gar nicht darauf geachtet, aber waren die Male wie ein Leuchtfeuer. Es sah aus, als hätte dort etwas tagelang gescheuert und die Haut gereizt. Male, wie von Fesseln. Das passte zu dem was ich im Haus ihrer Großeltern gesehen hatte.
Niedergeschlagen ließ ich mein Handy auf meinem Bauch sinken und lauschte den Geräuschen aus der Küche. Papa ließ gerade zum Abendessen irgendetwas in der Pfanne brutzeln. Ich wusste nicht was er machte und es war mir auch egal. Im Moment war mir alles egal.
Neunzehn Tage war Cio nun verschwunden und es gab noch immer keine neuen Hinweise. Neunzehn Tage in denen ich weder mit ihm hatte sprechen, noch ihn hatte berühren können. Es tat so weh daran zu denken.
Seit gestern war ich wieder aus dem Krankenhaus raus und tat praktisch nichts anderes als auf der Couch zu liegen. Mir ging es wieder besser und mit dem kleinen Passagier hatte es keine Probleme mehr gegeben. Meine Ärztin glaubte, dass es eine Stressreaktion auf das Video gewesen war und jetzt eigentlich nichts mehr passieren dürfte, wenn ich mich ein wenig zurück hielt. Trotzdem bestand mein Vater auf der Bettruhe und sprang jedes Mal alarmiert auf, wenn ich auch nur den Anschein erweckte ans Aufstehen zu denken. Wenn er die Erlaubnis hätte, würde er mich vermutlich für die nächsten zwanzig Wochen ans Bett ketten, dabei ging es mir gut. Naja, zumindest gesundheitlich.
In der Küche klirrte etwas und dann hörte ich Papa unterdrückt fluchen.
Ich lehnte mich ein wenig zur Seite um einen Blick durch die Tür zu erhaschen. „Alles in Ordnung?“
„Alles okay, mir ist nur der Kochlöffel runtergefallen.“ Es klirrte wieder und dann hörte ich den Wasserhahn. „In zehn Minuten ist das Essen fertig.“
Dann hatte ich noch genug Zeit noch mal aufs Klo zu gehen. Ich schlug die Decke zurück und schwang die Beine auf den Boden. Mein Handy landete in der Brusttasche meines Hemdes. Keine Ahnung warum, aber seit Papa es mir vor drei Tagen wiedergegeben hatte, trug ich es immer mit mir herum. Vielleicht weil das Video darauf seit Wochen das erste und bisher leider auch das einzige Lebenszeichen von Cio war. Ich fühlte mich ihm dadurch zwar nicht näher und jedes Mal wenn ich es mir anschaute, brach etwas tief in mir, aber es war im Moment alles was ich von ihm hatte.
Als ich aufstand, hätte ich mich eigentlich nicht wundern sollen, dass Papa wie von Zauberhand im Türrahmen erschien und jede meiner Bewegungen misstrauisch begutachtete.
„Ich will nur ins Bad“, erklärte ich, bevor er fragen konnte. „Ich werde auf dem Weh nach oben schon kein Baby bekommen.“
So wie er daraufhin die Stirn runzelte, war ihm im Moment wohl nicht nach schwarzen Humor zumute. Doch er akzeptierte es schweigend und verschwand wieder in der Küche, damit ihm das Essen nicht anbrannte.
Das Badezimmer meines Vaters lag in der ersten Etage am Ende des Korridors. Es war ein schlichtes Bad mit Wanne und Dusche und als ich es betrat, stellte ich wieder einmal fest, dass mein Vater ein Faible für Reinigungsmittel mit Zitronenduft hatte. Das hatte er von meiner Oma geerbt. Also von seiner Mutter Marica, nicht von Celine. Ich war mir nicht mal sicher, ob er uns Celine sich überhaupt kannten.
Da es einfacher war sich mit solch sinnlosen Dingen zu beschäftigen, als mit der Realität, blieb ich dabei, als ich das tat, was man im Bad eben so tat. Doch leider verschwanden alle banalen Gedanken, als ich ein paar Minuten später am Waschbecken stand, um mir die Hände zu waschen und dabei mein eigenes Spiegelbild bemerkte.
Ich sah schrecklich aus, selbst für meine Verhältnisse. Meine schwarzen Haare waren ungekämmt und unter meinen Augen lagen dunkle Ringe, die mich noch viel blasser aussehen ließen, als ich ohnehin schon war. Mein Gesicht wirkte insgesamt irgendwie eingefallen und vergrämt. Wenigsten waren meine Augen heute nicht rot und geschwollen, wie so oft in den letzten Tagen.
„Abwarten, dass kommt sicher noch“, murmelte ich und stellte den Wasserhahn an. In den letzten drei Wochen hatte ich definitiv abgenommen. Normalerweise hätte ich mich darüber gefreut, doch die Umstände machten es mir schwer mich auf positive Gefühle einzulassen.
Ich wusch mir die Hände und spritzte mir ein wenig Wasser ins Gesicht. Zwar glaube ich nicht daran, aber vielleicht half es ja ein wenig gegen die dunklen Ringe.
Gerade wollte ich nach dem Handtuch greifen, als mein Handy mir mitteilte, dass eine Nachricht für mich eingegangen war und ich mitten in der Bewegung erstarrte. Genauso hatte es vor vier Tagen begonnen. Ein harmloses Piepen und dann war meine Welt fast endgültig zerbrochen.
„Ganz ruhig“, sagte ich mir selber und zwang mich meine Hände in aller Ruhe abzutrocknen. Nur weil mein Handy piepte, musste es noch lange nicht bedeuten, dass Iesha etwas damit zu tun hatte. Ich bekam regelmäßig Nachrichten von allen möglichen Leuten, nur diese Leute sich im Moment alle in Schutzhaft befanden und gar keine Möglichkeit hatten mit mir Kontakt aufzunehmen. Wahrscheinlich zitterten meine Finger deswegen, als ich mein Handy herauszog und einen Blick aufs Display warf.
Es war die gleiche Nummer wie vor vier Tagen, die Nachricht war von Iesha. Fast hätte ich das Handy fallen gelassen.
„Oh Gott.“ Die Unruhe kam ganz plötzlich und einen Moment wollte ich einfach nach meinem Vater rufen, aber ich hatte ihm noch nicht mal von dem ersten Video erzählt. Genaugenommen hatte ich niemanden gesagt was der Auslöser für den Vorfall gewesen war und jetzt … jetzt wusste ich nicht was ich machen sollte.
Geschlagene zwei Minuten stand ich einfach da und starrte mein Handy an. Dann entschied ich, dass ich mir die Nachricht erstmal anschauen und danach weitersehen würde. Dieses Mal würde es mich nicht so kalt erwischen, denn dieses Mal war ich vorgewarnt. Es konnte also nicht das gleiche wie beim letzten Mal passieren. Zumindest redete ich mir das ein, als ich mit zitternden Fingern die Nachricht öffnete. Es war kein Video, es war eine Audiodatei.
„Okay, es kann nicht schlimmer sein als das letzte“, redete ich mir gut zu und startete die Aufnahme.
„Hallo du hässliche Speckschwarte“, begrüßte Iesha mich. „Ich dachte wir unterhalten und mal so von Frau zu Flittchen und weil ein persönliches Gespräch immer noch … naja, am persönlichsten ist, sollten wir uns mal treffen.“
Mir stockte der Atem. Sie wollte sich mit mir treffen?
„Da du niemanden von dem Video erzählt hast, kann ich wohl davon ausgehen, dass du genug Grips besitzt auch das hier für dich zu behalten.“
Was? Woher wusste sie das?
„Falls du also Interesse an einem Gespräch hast, sei heute Punkt Mitternacht auf der alten Moroi-Farm. Komm alleine, sag niemanden wohin du gehst und versuch keine Tricks. Das ist deine einzige Chance Cio wiederzusehen, eine zweite werde ich dir nicht geben. Wenn du nicht kommst, werden wir einfach verschwinden und du wirst uns nie wieder etwas von uns hören. Wenn du versuchst mir eine Falle zu stellen, wird genau das gleiche passieren und solltest du dir heimlich Verstärkung mitbringen, werde ich nicht auftauchen. Du wirst Cio nur zu sehen bekommen, wenn du ganz alleine und ohne jede Hilfe erscheinst, das ist meine Bedingung.“
Sie machte eine Pause. Eine Tür knarzte und fiel dann wieder ins Schloss.
„Hey Schatz, ich schicke gerade eine Nachricht an das fette Walross. Möchtest du ihr auch noch etwas sagen, bevor sie uns besuchen kommt?“
Im Hintergrund hörte ich ein erschrockenes „Was?“ von Cio und mir schossen sofort die Tränen in die Augen. Das war seine Stimme, oh Gott, das war wirklich Cios Stimme.
„Oh, habe ich dir gar nicht erzählt, dass ich das vorhabe? Ich denke es ist an der Zeit, dass wir sie mal zu uns einladen.“
„Wage es nicht Iesha“, knurrte Cio.
„Du hast ihr also nichts zu sagen? Okay, auch in Ordnung. Also dann fassen wir noch einmal zusammen, sei um Mitternacht auf der Moroi-Farm – alleine.“
Ein Rasseln und Klirren war zu hören, wie von Kettengliedern, die aneinander schlugen.
„Nein, bleib weg Schäfchen, komm auf keinen Fall …“
„Das ist deine einzige Chance ihn noch einmal zu sehen.“
„… hier her, das ist eine Falle!“
„Ach, ja, bevor ich es vergesse, bring deinen Flohzirkus mit. Das ist ganz wichtig. Wenn du ohne ihn auftauchst, kannst du auch gleich Zuhause bleiben.“
„Nimm dich vor …“
Die Aufnahme endete.
Ich stand da, starrte mein Handy an und wusste einen Moment weder was ich tun noch was ich machen sollte. Cio hatte mir mir gesprochen. Er hatte okay geklungen, bis auf die letzten drei Worte, die waren irgendwie panisch gewesen. Was hatte er sagen wollen? Und warum sollte ich Ferox mitbringen? Was war eine Moroi-Farm?
„Oh Gott.“ Unruhig spielte ich die Aufnahme ein weiteres Mal ab und achtete dabei vor allen Dingen auf Cios Stimme. Er klang nicht verängstigt und er hörte sich auch nicht krank oder verletzt an. Das war gut, oder? Es ging ihm zumindest gut genug, dass er sprechen konnte und er wollte dass ich wegblieb. Aber Iesha hatte gesagt, dass ich ihn nie wieder sehen würde, wenn ich heute nicht käme und bei alles was geschehen war, glaubte ich ihr das sofort.
Wenn ich heute Nacht nicht zu ihr ging, würde ich ihn für immer verlieren, nur was würde mich am Treffpunkt erwarten? Auch ohne das Cio es extra betonte, war mir klar, dass Iesha mich in eine Falle locken würde. Mit Cio warf sie mir einen Köder zu, dem ich nicht widerstehen konnte, aber was war mit dem kleinen Passagier? Wenn ich mich in Gefahr brachte, brachte ich auch ihn in Gefahr.
Als es plötzlich an der Badezimmertür klopfte, zuckte ich vor Schreck so heftig zusammen, dass ich versehentlich mein Handy wegwarf. Es knallte erst gegen den Rand vom Waschbecken und fiel dann klappernd zu Boden.
„Ziara, alles in Ordnung?“, fragte Papa durch die Tür.
„Ja“, rief ich und hoffte dass meine Stimme nicht zu sehr zitterte. „Alles okay bei mir.“ Ich bückte mich nach meinem Handy. Bitte sein nicht kaputt, bitte funktioniere noch. Als ich den Bildschirm berührte, leuchtete es auf. Gott sei Dank.
„Dann komm runter, Essen ist fertig.“
„Komme gleich.“ Sobald ich wusste, was ich tun sollte. Wenn ich Papa die Nachricht zeigte, würde er sofort mit einem Aufgebot zu dieser Farm fahren, wo auch immer … Moment, Farm. Iesha musste die alte Farm meinen, auf der sie das Spektakel mit der Misto-Jagd abgehalten hatte. Hieß dass sie war wieder dort? Eher unwahrscheinlich. Sicher hatte sie diesen Ort nur gewählt, weil sie das Areal gut kannte und es sehr abgelegen war. Vermutlich würde sie es sofort wissen, wenn dort jemand auftauchte, den sie dort nicht haben wollte. Wenn ich also meinem Vater und die Wächter, oder sonst wen dorthin schickte, würde sie einfach klammheimlich verschwinden. Nicht nur von der Farm, auch aus meinem Leben. Zusammen mit Cio.
Das konnte ich nicht machen. Das war meine einzige Chance und auch wenn es eine Falle war, ich konnte sie mir nicht entgehen lassen.
Es war dumm, töricht und total bescheuert überhaupt darüber nachzudenken mich auf dieses Unterfangen einzulassen, besonders da ich schwanger war, aber was blieb mir denn für eine Wahl? Wenn ich erstmal auf Ieshas Bedienungen einging und vor Ort war, dann könnte ich mir noch immer etwas einfallen lassen, wie wir beide da wieder rauskamen.
Aber was, wenn sie mich gar nicht zu Cio brachte, sondern mich nur an einem abgelegenen Ort locken wollte, um mich endgültig aus dem Weg zu räumen?
Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen. Ich kannte Iesha vielleicht nicht gut, aber eines wusste ich ganz sicher über sie: Sie wollte ihren Triumph nicht nur bis um letzten Tropfen auskosten, sondern ihn mir auch noch unter die Nase reiben. Natürlich, wenn ich ging blieb immer noch das Risiko dass ich mich irrte, aber das wollte ich nicht glauben. Das konnte ich einfach nicht. Auch wenn Cio gesagt hatte ich solle nicht kommen, ich konnte ihn nicht im Stich lassen.
Okay, ich würde Papa also nichts sagen und ich würde zu dem Treffen fahren. Allein. Naja, abgesehen von Ferox. Was wollte sie nur von dem Wilden? Es ergab keinen Sinn, dass ich ihn mitbringen sollte.
Da ich schon viel zu lange im Bad war und ich nicht wollte, dass mein Vater noch mal nach mir sehen kam, steckte ich mein Handy weg und ging nach unten. Dabei drehten meine Gedanken sich die ganze Zeit um das Thema.
Mitternacht war in knapp fünf Stunden, die Fahrt selber würde ungefähr zwei Stunden dauern – immer vorausgesetzt man hatte ein Auto. Leider befand mein Wagen sich noch immer in der Werkstatt, oder wo auch immer er hingebracht worden war, nachdem Iesha ihn geschrotet hatte.
Jemanden nach einem Auto zu fragen fiel auch aus. Sie würden alle wissen wollen was ich vorhatte, oder selber mitkommen, aber das konnte ich nicht erlauben. Ein Taxi fiel auch aus, da kein Taxi freiwillig Ferox mitnehmen würde.
Das Problem wälzte ich immer noch, als ich mich still neben Papa an den Tisch setzte und ganz automatisch nach meinem Besteck griff. Essen tat ich allerdings nicht. Ich saß einfach da, mit dem Besteck in den Händen, starrte auf mein Teller und versuchte eine Lösung für mein Problem zu finden.
„Warum das Stirnrunzeln?“
Aufgeschreckt sah ich auf. „Was?“
Papa schnitt ein Stück von seinem Schnitzel ab, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. „Bist du sicher dass alles in Ordnung ist? Du wirkst irgendwie abwesend.“
„Ich habe nur …“ Eilig senkte ich den Blick wieder. „Ich habe nur darüber nachgedacht, was Cio wohl gerade macht.“ Und für diese Lüge würde ich sicher zur Hölle fahren, doch im Augenblick war es besser so.
Papas Blick wurde weicher. „Es geht ihm sicher gut. Du weißt doch wie er ist, er findet selbst in den schlimmsten Situationen etwas gutes. Hab Vertrauen, wir finden ihn schon.“
Nein, das würden wir nicht, aber wenn alles glatt lief, würde ich ihn in ein paar Stunden sehen.
Um ihn von weiteren Fragen abzuhalten, zwang ich mich ein Stück von meinem Tofuwschnitzel abzusteigen und mir das abgeschnittene Stück auch in den Mund zu stecken. Wo nur bekam ich ein Auto her? Papa hatte ein Auto, aber das würde er mich sicher nicht geben. Allerdings … ich wusste wo die Wagenschlüssel lagen. Wenn ich nur heimlich und schnell genug war … in meinem Kopf reifte ein Plan heran. Mein Timing würde gut sein müssen, denn ich würde keine zweite Chance bekommen. Außerdem würde ich meinen Vater in Sicherheit wiegen müssen, er durfte nicht den kleinsten Verdacht hegen. Wenn er glauben würde dass etwas nicht stimmte, würde er mich nicht mehr aus den Augen lassen. Darum versuchte ich mich auch so normal wie möglich zu verhalten.
Das Essen aß ich nicht auf. Nicht nur weil ich nervös war und es mir schon wieder auf den Magen schlug, sondern auch weil ich in den letzten Tagen nicht ein einziges Mal aufgegessen hatte.
Nach dem Essen half ich meinem Vater dabei den Tisch abzuräumen und den Abwasch zu machen, solange bis er mich zurück auf die Couch schickte, damit ich mich ausruhte.
Als wir uns anschließend zusammen einen Film anschauten, musste ich mich zwingen, nicht immer wieder zur Uhr zu schauen, oder nervös mit meinen Fingern an der Decke herumzuzupfen. Genauso schwer fiel es mir nicht immer wieder nach dem Handy zu greifen. Mehr als einmal war ich versucht mir die Nachricht noch einmal anzuhören und bekam von dem Film deswegen so gut wie gar nichts mit.
Es war fast acht, als der Film endete und mein Vater kurz nach oben ins Badezimmer huschte. Da ich wohl keine bessere Chance als diese hier bekommen würde, wartete ich genau bis zu dem Moment, als ich die Tür zufallen hörte, bevor ich hastig aufsprang und in den Flur zum Schlüsselbrett stürmte, um mir den Ersatzschlüssel vom Wagen zu krallen.
Damit er nicht klimperte und mich am Ende noch verriet, steckte ich ihn tief in meine Hosentasche steckte. Dabei bettete ich darum, dass ihm das Fehlen nicht auffallen würde. Dann eilte ich zurück zur Couch, deckte mich wieder zu und griff nach der Fernbedienung. Als mein Vater wieder herunter kam, musste es für ihn so aussehen, als zappte ich auf der Suche nach einem Film durch die einzelnen Kanäle.
„Soll ich und Popcorn machen?“, fragte er und blieb neben der Couch stehen.
Ich wog meine Optionen ab. Wenn ich mit ihm noch einen Film schauen würde, könnte es sein dass ich zu spät kam und das wollte ich auf keinen Fall riskieren.
Ich könnte auch behaupten müde zu sein und nach oben ins Bett gehen, nur wusste ich nicht wann er schlagen gegen würde. Normalerweise blieb er sehr lange auf, was bedeutete, dass ich mich nicht an ihm vorbei schleichen könnte.
Ich könnte auch so tun als wenn ich schlafen gehen würde und dann aus dem Fenster klettern, doch ich befürchtete, dass ich mir bei dem Versuch etwas brechen würde und das wollte ich eigentlich nicht riskieren. Da blieb eigentlich nur noch die Möglichkeit schlau zu sein.
„Nein“, sagte ich und legte die Fernbedienung wieder auf den Tisch. Dann starrte ich einfach ins Leere, als würde mich etwas bedrücken. Dafür brauchte ich im Moment kein großes, schauspielerisches Talent. Noch konnte ich zurück, noch konnte ich Papa alles erzählen und darauf hoffen, dass er die Dinge wieder in Ordnung brachte, aber die Angst Cio nie mehr wieder zu sehen war zu groß, darum hörte ich mich sagen. „Ich glaubt ich setze mich noch ein bisschen zu Ferox raus.“
„Jetzt noch.“ Papa warf einen Blick zum Fenster. „Es ist doch schon dunkel.“
„Es ist doch nur der Garten.“ Ich schlug die Decke zurück und erhob mich von der Couch. Das mein Vater mir in den Flur folgte und mir dabei zuschaute, wie ich Schuhe, Jacke und Schal anzog, hatte ich mir schon gedacht. Darum hatte ich den Schlüssel schon vorher angeeignet. Und jetzt im Moment brannte er mir ein Loch in die Hosentasche.
Ich versuchte mich zur Ruhe zu zwingen und nicht zu auffällig zum Schlüsselbrett rüberzuschauen.
„Soll ich dir eine heiße Schokolade machen und sie dir rausbringen?“
Um Gottes Willen, nein. „Ich brauche nichts“, sagte ich und drehte mich zu ihm herum. „Ich will nur ein wenig mit Ferox kuscheln.“
Was mein Vater dachte ließ er nicht erkennen, aber er stellte sich mir nicht in den Weg, als ich an ihm vorbei zurück ins Wohnzimmer ging und auf der anderen Seite des Raums die Hintertür öffnete.
„Wenn du etwas brauchst, sag Bescheid, ich bin hier.“
Rede mir diesen Wahnsinn aus, halt mich auf und rette Cio, bevor noch etwas schlimmes passiert! „Mir geht es gut.“
„Okay. Und bleib nicht zu lange draußen, es ist kalt.“
„Es wird schon gehen.“ Meine Füße fühlten sie wie Blei an, als ich auf die Veranda hinaus trat und die Tür sorgfältig hinter mir verschloss. Dann stand ich einen Moment einfach nur da, schloss die Augen und atmete die kühle Nachtluft ein. Gleich. Gleich würde ich mir Ferox schnappen und heimlich mit ihm verschwinden. Dann konnte ich nur noch hoffen, dass ich nicht gerade auf dem Weg in mein eigenes Grab war.
„Es wird klappen“, flüsterte ich und legte eine Hand auf meinen Bauch. „Du wirst schon sehen. Wir holen jetzt deinen Papa und dann wird alles endlich wieder gut werden.“
Ich bekam keine Antwort. Stattdessen blitzten im Dunkeln zwei Augen auf. Sie musterten mich einen Moment, bevor sie sich in meine Richtung bewegten. Langsam, vorsichtig, als wüssten sie das etwas im Argen lag.
„Seit wann bist du so schüchtern?“
Ferox jammerte und kam dann zur Veranda, blieb aber davor stehen.
„Kannst du neuerdings hellsehen?“ Drei Stufen, dann hockte ich mich vor Ferox und strich ihm durch den dicken Pelz am Kopf. „Wir müssen etwas tun und es wird dir nicht gefallen.“ Ich lehnte meine Stirn an seine und schickte ihm Bilder vom Auto und wie er darin einstig. Wie nicht anders zu erwarten, begann er unwillig zu knurren und wollte sich von mir losreißen, aber ich packte ihn einfach mit beiden Händen und hielt ihn fest. „Nein“, sagte ich streng und zeigte ihm Bilder von einem fahrenden Wagen und auch wie ich ausstieg und Cio dort auf mich wartete.
Als Ferox meine Sehnsucht spürte und auch die Angst und den Funken der Hoffnung, wimmerte er.
„Wir müssen das tun und du musst mitkommen.“
In meinem Kopf materialisierte sich ein Bild von Iesha und das Gefühl von Dringlichkeit und Bereitschaft.
„Manchmal bist du schlauer als gut für dich ist.“
Zur Antwort leckte er mir einmal quer durchs Gesicht.
„Und dann auch wieder nicht.“ Ein wenig angewidert wischte ich mir den Wolfssabber aus dem Gesicht und erhob mich dann wieder auf die Beine. Mein Blick ging zurück zum Haus. Die Fenster im Wohnzimmer waren alle hell erleuchtet, doch durch die Gardinen war nichts zu sehen. Kein Papa, niemand der mich aufhalten konnte. Das war mein Stichwort.
Mit Ferox an meiner Seite ging ich zum vorderen Tor und öffnete die Verriegelung. Bevor ich allerdings das Tor selber aufmachte, griff ich ihn fest im losen Nackenpelz, damit er nicht doch noch auf die Idee kam das Weite zu suchen. Wenn er nämlich erstmal im Wald verschwunden war, würde ich ihn so schnell nicht mehr einfangen können und das konnte ich mir heute nicht leisten.
Seltsamerweise blieb Ferox artig, als ich mit ihm hinaus auf die Straße ging und mich nach dem Wagen meines Vaters umschaute. Er hatte in der Einfahrt geparkt. „Und jetzt ganz leise“, murmelte ich, denn sobald mein Vater mitbekam was hier draußen lief und er bemerkte dass der Wagen verschwunden war, würde er eins und eins zusammenzählen und eine Großfahndung nach mir rausgeben. Das durfte ich nicht riskieren.
Meine Finger waren seltsam ruhig, als ich die Schlüssel aus meiner Hosentasche zog und den Wagen aufschloss. Ferox leistete beim Einsteigen halbherzigen Widerstand, so als wollte er mir zeigen, dass er zwar mitkam, aber das hier gegen seinen Willen geschah. Er blieb auch nicht auf dem Rücksitz, nein. Sobald ich die Tür geschlossen hatte, sprang er nach vorne auf dem Fahrersitz und ließ sich von mir nur sehr widerstrebend auf den Beifahrersitz schieben.
„Sei artig“, mahnte ich ihn, als ich den Schlüssel ins Schloss schob. „Sonst landest du im Kofferraum.“
Entweder gefiel ihm mein Ton nicht, oder die Worte. Er knurrte mich jedenfalls an und sprang wieder zurück auf den Rücksitz, wobei er mich anrempelte und mir wohl den Arm zerkratz hätte, wenn ich keine Jacke getragen hätte.
Ich knurrte zurück, warf noch einen Blick auf das Haus meiner Eltern und starrte dann den Wagen. Dabei hoffte ich inständig, dass mein Vater wieder vor dem Fernseher saß und den Motor überhörte. Im Moment konnte ich es nämlich gar nicht gebrauchen, dass er mir die Wächter auf den Hals hetzte und mir anschließend den Kopf abriss.
„Es wird schon alles klappen“, sagte ich und fuhr rückwärts aus der Einfahrt. Allerdings schlug ich nicht den Weg Richtig Farm ein, sondern lenkte den Wagen in die entgegengesetzte Richtung ein. Ich musste noch mal nach Hause etwas holen, denn ich befand mich auf einer Rettungsmission und hatte nicht vor Selbstmord zu begehen.
Auch jetzt wieder musste ich darauf achten, nicht zu hektisch zu werden und das Gaspedal voll durchzutretten. Wenn mich jetzt ein Wächter wegen überhöhter Geschwindigkeit anhielt, war der Abend gelaufen und das durfte ich nicht riskieren.
Meine Anspannung machte die zehnminütige Fahrt zu einer Tortur. Ständig schaute ich in den Rückspiegel in der Erwartung dass mein Vater plötzlich hinter mir stehen würde. Hatte er in der zwischenzeitlich schon gemerkt dass ich weg war und war ich noch in Sicherheit?
Als ich endlich vor meinem Wohnhaus hielt, war ich zum Zerreißen abgespannt. Nicht nur weil ich den Moment fürchte, wenn mein Vater erkannte, dass ich mit Ferox und seinem Wagen verschwunden war, ich fürchtete mich vor dem war mich in den nächsten Stunden erwartete und auch davor wie es sein würde Cio endlich zu finden. Aber ich würde dafür sorgen, dass meine Chancen so gut wie möglich waren, wenn ich Iesha gegenüber trat.
„Du wartest hier“, erklärte ich Ferox und stieg aus dem Wagen. „Bin gleich wieder da.“
Er fiepte und kratzte mit der Pfote an der Scheibe, weswegen ich den Wagen zur Sicherheit noch abschloss und mich dann beeilte nach oben in meine Wohnung zu kommen.
Sobald ich oben war, blieb ich erstmal vor Schreck stehen. Jemand war hier gewesen. Die ganzen Papiere von Iesha waren verschwunden. Vor der Couch stand ein neuer Tisch und die Scherben von der Vitrine waren weg. Es war nicht nur aufgeräumt, es war richtig sauber. Die Luft roch nach einem Hauch von Zitrone.
„Papa“, murmelte ich und ging eilig hinüber zum Wohnzimmerschrank. Er selber konnte nicht hier gewesen sein, weil er die ganze Zeit bei mir war, aber ich würde darauf wetten, dass er etwas damit zu tun hatte. Das mein schlechtes Gewissen sich zu Wort meldete, wunderte mich gar nicht, aber im Moment hatte ich keine Zeit mich damit zu beschäftigen, denn ich war aus einem bestimmten Grund hier.
Drei Schubladen musste ich durchwühlen, bevor ich fand was ich suchte. Eine Kette mit einem tropfenförigen Anhänger und ein kleines, weißes Gerät mit einem großen, roten Knopf darauf.
Es waren beides Dinge die mein Vater mir letztes Jahr gegeben hatte, als Iesha als Amor-Killer gewütet hatte. In der Kette war ein Peilsender enthalten, der von den Themis geortet werden konnte und das kleine Gerät war ein Panikknopf. Wenn ich da drauf drückte, würde das Gerät per Satellitenverbindung ein Signal senden, durch das dem Empfänger nicht nur mitgeteilt wurde dass ich Hilfe brauchte, sondern auch wo genau sie mich finden konnten. Es würde selbst in der tiefsten Wildnis funktionieren, wo Handys keinen Empfang hatten. Wenn ich es richtig anstellte, würde ich die Wächter damit direkt in Ieshas Versteck führen. „Und dann bist du erledigt.“
Ich steckte die beiden Sachen zu meinem Elektroschocker in meine Jackentasche und verließ dann eilig die Wohnung. Jetzt nur schnell raus aus der Stadt und dann konnte ich nur noch hoffen.
All meine Gedanken verschwanden jedoch einen Augenblick, als ich das Auto erreichte und die Tür aufzog. „Was zum …“
Ferox hob den Kopf und winselte mich an. Aus seiner Schnauze hing ein Stück Stoff, das vor zehn Minuten noch zum Poster der Rückbank gehört hatte. Verdammt, er hatte das Polster zerpflückt und das nicht zu knapp. Da war nichts mehr zu retten, die Bank müsste komplett ersetzt werden.
„Wie zur Hölle hast du das in der kurzen Zeit geschaffte?“
Zur Antwort wedelte er mit der Rute.
„Du kannst froh sein, dass wir es eilig haben, sonst würde ich dir jetzt die Ohren langziehen.“ Ich klemmte mich hinters Steuer, schnallte mich an und startete den Wagen. „Und nur damit du es weißt, die Reparaturkosten ziehe ich dir vom Taschengeld ab.“
Er schien nicht besonders besorgt deswegen.
Ich verbannte ihn und alle anderen unnötigen Gedanken aus meinem Kopf und machte mir auf den Weg zur alten Moroi-Farm. Ich schaltete sogar das Radio an, in der Hoffnung mich dadurch ein wenig ablenken zu können. Leider klappte das nur bedingt und je weiter ich fuhr, desto angespannter wurde ich. Kilometer um Kilometer, Minute um Minute. Raus aus der Stadt, weiter über Landstraßen, immer weiter dem Zeil entgegen.
Als mein Handy plötzlich zu klingeln begann, hätte ich vor Schreck fast das Lenkrad verrissen. „Mist“, murmelte ich und zog es heraus, um einen Blick aufs Display zu werden. „Doppel Mist.“ Es war mein Vater.
Mein erster Impuls war ihn einfach wegzudrücken und das Handy abzuschalten, aber dann würde er sich sicher noch mehr Sorgen machen, also nahm ich den Anruf an. „Ja?“
„Wo verdammt noch mal bist du?!“
Oh ja, er machte sich jetzt schon Sorgen. „Iesha hat sich bei mir gemeldet.“ Jetzt brauchte ich es auch nicht mehr geheim halten. „Ich bin auf dem Weg zu Cio. Mach dir keine Sorgen, ich melde mich wieder sobald ich kann.“
„Was?!“ Hätte mein Vater gekonnt, wäre er jetzt wohl einfach durchs Telefon gesprungen.
„Ich hab dich lieb.“
„Nein, das machst du nicht! Wage es nicht aufzulegen! Du kommst …“
Ich beendete den Anruf und schaltete das Handy ab. „Damit ist die Frage wohl geklärt, ob er meine Abwesenheit bemerkt hat.“
Ferox Winselte.
„Hoffen wir nur, dass er uns nicht zu früh findet.“ Einen Moment war ich am überlegen, ob ich mein Handy aus dem Fenster schmeißen sollte, legte es dann aber auf den Beifahrersitz. Selbst wenn mein Vater genau wüsste, wohin ich wollte, würde er es nicht mehr schaffen mich rechtzeitig einzuholen. Das sollte er auch gar nicht. Er durfte mich erst finden, wenn ich bei Cio war. Dann würde alles gut werden.
Als ich die alte Moroi-Farm eine knappe Stunde später erreichte, schlug mir mein Herz bis zum Hals. Ich war zu früh dran, Iesha würde erst in einer halben Stunde hier auftauchen, außer … vielleicht war sie schon hier und beobachtete meine Ankunft. Dieser Gedanke trug nicht gerade zur Beruhigung meiner Nerven bei. Ich war so schon nervös und als ich den Wagen vor dem alten Haupthaus hielt und den Motor abstellte, wurde er nur noch schlimmer.
Die plötzliche Stille kam mir ohrenbetäubend vor und das fehlen von Licht setzte meinem Unbehagen auch noch die Krone auf.
Vielleicht hätte ich doch nicht kommen sollen. Vielleicht war das der dümmste Fehler, den ich in meinem ganzen Leben gegangen hatte. Iesha würde sich an ihrem Triumph weiden? Die Frau war geisteskrank! Wie konnte ich nur glauben zu wissen, was sie vorhatte, oder wie sie reagieren würde?
Nein, ich durfte mich jetzt nicht verrückt machen. Ich hatte einen Plan und an den würde ich mich auch halten. Sobald Iesha kam, würde ich den Panikknopf drücken und mich von ihr zu Cio bringen lassen. Sollte sie mir den Knopf abnehmen, hatte ich noch immer die Kette an meinem Hals. Wenn das Signal vom Panikkopf aufgefangen wurde, würde Papa sicher daran denken die Kette zu orten. Er musste einfach daran denken sie zu orten.
Die nächsten zwanzig Minuten klebte mein Blick ununterbrochen auf der Leuchtanzeige der Uhr. Ferox schob immer wieder den Kopf nach vorne und fiepte bis ich ihn streichelte. Auch er war angespannt.
Zehn Minuten vor Mitternacht hielt ich es einfach nicht mehr länger aus im Wagen still sitzen zu bleiben. Plötzlich hatte ich furchtbare Angst Iesha würde vielleicht doch nicht kommen.
In der Hoffnung die kalte Nachtluft würde diese Unsinnigen Gedanken vertreiben, stieg ich aus dem Wagen und begann damit davor Furchen in den Boden zu laufen. Ferox ließ ich im Wagen. Ich hatte keine Ahnung was Iesha von dem Wilden wollte, aber vorerst konnte ich nicht riskieren, dass er einfach abhaute und sich irgendwo im Wald herumtrieb.
Die Uhr tickte. Mitternacht kam und ging und ich stand noch immer ganz allein hier draußen herum. Nervös und unruhig schaute ich mich immer wieder um und horchte auf die Geräusche der Nacht. Iesha würde mich doch sicher nicht versetzen, oder? War das vielleicht nur ein weiterer Trick um mich zu quälen und in die Irre zu führen?
Zwei Minuten nach Mitternacht. Fünf Minuten. Im Inneren des Wagens kratzte Ferox an der Scheibe uns winselte.
„Still.“ Ich spitzte die Ohren. Hatte ich da nicht gerade etwas gehört? Einen angespannten Moment lauschte ich in die Nacht hinein und da … das Geräusch eines näherkommenden Wagens.
Ich wurde regungslos, während ich wartete, ob er auf das Gelände fuhr, oder weiter der Straße folgte.
Zwei Scheinwerfer kamen in Sicht. Sie drehten, bis sie genau auf das Haupthaus zeigten und bewegten sich dann langsam auf mich zu.
Ich hob die Hand um meine Augen vor dem blendenden Licht zu schützen.
Als der Wagen hielt, begann mein Herz zu rasen. Ganz ruhig, lass sich nicht einschüchtern. Der Motor erstarb, die Scheinwerfer blieben an und einen Moment geschah gar nichts. Meine Hand wanderte wie von selbst in meine Jackentasche und umfasste meinen Elektroschocker. Im Wagen knurrte Ferox. Sollte ich hingehen, oder besser abwarten?
Ich hatte mich noch nicht entschieden, als die Tür von dem Wagen aufgestoßen wurde und eine Gestalt ausstieg. Durch die Scheinwerfer konnte ich kaum mehr als einen Schemen ausmachen, doch wenn mich nicht alles täuschte, dann war er zu groß für Iesha. Hatte mein Vater mich etwa doch noch gefunden?
Die Gestalt ging einen Schritt zur Seite.
„Ich hatte wirklich gehofft, du würdest nicht kommen.“
Was zur Hölle … was sollte das denn?
°°°°°
Mein Mund öffnete sich von ganz alleine, doch auf einmal war ich meiner eigenen Muttersprache nicht mehr mächtig. Das konnte nicht sein, meine Ohren mussten mussten mir einen Streich spielen. Er, hier … das ergab doch keinen Sinn. „Tayfun?“
Die Gestalt am Wagen, verlagerte ihr Gewicht. Sie schien nicht recht gewillt zu sein, sich mir zu nähern. „Geh wieder nach Hause, Zaira, ich sage ihr, dass du nicht aufgetaucht bist.“
Oh mein Gott, ich hatte mich nicht verhört, das war wirklich Tayfun und er sprach von … nein, das war nicht möglich. Misstrauisch verstärkte ich den Griff um meinen Elektroschocker. Ich brauchte das Gefühl in meiner Hand, während ich versuchte aus dieser Situation schlau zu werden.
Er hatte gehofft dass ich nicht auftauchen würde und jetzt wollte er mich wieder nach Hause schicken. Ein schier unglaublicher Gedanke nahm in meinem Kopf Gestalt an, aber ich konnte ihn nicht annehmen. Es musste ein Irrtum vorliegen, ein Missverständnis. Ich brauchte irgendetwas, das sein Auftauchen erklärte, solange es nur nicht das war was mein Kopf mir vorgaukeln wollte. „Was machst du hier?“
Zuerst blieb er einfach still. Er stand nur da und schaute mich an – zumindest nahm ich das an. Da er so ungünstig hinter den Scheinwerfern stand, konnte ich das nicht genau beurteilen. „Ich … Iesha schickt mich. Ich soll dich abholen und zu ihr bringen.“
Diese Worte von ihm zu hören … das war wie ein Schlag mitten ins Gesicht. „Nein“, sagte ich und schüttelte den Kopf. Ich weigerte mich einfach das zu glauben. „Nein, das ist nicht wahr.“
„Zaira …“
„Nein!“, schrie ich ihn an und spürte den Verrat wie einen körperlichen Schmerz. „Du bist mein Freund, mein verfluchter Freund!“ Er konnte nicht mit Iesha zusammenarbeiten. Wie auch? Die beiden hatten sich doch nie kennengelernt. Als Tayfun an den Hof der Lykaner gekommen war, saß Iesha bereits seit zwei Jahren in einer geschlossenen Abteilung der Psychiatrie fest.
„Es tut mir leid“, sagte er so leise, dass es im Wind fast unter ging.
„Oh Gott.“ Ich strich mir grob durchs Haar und begann unruhig auf und ab zu laufen, während ich versuchte diese Information irgendwie zu verarbeiten. „Ich hab dir vertraut, ich hab dich immer wieder vor Cio in Schutz genommen und … wie geht das? Du kennst Iesha doch gar nicht.“
Er klimperte mit etwas in seiner Hand. Seine Wagenschlüssel. Woher hatte er plötzlich einen Wagen? Was interessierte mich das im Moment?
„Ich kenne Iesha seit fast vier Jahren. Wir waren beide in der Heilanstalt Sanare.“
Ich blieb abrupt stehen und schaute ihm fassungslos an. „Du warst … in der Psychiatrie?“
„Was hast du denn geglaubt, was mit mir geschehen ist, nachdem die Themis mich von Tiago weggeholt haben?“
„Aber … du hast gesagt, du hättest nur eine Therapie gemacht.“
Ein bitteres Schnauben schwebte zu mir rüber. „Ich war dreizehn Jahre lang Tiagos Sklave, glaubst du wirklich da hätte eine einfache Therapie gereicht? Ich war ein Wrack als sie mich fanden, völlig am Ende und zu nichts mehr zu gebrauchen.“
„Du mich belogen.“ Und ich war so naiv gewesen, dass ich ihm alles geglaubt hatte.
„Iesha wollte es so.“
„Warum?“, fragte ich. „Warum hast du das gemacht? Was habe ich dir getan? Warum hilfst du Iesha?“ Das ergab doch alles keinen Sinn.
Er schüttelte nur den Kopf. „Bitte, geh einfach wieder.“
„Gehen? Du haust mir die ganze Scheiße um die Ohren und verlangst, dass ich jetzt einfach wieder nach Hause gehe, als wäre nichts geschehen?“
„Es wäre das Beste für dich.“
„Das …“ Ich verstummte, als mir plötzlich ein schier unglaublicher Gedanke kam. Er war sogar noch schlimmer als die Tatsache, dass Tayfun mit Iesha unter einer Decke steckte. „Du weißt wo Cio ist.“
Er sagte nichts.
„Antworte mir!“
Wieder klimperte er mit den Schlüsseln. „Ja“, sagte er dann sehr leise, als würde er sich für dieses Wissen schämen.
Oh mein Gott. „Sag mir dass das nicht stimmt. Sag mir, dass du es nicht die ganze Zeit gewusst hast. Als du mir deine Hilfe angeboten hast, als du mich getröstet hast, als du mich geküsst hast.“ Meine Stimme wurde immer dünner.
„Das kann ich nicht.“
Das war wohl der Moment, in dem der Verrat richtig zuschlug. „Du Mistkerl.“ Die ganze Zeit in der ich vor Sorge fast umgekommen wäre, hatte er gewusst wo Cio war. Wir hatten zusammen auf der Couch gesessen und einen Film geguckt. Wir hatten zusammen gegessen und all diese Unterlagen nach Hinweisen durchforstet und die ganze Zeit hätte er nur einen Ton sagen müssen, um meine Qualen zu beenden. „Du hast es die ganze Zeit gewusst. Du hast … du …“ Mir versagte die Stimme. „Ich dachte du bist mein Freund.“
„Ich bin dein Freund und deswegen sage ich dir: Geh wieder nach Hause und vergiss das hier einfach. Bitte.“
„Du bist nicht mein Freund!“, fauchte ich ihn an. Hinter mir begann Ferox um Wagen zu knurren und an der Scheibe zu kratzen. „Meine Freunde würden mir sowas nicht antun.“
Darauf ging er nicht ein. „Bitte, steig in den Wagen und geh.“
„Gehen?“ Ich lachte scharf auf. „Bist du verrückt geworden? Ich kann nicht gehen, Cio braucht mich! Iesha hat gesagt, dass ich keine weitere Chance bekommen würde.“
Wieder schwieg er, aber dieses Mal unterbrach ich die Stille nicht, sondern wartete einfach ab. Ich konnte nicht glauben, was hier gerade geschah, einfach weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass er mir so in den Rücken fallen würde. Ich kannte ihn vielleicht noch nicht so lange, aber ich hatte ihn gerne und jetzt … es wollte einfach nicht in meinen Kopf.
Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete Tayfun dann doch seinen Mund. „Iesha wird das Land verlassen. Mit mir. Mit ihm. Wir werden einfach verschwinden und es wird sein, als hätte es uns niemals gegeben.“
Ich schüttelte unwillig den Kopf. Nicht nur weil er mir hier eine Lüge auftischte, auch weil ich das nicht tun konnte. Ich könnte Cio niemals vergessen. Selbst wenn ich es wollte, die Sehnsucht trieb mich dazu diese Chance zu nutzen, egal welche Folgen sie für mich hatte. „Ich kann nicht gehen.“
„Aber wenn du nicht gehst …“
„Ich werde nicht gehen“, verdeutlichte ich ihm noch einmal und versuchte dabei meinen Gefühlsaufruhr unter Kontrolle zu bekommen. „Ich will zu Cio.“
Er gab ein Schnauben von sich, als könnte er es nicht glauben. Unruhig wandte er sich ab, schaute dann aber gleich wieder zu mir. Einen kurzen Moment machte es sogar den Eindruck, als würde er einfach in seinen Wagen steigen und wegfahren wollen. „Das ist doch dumm!“, fuhr er mich dann an. „Was glaubst du damit erreichen zu können? Sie wird dich verletzten. Sie wird niemals erlauben … bitte Zaira, geh nach Hause.“ Es war schon beinahe ein Flehen.
Ich verstand es nicht. Was er sagte und wie er sich verhielt, dass passte nicht zu dem Bild in meinem Kopf. Die Anhänger von Iesha denen ich bisher begegnet war, waren ganz anders gewesen, skrupellos, kaltschnäuzig, ablehnend. Tayfun machte den Eindruck zu dem hier gezwungen zu werden, obwohl er es eigentlich gar nicht wollte. „Warum machst du das? Warum hilfst du Iesha, schickst mich aber weg? Warum versteckst du Cio, trötest mich aber?“ Das war doch krank.
„Das ist … kompliziert. Bitte Zaira, verschwinde. Ich will nicht dass sie dich verletzt.“
Das wollte ich auch nicht, aber wenn ich jetzt ging, hatte ich meine Chance vertan und ich glaubte nicht so schnell eine neue zu bekommen. Das konnte ich Cio nicht antun. „Iesha wird hier nicht auftauchen. Sie hat dich geschickt um mich zu holen.“
„Ja“, sagte er. Seine Stimme klang angespannt.
Kluges Miststück. Wäre ich hier mit einem Aufgebot an Wächtern aufgetaucht, hätten wir höchstens Tayfun festnehmen können, wobei er sich vermutlich hätte rausreden können, schließlich war er ein Themis und die hätten garantiert davon erfahren. Und dann hätte Iesha einfach verschwinden können. „Nicht mit mir“, murmelte ich. „Bring mich zu Iesha.“
Er schüttelte den Kopf. „Bitte Zaira, geh wieder nach …“
„Bring mich zu Iesha“, wiederholte ich nachdrücklicher. „Jetzt.“
Einen Moment schien es, als wollte er noch einmal Widerworte geben, doch dann sackten seine Schultern geschlagen nach unten. „Okay“, sagte er leise. „In Ordnung. Wenn du nicht gehen willst, dann … ich bringe dich zu ihr.“
Trotz meiner starken Worte, hätte ich am Liebsten das Weite gesucht, als er ein Stück Stoff aus dem Wagen holte und dann damit auf mich zukam.
Ferox knurren wurde tiefer. Tayfun hatte nur einen kurzen Blick für ihn übrig, als er vor mir stehen blieb. Er wirkte niedergeschlagen, wich meinem Blick aber nicht aus.
„Macht dir das Spaß?“, fragte ich und schaffte es nicht meine Verletztheit aus meiner Stimmer zu verbannen. „Turnt es dich an solche Psychospielchen abzuziehen?“
„Nein.“ Er schüttelte den Kopf und wirkte dabei einfach nur traurig. „Ich weiß dass du mir das nicht glaubst, aber ich habe dich sehr gerne und wenn die Dinge anders wären …“ Er ließ den Satz verklingen und presste die Lippen aufeinander.
„Nein, das glaube ich dir wirklich nicht.“
Damit hatte ich ihn verletzt. Ich wusste nicht wie das möglich war, oder was das alles zu bedeuten hatte, aber auch wenn er versuchte es sich nicht anmerkten zu lassen, diese Worten hatten ihn verletzt. „Du musst dich ausziehen.“
Nach diesen Worten starrte ich ihn einen Moment ungläubig an. „Wie bitte?“
Er hielt den Stoff hoch, denn er aus dem Wagen genommen hatte. Es war ein großes, weißes T-Shirt. „Du musst alles ausziehen. Klamotten, Schmuck. Iesha will nicht riskieren, dass du irgendwas bei dir hast, womit man dich finden könnte.“
Nein, damit hatte ich absolut nicht gerechnet. Vielleicht damit dass man mich abtastet, aber das? Nein. „Es ist Winter und eiskalt.“
Tayfun zuckte nur hilflos mit den Schultern. „Ich kann dich nur mitnehmen, wenn du tust was ich sage.“
„Das ist doch ein Scherz.“ Er konnte das nicht wirklich meinen. Er konnte doch nicht genauso sein wie Owen, eine so schlechte Menschenkenntnis hatte ich nun auch wieder nicht.
Er schaute mich nur abwartend an.
Oh Gott, es war sein Ernst. „Warum machst du das?“
„Weil sie das möchte.“
Nein, das reichte mir als Erklärung nicht. „Liebst du sie?“
Sein Mund ging auf, schloss sich dann aber wieder. Am Ende sagte er dann nur: „Es ist kompliziert.“
Das schien seine Antwort des Tages zu sein. „Bringst du mich wirklich zu Cio?“
„Ja.“
Ich war mir nicht sicher ob ich ihm das glauben konnte. Er klang ehrlich, aber im Moment war ich mir über gar nichts mehr sicher. Niemals im Leben hätte ich damit gerechnet, das Tayfun mich auf diese Art hintergehen könnte. „Versprich es. Versprich mir, dass ich Cio sehen werde.“
„Du wirst Cio sehen, aber … Iesha wird niemals erlauben, dass du mit ihm verschwindest.“
Damit hatte ich auch nicht gerechnet, deswegen hatte ich mir ja auch den Plan überlegt. Ein nutzloser Plan, wie sich nun herausstellte. Ich fasste in meiner Jackentasche trotzdem nach dem Panikknopf. Vielleicht konnten sie von hier aus ja meine Spur verfolgen. „Was ist mit Ferox?“, fragte ich, als ich unauffällig den Knopf betätigte. „Iesha wollte dass ich ihn mitbringe.“
Tayfun warf einen Blick durch das Wagenfenster, von wo aus der Wilde ihn im Auge behielt. „Lass ihn einfach im Wagen. Iesha wollte ihn nur aus dem Weg haben, damit er niemanden zu dir führen kann.“
Ich biss die Zähne zusammen. Das Ferox mich immer und überall fand, konnte Iesha nur wissen, wenn es ihr jemand unter die Nase gerieben hatte. Ich ging wohl recht in der Annahme, dass Tayfun dieser jemand war. „Ich hasse dich“, sagte ich und wünschte mir, diese Worte wären wahr, doch in Wirklichkeit war ich einfach nur zutiefst verletzt, weil ich niemals damit gerechnet hätte, dass er mir sowas antun könnte.
Aber meine verletzten Gefühle interessierten im Moment nicht. Vielleicht würde mein Plan nicht mehr so funktionieren, wie ich mir das vorgestellt hatte, aber ich hatte noch immer die Chance zu Cio zu kommen. Darum griff ich auch nach den Knöpfen meiner Jacke und öffnete einen nach dem anderen. „Du würdest dich nicht zufällig umdrehen und mir ein wenig Privatsphäre gönnen?“
„Ich muss sicher gehen, dass du nichts mitnimmst.“
„Natürlich.“ Alles andere hätte mich auch gewundert.
Sobald ich meine Jacke abgestreift hatte, bekam ich trotz meines langärmligen Hemdes auf den Armen eine Gänsehaut. Einen Moment überlegte ich, wo ich meine Sachen hinlegen sollte. Ich wollte sie nicht einfach in den Dreck schmeißen, also öffnete ich den Wagen und legte die Jacke auf den Fahrersitz.
Ferox nutzte die offene Tür sofort um herauszuspringen. Er kläffte einmal und hüpfte freudig an mir hoch, passte dabei aber sehr genau auf, dass er Tayfun nicht zu nahe kam. Er mochte Vampire einfach nicht.
Ich achtete nicht weiter auf ihn. Im Moment brauchte ich meine ganze Kraft, um nicht völlig auszurasten. Die Jacke war ja noch einfach, genau wie der Schal, die Schuhe und die Socken, auch wenn ich sofort kalte Füße bekam. Aber als es daran ging mein Hemd zu öffnen, zögerte ich. „Das werde ich dir niemals verzeihen“, sagte ich, als ich mit zitternden Fingern begann mein Hemd aufzuknöpfen. Darunter trug ich nur einen BH.
„Auch die Ketten“, sagte er, als ich bereits nach dem Knopf an meiner Hose griff. „Und die Brille solltest du auch hier lassen.“
Scheiße. Ich hätte den verdammten Peilsender schlucken sollen, aber jetzt blieb mir gar nichts anderes übrig, als ihn zusammen mit meinem Verlobungsring abzunehmen und ihn zu den anderen Sachen in den Wagen zu legen.
Als ich meine Hose ausgezogen hatte, zitterte ich wegen der Kälte am ganzen Körper wie Espenlaub. Ich stand nur noch in Unterwäsche da und fühlte mich genauso verletzlich wie an dem Tag in der Stallbox, als Owen zu mir gekommen war. Wenigstens schien Tayfun sich an meinem Anblick nicht zu erfreuen.
„Bring es einfach hinter dich“, sagte er leise. „Dann kannst du in den Wagen, da war es warm.“
Als wenn es das besser machen würde. Trotzdem griff ich nach hinten und öffnete meinen BH. Dabei hielt ich meinen Arm schützend vor meine Brust.
Einen Moment war Tayfuns Blick auf meinen leicht gerundeten Bauch gerichtet. „Hier.“ Er hielt mir das Shirt vor die Nase.
Nein, es war mir nicht peinlich, wie schnell ich danach griff und es mir überstreifte. Es half zwar nicht viel gegen die Kälte, aber wenigstens war es groß genug, um alles bis zu den Oberschenkeln zu bedecken.
„Gib mir deine Hände.“
Verwirrt schaute ich zu ihm auf und fragte mich wieder, wie ich mich nur so in ihm hatte täuschen können. „Aber der Slip.“
„Es sieht nicht aus, als hättest du da irgendwas drinnen versteckt.“
Nein, weil ich mit dieser Situation niemals im Leben gerechnet hätte. „Wozu soll ich dir meine Hände geben?“
Statt mir zu antworten, griff er in seine hintere Hosentasche und zog ein paar Handschellen raus.
Als ich die sah, hätte ich am Liebsten angefangen zu weinen. „Das ist nicht dein Ernst.“
„Iesha will es so.“
„Und was kommt dann noch? Ein Knebel? Fußfesseln? Ein Seil im Bondage-style ?“
Er schüttelte den Kopf. „Nur noch das, dann können wir fahren.“
Scheiße. „Du bist wirklich das Letzte.“ Nein, es brachte mir gar nichts ihn zu beleidigen und ich streckte trotzdem meine Arme aus und wehrte mich nicht, als er mir die Handschellen anlegte, aber irgendwas musste ich tun, um mich nicht ganz so hilflos zu fühlen.
Das kalte Metall fühlte sich seltsam an meinen Handgelenken an, doch mir wurde sofort klar, dass ich damit nicht viel Bewegungsfreiheit hatte. „Und jetzt?“
„Setz dich in den Wagen, dann fahren wir.“
Seiner Aufforderung nachzukommen war fast noch schwieriger als sich vor ihm auszuziehen, denn es würde mich in eine völlig hilflose Situation bringen. Aber ich konnte nicht anders. Also lief ich über das halb gefrorene Unkraut zu seinem Wagen hinüber. Die Tür bekam ich noch alleine auf, doch mit dem Hineinklettern hatte ich ein paar Probleme, weil der Wagen so hoch war.
„Warte, ich helfe …“
„Fass mich nicht an.“ Nie wieder.
Die Warnung musste bei ihm angekommen sein, denn er nahm die Hände wieder weg und wartete einfach, bis ich es allein geschafft hatte. Mich alleine anzuschnallen, erwies sich jedoch als aussichtsloses Unterfangen. Ich wusste einfach nicht, wie ich das machen sollte.
Tayfun schaute sich meine Versuche zwei Minuten lang still an, dann griff er wortlos nach dem Gurt, bis er einrastete. Er ging dabei sehr vorsichtig vor und achtete sowohl auf meinen Bauch, als auch darauf, mich nicht zu berühren. „Mach es dir bequem, es wird eine lange Fahrt“, sagte er noch, dann schlug er die Tür zu und ging um den Wagen herum.
Bequem machen. Wäre das alles nicht so grotesk, hätte ich wohl gelacht, aber so … ich konnte nur hoffen, dass es irgendwas brachte, dass ich den Panikknopf gedrückt hatte, denn ein Zurück gab es für mich nun nicht mehr.
Als Tayfun in den Wagen einstieg, richtete ich meinen Blick demonstrativ aus dem Seitenfenster. Ferox stand noch immer an Papas Auto und schaute neugierig in meine Richtung. Ich hätte ihn eingesperrt lassen sollen, dann hätte man ihn gefunden, wenn man den Wagen fand. So würde er mir garantiert einfach hinterherlaufen. Gott, ich war so dumm.
Sobald Tayfun den Wagen gestartet hatte, drehte er die Heizung hoch. Ich wusste nicht ob ihm selber kalt war, oder ob er das für mich machte. Ich wollte nicht, dass er das für mich machte, denn nachdem was ich gerade erfahren hatte, wollte ich in ihm nur einen Bösewicht sehen, aber irgendwie wollte mir das nicht gelingen. Er tat was Iesha wollte, aber gleichzeitig erweckte er den Eindruck, es gar nicht zu wollen. Das bekam ich einfach nicht in den Kopf, weil es keinen Sinn machte.
„Erklär es mir“, sagte ich, als er den Wagen in Bewegung setzte. Ferox beobachtete uns aufmerksam, schien sich aber nicht sicher, was er tun sollte. „Ich verstehe es nicht.“
Er warf mir einen vorsichtigen Blick zu, als er das Auto über den unebenen Untergrund zurück auf die Straße lenkte. „Das ist nicht so einfach zu erklären.“
„Versuch es.“ Ich wandte ihm das Gesicht zu. „Zeit genug haben wir ja wohl.“
„Es ist eine lange Geschichte.“
Ich wartete stumm. Die Leute sahen sich oft gezwungen, unbehagliche Stille mit irgendwas zu füllen. Mein Schweigen würde ihn also eher zum Reden bringen, als es Drängen konnte.
„Weißt du noch was ich dir erzählt habe?“, fragte er, als er den Wagen auf die leere Landstraße lenkte und ein wenig mehr Gas gab. „Über Tiago und meine Beziehung zu ihm?“
„Du hast ihn geliebt, auf deine Art. Es war egal was er dir antat, du konntest ihn nicht verlassen.“ Etwas das ich bis heute nicht verstand.
„Abhängige Persönlichkeitsstörung“, sagte er, als sei es eine Diagnose. „Oder auch Hörigkeit. Ich konnte ohne ihn nicht leben. Allein daran zu denken war, als würde mir jemand die Luft zum Atmen nehmen und nein, es war nicht nur die Angst vor seinem Zorn, die mich bei ihm bleiben ließ. Ich war … naja, abhängig.“
Zumindest bist Tiago seiner überdrüssig geworden war und sich ein neues Spielzeug besorgt hatte.
„Als ich ihn getötet habe … es war als hätte ich mir selber das Herz aus der Brust gerissen und …“ Er schüttelte den Kopf, als wollte er die Erinnerung daran loswerden. „Als die Themis kamen, war ich so am Ende, dass ich sogar versucht habe mir selber das Leben zu nehmen. Deswegen brachten sie mich in die Psychiatrie. Dort konnte man auf mich aufpassen und mir mit ein bisschen Glück vielleicht sogar helfen und nach einiger Zeit ging es mir wirklich besser. Ich lernte mit dem was geschehen war zu leben, aber …“ Er atmete einmal tief durch, als würden seine Erinnerungen ihn quälen. „Es war nicht alles schlecht dort. Eine Psychiatrie ist nicht nur ein Haus für völlig durchgeknallte Leute. Es bietet auch Sicherheit und ein stabiles Umfeld, was es einem leichter macht zu heilen. Ich hatte dort sogar Freunde und ohne Damian wäre mein Leben sogar ziemlich gut gewesen. Ich …“
„Damian?“ Oh mein Gott. „Dieser durchgeknallte Kerl, der Cio so ähnlich sieht?“
Tayfun lächelte bitter. „Er war Ieshas bester Freund. Die beiden waren eigentlich die ganze Zeit zusammen und ich … keine Ahnung, ich war auch immer irgendwie dabei.“
Plötzlich wurde mir eiskalt. „Jamal.“ Der Name war nur ein Flüstern.
Er warf mir einen kurzen Blick zu, bevor er sich wieder auf die Fahrbahn konzentrierte. „Ja, ich bin Jamal.“
Nein. Bitte, nein, das konnte nicht wahr sein. „Aber du kannst nicht Jamal sein, du hast mir gesagt, dein Name sei Yusuf Demir.“
„Ich bin sowohl der eine, als auch der andere.“
Mir einem Mal dröhnten mir Damians Orte in den Ohren. Jamal hatte Kontakt zu Iesha. Jamal war immer in meiner Näher. Jamal war der unsichtbare Feind, der mich dazu gebracht hatte, mir auf der Straße drei mal über die Schulter zu blicken.
Einen Moment hatte ich wirklich das Bedürfnis einfach zu heulen. „Es war also wirklich alles eine Lüge.“
„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Mein Name ist Yusuf Demir. Erinnerst du dich daran, wie ich zum Sklaven geworden bin? Die Demirs waren meine Eltern und sie gaben mit den Namen Yusuf. Auch Tiago nannte mich so und als die Themis kamen um mich zu retten, nannte ich auch ihnen diesen Namen. Jamal Keskin ist mein Geburtsname. Eine Angestellte in der Psychiatrie fand das heraus, als wir zusammen versuchten etwas über meiner Herkunft in Erfahrung zu bringen. Leider musste ich dabei feststellen, dass meine leiblichen Eltern schon vor Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren und ich keine näheren Verwandten mehr hatte.“
Oh Gott, darum hatte auch niemand bei den Themis etwas mit dem Namen Jamal Keskn anfangen können, da alle ihn nur unter dem Namen Yusuf Demir kannten. Und da man dort mit Pseudonymen arbeitete, hatte auch niemand nachgeforscht. Niemand war auf die Idee gekommen, dass Yusuf und Jamal ein und die selbe Person waren. „Du hast mich ausspioniert.“
Er setzte zu einer Antwort an, unterbrach sich aber, weil in dem Moment sein Handy klingelte. Mit fahrigen Fingern fischte er es aus seiner Jackentasche und hielt es sich dann ans Ohr, ohne einen Blick in meine Richtung zu riskieren. „Hmh?“
Ich konnte zwar nicht verstehen, wer am anderen Ende war, doch ich sah die Verwandlung in Tayfuns Gesicht. Eben noch war es voller Kummer gewesen, doch plötzlich begann er ganz leicht zu lächeln, wodurch es beinahe aufleuchtete.
„Ja, sie sitzt neben mir.“
Iesha. Das war sicher Iesha.
„Nein, keine Probleme.“ Er warf mir einen kurzen Blick zu. „Ja, hab ich gemacht, genau wie du es wolltest.“ Einen Moment lauschte er ihren Worten. „Drei bis vier Stunden denke ich. Ja, okay, bis nachher.“ Auch als er auflegte, wagte er es nicht mich anzuschauen. „Du hättest nicht einsteigen sollen.“
„Du solltest nicht so einem geisteskranken Miststück helfen.“
Seine Lippen wurden schmal. „Du kannst das nicht verstehen.“
„Dann klär mich auf. Das wolltest du doch sowieso gerade tun.“
„Du wirst mich hassen.“
„Ich hasse dich jetzt schon.“
„Nein, das tust du nicht. Noch nicht.“ Seine Augen waren starr auf die Straße gerichtet. „Ich war bereits drei Jahre in Sanare gewesen, als sie Iesha dort einwiesen. Sie war … zornig. Nicht wie Tiago. Es hat ihr keinen Spaß gemacht mir Angst zu machen, sie tat es einfach indem sie da war. Sie hat mir sogar mit Damian geholfen, damit er mich in ruhe lässt und … ich weiß nicht. Sie hat auf mich aufgepasst und irgendwie … ich mochte sie.“
„Du mochtest sie?“
„Du weißt nicht wie das ist Damians Prügelknabe zu sein und sich all seinen Launen zu unterwerfen. Iesha hat mir geholfen, wenn sie nicht gerade einen dieser Tage hatte.“
„Dieser Tage?“
Er zögerte und sagte dann leise. „Sie war immer sehr zornig auf die Welt und manchmal hat sie es an mir ausgelassen, aber meistens war sie nett.“
Das hörte sich nicht so an als sei sie nett gewesen, sondern als hätte nun sie ihn als Prügelknabe benutzt.
„Wir waren zwei Jahre zusammen in Sanare und sie erzählte mir viel. Von ihrem Leben, von Cio und auch von dir. Sie sagte immer wieder, dass sie Cio zurückgewinnen würde, sobald sie raus durfte und dann … ich weiß nicht. Damian brachte sie auf die Idee mit dem Amor-Killer. Er sagte ihr, es sei wie eine Therapie. Sie musste sich von all dem alten Ballast befreien, dann würde sie glücklich werden und dann begann sie zu planen. Ich sollte ihr helfen. Ich war es ihr schuldig, weil sie immer auf mich aufgepasst hat und … weil wir Freunde waren. Freunde helfen sich.“
Klang das nur in meinen Ohren völlig verdreht?
„Als ich entlassen wurde, ging ich zu den Themis. Cio arbeitete am Hof und so konnte ich ihn im Auge behalten. Ich machte Fotos und Videos für sie. Sie freute sich immer, wenn ich ihr etwas neues von ihm …“
„Moment, du hast all diese Aufnahmen gemacht?“ Das konnte nicht sein Ernst sein.
„Es … ich …“ Er biss die Zähne zusammen. „Iesha brauchte das, dann war sie glücklich. Ich wollte sie glücklich machen.“
Oh Gott. „Aber dann … dann wusstest du ja schon wer ich war, bevor …“
„Bevor du im HQ in mich reingelaufen bist? Ja.“ Er nickte. „Ich wusste wer du bist, wo du gewohnt hast, wer deine Freunde waren und was du gerne in deiner Freizeit getan hast. Ich wusste alles. Über dich, über Cio und über euer Umfeld. Dein Vater und Cayenne haben manchmal von dir erzählt.“
„Aber du … nein.“ Ich schüttelte den Kopf, weil ich das nicht glauben konnte. Bei unserer ersten Begegnung war er so überrascht gewesen zu erfahren, dass mein Vater mein Vater war und auf der Trauerfeier hatte er herumgeraten um herauszubekommen, was genau ich war. „Niemand ist so ein guter Schauspieler.“
Ein Moment der Stille folgte. „Mit dreizehn Jahren wolltest du Eishockey lernen. Auf dem Eis bist du ausgerutscht und auf einen Jungen gefallen. Das war Kasper, so hast du ihn kennengelernt.“
Woher … das hatte ich ihm nie erzählt.
„An Kaspers siebzehnten Geburtstag warst du mit ihm am alten Steinbruch in Koenigshain. Ich habt getrunken und kamt auf die Idee miteinander herumzuknutschen. Kasper wollte wissen, ob es sich mit einem Mädchen genauso anfühlt wie mit einem Jungen. Ihr fandet es beide seltsam und habt euch geschworen, niemals ein Wort darüber zu verlieren.“
Das konnte er nicht wissen. Das war etwas, dass wir nie jemanden erzählt hatten. Es war nur ein dummes Experiment gewesen. „Woher weißt du das?“
„Von Kasper.“ Tayfun schaltete, als er auf eine Schnellstraße fuhr. „Ich war ungefähr ein halbes Jahr bei den Themis, als Iesha wollte, dass ich etwas über deine Vergangenheit herausfinde. Ich hab Kasper besucht und ihn ausgefragt.“
„Kasper hätte nie …“
„Er ist ein Mensch, Zaira. Ich habe ihn einfach mit meinem Joch belegt und er hat mir alles erzählt, was ich wissen wollte. Dann habe ich ihn vergessen lassen, dass wir uns begegnet sind. Was meinst du, woher Iesha so viel über dich wusste? Von all den Orten, an denen sie die Leichen zurückgelassen hat, oder wo du überall gewohnt hast? Kasper ist ein wandelndes Lexikon, wenn es um dich und deine Vergangenheit geht.“
Oh mein Gott, es war wirklich alles eine Lüge gewesen. Ich wusste nicht warum mich das so viel mehr schockte, als all die anderen Dinge, die ich heute schon erfahren hatte, aber es war so. Er hatte Kasper manipuliert. Er hatte mich hintergangen und mein Vertrauen ausgenutzt und das alles nur um Iesha glücklich zu machen.
Damian hatte recht gehabt. Iesha mochte von Cio besessen sein, aber Tayfun war ihr geradezu … verfallen. Da war weit mehr als eine einfache Obsession.
„Du bist krank.“
Tayfuns Lippen wurden eine Spur schmaler. „Ich hab getan was ich tun musste um sie glücklich zu machen. Sie braucht mich.“
Nein, sie brauchte einen Sklaven und er nahm diese Rolle nur zu bereitwillig ein, weil er so jede Verantwortung abgeben konnte. „Als du mich kennengelernt hast, musst du ja vor Freude Luftsprünge gemacht haben.“
„Es war nicht geplant gewesen, wenn du das meinst. Eigentlich sollte ich mich sogar von dir und Cio fernhalten, doch nachdem wir uns dann begegnet waren sah Iesha neue Möglichkeiten näher an Cio heranzukommen.“
„Und darum hast du beschlossen mein Freund zu werden.“
„Ich bin dein Freund, Zaira.“ Für einen Augenblick ließ der die Fahrbahn aus dem Blick und schaute mich an. „Ich hab dich sehr gerne und wollte dir nie schaden, aber Iesha … es ist nicht so leicht gegen sie anzukommen.“
Ich schnaubte. „Du hättest dich einfach von ihr fernhalten können.“
„Nein, das … du verstehst das nicht.“ Er hörte sich frustriert an. „Sie braucht mich.“
„Sie braucht jemand der die Drecksarbeit für sie macht.“
„Du hast doch keine Ahnung.“
„Wovon hab ich keine Ahnung? Dass du mich von Anfang an belogen und ausgenutzt hast? Dass du ihr geholfen hast mein Leben zur Hölle zu machen? Was glaubst du mit all dem zu erreichen? Was bringt dir das?“
„Wenn sie da ist, bin ich nicht allein. Du kannst das nicht verstehen, du hast Cio und deine Freunde und deine Familie, die wirklich alles für dich tut. Ich habe nur Iesha.“
Glaubte er das wirklich? „Du täuschst dich, du hattest mich.“
„Ich hätte dich niemals bekommen“, sagte er bitter. „Er ist alles für dich. Selbst als er dich wie Dreck behandelt hat konntest du ihn nicht loslassen. Ich war für dich da, als er dich betrügen wollte, doch sobald sich dir die Chance geboten hat, bist du wieder zu ihm ins Bett gekrochen.“
„Cio hat ein Fehler gemacht und den auch eingesehen. Iesha ist eine Mörderin und du hast ihr geholfen. Sie hat mich von meiner Hochzeit entführt und wollte mich umbringen und du hast nichts getan!“
„Ich habe sie gebeten aufzuhören, aber sie hat sich nicht umstimmen lassen.“
„Und darum bist du einfach zur Seite getreten und hast sie ihr Ding durchziehen lassen? Was für ein Freund macht sowas?“
„Komm von deinem hohen Ross runter. Du hast dich doch auch nur an mich erinnert, wenn du etwas gebraucht hast, dabei bin ich der einzige Grund, warum du heute überhaupt noch lebst!“
„Der einzige Grund warum ich heute noch lebe, ist, weil Iesha untertauchen musste.“
Er schnaubte. „Seit deiner Entführung hatte sie so viele Gelegenheiten dich umzubringen. Nachdem du ihr entkommen bist, wollte sie dich einfach nur noch töten. Ich habe sie dazu gebracht dich erstmal in Ruhe zu lassen.“
„Mich in Ruhe lassen? Sie hat Kasper angeschossen und meinem Vater eine Bombe ins Haus geschickt!“
„Aber sie hat dich nicht angerührt!“, fauchte er mich an. „Sie hat … sie hat dich in ruhe gelassen.“ Er fletschte die Zähne, als wolle er irgendwen beißen. „Nachdem du entkommen bist … sie war so wütend, aber ich wollte nicht dass sie dir wehtut, also brachte ich sie auf die Idee mit den Fotos. Eine Zeitlang funktionierte das auch, aber Cio hat nie geantwortet und …“
„Moment, du hast ihr unsere Handynummern gegeben?“
„Ja.“
Warum überraschte mich das eigentlich noch?
Er seufzte. „Weil Cio nie reagiert hat, suchte sie nach einer neuen Möglichkeit seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Außerdem wollte sie, dass ich mich euch wieder annähre, aber Cio wollte mich nicht mehr in deiner Nähe haben, deswegen … sie wusste das du Mitleid mit mir haben würdest.“
Was? „Ich versteh nicht.“
„Der Abend in Leukos Tempel. Da waren keine Männer die mich zusammengeschlagen haben.“ Er atmete einem hektisch ein, als würde die Erinnerung ihn schmerzen. „Iesha war es, sie hat es getan. Sie wusste, wenn du mich so siehst, würdest du gar nicht anders können, als dich um mich zu kümmern.“
„Oh mein Gott.“ Das konnte nicht sein ernst sein. „Sie hat dir das angetan?“ Und trotzdem hielt er noch zu ihr?
„Es war nötig und … ja. Es war die einzige Möglichkeit wie Cio mich in deiner Gegenwart dulden würde und so kam ich an eure Handys ran.“
„Unsere Handys?“
„Ich hab auf euren Handys eine App installiert, damit sie immer genau wusste wo ihr seid. Ich dachte damit wäre sie erstmal zufrieden, aber dann wollte sie … mehr. Sie wollte dich leiden lassen und hat mich auf das Straßenfest geschickt.“
Nein. Nein, das konnte nicht sein. „Du hast auf Kasper geschossen.“
„Es war besser als auf dich zu schießen.“
Ich konnte es nicht fassen. Glaubte er das wirklich?
„Als sie merkte wie nahe dir das alles ging, machte sie weiter, mit Ferox und deinem Vater. Sie hatte noch mehr geplant, aber dann sah sie wie Cio dich an dem Auto geküsst hat und ihr ist eine Sicherung durchgebrannt. Es war nicht geplant gewesen und als ihr dann verschwunden seid, ist sie fast durchgedreht.“
Das konnte ich mir vorstellen, weil sich die Dinge damit ihrer Kontrolle entzogen hatten. „Aber sie hat uns gefunden.“
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Sie hat es versucht, aber es gab keine Spur. In dem einen Moment wart ihr noch da und im nächsten hattet ihr euch einfach in Luft aufgelöst.“
„Sie war in Neuss“, rief ich ihm in Erinnerung. „Sie hat Cio entführt.“
„Es war mehr Glück als alles andere, dass wir herausgefunden haben wo ihr seid.“
Glück? „Woher wusste sie es?“
„Ich hab es ihr gesagt. Ich war am Hof, weil ich gehofft hatte, dass die Themis etwas wissen könnten, da bin ich Kiara über den Weg gelaufen. Sie kam grade von ihrem Besuch bei ihrer Großmutter und war ziemlich aufgewühlt.“
Oh nein. „Und sie hat dir erzählt was passiert ist.“
„Sie hat dir nicht schaden wollen, sie wollte sich nur auskotzen. Sie hatte keinen Schimmer, was für eine Information sie mit damit in die Hand gibt.“
„Und dir ist nichts besseres eingefallen, als sofort zu Iesha zu rennen und es ihr zu erzählen?“
„Iesha ist glücklicher, seit er bei ihr ist.“
Das war seine armselige Entschuldigung?
„Wir haben uns auf den Weg nach Neuss gemacht und das Gelände vom Gracia-Rudel im Auge behalten. Eigentlich hatten wir auf eine Gelegenheit gehofft Cio unbemerkt von Gelände zu holen. Es war purer Zufall, dass er alleine weggefahren ist und wir ihn abfangen konnten.“
„Du warst auch da? Aber ich habe nur sie gerochen.“
„Ich habe Parfum benutzt.“
Daran erinnerte ich mich. Ich hatte geglaubt Iesha hätte es benutzt um ihren Geruch zu verschleiern. Nicht mal im Traum wäre ich darauf gekommen, dass es in Wirklichkeit zur Verschleierung von Tayfuns Anwesenheit gedacht war. „Wie habe ich mich nur so in dir täuschen können? Ich dachte die ganze Zeit Iesha wäre die Geisteskranke, aber das alles war nur wegen dir möglich.“
„Ich bin nicht geisteskrank“, knurrte er und funkelte mich an. „Ich war sogar bereit sie für dich hinter mir zu lassen, aber du hast mir einen Korb gegeben. Du wolltest mich nicht, du wolltest immer nur ihn.“
Die Worte schlugen ein wie ein Komet. Das konnte er doch nicht wirklich sein Ernst sein. Er half ihr um seinen Nebenbuhler aus dem Weg zu räumen und errechnete sich dann Chancen bei mir? Das war nicht nur krank, das war völlig absurd. Diese ganze Geschichte war völlig absurd.
„Er weiß gar nicht was für ein Glück er mit dir hat. Ich würde alles für eine Frau wie dich geben.“
Langsam verstand ich gar nichts mehr. Alles was er sagte war so widersprüchlich und verworren, doch der Kern all seiner Worte war klar: Tayfun hatte mich und jeden anderen den er kannte nach Strich und Faden belogen und betrogen. Nein, nicht Tayfun, Jamal. Tayfun war mein Freund gewesen, Jamal dagegen war nicht nur ein Fremder, er war der Feind. Ieshas Kundschafter, der uns alle getäuscht hatte.
Ich schluckte, um den Kloß loszuwerden, der sich in meiner Kehle festsetzen wollte, aber es funktionierte nicht. Ich spürte den Druck hinter meinen Augen, als die ersten Tränen kamen. Ich hätte auf Cio hören und mich von Tayfun fernhalten sollen. Ich hätte von Anfang an auf mein Gefühl vertrauen sollen. Meine Instinkte hatten mich von ersten Moment an vor ihm gewarnt, aber ich hatte das Gute in ihm gesehen und mich von seiner rührseligen Vergangenheit blenden lassen.
Tayfun war nicht böse, er war einfach nur kaputt. Nicht dass das im Moment einen Unterschied machen würde.
Gott, jetzt versuchte ich schon Entschuldigungen für ihn zu finden. Dabei war nichts von dem was er getan hatte zu entschuldigen. Er hatte auf Kasper geschossen. War ihm eigentlich bewusst, dass er ihn hätte töten können?
Mein leises Weinen erregte natürlich seine Aufmerksamkeit. Immer wieder glitt sein Blick zu mir und mehr als einmal öffnete er den Mund, als wollte er etwas sagen, nur um ihn am Ende dann doch wieder fest zu verschließen. Was sollte er auch sagen? Für das was er getan hatte, gab es einfach keine Entschuldigung.
Die nächsten drei Stunden fiel kein Wort zwischen uns. Ich weinte stumm und starrte aus dem Fenster. Nur der Gedanke Cio bald in die Arme schließen zu können sorgte dafür dass ich mich zusammenriss. Ich hatte keine Ahnung was ich tun sollte wenn ich da war, oder wie ich uns da herausholen sollte, aber es war immer noch besser als weiter in dieser Ungewissheit zu leben.
Tayfun nutzte hauptsächlich Schnell- und Landstraßen. Wir fuhren durch mehrere kleine Orte, hielten aber nirgendwo an. Durch die Uhrzeit war nicht viel los. Zwar sah ich immer wieder andere Autos, aber Menschen waren kaum unterwegs.
Mit der Zeit merkte ich wie die Erschöpfung an mir zerrte und einmal nickte ich sogar kurz ein. Als ich hochschreckte, lief leise Musik im Radio.
Ich wusste nicht genau wie lange ich schon in diesem Wagen saß, doch anhand der Schmerzen in meinem Hintern musste es schon eine ganze Weile sein, als Tayfun kurz vor einer kleinen Ortschaft spürbar das Tempo drosselte und auf einen unbefestigten Weg einbog.
„Wir sind gleich da“, erklärte er, als würde er wissen was in meinem Kopf vor sich ging.
Sofort wuchs meine Anspannung und ich wurde aufmerksamer. Links von uns war ein kleines Dörfchen und weite Felder. Rechts war ein Wäldchen, dass an einer Stelle von einem Rastplatz mit ein paar Tischen und einem Klohäuschen unterbrochen war.
In der Annahme dass wir daran vorbeifahren würden, beachtete ich es nicht weiter und war umso erstaunter, als er den Wagen dorthin lenkte. Doch er hielt nicht dort, sondern fuhr bis ans andere Ende, wo eine geschlossene Tankstelle stand, die sicher schon seit Jahren nicht mehr in Betrieb gewesen war. Die Zapfsäulen waren weg und die Schaufenster mit Graffitis vollgeschmiert. Der Asphalt war rissig und mit Moosflechten und altem Laub überzogen. Es gab nicht mal mehr ein Namensschild oder Reklametafeln, nur ein altes, vergilbtes Plakat in einem der Schaufenster.
Wie war Iesha nur auf diesen Ort gestoßen?
Tayfun hielt nicht vor dem Laden, weil das vermutlich zu auffällig gewesen wäre. Er fuhr einmal um das Gebäude herum, direkt in eine alte Waschstraße hinein. Der Motorenlärm hallte von den Wänden wieder.
Erst als wir fast das andere Ende der Waschstraße erreicht hatten, hielt Tayfun den Wagen an und schalltet den Motor ab. Er zog den Zündschlüssel ab und dann saß er einfach nur da und schaute durch die Windschutzscheibe.
„Warum bist du nicht einfach wieder nach Hause gefahren?“, fragte er leise. Er klang traurig.
Weil ich immer noch hoffte einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, einen an dessen Ende Cio wieder bei mir sein würde.
Als ich nicht antwortete, holte Tayfun einmal tief Luft. „Zeig ihr nicht dass du Angst hast und versuch sie nicht zu verärgern. Ich weiß nicht was sie mit dir vor hat, aber solange sie ihren Willen bekommt, beherrscht sie sich eigentlich.“
„Für deine Hilfe und gute Ratschläge ist es ein wenig spät, meinst du nicht auch?“
Einen stummen Moment schaute er mich einfach nur an, dann schüttelte er nur den Kopf und stieg aus dem Wagen.
Die Tür war vielleicht vier oder fünf Sekunden offen, doch sie reichte um die kühle Nachtluft hereinzulassen. Es fröstelte mich, doch das war gar nichts zu dem Moment, als Tayfun auf meiner Seite erschien und mich abschnallte. Es war wirklich bitterkalt und ich begann schon zu zittern, als ich mich noch auf meinem Sitz drehte, um auszusteigen.
„Pass auf wo du hintrittst, hier sind überall Glasscherben.“
Ja, genau das was ich jetzt auch noch brauchte. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als mir von Tayfun helfen zu lassen. Durch das lange Sitzen waren meine Gelenke steif und protestierten bei jeder Bewegung. Dass es hier praktisch stockdunkel war, half mir auch nicht gerade und mit den Handschellen war ich auch noch eingeschränkt.
Tayfun führte mich hinten aus der Waschstraße heraus zu einer stabilen Hintertür, die einige Rostflecken aufwies.
Ich prüfte die Luft in der Hoffnung die Witterung von Cio aufzufangen, doch alles was ich roch war die Natur und eine Spur von Benzin, die noch an dem Gebäude haftete.
Die Tür war nicht verschlossen. Tayfun zog sie einfach auf und griff dann nach meinem Ellenboden, um mich hinein zu führen. Kleine Steinchen und Dreck bohrten sich in meine Fußsohlen.
Wir standen im Geschäftsraum. Er war völlig leer, selbst der Tresen war nicht mehr vorhanden. Da waren nur noch ein paar Leitungen und Kabel, die aus der Decke und den Wänden ragten.
„Wo ist Cio?“
„Hinten bei Iesha. Er schläft vermutlich.“
Er sagte das so selbstverständlich, dass ich einen Moment brauchte, um dem einen Sinn zu geben. Aber natürlich schlief Cio, es war Nacht und auch wenn er von einer Verrückten gefangen gehalten wurde, konnte er nicht drei Wochen ohne Schlaf auskommen. „Ich will ihn sehen.“
Tayfun griff nach einer elektrischen Laterne die an der Wand stand und schaltete sie ein. „Komm.“
Oh Gott, endlich war es so weit, nach zwanzig Tagen würde ich ihn wiedersehen.
Ich folgte Tayfun in den privaten Bereich des Gebäudes, ein kurzer Korridor mit vier Türen. Eine von ihnen war noch mit dem Schild „Lager“ versehen, die anderen ließen nicht erkennen, was einmal dahinter gewesen war.
Tayfun öffnete gleich die erste Tür links und hielt sie dann für mich auf. „Hier rein.“
Mit einem mal schlug mir mein Herz bis zum Hals. Ich schluckte noch einmal und trat dann an ihm vorbei in den Raum, doch schon nach dem ersten Schritt runzelte ich die Stirn. Hier drinnen roch es muffig und nach nur abgestandener Luft. Es war kalt und bis auf einem alten Schreibtisch und einen ungekippten Aktenschrank war hier drinnen gar nichts.
Ich wirbelte zu ihm herum. „Wo ist Cio?“
„Ich habe dir doch gesagt, er schläft.“ Er streckte die Hand nach mir aus, weswegen ich automatisch vor ihm zurückwich. Leider trieb er mich damit weiter in den Raum hinein und erst als er die Tür hinter uns schloss, wurde mir klar, dass das sein Plan gewesen war.
Nun begann mein Herz aus ganz anderen Gründen zu rasen. „Du hast mir versprochen, ich würde ihn sehen.“
„Das wirst du auch, später, wenn die beiden wach sind.“
„Aber …“
„Ich werde Iesha nicht wecken.“ Er klang streng. „Du musst dich einfach nur noch ein wenig gedulden.“
Gedulden? War er noch ganz dicht? Für einen Moment war ich versucht nach Cio zu brüllen, aber dann fragte ich mich, was ich damit erreichen würde. Vielleicht war es besser erstmal die Füße still zu halten und mitzuspielen, wenigstens bis ich eine ungefähre Vorstellung von der Situation hatte. Dann konnte ich immer noch handeln.
„Gib mir deine Hände.“ Während er das sagte stellte er die Laterne auf dem Boden ab und zog dann einen kleinen Schlüssel an einem großen Schlüsselband aus seiner Hosentasche. Der musste für die Handschellen sein.
Ich streckte ihm meine Hände entgegen. „Was passiert jetzt?“
„Bis Iesha aufwacht, nichts.“ Er öffnete die Schelle an meinem linken Handgelenk, die am rechten ließ er jedoch dran.
„Was wird das?“, fragte ich, als er die Handschellen festhielt und mich daran in die Mitte des Raumes zog. Den Stahlring im Boden bemerkte ich erst, als er sich danach bückte – oder besser gesagt, versuchte mich daran festzubinden, doch im letzten Moment riss ich meinen Arm zurück, sodass er den Ring verfehlte. „Nein!“
Er sagte nicht, riss mich nur mit einem Ruck zu sich heran, sodass ich nicht nur noch vorne taumelte, sondern auch noch schmerzhaft mit den Knien auf den muffigen Teppich knallte und schloss das lose Ende der Handschellen blitzschnell an dem Ring. Gefangen.
„Verdammt, was soll das?!“ Ich riss an meinem Arm, aber weder die Handschellen noch der Ring wollten nachgeben. „Mach mich wieder los!“
Ohne darauf einzugehen, kehrte er mir den Rücken und verließ einfach den Raum.
Einen Moment glaubte ich mich im falschen Film. Er war wirklich einfach gegangen. „Tayfun!“ Ich begann an der kurzen Kette zu zerren und als das nichts brachte, außer dass ich mir selber wehtat, versuchte ich es mir dem Stahlring im Boden. Er schien nicht zur ursprünglichen Einrichtung zu gehören, er sah sogar ziemlich neu aus. Der Teppich drumherum war unordentlich ausgefranst, so als hätte man einfach nur ein Loch reinhaben wollen und die Scheiße saß verdammt fest.
Ich kniete mich direkt daneben, fasste mit beiden Händen danach und versuchte dann mit aller Kraft das Teil zu drehen. Es brachte gar nichts, außer das mir die Puste ausging.
Als die Tür wieder aufging, schaute ich sofort auf. Es war Tayfun, mit einer Decke und einem Schlafsack.
„Das kannst du dir sparen“, sagte er und trat zu mir. „Ich habe den Ring selber befestigt, den bekommt nicht mal ein Lykaner raus.“
Ich funkelte ihn an. „Was soll das? Warum bindest du mich hier fest?“
„Ieshas Anweisung. Hier.“ Er reichte mir den Schlafsack und die Decke. „Ist nicht viel, aber hier drinnen kann es verdammt kalt werden und Iesha wird sicher noch ein Weilchen schlafen.“
Da war er wieder dieser Widerspruch. Einerseits kettete er mich hier fest, andererseits sorgte er sich darum, dass mir kalt sein könnte.
„Du solltest versuchen auch noch ein bisschen zu schlafen.“ Da ich die Sachen nicht nahm, legte er sie neben mich auf den Boden. „Warum nur hast du nicht auf mich gehört? Ich habe dir doch gesagt du sollst Cio vergessen.“
„Weil ich im Gegensatz zu dir weiß was echte Liebe ist.“
Tayfun ließ nicht erkennen was er dachte. Er schaute mich nur einen Moment an und sagte dann leise: „Schlaf ein bisschen.“ Dann kehrte er mir langsam den Rücken und verließ wieder den Raum.
An Schlaf war natürlich nicht zu denken. Stattdessen begann ich den kleinen Raum mit den Augen abzutasten und hoffte irgendwas zu finden, was mir aus meiner verdammten Lage helfen konnte, aber das einzige in meiner Reichweite war der umgekippte Aktenschrank und eine schnelle Untersuchung ergab, dass die oberste Schublade klemmte und er bis auf ein paar Staubflusen leer war.
Nicht zum ersten Mal bekam ich Zweifel an meinem Plan, aber ein Zurück gab es nun nicht mehr und ich musste das Beste aus dieser Situation machen. Ich hatte auch schon ganz andere Sachen gemeistert, die genauso ausweglos gewesen waren, ich musste nur Geduld haben, dann würde sich schon etwas ergeben. „Bald“, schwor ich. „Bald ist das alles vorbei.“ So oder so.
°°°
Als das leise Schnappen des Türschlosses mich aus meinem zermürbenden Dämmerschlaf riss, schreckte ich auf und schaute mich panisch nach alles Seiten um. Zuerst wusste ich nicht wo ich war und wie ich hier herkam, aber dann schwang die Tür auf und Tayfun erschien auf der Schwelle. Sein Anblick reihte um mir alles wieder in Erinnerung zu rufen.
Nachdem er gegangen war, hatte ich den Schlafsack unter mir ausgebreitet und mich in die Decke gemurmelt. Dann war ich wirklich eine Zeitlang eingeschlafen. Wie lange konnte ich nicht sagen, aber es war nicht mehr Nacht. Trübes Sonnenlicht sickerte nun durch die Fenster. Und ich musste furchtbar dringend pinkeln. Doch bevor ich Tayfun auf diese Tatsache aufmerksam machen konnte, trat er weiter in den Raum hinein und machte damit Platz für die Frau, die so viel Leid in mein Leben gebracht hatte.
Iesha war eine große, schlanke Brünette mit schulterlangem Haar. Ihre Augen waren von einem sehr dunklen Braun, sodass sie meist schwarz wirkten und sie schauten immer eiskalt.
„Na sieh mal einer an.“ Ein wölfisches Lächeln breitete sich auf ihren sinnlichen Lippen aus. Sie trug eine einfache Jeans, flache Stiefel und einen schwarzen Hoddie. „Ich war mir nicht ganz sicher, ob du wirklich dumm genug sein würdest hier aufzutauchen, aber mir dem richtigen Köder lässt sich wohl alles fangen, auch eine kleine Schweineschwarte.“
Ich hielt es für sicherer erstmal zu schweigen und nur zuzuhören. Nicht nur weil der Anblick dieser Frau in mir noch immer eine Fluchtreaktion auslöste. Sie wollte etwas, da war ich mir sicher. Es war besser sie erstmal reden zu lassen.
Sie musterte mich wie ein widerliches Insekt, was mich dazu bewog die Decke enger um meine Schultern zu ziehen. „Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber du bist wirklich noch hässlicher geworden.“
Im Hintergrund bewegte Tayfun sich unruhig. Er hatte den Blick gesenkt.
„Hast du jetzt auch noch das Sprechen verlernt, oder ist deine Zunge einfach nur vor Angst gelähmt?“
„Nein, ich habe dir nur gerade nichts zu sagen.“
„Nichts? Wirklich? Nach allem was ich getan habe, sitzt du nun hier angekettet wie ein Tier zu meinen Füßen und hast mir gar nichts zu sagen?“
„Nein.“ Jedenfalls nicht solange ich angekettet war und mich nicht gegen sie wehren konnte.
„Das enttäuscht mich jetzt doch.“ Sie ging in die Hocke, sodass wir auf gleicher Augenhöhe waren. „Was ist das für ein Gefühl jetzt hier zu sitzen und zu wissen dass andere nun dein Leben in den Händen halten?“
Kein gutes. „Ich komme klar, danke der Nachfrage.“
Sie neigten den Kopf leicht zur Seite und musterte mich wieder. „Irgendwas ist anders an dir. Du hast dich verändert. Früher hast du vor Angst geschlottert, wenn du mich nur gesehen hast.“
Ja, aber mittlerweile war sie nicht mehr das größte Monster in meinen Alpträumen. Außerdem hatte ich in den letzten Wochen gelernt, dass es noch etwas gab vor dem ich mich viel mehr fürchtete. An die Angst Cio zu verlieren, würde sie niemals heranreichen.
„Aber es ist nicht nur das.“ Sie verengte ihre Augen kritisch. „Irgendetwas grundlegendes hat sich bei dir geändert.“
Oh scheiße. Ich veränderte meine Position ein wenig und zog die Decke enger im mich. Sie durfte auf keinen Fall meinen Bauch sehen. „Ich habe Damian kennengelernt“, sagte ich in der Hoffnung sie vom Thema abzubringen.
„Oh, Damian.“ Ich Gesicht leuchtete auf. Dann ließ sie sich in den Schneidersitz fallen, als wären wir alte Freundinnen und sie wolle es sich für einen Plausch ein wenig bequemer machen. Leider ließ die Aufmerksamkeit in ihrem Blick nicht nach. „Wie geht es ihm?“
„Er scheint … zufrieden und er erinnert sich noch sehr gut an dich.“
„Ich sollte mich wahrscheinlich mal wieder bei ihm melden. Aber dank dir ist das für mich gar nicht mehr so einfach. Statt wie ein artiges Flittchen einfach zu sterben, hast du aller Welt erzählt ich sei eine Mörderin, weswegen ich mich nun in solchen Rattenlöchern verstecken muss.“
Damit war wohl der friedliche Teil der Unterhaltung beendet. „Nicht ich habe es erzählt, es war Cio. Ich habe es nur bestätigt.“
Die Ohrfeige kam so schnell, dass ich keine Zeit mehr hatte auszuweichen. Ich spürte nur wie der Schmerz in meinem Gesicht explodierte und ich zur Seite geschleudert wurde. Die Handschellen klirrten, die Decke verrutschte ein wenig, aber ich war geistesgegenwärtig genug sie festzuhalten, sodass sie nicht runter rutschen konnte.
„Cio würde mir sowas nicht antun“, knurrte sie. „Du bist hier die Wurzel allen Übels. Ohne dich hätte Cio mich niemals verlassen, aber ich habe mir eine passende Strafe für dich ausgedacht. Weißt du wie lange man ohne Nahrung überleben kann?“
Die Richtung in die dieses Gespräch ging, gefiel mir nicht. „Nicht genau“, sagte ich und setzte mich wieder vorsichtig auf. Der Boden war nicht nur scheußlich kalt, er war auch dreckig.
„Ich auch nicht. Ich habe etwas von zwei bis drei Wochen gelesen. Die ersten Tage fühlt man sich nur ein wenig schwach. Dann beginnt der Körper sich selber zu verdauen – man nennt das Körperkannibalismus. Anschließend beginnen die Organe nach und nach zu versagen. Das ist sicher kein schönes Gefühl, aber ich bin neugierig und da ich schon immer gerne experimentiert habe und du ein ausgezeichnetes Versuchsobjekt abgibst, wird es mir ein Vergnügen sein, herauszufinden, wie lange genau du durchhältst.“ Ihre Augen begannen boshaft zu funkeln. „Ich werde es genießen dich leiden zu sehen.“
Das glaubte ich ihr aufs Wort. „Ich will Cio sehen.“
Das ich auf ihren kleinen Plan nicht einging, schien ihr nicht zu gefallen. „Aber warum denn? Gefällt dir dein Grab etwa nicht? Ich habe Tayfun extra diesen Ring anbringen lassen. Du wirst bist an dein Lebensende daran festgekettet sein und genauso jämmerlich zu Grunde gehen, wie du gelebt hast.“
Nein, das würde ich nicht. Sie wollte mir nur Angst machen, aber dieses Mal würde ich mich nicht auf ihre Spielchen einlassen. Im Moment sah es vielleicht nicht gut für mich aus und es gab sicher tausend Orte an denen ich lieber gewesen wäre, aber ich würde schon einen Ausweg finden. Jetzt jedoch zählte erstmal etwas anderes. „Du hast gesagt ich kann Cio sehen. Tayfun hat versprochen, dass ich ihn sehen werde.“
„Tayfun?“ Sie schmunzelte. „Er hat es lieber, wenn er Jamal genannt wird.“
„Cio“, sagte ich wieder, nicht bereit das Thema zu wechseln. „Ich will Cio sehen.“
„Hier geht es aber nicht darum was du willst. Genaugenommen ist es völlig egal was du willst, ich mache hier die Regeln und du wirst Cio nur sehen, wenn ich es erlaube.“
Als wenn mir das nicht klar wäre. „Interessiert es dich denn überhaupt nicht was er will?“
Im Hintergrund sah Tayfun erschrocken auf und schüttelte ganz leicht den Kopf, Iesha jedoch runzelte nur die Stirn. „Cio ist im Moment ein wenig verwirrt, er weiß nicht was er will.“
„Du meinst wohl, er will nicht das was du willst.“ Ich wusste dass es dumm war das zu sagen und spannte mich schon an in der Erwartung wieder eine gescheuert zu bekommen, aber Iesha lächelte nur.
„Du hältst dich wohl für ziemlich schlau, was? Ist dir eigentlich bewusst in was für einer Lage du dich befindest? Glaubst du es ist für dich von Vorteil das Maul so weit aufzureißen?“
„Du hast mir schon das Schlimmste angetan, was du mir antun konntest, indem du Cio entführt hast. Nichts was du noch machen könntest ist so schlimm wie das was du bereits getan hast.“
„So meinst du, ja?“ Als ihr Lächeln noch breiter wurde, bereute ich meine mutigen Worte sofort. „Erinnerst du doch noch an Owen?“
Ich wollte mir nicht anmerken lassen, dass sie damit einen Wunden Punkt getroffen hatte, doch so zufrieden wie sie schaute, war ich wohl keine so gute Schauspieliren wie Taufun.
„Wie fandest du das Bild dass ich dir geschickt hab?“, fragte sie lauernd und erhob sich geschmeidig auf die Beine. Als sie dann auch noch anfing mich zu umkreisen, spannte sich mein ganzer Körper an.
„Wusstest du, dass es eine ganze Videoaufnahme von euren perversen Spielchen gibt? In der Box hing eine Überwachungskamera. Ich habe sie dort anbringen lassen, als wir die ersten Mistos dort eingesperrt hatten und ein paar von ihnen Schwierigkeiten machten. So konnte sie immer einer im Blick behalten.“ Sie lief einmal um mich herum und trat dann langsam auf Tayfun zu. „Ich habe Cio diese Aufnahme gezeigt. Er hat nicht nur gehört, sondern auch gesehen, wie du dich Owen angeboten hast.“
Mit einem Schlag wurde mir eiskalt. Es war eine Sache Cio wissen zu lassen, was an jenem Abend geschehen war, aber eine ganz andere es ihm in allen Einzelheiten zu zeigen.
„Er war … angewidert.“ Sie blieb direkt vor Tayfun stehen und legte ihm die Hand auf die Brust.
Sofort war Tayfuns Aufmerksamkeit ganz und gar auf ihr. Er regte sich nicht unter ihrer Berührung, doch es wurde deutlich, dass er sich dort im Moment nicht freiwillig wegbewegen würde.
„Er hat es kaum ertragen sich das Ganze bis zum Ende anzuschauen.“ Als sie mit der Hand langsam an Tayfun hinab wanderte, veränderte sich etwas in seinem Blick. Plötzlich war da nichts als echte Zuneigung. „Was würde er wohl von dir halten, wenn es ein zweites Mal geschehen wurde?“, fragte sie leise. „Ich könnte Jamal erlauben sich ein wenig mit dir zu amüsieren. Er gibt es nicht zu, aber ich weiß, dass er eine kleine Schwäche für dich hat.“
Ich erstarrte einfach, besonders als Tayfuns Blick kurz zu mir schnellte. Ich glaubte nicht, dass er mir sowas antun konnte, nicht nach seiner eigenen Vergangenheit. Trotz allem wusste ich einfach, dass er mir nicht freiwillig schaden würde, doch allein der Gedanke daran, ließ all die Ängste die ich so gut verbarg in mir aufsteigen. „Das würde Cio dir niemals verzeihen.“
„Wer sagt denn das Cio es erfahren würde?“ Sie ließ ihre Hand sinken und drehte sich wieder zu mir herum. „Oder dass es ihn überhaupt interessiert? Du vergisst, dass er mich jetzt wieder hat und du nur noch unnötiger Ballast bist.“
„Wenn du dir da so sicher bist, warum weigerst du dich dann mich zu ihm zu bringen?“ Ich wusste das ich mit dem Feuer spielte, aber ich musste einfach sehen, dass es ihm gut ging. Er war hier, irgendwo ganz in meiner Nähe und nur Iesha stand zwischen uns.
„Er frühstückt gerade und dabei will ich ihn nicht stören.“ Sie kam wieder auf mich zu und begann erneut mich zu umrunden. Dabei musterte sie mich wieder so nachdenklich. „Wie hat dir übrigens das Video gefallen, dass ich dir geschickt habe? Jamal erzählte mir, du hattest daraufhin einen Zusammenbruch und warst drei Tage im Krankenhaus.“
Ich ward Tayfun einen giftigen Blick zu.
„Cio ist so ein guter Liebhaber.“
Langsam richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf sie. „Cio schläft nicht auf dem Rücken. Niemals.“
Sie hielt mitten im Schritt inne und starrte mich an.
„Ich habe die Male an seinen Händen bemerkt. Was musstest du tun, damit er neben dir liegen bleibt? Ich tippe darauf, dass du ihm irgendwas gegeben hast, denn er würde niemals freiwillig neben dir in einem Bett liegen. Er liebt dich nicht. Er will nur dass du endlich aus seinem Leben verschwindest und uns in Ruhe lässt.“
Damit war ich zu weit gegangen. Ich merkte es im Bruchteil einer Sekunde, bevor ihre Faust mich im Gesicht traf. Ich schaffte es noch den Kopf zu drehen, um nicht die volle Wucht abzubekommen, aber es reichte schon dass sie mich nur streifte. Ich kippte nicht nur zur Seite, ich krachte geradezu auf den Boden und sah für einen kurzen Moment sogar Sterne.
„Er liebt mich“, knurrte sie.
Da ich viel zu beschäftigt damit war meinen Blick wieder scharf zu stellen, widersprach ich ihr nicht.
„Du bist nichts gegen mich“, zischte sie mich an und machte einen drohenden Schritt auf mich zu. „Nur wertloser Dreck!“
Langsam setzte ich mich wieder auf und betaste vorsichtig meine Wange. Das war das zweite Mal dass sie mir so heftig ins Gesicht geschlagen hatte, aber im Gegensatz zu damals verspürte ich nicht diese lähmende Angst, es machte mich nur furchtbar wütend. „Irgendwann wirst du für all das hier büßen.“
„Vielleicht, aber du wirst dann schon lange …“ Plötzlich weiteten sich ihre Augen eine Spur und dann verzerrten sich ihre Züge vor Zorn. „Was verdammt noch mal soll die Scheiße?!“
Es dauerte genau eine Sekunde bis ich kapierte, warum sie plötzlich aussah, als wollte sie jemanden den Kopf abreißen. Als sie mich geschlagen hatte, war die Decke runter gerutscht und das T-Shirt reichte nicht um zu verbergen, dass ich doch nicht so allein gekommen war, wie sie es mir vorgeschrieben hatte.
Alarmiert schaute ich auf und legte dabei schützend eine Hand auf meinen Bauch. Dann wartete ich angespannt auf ihre Reaktion.
„Was ist das?!“, fauchte sie und zeigte auf meinen Bauch, aber sie schaute dabei nicht mich an, sondern Tayfun, der sich einmal nervös über die Lippen leckte.
„Ich habe nicht …“
„Erzähl mir nicht dass du das nicht gewusst hast!“, fuhr sie ihn an und ging drohend auf ihn los.
Tayfun machte einen erschrockenen Schritt vor ihr zurück, hatte dann aber die Wand im Rücken. Er wehrte sich nicht als Iesha ausholte und ihm eine heftige Backpfeife verpasste und er tat auch nichts, als sie ihn an seinen Haaren packte und wütend daran zerrte. Es war als wäre er starr vor Angst.
„Sie ist schwanger!“, schrie Iesha ihm ins Gesicht. „Das fette Walross ist schwanger und du hast es mir nicht gesagt!“
„Ich … ich hab nicht gewusst, dass dich das interessiert.“ Er verzog schmerzhaft das Gesicht, als sie noch fester an seinen Haaren zog.
„Natürlich hast du das gewusst, du hast es mit voller Absicht vor mir verheimlicht!“
„Es ist nicht wichtig.“
„Willst du mich verarschen?!“ Sie war so rasend vor Wut, dass ich Stoß Tayfun auf den Boden beförderte. Er tat nichts um sich zu wehren. Selbst als sie mit dem Bein ausholte und ihn mit voller Wucht trat, riss er einfach nur schützend die Gliedmaßen hoch. „Du hast mich hintergangen, du elender …“
„Lass ihn in Ruhe!“, schrie ich, als sie zu einem weiteren Tritt ausholte. Es war dumm, weil ich im Grunde überhaupt nichts tun konnte, aber ich konnte auch nicht still daneben sitzen und zuschauen, wenn sie ihn zusammenschlug. „Warum wehrst du dich nicht?! Warum hilfst du ihr, wenn sie dich so behandelt?!“
Ich wusste nicht was es war, vielleicht einfach weil ich mich eingemischt hatte, aber plötzlich wurde Iesha ganz ruhig. Sie stellte ihren Fuß zurück auf den Boden und drehte sich ganz langsam zu mir um. Ihr Blick war so eiskalt, dass ich zu frösteln begann.
„Wenn du glaubst du könntest mir Jamal wegnehmen, dann hast du dich aber getäuscht. Er gehört mir.“
Was? Wovon zur Hölle sprach sie da?
Als sie hinter sich unter ihren Hoddie griff und plötzlich eine Waffe herauszog, spannte ich mich nicht nur an, ich versuchte auch auf die Beine zu springen. Leider war ich noch immer an diesem verdammten Ring festgebunden, so dass ich gar nichts anderes tun konnte, als in der hocke hektisch an meiner Fessel zu zerren, während mein Herzschlag immer schneller wurde.
„Du bekommst weder Jamal noch Cio.“ Sie richtete die Waffe auf mich.
Nein, bitte nein. „Es ist Cios Baby!“, schrie ich in der Hoffnung, dass es etwas bewirken würde. „Cio ist der Vater und er will dieses Baby!“
Ieshas Gesicht wurde zu einer verzerrten Waffe. Sie fletschte die Zähe und knurrte, doch sie drückte nicht ab.
„Wenn du Cio wirklich so gut kennst wie du behauptest, dann weißt du dass ich die Wahrheit sage. Cio wollte schon immer Kinder haben und dieses Baby ist seines. Wenn du dem kleinen Passagier etwas tust, dann überschreitest du damit eine Grenze.“
Ihr Atem wurde schwerer. Sie kniff die Augen zusammen, während ihre Brust sich unter heftigen Atemzügen hob und senkte, als fechte sie einen inneren Kampf aus.
Ich war einen kurzen Blick zu Tayfun. Er hatte seine Embryohaltung aufgegeben und behielt Iesha wachsam im Auge, wagte es aber nicht aufzustehen. Als sie jedoch ruckartig den Arm herunter nahm, zuckte er kaum merklich zusammen.
„Mach sie los, binde ihr die Arme auf den Rücken. Sofort.“ Es war erschreckend wie schnell sie umschalten konnte. Eben noch schien kurz davor gewesen zu sein vor Wut zu platzen und nun war sie wieder ganz ruhig. Doch ihr Zorn lauerte noch immer unter der Oberfläche und darum wunderte es mich gar nicht, dass Tayfun sofort auf die Beine sprang und eilig zu mir herüber kam.
Er schaute mir nicht in die Augen und sagte auch kein Ton, als er den kleinen Schlüssel mit dem großen Anhänger aus seiner Hosentasche zog und damit die Schelle am Ring öffnete. An der Lippe hatte er einen blutenden Riss.
Da Iesha noch immer die Waffe in der Hand hielt, wagte ich es nicht mich zu wehren. Ich hielt ganz still, als er mich auf die Beine zog und mir die Arme auf dem Rücken zusammen band.
„Hol deine Waffe raus. Wenn sie irgendwas dummes macht, erschieß sie einfach. Und nun kommt.“
Als Tayfun tatsächlich eine Waffe aus seinem Hosenbund zog und diese auf mich richtete, wurden meine Augen ein wenig größer. „Du würdest mich nicht erschießen“, sagte ich leise und hoffte auf irgendeine Bestätigung, doch er wich meinem Blick noch immer aus. Er griff einfach nach meinem Arm, richtete seine Waffe auf mich und schob mich hinter Iesha aus dem Raum.
„Tayfun“, sagte ich und schaffte es dabei nicht meine Angst aus meiner Stimme rauszuhalten.
Iesha warf einen kurzen Blick über die Schulter zu mir, bevor sie im Korridor zu der Tür ging, die als Lager gekennzeichnet war. Sie holte einen Schlüssel heraus, schloss die Tür auf und trat in den Raum dahinter. „Hallo Schatz, ich habe eine Überraschung für dich.“
„Kein Interesse.“
Als ich den ablehnenden Klang in Cios Stimme hörte, stellten sich mir die Härchen auf den Armen auf. Er war hier, er war wirklich hier. Plötzlich schlug mir mein Herz bis zum Hals und ich schaffte es kaum einen Fuß vor den anderen zu setzen aus Angst, dass ich mir das nur eingebildet hatte und hinter dieser Tür nur ein leerer Raum auf mich wartete. Doch Tayfun schob mich zwar sanft aber bestimmt weiter bis zu schwelle und dann sah ich ihn.
Cio.
In Jogginghose und T-Shirt saß er auf dem Doppelbett hinten an der Wand, den Blick auf das Buch in seiner Hand gerichtet.
Im ersten Augenblick konnte ich nichts anderes tun als einen Anblick in mich aufzusaugen. Er war dünner geworden und wirkte vergrämt. Sein Haar war ungekämmt und fiel ihm in die umschatteten Augen.
Als er eine Seite in seinem Buch umblätterte, bemerkte ich die Ketten an seinen Armen, weil die Glieder leise aneinander klirren. Es waren zwei massive Ketten, die von den breiten Armschellen an seinen Handgelenken zu einer Winde hinter ihm an der Wand führten und von dort aus weiter zu einem Rad in vier Meter Entfernung. Sie waren gerade lang genug, dass er bequem sein Buch lesen konnte.
Bevor ich mir einen Reim darauf machen konnte, schob Iesha sich in mein Blickfeld. „Wie unhöflich von dir, wo unser Gast doch extra den weiten Weg auf sich genommen hat um dich zu sehen.“
Cios Schultern spannten sich an, als sie bis auf einen Meter an das Bett herantrat, doch es war nichts im Vergleich zu dem Moment, als er langsam den Kopf drehte und mich mit der Waffe am Kopf auf der Türschwelle bemerkte.
Einen Moment erweckte er den Anschein, als hätte er einen Geist vor sich und dann machte sich in seinem Gesicht die blanke Panik breit. Ihm entglitt wirklich jeder Gesichtsmuskel und es dauerte ein paar Sekunden, bis er es schaffte all seine Gefühle hinter einer Maske der Gleichgültigkeit zu verbergen.
Mir gelang das nicht. Ich sah ihn und alles in mir schrie sofort zu ihm zu laufen, um ihn in den Arm zu reißen und mich zu versichern, dass es ihm gut ging. Ich machte sogar einen Schritt nach vorne, aber Tayfuns Griff erinnerte mich daran, dass ich mich hier nicht frei bewegen. „Cio.“
Sehr langsam und behutsam ließ er das Buch auf seine Beine sinken. Dabei klirrten die Glieder der Ketten wieder aneinander. „Was soll das?“, fragte er leise. „Ich habe dir gesagt, ich will diese Frau nie wieder sehen.“
Diese Worte waren wie ein Dolch in meiner Brust. Mir war klar, dass er das nur sagte um mich zu schützen, aber es tat dennoch weh, denn ich hatte so oft Angst davor gehabt, genau das aus seinem Mund zu hören.
Iesha warf nur einen mäßig interessierten Blick über die Schulter zu mir, bevor sie sich mit wiegenden Hüften in einen der beiden Sessel fallen ließ. Sie standen zusammen mit einem flachen Tisch rechts vom Bett an der Wand. Gegenüber gab es eine kurze Küchenzeile mit Kühlschrank und einer Kochplatte. Neben dem Bett stand eine Holzkiste, die wohl als Nachttisch diente. Darauf stand ein unberührtes Frühstück. Wie nur hatte sie das ganze Zeug hier her bekommen?
„Du hast vergessen mir zu erzählen, dass bei dir der Klapperstorch zugeschlagen hat.“
Cios Augen huschten ganz kurz zu mir. „Das ist nicht von Bedeutung.“
„Nicht?“ Iesha tat überrascht. „Aber sie hat mir gerade eben erzählt, dass du dieses Baby unbedingt haben möchtest.“
Wieder glitt sein Blick kurz zu mir. In seinem Kopf schien es fieberhaft zu arbeiten. „Es ist jetzt nicht mehr von Bedeutung. Schick sie einfach wieder nach Hause.“
„Aber es ist dein Baby.“ Wütend knallte sie die Waffe auf den Tisch. Ich zuckte bei dem Geräusch zusammen, wagte es aber nicht mich zu bewegen. „Du hast dieses Flittchen gefickt und ich darf nicht mal deine Hand berühren.“
Er antwortete nicht.
„Ich glaub es nicht. Du hast mich die ganze Zeit belogen, oder? Von wegen du hast im Moment einfach keinen Bock auf Frauen, du willst diese widerliche Schwabbelschwarte noch immer.“ Sie fixierte ihn mir einem Blick, bei dem ich mich wohl in der hintersten Ecke verkrochen hätte, doch er erwiderte ihn nur ruhig. „Antworte mir!“, fauchte sie und schlug dabei auf den Tisch.
„Ich werde nicht mit dir reden, wenn du wieder anfängst zickig zu werden.“ Sein Blick glitt erneut zu mir. „Und auch nicht, solange er ihr eine Waffe an den Kopf hält. Ich hasse Waffen, das weißt du.“
Entgegen meiner Erwartungen begann Iesha nervös auf ihrer Unterlippe zu kauen. Ihr Blick flitzten von Cio zu mir und wieder zurück, während er sie nicht aus den Augen ließ. Sie schien nicht recht zu wissen was sie tun sollte. Einerseits hatte sie hier das Sagen, andererseits wollte sie Cio gefallen und ihn nicht verärgern. Es war … bizarr, um es mal vorsichtig auszudrücken.
Ich schluckte. Entweder würde ich jetzt einen gewaltigen Fehler machen, oder die Situation entspannen. „Wie wäre es wenn Tayfun einfach die Waffe sinken lässt, hm? Er hält mich doch fest und ich …“
„Sei still!“, fauchte Iesha und sprang auf die Beine. „Du sagst hier nicht wo es lag geht!“
Als sie drohend auf mich zukam, versuchte ich zurückzuweichen, doch direkt hinter mir stand Tayfun.
„Iesha“, sagte Cio und warf mir einen Blick zu, der mich davor warnte noch einmal den Mund aufzumachen. „Setz dich wieder hin.“
Sie zögerte wieder, doch dann wurde sie störrig. „Warum?“, wollte sie wissen. „Warum kümmert sie dich überhaupt? Machst du dir eigentlich eine Vorstellung davon was sie mir alles angetan hat? Nur wegen ihr müssen wir uns hier verstecken! Wenn ich nur ein Fuß vor die Tür setze, kann es passieren dass man mich tötet, weil das ganze beschissene Rudel hinter mir her ist!“
„Aber du musst ja nicht raus, Jamal erledigt doch alles.“
„Wow, klasse und du meist das macht es besser? Ich sollte sie einfach umbringen, dann hätte ich ein Problem weniger.“
„Wag es ja nicht!“, befahl Cio, als Iesha zu mir herumwirbelte und nach mir griff.
Instinktiv fuhr ich die Reißzähne aus und fauchte warnend, aber dadurch dass Tayfun mich festhielt, konnte ich mich nicht wehren und es war ihr ein Leichtes mich an den Haaren zu packen und meinen Kopf zur Seite zu zerren.
„Iesha!“ Cio versuchte aufzuspringen, wurde aber von den Ketten zurückgehalten. Er schaffte es gerade mal sich so weit zu drehen, dass er auf die Knie kam. „Lass sie sofort los!“
„Hast du schon mal gesehen wie ein Schwein ausblutet?“, fragte sie mich seelenruhig und nahm Tayfun die Waffe aus der Hand.
Ich zerrte an meinen Armen und versuchte mich aus dem Griff der beiden zu lösen. Als sie mir dann auch noch die Waffe auf die Brust setzte, war raste mein Herz vor Angst.
„Tropf, tropf, tropf“, sagte Iesha und schob die Waffe langsam an mir herunter, bis der Lauf direkt auf meinen Bauch zum Halten kam.
„Iesha, nimm die verdammte Waffe runter!“
„Das Geräusch von tropfendem Blut ist ganz anders als das von Wasser. Irgendwie … klangvoller, wie ein guter Wein.“
Ich wollte gar nicht wissen, woher sie das so genau wusste. Wenn ich nur an ihr komisches Poesiealbum dachte, in dem sie die Texte mit Blut verfasst hatte, wurde mir ganz anders.
Cio schaute sich panisch nach einer Lösung um, nach etwas das mir helfen könnte, aber da war nichts in seiner Reichweite. Nur das Buch und sein Frühstück. Er hielt kurz inne, griff dann nach dem Teller und nahm sich das stumpfe Brotmesser. „Hört auf damit, sonst mache ich dem ganzen ein Ende!“, drohte er und dann setzte er sich selber das Messer auf die Brust.
Meine Augen weiteten sich ein wenig. „Nein, tu das nicht!“
Es war wohl die Angst in meiner Stimme die Iesha dazu brachte den Kopf zu drehten. Sie stutzte, ließ die Waffe sinken und drehte sich dann ganz zu ihm herum. Sie nahm sogar die Hand aus meinen Haare, sodass ich endlich ein Stück von ihr wegkam. „Was machst du da?“
„Ich werde dir das einzige nehmen was dir noch etwas bedeutet, wenn du nicht sofort mit der Scheiße aufhörst!“
„Du bluffst.“
„Leg das Messer weg!“, rief ich. Oh Gott, das konnte er mir nicht antun.
Cio veränderte seine Position ein wenig und griff das Messer dann mit beiden Händen. „Willst du dieses Risiko wirklich eingehen?“
Ich hielt den Atem an. Für mich würde Cio so einiges tun und ich hatte Angst dass er wirklich so weit gehen würde.
Unsicher nahm Iesha die Waffe von einer Hand in die andere. Sie musste einfach merken, wie angespannt er war und auch ein einfaches Brotmesser konnte mit genug Kraft sehr gefährlich sein. „Für sie? Du würdest alles wegschmeißen, nur für die diese Hure?“
Er brauchte nicht antworten, sein Vorhaben sprach Bände.
Sie schnaubte und drückte Tayfun die Waffe in die Hand. „Okay, na schön, du hast gewonnen. Und jetzt leg das Messer zurück.“
Nun war es Cio der ihrer Anweisung nur zögernd nachkam, doch sobald das Messer mit einem Klirren auf dem Teller landete, konnte ich endlich erleichtert aufatmen.
„Das du mir das antust“, knurrte Iesha und ging zu der Kurbel an der Wand. Sie begann daran zu drehen und dann wurde mir klar, wozu diese Konstruktion gedacht war. Die Ketten wurden kürzer, Cio wurde immer weiter zur Wand hin gezogen, bis die Ketten nur noch wenige Zentimeter lag waren. „Und das nur für so ein billiges Stück Scheiße.“ Sie sicherte die Kurbel und räumte dann Cios Frühstück von der Holzkiste auf den Tisch, wo Cio vermutlich nicht mal hingekommen wäre, wenn er die komplette Länge der Ketten hätte nutzen können.
„Hör auf sie zu beleidigen.“ Nun tat er nicht mehr so, als würde ich oder das Baby ihm egal sein. Wozu auch? Er hatte gerade klar gezeigt, wo genau er stand.
„Warum? Ich habe so viel für dich getan, ich würde noch so viel mehr für dich tun, aber das ist dir völlig egal, du ziehst sie mir trotzdem vor und das obwohl sie gar nichts für dich getan hat.“ Scheppernd ließ sie den Teller auf den Tisch fallen. Das Messer hüpfte herunter und landete daneben. „Ich verstehe es nicht. Was genau willst du eigentlich? Was muss ich machen, damit du mich endlich wieder so liebst, wie du es früher einmal getan hast?“
Gar nichts konnte sie tun, denn es gab keinen Weg der an diesen Punkt zurück führte, nur das verstand sie einfach nicht.
„Lass sie gehen.“
Iesha starrte ihn an. „Das ist nicht dein Ernst.“
„Doch. Das hier ist eine Sache zwischen dir und mir mit der sie überhaupt nichts zu tun hat. Schick sie einfach wieder nach Hause und wir klären das zwischen uns.“
Wie schaffte er es nur so ruhig und vor allen Dingen normal mit ihr zu sprechen, besonders nachdem er bereits seit drei Wochen bei ihr war? Ich war erst ein paar Stunden hier und war jetzt schon halb verzweifelt, weil ich noch keine Möglichkeit sah uns beider hier rauszubekommen.
„Eine Sache zwischen uns?“ Sie klang völlig ungläubig. „Aber sie steht doch zwischen uns, verstehst du das nicht? Solange die Schlampe lebt, wird sie immer zwischen uns stehen. Denk doch nur daran was hier gerade passiert ist, sie hat dich dazu gebracht dir ein Messer an die Brust zu halten. Sie ist gefährlich, warum siehst du das nur nicht?“
Oh mein Gott, wie konnte sie die Situation nur so verdrehen?
„Zaira ist für niemanden eine Gefahr.“
„Doch, das ist sie und wärst du nicht so verblendet, wüsstest du das auch. Solange sie lebt, kann es zwischen uns nicht mehr so werden wie es einmal war, versteh das doch.“ In ihre Stimme hatte sich ein verzweifelter Ton gemischt, der mir so gar nicht gefallen wollte. Irgendwie kippte die ganze Stimmung gerade und ich war mir nicht sicher, ob mir das gefiel.
„Zaira ist hier nicht das Problem“, sagte Cio. Er rüttelte an den Ketten, als wollte er sie so dazu bringen, sie wieder länger zu machen.
„Aber wenn sie tot ist, dann ist alles wieder in Ordnung.“ Sie schien ihn gar nicht gehört zu haben und dann richtete sie auch noch den Blick auf die Waffe, die sie vorhin auf dem Tisch abgelegt hatte.
Cio entging diese kleine Bewegung natürlich nicht. „Nein, das machst du nicht. Denk nicht mal dran.“
„Ich kann das wieder in Ordnung bringen.“ Wie in Trance griff sie nach der Pistole. „Für uns.“
„Iesha!“, bellte Cio.
„Du wirst schon sehen, sobald sie weg ist bist du wieder frei von ihr und dann wird alles wieder gut.“ Entschlossen drehte sie sich zu mir herum und richtete die Waffe mit ausgestrecktem Arm direkt auf mich.
„Nein!“ Cio sprang auf und begann wie wild an seinen Ketten zu zerren. „Tu das nicht, lass sie in ruhe!“
„Alles ist gut“, sagte sie beinahe sanft, als wollte sie ihn beruhigen. „Du musst nichts tun, ich erledige das und dann ist alles endlich wieder so wie es sein soll.“
Oh Gott, sie war wahnsinnig, völlig durchgeknallt. „Tu das nicht, bitte.“
„Schhh, ganz ruhig, es geht ganz schnell.“ Es klickte als sie die Waffe entsicherte.
„Iesha!“, reif Cio panisch.
Ich schluckte und drängte mich mit dem Rücken gegen Tayfun. Mit einem Mal schien die ganze Situation zu eskalieren. Vorher hatte Iesha nur gespielt, aber nun war da dieses Funkeln in ihren Augen. Sie wollte mich töten – unbedingt. „Bitte, nicht.“
„Iesha, bitte!“, flehte Cio verzweifelt. Die Ketten klirrten immer wieder gegeneinander. Er griff nach der Winde und begann daran zu rütteln, aber sie war zu fest in der Wand verankert. „Tu ihr nichts, hör einfach auf!“
Ihre Hand blieb ganz ruhig, doch ihr Gesicht verzerrte sich seltsam. Es war als kämpfte ihr eigenes Verlangen gegen den Wusch Cio glücklich zu machen. „Ich muss das tun, versteh das …“
„Ich tu alles was du willst!“
„Was?“ Plötzlich war ich vergessen. Iesha wirbelte zu Cio herum und starrte ihn einfach nur an.
„Ich tu alles was du willst“, wiederholte er und hörte auf den Ketten zu zerren. „Wenn du sie in ruhe lässt und … und du darfst ihr nichts tun, dann …“ Er holte einmal tief Luft, als müsste er sich selber überwinden, um die nächsten Worte auszusprechen. Sein Blick richtete sich nur einen kurzen Moment auf mich, aber der reichte um mir zu zeigen, wie verzweifelt er in diesem Augenblick war und das er keinen anderen Weg sah. „Schwöre mir dass ihr nichts passieren wird, dann werde ich wieder dir gehören. So wie früher.“
°°°°°
Mein Mund öffnete sich, bevor ich auch nur darüber nachdenken konnte. „Nein!“ Das konnte er nicht machen, das durfte er nicht machen, er durfte sich ihr nicht ausliefern, nicht so. „Bitte Cio, mach das nicht.“ Er würde daran zugrunde gehen.
Leider ignorierte er mich, alle ignorierten mich und Tayfun wollte mich einfach nicht loslassen. Egal wie stark ich mich auch in seinem Griff wand, ich kam nicht von ihm frei.
„Es wird genauso sein wie früher“, versprach Cio und die Art wie er das sagte machte nicht nur mir deutlich, wie ernst ihm seine Worte waren. „Meine einzige Bedingung ist, dass Zaira und dem Baby kein Leid zugefügt werden darf – niemals.“
Langsam sank ihr Arm mit der Waffe herab. In diesem Moment war sie völlig auf Cio fixiert und bekam gar nichts mehr um sich herum mit. Es waren genau die Worte, die sie so ersehnt hatte. „Du willst wieder mit mir zusammen sein?“
„Ja.“
„Nein!“ Ich begann mich heftiger zu wehren und Tayfun musste sogar die Waffe wegstecken, um mich festhalten zu können. „Nein, das willst du nicht!“
Keine achtete auf mich und ich war hier gefangen und konnte nichts anderes tun, als angespannt dabei zuzuschauen, wie Cio sich für mich opferte.
„Es wird wieder so wie früher sein?“
„Ja.“
Zögernd legte Iesha die Waffe zurück auf den Tisch und ließ ihn dabei keinen Moment aus den Augen. Auf einmal wirkte sie auf eine Art unsicher, die ich so noch nie an ihr wahrgenommen hatte.
„Bitte“, flehte ich aber keiner achtete auf mich.
Iesha bewegte sich langsam zur Wand und schob an der Kurbel den Stopper zur Seite. Sofort rollten die Ketten sich zu ihrer vollen Länge aus und Cio konnte endlich wieder die Arm runter nehmen. Er sackte auf die Knie und schien mit einem Mal von einer unheimlichen Last niedergedrückt zu werden, doch Iesha sah es nicht. Sie nahm nur das wahr, was sie wahrnehmen wollte, alles andere blendete sie einfach aus, als sei es nicht wichtig. In ihren Augen war es das wahrscheinlich auch nicht, solange sie nur ihr Ziel erreichte und ihren Willen bekam.
„Jamal?“
„Ja?“
„Wenn er etwas Dummes macht, jagst du ihr eine Kugel in den Kopf, verstanden?“
„Ja.“
Kein zögern oder herumdrucksen, nur eine schlichte Zustimmung. Wie hatte ich mich nur so in diesem Mann täuschen können? „Ich hasse dich“, fauchte ich.
„Ich hab es dir gesagt“, erwiderte er nur. „Du hättest Cio vergessen und wegbleiben sollen.“
Mittlerweile musste ich ihm da sogar zustimmen. Aber ich hatte nicht auf ihn hören wollen und deswegen musste ich nun mitansehen, wie Iesha sich auf das Bett zubewegte. Sie war vorsichtig, wachsam, so als hätte sie eine gewisse Furcht sich ihm zu näheren, aber da war etwas das sie unaufhaltsam zu ihm zog.
Dieses Gefühl war mir selber nicht fremd, aber zu sehen wie eine andere Frau dieser Sehnsucht nach Cio nachgab, ließ mich die Zähne fletschen. Nicht nur weil ich ihn liebte und er mir gehörte, es war einfach grausam wozu sie ihn trieb. Das war nichts anderes als Nötigung und seelische Misshandlung. Wie konnte sie ihm das nur antun und gleichzeitig behaupten, dass sie ihn liebte?
Als sie direkt vor dem Bett stehen blieb, war sie nahe genug, dass er sie hätte packen und ihr wehtun können. Der Ketten waren lang genug dazu, doch er blieb einfach auf der Matratze knien und tat rein gar nichts, als sie zögernd die Hand nach ihm ausstreckte und ihm damit zärtlich durch das zerzauste Haar fuhr.
„Ich hab dich so vermisst“, flüsterte sie.
„Nimm deine dreckigen Pfoten von ihm!“
Cio wehrte sich nicht gegen diese Berührung. Er schloss einfach die Augen und versuchte sich irgendwie vor ihr abzuschotten. Sie musste doch einfach sehen, wie er die Muskeln anspannte und sich zur Ruhe zwang. Ich sah es doch auch.
„Hast du mich auch vermisst?“, fragte sie sehr leise und ein ganzes Meer voller Sehnsucht schwang in ihrer Stimme mit. Sie wollte ihn so sehr.
Es kam keine Antwort. Er atmete nur einmal tief ein und als er die Augen dann wieder aufschlug, hatte ich auf einmal den Eindruck, es hätte sich ein Fremder in seinen Körper verirrt. Da waren keine Gefühle mehr, kein Leben, er hatte alles hinter einer dicken Mauer verschlossen und sich tief in sein eigenes Innerstes zurückgezogen.
Als er vorsichtig nach ihrer Hand griff, spannten ihre Schultern sich deutlich an, doch er führte sie nur zu seinem Mund und hauchte einen zärtlichen Kuss in die Handinnenfläche.
Sie erschauderte.
„Merkst du gar nicht was du ihm damit antust?!“, schrie ich sie an. „Du quälst ihn!“
Langsam erhob Cio sich und stieg aus dem Bett. Er machte dabei keine hektischen Bewegungen, denn Iesha wich so schon misstrauisch einen Schritt vor ihm zurück und er wollte sie nicht einschüchtern, weil er sich vor dem fürchtete, was dann passieren könnte.
Die Ketten klirrten leise.
Ich fauchte mir ausgefahrenen Fängen, als er ihr eine Hand an die Wange legte und mit dem Daumen über ihre Haut strich. „Du hast es mir versprochen! Du hast mir geschworen, dass du nie wieder eine andere Frau anfasst!“
Einen sehr kurzen Moment glitt sein Blick zu mir und für den Bruchteil einer Sekunde lag eine unausgesprochene Entschuldigung in seinen Augen.
Ich wusste was er tun würde, noch bevor er es tat und doch schaute ich voller Entsetzen dabei zu, wie er sich vorbeugte und Iesha küsste. Langsam, vorsichtig, so als wollte er sich erstmal herantasten und es ihr überlassen, wie weit dieser Kuss gehen würde.
Irgendwo tief in mir drin, starb ein kleiner Teil von mir. Ich hörte auf zu schreien und mich zu wehren. Plötzlich konnte ich nur noch daran denken, dass das hier meine Schuld war. Ich war gekommen um ihn zu retten, doch nun hatte ich die Situation für ihn nur noch schlimmer gemacht, denn durch mich hatte Iesha ein Druckmittel in die Hand bekommen, mit dem sie alles von ihm verlangen konnte. Er würde sich nicht länger gegen sie wehren.
Als würde Iesha das auch klar werden, drängte sie sich näher an Cio heran. Sie vertiefte den Kuss nicht nur, sie berührte ihn auch an der Brust und glitt mit der Hand an seinem Körper herab. Als er dann auch noch einen Arm um ihre Taille schlang, um sie näher an sich zu ziehen, schlüpfte sie mit der Hand sogar unter sein Shirt.
Das war der Moment in dem sich all ihre Wünsche erfüllten. Cio gehörte wieder ihr und ich konnte nichts dagegen tun.
„Hör auf“, flüsterte ich. Nicht nur weil mich dieser Anblick schmerzte, ich wollte gar nicht wissen, was er in diesem Moment für Qualen erlitt. Er musste so tun als wenn er die Frau die er so abgrundtief hasste lieben würde, weil das die einzige Möglichkeit war mich vor ihr zu beschützen.
Ich wollte mich abwenden, aber es ging nicht. Das war wie ein schwerer Autounfall, der meine schlimmsten Alpträume wahr werden ließ. Iesha küsste und begrapschte Cio völlig ungeniert. Sie strich ihm über die Arme, über den Brust, weiter hinunter zu seinem Bauch und dabei bemerkte sie nicht wie angespannt er die ganze Zeit war. Als sie ihm die Zunge in den Hals steckte, war es ihr egal, dass er kurz vor ihr zurück zuckte und sie verstand auch nicht, dass er seine Hände nicht in ihren Hoddie verkrampfte, weil er sie näher bei sich haben wollte, sondern weil er sich zwingen musste sich nicht von sich zu stoßen.
Ich hatte nicht geglaubt, dass es noch schlimmer hätte werden können, doch auf einmal gab sie ein leises Stöhnen von sich und als er dann mit seinen Lippen eine Linie über ihren Hals zog, ließ sie ihre Hand an ihm hinunter wandern und grapschte ihm in den Schritt.
Das war zu viel. „Hör auf damit!“, schrie ich sie an und um mich herum explodierte mein Odeur. Tayfun bekam davon nichts mit, doch sowohl Iesha als auch Cio zuckten heftig zusammen und lösten sich endlich voneinander.
Cio Überraschung hielt sich in Grenzen. Er drückte einfach nur die Lippen zusammen und wich meinem Blick aus, als würde er sich schämen. Iesha jedoch stand das Erstaunen ins Gesicht geschrieben. Das hatte sie eiskalt erwischt und im ersten Moment wusste sie nicht so recht wie sie das einordnen sollte. Ich war ein Omega, aber ich besaß Odeur und auch wenn sie nicht mehr zum Rudel gehörte, sprangen ihre Instinkte darauf an.
„Wenn du nicht deine widerlichen Finger von ihm lässt, werde ich dich umbringen“, drohte ich ihr, während tief in meine Kehle ein warnendes Knurren vibrierte.
Das war wohl das erste Mal in meinem Leben dass ich sie verunsicherte. „Du hast hier gar nichts zu melden“, erklärte sie mir, hörte sich dabei aber nicht annähend so selbstsicher an wie sonst.
„Es ist mir egal ob ich hier etwas zu melden habe, denn es ist das was passieren wird, wenn du nicht endlich deine Pfoten von ihm nimmst!“
Als Antwort darauf krallte sie ihre Hände nur noch fester in sein Shirt. „Du solltest vorsichtig sein, wenn dir etwas an deinem Leben liegt.“ Die erste Überraschung war vorbei und nun bekam sie wieder dieses eiskalte Funkeln in ihren Augen.
Cio sah es auch. „Schick sie raus.“
Das „Was?“ kam Iesha und mir wie aus einem Munde.
Sein Blick glitt kurz zu mir, bevor er seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf Iesha richtete und ihr mit klirrender Kette beinahe schon liebevoll eine Strähne hinters Ohr strich. „Schick die beiden weg, ich will hier keine Zuschauer.“
Mein Knurren wurde noch drohender und dieses Mal galt es nicht Iesha. Der Grund dass er uns hier raus haben wollte war nicht weil es ihm unangenehm war, er fürchtete dass ich Iesha zu sehr reizen könnte und sie dann doch noch etwas unüberlegtes tun würde. Aber wenn ich nicht mehr hier war, musste er sich allein einer Situation stellen, die ich ihm eingebrockt hatte. Das konnte und wollte ich nicht erlauben. „Hör auf hier den Märtyrer zu spielen!“
Cio sah mich nicht einmal an. „Bitte.“ Er beugte sich wieder vor und hauchte ihr einen bittersüßen Kuss auf die Wange. „Ein wenig Zweisamkeit, nur du und ich.“
Ihre Augen leuchteten vor Freude geradezu auf. „Jamal, bring sie wieder nach drüben und sorge dafür, dass sie dort sicher aufgehoben ist.“
„Nein!“
„Kein Problem.“
„Nimm deine Flossen von mir!“ Ich begann mich wieder zu wehren.
„Warte“, sagte Iesha und brachte ihn damit noch mal zum Stehen. Sie hob die Hand und strich Cio lächelnd über die Lippen. „Es gilt weiterhin was ich gesagt habe. Wenn hier irgendwas nicht stimmt, wirst du ihr ein schönes, rundes Loch in den Kopf jagen.“
„Ja, mach ich.“
„Nein!“ Als Tayfun mich fester am Arm packte, um mich aus dem Raum zu ziehen, trat pferdemäßig ich nach hinten aus und erwischte ihn sogar am Schienbein. Er fluchte und einen Moment lockerte sich sogar sein Griff ein wenig, aber ich entkam ihm trotzdem nicht.
Cio schaute mit mahlendem Kiefer dabei zu wie ich schrie, tobte und wütete und versuchte von Tayfun wegzukommen. Seine freie Hand schloss sich zu einer Faust, als würde er sich nichts sehnlicher wünschen als nach vorne zu stürzen, um dem Kerl, der mich da gegen meinen Willen aus dem Raum zerrte, mitten ins Gesicht zu schlagen. Aber er regte sich nicht. Er schaute einfach dabei zu, wie Tayfun mich mit einem letzten Ruck über die Schwelle beförderte. Ich sah noch den Kummer in seinen Augen aufblitzen, dann schlug dieser verdammte Mistkerl die Tür zwischen und zu und trennte uns so sehr nachdrücklich voneinander.
„Nein“, schrie ich. „Cio!“
„Zaira.“
„Nein, lass mich los!“
„Zaira, bitte, hör auf damit.“
Ich hörte nicht auf. Ich versuchte mich sogar herumzudrehen um nach Tayfun zu greifen, aber er musste etwas geahnt haben, den genau in dem Moment schlang er die Arme um meine Taille und hob mich einfach hoch.
„Nimm deine Pfoten weg, lass mich runter, Cio!“
„Ihm wird nichts passieren“, sagte Tayfun und trug mich ungeachtet meines Gezappels wieder in das alte Büro. Oh, ich machte es ihm nicht einfach. Er hatte seine liebe Mühe mit mir. Nicht nur weil ich mich wie ein Fisch wand, ich schrie auch Zeter und Mordio und trat mehr als einmal nach hinten aus.
Ich erwischte ihn, zwei Mal sogar und es tat sicher auch weh, doch er ließ mich nicht los, bevor wir die Mitte des Raumes und diesen verdammten Ring erreicht hatten.
„Beruhige dich“, sagte er und setzte sich zusammen mit mir auf den Boden. „Alles ist gut.“
„Alles ist gut?! Nichts ist gut!“ Ich warf meinen Kopf nach hinten, in der Hoffnung ihn damit die Nase zu brechen, doch ich verfehlte ihn.
„Bitte Zaira, wehr dich dich“, bat er mich und veränderte seinen Griff. So konnte er mich nicht nur besser festhalten, dadurch dass meine Hände noch immer auf dem Rücken gefesselt waren, machte er mich praktisch bewegungsunfähig. Er drückte meinen Rücken einfach gegen seine Brust, sodass ich nur noch fauchen und hilflos mit den Beinen herum strampeln konnte.
„Hör einfach auf“, sagte er leise. „Du schadest nur deinem Baby.“
Dass er es wage das gegen mich einzusetzen, schlug dem Fass wirklich dem Boden aus. Ich riss meinen Kopf so kräftig herum, das meine Wirbel ungesund knackten und funkelte ihn mit all dem Hass an den ich aufbringen konnte. „Bete darum, dass ich dich niemals in die Finger bekommen werde!“, spie ich ihm ins Gesicht.
Schuldbewusst senkte er die Augenlider und spannte den Kiefer an. „Es hätte nicht so weit kommen müssen. Ich habe dir einen Ausweg geboten, mehr als einen sogar, aber du wolltest sie nicht.“
„Einen Ausweg?“, fragte ich fassungslos. „Wo bitte hast du mir einen Ausweg geboten?“
Sein Reißzahn fuhr aus und er fauchte mich an, als würde die Frage ihn furchtbar aufregen. „Ich habe dir gesagt, dass du ihn vergessen und dein Leben leben sollst! Ich habe dir gesagt, fahr wieder nach Hause! Ich habe dir sogar mich angeboten, weil ich gehofft habe es dir damit leichter zu machen, aber du hast dich bei allem quer gestellt! Wie bitte soll ich dich vor ihr beschützen, wenn du mir nicht mal ein wenig entgegenkommen kannst?!“
„Beschützen?“ Das konnte nicht sein Ernst sein. „Du musstest mich niemals beschützen, du hättest nur ehrlich zu mir sein müssen. Verdammt, du warst mein Freund, aber jetzt bist du nur noch Ieshas kleiner Sklave!“
„Ich bin kein Sklave mehr.“
„Natürlich bist du das, mach doch die Augen auf! Sie behandelt dich wie Dreck und du tust trotzdem alles was sie von dir verlangt! Sie hat dir befohlen mich zu erschießen und du hast einfach ja gesagt!“
„Aber ich … ich musste.“ Er kniff die Augen zusammen. „Du verstehst das nicht.“
„Nein“, sagte ich ganz ehrlich. „Das verstehe ich wirklich nicht.“ Ich konnte nicht verstehen wie er für jemanden wie Iesha wirklich alles tun würde, während er Cio bereitwillig ein Messer in die Brust rammen würde, wenn sie das wollte.
„Es ist kompliziert.“ Das schien seine Standardantwort zu sein, wenn er selber nicht mehr weiter wusste. Vielleicht konnte er sich sein Verhalten aber auch selber nicht erklären, weil es nicht zu dem passte, was andere von ihm erwarteten. Er konnte so tun als wenn er normal wäre, aber er war es nicht, das war die traurige Wahrheit und ich war zu blind gewesen um das zu erkennen.
Als er einen Arm wegnahm, spannte ich mich an, doch er griff nur in seine Hosentasche um den Schlüssel für die Handschellen herauszuholen. „Mach nichts Dummes“, warnte er mich, doch zu seinem Pech hatte ich genau das vor. Sobald die Fessel aufsprang, wirbelte ich herum. Ich wollte ihm eine klatschen, ihn weg schubsen, oder ihm auch die Waffe entreißen, irgendwas was mich von ihm befreien konnte, doch bei all dem Wahn in seinem Kopf war er nicht dumm. Er musste es gewusst haben, oder sah die Bewegung kommen und mit der überschnellen Reaktionsgeschwindigkeit eines Vampirs konnte ich leider nicht mithalten.
Bevor er mich erwischen konnte, fing er meinen Arm ab und drehte ihn einmal herum.
Ich schrie auf und musste mich zur Seite fallen lassen und er nutzte das sofort aus. er klickte die Schelle an den Ring, sprang auf die Beine und wich solange zurück, bis er außerhalb meiner Reichweite war.
„Es tut mir leid“, sagte er und er schien wirklich Reue darüber zu empfinden, dass er mir wehgetan hatte.
„Deine Entschuldigung bedeutet gar nichts“, zischte ich ihn an. Vorsichtig setzte ich mich wieder auf. Ich hatte mir bei dem Sturz nicht nur den Arm verdreht, sondern auch das Bein an dem rauen Teppich aufgescheuert. Aber wenigstens schien es dem kleinen Passagier gut zu gehen.
„Ist alles in Ordnung?“
„Warum stellst du so eine saudumme Frage?!“
Er biss sich auf die Unterlippe und begann mit dem Schlüsselanhänger in seiner Hand herumzuspielen. „Du musst hungrig sein. Soll ich dir etwas zu Essen besorgen?“, fragte er, als suchte er nach irgendeiner Möglichkeit das zwischen uns wieder in Ordnung zu bringen.
Hungrig? Vor allen Dingen musste ich immer noch pinkeln, aber ich bezweifelte dass man mich hier einfach so aufs Klo gehen ließ.
„Es gibt hier in der Nähe einen guten Chinesen, du liebst doch gebratenen Reis.“
Als wenn ich im Moment irgendwas runter bekommen würde. „Geh einfach weg und lass mich in ruhe.“
„In Ordnung, wenn du das möchtest, dann …“ Er zögerte. „Ich fahre einfach los und hole das Essen. Es wird nicht lange dauern.“ Vielleicht versuchte er sich damit nur selber einen Grund zur Flucht zu gebe, vielleicht wollte er aber auch wirklich etwas für mich tun. Es war egal, denn es würde nichts zwischen uns ändern. Ihn im Moment in meiner Nähe zu haben konnte ich kaum ertragen und so war ich beinahe schon erleichtert, als er den Raum verließ und mich alleine ließ.
Doch mit dem Alleinsein kamen auch die Gedanken und all das was in der letzten halben Stunde geschehen war strömte unaufhaltsam auf mich ein. Plötzlich waren da hunderte von Bildern in meinem Kopf, die mir alle ganz detailliert zeigten, was sie genau in diesem Moment mit Cio machte. Und er wehrte sich nicht. Er konnte sich nicht wehren, denn ich war wohl die dümmste Person die es auf diesem ganzen Planeten gab.
Es war meine Schuld. Wie es aussah, hatte Cio sie sich die letzten drei Wochen irgendwie vom Leib halten können und auf eine sehr verdrehte Art hörte sie auf ihn, aber nun nicht mehr. Die ganze Situation hatte sich grundlegend geändert.
Das durfte ich nicht zulassen, ich konnte ihn ihr nicht ausliefern. „Ich muss was tun.“ Mein Blick fiel auf die Handschellen und diesen verdammten Stahlring im Boden. Wenn ich nur frei kam, konnte ich ihm helfen. Tayfun war gerade nicht da. Ich musste nur schnell sein, dann könnten wir sie überwältigen und abhauen. Also tat ich das einzige, was ich im Moment tun konnte, ich begann wie wild an meinen Fesseln zu zerren.
Es schmerzte und schon nach kurzer Zeit wurden meine Hände glitschig vom Schweiß, sodass ich sie mir immer wieder an dem Shirt abwischen musste. Ich packte mit beiden Händen die wenigen Kettenglieder und stemmte dann mein ganzes Gewischt dagegen. Das einzige was ich damit erreichte, war, dass mein rechtes Handgelenk zu schmerzen begann. Es war von dem Gezerre bereits ganz wund und bluteten sogar schon an einigen stellen, aber ich durfte jetzt nicht aufgeben. Die Verankerung hatte sich bisher nicht gelockert, aber wenn ich mich nur genug anstrengte, dann würde sich das sicher ändern. Ich musste nur weiter machen.
Ich arbeitete hart und zerrte aus Leibeskräften. Meine Hände und Arme schmerzten fürchterlich. „Komm schon, komm schon.“ Ich wusste, das mir die Zeit davon lief. Je länger ich brauchte, desto wahrscheinlicher war es, dass Tayfun wiederkam und mich erwischte und langsam ging mir mit diesem verfluchten Teil auch die Geduld aus. „Komm schon, du blödes Teil, komm endlich raus.“
Vor Anstrengung war ich wahrscheinlich schon ganz rot angelaufen. Ich zog noch ein wenig kräftiger, rutschte ab und knickte mir den Fingernagel um. Fluchend ließ ich los und steckte mir den Finger in den Mund. So wurde das nichts. Bevor die Schelle nachgab, würde ich mir den Arm abgerissen haben. Vielleicht könnte ich es schaffen den Ring aus dem Boden zu drehen.
Ich sah mir die Sache näher an und versuchte dann probehalber daran zu drehen. Ging nicht, in keine Richtung. Das Ding saß bombenfest. Ich bräuchte irgendwas das ich als Hebel benutzen könnte, aber hier gab es nur den Schreibtisch und den Aktenschrank und davon abgesehen, dass ich an den Schreibtisch nicht heran kam, waren die Beine auch zu dick, um sie in den Stahlring stecken zu können. Und der Aktenschrank würde erst Recht nicht helfen.
„Verdammt!“ Wütend und halb verzweifelt schlug ich auf den Boden und starrte den Ring an. Ich konnte mich nicht mal verwandeln und meine Pfote dann einfach herausziehen. Wolfspfoten waren nicht wie die von Hunden, sie waren viel größer. Dann hätte ich das gleiche Problem eben nur in einer anderen Gestalt. Meine einzige Möglichkeit war es irgendwas zu finden, dass ich als Hebel einsetzen könnte, aber Schubladen waren da nicht … Moment mal.
Mein Blick flitzte zum Aktenschrank. Die Schubladen waren nutzlos, aber sie wurden auf langen Schienen geführt, schienen die ich benutzen könnte, wenn ich sie nur aus dem Schrak herausbekam.
Ich zögerte nicht lange und riss sofort an dem Schrank. Leider konnte ich dazu nur eine Hand benutzen, denn die andere war ja noch immer an dem Ring. Es war aber kein Problem eine der Laden herauszuziehen, die Schiene an der Seite abzumontieren dagegen schon. Ich hatte kein Werkzeug und so konnte ich nichts anderes tun als zu drücken und zu ziehen bis meine Hände schmerzten und blutig waren. Am Ende verbog ich sogar die halbe Lade, bis sie in drei Teilen um mich herum lag, doch dann hielt ich endlich die völlig vergorene Schiene in der Hand.
Leider hatte ich bei meinem tollen Plan eine Sache nicht bedacht: So ein Aktenschrank bestand nicht aus Stahl und wenn ich die Schiene schon mit der Hand verbiegen konnte, zweifelte ich daran, dass sie mir bei dem Ring helfen konnte. Aber vielleicht, ganz vielleicht hatte ich ja Glück. Also fädelte ich die Schiene durch den Ring und begann zu drücken.
Das Ergebnis war genau das was ich bereits befürchtet hatte, sie bog sich einfach nur.
Ich versuchte es anders, bog die Schiene durch die Öse und benutzte sie dann als Griff. Dann änderte ich meine Position, setzte mich auf meinen Hintern und stemmte meine Füße links und rechts von Ring auf den Boden. Dann begann ich zu ziehen. Ich zog so fest ich konnte, aber das einzige was passierte war, dass ich langsam abrutschte.
„Scheiße!“, fluchte ich und begann mit der Schiene auf den Beton rund um den Ring einzustecken. Wenn ich das Ding nicht rausdrehen konnte, dann schaffte ich es vielleicht den Boden drumherum kaputt zu machen. Also begann ich zu hämmern. Immer und immer wieder.
Es war mir egal, ob mich jemand hörte. Wenn Iesha hier hereingeplatzt kam und zu erfahren was das hier für ein Radau war, dann würde sie wenigstens Cio nicht begrapschen können.
Trotz meiner wütenden Gedanken schreckte ich überrascht auf, als sich auf einmal die Tür öffnete. Es war dumm, da ich genau gewusst hatte, dass eher früher als später wieder jemand hier herein kommen würde und trotzdem fuhr ich zähnefletschend herum und hob die verbogene Schiene, als wenn ich jemanden damit erstechen wollte. Doch selbst meine noch immer ausgefahrenen Reißzähne, wirkten wohl nicht besonders beeindruckend, denn als Tayfun in den Raum trat und traurig begutachtete, was ich hier während seiner Abwesenheit getrieben hatte, wirkte er nicht alarmiert
„Das wird nichts bringen“, erklärte er mir und schoss hinter sich dir Tür. In der Hand hielt er eine Tüte, der der Geruch von chinesischem Essen entströmte. „Ich habe ein ziemlich tiefes Loch gebohrt und es mit Stahlbeton ausgegossen, bevor ich den Ring darin verankert habe. Du bräuchtest schon einen Bohrhammer um den Ring heraus zu bekommen.“
Das so ruhig und sachlich erklärt zu bekommen, war fast noch schlimmer als hier festgekettet zu sein, denn es zeigte mir nur wie verloren der Posten war, auf dem ich kämpfte.
„Ich habe dir auch noch ein paar Frühlingsrollen und gebackene Banane mitgebracht.“ Er trat weiter in den Raum und stellte die Tüte direkt neben dem Ring auf den Boden.
Ich starrte ihn nur zornig an und hätte ihm am Liebsten die verdammte Schiene in den Fuß gerammt, aber wozu? Es würde nichts bringen. Ich wäre immer noch festgekettet und Cio müsste weiterhin das tun, was Iesha von ihm verlangt. Die sitiation war einfach nur ausweglos und langsam kam ich nicht mehr gegen die Verzweiflung an die in meinem Innersten tobte.
Und dann verließ mich einfach meine Kraft. Ich nahm dem Arm herunter und meine Schultern sackten einfach herab. „Warum?“, fragte ich ihn leise.
„Warum was?“
„Alles.“ Warum saß ich hier? Warum half er mir nicht? Warum hatte das Schicksal entschieden, dass unser Leben von einer Verrückten bestimmt wurde.
Tayfun wartete einen Moment, ob da noch etwas käme. „Ich weiß nicht was genau du meinst.“
Nein, wahrscheinlich nicht. „Immer wieder laufen mir Leute über den Weg, bei denen ich im Nachhinein denke: Wäre ich ihnen doch nur nie begegnet. Bis gestern hätte ich es niemals für möglich gehalten, dass ich dich auch irgendwann zu diesen Leuten zählen könnte. Nicht mal nach dem Kuss oder dem Gespräch am Auto. Ich hab gedacht, das wird schon wieder, aber jetzt …“ Ich schüttelte den Kopf.
„Ich wollte nie dass es so weit kommt.“
Er klang ehrlich, aber das war völlig egal.
„Willst du … soll ich dir etwas für deine Hände holen?“
Ihm war also aufgefallen, wie schlimm ich sie mir in der letzten Stunde ramponiert hatte, aber auch gesunde Hände würden mir nicht helfen. Es war wieder dieser Widerspruch in ihm. Einerseits wollte er sich um mich kümmern, andererseits war er aber bereit mich zu erschießen, als wäre ich nur wertloser Dreck. Er hatte versucht mich von Iesha fern zu halten, wollte aber nicht helfen, als sie mir ins Gesicht geschlagen hatte. Er hatte ja nicht mal sich selber geholfen, als sie auf ihn losgegangen war. Verdammt, sie hatte ihm seinen Reißzahn ausgeschlagen und er hielt trotzdem noch zu ihr. Und ich wusste nicht, wie ich ihn davon überzeugen sollte sich von ihr abzuwenden. Ich wusste nicht mal, ob es überhaupt möglich war.
„Zaira?“
„Hilf mir“, sagte ich und schaute ihn flehend an. „Hilf Cio, lass uns gehen. Bitte.“
Er wich einen Stück vor mir zurück, als hätte ich plötzlich eine Ansteckende Krankheit. „Das geht nicht. Iesha würde …“
„Iesha ist egal. Hilf und und wir werden dir helfen.“
„Ich brauche keine Hilfe.“
Oh doch, die brauchte er und so wie er meinem Blick auswich, wusste er das auch ganz genau. Vielleicht konnte ich zu ihm durchdringen. Wenn ich nur die richtigen Worte fand, würde er einsehen, dass das hier falsch war. „Du hast ihr nicht gesagt, dass ich schwanger bin.“
„Es hätte sie verletzt.“
Nein, das war nicht der Grund, da war ich mir sicher. „Du hast es ihr nicht gesagt, weil du Angst vor dem hattest, was sie mit dem Baby gemacht hätte. Du hast versucht mein Baby zu beschützen.“
Er antwortete nicht.
„Hilf mir“, flehte ich ihn an.
„Ich kann nicht.“
„Doch, du kannst. Bitte, du musst nur …“
„Ich kann nicht!“ Er machte einen Schritt zur Seite, fuhr sich dann nervös über den Kopf und zerraufte dabei seine Haare. „Bitte, hör auf mich darum zu bitten, ich kann dir nicht helfen, nicht so.“
„Aber du kannst doch auch nicht tatenlos daneben stehen und nichts tun, während sie das mit uns macht“, drang ich weiter in ihn ein. „Willst du, dass er das gleiche durchmachen muss wie du? Dass sie ihn missbraucht?“
Er schüttelte den Kopf, aber nicht um meine Frage zu verneinen, sondern um seinen Gedanken aus dem Kopf zu bekommen. „Iesha ist nicht wie Tiago, Tiago war ein Sadist.“
„Tiago hat dich missbraucht und das gleiche wird Iesha nun mit Cio machen. Nur weil er sich nicht wehrt, heißt das noch lange nicht, dass er das will. Er versucht nur mich zu beschützen.“
Wie schüttelte er den Kopf. „Iesha wird gut zu ihm sein.“
„Sie hat ihn an eine Wand gekettet und hält ihn seit drei Wochen gegen seinen Willen gefangen!“
„Nein, so ist das nicht.“ Ein Schritt rückwärts, noch einer. „Du hast keine Ahnung wovon du da sprichst.“
„Tayfun …“
„Nein!“ Er fauchte wie ein in die Ecke gedrängtes Tier. Er schien durcheinander und zog sich immer weiter vor mir zurück. „Bitte, ich …“ Seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. „Iss dein Essen, ich sehe später noch einmal nach dir.“ Und dann ging er einfach. Er kehrte mir den Rücken und verließ den Raum so fluchtartig, als befürchtete er ich könnte ihn vielleicht doch noch dazu bringen die Handschellen zu öffnen.
Vielleicht konnte ich das ja wirklich, überlegte ich, als hinter ihm die Tür ins Schloss fiel. Vielleicht, mit der Zeit, konnte ich ihn überzeugen, aber wie lange würde das genau sein? Je länger ich hier drinnen war, desto länger war Cio ihr ausgeliefert und schon eine weitere Minute war schon zu viel.
Ich musste etwas anderes versuchen, ich brauchte eine Idee, einen Plan, irgendwas. Mein Blick fiel auf die Tüte. Ja, genau, das war es, ich brauchte Essen. Und dann würde ich Iesha den Kopf abreißen und sie für alles bezahlen lassen, was sie mir und meine Familie angetan hatte.
°°°
Unruhig starrte ich durch das kleine Fenster und musste feststellen, das der Tag sich allmählich dem Abend neigte. Im Raum wurde es auch immer kälter, weswegen ich mich in der Zwischenzeit in Decke und Schlafsack eingewickelt hatte. Vielleicht kam es mir auch einfach nur so vor, weil ich mich hier nicht wirklich bewegen konnte.
Wo blieb Tayfun nur? Er hatte doch gesagt er würde später noch mal nach mir schauen, aber das war mittlerweile Stunden her. Hatte ich ihn wirklich so aus dem Konzept gebracht, dass er sich nun von mir fernhalten wollte, oder hatte Iesha ihre Finger mit im Spiel?
Warum er noch nicht wieder hier war, interessierte eigentlich auch gar nicht, es war nur schlimm dass er es nicht wahr, denn ich brauchte ihn um hier rauszukommen, doch je länger er weg blieb, desto länger war Cio bei Iesha und musste … Gott, ich wollte gar nicht daran denken, was er alles tun musste. Allein zu wissen, dass ich ihm das angetan hatte, zerriss mir fast das Herz.
Noch dazu hatten meine Fänge sich noch immer nicht wieder zurückgezogen. Das war einerseits gut, andererseits wurde es langsam unangenehm. Nicht nur weil sie sich mir permanent in die Unterlippe bohrten, Reißzähne waren einfach nicht dafür geschaffen, stundenlang ausgefahren zu sein.
Es musste daran liegen, dass ich so angespannt war und mich hier absolut nicht wohlfühlte. Die ständig drohende Gefahr hatte die Schutzmechanismen meines Körper in Dauerbereitschaft versetzt. Wenn Tayfun nur endlich …
Die Klinke an der Tür wurde heruntergedrückt und als sie aufschwang, trat endlich dieser Mistkerl ein, der mich hier vor Stunden festgebunden hatte.
Endlich.
Ich regte mich nicht als er in den Raum trat, behielt ihn nur wachsam im Auge, als er die Tür wieder hinter sich schloss und dann zur Campinglampe auf dem Schreibtisch hinüber ging, um sie einzuschalten. Dabei vermied er es in meine Richtung zu schauen und tat mindestens eine Minute so, als wäre es eine Lebensaufgabe die Lampe in eine richtige Position zu bringen.
Als es einfach nur noch albern wurde, dass er sich damit beschäftigte, seufzte er leise, bevor er sich zu mir herum drehte. Eine weitere Minute verstrich, während er mich traurig musterte. „Also … ich wollte nur schauen, ob du etwas brauchst.“
Okay, jetzt bloß keinen Fehler machen, denn eine zweite Chance würde ich sicher nicht bekommen. „Ich habe Hunger.“
Sein Blick flitzte zu der Tüte, die noch immer unberührt genauso dastand, wie er sie zurückgelassen hatte. „Ich könnte es dir aufwärmen, oder etwas neues besorgen, wenn du möchtest.“
Ich schüttelte den Kopf und zog die Decken fester um mich. Die Kante von der Blende der Schublade drückte sich mir dabei in den Oberschenkel, blieb aber unter dem Stoff verborgen. „Nein, ich … ich habe Hunger.“ Das letzte Wort betonte ich dabei überdeutlich.
Zuerst schien er nicht zu verstehen, doch dann bemerkte er meine noch immer ausgefahrenen Fänge und seine Augen weiteten sich ein kleinen wenig. „Oh“, machte er und warf einen schnellen Blick zur Tür, als läge dort die Lösung für dieses Problem. „Ähm … ich glaube nicht, dass sie dir erlaubt bei Cio zu trinken.“
Nein das glaubte ich auch nicht und das war wohl auch das erste Mal seit vier Jahren, dass ich es nicht auf sein Blut abgesehen hatte. Aber wenn ich das so direkt sagen würde, könnte er misstrauisch werden. Also senkte ich einfach nur den Kopf und vergrub mein Gesicht halb in den Decken, als wollte ich meine Verzweiflung und meine Fänge verbergen.
Er tippte sich unruhig gegen den Oberschenkel und warf erneut einen Blick zur Tür.
Komm schon, biete es mir an, na los.
„Also, wenn du möchtest … du kannst bei mir trinken.“
Na geht doch, warum nicht gleich so? „Ich trinke nur bei Cio.“
„Du hast dich schon mal an mir genährt“, erinnerte er mich. „Es wäre also nichts Neues für dich und mir macht es nichts aus.“
Ich schaute zu ihm auf, sah ihm erst ins Gesicht und dann überdeutlich auf seinen Hals. Nun schluckte ich noch einmal angestrengt und wandte den Blick dann eilig wieder ab. „Geht schon.“
„Nein, das tut es nicht“, widersprach er mir sofort. Als Vampir wusste er nur zu genau, dass Bluthunger ein Bedürfnis war, dass man befriedigen musste, weil sonst irgendwann die Instinkte die Führung übernahmen. Bei mir war das sogar noch schlimmer. Nur was er nicht wusste, ich hatte gar keinen Hunger, ich hatte es aus einem ganz anderen Grund auf sein Blut abgesehen. „Komm schon Zaira, es ist in Ordnung. Du brauchst das und ich gebe es dir gerne.“
Ich antwortete nicht. Ich saß einfach nur da und starrte auf den Boden, als wollte ich mich so ablenken.
Wieder tippte er sich nervös gegen den Oberschenkel. Dann setzte er sich langsam in Bewegung, als wollte er mich nicht verschrecken.
„Nein“, flüsterte ich, als er sich dann auch noch neben mich hockte und den Arm ausstreckte, sodass sein Handgelenk vor meinem Gesicht schwebte.
„Es wird nur besser, wenn du etwas dagegen tust, das weißt du.“
Ich kniff die Augen zusammen, als wollte ich ihn ausblenden. Leider war ich nicht fähig auf Kommando zu weinen, sonst hätte ich es in diesem Moment getan.
„Na gut.“
Etwas in seinem Ton veranlasste mich die Augen zu öffnen. Zuerst glaubte ich zu weit gegangen zu sein, aber dann konnte ich beobachten, wie er sein Handgelenk selber für den Biss vorbereitete. Er betäubte die Haut und sobald er nichts mehr spürte, biss er sich selber – so wie ich es für ihn in dieser einen Nacht getan hatte.
Es tat immer noch weh daran erinnert zu werden, was für ein verlogenes Spiel er die ganze Zeit mit mir gespielt hatte.
Als Tayfun fertig war und sich ganz nahe neben mich kniete, tat ich so als wolle ich vor ihm zurückweichen, doch sobald er den Arm hob und mir der Geruch seines Blutes in die Nase stieg, hielt ich inne. Ich tat so, als würde mich allein der Anblick faszinieren und befreite meine Arme langsam aus den Decken. Genauso langsam griff ich auch nach seinem Handgelenk.
„Ja, so ist gut“, sagte er leise.
Wüsste ich nicht was er alles getan hatte, würde ich mich in diesem Moment wohl reuig fühlen, aber er hatte mir und Cio so übel mitgespielt, dass ich nicht mal ein schlechtes Gewissen hatte, als ich den Arm fester packte, den Kopf senkte und meine Fänge in seine Haut jagte.
Einen kurzen Moment geschah gar nichts, doch dann reagierten meine Reißzähne und besannen sich auf ihre eigentliche Aufgabe. Das Sekret schoss aus meinen Zähnen direkt in seine Wunde. Ich merkte davon nicht wirklich etwas, aber Tayfuns Haltung und auch sein Blick veränderten sich ein wenig. Als ich dann einen Schwall Blut in meinen Mund sog, wurde es sogar noch deutlicher.
Tayfun war nicht wie Cio. Cio genoss den Akt des Trinkens und zeigte das auch völlig ungeniert. Mit ihm zusammen war das nicht nur Nahrungsaufnahme, es war etwas sehr Persönliches und sehr auch Intimes. Tayfun dagegen war einfach nur still. Oh er merkte es. Schon mit dem zweiten Zug an seinem Handgelenk wurde sein Blick leicht glasig und die Lider sanken ein wenig herab. Er hatte den Mund geöffnet und atmete deutlich schneller, aber hauptsächlich war er, naja, still, so als traute er sich nicht zu zeigen, wie er sich dabei fühlte. Er schloss sogar die Augen, als wollte er sich von allem um sich herum abschotten.
Plötzlich meldete sich doch mein Gewissen. Tayfun hatte in seinem Leben schon viel durchgemacht und das hatte natürlich seine Spuren bei ihm hinterlassen. Er war nicht aus freien Stücken so geworden. Wäre er bei seinem leiblichen Eltern aufgewachsen, hätte er vielleicht ein gutes Leben führen können, aber leider war das Schicksal manchmal ein gemeines Aas und darum waren wir nun hier.
In diesem Moment war es egal, wer er war oder wie er an diesen Punkt gelangt war, er stand zwischen mir und meiner Freiheit. Da konnte mir mein Gewissen noch so oft mitteilen, dass es gemein war was ich vorhatte und er in diesem Spiel nur ein unglücklicher Bauer war, ich musste hier raus.
Als ich zum dritten Mal sein warmes Blut in meinen Mund sog, nahm ich dabei eine Hand von seinem Arm. Er öffnete nicht mal die Augen, nur sein Atem stockte einen Moment, was aber an dem Endorphinen lag, die im Moment wie ein Wirbelwind durch seinen Blutkreislauf rauschten.
Vorsichtig und ohne hektische Bewegungen schob ich die Decke weg. Als ich mich leicht nach rechts lehnte, um die Blende aufzuheben, sog ich noch mal, damit er weiterhin abgelenkt war. Meine Finger wurden schwitzig und krampften sich darum. Ich betete zu Gott und jeden anderen der mich hören konnte und flehte dass es funktionieren würde. Dann langsam hob ich den Arm mit der Metallplatte. Es tut mir leid.
Ohne auch nur noch eine weitere Sekunde zu zögern, holte ich mich aller Kraft aus und schlug ihm die Metallblende vom Aktenschrank so fest gegen den Kopf, wie es mir nur möglich war.
„Ahhh!“ Von der Wucht wurde er zur Seite geschleudert und landete mit einem dumpfen knall auf dem Boden.
Ich löste den Biss, um ihm nicht die Haut aufzureißen, hielt ihn aber gleichzeitig weiter fest.
Meine Hoffnung ihn mit einem Schlag bewusstlos zu hauen, zerstob im Wind, als er sich zwar benommen, aber durchaus bei Bewusstsein auf die Arme stemmte. „Was …“
Ich schlug noch mal zu und zur Sicherheit noch ein weiteres Mal. „Werd ohnmächtig!“, fauchte ich, ich wollte ihn nicht noch mal schlagen, aber er bewegte sich immer noch. Verdammt! „Es tut mir leid“, sagte ich und schlug ihm die bereits verbeulte Blende noch ein viertes Mal auf den Kopf. Dieses Mal sackte er einfach zusammen und bewegte sich nicht mehr.
Einen atemlosen Augenblick saß ich einfach nur da, meine Waffe erhoben, bereit noch einmal zuzuschlagen, falls es nötig sein sollte, aber er blieb völlig regungslos. Dann hatte ich einen verrückten Moment Angst ihn ausversehen umgebracht zu haben, doch als ich mit zitternden Fingern nach seinem Puls tastete, schlug der ruhig und regelmäßig.
Erleichtert atmete ich auf und gab mir einen kurzen Moment, um mich zu sammeln, aber da ich keine Ahnung hatte, ob er nur fünf Minuten, oder fünf stunden bewusstlos sein würde, konnte ich auch nicht ewig hier herumsitzen und Zeit vertrödeln. Außerdem brauchte Cio mich. Also ließ ich die Blende fallen und begann hektisch Tayfuns Taschen nach dem Schlüssel für die Handschellen abzusuchen.
Als ich dabei auf die Waffe hinten in seinem Hosenbund stieß, zögerte ich nicht. Ich nahm sie an mich und fischte anschließend den Schlüssel aus seiner Hose. Ich öffnete die Handschelle, zog Tayfun dann näher an den Ring heran und legte sie ihm an. Dann stand ich auf und taumelte vor ihm zurück.
Oh Gott, ich hatte es geschafft, ich hatte es wirklich geschafft. Ich war frei, ich hatte eine Waffe und ich hatte Tayfun ausgeschaltet. Vor Freude hätte ich fast angefangen zu heulen. Aber dazu war jetzt keine Zeit, ich musste Cio retten.
Ich eilte durch den Raum und war schon an der Tür, als ich noch mal einen Blick zurück war. Wie er da lag, er wirkte so gebrochen und verzweifelt. Einfach nur … kaputt. Er hatte in seinem Leben bereits so viel durchgemacht, wurde ausgenutzt und erniedrigt und eigentlich war er doch mein Freund, aber ich konnte ihm nicht mehr vertrauen. Ich musste ihn hier lassen. Hier konnte ihm nichts passieren und er konnte mir nicht in den Rücken fallen.
Mit zusammengepressten Lippen schlüpfte ich leise hinaus in den Korridor und schloss die Tür Sicherheitshalber wieder hinter mir. Dabei bemerkte ich, dass ich den Schlüssel noch immer in meiner Hand hielt. Ich ließ ihn einfach an Ort und Stelle fallen und widmete mich dann der Waffe.
Mein Vater hatte mir vor langer Zeit auf dem Schießstand das Schießen beigebracht. Ich mochte es nicht besonders, aber ich wusste wie man ein Magazin überprüfte und eine Waffe entsicherte, damit sie auch wirklich schoss, wenn man den Abzug drückte.
Erst als ich sicher war, dass alles korrekt funktionierte, nahm ich die Waffe fest in meine rechte Hand und schlich dann auf Zehenspitzen hinüber zum Lager.
Die Tür war geschlossen und hier draußen konnte ich nur ein leises Stimmengemurmel hören. Ich war unsicher, sollte ich einfach reinstürmen, oder war es doch besser, erstmal die Lage zu checken?
Da ich nicht vorhatte in meiner Eile ausversehen Cio zu erschießen, entschied ich mich für Variante zwei. Nur noch einmal tief durchatmen, dann legte ich die Hand auf die Klinke. „Okay, ganz ruhig, du kannst das.“ Die Waffe war bereit und ich auch, also drückte ich ganz vorsichtig die Klinke hinuter und schob die Tür nur einen winzigen Spalt auf.
„… nicht so stur. Du musst etwas essen“, hörte ich Iesha sagen.
„Wenn du das Essen so toll findest, dann iss es doch selber. Ich habe keine Lust mehr mich von dir ständig betäuben zu lassen.“
„Das müsste ich nicht machen, wenn du einsichtiger wärst. Cio, ich mache das doch nicht um dich zu ärgern. Es ist einfach der Beste für dich.“
Er schnaubte.
Aus meiner Position konnte ich leider nur das Fußende des Bettes sehen, darum musste ich die Tür noch ein paar Zentimeter weiter aufdrücken und dann sah ich sie.
Cio lag wieder im Bett. Die Ketten waren wieder ein wenig kürzer. So konnte er zwar noch problemlos agieren, aber nur solange er sitzen blieb und nicht versuchte aus dem Bett zu steigen.
Direkt neben ihm auf der Kante, ein Bein unter den Hintern geschlagen, saß Iesha und versuchte ihn mit irgendwas zu füttern.
„Ich hab einfach keinen Hunger Iesha.“ Er klang resigniert.
Sie seufzte und legte den Happen zurück auf den Teller. „Na gut“, sagte sie und stellte den Teller auf die Holzkiste. Sie hatte in der Zwischenzeit ihren Hoddie ausgezogen und trug jetzt nur noch Jeans und ein wirklich dünnes und enges Hemdchen. „Dann können wir ja auch etwas anderes machen“, sagte sie gedehnt und begann zu lächeln. Ihre Hand legte sich auf seinen Bauch und wanderte langsam in tiefere Regionen.
Cio gab keine Regung von sich, als sie ihm provozierend in den Schritt griff und sich vorbeugte um ihn zu küssen, ich dagegen musste mich hart am Riemen reißen, um nicht zu knurren und sie auf mich aufmerksam zu machen. Ich musste vorsichtig vorgehen, langsam, doch gerade in dem Moment als ich die Tür aufstoßen wollte, richtete sie sich wieder auf und runzelte die Stirn.
„Was ist nur los?“, fragte sie. „Früher hat es gereicht mit dir rumzuknutschen, um dich scharf zu machen und jetzt passiert hier unten gar nichts.“
Er drehte den Kopf leicht zur Seite, sagte aber nichts.
Keine Ahnung was daraufhin in Iesha fuhr, aber ihr Gesicht verzerrte sich vor Wut und sie verpasste ihm so eine heftige Ohrfeige, dass das Klatschen selbst mich zusammenzucken ließ. „Was soll das? Sag was dazu!“
Seine Kiefer begannen zu mahlen und die Ketten klirrten, als er die Arme bewegte. „Es ist … ich hab einfach keine Lust. Man kann das doch nicht erzwingen, das ist nicht wie bei euch Frauen.“
„Lust?“ Mit einem Mal lächelte sie wieder und dann schob sie ihre Hand in seine Jogginghose. „Vielleicht kann ich dir da je behilflich sein.“
Ich wusste nicht was genau es in diesem Moment war, vielleicht war es der gequälte Ausdruck in seinem Gesicht, oder die Erinnerung daran wie Owen das bei mir gemacht hatte, aber mir brannte eine Sicherung durch. Scheiß auf langsam und vorsichtig, ich stieß die Tür so heftig auf, dass sie gegen die Wand knallte und die beiden sofort zu mir herumwirbelten. Gleichzeitig hob ich die Waffe und richtete sie direkt auf Ieshas Kopf. „Nimm deine Scheißhände von ihm du widerliche Schlampe!“
Zwei Sekunden lang geschah gar nichts, die beiden schauten mich einfach nur verblüfft an. Dann schaltete Cio. Er griff nach vorne um Iesha zu packen und festzuhalten, doch sie ließ sich gerade noch rechtzeitig nach hinten kippen und rollte dann einfach vom Bett. Durch die Ketten war es Cio nicht möglich ihr zu folgen, aber er sprang augenblicklich in die Hocke, angespannt und bereit.
Aber auch Iesha blieb nicht still auf dem Boden liegen. Sie sprang sofort zurück auf die Beine und stolperte ein paar Schritte zurück. Sie schaute von der Waffe zu meinem Gesicht und dann weiter zur offenen Tür. „Jamal!“
Langsam und ohne zu blinzeln trat ich über die Schwelle. Ein Schritt und noch ein Schritt. „Das kannst du dir sparen!“, spie ich ihr entgegen. „Er wird nicht kommen. Niemand wird kommen um dir zu helfen.“
Ihre Augen wurden eine Spur größer. „Was hast du mit ihm gemacht?“
„Ich habe mit ihm den Platz getauscht.“ Ich ging noch einen Schritt weiter. „Und nun werde ich diese ganze Scheiße endlich beenden.“
„Was?“, höhne sie. „Willst du mich etwa erschießen?“ Sie verlagerte ihr Gewicht ein wenig. Dabei flitzte ihr Blick zum Tisch. „Dazu bist du doch gar nicht fähig.“
„Graf Deleo und Wächterin Vasilieva würden dir da sicher widersprechen.“
„Schäfchen, gib mir die Waffe und dann locker die Ketten.“
Genau das war mein Plan, doch dann bemerkte ich wieder, wie sie zum Tisch schaute. Den Blick auch nur für eine Sekunde abzuwenden war dumm, aber ich musste wissen, was da war und im Nachhinein erwies es sich sowohl als gut, wie auch als schlecht, dass ich nachschaute. Ieshas Pistole, sie lag noch immer auf dem Tisch.
Als ihr klar wurde, dass ich die Waffe entdeckt hatte, stürzte sie nach vorne. Sie war viel näher dran als ich, ich würde sie niemals vor ihr erreichten, aber ich konnte etwas anderes tun.
Auch ich rannte los, aber mein Ziel war es nicht die Waffe in die Hand zu bekommen. Ich war vielleicht noch einen halben Meter entfernt, da holte ich mit dem Bein aus und trat gegen den Tisch, genau in der Sekunde, als sie nach der Pistole greifen wollte. Es tat höllisch weh und würde sicher blau werden, aber es war immer noch besser als die Alternative.
Der Tisch kippte zur Seite und alles was oben drauf lag wurde über den ganzen Boden verteilt. Die Waffe schlitterte aufs Bett zu und verschwand dann darunter.
Iesha setzte ihr nach, doch Cio verharrte nicht mehr länger still auf dem Bett. Er trat zur Seite und erwischte sie nicht nur an der Hüfte, er schleuderte sie auch der Länge nach auf den Boden.
Sie schrie auf, das musste wehgetan haben, aber so schnell gab sie nicht auf. Sie stemmte sich auf die Arme und drückte sich langsam hoch, bis sie auf dem Boden hockte – genau zwischen mir und Cio. „Und jetzt? Was wirst du nun machen? Schießen willst du ja scheinbar nicht.“
„Du hast recht, ich will dich nicht erschießen.“ Ich machte einen Schritt zur Seite, näher an die Kurbel heran. „Aber glaub nicht, dass ich es nicht tun würde, wenn du mich dazu zwingst.“
„Du bist so schwach.“ Langsam richtete Iesha sich wieder auf. „Du behauptest du liebst ihn, aber du bist nicht mal bereit für ihn zu töten. Ich habe für ihn getötet.“ Sie schlug sich gegen die Brust und machte einen Schritt auf mich zu. „Viele Male sogar.“
Cio beobachtete ihre Bewegung nervös. „Lass sie nicht an dich rankommen, Schäfchen.“
Ja, weil sie im Kampf wesentlich besser ausgebildet war als ich. „Du hast nicht für ihn getötet, das hast du nur für dich selber gemacht.“ Ich schüttelte angewidert den Kopf. „Und keiner dieser Morde hat ihn dir zurückgebracht.“
„Ach wie süß.“ Sie kam noch ein Stück näher und trieb mich damit zurück.
Das gefiel mir nicht, aber ich wollt sie trotzdem nicht erschießen. Es war egal was sie alles getan hatte, ich wollte dieses Blut nicht auch noch an meinen Händen zu kleben haben. Sie war dann zwar tot und ihr wäre alles egal, aber ich müsste damit leben und wenn es möglich war, wollte ich das vermeiden.
„Für die Liebe muss man Opfer bringen.“
„Damit ist aber nicht gemeint, dass man andere opfert und ihnen das Leben nimmt.“
Sie schnaubte. „Du bist einfach nur dumm, hässlich und naiv.“
„Schäfchen“, warnte Cio, als sie sich mir weiter näherte. Sie trieb mich von der Kurbel weg.
Vielleicht … ich musste sie ja nicht erschießen, ich konnte sie ja auch einfach nur ausschalten. „Bleib stehen, sonst hast du gleich eine Kugel im Bein.“ Und dann würde sie sicher nicht mehr so gut laufen können.
„Um schießen zu können, müsstest du die Waffe erstmal entsichern.“
„Sie ist entsichert.“ Von ihr würde ich mich garantiert nicht mit so dürftigen Trick verunsichern lassen.
„Bist du dir sicher?“
„Wenn du nicht stehen bleibst, wirst du es gleich erfahren.“
Etwas an meinem Ton veranlasste sie tatsächlich inne zu halten. Sie musterte mich, als müsste sie die Situation neu durchdenken. Ihre Chancen waren im Moment nicht sehr gut. Beide Waffen waren außerhalb ihrer Reichweite und Tayfun hatte ich bereits ausgeschaltet. Eigentlich blieb ihr nur noch die Flucht, aber die beiden kleinen Fenster waren zu hoch und ich stand zwischen ihr und der Tür.
„Sieh es ein Iesha, es ist vorbei. Lass uns das Ganze endlich beenden, bevor er noch mehr Verletzte gibt.“
Sie lachte scharf auf. „Beenden? Wie möchtest du es denn beenden? Glaubst du wirklich ich setzte mich still in die Ecke und warte auf die Wächter, damit die mich dann zu meiner Hinrichtung kutschieren können?“
Wenn ihr ehrlich war, hatte ich bis jetzt noch gar nicht so weit gedacht. Eigentlich hatte ich vorgehabt Cio die Waffe zu übergeben. Dann könnte er sie in Schach halten, während ich ihn befreite und anschließend die Wächter rief. Aber Cio war noch immer an Bett gefesselt. Sie stand zwischen ihm und mir und ich stand zwischen ihr und ihrem Fluchtweg. Das nannte man dann wohl eine Pattsituation.
„Wie kann eine einzige Person nur so armselig sein. Stehst da mit der Waffe und weißt trotzdem nicht was du tun sollst. Und dann erst dieser Aufzug. Tauchst hier auf in Höschen und Shirt. Soll ich Cio verraten wie es dazu kam? Dass du dich mitten auf einem offenen Feld nackt vor Jamal ausgezogen hast?“
Oh mein Gott. Mein Blick flog zu Cio. „So war das nicht“, versicherte ich ihm.
„Vielleicht sollte ich ihm aber auch von letzte Woche Freitag erzählen. Du und Jamal, allein in deiner Wohnung. Ein kleiner Kuss, ein wenig Sex, das Versprechen es niemals jemanden zu erzählen.“
Was sollte das denn? „Das ist eine Lüge, das ist niemals passiert.“
„Ach nein?“, fragte sie lauernd.
„Schäfchen, lass sie nicht in deinen Kopf.“ Die Ketten klimperten wieder als er sich bewegte. „Ich glaube nichts von dem was sie sagt.“
„Warum nicht?“ Iesha drehte sich halb herum. Vor Schreck hätte ich fast den Abzug gedrückt. „Es ist wahr. Frag sie ruhig, sie wird dich sicher nicht anlügen.“
Cios Blick huschte kurz zu mir, bevor er ausdruckslos wurde, als wollte er sich selber versichern, dass nichts als Lügen aus Ieshas Mund kamen. „Ich brauche sie nicht fragen, ich weiß dass sie mich niemals hintergehen würde.“
„Aber Jamal hat sie wirklich geküsst. Er hat es mir erzählt. Er erzählt mir alles.“ Sie wandte sich wieder mir zu. „Ihr ward bei dir in der Wohnung. Du warst so traurig und allein und hast dich von ihm trösten lassen.“
Cio knurrte. „Hör auf damit Iesha.“
„Du lagst in seinen Armen und dann …“ Sie ließ den Satz ausklingen, aber sie musste auch gar nicht weiter sprechen. Diese Worte hatten ihr Ziel nicht verfehlt, Cio sah aus, als würde er gleich explodieren.
„Du Miststück.“
„Was, willst du etwa behaupten dass ich lüge?“
Okay, du hast es nicht anders gewollt, dann bekommst du jetzt einen Schluck von deiner eigenen Medizin. „Ja, er war da und ja, er hat mich geküsst, woraufhin ich ihn aus der Wohnung geschmissen und ihm gesagt habe, dass er sich niemals wieder bei mir blicken lassen soll.“
Iesha grinste zufrieden, wohingegen Cio aussah, als hätte er in eine Zitronen gebissen.
Es tut mir leid. „Aber weißt du Iesha, mir hat er auch ein paar Dinge erzählt, auf der Fahrt hier her. Sehr aufschlussreiche Dinge.“
„Ah wirklich? Na da bin ich aber mal gespannt.“
Das kannst du auch sein. „Er sagte mir, hätte ich seinen Kuss erwidert, oder ihm anderweitig gezeigt dass ich ihn will, hätte er dich noch im gleichen Moment sitzen gelassen und wäre bei mir geblieben.“
Nein, nun grinste sie nicht mehr. „Du lügst.“
„Wenn es dir besser geht, dann kannst du es gerne glauben.“ Ich hob den Kopf ein wenig. „Was meinst du, warum Cio immer so eifersüchtig auf ihn war? Im Gegensatz zu mir hat er verstanden, dass Tayfun mehr als nur Freundschaft von mir will.“
„Das ist nicht wahr, Jamal hat immer nur das gemacht was ich ihm gesagt habe.“
„Oh, da täuschst du dich aber.“ Ja, mir war klar, dass es nicht besonders schlau war sie mit einem Stock zu piken, aber das hatte sie verdient. Sie sollte ruhig wissen, dass sie nichts hatte – rein gar nichts. „Cio will mich, nicht dich. Ich muss ihn nicht an ein Bett ketten, damit er bei mir bleibt.“
„Schäfchen“, warnte Cio mich.
„Und auch Tayfun will lieber mich.“
„Jamal liebt mich“, knurrte sie.
„Er liebt dich nicht, er bleibt bei dir, weil er Angst vor dir hat. Ich bin seine Freundin.“
„Freundin?“, höhnte sie. „Du verstehst ihn nicht mal. Ich“ - sie schlug sich auf die Brust - „ich verstehe ihn, ich weiß wie er tickt.“
„Du schlägst ihn, du misshandelst ihn. Ich war es die ihn gepflegt hat und immer gut zu ihm war. Du hast ihm den Reißzahn ausgeschlagen, weil es deinen Zwecken dienlich war, bei mir aber hat er immer nur Zuneigung erfahren. Darum würde er mich dir jederzeit vorziehen, genau wie Cio und auch jedes andere vernunftbehaftetes Wesen auf diesem Planeten. Niemand will dich, aber mich wollen …“
Ich sah es nicht kommen. Eben noch wollte ich sie wegen allem was sie getan hatte einfach nur verletzten und dann wurde mir erst klar, wie nahe sie mir in der Zwischenzeit gekommen war. Was sie da tat, nannte man wohl einen Roundhouse Kick. Sie wirbelte einfach herum und trat mir dabei die Waffe aus der Hand.
Ich schrie auf, nicht nur vor Schreck, es tat auch fürchterlich weh.
„Zaira!“, schrie Cio panisch.
Die Waffe flog quer durch den Raum und blieb und fiel direkt an der Wand zu Boden. Keiner von uns beiden hielt sich lange Reden auf, wir stürzten direkt los, aber so wie die Waffe gefallen war, war Iesha näher dran.
Oh Gott, ich schaff es nicht, dachte ich noch, doch in dem Moment schnappte sich Cio die Holzkiste neben dem Bett und schleuderte sie Iesha in den Rücken.
Das Holz splitterte, Iesha krachte mit einem Schrei zu Boden, ich eilte an ihr vorbei und warf mich nach vorne, um die Waffe vor ihr zu erreichen. Allerdings musste ich Rücksicht auf meinen Bauch nehmen und so bekam ich die Waffe zwar vor ihr in die Hände, doch bevor ich sie richtig greifen konnte, warf Iesha sich knurrend auf mich rauf.
„Iesha, lass sie in ruhe!“ Cio begann wie ein Berserker an seinen Ketten zu zerren. „Geh von ihr runter!“
Ein Schlag traf mich im Gesicht.
Ich versuchte mich herumzurollen und sie von mir runter zu stoßen. Die Waffe entglitt meinen Händen und ich musste schützend die Beine an den Körper ziehen, weil ihr nächster Schlag direkt auf meinen Bauch abzielte.
„Iesha!“ Das Bette knarrte und knallte bei seinem Versuch sich zu befreien gegen die Wand.
Als sie erneut ausholte um mich zu schlagen, reagierte ich rein instinktiv. Ich riss meinen Ellenbogen nach oben und es war wohl mehr Glück al alles andere, dass ich sie damit am Kinn traf und sie endlich von mir herunter bekam.
„Du Schlampe!“, beschimpfte sie mich und wollte er erneut auf mich losgehen, doch ich rollte mich eilig zur Seite, kam auf die Knie und krabbelte ein Stück weiter. Die Waffe, ich musste die Waffe unbedingt vor ihr in die Hand bekommen.
Ich streckte den Arm aus, meine Finger berührten sie schon, da Griff Iesha nach meinen Beinen und riss mich zurück.
„Das kannst du vergessen!“
Von wegen. Ich holte aus und trat ihr mitten ins Gesicht. Dann machte ich einen Satz nach vorne und endlich schlossen sich meine Finger um den Griff der Waffe.
Iesha kreischte vor Wut und warf sich erneut auf mich. Wir begannen wieder um die Waffe zu rangeln und ich schaffte es einfach nicht sie richtig zu greifen, weil sie mir die Arme und den Handrücken zerkratze. Als ich dann versuchte sie wegzuschubsen, schlossen ich auch ihre Hände um die Waffe. „Ich werde dich umbringen!“, knurrte sie und versuchte mir die Pistole zu entreißen.
Ich riss mein Knie nach oben, in der Hoffnung sie so von mir runter zu stoßen, aber sie wollte nicht loslassen. Und dann drückte sie gegen den Lauf, um ihn in meine Richtung zu drehen.
Oh Gott. Sofort hielt ich dagegen. Mein Herz trommelte wie wild und mein Atem kam hektisch und stoßweise. Wenn sie es schaffte den Lauf in meine Richtung zu drehen, würde sie ohne zu zögern abdrücken, da war ich mich sicher.
Das durfte ich nicht zulassen.
„Lass los“, keuchte ich und versuchte mit meiner ganzen Kraft gegen zu halten.
Plötzlich machte sie eine ruckartige Bewegung, die Waffe verrutschte. Ein Schuss löste sich, in meinem Bauch explodierte der Schmerz und dann war plötzlich alles voller Blut.
„Nein!“, schrie Cio.
°°°°°
Blut, da war plötzlich so viel Blut, meine Finger waren ganz rot, genau wie mein Shirt. Mein Bauch tat weh. Ich riss die Hände zurück und wusste nicht, was passiert war.
Iesha schaute mich aus großen Augen an. Auch ihre Hände waren rot. Es lief an ihrem Shirt herunter und tropfte auf den Boden.
Sie hatte recht, dachte ich unsinnig. Tropfendes Blut hörte sich wirklich anderes an.
Die Waffe fiel ihr haltlos aus den Händen, während sie sich auf die Fersen hockte und mich beinahe schon fassungslos anschaute.
„Schäfchen!“ Cio zerrte wie ein Wahnsinniger an seinen Ketten. Sein Augen waren panisch aufgerissen. „Zaira!“
Auf einmal gab Iesha ein Wimmern von sich und sank dann mit schmerzverzerrtem Gesicht in sich zusammen. „Nein“, flüsterte sie und drückte die Hände gegen ihren Bauch. Die Kugel … sie hatte nicht mich, sondern sie getroffen, Iesha hatte sich bei dem Gerangel selber in den Bauch geschossen und das Blut an meinen Händen war ihres. Der Schmerz, er kam von dem Rückstoß.
Mit zitternden Knien, kam ich eilig auf die Beine und torkelte ein paar Schritte ihr zurück. Meine Hände legten sich schützend auf meinen Bauch. Das Blut war nicht von mir, dem kleinen Passagier ging es gut.
„Zaira!“
Bei Cios Ruf drehte ich mich langsam und mit weit aufgerissenen Augen zu ihm herum. Er versuchte noch immer loszukommen. Oh Gott, er würde sich noch die Arme abreißen. Ich musste ihn aufhalten.
„Hör auf“, rief ich und eilte zum Bett.
Seine Hände griffen bereits nach mir, da hatte ich ihn noch gar nicht erreicht. Er grapschte nach meinem Shirt und riss mich praktisch zu sich in Bett.
„Alles gut“, sagte ich eindringlich, als er das Shirt hochriss und ängstlich meinen Bauch abtastete. Das ganze Blut machte ihm fürchterliche Angst und er musste sich versichern, dass alles in Ordnung war. „Mir ist nicht passiert, dem Baby ist nichts passiert, das ist nicht mein Blut.“
„Oh Gott.“ Er drückte sein Gesicht gegen meinen Bauch und schluckte erstickt.
„Es geht mir gut“, versicherte ich ihm noch einmal und vergrub dabei meine Hände in seinem Haar. Er war hier, ich konnte ihn berühren. Nach all der Zeit und dem was wir durchgemacht hatten, war das fast irreal.
„Du bist so dumm“, warf er mir vor und schlang seine Arme um mich, sodass die Ketten wieder klirrten. Er zitterte am ganzen Körper. „So unglaublich dumm. Was hast du dir nur dabei gedacht hier her zu kommen?“
Vom Offensichtlichen einmal abgesehen? „Ich hab gedacht, es ist an der Zeit, mich für die ganzen Rettungsaktionen zu revanchieren.“
Der Laut den er von sich gab war sowohl glücklich, als auch ungläubig. Er zog mich zu sich runter und küsste mich mit einer solchen Verzweiflung, wie auch ich sie empfand. „Mach sowas nie wieder.“
„Dann lass du dich nie wieder entführen.“
Statt zu antworten, küsste er mich noch mal. Dabei grub er seine Hände in mein Haar und hielt mich so fest, als befürchtete er, ich könnte mich sonst einfach wieder in Luft auflösen. „Danke“, sagte er leise. „Danke dass du mich gefunden hast.“
Es waren nicht nur die Worte, sondern auch der Ton der mir deutlich machte, wie dringend er hier raus musste. „Ich hätte niemals aufgehört nach dir zu suchen.“ Einmal noch drückte ich ihn an mich, aber dann machte ich mich von ihm frei. „Und jetzt sollten wir zusehen, dass wir hier verschwinden.“
„Ich werde dir nicht widersprechen.“
Die Wiedersehensfreude wurde jäh unterbrochen, als Iesha einen gepeinigten Laut ausstieß.
Erschrocken drehte ich mich zu ihr um, doch sie lag noch immer mit schmerzverzerrtem Gesicht und zusammengekniffenen Augen auf den Boden. Ihre Hände hatte sie gegen den Bauch gedrückt und zwischen den Fingern sickerte noch immer Blut heraus. Sie musste höllische Schmerzen leiden, doch ich schaffte es nicht Mitgefühl für sie aufzubringen. Das gleiche hatte sie Kasper angetan. Das war nichts als ausgleichende Gerechtigkeit.
Aber es bedeutete auch, dass sie noch nicht tot war. Solange Iesha lebte, war sie eine Gefahr. Ich griff nach seinem Arm, um die breite Schelle in Augenschein zu nehmen. Die Haut war ganz wund und aufgerissen. Es blutete sogar. Alles war rot. „Wie krieg ich die auf, Cio?“
„Schlüssel.“ Er schaute auf und zeigte auf die Wand. „Du musst die Schlüssel holen Schäfchen hinter der Tür.“ Er hob den Arm um mir zu zeigen, was er meinte.
Ich sprang sofort aus dem Bett und eilte quer durch dem Raum. Da direkt hinter der Tür an der Wand gab es einen Haken, an dem ein einzelner Schlüssel baumelte. Hier konnte Cio ihn immer sehen, aber er würde niemals rannkommen. Und das nannte Iesha Liebe? Das war keine Liebe, das war nichts weiter als eine Demonotarion ihrer Macht und Überlegenheit.
Ich warf ihr einen giftigen Blick zu, schnappte mir dann den Schlüssel und eilte zurück zum Bett.
Cio hatte sich schon an die Kante gesetzt und hielt mir seinen Arm entgegen. „Hier, in das Loch, da musst du ihn reinstecken.“
Da er aufgeregt und durcheinander war, verkniff ich es mir ihm zu erklären, dass mir sehr wohl bewusst war, wie man einen Schlüssel benutzte. Aber gegen das Zittern meiner Finger konnte ich nichts ausrichten.
Der Schlüssel rastete ein, die Schelle öffnete sich und fiel mit klirrenden Gliedern auf die Matratze.
„Der andere auch.“
Ich griff nach seinem zweiten Arm und steckte den Schlüssel ins Schloss. Wir hatten es geschafft und doch hatte ich furchtbare Angst, dass noch etwas schiefgehen …
Ein lauter Knall ließ mich nicht nur zusammenzucken, sondern auch herumwirbeln. Im gleichen Moment gab Cio ein schmerzverzerrtes Stöhnen von sich und griff sich an die Schulter. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor.
Iesha lag mit erhobenem Arm auf dem Boden und grinste mich mit blutverschmierten Lippen an. In ihren zitternden Fingern hielt sie die Waffe. „Du kannst … ihn nicht … haben“, sagte sie mit einem seltsamen Pfeifen in der Lunge. „Er gehört … mir.“ Ihre Augen fielen ihr zu, der Arm sank herunter und die Waffe fiel erneut zu Boden.
Zuerst stand ich einfach nur da und war geschockt, dann stürmte ich zu ihr und riss ihr die Waffe aus der Hand. Sie hatte auf ihn geschossen. Sie war halb tot und hatte trotzdem noch auf ihn geschossen! Wie hatte ich nur so dumm sein können die Waffe nicht gleich an mich zu nehmen? „Cio.“ Ich stürzte zurück zum Bett.
„Schon gut“, sagte Cio und kniff dabei die Augen zu. „Sie hat nur die die Schulter getroffen.“
Nur! Ich schob seine Hand weg und riss seinen Halsausschnitt auf, bis ich die Wunde sehen konnte. Ein Loch, direkt neben der alten Schusswunde.
„Nicht so schlimm“, versuchte Cio mich zu beruhigen, als ich mir das Laken vom Bett schnappte und begann einen langen streifen herauszureißen. „Die Kugel ist durchgegangen. Komm schon Schäfchen, befreie mich endlich.“
Ich knurrte. Nicht wegen dem was er sagte, sondern weil ich glaubte zu wissen, dass Iesha nicht auf die Schulter, sondern auf seine Brust gezielt hatte. Sie hatte vorgehabt sein Herz zu treffen, ganz nach dem Motto, wenn sie ihn nicht haben konnte, dann sollte ihn niemand haben. Das war einfach nur noch krank.
„Schäfchen“, sprach er mich an, als ich begann seine Schulter zu umwickeln. „Schäfchen!“ Er griff meine Hand und hielt sie fest. „Es ist nur ein Durchschuss, nichts was ich nicht schon überlebt hätte.“
Ja, aber sie hätte ihn auch ganz woanders treffen können und das war es was mir Angst machte. Aber ich verstand was er mir damit sagen wollte. „Okay.“ Ich atmete tief ein und versuchte mich selber zu beruhigen. „Okay, mir geht es gut. Drück die Hand da drauf, dann mache ich dich los.“
Er kam meiner Aufforderung sofort nach und ich konnte ihn endlich von den Ketten befreien. Sie fielen klimpernd ins Bett und er warf sie so angewidert von sich weg, dass sie eine Delle in der Wand hinterließen. „Nie wieder“, murmelte er dabei mir einem Ausdruck im Gesicht, der einen kurzen Moment erahnen ließ, was er die letzten drei Wochen alles hatte erleiden müssen.
„Jetzt ist es vorbei“, sagte ich und zog ihn aus dem Bett. Leider fiel mir dabei auf, dass weder er noch ich Socken oder Schuhe trugen. Er hatte zwar wenigstens noch eine Hose an, aber auch Jacken sah ich hier keine. Draußen war es bereits dunkel und sicherlich kalt. Wir hatten kein Handy, kein Auto, kein gar nichts. „Wie kommen wir hier weg?“
„Wie bist du hergekommen?“
„Tayfun hat mich eingesammelt und hergebracht.“
Sofort pressten seine Kiefer sich wieder aufeinander. „Wo ist er?“
Oh nein, das würden wir jetzt nicht tun. „Angekettet, gegenüber im Raum. Cio, ich will hier weg.“ Alles andere könnten wir später noch klären.
„Iesha hat ein Handy. In ihrer Hosentasche.“
„Okay.“ Da ich ihn mit seiner Schulter nicht noch weiter belasten wollte, ließ ich ihn stehen und ging selber rüber zu Iesha. Dabei bewegte ich mich vorsichtig und hielt die Waffe schussbereit in meiner Hand. Ein weiteres Mal würde ich nicht zögern, nicht mehr nachdem sie gerade auf Cio geschossen hatte.
Ihre Brust hob und senkte sich schwach. Und wie sie da lag … plötzlich kam sie mir gar nicht mehr so furchteinflößend und grausam vor. Was ich da sah, war eine junge Frau, die üble Schmerzen hatte und naja, ich wollte ihr nicht wirklich helfen, aber alles in mir sträubte sich dagegen sie einfach blutend ihrem Schicksal zu überlassen.
Ich sollte es tun. Nein, ich sollte ihr sogar eine Kugel in den Kopf jagen um sicher zu gehen, dass sie nie wieder jemanden schaden konnte, der mir etwas bedeutete – das sie überhaupt nie wieder irgendjemand schaden konnte – aber dazu war ich nicht fähig.
„Was machst du denn?“, fragte Cio, als ich mit einem Knurren die Reste vom Laken vom Bett riss und mich damit neben Iesha kniete.
Ich legte die Waffe hinter mich, schob dann ihre Hand weg und drückte das Laken auf die blutende Wunde.
Iesha stöhnte vor Schmerz.
„Schhh“, sagte ich und begann mit der freien Hand ihre Hosentasche nach dem Handy abzusuchen. „Bleib einfach ruhig liegen, wir holen Hilfe.“
„Das wird nichts bringen Schäfchen.“
„Aber ich kann sie hier nicht einfach sterben lassen.“ Da, das Handy. Ich zog er heraus.
Sein leises Seufzen drang an meine Ohren. Er trat hinter mich und legte mir vorsichtig eine Hand auf die Schulter. „Riechst du das? Diesen abstoßend Geruch?“
Ich brauchte einen Moment und in zu bemerken. Meine Nase war auf Blut getrimmt und davon war so viel im Raum, aber dann nahm ich ihn wahr. Es roch ein wenig nach Kloake und er kam von Iesha.
„Niemand kann ihr mehr helfen“, sagte er leise.
Ganz langsam öffnete Iesha ihre Lider einen Spalt. Ihre Augen waren irgendwie trüb und unfokussiert.
Sofort spannten sich all meine Muskeln an und ich war bereit auf die Beine zu springen, um von ihr wegzukommen, sollte es nötig sein, doch sie konnte kaum atmen, so schwach war sie mittlerweile.
„Jetzt … verstehe ich …“ Sie holte keuchend Luft. „… was er … in dir … sieht.“ Noch einmal holte sie angestrengt Luft. „Ich hasse dich … trotzdem.“ Und dann regte sie sich nicht mehr. Die Augen waren noch immer offen, genau wie der Mund, aber ihre Brust war nun still und der Blick starr ins Nichts gerichtet.
Iesha war tot.
Eigentlich wäre das für mich genau der passende Zeitpunkt gewesen, um vor Erleichterung aufzuatmen. Sie war tot und wir endlich frei. Keine Angst mehr, keine verrückten Psychospielchen, keine Iesha die versuchte alles zu zerstören, was mir am Herzen lag, aber ich konnte nur an all das denken, was kaputt gegangen war. Die vielen Leben. Nicht nur die der Toten, sondern auch die der Hinterbliebenen. Tayfuns Zahn, Papas Gesicht. Von den seelischen Schäden all ihrer Opfer sollte ich wohl besser erst gar nicht beginnen.
Ja, Iesha war ein Monster gewesen. Sie hatte so viel Leid und Unglück über die Leute gebracht, dennen sie begegnet war, dass man es wahrscheinlich gar nicht alles aufzählen konnte, aber … auch sie hatte Träume und Wünsche gehabt und auch sie hinterließ Leute, die um sie trauern würden. Ihr Vater und … Tayfun.
Nein, auch wenn es vieles für mich leichter machen würde, ihr Tod war in meinen Augen kein Triumph, er war eine Tragödie, genau wie ihr ganzes Leben.
„Komm, lass uns gehen.“ Cio griff nach meinem Arm und wollte mich auf die Beine ziehen, aber da wollte seine Schulter nicht mitspielen. Er verzog das Gesicht und zischte vor Schmerz. Dummkopf.
Das Laken lag noch auf dem Boden und kurz überlegte ich, ob ich sie damit zudecken sollte, doch dann stand ich einfach nur auf, drehte mich zu Cio herum und vergrub das Gesicht an seiner Brust. „Vorbei“, flüsterte ich und krallte meine Finger in sein Hemd. „Es ist wirklich vorbei.“ Wir hatten es überstanden.
„Es ist nicht deine Schuld.“
Nein, das war es nicht und doch würde ich all das hier niemals vergessen können. Auch wenn Iesha jetzt tot war, sie und ihre Taten würden für den Rest meines Lebens ein Teil von mir sein. „Lass uns gehen.“ Selbst die Kälte draußen war besser als weiter in diesem Raum zu belieben und telefonieren konnten wir auch auf der Straße.
Bevor wir allerdings die Tankstelle verließen, schnappte ich mir noch zwei der Decken, die wir uns um die Schultern wickelten. Er dann verließen wir Hand in Hand durch die Hintereingang die alte Tankstelle.
Da ich nicht wollte, dass Cio seine Schulter unnötig belastete, hielt ich ihm die Tür auf und schaute dabei zu, wie er nach drei Wochen Gefangenschaft seinen ersten Schritt in Freiheit tat.
Er war vorsichtig, so als traute er der ganzen Angelegenheit noch noch nicht und die ganze Zeit klammerte er sich an meine Hand, als bräuchte er diesen Halt.
Draußen ließ er seinen Blick erstmal über die Bäume und die alte Waschstraße wandern. Dann atmete er tief ein. Und noch einmal. Und ein drittes Mal. Als er dann ein seltsames Geräusch von sich gab, schaute ich zu ihm auf und stellte erschrocken fest, dass er angesengt versuchte die Tränen zurückzuhalten. Er schluckte ein paar Mal und hatte den Blick zum Himmel gerichtet, aber er schaffte es einfach nicht seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen.
„Hey“, sagte ich sanft und legte ihm eine Hand auf die Wange, damit er mich ansah. „Ich liebe dich.“
Das war zu viel für ihn. Nach allem was er hatte durchmachen müssen, brach er einfach zusammen.
Ich nahm ihn in den Arm, nicht nur um ihn zu trösten, sondern auch um ihm Halt zu geben und ihm zu zeigen, dass er nicht allein war. „Wir schaffen das“, flüsterte ich und strich ihm immer wieder beruhigend über den Nacken. „Jetzt wird alles gut.“
Er klammerte sich nur noch fester an mich und ich musste mich stark zusammenreißen, damit ich nicht auch wie ein Schlosshund losheulte. Nein, das hier fühlte sich wirklich nicht wie ein Sieg an, dafür hatten wir beide zu viel verloren.
Es dauerte lange, bist Cio sich wieder halbwegs unter Kontrolle hatte. Meine Füße waren von der Kälte schon fast taub und Dreck und kleine Steinchen bohrten sich unangenehm in meine Fußsohle, aber es kam mir nicht mal in den Sinn mich zu beschweren. Ich war einfach nur froh, dass er wieder bei mir war und wir heil und gesund aus der Sache rausgekommen waren. Naja, so mehr oder weniger.
„Okay“, sagte Cio irgendwann und löste sich ein wenig von mir. Dabei wandte er das Gesicht ab, als sei es ihm unangenehm, dass er auch nur ein Wesen mit Gefühlen war. „Geht schon wieder.“
„Es ist in Ordnung.“ Ich beugte mich vor und gab ihm einen kleinen Kuss. „Weißt du noch was ich im Krankenhaus gesagt habe, als du dich über den kleinen Passagier so gefreut hast, dass dir die Tränen gekommen sind?“
Damit schaffte ich es ihm wenigstens ein kleinen Lächeln auf die Lippen zu zaubern. „Ein paar Tränen können deine Meinung über mich nicht ändern.“
„Nein, niemals.“
Ob er mir nun glaubte oder nicht, er versuchte sich die Wangen trotzdem unbemerkt trocken zu wischen – klappte nicht. „Dann … ich denke wir sollten irgendjemanden anrufen, bevor wir uns die Füße abfrieren.“
„Gute Idee.“ Da er mich aber nicht loslassen wollte, musste ich das mit einer Hand erledigen. Leider traf ich sofort auf ein Hindernis. „Sie hat das Handy mit einem Pincode gesichert.“
„Versuch mein Geburtstag.“ Er vergrub sein Gesicht an meiner Halsbeuge, als suchte er Schutz bei mir und atmete tief ein.
Der Versuch glückte und während ich die Nummer meines Vaters wählte, versuchte ich nicht darüber nachzudenken, was das nun wieder bedeutete.
Es klingelte genau einmal, bevor am anderen Ende abgenommen wurde.
„Ja bitte?“, meldete Papa sich. Er klang müde und angespannt.
Jetzt wären mir fast die Tränen gekommen. „Papa?“
„Zaira? Was ist geschehen? Wo bist du? Geht es dir gut?“
„Mit mir ist alles in Ordnung.“ Ich schluckte. „Papa, ich hab Cio gefunden. Er ist hier bei mir und … Iesha ist tot.“
Er atmete tief durch, als müsste er diese Nachricht erstmal verinnerlichen. „Sag mir wo ihr seid, dann kommen wir euch holen.“
„Ich weiß nicht.“ Ich schaute mich um, aber hier hinten gab es nur Bäume und auf meinem Weg hier her hatte ich nicht auf die Ortsschilder geachtet. „Wir sind an einer alten Tankstelle, etwa vier Stunden von Silenda entfernt. Es gibt hier keine Schilder. Kannst du nicht das Handy orten, oder so?“
„Ja, das kann ich und …“
Ihm wurde das Wort abgeschnitten, als mein Handy zwei mal laut piepte. Verwundert checkte ich das Display. Mist. „Papa, der Akku ist gleich leer, wenn du mich also gleich nicht mehr hörst, gerade nicht in Panik.“
„In Ordnung.“
„Und wir brauchen einen Arzt. Cio wurde angeschossen, in der …“
Wieder piepte es und dann erlosch das Licht.
„Scheiße.“ Ich drückte auf die Tasten, aber nichts geschah. „Das ist doch wieder so typisch.“
„Gut dass du das mit der Schusswunde noch erwähnt hast, jetzt hat er einen Grund meine Eltern verrückt zu machen.“
Oh Mann, das hatte uns gerade noch gefehlt. „Ich konnte ja nicht wissen, dass dieses Mistding den Geist so schnell aufgibt. Wer produziert so einen Schrott.“
Cio setzte zu einer Erwiderung an, doch bevor er auch nur einen Ton über die Lippen brachte, raschelte es neben uns im Gebüsch.
Alarmiert wirbelten wir beide herum und starrten angespannt auf die Stelle, von wo das Geräusch kam. Es war völlig unsinnig, aber einen Moment befürchtete ich wirklich, dass Iesha von den Toten wieder auferstanden war und sich nun versuchte an und heranzuschleichen. Doch es war nicht Iesha, die ihre Schnauze durchs Unterholz schob, sondern ein grauer Wolf mit einem zerfetzten Ohr.
„Ferox.“ Vor Erleichterung wäre ich fast in die Knie gegangen und so wie Cio aussah, ging es ihm kaum anders. „Du hast uns fast zu Tode erschreckt.“
Er fiepte nur, kam dann herausgeschossen und begann einen Freudentanz um uns herum aufzuführen, bei dem sein ganzer Hintern wackelte. Er wimmerte und jammerte und brachte Cio fast zu Fall, als er unbedingt zwischen seinen Beinen durch musste.
Es dauerte mehrere Minuten, bis er sich still neben Cio setzte und sich hechelnd an sein Bein drückte. Er hatte ihn wohl auch vermisst.
„Er findet dich wirklich überall“, bemerkte Cio und strich dem Wolf über den Kopf.
„Irgendwann werde ich herausfinden wie er das macht.“ Ich warf einen Blick zu den Büschen. „Kann ich euch beiden für einen Moment alleine lassen?“
Das brachte mir ein Stirnrunzeln ein.
„Ich muss pinkeln, schon seit heute morgen und wenn ich diesem Bedürfnis nicht bald nachgebe, platz mir noch die Blase.“
Daraufhin bekam ich nicht nur das erste richtige Lächeln seit drei Wochen von ihm zu sehen, er schlang auch seinen gesunden Arm um meinen Nacken und drückte mir einen Kuss auf den Kopf. „Gott, ich liebe dich Schäfchen.“
„Ist das ein Ja?“
„Mach nicht zu lange.“
Das hatte ich nicht vor. „Okay. Und du bleibst hier“, sagte ich zu Ferox, der sofort die Ohren aufstellte und mich interessiert anschaute, als ich mich einen Schritt entfernte. Ich brauchte nun wirklich keinen neunmalklugen Wolf als Zuschauer, wenn ich im Gebüsch pinkeln ging.
°°°
„Das ist doch voll dumm“, beschwerte sich Alina und wedelte dabei mit dem Arm, sodass sie Anouk fast erwischte. „Woher soll ich denn wissen, in welcher Farbe ich die ganzen Sachen kaufen soll?“
„Du brauchst gar nichts kaufen.“
„Ich will aber.
Oh Mann. „Dann nimm einfach eine neutrale Farbe“, schlug ich vor und begann damit Cios Kissen ein wenig zurechtzuzupfen. Dabei achtete ich sorgsam darauf, nicht an seine dick verbundene Schulter zu kommen. Dann wollte ich dann nach der Seltersflasche greifen, aber Cio schlang vorsichtig einen Arm um meine Mitte und zog mich zu sich aufs Bett.
„Setz dich endlich hin.“
„Ich will aber keine neutrale Farbe“, beschwerte Alina sich weiter.
Worum es ging? Sie wollte wissen, ob wir einen Jungen, oder ein Mädchen erwarteten und war absolut nicht damit einverstanden, bis nach der Geburt zu warten, um es herauszufinden. Da Cio und ich uns aber überraschen lassen wollten, hatte sie Pech gehabt.
„Was sind überhaupt neutrale Farben? Gelb? Dann würde das Baby aussehen, als hätte ihm jemand auf den Strampler gepinkelt.“
„Ah“, machte Kasper und nickte, als hätte ihn gerade eine Erkenntnis getroffen. „Und ich hatte schon überlegt, woran mich deine alte Haarfarbe erinnert.“
Alina funkelte ihn an, schnappte sich dann das Kissen von dem unbelegten Nebenbett und warf es nach meinem besten Freund. Zu ihrem Pech lehnte Aric aber neben ihm am Tisch und fing das Kissen aus der Luft. „Hey!“, beschwerte sie sich. „Misch dich nicht immer … uff!“
Und da war das Kissen in ihrem Gesicht gelandet.
Ich kicherte und allein das wieder zu können, war ein tolles Gefühl.
Zwei Tage lag es nun zurück, dass ich Cio von seinen Ketten befreit und dieser Alptraum endlich ein Ende gefunden hatte. Zwei Tage, die sehr anstrengend waren.
Wir hatten nur noch ungefähr zwanzig Minuten an der alten Taktelle waren müssen, dann war ein ganzer Konvoi von Wächtern eingetroffen, die Tayfun festgenommen und sich um Ieshas Leiche gekümmert hatten. Sie waren nicht aus Silenda gewesen, sondern aus der nächsten Ortschaft.
Cio und wurden von einem Notarzt versorgt und in eine Klinik der Menschen gebracht, damit man sich richtig um seine Schultern kümmern konnte. Erst dort war rausgekommen, wie schlecht es Cio wirklich ging. Mangelnde Bewegung, wenig Essen und die ständige Verabreichung von Betäubungsmitteln hatten bei ihm seine Spuren hinterlassen, sodass niemand ihm erlauben wollte nach Hause zu gehen.
Als unsere Eltern Stunden später dann im Krankenhaus aufgetaucht waren, hatten die Ärzte nur zugestimmt, dass er die Einrichtung verließ, weil Diego und Genevièv hoch und heilig versprochen hatten, ihn Zuhause in ein anderes Krankenhaus zu stecken.
Dafür dass ihr Sohn drei Wochen verschwunden gewesen waren, hatten die beiden sich recht gut gehalten, mein Vater dagegen … naja, er hatte mir eine Standpauke gehalten, nach der ich mich wie ein ungezogenes, kleines Mädchen gefühlt hatte und schon halb erwartete, dass er mich gleich auf mein Zimmer schicken und mir für den Rest meines Lebens Stubenarrest aufbrummen würde. Und wenn ich ehrlich war, hätte ich wahrscheinlich sogar gehorcht. Er war wirklich sauer gewesen, dass ich mich so leichtsinnig in Gefahr gebracht hatte.
Den gestrigen Tag hatten wir mehr oder weniger damit zugebracht den Wächtern und auch Königin Sadrija höchstpersönlich Rede und Antwort zu stehen.
Über den Tag verteilt waren immer wieder Leute zu Cio ins Krankenzimmer gekommen und das ganze Rudel sprach von nichts anderem, als dem Amor-Killer, der endlich gefasst wurde. Selbst Ieshas Vater hatte aufm Nachmittag plötzlich in Cios Krankenzimmer gestanden. Es war ein sehr angespanntes Gespräch gewesen, weil keiner so recht wusste, was er sagen sollte. Aber ich hatte verstanden warum er gekommen war und hatte ihm versichert, dass Iesha nicht lange gelitten hatte, bevor sie gestorben war. Ich fand es wichtig, dass er das wusste, denn sie war trotz allem immer noch seine Tochter gewesen.
Cio war während seines Besuchs eher wortkarg gewesen. Er sagte insgesamt wenig, wenn andere dabei waren. Nur in den Momenten in denen wir alleine waren, schaffte er es seine Schutzschilde herunterzufahren und offen zu sein.
Er hatte mir nicht alles erzählt, was in der Zeit bei Iesha geschehen war, aber im Gegensatz zu mir verschloss er sich nicht und sagte mir was ihm auf der Seele brannte.
Seine Zeit bei Iesha war nicht ganz so schlimm gewesen, wie ich es mir ausgemalt hatte.
Am Valentinsabend, als er gerade auf dem Weg zum Restaurant gewesen war, hatte Iesha ihn von der Straße abgedrängt und er war von dem Aufprall so benommen gewesen, dass er sich nicht richtig wehren konnte, als Tayfun ihn aus dem Wagen gezogen hatte. Sie hatten ihm eine Spritze gegeben und als er das nächste Mal zu sich kam, lag er angekettet in dem ausgebrannten Haus von Ieshas Großeltern.
Die ersten Tage hatte Iesha noch versucht einen auf glückliche Familie zu machen, aber immer wenn sie ihm zu nahe gekommen war, war er völlig ausgeflippt, hatte gebissen und um sich getreten, sodass ihr kaum mehr möglich gewesen war, als Gespräche mir ihm zu führen. Naja, zumindest die wenigen Male, als er sich darauf eingelassen hatte.
Sie waren eine knappe Woche dort gewesen, in der Tayfun nach einem besseren Versteck gesucht hatte und es auch wohnlich machte. Dann hatten sie ihn wieder betäubt und in die alte Tankstelle geschafft.
Da Iesha aber aus seinem abweisenden Verhalten gelernt hatte, ließ sie Tayfun die Vorrichtung mit den Ketten bauen. Sobald Cio da dran hing, war es ihm nicht mehr ganz so einfach, sich gegen sie zu wehren. Mehr als einmal hatte sie die Ketten kurz gemacht und sich dann zu ihm ins Bett gelegt, um mit ihm zu kuscheln und ihn zu streicheln.
Bis auf das eine Mal, als er nackt aus einer Betäubung aufgewacht war, war nichts weiter geschehen, doch das hatte schon gereicht um ihn aus der Fassung zu bringen. Er hatte nicht gewusst, was sie mit ihm getan hatte und das hatte ihn halb wahnsinnig gemacht. Sie hatte geschworen, dass sie nur im Bett gelegen hatten, doch ob das wirklich wahr war, wusste nur Iesha.
Als ich plötzlich im Raum gestanden hatte, war das ein Schock für ihn gewesen. Er hatte die Hoffnung schon aufgegeben, dass man ihn noch finden würde, besonders da Iesha seit Tagen davon gesprochen hatte ihn außer Landes zu bringen und dass ich nun da erschienen war, hatte die Situation nicht unbedingt besser für ihn gemacht.
Man konnte jetzt natürlich sagen, Ende gut alles gut, denn ich hatte ihn ja befreit, aber leider war es im Leben nie so einfach. Erst letzte Nacht hatte Cio mich halb zu Tode erschrocken, als er mit einem Schrei aus dem Schlaf geschreckt war, ängstlich und orientierungslos.
Ich war neben ihm im Stuhl eingeschlafen und wäre vor Schreck fast an die Decke gesprungen und es hatte mir in der Seele wehgetan, ihn so verschreckt zu erleben. Er hatte sich auch erst beruhigen können, als ich zu ihm ins Bett geschlüpft war und ihn in die Arme genommen hatte. Aber selbst da hatte es noch Stunden gedauert, dass er wieder eingeschlafen war.
Es war seltsam. Die ganzen letzten Monate war es für mich ein großes Problem gewesen, mich überhaupt von ihm berühren zu lassen. Aus Angst vor Zurückweisung und dem Makel, den Owen auf mir zurückgelassen hatte, war ich lieber auf Abstand gegangen. Ich hatte Angst gehabt, dass er es bemerken und mich eklig finden würde, dass er es nicht verstand und vor mir zurück schrecken könnte. Ich hatte es mit meiner Paranoia so weit getrieben, dass ich das zwischen uns fast zerstört hätte. Aber jetzt war es anders.
Cio war nicht wie ich. Nachdem was geschehen war, zog er sich nicht vor mir zurück, nein, ganz im Gegenteil, er suchte meine Nähe und ich … ich konnte es zulassen. Ich wusste nicht genau woran es lag, aber nachdem er mir so lange Zeit entrissen worden war und praktisch das gleiche durchgemacht hatte wie ich, war es für mich wieder in Ordnung. Es war krank und entbehrte jeder Logik, besonders da das was Cio durchgemacht hatte, viel schlimmer war, als das was mir widerfahren war. Doch jetzt … wir waren irgendwie beide dreckig und … nein, das war falsch. Keiner von uns beiden war dreckig, ganz besonders nicht Cio, aber … ich wusste nicht, wie genau ich das beschreiben sollte. Jetzt waren wir wieder gleich und darum konnte ich ihn wieder an mich heran lassen. Nur darum zuckte ich nun nicht zusammen, als er seine Arme um mich legte und mich näher zu sich heran zog. Oder auch, dass er dabei mein Bein streichelte. Es war okay und ich fühlte mich dabei wohl.
Alina, die neben Anouk auf dem zweiten Bett saß, funkelte meinen Bruder böse an. „Du bist so unglaublich …“
„Charmant?“, schlug er vor.
Sie schnaubte und legte das Kissen zurück auf seinen Platz. „Das hättest du wohl gerne.“
Seit fast drei Stunden durfte ich mir nun schon das Gekabbel von unseren Gästen reinziehen. Papa hatte mir gestern schon gesagt, dass die Schutzhaft aufgehoben wurde und alle wieder nach Hause durften. Mama hatte uns gestern sogar noch im Krankenhaus besucht und mir auch noch eine ordentliche Standpauke gehalten, die der von meinem Vater in nichts nachgestanden hatte, aber es war trotzdem eine Überraschung gewesen, als die vier hier heute Morgen zum Frühstück aufgetaucht waren – eine gelungene Überraschung, obwohl sie langsam anstrengend wurden.
„Sag mal, habt ihr vier nicht noch irgendwas ganz Wichtiges zu tun?“
Kasper schaute zu mir auf. Er saß auf dem Stuhl neben dem Tisch. Seine Bauchverletzung heilte gut, aber langes stehen war für ihn noch immer anstrengend. „Irgendwie habe ich plötzlich das Gefühl hier nicht länger willkommen zu sein.“
Ich schenkte ihm mein schönstes Lächeln.
„Ihr seid immer willkommen“, erklärte Cio und strich über mein Bein zu meinem Bauch. „Solange ihr irgendwann auch wieder geht.“
„Das war dann wohl unser Stichwort.“ Alina hüpfte vom Bett, sodass ihre blauen Haare wie eine abstrakte Wolke um ihren Kopf herumflogen. „Außerdem habe ich wirklich noch etwas zu tun.“ Sie kam zu mir herüber und umarmte erst mich und dann Cio. „Passt auf euch auf und meldet euch, wenn ihr etwas braucht.“
„Machen wir“, versprach ich ihr.
Auch Anouk erhob sich und verabschiedete sich von uns. Nicht ganz so herzlich wie Alina, aber das war ja nichts ungewöhnliches für ihn.
Kasper und Aric nahmen das zum Anlass auch ihre Posten zu verlassen. Es gab noch mehr Umarmungen und die Mahnung, sich morgen für einen weiteren Überfall bereit zu halten und dann verschwanden die vier. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss und dann waren Cio und ich wieder alleine.
Cio seufzte erleichtert und schloss einen Moment die Augen, was mir deutlich zeigte, ich hätte die ganze Bagage schon vor einer Stunde rausschmeißen sollen. Es war eben anstrengend, die ganze Zeit eine Fassade aufrecht zu halten und obwohl Cio sein Herz auf der Zunge trug, fiel es ihm nicht leicht, andere an seinem Schmerz teilhaben zu lassen.
„Wie geht es dir?“, fragte ich und strich ihm eine Strähne aus der Stirn. Ich musste ihm eine neue Mütze kaufen.
„Besser.“ Er öffnete die Augen einen Spalt. „Nur etwas müde.“
Ja, weil er die Nacht kaum geschlafen hatte. „Dann ruhe dich doch ein bisschen aus.“
„Ja, das sollte ich wohl machen.“ Aber er macht keine Anstalten sich hinzulegen. Er saß nur da, strich mir immer wieder über den Bauch und war mit den Gedanken an einem ganz anderen Ort.
Ich kannte das Gefühl nur zu gut. „Na komm“, sagte ich und zupfte an seiner Decke. „Leg dich richtig hin.“
„Wow, so herrisch. So kenne ich dich ja gar nicht.“ Er rutschte zur Seite und klopfte dann neben sich aufs Bett. „Ich glaube das gefällt mir.“
„Na dann werde ich dich in Zukunft ein wenig häufiger herumkommandieren.“ Ich schlüpfte neben ihm ins Bett und sobald er sich an mich gekuschelt hatte, begann ich damit ihm immer wieder durch Haar zu streicheln. „Wie geht es dir wirklich?“
Seine Umarmung wurde ein wenig fester. „Du hast mir gesagt, er sei immerzu in deinem Kopf“, flüsterte er. „Jetzt verstehe ich was du damit gemeint hast.“
Das war leider etwas, bei dem ich ihm nicht helfen konnte. „Es wird besser“, sagte ich genauso leise. „Mit der Zeit verblasst die Erinnerung und vielleicht, eines Tages, können wir es ganz vergessen.“
Er antwortete nicht und das brauchte er auch nicht. Ich verstand nur zu gut was in ihm vor sich ging. Solche Erinnerungen verblassten nicht so schnell. Sie krallten sich in den Gedanken fest und konnten jeden Tag zu einer Tortur machen, weil sie manchmal ganz plötzlich und ohne jede Vorwarnung auftauchten und einen in einen nie endenden Alptraum rissen.
„Wie hast du das nur die ganze Zeit alleine ertragen?“
Überrascht drehte ich den Kopf. „Ich war nicht alleine.“
„Aber ich habe nicht gewusst was los war.“
„Nein, aber du warst trotzdem für mich da.“ Ich gab ihm einen kleinen Kuss. „Ohne dich hätte ich das nicht durchgestanden.“
Cio atmete einmal tief durch und schloss die Augen. „Es wird besser werden“, flüsterte er, als wollte er sich selber davon überzeugen.
„Ja, das wird es.“ Aber bis dahin würde es noch ein weiter Weg sein. Ich fand den Gedanken, dass uns von Iesha keine Gefahr mehr drohte noch immer surreal. In den letzten Monaten war sie ein so fester Bestandteil unseres Lebens gewesen, dass ich noch immer damit rechnete, jeden Moment könnte wieder etwas passieren. Es war einfach schwer zu glauben, dass unser Leben nun normal sein würde.
Normal. Was bedeutete das eigentlich genau? Arbeiten gehen, Kinder großziehen, ein Haus mit Gartenzaun? Ich hatte drei Eltern und einen Wolf der … naja, er war kein Haustier. Man könnte ihn wohl eher mit einem kleinen Bruder vergleichen. Mein Vater war ein Vampir, meine Mutter ein Ailuranthrop und meine Erzeugerin ein Lykaner. Das Wort normal bekam in meiner Familie eine ganz neue Bedeutung.
Eigentlich war es auch egal. Mein Leben musste nicht normal sein, es reichte mir schon, wenn es kein Alptraum war. Ich wollte einfach wieder mit meinem Vater sinnlose Diskussionen führen und mich von den Ideen meiner Mutter schockieren lassen. Ich wollte von Cayenne zum Essen eingeladen werden, ein Auge auf Cio und seinen Vater haben und am Abend mit meinen Freunden etwas unternehmen. Ja vielleicht würde ich sogar Kiara fragen, ob sie mit mir ins Kino wollte.
Das hatte mich sowieso am meisten überrascht. Noch in der Nacht, als man uns nach Silenda ins Krankenhaus brachte, hatte sie auf einmal im Raum gestanden. Sie war etwas zurückhaltend gewesen, so als wüsste sie nicht recht was genau sie tun sollte, aber sie war gekommen und hatte sich nach uns erkundigt. Cios Moralpredigt hatte Früchte getragen. Wer hätte das gedacht?
Langsam wurden Cios Atemzüge tiefer und gleichmäßiger. Sein Gesicht entspannte sich, nur der Klammergriff wollte sich nicht lockern. Das war nicht gut, denn eigentlich hatte ich noch etwas vor hatte. Er sollte es nicht erfahren, weil ich ihn damit nicht noch zusätzlich belasten wollte und heute war meine letzte Gelegenheit dazu. Dies war also der perfekte Moment. Solange er schlief, konnte ich mich wegschleichen, aber das würde mir nur gelingen, wenn ich es schaffte mich aus seinen Armen zu winden, ohne dass er wach wurde. Kein leichtes Unterfangen.
Ich bewegte mich nur sehr vorsichtig und langsam und normalerweise würde er schon bei der kleinsten Bewegung von mir erwachen. Dass er es nicht tat, zeigte mir nur wie er schöpft er wirklich war. Wahrscheinlich hatte das nur wenig mit der letzten Nach zu tun. In Ieshas Obhut hatte er sicher nicht viel Schlaf gefunden.
Es war ein wenig umständlich, aber am Ende schaffte ich es aus dem Bett. „Bin gleich wieder da“, versprach ich und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Hoffentlich wachte er nicht auf während ich weg war. Ich wollte ihn nicht unnötig aufregen, aber diese eine Sache musste ich noch tun.
Ich schnappte mir noch meine graue Strickjacke und zog sie mir über, bevor ich auf Zehenspitzen den Raum verließ und nach hinten zu den Fahrstühlen ging. Wieder mal fiel mir auf, dass ich in den letzten Wochen viel zu viel Zeit in Krankenhäusern verbrachte. Aber das würde nun ein Ende haben. Cio sollte morgen entlassen werden und danach würde ich für den Rest meines Lebens einen großen Bogen um jedes Krankenhaus machen. Okay, bei der Geburt würde ich mich vielleicht noch mal hier blicken lassen, aber ansonsten nicht mehr.
Der Fahrstuhl brachte mich nach oben in die siebente Etage. Ich hatte mich bereits gestern informiert, wohin ich musste, bis jetzt aber nicht nicht den Mut gefunden, es auch zu tun. Auch jetzt, als ich mich dem Zimmer mit der Nummer sieben zweiundvierzig näherte, wurden meine Schritte langsamer. Vielleicht war das hier eine dumme Idee. Ich wusste nicht mal warum genau ich hier war, nur das es mir ein Bedürfnis war.
Der Wächter, der das Zimmer bewachte, schaute von seiner Zeitung auf, als ich neben ihm stehen blieb. Es war Wächter Gregor.
„Hey“, sagte ich und hob etwas unbeholfen die Hand. „Kann ich … ist es in Ordnung, wenn ich reingehe?“
Er musterte mich kritisch. „Hältst du das für eine gute Idee?“
Nein, wahrscheinlich war es das nicht. „Ich will mich nur … ich weiß nicht, mich verabschieden, vermute ich.“
Das klang in seine Ohren vermutlich genauso wie in meinen, seltsam. „Ich bin hier draußen, falls du etwas brauchst.“
„Okay, danke und … sag Cio nichts davon. Er hat schon genug durchgemacht und muss das hier im Moment nicht wissen.“ Ich würde es nicht vor Cio verheimlichen, aber ich würde es ihm erst sagen, wenn ich sicher war, dass er damit klar käme.
„Ich werde ihm nichts sagen“, versprach er und vertiefte sich dann wieder in seinem Artikel.
„Danke.“ Damit wandte ich mich der Tür zu, wusste aber nicht ob e angebracht war einfach reinzugehen, oder doch besser erstmal anzuklopfen und auf Einlass zu hoffen. Ich entschied mich dazu noch einmal tief einzuatmen, anzuklopfen und dann ohne Einladung einzutreten.
Der Raum war im Grunde wie jedes andere Krankenzimmer, karg, unpersönlich, nichtssagend, aber im Gegensatz zu anderen Zimmern, gab es hier nur ein Bett und er Mann darin war mit ledernen Fesseln ans Bett fixiert worden. Nicht weil man glaubte er würde fliehen, oder jemanden angreifen, nein, aber gestern hatte Tayfun versucht sich das Leben zu nehmen, indem er seine Pulsadern nähere Bekanntschaft mit einem Skalpell schließen ließ. Deswegen waren seine Handgelenke nun auch dick bandagiert und die Fixierung an den Knöcheln und Oberarmen.
Als ich die Tür hinter mir leise zurück ins Schloss drückte, aber weder weiter in den Raum trat, noch ein Wort sagte, drehte er den Kopf, sodass ich in sein Sichtfeld geriet. Seine Augen wirkten trüb, das schwarze Haar mit der weißen Strähne war zerwühlt und die Haut blass. Seine linke Gesichtshälfte schillerte in allen möglichen Farben.
Wir schauten uns bestimmt zwei Minuten an, ohne das jemand auch nur ein Wort über die Lippen kam.
„Weißt du“, sagte er irgendwann traurig. „In Meinem ganzen Leben gab es bisher nur eine Person, die mir nie wehgetan hat, nicht bis vor zwei Tagen.“
Nein, ich würde mir keine Schuldgefühle machen lassen. „Das stimmt nicht. Du kennst viele Leute, die dir niemals wehgetan haben. Die Themis, Kiara.“
„Keiner von denen bedeutet mir etwas.“
Okay, vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen hier her zu kommen. „Deine Mutter.“ Sie hatte ihn sogar abgöttisch geliebt. Aber leider war sie gestorben.
Tayfuns Lippen wurden schmal und er drehte das Gesicht weg. „Was ist es nur, was sie Leute dazu bringt mir wehtun zu wollen?“
„Ich habe dir niemals wehtun wollen, weder körperlich noch anders und hätte ich eine andere Möglichkeit gesehen, dann hätte ich es auch nicht getan, aber du hast mir keine Wahl gelassen.“ Das musste er einfach verstehen.
„Nein“, sagte er leise und begann seine Finger aneinander zu reiben. „Wahrscheinlich nicht.“
Er sah so traurig und gebrochen aus. Hätte ich gekonnt, wäre ich zu ihm gegangen, aber nach allem was geschehen war … ich wollte nicht in seine Nähe kommen.
„Hast du es getan?“
„Was meinst du?“
„Iesha getötet. Warst du es, oder Cio? Mir will niemand etwas sagen.“
Super, genau das Thema über das ich mit ihm sprechen wollte. Ich zog meine Jacke fester um mich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich weiß nicht wer den Abzug gedrückt hat. Iehsa und ich haben um die Waffe gerungen, dann ist sie einfach losgegangen.“
„Sie hat sich also selber getötet.“
Das würde ich gerne glauben, denn dann würde ihr Blut nicht an meinen Händen kleben. „Vielleicht.“
„Sie stecken mich wieder in die Heilanstalt Sanare. Heute.“
„Ja, ich weiß.“ Das war auch der Grund, warum ich jetzt hier war. Das hier war meine letzte Chance ihn noch einmal zu sehen und … keine Ahnung, ich wusste selber nicht so genau, warum ich ihn hatte noch einmal sehen müssen. Vielleicht einfach um mit der Sache ein für alle Male abzuschließen.
Er schloss für einen Moment die Augen, bevor er den Kopf drehte und mich wieder anschaute. „Es tut mir leid“, sagte er leise. „Ich habe sie so oft gebeten aufzuhören, aber sie wollte nicht und jetzt … jetzt ist sie tot.“ Er blinzelte, als müsste er die Tränen zurückhalten. „Für dich ist das wohl eine gute Nachricht.“
„Nein“, widersprach ich. „Ich habe gewollt dass es aufhört, aber ich habe ihr niemals den Tod gewünscht.“
Seine Augen tasteten mein Gesicht ab, als traute er sich nicht mir zu glauben.
Zeit die Sache zu beenden. „Und es war nicht sie allein. Vieles von dem was sie getan hat, wäre ohne dich gar nicht möglich gewesen.“
Bei dieser Schelte biss er die Zähne zusammen, widersprach mir aber nicht. Er wusste genauso gut wie ich, dass ich recht hatte. „Ich wollte sie glücklich machen.“
„Das glaube ich dir, aber …“ Ich holte einmal tief Luft. „Bei dem versuch hast du viele andere unglücklich gemacht. Auch mich.“ Gott, das war ja viel schwerer, als ich mir das vorgestellt hatte. „Tayfun …“
„Jamal“, korrigierte er mich. „Tayfun gibt es nicht mehr. Tayfun war ein Themis, aber das werde ich wohl nie wieder sein.“
Ja, danke, mach es mir doch noch schwerer, als es sowieso schon ist. „Jamal“, wiederholte ich. Es war seltsam ihn so zu nennen. „Ich bin hier um dir Lebewohl zu sagen.“
„Was?!“ Er versuchte sich aufzurichten, aber die Fixierung hielt ihn zurück. „Du … du kannst nicht gehen.“
„Ich kann dir nicht mehr vertrauen und nach allem was du getan hast … ich will dich nicht mehr in meinem Leben haben.“ Denn immer wenn ich sein Gesicht sah, rief er mir damit in Erinnerung, wie verlogen unsere Bekanntschaft vom ersten Tag an gewesen war. Ich wollte einfach nicht daran erinnert werden, dass er mir nachspioniert hatte und mich teilweise in sehr intimen Momenten heimlich beobachtet hatte, nur um für Iesha ein paar Neuigkeiten zu haben.
„Aber … es wird nicht mehr vorkommen, das verspreche ich dir.“ In seine Augen stand die Panik. „Bitte Zaira, verlass mich nicht. Ich werde alles tun was du willst, nur bitte … Iesha ist weg und ich hab doch schon alles verloren. Du kannst nicht gehen. Ich tu was du willst, nur lass mich nicht allein.“
„Und genau das ist es, was mir Angst macht.“ Ich wollte niemanden der wirklich alles für mich tat. „Es tut mir leid Tay- Jamal. Hier trennen sich unsere Wege.“
„Nein, bitte, mach das nicht. Bitte.“
„Ich hoffe dass du irgendwann das findest was du brauchst und glücklich wirst.“
„Bitte Zaira, bleib bei mir.“ Er fing an zu weinen, während er mich mit namenlosen Entsetzen anstarrte. „Bitte.“
„Mach es gut … Jamal.“ Als ich mich von ihm abwendete und die Hand auf die Türklinke legte, hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass mir dieser Schritt so schwer fallen würde.
„Nein, bitte, das kannst du nicht tun!“, rief er panisch. Das Bett ächzte, als er sich in der Fixierung wand, um ihr zu entkommen. „Bitte“, weinte er. „Bitte geh nicht!“
Oh Gott.
„Zaira, bitte!“, flehte er.
Als mir selber die Tränen in die Augen stiegen, verließ ich fluchtartig das Zimmer. Ich drehte mich nicht mehr um aus Angst vor dem was ich dann vielleicht tun würde, aber ich konnte es nicht erlauben, dass er weiterhin Teil meines Lebens war.
Seine Schreie nach mir halten noch immer durch den Korridor, als ich in den Fahrstuhl trat.
°°°°°
Mit einem Lärm, dass einem die Ohren wegflogen, verkündete die Eieruhr, dass die Eier fertig waren.
„Mist“, murmelte ich und schaltete sie hastig aus, um Cio nicht zu wecken. Dann warf ich einen schnellen Blick durch dir offene Flügeltür in den Nebenraum.
Das große Doppelbett stand direkt vor dem Panoramafenster und tauchte das ganze Zimmer in sommerliches Morgenlicht. Cio lag ausgebreitet über die ganze Matratze. Die Decke bedeckte nur knapp seinen Hintern. Schade das der eine Hose trug.
Leise, um ihn nicht doch noch zu wecken, schnappte ich mir eine Kelle und legte die Eier in das kleine Körbchen, dass ich bereits bereitgestellt hatte. „Vielleicht sollten wir uns einen Eierkocher besorgen“, flüsterte ich dem kleinen Passagier zu und strich mir über den dicken Bauch. Aber nicht heute. Nicht nur weil heute Sonntag war und die Läden deswegen geschlossen hatten, heute war ein ganz besonderer Tag.
Nein, der Geburtstermin war erst in fünf Tagen und das erste Baby kam ja bekanntlich sowieso immer ein wenig später, heute würde es nicht um den kleinen Passagier gehen, sondern ausschließlich um Cio und mich, denn heute würden wir endlich heiraten.
Der Gedanke machte mich ein wenig nervös. Nicht nur wegen dem was beim letzten Mal geschehen war, auch jetzt noch, Monate nach Ieshas Tod, war es manchmal gar nicht so einfach dem Frieden zu trauen. Aber ich wollte das dieser Tag toll wurde und zwar von der ersten bis zur letzten Minute. Darum stand ich auch schon seit einer knappen Stunde in unserer neuen Küche und bereitete ein großes Frühstück für uns vor.
Ja, wir waren endlich umgezogen. Vor gut vier Wochen waren wir aus unserem kleinen Apartment in diese wunderschöne Dreieinhalbzimmerwohnung in der Innenstadt gezogen. Es gab einen großen Wohnraum mit einer offenen Küche, die durch eine Kochinsel mit Tresen voneinander getrennt waren. Das große, lichtdurchflutete Schlafzimmer schloss direkt an den Wohnraum an und über den verwinkelten Flur kam man sowohl ins Kinderzimmer, als auch in den Baderaum und das kleine Arbeitszimmer. Die Wohnung war groß, offen und einfach nur ein Traum. Und sie gehörte uns. Ja, das hier war eine Eigentumswohnung.
Eigentlich könnten Cio und ich uns sowas gar nicht leisen, aber auf die Ergreifung von Iesha war eine ziemlich hohe Belohnung ausgesetzt gewesen. Ich hatte das nicht gewusst und als es zur Sprache kam, hatte ich das Geld auch gar nicht haben wollen, aber plötzlich war das Geld auf unserem Konto gewesen und niemand hatte es zurücknehmen wollen. Ich war schon kurz davor gewesen es einfach zu verschenken, da hatte Cio eingegriffen.
Es war ihm nicht leicht gefallen mich davon zu überzeugen, das Geld in unsere Zukunft stecken. Der einzige Grund der mich vom Gegenteil überzeugt hatte, war seine Aussage, dass uns nach allem was uns passiert war auch mal ein wenig Glück zustand und das er endlich wieder einen Ort haben wollte, an dem wir uns sicher fühlen konnten.
Ich war der festen Überzeugung, dass das Geld nicht ausgereicht hatte um diese Wohnung zu bezahlen, besonders da sie voll möbliert gewesen war. Außerdem war Cayenne irgendwie in die Sache involviert. Zwar hatte niemand es ausdrücklich gesagt, aber ich vermutete, dass sie einen Teil der Kosten übernommen hatte.
Eigentlich war das zu viel. Schon mit dem Auto im letzten Jahr hatte ich mich schwergetan, doch ich hatte diese Wohnung vom ersten Augenblick an geliebt. Es war ein Ort, an dem ich mich endlich wieder sicher fühlen konnte und da die Wohnung im Dachgeschoss lag, gab es auch noch einer herrliche Aussicht.
Darum stand ich nun morgens um acht in nichts als einem Slip und meinem Lieblingshemd, das nur noch drei Knöpfe besaß, in meiner neuen Küche und zauberte uns zur Feier des Tages ein schönes Frühstück. Solche alltäglichen Dinge waren manchmal einfacher zu meistern, als sich mit dem zu beschäftigen, was hinter uns lag.
Mehr als drei Monate war es nun her, dass Cio und ich diese alte Tankstelle verlassen hatten und auch wenn vieles besser geworden war – ja, auch zwischen uns – so gab es noch immer Momente, die einfach schwer waren.
Ich hatte mich an den Frieden erst gewöhnen müssen und noch heute schaute ich viel zu oft über die Schulter, oder erschrak bei den kleinsten Geräuschen. Es fiel mir einfach schwer mich daran zu gewöhnen, dass mein Leben jetzt wirklich ganz normal war und da keine bösen Leute an jeder Straßenecke auf mich lauerten.
Cio war nicht so schreckhaft, aber er war ruhiger geworden. Immer wieder saß oder stand er einfach nur da und starrte vor sich ins Leere. Das waren die Momente, in denen ihn das Vergangene wieder einholte. Aber zum Glück schien es ihm viel leichter alles zu verarbeiten, als mir. Vielleicht weil es so anderes handelte, als ich es getan hatte. Cio hatte genau gegenteilig von mir gehandelt. Da wo ich ihn weggeschoben hatte und auf Abstand gegangen war, hatte er Schutz in meiner Nähe und meinen Armen gesucht. Er sprach mit mir über das was ihn bedrückte, wohingegen ich noch immer Probleme hatte über das was geschehen war zu sprechen. Aber wir würden das schon schaffen. Wir waren auf dem richtigen Weg und mit der Zeit würde alles wieder in Ordnung kommen – da war ich mir sicher.
Aber jetzt musste ich mich erstmal einer anderen Aufgabe widmen. Die Eier waren fertig, die Teller und das Besteck lagen schon auf dem Tablett. Ich hatte sogar ein paar Pfandkuchen gemacht, weil Cio die so gerne aß. Belag, Saft. Das Obst musste ich gleich noch aufschneiden. Dann fehlten jetzt eigentlich nur noch die Aufbackbrötchen.
Ich griff nach der Tüte, die ich vorhin schon bereit gelegt hatte, doch bevor ich sie in die Hände bekam, bemerkte ich keine zwanzig Zentimeter von mir entfernt einen schwarzen Fusel vor dem Toaster. Das war ein großer Fusel. Mit acht haarigen Beinen. Und er schaute mich an.
Augenblicklich wurde ich bewegungslos. Eine Spinne. Nein, das war nicht nur eine Spinne, das war eine halbe Tarantel.
Ich starrte sie an und ich schwöre, sie starrte zurück und rieb sich in heller Vorfreude darauf, sich jeden Moment auf mich zu stürzen, vier ihrer acht Beine aneinander. Als sie sich dann auch noch bewegte, saß ich nicht nur plötzlich mit hochgezogenen Beinen auf der Kochinsel, ich stieß auch den Schrei meines Lebens aus. Und ich sprach hier nicht von so einem null-acht-fünfzehn-Schrei auf Kindergartenniveau für Anfänger, nein, das war die scream-mäßige Vollversion, wie sie in Horrorfilmen ausgestoßen wurde, kurz bevor es zu einem mörderischen Blutbad kam. Damit hielt ich mir nicht nur die Spinne vom Leib, ich sorgte auch dafür dass Cio fluchend aus dem Bett fiel und mit so viel Radau aus dem Schlafzimmer gestürzt kam, dass ich schon befürchtete, er würde auf den Weg hier her die halbe Einrichtung auseinander nehmen, einfach weil sie ihm im Weg stand.
„Was ist, warum hast du geschrien?“, fragte er alarmiert und versicherte sich mit einem schnellen Rundblick, dass hier keine gemeingefährlichen Kriminellen in unserer Küche lauerten, die gerade dabei waren den Inhalt unseres Kühlschranks zu raubten. Sein Haar war noch vom Schlaf zerzaust und er hatte ein paar niedliche Knitterfalten im Gesicht. Die Pyjamahose saß ziemlich tief auf seinen Hüften.
Ich streckte den Arm aus und zeigte Richtung Toaster. „Da, Spinne, mach sie weg, schnell!“
Seine Augen huschten rüber zur Anrichte, von wo aus die Spinne mich noch immer beobachtete und scheinbar gerade versuchte die Situation neu einzuschätzen.
Mit einem tiefen Seufzen fuhr Cio sich durch das zerwühlte Haar und versuchte erstmal den Schrecken zu verdauen. „Gott, Schäfchen, ich hatte eigentlich nicht vorgehabt den Tag mit einem Herzinfarkt zu beginnen. Dir wären sicher auch bessere – und vor allen Dingen angenehmere – Methoden eingefallen, um mich aus dem Bett zu bekommen.“
„Cio, die Spinne!“ Ich zeigte noch nachdrücklicher auf meinen Todfeind. Er sollte das Vieh wegmachen, bevor es noch die Flucht ergriff und irgendwo in den Tiefen der Wohnung verschwand. Wahrscheinlich würde sie dann Tage später im Badezimmer wieder auftauchen und direkt vor der Dusche auf mich lauern, sodass ich mich erschrecken, ausrutschen und mir das Genick brechen würde. „Hol einen Schuh, eine Zeitung, oder einen Raketenwerfer!“
Leider ließ er sich von meinem drängenden Tonfall nicht zur Eile treiben. „Ich möchte dich ja nicht enttäuschen und du weißt deine Wünsche sind mir heilig, aber wir besitzen keinen Raketenwerfer.“ Belustigt schaute er von der Spinne zu mir. „Doch wenn du möchtest, werde ich das auf die Liste für unsere Hochzeitsgeschenke setzen.“
„Du bist nicht lustig!“
Er schmunzelte nur, kam zu mir rüber und gab mir einen Kuss auf die Wange. Dabei störte er sich auch nicht daran, dass ich hier oben auf der Kochinsel hockte, bereit an die Decke zu springen und mich dort festzukrallen, sollte das Ding sich auch nur noch einen Millimeter bewegen. „Guten Morgen.“
„Cio“, sagte ich gequält, was ihn nur noch breiter lächeln ließ.
Er schob nur den Zipfel von meinem Hemd zur Seite und gab auch meinem dicken Babybauch einen Kuss. „Ich hoffe ihr beiden habt gut geschlafen.“ Dann begann der Blödmann auch noch liebevoll meinen Bauch zu tätscheln, bevor er endlich hinüber zum Hängeschrank ging und dort ein Glas heraus nahm. „Wie ich sehe machst du gerade Frühstück. Sieht lecker aus.“
„Bitte“, flehte ich ihn an. „Hör auf rumzualbern und mach das Ding weg.“ Bevor ich noch auf die Idee kam schreiend aus der Wohnung zu rennen. Oh Mist, zu spät, jetzt war sie da.
„Es ist immer wieder faszinierend“, bemerkte Cio. „Du stellt dich einem störrischen Pferd in den Weg, dass dich mit seinen Hufen niedertrampeln könnte, aber so eine kleine Spinne schlägt dich in die Flucht.“
Nur um das mal klar zu stellen, diese Spinne war nicht klein, die war riesig!
Endlich wandte Cio sich dem Ungetüm zu, das wahrscheinlich gerade überlegte, ob es mit einem Sprung bei mir drüben auf der Kochinsel landen könnte, nur um mich noch weiter aus der Fassung zu bringen. „Das ist aber echt eine Monsterspinne.“ Langsam, mit dem Glas bewaffnet, näherte er sich dem Ungeheuer und in dem Moment, in dem er es über sie stellte, machte er ein erschrockenes Geräusch und zuckte zurück. Das hatte zur Folge, dass auch ich noch mal aufschrie, weil ich befürchtete, die Spinne sei entkommen. Aber nein, sie hockte unter dem Glas und Cio der Mistkerl grinste mich mit einem Zahnpastalächeln an.
„Das ist nicht witzig!“, schimpfte ich, schnappte mir die Küchenrolle und warf sie nach ihm.
„Hey!“ Er drehte sich weg, sodass ich ihn nur an der Schulter erwischte. Dabei hielt er seine Hand auf dem Glas, damit er es nicht versehentlich umstieß. „Also wenn das der Dank dafür ist, dass ich dich vor der Monsterspinne gerettet habe, werde ich das nächste Mal wohl im Bett liegen bleiben.“
„Noch hast du mich nicht gerettet, noch ist dieses Ding in meiner Küche.“
„Oh Mann.“ Kopfschüttelnd nahm er sich einen von den Untersetzern für die Gläser und schob ihn unter die offene Seite des Glases mit der Spinne.
Ich beobachtete ihn ganz genau dabei, wie er das Ungeheuer dann zum nächsten Fester trug und es einfach hinaus warf. Gott, ich hoffte das Ding würde sich beim Sturz sieben seiner acht Beine brechen. Spinnen waren einfach nur … wäh.
„So, siehst du, jetzt ist das hier wieder eine spinnenfreie Zone.“
Ich hatte trotzdem noch am ganzen Körper Gänsehaut. „Warum nur müssen es immer eklige Spinnen sein“, murmelte ich und schwang die Beine herum. Hm, wie stellte ich das jetzt am Besten an, ohne auf mein Gesicht zu klatschen? „Warum nie kleine, süße Hoppelhäschen?“
„Weil kleine, süße Hoppelhäschen nur sehr selten wie Spiderman an Wänden hochklettern.“ Schmunzelnd stellte Cio das Glas in die Spülmaschine. „Ehrlich gesagt wäre ich auch ziemlich erstaunt, wenn hier plötzlich ein Hase bei uns in der Küche sitzen würde.“
Ich auch, aber so ein Häschen würde mich wenigstens nicht so erschrecken. „Kannst du mir mal helfen?“ Sonst würde ich bei meinem Talent und dank dem dicken Bauch noch Übergewicht bekommen und frontal auf dem Boden klatschen.
Cio, der meinen Versuch von der Anrichte zu kommen amüsiert beobachtet hatte, reichte mir die Hand und half mir herunter. „Wie bist du denn da allein raufgekommen?“
Hm, gute Frage. „Keine Ahnung.“ Ich konnte mich nur noch daran erinnern, dass ich plötzlich oben gesessen hatte. „Ich hab die Spinne gesehen und hier erschien es mir sicher.“
„Es stimmt also.“ Als ich ihn fragend anschaute, wurde sein Lächeln noch breiter. „Na das Mütter in Gefahrensituationen übermenschliche Kräfte entwickeln.“ Er zwinkerte mir zu. „Wenn ich mir deinen Bauch so ansehe, müssen das sogar außergewöhnlich-übermenschliche Kräfte gewesen sein.“
Ha ha. „Wir sind heute morgen aber mal wieder urkomisch.“
„Hey, ich bin noch immer dabei meinen Schreck zu verarbeiten. Du hast geschrien, als wäre hier ein messerschwingender Irrer eingedrungen.“
Nein, darauf reagierte ich nicht. Ich kehrte ihm einfach den Rücken und bückte mich dann ein wenig umständlich nach der Küchenrolle. Mit so einem dicken Bauch war das wirklich nicht so einfach. Es wurde Zeit, dass der kleine Passagier da rauskam.
„Da du mir deinen Hintern gerade so verlockend entgegen streckst, ist das was jetzt passiert nicht meine Schuld.“ Mehr Vorwarnung bekam ich nicht, da spürte ich auch schon, wie er meinen Allerwertesten liebevoll tätschelte.
Ich richtete mich wieder auf und schlug mit der Küchenrolle gegen seinen Arm. „Lustmolch.“
„Hast du mal einen Blick auf deinen Hintern geworfen? Da kann man einfach nicht widerstehen.“ Er grinste über die Zweideutigkeit seiner Worte.
Kopfschüttelnd stellte ich die Küchenrolle zurück und zog mir dann ein Brettchen heran, um die Erdbeeren aufzuschneiden. „Du scheinst heute morgen wirklich gute Laune zu haben.“
„Wie könnte ich die auch nicht haben?“, fragt er und nahm mich von hinten in die Arme. Seine Hände kamen auf meinem Bauch zum Liegen. Ein gehauchter Kuss landete in meinem Nacken und jagte mir einen angenehmen Schauder über den Rücken. „Wir heiraten heute und in meiner Küche steht eine wunderschöne Frau.“ Ein zweiter Kuss folgte dem ersten.
Ich ließ mich davon bei meiner Arbeit nicht stören und schnitt weiter meine Erdbeeren. „Das ist nicht deine Küche, das ist meine. Du schaffst es ja kaum Wasser im Wasserkocher zu erhitzen.“
„Und welcher Raum ist dann meiner?“
„Welchen Raum möchtest du denn?“
Seine Antwort bestand in einem heiseren Lachen. Das reichte mir schon um mir vorzustellen, welchen Raum er gerne für sich beanspruchen würde. Oder zumindest, wo er sich gerne aufhielt.
Als ich die Erdbeeren in die Schale fallen ließ, fiel ein Stück daneben auf den Tresen. Ich nahm es und hob es an meinen Mund.
„Sag mal, so als strahlender Held und Spinnenaustreiber, müsste ich doch eigentlich von dir entlohnt werden, oder?“ Was genau er damit meinte, zeigte er mir indem er seine Hände langsam unter mein Hemd schob.
Ich hielt inne, drehte den Kopf und hielt ihm dann die Erdbeere vor die Nase. „Dein Lohn“, erklärte ich noch hilfreich.
„Hmh“, machte er. „Die Frucht der Liebenden. Das ist als Anzahlung schon mal gar nicht schlecht.“ Anstatt sie mir abzunehmen, beugte er sich vor und nahm sich das Obst mit dem Mund. Als ich meine Hand dann wieder zurückziehen wollte, um mich wieder dem Frühstück zu widmen, schoss seine nach vorne und packte mich am Handgelenk.
Ich zog eine Augenbraue nach oben, aber er ließ bei seinem kleinen Mahl nicht stören. Genießerisch kaute er die Erdbeere und sobald er sie runtergeschluckt hatte, hob er meine Hand an seine Lippen und begann jeden Finger einzeln zu küssen. Erst der Zeigefinger, dann der Mittelfinger. Dabei bedachte er mich mit einem wirklich verheißungsvollen Blick.
„So kann ich das Frühstück nicht fertig machen“, gab ich zu bedenken.
In seinen Augen blitzte der Schalk. „Erst kümmern wir uns um die Vorspeise“, murmelte er, beugte sich vor und wanderte mit seinem warmen Atem über die Haut an meinem Hals. „Frühstück kommt danach.“
Es waren nicht nur seine Worte, sondern auch die Art wie seine Lippen über die empfindliche Haut strichen, die mir einen überaus angenehmen Schauder über den Rücken jagten. „Und ich dachte immer die Hochzeitsnacht kommt nach der Hochzeit.“
„Das hier ist nicht die Hochzeitsnacht“, raunte er und drehte mich herum, dass ich zwischen ihm und der Anrichte eingeklemmt war. „Das ist ein Vorgeschmack auf deine Zukunft.“
Vor noch nicht allzu langer Zeit, hätte mich die Art wie er sich nun gegen mich drängte in Panik versetzt, doch irgendwann in den letzten Wochen hatten wir nicht nur gelernt mit der neuen Situation umzugehen, sondern auch uns wieder näher zu kommen. Anfangs war kaum mehr geschehen als zu kuscheln und zu küssen, doch vor ein paar Wochen, als Cio wieder eines seiner sehr aufschlussreichen Gespräche mit meinem Bauch geführt hatte, war irgendwas zwischen uns wieder eingerastet.
Ich konnte bis heute nicht sagen was genau geschehen war, oder wo der Unterschied zu den vorherigen Malen gelegen hatte, aber auf einmal was aus dem Küssen mehr geworden und die ganzen Ängste und Unsicherheiten waren in weite Ferne gerückt.
Nein, es war nicht wie früher gewesen, es war neu und besonders und auf eine liebevolle Weise sehr vorsichtig, aber an diesem Nachmittag hatten wir beide etwas wiedergefunden, was wir lange Zeit für zerstört gehalten hatten.
Danach hatte ich in seinen Armen gelegen und geweint. Nicht weil ich mich geschämt hatte, oder die Erinnerungen wieder über mich gekommen waren, nein, ich hatte geweint, weil ich mich nach langer Zeit von einer schweren Last befreit gefühlt hatte. Und nur weil ich diese Freiheit wiedererlangt hatte, konnte ich nun hier stehen und lächeln, als Cio sich vorbeugte und zärtlich an meiner Halsbeuge knabberte.
„Also ich finde deine Zukunftsversion gerade sehr verlockend.“
Er lachte leise und nahm mir vorsichtig die Brille aus dem Gesicht. Sie landete achtlos hinter mir auf dem Schrank. „Wenn dir das schon gefällt, dann warte erstmal ab, was ich sonst noch alles geplant habe.“
„Du planst sowas?“
„Manchmal.“
„Und ich dachte …“ Weiter kam ich nicht, denn Cio stand im Moment nicht der Sinn nach Gesprächen, also verschloss er einfach meinen Mund mit seinem und brachte mich so sehr wirksam zum Schweigen.
Da er so verführerisch war, dachte ich nicht mal an Widerstand. Nach allem was wir hinter uns hatten, genoss ich es einfach nur ihm wieder so nahe sein zu können ohne Angst haben zu müssen, dass die Vergangenheit mich wieder einholte.
Oh, es klappte nicht immer. Es hatte Momente gegeben, in den war Owen ganz plötzlich in meinen Gedanken aufgetaucht und hatte es mir unmöglich gemacht mich in Cios Armen zu entspannen. Und auch Cio hatte schon zwei Mal mittendrin abgebrochen, weil ihn mittendrin die Erinnerung heimgesucht hatte, doch jetzt gerade war es einfach nur perfekt.
Ich konnte mich entspannen, als seine Fingerspitzen kribbelnde Pfade über meine Schenkel zogen und schlang ihm auch die Arme um den Nacken, damit er mir nicht entkommen konnte. Ich war einfach nur glücklich ihm nahe zu sein und wow, küssen konnte der Kerl, dabei verging einem Hören und Sehen. Nicht dass das etwas neues war, doch es war nett immer mal wieder daran erinnert zu werden.
Aus dem verspielten Schmusen wurde schnell mehr. Es war nicht so, dass wir stürmischer wurden und uns die Klamotten vom Leib rissen, um übereinander herzufallen, doch die zarten Berührungen wurden drängender und die allein seine Lippen reichten aus, um in mir Gefühle zu wecken, die meinen ganzen Körper zum glühen brachten.
Als er dann auch noch eine Hand langsam über mein Dekolleté streichen ließ und sein Mund sich ein Pfad meinen Hals hinunter suchte, schlossen sich meine Augen nicht nur flatternd, um all das noch intensiver zu spüren, ich stöhnte auch leise,was ihn nur noch anzuspornen schien.
„Nur noch wenige Stunden“, raunte er und knabbert vorsichtig an meinem Schlüsselbein. „Dann gehörst du für immer mir.“
Als wenn das nicht bereits jetzt schon so wäre. „Ich freue mich schon drauf.“
„Das wollte ich hören.“ Und wieder wurde mein Mund von seiner gierigen Zunge erobert und ließ mir kaum Luft zum Atmen. Nicht dass ich Sauerstoff im Moment für lebenswichtig erachtete. Doch als er versuchte sich näher an mich zu drängen, legte ich ihm eine Hand auf die Brust, um ihn zu stoppen.
„Mein Bauch“, erinnerte ich ihn. Der war zwar kein Hindernis, aber wenn er zu doll dagegen drückte, war das auch nicht sehr angenehm.
Cio warf einen Blick nach unten, als müsste er sich versichern, dass er auch wirklich noch da war und als er dann seine Hand darauf legte, waren seine Gedanken ganz sicher nicht bei dem Baby darin. „Ich liebe dieses Hemd“, erklärte er leise und öffnete geschickt den untersten Kopf, sodass das Hemd nach links und recht aufklaffte und nur noch die beiden Knöpfe über meiner Brust geschlossen waren.
„Ach wirklich?“ Meine Lippen wanderten über seine stoppelige Wange. „Und ich hab immer gedacht du liebst mich.“
Ein Lächeln zog seine Mundwinkel nach oben. „Ich liebe dieses Hemd.“ Sehr langsam schob er seine Hand nach oben und ließ mich damit am ganzen Körper kribbelig werden. Er stoppte erst, als er den nächsten Knopf erreicht hatte und auch nur um diesen zu öffnen. „Ich liebe dich.“ Auch der dritte Knopf fiel seinen flinken Fingern zum Opfer, sodass das Hemd nun von nichts mehr zusammengehalten wurde. „Und ich liebe es dir dieses Hemd auszuziehen.“ Diesen letzten Punkt verdeutlichte er, indem er mir das Hemd von den Schultern schob und mir zarte Küsse auf die Haut haucht.
„Dann sollte ich es vielleicht öfters tragen.“ Ich schnappte mir sein Gesicht und um ihn zu küssen, aber Cio schien wirklich einen Plan zu verfolgen, den er verweilte nicht sehr lange an meinen Lippen.
Langsam begann er mit Händen und Lippen an mir herab zu wandern. Mein Atem ging in der Zwischenzeit deutlich schneller und es wurde auch nicht besser, als er sich Stück für Stück einen Pfad nach unten küsste. Erst als er schon auf den Knien war und das Bündchen meines Slips erreicht hatte, verweilte er einen Moment, aber auch nur um seine Finger einzuhaken und ihn mir mit einem verwegenen Lächeln hinunter zu ziehen.
Ich war mittlerweile so in seinem Bann gefangen, dass ich einfach nur eine Hand in seinem Haar vergrub und ihn dabei beobachtete, wie er erst einen Kuss auf meinen Hüftknochen und dann auf meinen Oberschenkel hauchte. Dabei glitten seine Hände immer tiefer. Über den Schenkel, zur Wade. Seine Finger strichen sanft über die alten Narben und plötzlich veränderte sich etwas in seinem Blick.
Das waren die Narben die Iesha mir bei meiner Flucht von der alten Farm zugefügt hatte. Genau wie ich hatte auch er Male von dieser Odyssee davongetragen, die uns für den Rest unseres Lebens begleiten würden.
„Denk nicht dran“, sagte ich leise und hob sein Gesicht, damit er nicht mein Bein, sondern mich anschaute. „Geh nicht in die Vergangenheit, bleib bei mir.“
Er atmete tief ein, schloss die Augen und küsste mein Bein, als würde ihn das dabei helfen im hier und jetzt zu bleiben. Dabei schob er seine Hand langsam an meinem Innenschenkel hinauf, bis er meine empfindliche Mitte berührte.
In der letzten Zeit war meine Haut wegen der Schwangerschaft überall hochsensibel ujnd jetzt gerade wäre ich fast in die Knie gegangen, wenn er mich nicht gestützt hätte. Ich stöhnte auf und war wieder einmal fasziniert davon, was für berauschende Gefühle mir dieser Mann allein durch seine Berührungen entlocken konnte. Es wurde sogar noch intensiver, weswegen ich mich mit beiden Händen an der Schrankkante festhalten musste. Meine Beine schienen auf einmal nur noch aus Wackelpudding zu bestehen und er machte trotzdem noch weiter. Und dann wurde es mehr,
Die Welle kam ganz langsam, fast so als sei sie schüchtern. Mein Körper begann regelrecht zu glühen und tief in mir ballten sich die Gefühle zu einem pulsierenden Knoten zusammen, der mein Herz immer schneller schlagen ließ. Meine Augen schlossen sich, denn ich wollte diese Empfindungen bis zum letzten Tropfen auskosten.
Als mein Atem schneller wurde, wurde Cios Berührungen drängender und dann als ich es kaum noch aushielt und glaubte explodieren zu müssen, da riss der Knoten und ich versank in einem Meer aus Gefühlen, die mich drohten davon zu schwemmen und meinen ganzen Körper summen ließen.
Ich klammerte mich an die Schrankkante, als Cio das Gefühl immer weiter ausdehnte. Ich zitterte und fühlte und oh Gott, ich würde niemals genug davon bekommen. Trotzdem würde ich mich wohl einfach nur auflösen, wenn es ewig anhalten würde.
Es waren seine sanften Küsse an meinem Bein und die zärtlichen Berührungen, die mich langsam aus dieser Extase holten und zu ihm zurück brachten. Ja selbst als die Flut langsam abnahm, hatte ich noch das Gefühl darin zu versinken, doch solange er bei mir war, war das in Ordnung.
„Einfach nur der Wahnsinn“, murmelte Cio.
Ich blinzelte und lächelte ihn mit glasigem Blick an. „Sprichst du gerade von dir selber?“
Mit einem leisen Lachen schob er sich wieder an mir hinauf. Ein Kuss auf die Hüfte, einer auf den Bauch, seine Lippen streiften meine Brust und ließen die ganzen Empfindungen damit neu erblühen – nicht das mich das stören würde.
Ich zog ihn näher zu mir heran, als er meine Brust mit den Händen liebkoste und mir zärtlich in den Hals biss. Das löste etwas sehr Weibliches in mir aus und entlockte mir einen Laut, den ich so nicht von mir kannte. Gott, irgendwann würde dieser Mann mich wirklich in den Wahnsinn treiben – auf eine sehr gute Art, wie ich betonen möchte.
Als er meine Lippen dann wieder in Anspruch nahm und mir mit seinen Küssen das Denken erschwerte, ließ ich meine Hand über sein Sixpack hinabgleiten. Ganz langsam strich ich darüber und nahm mit Genugtuung war, wie seine Muskeln unter der Berührung flatterten.
Meine Finger strichen am Bund seiner Hose entlang und reizten ihn, bevor sie hineinschlüpften – langsam und provozieren.
Als ich mein Ziel erreichte und ihm umfasste, keuchte er in meinen Mund und spannte sich einen Moment an.
Sein Atem stockte und sein Griff wurde ein wenig fester. „Du bringst mich um.“
„Das ist eigentlich nicht mein Ziel.“ Und weil ich nicht egoistisch sein wollte, beugte ich mich ein wenig vor und knabberte an seinem Hals, während ich ihm mit der anderen Hand langsam die Hose über den Hintern schob, bis sie als kleiner Stoffhaufen auf dem Boden landete.
Ganz zart kratzte ich mit meinen Reißzähnen über die empfindliche Haut. Ich wollte ihn nicht beißen, aber das wusste er nicht. Es war ein Genuss zu spüren, wie sein Puls immer schneller wurde.
„Vielleicht“, begann er und zischte dann, als ich etwas fester zugriff.
„Ja?“
Er atmete einmal tief ein. „Vielleicht sollten wir ins Schlafzimmer gehen.“
Mein Blick glitt zu der offenen Flügeltür. Die Laken im Bett waren noch vom Schlaf zerwühlt. „Warum der weite Weg?“
Fragend hob er den Blick.
Ich lächelte nur, gab ihn noch einen Kuss und ließ ihn dann los, denn jetzt hatte ich einen Plan.
Seine Augen folgten jeder meiner Bewegungen. Wie ich zur Anrichte ging, wie ich mich vorbeugte und mit den Unterarmen auf den Schrank stützte. Und auch wie ich ihm über meine Schulter hinweg einen sehr einladenden Blick zuwarf. Noch deutlicher könnte meine Aufforderung nur sein, wenn ich ihm einen Wegweiser basteln würde.
In seinen Blick verändert sich etwas. Als er sich zu mir umdrehte, leuchteten seine Augen praktisch auf. „Geht das so für dich?“, fragte er leise und trat direkt hinter mich. Seine Finger berührten mich am Bein und strichen dann langsam daran hinaus. Diese Geste hatte etwas ehrfürchtiges.
Ich bekam eine Gänsehaut davon. „Du musst dich nur ein wenig in Zurückhaltung üben.“
Sein rechter Mundwinkel verzog sich ganz leicht nach oben. „Nur“, höhnte er. Langsam strich er mir überden Rücken. Er beugte sich vor und küsste eine Spur über meine Wirbelsäule. Sein warmer Atem ließ meine Haut kribbeln. „Hast du überhaupt eine Ahnung, was für eine Wirkung du auf mich hast?“, fragte er leise und drängte sich dabei gegen mich.
„Zeig es mir“, forderte ich ihn auf. Ich wollte spüren, welche Wirkung ich auf ihn hatte.
Cio griff nach meiner Hüfte und dann ließ er es mich spüren.
Als er unsere Körper miteinander vereinte, war das ein Gefühl wie … ich wusste nicht wie ich das beschreiben sollte. Ich spürte ihn so tief und er berührte etwas in mir, dass nicht körperlich war. Es war berauschend und hatte er mich vorher schon in ungeahnte Höhen katapultiert, so war das nichts im Vergleich zu den Gefühlen die er nun in mir auslöste. Es war ein Tanz, der meine empfindliche Haut singen ließ. Mein Herz erblühte von Neuem für ihn und jede seiner Berührungen zog mich weiter in seinen Bann.
Gemeinsam tauchten wir ein in eine Welt aus Lust und Sehnsucht, die uns allein gehörte. Ich spürte seinen starken Körper, wie er sich an mich schmiegte und mich festhielt, damit ich nicht einfach verloren ging. Ich war ihm hilflos ausgeliefert und ich genoss es mir jeder Faser.
Als sein Atem schneller wurde, ließ ich mich mitreißen und als er dann auch noch seine Hände wieder ins Spiel brachte, hielt ich es kaum noch aus. Ich hörte nur noch seine geflüsterten Worte und das Drängen darin und dann geschah es. Die Gefühle überrollten mich und für einen unglaublichen Moment gab es da nur noch ihn, mich und diese phantastischen Empfindungen, die alles andere in den Schatten stellten. Ja selbst als er mich mit sanften Liebkosungen und Streicheleinheiten langsam in die Realität zurückholte, summte der Nachhall noch durch meinen Körper.
Mein Herz trommelte wie wild in meiner Brust, genau wie seines. Ich spürte das so deutlich, da er sich vorbeugte und mir vorsichtig in die Schulter biss.
„Wenn das Frühstück nur halb so toll wird wie die Vorspeise“, murmelte er, „dann werde ich dich wohl öfters in deiner Küche besuchen müssen.“
„Dabei warst du es doch, der für die Vorspeise gesorgt hat.“
„Teamwork, Schäfchen, das war …“
Der Schrillen an der Tür unterbrach uns nicht nur,es sorgte auch dafür, dass unsere Aufmerksamkeit sich verschob.
„Das wird Alina sein“, sagte er und trat ein Stück vor mir zurück.
„Alina?“ Erschrocken drehte ich mich zu ihm um. „Was will sie denn hier?“ Ausgerechnet jetzt.
„Sie hat gestern angerufen, weil sie dir bei den Vorbereitungen helfen wollte.“ Er runzelte die Stirn. „Habe ich dir das gar nicht gesagt?“
„Nein.“
Wieder schrillte es, nun schon mit mehr Nachdruck.
„Okay, dann hole ich das nun nach: Alina kommt zum Frühstück, um dir bei den Vorbereitungen zu helfen.“
„Du bist so unglaublich komisch.“ Ich schob ihn von mir weg und machte mich auf den Weg in den Flur.
„Ähm Schäfchen?“, rief er mich nach. „Nicht das mich das stören würde, aber willst du dir nicht etwas anziehen, bevor du dir Tür aufmachst?“
„Ich mache die Tür nicht auf, du machst sie auf. Ich gehe duschen.“ Alina musste schließlich nicht mit der Nase darauf gestoßen werden, was man so alles in der Küche tun konnte. „Und zieh dir was an, bevor du sie reinlässt.“
Oh ja, der Junge konnte echt dreckig lachen.
°°°
Beinahe lautlos raschelte der Wind durch die Bäume und ließ die Blätter an den Äste über meinem Kopf tanzen. Irgendwo trällerte eine Lerche ihr Liedchen und unter dem Holunderstrauch knisterte es leise, als eine Maus eilig in ihrem Loch Zuflucht fand.
Der Himmel war heute ein strahlendes Blau, an dem sich nicht die kleinste Wolke zeigte. Es war ein wunderschöner Sommertag. Und doch saß ich nun hier und schaute mich immer wieder nervös um.
Es war albern, das war mir bewusst. Es gab keinen Grund mehr Angst zu haben und sich vor den Schatten der Vergangenheit zu fürchten, aber … beim letzten Mal war auch alles friedlich gewesen und dann hatte die wohl schlimmste Zeit meines Lebens begonnen. Wären nicht Aric, Alina und Anouk als meine Kerberosse hier, hätte ich wohl schon längst das Weite gesucht und wäre wieder beim Tempel.
„Hey.“ Arci stupste mich mit der Schulter an. Genau wie bei meinem letzten Versuch, trug er wieder das Halsband mit dem Unendlichkeitssymbol. „Entspann dich, er wird gleich kommen.“
„Mir geht es gut“, log ich und konzentrierte mich auf die Richtung, aus der ich gekommen war.
Beim letzten Mal hatte mein Vater mich tief in den Wald gebracht, so wie es der Brauch verlangte, aber dieses Mal hatten wir alles ein wenig … angepasst. Zum einen weil ich schwanger war und ein langer Marsch für mich nicht mehr so einfach war und zum anderen weil ich die Ereignisse noch immer wie ein Schatten über mir lauerten. Ich hatte nicht wieder irgendwo im Wald zurückgelassen werden wollen, darum, naja, der Tempel war gerade mal fünf Minuten von hier entfernt. Wenn ich die Nase in die Luft stecke, konnte ich die Leute dort riechen. Es war die beste Lösung gewesen, denn sowas wie eine standesamtliche Hochzeit gab es bei den Lykanern nicht.
Vor mir auf dem Waldboden lag Anouk und ließ es über sich ergehen, dass Alina ihm am Ohr rumkaute. Genau wie Aric schaute er sich immer wieder aufmerksam um. Nein, nicht wegen dem was beim letzten Mal passiert war, sondern weil sie darauf warteten, dass Cio aus dem Gebüsch gestürzt kam, sie alle heldenhaft überwältigte und mich dann zu meinem Vater zurück brachte, um ihm seinen Wert zu beweisen. Als wenn er das nicht bereits zur Genüge getan hätte.
„Also, wenn ich mal heirate, dann will ich das wie meine Eltern in den Wäldern von Kanada machen“, erklärte Alina und rollte sich neben Anouk auf den Rücken. „So im Schnee zu heiraten muss doch toll sein.“
„Kalt trifft es wohl eher“, bemerkte Aric.
„Ach ja? Und du, was ist mit dir uns Kasper? Werdet ihr auch heiraten?“
Das bewirkte bei meinem Bruder ein Stirnrunzeln. „Warum sollten wir heiraten?“
Nein, nicht nur ich schaute ihn an, als hätte er sein Hirn auf dem Weg hier her irgendwo verloren.
Aric jedoch schien die Frage wirklich zu verwirren und wenn ich seinen Blick richtig deutete, auch zu ängstigen. „Hat Kasper gesagt, dass er heiraten will?“
Warum wurde ich eigentlich immer in solche Dinge mit hineingezogen? „Zu mir hat er nichts gesagt.“
Alina rollte sich wieder auf den Bauch. „Er hat gar nichts gesagt, ich dachte nur dass ihr diesen Schritt irgendwann gehen würdet. Du liebst ihn doch, oder?“
„Ja, aber warum muss man heiraten, nur weil man sich liebt?“
„Muss man doch gar nicht. Es ist nur …“
„Er kommt“, unterbrach Anouk die beiden und erhob sich vom Boden.
Aric und Alina drehten gleichzeitig den Kopf und spitzten die Ohren.
Auch ich wurde aufmerksamer, aber auch nervöser. Da war ein Rascheln in den Sträuchern und einen Moment rechnete ich schon halb damit, dass nicht Cio, sondern Ferox zwischen den Büschen auftauchen würde, der war jedoch Zuhause bei Papa im Garten eingesperrt. Dann kam ein Hauch von Furcht und ich stand nicht nur auf, sondern ging auch noch einen Schritt zurück, weil ich im Geiste einen großen, grauen Wolf hinter dem Baum hervortreten sah.
Nein, sagte ich mir. Logen ist tot, Iesha ist tot, mir kann nichts … au! Au, au, au! Verdammt, was war das denn? Sobald der krampfartige Schmerz in meinem Unterbauch abgeklungen war, drehte ich meinen Kopf und starrte meinen eigenen Bauch an. Der kleine Passagier würde doch nicht … nein, der Geburtstermin war erst in fünf Tagen. Das war vermutlich nur eine Senkwehe gewesen, davon hatte ich in der letzten Zeit immer mal wieder welche gehabt. Obwohl das hier schon eine ziemlich schmerzhafte Senkwehe gewesen war.
Ein leises Rascheln um Unterholz erinnerte mich daran, dass ich gerade Wichtigeres zu tun hatte.
Ich stellte die Ohren auf und fixierte den Punkt von dem das Geräusch kam und dann trat er einfach aus dem Gebüsch heraus.
Cio.
Mein Herz wurde mir leichter, als er sich zwischen den Sträuchern herausschob und dann einen Moment einfach nur stehen blieb.
In den Strahlen der Sonne war er ein wunderschöner Anblick. Sein schokobraunes Haar glänzte seidig und bei jeder seiner Bewegungen waren seine festen Muskeln zu erahnen. Um den Hals trug er das goldene Halsband, dass sein Vater ihm geschenkt hatte. Zwei geschwungene Flügel, deren Spitzen zu seinem Brustkorb zeigten. Es sah an ihm einfach fantastisch aus.
Wie auf ein Signal hin, erhoben sich Anouk, Aric und Alina und bauten sich schützend vor mir auf. Im Ritual war es Brauch, dass die Kerberosse den Bräutigam spielerisch verjagten, wohingegen der Bräutigam die drei überwinden, die Braut schnappen und dann mit ihr abhauen musste.
Ich wusste nicht was Alina und die Kerle sich ausgedacht hatten, um Cio aufzuhalten, aber ich wusste, dass ich ihnen die Suppe versalzen würde. Sobald Cio sich zum Angriff bereit machte, würde ich den Dreien in den Rücken fallen – wortwörtlich.
„Na sieh mal einer an“, spottete Cio. „Die drei Musketiere. Wo habt ihr denn eure schicken Federhüte gelassen?“
Keiner der Drei ging auf seine Provokation ein. Sie bewegen sich langsam, als wollten sie ihn einkreisen.
Gleich, sagte ich mir und machte mich bereit. Gleich war es so weit.
Cio versuchte die drei gleichzeitig im Auge zu behalten. Seine Muskeln spannten sich an und ich konnte seine aufgeregte Erwartung beinahe fühlen. „Ene mene muh und raus bist du!“ Ohne weitere Vorwarnung stürmte er frontal auf Anouk zu, um sich auf ihn zu stürzen, doch er hatte sich kaum in Bewegung gesetzt, da ließ Anouk sich einfach zur Seite fallen und regte sich nicht mehr.
Cio blieb verdutzt stehen und schaute sich nach den beiden anderen um, die plötzlich auch einfach umfielen und sich dann nicht mehr regten.
Ich wollte schon in Panik geraten, aber dann kicherte Alina. Dann drehten sie sich alle drei auf den Rücken und streckten die Beine in die Luft, als wollten sie eine ziemlich abstrakte vorm von toter Hund spielen. Okay, das war seltsam.
„Schau dir das an Schäfchen“, sagte Cio begeistert. „Drei auf einen Streich und das nur durch einen Blick. Ich bin besser als ich dachte.“
Ich denke eher, dass die drei es mir so einfach wie möglich machen wollten. Davon war ich so gerührt, dass die verdammten Hormone mich fast zu Heulen gebracht hätten. „Du bist der Wahnsinn“, sagte ich und ließ ihn das lächeln in meiner Stimmer hören.
„Du hast es also auch schon bemerkt.“ Langsam setzte er sich in Bewegung, genau auf mich zu.
Ich kam ihm entgegen und so trafen wir uns genau in der Mitte, direkt neben Alinas Leiche.
Einen Moment standen wir uns einfach nur gegenüber und schauten uns an. Jetzt war es so weit, hier und heute würde der Rest unseres Lebens beginnen.
„Hab dich“, erklärte Cio und stupste mir gegen die Nasenspitze. „Ich hoffe dir ist klar, was das bedeutet.“
„Nein, was denn?“
„Das du von jetzt an für alle Ewigkeit mir allein gehören wirst.“
„Hach seid ihr beiden süß“, seufzte Alina.
Keiner von uns beachtete sie.
„Weißt du was ich jetzt gerne tun würde?“
Warum kam mir bei dieser Frage nur die Vorspeise von heute morgen in den Sinn? „Erzähl es mir.“
„Geht nicht, wir haben zu viele neugierige Zuhören.“
Na? Hatte ich es doch gewusst, dass seine Gedanken in diese Richtung gehen.
Er trat ein Stück näher, als wollte er mir etwas wichtiges anvertrauen, machte dann aber urplötzlich einen Satz zur Seite und funkelte meine Cousine an. Sie hatte ihm ins Bein gebissen. „Hey, du bist tot“, beschwerte er sich.
„Ich bin ein Zombie“, erklärte sie mit einer sehr lustigen Stimme und zuckte komisch mit den Beinen in der Luft herum. „Hirn! Ich brauche Hirn!“
„Da stimme ich dir zu“, murmelte Cio und machte noch einen Satz zur Seite, als Alina sich auf den blöden Spruch hin auf den Bauch drehte. „Komm Schäfchen, schnell weg, bevor die Zombieapokalypse beginnt.“ Er drängte mich sanft aber bestimmt zur Seite, sodass er zwischen mir und den Zombies eine Barrikade bildetet. Zombies auf meiner Hochzeit, damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.
Schmunzelnd ließ ich mich von ihm ins Unterholz treiben.
Wir rannten nicht, es war eher ein schnelles Gehen, bei dem Cio immer wieder einen Blick über die Schulter warf. Er erwartete wohl, dass die drei nicht so kampflos aufgeben wollten, wie sie uns weiszumachen versuchten. Und da sie uns in einigem Abstand folgten und immer wieder lachend durch die Sträucher und Büsche hüpften, leg es durchaus im Bereich des Möglichen, dass er recht hatte.
Ich dagegen hielt den Wald vor mir im Auge. In der Vergangenheit war ich wegen meiner fehlenden Brille schon oft genug gegen Bäume gelaufen, das brauchte ich auf meiner Hochzeit nicht.
Gerade wollte ich einen alten Baumstumpf umlaufen, als plötzlich wieder dieses Schmerzhafte ziehen in meinem Unterleib begann. Ich blieb sofort stehen und krümmte mich ein wenig zusammen.
Das war doch jetzt wohl ein Scherz, das konnten keine Wehen sein, das kleine sollte schließlich erst nächste Woche kommen.
„Was ist los?“, fragte Cio alarmiert.
Ich schaute ihn ganz unschuldig an. „Nichts, was soll los sein?“ Nein ich würde ihm nichts von den Wehen sagen, ich würde jetzt heiraten. Außerdem bedeutete es wahrscheinlich sowieso nichts.
„Bist du sicher?“ Er trabte näher und begann mein ganzes Fell abzuschnüffeln, als könnte ihm das irgendeinen Hinweis liefern. „Du stehst so komisch da.“
„Ich bin nur aus dem Tritt geraten.“ Ich atmete einmal tief durch und setzte mich dann wieder in Bewegung. „Und jetzt bring mich endlich zurück, damit wir heiraten können.“ Und bitte schnell, falls ich mich doch irrte.
„Dein Wunsch ist mir wie immer Befehl.“ Er stupste mich an und übernahm die Führung – natürlich nicht, ohne die kichernden Waldgeister im Auge zu behalten. Okay, nur Alina kicherte, aber das Fell von Aric und Anouk sah ich auch immer wieder im Unterholz aufblitzen.
Wir hatten den Hochzeitstempel – ein riesiger Pavillon auf Säulen mit Glasdach – fast erreicht, als mein Unterleib sich wieder krampfhaft zusammenzog und diese Mal schaffte mein Körper es mich zu überzeugen: das war eine Wehe.
„Verdammt“, fluchte ich und versuchte es mir nicht anmerken zu lassen. Ich wollte keinen dritten Hochzeitstermin ansetzen, ich wollte das jetzt durchziehen.
„Alles klar?“ Cio musterte mich sehr aufmerksam.
„Hab mir nur ein Steinchen eingetreten.“ Zum Glück waren die Wehen bei weitem nicht so schlimm, wie andere Frauen das immer erzählen.
Er runzelte die Stirn und schnüffelte dann an meiner Pfote.
„Es geht schon wieder. Komm.“
„Wow, du hast es ja plötzlich eilig mich unter die Haube zu bekommen.“
Ja, weil ich mein Kind nicht im Wald kriegen wollte, aber das konnte ich ihm nicht sagen. Er wurde ja so schon hypernervös, wenn ich mich nur ein wenig anstrengte. Beim Umzug durfte ich gar nicht helfen und die Kisten hatte er mich nur unter seiner Aufsicht ausräumen lassen. Wenn ich es ihm erlauben würde, würde er mich vermutlich den ganzen Tag durch die Gegend tragen. „Der Wald macht mich einfach nur ein wenig unruhig.“ Diese Erklärung war genauso gut wie jede andere und sie würde ihn nicht in Panik versetzten.
„Wir sind ja gleich da“, versuchte er mich zu beruhigen und das waren wir tatsächlich. Wir mussten nur noch die Baumreihe hinter uns lassen, dann ragte vor uns auch schon der eindrucksvolle Hochzeitstempel auf.
Unzählige Blumen in allen Möglichen Farben wuchsen um ihn herum und im Inneren warte bereits unsere Familie auf uns. Papa, Mama, Diego und Genevièv. Ich sah Kasper zwischen den Wölfen stehen und meine Onkels und Tanten. Cayenne saß neben Sydney und selbst Kiara konnte ich sehen. Ihr Anblick machte mich so glücklich, dass mir schon wieder die Tränen kommen wollten. Verdammte Hormone.
Als wir uns erhobenen Hauptes auf auf dem Tempel zubewegten, entdeckte ich zwischen den erwartungsvollen Gesichtern auch Oma Marica und Opa Oliver. Celine allerdings war nicht da. Ich hatte sie nicht eingeladen, denn ich glaubte nicht, dass sie gekommen wäre.
Vor dem Tempel links und rechts standen je ein kleines, weißes Zelt mit Fähnchen oben drauf, gerade groß genug, dass ein Mensch darin aufrecht stehen konnte.
Da nicht nur Lykaner unter den Gästen waren, sondern auch meine Eltern, meine Oma und Kasper, hatten wir uns dazu entschlossen die Zeremonie ein ganz kleinen wenig abzuändern, damit auch alle unsere Gäste hören konnten, was wir zu sagen hatten. Darum gingen wir nicht direkt in den Tempel, sondern verschwanden links und recht in den Zelten, um uns zu verwandeln.
Ich schob mich durch die Stoffplane und achtete Sorgsam darauf, dass sie hinter mir wieder zufiel. Das Zelt selber war bis auf ein weißes Leinenkleid an einem Bügel leer, ja es gab nicht mal einen Boden, nur weiches Gras, auf das ich mich nun legte und mich mit einem leises Seufzen meiner Verwandlung hingab.
Meine ganze Haut begann herrlich zu kribbeln, während mein Körper sich verformte und ich zu einem anderen Wesen wurde. Danach blieb ich noch einen Moment einfach auf dem Boden, um den Nachhall zu genießen. Die Verwandlung war immer wieder ein erfreulicher Akt. Aber das hier war meine Hochzeit, deswegen sollte ich mir vielleicht nicht allzu viel Zeit lassen, besonders da Cio mit der Verwandlung sowieso immer schneller war. Und ja, auch weil es sich nicht schickte die Gäste warten zu lassen.
Also erhob ich mich auf die Beine, griff nach dem Kleid und … bekam eine Wehe. Sie kam so plötzlich, dass ich fast laut aufgestöhnt hätte, aber das war ein einem Tempel voller Wölfe mit einem sehr feinen Gehör keine gute Idee, wenn man gerade heiraten wollte. Also biss ich die Zähne zusammen, krümmte mich ein wenig um es erträglicher zu machen und atmete dabei einfach. Das ist dabei gerade mit nacktem Hintern in diesem Zelt stand, interessierte mich dabei herzlich wenig.
Dieses Mal tat es mehr weh und ich hatte auch das Gefühl, dass sie länger dauerte, aber es ging vorbei. Es war trotzdem nicht gut.
„Okay kleiner Fratz, hier ist der Deal. Du lässt Mami und Papi erst noch schnell heiraten, dann darfst du auf die Welt kommen. Okay?“
Mein Bauch antwortete nicht.
Ich nahm das einfach als Zustimmung, schlüpfte in Slip und Kleid und hoffte einfach auf das Beste.
Das Kleid war sehr locker und luftig, nicht wie ein Hochzeitskleid. Die einzige Zierde waren die aufgestickten Blumen an den Trägern.
Bevor ich das Zelt verließ, schaute ich mich noch nach meine Brille um, aber scheinbar hatte Mama vergessen mir die hier reinzulegen. Mist. Eigentlich hatte ich nicht vor blind zu heiraten. Aber jetzt noch extra jemanden zum Auto zu schicken um meine Sachen zu holen, fand ich albern. Außerdem würde es das ganze nur unnötig verzögern.
„Zum Glück weiß ich bereits wie dein Papi aussieht.“ Noch einmal tief durchatmen, dann schob ich die Stoffplane zur Seite und trat hinaus ins Sonnenlicht.
Wie nicht anders zu erwarten, war Cio bereits fertig. Auch er trug weiße Leinen. Kein Kleid, sondern Hemd und Hose, wobei er sich bei dem Hemd nicht dir Mühe gemacht hatte es zu schließen. Okay, vielleicht war eine Brille doch nicht nötig, diesen Anblick fand ich auch halb Blind sehr verlockend. Und dann erst dieses strahlende Lächeln.
Wie war das noch mal gewesen? Man bekam immer das was man verdiente? „Oh, ich war ein sehr böses Mädchen gewesen“, murmelte ich leise.
Cio zog fragend eine Augenbraue nach oben, doch ich lächelte nur. Das würde ich ihm ein anderes Mal erklären.
„Warum nur habe ich schon wieder das Gefühl, dass du mich nur wegen meines Körpers haben möchtest?“, fragte er leise und schlenderte auf mich zu. Das unsere Gäste und dabei die ganze Zeit erwartungsvoll anstarrten und miteinander tuschelten, blendete er völlig aus.
„Selbstüberschätzung.“
Grinsend schnappte er sich meine Hand und hauchte mir einen Kuss auf die Lippen. „Bereit Frau Steele?“
„Bereiter geht es nicht.“
„Dann lass uns gehen.“ Er griff meine Hand fester und dann betraten wir Seite an Seite den Hochzeitstempel.
Es gab einen flachen Altar und direkt dahinter stand mein Vater und wartete auf uns. Der Ausdruck in seinem Gesicht war … glücklich. Er lächelte, als wäre das heute sein großer Tag und in dem Anzug sah er echt schick aus.
Rechts von ihm stand Mama und schien sich nicht sicher zu sein, ob sie in Tränen ausbrechen oder vor Freude an die Decke hüpfen sollte. Genevièv und Diego wirkten einfach nur stolz.
Als wir zusammen den Gang zwischen den Gästen entlang gingen, konnte ich nicht mehr aufhören zu lächeln. Jetzt war es so weit, nur noch ein paar Schritte und dann gehörte die Ewigkeit uns.
Ich spürte wie die Augen jedes einzelnen auf uns gerichtet waren. Und dann standen wir direkt vor dem Altar.
Mein Vater hob den Kopf und lächelte uns an. Er nickte Cio sogar zu, was für ihn praktisch einer herzlichen Umarmung gleichkam. „Tief im Wald, ward sie gebracht, geschützt durch die Krieger, dreierlei“, rezitierte er, wie es der Brauch verlangte.
Cio grinste und hob meine Hand an seine Lippen. Die flüchtige Berührung ließ mich am ganzen Körper erschaudern. „Tief im Wald, ward sie verborgen, keine Erschwernis war zu groß, für meine Frau“, erklärte er meinem Vater und der Hochzeitsgesellschaft.
Oh Gott, wir taten es wirklich! „Tief im Wald, ward ich gefunden, errettet durch meinen Mann.“ Das letzte Wort kam mir mit so viel Freude über die Lippen, dass ich schon befürchtete, gleich wie eine Supernova aufzuleuchten.
Papa nickte und ich schwöre, da schimmerten Tränen in seinen Augen. „Ein Wort, bindend für alle Zeit, in Körper und Geist, in Schwäche und Wohlstand, in Liebe, Verständnis und Respekt.“
„Ein Wort“, sagte CIo. „Ja.“
Oh Gott, oh Gott, oh Gott. So aufgeregt war ich nicht mehr gewesen seit … ich glaube ich war noch nie so aufgeregt gewesen. „Ein Wort“, wiederholte ich lächelnd und schaute Cio dabei direkt an. „Ja.“
„Unter dem Mond und dem Geist des Urvaters Leukos“, erklärte Papa. „Mit der Magie der Nacht und dem Gesang der Wölfe, seid ihr fortan Gefährten für alle Ewigkeit.“
Um uns herum erklang ein Chor aus Wolfsgeheul und Applaus.
Cio drehte mich mit einem Ruck zu sich herum und noch bevor ich blinzeln konnte, küsste er mich. Er küsste mich so innig, dass mir glatt Hören und Sehen verging und ich vergaß wie Atmen funktionierte. Erst als mich plötzlich eine weitere Wehe heimsuchte, wurde ich wieder daran erinnert. Verdammt, die wurden ja immer schlimmer.
Natürlich merkte Cio, dass mein Fokus plötzlich nicht mehr bei dem Kuss war. War in einem solchen Moment ja auch ziemlich schwer zu verbergen. Er löste sich von mir und musterte mich kritisch. „Alles in Ordnung?“
„Ja nur …“ Uh, tat das weg. Geh vorbei. Ich musste zwei Mal tief einatmen, bevor ich nicht mehr das Gefühl hatte, mich in Embryonalstellung zusammenkauern zu müssen.
„Nur?“
„Wir sind doch jetzt verheiratet, oder?“
Ein Lächeln erhellte sein Gesicht. „Oh Ja, das sind wir.“
Gut, damit waren die Kreterin Erfüllt und Deal war Deal. „Dann würde ich jetzt gerne ins Krankenhaus fahren.“
Sein Blick daraufhin, unbezahlbar. „Du willst ins Krankenhaus?“
„Ja.“
„Warum?“
Also es gab wirklich Momente, da zweifelte ich doch ein wenig an seiner Intelligenz. „Weil ich entweder eine ganz schlimme Magenverstimmung habe, oder Wehen.“ Als hätte mein Körper nur auf dieses Stichwort gewartet, spürte ich in diesem Moment wie sich zwischen meinen Beinen ein nasser Schwall entleerte. Es machte platsch und wirklich jeder im Tempel richtete seinen Blick auf die Pfütze auf dem Boden.
Das einem sowas inmitten seiner Familie und all seiner Freunde mitten auf der eigenen Hochzeit geschah, war kein sehr angenehmes Gefühl.
Cio trat einen Schritt zurück und schaute entgeistert auf das Malheur. Sowas bekam man ja auch nicht jeden Tag zu sehen.
„Du bist neuerdings nicht zufällig inkontinent, oder?“, fragte Alina.
Ich warf ihr einen vernichtenden Blick zu. „Nein.“
Tante Lucy neigte den Kopf leicht zur Seite. „Dann würde ich behaupten, deine Fruchtblase ist gerade geplatzt.“
Das war das Startsignal zu einem heillosen Durcheinander. Plötzlich drängten alle zu mir und wollten mir helfen. Papa nahm meine Hand, Mama rannte ihn fast über den Haufen, Aric sah aus als würde er gleich in Ohnmacht fallen und Alina erinnerte mich ungefähr zwanzig mal daran, dass sie mit in den Kreißsaal durfte. Da waren so viele Stimmen, dass ich gar nicht verstand was jede einzelne von ihnen sagte und weil mich alle umkreisten, kamen wir auch nicht vorwärts.
Als ich fünf Minuten später wieder eine Wehe bekam – eine die ich nicht nur spürte, sondern die anderen auch sehen konnten – hatten wir gerade mal die halbe Strecke zu Ausgang hinter uns. Das war der Moment, in dem Cio eine leichte Panik verfiel. Er schob mir einfach ein Arm unter die Beine, nahm mich hoch und eilte aus dem Tempel.
Sein Ziel war unser neues Auto, doch auf dem Parkplatz lief er erstmal in die falsche Richtung, weil er vergessen hatte, wo er geparkt hatte und als wir unseren Wagen dann fast erreicht hatten meinte irgendjemand, dass es vielleicht keine gute Idee war, wenn Cio sich jetzt hinters Lenkrad setzte. So landeten wir auf dem Rücksitz von Papas Wagen, der meiner Meinung nach nicht weniger nervös wirkte als Cio, aber nach meiner Meinung fragte ja niemand. Ich durfte mir nur von allen Seiten anhören, dass ich atmen sollte. Als wenn ich plötzlich das Atmen einstellen würde, nur weil ich ein Kind bekam.
Mama kniete vorne auf dem Vordersitz und hielt über die Lehne hinweg meine Hand. Sie hörte weder auf Papa noch auf mich, als wie ihr sagten, sie solle sich richtig hinsetzen. Dass ich gerade nicht mal eine Wehe hatte, interessierte sie gar nicht und ich war viel zu sehr damit beschäftigt meinen Mann zu erklären, dass es mir gut ging und ich nicht sterben würde, als dass ich mich darum kümmern konnte.
Cio fand das nicht sehr witzig.
Als Papa dann den Wagen aus der Parklücke fuhr, setzte sich zusammen mit uns ein ganzer Konvoi an Autos in Bewegung. Das Krankenhauspersonal staunte nicht schlecht, als ich eine halbe Stunde später mit einer ganzen Hochzeitssegelschaft dort auftauchte und erklärte, dass ich jetzt gerne mein Baby bekommen würde.
Leider funktionierte das nicht von jetzt auf gleich. Erst musste ich noch untersucht werden, dann musste der Arzt der halben Verwandtschaft erklären, dass sie nicht zu der Untersuchung eingeladen waren und dann konnte man meine Ärztin Doktor Sanchez nicht erreichen. Als man mir dann sagte, dass es bis zur Geburt sicher noch ein paar Stunden dauern würde, knurrte ich jeden an, der es wagte mich anzusprechen – ja, auch Cio. Es endete damit, dass ich irgendwann nackt in einer riesigen Wanne saß und mich angestrengt durch eine Wehe atmete.
Der Schmerz hatte sich mittlerweile von verdammt-tut-das-weh zu ich-werde-ihn-wie-einen-Hund-kastrieren gesteigert. „Oh Gott“, jammerte ich und versuchte mich durch die Wehe zu arbeiten.
„Du machst das gut.“ Cio hockte hinter der Wanne und massierte mir über den Rand hinweg die Schultern. „Bald hast du es geschafft.“
„Und das weißt du, weil du schon so viele Kinder bekommen hast?“ Ja ich war ein wenig zickig, aber da ich nun schon seit mittlerweile sieben Stunden Wehen hatte, durfte ich das auch. Die Hebamme hatte mir versichert, dass das für eine erste Geburt sogar recht zügig ging. Ich hatte sie nur angeknurrt.
„Nein, aber unser Kleines scheint es recht eilig zu haben.“ Vorsichtig knetete er meine Schultern. Es half nicht wirklich, aber es beruhigte ihn, weil er etwas zu tun hatte. Mir war einfach nur wichtig dass er hier war. „Du schaffst das.“
Als die Wehe endlich aufhörte, schloss ich erleichtert die Augen und drehte das Gesicht so, dass ich die Stirn an seine Wange legen konnte. „Ich hoffe dir ist bewusst, dass wir nie wieder Sex haben werden.“
Sein Mundwinkel zuckte nach oben. „Zölibat? Das hältst du niemals durch, nicht bei meinen Verführungskünsten.“
„Doch, ich muss mir nur diesen Moment in Erinnerung rufen.“ Wasser plätscherte, als ich mich vorsichtig herum drehte. Die Hebamme hatte gesagt, ich solle die Position einnehmen, bei der ich mich am wohlsten fühlte, aber jetzt gerade gab es überhaupt keine Position in der ich mich gut fühlte. Allerdings war auf den Knien noch immer besser als zu sitzen. Der Bauch drückte dann nicht so und vor allen dingen konnte ich die Arme um Cio schlingen und mein Gesicht an seiner Halsbeuge vergraben.
Cio hielt mich zwar fest, sah die Sache aber eher skeptisch. „Ist das für dich denn bequem?“
„Im Moment ist gar nichts bequem, ich bekomme ein Kind.“ Aber seine Nähe half mir es durchzustehen.
Zärtlich strich er mir über den Nacken. „Ich wünschte ich könnte mehr tun.“
„Bleib einfach bei mir.“
„Ach Schäfchen.“ Seine Lippen streiften meine Stirn. Vielleicht hatte er keine Schmerzen, aber für ihn war das auch nicht viel einfacher, als für mich. „Soll ich noch mal die Hebamme fragen? Vielleicht weiß sie ja noch was, dass dir helfen kann.“
„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Geh nicht weg.“ Wer wusste schon wo die Frau sich gerade herumtrieb. Sie schaute zwar alle zehn Minuten nach uns, aber da es bei mir noch etwas dauerte, gab es keinen Grund, warum sie die ganze Zeit hier rumsitzen musste.
„Okay, aber so …“ Er verstummte und hob den Kopf, als sei ihm ein Gedanke gekommen. „Weißt du was, wir machen das anders.“
„Was machen wir anders?“ Auch ich schaute auf und war nicht allzu erfreut, als er meine Arme von seinem Nacken löste. „Wo gehst du hin?“
„Nirgends.“ Er erhob sich auf die Beine und streifte sich das weiße Leinenhemd von den Schultern. Dann griff er nach seiner Hose und wollte sie schon runterziehen, schien es sich aber dann doch anders zu überlegen.
„Was machst du da?“
„Dir beistehen.“ Er lächelte frech. Dann kletterte einfach über den Rand hinweg in die Wanne hinein und setzte sich neben mich.
Das Wasser schwappte mir gegen die Brust und ich wollte ihm erklärten, dass er doch nicht einfach hier reinkommen konnte, doch die Worte erstarben mir auf der Zunge, denn in dem Moment setzte die nächste Wehe ein.
Ich stöhnte angestrengt, was ihn sofort wieder aufmerken ließ.
„Hey“, sagte er und streckte die Arme nach mir aus. „Komm her.“
Das mit dem herkommen war gar nicht so einfach, weswegen er zu mir heran rutschte, bis er seine Arme um mich schließen konnte und es war wirklich besser. Nicht nur weil ich den Trost den mir seine Nähe gab gut gebrauchen konnte, ihm so nahe zu sein und mich an ihm festhalten zu können, gab mir die Sicherheit, dass er bei mir war. Ohne ihn würde ich das hier nicht durchstehen.
So fand uns die Hebamme, als sie fünf Minuten später in den Kreißsaal kam. Sie stutzte und merkte an, dass der Mann sich normalerweise nicht mit in die Wanne setzte, aber davon ließen weder Cio noch ich uns stören.
Leider war mein Tortur damit aber noch lange nicht vorbei. Die Geburt zog sich immer weiter in die Länge und zwischendurch sagte ich schon, dass ich für heute Feierabend machen würde und wir es morgen noch mal versuchen könnten, aber irgendwie wollte mich niemand nach Hause gehen lassen.
Meine Hände waren schon ganz schrumpelig und Cio hatte mindestens zwei Blaue Flecken an seinen Armen von mir, als sich etwas veränderte und dann war es auf einmal so weit. Die Hebamme rief die Ärztin, Alina steckte den Kopf rein, nur um ihn gleich wieder rauszuziehen und ich glaubte nicht schon jemals einen so schlimmen Schmerz durchlebt zu haben.
Ich kniete im Wasserbecken und hatte die Arme auf Cios Beinen abgestützt. Meine Stirn drückte ich gegen seine Schulter und dann machte ich das, was die Ärztin von mir verlangte: Ich presste.
Dieser Moment war sowohl schön als auch schrecklich zugleich. Es tat so fürchterlich weh, aber Cio hatte ich mich nie näher gefühlt. Er murmelte mir unentwegt beruhigende Worte ins Ohr, hielt mich und war einfach nur da. Und plötzlich kam es. Doktor Sanchez befahl mir noch einmal zu pressen , dann war es einfach da und begrüßte die Welt mit einem lauten Schrei.
Der Schmerz verklang und Cio standen die Tränen in den Augen. „Oh mein Gott“, flüsterte er, als ich mich erschöpft in seinen Armen drehte und vorsichtig mein Baby in Empfang nahm.
„Es ist ein wunderschönes Mädchen“, erklärte meine Ärztin uns mit einem Lächeln.
Vorsichtig bettete ich die Kleine in meiner Armbeuge. Sie hatte einen leichten Flaum auf dem Kopf und eisblaue Augen. Und da sie gerade so herzlich schrie, waren ihre kleinen Vampirfänge sehr leicht zu erkennen.
„Sie ist so winzig.“ Cios Finger zitterten, als er zögernd die Hand nach der Kleinen ausstreckte und ihr ganz vorsichtig über das kleine Ärmchen strich.
„Ein kleines Mädchen, genau wie du es dir gewünscht hast.“
Er gab mir einen Kuss auf die Schläfe. „Unser kleines Mädchen.“
„Miranda.“ Vorsichtig strich ich ihr über den kleinen Kullerbauch. „Unsere kleine Miranda.“
„Wirklich?“, fragte Cio überrascht.
„Das wolltest du doch.“
„Miranda“, murmelte er und strich über das kleine Händchen.
Das schien der Kleinen zu gefallen. Sie verzog zwar noch immer das Gesicht, weil es ihr scheinbar überhaupt nicht gefiel, einfach in die Welt gestoßen zu werden, aber das Schreien ließ nach.
„Schau sie dir nur an.“
Das tat er und ich hatte auf seinem Gesicht noch nie einen so ehrfürchtigen Ausdruck gesehen. „Es tut mir leid dir das sagen zu müssen, Schäfchen, aber ab sofort bist du nicht mehr die einzige Frau in meinem Leben.“
Oh man, er nun wieder. „Ich liebe dich, du römischer Gott.“
„Und ich liebe dich.“ Dieses Mal waren es nicht meine Schläfe, sondern meine Lippen die er küsste und es hatte in meinem ganzen Leben wohl keinen glücklicheren Moment gegeben.
Wir hatten so viel durchgemacht, doch nun lag der Schrecken hinter uns. Die Zukunft war unbestimmt. Niemand konnte jetzt schon sagen was uns noch erwartete, aber solange wir zusammen waren, würden wir jedes Hindernis, das uns das Leben in den Weg stellte, meistern. Heute begann der Rest unseres Lebens.
°°°°°
15 Jahre später
„Mama, jetzt!“ Mit seiner ganzen Kraft stemmte Cedric das dickte Fotoalbum über seinen Kopf und ächzte dabei, als müsste er einen Amboss hieven. Mit seinen vier Jahren war er noch ziemlich klein und seine Erkältung machte ihm auch noch zu schaffen, darum fand ich es gar nicht lustig, als er auf einmal neben mir in der Küche stand.
„Solltest du nicht im Bett liegen?“
„Aber wir wollen Fotos gucken.“ Er schob die Unterlippe vor und erwiderte meinen Blick trotzig. Ja selbst der Batman auf seinem Schlafanzug schien mich trotzig anzuschauen. „Und ich mag nicht mehr im Bett liegen.“
„Aber du bist krank und kleine, kranke Jungs gehören ins Bett, damit sie wieder gesund werden.“ Ich nahm ihm das Fotoalbum aus der Hand und schob ihn Richtung Flur.
„Ich bin nicht krank.“ Wie um diese Aussage zu widerlegen, hustete er in diesem Moment.
„Nein ich merke schon, du bist vollkommen gesund. Los, ab ins Bett mit dir.“
„Aber …“
„Keine Widerrede junger Mann.“ Ich hockte mich vor ihn, weil es sich auf gleicher Augenhöhe immer besser reden ließ. „Du krabbelst jetzt zurück unter deine Decke. Ich mache nur noch schnell deinen Tee fertig, dann komme ich hinterher, in Ordnung?“
„Und dann schauen wir Fotos?“
„Und dann können wir uns das Fotoalbum anschauen.“
„Ja.“ Er machte eine Siegesgerte, wirbelte dann herum und verschwand in den Flur. Und da ich kurz darauf hörte wie das Bettgestell gegen die Wand knallte, hatte er meiner Anweisung wohl Folge geleistet.
Kopfschüttelnd wandte ich mich wieder dem Wasserkocher zu und warf dabei einen kurzen Blick auf die Uhr. Mirandas Training ging bis um drei. Sie und Cio müssten also in einer halben Stunde hier auftauchen. Hoffentlich vergaßen sie nicht die Milch für der Abendessen, sonst müsste ich einen von beiden nochmal losschicken.
Während ich wartete, griff ich geistesabwesend nach dem Ring an meinem Hals. Seit fünfzehn Jahren war er ein Zeichen meiner Liebe zu Cio.
Es gab Momente in denen hatte ich überlegt ihn abzunehmen, denn es hafteten nicht nur gute Erinnerungen an ihm. Einst hatte Greta ihn mir vom Hals gerissen, um mich anschließend zu Graf Deleo zu fahren. Ich hatte ihn nur wiederbekommen, weil Jamal ihn gefunden hatte.
Jamal.
Es passierte nicht mehr oft, dass ich an ihn dachte. Nicht nur wegen der Art wie wir auseinander gegangen waren, er geriet bei mir einfach Zusehens in Vergessenheit. Früher hatte ich mich noch hin und wieder ohne sein Wissen nach ihm erkundigt. Es gab eine Frau bei den Themis, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte sich um ihn zu kümmern und sie hatte mir manchmal von ihm erzählt.
Ich wusste das sein Zustand sich verbessert hatte, er aber nur noch sehr in sich gekehrt war und niemand mehr wirklich an sich heran ließ. Zweimal im Leben wirklich alles zu verlieren, hatte er nicht gut verkraftet, aber ich bereute es nicht, wie ich mich entschieden hatte, denn ich hätte ihm niemals wieder vertrauen können.
Er war noch immer in der Heilanstalt Sanare, zumindest war er das noch vor einem Jahr gewesen, als ich mich das letzte Mal nach ihm erkundigt hatte und da mir seitdem niemand etwas anderes gesagt hatte, ging ich einfach davon aus, dass er noch immer dort war.
Eigentlich war das traurig, denn ich wünschte ihm nichts Böses. Allerdings musste ich vor mir selber eingestehen, dass ich mich so sicherer fühlte. Jamal war kein schlechter Kerl, aber ich wollte nicht, dass er frei herumlief.
Seufzend holte ich eine Tasse aus dem Schrank, hängte einen Teebeutel hinein und goss das ganze mit Wasser auf. Dann nur noch ein Löffel Fenchelhonig und ab ging es ins kleine Kinderzimmer. Nein, Moment, das Fotoalbum, wenn ich das liegen ließ, dürfte ich gleich noch mal in die Küche laufen.
Wie ich es mir erhofft hatte, fand ich meinen Sohn zugedeckt in seinem Bett.
„Den Tee musst du noch etwas abkühlen lassen“, erklärte ich Cedric und bahnte mir einen Weg zwischen Legosteinen und etwas das wohl mal eine Rennstrecke für seine Spielzeugautos gewesen war. Ich musste hier dingend einmal aufräumen. „So, dann rutsch mal du kleiner Frechdachs, damit ich auch noch ein bisschen Platz habe.“
Kichernd rückte Cedric zur Seite. Die Teetasse landete neben dem Bett auf dem Boden und ich kuschelte mich mit meinem Sohn unter die Decke. Das Fotoalbum lehnte ich an meine Beine.
„So, bereit.“
Er nickte begeistert. Seit er mitbekommen hatte, wie ich dort gestern Abend ein paar Bilder hineingeklebt hatte, war er ganz begierig darauf, es sich anzuschauen.
„Na dann schlag mal die erste Seite auf.“
Das ließ er sich kein zweites Mal sagen. Er deckte das Deckblatt auf und ein Foto von seinen dritten Geburtstag, auf dem er gerade die Kerzen auf dem Kuchen ausblies, kam zum Vorschein. „Das bin ich!“, rief er begeistert.
„Richtig. Und wenn siehst du noch?“
„Micah!“
Micah, mein kleiner Bruder. Ja, der Wunsch meiner Eltern nach einem weiteren Kind hatte Früchte getragen. Ungefähr ein Jahr nach Marandas Geburt hatte der kleine Ailuranthrop das Licht der Welt erblickt und sorgte seither dafür, dass meine Eltern nicht einrosteten. Der Kleine tat zwar immer so, als könnte ihn kein Wässerchen trüben, aber er hatte es faustdick hinter den Ohren.
„Wann kommt Micah mal wieder her?“
„Wenn er die Pubertät überstanden hat.“
Cedric schaute mich fragend an, aber ich lächelte nur.
„Na los, blätter weiter.“
Das tat er und diesem Mal stießen wir auf ein Foto, auf dem er mit Diego und Genevièv eines seiner Geburtstagsgeschenke auspackte. „Oma und Opa“, erklärte er mir.
Bei Diego und Genevièv hatte sich auch nach fünfzehn Jahren nicht viel geändert. Sie waren noch immer mit Leib und Seele Umbras und lebten noch immer mit Cayenne in dem alten Herrenhaus. Allerdings bekam Diego langsam graue Schläfen und reagierte sehr verschnupft, wenn man ihn darauf ansprach. Wenigstens hatte sich das Verhältnis zwischen ihm und Cio stark gebessert. Dass Cio seinen Job hingeschmissen und damit dafür gesorgt hatte, dass sie etwas mehr Abstand zueinander bekamen, war das Beste, was den beiden hatte passieren können.
„Und wen siehst du auf diesem Bild?“ Ich tippte auf das Foto darunter, auf dem Cayenne im Schneidersitz auf dem Boden saß und Sydney an sich drückte.
„Oma und Opa.“
Auch bei den beiden hatte sich nichts geändert. Sydney war noch immer der erste Historiker am Hof der Lykaner und Cayennes Lebensaufgabe war nach wie vor der Kampf gegen die Skähn. Allerdings ging sie nicht mehr auf so viele Außeneinsätze wie früher, nachdem sie bei einem Schusswechsel fast ihr Leben verloren hatte. Das lag jetzt sieben Jahre zurück.
Mein Finger glitt zu dem ersten Foto auf der zweiten Seite. „Und hier?“
„Oma und Opa!“, rief er, als er die lächelnden Gesichter meiner Eltern sah.
Wie Cio einmal gesagt hatte, unsere Kinder konnten sich mit ihren Großeltern totwerfen. „Richtig, dass sind Oma und Opa.“
Bei Mama und Papa hatte sich in den Jahren etwas getan. Mit der Geburt von Micah hatte mein Vater entschieden, dass es für ihn zu gefährlich war, weiterhin bei den Themis zu arbeiten. Mit einem kleinen Kind im Haus wurde er Zuhause gebraucht, also hatte er wie damals als wir noch bei den Menschen gelebt hatten, wieder einen Schlüsseldienst eröffnet und meine Mutter hatte eine Schulung zur Kosmetikerin gemacht und arbeitete jetzt nun schon seit mehreren Jahren bei ihrem besten Freund in der Stadt.
Da er das letzte Foto von mir und meinem Vater wohl nicht weiter interessant fand, blätterte Cedric einfach um. „Schau mal, Tante Amber.“
„Ich sehe es.“
Auf dem Bild trug Amber ein langes Sommerkleid. Es war auf einem Straßenfest hier in Silenda entstanden und absolut nicht Gothic.
Solange ich meine Tante kannte, hatte sie immer nur Schwarz getragen. Es war für sie wie ein Sakrileg gewesen, eine andere Farbe auch nur in ihre Nähe zu lassen. Umso geschockter war die ganze Familie gewesen, als sie praktisch von heute auf morgen ihren kompletten Kleiderschrank ausgetauscht hatte. Ich hegte ja die starke Vermutung, dass das etwas mit ihrer Lebensgefährtin zu tun hatte.
Während ich noch in Gedanken war, schaute Cedric sich schon das nächste Bild an. „Nathalie!“
Ich lächelte beim Anblick der kleinen fünfjährigen Lykanerin, dass sich auf dem Bild an Kaspers Bein klammerte und misstrauisch in die Kamera schaute.
Die Kleine hatte es in ihrem Leben nie leicht gehabt. Die Mutter war bei der Geburt gestorben und der Vater war unbekannt. Noch dazu war sie mit einer Behinderung auf die Welt gekommen: Sie konnte nicht sprechen. Das hatte dazu geführt, dass sie die ersten drei Jahre ihres Lebens in einem Kinderheim verbracht hatte. Aber dann hatten Aric und Kasper sich dazu entschlossen ein Kind zu adoptieren und so hatte das Mäuschen in unsere Familie gefunden.
Cedric und Nathalie liebten sich abgöttisch, aber leider lebte sie zusammen mit ihren Vätern in Arkan, weswegen sie sich nicht so häufig sehen konnten. Das fand ich ein wenig schade, aber für Kasper war es einfacher in einem kleinen Dorf zu wohnen, als hier in der Hauptstadt der Lykaner.
Mein Sohn schaute sich noch die beiden Bilder auf der anderen Seite an. Auf dem einen saß Nathalie auf Kaspers Schoß und klammerte sich an ihn, auf dem anderen versteckte sie sich halb hinter Aric und linste zwischen seinen Beinen hervor. Dabei schaute sie immer äußerst misstrauisch drein. Der Kameramann war ihr wohl suspekt gewesen.
Cedric blätterte weiter und beim Anblick des Mannes den ich dann sah, wurde mir ein wenig schwer ums Herz.
„Wer ist das?“, wollte mein Sohn wissen.
„Opa Oliver.“ Vorsichtig fuhr ich die Konturen seines Gesichts nach.
„Kenne ich nicht.“
Das konnte er auch nicht, denn mein Opa war drei Jahre vor seiner Geburt an einem Herzinfarkt gestorben. Mein Vater hatte das damals ziemlich hart getroffen. Naja, eigentlich hatte es die ganze Familie ziemlich hart getroffen.
„Das ist meine Tick-Tack-Oma“, sagte er nichtsahnend von meinen Gedanken und zeigte auf das nächste Bild.
„Ja, das ist Marica.“ In ihrer Küche, wie sie gerade zusammen mit Miranda einen Kuchen backte.
Auf dem Bild darunter waren Alinas Eltern bei der Eröffnung ihres Studios vor zwei Jahren zu sehen.
„Onkel Tristan und Tante Luciela“, erklärte mir mein Sohn.
Ich nickte. „Das ist richtig.“ Auch die beiden hatten sich von den Themis zurückgezogen. Das war einfach kein Job, den man für den Rest seines Lebens nachgehen konnte. Heute betrieben die beiden ein Kampfstudio. Ich selber hatte einmal aus Spaß an ihrem Unterricht teilgenommen und musste sagen, meine Tante war eine super Lehrerin. Mein Onkel dagegen … naja, der kümmerte sich hauptsächlich um den Papierkram und musste den Kopf hinhalten, wenn Tante Lucy etwas vorführen wollte.
Das Letzte Bild auf der Doppelseite zeigte einen Mann mit Kamera, der nicht besonders begeistert schien, selber fotografiert zu werden.
„Onkel Anouk.“
„Genau.“
Der Kleine runzelte die Stirn. „Wo ist Onkel Anouk?“
Im Moment? „Keine Ahnung.“ Die Beziehung zwischen ihm und Alina war vor sechs Jahren in die Brüche gegangen. Die Beiden hatten sich einfach auseinandergelebt und seitdem gondelte er durch die Weltgeschichte und fotografierte Dinge in der ganzen Welt. Nur zu Familienfeiern tauchte er hin und wieder auf, um dann genauso schnell wieder zu verschwinden.
Ich war mir sicher, dass er Alina noch immer liebte, aber … naja, meine Cousine hatte nicht still in der Ecke gestanden und darauf gewartet, dass er von seinem Selbstfindungstrip zu ihr zurückkam. Sie hatte einen Mann namens Xaver kennengelernt und vor knapp zwei Wochen waren die beiden Eltern von dem süßen, kleinen Orin geworden.
Ja, Alina war jetzt Mama und das einzige was sie daran nicht leiden konnte, war es alle drei Stunden aus dem Schlaf geschrien zu werden.
Ich hatte sie letzte Woche in ihrer Wohnung in Silenda besucht. Ein Blick hatte gereicht, um ihr das Kind aus den Armen zu nehmen und sie ins Bett zu schicken. Ein Zombie war gar nichts im Gegensatz zu ihrem Anblick gewesen.
Cedric setzte kuschelte sich ein wenig an mich, bevor er die nächste Seite umblätterte und auf eine Großaufnahme von Königin Sadrija und König Carlos schaute, die da mit ihrer schmollenden Tochter schaute. „Cataleya“, sagte er, obwohl es sich bei ihm wie „Katalia“ anhörte. Bisher war es ihm noch nie gelungen, ihren Namen richtig auszusprechen.
Ja, Cataleya war … einzigartig. Ich wusste das ziemlich genau, da die Familie vor ein paar Jahren zum Geburtstag von Sadrija eingeladen worden war und meine Tochter es irgendwie geschafft hatte, sich mit der Prinzessin anzufreunden. Einzeln waren die beiden schon anstrengend, aber wenn sie zusammen waren, wollte man sich nur ein Stemmeisen besorgen und die beiden wieder voneinander trennen, bevor man auf die Idee kam ihnen den Kopf umzudrehen. Wenn die beiden zusammen waren, hatten sie nur Blödsinn im Kopf.
„Und wer ist das?“, fragte ich und zeigte auf das nächste Bild.
„Tante Kiara!“ Cedric liebte seine Tante. Fast so sehr wie er Nathalie liebte und das lag nicht nur an den ganzen Geschenken, die sie ihm immer mitbrachte. Ja, auch diese Liebe beruhte auf Gegenseitigkeit. Eigentlich liebte jeder Cedric, denn mein Sohn war einfach nur ein Goldstück. Das sagte ich jetzt nicht, weil ich als seine Mutter voreingenommen war, es war eine Tatsachen.
Miranda hatte ich genauso lieb, aber über sie wurde ich das nicht sagen.
„Guck, wir kuscheln.“
„Ich sehe es.“ Auf dem Foto darunter hielt Kiara meinen Sohn im Arm und drückte ihn ganz fest an sich, während er versuchte lachend von ihr loszukommen.
Als Cedric versuchte auf die nächste Seite umzublättern, klebten die Seiten ein wenig aneinander und ich musste ihm helfen, damit die Seiten nicht einrissen. Dann schaute ich auf vier Fotos, die alle Miranda und Ferox zeigten.“
„Randy und Ferox und Randy und Ferox und Randy und Ferox und Randy und Ferox.“ Nacheinander tippte er auf die einzelnen Bilder.
Lächelnd nickte ich. „Ja, das ist deine Schwester Miranda zusammen mit Ferox.“ Miranda und Ferox hatten eine ganz besondere Verbindung zueinander. Die beiden zusammen zu sehen war … erstaunlich. Miranda war auch etwas ganz besonderes. Genau wie Cedric war sie ein Lykaner, aber dass sah man ihr nicht an. Sie konnte sich nicht verwandeln und äußerlich unterschied sie sich nicht von Vampiren, aber ihr Wesen war das eines Wolfs. Sie konnte die Gedankensprache hören und sie auch selber sprechen, ohne die Gestalt zu wechseln. Sie trank kein Blut, hatte aber die Augen und die Zähne eines Vampirs. Und wenn sie mit Ferox zusammen war, agierten die beiden wie ein Wesen.
Hatte ich früher geglaubt ich hätte eine gute Verbindung zu dem Wilden, so war das nichts im Vergleich zu den beiden. Die Zugehörigkeit zwischen den beiden war etwas ganz besonderes.
Nachdem Cedric die vier Fotos ausgiebig studiert hatte, blätterte er auf die nächste Seite und sah sich selber als Baby in seinem Gitterbettchen schlafen. „Das bin ich.“
„Ja, das bist …“
Die Wohnungstür öffnete sich mit einem Knall.
„… mich in Ruhe, ich hasse dich!“, hörte ich das liebliche Stimmchen meiner Tochter durch die Wohnung hallen.
„Randy, bleib stehen“, forderte Cio mit strenger Stimme. „Miranda, ich rede mit dir.“
„Mir doch egal.“
„Wirst du mir wohl jetzt zuhören?“
„Nein.“ Um das noch zu verdeutlichen, stampfte sie wie ein Rhinozeros durch den Flur. Ich sah sie an Cedrics offener Tür vorbeilaufen, dann knallte eine Tür und die Musik wurde aufgedreht.
Ohje, was war denn nun wieder los? „Schaust du mal einen Moment allein weiter? Ich muss mal nach deiner Schwester und Papa sehen.“
„Okay.“
„Braver Junge.“ Ich legte ihm das Album auf den Schoß, gab ihn noch einen Kuss auf den Kopf, den er kaum registrierte und schob mich dann aus dem Bett. Um Cio zu finden, musste ich nur in den Flur treten.
Er stand in seiner Wächteruniform vor der geschlossenen Wohnungstür und kniff sich in den Nasenrücken, als müsste er sich beruhigen. Über die Jahre hinweg hatte er sich nicht groß verändert. Sein Gesicht war ein wenig kantiger geworden und die schwarze Wollmütze trug er jetzt nur noch im Winter. Außerdem war er mittlerweile Kommissar bei den Wächtern. Jetzt allerdings wirkte er nur wie ein genervter Vater einer pubertierenden Tochter.
Schmunzelnd lehnte ich mich an den Türrahmen. „Was ist los, großer Umbra?“
Er blickte auf breitete dann die Arme aus und ließ sie kraftlos wieder an die Seite fallen. „Was ist passiert?“, fragte er mich. „Ich hatte mal eine süße, kleine Tochter, die mit mir Puppen spielen wollte, sich Kinderfilme mit Feen und Einhörnern ansah und es toll fand, wenn ich ihr Zöpfe geflochten habe. Und jetzt habe ich das da.“ Finster zeigte er auf Mirandas geschlossene Zimmertür. „Einen Dämon.“
Ich lachte und löste mich von meinem Platz an der Tür. „Das nennt man Pubertät“, erklärte ich ihm und schlang ihm meine Arme um den Nacken.
Sofort zog er mich näher an sich heran. „Ich mag die Pubertät nicht“, sagte er mir mit all dem Ernst den er aufbringen konnte, was mich gleich noch mal lachen ließ. „Und ich mag es nicht, dass meine pubertierende Tochter plötzlich Interesse an Jungs entwickelt.“
Ah, damit kamen wir der Sache wohl näher. „Was ist passiert?“
„Was passiert ist? Ich habe unsere Tochter von Training abgeholt und sie knutschend mit einem Jungen vorgefunden – mitten auf der Straße! Und als ich sie dann bat das Zungenduell zu beenden und einzusteigen, durfte ich mir anhören wie unreif und peinlich ich bin und dass sie sich nie wieder mit mir in der Öffentlichkeit sehen lassen würde.“
Ach nö. „Du hast das mit dem Zungenduell doch hoffentlich nicht laut gesagt.“
„Naja“, druckste er herum. „Ich wollte ja dass sie mich hört.“
„Und da wunderst du dich wirklich, dass sie so reagiert hat?“ Schmutzend schüttelte ich den Kopf.
„Ich durfte mir von deinem Vater schon ganz andere Sachen anhören.“
Oh Mann. „Los, geh dem kleinen Champion hallo sagen, ich rede mit Randy.“
„Du bist ein Schatz.“ Er gab mir einen Kuss und löste sich dann von mir. Dabei fiel mir etwas auf.
„Wo ist die Milch?“
Er schaute auf seine Hände, als würde sie wie von Zauberhand dort erscheinen. Als sie das nicht tat, grinste er mich frech an. „Im Laden?“
„Zum Glück weißt du ja wo der sich befindet.“
Cio seufzte theatralisch. „Okay, ich mach mich gleich auf den Weg.“ Aber vorher verschwand er erst noch mal zu Cedric, um sich von seinem Sohn haarklein erklären zu lassen, war er alles getan hatte, seit Papa heute morgen zur Arbeit gegangen war.
Ich beobachtete sie einen Moment.
Von dem Tag an, an dem wir uns das erste Mal begegnet waren, war viel geschehen und manche der Dinge waren so tief in unsere Erinnerung gebrannt, dass wie sie niemals würden vergessen können. Aber das Leben ging weiter und manchmal, wenn man Glück hatte, ging man aus den Feuerproben stärker heraus und war für die Zukunft gewappnet – auch für pubertierende Teenager.
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Cover: Cover by Kathrin Franke-Mois - Epic Moon Coverdesign
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2019
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