Cover

Prolog

Stille, Dunkelheit. Nichts als die leuchtenden Sterne und der strahlende Mond am dunkeln Firmament. Keine Wolke, kaum ein Lüftchen, nur ein warmer Hauch, der verträumt mit den losen Strähnen ihres Haares spielte. Victoria liebte die Nacht. Wenn das Leben sich zur Ruhe bettete und die Lichter des Tages erloschen, dann begann ihre Zeit, denn bei Nacht schienen die Probleme des Alltags auf einmal weit entfernt. Vielleicht lag es aber auch einfach nur daran, dass sie hoch oben auf der Schlossmauer stand und sie ausnahmsweise einmal von niemanden gestört wurde.

Victoria trat an die steinerne Brüstung und stützte die Arme oben auf das Geländer. Selbst der Wald um den Hof herum schien heute Nacht zu ruhen. Zwar hörte sie in der Ferne einen Wolf heulen, aber es verklag wieder genauso schnell, wie es erklungen war. Vielleicht sollte sie auch einmal wieder durch die Wälder der Könige streifen. Leider hielten ihre Verpflichtungen sie im Moment im Schloss fest. Wann nur hatte sie sich das letzte Mal ihrer wölfischen Seite hingegeben? Das musste Wochen zurückliegen. Kein Wunder also, dass sie heute Nacht so unruhig war.

Eine Brise kam auf und trug die schwüle Luft des Tages fort. Wenn sich ihre Probleme doch nur auf die gleiche Art lösen lassen würden. Sie seufzte. Manchmal wünschte sie sich wirklich in ein anderes Leben hineingeboren worden zu sein. Nicht dass sie es besonders schlecht getroffen hatte, nur leider lief nicht immer alles nach Plan.

Als ihr Handy klingelte, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Ein Blick auf das Display ließ sie die Stirn runzeln. Unterdrückte Nummer. Sie nahm den Anruf entgehen. „Großwächterin Victoria“, meldete sie sich.

„Großwächterin“, erwiderte sich eine eindeutig männliche Stimme. „Hier spricht Rouven Deleo.“

Sie verzog das Gesicht. Der kleine Bruder des Königs. Der Mann war eine Plage. „Graf Rouven, was kann ich für sie tun?“

„Es tut mir leid, dass ich sie zu so später Stunde noch störe, aber es ist wichtig. Haben sie einen Augenblick Zeit?“

„Natürlich.“

„Können Sie mich bei den Wächterquartieren treffen?“

Eigentlich wollte sie viel lieber hier oben auf der Mauer in ihrer friedlichen Abgeschiedenheit verharren. Leider schien die Pflicht sie wieder auf ihren Posten zu rufen. Daher war die einzig mögliche Antwort: „Ich bin in fünf Minuten da.“

„Dann bis gleich.“

Victoria legte auf und steckte das Handy zurück in ihre Hosentasche. Was der kleine Bruder des Königs wohl von ihr wollte? Sie hatte nur selten mit dem Grafen zu tun und das war auch gut so. Sie mochte den Mann nicht. Er legte eine derart arrogante Art an den Tag, dass sich ihr das Fell schon sträubte, wenn er nur in ihre Nähe kam. Aber sie war jetzt nun einmal die Großwächterin und es war ihre Aufgabe, sich um die Angelegenheiten im Hof zu kümmern. Also sog sie noch ein letztes Mal die klare Nachtluft tief in ihre Lungen, verließ die Mauer und machte sich auf den Weg zu den Quartieren.

Niemand begegnete ihr auf ihrem Weg. Da waren nur die Nacht und die Natur. Bäume ragten zu ihren Seiten auf. Im Unterholz raschelte es. Vermutlich eine Maus oder eine Eidechse. Plötzlich schien es um sie herum unnatürlich still zu werden. Eine Stille die so tief die wie der Ozean war. Sie runzelte die Stirn, redete sich ein, dass sie sich das nur einbildete. Doch dann hörte sie ein Geräusch das nicht hier her passte, ein Knacken, wie das Brechen eines kleinen Astes.

Sofort blieb sie stehen und sondierte die Umgebung. Ihre Sinne erweiterten sich. Es war albern, denn schließlich befand sie sich im Hof der Lykaner. Was sollte ihr hier schon passieren? Aber plötzlich hatte sie das Gefühl, dass die Nacht Augen hatte und sie beobachtete.

Sie ließ ihren Blick schweifen. Links von ihr befand sich das Schloss in dem die Alphas des Rudels der Könige lebten. Ein Stück weiter rechts begann die Menagerie, in der die Nutztiere des Anwesens gehalten wurden. Sie selber stand gerade auf einem eher zugewucherten Fleckchen.

Ein frösteln kroch ihr über den Rücken.

Jetzt reiß dich mal zusammen!, schollt sie sich selber. Sie benahm sich ja schon wie ein kleines, verängstigtes Mädchen.

Über sich selbst den Kopf schüttelnd, setzte sie sich wieder in Bewegung. Doch ihre Sinne waren nun geweckt. Ihre Wachsamkeit nahm mit jedem Schritt zu, genau wie ihre Anspannung. Irgendwas stimmte hier nicht, sie hatte es im Gefühl. Es war wie ein Jucken, dem sie auch durch kratzen nicht beikam.

Als ihr dann plötzlich aus den Büschen ein Schatten in den Weg trat, waren ihre Nerven so angespannt, dass sie beinahe nach ihrer Waffe gegriffen hätte. Ein Glück nur, dass sie im letzten Moment den Mann erkannte. Hier war es so dunkel, dass sie kaum die Gesichtszüge ausmachen konnte, aber der Geruch war ihr sehr vertraut.

Erleichtert ließ sie die Arme wieder sinken. Falscher Alarm. Wahrscheinlich war sie einfach nur übermüdet. Nach dem Gespräch mit Graf Rouven sollte sie sich auf ihr Zimmer zurückziehen. Doch plötzlich drängte sich ihr ein beunruhigender Gedanke auf und Misstrauen machte sich in ihr breit. „Was machst du hier?“ Es war schließlich mitten in der Nacht und sein Posten befand sich im Schloss.

Der Schatten Lächelte. „Ich lasse die Spiele beginnen.“

Noch bevor sie sich einen Reim auf diese kryptischen Worte machen konnte, drang plötzlich ein weiterer Geruch an ihrer Nase. Vertraut, doch völlig fehl am Platz. Ihre Sinne schlugen Alarm. Etwas sirrte durch die Luft.

Hastig wirbelte sie herum, aber da spürte sie auch einen Schmerz in ihrer Brust explodieren, der sie nicht nur in die Knie zwang, sondern ihr auch noch ein Laut des Schmerzes entlockte. Sie schaute an sich herunter und konnte nicht verstehen, was ihre Augen ihr zeigten. Da ragte ein Stock aus ihrem Oberkörper. Doch bevor sie verstehen konnte was das bedeutete, erloschen die Sterne und der Mond um sie herum und ihr Geist verschwand in einer tiefen allesverschlingenden Finsternis.

 

°°°°°

Amors Pfeil

 

Es machte nur Rums, dann explodierte ein kleines Sternenmeer vor meinem inneren Auge. Ich torkelte einen Schritt zurück, stieß gegen eine Wurzel und entschied, dass es wahrscheinlich das Beste war, wenn ich mich einfach an Ort und Stelle auf den Boden fallen ließ. Gesagt, getan. Leider flogen mir dabei ein paar vertrocknete Blätter in die offene Schnauze, die sich nur schwer wieder ausspucken ließen, weil sie sich sofort an meinen Gaumen klebten. „Super“, murmelte ich grummelnd. Das kam dabei raus, wenn man nicht auf den Weg achtete.

Leise lachend bewegte Cio sich auf mich zu. Ein großer, schokobrauner Wolf, mit der Eleganz eines Waldjägers. Er schob sich an mich heran und rieb mit seinem großen Wolfskopf sanft über meinen. „Da stand ein Baum.“

Sag an! „Könnte daran liegen, dass wir uns im Wald befinden.“ Mein Blick klärte sich so weit, um meinen Freund in Augenschein zu nehmen. Sein braunes Fell glänzte in den Stahlen der frühmorgendlichen Sonne seidig weich und wirkte durch das Spiel aus Licht und Schatten ein wenig dunkler als normal. Nur an seiner rechten Schläfe blieb eine kleine Stelle, durch seine Narbe, kahl.

Ich hab doch gesagt, lass mich vorgehen.“ Er ließ sich neben mich auf den Waldboden fallen und kuschelte seine Schnauze an meinen Hals. „Tut es sehr weh?“

Ich werde es überleben.“ Schließlich geschah das nicht zum ersten Mal. Und ich befürchtete auch nicht zum letzten Mal. Eigentlich wäre das auch gar nicht so schlimm, wenn diese verfluchten Bäume nicht immer so hart wären. Vielleicht sollte ich in Zukunft wirklich nur noch auf offenen Felder rennen. Dort jedenfalls wäre das Risiko aufgrund meiner Sehschwäche gegen einen Baum zu laufen wesentlich geringer.

Armes Schäfchen.“ Als er damit begann sanft an meinem Ohr zu knabbern, ließ ich den Kopf mit einem Seufzen sinken und schloss genussvoll die Augen.

Es war August. Drei Jahre, solange war ich nun bereits mit Cio zusammen. Naja, eigentlich sogar schon fast dreieinhalb Jahre, aber wer rechnete denn schon so genau mit?

Es war früher Morgen und da ich heute erst später in den Stall musste und Cio erst am Nachmittag zum Dienst erwartet wurde, hatten wir uns spontan für einen Ausflug in die Wälder der Könige entschieden. Wenn man schon einen so riesigen Wald praktisch vor der Nase hatte, dann sollte man ihn auch nutzen.

Noch waren die Temperaturen angenehm und die Wärme durch die frühmorgendliche Brise leicht zu ertragen, doch bereits jetzt konnte ich die nahende Hitzewelle des Tages spüren. Dieser Sommer war mit einem einzigen Wort zu beschreiben: heiß. Und da der Wetterbericht darauf bestand, dass es die nächste Zeit noch so bleiben würde, mussten sich die Bewohner von Silenda wohl noch ein Weilchen mit diesen unmenschlichen Temperaturen abfinden.

Dabei mochte ich den Sommer nicht mal besonders. Den Winter fand ich viel angenehmer. Und wenn alles Schneebedeckt war, waren die Baumstämme auch mit meiner Kurzsichtigkeit besser zu erkennen.

Nein, für diese Jahreszeit hatte ich wirklich nicht viel übrig.

Ein rascheln in der Nähe ließ mich neugierig den Kopf heben und aufmerksam die Ohren aufstellen. Die Quelle des Geräuschs war leicht auszumachen.

Da ist er wieder“, murmelte Cio.

Nicht weit von uns entfernt, halb verborgen im blühenden Unterholz, die Muskeln angespannt, um jederzeit fliehen zu können, stand ein grauer Wolf und beobachtete uns neugierig. Nein, er war kein Lykaner so wie Cio, und er war auch kein Misto, wie ich selber einer war. Das Tier das dort stand, war ein echter Wolf.

Das erste Mal hatte ich ihn vor ungefähr einem Jahr entdeckt. Halb verhungert hatte er die Mülltonnen meines Vaters umgeschmissen, um sich an den Resten darin satt zu fressen. Pech war nur, dass sie am Tag zuvor geleert worden waren. So gab es nichts außer einem leeren Pizzakarton, den er verdrücken konnte.

Der Lärm der umfallenden Mülltonne, hatte mich nach draußen gelockt. Als er mich kommen hörte, hatte er natürlich sofort das Weite gesucht, doch ich hatte ihn noch zwischen den Bäumen verschwinden sehen. Er war mager gewesen, das Fell stumpf und durch einen Unfall musste er seine Rute eingebüßt haben. Die Wunde war nicht mehr frisch gewesen, aber auch noch nicht wirklich alt. Vielleicht hatte er sie auch im Kampf mit einem anderen Wolf verloren. Das würde auch sein zerfetztes Ohr erklären.

Kurz war ich versucht gewesen den Tierschutz oder etwas in der Art anzurufen, hatte mich dann aber dagegen entschieden und ihm stattdessen die Koteletts rausgestellt, die eigentlich für das Mittagessen gedacht waren. Mein Vater war davon nicht sehr begeistert gewesen, der Wolf jedoch hatte sich gefreut und tauchte seit diesem Tag immer wieder in meiner Nähe auf. „Warum nur hat er so einen Narren an mir gefressen?“

Vielleicht steht er ja auf dich.“

Ich verkniff es mir die Augen zu verdrehen. „Er ist ein Wolf.“

Du nicht?“, fragte Cio so entsetzt, das meine Mundwinkel beinahe zuckten.

Du weißt was ich meine.“ Ich richtete mich in eine sitzende Position auf. Der Wolf verfolgte diese Bewegung ganz genau, machte aber keine Anstalten zu fliehen, oder sogar näher zu kommen.

Auch Cio erhob sich in seiner ganzen Pracht. Nur legte er dabei die Ohren an und fletschte knurrend die Zähne.

Die Reaktion kam prompt. Die neugierige Ader des Wolfes verschwand und das Tier wurde zu einem Spiegelbild von Cios Aggressivität.

Ich lachte leise. „Warum nur musst du ihn jedes Mal ärgern?“

Damit er nicht auf komische Gedanken kommt.“ Sein Knurren war ein dunkles Grollen.

Du meinst so wie du?“

Aus dem Zähnefletschend wurde ein Wolfsgrinsen. Im Nächsten Moment stürzte er sich spielerisch auf mich und rang mich lachend zu Boden. Wieder landete eine Hand voll altem Laub in meiner Schnauze, zusammen mit einem Büschel Haare von Cio. Er lachte als ich ihn an seinem Pelzkragen zerrte, um ihn von mir herunter zu bekommen, störte sich auch nicht daran, dass ich ihn kratzte und ihm den ganzen Hals vollsabberte.

Cio!“, lachte ich und versuchte ihn wegzudrücken. Leider war er um einiges schwerer als ich. „Hör auf!“

Nope.“ Er ging sogar soweit sich quer über mich zu werfen und sanft aber nachdrücklich an meiner Kehle zu knabbern.

Cio!“

Ich mache doch gar nichts.“

Oh, er wusste ganz genau was er dort trieb. Deswegen wunderte es auch keinen von uns beiden, als meine Wehrversuche nach und nach einfach erstarben, bis ich mich einfach genüsslich zurücklehnte und ihm knabbern ließ. Und dann ließ auch er sich langsam halb über mich sinken.

Weißt du eigentlich wie gut du riechst?“, fragte er mich leise.

Grinsend öffnete ich die Augen. „Wenn ich darüber nachdenke in was wir uns hier gerade alles gewälzt haben könnten, möchte ich gar nicht so genau wissen, wonach ich riechen könnte.“

Wieder hörte ich sein leises Lachen. „Keine Sorge, du riechst bezaubernd.“ Seine Schnauze wanderte über meinen Brustkorb hinunter zu meinem Bauch.

Oh nein, bitte nicht schon wieder.

Es gibt nur einen Weg, damit du noch bezaubernder wirst.“

Cio“, sagte ich mehr als nur ein wenig gequält und rollte mich auf die Seite. „Darüber haben wir doch schon gesprochen.“

Er hob den Kopf. „Nein, im Grunde hast du mich nur völlig entsetzt angeschaut und mich gefragt ob ich verrückt geworden bin.“

Es ist ja auch verrückt!“ erwiderte ich sofort. „Was sollen wir denn bitte mit einem Kind?“

Für den Anfang? Wir könnten es knuddeln und liebhaben.“

Schnaubend arbeitete ich mich auf die Beine und warf einen Blick Richtung Wolf. Er beobachtete uns immer noch, war jetzt jedoch äußerst wachsam. Ich wandte mich ab und machte mich langsam auf dem Weg zum Waldrand, wo wir vor Stunden unsere Kleidung zurückgelassen hatten.

Cio sprang sofort auf die Beine und trabte an meine Seite. „Später dann würde ich ihm zeigen wie man jagt, oder sich an unschuldige Jungfrauen heranschleicht.“ Er rempelte mich spielerisch an, aber ich ging nicht darauf ein, während ich mich an den Abend von vor drei Tagen zurück erinnerte.

Ich war nach der Arbeit in seine Wohnung gefahren und vor dem Fernseher fast eingeschlafen, als ich auf ihn gewartet hatte. In dem Moment in dem er durch die Tür kam, war ich jedoch wieder hellwach gewesen. Nicht weil ich ihn so unglaublich vermisst hatte und es kaum erwarten konnte mich ihn in die Arme zu werfen, sondern wegen dem Krach den er gemacht hatte. An diesem Abend war er so wütend gewesen, dass er ausversehen die kleine Schale auf dem Beistelltisch zerbrochen hatte, als er seine Schlüssel mit zu viel Wucht hineingeworfen hatte.

Was ist denn los?“, traute ich mich vorsichtig zu fragen, während er fluchend die Scherben zusammensammelte und dabei auch noch den Schlüssel versehentlich vom Schrank fegte.

Was los ist?“ Er funkelte mich an – nein, seine Wut war nicht gegen mich gerichtet. „Der Tribunus Umbra, der ist los!“

Sein Vater also. Ja, Diego war unter Königin Sadrija zum Tribunus Umbra ernannt worden, nachdem Umbra Drogan beschlossen hatte sich zur Ruhe zu setzten. Damit stand er nur einen Rang unter der Königin. „Was hat er denn getan?“

Ach nicht weiter, nur das übliche. Du weißt schon, mir erklärt ich sei der letzte Versager und eine Schande für jeden Lykaner, der sich Umbra nennt. Und – ach ja – dass ich es mit meiner Einstellung nie zu etwas bringen werde.“

Ach Diego, warum nur macht du das immer wieder? „Das hat er sicher nicht so gemeint.“ Ich hockte mich zu ihm, nahm ihm die Scherben aus der Hand und legte sie achtlos auf den Beistelltisch, bevor ich seine Hände in meine einschloss und sie leicht drückte. „Dein Vater liebt dich, er kann es nur einfach nicht so gut zeigen.“

Das ließ ihn Schnauben.

Du weißt doch wie er ist. Er …“

Was hältst du von einem Kind?“, fragte er urplötzlich.

Was?!“, war nicht nur da Wort das mir entschlüpfte, sondern auch das einzige, was in diesem Moment durch mein Hirn widerhallte. Hatte ich ihn gerade richtig verstanden?

Mit wachsendem Entsetzen beobachtete ich, wie er mir vorsichtig, ja sogar fast zögernd, eine Hand auf den Bauch legte, als wäre er sich nicht ganz sicher, wie genau er das richtig machte. „Wir haben nie über Kinder geredet. Dabei wollte ich immer welche haben.“

Jetzt?! „Bist du verrückt geworden?!“

Warum denn?“ Er nahm seine Hand von meinem Bauch, um sie an meine Wange zu legen und sah mir eindringlich in die Augen. „Hast du denn nie darüber nachgedacht?“

Nein!“ Oh Gott, wie kam er nur so plötzlich auf so absurde Gedanken? Unruhig erhob ich mich auf die Beine. „Ich bin gerade mal dreiundzwanzig. Du sogar erst zweiundzwanzig. Wir haben unsere Jobs und … mein Gott, wir leben ja noch nicht mal zusammen!“

Das können wir leicht ändern.“ Auch er erhob sich und rückte sofort etwas näher. Die Wut war aus seinem Gesicht gewichen, der Schelm zurückgekehrt, aber da war etwas in seinen Augen, das mir nicht gefallen wollte. Das mit dem Kind war sein Ernst.

Nein.“ Ich drückte seine Hand weg, als er versuchte unter mein Hemd zu schlüpfen. „Wie kommst du nur plötzlich auf so einen absurden Gedanken?“

Sein Lächeln verrutschte ein wenig. „Warum ist es für dich so absurd ein Kind mit mir zu haben?“

Da ist es doch gar nicht. Es ist …“

Dann sehe ich keinen Grund, warum wir es nicht versuchen sollten“, unterbrach er mich und versuchte mich zu küssen.

Cio“, sagte ich gequält und hielt sein Gesicht fest, damit er mir auch zuhörte, denn ich glaube zu erkennen, woher der plötzliche Kinderwunsch kam. „Die Probleme mit deinem Vater werden nicht einfach verschwinden, nur weil du selber Vater wirst.“

Er drückte die Lippen kurz zusammen, wich meinem Blick einen Moment aus und strich sich übers Kinn. „Du verstehst es nicht. Ich kann es besser als er. Ich würde mein Kind niemals so behandeln wie er es tut.“

Das glaube ich dir, aber es ist trotzdem kein guter Grund ein eigenes Baby in die Welt zu setzen.“

Das hat gar nichts mit meinem Vater zu tun“, behauptete er steif und fest.

Ich wartete schweigend.

Wirklich nicht“, fügte er ein wenig leiser hinzu.

Cio …“

Seufzend legte er seine Hand auf meine und schloss die Augen. „Denk einfach mal darüber nach.“

Und das hatte ich getan. Die ganze Nacht und auch den ganzen folgenden Tag. Und auch die beiden Tage danach. Doch da er es bis jetzt nicht mehr weiter erwähnt hatte, war ich davon ausgegangen, dass es nur eine Laune gewesen war und sich die ganze Angelegenheit damit einfach in Luft aufgelöst hätte. Tja, wie es nun schien, hatte ich mich da gewaltig getäuscht.

Und wenn es ein Mädchen wird, dann werde ich ihr Fußball beibringen“, erklärte er weiter, ohne meine Gedanken auch nur zu ahnen.

Fußball?“, fragte ich überrascht.

Klar. Fußball ist nicht nur etwas für Kerle. Es fordert die Konzentration, die Ausdauer und den Teamgeist. Das sind alles Dinge die auch Frauen gut gebrauchen können.“

Nicht mehr weit entfernt entdeckte ich die Waldgrenze, hinter der das kleine Haus meiner Eltern stand. Ja, sie wohnten wirklich fast zwischen den Bäumen. Als wir vor drei Jahren nach Silenda gezogen waren, hatte mein Vater mit Absicht ein so abgelegenes Haus gewählt. Er war noch immer ein wenig paranoid wegen der Ailuranthropen. Auch wenn sie uns seit damals, als sie meine Mutter praktisch unter den Augen meines Vaters aus dem Schloss entführt hatten, in Ruhe ließen. „Cio, wir werden kein Kind bekommen. Das ist albern.“

Ist es nicht“, behauptete er mit Inbrunst der Überzeugung und sprang mir in den Weg, damit ich anhalten musste. „Hast du denn wirklich mal darüber nachgedacht? Also so richtig meine ich? So abwegig ist das doch gar nicht.“

Natürlich habe ich darüber nachgedacht.“ Viel zu viel sogar, wie ich mir eingesehen musste. „Und genau deswegen sage ich ja, dass wir keines bekommen können.“

Ach nein?“ Sein Blick wurde sehr eindringlich. „Nenn mir nur einen guten Grund.“

Ich kann dir sogar mehr als einen nennen, aber im Großen und Ganzen ist ein Kind kein Mittel zum Zweck, nur weil du deinem Vater etwas beweisen willst.“

Das hat überhaupt nichts mit meinem Vater zu tun.“

Als wenn ich das glauben würde. Ich umrundete ihn und setzte meinen Weg fort. „Selbst wenn es stimmt was du sagst, gibt es noch weitere Gründe, die dagegen sprechen.“

Ach ja?“ Er sprang zurück an meine Seite. „Welche?“

Wir sind doch beide viel zu Jung um eigene Kinder zu haben.“

Es gibt Eltern die viel jünger sind als wir.“

Nein, das war kein gutes Argument.

Außerdem gibt es meiner Meinung nach kein perfektes Alter um Kinder zu bekommen.“ Er stupste mich an. „Wir können das jetzt genauso gut machen, wie in zehn Jahren.“

Nur mit dem Unterschied, dass wir in zehn Jahren um zehn Jahre reifer wären. „Aber für ein eigenes Kind müssten wir verheiratet sein und davon sind wir weit entfernt.“

Langsam breitete sich ein Grinsen auf seinen Lefzen aus – ja Wölfe konnten Grinsen. „Du willst mich heiraten?“

Das ließ mich einen Moment stocken, aber dann schüttelte ich einfach den Kopf. „Darum geht es doch gar nicht. Wir sind nicht verheiratet, wir wohnen noch nicht mal zusammen. Aber am Wichtigsten … ich …“ Ich verstummte. Und dieses Mal war ich es die mitten im Weg stehen blieb und den Kopf hängen ließ.

Auch er hielt an. „Was?“ fragte er und senkte seinen Kopf auf meine Höhe, als ich nicht sofort antwortete. „Was ist am Wichtigsten?“

Etwas das mir wirklich erst in den letzten Tagen klar geworden war. „Ich bin ein Misto, Cio.“

Und du glaubst das ist mir nicht bewusst?“

Scheinbar nicht, wenn er nicht ahnte worauf ich damit hinaus wollte. Seufzend setzte ich mich wieder in Bewegung, geradewegs auf den kleinen Strauch unter der großen Kastanie zu, vor dem wir unsere Sachen abgelegt hatten. Unter meinen Pfoten knirschten braune Blätter und vertrocknetes Geäst. „Ich bin ein Wolf, Cio. Ich bin ein Vampir und ich bin auch ein Mensch. Ich bin ein richtiger Mischling. Das ist als hätte man drei Leute in einen Mixer gesteckt, auf pürieren gedrückt und mich aus dem entstandenen Brei geformt. So wie ich bin, bin ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt Kinder bekommen kann.“ Und das schlimmste daran? Seit ich angefangen hatte darüber nachzudenken, bekam ich diesen Gedanken einfach nicht mehr aus meinem Kopf. Ich war noch nie eine von diesen Frauen gewesen, die bei dem Anblick eines Babys in Verzückung gerieten und das Sprechen verlernten, um seltsame Geräusche von mir zu geben. Doch wenn ich über die Möglichkeit nachdachte, ob ich jemals selber Leben in die Welt setzen konnte, erschien mir die Zukunft auf einmal nicht mehr rosig und farbenfroh.

Hey.“ Er schmiegte seinen Kopf an meinen. Ich genoss es wie sein Atem mir dabei übers Fell strich. „Der Vampir ist nur ein Teil von dir. Und Lykaner können sowohl mit Menschen, als auch mit anderen Lykanern Kinder bekommen. Zwei zu eins, unsere Chancen stehen also gar nicht so schlecht.“

Er verstand es wirklich nicht. „Aber es ist auch nicht nur die Frage ob ich schwanger werden kann. Jeder Misto der sich um ein Kind bemüht, setzt sich auch automatisch einer Risikoschwangerschaft aus. Cayenne ist zwei Mal schwanger gewesen und beide Male hatte sie darum gebangt ihre Babys halten zu können. Trotzdem sind wir alle weit vor unseren Terminen auf die Welt gekommen.“

Aber du bist nicht Cayenne.“

Seufzend sackte ich auf den Boden und begann ohne ein weiteres Wort mit meiner Rückverwandlung in einen Menschen. Weiter zu diskutieren hatte keinen Zweck, er verstand es einfach nicht.

In vielen Büchern und auch Filmen wird immer gezeigt und beschrieben, wie schmerzvoll die Verwandlung von einer Gestalt in die andere war. Leider lagen all die Autoren und Filmemacher damit völlig falsch. Vielleicht war es für sie einfach unvorstellbar, dass so eine große Veränderung völlig schmerzfrei vonstattengehen konnte. Aber so war es. Selbst jetzt, wo wir gerade mal Neumond hatten und das Lied der Nacht nur leise in meinen Ohren ertönte, war es, als würde ich in warmen Licht baden. Jede Zelle meines Körpers begann zu singen und sich auf diese mystischen Töne, die meinen ganzen Körper durchdrangen, einzustellen.

Ich spürte wie mein schwarzes Fell sich langsam unter die Haut zurückzog. Wirbel verschoben sich, meine Schnauze wurde kürzer und meine Ohren rutschten an meinem Kopf ein Stück hinunter. Ich entspannte mich in der Mondmelodie, ließ meine Muskeln locker.

Ein kühler Wind wehte über meine nackte Haut, während meine Pfoten zu Händen und meine Beine zu Armen wurden. Mein Steißbein kribbelte, als meine Rute sich zurückentwickelte.

Die Melodie in meinen Ohren verschwand und zurück blieb ich, eine junge Frau deren kurze, schwarze Haare zerwühlt vom Kopf abstanden, während meine dunkelblauen Augen versuchten sich an den neuen Sichtwinkel zu gewöhnen.

Ein Stück neben mir gab Cio ein wohltuendes Grummeln von sich. Auch er steckte mitten in der Verwandlung. Da er aber ein reinrassiger Werwolf war und bei weitem nicht so verkorkst wie ich, brauchte er nur halb so viel Zeit für die Metamorphose.

Da ich keine Lust hatte, nackt im Wald zu hocken und einem Fremden der vielleicht zufällig vorbei kam meinen blanken Hintern zu präsentieren, griff ich hastig nach meiner kurzen Jeans und schlüpfte hinein, ohne darauf zu achten, dass meine Brille bei der Aktion einen halben Meter davon flog. Musste ja nicht sein, dass alle Welt meine Speckröllchen sah. Ich sollte wirklich weniger Gummibärchen essen.

„Dir ist bewusst, dass ich weiß wie du nackt aussiehst?“

So wie Cio das sagte, rieselte mir ein angenehmer Schauder über den Rücken. Ich warf ihm einen kurzen Blick über die Schulter zu und schlüpfte dann eilends in mein kurzärmliges Karohemd. Jup, die Dinger trug ich immer noch. Ich mochte sie eben einfach. „Nur weil du es weist, müssen es aber noch lange nicht alle anderen wissen.“

„Stimmt. Wenn jemand anders dich so sehen würde, müsste ich ihm wohl ein paar Manieren beibringen.“

Einen Moment versuchte ich mir vorzustellen, wie Cio meine Ehre vor einem anderen Mann verteidigte, doch obwohl ich wusste, dass er dazu durchaus in der Lage war, wollte sich das Bild einfach nicht einstellen Davon abgesehen, dass Cio nicht sonderlich eifersüchtig war, liefen mir die Kerle ja nun auch nicht scharenweise hinterher, sodass er mich vor ihnen Verteidigen musste, um seinen Besitz zu beschützen. Genaugenommen gab es außer Cio sowieso keinen Kerl, der mich eines zweiten Blickes würdigte. Nicht das mich das störte. Eher wunderte es mich. Bis heute konnte ich nicht verstehen, wie ich so einen tollen Mann abbekommen hatte, oder auch dass er wirklich mir gehörte.

„Warum schaust du mich so an?“

Ertappt zuckte ich zurück.

Gerade war er dabei seine Jeans über den Hintern zu ziehen. Dabei sah ich ihn doch so gerne ohne. Obwohl ich diese festen Hinterbacken ja noch lieber anfasste …

„Weißt du“, sagte er gedehnt und begann lässig auf mich zuzuschlendern, ohne den Knopf an seiner Jeans zu schließen. Dabei standen ihm die braunen Haare verstrubbelt vom Kopf ab und verdeckten halb die kleine Narbe an seiner Schläfe. Der angeschlagene Schneidezahn dagegen wurde bei dem raubtierhaften Lächeln in seinem kantigen Gesicht deutlich sichtbar. „Wenn du mich schon praktisch mit den Augen wieder ausziehst, bevor ich es überhaupt in meine Klamotten hineingeschafft habe, können wir auch gleich jetzt damit beginnen zu schauen, wie kompatibel wir genau sind.“

Mein Lächeln verrutschte ein wenig nach unten. „Cio …“

„Ich mag es wie du meinen Namen aussprichst.“ Langsam drängte er mich zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die Rinde der alten Kastanie lehnte. Sein Atem wanderte über meine Stirn zu meiner Augenbraue, wo ich ein kleines Loch von einem Piercing hatte – ich hatte es schon lange nicht mehr getragen. Seine Lippen hauchten dort einen Kuss auf meine Haut, den ich selbst nach so vielen Jahren noch bis in die Zehenspitzen spürte.

„Würde dir das nicht gefallen?“, fragte er leise, während seine Lippen mein Gesicht liebkosten. „Ein kleines Du mit ganz viel Ich?“ Seine Hand legte sich ehrfurchtsvoll auf meinen Bauch. „Stell dir nur mal vor ein kleines Leben hier zu spüren, wie es wächst.“

Ich schob seine Hand weg und verschränkte die Arme davor. „Danke, aber ich bin bereits rund genug, da muss nichts mehr wachsen.“ Und außerdem war es dank meiner genetischen Konstellation so gut wie ausgeschlossen, dass ich irgendwann mal ein eigenes Kind in den Armen halten würde.

Cio nahm die Zurückweisung zum Anlass, mir noch mehr auf die Pelle zu rücken. Ein Griff an der Hüfte und schon presste er mich an sich und schien nicht gewillt, mich in der nächsten Zeit wieder loszulassen. „Je runder du wirst, desto mehr Zaira gibt es für mich.“

Dafür bekam er eine hochgezogene Augenbraue. „Wenn ich irgendwann zweihundert Kilo wiege, dann bereust du diese Worte.“

„Wenn du irgendwann mal zweihundert Kilo wiegen solltest, werde ich deinen Gummibärchenvorrat verstecken und anschließend jedes einzelne Kilo an dir genauestens unter die Lupe nehmen.“ Er legte seine Hand auf meinen Hintern, um mir deutlich aufzuzeigen, wie genau er beabsichtigte, diese Untersuchung an mir vorzunehmen.

„Das würde ich dir sogar glatt zutrauen“, säuselte ich an seinen Lippen. Wann genau war sein Gesicht so nahe gekommen?

„Du kennst mich einfach zu gut.“

Wäre ja auch traurig wenn nicht. Ich meine, obwohl ich offiziell noch bei meinem Vater wohnte, schlief ich sechs von sieben Nächten die Woche bei meinem Freund. Dann arbeiteten wir auch noch mehr oder weniger am gleichen Ort, waren also praktisch vierundzwanzig Stunden am Tag in der Nähe des anderen. Es wäre schon sehr deprimierend, wenn er für mich nach all dieser Zeit noch ein Fremder wäre.

Er strich mit seinen Lippen über meine. „Komm schon Schäfchen, lass uns ein Baby bekommen.“

Oh nein. Seufzend machte ich mich von ihm los und trat ein Schritt zurück. „Nein Cio“, sagte ich und machte mich auf die Suche nach meiner Brille.

Cio währenddessen blieb stehen und beobachtete mich nachdenklich. Er schien nicht sauer wegen der Abfuhr, eher so als versuchte er herauszufinden, wie er mich zum umdenken motivieren könnte.

Langsam bekam ich Angst, dass er es wirklich ernst meinte und er von dieser wahnwitzigen Idee nicht mehr ablassen würde. Selbst als er damit begann seine Schuhe anzuziehen und anschließend nach seinem Shirt angelte, blieb dieser Blick in seinen Augen. Naja, zumindest bis er sich das Shirt über den Kopf ziehen wollte. Doch plötzlich hielt er inne, schnupperte und ließ die Klamotte dann angewidert fallen. „Verdammt noch mal“, knurrte er und wirbelte auf der Suche nach etwas um die eigene Achse.

Ich hielt mit meinen Schnürsenkeln inne. „Was ist denn los?“

„Was los ist? Der blöde Wolf hat auf mein T-Shirt gepisst!“

Ich blinzelte, schaute zum Shirt, dann wieder zu ihm und weiter zu dem Wolf, der uns zwar gefolgt war, sich aber weiterhin in angemessener Entfernung aufhielt. Und dann kicherte ich.

„Ja, lach du nur“, grummelte er beleidigt.

Ich grinste zu ihm hinauf. „Das kommt davon, dass du ihn immer anknurrst.“

Seine Mundwinkel sanken ein Stück herab. „Das ist ein Rüde.“ Ausgestreckter Arm auf den Wolf. „Warum glaubst du, folgt ein Rüde einer Hündin?“

Lachend warf ich den Kopf zurück, erhob mich dann ein wenig schwerfällig und schlang die Arme um seinen Nacken. „Du bist doch nicht etwa eifersüchtig auf ein Tier, oder?“

„Natürlich nicht.“ Er schlang seinerseits die Arme um herum. „Ich bin viel zu umwerfend, um mich von so einer räudigen Töle bedroht zu fühlen.“

„Und so bescheiden.“

Das kommentierte er nur mit einem Zucken seines Mundwinkels. „Wir beide gehören zusammen. Das ist sowohl mir als auch dir bewusst, aber er“ – er ruckte mit dem Kopf Richtung Wolf –„weiß das nicht und deswegen muss ich ihm das klar machen.“

„Dann solltest du deine Sachen das nächste Mal aber nicht auf dem Boden liegen lassen, sonst kann es passieren, dass du anschließend nackt nach Hause gehen musst.“

Sein Lächeln wurde eine Spur wölfisch. „Vielleicht sollte ich ja mal deine Klamotten verschwinden lassen, damit du nackt durch die Gegend laufen musst.“

„Das würde dir sogar gefallen, was?“

Dazu brauchte er nichts sagen, sein Lächeln war mir Antwort genug.

Schmunzelnd und Kopfschütteln löste ich mich von ihm, nahm seine Hand und zog ihn Richtung Haus. „Lass dir bloß keine Dummheiten einfallen.“

„Zu spät“, war sein einziger Kommentar. Dann packte er mich plötzlich von hinten, wirbelte mich einmal im Kreis und drückte mir dann einen so innigen Kuss auf den Nacken, dass es mir heiß und kalt den Rücken runterlief.

Erst schrie ich erschrocken auf, dann kicherte ich und kuschelte mich genüsslich in seine Arme. Leider wurde ich im nächsten Moment von einer sehr vertrauten Stimme gerufen, bei dessen Klang mir ein Seufzen über die Lippen kroch.

Mein Vater. Wie bereits erwähnt, er wohnte zusammen mit meiner Mutter – und offiziell auch mir – direkt am Waldrand. Und scheinbar hatte er gehört, dass ich so gut wie Zuhause war.

„Wir können uns auch wegschleichen und uns bei mir verkriechen.“

Ich lächelte über die Schulter zu ihm hinauf. „Das würde mir zwar gefallen, aber ich habe versprochen mit ihm in die Stadt zu fahren und um das Geschenk für Oma in Auftrag zu geben.“

„Verschieb es doch einfach auf morgen.“ Er knabberte an meinem Ohrläppchen.

Uhhh, Gänsehaut. „Ich habe es doch schon auf heute verschoben.“

Nun war es an ihm zu seufzen. „Du kannst so grausam sein.“

Wieder wurde ich gerufen.

„Ich komme ja gleich!“, rief ich zurück und drehte mich dann in Cios Armen herum. „Und wir sehen uns später. Komm zu mir in den Stall, bevor du deinen Dienst antrittst. Ich kann bestimmt ein paar Minuten für dich frei machen.“

„Ich verlasse mich drauf.“ Er beugte sich vor und raubte mir noch einen Kuss von den Lippen, bevor er sich mit einem spitzbübischen Lächeln von mir abwandte, den Wolf noch einmal anknurrte und sich dann in einem schnellen Laufschritt von mir entfernte.

Ich sah ihm noch einen Moment nach, da wurde ich auch schon zum dritten Mal gerufen.

„Jetzt sei doch nicht immer so ungeduldig!“, knurrte ich missmutig und machte mich auf dem Weg zum Haus.

Der Garten meiner Eltern lag direkt hinter der Baumgrenze. Ein wenig verwildert und zugewachsen. Weder meine Mutter, noch mein Vater hatte ein Interesse daran, etwas daran zu ändern. Und ich hatte schlichtweg keine Zeit. Wenn ich nicht im Stall war, dann war ich bei Cio oder Cayenne.

Mein Vater stand vor der Tür auf der kleinen Holzterrasse und schaute mir ungeduldig entgegen. Trotz seines Alters war er noch ein recht ansehnlicher Vampir. Okay, so alt war er eigentlich noch gar nicht, besonders wenn man bedachte, dass sowohl Vampire als auch Werwölfe doppelt so alt wie Menschen werden konnten. Aber er besaß diese starke Aura eines gereiften Vampirs, die ihn weitaus mächtiger wirken ließ, als er in Wirklichkeit war.

Und weitaus gefährlicher. Nun gut, zumindest für mich. Für andere würde ich die Hand nichts ins Feuer legen.

Seine Augen hatten die Farbe von winterlichem Eis, seine Haare waren schwarz wie die Nacht und seine Hautfarbe genauso blass wie meine. Ich war ihm praktisch wie aus dem Gesicht geschnitten, außer dass meine Züge viel weiblicher waren – zum Glück – und meine Augen von einem dunklen Ozeanblau waren. Laut meiner Mutter waren sie einst genauso hell wie die seinen gewesen, aber das lag schon so lange zurück, dass ich mich selber nicht mehr daran erinnern konnte.

„Du bist zu spät“, war seine Begrüßung.

Meine Laune rauschte die Skala hinunter. „Ich habe gesagt, wir treffen uns bevor ich zur Arbeit gehe, ich habe keine Uhrzeit genannt.“

Seine Mundwinkel sanken ein Stück herab. „Es dürfte trotzdem nicht zu viel verlangt sein, nicht erst zehn Minuten vor deinem Dienstbeginn hier aufzutauchen. Cio wir auch mal ein paar Stunden ohne dich zurechtkommen.“

Nur um das mal festzuhalten, meine Schicht begann erst in drei Stunden, also hatte ich noch reichlich Zeit. Und auf den Teil mit Cio würde ich gar nicht erst eingehen. Keine Ahnung warum, aber mein Vater hielt nicht viel von Cio. Zwar hatte er es nie so deutlich ausgedrückt, aber da gab es immer mal wieder kleine Anspielungen. Und ich konnte mir nicht einmal erklären warum. Er hatte meinem Vater nie etwas getan, behandelte ihn mit gebührendem Respekt und trotzdem schaffte er es nicht in seinem Ansehen zu steigen. Anfangs hatte ich noch geglaubt, es liege daran dass mein Vater fürchtete mich an meinen Freund zu verlieren, aber das konnte ich mittlerweile guten Gewissens ausschließen. „Wollten wir nicht irgendwo hin?“, fragte ich daher nur und trat an ihm vorbei ins Haus.

Die Mundwinkel meines Vaters sanken noch weiter hinunter, doch das hielt ihn nicht davon ab, mir auf dem Fuß ins Haus zu folgen. „Hast du deine Arbeitszeiten geklärt, damit du an Omas Geburtstag frei hast?“

„Ja Papa, schon vor Monaten, als die Urlaubspläne ausgearbeitet wurden.“ Die Terrassentür führte mich direkt in die Küche des Hauses. Sie war nicht so modern wie unsere alte Küche, aber dieses Haus war ja auch weitaus älter, als die kleine Dreizimmerwohnung, die wir in Koenigshain bewohnt hatten. Dafür war sie aber gut gepflegt.

Ich hielt zielgenau auf den Vorratsschrank in der Ecke zu und zog die Tür mit einem Quietschen auf.

„Das weiß ich, aber hast du dich auch noch einmal versichert, dass mit deinem Urlaub alles klar geht?“

Nur ruhig. „Ja Papa.“ Ich schnappte mir eine Tüte mit Fruchtgummi aus dem Schrank und schloss die quietschende Tür wieder, bevor ich mich zu ihm umdrehte. „Ob du es glaubt oder nicht, ich habe mir sogar Gedanke darüber gemacht was ich auf Oma Geburtstag anziehe.“ Man wird schließlich nur einmal im Leben Einhundert Jahre.

Mein Vater runzelte skeptisch die Stirn. Er glaubte mir nicht. „Ach ja? Und was?“

„Das hier.“ Ich zeigte an mir hoch und runter. „Das gleiche wie jeden Tag, aber hey, wie du siehst habe ich mir ein paar Gedanken gemacht, das musst du mir zugutehalten.“

Ob er es tat oder nicht, ein Lächeln zupfte an seinem Mundwinkel.

„Und?“ Ich trat zur Schublade, um mit der Schere darin die Tüte in meiner Hand aufzuschneiden. Ja mir war durchaus bewusst, dass ich sie auch einfach aufreißen könnte, aber da ich bei zahlreichen Versuchen die Tüte auf diese Art zu öffnen schon mehr als einen Gummibärchenregen ausgelöst hatte, hatte ich mir angewöhnt doch besser kleine Hilfsmittel zu benutzen. Ein Regen aus Gummibärchen war zwar lustig, aber hinterher musste man die Sauerei auch wieder beseitigen. Und essen konnte ich sie dann auch nicht mehr. „Wo ist Mama?“

„In der Stadt bei Bronco. Wir holen sie auf dem Weg zum Künstler ab.“

Bronco war ein Lykaner, den meine Mutter noch aus ihrer Zeit ihn Arkan kannte. Sie waren damals schon Freunde gewesen und seit er vor einem knappen Jahr nach Silenda gezogen war, um hier ein Kosmetikgeschäft zu eröffnen, trafen die beiden sich regelmäßig. Manchmal, wenn es wirklich viel zu tun gab, half sie ihm sogar in seinem Laden. Es machte ihr Spaß.

Ich fand ihn irgendwie … seltsam. Kein Wunder also, dass meine Mutter sich so gut mit ihm verstand. Ailuranthropen waren schließlich dafür bekannt, Seltsamkeiten anzuziehen. Man musste nur ein meine Tante Lalamika denken, die immer irgendwo in ihrem Umfeld herumspukte.

„Und da meckerst du rum, dass ich zu spät bin.“ Meine Mutter von Bronco loszureißen, war nicht immer so einfach. Ich schnitt die Tüte auf, räumte alles wieder ordnungsgemäß weg und stopfte mir dann ein Gummibärchen in den Mund. Hmmm, das hatte ich gebraucht.

Mein Vater verzog das Gesicht. Er wusste nur zu gut, worauf ich anspielte. „Umso wichtiger, dass du nicht auch noch trödelst. Also mach dich bitte endlich fertig. Husch.“

Hatte er gerade wirklich husch gesagt? Schnaubend wandte ich mich von ihm ab und verließ die Küche Richtung Bad. Der Mann hatte mich gerade wirklich wie einen unerzogenen Hund aus der Küche gescheucht. Wir sollten hier dringend mal ein paar Regeln aufstellen.

Auf halbem Wege die Treppe hinauf, überlegte ich es mir jedoch noch einmal anders. Es gab da eine Sache, die ich schon seit einer ganzen Weile tun wollte, vor der ich mich bisher aber immer wieder gedrückt hatte. Jetzt allerdings waren es nur noch knapp drei Wochen bis zum Geburtstag meiner vampirischen Großmutter und wenn ich nicht langsam fragte, dann konnte ich es auch ganz bleiben lassen. Darum ging ich nicht ins Bad, sondern verschwand in meinem Zimmer.

Es war beinahe quadratisch. Von der Tür aus rechts, stand mein Bett, geradezu, direkt unter dem Fenster, hatte ich meinen Schreibtisch mitsamt meinem Computer hingestellt. An der linken Wand, stand über die ganze Raumlänge, eine Kombination aus offenem Regal und Kleiderschrank. Mein Ziel war mein Schreibtisch, auf dem ich mein Handy liegen gelassen hatte, bevor ich mit Cio in den Wald verschwunden war.

Ich tauschte es gegen die Tüte mit Gummibärchen aus, ließ mich auf den Stuhl sinken und suchte die Telefonnummer meiner zweieiigen Zwillingsschwester Kiara heraus. Doch dann zögerte ich – so wie immer.

Das Verhältnis zu meiner Schwester war … kompliziert. Wegen Umständen, auf die keiner von uns Einfluss gehabt hatte, waren wir beide getrennt voneinander aufgewachsen. Sie war bei unserer leiblichen Mutter Cayenne geblieben, wohingegen ich zu unserem Vater und seiner Lebenspartnerin Tarajika gekommen war.

Ich war in den Wissen aufgewachsen, dass es sie gab und meine Mama nicht meine biologische Mutter war. Cayenne jedoch hatte Kiara die Wahrheit verheimlicht und so hatte sie erst von knapp drei Jahren erfahren, dass es mich gab. Und auch, dass ihr Vater nicht der Mann war, der sie großgezogen hatte, sondern ein Vampir.

Zu behaupten, sie hätte es nicht gut aufgenommen, wäre stark untertrieben. Die ersten Monate hatte sie alles geleugnet und jedem böse Blicke zugeworfen, der behauptete, sie sei etwas anderes, als eine reinrassige Lykanerin. Als sie sich dann nicht mehr länger hatte vor der Wahrheit verschließen können, hatte sie in einem Zustand ständiger Wut und Enttäuschung gelebt, in dem sie alle und jeden gehasst hatte. Vor ungefähr einem Jahr hatte sich das endlich gebessert. Sie hatte damit begonnen die Wahrheit zu akzeptieren und sich damit zu arrangieren. Nun war sie wieder die kleine Prinzessin, die sie schon ihr Leben lang gewesen war. Nur leider kapselte sie sich weiterhin von meinem Teil der Familie ab.

Wenn ich bei Cayenne zu Besuch war, schafften wir beide es mittlerweile manchmal sogar ein vernünftiges Gespräch miteinander zu führen, doch von dem Punkt, an dem sie mich wirklich als ihre Schwester betrachtete, waren wir noch meilenweit entfernt. Aber Marica war nicht nur meine Großmutter, sie war auch Kiaras und sie sollte zumindest die Chance bekommen, uns in drei Wochen nach Arkan zu begleiten.

Papa würde sie nicht fragen. Er hatte in den letzten Jahren einige Annäherungsversuche unternommen, aber nachdem sie ihm das letzte Geburtstagsgeschenk, dass er ihr gemacht hatte, mit der Botschaft zurückgeschickt hatte, er solle sich von ihr und ihrem Leben fernhalten, hatte er es schweren Herzens aufgegeben. Sie wollte einfach keinen Vampir als Vater haben – nicht mal als Erzeuger.

Es bedrückte ihn, dass wusste ich und manchmal würde ich ihr deswegen am Liebsten den Hals umdrehen, aber wer immer wieder zurückgewiesen wurde, der gab halt irgendwann auf. Jetzt lag es bei ihr den ersten Schritt zu tun, doch selbst wenn sie ihre Meinung in der Zwischenzeit geändert haben sollte, war sie viel zu Stur, um nachzugeben. Darum lag es jetzt an mir, diesen Anruf zu tätigen. Die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt.

Ich ahnte bereits, wie dieser Anruf enden würde, trotzdem wählte ich ihre Nummer und hielt mir das Handy ans Ohr. Es klingelte vier Mal, bevor am anderen Ende abgenommen wurde.

„Kiara Amarok, politische Vermittlerin der Simultanen.“

Nein, ich hatte keine Ahnung, warum sie sich immer so am Telefon meldete, aber da es nicht das erste Mal war, wunderte ich mich nicht weiter darüber. „Hey, ich bin es, hast du einen Moment Zeit?“

„Wofür?“ Ihre Stimme kühlte deutlich ab.

„Nur zum Reden. Ich möchte dich etwas fragen.“ Ich nahm mir ein grünes Gummibärchen aus der Tüte und stellte es aufrecht auf meinen Schreibtisch.

„Dann mach schnell, ich habe heute noch einige wichtige Dinge zu erledigen.“

Die Tüte knisterte, als ich noch ein grünes Gummibärchen herausholte und es neben das erste stellte. Zwillinge. „Ähm ja, Folgendes. Papas Mutter, also unsere Oma, feiert in drei Wochen ihren hundertsten Geburtstag und naja, ich wollte fragen, ob du nicht vielleicht Lust hast uns nach Arkan zu begleiten. Wir bleiben das ganze Wochenende da und sie würde sich sicher freuen, dich mal kennenzulernen.“

Sie schnaubte abfällig. „Nein danke, kein Interesse. Außerdem habe ich viel zu viel zu tun. Ich bekleide ein wichtiges Amt, da kann ich nicht einfach so verschwinden.“

„Es ist doch erst in drei Wochen“, versuchte ich es erneut, obwohl mir bereits klar war, dass ich auf verlorenem Posten kämpfte. „Wenn du mit Sadrija sprichst, kannst du dir sicher ein paar Tage frei nehmen.“

„Zaira, bitte, ich will mit dieser Frau nichts zu tun haben, also hör auf zu drängeln. Sie ist deine Großmutter, nicht meine. Meine heißt Celine und ist keine Vampirin.“

Sie darauf hinzuweisen, dass Celine auch meine Oma war, würde mich sicher nicht weiterbringen. „Na gut, okay. Ähm … falls du es dir noch mal anderes überlegst, kannst du dich ja bei mir melden.“

Darauf ging sie gar nicht ein. „Sonst noch etwas?“

„Nein, das war alles.“

„In Ordnung. Ich lege dann jetzt auf, ich habe nämlich noch zu arbeiten.“

„Okay, wir sehen uns.“ Ich war mir nicht sicher, ob ihr meine Verabschiedung noch zu Ohren gekommen war, bevor sie das Telefonat beendet hatte.

Mit einem tiefen Atemzug legte ich das Handy zurück auf den Schreibtisch und starrte die beiden Gummibärchen an. Das war ja super gelaufen.

 

°°°

 

Neben den vertrauten Gerüchen nach Heu, Pferd und Dung und gewohnten Geräuschen der scharenden Tiere, war das schallende Lachen mehrerer Leute eher als ungewöhnlich einzustufen. Ich hörte es schon lange bevor ich den Stall betrat. Und als ich dann drinnen war, begann auch ich zu grinsen.

Vor ein paar Wochen hatten wir ein neues Pferd bekommen. Butch, ein dunkelbrauner Appaloosa, der gerade mal drei Jahre war und nun angeritten werden sollte. Wie es schien hatte Ryan, der neue Stallhelfer, ihm gerade zum ersten Mal einen Sattel aufgelegt und versuchte ihn nun damit aus dem Stall zu führen.

Butch schien von dieser Idee überhaupt nicht begeistert zu sein. Mit dem Sattel war jeder Schritt mehr als nur widerwillig und er riss die Beine dabei immer so hoch, wie einer Katze der man Strümpfe angezogen hatte. Es sah einfach nur lächerlich aus, wie staksig er da lief.

Neben dem Vampir Ryan, der versuchte Butch mit gutem Zureden aus dem Stall zu führen, waren noch meine Kollegin Pauline und meine Vorgesetzte Gisel, anwesend und wohnten diesem überaus lächerlichen Specktakel bei.

Als ich mich zu ihnen gesellte, rümpfte ich die Nase. Irgendwas roch hier seltsam.

„Ich hab ja schon viel gesehen“, erklärte Gisel. Sie war hier die Vorarbeiterin und herrschte mir eiserner Hand über die Stallungen. „Aber sowas ist selbst mir bisher noch nicht unter gekommen.“

Pauline verschränkte schmunzelnd die Arme hinter dem Rücken. Sie war eine der wenigen Lykaner, die hier im Stall arbeiteten. Normalerweise kümmerten sich ja Vampire um die Tiere der Majestäten, aber hin und wieder gab es halt auch unter den Wölfen, einen der besonders gut mit Tieren konnte. Und sie war heimlich in Cio verschossen. Wahrscheinlich sollte mich das stören, aber sie hatte auch nie einen Versuch unternommen unternommen, ihn auf sich aufmerksam zu machen und Cio hatte keine Ahnung davon. „Wir könnten ihn auf einem Jahrmarkt ausstellen.“

„Ich glaube nicht, dass König Carlos sich damit einverstanden erklären würde.“

Das konnte ich mir auch nicht vorstellen, besonders da dieser Hengst ein Geschenk an seine Gefährtin Königin Sadrija, zur bevorstehenden Geburt ihres ersten gemeinsamen Kindes, war. „Es ist einfach ungewohnt für ihn“, mischte ich mich in das Gespräch mit ein und versuchte gleichzeitig den Ursprung dieses süßlich modernden Geruchs auswendig zu machen. Er kitzelte mir richtig in der Nase. „Gebt ihn ein paar Tage, dann wird er sich schon an den Sattel gewöhnen.“

Gisel, eine ältere Frau mit einem strengen Pferdeschwanz am Hinterkopf musterte mich übertrieben. Sie hatte mich auf dem Kicker, seit ich den Hof das erste Mal betreten hatte – damals, als ich noch verheimlicht hatte, wer ich wirklich war. Sie schien es mir bis heute nicht verziehen zu haben, dass ich lieber mit Cayenne zusammen gewesen war, als mich um die Pferde zu kümmern. „Schön dass du auch noch zum Dienst antrittst.“

Es gab verschiedene Sachen die mir auf der Zunge lagen, aber da ich Auseinandersetzungen lieber vermied – besonders aus so lächerlichen Gründen wie diesem hier – ignorierte ich ihre Worte einfach. „Was gibt es zu tun?“

Ihre Augen verengten sich leicht. Sie wusste genau was ich da tat, konnte aber nichts dagegen unternehmen. „Die Boxen eins, sieben und neun müssen gereinigt werden. Goldie scheint eine Bindehautentzündung zu haben. Der Tierarzt ist bereits bestellt, ich weiß aber nicht genau, wann er hier eintrifft. Dann erwarten wir noch eine Futterlieferung und Ryan hat hier drinnen vorhin einen seltsamen Geruch vom Heuboden aufgefangen – wahrscheinlich wieder eine verendete Maus. Ich möchte das du sie entfernst.“

War ja klar, dass sie sowas Widerliches wieder auf mich abwälzte. Aber jetzt war mir wenigstens klar, was es mit diesem überaus lieblichen Duft auf sich hatte. „Ich kümmere mich gleich darum.“

Sie nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet. Dann führte sie ihre Liste der anfallenden Dinge noch weiter aus und mit jedem Punkt den sie hinzufügte, wurde mir deutlicher bewusst, dass ich nachher wahrscheinlich keine Zeit für Cio abzwacken konnte.

„Wenn du mit all dem Fertig bis und dann noch Zeit haben solltest, kannst du dich noch Adventure kümmern, der muss mal wieder ein wenig gearbeitet werden.“

Das stimmte mich gleich wieder ein wenig friedlich. Adventure war einer von sieben Lipizzanern, die die königlichen Stallungen beherbergten. Er war ein tolles Pferd, nur leider immer in wenig unterfordert. „Klar, kein Problem.“

Leises Hufgeklapper kündete davon, dass Ryan es endlich geschafft hatte, Butch durch ruhiges Zureden aus dem Stall zu führen.

„Dann mal an die Arbeit, meine Damen.“ Sie klopfte Pauline einmal auf die Schulter und verließ dann auch den Stall.

Ich seufzte schwer. „Ich hasse Mäuse.“

Pauline grinste mich an. Sie war ein wenig kleiner als ich. Ihre Ohren waren ein wenig zu groß für ihren Kopf, aber ihre offene braune Mähne kaschierte das sehr gut. „Wenn du möchtest, dann suche ich die Maus und fängst schon mal mit den Boxen an.“

So verlockend das war, ich musste ablehnen. Nicht weil es mehr Spaß machte, verendete Kadaver zu suchen als Pferdemist zu entsorgen, aber ich wollte nicht dass Gisel später behaupten konnte, ich würde meine Arbeit auf andere abwälzen.

„Dann halt nicht.“ Pauline schnappte sich eine Mistforke und eine Schubkarre und brachte alles in die hintere Box. „Hast du dir jetzt eigentlich den Film angesehen den ich dir empfohlen hatte?“

Ich war schon auf halbem Wege nach hinten um mir die Leiter zu holen, drehte mich dann aber wieder zu ihr herum. „Welcher Film?“

Sie verdrehte die Augen. „Hörst du mir eigentlich nie zu? Ich rede von dem mit Will Smith, der neue auf Netflix.“

Ach so, denn meinte sie. „Ich besitze nicht mal Netflix.“

Der folgende Blick gab mir das Gefühl ein Alien von einem weit entfernten Planeten zu sein. „Jeder hat Netflix.“

„Ich nicht.“

„Dann ändere das endlich, du musst ihn dir unbedingt anschauen.“

Da ich noch nie jemand gewesen war, der viel Zeit vor dem Fernseher verbrachte, würde ich das nicht tun. Computer waren viel interessanter. „Ich muss vieles, aber das nicht“, erklärte ich daher.

Pauline steckte den Kopf zur Box heraus. „Warum nur musst du eigentlich immer widersprechen?“

Ich … bitte was? „Das stimmt doch gar nicht.“

„Oh doch.“ Ihr Kopf verschwand wieder. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass du schon allein aus Prinzip widersprichst, weil du gar nicht anders kannst.“

Nur um das mal klar zu stellen, sie übertrieb maßlos. „Ich widerspreche nur, wenn ich nicht der gleichen Meinung bin.“

„Ja ja, rede dir das nur ein.“

Seufzend wandte ich mich von Pauline ab und machte mich daran die Leiter zu holen. Ich mochte Pauline, sie war eine nette Kollegin, aber auch nette Kollegen konnten einem hin und wieder auf den Wecker gehen. Nur weil ich nicht ihre Meinung vertrat, hieß das schließlich noch lange nicht, dass ich rechthaberisch war und allen und jedem widersprach.

Hinterließ ich bei den Leuten wirklich einen solchen Eindruck? Über diese Frage grübelte ich noch immer nach, als ich die Leiter von dem Unrat in der Ecke befreite, mir noch einen alten Lappen schnappte und sie durch die Stallgasse nach vorne zum Heuboden trug.

Gerade als ich sie aufstellte, kam Ryan wieder herein – ohne Pferd. Er musste Butch irgendwo draußen festgebunden haben. Er wollte an mir vorbei gehen, aber da fiel mir noch etwas ein.

„Warte mal“, hielt ich ihn auf und drehte mich zu ihm herum. „Du hast gestern doch mit Nessie gearbeitet, oder?“

Seine Stirn runzelte sich leicht. „Ja, warum?“

„Weil mir aufgefallen ist, dass sie das linke Hinterbein nicht richtig belastet.“

„Ach das.“ Er winkte ab. „Sie hat sich bei der Arbeit vertreten. Gorge weiß schon bescheidet und hat sich um alles gekümmert.“

Das war gut. „Okay, ich wollte nur nachfragen.“

„Alles gut.“ Damit wandte er sich wieder ab und widmete sich dem eigentlichen Grund für seinen Stallbesuch.

Ich dagegen konnte mich nun nicht länger vor der vor mir liegenden Aufgabe drücken. „Okay du kleiner stinkender Kadaver, mach dich bereit, jetzt komme ich.“

Pauline lachte über meine Kampfansage und selbst Ryan riskierte noch einen kurzen Blick in meine Richtung, als ich die Leiter in Angriff nahm. Zum Glück war ich schwindelfrei, wenn auch ein kleinen wenig klaustrophobisch.

Der Heuboden befand sich rund dreieinhalb Meter über dem Boden und war wie der Name schon sagte, voller Heu. Es stapelte sich bis unter die Decke. Und hier sollte ich eine klitzekleine Maus finden? „Warum nur haben wir hier keine Katzen, die sich um sowas kümmern?“ Von dem offensichtlichen einmal abgesehen.

Ich meine, ich verstand schon, warum Katzen sich aus dem königlichen Hof der Lykaner fernhielten. Es irritierte sie, dass wir nicht nach dem aussahen nach dem wir rochen. Sie spürten instinktiv wer das größte Raubtier war – wobei ich allerdings hinzufügen musste, dass sie wenigsten Lykaner ihrerseits eine Abneigung gegen Katzen hegten.

Natürlich war es auch schon vorgekommen, dass sich Katzen hier häuslich niedergelassen hatten, aber das eher selten. Und im Moment war weit und breit nur ich, die sich dem Problem annehmen konnte.

„Na dann mal los.“ Als Misto waren meine Sinne schwächer ausgeprägt als die eines reinblütigen Lykaners, oder eines gereiften Vampirs, aber immer noch stärker als die eines Menschen. Daher hielt ich mich gar nicht lange damit auf, das Heu auf der Suche nach der Maus auseinander zu nehmen, sondern verließ mich auf meinem halbwegs ausgeprägten Geruchssinn.

Ich war kaum auf den Heuboden geklettert, da wehte mir schon die verdorben süßliche Note von gammelnden Fleisch, um die Nase. Wie-der-lich. Er schien aus der hinteren Ecke zu kommen.

Bewaffnet mit Lappen und einer gehörigen Portion Ekel, machte ich mich auf den Weg durch das Heu. Der Geruch wurde immer schlimmer. Die sommerliche Hitze machte es auch nicht gerade Besser. Ein Wunder das nicht bereits der ganze Stall so extrem danach stank. Je näher ich kam umso intensiver versuchte die Luft meine Nase zu verpesten und langsam wurde mir klar, dass hier sicher keine Maus verreck war. Eher ein Waschbär oder ein Marder. Und auch, dass er schon länger als ein paar Stunden tot sein musste.

„Wo versteckst du dich, du stinkender Haufen, wo hast du dich verkrochen?“

Unten hörte ich wieder Pauline lachen.

„Ja, amüsiere du dich nur, du muss hier ja nicht die Bestattungsunternehmerin spielen.“

„Ich habe dir angeboten es zu machen, du wolltest nicht. Selbst schuld.“

Meine gemurmelte Antwort blieb ungehört.

In der Ecke waren ein paar Ballen gestapelt, doch bevor ich dazu kam dahinter nachzuschauen, hörte ich wie eine weitere Person den Stall betrat.

„Hey du“, begrüßte Pauline den Neuankömmling.

„Hey.“

Cio.

Kurz war ich versucht den versteckten Leichnam noch ein Weilchen vor sich hinrotten zu lassen und mich stattdessen mit anderen Dingen zu beschäftigen – mit weitaus angenehmeren – aber dann würde ich das später nachholen müssen und ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Geruch sich mit der Zeit verbessern würde.

„Was machst du denn schon hier?“, fragte ich deswegen laut, ohne meine Arbeit zu unterbrechen.

„Auf den Heuboden“, erklärte Pauline und ich sah genau vor mir, wie sie zur Leiter zeigte und Cio dem Fingerzeig mit den Augen folgte.

Da, da kam der Geruch her, gleich hinter diesen beiden Heuballen. Nun gut, das würden wir jetzt klären. Ich ergriff den oberen Ballen und wuchtete ihn zur Seite. Zeitgleich hörte ich wie die Leiter benutzt wurde, dann steckte Cio auch schon seinen Kopf zu mir nach oben.

„Bei dir kommt man sich immer willkommen vor.“

Ich grinste ihn an und ließ seinen Anblick einen Moment auf mich wirken. Seine Freizeitkleidung hatte er gegen seine Umbrauniform eingetauscht. Ein hautenger Anzug aus Leder, der an strategisch passenden Stellen Beschläge besaß. Es hatte etwas von einem Gladiator – nur ließ die Uniform weitaus weniger Haut sehen. Schade eigentlich. Allerdings hatte Cio aufgrund des warmen Wetters seine Jacke zu Hause gelassen. So konnte ich seine muskulösen Arme genießen. Ich liebte diese Arme. „Dein Dienst beginnt erst in zwei Stunden.“ Da war nachfragen ja wohl noch erlaubt.

„Nicht mehr. Ich habe den Dienst gewechselt, damit wir zusammen Feierabend machen können.“

Gemeinsam Feierabend. So, so. „Schwebt dir den schon etwas für heute Abend vor?“

Sein Lächelnd war gefährlich. „Wer weiß.“

„Nehmt Rücksicht auf die anwesenden Singles!“, rief Pauline von unten herauf.

„Mach ich doch“, rief Cio zurück. „Zaira hat immer noch all ihr Klamotten an.“

„Cio!“

„Was denn?“, fragte er völlig unschuldig, während Pauline unten nur belustigt schnaubte. „Oder möchtest du, dass ich das ändere?“

Ich schüttelte nur den Kopf, nicht breit darauf etwas zu erwidern. Außerdem wartete hinter dem Heuballen noch etwas sehr unappetitliches auf mich. Und mittlerweile roch es wirklich sehr unangenehm.

„Ist das ein Ja?“ Er kletterte die Leiter hinauf und hockte sich mit einem wölfischen Grinsen in Lauerstellung.

„Nein“, sagte ich sofort. Ich kannte ihn schließlich schon eine ganze Weile. „Und komm ja nicht auf komische Ideen.“ Ich beugte mich über den Heuballen um endlich herauszufinden, was hier oben verendet war, als mir ein seltsamer Klumpen auffiel, der vorher von dem Heuballen verdeckt gewesen war.

„Was ist das?“, fragte nun auch Cio.

„Keine Ahnung.“ Es erinnerte mich an einen Fleischklumpen, der mit einem dünnen Faden an die Dachbalken gebunden worden war. Und irgendwas steckte darin. „Ist das ein Pfeil?“

Nun kam auch Cio näher, sog die Gerüche um uns herum auf und wurde überaus wachsam. „Ein Pfeil?“ Er kniff die Augen leicht zusammen und riss sie in der nächsten Minute sogleich wieder auf. „Zaira, nein!“, rief er noch, doch da war ich bereits halb über den Ballen geklettert und entdeckte die Puppe im aufgewühlten Stroh. Nein, das war keine Puppe, die da teilweise unter dem losen Heu vergraben lag. Das erkannte ich noch bevor ich das Blut sah, oder auch das Loch in der Brust der Frau.

Und dann wurde mir bewusst, was ich da vor mir sah. Das war kein seltsamer Fleischklumpen, der da von dem Dachbalken hing, das war ein Herz, ein menschliches Herz, durchbohrt von einem Pfeil. Und direkt darunter lag der Leichnam nach dem ich gesucht hatte. Doch er gehörte weder zu einem Waschbären, noch zu einem Mader und schon gar nicht zu einer Maus.

Das war der Leichnam einer Frau. Und ich kannte sie.

Im Nächten Moment stieß ich ich auch schon einen Schrei aus.

 

°°°°°

Auftakt

 

Ich stolperte rückwärts, so schnell versuchte ich von dem grausigen Fund wegzukommen. Leider fiel ich dabei über meine eigenen Füße und landete unsanft auf dem Hosenboden. Das Heu um mich herum knisterte, aber es konnte den Geruch nach Tod einfach nicht überdecken.

„Zaira!“

Ein Wimmern kam mir über die Lippen. Ja, mir war bewusst, dass dies nicht die erste Leiche in meinem Leben war. Damals, als Cerberus versucht hatte das Rudel der Könige zu übernehmen, hatte ich viel Grausames gesehen, aber nichts davon war so plötzlich und aus heiterem Himmel gekommen. Dieser Anblick hatte mich einfach völlig unvorbereitet getroffen.

„Hey.“ Cio hockte neben mir und drehte mein kreideweißes Gesicht von dem Anblick weg.

„Was ist denn da oben los?“, wollte Pauline wissen. „Warum hast du geschrien?“

Als ich einfach stumm blieb und ihn mit aufgerissenen Augen anstarrte, schaute Cio unschlüssig zur Leiter.

„Hallo? Soll ich raufkommen?“

„Nein“, erwiderte er sofort. „Bleib unten und ruf die Wächter.“

„Die Wächter?“ In ihrer Stimme schwangen Überraschung und ein Hauch von Sorge mit.

„Ja, wir … wir haben eine Leiche gefunden.“

Von Pauline kam ein Kicksen. „Eine Leiche?!“

„Hol die Wächter“, ordnete Cio erneut an und zog mich an sich.

„Ich geh sie holen“, erklärte Ryan.

Gleichzeitig hörte ich neue Stimmen und Schritte, die den Stall betraten. „Was ist los, wer hat hier so geschrien?“

Cio überließ es Pauline darauf zu antworten und musterte mich besorgt. „Kannst du aufstehen?“

Aufstehen? Ähm … „Ja, ja natürlich.“ Aufstehen war gut, besser als neben einer Leiche zu sitzen. Ich rappelte mich auf, stützte mich auf Cio und musste dabei immer wieder in die Ecke starren. „Das ist …“

„Ja.“ Er drückte die Lippen kurz zusammen. „Ja, ich weiß wer das ist.“

Oh Gott.

„Sieh nicht mehr hin.“ Sehr nachdrücklich schob er mich zur Leiter und gerade als ich es schaffte trotz der plötzlichen Taubheit in all meinen Gliedern die erste Sprosse zu ertasten, hörte ich von unter mir: „Eine Leiche?!“ in einer äußerst schrillen Stimmenlage. Aua, meine Ohren. Das war dann wohl Gisel.

Die letzte Sprosse hatte ich kaum hinter mir gelassen, da war Pauline auch schon zur Stelle und nahm mich beiseite. Aber ich wollte nicht gehen. Mein Blick klebte an Cio, der nun seinerseits die Leiter hinabstieg und den Anwesenden verbot nach oben zu klettern, bevor er zu mir kam. „Hey, vielleicht solltest du ein bisschen rausgehen und frische Luft schnappen?“ Er nahm meine Hand und drückte sie leicht. „Du siehst ein wenig blass aus.“

Ich hatte da oben ja auch leider kein Sonnenstudio entdeckt, sondern eine … „Oh Gott, ich glaub mir wird schlecht.“ Während ich das sagte, drehte ich mich von den beiden weg und kniff die Augen zusammen. Nein, das war nicht gut. Nicht nur dass die Übelkeit sich so verschlimmerte, so hatte ich auch noch das Bild von der verstümmelten Frau in all ihren Einzelheiten vor Augen. Dann lieber offene Augen und einfach versuchen tief durchzuatmen.

„Ich bring sie raus“, erklärte Pauline besorgt und legte den Arm um mich.

Ich schaute hilfesuchend zu Cio.

„Ist schon gut.“ Er drückte mir einen schnellen Kuss auf die Stirn. „Geh mit ihr, ich komme auch gleich nach.“

„Komm.“ Pauline schob mich sehr nachdrücklich, das kurze Stück der Stallgasse nach draußen. Aber die frische Luft tat mir nicht gut. Die Hitze schlug mir sofort aufs Gemüt und wieder sah ich dieses durchbohrte Herz wie ein abscheuliches Mobile vor meinem inneren Auge baumeln. Und dann erst der Geruch. Ich hatte sie die ganze Zeit gerochen, diese süße Fäulnis. Noch immer hing sie mir in der Nase.

„Oh Gott“, stöhnte ich. Die Welle der Übelkeit überwältigte mich einfach. Ich schaffte es gerade noch mich zur Seite zu drehen, um nicht mitten auf den Weg zu kotzen, dann erbrach ich das Mittagessen, das ich vorhin mit meinen Eltern in der Stadt zu mir genommen hatte.

Pauline sprang zurück um nicht getroffen zu werden.

Ich würgte bis mein ganzer Magen sich zusammen krampfte. Aber wenigstens war der Geschmack nach Kotze im Mund bei weitem besser, als der Geruch nach Leiche in der Nase.

Hustend entfernte ich mich ein paar Schritte und steuerte auf wackligen Beinen den Wasserhahn an der Außenwand an, den wir für die Pferde benutzten. Meine Hände zitterten, als ich den Hahn öffnete und mir so gründlich es eben ging, den Mund ausspülte. Das lenkte mich einen Moment ab, aber leider nicht gut genug, um mich das Erlebte vergessen zu lassen. Und auf einmal verließ mich einfach meine Kraft. Ich hatte eine Leiche gefunden. Nein, ich hatte eine aufgeschnittene Leiche gefunden, von einer Frau, die ich zwar nicht gut kannte, aber respektierte und jetzt war sie … tot. Noch vor ein paar Tagen hatte ich sie munter und lebendig gesehen, doch nun war sie einfach weg.

Langsam ließ ich mich auf den Rand der Tränke sinken.

Pauline kniete sich vor mich und legte mir eine Hand aufs Knie. „Geht es wieder?“

Ich nickte, einfach weil sie eine Reaktion erwartete.

Nicht weit entfernt hörte ich die herannahemden Schritte einer kleinen Gruppe. Ryan führte sie an.

„Die Wächter sind da.“

Pauline und ich folgten den Männern und Frauen der königlichen Wächtern mit den Augen, bis sie im Stall verschwunden waren.

„Was ist denn jetzt eigentlich passiert?“

Was passiert war? „Das war keine Maus die Ryan da gerochen hat.“ Nein, es war noch nicht mal ein Tier gewesen. Jedenfalls nicht zum Zeitpunkt ihres Todes.

Meine Kollegin sah angemessen entsetzt aus. „Wer ist es?“, fragte sie leise, als sei sie sich nicht sicher, ob sie die Antwort auch hören wollte. „Wenn hast du gefunden?“

Ich schaute sie an und schluckte, als ich mich an das leblose Gesicht mit den starren Augen erinnerte. Und dann erst das klaffende Loch in ihrer Brust. „Es … es ist entsetzlich“, flüsterte ich, doch bevor Pauline fragen konnte was genau denn so entsetzlich gewesen war, trat Cio mit zwei Wächter hinter sich aus dem Stall. Er ließ den Blick einmal schweifen und hielt dann direkt auf mich zu.

Ich sah ihm sehnsüchtig entgegen und ließ mich von ihm auch sofort auf die Beine ziehen und in die Arme nehmen. Genau das war es was ich gerade brauchte. Leider war mir dabei nur zu genau bewusst, dass ich mich gerade übergeben hatte und vermied es daher, mit meinem Mund zu nahe an ihn heran zu kommen. Ich brauchte dringend eine Zahnbürste. Welch seltsamer Gedanke, in einer solchen Situation.

Cio ließ seine Hand beruhigend über meinen Rücken wandern. „Schäfchen, die Wächter würden dir gerne ein paar Fragen stellen“, sagte er sanft.

Ich blinzelte an seinem Hemd, drehte das Gesicht dann aber so weit, dass die beiden Wächter in mein Sichtfeld gerieten. Sie trugen die gleiche schwarze Kleidung, wie die Tote im Stall. Eine lockere Hose aus festem Stoff wie beim Militär. Der eine hatte seine schwarze Jacke geschlossen. Bei dem anderen konnte ich das schwarze Hemd unter der offenen Jacke sehen. Der Frau auf dem Heuboden hatten sie das Hemd einfach aufgeschnitten. Sie alle drei hatten ein weißes Emblem am Kragen, dass sie als Mitglieder der Königsgarde auswies.

Als die Übelkeit mit aller Macht zurückkehren wollte, schluckte ich ein paar Mal angestrengt. Dann nickte ich den Wächtern zu. „Was wollen sie wissen?“

Der etwas Kleinere der beiden ließ einen Moment seine Mitfühlende Ader zum Vorschein kommen. „Es tut mir leid sie nach diesem schlimmen Fund sofort belästigen zu müssen, aber …“

„Schon gut“, unterbrach ich ihn. „Fragen sie einfach.“

Er nickte. War wohl eh kein Freund von großen Reden. „Erzählen sie mir bitte, was genau geschehen ist. Lassen sie nichts aus, sollte es ihnen auch noch so unbedeutend vorkommen.“

Was bitte sollte ich da groß erzählen? Ich hatte eine Leiche gefunden, das war geschehen! „Okay, ähm … also ich kam in den Stall und Butch, ein neues Pferd sollte angeritten werden und …“ Ach quatsch, was laberte ich denn da? „Ich meine, da waren Pauline und Gisel. Gisel hat mir meine Aufgaben für heute gegeben. Ryan hat eine tote Maus auf dem Heuboden gerochen und ich sollte sie wegmachen.“ Oh Gott, wenn es doch nur eine Maus gewesen wäre. „Deswegen bin ich auf dem Heuboden geklettert. Und da habe ich … ich … die Tote, das ist …“

Der Wächter nickte betroffen. „Großwächterin Victoria Walker.“

„Victoria?“ Pauline schlug die Hände vor dem Mund zusammen. „Oh nein.“

Genau, Victoria Walker. Die Frau, die erst vor ein paar Monaten Großwächterin geworden war, nachdem ihr Vater nur Wochen zuvor an einem Herzinfarkt gestorben war. Die Victoria Walker, die vor zwei Jahrzehnten einem kleinen unschuldigen Baby das Leben schenkte. Die Victoria Walker, die von einem einzigen Wesen auf der ganzen Welt Mutter genannt worden war: Iesha.

Allein bei dem Gedanken an Cios Ex-Freundin stellten sich mir alle Härchen auf den Armen auf. „Sie ist … jemand hat ihr … ihr Herz …“

Der Wächter presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.

„Was ist mit ihrem Herz?“, wollte Pauline auch direkt wissen.

Niemand antwortete ihr. Es war nun wirklich nichts womit man hausieren gehen musste.

„Kennen sie Großwächterin Walker gut?“, fragte mich dann der etwas größere Wächter. Er war schon leicht in die Jahre gekommen.

Ich schüttelte den Kopf. „Sie hat hier gearbeitet, da sieht man sie immer mal wieder und … naja …“ Mein Blick glitt zu Cio.

Der Wächter schaute zwischen uns hin und her. „Und was?“

„Victorias Tochter ist meine Ex-Freundin“, sagte Cio dann ohne weitere Umschweife. „Iesha.“

Der Name sagte dem Wächter scheinbar etwas. „Ich kenne sie. Sie hat hier mal die Ausbildung zum Wächter angefangen.“

Ja, das war, bevor sie auf die dunkle Seite gewechselt war und sich gegen alles gestellt hatte, was Cio etwas bedeutete. Ach ja, außerdem dem war sie geisteskrank. „Ich habe sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen.“ Nicht mehr seit diesem einen Tag, an dem sie versucht hatte mich in dem heillosen Durcheinander des Kampfes um den Thron umzubringen.

Cio drückte mich ein wenig fester an sich. „Meines Wissens nach haben ihre Eltern sie damals in eine Psychiatrie gesteckt. Ich weiß nicht was aus ihr geworden ist.“

Ja und gleichzeitig war sie für ihre Taten zu einer Ausgestoßenen geworden. Ihre Verbrüderung mit Gräfin Xaverine hatte sie ihren Platz im Rudel gekostet und sie zu einem einsamen Wolf gemacht. Das war eine schlimme Strafe, aber trotz allem was gerade geschehen war, konnte ich kein Mitgefühl für sie aufbringen. Iesha hatte meiner Meinung nach genau das bekommen, was sie verdient hatte. Sie hatte meinen Vater verletzt und sie hatte es genossen.

„Das können wir herausfinden.“ Der kleinere Wächter drehte sich herum, als lauter werdenden Schritte weitere Besucher ankündigten. Eine weitere Gruppe von Wächtern. Aber sie waren nicht alleine. Vorne weg lief König Carlos persönlich.

Er war ein älterer, dunkelhäutiger Mann, der in der Blüte seiner Jahre stand. Er war fast doppelt so alt wie Königin Sadrija, wirkte aber nicht älter als Mitte vierzig. In dem geschniegelten Anzug erweckte er den Eindruck, als sei er frisch aus einer wichtigen Konferenz gekommen. Um den Mund herum trug er einen kurzen Bart und auf dem linken Auge war er blind. Ich wusste nicht, wie das passiert war, doch was ich wusste, er war ein gütiger Mann. Nur jetzt gerade nicht. Die Nachricht einer Leiche, trieb ihn ohne uns zu beachten einfach an uns vorbei in den Stall.

Direkt hinter ihm lief sein kleiner Bruder Graf Rouven. Er musste ungefähr im gleichen Alter wie mein Vater sein und ähnelte seinem großen Bruder sehr stark. Nur hatte er ein rasiertes Gesicht und noch beide Augen. Die beiden Männer waren recht attraktiv, wobei Rouven Minuspunkte machte, weil er ein arrogantes Arschloch war. Und ein Rassist.

Ich schaute dabei zu, wie die beiden Männer zusammen mit der Hälfte der Wächter im Stall verschwanden. Die andere Hälfte verteilte sich hier draußen und begann damit die Anwesenden auszufragen. Nur einer von ihnen tanzte völlig aus der Reihe. Diego, Cios Vater. Er war groß gewachsen, hatte braunes Haar und drei lange Narben an der linken Schläfe. Kratzspuren.

Wie es meines Wissens nach schon immer üblich gewesen war, so umgab sich auch der König zu seiner Sicherheit mit den Umbras, eine Gruppe besonders ausgebildete Leibwächter, die allein für den Schutz der Königsfamilie zuständig waren. Diego war der Boss dieser Leibwächter, der Tribunus Umbra und schien heute als Schatten des Königs eingeteilt zu sein. Das bedeutete, er musste dem König heute den ganzen Tag auf Schritt und Tritt folgen. Hätte er es mal getan.

Leider bemerkte er Cio und mich am Rand stehen und so wunderte es mich gar nicht, dass er sich aus der Gruppe löste und direkt zu uns kam, anstatt den anderen in den Stall zu folgen.

Das Verhältnis zwischen Cio und seinem Vater war … schwierig. Darum spannte Cio sich auch sofort an und begegnete seinem Vater allein schon aus Prinzip mit einem trotzigen Blick.

„Dein Dienst hat bereits vor zehn Minuten angefangen“, war dann auch die ganze, ruppige Begrüßung.

Ach Diego.

Sofort schaltete sich Cios Starrsinn an. „Oh, tut mir leid. Wie konnte ich es nur wagen nicht pünktlich zum Dienst zu erscheinen, wo meine Freundin doch gerade eine Leiche gefunden hat.“

Diegos Blick huschte nur kurz auf mich. „Du hast deinen Dienst extra getauscht, doch nun musste ich Umbra Joel einsetzten, weil du nicht aufgetaucht bist. Du hättest mich anrufen müssen, sobald du wusstest, dass es später wird, dein Handy trägst du schließlich bei dir. Aber wie immer denkst du nur an dich.“

Oh nein.

Cios Gefühle verschwanden hinter dieser ausdruckslosen Maske, auf die sich jeder Umbra so gut verstand. Es war nicht das erste Mal, dass es passierte, doch in den letzten Monaten war das beinahe die einzige Art, wie er seinem Vater begegnete. „Verzeih, wenn mein erster Gedanke bei dem aufgespießten Herz von Großwächterin Victoria nicht war, ach rufen wir doch schnell mal meinen Papi an.“

Nun wurde auch der Ausdruck auf Diegos Gesicht zu einer undurchdringlichen Maske. „Aber genau das sollte es sein. Ich bin der Tribunus Umbra, was heißt, dass ich bei außergewöhnlichen Zwischenfällen die erste Adresse bin, die benachrichtige werden muss. Es liegt in meiner Verantwortung zu entscheiden ob der Fund dieser Leiche eine Gefahr für die Königsfamilie dastellt oder nicht, aber das kann ich nicht, wenn ich nichts davon weiß.“

Auch wenn Cio versuchte ruhig zu bleiben, so konnte ich ihm ansehen, wie ihm langsam sie Geduld ausging. Ich verstand ihn. Es war unfair von Diego, was er ihm vorwarf. Cio hatte bereits nach den Wächtern verlangt, bevor wir den Heuboden überhaupt verlassen hatten. Er hatte sich darum gekümmert, dass die neugierigen Schaulustigen von dem Fund wegblieben und hatte nebenbei auch noch ein Auge auf mich gehabt. Also warum tat Diego das nur immer?

„Ich weiß gar nicht warum du hier so einen Aufstand machst, du weißt doch schon Bescheid.“

Diegos eindringlicher Blick war so intensiv, dass die beiden Wächter vorsichtshalber einen Schritt zurück wichen.

„Cio“, schritt ich ein, bevor das hier wieder in einem handfesten Streit ausartete. „Vielleicht solltest du gehen. Wir … ich komm schon klar.“

Mit einem letzten wütenden Blick auf seinen Vater, wandte er sich mir zu. „Bist du dir sicher? Ich kann auch noch bleiben.“

„Nein, ist schon okay. Diego hat recht, du musst zum Dienst. Wir sehen uns dann nachher.“

Es widerstrebte ihm mich in seinem solchen Moment im Stich zu lassen. Ich konnte sehen wie es ihm auf der Zunge lag, einfach abzulehnen und bei mir zu bleiben – sollte sein Vater doch zur Hölle fahren. Aber das konnte ich nicht zulassen. Das Verhältnis der beiden war schon immer ein wenig angespannt gewesen. Und wenn Cio jetzt einfach auf alles schiss, dann würde es mit Sicherheit auch nicht verbessern.

„Geh“, sagte ich deswegen. „Bei mir ist alles in Ordnung.“

Er drückte die Lippen zusammen, doch sein Widerstand bröckelte. Mit einem tiefen Seufzen gab er sich letztendlich geschlagen. „Melde dich wenn du etwas brauchst, ich hab mein Handy bei mir.“

„Okay.“

„Dann bis nachher. Und denk dran, du bist ein Schäfchen.“

„Mit Zähnen und Klauen.“ Ich lächelte leicht, auch wenn mir im Moment nicht wirklich danach zumute war. „Ich weiß.“

„Vergiss es nicht.“ Für mich gab es noch einen Kuss auf die Schläfe, für seinen Vater einen bösen Blick und dann verließ er die Stallanlagen.

Ich schaute ihm hinterher. Am liebsten wäre ich ihm nachgelaufen, aber ich war mir sicher, dass ich den Stall noch nicht verlassen durfte. „Weist du Diego, manchmal frage ich mich, wärst du genauso aufgewachsen wie Cio, wärst du dann vielleicht auch ein kleinen wenig mehr wie er?“ Ich schaute ihm fest in die Augen. „Denk mal darüber nach.“

Er erwiderte nichts und auch die anderen beiden anwesenden verkniffen es sich darauf einzugehen– ging sie schließlich nichts an.

Leider hatte Diego das mit dem eindringlichen Blick in die Augen besser drauf als ich und schon bald schämte ich mich dafür, überhaupt etwas gesagt zu haben.

Nach einer Ewigkeit wie mir schien, rieb er sich müde übers Gesicht. „Erzähl mir bitte einfach was hier vorgefallen ist.“

Also erzählte ich die Geschichte ein weiteres Mal. Man sollte glauben dass es mit der Häufigkeit einfacher werden würde, leider täuschte ich mich da. Das ungute Gefühl kehrte zurück, da ich zu jedem meiner Worte ein gestochen scharfes Bild vor Augen hatte. Ich hatte sie nur wenige Sekunden gesehen, woher also wusste ich so viele Einzelheiten? Das wollte ich doch gar nicht.

Ich erzählte gerade, wie ich bei dem grausigen Fund rückwärts gestolpert war, als ein weiterer Wächter mit Graf Rouven an der Seite den Stall verließ und uns direkt ansteuerte. Er nickte mir zu, wandte sich dann aber direkt an Diego. „Das haben wir in Großwächterin Victorias Hand gefunden.“ Er überreichte ihm eine kleine Tüte mit einem Zettel darin. „Scheint vom Täter zu sein.“

Er nahm den Zettel, las ihn und überreichte ihn dann an den größeren der Wächter.

Wahrscheinlich ging es mich nichts an, trotzdem beugte ich mich zur Seite und lass die wenigen Zeilen auf dem zerknitterten Schnipsel mit. Dabei versuchte ich nicht auf die getrockneten Blutflecken zu achten.

 

Amors Pfeil hat Widerspitzen.

Wen er traf, der laß' ihn sitzen,

Und erduld' ein wenig Schmerz!

Wer geprüften Rat verachtet,

Und ihn auszureißen trachtet,

Der zerfleischt sein ganzes Herz.

 

Ich runzelte die Stirn. Irgendwoher kam mir das bekannt vor.

Der Wächter, der mit Rouven aus dem Stall gekommen war, ergriff das Wort. „Nach den ersten Untersuchungen sind wir uns ziemlich sicher, dass das Herz Victoria selber gehört.“ Er stockte einen Moment. Wahrscheinlich kannte er sie persönlich und die ganze Angelegenheit ging ihm ein wenig nahe. „Nach den ersten Schätzungen ist sie letzte Nacht zwischen zehn und zwei Uhr am Morgen verstorben.“

„Todesursache?“, fragte Diego ganz geschäftig.

„Ein Stich genau ins Herz“, antwortete Graf Rouven Deleo. „Wie es scheint, hat man sie zuerst mit dem Pfeil erschossen oder niedergestochen und dann das Herz samt den Pfeil entfernt.

„Mir wird schlecht.“

Nein, das kam nicht von mir, das war Paulines Magen, der seine Meinung zu dem Gesagten beisteuerte.

„Gibt es schon Spuren zum Täter?“, erkundigte ich mich.

Der Graf schaute mich an, als klebe mir etwas sehr ekliges im Gesicht und sofort bereute ich es den Mund aufgemacht zu haben. Diesen Blick kannte ich. In den letzten paar Jahren war er mir immer mal wieder begegnet. Er besagte, dass ich etwas Niederes sei, etwas Widerliches – ein Misto. Ich zog mein ganz persönlichen Panzer hoch, den ich mir für genau solche Augenblicke angeeignet hatte.

„Nein“, sagte er voller Herablassung. „Die Ermittlungen haben schließlich gerade erst begonnen. Es wäre wirklich ausgesprochenes Glück, wenn wir den Täter einer solchen Schandtat zum jetzigen Zeitpunkt bereits in Aussicht hätten. Ist ihre Frage damit ausreichend beantwortet?“

Ich zog den Kopf ein und nickte schüchtern.

„Neugieriges Pack.“ Er wandte sich Diego zu. „Mein Bruder wünscht sie zu sehen.“

„Natürlich.“ Bevor er jedoch ging, wandte er sich noch mal an mich. „Ich werde dich von einem Wächter nach Hause bringen lassen. Nimm dir ein paar Tage frei.“

Nach Hause gehen? Jetzt?! Nein. Das ging nicht. Da wäre ich alleine, da würde ich anfangen nachzudenken und ich glaubte nicht, dass das im Moment gut wäre. „Ich glaube ich bleibe lieber.“

Diego musterte mich. „Das halte ich für keine gute Idee. Du bist so blass, dass ich befürchte du kippst jeden Moment einfach um.“

„Aber …“

„Soll ich Raphael kommen lassen?“

Papa. Er war heute mit mir zusammen zum Schloss gefahren. Da er seit fast zwei Jahren wieder aktiv für die Themis arbeitete, tat ich das häufig. Er war im HQ, dem Hauptquartier der Themis. „Nein. Nein ich geh zu ihm. Du hast recht.“ Es tat mir nur um die Pferde leid, die durch diesen Zwischenfall warten mussten. Und wenn ich mich jetzt auch noch davon machte, dann würde es sogar noch länger dauern. Aber bei dem Gedanken wieder in diesen Stall zu gehen, sträubte sich etwas in mir. „Papa müsste dort sein.“

„Dann lass ich dich dorthin begleiten.“

„Nein, das ist nicht nötig.“

Leider interessierte Diego meine Meinung herzlich wenig, denn im Gegensatz zu mir hielt er es sehr wohl für nötig, dass ich nach so einem Erlebnis nicht allein herumrannte und stellte mir über meinen Kopf hinweg einen Wächter an die Seite, der sicher stellen sollte, dass ich auch in einem Stück im HQ ankam. Wäre wohl nicht so toll wenn ich auf halben Wege irgendwo umkippte und dort vergesse liegen blieb, bis irgendjemand zufällig über mich stolperte.

Selbst als Graf Rouven sich ungeduldig räusperte, weil Diego immer noch hier draußen stand, anstatt seinen Hintern zum König zu bewegen, ließ Diego sich nicht drängen. Zuerst organisierte er alles und erst dann folgte er den Worten des Grafen.

Ich währenddessen folgte dem ausgewählten Wächter und versuchte dieses grausige Bild aus meinem Kopf zu bekommen. Dabei ließ ich auch immer mal wieder meinen Blick schweifen, in der Hoffnung Cio zufällig irgendwo zu entdecken. Aber wie nicht anders zu erwarten, war er in den Tiefen des riesigen, burgähnlichen Schlosses verschwunden, von dem aus die Alphawölfin des Rudels der Könige über Lykaner auf der ganzen Welt gebot. Eigentlich ziemlich beeindruckend, wenn man mal genauer darüber nachdachte. Und das gelang ihr auch nur, weil sie mit einem Merkmal auf die Welt gekommen war, das es ihr erlaubte, über andere zu herrschen. Genau wie andere Alphawölfe besaß sie Drüsen, aus denen sie bei Bedarf ein Duftstoff ausstieß, den die Lykaner als Odeur bezeichneten und sie in eine Art Aura hüllten. Dieser Duftstoff, der die Instinkte jedes einzelnen Lykaners ansprach, sorgte für den Frieden und den Gehorsam eines jeden Wolfs gegenüber des Alphas.

Aber manchmal gab es auch Ausnahmen, die nicht nur aus der Reihe tanzten, sondern auch noch weit übers Ziel hinaus schossen und sich nicht durch das Odeur eines Alphas zur Räson bringen ließen. Die wenigsten von ihnen waren gefährlich. Doch diejenigen die es waren, hinterließen solche Horrorszenarien wie die im Stall.

Ich konnte mich nur immer wieder fragen, wer zu einer solch grausamen Tat fähig war.

Das Hauptquartier der Themis – eine Spezialeinheit, deren einzige Aufgabe es war, sich dem Sklavenhandel der verborgenen Welt zu widmen – lag beinahe am anderen Ende des Anwesens. Wir mussten also ein gutes Stück laufen.

Die Mittagssonne brannte vom Himmel herunter. Mir war ein wenig schwindlig, aber ich konnte nicht sagen, ob es an der Hitze lag, oder an dem gerade erlebten. Auf jeden Fall ging es mir augenblicklich besser, als ich den schmucklosen Betonklotz, in dem die Themis ihre Zelte aufgeschlagen hatten, betrat. Es konnte sowohl an der Klimaanlage liegen, als auch an dem Wissen, dass mein Vater hier irgendwo war. Doch zuerst musste ich herausfinden, wo dieses Irgendwo sich genau befand. Daher verabschiedete ich mich am Eingang von dem Wächter und machte mich auf die Suche.

Die Korridore in dem Gebäude erinnerten mich immer an Schulflure. Es gingen auch mindestens genauso viele Türen davon ab. Die Hauptzentrale allerdings lag nicht sehr tief im Gebäude, daher suchte ich die als erstes auf. Die Wahrscheinlichkeit meinen Vater hier zu finden, war ziemlich hoch.

Leider war nicht er es, auf den ich dort traf.

Zwei Frauen befanden sich in dem Raum mit den vielen Computern und den großen papierübersäten Tisch in der Mitte.

Die eine Frau war Romy, eine schwarzhaarige Vampirin die sich über eine Karte beugte, die die Hälfte der Papiere auf dem Tisch unter sich begrub.

Sie zweite Frau saß neben einem der Computer, kippelte auf ihrem Stuhl und warf gleichzeitig immer wieder einen Kugelschreiber in die Luft, denn sie dann geschickt auffing. Das war meine leibliche Mutter: Cayenne. Groß, schlank, blond und damit so ziemlich das Gegenteil von mir. Na gut, abgesehen von der Körpergröße vielleicht.

„Hey“, begrüßte ich sie etwas lahm.

Genau wie auch Romy blickte sie bei meinem Auftauchen auf. Doch im Gegensatz zu der Vampirin, bekam ich von meiner Erzeugerin zur Begrüßung ein Lächeln. „Hey, na du.“ Cayenne war eine Schönheit. Sie besaß nicht nur die Traummaße eines jeden Models, sie besaß auch Ausstrahlung.

Nach den Unruhen und dem Machtumsturz vor ein paar Jahren, war sie zu einer wichtigen Beraterin der Königin geworden und fungierte in der Zwischenzeit als Bindeglied zwischen den Alphas und den Themis. An Missionen jedoch nahm sie meines Wissens nach nur noch sehr selten teil.

Wie ich es finden sollte, das beide Teile meiner Erzeugerfraktion gegen den Abschaum der verborgenen Welt kämpften, war mir bis heute nicht ganz klar. Schließlich bestand ihre Aufgabe nicht nur darin Sklaven zu befreien. Bei den Lykanern und den Vampiren hatte es schon immer einen sehr direkten Weg gegeben, wie man mit Abschaum umging. Und soweit ich wusste, beherrschten sie beide ihn ausgezeichnet.

Obwohl meiner Meinung nach jedes Leben wichtig war, hatte ich gelernt nicht vorschnell zu urteilen. Ich selber hatte damals zwei Männer getötet, um die zu schützen, die mir wichtig waren. Ich war nicht stolz darauf und manchmal quälte dieser Gedanke mich noch heute, aber auch wenn es traurig war, man lernte mir allem zu leben.

Zum Glück war da noch meine Ziehmutter Tarajika. Sie hielt sich von den Angelegenheiten der Themis fern. Mit Sklaven und Sklavenhändlern hatte sie für ein Leben mehr als genug Erfahrung gesammelt. Nicht dass sie wie mein Vater Jagd auf die sogenannten Skhän gemacht hatte, nein, die erste Hälfte ihres Lebens selber eine Gefangene gewesen. Erst bei ihrer eigenen Familie, wie ich heute wusste und dann bei dem Abschaum unserer Gesellschaft.

„Zaira?“ Cayenne neigte fragend den Kopf, weil ich seit einer ganzen Minute hier stand und Löcher in die Luft starrte. „Bist du in Ordnung?“

„Ähm … mir geht es gut.“

„Bist du sicher?“ Sie musterte mich. „Du siehst ziemlich blass aus.“

„Ja, das ist weil …“ Ich unterbrach mich und suchte den Raum mit einem schnellen Blick nach einer weiteren Person ab. Nicht weil ich etwas verheimlichen wollte und deswegen sichergehen wollte, das außer uns wirklich niemand hier war. Nein. Ich suchte nach dem Gefährten meiner Erzeugerin, Sydney. Wenn er nicht hier war, würde ich ihr nichts sagen, da ich nicht genau wusste wie sie regieren würde.

Cayenne litt an einer psychischen Belastungsstörung und nahm schlechte Nachrichten deswegen nicht immer sehr gut auf. In meinem Leben hatte ich zwei ihrer Anfälle miterlebt, die durch diese Störung entstanden und jedes Mal war es Sydney gewesen, der es geschafft hatte, sie wieder zu beruhigen. Und da ich wusste, dass sie Victoria schon seit ihrer frühsten Kindheit kannte, hatte ich die Befürchtung, sie würde diese Nachricht nicht allzu gut aufnehmen.

„Weil?“, bohrte Cayenne weiter.

Selbst Romy schaute in der Zwischenzeit von ihrer Karte auf.

Und da entdeckte ich Sydney. Ein großer – wirklich großer – sandfarbener Wolf, dem das Fell wild vom Körper abstand. Sein ganzer Pelz war durchzogen von einem feinen Narbengeflecht, von dem ich bis heute nicht wusste, wie er dazu gekommen war.

Er lag versteckt unter dem Schreibtisch, vor dem Cayenne saß, erhob sich aber, sobald er meinen Blick auffing. Auch ohne Worte verstand er sofort, dass ich keine guten Nachrichten brachte. „Sprich, Zaira“, bat er mich. Seine Stimme in meinen Gedanken hatte einen weichen Klang.

Cayenne schaute von ihrem Gefährten zu mir und runzelte dann die Stirn.

„Also, eigentlich suche ich meinen Vater, weil … ich hab in den Ställen eine Leiche gefunden.“ Genau, fall gleich mit der Tür ins Haus, was kann da schon schief gehen? Manchmal war ich wirklich ein richtiges Genie.

Cayenne erwiderte meinen Blick ungläubig. „Eine Leiche?“

„Ja, aber keine Sorge, die Wächter sind schon verständigt und Diego ist auch da.“

„Wer“, fragte Romy da sehr eindringlich. „Weißt du wer die Leiche ist?“

Zögernd schaute ich von ihr zu Cayenne. Und die entdeckte in dem Moment irgendwas in meinen Augen.

„Wer“, fragte sie leise und griff mit der freien Hand in Sydneys Fell. „Wer ist gestorben?“

Es gab einfach keinen Weg ihr das schonend beizubringen. Mist aber auch. „Großwächterin Victoria.“

In den folgenden Sekunden geschah gar nichts. Romy stand stumm da, Sydney beobachtete seine Gefährtin sehr aufmerksam und Cayenne starrte mich einfach nur an. Dann schloss sie einfach für einen Moment die Augen und atmete tief aus.

„Was ist passiert?“, fragte sie nach einer angespannten Ewigkeit.

„Man hat ihr …“ Oh nein, das konnte ich ihr nicht sagen. Ich wollte die Bilder nicht schon wieder heraufbeschwören. „Sie wurde ermordet“, sagte ich daher ganz schlicht.

„Ermordet.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich muss da hin.“ Sie sprang vom Stuhl auf und verließ den Raum mit eiligen Schritten. Sydney folgte ihr im Windschatten.

Ich konnte ihr nur eilig aus dem Weg gehen, um nicht über den Haufen gerannt zu werden.

„Geht es dir gut?“

Ich schaute mich nach Romy um und versuchte es mit einem kleinen Lächeln – leider endete es in einer Grimasse. „Geht schon. Ich will nur zu meinem Vater.“

„Raphael ist unten in der Trainingshalle.“ Sie schaute noch mal in die Richtung in die Cayenne gerade verschwunden war und konzentrierte sich dann wieder auf ihre Karten.

Tja, damit war das Gespräch wohl beendet. Ich war nicht beleidigt, Romy machte nie viele Worte.

„Ich bin dann auch mal wieder weg“, sagte ich noch und verließ dann die Hauptzentrale. Wieder ging es durch die Schulkorridore, dieses Mal jedoch nach Hinten und dann die Treppe nach unten ins Kellergeschoss. Auf meinem Weg begegnete ich immer mal wieder einem Themis. Manche von ihnen hatten nicht einmal ein Blick für mich übrig, andere wiederum nickten mir grüßend zu. Doch sie alle waren so sehr beschäftigt, dass mich keiner von ihnen wirklich Beachtung schenkte.

Ich störte mich nicht daran.

Im unteren Teil des Hauptquartiers, befand sich nicht nur die kleine Trainingshalle, sondern auch die Gemeinschaftsduschen und ein Dutzend Räume, in denen die Themis Quartier beziehen konnten, wenn sie auf dem Schlossgelände zu tun hatten. Und genau an diesen Zimmern geschah es. Ich musste an ihnen vorbei, um zur Trainingshalle zu kommen und gerade als ich um die Ecke bog, öffnete sich eine der Türen. Nein, ich rannte nicht in sie rein, viel schlimmer, ich rannte in den Typen rein, der den Raum gerade verlassen wollte. Meine Nase kollidierte mit seiner Schulter, meine Brille rutschte mir von der Nase und fiel klappernd zu Boden. Als ich dann eilig vor ihm zurückstolperte, fiel ich auch noch fast über meine eigenen Füße.

Hastig griffen zwei Hände nach meinen Armen und verhinderten damit einen äußerst eleganten Abgang. „Immer schön langsam“, sagte eine weiche, melodische und unverkennbar männliche Stimme.

Ich schaute auf in zwei blassgraue Augen, von einem so dunklen Ton, dass sie wie Rauch wirkten. Sein Teint hatte einen südländischen Touch und die Haare waren fast so schwarz wie meine. Nur an seiner rechten Schläfe hatte er eine komplett weiße Strähne, die so gar nicht ins Bild passen wollte. Er war schlank und ein wenig älter als ich, aber bei weitem nicht muskulös. Von der Größe überragte er mich einen ganzen Kopf.

„Alles okay bei dir?“ Beim Sprechen blitzten die Spitzen seiner Reißzähne auf.

Mein Blick richtete sich wie gebannt darauf und ich wusste nicht einmal warum. Moment, ich war kurzsichtig und meine Brille war runtergefallen. Wenn ich den athletischen Körper und das kleine Lächeln um seine Mundwinkel dennoch so deutlich sehen konnte, dann stand ich eindeutig zu nahe bei dem Kerl.

Hastig machte ich mich von ihm los und wich zwei Schritte zurück. „Tut mir leid“, murmelte ich und suchte den Boden nach meiner Brille ab. „Ich hab nicht aufgepasst.“

„Ist mir aufgefallen.“ Er ging einen Schritt, bückte sich und hielt mir dann meine Brille vor die Nase. „Ich hab dich hier noch nie gesehen.“

„Ich bin kein Themis.“ Mit einem gemurmelten „Danke“ nahm ich ihm die Brille ab und schob sie zurück auf meine Nase. „Ich suche nur meinen Vater.“

„Wer ist denn dein Vater? Vielleicht weiß ich wo er ist.“ Er ließ seinen Blick einmal von unten nach oben sehr intensiv über mich wandern. Und genau wie es mir gerade bei ihm passiert war, so blieb auch sein Blick einen Moment auf meinen Fängen hängen. „Ich könnte dich zu ihm bringen.“

„Äh …“ Warum nur fühlte ich mich plötzlich so unwohl in meiner Haut? „Das ist nicht nötig, ich hab schon mit Romy gesprochen, er ist in der Sporthalle.“

„In Ordnung, wenn du meinst.“ Er trat ein Stück zur Seite, um seine Zimmertür schließen zu können. „Dann bist du ja scheinbar versorgt.“

„Ja, danke. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder.“ Ich hob die Hand zum Abschied, er jedoch nahm sie in die Hand, führte sie zu seinem Mund und Hauchte mir mit einem verschmitzten Lächeln einen Kuss auf die Haut.

Ich erstarrte und war versucht den Kerl einfach anzuknurren.

„Was zum Henker treibst du da mit meiner Tochter?“, schallte eine sehr hitzige Stimme durch den Korridor.

Der Mann und ich wendeten uns ihr zeitgleich zu.

„Ryder ist dein Vater?“, fragte er dann ein wenig verdutzt.

Ich zuckte nur hilflos mit den Schultern und zog meine Hand aus seinem Griff. „Vater, Zuchtmeister, Gefängniswärter. Such dir etwas aus.“

„Das hab ich gehört“, ließ mein Vater mich wissen und trat an meine Seite. Dabei legte er einen Arm um meine Schultern und drückte mich an sich. „Was machst du denn hier?“ Er musterte mich sehr kritisch und was er da sah, gefiel ihm wohl nicht besonders. „Geht es dir gut? Du bist ganz schön käsig.“

„Ja, weil …“ Ich schaute kurz zu dem Mann, konzentrierte mich dann aber allein auf meinen Vater. „Großwächterin Victoria ist tot.“ Ich schluckte. „Ich habe sie gefunden.“

Im ersten Moment tat mein Vater gar nichts. Dann wurde sein Griff ein wenig fester und das Gesicht ausdruckslos. „Was ist passiert?“

Also erzählte ich die Geschichte ein weiteres Mal und ließ mich am Ende von meinem Vater in die Arme ziehen.

„Schon okay“, tröstete er mich und rieb mir über den Rücken. „Alles ist gut.“

Das hatte ich hören müssen. Wenn mein Vater so etwas sagte, dann konnte ich das auch glauben.

Papa wandte sich dem jungen Vampir zu. „Ich bring meine Tochter nach Hause und melde mich dann später noch mal. Kannst du Murphy bitte Bescheid geben?“

„Klar, kein Problem.“ Er hob die Hand und drückte mir die Schulter. „Und du halt die Ohren steif, wird schon alles wieder gut werden.“

Wie vorhin walte in mir wieder dieses seltsame Gefühl auf und dieses Mal konnte ich mein Knurren nicht vermeiden. Erschrocken schlug ich mir die Hand vor den Mund und schaute in die beiden erstaunten Gesichter. „Ähm … tut mir leid. Der Stress.“

Der Mann neigte den Kopf nachdenklich zur Seite. „Du bist kein Vampir.“

Schlagartig fuhren meine inneren Mauern hoch und auch mein Vater spannte sich leicht an.

„Aber du bist auch eindeutig kein Lykaner.“

„Nein, und ein Mensch bin ich auch nicht“, gab ich ein wenig schnippisch von mir.

Das Lächeln auf seinen Lippen wurde breiter. Trotz der gerade erhaltenen Warnung drückte er noch einmal meine die Schulter, machte dann eine spöttische Verbeugung vor meinem Vater und verschwand in die Richtung aus der Papa zuvor gekommen war.

Ich schaute ihm nach. „Ich mag ihn nicht.“ Und ich konnte mir nicht einmal erklären warum ich gegen den jungen Vampir eine solche Abneigung empfand, ich kannte ihn doch gar nicht. Außerdem war ich in ihn reingelaufen und nicht umgekehrt.

„Tayfun ist ein wenig schräg, aber in Ordnung.“

Das konnte er ja sein, ich mochte ihn trotzdem nicht.

Mein Vater holte nur noch schnell seine Sachen, dann brachte er mich nach Hause und setzte mich zusammen mit einem Tee auf die gemütliche Couch ins Wohnzimmer. Meine Mutter war nicht zu Hause. Keine Ahnung wo sie war, aber eigentlich konnte sie nur wieder bei Bronco sein. Vielleicht stromerte sie aber auch ein wenig durch den Wald, um sorglose Wölfe zu erschrecken. Das machte sie ganz gerne.

Zusammen mit meinem Vater schaute ich mir einen Film an. Doch gerade bei der Hälfte, als es endlich spannend wurde, klingelte sein Handy und wir mussten ihn pausieren. Die Arbeit, das war wichtig. Also saß ich auf der Couch sah dabei zu wie mein Vater immer wieder hinter der Küchentür auf und ab tigerte und konnte gar nicht anders, als wieder an den Stall zu denken. Wie Victoria dort im Heu gelegen hatte, ihr Herz, das über ihr schwebte, als wolle es sie verhöhnen. Der Pfeil.

Ich erinnerte mich an das Gedicht das bei ihr gefunden worden war und auch daran, dass es mir bekannt vorkam. Kurzentschlossen kramte ich das Tablet aus meiner Tasche hervor, öffnete eine Suchmaschine und verharrte. Wie war das noch mal gewesen? Wenn Amors Pfeil trifft? Nein. Aber irgendwas mit Amor und Pfeil war es auf jeden Fall gewesen. Also gab ich Amor, Pfeil und Gedicht in die Suchleiste ein und nach einigen Fehlversuchen hatte ich das Gedicht vor der Nase.

 

Amors Pfeil hat Widerspitzen.

Wen er traf, der laß' ihn sitzen,

Und erduld' ein wenig Schmerz!

Wer geprüften Rat verachtet,

Und ihn auszureißen trachtet,

Der zerfleischt sein ganzes Herz

 

Es stammte aus der Feder des Dichters Gottfried August Bürger und ich brauchte einen Moment, um den Sinn hinter den Worten zu verstehen. Wenn Amors Pfeil einen traf, dann tat das vielleicht ein bisschen weh, aber sollte man versuchen den Pfeil zu entfernen, dann würde man sich damit das ganze Herz zerfetzen.

Nettes Gedicht.

Ich starrte noch immer auf die Zeilen, als mein Vater sein Telefonat beendet hatte und sich wieder zu mir auf die Couch setzte.

„Was machst du da?“, wollte er wissen.

Ich drehte das Tablet so, dass er den Bildschirm sehen konnte. „Das ist das Gedicht, das bei Victorias Leiche gefunden wurde“, erklärte ich ihm.

Er studierte die wenigen Zeilen und lehnte sich dann zurück. „Amor.“

„Ja“, sagte ich. „Denn sein Pfeil trifft immer mitten ins Herz.“

 

°°°

 

„… wenn auch nur noch ein einziger Ball in meine Richtung fliegen sollte, dann werde ich das Hotelzimmer nicht mehr verlassen.“

„Aber dann wärst du ja völlig um sonst nach Spanien geflogen“, gab ich schmunzelnd zu bedenken. Gut, es war zwar mehr eine Geschäftsreise als ein Urlaub, aber trotzdem, es war Spanien im Sommer!

„Mir egal“, beschied mein bester Freund Kaspar und dann war es einen Moment ruhig in der Leitung.

Wir quatschten schon seit fast zehn Minuten miteinander, was für Kaspar beinahe Rekordverdächtig war, so ungern wie er sonst den Mund aufmachte. Ich glaube, er mochte die Reise nicht. Viel zu viele Fremde Menschen, fremde Sitten, fremdes Essen. Aber mein Halbbruder Aric hatte ihn gebeten, ihn auf seiner Geschäftsreise zu begleiten und da die beiden sich im Moment mal wieder in der Phase Wolke sieben befanden, hatte Kaspar widerstrebend zugestimmt.

Meine einzige Frage war eigentlich nur, würden die beiden gemeinsam aus dem Urlaub zurück kommen, oder würden sie sich mal wieder bis aufs Blut streiten und die Beziehung für Wochen auf Eis legen, nur um nach der nächsten Versöhnung mit dem Kreislauf von vorne zu beginnen?

Es war immer dasselbe mit den Beiden, wobei es auch oft mit Arics Unsicherheit zu tun hatte.

Da befasste ich mich doch lieber mit den Problemen meiner lieben Cousine. Zwar befürchtete ich immer noch, dass ich wegen Alina eines schönen Tages einen Hörsturz erleiden würde, aber ihr größtes Problem in der letzten Zeit hatte darin bestanden, dass die Waschmaschine kaputt gegangen war und die ganze Küche geflutet wurde. Wobei das Problem weniger darin bestanden hatte, dass das Gerät nun Schrott war, sondern dass sie das Wasser nicht hatte abstellen können und die Schweinerei hatte beseitigen müssen, weil ihre Eltern außer Haus gewesen waren.

Kaspar seufzte. „Es ist hier einfach nur so voll, das mag ich nicht.“

Nein, weil er Berührungen nicht mochte. „Dann geh doch nicht mehr zum Strand. Das Hotel hat sicher auch einen Pool, geht da hin.“

„Da ist es genauso voll“, grummelte er.

Als es an der Tür klingelte, erhob ich mich mit dem Handy am Ohr von der Couch. Mein Vater war gerade unterwegs um meine Mutter bei Bronco einzusammeln und dann gleich noch etwas fürs Abendessen zu besorgen – ehrlich, mein Vater war ein wahres Genie in der Küche. Also war außer mir niemand zu Hause.

„Warte mal kurz, es hat an der Tür geklingelt.“ Ein kurzer Check der Uhr sagte mir, dass es nur Cio sein konnte. Ich hatte ihm vorhin geschrieben wo ich abgeblieben war und ihn zum Abendessen eingeladen. Nicht dass er nicht auch ohne die Einladung hier aufgetaucht wäre.

Auf Socken ging ich durchs Wohnzimmer in den Holzverkleideten Flur zur Haustür. Und da stand er, genau wie vermutet. Mit einem Lächeln und einem Kuss begrüßte er mich und trat dann an mir vorbei ins Haus. „Mein Eltern sind noch unterwegs“, teilte ich ihm mit und beobachtete, wie er seine Tasche in die Garderobe hing, bei meinen Worten aber einen Moment inne hielt und mich schelmisch angrinste.

„Vergiss es.“ Ich drehte mich herum und hielt mir wieder das Handy ans Ohr. „So, bin wieder dran.“

„Was war denn?“

„Cio ist gerade gekommen.“ Ich trat zurück ins Wohnzimmer, setzte mich wieder auf die Couch und beobachtete eben genannten durch die Tür.

Kaspar gab ein würgendes Geräusch von sich.

„Lass das“, tadelte ich.

„Ich verstehe bis heute nicht, wie du dich auf so einen Kerl einlassen konntest.“

„Fang besser nicht an über meine Beziehung zu urteilen, sonst beginne ich mal mit deiner.“

Kaspar grummelte etwas Unverständliches, behielt aber ansonsten jeden weiteren Kommentar für sich.

Als Cio den Raum betrat und zu mir zum Sofa kam, schaute er fragend auf das Handy.

Kaspar, formte ich mit den Lippen.

Das Grinsen meines Freundes bekam etwas Raubtierhaftes. „Sag dem Frettchen hallo von mir.“

Das hatte Kaspar natürlich gehört. „Irgendwann“, schwor er mir Stein und Beil. „Irgendwann werde ich ihm so das Maul stopfen, dass er an der Scheiße, die er den ganzen Tag so von sich gibt, einfach erstickt.“

Oh Mann.

Durchs Telefon konnte ich Aric etwas murmeln hören.

„Aric lässt dein Arschloch grüßen.“

Lachend warf ich den Kopf in den Nacken und rutschte dann ein wenig zur Seite, damit Cio auch etwas Platz hatte. Dabei fand ich es nicht mal witzig, dass Kaspar meinen Freund so beleidigt hatte, sondern dass Aric sofort gewusst hatte, von wem sein Herzblatt sprach, als die Drohung ausgestoßen wurde. Und das ganz ohne dass ein Name gefallen wäre.

„Aric lässt dich grüßen“, teilte ich Cio mit und konzentrierte mich dann wieder auf meinen Gesprächspartner. „Sag mal, wenn du das Hotelzimmer nicht mehr verlassen willst, dann … hey, gib das wieder her!“

Das tat Cio nicht. Er hob mein Handy aus meiner Reichweite, hielt es sich ans Ohr und sagte: „Bye Kaspar.“ Dann legte er einfach auf, machte es sich in der Ecke bequem und bedachte mich mit einem Lächeln.

Ich funkelte ihn an. „Das war unhöflich.“

Sein Mundwinkel zuckte. „Nur so funktioniert die Beziehung zwischen Kaspar und mir.“ Er legte mein Handy auf den Tisch und nahm dann meine Hände. „Und bei dir, geht es dir besser?“

Ich zuckte nichtssagend die Schultern.

„Du bist auf jeden Fall nicht mehr so blass.“

Ich Glückliche. „Hat man den schon etwas Neues herausgefunden? Wegen Victoria meine ich?“

Seufzend nahm er mich in die Arme und lehnte sich dann zurück, sodass ich an seiner Brust zur Ruhe kam. Wahrscheinlich war ihm klar gewesen, dass das eine der ersten Fragen sein würde, sobald er hier ankam. „Ein bisschen was.“ Er legte mir die Hand in den Nacken und begann die verspannten Muskeln dort zu massieren.

„Erzähle es mir“, bat ich ihn und kuschelte mich enger in seine Umarmung.

Cio überlegte, wo er anfangen sollte. „Man hat ein Gedicht bei ihr gefunden.“

„Das weiß ich schon. Amors Pfeil.“

Ich spürte wie er nickte. „Man hatte es ihr in die Hand gelegt, nachdem man ihren Körper in Position gebracht hat.“

„In Position gebracht?“

„Victoria wurde nicht im Stall getötet.“ Er neigte den Kopf leicht, um mir ins Gesicht sehen zu können. „Wir wissen noch nicht wo der Mörder ihr aufgelauert hat, aber sie starb nicht im Stall, das ist gewiss. Allerdings zeigen die Spuren, dass man ihr erst dort das Herz entfernt hat.“

„Aber … warum?“

Er zuckte mit den Schultern. „Das weiß noch keiner. Wahrscheinlich so etwas wie seine Visitenkarte. Oder irgendwas Symbolisches. Vielleicht hat sie jemanden das Herz gebrochen und so hat er sich an ihr gerächt.“

Das war aber schon ziemlich makaber für eine Trennung. Ich meine, natürlich hatte ich schon gehört das Männer und Frauen sich gegenseitig umbrachten, weil sie von ihrem Partner verlassen worden waren. Aber jemanden auf diese Art zurück zu lassen? Das hatte doch schon eine sehr persönliche Note. „Aber warum hat man sie in den Stall gelegt? Was hat Großwächterin Victoria schon mit der Menagerie zu schaffen?“

„Eine ausgezeichnete Frage“, lobte er mich, aber da er nichts weiter dazu sagte, hatte er wohl auch keine Antwort darauf. Stattdessen sagte er. „Außerdem wissen wir mit ziemlicher Sicherheit, wann sie gestorben ist. Graf Deleo hat gestern Abend noch mit ihr telefoniert. Er wollte etwas mit ihr besprechen, aber sie tauchte nicht am Treffpunkt auf.“

Deleo. Arroganter … ach, lassen wir das. „Was wollte er den von Victoria?“

Cio zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Ich bin nur ein kleiner Umbra, schon vergessen? Ich bin zum Schutz der Königsfamilie ausgebildet, mit dieser Untersuchung habe ich nichts zu tun.“

Aber sein Vater. Allerdings würde Cio sich eher die Zunge abbeißen, als auf seinen Vater zuzugehen und ihn nach dem Ermittlungsstand zu fragen. Wegen den beiden würde ich mir noch etwas einfallen lassen müssen.

Ich lauschte seinem Herzschlag, während ich über seine Worte und meine eigene Frage nachdachte. Meistens, wenn ich Großwächterin Victoria begegnet war, dann war das im Vorhof gewesen. An den Ställen hatte ich sie nur selten gesehen, meistens eher aus der Entfernung, wenn sie an der Menagerie vorbeigekommen war.

„Wenn man sowas sieht“, sagte Cio plötzlich, „da fragt man sich doch, ob man wirklich ein Kind in diese Welt setzen will.“

Eine Antwort blieb mir zum Glück erspart, da in diesem Moment der Schlüssel im Haustürschloss gedreht wurde. Dann hörte ich auch schon die Stimmen meiner Eltern aus dem Korridor. Es raschelte ein wenig, meine Mutter kicherte auf eine Art, wie eine Tochter es niemals hören wollte und dann kam mein Vater mit zwei Tüten ins Wohnzimmer. Er warf Cio einen kurzen Blick zu, nickte zur Begrüßung und wandte sich dann direkt an mich. „Ich mache nur schnell essen, dann …“

„Keine Sorge Papa, mir geht es gut.“

Entweder wollte er es nicht glauben, oder er konnte es nicht. Auf jeden Fall konnte er den Zweifel in seinen Augen nicht verbergen. „Das ist gut.“ Als meine Mutter Tarajika plötzlich kickste, warf er einen kurzen Blick über die Schulter in den Flur. „Deiner Mutter habe die ganze Geschichte schon erzählt.“

Ich nickte zum Zeichen, dass ich verstanden hatte.

„Dann mache ich mich mal ans essen.“

Als ich ihm hinterher sah, überlegte ich kurz ihm zu helfen. Aber hier an Cios Brust gekuschelt war es viel zu gemütlich, als dass ich einfach meinen Platz verlassen wollte. Und dann trat meine Mutter auch schon in den Raum.

Sie war viel kleiner als mein Vater, reichte ihm gerade mal bis an die Schulter. Ihr Körperbau war her zierlich, obwohl sie sehr gut proportioniert war. Ihr kurzes, braunes Haar mit den dunkeln Flecken durchsetzt und ihr Gesicht erinnerte mich manchmal an das einer Puppe. Sie hatte dunkle Hautfarbe und war wunderschöne.

„Donasie! Schatz, geht es dir gut?“ Sie stürzte an meine Seite, unbeachtet dessen, dass ich halb auf meinem Freund drauf lag und begann damit mich systematisch nach Blessuren abzusuchen.

„Mama.“ Ich fing ihre Hand ab, als sie mir gerade ins Gesicht fassen wollte. „Ich bin nicht verletzt, alles ist in Ordnung.“ Schließlich war nicht ich es gewesen, die man vergessen auf dem Heuboden gefunden hatte. War es verwerflich, dass ich mich insgeheim darüber freute?

„Bist du sicher?“ Da ich noch Hand festhielt, untersuchte sie mich nun eben mit den Augen. „Du bist noch blasser als sonst.“

Das war ja mal ein nettes Kompliment gewesen. „Ja ich bin sicher.“

Sie kniff die Augen leicht zusammen. Tarajika war nicht wirklich meine Mutter. Sie war die Frau meines Vaters, die mich, nachdem meine leibliche Mutter mich im zarten Alten von drei Tagen weggeben musste, wie ihre leibliche Tochter aufgezogen hatte. Sie war immer für mich da gewesen, wenn auch manchmal ein wenig schräg drauf. Aber das lag in ihrer Natur. Nein sie war kein Vampir. Sie war auch kein Lykaner und ein Mensch war sie schon gar nicht. Meine Mutter war ein Ailuranthrop, ein Mensch der sich in einen Leoparden verwandeln, oder in ihrem Fall, in einen Panther. Und die waren eben … nennen wir es einfach mal eigen.

„Soll ich dir etwas holen? Brauchst du etwas?“ Noch bevor ich überhaupt die Chance bekam darauf etwas zu erwidern, war sie bereits aufgesprungen. „Ich weiß genau was du brauchst“, sagte sie noch, dann eilte sie auch schon mit langen Schritten durchs Wohnzimmer in die angrenzende Küche.

Ich blinzelte einmal, während Cio neugierig den Kopf zur Seite neigte, um einen besseren Blick auf die Küchentür zu haben. „Ich bin gespannt was jetzt kommt.“

Das konnte er auch durchaus sein, denn bei meiner Mutter wusste man nie so genau was sie als nächstes tat. Sie konnte ganz schlicht der Meinung sein, ein Tee würde reichen um mich wieder auf Kurs zu bringen. Sie könnte aber auch denken, dass ich nach diesem Schrecken jetzt erstmal Urlaub nötig hatte und die nächste Kreuzfahrt buchen, die sie fand. In solchen Momenten war es nicht unbedingt ratsam sie unbeaufsichtigt zu lassen. Doch nach ein paar gemurmelten Worten, die sie mit meinem Vater in der Küche tauschte, tauchte sie wieder bei uns auf und ich konnte aufatmen. In der Hand hielt sie zwei Tüten Gummibärchen, mit denen sie sich vor mich hockte. „Hier“, sagte sie und hielt mir die eine Tüte unter die Nase. Die andere reichte sie Cio.

„Wissen sie“, sagte er gedehnt, als er sie entgegen nahm. „Wäre ihre Tochter nicht meine Traumfrau, dann würde ich auf der Stelle mit ihnen durchbrennen.“

Ein verschmitztes Lächeln blitzte über ihre Lippen. „Und ich würde mitgehen“, gurrte sie und stupste ihm mit dem Finger gegen die Nasenspitze. „Wäre mein Herz nicht bereits vergeben.“

Er lachte leise.

Ich dagegen war mir nicht sicher ob es angebracht war sauer zu werden, weil meine Mutter und mein Freund ganz offen direkt vor meiner Nase miteinander flirteten, oder mich geschmeichelt fühlen sollte, weil Cio mich gerade als seine Traumfrau bezeichnet hatte.

Ich entschied mich dafür die beiden einfach zu ignorieren.

Die ersten Gerüche des anstehenden Abendessens geisterten bereits nach kurzer Zeit durch das Haus und das Essen selber gab es nur wenig später. Danach versammelten wir uns alle um den Fernseher und schauten eine Liebeskomödie im Abendprogramm.

Ich hatte mich an Cio gekuschelt, eine Decke über uns beide gezogen und dämmerte eigentlich nur noch so vor mich hin.

Mein Vater hatte im Sessel rechts von uns Platz genommen. In seinem Schoß, halb zusammengerollt, lag meine Mutter und schnurrte leise. Wie konnte sie nur so daliegen? Ja, sie war eine Katze und ja, sie war auch ziemlich klein und gelenkig, aber kein Mensch sollte solche verrenken machen können. Nun gut, wenn man es genau nahm, war sie zwar humanoid, aber kein Mensch.

Die Geräusche aus dem Fernseher waren alles was die abendliche Luft erfüllte, bis mein Vater sich leise flüsternd an Cio wandte: „Bleibst du heute Nacht hier, oder fährst du noch in deine Wohnung?“

Ja, Cio besaß in der Zwischenzeit eine eigene Wohnung. Bis vor etwas mehr als einem halben Jahr, hatte er noch zusammen mit seinen Eltern in dem Herrenhaus gewohnt, das auch Cayenne mit ihrer Familie bezogen hatte, nachdem sie gezwungen gewesen war ihren Posten als Königin der Lykaner an den Nagel zu hängen. Eine ganze Weile lief auch alles normal, doch nach einiger Zeit begannen Cio und sein Vater sich immer häufiger wegen Nichtigkeiten in die Haare zu bekommen. Es wurde so schlimm, dass Cio vor knapp sieben Monaten kurzentschlossen auszog.

Danach hatte ich gehofft die Beziehung zu seinem Vater würde sich wieder etwas entspannen, da sie nicht mehr den ganzen Tag aufeinander hockten. Falsch gedacht. Diego schien es seinem Sohn schwer übel zu nehmen, dass er sich praktisch über Nacht aus dem Staub gemacht hatte. Und Cio sah gar nicht ein, sich weiterhin von seinem Vater in seinem Leben herumpfuschen zu lassen – seine Worte, nicht meine. Warum nur waren die beiden solch sture Dickköpfe?

Cio strich mir einmal über den Rücken und drückte mich dann ein wenig fester an sich. „Ich würde gerne hier bleiben.“

Er wollte mich nicht allein lassen. Ach Cio.

„In Ordnung, aber denk dran, lass die Tür offen, wenn ihr nach oben geht.“

Als ich diese neue Regel hörte, verzog ich innerlich das Gesicht. Vor ein paar Wochen waren Cio und ich allein im Haus gewesen und da haben wir die traute Zweisamkeit eben genutzt. Ich hatte meine Mutter nicht so früh zurück erwartet und trotzdem hatte sie plötzlich bei mir im Zimmer gestanden.

Es war nicht so, dass sie sich für mich geschämt hätte, oder mir Vorhaltungen machen wollte, nein, viel schlimmer: Sie hatte sich für mich gefreut! Und das so überschwänglich, dass sie erstmal zu uns ins Bett gehüpft war, um uns beide gründlich zu umarmen und anschließend aus meinem Zimmer rannte, um meinem Vater alles brühwarm zu erzählen. Seitdem hatten wir hier im Haus eine neue Regel: Sobald Cio und ich allein waren, blieben von nun an die Türen offen. Das sollte uns davon abhalten in seinem Haus wir räudige Hunde übereinander herzufallen.

Als wenn wir keine fünf Minuten die Finger voneinander lassen könnten.

„Natürlich“, sagte Cio sofort, doch ich kannte ihn gut genug um seinem Ton zu entnehmen zu können, dass eine offene Tür kein Hindernis für ihn darstellen würde.

Mein Vater kannte ihn offensichtlich nicht so gut, denn er stand nicht auf, um seinen Hintern mit einem Arschtritt vor die Tür zu befördern, sondern wandte sich einfach wieder dem Film zu.

Ich kuschelte mich enger in Cios Umarmung und lauschte den Stimmen aus dem Fernseher. Meine Augen wurden immer schwerer und die Gedanken in meinem Kopf immer zäher. Ich bekam noch mit wie die nächste Werbepause eingeblendet wurde, dann stand ich plötzlich wieder auf dem Heuboden. Links und rechts von mir raschelte es im trockenen Stroh. Kleine Mäuse huschten hin und her, doch mein Blick hing allein an Victorias geschändetem Leichnam. Das durchstochene Herz schwebte über ihrem Körper und leuchtete in einem fluoreszierenden Licht. Plötzlich begann die Leiche zu beben, als würde sie irgendwas von unten wieder und wieder anstoßen. Dann blubberte es und im nächsten Moment sprudelten weinrote Quellen zwischen dem Stroh hervor. Innerhalb von Sekunden drohte das Blut den ganzen Heuboden zu überschwemmen und in dem Moment in dem es mich berührte …

… zuckte ich so heftig zusammen, dass ich mich damit selber aus dem Schlaf riss. Orientierungslos schaute ich mich um, bis sich zwei vertraute Arme von unten um mich schlossen.

„Hey.“ Cios Stimme war vom Schlaf noch ein wenig heiser. Ich mochte diesen Klang. „Alles in Ordnung?“

Ich brauchte einen Moment um mir klar darüber zu werden, dass ich mich noch immer auf der Couch im Wohnzimmer befand. Der Fernseher war aus, der Raum dunkel und die Digitaluhr sagte mir, dass meine Eltern sicher schon vor Stunden zu Bett gegangen waren. „Ich hab nur was Komisches geträumt.“

„Hat sich eher angefühlt als wärst du in einem Erdbeben gefangen, so heftig hast du gezuckt.“

Da ich halb angekuschelt auf ihm lag, konnte er das sicher gut beurteilen.

Plötzlich fror ich und zog mir die Decke bis über die Schultern. „Ich hab von Victoria geträumt.“

Cio seufzte, als hätte er genau das befürchtet. „Ich wünschte ich könnte dich diesen Anblick vergessen lassen.“

„Tja, schade dass du mich nicht beißen kannst“, sagte ich leichthin. Auch wenn der Biss eines Vampirs einem nicht wirklich Vergessen lassen konnte, so bekam man davon doch zumindest einen so heftigen Endorphinrausch, dass man darüber hinaus eine Zeitlang an nichts anderes mehr denken konnte. Nicht dass ich darin persönliche Erfahrung besaß. Ich biss Cio zwar regelmäßig, ich selber jedoch war in dieser Hinsicht noch völlig unberührt.

Während Cio eine Hand sanft über meinen Rücken wandern ließ, dachte er still nach und fragte dann: „Willst du dich denn mal beißen lassen?“

Ich hob den Kopf und schaute wie ein Pferd. Nicht dass er es sehen konnte, dazu war es zu dunkel. „Was?“

Sanft aber bestimmt zog er mich zurück an seine Brust. „Du brauchst nicht gleich so entsetzt sein“, schmunzelte er. „Es ist doch nur eine Frage.“

Ja, das schon, aber das Problem war, dass ich darüber tatsächlich schon ein paar Mal nachgedacht hatte. Ich meine, nicht dass Cio ein Egoschwein war und mich vergaß, wenn ich ihn biss. Aber wenn ich ihn halt erlebte, wenn ich sein Blut nahm, machte mich schon neugierig darauf, ob es mir auch so gut gefallen könnte. Aber bis heute wusste ich noch nicht wie genau ich zu diesem Thema stand. „Ist doch nicht so wichtig“, sagte ich daher.

Cio lachte leise. „Also hast du wirklich schon mal daran gedacht.“

„Na und“, murmelte ich und vergrub mein Gesicht an seiner Brust. Obwohl eigentlich gar kein Grund dazu bestand, war mir das irgendwie peinlich.

„Damit dich zu beißen, kann ich leider nicht dienen.“ Cio klang bedauernd, doch da war eine Spur Schalk in seiner Stimme, die mich aufmerken ließ, als er seinen Arm von meinem Rücken nahm und an seinen Hals hob. Ich konnte nicht erkennen, was genau er da tat, doch auf einmal roch ich sein Blut. Wie ein köstlicher Wein drang mir das Aroma in die Nase. Ich blähte die Nasenflügel, verfolgte den Geruch an seinen Ursprungsort. Es kam von seiner Halsbeuge. „Aber ich hoffe das Erlebnis mich zu beißen, gleicht diese Ungerechtigkeit ein kleinen wenig aus.“

Meiner Nase folgend, befanden sich meine Lippen gleich darauf an Cios Hals. Angelockt von dem köstlichen Geruch fuhren meine Fänge zu ihrer ganzen, prächtigen Länge aus und schabten über die weiche Haut. Die Drüsen in meinen Zähnen begannen das betäubende Sekret zu produzieren, dass Cio für meinen Biss nicht nur unempfindlich machen würde, sondern ihm auch in einen Endorphinrausch schickte, der ihn ins Taumeln bringen konnte.

Cio stöhnte unter mir erwartungsvoll. Dabei schickte er seine Hände auf Wanderung über meinen Körper und zog mich fester an sich. „Tu es, Schäfchen, ich will es spüren.“

Wie bereits erwähnt, offene Türen stellten für Cio kein Hindernis dar, genau wie die Tatsache, dass wir mitten im Wohnzimmer lagen und jederzeit erwischt werden konnten. Für mich auch nicht, wie ich gleich drauf feststellen musste, denn trotz meines Wissens, dass das sicher keine gute Idee war, biss ich auf sein Drängen hin zu und ließ mir sein Blut in den Mund laufen.

 

°°°°°

Leichenschmaus

 

„Schau, da drüben stehen sie.“ Cio zeigte durch die Menge zu der äußeren Säule des Tempels, neben der Cayenne und Sydney standen und ihrerseits nach uns Ausschau hielten.

Zum heutigen Anlass war Sydney nicht nur in Menschengestalt erschienen, er hatte sich auch in einen Anzug geworfen. Er war ein großer Mann. Sein sandfarbenes Haar war etwas länger und hing ihm ein wenig ins Gesicht. Mir vermittelte es immer den Anschein, als bräuchte Sydney es, um sich im Notfall dahinter verbergen zu können, denn ohne sein Fell, waren die Narben, die seinen ganzen Körper überzogen, nur umso deutlicher zu erkennen.

Neben ihm wirkte meine Mutter in ihrem schwarzen Kleid, wie eine welke Blume. Sie war nicht glücklich. Klar, wir befanden uns auf einer Beerdigung. Die wenigstens Leute würden so ein Ereignis mit einem Lächeln auf den Lippen besuchen, doch sie wirkte heute irgendwie … fahl. Ihr Strahlen war ihr abhandengekommen und hatte nur einen blassen Abklatsch zurück gelassen.

„Komm.“ Cio nahm mich fester bei der Hand, damit ich ihm in der Menge auch nicht verloren ging und zog mich dann Richtung Säule.

Vier Tage war es nun her, dass ich Victoria auf dem Heuboden gefunden hatte. Vier Tage in denen es kaum neue Hinweise gegeben hatte. Und nun standen wir hier um für immer Abschied von ihr zu nehmen.

Die Feierlichkeit zu ihren Ehren wurde im Tempel von Leukos abgehalten. Auf dem Platz davon drängten die Leute sich. Eine große Menge hatte sich heute hier eingefunden, so viel wollten ihr die letzte Ehre erweisen und sich von ihr verabschieden.

Auf unserem Weg entdeckte ich ein paar bekannte Gesichter unter den Gästen – viele von ihnen waren Leute oben aus dem Schoss – die meisten jedoch waren mir unbekannt. Konnte natürlich daran liegen, dass ich mehr mit Vampiren, als mit Werwölfen zu tun hatte.

Und das, obwohl mein Freund sich immer mal wieder einen Schwanz wachsen ließ. Okay, das hatte sich jetzt definitiv falsch angehört. Obwohl, eigentlich stimmte das so auch wieder nicht. Beruflich hatte ich meist nur mit Vampiren zu tun. Privat dagegen waren es die Lykaner, die mein Leben beherrschten – von meinen Eltern einmal abgesehen.

Ich bemühte mich den Gedanken abzuschütteln, als ich vor Cayenne trat.

„Zaira“, begrüßte sie mich und nahm mich auch sofort in die Arme.

Ich spannte mich ein wenig an und schämte mich beinahe dafür, als sie es merkte, aber es hatte da mal einen Zwischenfall gegeben, bei dem sie aufgrund ihrer Psychose auf mich losgegangen war und seitdem passierte das ganz automatisch, wenn sie mir nahe war. Ich wusste dass es ihr Leid tat und in der Zwischenzeit hatte ich ihr auch längst verziehen, aber ich mochte eben keine Schmerzen, und gegen die automatische Reaktion meines Körpers konnte ich ja nun nicht viel ausrichten.

Weil sie wahrscheinlich all das auch wusste, schwieg meine leibliche Mutter, als sie mich losließ und sich wieder bei Sydney einharkte. „Wie geht es dir?“

„Ich kann nicht klagen.“ Schließlich war nicht ich es, die hier in einem Sarg aufgebahrt wurde.

Okay, dieser Gedanke war gerade mehr als nur ein bisschen geschmacklos gewesen.

Sydney nickte mir zur Begrüßung auf seine ruhige Art zu.

Ich schaute nach links ins Innere des Tempels. Die Städte Leukos' war nichts weiter als ein großes Dach, das auf zwölf Säulen gestützt mitten in Silenda aufragte. Ganz hinten stand die majestätische Statur eines eindrucksvollen Wolfes. Davor auf einem Podest war Großwächterin Victoria in ihrem Sarg aufgebahrt. Kränze und Blumengestecke waren um sie herum verteilt worden. Überall hatten die Leute zu ihrem Andenken Kerzen aufgestellt.

Die Stuhlreihen vor dem Sarg waren alle schon gut gefüllt. Es herrschte ein bedächtiges Murmeln im Raum.

„Das ist gut.“ Cayenne drückte mir die Hand und ließ ihren Blick dann selber schweifen. „So viele Leute, die einem auf dem Weg durchs Leben begegnen.“

Das drang außerordentlich melancholisch an meine Ohren. „Warst du schon auf vielen Beerdigungen?“

In ihrer Mimik verschloss sich etwas. „Auf genug.“

Okay, da war ich wohl in ein Fettnäpfchen getreten. Unwohl ließ ich meinen Blick wieder über die Stuhlreihen gleiten und blieb dann an einer jungen Frau in der vordersten Reihe hängen, die neben einem großgewachsenen Mann, mit angegrauten Schläfen saß.

Ach. Du. Scheiße!

Iesha.

Zwar trug sie ihr Haar im Gegensatz zu früher nicht mehr raspelkurz, sondern schulterlang, doch dieses Engelsgesicht würde ich sogar hinter einer Maske erkennen. Dort vorne, in vorderster Front, saß Cios völlig durchgeknallte Exfreunden.

„Wir haben doch gewusst, dass sie hier sein würde“, versuchte Cio mich zu beruhigen und legte den Arm um meine Taille. Natürlich hatte er sie auch schon entdeckt. Er zog mich an sich und vergrub seine Nase an meinem Hals. „Die Tote ist immerhin ihre Mutter.“

Ja, ja natürlich, alles was er sagte stimmte. Und trotzdem war es ein kleiner Schock sie direkt vor Augen zu haben. Das letzte Mal als wir uns begegnet waren, hatte sie versucht mir den Schädel mit einem Stück Holz einzuschlagen und wäre meine Mutter nicht dazwischen gegangen, wäre es ihr wahrscheinlich auch gelungen.

Doch heute und hier sah sie nicht mehr wie die verrückte Furie aus, die versuchte meinem Leben ein frühzeitiges Ende zu bereiten. Das Kleid das sie trug war schwarz, schlicht und hoch geschlossen. Ihr Haar hing ihr glatt vom Kopf und ihr Gesichtsausdruck war neutral, vielleicht ein bisschen bedauernd, aber in keinem Fall so wie ich aussehen würde, wenn ich auf die Beerdigung meiner Mutter müsste. Keine Träne, kein Taschentuch. Nur die Hand, die sie mit der ihres Vaters Hardy verschränkt hatte.

Als hätte sie gespürt, dass sie beobachtet wurde, drehte sie sich auf ihrem Sitz herum und fand mich in der Menge so Zielsicher, als wüsste sie ganz genau, wo sie suchen musste.

Als ich ihrem Blick begegnete, erstarrte ich innerlich Es war ein instinktives Verhalten. Wenn man in seinem Leben wirklich so etwas wie eine Erzfeindin besitzen konnte, dann war Iesha die meine. Und das aus guten Grund.

Sie musterte mich und Cio, beobachtete genau, auf welche Art er den Arm um mich gelegt hatte und wie vertraut wir beieinander standen. Ihre Augen wurden eine Spur schmaler und mich überfiel einen kurzen Moment die alte Angst, die ich früher immer verspürt hatte, wenn ich ihm in ihrer Gegenwart nahe gewesen war.

Cio drückte mich ein wenig fester an sich, als spürte er mein plötzliches Unwohlsein. „Ganz ruhig.“ Er hauchte mir einen Kuss in meine Halsbeuge. „Ich bin bei dir.“

Und nie in meinem Leben war ich glücklicher darüber, als in diesem Moment.

„Kommt.“ Sydney legte eine Hand auf Cayennes Rücken. „Lasst uns unsere Plätze einnehmen, der Abschied beginnt gleich.“ Er schob seine Gefährtin zwischen uns und der Säule hindurch in den Tempel hinein.

Ich fasste nach Cios Hand, genoss noch einen Moment seine Nähe und folgte den beiden dann. Dabei war mir sehr wohl bewusst, dass Iesha uns noch immer beobachtete.

Unsere Plätze befanden sich im vorderen Drittel am Mittelgang – nach meinem Geschmack viel zu nahe bei Cios Ex. Das sind höchstens zehn Meter!, bemerkte ich entsetzt, als ich den Abstand zu ihr mit den Augen maß. Vorsichtshalber hielt ich nach einem Fluchtweg Ausschau.

Sydney, der von dem Film in meinem Kopf nichts mitbekam, rutschte als erstes in die Stuhlreihe. Cayenne folgte ihm. Ich musste ein Stück zur Seite treten, damit sie vorbei kam und da geschah es. Ich stieß mit dem Rücken gegen einen der anderen Gäste. Überrascht wirbelte ich herum, um mich sofort zu entschuldigen, doch die Worte blieben mir im Hals stecken, als ich die rauchgrauen Augen erblickte. Sie funkelten mich belustigt an.

Tayfun.

„Oh, hallo.“ Seine Stimme war genauso weich und melodisch wie bei unserer letzten Begegnung. „So trifft man wieder … aufeinander.“

Musste der das so anzüglich klingen lassen? Innerlich legte ich die Ohren an und knurrte, äußerlich jedoch hob ich nur ein ganz kleinen wenig die Oberlippe und drückte mich fester an Cio. Ich mochte den Kerl nicht. Keine Ahnung warum, aber der sollte mir bloß vom Leib bleiben.

Seine Augen blitzten bei dieser Geste auf und sein Lächeln entblößte seine spitzen Fangzähne.

Wie auch beim letzten Mal wurde mein Blick einen kurzen Moment wie magisch davon angezogen. Ich zog meine Oberlippe höher. Dieses Mal war es eindeutig eine Drohung, die ihn sogar zu begeistern schien.

„Ich freue mich auf unsere nächste Begegnung.“ Genau wie bei meinem Vater, machte er eine äußerst spöttische Verbeugung vor uns, drehte sich dann herum und steuerte auf eine der Sitzreihen weiter hinten zu, wo ich viele der anderen Themis sitzen sah.

Neben mir runzelte Cio die Stirn. „Möchtest du mir das erklären?“

Ich zuckte nur gleichgültig mit den Schultern und kletterte dann auf meinen Platz neben Cayenne. „Er ist ein Kollege von meinem Vater.“

Cio ließ sich neben mir am Gang nieder und ergriff sofort wieder meine Hand. Ich mochte es, dass er mich ständig berühren wollte. Auch wenn es nur ein kurzes Streicheln über die Wange war, oder er mir im Vorbeigehen einfach mal über den Arm strich, ich glaubte nicht, dass ich jemals genug davon bekommen würde.

„Du magst ihn nicht“, stellte er ganz richtig fest.

„Ich muss ja auch nicht jeden mögen“, erwiderte ich schlicht, konnte mich aber nicht daran hindern doch noch einen Blick über die Schulter zu werfen.

In der Zwischenzeit hatte Tayfun seinen Platz zwischen den Themis gefunden. Er saß da, breitbeinig zurückgelehnt und beobachtete mich so eindringlich, dass es schon eine Verletzung meiner Intimsphäre war. Als ich seinem Blick begegnete, wurde sein Lächeln sogar noch breiter und seine Fänge ein Stück länger.

Mein ganzer Brustkorb vibrierte, als ich plötzlich anfing aus tiefster Kehle zu knurren und passenderweise gleich auch noch ein wenig die Zähne fletschte. Was mich an dieser kleinen Geste genau aufregte, wusste ich nicht einmal, aber in dem Moment wäre ich am liebsten aufgestanden und hätte ihn den Hintern versohlt. Da solch drastische Handlungen auf einer Beerdigung aber sicher nicht gerne gesehen wurden und nur für unerwünschtes Aufsehen sorgen würden, beließ ich es bei einem tödlichen Blick und drehte mich auf meinem Stuhl wieder richtig herum.

Zwei paar Augen waren erstaunt auf mich gerichtet. Cayenne hatte sogar ein wenig die Augenbraue erhoben.

Fantastisch, wirklich fantastisch. Verlegen sackte ich ein Stück in mich zusammen und richtete meine Augen stur nach vorne. Doch leider war die Aussicht dort auch nicht besser. Iesha beobachtete uns noch immer. Und dann plötzlich nickte sie mir zu und wandte sich dann wieder zu dem Sarg ihrer Mutter um.

Ich blinzelte. Okay, das war seltsam.

Cio drückte vergnügt meine Hand. „Ich würde doch zu gerne wissen was dieser Kerl angestellt hat, dass du ihn praktisch fressen willst.“

Oh nein, mir blieb gerade aber wirklich gar nichts erspart. „Er hat gar nichts getan“, knurrte ich. Verdammt, das hatte sich jetzt aber nicht sehr überzeugend angehört. Okay, atme einfach einmal tief durch. Ich tat es. „Kennst du das, wenn du jemand begegnest und ihn vom ersten Moment an nicht leiden kannst, obwohl er dir nie etwas getan hat?“

„Ja.“ Er nickte so ernsthaft, dass ein Fremder ihm das sicher abgekauft hätte. Aber ich sah den Schalk in seinen Augen tanzen. „Genauso ging es mir damals, als ich das Frettchen in deinem Zimmer entdeckt habe.“

Oh Mann. Ich beließ es bei einem Seufzen und richtete meinen Blick nach vorne zum Sarg. Er war offen, doch aus meiner Position konnte ich Victoria nicht erkennen. War vielleicht auch besser so, in meinem Kopf spukten schon genug Bilder der Großwächterin herum.

Bisher war die Beerdigung nicht anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. Viele Gäste in schwarz, Blumenarrangements und hin und wieder blitzten Taschentücher in der Menge auf. Vorne stand sogar ein Mann. Es war kein Pastor oder etwas in der Art, sowas besaß die verborgene Welt nicht. Diesen Mann nannte man Seorsum. Er ein Zeremonienmeister und würde den Abschiedes von Victoria Walker leiten.

Der einzige Unterschied zu einer normalen Beerdigung bestand in den Gästen selber. Auch wenn sie auf den ersten Blick alle ziemlich normal wirkten, musste man nur ein wenig genauer hinschauen, um die vielen großen Hunde auf den Stühlen zu bemerken, oder auch die spitzen Zähne, die immer mal wieder in den Mündern der einzelner Besucher aufblitzten.

„Ich könnte ihn für dich verhauen“, überlegte Cio laut. „Würde dir das gefallen?“

Ich brauchte einen Moment um zu verstehen, dass sich das auf Tayfun bezog. „Nein“, sagte ich und kuschelte mich an ihn. Sofort legte er einen Arm um mich. „Bleib einfach nur bei mir.“

Er gab mir einen Kuss auf den Kopf und drückte mich fest an sich.

Danach vermied ich es einen weiteren Blick über die Schulter zu werfen, oder woanders hinzusehen, als stur geradeaus. So war ich wohl auch eine er ersten, die bemerkte wie die Zeremonie begann.

Der Seorsum trat in seinem Anzug direkt vor den Sarg. Er war schon ein etwas älterer Herr, der hin und wieder gerne mal zu naschen schien. Seine Augen glitten über die Besucher, bevor er den Kopf bedächtig in den Nacken neigte, und ein tiefes und sehr langgezogenes Wolfsheulen ausstieß.

Sofort verstummten die Gespräche im Tempel und die allgemeine Aufmerksamkeit richte sich auf den Mann.

„Der Tod ist gewiss, ungewiss ist nur die Stunde“, verkündete er, als sei es eine große Weisheit. „Nun ist die Stunde gekommen und wir müssen von einem Kind des Mondes Abschied nehmen.“

Irgendwo hinter mir hörte ich eine Frau tuscheln, dass Victoria doch eh nur ein Misto war.

Bevor ich darauf reagieren konnte, wallte Cayennes Odeur um mich herum auf und ein leises Knurren vibrierte in ihrer Kehle.

Die Frau hinter uns gab ein verängstigtes Quietschen von sich und verfiel sofort in reuiges Schweigen.

Ich blitzte sie wütend über die Schulter an. Was sollte das heißen, nur? War Victoriaes Leben weniger wert, weil sie ein Misto gewesen war? Was wollte das Weib überhaupt hier, wenn ihr Mischlinge zuwider waren? Ich mochte solche Leute nicht. Aber wenigstens war es nicht so wie mein Vater mir früher erzählt hatte, um mich von der Verborgenen Welt fern zu halten. Es entsprach nämlich nicht der Realität, dass an jeder Straßenecke Misto von Reinblütlern eingefangen und umgebracht wurden.

„Victoria Walker war eine gutherzige Frau, die gerne lachte und immer sofort zur Stelle war, wenn sie gebraucht wurde“, sprach der Seorsum weiter ohne zu ahnen, was hier gerade los war. „Vielen Lykanern und Vampiren war sie durch ihre Arbeit als Großwächterin bekannt. Mehr als sechzig Jahre lang bereicherte sie unser aller Leben, manchmal lächelnd, manchmal leidend, doch immer mit dem Herz am rechten Fleck.“ Dann begann er Geschichten von Victoria zum Besten zu geben. Er erzählte, wie sie einmal einen kleinen jungen gerettet hatte und wie überglücklich sie damals gewesen war, als sie zum ersten Mal ihre Tochter in den Armen halten durfte.

Ich schaute zu Iesha und sah gerade noch, wie sie sich eine Träne von der Wange wischte. Augenblick tat es mir leid, was ich vorhin gedacht hatte. Nur weil sie nicht wie ich an ihrer Stelle Rotz und Wasser heulte, hieß das noch lange nicht, dass sie nicht auf ihre Art um ihren Verlust trauerte. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie ich mich fühlen würde, läge dort meine Mutter in dem Sarg – besonders wenn sie einem auf so grausame Art entrissen worden war.

Die Zeremonie zog in einem Strom aus Reden und Tränen an mir vorbei. Viele Leute wollten sich mit ihren eigenen Worten von Victoria verabschieden. Und nachdem der letzte Redner in Schweigen verfiel, jaulten die Restlichen, um Victoria zu ehren und angemessen Abschied von ihr zu nehmen.

Wieder trat der Seorsum nach vorne. Mit einer einfachen Handgeste, bat er die Anwesenden um Ruhe. Aber er ergriff nicht das Wort, wie ich zuerst glaubte, nein, er deutete einfach still den Mittelgang entlang. Ich war wohl nicht die einzige, die sich überrascht herumdrehte und erst jetzt die Gäste bemerkte, die unbemerkt eingetroffen waren.

Dort am Eingang, in vorderster Reihe vor ihrem Gefolge aus einem Dutzend Leuten, stand Königin Sadrija.

Dunkelblondes Haar, blasse Haut. Seit ihrer Krönung vor knapp drei Jahren, hatte sie zugenommen. Sie wirkte kräftiger, gesünder und der runde Leib, in dem sie ein neues Leben barg, ließ sie lebendiger denn je wirken. Ja, die Königin der Lykaner war schwanger. Das ganze Rudel wartet bereist sehnsüchtig auf den Nachwuchs und lauert dem Geburtstermin entgegen. Nur noch wenige Wochen, dann wäre es soweit.

Doch bei all den positiven Veränderungen die sie durchgemacht hatte, wirkte sie nach wie vor blass und durchscheinend, irgendwie unwirklich und seelenlos. Ja, genau das war es. Selbst wenn sie lächelte, wirkte sie wie eine leere Hülle, die nur auf Autopilot funktionierte.

Direkt neben ihr stand ihr Mann König Carlos. Er überragte sie ein gutes Stück und hatte schützend die Hand auf ihren Unterrücken gelegt. Sie wirkten vertraut miteinander, aber nicht so wie ich es von Cio gewohnt war. Da war eine Distanziertheit zwischen den beiden, die wohl mit dem Alptraum ihrer Vergangenheit zusammenhing.

Hinter den Beiden befanden sich ein halbes Dutzend Umbras. Dann gab es da noch ein paar Wächter und irgendwo dazwischen entdecke ich sogar Graf Rouven Deleo.

Still und bedächtig bewegte die Gruppe sich den Mittelgang entlang auf den Seorsum zu. Als sie an uns vorbei kamen, spannte Cio sich leicht an und ich wusste, er hatte seinen Vater in der Gruppe entdeckt. Es schien unendlich lange her zu sein, seit ich Cio in Gegenwart seines Vaters das letzte Mal entspannt erlebt hatte.

König und Königin traten als einzige der Gruppe auf das erhöhte Podest direkt vor den Seorsum. Dieser verbeugte sich vor den beiden und trat dann zur Seite, um freien Zugang zu dem Sarg zu gewähren.

Königin Sadrija wandte sich der Toten zu. Sie löste sich aus der Umarmung, trat an den Sarg und schaute traurig auf das was einmal Victoria gewesen war. Im ganzen Tempel war es still, als sie behutsam die Hand hob und damit vorsichtig über die Wange der Großwächterin strich. Ihre Lippen bewegten sich unter flüsternden Worten, doch trotz der Ruhe die uns umgab, konnte niemand außer der Königin selbst sie verstehen. Diese Worte waren nur für Victoria bestimmt.

Ich beobachtete wie die Königin Sadrija von dem Sarg zurück trat, ihrem Gefährten einen kurzen Blick zuwarf und dann entgegen meiner Erwartung nicht zu ihren Hofstaat zurückkehrte, sondern sich Iesha zuwandte.

Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit, als sie vor Cios Ex und Wächter Hardy trat. Ihre Lippen bewegten sich, als die den beiden ihr Beileid aussprach. Doch ich achtete gar nicht darauf, was dort geredet wurde, meine Aufmerksamkeit galt Ieshas Gesichtsausdruck, der mit einem Mal so verkniffen wurde, als hätte sie in eine extra saure Zitrone gebissen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und senkte den Blick.

Ihr Vater dagegen nickte den Worte der Königin zustimmend zu und verneigte sich leicht vor ihr.

Iesha wandte sich ab.

Auch ich machte hastig, dass mein Blick in eine andre Richtung ging. Sie musste ja nun nicht unbedingt wissen, dass ich sie beobachtet hatte. Obwohl sie das ja auch bei mir getan hatte. Aber … naja, ich wollte eben trotzdem nicht, dass sie mich erwischte.

Die Beerdigung endete mit einem Trauerzug, an dem nur Familienmitglieder und die engsten Freunde teilnahmen, um sich ein letztes Mal von Victoria verabschieden zu können. Auch die anderen Besucher brachen auf. Manche gingen einfach, aber die meisten schlossen sich zusammen, um in dem nahegelegenen Gemeindehaus dem anschließenden Totenmahl beizuwohnen.

Ich war mir nicht ganz sicher warum ich mich bei Cio einharkte und der Schar anschloss. Ich meine, Cayenne hatte einen sehr guten Grund an der Trauerfeier teilzunehmen. Victoria gehörte zu ihrer Vergangenheit. Sie waren mehr als einfache Bekannte gewesen Die beiden Frauen verband die Vergangenheit. Ich kannte Victoria nicht gut und hatte auch keine Vergangenheit mit ihr gehabt.

Aber du hast ihre Leiche gefunden.

Und das war wohl der springende Punkt. Seit vier Tagen konnte ich nicht mehr die Augen schließen, ohne ihre herzlose Leiche vor mir liegen zu sehen. Darum hatte ich gestern verkündet, dass ich heute herkommen wollte. Mein Vater war nicht begeistert gewesen, doch meine Mutter schien mich zu verstehen. Sie war es auch gewesen, die mich dazu gedrängt hatte Cayenne anzurufen, um diesen Anlass gemeinsam besuchen zu können. Und obwohl ich jetzt hier war und zugesehen hatte, wie sie zu Grabe getragen wurde, war ich mir nicht sicher, ob mir das wirklich wieder Frieden bringen konnte.

„Alles okay?“, fragte Cio und hielt mir die Tür zum Gemeindezentrum auf. „Du bist so still.“

„Einfach nachdenklich.“

Das Gemeindehaus war ein großes Gebäude aus roten Backsteinen. Hinter der großen Doppeltür traten wir in einen großen holzvertäfelten Vorraum, in dem sich bereits allerlei Gäste drängten und leise unterhielten. Von hier aus musste man durch eine weitere Doppeltür, um in den Saal zu gelangen, wo der Leichenschmaus für Victorias Abschied angerichtet worden war.

Leider war das erste was ich in der kleinen Halle entdeckte, der große Aufsteller mit Victorias lächelndem Gesicht. Und wieder einmal fragte ich mich, warum ihr das passiert war. Nicht dass ich es jemand anderem wünschte – außer vielleicht dem Täter selber – aber es musste doch einen Grund für diese Tat geben. Laut meinem Vater, war das ganze viel zu persönlich, als dass es sich bei Victoria um ein zufälliges Opfer gehandelt haben konnte. Und dann war sie ja auch noch im Hof der Lykaner ermordet worden. So eine Tat dort zu verüben, war mehr als nur gefährlich. Was also hatte Victoria getan, dass ihr Peiniger so wütend wurde um dieses hohe Risiko auf sich zu nehmen und ihr das Herz aus der Brust zu schneiden?

„Möchtest du mich an deinen Gedanken teilhaben lassen?“, fragte Cio leise und legte eine Hand auf meinen Rücken, um mich weiter in den Raum zu schieben. Hinter mir hatte sich bereits ein kleiner Stau gebildet.

Ich schüttelte den Kopf. Nicht weil ich ihm etwas verschweigen wollte. Ich wollte nur gerade einfach nicht über die Dinge in meinem Kopf sprechen.

„Bist du sicher?“ Er gab mir einen spielerischen Stoß mit der Hüfte. „Ich bin nämlich wirklich neugierig. Und du weißt ja, deine kleinen Geheimnisse haben mich schon immer brennend interessiert.“

Das brachte ihm ein kleines Lächeln von mir ein. „Ich habe nur über Victoria nachgedacht, kein Grund sich Sorgen zu machen.“

Er drückte mich ein wenig an sich. „Wir schaffen das schon.“

Daran zweifelte ich nicht. Ich wünschte nur endlich diese ganzen Bilder aus meinem Kopf zu bekommen. Natürlich brauchte sowas Zeit – das wusste ich – aber ich würde gerne mal wieder eine ganze Nacht durchschlafen. Das fehlte mir wirklich.

„Wir werden uns mal ein wenig umsehen“, erklärte Cayenne uns. Sie stand mit Sydney direkt hinter mir. „Wir sehen uns später.“

„Klar.“ Ich nickte ihr zu und ließ meinen Blick ein wenig über die Gäste gleiten. Einige schnieften, andere versuchten ihre Treuer ein wenig um Zaun zu halten. Ein Stück neben uns stand eine Gruppe von fünf Leuten, die sich über Victoria austauschten und über glückliche Erinnerungen mit ihr berichteten.

Wen ich allerdings nicht entdeckte war Iesha und wenn ich ehrlich war, erleichterte mich das ungemein. Durch meine Vergangenheit waren meine Gefühle ihr gegenüber gemischt. Einerseits hatte ich fürchterliche Angst vor dieser Lykanerin. Ich mochte einfach keine Gewalt und sie hatte mich mehr als einmal angegriffen. Gleichzeitig hasste ich sie aber auch. Nicht wegen dem was sie mir angetan hatte – obwohl ich immer noch rasend vor Zorn war, wenn ich nur daran dachte, wie sie damals meinen Vater unter dem Befehl von Gräfin Xaverine verletzt hatte – sondern, weil sie Cio verletzt hatte. Schon lange bevor ich auf der Bildfläche aufgetaucht war, hatte sie ihn furchtbar verletzt und das hatte seine Spuren hinterlassen. Ich wusste nicht ob er früher anders war, aber seit ich ihn kannte, vermied er Zugneigungsbekundungen. Wir waren jetzt schon seit Jahren ein Paar und auch wenn er mit Gesten und Taten zeigte wie tief er für mich empfand, so hatte er bis heute nicht die drei kleinen magischen Worte ausgesprochen. Es war als würde er sich davor fürchten.

„Möchtest du etwas essen?“, fragte er mich und zeigte auf das großen Büfett vor den Fenstern.

„Ich glaube nicht, dass ich etwas herunter bekomme.“ Die ganze Angelegenheit schlug mir schon seit Tagen auf den Magen.

Cio runzelte besorgt die Stirn. „Du hast schon heute Morgen nichts gegessen und gestern auch nur lustlos auf deinem Teller herumgestochert.“

„Ich habe einfach keinen Hunger.“ Es war genau wie damals. Sobald etwas geschah, was sich meiner Kontrolle entzog, streikte mein Magen.

Das gefiel ihm nicht. Der missbilligende Zug um seinen Mund machte das sehr deutlich.

„Aber ich würde gerne etwas trinken.“ Eigentlich wollte ich das nicht, doch so wie er mich anschaute, fühlte ich mich gezwungen ihm eine Alternative anzubieten.

„Okay, dann besorgen wir dir was zu trinken.“ Sein Ton verriet mir mehr als deutlich, dass er mit mir nicht zufrieden war, aber für den Augenblick nahm er was er kriegen konnte und führte mich zu der Bar rechts, wo ein Mann mit schütterem Haar die Getränke ausgab.

Während Cio unsere Bestellung aufgab, ließ ich meinen Blick erneut schweifen. Cayenne und Sydney hatte sich zu ein paar Themis gesellt. Ich wusste von den wenigsten ihren Namen, doch die einzelnen Gesichter kamen mir von meinen Besuchen bekannt vor. Andererseits waren die Namen auch egal, weil sie sowieso falsch waren. Jeder Themis benutzte ein Pseudonym. Soweit ich wusste, kannten die meisten nicht einmal untereinander ihre richtigen Namen. Meine leiblichen Eltern waren da eher die Ausnahme. Nach der Lebensgeschichte, die sie hinter sich hatten, war das aber auch kein Wunder. Und dann wohnte mein Vater auch noch mit seiner Familie in der Stadt. Trotzdem sprachen die Themis ihn immer mit seinem Pseudonym Ryder an.

Mein Blick blieb für einen Moment an Tayfun hängen. Er hatte den Kopf zurückgeworfen und lachte herzlich. Seine Fänge waren der Fokus in seinem Gesicht. Wahrscheinlich war auch Tayfun nichts weiter als ein Deckname, der seine Vergangenheit auslöschen sollte. Was ihm wohl widerfahren war? Wie war er zu den Themis gekommen? Er war doch noch so jung.

„Hier.“ Cio hielt mir ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit unter die Nase.

Ich zog eine Augenbraue nach oben. „Wasser?“

„Auf leerem Magen werde ich dir sicher kein Alkohol geben. Iss etwas, dann kannst du dich meinetwegen auch volllaufen lassen, bis du nur noch durch die Gegend torkelst. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass ich deinen anschließend geschwächten Zustand nicht ausnutzen werde.“ Er überlegte einen Moment. „Obwohl, eigentlich doch.“

Ich schnaubte und nahm lächelnd das Wasserglas entgegen. Das war so typisch Cio. „In solchen Momenten weiß ich wieder, warum ich dich behalte.“

Er warf sich übertrieben in Pose. „Weil ich der unglaublich göttliche Elicio bin.“

„Unter anderem auch deswegen.“ Ich tätschelte ihm die Brust und nahm einen Schluck von meinem Wasser.

„Komm“, sagte er dann. „Wir schauen uns mal ein wenig um.“ Was im Klartext so viel bedeutete, wie, dass wir uns mit seinen anwesenden Arbeitskollegen unterhielten. Ein paar von den wenigen anwesenden Umbras kannte ich flüchtig, aber eigentlich konnte ich mit ihnen nichts anfangen. Und auch nicht mit ihren Gesprächsthemen. Darum blieb ich die meiste Zeit still an seiner Seite und beobachtete die anderen Gäste. Wahrscheinlich bemerkte ich deswegen immer wieder, wie Tayfun wiederum mich beobachtete. Ich zeigte ihm mehr als einmal meine Zähne.

Nach endlosen Stunden – okay, es war nur eine halbe Stunde – und langweiligen Gesprächen über Strategie und Kampftechniken, entschuldigte ich mich um mal die Toiletten aufzusuchen. Dabei hoffte ich inständig, dass Cio sein Gespräch bis zu meiner Rückkehr beendet haben würde. Ich ließ mir sogar extra viel Zeit und vertrödelte allein beim Händewaschen fast fünf Minuten. Leider stand Cio bei meiner Rückkehr noch immer bei dem Kerl. Gerade als ich wieder in den Saal zurück trat, gestikulierte er wild mit den Armen. Cios Blick jedoch glitt sofort auf mich, als hätte er nur darauf gelauert, dass ich endlich wieder auftauchte.

Ich gab ihm ein Zeichen, mich mal am Büfett umzusehen. Zwar war ich noch immer nicht wirklich hungrig, aber die Speisen zu studieren würden mich wenigstens noch ein bissen von den langweiligen Themen fernhalten.

Cio nickte mir zu, dass er verstanden hatte und wandte sich wieder seinem Gesprächspartner zu.

Eigentlich hätte ich auch gehen können, wenn ich denn eine Mitfahrgelegenheit gehabt hätte. Mein Vater hatte uns vorhin am Tempel abgesetzt und Cayenne hatte sich bereit erklärt uns später nach Hause zu fahren. Sie hatte sich darüber gefreut, als ich sie gestern am Telefon darum gebeten hatten. Deswegen konnte ich sie jetzt nicht einfach vor den Kopf stoßen und abhauen. Und sie sah auch leider nicht so aus, als wolle sie in den nächsten zehn Minuten aufbrechen.

So fand ich mich am Büfett wieder, wo ich verschiedene Kuchen und belegte Brote studierte. Es gab sogar aufgeschnittenen Braten und Salate. Den Braten strich ich sofort von meiner Liste möglicher Probierkandidaten. Als Vegetarier aß man nun mal kein Fleisch.

Ja, ich war ein vegetarischer Vampir, mit einer Brille auf der Nase. Das hatte mir bereits mehr als einen schiefen Blick eingebracht, aber was sollte ich machen? Ich mochte einfach kein Fleisch und für meine Sehschwäche konnte ich nichts, daran waren allein die Gene schuld.

Gerade überlegte ich mir doch ein kleines Stück von dem Apfelstrudel zu genehmigen – der sah einfach lecker aus – als ich die Stimme hörte und einfach erstarrte.

„Du solltest dir etwas von dem Thunfischsalat probieren, der ist lecker.“

Im ersten Moment war ich nicht fähig mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Im zweiten wollte ich die Beine in die Hand nehmen und zu Cio zu stürzen, damit ich mich hinter ihm verstecken konnte. Aber ich tat es nicht. Ich war eine erwachsene Frau und ich brauchte mich nicht hinter meinem Freund zu verkriechen. Ich war ein Schäfchen!

Langsam drehte ich mich herum, bis ich in Ieshas braune Augen sah. Natürlich trug sie noch immer das hochgeschlossene Kleid. Ihre Lippen machten etwas Komisches. Ich glaubte sie versuchte mich anzulächeln. „Schau mich nicht so an, das war mein Ernst. Ich hab ihn auch nicht vergiftet und er ist wirklich lecker.“

„Ich esse keine Tiere, ich bin Vegetarier.“

Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie das bereits gewusst hatte, oder nicht. „Dann probiere halt den Cesar-Salat. Der ist allerdings nicht ganz so gut.“

Dass ich einen Blick auf Cio warf, konnte ich nicht verhindern. Und auch nicht, dass ich einen Schritt vor ihr zurückwich. Iesha war die erste Person in meinem Leben gewesen, die jemals die Hand gegen mich erhoben hatte und auch wenn das bereits Jahre zurück lag, so war es mir doch noch immer lebhaft in Erinnerung. Ich konnte sogar beinahe spüren, wie sich Phantomschmerzen in meiner Wange breit machten.

Was machte sie eigentlich hier? Klar, das war der Abschied von ihrer Mutter, aber sie hatte sich doch dem Trauerzug angeschlossen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie danach noch hier auftauchen würde, schließlich war sie eine Ausgestoßene und damit im Rudel unerwünscht.

Auch Iesha hatte sich zu Cio gewandt. Etwas Sehnsüchtiges lag in ihren Augen, bei dem sich mir die Nackenhaare aufstellten und ein Knurren meine Kehle hinaufklettern wollte. Den kriegst du nicht, das ist meiner!

„Wie geht es ihm?“

Oh nein, das konnte sie komplett vergessen. Ich verschränkte die Arme abweisend vor der Brust und gab mich mutiger, als ich mich fühlte. Ich würde ganz sicher nicht mit ihr über meinen Freund sprechen. Darum erwiderte ich ganz schlicht: „Er kommt klar.“

Bei meinem ablehnenden Tonfall wandte sie sich mir wieder zu. Dieses Mal spielte ein spöttisches Lächeln um ihre Lippen, das durchaus echt war. Allerdings gefiel es mir absolut nicht. „Eifersüchtig?“

„Ich wüsste nicht worauf ich eifersüchtig sein sollte. Zwischen euch war es ja schon vorbei, bevor ich ihn überhaupt kennengelernt habe und das war allein dein Verdienst.“

Sie wusste genau auf was ich anspielte. Allerdings schien es sie zu überraschen, dass auch ich es wusste. „Er hat es dir erzählt?“, fragte sie leise und auch ein kleinen wenig ungläubig.

Da wollte wohl jemand nicht, dass sein kleines Vergehen gelüftet wurde. „Cio hat keine Geheimnisse vor mir und erzählt es mir, wenn ihn etwas belastet. Genaugenommen hat er sich mir schon wenige Tage, nachdem wir uns kennengelernt haben, anvertraut.“ Ha, nimm das!

Einen kurzen Moment flackerte ihre Maske der Gleichgültigkeit und ich konnte ein Gefühl über ihr Gesicht huschen sehen. Sie fühlte sich verraten. Dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle und etwas von ihrer alten überhebliche Art kehrte in sie zurück. „Du hast ja wohl keine Zeit verloren, dich an meinen Freund ranzumachen. Was musstest du tun, damit er es dir sagt?“

Tun? Ich zuckte beinahe gleichgültig mit den Schultern. „Ich musste gar nichts tun, ich habe ihm einfach nur zugehört.“

Naja, ganz so war es dann doch nicht gewesen. Als er mir das von Iesha erzählt hatte, befand er sich gerade im Taumel der Endorphine. Es war geschehen, gleich nachdem ich ihn das erste Mal gebissen hatte. Ich wusste heute gar nicht mehr, wie wir überhaupt auf das Thema gekommen waren, doch seine Worte waren mir in Erinnerung geblieben.

Iesha hatte sich von ihm vernachlässigt gefühlt und hatte mit Cios besten Freund Aric geschlafen, der damals eine kleine Existenzkrise durchgemacht hatte, weil er sich nicht eingestehen wollte, dass er Schwul, oder zumindest Bi war. Damit hatte sie ihn auf eine Art verletzt, die ihm bis heute zu schaffen machen. Aus Rache hatte er sie dann mehrmals betrogen.

Nach einer langen Minute des Schweigendes, in der sie nichts weiter tat als mich anzustarren, sagte sie: „Und da hat er dir was erzählt? Das seine Freundin eine Schlampe ist?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nur dass er sich von dir verletzt fühlte und nicht mehr wusste, wie er dir vertrauen soll.“

Sie ließ sich nicht anmerken, was diese Worte bei ihr auslösten. „Ich weiß dass ich Fehler gemacht habe“, gab sie schließlich zu und schaffte es damit wirklich mich zu überraschen – ein ganz kleinen wenig. „Mache davon sogar unverzeihlich. Aber ich bemühe mich darum sie wieder gut zu machen. Nur brauche ich eben ein wenig Zeit um den ganzen Mist zu korrigieren.“

„Was du angestellt hast, kann durch nichts korrigiert werden.“ Vielleicht sollte sie es stattdessen mal mit einer Entschuldigung versuchen. Obwohl … nein, das würde auch nichts mehr bringen. Manche von ihren Taten waren einfach nicht entschuldbar.

„Aber manches schon und deswegen bin ich hier“, erwiderte sie leise und warf wieder einen sehnsüchtigen Blick auf Cio.

Ach und ich dachte sie wäre hier, um sich von ihrer Mutter zu verabschieden. „Tja, dann viel Spaß dabei.“ Ich machte einen Schritt von ihr weg. So mutig wie ich mich gab, war ich nämlich nicht. Meine Beine wollten noch immer einfach davon laufen. Doch Iesha vereitelte meine Flucht, indem sie mir den Weg vertrat.

„Warte.“ Sie hob die Hände.

Aus einem Reflex heraus wich ich zurück, stieß dabei gegen den Tisch. Geschirr klapperte und ein Glas, das jemand dort abgestellt hatte, kippte um. „Warum sollte ich?“ Wenn meine Stimme nicht so gezittert hätte, wäre diese Frage stark herübergekommen. So hörte sie sich einfach nur kläglich an.

„Weil ich mit dir reden möchte.“

Ich aber nicht mit dir. „Lass mich durch.“

Sie verdrehte die Augen. Sie verdrehte doch tatsächlich die Augen! „Wenn du mal einen Moment aufhören könntest vor Angst zu bibbern, dann …“

Wie aus dem Nichts tauchte Cio neben mir auf. Mit einem „Niiicht zu nah“ stach er mit einem ausgestreckten Finger gegen ihre Stirn und schob sie so ein Stück weg. Dabei spießte er sie mit einem Blick auf, den ich hoffentlich niemals selber abbekommen würde.

Iesha schielte auf den Finger. „Bist du jetzt fertig?“

„Noch nicht.“ Er versuchte sie weiter wegzudrücken, doch sie schlug nach seiner Hand, als wäre er eine lästige Fliege. Erwischen tat sie ihn aber nicht, dazu war er zu flink.

„Hör jetzt auf mit dem Blödsinn“, mahnte sie ihn und verschränkte die Arme vor der Brust. Dabei bemerkte sie sehr wohl, das Cio sich halb vor mich geschoben hatte. Tja, einmal Umbra, immer Umbra. „Ich tue deiner kleinen Freundin schon nichts“, fügte sie noch hinzu. „Ich will nur reden.“

Cio schaute sie an, dann richtete sich sein Blick auf mich. „Willst du mit ihr reden, Schäfchen?“

Das Kopfschütteln kam wohl für niemanden unerwartet.

„Da hast du es.“ Cio machte mit den Händen eine Bewegung, als wollte er einen kleinen unartigen Hund verscheuchen. „Sie will nicht mit dir reden und auch ich habe kein Interesse, also los, geh und leb deine Psychose irgendwo anders aus. Kusch.“

Ihre Maske war so ausdruckslos, dass ich nicht mal erahnen konnte, was in ihrem Kopf vor sich ging. Nur das sie nicht vorhatte so schnell zu verschwinden, das war offensichtlich.

„Ich glaube sie ist taub“, murmelte Cio zu niemand bestimmten.

Jetzt entstand auf ihrem Gesicht doch ein Gefühl. Nur einen ganz kurzen Moment, aber ich sah es. Schmerz. Sie liebte ihn noch immer.

Bei dieser Erkenntnis regte sich der Wolf in mir. „Also gut“, sagte ich und wusste nicht einmal genau warum. Es war bestimmt kein Mitleid. „Sag was du zu sagen hast.“

„Oh“, machte sie gespielt überrascht. „Hat sich da plötzlich jemand Eier wachsen lassen?“

„Dann lass es eben.“ Ich griff Cios Hand. „Lass uns zu Cayenne gehen. Ich will …“

„Nein!“ Iesha machte einen Schritt zur Seite, um meine Flucht zu vereiteln, doch da vertrat Cio ihr den Weg. Seine Körperhaltung hatte etwas Bedrohliches angenommen. Selbst einige der umstehenden Gäste wurden langsam auf uns aufmerksam und musterten unsere kleine Konstellation neugierig.

„Ich werde es dir nur ein einziges Mal sagen, Iesha: Komm ihr nicht zu nahe. Niemals.“

„Warum? Würdest du mich sonst schlagen?“ Ihre Worte waren beinahe eine Herausforderung, doch ich konnte den Kummer in ihrer Stimme hören, der nichts mit dem Tod ihrer Mutter zu tun hatte. „Du hast mich mal geliebt.“

„Jeder macht Fehler“, gab er eiskalt zurück.

Das hatte gesessen. Wahrscheinlich waren diese drei kleinen Worte scherzhafter als jeder Hieb mit der Faust, den er ihr hätte verpassen können. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, als wollte sie jemanden schlagen. „Das habe ich wohl verdient.“

Wir schwiegen.

Sie strich sich die Haare hinters Ohr, als brauchte sie etwas, mit dem sie ihre Hände beschäftigen konnte. „Hör zu, ich weiß ich habe vieles falsch gemacht. Ich hätte Zaira damals nicht angreifen dürfen, aber als ich sie da bei dir im Bett gesehen habe, ist mir einfach eine Sicherung durchgebrannt. Du warst doch alles was ich hatte. Und dann war sie plötzlich da und hat alles kaputt gemacht, aber …“

„Nein“, unterbrach Cio sie mitten im Satz. „Nicht Zaira war es die das was zwischen uns war zerstört hat. Hör auf andere für deine Dummheiten verantwortlich zu machen.“

Sie biss sich auf die Unterlippe, wich seinen Blick einen Moment aus, nur um ihm dann wieder entschlossen standzuhalten. „Ich habe aus meinen Fehlern gelernt. Deswegen wollte ich mit ihr sprechen. Ich wollte mich entschuldigen.“

„Aber du hast es nicht getan“, erwiderte er schlicht. „Du stehst hier und redest die ganze Zeit davon dich entschuldigen zu wollen, aber im Grunde versuchst du nur wieder deine Ausrutscher anderen in die Schuhe zu schieben.“

Sie wandte den Blick ab und schaute zu einer Gruppe von Männern. Unter ihnen befand sich auch ihr Vater Wächter Hardy. „Er wird der nächste Großwächter“, sagte sie leise und schnaubte dann, als hätte sie einen besonders schlechten Witz gemacht. „Königin Sadrija hat es ihm gesagt, vorhin im Tempel. Sie kam zu uns, sprach ihr Beileid aus und erklärte dann dass Papa der nächste Großwächter werden soll.“ Einen Moment verstummte sie. „Ist das zu fassen? Sie hätte doch wenigsten damit warten können, bis meine Mutter unter der Erde liegt.“ Sie linste vorsichtig zu Cio, doch der blieb völlig unberührt.

„Willst du jetzt etwa Mitleid von mir haben?“

Also wenn ich ehrlich war … ja, mittlerweile hatte ich wirklich ein ganz kleinen wenig Mitleid mit ihr. Klar hatte sie in der Vergangenheit viel Scheiße gebaut, aber … naja, eine Richtige Familie hatte sie nie besessen. Hardy und Victoria waren niemals Gefährten gewesen. Sie hatten in ihrem Leben wohl nur eine einzige Nacht miteinander verbracht und Iesha war das Ergebnis davon gewesen. Ich hatte keine Ahnung, wie genau sie aufgewachsen war, nur das sie zwischen ihren Elternteilen immer hin und her gereicht worden war. Und als die beiden dann auch noch damit anfingen um demselben Postern bei den Wächtern zu wetteifern, war es zwischen ihnen praktisch zu einem Kleinkrieg gekommen. Dann hatte sie auch noch die wichtigste Person in ihrem Leben verloren. Natürlich war es ihre eigene Schuld gewesen, aber das bedeutete noch lange nicht, dass es deswegen weniger wehtat.

Aus diesem und all den anderen Gründen legte ich Cio auch die Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf. Er sollte nicht weiter auf ihr herumhacken.

„Dein Ernst?“, fragte er mich ungläubig.

Iesha sah diese kleine Geste. „Ich glaube ich bin hier überflüssig.“

„Ach, hast du das auch schon gemerkt?“

Oh Mann.

„Tut mir Leid wegen der Störung, kommt nicht wieder vor.“ Sie wandte sich ab und entfernte sich mit eiligen Schritten von uns. Aber sie steuerte nicht ihren Vater an, sondern den Ausgang. Wenig später war sie aus dem Saal verschwunden und ich stand da und fragte mich, warum sie mich eigentlich angesprochen hatte. Sie war nicht aggressiv gewesen, nicht so wie ich sie von früher kannte. Hatte sie sich vielleicht wirklich nur entschuldigen wollen?

Eigentlich war es nicht wichtig. Selbst wenn sie es getan hätte, wäre es bedeutungslos gewesen. Was sie Cio und meinem Vater angetan hatte, würde ich ihr nicht verzeihen können – von den Dingen die mir wegen ihr widerfahren waren einmal ganz zu schweigen.

„Und“, fragte Cio dann und zog mich in seine Arme, bis ich mich gegen ihn lehnte. „Hast du etwas entdeckt, was dir schmeckt?“

Aha, Themenwechsel also. Da ich sowieso kein Interesse daran hatte, mich noch weiter mit Iesha zu beschäftigen, ließ ich mich widerstandslos darauf ein. „Der Apfelstrudel sieht ganz lecker aus.“

„Lecker genug, dass du auch ein Stück davon essen würdest?“

Wie schaffte er es nur mich mit so einer einfachen Frage zum Lächeln zu bringen? „Ja“, sagte ich, auch wenn es nicht stimmte. Nach der Begegnung mit Iesha war mir noch viel weniger nach Essen zumute, als zuvor.

„Na dann.“ Er ließ von mir ab und bereitete mir höchstpersönlich einen Teller zu – sogar mit einer ordentlichen Portion Schlagsahne, von der ich mehr als die Hälfte wieder vom Kuchen herunter kratzte, um keinen Zuckerschock zu erleiden. Außerdem würde das meinen Hüften gar nicht gut tun.

Das erste Stück war einfach himmlisch. Ich schloss genießerisch die Augen und ließ den Geschmack auf meiner Zunge zergehen. Als ich sie wieder öffnete, begegnete ich seinem nachdenklichen Blick, doch sobald er bemerkte, wie ich ihn beobachtete, begann er wieder zu lächeln.

Das schien ihm völlig zu genügen. Nicht zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass so eine Kleinigkeit ihn glücklich zu machen schien. Damals als wir uns kennengelernt hatten, war alles so verrückt gewesen, dass ich diese Seite erst viel später an ihm bemerkt hatte. Mich zu umsorgen – und sei es auch nur, indem er mir ein Stück Kuchen auf einen Teller legte, um ihn mir anschließend reichen zu können – schenkte ihm Frieden. Und genau das war der Grund, warum ich diesen blöden Kuchen aß. Ja, er schmeckte, aber trotzdem fühlte er sich in meinem Magen wie ein Klumpen Blei an.

Ich hatte gerade die Hälfte verdrückt und überlegte, wie ich den Rest unbemerkt loswerden konnte, als Cayenne zu uns trat.

„Hm, das sieht lecker aus.“

Da war meine Gelegenheit. Ich bot ihr den Rest meines Kuchens an, was auf Cios Stirn ein Stirnrunzeln erschien ließ, aber sie lehnte kopfschüttelnd ab.

„Nein danke, ich möchte gerade nichts. Wir wollen jetzt aufbrechen. Ein paar der Themis wollen noch im Moonlight was trinken gehen. Möchtet ihr mitkommen, oder sollen wir euch vorher nach Hause fahren?“

„Klar kommen wir mit“, entschied Cio, noch bevor ich überhaupt die Chance hatte, den Mund zu öffnen. „Aber ich kann nicht so lange bleiben, ich muss nachher noch zum Dienst.“

„Kein Problem. Wir nehmen Zaira nachher einfach mit zu uns.“

Hm, ob denen eigentlich bewusst war, dass ich bereits ein eigenständiges Leben führte und keinen Bewacher brauchte? Was bitte sprach denn dagegen, dass ich mitkam und später allein nach Hause fuhr? Ich war doch keine drei mehr.

„Okay, mein Schäfchen muss nur noch ihren Kuchen aufessen, dann können wir los.“

Na toll.

 

°°°

 

Das Moonlight war eine kleine Bar inmitten von Silenda. Sie war schummrig, relativ sauber und selbst zu dieser Uhrzeit schon gut besucht. Kaum dass ich hinter Cayenne und Sydney durch die Tür trat, drangen bereits die Stimmen und die Musik an meine Ohren. Irgendwo lachte eine Frau in einem viel zu hohen Ton. Die Luft war verqualmt und roch nach schalem Bier und anderen Spirituosen. Der Boden schien schon eine Weile keinen Besen mehr gesehen zu haben, aber das Ambiente war in Ordnung. Ein bisschen Road-mäßig.

Ich sah mich um, konnte aber nichts Außergewöhnliches feststellen. Holztische, eine Bar und ein paar Sitznischen, genau wie in jeder anderen Bar. Außer vielleicht der Billardtisch, den fand man nicht überall.

„Da hinten sind sie“, erklärte Cayenne und zeigte auf eine große Gruppe, die sich hinten in der Fensterlosen Ecke in der Nähe der Bar niedergelassen hatte. Ein paar vertraute Gesichter sprangen mir sofort ins Auge. Romy, Future, Murphy und seine Gefährtin Alexia. Andere wiederum waren mir nur vom Sehen bekannt, oder völlig fremd.

„Da ist auch dein neuer Freund.“ Cio nickte in Richtung Toiletten, aus den gerade Tayfun auftauchte.

Oh nein. Mir blieb aber auch nichts erspart.

„Seid nett zu ihm“, verlangte Cayenne. „Ich weiß er ist manchmal ein wenig komisch, aber das ist eben seine Art. Er hat es in der Vergangenheit nicht einfach gehabt.“

Das tat mir ja Leid für ihn, aber das hieß noch lange nicht, dass ich ihn plötzlich wie von Zauberhand leiden konnte. Woher kam nur diese Abneigung?

Cio ließ das unkommentiert. „Setzt euch schon mal, ich gehe uns was zu trinken besorgen.“ Noch ein flüchtiger Kuss auf meine Wange, dann strebte er bereits der Bar entgegen.

Ich dagegen konnte nur zusehen, wie Tayfun sich zu den anderen gesellte und plötzlich wollte ich einfach wieder gehen. Aber ich hatte nun schon zugesagt und wollte jetzt kein Spielverderber sein, auch wenn sich mir allein bei seinem Anblick wieder die Nackenhärchen aufstellten.

Jetzt komm mal klar, du wirst es ja wohl einen Nachmittag mit ihm aushalten. Das blieb zumindest zu hoffen. Wenn ich ihn einfach ignorierte, würde das schon funktionieren. Leider war das Schicksal manchmal wirklich ein gemeines Arschloch. Kaum dass ich die bereits Anwesenden begrüßt hatte und mich neben Murphy nieder ließ – der mich sofort in eine knochenbrechende Umarmung zog, gegen die ich mich mit Händen und Füßen wehren musste, um wieder Luft zu bekommen – waren Tayfuns Augen auch schon auf mich gerichtet.

Er musterte mich wie schon im Tempel und grinste mich so breit an, dass ich alle seine Zähne sehen konnte. Irgendwie hatte das ja was von einem Hai. „Welcher Wind hat dich denn hier reingeweht?“

Was war das denn für ein blöder Spruch?

„Sie hat einen Freund, also lass sie in Ruhe“, mahnte Cayenne und bedankte sie bei Sydney, der ihr einen Stuhl herausgezogen hatte.

Tayfun schaute sie an, dann mich und grinste noch breiter – ja, eindeutig ein Haifischgrinsen, nur nicht ganz so blutrünstig. Er hielt sich gar nicht er mit langen Reden auf, sondern erhob sich direkt, umrundete den Tisch und ließ sich auf den freien Platz neben mich fallen. „Na, alles klar bei dir?“

Irritiert lehnte ich mich von ihm weg. Ich hatte diesen Platz nicht nur gewählt, weil daneben noch ein leerer Stuhl für Cio stand, sondern auch, weil er weit weg von Tayfun war. Aber jetzt hatte er sich direkt neben mich gesetzt und schien auch nicht gewillt sich demnächst wieder zu verziehen.

Er musterte mich. „Ich hab dich aber auch schon gesprächiger erlebt.“

Bevor ich darauf etwas erwidern musste, kam Cio mit vier Flaschen in der Hand zu uns an den Tisch. Es war schon fast peinlich wie sehr seine Anwesenheit mich erleichterte. Er runzelte zwar die Stirn, als er Cayenne und Sydney jeweils ein Bier reichte, ließ sich ansonsten aber nicht anmerken, was in seinem Kopf vor sich ging.

„So wie du ihn anhimmelst, ist das dann wohl der eben erwähnte Freund.“

Warum klang bei ihm nur alles so anzüglich? Und warum verspürte ich plötzlich wieder das Bedürfnis zu knurren?

Cio der nichts von meinen Gedanken ahnte, umrundete den Tisch. Doch er kam nicht zu mir, wie ich erwartete, sondern hielt neben Tayfun. „Ich glaube du hast dich ein wenig verlaufen. Soll ich dich zu deinem Stuhl bringen? Das ist wirklich kein Problem.“

„Danke, aber ich sitze hier sehr gut.“ Er ließ seine Augen derart intensiv über Cio gleiten, dass ich das Gefühl bekam, er wolle ihm gleich hier und jetzt die Klamotten vom Leib reißen, um eine genauere Untersuchung an ihm vornehmen zu können. War er schwul?

Meiner!, knurrte ich innerlich.

„Außerdem kann ich meine kleine Zaira doch nicht allein lassen.“ Ein beinahe laszives Lächeln umspielte seine Lippen.

Bitte? Seine Zaira? Ich rutschte demonstrativ näher an Murphy heran. „Hör auf so ein Blödsinn zu reden, ich kenne dich nicht einmal.“

„Was sagst du da?“ Seine Hand hob sich, um eine imaginäre Träne von seiner Wange zu wischen. „Wir kannst du uns nur verleugnen?“

Okay, dann eben anders. Bevor ich noch etwas Dummes tun konnte – wie Tayfun von seinem Stuhl zu schubsen, damit er mit dem Gesicht voran auf dem Boden klatschte – erhob ich mich, nahm Cio bei der Hand und ging auf die andere Seite zur Bank, wo noch ein freier Platz direkt neben Romy war. Cio setzte sich auf den leeren Stuhl daneben und reichte auch mir eine Bierflasche. Dann nahm er meine Hand in seine und ignorierte den Kerl einfach, während er sich in ein Gespräch mit der dunkelhaarigen Vampirin vertiefte.

Ich jedoch konnte es nicht verhindern, Tayfun noch einmal anzufunkeln. Wieder lächelte er und wieder waren es seine Fänge, die mich scheinbar magisch in ihren Bann zogen.

Was war nur los mit mir?

Ich versuchte mich auf das Gespräch zu konzentrieren, aber da war die ganze Zeit dieser bohrende Blick. Nicht so wie bei Sydney, bei dem ich immer das Gefühl hatte, er könnte mir direkt bis auf die Seele schauen. Nein, das hier war viel Urtümlicher. Und es regte mich mit jeder Minute mehr auf.

„Wenn du nicht aufhörst sie anzustarren, als wäre sie eine Süßspeise mit einer großen Portion Sahne und einer fetten Kirsche oben drauf“, sagte Cio plötzlich. „dann komme ich rüber und verpasse dir eine Zahnbehandlung.“

O-kay, Cio war wohl doch nicht so sehr in das Gespräch vertieft, wie ich vermutet hatte. Vielleicht hatte er aber auch einfach meine ständig anwachsende Anspannung gefühlt.

Tayfun zwinkerte ihm verspielt zu. „Gucken wird doch wohl noch erlaubt sein.“

Jetzt ließ Cio sich doch dazu herab dem Vampir eines Blickes zu würdigen. „Nicht wenn du sie anschaust, als bräuchtest du für später noch eine Wixvorlage.“

„Cio!“ Dem ging es wohl zu gut!

Er hob meine Hand an die Lippen und hauchte einen Kuss darauf, den ich bis in die Zehenspitzen fühlen konnte. Leider beachtete er mich dabei aber überhaupt nicht, seine Aufmerksamkeit galt allein Tayfun. Es war wie eine stumme Herausforderung. Genauso benahm er sich immer, wenn wir dem wilden Wolf im Wald begegneten.

Wenn ich glaubte, dass da gerade jemand kräftig sein Revier markierte, dann lag ich damit vermutlich nicht sonderlich falsch. Mich sollte es nicht stören.

Tayfun ließ ein leises Lachen verlauten, konzentrierte sich dann aber auf Murphy. Für ganze zwei Minuten, dann spürte ich den Blick schon wieder.

Langsam reichte es wirklich. Nein, ich knurrte nicht, ich zog die Oberlippe hoch und zeigte ihm in einer eindeutigen Drohgebärde meine Fänge.

Seine Augen blitzten vergnügt auf und auch er zeigte mir die Fänge. Nur wirkte das bei ihm nicht bedrohlich sondern aufreizend. Plötzlich erinnere er mich an meinen Vater. Nicht weil sie irgendwelche Ähnlichkeiten aufwiesen, es war die Geste an sich. Ich sah sich nicht zum ersten Mal. Manchmal, wenn meine Eltern sich unbeobachtet fühlten, dann tat Papa genau das gleiche und meine Mutter begann dann immer wie eine blöde ganz verliebt zu kichern.

„Ich bin mal kurz auf Klo.“ Bevor ich noch auf die Idee kam, ihm meine Bierflasche an den Kopf zu werfen.

Die Toilette der Bar war nicht nur sauber, sondern geradezu steril, so ganz anders als der übrige Laden und ich kam nicht umhin mich zu fragen, ob das Aussehen und die Gerüche darin vielleicht beabsichtigt waren.

Da ich nicht wirklich auf die Schüssel musste, stellte ich mich ans Waschbecken und spritzte mir ein wenig Wasser eins Gesicht. Dann stand ich da und starrte einfach in den Spiegel. Eine junge Frau mit dunkelblauen Augen und schulterlangem, schwarzen Haar starrte durch ihre Nerdbrille grimmig zurück.

Schon seit einer ganzen Weile überlegte ich ob ich nicht mal wieder mit Kontaktlinsen probieren sollte, aber die waren immer so unangenehm. Außerdem würde eine andere Sehhilfe bei mir auch keinen großen Unterschied mehr machen.

Der schwarze Hosenanzug, den ich mir gestern noch schnell besorgt hatte, saß ein wenig eng. Nicht weil er zu klein war, sondern weil ich viel zu gerne Gummibärchen futterte. Ich war jetzt kein Walross, das durch keine Tür passte, aber … naja, eine Schönheitskönigin war ich eben auch nicht und würde ich vermutlich auch niemals sein.

Der einzige Ausgleich den die Natur mir gegeben hatte, war meine Oberweite. Nur hätte ich darauf dankend verzichten können.

Seit die Jungs in der sechsten Klasse angefangen hatten mir auf die Brust zu starren, hatte ich meine Gene schon so einige Male verflucht. Darum trug ich die meiste Zeit nur weite Männerhemden. Blusen konnte ich vergessen, außer ich würde mir eine Maßanfertigung machen lassen, denn meine Oberweite sprengte jede Knopfleiste.

Ich seufzte als würde die Last der Welt auf meinen Schultern ruhen, spritzte mir noch einmal ordentlich Wasser ins Gesicht und verließ das Klo wieder. Schließlich konnte ich mich nicht die ganze Zeit dort verstecken. Das wäre einfach nur kindisch.

Beachte ihn einfach nicht, redete ich mir gut zu. Wenn er merkt dass er meine Aufmerksamkeit nicht haben kann, wird er schon allein damit aufhören.

Entschlossen machte ich mich wieder auf den Weg zu unserem Tisch, blieb aber auf halben Wege mitten in der Bar stehen. Was bitte sollte das denn jetzt werden? Nicht nur das Tayfun sich schon wieder umgesetzt hatte – dieses Mal auf meinen Platz – er schien auch noch in ein Gespräch mit Cio vertieft zu sein.

Einen Moment ließ ich meinen Blick durch das Geschäft schweifen und überlegte ernsthaft ob ich vielleicht in einem Paralleluniversum gelandet war. Ich meine, wie lange war ich weg gewesen? Vielleicht zehn Minuten? Und jetzt saßen die beiden da, als wären sie dicke Freunde.

Okay, das ist definitiv schräg. Ich schüttelte meine Überraschung ab, riss mich am Riemen und versuchte nicht verärgert auszusehen, als ich zurück zu der Bank trat.

Tayfun unterbrach sich mitten im Satz und lächelte zu mir hinauf.

„Darf ich wieder auf meinen Platz?“

Von hinten schlag Cio seine Arme um mich und zog mich auf seine Schoß. Ich war so überrascht, dass ich fast auf ihn drauf fiel.

„Ihr beide seid ein echt süßes Pärchen, hat euch das schon mal jemand gesagt?“

Irritiert schaute ich von ihm zu Cio. „Hab ich was verpasst?“

„Nein nein“, wiegelte Cio sofort ab. „Wir haben nur gerade etwas geklärt.“

„Und jetzt wo er dich festhält und du nicht weglaufen kannst“, sagte Tayfun und rutschte an die Kante der Bank, „habe ich eine Frage an dich.“

„Aha.“ Ja ich weiß, ich war eine Meisterin der Begeisterungsstürme.

Cio zog mich fester an sich und legte seinen Kopf auf meiner Schulter ab. „Denk dran was ich dir gerade gesagt habe.“

Gesagt? „Was hast du ihm denn gesagt?“

„Oh nein“, funkte Tayfun sofort dazwischen und gab das Zeichen für eine Auszeit. „Das könnt ihr später klären, jetzt darf ich erstmal meine Frage stellen.“

Ach ja? Wo stand da geschrieben? „Was willst du denn wissen?“, fragte ich misstrauisch.

Wie schon des Öfteren wanderte sein Blick wieder über mich rüber. Aber nicht so wie die letzten Male, eher nachdenklich. „Wir haben immer noch nicht geklärt, was genau du bist.“

Und noch einmal: aha. „Ich weiß sehr genau was ich bin.“

„Kein Wolf, kein Vampir und auch kein Mensch“, sinnierte er in Erinnerung an unser letztes Gespräch. „Viel bleibt da nicht mehr übrig.“

„Nein.“ Ich nahm meine Bierflasche zur Hand und trank einen kräftigen Zug daraus. Ich sprach nicht gerne über meine Herkunft – schon gar nicht mit Fremden. Es war zwar kein Geheimnis mehr, was und vor allen Dingen, wer ich war, doch fast zwanzig Jahre Drill waren auch nicht so einfach abzuschütteln, daher vermied ich das Thema meistens.

„Dein Vater ist Ryder, aber du bist kein Vampir.“

Ich stellte die Flasche zurück auf den Tisch und beugte mich ihm leicht entgegen. „Wenn du wissen willst wer ich bin, dann gebe ich dir einen Tipp. Ich bin ein Königskind.“ Wenn auch nur inoffiziell.

Tayfun runzelte die Stirn. Die Zahnrädchen in seinen Kopf begannen zu arbeiten, während er mich ein weiteres Mal musterte. Dann, ganz langsam wanderte seinen Blick zu Cayenne, nur um sich gleich darauf wieder auf mir zu landen. Und dann schien es bei ihm Klick zu machen. „Du bist …“ Er wirbelte beinahe zu Cayenne herum. „Ryder ist der Vater deiner Töchter?!“

Damit erlangte er nicht nur die Aufmerksamkeit meiner Erzeugerin. Der ganze Tisch verstummte und starrte ihn stumm an.

„Ähm …“, machte er und grinste leicht schief. „Sorry, das sollte nicht so ungläubig klingen.“

Cayenne drückte die Lippen leicht zusammen. Auch für sie war das kein Thema, dass sie in aller Öffentlichkeit diskutieren wollte. „Ryder war meine Jungendliebe, aber das ist schon sehr lange her.“

Cio lachte mir leise ins Ohr und flüsterte dann: „Fettnäpfchen.“

Ich gab ihn einen Klaps auf den Arm, der ihn grinsen ließ. Das war nichts worüber man sich lustig machen sollte.

„Tut mir leid“, sagte Tayfun noch einmal zu Cayenne und atmete erleichtert auf, als die anderen sich wieder in ihre Gespräche vertieften. Dann lag sein Interesse wieder bei mir. „Kein Vampir, kein Lykaner, kein Mensch. Du bist nichts davon und doch alles. Ein Misto.“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin ein Schäfchen.“

„Mit Krallen und Zähnen“, fügte Cio noch hinzu.

Wir beide grinsten uns an, doch Tayfun runzelte nur verwirrt die Stirn.

Bevor noch jemand etwas dazu sagen konnte, erhob Cayenne sich von ihrem Platz. „Ich möchte einen Toast auf Victoria ausbringen.“

Alle verstummten.

Cayenne schaute uns der Reihe nach an. Sie schien einen Moment zu brauchen, bevor sie dir richtige Worte fand. „Schon als Kind kannte ich Victoria. Sie war die wundersame Hauselfe, die im Schatten um mich rumgeschlichen ist, bereit jederzeit herbeizueilen, um mich bei dem zu unterstützen, was noch vor mir lag – leider war ich ein sehr schwieriges Kind.“ Ein kleines Lächeln erschien auf ihren Lippen.

Ein paar Themis lachten leise. Und Murphy murmelte: „So kann man es auch umschreiben.“

Sie ignorierte ihn. „Doch erst als ich ins Schloss kam und Königin wurde, begriff ich ihren wahren wert. Sie war viel mehr als die Frau die mein dreckigen Socken wusch. Sie war clever, liebevoll und immer ehrlich – auch wenn man nicht immer hören wollte, was sie zu sagen hatte. Sie konnte knallhart und unnachgiebig sein. Ein Wort das oft mit ihr im Zusammenhang gefallen war lautet stur. Ich nannte es lieber ehrgeizig.“

Cayenne schien Victoria doch besser gekannt zu haben, als ich bisher angenommen hatte. Vielleicht hatte mein Vater mir ja doch nicht jede Kleinigkeit aus ihrer Vergangenheit erzählt.

„In den ganzen Jahren auf dem Schloss habe ich sie sehr zu schätzen gelernt. Nicht als eine Untergebene, sondern als unerlässlicher Bestandteil meines Lebens, jemand auf den ich mich immer verlassen konnte, auch wenn ich sie nicht Freund nannte.“ Das Lächeln auf ihren Lippen verblasste und wurde durch etwas Grimmiges ersetzt. „Ihr Tod war sinnlos und ich werde nicht eher ruhen, bis ihr Mörder gefunden wurde.“

Ein paar Themis nickten zustimmend.

Ich dagegen wusste nicht so recht was ich davon halten sollte. Klar, der Mörder musste geschnappt werden und es war nun mal Cayennes Job Verbrecher zu jagen. Aber normalerweise begrenzte sich das auf die Sklavenhändler unserer Welt. Für den Rest waren die Wächter zuständig.

„Victorias Tod wird nicht ungesühnt bleiben“, fügte sie düster hinzu.

Murphy, der Lykaner mit dem braunen Haar und der krummen Nase, erhob sein Glas. „Auf Victoria.“

Die anderen ahmten ihn nach. „Auf Victoria!“, riefen sie im Chor und auch ich erhob meine Bierflasche und murmeltet die Worte wie ein Gebet. Nun war sie bei Leukos, den ersten Lykaner der jemals existiert hatte und noch heute über all seine Kinder wachte.

Und auch wenn das normalerweise gar nicht meine Art war, so hoffte doch ein kleiner Teil von mir, dass die Themis den Schuldigen finden und ihm seiner gerechten Strafe zuführen würden. Es würde mich mit Genugtuung erfüllen. Und vielleicht würde ich dann endlich vergessen können.

 

°°°°°

Herzensangelegenheit

 

Drei Wochen später …

 

Missmutig starrte ich auf die Zeilen von V News auf meinem Tablet. Grausiger Fund lautete die Überschrift des Artikels. Amors Pfeil hat wieder getroffen der Untertitel. Damit waren es bereits vier. Vier Opfer an denen sich der Amor-Killer vergriffen hatte. Vier unschuldige Leben, einfach ausgelöscht. Vier Familien, die von grausamer Hand entzweit worden waren.

Schon nach dem letzten Mord war es nicht mehr zu bestreiten gewesen, da draußen lief ein Serienmörder frei herum und Victoria hatte das Pech gehabt, als erste seinen Weg gekreuzt zu haben. Trotz des doch sehr persönlichen Angriffes glaubte mittlerweile niemand mehr, dass sie mehr als ein zufälliges Opfer gewesen war. Und niemand war dem Mörder auch nur einen Schritt näher gekommen.

Vier Tote.

Meine Finger wischten über das Tablet, bis ich die Karte öffnete, die ich nach dem letzten Mord angelegt hatte. Drei Markierungen waren darauf verzeichnet. Die erste lag in Silenda und stand für Victoria. Die zweite lag etwas außerhalb und stand für den Mann, der das nächste Opfer des Amor-Killers geworden war. Zuerst war man sich bei diesem Fund nicht sicher gewesen, ob der gleiche Täter dafür verantwortlich war, oder es sich vielleicht um einen Nachahmer handelte –vielleicht sogar um mehrere Täter, die zusammen arbeiteten – denn er war nicht auf die gleiche grausame Art in Szene Gesetz worden. Auch wenn das Herz mit einem Pfeil zielsicher durchbohrt gewesen war, so war es doch genau dort geblieben, wo es hingehörte: in seiner Brust. Doch drei Dinge waren auffallend gleich gewesen. Zum einen der Pfeil, der dem ersten glich, als seien sie Zwillinge. Und wieder waren ein paar Zeilen über Amor am Tatort zurückgelassen worden. Obwohl Tatort hier das falsche Wort war. Genau wie Victoria war er nach seiner Ermordung bewegt worden. Niemand wusste wo genau er sein Leben gelassen hatte.

Doch der dritte und wichtigste Punkt war jener, der mir mittlerweile mehr als nur ein paar schlaflose Nächte bereitet hatte: Alle Toten wiesen eine sehr auffällige Gemeinsamkeit auf, sie alle waren Mischlinge. Der Amor-Killer machte Jagd auf Mistos, genaugenommen auf Wolfsmistos.

Auch der dritte Mord war an einem Mann begannen worden, nahe bei München. Wieder ein Pfeil und wieder ein Zitat über Amor, genau wie nun auch bei dem vierten Opfer. Die letzten Drei hatten nur Glück, dass ihre Leichname nicht auf die gleiche Art geschändet worden waren, wie der von Victoria.

Mittlerweile glaubten die Wächter das Tatmotiv gefunden zu haben: Die Reinheit des Blutes. Unterm Strich beutete das, dass kein Misto mehr sicher war, bis man diesen Irren endlich gestellt hatte. Aber noch war er auf freiem Fuß und deswegen musste ich nun eine weitere Markierung zu den anderen hinzufügen, dieses Mal mitten in Augsburg. Der Killer bewegte sich in Westliche Richtung, aber die Strecken zwischen den einzelnen Fundorten waren so weitläufig, dass niemand auch nur erahnen konnte, wo der Täter als nächstes zuschlagen würde. Oder wann.

„Donasie“, rief meine Mutter aus der Küche. „Pack das weg und hilf mir, damit wir noch Frühstücken können, bevor wir losfahren.“

Zwar glaubte ich nicht daran, dass ich auch nur einen Bissen herunterbekommen würde, trotzdem schaltete ich das Tablet in den Stand-by-Modus und legte es auf den Couchtisch, bevor ich mich erhob.

Meine Mutter steckte gerade bis zu den Schultern im Kühlschrank, als ich in die Küche kam und ein paar Teller aus dem Hängeschrank über dem Waschbecken herausnahm.

„Hast du schon gepackt?“, fragt sie und tauchte mit drei verschiedenen Sorten Käse wieder auf. „Dein Vater will direkt nach dem Frühstück aufbrechen.“

„Es fehlen nur noch ein paar Kleinigkeiten.“ Wie zum Beispiel mein Tablet, das ich soeben auf dem Wohnzimmertisch abgelegt hatte.

„Dann lass die Teller stehen und such deine restlichen Sachen zusammen. Ich will deine Tasche im Flur sehen, bevor dein Vater kommt.“

In dem Moment wurde ein Schlüssel in der Haustür gedreht.

„Zu spät“, grinste ich, stellte die Teller dennoch auf der Anrichte ab und schlenderte wieder zur Küchentür hinaus.

Es war Freitag und meine Eltern trieben mich seit fast einer Woche mit ihren Reisevorbereitungen in den Wahnsinn. Morgen würde Oma ihren einhundertsten Geburtstag feiern, was bedeutete, dass wir sie übers Wochenende besuchen würden. Meine Eltern, ich und Cio – der allerdings noch nicht da war, obwohl ich ihn schon vor einer halben Stunde erwartet hatte. Kiara hatte ihre Meinung nicht geändert und ich hatte nicht noch einmal nachgefragt.

Ich schnappte mir mein Tablet vom Tisch und wollte damit gerade nach Oben verschwinden, als mein Vater mit einer Tüte voller Brötchen in den Raum trat. Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst. „Es ist schon wieder passiert“, sagte er ohne große Vorreden.

Er brauchte gar nicht genauer zu erläutern was er damit meine. „Ich weiß“, sagte ich nur. „Hab es eben auf V News gelesen.“

„Langsam nimmt es überhand.“ Papa durchquerte den Raum und legte die bedruckte Papiertüre auf den Esstisch. „Ich will, dass du mir nicht mehr von der Seite weichst, hast du verstanden? Wenn wir in Arkan sind, bleibst du immer in meiner Sichtweite und wenn wir zurück sind, wirst du das Haus vorerst nicht mehr verlassen.“

Gerade wollte ich meinen Weg wieder aufnehmen, doch das hatte sich nach diesen Worten erledigt. „Das meinst du nicht ernst.“

„Und ob ich das ernst meine.“ Er drehte sich zu mir herum. „Du bist ein Misto und da draußen rennt ein Kerl herum, der jedes Halbblut abschlachtet, das ihm zwischen die Finger kommt.“

„Du übertreibst“, beschied ich ihn. „Und außerdem kann ich nicht neben dir stehen bleiben und die ganze Zeit dein Händchen halten, damit du nicht durchdrehst. Ich habe einen Job.“

Papa bekam einen unnachgiebigen Zug. „Was bringt dir dein Job noch, wenn du tot bist?“

Na toll, war ja klar, dass er mit diesem Argument kommen würde. „Dann bringt er mir nichts mehr. Aber noch bin ich nicht tot, also muss ich arbeiten gehen.“

„Zaira“, knurrte er. „Das hier ist kein Witz.“

Jetzt wurde auch ich leicht verärgert. „Meinst du nicht, dass mir das klar ist? Aber ich werde mein Leben nicht in Angst fristen, nur weil die weit entfernte Möglichkeit besteht, dass mir etwas zustoßen könnte.“

„Weit entfernt?“ Papa schnaubte. „Ist dir eigentlich bewusst wer du bist? In der ganzen verborgenen Welt gibt es nur zwei Mistos die berühmter sind als du und das sind Cayenne und Kiara. Aber an die beiden kommt niemand so einfach heran. Du dagegen bist nicht nur Cayennes Tochter, du bist auch ein leichtes Opfer, denn du hast keine Personenschützer, die dich Tag und Nacht begleiten. Wenn dich jemand angreift, hast du keine Chance, weil du dich nicht traust ernsthaft zuzuschlagen.“

Ja, das war etwas, was meinen Vater schon immer aufgeregt hatte. Bereits vor Jahren hatte er mir ein paar Verteidigungstechniken beigebracht, aber in der einzigen Situation, in der ich sie wirklich gebraucht hätte, war ich einfach erstarrt. Ich wollte niemanden schlagen. Nein, das stimmte so nicht ganz. Ich konnte es einfach nicht. Meistens jedenfalls. Aber auch ich war schon handgreiflich geworden. „Du vergisst, auch ich habe schon getötet.“

„Das war eine andere Situation.“, erwiderte er bestimmt. „Du schlägst nur zu, wenn jemand, der dir etwas bedeutet, in Gefahr gerät, weil in dem Moment dein Instinkt die Oberhand gewinnt. Aber in Situationen in denen du dich selber schützen musst, erstarrst du einfach.“

„Dann besorge ich mir halt einen Elektroschocker.“

Mein Vater kniff sich in die Nasenwurzel. „Zaira …“

„Nein“, unterbrach ich ihn, bevor er mit seiner Leier weitermachen konnte. „Hör auf damit. Ja, ich weiß dass du dir Sorgen machst und auch dass du recht hast, aber auch wenn die ganze Welt weiß, dass Cayenne zwei Töchter mit einem Vampir hat, so wissen doch die wenigsten wie ich heiße und noch viel weniger wie ich aussehe und wo ich zu finden bin.“

„Wenige sind immer noch zu viele.“

„Papa“, sagte ich geduldig, obwohl Geduld gerade etwas war, was mir langsam aber sicher ausging. „Ich habe ein eigenes Leben und ich bin nicht bereit alles für eine unwahrscheinliche Möglichkeit wegzuwerfen. Ich werde mich von dir nicht einsperren lassen. Meinetwegen ruf mich zwanzig Mal am Tag an oder … was-weiß-ich, verpass mir einen Peilsender, bis die ganze Sache ausgestanden ist, aber ich werde nicht hier im Haus sitzen und den ganzen Tag Däumchen drehen. Das kannst du vergessen. Außerdem bin ich kein Wolfsmisto, da steckt auch noch ein Teil Vampir in mir drin, falls du das vergessen hast und damit ist das Gespräch beendet.“

Mein Vater schaute mich an, als wolle er mich jeden Moment in Ketten legen und im Keller verstecken. Glücklicherweise klingelte es in dem Moment an der Tür.

„Ich werde dann mal meine restlichen Sachen zusammensuchen.“ Damit verschwand ich eilends nach oben in mein Zimmer, bevor er noch weitere Gründe finden konnte, die mich zu einem Leben in Gefangenschaft verdammten. Ich meine, ich verstand ihn ja. Die ganze Sache ging auch an mir nicht spurlos vorbei, aber er musste doch auch mich verstehen. Im Moment sparte ich für einen eigenen Wagen. Irgendwann würde ich sicher mit Cio zusammenziehen und außerdem würde ich wahnsinnig werden, wenn ich den ganzen Tag mit ihm in einem Raum gesperrt sein würde. Ich liebte meinen Vater, keine Frage, aber deswegen musste ich ihn nicht den ganzen Tag um mich haben.

Leider wusste ich, dass er nicht so schnell aufgeben würde und überlegte mir deswegen weitere Gründe, die ihn in seine Schranken weisen würden, sollte es nötig sein.

Ich hatte nicht mehr viel zu packen, meine Haarbürste, Zahnputzzeug und noch ein Hemd, dass ich gestern noch zum Trocknen aufgehängt hatte. Ich schob mein Tablet gerade zwischen meine Klamotten in die Reisetasche, als meine Zimmertür von außen geöffnet wurde.

„Hallo Rotkäppchen.“

Ich schaute über die Schulter zu Cio, der mit einem Raubtiergrinsen ins Zimmer trat. Er trug eine kurze Jeans und dazu ein einfaches T-Shirt, das nicht viel Spielraum für Phantasien gab. Gemächlich spazierte er auf ich zu und beugte sich zu mir runter.

„Rotkäppchen?“ Das war neu.

„Natürlich.“ Er stahl sich einen Kuss von meinen Lippen. „Schließlich bin ich der große böse Wolf, der dich mit Haut und Haaren verschlingen möchte.“

Ich grinste an seinem Mund. „Du bist ziemlich spät dran, du ach so großer und böser Wolf.“

„Ich war noch kurz bei meiner Mutter gewesen.“ Er gab mich wieder frei und ließ sich mit dem Rücken auf mein Bett plumpsen. Dabei verschränkte er die Arme hinterm Kopf, wodurch seine Muskeln sich wölbten. Hmmm. „Sie wollte mich noch mal sehen, bevor wir abfahren, weil ich am Sonntag ja nicht zum Essen kommen kann.“

„Du könntest doch stattdessen mal unter der Woche bei deinen Eltern vorbei schauen.“ Ich schloss den Reißverschluss meiner Tasche und hockte mich auf die Fersen zurück.

Cio verzog das Gesicht. „Nee, lass mal. Ist schon in Ordnung so. So kann ich meinem Vater wenigstens mal ein paar Tage aus dem Weg gehen.“

Nicht das schon wieder. Ich verstand ihn ja, aber wenn die beiden sich nur endlich mal zusammensetzten würden, um über ihre Probleme zu sprechen, dann würden sie sich vielleicht vertragen können.

Eher friert die Hölle zu.

Wahrscheinlich. Naja, wenigstens hatte er aufgehört auf der Babysache herumzureiten. Seit über zwei Wochen hatte er das Thema nicht mehr angeschnitten. Also hatte ich recht gehabt, die Idee war wirklich nur aus einer Laune heraus entstanden. Was für ein Glück für mich. „Wie wäre es, wenn du deine Eltern mal zu dir zum Essen einladen würdest?“, überlegte ich. „Wir könnten gemeinsam für sie kochen.“

Cio schaute mich an, als würde gerade ein UFO auf meinem Kopf landen.

„Guck nicht so.“ Ich erhob mich von meinen Platz und setzte mich neben ihn auf die Bettkante. Die weiche Matratze sank ein wenig unter mir ein. „Irgendwann müsst ihr das doch mal klären. So kann das doch nicht ewig weitergehen. Er ist dein Vater, Cio.“

Seine Augen waren halb verborgen unter seinem braunen Haar. Doch den nachdenklichen Zug um seine Lippen, konnten sie nicht verstecken. „Warum hast du eigentlich keinen Spitznamen für mich?“

Wirklich jetzt? „Bei dem Versuch das Thema zu wechseln, hast du dich aber auch schon geschickter angestellt.“

Er grinste. „Geschickter? Das kannst du haben.“ Als er sich zur Seite rollte und nach mir griff, sprang ich eilig auf.

„Oh nein“, sagte ich sehr nachdrücklich und hielt die Hände abwehrend in die Luft. „Das kannst du vergessen, wir müssen gleich los.“

In einer geschmeidigen Bewegung kam er auf die Beine und pirschte sich an mich heran. Wirklich, anders konnte man das gar nicht beschreiben. Er schien ein Jäger zu sein, der sein Beute erspäht hatte. Allein schon von seinem intensiven Blick bekam ich eine Gänsehaut und ich konnte spüren, wie mein Körper sich für ihn erwärmte.

Aber das ging jetzt nicht. „Cio, ich meine es Ernst.“ Wachsam wich ich vor ihm zurück.

„Ich auch.“ Bevor ich ihm ausweichen konnte, schnappte er sich meine Hand und zog mich an sich heran. Ich fiel gegen seine Brust. Sofort schlang er einen Arm um meine Taille, damit ich mich nicht von ihm wegdrücken konnte. Mit der freien Hand fing er mein Kinn ein. Sein Lächeln ließ einen Hauch seiner Zähne erahnen.

„Cio“, mahnte ich.

„Das war immer noch kein Spitzname.“

Er wollte einen Spitznamen? Den konnte er haben. „Blödmann.“

Er dachte übertrieben auffällig darüber nach, schüttelte dann aber bedauernd den Kopf. „Ich glaube das bekommst du besser hin.“ Sein Gesicht kam meinem immer näher.

„Wenn du weiter machst, wird mein Vater hier früher oder später auftauchen und dann wird es für uns alle äußerst peinlich.“

Das ließ ihn grinsen. Aber gleich darauf verblasste das Lächeln und an seine Stelle trat eine Sehnsucht, die mich erschaudern ließ. „Ist dir eigentlich bewusst wie toll du bist?“

Meine Mundwinkel wanderten nach oben. „Mit dir habe ich auch einen recht guten Fang gemacht.“

Ein leises Lachen vibrierte in seiner Brust. „Wenn du sowas sagst, werde ich dich wohl nicht mehr gehen lassen können, ist dir das eigentlich klar?“ Seine Worte waren ein leises Raunen an meinen Lippen. „Nie wieder“, fügte er noch leise hinzu, bevor er mich küsste. Und plötzlich war es mir egal, dass meine Zimmertür sperrangelweit offen stand und auch das meine Eltern sich unten im Haus befanden. Ich schlang meinerseits die Arme um seinen Nacken und drängte mich gegen ihn. In den letzten Tagen hatte ich ihn kaum zu Gesicht bekommen. Das hier hatte mir gefehlt.

„Zaira!“, rief mein Vater ausgerechnet in dem Moment von unten. „Cio! Kommt frühstücken!“

Meine eben erwachte Libido zog sich schmachtend zurück.

„Wir könnten ihn ignorieren“, überlegte Cio, noch nicht bereit, auch nur ein kleinen wenig von mir abzurücken.

Ein Seufzen entschlüpfte mir. „Nein können wir nicht. Weißt du noch? Wir müsse zu meiner Oma, weil die morgen Geburtstag hat.“

„Ach, da können wir auch nächsten Jahr noch hin.“

Genau. Und meine Großmutter wäre auch überhaupt nicht beleidigt, wenn ich ausgerechnet ihren einhundertsten Geburtstag verpassen würde.

„Zaira!“, wurde ich da auch schon erneut gerufen – jetzt schon ungeduldig. „Komm runter oder ich komme hoch!“

„Ich komme ja gleich!“, rief ich genervt zurück. Mann, er konnte mir doch wenigstens mal eine Minute geben.

Cio grinste. „Er hört sich irgendwie sauer an.“

„Ja, weil das Leben nicht nach seinen Vorstellungen verläuft.“

Fragend zog er die Augenbrauen hoch.

„Schon gut“, sagte ich und löste mich widerwillig aus seinen Armen. „Lass uns einen Happen essen gehen.“ Auch wenn ich mir nicht sicher war, ob ich überhaupt etwas runter bekam. Die Nachricht von einer weiteren Leiche hatte mir wieder einmal schwer auf den Magen geschlagen. Ich wollte mir noch meine Tasche vom Boden schnappen, doch Cio war schneller als ich und gab sie auch nach Protesten meinerseits nicht zurück. Dann eben nicht.

Meine Sachen landeten bei dem übrigen Gepäck von Cio und meinen Eltern im Flur. Dann setzten wir uns alle um den Tisch. Mein Vater strafte mich die ganze Zeit über mit bösen Blicken, nahm unsere Diskussion aber nicht wieder auf. Entweder wollte er das bisschen Frieden zwischen uns noch wahren, da wir die nächsten Stunden zusammengepfercht in einem Auto verbringen mussten, oder – und meiner Auffassung nach viel wahrscheinlicher – er ließ das Thema vorerst ruhen, bis er ein Strategie entwickelt hatte, der ich mich fügen musste.

Hm, vielleicht sollte ich es wie Cio halten und meinem Vater eine Weile fern bleiben. Nur so lange bis die Sache ausgestanden war.

Ja klar, als wenn er das zulassen würde.

Träumen durfte doch wohl noch erlaubt sein.

Cio und Mama jedoch unterhielten sich die ganze Zeit lebhaft und auch meine Tante Lalamika, die verstorbene Schwester meiner Mutter, beteiligte sich an dem Gespräch – sehr zum Leidwesen meines Vaters.

Ja, Tanta Mika war tot, aber Ailuranthropen besaßen die Fähigkeit, die Toten zu sehen und mit ihnen zu kommunizieren. Naja, genaugenommen konnte jeder mit den Toten kommunizieren. Wenn die Geister ein Interesse daran hatten, konnten sie in die Gedanken der Leute sprechen. Manchmal nahmen wir sie als die leise Stimme unseres Gewissens wahr, oder die Leute glaubten, an Schizophrenie zu leiden – nicht alle Geister waren nett.

Die meisten Gespinste jedoch, interessierten sich nicht genug für die Lebenden, um mit ihnen zu interagieren. Tante Lalamika jedoch hing an ihrer Familie. Mit mir sprach sie nicht sehr oft, was daran lag, dass es ihr ein diebisches Vergnügen bereitete, meinen Vater zu belästigen. Er drohte ihr regelmäßig mit einem Exorzismus, aber bisher hatte sie sich davon noch nicht beeindrucken lassen.

Nach dem Essen wurde es hektisch. Wir würden nur ein kurzes Wochenende weg sein, aber meine Eltern verbarrikadierten das Haus, als würde es die nächsten Jahre leer stehen.

Mein Vater schloss noch die Tür ab, während ich mir die letzte Tasche über die Schulter schwang. Dabei hatte ich die ganze Zeit das Gefühl etwas Wichtiges vergessen zu haben, aber ich kam einfach nicht darauf was das sein könnte.

„Ich hoffe du hast an alles gedacht.“ Mein Vater nahm mir die Tasche ab.

Warum nur waren alle Männer der Meinung, dass ich mein Gepäck nicht alleine tragen konnte? „Das hoffe ich auch.“

Cio und meine Mutter standen bereits bei dem roten Fiat Freemont Cross meiner Eltern. Er war nicht mehr der neuste, aber gut in Schuss. Die Motorräder meiner Eltern dagegen würden in der Garage zurück bleiben. Ich runzelte die Stirn, als ich meine Mutter auf dem Dach des Wagens hocken sah, fragte mich aber gar nicht erst was da wieder zu bedeuten hatte. Beim Zusammenleben mit ihr waren mir schon weitaus seltsamere Dinge untergekommen. Grinsend sagte sie etwas zu Cio, der daraufhin leise lachte und seine Tasche zu den anderen in den Kofferraum schob.

Mein Vater nahm das mit einer Gleichgültigkeit zur Kenntnis, die ihm allein zu Eigen war. Er kannte meine Mutter eben schon länger als ich.

„… nur wehtun, wenn du es versuchst“, erklärte Cio, als wir in Hörweite kamen.

„Glaubst du?“, fragte sie lauernd.

„Ich glaube das nicht nur, ich weiß es. Du bist …“ Er kam nicht mehr dazu seinen Satz zu beenden, denn meinen Mutter stieß sich vom Wagendach ab und stürzte sich einfach auf ihn. Cio reagierte instinktiv, drehte sich um die eigene Achse und wich dabei zurück. Mama sprang ins Leere und landete in einer gekauerten Position auf dem Boden.

Cio grinste. „Siehst du?“

„Das war nur weil du vorgewarnt warst, Babaseun.“ Sie erhob sich geschmeidig auf die Beine.

„Hast du das mitbekommen?“, fragte er mich, kaum dass ich neben ihm stand. „Selbst deine Mutter hat einen Spitznamen für mich.“

„Sie hat dich gerade als kleinen Jungen bezeichnet“, klärte ich ihn auf und öffnete die hintere Wagentür. „Nur damit du es weißt.“

Cio blinzelte mich an und drehte sich dann zu meiner Mutter. „Kleiner Junge? Wirklich?“

Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.

„Steigt endlich in den Wagen“, ordnete mein Vater an und schob die letzte Tasche zu den anderen in den Kofferraum.

„Ich fahre!“, verkündete meine Mutter und eilte um den Wagen herum, bevor mein Vater noch auf die Idee kam ihr ihren Platz streitig zu machen. Fünf Minuten später waren wir bereits unterwegs.

Ich hatte mich auf den Rücksitz an Cio gekuschelt und musste wieder an den Artikel auf V News denken, während Cio und meine Mutter sich über ihren missglückten Angriff unterhielten. Wir hatte Silenda vielleicht seit zehn Minuten hinter uns gelassen, als der Gedanke an den Artikel mich endlich darauf brachte, was ich vergessen hatte. „Wir müssen noch mal zurück“, verkündete ich auch sofort. „Das Ladegerät für ein Tablet ist noch zu Hause.“

Also drehten wir trotz Papas gegrummelten Protest noch einmal um, damit ich mein Tablet auch bei meiner Großmutter mit Saft versorgen konnte.

Als wir dieses Mal losfuhren, war es aber Papa, der sich hinter das Steuer setzte. Wieder fuhren wir durch Silenda und kaum das wir die Stadtgrenze hinter uns gelassen hatten, war es meine Mutter, die sich auf ihrem Sitz kerzengerade aufsetzte. „Das Geschenk für Mama“, sagte sie ganz aufgeregt. „Es liegt noch in unserem Schrank.“

Also fuhren wir ein weiteres Mal zurück.

So genervt wie mein Vater wirkte, hatte ich fast Mitleid mit ihm.

Kaum das wir erneut vor unserem Haus hielten, sprang meine Mutter auch schon aus dem Wagen und verschwand eilends im Gebäude, um das Ölgemälde zu holen, dass wir vor Wochen bei dem Künstler in der Stadt in Auftrag gegeben hatte. Es zeigte, Papa, Mama und mich. Oma hatte es sich gewünscht.

Meine Aufmerksamkeit wurde während des Wartens von einer Bewegung am Waldrand geweckt. Da war er wieder, der wilde Wolf. Halb verborgen zwischen dem Unterholz stand er da und schien genau zu wissen, dass ich in dem Auto saß.

„Er ist schon irgendwie seltsam“, murmelte Cio. Auch er hatte ihn bemerkt.

Meine Mutter kam wieder aus dem Haus und stieg mit einem „ich hab es“ zurück in den Wagen, doch mein Vater startete den Motor nicht. Stattdessen bedachte er jeden einzelnen von uns böse durch den Rückspiegel. „Wenn noch jemand etwas vergessen hat, dann sollte er es jetzt sagen, denn ich werde kein weiteres Mal zurück fahren.“ Sein Blick blieb an Cio hängen, der einzige hier, der uns bisher noch nicht zur Umkehr gezwungen hatte. Doch er zuckte nur unschuldig mit den Schultern.

„Ich habe alles was ich brauche.“

„Gut“, knurrte mein Vater und ließ den Motor ein weiteres Mal an um uns endlich zu seiner Mutter bringen zu können. Am Ende jedoch musste er doch noch ein letztes Mal umkehren: Mein Vater hatte seine Brieftasche auf der Anrichte in der Küchen liegen gelassen.

 

°°°

 

Sobald Papas Fiat vor dem flachen Einfamilienhaus meiner Oma hielt, sprang meine Mutter mit den Worten „Ich muss aufs Klo!“ aus dem Wagen und flog praktisch durch den kleinen, verwilderten Garten zur Haustür. Sie hielt sich nicht lange mit Klopfen auf, sondern stürmte direkt das Haus. Sogar hier am Wagen konnte ich hören wie die Tür gegen die Wand knallte, dann war sie auch schon im Inneren verschwunden. Der Rest von uns stieg ein wenig gesitteter aus.

Wir waren gerade dabei unser Gepäck aus dem Auto zu laden, als eine hochgewachsene Frau mit blassen eisblauen Augen und der Haustür auftauchte. Ihr langes schwarzes Haar rahmte das schmale Gesicht ein. Die kleinen Lachfältchen um ihre Augen ließen sie strahlen. Gut, vielleicht war es auch das breite Lächeln auf ihren Lippen.

Das war meine Großmutter Marica Steele. Und wenn ich sie sah, wusste ich auch von welchem Teil der Familie ich meinen großen Vorbau hatte.

„Raphael.“ Ihr langer dunkler Rock schlug ihm um die Beine, als sie den Garten durchquerte und zu uns in die Einfahrt trat. Über der blauen Bluse, trug sie eine pinke Schürze mit dem Aufdruck: Kitchen Queen. Darüber prangte passender Weise eine Krone aus Pailletten. Irgendwie sah das an ihr ein wenig albern aus.

„Wo hast du die denn her?“, fragte mein Vater auch sogleich ein wenig irritiert.

Meine Oma trat einfach zu ihm und zog ihn in die Arme.

Dafür dass sie morgen bereits einhundert wurde, hatte sie sich ausgesprochen gut gehalten. Natürlich konnte man hier nicht mit dem Maßstab wie bei einem Menschen rechnen, da sowohl Vampire als auch Lykaner, die doppelte Lebensspanne eines Menschen erreichen konnten, aber selbst für eine Vampirin ihres Alters sah sie noch sehr gut aus.

Stirnrunzelnd ließ meine Großmutter wieder von ihrem Sohn ab und musterte ihn auffallend. „Du bist dünn geworden, isst du auch richtig?“

„Ja Mama. Ich esse immer richtig.“

Beinahe hätte ich mir mein Kichern nicht verkneifen können. Bei niemanden war mein Vater so Handzahm, wie bei seiner Mutter.

Sie schnalzte missbilligend. „Nicht in diesem Ton“, warnte sie ihn und drehte sich dann zu mir herum. „Zaira!“

„Hallo Oma.“ Auch ich wurde kräftig gedrückt und nahm sofort den vertrauten, ländlichen Geruch an ihr wahr, den ich schon seit meiner frühsten Kindheit mit ihr verknüpfte. Ich sah sie nicht sehr oft, aber alle Erinnerungen die ich an sie in mir trug, verknüpfte ich mit etwas Gutem. „Geht es dir gut?“

„Ja, natürlich, Schatz.“ Sie löste sich von mir um nun auch Cio zu begrüßen. Doch bei ihm beließ sie es bei einem freundlichen Händeschütteln. „Und du passt immer schön auf mein kleines Mädchen auf, ja?“

Cio schlug die Hacken zusammen und salutierte vor ihr. „Ja Ma’am. Ich schütze sie mit meinem Leben und habe sie schon vor so mancher Spinne in Sicherheit gebracht.“

„Ha ha“, machte ich und nahm meine Tasche von Papa entgegen. Spinnen waren nun mal meine Achillesferse. Sie waren nicht einfach nur eklig, sie waren auch noch unheimlich. Zu viele Beine, zu viele Augen und eindeutig zu viele Haare. Käfer sollten nicht behaart sein, das war einfach falsch.

Oma tätschelte Cio sie Schulter. „Du machst das schon richtig, Schatz.“

„Siehst du“, sagte er zu mir. „Selbst sie hat einen Spitznamen für mich.“

Nein, ich konnte es mir nicht verkneifen die Augen zu verdrehen, bevor ich ihm den Rücken kehrte und durch den kleinen Garten zum Haus marschierte.

Der Wohnsitz meiner Oma war ein Flachbau mit ausgebautem Keller, dessen blaue Fassadenfarbe schon so verblasst war, dass er beinahe grau wirkte. Um die weiße Umzäunung der Veranda war es auch nicht besser bestellt. Der Garten war so weit ich mich zurück erinnern konnte, schon immer verwildert gewesen.

Um es mal zusammenzufassen, das Haus sah einfach schäbig aus – zumindest von außen, denn sobald man es betrat, eröffnete sich einem eine ganz andere Welt. Es war nicht nur sauber und ordentlich, meine Oma benutzte es um ihren Putzfimmel auszuleben.

Vom Flur aus kam man links in das kleine Bad. Direkt gegenüber der Haustür, war die Küche und daneben das Wohnzimmer. Omas Schlafzimmer befand sich am rechten ende des Flurs. Drei weitere Zimmer und das große Badezimmer, befanden sich eine Etage tiefer im Souterrain.

In meiner Kindheit war ich nur selten hier gewesen. Erst nachdem das Rudel der Könige einen neun Alpha erhalten hatte, konnte ich meine Großmutter öfter besuchen. Tja, ich war halt ein stets zu hütendes Geheimnis gewesen und meine Familie hatte sehr darauf geachtet, mich vor der Welt zu verstecken. Obwohl wir uns ja eigentlich hatten verbergen müssen, weil meine Mutter von ihrer Familie gejagt worden war. Noch heute wurde sie ganz verschreckt, wenn sie zufällig einem Ailuranthropen über den Weg lief.

Kaum im Haus wandte ich mich im Korridor nach rechts und dann die Treppe hinunter. Meine Oma musste mir nicht erst zeigen wo ich meine Sachen abladen konnte, ich schlief hier immer im selben Raum.

Am Fuß der Treppe öffnete sich direkt die Tür zum großen Bad. Längsseitig kamen zuerst der alte Hobbyraum und direkt daneben der Zimmer meines Vaters. Ich schlief immer in dem kleinen Zimmer am Ende des Korridors.

Als ich einmal als Kind von vielleicht zehn Jahren hier gewesen war, stand darin ein altes Hochbett. Das hatte ich so toll gefunden, dass ich auch für Zuhause eines hatte haben wollen – und ja, ich hatte es auch bekommen. Heute stand hier ein Bett, das eigentlich viel zu groß für den Raum war. Es war so breit, dass man links und rechts nicht mehr stehen konnte, sondern vom Fußende hineinkrabbeln musste. Ich erinnerte mich nur zu gerne daran, wie mein Vater es vor zwei Jahren aufgebaut hatte. Ich glaubte nicht, ihn schon einmal so viel fluchen gehört zu haben wie an diesem Tag.

Außer dem Bett gab es in diesem Raum nur noch einen kleinen Kleiderschrank, in den ich meine Tasche stellte, ohne sie auch nur zu öffnen. Ausräumen konnte ich sie später immer noch. Obwohl es sich für zwei Tage absolut nicht lohnte. Aber wenn ich es nicht machte, konnte es durchaus passieren, dass meine Oma sich über meine Tasche hermachte – war alles schon passiert.

Dennoch ließ ich sie einfach stehen und verließ den Raum wieder. Die Tür zu meiner linken war offen. Das war das Zimmer, das mein Vater schon in seiner Kindheit benutzt hatte. Zwar benutzte Papa es nur noch selten, aber es war noch immer seines. „Damit er weiß, dass er hier immer willkommen ist“, hatte meine Oma mir einmal erklärt, als ich sie gefragt hatte, warum sie es nicht schon vor Jahren ausgeräumt hatte.

Jetzt stand die Tür dazu weit offen und ich sah meinen Vater, der sein Reisegepäck auspackte.

Da ich kein Interesse an einer neuerlichen Konfrontation mit ihm hatte, ignorierte ich die offene Tür und machte mich wieder auf den Weg nach oben. Kaum hatte ich die Treppe hinter mir gelassen, sah ich auch schon Cio, der bei meiner Oma an der Haustür stand und ihr gerade etwas in seiner Hand zeigte. Da er mir den Rücken zukehrte, konnte ich nicht erkennen was es war, aber meine Großmutter schaute erst ungläubig und dann begann sie zu strahlen.

„Was hast du da?“, fragte ich.

Erschrocken wirbelten die beiden zu mir herum.

„Nichts“, sagte Cio ein wenig zu unschuldig um glaubhaft zu wirken und ließ irgendwas schnell in der Hosentasche verschwinden.

Ich kniff die Augen leicht zusammen und öffnete den Mund, doch bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte, trat meine Oma hervor und schnappte mich beim Arm. „Komm, ich hab Kuchen vorbereitet. Cio bring deine Sachen runter, tust du das? Dann habe ich auch ein Stück für dich.“

„Klar“, sagte er und war so schnell verschwunden, dass ich erst recht misstrauisch wurde. Irgendwas heckte er doch aus. Zusammen mit meiner Großmutter. Die er kaum kannte. Okay, vielleicht war ich aber auch einfach nur ein wenig paranoid und interpretierte viel zu viel in die Sache hinein. Gott, wenn es so weiter ging, würde ich bald genauso enden wie mein Vater.

Meine Mutter war bereits in meiner Küche und inspizierte den Inhalt des Kühlschranks. Aber sie befand sich nicht alleine im Raum. An dem runden Küchentisch saß ein junger, schlanker Mann mit rundem Gesicht und kurzen braunen Haaren. Auf seiner Nase zeichneten sich ein paar blasse Sommersprossen ab. Als er uns kommen hörte, richteten sich ein paar mandelförmiger Augen auf mich. Das war mein Cousin Anouk. Wenn ich mich nicht täuschte, dann musste er jetzt dreißig sein.

Ich hob die Hand. „Hi.“

Auch er hob zur Begrüßung die Hand, sagte aber sonst nichts. Anouk hatte noch nie viel gesprochen. Das war auch der Grund, warum ich ihn als Kind immer so unheimlich gefunden hatte.

„Setz dich hin, Schatz“, forderte Oma mich auf. „Ich decke nur schnell den Tisch.“

„Ich kann dir doch helfen.“

„Nein, du setzt dich, ich mache das. Und du komm endlich aus dem Kühlschrank heraus, es gibt gleich essen.“ Der letzte Teil galt meine Mutter, deren Augen plötzlich doppelt so groß waren, wie eigentlich sein dürften. Das unterstrich nur noch den kläglichen Ausdruck der plötzlich in ihrem Gesicht stand.

„Aber ich habe jetzt Hunger.“

„Du hast eben schon zwei Bananen verdrückt und ich habe extra Kuchen gebacken.“

„Hmpf“, machte meine Mutter, schloss aber die Kühlschranktür und ließ sich schmollend auf einen der Küchenstühle fallen.

Ja, manchmal konnte meine Mutter äußerst kindisch sein.

Trotz Großmutters Protesten, setzte ich mich nicht auf meinem Hintern, sondern half ihr den Tisch zu decken. Ich hatte gerade die Teller verteilt und legte nun ordentlich überall noch eine Gabel dazu, als mein Vater in die Küche trat.

„Ich gehe mal eben zu Tristan rüber.“

Oma schaute von dem Kuchen auf, den sie gerade aufschnitt. „Muss das jetzt sein? Es gibt gleich essen.“

„Ich muss da nur schnell etwas abholen, dauert nicht lange.“

„Lass dir ruhig Zeit“, warf meine Mutter da ein. „Wenn du zu lange brauchst, dann esse ich eben deinen Kuchen.“

Zu sagen meine Mutter hätte ein gestörtes Verhältnis zum Essen, wäre noch untertrieben. Ihre ganze Kindheit über hatte sie Hunger gelitten. Damals gab es nicht einen Tag in ihrem Leben, an dem sie sich hatte satt essen können. Wahrscheinlich war das der Grund, warum sie auch jetzt noch – Jahre nachdem sie ihre Freiheit erlangt hatte – alles Essen was sie nur bekommen konnte, in sich reinschaufelte. Besonders wenn so viel Leute anwesend waren. Es war, als hätte sie Angst ansonsten einfach nicht genug abzubekommen. Eigentlich ein Wunder, dass sie nicht durch die Gegend kugelte. Dafür musste sie wohl ihrem Metabolismus danken.

„Ich werde schon rechtzeitig wieder hier sein“, erklärte mein Vater den beiden Frauen, gab meiner Mutter noch einen Kuss auf die Wange und verließ dann die Küche. Dabei stieß er fast noch mit Cio zusammen, der nun auch den Weg nach oben gefunden hatte.

Cio sah den jungen Lykaner am Tisch und runzelte nachdenklich die Stirn. „André, richtig?“

„Anouk“, verbesserte mein Cousin sofort. Er hatte eine unglaublich tiefe Stimme. Ein wenig rau, als würde er rauchen. Oder sie eben äußerst selten benutzen.

„Anouk, richtig. Tut mir leid, hab ich vergessen.“

Zur Erwiderung zuckte er nur mit den Schultern.

Wie bereits erwähnt, nicht sehr gesprächig.

Cio trat zu mir und half mir dabei das Besteck zu verteilen und auch wenn mein Vater erklärt hatte, er würde nicht lange brauchen, hatten wir den Kuchen schon zur Hälfte aufgegessen, als er mit einem kleinen Stoffbeutel wieder in der Küche auftauchte.

„Was ist das?“, wollte meine Mutter auch sofort wissen.

„Etwas für Zaira.“ Mein Vater packte mir den Beutel neben meinen Teller und ließ sich dann neben Mama sinken.

Ich legte stirnrunzelnd die kleine Gabel zur Seite und zog die Tasche neugierig zu mir heran. Ein Geschenk – noch dazu eines das er bei meinem Onkel hatte abholen müssen – war das letzte womit ich heute gerechnet hätte – nicht nach unserem Disput vorhin.

Auch Cio schaute mir neugierig zu, als ich den Beutel öffnete. Darin lagen drei Dinge. Das erste was ich zwischen die Finger bekam, war eine Kette mit einem tropfenförmigen Anhänger daran. Sie war nicht hässlich, aber meinem Geschmack entsprach sie auch nicht gerade.

Das zweite war eine kleine Spraydose und noch bevor ich die Aufschrift las, wusste ich schon, was ich da in der Hand hielt. Pfefferspray. Nachdem ich das gesehen hatte, wunderte ich mich auch nicht mehr über den dritten Gegenstand. Ein Elektroschocker.

Warum nur hatte ich heute Morgen nicht meine Klappe halten können? War doch eigentlich klar gewesen, dass mein Vater etwas, dass ich einfach nur so dahingesagt hatte, um ihn zu beruhigen, für wahre Münze nahm.

„Im Anhänger der Kette ist ein Peilsender enthalten, der von den Themis geortet werden kann“, erklärte mein Vater und tat sich ein Stück Kuchen auf. In seinen Augen lag eine Warnung. Ich sollte nur probieren ihm zu widersprechen.

Ich setzte ein sehr künstliches Lächeln auf. „Du weißt eben was das Herz eines Mädchens höher schlagen lässt.“

Vorsichtig schaute Cio zwischen mir und meinem Vater hin und her. Die plötzliche Spannung in der Luft war auch ihm nicht entgangen. „Gibt es da vielleicht etwas, was mir entgangen ist?“

„Dir entgeht öfter mal etwas“, murmelte mein Vater und schob sich die Gabel in den Mund.

Ich schob die Sachen zurück in den Beutel. „Warum hatte Tristan so was?“

„Ich habe ihn gebeten es zu besorgen, als du gerade oben warst und deine restlichen Sachen gepackt hast.“

Natürlich. Wunderte mich eigentlich nur, dass er das Zeug nicht schon in Silenda besorgt hatte. Aber warum regte ich mich überhaupt auf? Er hatte doch Recht und falls wirklich etwas geschah, konnten diese Dinge mir helfen. Und er machte es, weil er Sorge hatte, mir könnte etwas geschehen. Wollte ich denn wirklich lieber einen Vater, dem es egal war, was seine Brut den lieben langen Tag so trieb? Natürlich nicht. Auch wenn er mich manchmal wahnsinnig machte, ich hatte ihn lieb. Deswegen sagte ich ganz schlicht: „Danke“ und fügte noch einen „ehrlich“ hinzu, als er mich misstrauisch anschaute.

Ein Teil seiner Anspannung löte sich in Luft auf. Vermutlich hatte er eine weitere Diskussion befürchtet. „Gern geschehen. Und bitte benutze die Sachen auch.“

„Klar, kein Problem.“ Um ihm zu beweisen wie ernst es mir war, zog ich die Kette wieder heraus und gab sie Cio. „Kannst du mir die mal bitte umhängen?“

Er konnte. Und als er fertig war, hauchte er mir noch einen Kuss in den Nacken, der mich wünschen ließ, mit ihm nach unten ins Zimmer zu verschwinden.

„Anouk“, sagte da meine Oma. „Wolltest du nicht noch was fragen?“

Mein Cousin schaute von seinem Teller auf. Wie immer zeigte sich in seinem Gesicht kaum eine Gefühlsregung. Er schien immer irgendwie … gleichgültig. „Ich dachte ich warte damit bis nach dem Essen.“

Meine Oma winkte ab. „Tu es jetzt, nachher geht es sonst vielleicht noch unter.“

Was für eine seltsame Wortwahl.

Anouk zuckte nur mit den Schultern und wandte sich dann meinem Vater zu. „Könnt ihr mich am Sonntag mit nach Silenda nehmen?“

Mein Vater schien zwar überrascht, nickte aber. „Natürlich.“

Meine Oma schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Immer das gleiche mit dir“, tadelte sie und legte meiner Mutter ein neues Stück Kuchen auf ihren Teller, kaum dass er leer war. „Anouk hat in Silenda eine Stelle als Photograph gefunden und muss nun dort hin, um sich eine Wohnung zu suchen. Er würde gerne für die Zeit bei euch wohnen.“

„Ich wollte in ein Hotel gehen“, murmelte er.

Oma warf ihm einen scharfen Blick zu. „Warum willst du dein Geld wildfremden in den Hals werfen, wenn du Familie vor Ort hast? Raphael hat in seinem Haus sicher ein kleines Plätzchen für dich übrig, nicht wahr mein Spatz?“

„Ähm … für wie lange?“

„Raphael!“, empörte sich meine Oma sofort.

„Was?! Das Haus platz jetzt schon aus alle Nähten.“

Und das von jemanden der Jahrelang in einem Wohnmobil gewohnt hatte.

Cio beugte sich vor. „Er kann sich bei mir breit machen. Ich bin in letzter Zeit sowieso kaum zu Hause.“

Ja, weil da draußen ein gemein gefährlicher Killer herumrannte. Deswegen war ich die letzten Wochen meistens zu Hause gewesen. Meine Eltern schliefen dann besser. Und deswegen war er die meiste Zeit auch bei uns.

„Dann hätten wir das ja geklärt“, sagte meine Oma zufrieden. „Dann …“

„Was ist das denn?!“, fragte meine Mutter plötzlich und griff meiner Oma in die Haare. Dann förderte sie eine graue Haarsträhne zutage.

Oma schmunzelte. „Ich werde morgen hundert Jahre alt, Mäuschen. Ich kann froh sein, dass meine Haare bei euch Kindern nicht schon ganz weiß sind.“

Einen solchen Beweis ihres Alters in der Hand zu halten, schien Mama richtig zu erschüttern.

„Das ist wirklich halb so schlimm.“ Sie tätschelte meiner Mutter den Arm und aß dann seelenruhig ihren Kuchen auf.

Nach dem Essen setzten wir uns alle um Wohnzimmer zusammen und tauschten Neuigkeiten aus. Leider fiel das Thema dabei auch mal wieder auf den Amor-Killer. Natürlich, das war etwas, was die verborgene Welt im Moment bewegte. Selbst Anouk ließ sich zwei oder drei Mal dazu herab den Mund zu öffnen und seinen Beitrag zu leisten – hauptsächlich weil meine Oma versuchte ihn in das Gespräch mit einzubinden.

Aber ich hatte keine Lust schon wieder darüber nachdenken zu müssen und kuschelte mich daher still an Cio. Solange er bei mir war, war die Welt wenigstens halbwegs in Ordnung.

Der Nachmittag neigte sich schon den Abend entgegen, als Cio sich ausgiebig streckte und gähnte. „Wenn ich nicht bald etwas tue, schlafe ich noch ein.“

Ich schaute zu ihm auf. „Dann leg dich doch hin.“

Für einen Moment wog er die Vor- und Nachteile dieser Idee ab, schüttelte dann aber den Kopf. „Nee, dann bin ich die halbe Nacht wach.“

„Dann macht doch einen Spaziergang“, warf meine Oma ein, die uns zugehört hatte. „Es ist noch warm genug und ein bisschen frische Luft wird euch guttun.“

Ein Spaziergang? Hm, eigentlich war ich eher der Typ, der sich vor seinem Computer verschanzte, wenn ihn die Langeweile übermannte.

„Ein Spaziergang hört sich gut an“, warf mein Vater da ein.

Oma warf ihm einen derart scharfen Blick zu, dass ich wohl darunter zusammengezuckt wäre. „Du nicht“, erklärte sie ihm sofort. „Dich und Tarajika brauche ich hier.“

Er runzelte die Stirn. „Wofür?“

„Das zeige ich dir gleich.“ Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf uns. „Und ihr geht endlich, na los.“

Ein leises Lachen drang aus Cios Brust. „Wer kann sich so viel Weiblichkeit schon widersetzen?“ Er stand auf, streckte sich so, dass ein schmaler Streifen Haut unter seinem Shirt sichtbar wurde und zog mich dann auch auf die Beine.

Da war ich wohl überstimmt.

Wem das allerdings gar nicht gefiel, war mein Vater. „Ich finde das ist keine gute Idee. Da draußen läuft ein Killer herum.“

Jetzt ging das wieder los.

Meine Oma machte eine wegwerfende Handbewegung, als würde mein Vater sich über Nichtigkeiten Sorgen machen. „Du hast ihr doch dieses ganze Spielzeug gegeben, das kann sie mitnehmen. Und außerdem ist ja auch noch Cio bei ihr.“

Das stimmte schon, trotzdem musste es ihm nicht gefallen, doch er widersprach nicht mehr und so befand ich mich kurze Zeit später neben Cio auf den Straßen von Arkan.

Dieser Ort, der nur von Vampiren und Lykanern bewohnt wurde, glich diesen malischen kleinen Orten, die man immer auf Postkarten fand. Ihr wisst schon, heimelige kleine Häuschen, eingebettet in einer Hügellandschaft, die von so viel Natur umgeben war, dass man glauben könnte am Ende Welt gelandet zu sein.

„Willst du laufen gehen?“, fragte ich und versuchte mich an dem Straßenschild zu orientieren, wo genau wir hier waren.

Cio schüttelte den Kopf. „Nee, lass uns einfach nur ein bisschen rumspazieren.“ Er legte mir einen Arm um die Taille und zog mich an seine Seite. „So kann ich dich außerdem viel besser betatschen.“

Über so viel Offenheit konnte ich nur belustigt den Kopf schütteln. „Wo willst du dann hin?“

„Weiß nicht.“ Er schaute sich um, als würde er dadurch eine Eingebung bekommen. „Deine Oma hat mir von einem See in der Nähe erzählt, lass uns doch dahin gehen.“

„Klar.“ Ich wechselte die Richtung und führte ihn zu dem kleinen Dorf hinaus.

„Weißt du was wir noch nie zusammen gemacht haben?“, fragte er, als wir gerade an dem einzigen Frisörsalon in ganz Arkan vorbei kamen. Die Besitzerin war eine Freundin meiner Oma. Beatrice Becker. Auch sie war ein Misto – ein sehr alter sogar.

„Was denn?“ Die Hitze war heute nicht so drückend, wie noch vor ein paar Wochen und das, obwohl der September gerade erst angefangen hatte. Der Herbst würde nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen.

„Nackt in einem See baden.“

Ähm … ja. „Und das werden wir auch nicht.“

„Warum?“ Er klang ehrlich neugierig.

„Weil das ein öffentliches Gewässer ist, an dem jederzeit alle möglichen Leute vorbei kommen können.“

„Aber du wärst doch im Wasser. Niemand außer mir könnte dich sehen. Und ich weiß nicht nur wie du nackt aussiehst, ich habe auch alles an die schon …“

„Stopp!“

Er zwinkerte mir zu.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich werde nicht nackt in diesen See springen“, sagte ich bestimmt, um ihm die Flausen sofort auszutreiben, bevor sie sprießen konnten und Früchte trugen.

Cio lief schmunzelnd weiter. „Es wäre ja nicht das erste Mal, wenn wir es etwas … öffentlicher tun würden.“

Meine Augen verengten sich leicht. „Nein“, wiederholte ich nachdrücklicher. Ich wusste genau worauf er anspielte. Es war noch ziemlich am Anfang unserer Beziehung gewesen und wir hatten uns fast drei Wochen nur per Videochat sehen können. Als meine Eltern uns dann zwangen, an diesem einen Abend den wir zusammen verbringen konnten mit ihnen ins Kino zu gehen, hatte Cio mich kurzerhand auf die Toiletten entführt. Versteht mich nicht falsch, ich beschwerte mich gar nicht. Doch als wir aus der Kabine gekommen waren, stand da eine Unbekannte mit einem fetten Lächeln im Gesicht.

Cio hatte die Begegnung natürlich auf die leichte Schulter genommen, während ich feuerrot angelaufen war und eilig zurück auf meinen Platz im Kinosaal schlich.

„Dabei ist das Wetter doch so schön.“ Er lächelte mich spitzbübisch an, blieb dann aber mit den Augen an meiner Kette hängen. „Hätte ja nicht geglaubt, dass du dir sowas freiwillig um den Hals hängst.“

Vorsichtig fasste ich nach dem Anhänger. Ich hatte keine Ahnung wie empfindlich so ein Peilsender war. Es war ungewohnt ihn zu spüren. Schmuck hatte ich wohl das letzte Mal an meinem zwanzigsten Geburtstag getragen, als Cayenne für mich den Maskenball ausgerichtet hatte. Das schöne Kleid und den Schmuck von diesem Tag, besaß ich immer noch, auch wenn ich keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, es zu tragen. „Immer noch besser als die Alternative“, murmelte ich und verließ die Straße, um in ein kleines Wäldchen einzutauchen. Der See lag direkt dahinter. Natürlich könnten wir auch weiter der Straße folgen, aber warum einen Umweg machen, wenn bereits Dutzende von Füßen einen schmalen Trampelpfad durch das Unterholz geschlagen hatten.

„So? Was wäre denn die Alternative gewesen?“

„Einkerkerung in einem Safe. Vielleicht sogar mit verbundenen Händen, damit ich mich nicht durch die Stahlwände nagen kann.“

„Wäre ein Ballknebel dann nicht viel angebrachter?“

Ich warf ihm einen bösen Blick zu, der ihn allerdings nicht beeindruckte. „Nachdem Papa heute Morgen von dem letzten Amor-Opfer erfahren hat, wollte er dass ich ihm keinen Schritt mehr von der Seite weiche. Er hat sogar verlangt, dass ich meinen Job an den Nagel hänge, damit er mich sicher in seiner Obhut verwahren kann. Glaub mir, am liebsten hätte er mich wohl in Handschellen gelegt.“

„Der einzige der dich mit Handschellen fesseln darf, bin ich“, entschied Cio.

„Das ist nicht lustig.“ Ich seufzte. „Jedenfalls habe ich ihm gesagt, dass er das vergessen kann und dass ich eher einen Elektroschocker benutzen würde, als mich von ihm wegsperren zu lassen.“

Wir schlenderten weiter zwischen den Bäumen entlang. Die Sonne stand schon tief am Himmel, als wir die letzte Baumreihe passierten und sich der kleine See vor uns offenbarte.

Am bewaldeten Stand konnte ich ein paar Leute ausmachen, die sich in den letzten Sonnenstrahlen des Tages sonnten. Draußen auf dem Wasser gondelte ein Boot herum und am Strand konnte ich ein paar Kinder im Wasser plantschen sehen.

„Lass uns da lang gehen.“ Cio führte mich von den Leuten weg und steuerte einen alten maroden Steg an, der weit ins Wasser hineinragte.

„Weißt du, es ist ja nicht so, dass ich ihn nicht verstehe“, nahm ich den Faden wieder auf. „Aber manchmal habe ich wirklich das Gefühl, dass … ich weiß nicht. Ich bin dreiundzwanzig Jahre und habe ein eigenes Leben, verstehst du? Aber das scheint er gar nicht zu sehen.“

„Für ihn bist du immer noch das kleine Mädchen, das bei dem Anblick einer Spinne lautstark nach ihrem großen und starken Papa geschrien hat.“

Nein, dieses Mal bekam er dafür keinen bösen Blick. Ich ignorierte ihn einfach. „Wie soll das nur werden, wenn ich irgendwann ausziehe? Steht er dann zu jeder vollen Stunde vor meiner Tür um zu schauen, ob ich noch lebe?“

„Wenn es so weit ist, wird er es schon akzeptieren“ erklärte Cio und trat auf den Steg.

Ich folgte ihm.

Das Holz war alt, schien aber stabil zu sein, auch wenn es unter jedem meiner Schritte warnend knarrte. Wir setzten uns am Ende des Stegs hin. Cio zog sogar seine Schuhe aus und ließ seine Füße im Wasser baumeln.

Die Sonne ging gerade unter und zauberte ein Spiel aus Licht auf die Wasseroberfläche. Sie verabschiedete sich mit einem bunten Farbenspiel von diesem Tag und versank langsam hinter den Bäumen.

Es war schön.

Ich lehnte mich an Cio und genoss seine Nähe. „Der Spaziergang war doch eine gute Idee gewesen.“

Er lächelte. Mit dem Fingern spielte er an einem losen Faden an seiner Hose herum. „Hmh“, machte er. Dabei warf er mir einen kurzen Blick zu, schaute dann aber schnell wieder hinaus aufs Wasser, als befürchtete er, ich könnte es bemerken. „Ich würde dich gerne etwas fragen.“

„Dann tu es doch einfach.“ Er nahm doch auch sonst kein Blatt vor den Mund.

Er ließ von dem Faden ab und klopfte sich nervös mit der Faust auf Bein. Auf einmal schien er richtig verunsichert.

Meine Stirn schlug Falten. „Alles okay?“

„Ja“, sagte er hastig, warf mir wieder einen kurzen Blick zu, nur um sich gleich darauf auf die beiden Schwimmer im See zu konzentrieren.

Mein Stirnrunzeln wurde tiefer. Was war denn jetzt verkehrt? „Cio?“

Er schloss einen Moment die Augen, atmete einmal tief durch und drehte sich dann zu mir. Sein Mund ging auf, doch gleich darauf schien er es sich anders zu überlegen und erhob sich so hastig, sodass ich ein paar Tropfen Wasser abbekam. Seine Beine kamen in Bewegung. Hin und her. Einmal, zweimal. Seine Füße hinterließen auf dem Holz nasse Abdrücke. Dann stand er wieder vor mir. „Okay, ich frag dich jetzt etwas und du musst mir ehrlich antworten.“

Jetzt wurde ich misstrauisch. „Das hat doch nicht schon wieder etwas mit deinem plötzlichen Kinderwunsch zu tun, oder?“

Jetzt bekam ich endlich wieder ein richtiges Lächeln. „Nein“, sagte er dann ehrlich. Doch was er dann tat, verschlug mir einfach die Sprache. Er zog etwas Kleines aus seiner Hosentasche, wog es einen Moment in seiner Hand und ging dann vor mir auf die Knie.

Ich hielt die Luft an. Er würde doch nicht …

Fast schon zögerlich hielt er mir seine offene Hand hin. Darin lag ein kleiner silberner Ring mit einem weißen Stein, der so in die Fassung eingearbeitet war, dass es wirkte, als sei er die Blüte einer Rose. War das etwa ein Diamant?! „Du weißt ich kann nicht so gut mit Worten umgehen“, begann er dann auch ohne weitere Umschweife. „Aber .. weißt du … ich …“ Er rang um Worte.

Oh mein Gott, er tat es wirklich!

„Wenn ich morgens aufstehe und du bist nicht neben mir, gefällt mir das nicht“, sagte er dann ganz direkt. „Aber nicht nur dann. Ich würde dich am liebsten den ganzen Tag um mich haben, weil wenn du nicht da bist … dann fehlt mir einfach etwas, verstehst du?“

Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott!

„Aber es ist auch nicht nur das. Der Tag an ich dich kennen lernen durfte, war einer der glücklichsten in meinem Leben und seitdem hast du jeden Moment, den ich mit dir verbringen durfte, bereichert.“ Er drehte den Ring zwischen seinen Fingern, als würde ihm das Kraft zum Weitersprechen geben. Dann öffnete den Mund, stockte wieder und bekam dann einen entschlossenen Zug. „Okay, ich frag jetzt einfach“, entschied er dann. „Zaira, du bist das Wichtigste in meinem Leben und deswegen möchte ich von dir wissen. Willst du meine Frau werden?“

 

°°°°°

Im Kreis der Familie

 

Schock. Ja, ich stand eindeutig unter Schock, denn ich tat nichts weiter als diesen wunderschönen Ring anzustarren. Ich war nicht mal fähig einen Gedanken zu fassen, der nicht die Worte „Oh mein Gott!“ beinhaltete. Bei Cio rechnete ich in der Zwischenzeit ja schon mit vielem, aber das … nein, nie im Leben hätte ich geglaubt, dass er mich zur Gefährtin haben wollen würde. Nicht nur dass ich kein reinblütiger Lykaner war, er hatte bis heute auch noch nicht die drei magischen Worte ausgesprochen. Ich meine, natürlich wusste ich um seine Gefühle, er zeigte es mir jeden Tag mit kleinen Gesten. Und vielleicht, eines Tages, hätten wir diesen Schritt gewagt, aber diese Frage … jetzt … das war ein gewaltiger Schritt für uns beide.

Cio nagte nervös an seiner Unterlippe. Sein Blick huschte von meinem Gesicht zu dem Ring in seiner Hand und wieder zurück. „Bitte, tu mir einen Gefallen und sag etwas.“

Seine Stimme gab endlich den Anstoß, den ich brauchte um mein Denken wieder in Gang zu setzten. Mein Gesicht begann zu strahlen und dann warf ich mich ihm um den Hals. „Ja!“, jubelte ich und drückte ihn so fest ich nur konnte an mich. „Oh mein Gott, ja! Ja, das will ich, sogar unbedingt!“ Und das seltsame? Es stimmte. Bis heute hatte ich mir noch nie wirklich Gedanken darüber gemacht, was die Zukunft für uns bereit halten würde, aber nach dieser doch eigentlich einfachen Frage, schien mein Leben plötzlich in strahlenden Farben vor mir zu liegen. Ein Leben, das ich mit Cio würde führen können!

„Ja?“, fragte er, als könne er nicht glauben, dass ich wirklich zugestimmte hatte. Auf seinen Lippen breitete sich ein vorsichtiges Lächeln ab.

„Ja!“, wiederholte ich, nahm sein Gesicht in die Hände und küsste ihn so intensiv, dass ihm wohl Hören und Sehen verging. „Ja, ich will deine Gefährtin werden!“

„Wirklich?“ Er schien es einfach nicht fassen zu können.

„Ja du Blödmann und jetzt gib mir endlich meinen Ring!“

Er lachte, drückte mir einen Kuss auf die Nase, die Stirn, das Kinn, die Wange. Dabei stieß er mich auch noch fast die Brille von der Nase.

Ich lachte mit. „Cio!“

„Du hast mich gerade zum glücklichsten Mann der Welt gemacht.“

„Du wirst aber nicht lange glücklich sein, wenn du mir nicht endlich diesen Ring an den Finger steckst“, drohte ich ihm in gespieltem Ernst. Das Lächeln in meinem Gesicht strafte meinen Ton jedoch Lügen.

Ein weiteres Lachen drang an meine Ohren. Er griff nach meiner Hand. Gleichzeitig wollte ich sie ihm entgegen steckten und da geschah es. Wir waren beide so stürmisch, dass unsere Finger gegeneinanderstießen. Der Ring fiel ihm aus der Hand und eine Schrecksekunde beobachteten wir beide, wie er auf den Steg prallte, einen kleinen Hüpfer machte und dann wegrollte – genau aufs Wasser zu.

Cio reagierte vor mir, machte seinen Satz, der ihn auf den Bauch beförderte und genau in dem Moment in dem der Ring über die Kante hinweg in den See fallen wollte, schlug er mit der Hand darauf.

Ich hielt die Luft an wagte es kaum zu fragen, aber ich musste es wissen. „Hast du ihn?“

Er atmete einmal tief durch, schloss einen Moment die Augen, lächelte mich dann aber sofort wieder an. Er setzte sich auf und in der Hand hielt er ihn, meinen Verlobungsring.

Erleichterung machte sich in mir breit. Das wäre beinahe schiefgegangen.

Ich atmete tief durch, lächelte ihn an und begann leise zu lachen.

Auch er gluckste beinahe geräuschlos vor sich hin. „Hätte ich gewusst, dass du mich so dringend unter die Haube bekommen willst, hätte ich dich vermutlich schon früher gefragt.“

„Hätte ich gewusst, dass ich das will, hätte ich dich selber gefragt.“

Als er dieses Mal nach meiner Hand griff, hielt ich ganz still – man sollte das Schicksal schließlich nicht herausfordern. Ich merkte erst wie sehr meine Finger zitterten, als er mir einen zarten Kuss auf die Knöchel hauchte. Dann schob er mir den Ring auf den Ringfinger der linken Hand. „Damit gehörst du für alle Zeiten mir“, erklärte er lächelnd.

„Und du mir.“ Für immer und ewig.

Seine Hand fest mit meiner verschlungen, zog er mich zu sich heran, bis ich rittlings auf seinem Schoß saß. Vorsichtig nahm er mir die Brille aus dem Gesicht, dann legten seine Lippen sich auf meine. Dieser Kuss war anders als das stürmische Abknutschen vor ein paar Minuten. Er war langsamer, intensiver und ließ meine ganze Haut angenehm kribbeln. Das war mir aber nicht genug.

Ich befreite mich aus seinem Griff, schlang ihm die Arme um den Nacken und drängte mich so dich gegen ihn, dass nicht mal mehr ein aufdringliches Lüftchen zwischen uns Platz gefunden hätte. Oh Gott, niemals in meinem Leben war ich glücklicher gewesen, als in diesem Moment.

Cio schlang seinerseits seine Arme um mich. Eine Hand im Nacken, die andere auf ständiger Wanderschaft über meinen Körper. Und langsam wurde der Kuss zu etwas anderem. Plötzlich genügte es keinen von uns beiden mehr den anderen einfach nur festzuhalten. Seine Lippen zogen Linien über mein Kinn meinen Hals hinunter. Ich schloss die Augen, als er die beiden obersten Knöpfe meines Karohemds öffnete und die nackte Haut mit den Lippen liebkoste.

Obwohl es schon fast dunkel war, war die Sonne noch nicht ganz verschwunden. Jeder der an diesem Steg vorbei kam, könnte uns im Dämmerlicht sehen, aber im Augenblick war mir das scheiß egal. Cio wollte mich zur Gefährtin, er wollte sein Leben mit mir verbringen!

Meine Finger krallten sich in seine Haare, als seine Lippen den Ansatz meiner Brüste kosteten. „Du hast keine Ahnung wie viel mir deine Antwort bedeutet“, hauchte er an meiner Haut.

Wenn es ihm ähnlich ging wie mir, dann hatte ich die doch. „Ich liebe dich“, flüsterte ich und zog sein Gesicht zurück an meine Lippen. „Ich liebe dich so sehr.“ Meine Fänge wurden länger und das hatte rein gar nichts mit Hunger zu tun – jedenfalls nicht diese Art von Hunger.

Unsere Lippen lieferten sich ein Duell. Meine Zähne kratzten über seine Haut und entlockten ihm ein Stöhnen. Seine Hand schob sich vorne unter mein Hemd, erstarrte aber, als ich meinen Fangzahn ganz leicht in seine Lippe drückte.

„Schäfchen.“ Plötzlich drängten seine Lippen so sehr gegen meine, dass ich fast rückwärts umfiel.

Als auf einmal ein lautes Pfeifen in unsere Richtung flog, lockerte sich der Bann, in dem wir beide gefangen waren. Ich schaffte es sogar mich ein Stück weit von ihm zu trennen. Doch um mich herum herrschte nur Dunkelheit – wie lange saßen wir hier eigentlich schon? Und wo zum Teufel war meine Brille?

Irgendwo am Strand rief jemand, dass wir auf keinen Fall aufhören sollten und das riss mich zurück in die Realität. Wir hockten hier mitten auf einem Steg und waren dabei übereinander herzufallen. Die Hitze die nun in meinen Wangen aufstieg, hatte absolut nichts mit Cios Nähe zu tun. „Ich glaube wir sollten mal einen Gang zurückschalten.“

Zu meiner Befriedigung atmete Cio genauso schwer wie ich. Er vergrub sein Gesicht an meinem Dekolleté und sog meinen Geruch tief in die Lungen. Dann begann er wieder leise zu lachen. „Einen Moment habe ich wirklich vergessen, wo wir gerade sind.“

„Ich auch“, musste ich zugeben.

Er schaute auf und in seine Augen trat ein herausfordernder Glanz. „Wir könnten noch immer nackt baden gehen.“

„Äh … nein danke.“

Wieder lachte er leise, nahm dann aber meine Brille zur Hand – wo hatte er die nur hingelegt? – und setzte sie vorsichtig zurück auf meine Nase. „Dann sollten wir vielleicht langsam zurückgehen.“

„Du willst zurück?“ Ausgerechnet jetzt wollte er ins Haus meiner Familie?

„Natürlich. Ich muss doch allen unter die Nase reiben, dass du jetzt für immer mir gehörst.“

Manchmal war er … wow, einfach nur wow. „Ach so ist das. Dann ist dieser Ring also nur ein Zeichen deines Besitzanspruchs.“

„Natürlich, oder was hast du gedacht? Jetzt wird sich jeder Mann zweimal überlegen, ob er sich dir nähert.“

Als wenn das je ein Problem gewesen wäre. „Dann brauche ich aber auch einen Ring für dich.“

„Das kommt nach der Hochzeit.“ Er lehnte sich ein wenig zurück und begann damit die offenen Knöpfe an meinem Hemd zu schließen. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie beinahe alle offen waren und ich hier praktisch nur im BH saß. Wie war das denn passiert? Ich musste gerade wirklich weggetreten gewesen sein.

Widerwillig stand ich dann auf und bemerkte wie wackelig ich auf den Beinen war. Tja, Cios Nähe hatte es halt in sich.

Irgendwo am Stand grölten noch immer ein paar Stimmen, dass wir doch bitte danke weitermachen sollten. Ich ignorierte sie und schaute dabei zu, wie auch Cio auf die Beine kam. Er schlüpfte noch schnell in seine Schuhe, legte mir dann den Arm um die Taille und führte mich anschließend vom Steg.

Wir waren schon fast in das Wäldchen eingetaucht, als sich mir eine Frage aufdrängte. „Und was passiert jetzt?“

„Wenn es nach mir ginge, würde ich dich jetzt gegen den nächsten Baum drücken und ganz langsam vernaschen.“

Ein Zittern durchlief mich, als ich mir genau das vorstellte. „Cio“, mahnte ich.

Er grinste nur. „Na gut. Also, wahrscheinlich sollten wir uns Gedanken darüber machen, ob es nicht vielleicht an der Zeit ist endlich zusammenzuziehen.“

Mein Mundwinkel zuckte. „Vermutlich.“

„Dann stellt sich noch die Frage, ziehst du bei mir ein, oder suchen wir uns eine neue Wohnung. Danach müssen wir uns entscheiden, wann und wo wir die Verbindung eingehen werden, wie groß die Feier wird und welche Gäste wir einladen. Ich bin ja dafür das Frettchen außen vor zu lassen.“

Ich gab ihm einen Spielerischen Klaps auf die Brust. „Sei nett zu Kaspar.“

„In Ordnung. Aber dann dürfen wir nicht vergessen ein Katzenklo für ihn aufzustellen.“

Er würde es wohl niemals sein lassen können. „Wie läuft denn eine Hochzeit bei den Lykanern ab? Genauso wie bei den Menschen?“ Ich wusste es nicht. Bisher hatte ich mir niemals Gedanken darübermachen müssen und zu einer eingeladen war ich auch nie gewesen.

„Ich finde dich.“

Ich schaute zu ihm auf. Meinen Sinnen als Misto war es zu verdanken, dass ich auch mit wenig Licht bei so einer Dunkelheit etwas sehen konnte – naja, sofern ich meine Brille auf der Nase hatte. „Du findest mich?“

Er nickte. „Das ist so Tradition. Dein Vater muss dich tief in den Wald bringen, wo er dich, geschützt und gefangen, von mächtigen Kriegern, zurücklassen wird. Dann werde ich als strahlender Ritter auf den Plan treten. Ich werde mich auf die Suche nach meiner holden Maid machen, dich finden, die bösartigen Krieger entreißen, die uns voneinander fern halten sollen und dich dann zurück zu deinem Vater bringen. Damit beweise ich meinen Wert und das ich dazu fähig bin auf dich aufzupassen.“

Ich zog eine Augenbraue nach oben. „Sehr witzig.“

„Nein, das ist mein Ernst. Dein Vater bringt dich in den Wald und lässt dich bei den sogenannten Kerberossen zurück. Dann komme ich, schubse sie weg und dann rennen wir um unser Leben.“

„Um unser Leben. Aha.“

Er lächelte. „Es ist ein Spiel. Ich erlaube dir sogar, mir bei der Überwindung unserer Feinde zu helfen. Vielleicht sollten wir auch die Plätze tauschen und du musst mich retten.“ Er gab mir einen kleinen Kuss auf die Wange. „Es geht darum, dass ich dich finde und zurück zu deinem Vater bringe, der uns dann traut.“

Das war ja eine seltsame Tradition. Und leider versetzte mir der Gedanke an meinen Vater einen kleinen Dämpfer. „Ich fürchte Papa wird nicht in Begeisterungsstürme ausbrechen, wenn ich es ihm sage.“

„Dein Vater liebt dich und will nur dass du glücklich bist.“

Das blieb jedenfalls zu hoffen.

Wir verließen das Wäldchen auf der anderen Seite und traten zurück auf die Straße. In ein Teil der Häuser an deren wir vorbei kamen, war bereits die Nachtruhe eingekehrt. Nicht so das Haus meiner Oma. Mehrere Fenster waren noch immer hell erleuchtet.

Plötzlich konnte ich es kaum noch erwarten hinein zu gehen und allen zu zeigen, was Cio getan hatte. Ich spürte den Ring an meinem Finger und es war wie ein innerer Zwang ihn allen unter die Nase zu halten. Ich wollte mein Glück mit ihnen Teilen. Jetzt sofort.

Als ich die Haustür öffnete, war ich so überschwänglich, dass sie gegen die Wand knallte. „Ups.“

Cio lächelte nur, trat hinter mir hinein und trat sich die Schuhe von den Füßen – dabei hielt er die ganze Zeit meine Hand fest.

„Wir sind wieder da!“, rief ich. Nicht dass sie es nicht schon mitbekommen hatten. Wahrscheinlich hatten es sogar die Nachbarn schon gepeilt.

Ich war gerade dabei mich meiner Schuhe zu entledigen, als meine Oma in den Flur kam. Sie blieb stehen, schaute gespannt von einem zum anderen und fragte dann: „Und?“ Dabei schaute sie sehr interessiert auf meine linke Hand.

Einen Moment verwirrte mich die Frage, aber dann fiel mir wieder ein, wie sie vorhin heimlich mit Cio auf dem Flur getuschelt hatte. Sie war es auch gewesen, die uns auf den Spaziergang geschickt hatte und dafür gesorgt hatte, dass wir alleine sein würden, indem sie meinen Vater hierbehielt. Ich lag also vermutlich gar nicht so falsch damit, wenn ich glaubte, dass sie mit Cio unter einer Decke steckte. Darum lächelte ich nur und hielt die Hand mit dem Ring hoch.

Sie biss sich auf die Unterlippe, gab ein seltsames Quietschen von mir und riss mich dann an ihre Brust. „Ich bin so froh, dass du ja gesagt hast. Cio ist ein guter Mann.“

„Du wusstest es also wirklich schon.“

Sie Lächelte mich so bezaubernd an, dass sie um Jahre jünger wirkte. „Er hat mich nach einem passenden Ort gefragt und mich gebeten den Sekt kalt zu stellen, sobald ihr weg seid.“ Sie ließ wieder von mir ab, behielt meine Hand aber in ihrer.

Aha! „Du hast das geplant“, warf ich ihm vor.

„Schuldig im Sinne der Anklage.“ Er gab mir noch einen Kuss auf die Nasenspitze. „Es sollte schließlich etwas Besonderes werden und dich bei einem schlechten Film und kalter Pizza danach zu fragen, schien mir unpassend.“

„Ich hätte trotzdem ja gesagt.“

„Gut zu wissen.“ Wieder berührten seine Lippen meine. Solange bis meine Oma sich räusperte.

„‘tschuldigung“, murmelte ich verlegen und wich ihrem Blick aus. Das alberne Lächeln allerdings bekam ich nicht aus meinem Gesicht.

„Was treibt ihr da draußen so lange?“, rief meine Mutter aus dem Wohnzimmer.

So dringend ich es ihr und Papa auch erzählen wollte, plötzlich hatte ich doch leichten Bammel davor.

„Na komm schon“, drängte Cio mich. „Je eher sie es wissen, desto schneller bekomme ich dich nach unten ins Bett.“

Das hatte er jetzt nicht wirklich gesagt.

Zum Glück war meine Oma taktvoll genug, um so zu tun als hätte sie das überhört. „Ich hole dann mal den Sekt“, verkündete sie und verschwand in die Küche.

Ich dagegen atmete noch einmal tief durch und trat dann an Cios Seite ins Wohnzimmer.

Mein Vater saß auf der Couch und blätterte gelangweilt in einer Zeitschrift, sah aber auf, als wir den Raum betraten. Mama und Anouk saßen auf dem Boden. Er zeigte ihr ein paar Fotos. Doch als sie mein Gesicht sah, waren die Bilder vergessen. „Warum bist du so rot?“

Ähm … naja, das würde ich ihr nun nicht erläutern. Stattdessen schaute ich zu Cio, lächelte und hielt ihr dann meine linke Hand hin.

Sie sah den Ring, blinzelte und schaute dann erstaunt zu uns auf. „Ist das ein …“

Ich nickte. Dabei wurde das Lächeln in meinem Gesicht immer breiter. „Cio hat mich gebeten seine Gefährtin zu werden.“ Ich strahlte übers ganze Gesicht. „Und ich habe ja gesagt.“

Meine Mutter reagierte genauso wie ich es erwartet hatte. Erst tat sie gar nichts, dann kamen ein paar komische Geräusche aus ihrem Mund, gefolgt von ein paar gemurmelten Worten und dann rammte mich ihr kleiner Körper, als sie mich in eine feste Umarmung zog. Und weil es so schön war, bezog sie auch noch Cio mit ein.

„Ich kann es nicht glauben“, quiekte sie uns dabei ins Ohr. „Ich kann es nicht glauben. Mein kleines Mädchen wird heiraten! Oh ihr Geister, sie wird wirklich heiraten. Das ist phantastisch!“

„Danke.“

Sie beachtete mich gar nicht, riss nur meine Hand hoch und betrachtete den Ring. „Ist das ein Diamant?“

Cio nickt grinsend. „Eineinhalb Karat. Brillantschliff. Der Ring selber ist aus Weißgold. Hab eine Weile gebraucht um das Geld dafür zusammenzusparen.“

Und wieder gab sie dieses komische Geräusch von sich. Es hörte sich an, als wollte sie sich einen Freudenschrei verkneifen, weil uns sonst die Trommelfelle platzen würden. „Das ist so … wah!“ Wieder fiel sie meinem Freund um den Hals und drückte ihn an sich.

Cio lachte leise. „Zaira hat genauso reagiert, als sie ihn sah. Liegt wohl in der Familie.“

Sie löste sich von ihm. „Sie hat auch so reagiert?“

Er nickte. „Genaugenommen hat sie den Ring beinahe in den See geworfen, so eilig hatte sie es ihn anzustecken.“

„Das war ein Versehen“, verteidigte ich mich sofort.

Auch Anouk kam auf die Beine und stellte sich zu uns. „Herzlichen Glückwunsch und willkommen in der Familie.“ Der letzte Teil war an Cio gerichtet.

„Danke.“

Mit einem „So, hier kommt der Sekt“ kam meine Oma zurück ins Wohnzimmer. Auf der Hand balancierte sie ein Tablett mit sechs gefüllten Sektgläsern. Das erste reichte sie direkt meiner Mutter, mit dem zweiten in der Hand schaute sie sich suchend um. „Wo ist Raphael?“

Mein Blick ging zur Couch, doch die war leer. Die Zeitung die er eben noch in der Hand gehalten hatte, lag unordentlich auf dem alten Holztisch. Von ihm selber fehlte jede Spur.

Ich verspürte einen Stich im Herzen. Mir war sofort klar was das bedeutet und plötzlich fiel es mir schwer mein Lächeln im Gesicht zu behalten. Er wollte mir diesen Augenblick nicht ruinieren, aber er konnte sich auch nicht dazu überwinden, Anteil daran zu nehmen und Freude zu heucheln. „Papa ist gegangen.“

Betretendes Schweigen machte sich breit.

„Ach Schatz“, versuchte meine Oma mich zu trösten. „Er meint das nicht so.“

Doch, das tat er und genau das war das Problem. Irgendwas an Cio störte ihn und genau das hatte ihn dazu veranlasst, einfach still und heimlich aus dem Raum zu verschwinden. „Ich schau mal nach ihm.“ Da ich die Haustür nicht gehört hatte, musste er sich schließlich noch irgendwo im Haus befinden.

Cio drückte meine Hand. „Soll ich mitkommen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das muss ich allein machen.“ Wenn Cio mitkam, würde das nur noch Öl ins Feuer gießen. Fast schon widerwillig löste ich meinen Griff von ihm und verließ das Wohnzimmer. Da ich davon ausgehen konnte, dass er nicht in der Küche war – sonst hätte Oma bestimmt etwas gesagt – versuchte ich mein Glück unten im Souterrain.

Schon als ich die Treppe hinuntergestiegen war, sah ich, dass seine Schlafzimmertür einen Spalt weit offenstand. Dahinter konnte ich einen fahlen Lichtschein erkennen.

Auf einmal wurde ich leicht nervös, aber mir war es wichtig, dass mein Vater meiner Vermählung zustimmte. Ich wollte, dass er es akzeptierte und sich genauso darüber freuen konnte sie ich. Darum wurden meine Schritte wohl immer langsamer und aus dem Grund zögerte ich auch einen Moment an seiner Tür, bevor ich es wagte sie aufzuziehen.

Papa saß am Fußende seines Bettes. Die Ellbogen auf die Knie gestützt, den Kopf gesenkt. Er musste mich gehört haben, aber er reagierte nicht.

Kein gutes Zeichen. Ich drückte mich in der Tür herum, traute mich aber irgendwie nicht den Raum zu betreten. Daher verschränkte ich einfach die Arme und lehnte mich an den Türrahmen. „Redest du mit mir?“, fragte ich ihn leise.

Er blieb still – für ungefähr fünf Sekunden. Dann seufzte er geschlagen. „Natürlich rede ich mit dir.“ Aber ansehen tat er mich nicht.

Das würde schwieriger werden, als ich befürchtet hatte. „Kannst du dich denn nicht für mich freuen?“

Er schnaubte, als hätte ich einen schlechten Witz gemacht. „Du bist noch nicht alt genug, um dich für den Rest deines Lebens an irgendeinen Kerl zu binden.“

Irgendein Kerl? „Cio ist nicht irgendein Kerl. Er ist mein Kerl.“

„Das sagst du heute. Aber was ist in einem Jahr?“ Endlich schaute er auf und ich wünschte er hätte es gelassen. Er war absolut nicht glücklich. „Oder in zehn. Du bist noch viel zu jung für so eine lebensverändernde Entscheidung.“

„Ich bin dreiundzwanzig und damit sehr wohl alt genug. Als du in meinem Alter warst, hast du schon jahrelang mit deiner Freundin zusammengelebt, als wärt ihr verheiratet.“

„Und du weißt ja was dabei rausgekommen ist.“

Das lief nicht gut, ganz und gar nicht. Ich biss mir auf die Unterlippe. „Ich bin nicht Cayenne und Cio ist nicht du.“

„Ja, aber Cayenne und ich sind zusammen durchs Feuer gegangen. Das schweißt auf eine Art zusammen, die du zum Glück niemals verstehen wirst und trotzdem ist unsere Verbindung gebrochen. An das was wir hatten, kommst du mit deiner kleinen Liebelei in hundert Jahren nicht heran.“

Kleine Liebelei? Jetzt ging er aber wirklich zu weit. Bleib ruhig. „Du warst nicht für sie bestimmt.“

„Ach, und du bist für Cio bestimmt?“, spottete er. Auf einmal erhob er sich und begann unruhig im Zimmer auf und ab zu tigern. „Dein Freund ist ein Trottel. Er bekommt kaum mit was direkt vor seiner Nase abläuft. Anstatt mit ihm Zukunftspläne zu schmieden, die schon von vorne herein zum Scheitern verurteilt sind, solltest du dich lieber nach einem netten Vampir umschauen, der nicht nur bei dir bleibt, weil du ihn als Blutkonserve benutzt.“

Das hatte er jetzt nicht wirklich gesagt. Dachte er wirklich so von Cio? Hatte er denn nie die Intelligenz bemerkt, die sich hinter seiner verspielten Art verbarg?

Aber es war etwas ganz anderes, was mich aufmerken ließ. „Das ist es?“, fragte ich leise. „Darum kannst du ihn nicht leiden? Weil er kein Vampir ist?“ Ich konnte es kaum fassen. Jahrelang hatte ich mich gefragt, was eigentlich sein Problem war und jetzt war es schlicht und einfach Rassismus?! „Du bist ein Heuchler“, warf ich ihm vor.

Papa blieb abrupt stehen und funkelte mich an. „Treib es nicht zu weit, Fräulein.“

„Ich? Ich soll es nicht zu weit treiben?!“ Mein Ton war ungläubig und langsam mischte sich auch ein Hauch von Wut mit hinein. Mein Vater verabscheute Cio nicht für etwas was er getan hatte, sondern für das was er war. Das war einfach nicht zu fassen. „Deine Geschwister sind Lykaner, du nennst Oliver Papa, hast selber eine Beziehung zu einem Wolfs-Misto unterhalten, arbeitest mit ihnen, triffst sie in deiner Freizeit. Der größte Teil deines Lebens dreht sich um Lykaner und jetzt machst du mir Vorwürfe, weil ich mich nach deinem Vorbild richte?“

„Du musst meine Fehler nicht wiederholen“, erklärte er mir. Auf die Fremdenfeindlichkeit ging er gar nicht erst ein. „Beziehungen zwischen unterschiedlichen Arten sind sehr schwer zu halten.“

„Mama ist ein Ailuranthrop! Und du vergisst scheinbar, dass ich keiner Art angehöre, ich bin ein Misto!“

„Du bist mehr Vampir als alles andere.“

„Das hättet du wohl gerne, aber das stimmt nicht. Ich bin genauso ein Vampir, wie ich auch ein Lykaner bin.“ Ich ließ meine Arme sinken und trat ein Schritt in den Raum hinein. „Und Cio liebt mich. Ihm ist es egal, was ich bin, denn er weiß wer ich bin.“

Papa schnaubte. „Cio liebt es einfach, dass du immer verfügbar bist.“

Das war ein Schlag unter die Gürtellinie. Für einen Moment konnte ich ihn nur ungläubig anstarren. Dann zog ich mich einfach in mich zurück. „Weißt du, ich bin hier runtergekommen, weil es mir wichtig war, dass du es verstehst. Ich habe gehofft, dass du dich mit mir freuen würdest, mir und Cio vielleicht sogar deinen Segen gibst. Aber du stehst nur da und machst einen der schönsten Momente meines Lebens kaputt.“ Ich trat vor ihm zurück. Diese komplette Ablehnung tat weh. „Ich brauche deinen Segen nicht. Ich werde Cios Gefährtin werden, ganz egal was du sagst.“

Papa schüttelte bereits den Kopf, bevor ich fertig war. „So nimm doch Vernunft an“, bat er beinahe verzweifelt. „Dieser Kerl ist nicht gut für dich, du wirst mit ihm niemals glücklich werden.“

„Doch, das werde ich.“

„Nein, wirst du nicht. Du wirst dich nur in dein eigenes Unglück stürzen.“ Seine Mimik nahm einen entschlossenen Zug an. „Und das werde ich nicht zulassen.“

„Du wirst das nicht zulassen?!“ Da war doch wirklich der Gipfel der Frechheit. Ich konnte es kaum fassen. „Was willst du tun? Mich gegen meinen Willen mit einem anderen Mann verheiraten?“

„Sein nicht albern.“

„Ich? Ich soll nicht albern sein? Hörst du dir eigentlich selber zu?“

Er kniff sich in die Nasenwurzel, als müsse er sich beruhigen. „Zaira, wenn du einmal wirklich darüber nachdenkst, wird dir klarwerden, wie Recht ich habe. Sieh doch den Tatsachen einmal ins Auge. Er macht bei seiner Familie Probleme, genauso wie bei seinem Job und …“

„Machst du jetzt auch noch einen auf Diego? Warum nur sieht keiner von euch wie er wirklich ist?“

Papa ließ die Hand sinken. „Ich sehe wie er wirklich ist, denn ich trage keine rosarote Brille wie du!“ Wieder begann er damit auf und ab zu tigern. „Ich weiß genau wie du dich fühlst. Meinst du ich war niemals auf diese Art verliebt? Aber es ist nicht echt. Dieser Junge nutzt dich nur aus und irgendwann wird er dich einfach wegwerfen. Dann bleibt dir nichts mehr anderes übrig, als die Scherben die er hinterlassen hat, aufzusammeln. Lykaner sind nun mal so. Die Bande zu ihrer eigenen Art sind zu stark, als dass sie es dauerhaft mit einem Vampir aushalten können. Irgendwann wird er einer reinrassigen kleinen Wölfin begegnen und dich …“

„Ich bin eine Wölfin!“, fauchte ich ihn an.

„Nicht in ihren Augen“, erklärte er ernsthaft. „Für sie wirst du immer nur etwas Halbes sein. Sieh doch nur was Cayenne widerfahren ist. Sie hat alles – ihr ganzes Leben – nach den Lykanern ausgerichtet, sich ihren Wünschen und Vorstellungen gebeugt. Und was haben sie getan als sie herausgefunden haben, dass sie mehr als nur ein Wolf ist? Wie haben sie ihr all ihre Opfer gedankt?“

Indem sie sie töten wollten. „Das war eine ganz andere Situation gewesen und hat rein gar nichts hiermit zu tun.“
„Es hat aber mit der Mentalität der Werwölfe zu tun!“, hielt er sofort dagegen. „Sie sind alle gleich! Und wenn du das nicht sehen kannst, bist du einfach nur dumm!“

Bam! Das hatte gesessen. Noch nie in meinem Leben war ich von meinem Vater auf diese Art beleidigt worden. Natürlich, bei uns hatte es schon immer heftige Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten gegeben, wir waren nun mal beide Sturköpfe, aber damit war er einfach zu weit gegangen. „Es ist nichts Dummes daran seinem Herzen zu folgen“, sagte ich ganz ruhig. „Und wenn du das nicht verstehen kannst, dann bist du hier der Dumme. Mehr habe ich dazu nicht mehr zu sagen.“

„Siehst du? Es fängt schon ein. Er treibt einen Keil zwischen uns.“

„Nicht er!“, widersprach ich sofort. „Du allein tust das!“ Ich drehte mich herum, blieb aber sofort wieder stehen. Cio stand unten an der Treppe. An die Wand gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt. Seine Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst, doch er wich meinem Blick nicht aus.

„Zaira“, sagte mein Vater da. „Wenn du nur …“

Ich warf ihm einen solch tödlichen Blick zu, dass er selber einsah, weitere Worte hatten keinen Sinn. „Ich habe dir nichts mehr zu sagen.“ Damit ließ ich ihn einfach stehen und verschwand in das kleine Zimmer. Ich konnte einfach nicht wieder nach oben gehen und so tun als wäre alles in bester Ordnung. Dumm, mein eigener Vater hatte mich dumm genannt. Ich konnte es nicht fassen und ich verstand nicht, warum es so schmerzte. Wahrscheinlich hatte er es nicht mal ernst gemeint, sondern einfach aus der Situation heraus gesagt.

Aber er hat es eben gesagt.

Niedergeschlagen ließ ich mich auf die Bettkante sinken. Der weiche Stoff gab unter mir nach.

Als die Tür geöffnet wurde, wusste ich ohne hinzusehen, dass es Cio war. Das erkannte ich nicht nur am Geruch, mir war einfach klar, dass mein Vater nicht kommen würde um sich zu vertragen, oder gar zu entschuldigen. Er fühlte sich im Recht. „Wie viel hast du mitbekommen?“, fragte ich leise.

Vorsichtig schloss er die Tür hinter sich und setzte sich dann neben mich. „Ich nutze dich aus und werde dich irgendwann einfach wegwerfen und gegen eine nette und vor allen Dingen reinrassige Wölfin eintauschen.“

Ich presste meine Lippen zusammen. Wenigstens hatte er nicht mitbekommen wie Papa ihn als Trottel bezeichnet hatte. Trottel. Als Wäre Cio eine minderwertige Kreatur.

„Schäfchen.“ Vorsichtig, als befürchtete er ich würde mich ihm verweigern, griff er nach meiner Hand und zog sie in seinen Schoß. An dem Finger blitzte unschuldig mein Verlobungsring. „Wir müssen das nicht sofort tun, wir können auch noch warten, wenn du möchtest.“

Super, jetzt fing er auch noch damit an. „Es ist egal wann wir es tun, er wird niemals anders darüber denken, weil du nicht der bist, den er sich für mich wünscht.“

„Wäre ihm ein langweiliger Bürohengst lieber?“

Wenn es nur das wäre. „Ihm wäre ein Vampir lieber.“

Sein Mund ging auf, aber alles was rauskam war ein: „Oh.“

„Ja, oh“, stimmte ich ihm zu. Ich schob meine Brille hoch und rieb mir die Augen. Das Brennen darin hatte nichts mit der späten Uhrzeit oder meiner abendlichen Müdigkeit zu tun. „Er wird es einfach akzeptieren müssen“, sagte ich dann schlicht.

„Ich werde dir nicht widersprechen, dafür bin ich viel zu egoistisch.“ Er wartete, als hoffte er dafür wenigstens ein kleines Lächeln zu bekommen.

Aber ich konnte nicht. „Er ist so verbohrt!“, schimpfte ich. Plötzlich war ich furchtbar wütend auf ihn. „Ich meine, was sind das denn für veraltete Ansichten? Nur weil er in seinem Leben so viel Scheiße erlebt hat, muss er seine Ängste doch nicht auf mich projizieren. Das ist unfair!“

Cio sagte nichts, das brauchte er auch nicht. Ich sah die Zustimmung in seinen Augen. „Vielleicht wäre es am einfachsten, wenn wir durchbrennen. Wir fahren nach Vegas, suchen uns einen Typen im Elviskostüm, der uns traut und stellen unsere Eltern anschießend einfach vor vollendete Tatsachen.“

Nun zupfte doch ein Lächeln an meinen Mundwinkeln. „Ich glaube meine Mutter würde es mir nie verzeihen, wenn ich ihr die Chance nehme, mich auf meiner eigenen Hochzeit zu blamieren.“

„Tja, dann müssen wir sie halt mitnehmen.“ Er drehte sich, bis er die Arme um mich schlingen konnte. „Es tut mir leid, dass er so reagiert hat.“

Ja, mir auch. Nicht nur wegen mir, auch wegen Cio. Das was mein Vater über ihn dachte war einfach nicht richtig. Und ich verstand es auch nicht. Ich meine, er kannte ihn nun schon genauso lange wie ich und die ganze Zeit hatte er nicht einmal durchblicken lassen, was ihn wirklich störte. Aber das? Mein Vater war doch sonst nicht so. „Er wird sich schon wieder einkriegen“, sagte ich zuversichtlicher als ich mich fühlte.

So wie Cio mich anschaute, teilte er meine Zweifel wohl. „Bestimmt wird er das.“

 

°°°

 

„Platz da!“ Mit der Anmut eines Elefanten stieß meine Mutter sich von der Kante des Swimmingpools ab und klatschte in einer riesigen Fontäne mitten ins Wasser. Onkel Tristan und Tante Amber mussten sich mit Hechtsprüngen zur Seite retten, um nicht von herumfliegenden Katzen in Menschengestalt getroffen zu werden.

Cio jubelte und folgte ihr dann mit einer Arschbombe.

Meine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.

Es war Mittag und die Sonne schien warm auf uns hinunter. Was wohl auch der Grund war, warum die halbe Familie sich in dem großen und gepflegten Garten meines Großvaters Oliver in ihren Badesachen rekelte und diesen wundervoll warmen Tag genoss.

Auf der Terrasse, das schnurlose Telefon zwischen Kopf und Schulter geklemmt, wuselte meine Großmutter herum und deckte den Tisch für das Geburtstagsessen. Schon den ganzen Tag bekam sie von Gott und der Welt Glückwünsche zu einem ganzen Jahrhundert. Irgendwie war es schon faszinierend. Bereits hundert Jahre lagen hinter ihr. Was sie in all der Zeit alles erlebt haben musste. Und weitere hundert Jahre lagen noch vor ihr – hoffentlich.

Am Grill vor der Terrasse stand mein Onkel Roger. Die ersten Würstchen und Steaks lagen bereits auf dem Grillrost, genau wie mein Gemüseschaschlik und die Maiskolben. Mein Vater stand bei ihm und unterhielt sich mit ihm. Genau wie alle anderen, trugen die beiden nur Badeshorts und obwohl die kunterbunt waren, wirkte mein Vater nicht sehr fröhlich. Seit gestern hatten wir kein unnötiges Wort mehr miteinander gewechselt, was nicht allein an ihm lag.

Ja, ich war offiziell sauer auf ihn. Obwohl, eigentlich stimmte das nicht, ich war enttäuscht und verstand einfach nicht, was in seinem Kopf vor sich ging. Seine ganzen Ansichten waren nicht nur ungerecht, sondern auch sowas von veraltet. Es war einfach … mein Vater war sonst so aufgeschlossen. Ganz nach dem Motto: leben und leben lassen. Dass er jetzt so einen Aufstand machte, war einfach nur – wie hatte er selber gestern gesagt? – dumm.

Ich presste die Lippen aufeinander und schaute auf, als ein weiterer Besucher durch das Gartentor eintrat. Ein Mann mittleren Alters mit schütterem Haar und einem einnehmenden Lächeln. Genau wie das Telefon schon den ganzen Tag unaufhörlich klingelte, so tauchten seit dem Morgen immer wieder Bekannte von Oma auf. Die meisten verschwanden nach ein paar Glückwünschen wieder, aber seit Onkel Roger, Anouks Vater, den Grill angezündet hatte, entschlossen sich immer mehr auf einen kleinen Happen zu bleiben. Darum waren Oliver und mein Cousin auch gerade dabei einen weiteren Tisch aus der Garage zu holen, damit für alle genug Platz da war.

Tante Vivien, Anouks Mutter, trug währenddessen Salate und andere Beilagen aus dem Haus.

Tante Lucy, die Mutter von meiner Cousine Anlina – ja, ich hatte sehr viele Tanten und Onkels – hatten es sich mit mir zusammen in den Liegestühlen bequem gemacht und ließ sich die Sonne auf den Pelz scheinen. Doch im Gegensatz zu mir fühlte sie sich in ihrer knappen Badebekleidung wohl und sah sich nicht gezwungen, wie ich, ein T-Shirt von Cio überzustreifen. Im Gegenteil sogar. Sie hatte nur die Augen verdreht, als ich aus dem Haus gekommen war und mir gesagt, ich solle mich doch nicht so albern haben.

Ein neuerliches Kreischen vom Schwimmbecken, erregte meine Aufmerksamkeit. Tante Amber versuchte gerade eine blonde Frau hineinzuziehen, die bis jetzt nur die Füße im Wasser gehalten hatte. Serena Montanez, ihre aktuelle Freundin. Ich war gespannt, ob es dieses Mal länger als ein paar Wochen halten würde.

Da Amber mit ihrem Vorhaben scheinbar Probleme hatte, kam meine Mutter ihr zu Hilfe und gemeinsam schafften sie es, die Blondine ins Wasser zu zerren.

Ein Seufzen kroch mir über die Lippen. Im Grunde war es ein schöner Tag. Bis auf meine Cousine Alina war auch schon die ganze Familie anwesend. Und doch konnte ich mich irgendwie nicht aus meinem kleinen Tief herausziehen. Es war nicht so dass ich die ganze Zeit beleidigt in der Ecke saß, aber die Situation bedrückte mich. Ich meine, meine Entscheidung war gefallen und ich würde daran auch nicht mehr rütteln, aber … nun ja, es wäre eben schön gewesen, wenn mein Vater sich wenigstens ein kleinen bisschen für mich gefreut hätte. So wie die Dinge nun langen, würde er sich einfach mit meiner Entscheidung abfinden müssen, aber das würde keinen von uns beiden glücklich machen.

Quer durch den Garten rief meine Oma, ob ihr bitte mal jemand helfen könnte. Tante Vivian und Papa folgten diesem Ruf sofort.

Tante Lucy dagegen schob ihre Sonnenbrille nur ein wenig herunter und musterte mich. „Du könntest deinem Vater gegen sein Schienbein treten, wenn er sich weiter wie ein Idiot benimmt“, schlug sie vor. „Wenn du möchtest, könnte auch ich das für dich übernehmen.“

Ja, die liebe Familie. Meine Tante und mein Vater konnten sich schon in ihrer Jugend nicht sonderlich ausstehen, dass hatte sich bis heute nicht geändert. „Danke, aber ich glaube ich versuche es erstmal mit Abwarten. Wenn er sich an den Gedanken gewöhnt hat, wird er sicher zur Vernunft kommen.“

Tante Lucy schaute zweifelnd drein, behielt ihren Kommentar aber für sich. „Wie du meinst, aber wenn du es dir anders überlegst, dann sag mir Bescheid und ich werde dich tatkräftig unterstützen.“

Ich konnte mir schon vorstellen, wie diese Unterstützung aussehen würde.

Vom Pool her schrie Amber auf, als Onkel Tristan sie packte und zurück ins Wasser warf. Das nahm meine Mutter sofort als Aufforderung, sich auf ihn zu stürzen. Serena unterstützte sie und gemeinsam gelang es ihnen meinen Onkel unterzutauchen.

Cio lachte.

„Wenn du mich für einen Moment entschuldigst.“ Tante Lucy legte ihre Sonnenbrille zur Seite und erhob sich von ihrer Liege. „Ich muss mal eben meinen Gefährten retten.“ Ihren Worten folgten Taten, indem auch sie sich in die Fluten stürzte.

Durchs Gartentor trat eine alte, hutzelige Frau mit langen weißen Haaren. Ihr Gesicht war nur so von Falten des Alters durchzogen und die Haltung schon ein wenig gebeugt. Doch ihre blassen, braunen Augen strahlten noch vor Lebenskraft.

Oh nein. Das war Beatrice Becker, die beste Freundin meiner Großmutter, die schon immer die schlechte Angewohnheit hatte, mir zur Begrüßung einen viel zu feuchten Kuss auf die Wange zu geben.

Ich machte mich auf meiner Liege so klein wie möglich und hoffte, dass sie mich einfach übersah. Keine Ahnung warum, aber diese Frau hatte schon einen Narren an mir gefressen, als ich als Baby für einige Wochen in diesem Dorf gelebt hatte. Und leider hatte sich das bis heute nicht geändert. Dabei hatte sie eigentlich genug eigene Enkelkinder – und sogar schon Urenkel – denen sie mit ihren feuchten Wangenküssen zu Leibe rücken konnte.

Als es neben mir klickte, schaute ich auf und verzog sofort das Gesicht. Anouk stand mit seiner Kamera nur wenige Meter von mir entfernt. „Muss das sein?“, fragte ich.

Ein schlichtes „Ja“ war seine ganze Antwort.

„Du findest sicherlich bessere Motive.“

„Ich bin hier der Photograph.“ Damit zog er weiter zu seinem nächsten Opfer.

Wie bereits gesagt: Familie.

„Zaira!“

Ich blickte auf, gerade rechtzeitig und eine junge Frau mit grasgrünen Haaren auf mich zustürzen zu sehen. „Stopp!“, rief ich und riss die Arme hoch, um mich vor Alinas Begrüßung zu schützen – die konnte nämlich wirklich umwerfend werden.

Meine Cousine stoppte, dann wurden ihre Augen groß und rund, bevor sie plötzlich meine Hand schnappte und mich beinahe von der Liege zerrte, als sie sich den funkelnden Ring daran genauer anzuschauen. „Was ist das?“, fragte sie beinahe schon ehrfürchtig.

Wie jedes Mal, wenn ich darauf angesprochen wurde, breitete sich auf meinem Lippen ein Lächeln aus. „Was glaubst du denn was das ist?“, stellte ich die Gegenfrage.

Ihre Augen wurden groß wie Untertassen. „Das ist doch nicht etwa ein …“ Sie verstummte und schaute in mein Lächeln, dass immer breiter wurde. „Cio hat dich doch nicht etwa …“

Wieder ließ sie ihre Frage unbeendet und konnte nur starren, als ich überschwänglich vor Freude nickte. „Doch hat er“, sagte ich dann. „Cio möchte, dass ich seine Gefährtin werde.“

Erst schaute sie mich nur an, doch im nächsten Moment warf sie sich freudekreischend um meinen Hals und brachte die Liege damit gefährlich zum Wanken. Normalerweise nervte es mich ja, wenn sie das machte, aber jetzt gerade war ich so überglücklich, dass ich es ihr gleichtat und wir dann kreischend in den Armen lagen.

„Oh mein Gott!“, rief sie und ließ mich wieder los. „Wann? Und wie? Aber viel wichtiger, warum hast du mich nicht sofort angerufen?“

Die letzte Frage war im Grunde leicht zu beantworten: Nachdem ich gestern Abend mit Cio in meinem Zimmer verschwunden war, hatte ich nicht wirklich Interesse daran gehabt, mich noch irgendjemand mitzuteilen. Außerdem wusste ich, dass meine Familie heute komplett auf einem Haufen sitzen würde. „Gestern“, antwortete ich deswegen. „Cio hat mich zu einem Spaziergang mitgenommen und mich bei Sonnenuntergang dann gefragt, ob ich seine Gefährtin werden möchte.“

„Sonnenuntergang?“ Alina ließ sich mit einem schmachtenden Geräusch auf die andere Liege sinken und setzte sich dabei fast noch auf Lucys Sonnenbrille. „Das ist ja so romantisch.“

Naja, wenn mir das jemand erzählen würde, würde ich das eher kitschig finden. Da ich es allerdings selber erlebt hatte, konnte ich nur grinsend nicken. „Und ich habe absolut nichts geahnt.“

„Wie hast du reagiert?“, wollte sie neugierig wissen.

Zur Antwort lief ich purpurrot an. „Ähm … ich habe ja gesagt.“

Das brachte sie so herzlich zum Lachen, dass sie beinahe von der Liege kippte. „Ich kann mir genau vorstellen, wie du reagiert hast.“

„Nein kannst du nicht“, befahl ich ihr, was sie erst recht lachen ließ.

Na toll.

„Und?“, wollte sie dann wissen und beugte sich neugierig vor. „Wann ist es so weit?“

Ich zuckte ein wenig hilflos mit den Schultern. „Keine Ahnung, darüber haben wir uns noch nicht wirklich unterhalten.“

„Dieses Jahr noch?“, drängte sie weiter.

„Wie eben gesagt, keine Ahnung. Bisher sind wir noch nicht wirklich dazu gekommen, uns darüber zu unterhalten. Du weißt schon, Omas Geburtstag und so.“ Wobei sich das und so eher auf meinen Vater bezog, als auf alles andere. „Das werden wir wohl klären, wenn wir wieder zurück sind.“

„Dann zieht ihr jetzt doch sicher zusammen, oder?“

Wieder wurden meine Mundwinkel durch ein Lächeln hochgezogen. „Das zumindest ist der Plan.“

Alina gab ein seltsames Quietschen von sich, das durch ihre ohnehin schon hohe Stimme zu einem schrillen Klingeln in meinen Ohren wurde. Aua. „Das ist so klasse! Ich freue mich so für dich!“ Wieder wurde ich in eine Umarmung gezogen – eine kräftige Umarmung. Auch wenn Alina nicht das leibliche Kind von Tristan und Lucy war, so war sie genau wie ihre Eltern: ein reinblütiger Werwolf – einer, dem das Leben nicht immer gut mitgespielt hatte.

Wer Alinas leibliche Eltern waren, oder wo sie ursprünglich herkam, wusste niemand. Tante Lucy und Onkel Tristan hatten sie als kleines Kind in einem Keller der Sklavenhändler gefunden. Verdreckt und verstümmelt. Ihre fehlte eine Hand und sie war dem Tod näher gewesen, als dem Leben. Von dem Moment an, als Tante Lucy ihre Arme um das kleine Mädchen geschlungen hatte, wollte Alina sie nicht mehr loslassen und so war sie heute ein wichtiger Teil unserer Familie.

„Und dein Vater?“, fragte sie dann und ließ wieder von mir ab. „Was sagt er dazu?“

Der Gedanke an meinen Vater versetzte meiner guten Laune einen kräftigen Dämpfer. „Er wird sich mit meiner Entscheidung arrangieren müssen, ob es ihm nun passt, oder nicht.“

„So schlimm, hm?“

Das war gar kein Ausdruck. „Lass uns lieber von etwas anderem sprechen.“

„Okay. Wen wählst du als deine Kerberosse?“

Das waren diese Krieger, oder? Cio hatte wohl vergessen zu erwähnen, dass ich die selber auswählen musste. „Wie viele brauche ich denn?“

„Na drei“, sagte sie in einem Ton, der mir verdeutlichte, dass ich das doch wissen müsste. „Die Kerberosse sind, wenn du so willst, Zeugen.“

Wahrscheinlich meinte sie sowas wie Trauzeugen. „Und davon brauche ich drei.“

Sie nickte. Auf ihren Lippen lag ein begieriges Lächeln. „Ja genau.“

Oh, sie war so leicht zu durchschauen. „Du möchtest nicht zufällig eine von meinen Kerberossen sein, oder?“, fragte ich ganz unschuldig.

„Ach weißt du, wenn ich da gerade nichts Besseres vorhabe, dann könnte ich mich vielleicht dafür erwärmen.“

So so, vielleicht. „Na wenn das so ist. Ich will dich ja nicht von anderen wichtigen Aufgaben abhalten. Da werde ich wohl nach jemand anderem Ausschau halten müssen.“ Ich tat so als würde ich mich im Garten umschauen, ob nicht rein zufällig drei Kerberosse in der Nähe herumsaßen.

Alina versetzte mir einen Klaps.

„He!“, protestierte ich. „Die Braut darf man nicht schlagen.“

„Nun frag mich endlich!“, verlangte sie, ohne meinen bösen Blick weiter Beachtung zu schenken.

„Na gut, na gut.“ Ein wenig übertrieben rieb ich mir noch einmal über den Arm. „Alina, würdest du bei meiner Vermählung gerne mein Kerberos sein?“

„Aber nur wenn du das auch wirklich willst.“ Sie senkte ihren Blick und tat so, als würde sie ihre Fingernägel inspizieren. „Ich will mich ja nicht aufdrängen.“

Natürlich nicht. „Ich würde mich geehrt fühlen, wenn du zu mein Kerberos wärst.“

„Naja, wenn das so ist.“

Als würde sie mir damit eine große Ehre erweisen. Wäre ich nicht schon aus dem Alter heraus, hätte ich wohl die Augen verdreht.

Vom Pool kam wieder ein lautes Kreischen und ich sah gerade noch rechtzeitig hin, um zu sehen, wie meine Mutter ins Wasser segelte und Cio lachend von der Kante zurücktrat, als sie prustend an die Wasseroberfläche kam und ihm drohend die Faust entgegenhielt.

„Ich denke ihr werdet sehr glücklich werden“, meinte Alina leise. In ihrer Stimme klang etwas Sehnsuchtsvolles mit. Nein, sie stand nicht auf Cio, ich glaubte eher, dass sie sich auch so einen tollen Mann wünschte.

„Ja, das denke ich auch“, stimmte ich ihr zu.

Als würde Cio unsere Blicke spüren, drehte er sich zu uns herum. Sein Lächeln wurde breiter, als er klitschnass auf uns zu joggte und sich dann über mich beugte. „Hi“, sagte er auf eine Art, für die er wohl besser einen Waffenschein beantragen sollte.

Ich erwiderte sein Lächeln. „Hi.“

Kleine Tropfen fielen auf mich herunter, als er sich vorbeugte und mir einen Kuss auf die Lippen hauchte. Mein T-Shirt wurde nass.

Alina seufzte. „Ich glaube ich gehe mal dem Geburtstagskind gratulieren. Hier bin ich scheinbar gerade überflüssig geworden.“

Ich grinste ihr hinterher, wurde aber sehr schnell von meinem Zukünftigen abgelenkt, dem so ein flüchtiger Kuss nicht zu reichen schien. Als er dann aber seine Hand unter mein Shirt schob, hielt ich ihn auf. „Dir ist bewusst“, fragte ich ihn, „dass wir uns mitten auf der Geburtstagsfeier meiner Oma befinden? Inmitten meiner ganzen Familie?“

Er schaute sich um, als wollte er sichergehen, dass ich auch die Wahrheit sagte. „Hm“, machte er dann. „Deine ganze Familie ist hier. Das bedeutet, das Haus deiner Oma ist völlig verwaist.“

Mein Mundwinkel zuckte. „Du versuchst doch nicht etwa gerade mich von dieser Feierlichkeit wegzulocken, um deinen verdorbenen Gelüsten nachgehen zu können und mich vom Weg der Tugend abzubringen, oder?“

„Doch.“ Er nickte eifrig. „Genau das versuche ich.“ Er beugte sich erneut vor, um sich einen Kuss zu stehlen. „Die einzige Frage ist nun, klappt es, oder muss ich mir noch ein wenig mehr Mühe geben.“

Also, wenn ich ehrlich war, machte er seine Sache schon recht gut. Wir könnten uns wirklich einen Augenblick wegschleichen. So beschäftigt wie hier alle waren, würde unser Fehlen sicher nicht so schnell auffallen. Und eine bessere Gelegenheit würden wir an diesem Wochenende sicher nicht mehr bekommen. Aber um die Spannung noch ein wenig zu steigern, sagte ich: „Ein wenig mehr Mühe könnte sicher nicht schaden.“

Er grinste so breit, dass es schon fast ein Zähnefletschen war. „Oh, wenn das so ist, das kannst du haben.“ Wieder beugte er sich vor und machte mich dabei ganz nass, doch das war mir im Augenblick sowas von egal. Ich genoss es einfach ihn bei mir zu haben. Das Gefühl dabei … ich war einfach nur glücklich.

Doch gerade als ich mich dazu entschloss ihn nicht weiter auf die Folter zu spannen und mit ihm für eine Weile von der Party zu verschwinden, da hörte ich sie.

„Zaira“, rief die krächzende Stimme.

Oh nein! Ich duckte mich in der Hoffnung, dass sie mich vielleicht doch noch übersah, aber da stand Beatrice bereits neben meiner Liege und lächelte mit ihrem hutzeligen Gesicht entgegen.

„Deine Oma hat es mir gerade gesagt. Ich freue mich so für dich.“ Mit ein wenig Mühe beugte sie sich zu mir herunter, um mir einen feuchten Schmatzer auf die Wange zu geben.

Ich ertrug es mit gequälter Mine und warf meinem verdutztem Cio einen hilfesuchenden Blick zu.

„Und du bist dann sicher der Zukünftige.“ Nun war es Cio, auf den sie sich stürzte. Doch im Gegensatz zu mir ertrug er es mit einem Lächeln.

„Der glücklichste Zukünftige, den es jemals gegeben hat“, erklärte er ihr.

Beatrice stupste mich mit dem Ellenbogen an. „Der ist gut, den solltest du dir auf jeden Fall warmhalten.“

„Ähm … ja, genau das habe ich vor.“ Ich pikste Cio ins Bein, als er leise lachte.

„Na gut, ich will das junge Glück dann mal nicht weiter stören. Ich wollte euch nur gratulieren. Und vergiss niemals!“ Mahnend hielt sie den Finger hoch, als wolle sie nun eine lebensverändernde Weisheit mit uns teilen. „Der Sinn des Lebens ist es, die Zeit zwischen zwei Orgasmen zu überbrücken.“ Damit ließ sie uns stehen und ich konnte ihr nur mit offenem Mund hinterher schauen. Mal ehrlich, die Frau hatte ihr Verfallsdatum schon lange überschritten. Niemals hätte ich mit sowas aus dem Mund einer solch alten Dame erwartet.

Cio wohl auch nicht. Doch im Gegensatz zu mir, nahm er es mit einem Schmunzeln hin. „Interessante Leute kennt ihr.“

Interessant, ja, so könnte man es auch beschreiben. „Hatten wir nicht eigentlich gerade etwas vor?“, fragte ich lauernd.

Cios Augen leuchteten auf. „Aber Frau Steele, sie versuchen doch nicht etwa gerade mich von dieser Feier zu locken, um ihren Gelüsten zu frönen, oder?“

Das er praktisch das gleiche sagte, wie ich vor ein paar Minuten, ließ mich noch breiter Lächeln. „Doch, genau das versuche ich. Jetzt stellt sich mir nur die Frage, ob es funktioniert, oder …“

„Essen ist fertig!“, rief meine Oma quer durch den Garten.

„Essen!“ Meine Mutter war nicht nur die erste, die aus dem Pool raushüpfte, sondern auch die erste, die mit ihrem Teller am Grill stand.

Mir bliebt nur ein Seufzen übrig. „Damit hat sich das wohl erledigt.“ Denn beim Essen würde es wahrscheinlich doch auffallen, wenn wir nicht anwesend wären.

Auch Cio wirkte ein kleinen wenig enttäuscht. Aber er versteckte es hinter einem einnehmenden Lächeln. „Dann schleichen wir uns später einfach in den Wald, wenn alle schlafen.“

„Zaira!“, rief meine Oma. „Cio! Kommt ihr?“ In der nächsten Sekunde klingelte wieder ihr Telefon und schon war sie mit anderen Dingen beschäftigt.

Uns allerdings blieb nun gar nichts anderes übrig, als dem Ruf zu folgen und uns zusammen mit der ganzen Familie und den wenigen Gästen über das Essen herzumachen. Dabei ignorierte ich Papas finsteren Blick, als Cio mich mit einer Nudel aus seinem Salat fütterte und als Nachtisch gleich noch einen kleinen Kuss hinterher schob.

Alina dagegen war nicht so einfach zu ignorieren. Die ganze Zeit überlegte sie, wann die beste Zeit für die Vermählung war und wo der Beste Ort. Natürlich in einem Wald. Standardmäßig müssten wir die Feierlichkeit im Wald der Könige abhalten, einfach weil er direkt an Silenda angrenzte. Andererseits könnten wir auch in Wäldern auf der ganzen Welt unsere Verbindung eingehen. Tante Lucy und Onkel Tristan beispielsweise haben sich damals in den schneebedeckten, kanadischen Wäldern die ewige Treue geschworen. Tante Vivian und Onkel Roger dagegen hatten monatelang auf einen Termin im Schwarzwald warten müssen, wie sie mir berichteten. Das war bei den Lykanern wohl ein heiß begehrter Ort.

„Das Wo ist eigentlich egal“, räumte meine Cousine irgendwann ein. „Wichtig ist nur, dass ich ein Kerberos bin.“

Ja, genau, wichtig war nur Alina und ihre Position bei dieser Veranstaltung. Nicht dass es im Grunde um Cio und mich ging. „Aber dir ist schon bewusst, dass ohne uns gar keine Kerberosse benötigt werden?“

Zur Antwort streckte sie mir die Zunge heraus.

„Sehr erwachsen.“

Cio griff über den Tisch nach dem Korb mit dem aufgebackenen Baguette. „Damit fehlt uns also nur noch ein Kerberos.“

„Einer?“ Sollten es nicht drei sein?

„Klar. Alina und Aric. Jetzt brauchen wir nur noch einen.“

Gut zu wissen, dass mein Halbbruder bereits ein fest eingeplanter Bestandteil der Feierlichkeiten sein würde. Jetzt mussten wir es ihm nur noch mitteilen. Das und auch, dass wir heiraten würden. Das war nämlich noch nicht bis nach Silenda vorgedrungen – jedenfalls nicht von meiner Seite aus. Da fiel mir ein, ich sollte unbedingt Kaspar anrufen. Der würde es mir sehr übelnehmen, wenn er erst als Letztes von unserem Vorhaben erfahren würde.

„Nimm Anouk“, schlugt meine Cousine vor und wird prompt hochrot.

Nanu, was war den jetzt los?

„Ich meine … ist nur so ein Vorschlag.“ Hastig stopfte sie sich eine volle Gabel mit Salat in den Mund.

Anouk, der seinen Blick bisher auf die Vorschau seiner Kamera gerichtet hatte, schaute auf. „Du brauchst mich nicht nehmen.“ Leider klang das eher so, als glaube er sowieso nicht daran, dass ich ihn zu einem Kerberos bestimmen würde und als wolle er mir die Ablehnung damit erleichtern.

Ehrlich gesagt wäre ich ohne Alina auch nie auf den Gedanken gekommen, Anouk in Betracht zu ziehen. Ich meine, ich hatte mit meinem Cousin nie viel zu tun gehabt. Als kleines Kind hatte ich ihn sogar unheimlich gefunden. Es war einfach etwas an ihm, eine dunkle Aura, wenn man so will. Und dann war da ja auch noch Kiara.

Wenn ich ehrlich war, würde ich mich wirklich darüber freuen, sie als einen Kerberos zu haben, aber … naja, ich glaubte nicht daran, dass sie ein Interesse daran hätte. Auch wenn es eine Feierlichkeit der Lykaner war, so würden ein paar Vampire da sein. Und nicht nur das, unser Vater wäre da. Außerdem hatte sie es in den letzten drei Jahren nicht einmal geschafft mir zum Geburtstag zu gratulieren – nicht mal dann, wenn ich angerufen hatte, um ihr zu gratulieren.

Kiara zu fragen, wäre vermutlich einfach nur vergebene Liebesmüh. Ich würde sie einladen, keine Frage, aber einplanen? Da bestand immer noch die Möglichkeit, dass sie zusagte und dann doch nicht kam, weil sie plötzlich etwas besseres zu tun hatte.

Nein, das würde ich nicht riskieren, ich würde mir diesen Tag von niemanden kaputt machen lassen. Darum: „Warum eigentlich nicht?“ Ich schaute Cio an. „Oder hast du ein Problem damit?“

Er schüttelte den Kopf. „Nope. Ich will nur Aric, die anderen beiden kannst du aussuchen.“

„Du hast es gehört.“ Ich schaute Anouk an. „Also würdest du unser dritter Kerberos sein?“

Er schaut zwischen mir und Cio hin und her, doch am Ende blieb sein Blick an Alina hängen, bevor er sich wieder auf die Vorschau seiner Kamera konzentrierte. „Ja“, war seine ganze Antwort.

Seine Mutter Vivien umarmt ihren Sohn glücklich und meine Tante Amber boxte ihn spielerisch gegen die Schulter, als wollte sie sagen: „Jetzt freue dich doch mal ein bisschen.“

Anouk verzog seine Lippen zu etwas, das wohl ein Lächeln sein sollte, aber so ganz sicher war ich mir da nicht. Ich meine, ich hatte ihn schon lächeln sehen und das hier wirkte irgendwie verkrampft.

„Brauchen wir sonst noch jemanden?“ Ich wusste heute zwar schon mehr über Hochzeiten der Lykaner, aber wahrscheinlich noch nicht alles.

„Eigentlich nicht“, sagte Alina, warf Anouk einen kurzen Blick zu, konzentrierte sich dann aber ganz schnell wieder auf ihren Teller.

Hm, sehr interessant. Ich glaube ich musste mich mal allein mit meiner Cousine unterhalten. Ich meine, wir waren zwar beide nicht durch Blut mit Anouk verwand, aber naja … er war eben doch irgendwie unser Cousin und das was ich glaubte zu bemerken, war – um es schlicht auszudrücken – seltsam.

„Naja, wir brauchen die Familie“, widersprach Cio ihr. „Also nachdem ich mein Schäfchen eingefangen habe.“

Tante Lucy schnaubte. „Solange du dich nicht so anstellst wie Tristan.“

„Hey!“, schimpfte ihr Mann. „Ich habe dich gefunden.“

„Ja, nachdem ich ein paar Mal geheult habe“, schmunzelt sie.

Tante Vivien grinste. „Also ich muss sagen, Roger hatte keine Probleme damit mich zu finden.“

Mein Onkel warf sich stolz in die Brust.

„Ja, weil du so nervös warst, dass du die ganze zeit wie ein Welpe herumgefiept hast“, warf Tante Amber ein. „Du warst zehn Kilometer in alle Richtungen zu hören.“

Vivian warf quer über den Tisch ein Maiskorn nach ihr.

„Hey!“, wehrte Amber das Wurfgeschoss ab.

„Mädchen!“, schimpfte Opa Oliver. „Würdet ihr bitte aufhören euch wie kleine Kinder zu benehmen?“

Meine Tanten sahen sich an, lächelten und dann warf jede von ihnen ein Maiskorn nach ihrem Vater.

Ich kicherte.

Nach dem Essen verabschiedeten sich die meisten uneingeladenen Gäste, nur ein älterer Herr, mit mehr Haaren in den Ohren, als auf dem Kopf, blieb noch sitzen und versuchte mit meiner Oma zwischen den ganzen Anrufen ein Gespräch zu führen.

Mein Vater dagegen verzog sich recht schnell ins Haus. Und erst als er ging, fiel mir auf, dass er während des Essens außergewöhnlich still gewesen war. Ich wusste ja, dass er sauer war, weil Cio sich regelmäßig ein Fell wachsen ließ, anstatt mehrmals im Monat ein wenig Blut zu schlürfen, aber das hier war schließlich der hundertste Geburtstag seiner Mutter. Da sollte er sich doch wohl ein wenig zusammenreißen können.

Vielleicht sollte ich ja noch mal zu ihm gehen und erneut das Gespräch suchen. Andererseits … nein. Wenn ich nur daran dachte, wie unsere letzte Diskussion abgelaufen war, dann war das ein ganz klares Nein. Dieses Mal war es an ihm zu mir zu kommen. Ich würde bereitwillig zuhören, aber ich würde nicht den ersten Schritt machen. Das hier hatte er verbockt.

Daher setzte ich mich zu den anderen an den Pool und war nicht verwundert, als ich kurze Zeit später auch im Wasser landete – nein, es war nicht Cio der mich hineingestoßen hatte, es war meine Mutter gewesen. Die Frau hatte wirklich überhaupt kein Gefühl für ihr Alter. Und als ich mich auf die Jagd nach ihr machte, um mich zu rächen, musste ich außerdem feststellen, dass sie immer noch äußerst flink war. Erst als Tante Amber sich meiner erbarmte, weil sie sich das Leid nicht weiter angucken konnte, schafften wir es mit vereinten Kräften sie zu erwischen und unterzutauchen. Und dann war es an uns schleunigst das Weite zu suchen. Ich war natürlich ganz gerissen und versteckte mich hinter Cios breiten Schultern, was im Grunde nur dazu führte, dass er nun auch noch mit hineingezogen wurde.

Anouk tänzelte währenddessen die ganze Zeit um uns herum und schoss ein Foto nach dem anderen. Aber nur solange, bis ich ihm die Kamera klaute und mir anschaute, was er da so trieb. Dabei erkannte ich zum ersten Mal das Talent, das in ihm schlummerte. Die Aufnahmen steckten voller Leben. Schatten und Lichtspiele waren fast immer perfekt getroffen. Es war als wüsste er immer ganz genau, was gleich geschehen würde, damit er noch rechtzeitig auf den Auslöser drücken konnte.

Ein besonders gelungenes war von Cio – und das sagte ich jetzt nicht nur, weil ich den Rest meines Lebens mit ihm verbringen wollte – wie er beim Auftauchen gerade durch die Wasseroberfläche brach. Das eingefangene Licht brach sich auf den herumfliegenden Wassertropfen, die er aus seinem Haar schleuderte. Ein ungezwungenes Lächeln lag auf seinen Lippen. Würde ich ihn nicht schon lieben, dann wäre ihm jetzt mein Herz zugeflogen.

„Kann ich davon einen Abzug haben?“

Anouk runzelte die Stirn, musterte das Bild einen Moment sehr kritisch und nickte dann stumm.

„Danke!“ Ich drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Du hast was gut bei mir.“

Eines seiner überaus seltenen Lächeln erschien auf seinen Lippen. Doch noch immer sagte er kein Wort. Typisch Anouk.

„Hey!“ Alina kam angerannt, warf Anouk einen kurzen Blick zu und grinst mich dann an. „Was macht ihr?“

„Ich wollte ihm eigentlich seine Kamera klauen und ihn in den Pool schubsen“, erklärte ich sehr ernst und kassierte dafür einen misstrauischen Blick von meinem Cousin. „Aber dann habe ich mir lieber seine Fotos angeschaut. Die sind wirklich gut.“

„Ja, das sage ich ihm auch immer, aber er ist viel zu kritisch mit seiner Arbeit.“

„Immer?“, frage ich und ziehe eine Augenbraue hoch.

Anouk nutzte die Gelegenheit sich seine Kamera zurück zu holen und macht sich davon, um Tante Lucy zu fotografieren, die über etwas das Roger gesagt hatte, herzlich lachte.

Meine Cousine schaute ihm sehnsüchtig hinterher.

Ich stellte mich neben sie und beobachtete seinen Abgang. „Habe ich irgendwas nicht mitbekommen?“

„Was?!“ Von meinem lauernden Tonfall aufgeschreckt, wandte Alina hektisch den Blick ab. „Was solltest du nicht mitbekommen haben?“, schob sie noch scheinheilig hinterher.

Also bitte, so blind war ich nicht mal ohne meine Brille. „Du kannst schon den ganzen Tag nicht deine Augen von ihm lassen.“

„Ja, weil er mir noch Geld schuldet.“ Die Worte kamen wie aus der Pistole geschossen.

Ich zog nur eine Augenbraue nach oben, um ihr deutlich zu zeigen, dass das wohl die dümmste Erklärung war, die ich seit langem gehört hatte.

Alina sackte ein Stück weit in sich zusammen. Dann warf sie plötzlich die Arme in die Luft, nur um sie dann wieder fallen zu lassen und mich böse anzufunkeln.

Was habe ich den jetzt bitte verbrochen?

Schlussendlich ließ sie sich dann aber seufzend auf eine der Sonnenliegen sinken und sah gemartert zu Boden. „Er ist mein Cousin, verstehst du?“

Um ehrlich zu sein: „Ich habe keine Ahnung wovon du sprichst.“ Ich setzte mich ihr gegenüber auf die zweite Sonnenliege und wartete. Sie wollte es mir sagen, ich sah es ihr an, ich musste mich nur ein wenig in Geduld üben.

„Erinnerst du dich noch an die Überschwemmung in unserer Küche letzten Monat?“

„Dunkel“, erklärte ich, während ich an das Telefonat dachte, bei dem sie mir davon berichtet hatte.

„Naja, meine Eltern waren nicht da und ich hatte absolut keine Ahnung, wie ich dieses verdammte Wasser abstellen sollte. Also habe ich bei Onkel Roger angerufen, aber da ging nur Anouk ran. Ich war schon dabei mich von ihm zu verabschieden um einen Hilferuf bei Opa abzusetzen, da bot er an schnell vorbei zu kommen, um mir zu helfen.“

Ja, bis auf Mama, Papa und mich wohnte meine ganze Familie ausnahmslos in Arkan.

„Er kam dann auch, aber wie sich schnell herausstellte, hatte er von der Materie nur wenig mehr Ahnung als ich. Zwar schaffte er es am Ende das Wasser abzustellen, aber in der Zwischenzeit waren wir beide klitschnass und die Küche komplett überflutet. Also habe ich ihm ein Handtuch und eine Hose von Papa in die Hand gedrückt und nachdem wir die Küche trockengelegt hatten, haben wir uns vor den Fernseher gehauen. Dabei bin ich eingepennt.“

Also bis hier her fand ich noch nichts Verwerfliches an der Geschichte. Und auch keine Erklärung für ihr Verhalten.

Alina kaute einen Moment auf der Unterlippe und schaute dann zu Anouk herüber, der nun still neben seiner Mutter am Tisch saß und wieder einmal die Vorschau seiner Bilder studierte. „Ich bin wach geworden, weil … naja.“ Ihre Wangen bekamen einen rosigen Schimmer.

Aha! Jetzt kam wohl der interessante Teil.

„Er hat mich geküsst!“, platzte sie dann ein wenig zu laut heraus. Besorgt sah sie sich nach eventuellen Zuhörern um, doch alle waren so miteinander beschäftigt, dass uns niemand beachtete. Alina beugte sich mir ein wenig entgegen und senkte die Stimme. „Ich bin durch seinen Kuss aufgewacht.“

„Wie Dornröschen“, sinnierte ich und grinste breit.

Sie warf mir einen bösen Blick zu. „Willst du das nun hören, oder soll ich einfach gehen?“

Oh je, da war aber jemand verschnupft. „Ist ja gut, ich bin ja schon still.“

„Ja, also, zuerst wusste ich nicht recht was los war. Ich meine, ich habe ja noch halb geschlafen und mittlerweile war der Fernseher aus und es war dunkel im Raum. Und dann war da dieser Kuss – dieser unglaubliche, fantastische, unwiderstehliche Kuss.“ Ein verträumter Ausdruck trat in ihre Augen.

Oh ha, da schien es aber jemand schwer erwischt zu haben. Aber ausgerechnet unser Cousin? Ich war mir nicht sicher wie ich das finden sollte.

„Aber dann“, erklärte sie weiter. „Dann habe ich ihn gerochen. Anouk. Und mir wurde bewusst, was ich da trieb. Ich machte mit meinem Cousin herum – mit meinem neun Jahre älteren Cousin. Da habe ich ihn einfach weggestoßen und ihn angeschrienen, bis er wortlos verschwunden ist.“ Ein schiefes Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Leider hat er dabei alles zurückgelassen, was er mitgebracht hatte. Schlüssel, Handy, Portemonnaie.“

Ich konnte mir vorstellen, wie es weiterging. „Also ist er zurückgekommen, um seine Sachen zu holen“, mutmaßte ich.

Sie nickt bekümmert. „Ich habe ihm gesagt, dass er sich gar nicht erst bei mir zu entschuldigen brauch, das was er getan hat, war einfach nur widerlich und abartig. Dafür gäbe es keine Entschuldigung. Er hat nur gesagt, er sei sicher nicht gekommen, um sich für etwas zu entschuldigen, wovon er schon lange träumt. Dann hat er seine Sachen genommen, mir den Rücken gekehrt und mich beim Gehen noch daran erinnert, dass wir nicht wirklich miteinander verwandt sind.“

Sie rieb sich mit ihrer verbliebenen Hand übers Gesicht. „Das bekam ich dann einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ich meine, klar, er hat recht, aber ich bin nun seit fast zwanzig Jahren Teil dieser Familie. Ob wir nun durch Blut verwandt sind oder nicht, das heißt, dass er seit fast zwanzig Jahren mein Cousin ist. Da kann er mich doch nicht einfach küssen!“

Hm, wie sich das anhörte machte sie sich weniger Sorgen um den Kuss selber, als mehr darüber, dass er ihr nicht mehr aus dem Kopf ging.

„Das ging so weit, dass ich mich die ganze Nacht nur von einer Seite auf die andere geschmissen habe und am nächsten Morgen zu ihm gegangen bin, um ihm zu sagen, dass er sowas auf keinen Fall wieder tun soll, weil ich einfach nicht aufhören konnte daran zu denken und das machte mich fast wahnsinnig.“ Sie machte eine kurze Pause. „So zumindest war der Plan gewesen“, fügte sie leise hinzu.

„So wie du es sagst, ist der Plan wohl nicht ganz aufgegangen.“

„Nicht aufgegangen? Kaum, dass er die Tür aufgemacht hat, bin ich praktisch über ihn hergefallen!“

Jupp, mir klappte die Kinnlade herunter. „Du hast doch nicht etwa …“

„Zum Teufel nein, wo denkst du hin?! Ich habe mit ihm geschimpft und gezetert, was er sich einbildet wer er ist und dass er sowas nicht mit mir machen kann. Und was macht er?“

Ich schwieg, aber da sie offensichtlich eine Erwiderung erwartete, zuckte ich nichtssagend mit den Schultern.

„Er dreht sich einfach um, geht in die Küche und lässt mich in der offenen Haustür stehen. Ohne ein Wort. Ist das zu fassen?!“

„Ähm … nein“, sagte ich, weil sie die Antwort wohl erwartete.

„Nein!“, bestätigte sie. „Er geht einfach in die Küche und gießt sich seelenruhig eine Tasse Kaffee ein. Das konnte ich natürlich nicht auf mir sitzen lassen, also bin ich ihm hinterher und habe ihm etwas über fehlende Manieren erzählt und dass er gefälligst auch mal etwas dazu sagen soll. Ich meine, er stand die ganze Zeit nur da und hat alles wortlos mitangehört. Aber nachdem ich das gesagt habe … naja.“

„Naja, was?“ Vielleicht war es falsch, da es sich ja immer noch um meine Verwandten handelte, aber mittlerweile war ich ziemlich neugierig darauf, wie es zwischen den beiden weiterging.

„Er stellte einfach seine Tasse zur Seite und drängte sich gegen mich. So.“ Um es mir zu verdeutlichen, beugte sie sich mir entgegen – um einiges zu nahe, wie ich hier festhalten möchte – links und rechts einen Arm von ihr und nahm mich damit praktisch gesehen gefangen. „Und dann fragte er mich, ob ich denn auch bereit dazu sei zu hören, was er zu sagen hätte. Aber das sagte er auf eine solch … ich weiß nicht, irgendwie so intim, dass ich ihn einfach nur anstarren konnte. Naja, zumindest bis ich mich vorbeugte und ihn küsste.“

Sie setzte sich zurück auf ihre Liege und verfiel wieder in Schweigen. Aber dann riss sie die Arme in die Luft, nur um sich anschließend niedergeschlagen den Rücken zu legen. „Keine Ahnung was da in mich gefahren ist, aber plötzlich wollte ich ihn mit Haut und Haaren verschlingen und … oh Gott, er ist so ein guter Küsser. Und so ausdauernd. Wir haben bestimmt eine halbe Stunde knutschend in der Küche gestanden und wäre Tante Vivien nicht nach Hause gekommen, dann hätten wir sicher noch eine halbe Stunde miteinander rumgemacht.“

Und wer weiß wo das dann geendet hätte. Aber mich interessierte etwas ganz anderes. „Tante Vivien hat euch erwischt?“

„Was? Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Anouk hat sie kommen hören und wir sind auseinandergesprungen, bevor sie uns erwischen konnte. Und bevor er noch etwas sagen konnte, habe ich mich auch schon aus dem Staub gemacht. Aber das ist jetzt schon Wochen her.“

„Hab ihr euch seitdem denn mal gesehen?“

„Ja, ein paar Mal sogar, aber … naja, er tut so, als wäre das alles nicht passiert und jetzt weiß ich nicht was ich tun soll. Verdammt, warum nur hat er mich küssen müssen?“

Ja, das war die alles entscheidende Frage, oder? Hatte er es nur aus einer Laune heraus getan – was wirklich mies von ihm wäre – oder war es wirklich sein heimlicher Wunsch gewesen? – was es auch nicht unbedingt besser machen würde. Ehrlich gesagt konnte ich mir Anouk mit einer Frau an seiner Seite überhaupt nicht vorstellen. Es hatte sogar eine Zeit gegeben, in der ich geglaubt hatte, er wäre asexuell, einfach weil er sich nie für jemanden außerhalb der Familie interessiert hatte. Nun ja, wenn man es ganz genau nahm, hatte sich das nun auch nicht unbedingt geändert. „Hast du denn mal mit ihm darüber gesprochen?“

„Spinnst du?!“ Sie schaute mich völlig entsetzt an. „Nachher kommt nur raus, dass er sich nur einen blöden Scherz erlaubt hat und seine dumme kleine Cousine deswegen eine Schwärmerei für ihn entwickelt hat. Das wäre einfach nur peinlich.“

Zweifelnd schaute ich zu Anouk. Ich kannte ihn jetzt schon seit … naja, seit ich geboren wurde – zwar nicht wirklich gut, aber eben doch schon so lange – und in der ganzen Zeit habe ich es nicht einmal erlebt, dass er sich irgendwie, irgendwo, oder irgendwann mit irgendjemanden einen Scherz erlaubt hätte. Ich war mir nicht mal sicher, ob er wusste, was ein Scherz war.

Alina gab sich bei meinem Blick geschlagen. „Okay, ich bin einfach feige, bist du nun zufrieden?“

Nein, eigentlich nicht. „Um ehrlich zu sein, finde ich den Gedanken, dass meine Cousine und mein Cousin miteinander herumgeknutscht haben doch ein wenig … verstörend. Ich meine ihr seid zusammen aufgewachsen und …“

Das Handtuch das mir ins Gesicht flog, wunderte mich nicht wirklich. „Glaubst du, ich bin über unser Zungenpetting begeistert?“

Ähm ja … was für einfallsreiche Worte meine Cousine doch nur kannte. „So wie du ihm hinterherschmachtest, willst du auf jeden Fall mehr von diesen unglaublichen, fantastischen und unwiderstehlichen Küssen.“

Sie bestritt es nicht einmal. „Siehst du jetzt mein Problem? Auch wenn wir genetisch gesehen nicht miteinander verwandt sind, so ist er doch mein Cousin. Was wären das nur für Familienfeiern, wenn wir da gemeinsam auftauchen würden? Oder was wenn wir Kinder bekämen? Was soll ich denen denn erzählen?“

Oh ha, sie hatte schon über gemeinsame Kinder nachgedacht? „Du solltest die Familienplanung erstmal ein wenig zurückstellen und herausfinden, was das überhaupt zu bedeuten hat. Geh und rede mit ihm.“

„Und wenn er mich auslacht?“

„Dann klauen wir seine Kamera und schmeißen sie in den Pool“, sagte ich mit all der Ernsthaftigkeit, die ich aufbringen konnte.

Dafür bekam ich ein dankbares Lächeln. „Das würde ihn vermutlich ganz schön ankotzen.“

Ja und eine Menge Ärger nach sich ziehen. „Es wäre eine gerechte Strafe. Ich meine, wenn er dir seine unglaublichen, fantastischen und unwiderstehlichen Küsse vorenthält, hat er es nicht anders verdient.“

Sie funkelte mich an. Passte ihr wohl nicht, mal von mir aufgezogen zu werden. „Du bist so unreif“, teilte sie mir mit.

„He!“ Dieses Mal war sie es, die das feuchte Handtuch an den Kopf bekam. „Ich versuche gerade dir zu helfen. Also geh endlich zu ihm und erzähl mir später, was dabei herausgekommen ist.“

„Jetzt?!“, fragte sie schon beinahe panisch und setzte sich wieder auf.

„Wenn du willst, warum nicht? Er sitzt sowieso nur rum und starrt dich die ganze Zeit verträumt an.“

Alina riss den Kopf herum, wahrscheinlich um das verträumte Starren zu sehen, musste aber feststellen, dass er in ein Gespräch mit seiner Mutter und Oma vertieft war. Sie funkelte mich an. „Du Biest.“

Ich grinste nur.

Schlussendlich gab sie sich dann mit einem Seufzen erneut geschlagen. „So ungern ich das auch zugebe, du hast recht.“ Sie erhob sich, rückte ihren Bikini zurecht, als handelte es sich dabei um eine schwere Panzerrüstung und sagte. „Nimm dich in Acht, Anouk, jetzt komme ich.“ Dann marschierte sie etwas steif zum Tisch auf der Terrasse.

Ich lehnte mich zurück und beobachtete, wie sie meinen Cousin ansprach. Auf die Entfernung konnte ich zwar kein Wort verstehen, aber jetzt wo ich darauf achtete, entdeckte ich in Anouks Haltung eine ganz kleine Veränderung. Bei Alinas Anblick schien er sich ein wenig mehr aufzurichten und die Schultern durchzudrücken, als wolle er so selbstbewusster wirken – oder größer.

Alina dagegen spielte mit einer Strähne ihres Haares und stellte unbewusst die Hüfte aus. Ihr Mund bewegte sich, woraufhin er nickte, seine Kamera griff und ihr ins Haus folgte.

Ach Mist, jetzt konnte ich sie nicht weiter bespannen. Da blieb mir nur übrig zu warten. Nachdem sie eine halbe Stunde später immer noch nicht wieder aufgetaucht waren, war ich sogar versucht ihnen ins Haus zu folgen, einfach um meine Neugierde zu befriedigend. Aber erstens wäre es peinlich geworden, wenn ich sie zusammen erwischen würde und außerdem war der Gedanke daran noch immer recht seltsam. Im Gegensatz zu mir hatte Alina in ihrer Kindheit viel Kontakt zu Anouk gehabt und war somit praktisch mit ihm aufgewachsen. Für sie musste das also noch viel bizarrer sein als für mich.

Und dann wurde ich auch noch von Cio überfallen, der sich klitschnass wie er war, einfach zu mir auf die Liege warf und sich an mich kuschelte. Danach waren alle Gedanken an meine Cousine und meinen Cousin einfach vergessen. Das hier fand ich nämlich viel interessanter.

Als sich der Nachmittag langsam dem Abend neigte, verschwanden zwei Drittel der Familie im Haus um das Abendessen vorzubereiten. Das war wohl auch der Grund, warum Anouk und Alina kurz darauf wieder im Garten auftauchten.

Alinas Haare waren zerwühlt und ihre Wangen leicht gerötet. Und Anouk hatte deutliche Kratzspuren an der linken Schulter. Leider kam ich vor dem Essen nicht mehr dazu Alina darüber auszuquetschen, was denn nun passiert war. Zum einen war da Cio und zum anderen schien Anouk sie nicht aus den Augen lassen zu können.

Das war zumindest ein kleiner Anhaltspunkt.

Kurze Zeit später fand die Familie sich dann wieder an dem großen Tisch zusammen, auf dem nun ein riesiger Kuchen mit drei Kerzen thronte, die zusammen die Zahl Hundert ergaben.

Als meine Oma mit einem großen Messer in der einen und dem Telefon in der anderen Hand aus dem Haus kam, versuchte ich Alina gerade unauffällig zu fragen, was passiert war, doch alles was ich bekam, war ein Daumen nach oben und ein breites Grinsen, mit dem ich nicht viel anfangen konnte. Hieß das jetzt, dass sie nur wieder mit ihm rumgeknutscht hatte, oder lief da jetzt ernsthaft etwas zwischen den beiden? Und wenn ja, wie sollte das funktionieren. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Familie über diese Konstellation allzu glücklich sein würde.

Als Omas Telefon wieder klingelte, verdrehte Tante Amber genervt die Augen. „Kannst du das nicht endlich weglegen? Wenn ich noch einmal diesen Klingelton höre, muss ich dein Telefon verbrennen und einen Tanz ums Feuer aufführen, um die bösen Geister zu besänftigen.“

Meine Mutter lachte herzlich. Oma dagegen schaute sie nur herausfordernd an und nahm das Telefonat dann an. „Bei Marica Steele.“

Tante Amber sackte geschlagen auf ihrem Stuhl zusammen. „Damit sie mir zuhört, werde ich sie wohl anrufen müssen.“

„Oh, armes Püppchen“, säuselt Serena und bekam scheinbar gar nicht mit, wie Amber das Gesicht verzog. Wenn sie meine Tante weiterhin mit solchen Kosenamen betitelte, würden wir sie zur nächsten Familienfeier sicher nicht mehr zu sehen bekommen.

„Lass sie in Ruhe, du kleine Kröte“, sagte mein Vater. „Sie wird schließlich nur einmal in ihrem Leben Hundert. Ab morgen werden die Leute sie wieder uninteressant finden.“

Dafür ditschte meine Oma ihm das Baguette auf den Kopf, runzelte jedoch plötzlich die Stirn. „Ich versteh nicht“, sagte sie und wirkte überaus verwirrt.

Etwas in ihrem Ton ließ mich aufhorchen, doch ich konnte nur hören, dass sie sich mit einer weiblichen Stimme unterhielt. Was genau gesagt wurde, blieb mir verborgen.

„Du meinst …“ Plötzlich wurde meine Großmutter kalkweiß im Gesicht und die glückliche Stimmung, die sie schon den ganzen Tag wie eine fröhliche Aura umgab, wich Entsetzen. „Nein“, flüsterte sie. Ihre Hand klammerte sich um die Tischkante.

Nun wurde auch mein Vater aufmerksam. „Mama?“

Sie sah ihren Sohn mit großen Augen an, während die Stimme am Telefon schriller wurde. Nein, nicht schrill, wer auch immer da am Telefon war, er weinte.

Langsam machte sich ein mulmiges Gefühl in mir breit. „Oma?“

Das Telefon samt Hand sackte herunter, als sie mich mit großen entsetzten Augen anschaute. „Beatrice“, sagte sie leise.

„Mama.“ Papa griff nach ihrer Hand. „Was ist los?“

„Alice.“

Er runzelte die Stirn. „Beatrice Enkeltochter?“ Als sie ihn nur stumm anschaute, als sei sie nicht fähig noch etwas dazu zusagen, nahm er ihr das Telefon ab und hielt es sich selber ans Ohr. „Alice?“

Plötzlich begann Oma zu hyperventilieren, was praktisch jedem am Tisch dazu veranlasste aufzuspringen und sich auf sie zu stürzen. Tante Vivien lief schnell ins Haus und besorgte ihr ein Glas Wasser, Onkel Roger zauberte von irgendwoher eine Papiertüte herbei, während Onkel Tristan ihr befahl den Kopf zwischen die Beine zu nehmen und meine Mutter neben ihr hockte und ihr schnurrend über den Rücken strich.

Meine Augen jedoch klebten auf meinem Vater, dessen Gesichtsausdruck immer grimmiger wurde. Zwischen den Stimmen der anderen war er nur schwer zu verstehen, doch als er dann auflegte, verstummten alle, als hätten sie ein geheimes Zeichen bekommen.

„Und?“, fragte Tante Amber dann. „Was ist los?“

„Das war Alice, Beatrice' Enkelin. Die Wächter sind gerade in ihrem Haus. Danielle hat sie gerufen.“

„Danielle?“, fragte Cio, der mit dem Namen nichts anfangen konnte.

„Das ist Beatrice' andere Enkelin“, erklärte Onkel Tristan.

Tante Amber verengte ungeduldig die Augen. „Warum hat Danielle die Wächter gerufen?“

„Sie hat ihre Großmutter gefunden. Tot.“ Er drückte grimmig die Lippen aufeinander. „Der Amor-Killer … er hat wieder zugeschlagen.“ Sein Blick richtete sich direkt auf mich. „Und es ist nicht wie bei den letzten drei Opfern, sondern wie bei Victoria. Man hat ihr das Herz herausgeschnitten.“

 

°°°

Familienzwist

 

„Jetzt sag doch auch mal was dazu“, verlangte ich von Kaspar. Zwar hörte ich daraufhin sein Grummeln durch Handy, aber das konnte ich nun wirklich nicht als verständliche Erwiderung durchgehen lassen. „Kaspar!“

„Was?!“, fragte er genervt. „Du willst doch sowieso nicht hören, was ich zu sagen habe. Du weißt schließlich was ich von deinem Idioten halte.“

„Nenn ihn nicht immer so“, forderte ich und kuschelte mich enger an eben genannten Idioten. „Freust du dich denn nicht wenigstens ein bisschen für mich?“

Wieder ein leises Grummeln, gefolgt von einem genervten: „Na schön, wenn es dich glücklich macht, dann wünsche ich euch alles Gute.“

Das war wieder so typisch … er. Aber wenigstens machte er keinen Aufstand, so wie andere Leute in diesem Wagen. Ich wollte hier ja niemanden schräg ansehen. Oder Papa?

Es war Montag. Die Sonne stand bereits tief am Himmel und wir fuhren endlich in unsere Straße ein. Nach drei Stunden auf dem Rücksitz, eingeklemmt zwischen Cio und Anouk, war das auch wirklich Zeit, wenn ich keinen Koller entwickeln wollte. Warum hatten die beiden Kerle nur so breite Schultern? Das nächste Mal würde ich einen von ihnen in den Kofferraum stopfen – naja, immer vorausgesetzt, der war gerade nicht mit Taschen und Koffern überfüllt.

Bis zum Mittag war nicht mal sicher gewesen, ob wir heute überhaupt nach Hause fahren würden. Beatrice war nicht nur Omas älteste, sondern auch ihre beste Freundin gewesen, weswegen Alice sie auch angerufen hatte, sobald die Wächter es erlaubt hatten. Ihr Tod – besonders auf diese makabere Art – hatte Oma schwer getroffen und Papa wollte sie eigentlich nicht allein lassen. „Scheiß auf Verpflichtungen“ hatte er nur gesagt, als ich ihn daran erinnerte, dass wir alle Jobs hatten, bei denen einige von uns Morgen wieder auftauchen mussten. Doch erst, als all meine Tanten und Onkels ihm versichert hatten, dass sie ein Auge auf sie haben würden – und das waren unterm Strich reichlich viele – hatte er sich bereit erklärt, in den Wagen zu steigen.

Mittlerweile wussten wir auch ein wenig mehr über die Vorkommnisse. Danielle, die ältere Enkelin, war zu ihrer Großmutter gegangen, um noch was wegen dem Friseursalon zu klären und hatte sich schon gewundert, warum noch Licht im Laden brannte. Es war schließlich nicht nur Wochenende, sondern auch schon Abend.

Verwundert war sie in den Salon getreten und die schreckliche Entdeckung gemacht. Der Leichnam von Beatrice war auf einem der Friseurstühle drapiert worden. Ihr herausgeschnittenes Herz hatte direkt über ihrem Kopf an einer Lampe gebaumelt. Der Pfeil der es durchbohrt hatte, genauso rot wie die Lache aus Blut, die sich darunter gesammelt hatte.

Wie es schien, waren wir wohl die Letzten gewesen, die sie lebend gesehen hatten. Naja, wenn man einmal von ihrem Mörder absah.

Ich konnte es immer noch nicht fassen. Eben noch hatte sie seltsame Lebensweisheiten zum Besten gegeben und jetzt … war sie einfach weg.

„Bist du noch da?“, wurde ich von Kaspar aus meinen Gedanken gerissen. „Oder führe ich hier jetzt Selbstgespräche?“

„Nein, ich bin noch da.“

Papa fuhr gerade an den Straßenrand vor unserem Haus und parkte den Wagen hinter einem blauen Mazda, der mir wohl bekannt war. Gehörte der nicht Cios Mutter?

„Aber ich muss jetzt Schluss machen. Wir sind gerade angekommen und ich will endlich aus diesem Wagen raus.“ Hier kam man sich wirklich vor wie in einer Sardinenbüchse. Dabei war der Subaru doch eigentlich gar nicht so klein.

„Okay, dann melde dich, wenn du ein bisschen mehr Zeit hast.“ Und schwupp hatte er aufgelegt.

Oh Mann. Der Kerl war inzwischen Mitte zwanzig und hatte es immer noch nicht gelernt, sich manierlich zu verabschieden. Und ich bezweifelte, dass sich das jemals ändern würde. Kaspar war eben einfach … Kaspar.

Der Motor des Wagens schnurrte noch einen Moment und erstarb dann. „So, alle raus aus dem Auto“, forderte mein Vater.

Mama kam dem als erstes nach und war schon am Kofferraum, als ich noch dabei war, hinter Cio vom Rücksitz zu rutschen. Leider blieb er dann aber mitten in der Tür stehen und versperrte mir den Weg. Hm, wenn man die Gelegenheit schon mal hatte …

Ich konnte nicht widerstehen und kniff ihm in den Hintern.

„Hey!“, protestierte er und drehte sich zu mir herum.

„Tut mir leid.“ Ich versuchte zerknirscht auszusehen – es gelang mir nicht besonders gut. „Aber das war einfach so verlockend.“

Cio beugte sich wieder in den Wagen hinein und kam mir so nahe, dass ich seinen Atem auf dem Gesicht spüren konnte. „Sobald wir allein sind, wirst du schon sehen was du davon hast.“

Uh, das klang doch sehr vielversprechend. „Ich freue mich schon drauf.“

Dafür bekam ich einen kurzen Kuss, aber leider rief mein Vater in dem Moment nach meinem Freund.

„Ich fürchte mein Typ wird verlangt“, sagte Cio entschuldigend. „Daher müssen wir das leider auf später vertagen.“

„Wie sagt man so schön? Vorfreude ist die schönste Freude.“

„Cio“, rief mein Vater wieder.

Es war uns beiden wohl zugute zu halten, dass keiner genervt seufzte.

„Heute Nacht schlafen wir bei mir in der Bude“, versprach Cio noch, dann tauchte er wieder aus dem Wageninneren aus. „Was ist los?“, fragte er meinen Vater.

„Da wartet jemand auf dich.“

Ich musste nicht sehen, wer da auf ihn wartete. Sobald Cio seinen Besucher erblickte, versteifte sich seine ganze Haltung. Und nachdem ich ausgestiegen war, bekam ich meine Bestätigung. An unserem Gartenzaun, die Arme und Beine verschränkt, lehnte Diego in seiner Umbrakluft. Und so eindringlich wie er seinen Sohn musterte, war auch nicht sofort klar, auf wen genau er wartete.

Also war er es wohl, der mit Genevièvs blauen Mazda gekommen war.

„Was willst du denn hier?“, fragte Cio seinen Vater argwöhnisch.

Ich nahm seine Hand in meine und drückte sie ermahnend. „Sei nett.“

Diego stieß sich vom Zaun ab und kam zu seinem Sohn. „Ich muss dringend mit dir sprechen.“ Sein Blick glitt zu unseren miteinander verschränkten Händen. „Alleine wenn möglich.“

Cio runzelte die Stirn. „Ist was passiert?“

„Ja, so könnte man es auch sehen.“

Oh Gott, was kam denn jetzt wieder?

„Kannst du ein Moment erübrigen?“

Cio nickte stirnrunzelnd, hauchte mir dann einen Kuss auf die Wange und ließ mich mit den Worten „bin gleich wieder da“ stehen, um seinen Vater ein Stück die Straße runter zu folgen.

Für einen Moment beobachtete ich sie, aber als Diego dann stehen blieb und das Wort an seinen Sohn richtete, waren die beiden so weit entfernt, dass ich nichts von dem was gesprochenen wurde verstehen konnte. Also gesellte ich mich zu meiner Mutter am Kofferraum, die Anouk gerade erklärte, dass er sich mit Cio jetzt auf keinen Fall aus dem Staub machen würde, schließlich hatten wir noch nicht zu Mittag gegessen. „Und du weißt doch wie gut Raphael kocht.“ Sie zog meine gelbe Reisetasche aus dem vollen Kofferraum und drückte sie mir in die Hand. „Es wäre schon beinahe ein Verbrechen, wenn du dir das einfach entgehen lassen würdest.“

„Ich bleibe gerne noch zum Essen“, erklärte Anouk und half meiner Mutter bei einem großen Koffer.

Hm, wenn er noch blieb, dann bekam ich vielleicht noch die Gelegenheit ihn später ein wenig auszufragen. Wegen der ganzen Angelegenheit mit Beatrice, war ich nicht mehr dazu gekommen, meine Cousine auszuquetschen. Und da sie morgen wieder zur Arcademy, konnte sie auch nicht so einfach mitkommen. Aber Anouk war hier und Anouk hatte sicher auch Antworten auf meine Fragen. Immer vorausgesetzt, ich traute mich auch sie zu stellen, schließlich war es ein himmelweiter Unterschied, ob ich die Situation mit Alina besprach, oder eben mit meinem stillen Cousin, der wahrscheinlich nicht mal wusste, dass unsere Cousine mir alles erzählt hatte.

„Schön.“ Zufrieden mit sich und der Welt zog meine Mutter die nächste Tasche heraus. „Wir werden euch dann nachher ein Taxi bestellen, dass euch in Cios Wohnung bringt und …“

„Du spinnst wohl!“, fauchte Cios Stimme wütend durch die Straße.

Nanu?

„Das werde ich nicht und da kannst du dich Kopf stellen!“, fügte er noch hinzu und wandte sich dann äußerst verärgert von seinem Vater ab.

„Cio!“, rief Diego. „Bleib stehen!“

Tat er nicht.

„Elicio!“

Oh je, was war denn jetzt schon wieder los? Was hatte Diego den gesagt, dass Cio aussah, als wolle er jemanden eine reinhauen? „Cio?“, fragte ich vorsichtig, als er bei mir ankam und mir etwas zu heftig die Tasche abnahm. „Alles okay?“

„Nur wenn du mit okay meinst, dass du mir deinen Verlobungsring zurückgibst, weil ich viiiel zu jung bin, um so eine wichtige Entscheidung zu treffen.“

„Was?“

„Elicio Evers!“, wütete Diego erneut und hielt mit langen Schritten auf seinen Sohn zu. „Wir sind noch nicht fertig!“

„Doch, sind wir! Es ist mir egal was du dazu zu sagen hast, Zaira wird meine Gefährtin werden und du kannst mich da lecken, wo die Sonne niemals hin scheint!“

Diego knurrte.

Meine Mutter schaute genauso wie Anouk verwundert zwischen den beiden hin und her. Nur mein Vater verhielt sich völlig ruhig und verfolgte die Szene mit kritischem Interesse.

Mir blieb nur die Stirn zu runzeln. Das kam mir doch irgendwie bekannt vor. Genau das hatte Papa vor zwei Tagen doch schon zu mir gesagt. Sogar mit fast genau den gleichen Worten.

Ich kniff die Augen leicht zusammen und fixierte meinen Vater. „Du warst es, oder?“, fragte ich auch ganz direkt. „Du hast Diego angerufen und ihm gesagt, dass wir heiraten werden.“ Nur so war es zu erklären, dass Diego hier auf uns gewartet hatte und seinem Sohn versuchte etwas auszureden, was Cio seinem Vater mit Sicherheit nicht anvertraut hatte. Das Verhältnis der beiden war eben ziemlich angespannt. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass mein Freund zu seinem Vater gegangen war, um ihn um Beistand und Rat zu bitten.

Mein Vater versuchte nicht mal sich in Ausreden zu flüchten. „Wenn ich es schon nicht schaffe dich zur Vernunft zu bringen, dann vielleicht er bei seinem Sohn.“

Das war doch … da blieb mir glatt die Sprache weg. „Was soll das? Du hast dich da überhaupt nicht einzumischen. Es ist mein Leben und es geht dich gar nichts an.“

„Solange ich dein Vater bin, geht mich alles, was mit dir zu tun hat, etwas an.“

Cio schnaubte. „Zaira ist kein kleines Baby mehr, dass sollte ihnen langsam mal bewusst werden. Sie ist eine erwachsene Frau und schon bald auch meine Gefährtin.“

So wie mein Vater ihm daraufhin die Fänge zeigte, war das wohl nicht der richtige Weg, um mit der Situation umzugehen. „Okay, stopp“, befahl ich, bevor hier noch Blut floss. „Papa“, versuchte ich es mit einer Geduld in der Stimme, die nur noch an einem seidenen Faden hing. Seit fast zwei Tagen strafte er mich nun schon mehr oder weniger mit Schweigen. Und jetzt zettelte er hier so eine Szene an? Das machte mich echt wütend. „Ich habe dir bereits erklärt, dass es nichts gibt – absolut nichts – was mich von Cio trennen könnte, also finde dich mit dem Gedanken ab, okay?“

„Nein es ist nicht okay“, sagte er sofort.

Diego nickte zustimmend. „Dein Vater hat recht. Ihr beide seid viel zu jung um euch jetzt schon für den Rest eures Lebens aneinander zu binden. Ihr könnt noch gar nicht verstehen, wie weitreichend eine solche Beziehung ist.“

„Wir können es herausfinden“, erklärte Cio. „Nein, wir werden es herausfinden.“

„Nein“, sagte Diego. „Ihr werdet euch nur eure Zukunft verbauen. Besonders du.“ Sein Finger richtete sich anklagend auf seinen Sohn. „Du hast in den letzten Jahren so nachgelassen. Deine Leistungen heben sich kaum mehr von den anderen ab. Das ist mittlerweile so auffällig, dass deine Trainer mich bereits mehr als einmal darauf angesprochen haben. Du warst einmal der Beste und jetzt bist du nur noch guter Durchschnitt – wenn überhaupt.“

Mit jedem weiteren Wort hatte Cio sich mehr angespannt. Jetzt war er fast steif wie ein Brett. „Tja, nicht jeder von uns kann so ein Überflieger sein wie du.“

„Das hat nichts damit zu tun, dass ich ein Überflieger bin, sondern mit deiner Nachlässigkeit. Wenn du dir nur mal ein wenig mehr Mühe geben würdest, könntest du schon längst viel weiter sein. Aber stattdessen hängst du albernen Träumen nach und willst die Verantwortung für eine bindende Partnerschaft übernehmen. Dabei schaffst du es nicht mal deinen Job manierlich zu verrichten und dort deinen Aufgaben verantwortungsvoll nachzugehen.“

„Warum sagst du so etwas immer?“, mischte ich mich ein, weil ich es einfach nicht mehr ertragen konnte wie Diego über seinen Sohn dachte. „Cio ist ein guter Umbra.“

„Nein ist er nicht“, widersprach er mir sofort. „Und du tätest besser daran, wenn du dich da raushältst.“

Bei dem scheltenden Ton runzelte meine Mutter auffallend die Stirn.

Cio baute sich drohend vor seinem Vater auf. „Sprich nicht so mit ihr“, knurrte er warnend.

Natürlich ließ Diego sich davon nicht einschüchtern. „Ich müsste nicht so mit ihr reden, wenn du nicht einfach mitten im Gespräch wegrennen würdest, anstatt dich wie ein Erwachsener mit mir zu unterhalten.“

Cio sah aus als könnte er seinen Ohren nicht trauen. „Gibst du mir gerade die Schuld daran, wie du mit meiner Verlobten redest?“

„Ich gebe dir die Schuld an dieser Situation! Wenn du nur mal ein wenig nachdenken würdest, bevor du handelst, dann hätte dir sehr schnell klar sein müssen, was für ein Fehler es ist überhaupt in Erwägung zu ziehen, jetzt schon eine solche Verbindung einzugehen. Es ist …“

„Hey!“, protestierte ich. „Hör auf ihn so anzugehen, zu so einer Entscheidung gehören immer zwei.“

„Ich habe auch nicht behauptet, dass du so viel gescheiter bist als Cio.“

Nun war es an meinem Vater, die Stirn leicht in Falten zu legen.

„Ich habe gesagt du sollst aufpassen wie du mit ihr sprichst.“ Wäre Cio in seiner Wolfsgestalt, hätte sich ihm wohl gerade das Nackenfell gesträubt.

Ich jedenfalls merkte, wie die Situation Zusehens außer Kontrolle geriet. Das mulmige Gefühl vertrieb langsam die Wut. Mir war von vorneherein klar gewesen, dass Diego nicht sehr erfreut über unsere Entscheidung sein würde, aber er war mich noch nie so direkt angegangen.

„Warum tust du das immer?“, fragte ich und hoffte schnell einen Weg zu finden, um die bevorstehende Eskalation noch abzuwenden. „Warum musst du alles was dein Sohn macht sofort niedermachen?“

„Niedermachen?“, fragte Diego und schien ehrlich überrascht. „Ich mache nichts nieder, ich versuche ihm nur die Flausen auszutreiben, die er danke dir hat.“

Cio knurrte.

„Was?“ Wovon bitte sprach er?

Meine Mutter trat einen Schritt nach vorne. Aus dem Stirnrunzeln war ein wachsamer Ausdruck geworden.

„Du bist doch der Grund für sein Verhalten“, erklärte er dann sehr eindringlich. „Seit er dich getroffen hat, versucht er nicht mal mehr sich zu bemühen. Es ist ihm alles egal, Hauptsache seine Zaira ist glücklich.“

Wie bitte?

„Ständig tauscht er Schichten oder nimmt sich an wichtigen Tagen frei, nur um ein paar Minuten mehr bei dir zu sein. Er trainiert nicht mehr außerhalb der Arbeitszeit und wurde wegen seines Verhaltens auch schon zwei Mal vom König getadelt. Und das ist allein dein Verdienst.“

„Jetzt reicht es aber!“ Cio zerrte mich hinter sich, als könne er mich damit vor Diegos Worten schützen. „Wenn du ein Problem mit mir hast, dann kläre das mit mir, aber halt sie da raus. Sie kann nämlich absolut nichts für deine Launen.“

„Das sowas von dir kommt, wundert mich nicht, aber du kannst nicht leugnen, dass ich recht habe. Zaira ist wohl der größte Fehler, der dir seit langem unterlaufen ist.“

„Jetzt halt mal die Luft an!“, fauchte meine Mutter und baute sich mit ihren beeindruckenden ein Meter sechzig drohend vor dem riesigen Mann auf. „Keine Ahnung welcher Floh dich gebissen hat, aber wenn du noch einmal so über meiner Tochter sprichst, ziehe ich dir die Krallen über den Hintern!“

Diego kniff die Augen leicht zusammen. „Das würde ich dir nicht raten.“

Oh mein Gott, hatte er etwa gerade meiner Mutter gedroht?!

„Diego hat recht“, mischte sich dann mein Vater ein. „Halt dich da raus, Gnocchi. Die Kinder sind doch schon so … erwachsen. Sollen sie das alleine klären.“

Mamas Augen blitzten wütend. „Mit dir rede ich später noch ein Wörtchen.“ Dann drehte sie sich zu Diego um. „Und du solltest nun besser gehen.“

„Ich gehe, sobald ich meinen Sohn zur Vernunft gebracht habe. Ich habe schon viel zu lange still danebengestanden und tatenlos zugeschaut. Es …“

„Zugeschaut?!“ Cio sah aus als wollte er seinen Vater gleich niederringen, um ihm ein wenig Vernunft einzubläuen. „Du mischst dich doch ein, wann und wo es dir passt! Und dabei ist es egal, ob ich um deine Hilfe gebeten habe. Wobei deine Hilfe meist sowieso keine Hilfe ist, sondern haltlose Vorwürfe!“

„Und jeder einzelne ist mit Recht ausgesprochen.“

Ich spürte wie meine Finger anfingen zu zittern und meine Haut unangenehm kribbelte. Was nur passierte hier gerade? Eben war die Welt doch noch in Ordnung gewesen und jetzt gingen alle aufeinander los.

„Du hast überhaupt kein Recht!“, fuhr Cio auf. „Ich bin erwachsen, krieg das endlich in deinen sturen Schädel. Die Zeiten in denen ich nach deiner Nase tanze, sind lange vorbei!“

„Abgesehen davon, dass ich dein Vater bin, bin ich auch dein Vorgesetzter und damit habe ich dir noch eine Menge zu sagen.“

„Dann sollte ich mich wohl besser versetzen lassen!“

Was? Nein! Hört doch auf.

„Hat sie dir das auch wieder eingeredet, oder ist das dein eigener genialer Plan?“

„Ich rede hier niemanden etwas ein!“, fauchte ich. Meine Hände begannen unkontrolliert zu zittern. Ich musste sie in die Achseln stecken, um sie zur Ruhe zu zwingen, doch dieses ohnmächtige Gefühl hier einfach nichts ausrichten zu können, sondern alles immer schlimmer zu machen, half mir nicht gerade dabei mich zu beruhigen.

Cio hob die Oberlippe. „Stell dir vor, ich kann meine Entscheidungen auch ganz alleine treffen. Sie hat weder etwas damit zu tun, dass ich sie als meine Gefährtin will, noch mit meinem Wunsch nach einem …“

Ich klatschte ihm panisch meine Hand auf den Mund und schüttelte hektisch den Kopf.

Diego sah lauernd zwischen uns hin und her. „Deinem Wunsch nach was?“

Meine Augen flehten, dass er den Mund halten würde, um das ganz nicht noch schlimmer zu machen. Er jedoch nahm nur meine Hand und hauchte einen Kuss darauf.

„Nein“, sagte ich leise, doch Cio überhörte mich einfach. Es war als wollte er seinem Vater nur noch eines auswischen, koste es was es wolle.

„Der Wunsch nach einem Kind mit ihr“, sagte er beinahe gelassen.

„Ein Kind?“, quietschte meine Mutter und meinem Vater fielen fast die Augen aus dem Kopf.

Diego sah aus, als würde ihm gleich der Kopf explodieren. „Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?!“, brüllte er ihn an. „Ein Kind?! Mit ihr?!“

„Hey!“, fauchte meine Mutter und dieses Mal beließ sie es nicht bei einem verbalen Angriff. Sie stieß Diego gegen die Brust – nicht, dass das etwas gebracht hätte. „Ich habe dir gesagt du sollst aufpassen was du sagst!“

„Mama!“ Bevor sie noch ein weiteres Mal auf den Vater meines Zukünftigen losgehen konnte, ergriff ich ihren Arm um sie zurückzuhalten.

„Nein, Donasie.“ Und dann begann sie ihn wirklich anzufauchen und ihm zu erklären, was sie alles tun würde, sollte er es noch mal wagen, so abwertend über mich zu sprechen.

Diego knurrte, während Cio ihm erneut erklärte, dass Diego sich fortscheren sollte, weil er hier nicht länger erwünscht war.

Ich spürte ein brennen in den Augen. Eigentlich sollte meine Zukunft doch rosig und farbenfroh vor mir liegen, doch jetzt schien alles plötzlich zu zerbröckeln. Worte voller Wut und Abneigung. Und dann all dieser Zorn. Nichts von dem was gerade geschah, konnte man wieder ungeschehen machen – absolut nichts.

Ich begann am ganzen Körper zu zittern und das hatte nichts damit zu tun, dass ich bis auf die Knochen fror. „Ich hoffe du bist glücklich mit dem was du angerichtet hast!“, zischte ich meinen Vater entgegen und spürte, wie weiches, schwarzes Fell durch meine Haut stieß.

Natürlich, dass hatte mir gerade noch gefehlt. Der Stresslevel war so hoch, dass sich nun meine Misto-Natur zu Wort meldete und versuchte mich in meine andere Gestalt zu zwingen.

Ich versuchte dagegen anzukämpfen, doch das tat weh, also ergab ich mich mit einem Jaulen meinem Schicksal.

„Zaira!“ Cio wollte nach mir greifen, doch da packte sein Vater ihn beim Arm. „Finger weg!“

„Wir sind hier noch nicht fertig! Sie wird wohl einen Moment ohne dich auskommen!“

Mein Körper geriet aus der Form, bis ich in einem anderen Leib steckte. Meine Brille fiel zu Boden, die Knöpfe an meinem Hemd sprangen auf, meine Hose glitt von meinem Fell ab, mein Verlobungsring rutschte mir vom Finger und landete klirrend auf dem Boden.

„Warte Donasie!“

Ich wartete nicht. Ich wich zurück, stolperte über meine Kleidung und biss hinein, um mich davon loszureißen. Alles war so schiefgelaufen, dabei sollte das doch eine der schönsten Zeiten in meinem Leben werden. Aber Papa hatte alles kaputt gemacht. „Ich hasse dich!“ Mein ganzer Schmerz schwang in diesen drei Worten mit.

„Lass mich verdammt noch mal endlich los!“, forderte Cio, doch ich war bereits auf dem Rückzug. Das hier war zu viel. Ich wollte nicht länger mitansehen, wie die Leute die ich liebte, sich gegenseitig zerfleischten, weil sie mit meiner Entscheidung nicht zurechtkamen. Weil sie sich etwas anderes für mich vorstellten und Dinge von mir wollten, zu denen ich einfach nicht bereit war.

Im Moment gab es nur eines was ich tun konnte und das war sich feige aus der Affäre zu ziehen. Also wirbelte ich herum, sprang über den Gartenzaun meiner Eltern und tauchte vorbei an ihrem Haus in den Wald dahinter ein. Dabei konnte ich wohl von Glück sprechen, bei dem Manöver nicht auch noch irgendwo gegen einen Baum zu rennen.

„Zaira!“, rief Cio mir hinterher.

Das dunkle Unterholz schluckte mich und meinen Tränen.

 

°°°

 

Lautlos schwebte das rötliche Blatt herunter und landete direkt vor meiner Nase auf den schattigen Waldboden. Es zitterte noch ein wenig im lauen Wind, blieb dann aber still liegen. Ich pustete dagegen und sah teilnahmslos dabei zu, wie es erneut ein Opfer der Schwerkraft wurde.

Seufzend legte ich den Kopf auf meine Vorderpfoten und starrte ins … naja, eigentlich war mein Blick allein auf meine Gedanken gerichtet. Um Mich herum war es finster. Das wenige Licht des Mondes reichte kaum durch die Baumkronen und verlor sich schnell in den dunklen Schatten – und das obwohl schon in ein paar Tagen Vollmond sein würde.

Ich wusste nicht wo genau ich war – ich schätzte irgendwo westlich vom Hof, aber sicher war ich mir nicht. Als die Verwandlung mich überkommen hatte, war ich einfach nur gerannt. Immer schneller, immer weiter, stundenlang. Und irgendwann, tief im Wald, als meine Beine einfach unter mir nachgeben wollten, wusste ich nicht mehr wo ich war. Es war mir auch egal, aber jetzt, bei Nacht, wo es immer kälter wurde, schaffte auch mein Fell kaum noch mich warm zu halten. Obwohl ich mir nichts so sicher war, ob das wirklich etwas mit den Temperaturen zu tun hatte.

Der Aufruhr in meinem Inneren … am liebsten hätte ich wieder angefangen zu heulen. Aber obwohl meine Augen brannten, verwandelte ich mich nicht in einen Schlosshund. Ich war einfach nur noch taub. Warum nur wollten alle mein Glück zerstören? Warum nur konnten sie sich nicht mit mir freuen und uns einfach Glück für die Zukunft wünschen? Glaubten sie denn wirklich alle, dass unsere Entscheidung so falsch war? Ich meine, Cayenne war sogar noch jünger als ich gewesen, als sie Sydney zum ersten Mal begegnet war. Und Papa … na gut, er war sechs Jahre älter gewesen, als er nicht nur auf Mama traf, sondern auch noch gleich mich als Bonus bekommen hatte, aber so viel älter war das auch nicht und er hatte es trotzdem hinbekommen. Gerade deswegen müssten er unsere Entscheidung nicht nur verstehen, sondern auch befürworten. Aber das taten er nicht. Genauso wenig wie Diego. Und nur deswegen lag ich nun mitten in der Nacht, völlig allein, irgendwo in einem gottverlassenen Wald und wusste nicht was ich als nächstes tun sollte.

Ich wusste nicht ob jemand nach mir suchte, oder ob sie zu Hause darauf warteten, dass ich aus der Versenkung zurückkehrte. Im Moment war mir das auch egal, denn ich wollte niemanden von ihnen sehen. Sie würden nur wieder alles kaputt machen.

Natürlich war mir klar, dass ich früher oder später wieder nach Hause musste, aber noch nicht jetzt, jetzt wollte ich einfach nur allein sein und nichts anderes hören, als die nächtliche Natur, die beruhigend über meinen Geist strich. So still und friedlich. Niemand hier versuchte mir irgendwelche absurden Vorschriften zu machen. Und niemand würde …

Als es plötzlich im Unterholz raschelte, merkte ich auf, legte dann aber sofort die Ohren an. Waren sie doch auf der Suche nach mir und hatten mich gefunden? Aber ich wollte nicht zurück – nicht jetzt. Ich wollte nicht wieder hören, dass ich mir angeblich meine Zukunft versaute.

Das Rascheln kam näher und dann trat ein Wolf zwischen den Bäumen hervor. Dadurch, dass ich im Moment keine Brille trug und das wenige Licht des Mondes es nicht schaffte die Schatten zwischen den Bäumen zu vertreiben, erkannte ich nur wenig mehr als die Umrisse. Das war braunes Fell, oder?

Ich hob die Nase ein wenig, nahm die Witterung auf und war dann doch ein wenig überrascht, über das Ergebnis meiner Analyse. Das war kein Lykaner, das war der wilde Wolf, der eigentlich immer nur im Umkreis von Papas Haus auftauchte.

Er stand lauernd im dichten Geäst und beobachtete mich aufmerksam. Mit Nase und Ohren prüfte er die Gegend, als fürchtete er eine unerwartete Überraschung, aber außer ihm und mir befanden sich im Umkreis nur ein paar kleine Nagetiere, die höchstens für das Gemüse im Garten eine Bedrohung darstellten.

Da ich ihn keinen Moment aus den Augen ließ – er war immerhin noch ein wildes Tier – erkannte ich genau den Moment, in dem er beschloss, es wäre ungefährlich sich aus der Deckung zu trauen. Vorsichtig machte er einen Schritt nach den anderen auf mich zu. Es schien ihn zu irritieren, dass von mir keinerlei Reaktion auf seine Anwesenheit kam.

Lauernd blieb er seitlich von mir stehen und starrte mich eindringlich an.

Ich konzentrierte mich so sehr auf diesen Blick, dass ich zusammenzuckte, als er plötzlich ein aufforderndes Jammern von sich gab und dann einen Satz zurück machte.

Er wartete, ob da noch mehr als nur das Zucken kam und als dem nicht so war, begann er mich zu umkreisen. Dabei hatte er den Stummel seiner einstigen Rute und Ohren freudig aufgestellt und kam mit jedem hin und her laufen immer näher.

Ihn im Auge zu behalten, während er mich ständig umkreiste war gar nicht so einfach. Deswegen bemerkte ich wohl auch erst, dass er mich beschnüffelte, als ich seinen warmen Atem auf meinem Rückenfell spürte. Ich riss den Kopf herum, weswegen er wieder einen Satz rückwärts machte. Aber er schien keine Angst zu haben. Er sah ehre so aus, als würde er mich jeden Moment auffordern mit ihm zu spielen.

Wieder begann er um mich herum zu laufen. Dabei machte er ein paar Mal auffordernde Kläffgeräusche. Eins ums andere Mal streckte er auch den Hals so weit wie es ging und schnüffelte an mir herum.

Anfangs ließ ich mir das noch gefallen, doch als er dann an meinem Hintern schnüffeln wollte, biss ich in seine Richtung. „Das lässt du schön bleiben!“ Natürlich wusste ich, dass er mich nicht verstehen konnte, doch meine hochgezogenen Lefzen waren eine deutliche Warnung – eine Warnung, die ihn freudig mit dem Stummel wedeln ließ. „Männer!“ Mehr gab es dazu wirklich nicht zu sagen.

Seufzend legte ich meinen Kopf zurück auf die Pfoten und beobachtete, wie der wilde Wolf drei Mal vor mir auf und ab lief, bevor er sich in einiger Entfernung niederließ. Er neigte den Kopf auf eine sehr hündische Art zur Seite, als versuchte er mich zu entziffern und robbte dann ein Stück auf mich zu. Seine rechte Pfote streckte er aus, als wollte er mich berühren, kratzte damit dann aber nur die Erde rund um meine Pfote auf.

Das war mir dann langsam doch ein wenig zu nahe. Ich stand auf, kehrte ihm den Rücken und ließ mich dann unter einer ausladenden Eiche im Wurzelwerk nieder. Vermutlich hätte es mich nicht verwundern dürfen, dass der wilde Wolf schon in der nächsten Minute wieder in meinem Sichtfeld auftauchte. Ein heiseres Kläffen drang aus seiner Kehle. Er scharrte mir der Pfote, als wollte er mich auffordern, wieder auf die Beine zu kommen.

Aber ich blieb liegen. Mir war nicht danach neue Freundschaften mit alten Bekannten zu schließen.

Der wilde Wolf ließ sich von meinem Mangel an Begeisterung nicht entmutigen. Er lief einmal vor mir auf und ab, dann ließ er sich fallen und robbte langsam auf mich zu.

Ich runzelte die Stirn. Das wirkte ja fast, als wollte er versuchen klein und unschuldig zu wirken, um mich nicht zu verschrecken. War das ein normales Verhalten für einen wilden Wolf? Ich wusste es nicht. Ja, ich konnte mich in einem Wolf verwandeln, das war ein Teil von mir, aber da ich Pferde statt Wölfe studiert hatte, war ich etwas ratlos. Vielleicht hatte dieser Wolf ja mal einem Menschen gehört.

Als er so nahe herangerobbt war, dass er nur den Kopf ausstrecken brauchte, um mich zu berühren, hielt er an. Zwar bewegte ich mich nicht von der Stelle, doch ich war angespannt, bereit wegzuspringen, sollte es nötig sein. Dieser Wolf machte zwar nicht den Eindruck, als sei er auf Krawall gebürstet, doch man konnte ja nie wissen.

Er jedoch gab nur wieder dieses klägliche Jaulen von sich. Dann streckte er den Kopf aus und berührte mich mit der Nase zögernd am Kopf. In dem Moment geschah etwas Seltsames. Vor meinem inneren Auge sah ich mich selber, wie ich aus dem Haus kam, angelockt von dem Geräusch der umgeworfenen Mülltonne. Dann stand dort ein Teller, ganz allein. Der herrliche Duft von rohem Fleisch stieg mir in die Nase. Dann rannte ich. Vor mir ein anderer Wolf, schwarz wie die Nacht. Nein, nicht ich rannte da, ich war der schwarze Wolf. Und ich war nicht alleine. Da war noch ein Wolf. Cio. Ich tollte mir ihm zwischen den Bäumen herum …

Der Bilderstrom riss urplötzlich ab und ich blinzelte verwirrt in die Dunkelheit. Was bitte war das gerade gewesen? Ich habe mich durch die Augen eines anderen gesehen. Misstrauisch musterte ich den Wolf, der mich mit aufgestellten Ohren aufmerksam beobachtete. Langsam bekam ich das Gefühl, das mit diesem Tier etwas nicht stimmte. Waren die Bilder von ihm gekommen? Von sowas hatte ich ja noch nie gehört.

Seltsam, wirklich seltsam.

Bevor ich mir jedoch weitere Gedanken darübermachen konnte, schreckte der Wolf mich auf, indem er plötzlich auf die Beine sprang. Vor Überraschung machte ich selber fast einen Satz, aber er beachtete mich gar nicht. Er lauschte in den Wald hinein und wirkte auf einmal ziemlich angespannt.

Plötzlich legte er die Ohren an und stellte den Rutenstummel steil auf. Das Fell in seinem Nacken sträubte sich, bis er fast doppelt so groß wirkte.

Über sein leises Knurren war nichts zu hören, doch dann stieg mir ein weiterer vertrauter Geruch in die Nase. Nein, es war nicht mein Vater, aber ich war mir nicht sicher, ob der hier so viel besser war.

Langsam, als hätte er alle Zeit der Welt, trat ein riesiger, sandfarbener Werwolf aus dem Unterholz hervor. Es war zwar immer noch so dunkel, dass ich kaum mehr als seine Umrisse sehen konnte, doch ich hatte Sydney oft genug vor Augen gehabt, um mir seine Fellfarbe problemlos in Erinnerung rufen zu können.

Sobald Sydney einen guten Blick auf uns hatte, blieb er stehen. Er blieb zwar wachsam, was den wilden Wolf betraf und musterte ihn einen Moment sehr eingehend, als wunderte er sich über seine Anwesenheit, konzentrierte sich aber in erster Linie auf mich. „Bist du verletzt?“

Ich zog den Kopf ein und legte die Ohren an. „Nein, mir geht es gut.“

Das bezweifle ich“, sagte er leise. Dann warf er urplötzlich den Kopf in den Nacken und stieß ein lautes Heulen aus.

Der wilde Wolf war hier nicht der einzige, der vor Schreck zusammenzuckte. Als Sydney dann ein zweites Heulen hinterher schob, waren wir gewappnet, naja, bis wir den mehrstimmigen Chor hörten, der ihm aus allen Richtungen antwortete.

Der wilde Wolf machte einen unsicheren Schritt rückwärts. Und als Sydney dann wieder den Kopf senkte und einen drohenden Schritt auf ihn zumachte, trat er komplett den Rückzug an. Ich schaute ihm hinterher, wie er ins Unterholz verschwand und uns von dort weiterhin beobachtete. Das war einfacher, als Sydnes Blick zu begegnen, als er sich vor mich setzte.

Sie suchen alle nach dir“, erklärte er leise. „Ich habe ihnen mitgeteilt, dass ich dich gefunden habe, damit sie sich keine Sorgen mehr machen müssen.“

Ich zog die Schultern ein wenig hoch, in der Hoffnung mich dahinter verstecken zu können – funktionierte nicht.

Deine Mutter hat angerufen und uns gebeten, bei der Suche nach dir zu helfen. Sie hat uns erzählt was passiert ist.“

Klar, warum auch nicht? Konnte doch die ganze Welt erfahren, was mein Leben im Moment für ein Familiendrama war. „Und, willst du mir jetzt auch erzählen, wie jung und dumm ich bin?“

Schweigend rollte er sich vor mir zusammen und machte es sich bequem. Dann fragte er: „Wo steht geschrieben, wann es gestattet ist zu lieben? Babys lieben ihre Eltern, Kinder das Leben und Erwachsene einander. Jeder liebt irgendetwas auf die eine oder andere Art. Nur weil der eine es nicht verstehen kann, heißt das für den anderen noch lange nicht, dass es nicht real ist.“ Er drehte den Kopf auf seinen Pfoten, um mich anschauen zu können. „Ist es dumm zu lieben und an diese Liebe zu glauben? Nein. Denn auch wenn sie nicht immer einfach ist, so ist sie es doch wert, dass man für sie kämpft.“

Das heißt du bist auf meiner Seite?“, fragte ich leise.

Sydney blinzelt einmal. „Ich muss gestehen, ihr beiden seid noch recht jung, aber warum muss das den heißen, dass ihr einen Fehler begeht, wenn ihr euch verbindet?“

Ähm … „Heißt das ja?“

Ich bin auf niemandes Seite, aber ich freue mich für dich und Cio und wünsche euch beiden alles Glück der Welt.“

Danke.“ Ich seufzte geknickt. „Wenn Papa das doch auch nur so sehen würde.“

Dein Vater ist ein gebranntes Kind. Die Trennung von Cayenne hat ihn damals schwer getroffen und er gibt den Lykanern die Schuld daran – allen voran mir.“

Ich runzelte die Stirn. „Papa ist seit vielen Jahren glücklich mit Mama zusammen.“

Sicher“, stimmte er mir sofort zu. „Er liebt deine Mutter und ich glaube auch nicht, dass es auf dieser Welt irgendetwas gibt, was ihn von ihr trennen könnte. Sie hat nicht nur sein Herz, sondern auch seine Seele gerettet, doch es gab eine Zeit, da bedeutete Cayenne ihm alles.“

So wie er das sagte, fragte ich mich einen kleinen Moment, wenn Sydney nicht gewesen wäre, wäre ich dann mit Kiara und meinen leiblichen Eltern aufgewachsen?

Die Trennung von ihr war für ihn sehr schwer gewesen und deswegen ist er von der Vergangenheit gezeichnet. In der Liebe sind die Lykaner für ihn die Bösen. Er ist sich dem selber vielleicht gar nicht bewusst, aber das ist der Grund, der ihn so handeln lässt.“

Das heißt aber noch lange nicht, dass es richtig ist was er tut“, ereiferte ich mich.

Sydney neigt zustimmend den Kopf. „Aber es lässt dich vielleicht verstehen.“

Irgendwo in der Nähe knackte im Unterholz ein Ast. Es raschelte.

Der wilde Wolf zog sich tiefer ins Gebüsch zurück, während Sydney den Kopf hob und ein leises Geräusch von sich gab. Im nächsten Moment schob sich eine elegante Wölfin zwischen den Büschen hervor und trat auf die kleine Freifläche. Ihr Fell hatte die Farbe von Gold, dass durch das Mondlicht beinahe zu strahlen schien.

Das war meine zweieiige Zwillingsschwester Kiara. Sie war all das, was ich nicht war. Schön, anmutig und … naja, okay, auch ein kleinen wenig arrogant.

Sie hatte nur einen kurzen Blick für mich übrig, bevor sie zu ihrem Vater stolzierte und ihrem Kopf an seinem rieb. Na gut, er war nicht wirklich ihr Vater. Das war bei den beiden genau wie bei mir uns meiner Mutter, also Tarajika. Der unterschied bestand darin, dass ich auch noch Kontakt zu meiner Erzeugerin hatte und diesen auch pflegte. Kiara dagegen akzeptierte nur Sydney als ihren Vater und wollte Papa absolut nicht in ihrem Leben haben.

Mama läuft zurück, um Raphael zu beruhigen und ihm zu sagen, dass du sie gefunden hast“, erklärte sie.

Ich schaute ein wenig gequält. „Hast du etwa auch nach mir gesucht?“

Sonst wäre ich ja wohl nicht hier.“ Sie setzte sich neben ihren Vater und bedachte mich mit einem hochmütigen Blick. „Alle suchen nach dir. Diego, Genevièv, deine Mutter. Selbst Joel hat sich auf die Suche gemacht, genau wie dein Cousin und Cio.“

Fantastisch.

Aber Aric und Kasper haben wir nicht erreicht. Und da Papa dich aufgespürt hat, brauchen wir das nun auch nicht mehr.“

Mit jedem weiteren Namen, bekam ich ein schlechteres Gewissen. Da hockte ich nun hier im finsteren Wald und bemitleidete mich selber, während die halbe Familie die Wälder nach mir absuchte. „Es tut mir leid.“ Ich wollte doch niemanden Umstände bereiten. Ich wollte einfach nur … keine Ahnung, mit meinen Gedanken allein sein, schätzte ich.

Es sollte dir nicht leidtun“, belehrte Kiara mich sofort. „Nachdem was Cio erzählt hat, sind eure Väter Schwachköpfe.“

Nudel“, mahnte Sydney seine Tochter und sprach sie mit ihrem Spitznamen aus Kindertagen an.

Die allerdings überhörte ihn einfach. „Ich an deiner Stelle wäre allerdings nicht weggelaufen, sondern hätte ihnen in den Hintern gebissen.“

Ja, anstatt feige die Biege zu machen, so wie ich es getan hatte. Dieser Gedanke ließ die Situation noch bitterer erscheinen.

Und jetzt lasst uns gehen, mir wird allmählich kalt.

Sydney stupst seiner Tochter in die Seite. „Wenn dir kalt ist, dann geh nach Haus. Zaira und ich werden noch ein bisschen hier liegen bleiben und die Nacht genießen. Oder möchtest du gehen?“

Der letzte Teil war an mich gerichtet und ich schüttelte den Kopf. „Nein, im Moment noch nicht.“

Kiara seufzte übertrieben. „Na schön, dann bleiben wir eben noch ein wenig. Ist ja nicht so, als könnte ich mit meiner Zeit etwas besseres anfangen, wie zum Beispiel schlafen.“

Ich schaute von ihr zu Sydney und senkte dann den Blick. „Du musst nicht hierbleiben.“ Genaugenommen wäre es mir sogar lieber, wenn sie wieder gehen würde. Sydney war … okay, aber wenn Kiara hier blieb, müsste ich mich zusammennehmen.

Schon gut“, sagte Kiara gönnerhaft. „Jetzt bin ich ja sowieso schon hier.“

Ich hätte tiefer in den Wald laufen sollen.

Nudel, vielleicht solltest du …“

Ist das da ein Wolf im Gebüsch?“, unterbrach sie ihren Vater und rümpfte angewidert die Nase.

Beide starren ins Unterholz und der Wilde fletschte die Zähne.

Er ist harmlos“, erklärte ich. „Er ist nur neugierig und folgt mir immer.“

Auf Sydneys Stirn entstand ein Runzeln. „Er folgt dir?“

Ich zuckte mir den Schultern. „Schon seit dem letzten Herbst. Ich glaube er ist einsam.“

Wie … ungewöhnlich.“ Sydney musterte die Schatten unter den Bäumen, in denen der Wolf kaum noch zu erkennen war. „Normalerweise gehen Wölfe uns aus dem Weg, weil sie uns für die größeren Raubtiere halten.“

Ich glaube er hat kein Rudel. Vielleicht sucht er ja deswegen meine Nähe.“

Schon möglich“, sagte er, aber es hörte sich nicht so an, als würde er an seine eigenen Worte glauben. „Du solltest in seiner Nähe aber vorsichtig bleiben.“

Ich weiß. Er ist und bleibt ein wildes Tier.“

Für zwei kurze Minuten, drangen nur die nächtlichen Geräusche des Waldes an meine Ohren. Aber Kiara schaffte es nie lange den Mund zu halten.

Im Moment ist ja immer eine Menge los“, sagte sie und rückte etwas näher an ihren Vater. Vermutlich war ihr kalt. „Mit diesem Amor-Killer meine ich. Zum Glück ist es nicht so offensichtlich, dass ich ein Misto bin, sonst hätte er es vermutlich auf mich abgesehen. Du weißt schon, das Goldkind des Rudels, das wäre sicher ein großer Triumph für ihn.“ Sie schauderte. „In den letzten Tagen schlafe ich nicht besonders gut und …“

Als plötzlich etwas mit Knacken und Brechen durchs Unterholz preschte, sahen wir alle auf. Dann stand jäh Cio mit hängender Zunge und bebenden Flanken vor uns. „Schäfchen!“, war alles was er sagte, bevor er auf mich zustürmte. Doch es war keine tierische Begrüßung, die mich erwartete, denn er nutzte die wenigen Meter, die uns noch trennten, um sich zu verwandeln und mich dann als Mann in seine Arme zu reißen. Dabei war ihm völlig egal, dass er nackt war und auch dass er Kiara fast umrannte, weil sie im Weg war. „Oh Gott Schäfchen, mach das nie wieder.“

Als er mich noch näher an sich heranzog, kuschelte ich mich bereitwillig in seine Arme und spürte erst in diesem Moment, dass es ein Fehler gewesen war, vor ihm davonzulaufen. Denn hier gehörte ich hin und nur hier fand ich den Trost, der sogar mein Herz besänftigen konnte.

Es tut mir leid“, flüsterte ich und vergrub die Nase an seinem Hals. „Aber als alle aufeinander losgegangen sind … es war zu viel, ich musste da weg.“

„Ist schon gut“, versicherte er mir und grub seine Hände in mein Fell. „Hauptsache dir geht es gut.“

Naja, wirklich gut ging es mir ja nicht, aber wenigstens hatte ich rein äußerlich nicht einmal einen Kratzer.

Cio schnupperte plötzlich an meinem Fell, stutzte dann und löste sich ein Stück von mir. Er schaute erst mich an, dann ließ er seinen Blick über die Schatten zwischen den Bäumen wandern, bis er den wilden Wolf entdeckte. Seine Oberlippe hob sich.

Der wilde Wolf tat es ihm gleich.

Er hat mir nur ein wenig Gesellschaft geleistet“, erklärte ich.

Cio hob eine Augenbraue. „Tut mir leid dir das sagen zu müssen, mein Schatz, aber dein ganzes Fell stinkt geradezu nach ihm.“

Nein, der Wolf stank nicht und ich auch nicht. Cio konnte ihn nur einfach nicht mehr ausstehen, seit er ihm auf sein T-Shirt gepinkelt hatte. „Er wollte nur mit mir spielen und ist dabei ein wenig übermütig geworden.“

Das gefiel Cio nicht, aber er beließ es einfach dabei. „Hauptsache mir dir ist alles in Ordnung.“

Ist es das denn?“, fragte ich leise und so dass nur er es verstehen konnte. „Dein Vater und mein Vater werden das sicher nicht so sehen.“

„Sie werden es akzeptieren.“

So wie sie heute reagiert hatten, konnte ich das nur schwerlich glauben. Papa hatte ja noch nicht mal etwas gesagt, als Diego Mama so angegangen war und sowas würde er normalerweise niemals zulassen. „Und wenn sie es nicht tun?“

Cio drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. „Die Antwort wird dir nicht gefallen.“

Wahrscheinlich. „Also läuft es darauf hinaus, mich zwischen meinem Vater und dir zu entscheiden.“

Er sagte nichts. Es war auch unnötig, denn ich hatte es auf den Punkt gebracht. Wie Cio sich entschieden hatte, war deutlich geworden, als er seinem Vater mitteilte, dass der ihn mal am Arsch lecken könnte. Aber das Verhältnis zwischen Cio und Diego war etwas ganz anderes, als das zwischen meinem Vater und mir. Ich konnte und wollte meinen Vater nicht hinter mir lassen. Aber genauso wenig konnte ich Cio den Rücken kehren. Allein der Gedanke daran ließ mein Herz vor Panik schneller schlagen.

Ich weiß nicht ob ich das kann“, gab ich zu.

Cio löste sich ein wenig von mir. Seine Hand wanderte an meinem Hals entlang. Dabei schien er sich gar nicht daran zu stören, hier splitterfasernackt mitten im Wald zu hocken. Das Kiara ihn neugierig musterte, bis Sydney ihr einen tadelnden Blick zuwarf, bemerkte er auch nicht. „Du wirst mich niemals loswerden“, versprach er. „Hast du das verstanden?“

Aber ich will euch doch beide in meinem Leben. Ihr gehört doch dazu.“ Ja, meine Stimme klang weinerlich, aber ich war eben auch ein wenig verzweifelt. „Ich kann keinen von euch verlieren, ich brauche euch doch.“

Seufzend zog Cio mich zurück in seine Arme. „Ich kann dir leider nicht versprechen, dass alles wieder gut wird, aber ich weiß, dass ich an deiner Seite bleiben werden, um dir zu helfen.“ Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn. „Und ich weiß auch, dass dein Vater sich in diesem Moment furchtbare Sorgen um dich macht. Es ist fast ausgerastet, als wir dich nach einer halben Stunde noch immer nicht gefunden hatten.“

Das konnte ich mir sehr gut vorstellen, wo er mich doch am liebsten dort hatte, wo er mich den ganzen Tag sehen konnte, um sicher zu sein, dass auch niemand gemein zu mir war. Dass er in diesem Fall derjenige welche war, der sich einfach grauenhaft verhielt, sah er vermutlich gar nichts. Wie Sydney schon gesagt hatte, gebranntes Kind und so. „Was soll ich denn jetzt tun?“

„Wie wäre es, wenn wir erstmal zurückgehen und dann weiter sehen. Langsam wird mein Hintern nämlich ganz schön kalt.“ Das gespielt fröhliche Lächeln wirkte nicht einmal annähernd echt.

Und dann? Er wird seine Meinung sicher nicht plötzlich geändert haben. Und dann ist da auch noch dein Vater. Er hat gesagt … er …“ Ich verstummte, als mir als die Vorwürfe von Diego wieder in den Sinn kamen. Bisher hatte ich sie ganz gut verdrängen können, doch sie hatten die ganze Zeit im Hintergrund gelauert. Besonders dieser eine Setz machte mir schwer zu schaffen. „Ich bin dein größter Fehler.“

Cios Züge verhärteten sich. „Hör nicht auf den Scheiß den mein Vater von sich gibt. Das ist wie der dämliche Rassismus von deinem Vater. Blödsinniges Gelaber ohne Sinn und Verstand.“

Wenn es doch nur so einfach wäre.

„Also komm, wir werden das schon schaffen.“

Da war ich mir nicht so sicher, aber je länger ich mich weigerte zu gehen, desto länger würde Cio hier im Adamskostüm sitzen. Nicht nur dass Kiaras Blick meiner Meinung nach ein wenig zu aufmerksam war, er könnte sich erkälten und ein kranker Cio war schlimmer als eine Horde Kindergartenkinder, die kein Mittagsschläfchen gehalten hatten. Außerdem wollte ich nicht schuld daran sein, wenn es ihm schlecht ging. „Okay“, sagte ich deswegen. „Lass uns gehen.“

„Okay.“ Er drückte mich noch einmal fest an sich, dann ließ er von mir ab, um sich dem Lied des Mondes hinzugeben.

Ich funkelte währenddessen Kiara an, doch die schien sich keiner Schuld bewusst zu sein. Sie hob nur elegant die Schultern, ganz nach dem Motto, wenn er hier nackt im Wald hockte, musste er damit rechnen.

Dem konnte ich zwar nur schwerlich widersprechen, gefallen musste es mir deswegen aber noch lange nicht. Cio war zwar ein Hingucker, aber er war mein Hingucker, was so viel hieß, wie, dass nur ich hingucken durfte. Aber zum Glück erhob er sich schon kurz darauf als schokobrauner Wolf, sodass es nichts mehr zum Hingucken gab.

Komm“, forderte er mich auf und stupste mich mit der Nase an, bis ich endlich auf meinen Beinen stand. Auch die anderen erhoben sich. Sydney schüttelte sich noch das Fell aus, bevor er seine Tochter schubste, damit die in Bewegung kam, doch ich schienen auf einmal wie erstarrt. Nachdem was Papa getan hatte, wusste ich einfach nicht, wie ich ihm gegenübertreten sollte.

Hab keine Angst,“ Cio schmiegte sich mit seinem ganzen Körper an mich, als wollte er so die Kälte aus meinem Körper vertreiben. „Ich lasse dich nicht allein.“

Versprochen?, hätte ich fast gefragt, verlegte mich dann aber auf ein einfaches Nicken und setzte mich zögernd in Bewegung.

Cio blieb dicht an meiner Seite, als hoffte er mir den Weg damit zu erleichtern. Vielleicht wollte er mir aber einfach nur das Gefühl geben, nicht alleine zu sein. Wenigstens das schaffte seine Anwesenheit. Und so trotteten wir durch den dunklen Wald.

Schon sehr bald musste ich feststellen, dass ich doch erheblich tiefer hineingerannt war, als mir selber bewusst gewesen war. Wenigstens war ich ausgeruht und fit für den Rückweg. Meine Begleiter dagegen waren schon seit Stunden auf den Beinen. Wieder packte mich das schlechte Gewissen.

Warum eigentlich? Ich hatte doch gar nichts falsch gemacht. Mein einziges Vergehen bestand darin, dass ich andere an meinem Glück hatte teilhaben lassen wollen. Wären Cio und ich doch einfach durchgebrannt und hätten unsere Eltern später einfach vor vollendete Tatsachen geschellt. Das wäre vermutlich viel einfacher gewesen.

Erzählst du mir, was in deinem hübschen Kopf rumspukt?“ Cio rempelte mich leicht an.

Nicht viel“, gebe ich zu. „Mir ist gerade nur der Gedanke gekommen, dass der Vegas-Plan vielleicht doch nicht unbedingt die schlechteste Idee ist.“

Vielleicht“, erwiderte er. „Aber jetzt freue ich mich schon viel zu sehr darauf dein Ritter in strahlender Rüstung zu sein, als das ich noch etwas anderes in Erwägung ziehen könnte.“ Er sagte das mit einer übertriebenen Ernsthaftigkeit, die mich lächeln ließ. „Obwohl, der Gedanke, dass du auf immer und ewig mir gehört und das schon jetzt, hat auch etwas Verlockendes.“

Einer Erwiderung lag mir bereits auf der Zunge, doch ich kam nicht mehr dazu sie auszusprechen, denn plötzlich raschelte es über uns im Geäst und keine Sekunde später fiel eine katzenhafte Gestalt aus der Baumkrone, direkt vor meine Nase.

„Donasie!“

Ein Lastwagen rammte mich. Okay, es war nur ein achtzig Kilo Panther, doch es fühlte sich wie ein LKW an. Meine Mutter begrub mich halb unter sich, während sie sich mit ihren Tatzen an mich klammerte und mir schnurrend übers Gesicht leckte.

Mama!“, protestierte ich und wand mich in ihrer Umklammerung. Natürlich wusste ich, dass sie mich nicht verstand, also fiepte ich noch ein wenig zur Verständigung, doch sie schnurrte nur lauter. „Mama, bitte, mit mir ist alles in Ordnung.“ Zumindest im Moment noch. Wenn sich ihre Krallen noch weiter in ein Fell bohrten, dann würde das bestimmt nicht mehr lange so bleiben. Halb verzweifelt blickte ich zu Cio auf, der das Ganze hab belustigt und halb besorgt beobachtete. „Hilf mir.“

Natürlich.“ Er drückte die Brust durch. „Ein Ritter in schimmernder Rüstung wurde bestellt? Hier bin ich, bereit mich in die Schlacht zu werfen, um die Jungfrau in Nöten aus den Klauen des …“

Cio!“, jammerte ich. Au! Da bohrte sich eine Kralle in meine Schulter.

Er warf mir einen gespielt bösen Blick zu und präsentierte sich dann zum zweiten Mal heute Nacht in seiner ganzen nackten Pracht mitten im Wald.

Kiara verharrte mitten im Schritt. Meine Mutter jedoch, murrte nur warnend, als er sie am Rücken berührt.

„Wenn du nicht aufhörst deine Tochter so zu umarmen, erwürgst du sie noch“, erklärte er, als würde er mit einem kleinen Kind reden.

Sie stellte das Schnurren ein und warf Cio einen bösen Blick zu. „Ich darf das, ich habe mir fürchterliche Sorgen gemacht.“

Danke Mama, das habe ich jetzt wirklich noch gebraucht.

„Das haben wir alle“, erklärte Cio ernst und machte meine Gemütsverfassung dadurch nicht unbedingt besser. „Aber Ziel der ganzen Aktion war es doch Zaira wohlbehalten in einem Stück nach Hause zu bringen. Wenn du so weitermachst, wird uns das nicht gelingen.“

Erst schaut sie ihn nur schweigend an, und versuchte ihn mit ihrem Blick in den Boden zu zwingen, doch dann sah sie mit einem Seufzen ein, dass er recht hatte. „Tu das nie wieder“, tadelte sie mich und rieb ihren Kopf an meinem. „Als wir dich nicht finden konnten … ich habe schon das Schlimmste befürchtet.“

„Das hat Zaira nicht gewollt“, erklärte Cio, noch bevor ich den Mund aufmachen konnte – was im Moment ja sowieso nichts gebracht hätte. „Das weißt du doch.“

„Natürlich weiß ich das, sie ist schließlich meine Tochter.“ Endlich ließ sie von mir ab, sodass ich wieder aufstehen und mir den Dreck aus dem Fell schütteln konnte. Trotzdem blieb sie noch so dicht neben mir, dass unsere Pelze sich gegenseitig berührten.

Ich schmiegte mich entschuldigend an sie und hoffte, dass sie verstehen würde, wie leid es mir tat. Ich wollte doch niemanden in Aufregung versetzten. Alles was ich gebraucht hatte, war ein wenig Zeit für mich allein. Und vielleicht wollte ich meinen Vater auch bestrafen – nur ein ganz kleinen bisschen. Aber jetzt war es an der Zeit sich dem Problem zu stellen, denn Weglaufen würde mich nicht weiterbringen. Und so waren wir, sobald Cio sich erneut verwandelt hatte, wieder auf dem Weg nach Hause.

Die ganze Zeit versuchte ich mich durch gutes Zureden auf das vorzubereiten, was nun unweigerlich vor mir lag. Ich sagte mir, dass wir uns alle zusammensetzen würden, um das Problem wie eine vernünftige Familie zu klären. Ich versuchte mir vorzulügen, dass Papa jetzt zuhören würde, dass er endlich begreifen könnte, nach dem kleinen Schreck, den ich ihm wohl eingejagt hatte.

Doch mit jedem Schritt den wir den angehenden Morgen entgegentraten, verstärkte sich das beklemmende Gefühl in meiner Brust. Ich schaute mich sogar ein paar Mal nach dem wilden Wolf um, um mich ein wenig von der bevorstehenden Konfrontation abzulenken, aber entweder versteckte er sich so gut, dass ich ihn nicht finden konnte, oder er war irgendwo im Wald zurückgeblieben, weil ihm das zu viel Trubel war.

Ich wünschte ich könnte es ihm gleichtun, einfach stehen bleiben, oder noch besser, wieder in die andere Richtung laufen. Das Haus meines Vaters war kaum noch hundert Meter von uns entfernt. Zwischen dem Geäst der Bäume konnte ich sogar schon das Dach durchschimmern sehen. Gut, vielleicht bildete ich mir da auch nur ein, aber ich wusste eben, dass das Haus gleich hinter der Baumreihe stand. Ich konnte die Witterungen der anderen hier bereits aufnehmen.

Endlich“, seufzte Kiara erleichtert und lief dem Sonnenaufgang etwas schneller entgegen. „Ich hoffe in diesem Haus gibt es eine schöne, warme Tasse Tee.“

Und wieder schlug das schlechte Gewissen über mir zusammen. Sie hatte die ganze Nacht nur wegen mir in der Kälte verbracht. Vielleicht übertreibt sie aber auch nur, versuchte ich mir einzureden. Es klappte genauso gut, wie der Versuch mich davon zu überzeugen, dass mein Vater in den letzten Stunden eine hundertachtzig Grad Drehung gemacht hatte.

„Komm schon, Donasie.“ Mama schmiegte ihren Kopf an meinen und schnurrte leise. „Lass uns nach Hause gehen.“

Da ich nicht glaube hier so schnell wieder wegzukommen, ließ ich einfach die Schultern und den Kopf hängen und folgte ihr aufs Grundstück. Wir hatten den Garten kaum betreten, da stürmte Cayenne aus dem Haus. Sie zögerte einen Moment und lächelte mich dann an. „Schön, dass es dir gut geht.“

Oh Mann, wollte sie das ich mich noch schlechter fühlte?

Sydney trottete zu ihr und stupste sie in die Kniekehle, bis sie ihre Hand in seinem Nackenfell vergrub. „Zaira ist nur ein wenig erschöpft.“

Meine Erzeugerin nickte verständnisvoll, doch in dem Moment kam mein Vater panisch aus dem Haus gerannt und meine ganze Aufmerksamkeit schwenkte auf ihn um. Er schaute mich an, als würde er einen Geist vor sich sehen. In seinen Augen tanzten Reue und Bedauern. Und als er dann auf mich zukam, wich ich beinahe schon instinktiv vor ihm zurück und versteckte mich hinter Cio und meiner Mutter.

Er blieb so abrupt stehen, als hätte sich aus dem Nichts eine Wand vor ihm aufgetan. Seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich.

„Warum gehst du nicht duschen, Donasie?“, fragte Mama mich. „Das wärmt dich wieder auf.“

Nach duschen war mir im Moment absolut nicht, doch es gab mir die Gelegenheit meinem Vater noch ein Weilchen auszuweichen, bis ich endlich wusste, was genau ich tun sollte. Darum ergriff ich meine Möglichkeit beim Schopfe und schlich unter Papas eindringlichem Blick in einem großen Bogen um ihn herum ins Haus. Cio blieb dabei so dicht neben mir, als wollte er mich mit seinem Körper abschirmen.

„Zaira“, hörte ich meinen Vater mit kläglicher Stimme sagen, was mich dazu brachte ins Haus zu stürzen, vorbei an Kiara, vorbei an Diego, Genevièv und Anouk, die alle mit im Raum waren. Ich rannte einfach schnell die Treppe herauf und war kurz versucht in mein Zimmer zu stürmen. Doch plötzlich erschien mir eine heiße Dusche beinahe himmlisch. Den ganzen Dreck und die Sorgen einfach im Abfluss verschwinden lassen.

Mir blieb gar nichts anderes übrig, als ins Badezimmer zu laufen. Doch bevor es mir gelang die Tür mit den Pfoten hinter mir zuzudrücken, drängte Cio sich noch mit in den Raum. Ich schaute ihn an, sah zu wie er sich mir vorsichtig näherte und plötzlich brannten meine Augen. Ich wollte etwas sagen, eine Entschuldigung lag mir schon auf der Zunge, dabei wusste ich eigentlich nicht mal, warum ich mich entschuldigen sollte. Aber es war auch egal, den Kein Wort drang aus meinem Geist, ich fing einfach an zu weinen.

Cio war sofort bei mir. Er hatte mich schon halb an sich gerissen, da war er noch nicht einmal fertig verwandelt. „Schhht“, machte er und strich mir tröstend über den Rücken. „Wir schaffen das schon.“

Ja, aber die Frage nach dem Ergebnis blieb offen. Warum nur konnte Papa sich nicht einfach für mich freuen? Ich meine, es war ja nichts so, dass ich Cio erst seit gestern kannte. Wir waren schon seit Jahren zusammen. Wir hatten so viel erlebt und durchgemacht. Warum nur sah mein Vater einfach nicht, dass auch wir schon Feuerproben hinter uns hatten?

Lange Zeit blieben wir in dem kleinen Raum. Ich versteckte mich in Cios Armen, bis er mich unter die Dusche schob und selber mit hinunter schlüpfte, als ich nur tatenlos darunter stand. Es war nicht so, dass ich plötzlich nicht mehr wusste, wie ich mich zu waschen hatte, ich war einfach nur müde und hatte nicht mehr die Kraft dazu, etwas anderes zu tun, als dumpf vor mich hinzustarren. Und die ganze Zeit musste ich daran denken, wer unten alles wartete und dass ich mich ihnen noch stellen musste. Dabei wollte ich mich einfach nur verkriechen und hoffen, dass der ganze Mist von allein an mir vorbeigehen würde.

Aber das würde er nicht. Probleme hatten die dumme Eigenschaft ein Eigenleben zu entwickeln, wenn man sich nicht um sie kümmerte und ich wollte gar nicht wissen, wie viel schlimmer es noch werden konnte. Zumindest müsste ich noch einmal runtergehen und mich bei den ganzen Helfern für die Suchaktion bedanken. Nur deswegen schaffte ich es wohl irgendwie in mein Zimmer, um mich in meine Klamotten zu stürzen. Irgendjemand hatte es sogar geschafft, meine Brille und meinen Verlobungsring auf meinen Schreibtisch zu legen. Ich hatte die Sachen bei meiner Verwandlung verloren, bevor ich in den Wald gelaufen war.

Auch Cios Sachen lagen in meinem Zimmer. Vermutlich hatte er sich hier verwandelt, bevor er mich gesucht hatte. Oder jemand hatte sie von der Straße aufgesammelt und in mein Zimmer gelegt. Schließlich hatte er heute mehr als einmal demonstriert, wie wenig es ihn interessierte, wer seinen nackten Hintern sah.

Es dauerte über eine Stunde und brauchte gute Zureden von Cio, damit ich noch einmal mein Zimmer verließ.

Die Sonne war mittlerweile über den Horizont geklettert und begrüßte den Tag mit den ersten warmen Strahlen. Trotzdem leuchtete im Wohnzimmer noch immer die Deckenlampe. Wahrscheinlich hatte sich einfach niemand die Mühe gemacht, sie auszuschalten.

Noch immer war der Raum völlig überfüllt. Cayenne saß im Schneidersitz auf den Boden, Sydneys Wolfskopf in ihrem Schoß. Kiara saß auf der Couch und vermied es tunlichst in Papas Richtung zu schauen. Neben ihr saß die kleine, puppenhafte Genevièv, Cios Mutter. Sie wirkte müde und erschöpft. Diego stand zusammen mit Cayennes Bodyguard Joel hinter der Couch und unterhielt sich leise. Anouk saß in einem unserer Sessel und schaute nachdenklich ins Nichts. Und meine Mutter lauerte in ihrer Katzengestalt neben der Treppe, als wartete sie nur darauf, dass ich runterkam, damit sie sich wieder auf mich stürzen konnte.

Doch meine Aufmerksamkeit galt meinem Vater, der unruhig Furchen in den Teppich lief. Als er mich auf den unteren Stufen erblickte, blieb er abrupt stehen.

Dieses kleine und eigentlich doch völlig unbedeutende Geste reichte aus, um die Aufmerksamkeit des ganzen Raumes innerhalb von einer Sekunde auf mich zu fokussieren.

Am liebsten hätte ich mich unter ihren Blicken gewunden und es war wohl allein Cios Hand, die verhinderte, dass ich auf dem Absatz kehrtmachte und wieder nach oben stürmte. Ich zwang mich dazu auch noch die letzten beiden Stufen hinabzusteigen.

Als Mama sich dann von ihrem Platz erhob und ihren Kopf an mich schmiegte, empfand ich das tröstlich und beruhigend. Das hatte sie schon gemacht, als ich noch ein ganz kleiner Windelpupser gewesen war. Das gab mir den Mut den Mund zu öffnen, doch noch bevor ich das erste Wort mit den Lippen formen konnte, machte mein Vater ein Schritt auf mich zu. „Zaira.“

Ich wich so abrupt zurück, dass ich Cio fast von den Füßen riss und als in Papas Augen dann auch noch ein verletzter Ausdruck aufflackerte, fraß sich meine plötzliche Wut mit einer Intensität durch mich hindurch, dass ich fast geknurrt hätte. „Sprich nur mit mir, wenn du dich entschuldigen willst.“

Cios Griff an meiner Hand wurde ein wenig fester. Aber ich konnte nicht sagen, ob es eine Ermahnung sein sollte, oder doch eher Zuspruch. Und es war auch egal. Im Moment war alles egal, bis auf das was mein Vater als nächstes sagen würde.

Papa jedoch runzelte nur verwirrt und auch leicht verärgert, die Stirn. „Warum soll ich mich bei dir entschuldigen? Du bist es doch gewesen, die kopflos in den Wald gerannt ist und alle in Sorge versetzt hat, weil sie stundenlang spurlos verschwunden war.“

Wieder wurde ich von meinem schlechten Gewissen eingeholt, aber dieses Mal ließ ich mich nicht davon runterziehen, dafür war ich viel zu wütend. Wie konnte er dort nur so selbstgefällig stehen und mir Vorhaltungen machen, wo das doch alles seine Schuld war? „Und wer hat hinterhältig einen Streit angezettelt, weil er seine scheiß Ängste nicht unter Kontrolle bekommt?“, fragte ich mit einem Knurren in der Stimme. Es war so unfair, dass er mir jetzt den schwarzen Peter zuschieben wollte.

Papa zeigte mir seine Fänge. „Ich musste doch etwas unternehmen, um dich von diesem lächerlichen Vorhaben abzubringen“, verteidigte er sich. „Woher sollte ich denn wissen, dass es so ausartet?“

„Du weist wie Diego und Cio sind, wenn sie aufeinandertreffen, es war dir von vorne herein klar, was passieren würde, wenn du die Hochzeit auf diese Art zwischen sie bringen würdest. Du wolltest, dass das passiert!“

Mein Vater schien von meinem Vorwurf richtiggehend geschockt. „Hörst du dir beim Reden eigentlich selber zu? Du erklärst mir gerade, dass es mein Wunsch war dich verstört in den Wald rennen zu sehen und Ewigkeiten nicht finden zu können.“ Jetzt wurde er auch sauer. „Meinst du ich habe mir gerne Sorgen gemacht?“

„Du bist doch schuld an der ganzen Situation!“

„Nein!“, widersprach er sofort. „Schuld ist diese räudige Töle neben dir, die …“

„Was erlaubst du dir?!“, fuhr Genevièv auf. „Das ist immer noch mein Sohn von dem du da sprichst, also pass besser auf was du sagst, es ist schließlich nicht seine Schuld, dass deine Tochter ihm den Kopf verdreht hat!“

Oh nein, bitte nicht. Würden sie wieder zu streiten beginnen, würde ich einfach anfangen zu schreien und mich dann zu einem kleinen Knäuel in embryonal Stellung zusammenrollen. „Hört auf!“, schrie ich. „Verdammt, mein Freund hat mich gefragt, ob ich seine Gefährtin werden will. Er will sein Leben mit mir verbringen und alles was ihr könnt, ist zu streiten und zu überlegen, wie ihr uns wieder auseinanderbringt! Das sollte die wundervollste Zeit in unserem Leben werden, aber ihr könnt alles nur kaputt machen!“ Zu meinem Entsetzen bemerkte ich, wie Tränen aus meinen Augenwinkeln liefen.

Betroffen machte Papa einen Schritt auf mich zu. „Zaira …“

„Nein!“ Ich schüttelte den Kopf, unwillig ihm auch nur einen weiteren Moment zuzuhören. „Ich will nicht mehr mit dir reden. Ich will dich nicht sehen, ich will …“ Oh Gott. „Ich will nicht mal im selben Haus mit dir sein.“ Ich ließ Cio los und stürmte an Papa vorbei in den Flur. Gerade war ich dabei mit den Füßen in meine Schuhe zu treten, da wurde ich am Oberarm gepackt und herumgerissen.

„Willst du schon wieder davonlaufen?“ Der Griff meines Vaters war nicht schmerzhaft, aber unnachgiebig, also machte ich mir gar nicht erst die Mühe mich gegen ihn zu wehren.

„Lass mich los“, verlangte ich.

„Nein, das werde ich sicher nicht. Oder glaubst du ich will wieder stundenlang im Wald umherirren, besorgt wann und wie ich dich finden werde?!“

„Keine Sorge, du brauchst nicht zurück in den Wald, denn ich werde bei Cio sein. Genaugenommen werde ich nun immer dort anzutreffen sein, denn ich werde keinen Moment länger mit dir unter einem Dach wohnen!“

„Was?“ Das hatte er nicht kommen sehen, doch die Überraschung wich schnell Verärgerung und sein Griff wurde fester. „Du wirst jetzt nicht wegen so einer Kleinigkeit verschwinden!“

„Kleinigkeit?!“ Ich glaube meine Ohren unterlagen einer Funktionsstörung. „Du versuchst mir gerade mein Leben vorzuschreiben! Das ist keine Kleinigkeit und ich habe es satt, dass immer alles nach deiner Nase laufen soll! Ich bin erwachsen verdammt! Ich kann meine eigenen Entscheidungen fällen und wenn ich dabei Fehler mache, schön, dann ist es halt so! Aber das sind meine Fehler! Meine Entscheidung! Mein Leben! Und solange du meine Beziehung und unsere Pläne für die Zukunft nicht respektieren kannst, brauchst du dich auch gar nicht mehr bei mir melden!“ Ich riss an meinem Arm. „Und jetzt lass mich verdammt noch mal los, du tust mir weh!“

Sein Griff löste sich so abrupt, als hätte er sich an mir verbrannt. Ich nutzte die Gunst der Stunde, riss die Haustür auf und stürmte nach draußen.

„Zaira!“

„Geh weg!“, weinte ich und wischte mir die Tränen mit dem Arm unbeholfen aus dem Gesicht.

„Nein, das werde ich nicht. Und du wirst …“

„Raphael“, unterbrach Cio ihn da. Er war uns nach draußen gefolgt. „Bitte, lass mich mit ihr sprechen. Ich weiß …“

„Ich soll dich mit ihr allein lassen?!“, fauchte er. „Du bist doch an dem ganzen Schlamassel schuld!“

Ich wirbelte herum und bleckte drohend die Fänge. „Lass ihn in Ruhe!“, fauchte ich. „Lass uns beide in Ruhe! Ich will dich absolut nicht mehr sehen!“

Im Türrahmen stand betroffen meine Mutter und schien nicht recht zu wissen was sie tun soll. So heftig hatten wir uns noch nie gestritten.

Papa sah aus als würde er gleich explodieren. „Ich bin immer noch dein Vater. Du kannst mich nicht einfach aus deinem Leben streichen, weil dir meine Ansichten nicht gefallen!“

„Ansichten?!“ Fast hätte ich gelacht. „Das sind keine Ansichten, das ist eine Hexenjagt. Und das eine sage ich dir.“ Ich machte einen wütenden Schritt auf ihn zu. „Zwingst du mich zu einer Entscheidung zwischen ihm und dir, wirst nicht du auf dem Siegertreppchen stehen.“

Mein Vater schaute mich an, als hätte ich ihn geschlagen.

„Wenn du versuchst ihn aus meinem Leben zu vergraulen, weil er kein Vampir ist, dann werde ich auch aus deinem verschwinden. Und Zwar für immer!“ Die Worte spuckte ich ihm mit so viel Wut entgegen, dass sogar meine Fänge in ihrer ganzen Länge ausfuhren.

Papa starrte mich stumm an. Sein Gesicht war so ausdruckslos, als würde es keine Emotionen kennen. Im nächsten Moment drehte er sich herum und marschierte ins Haus zurück. Hätte Mama nicht im Türrahmen gestanden, er hätte wohl die Tür hinter sich zugeknallt.

Ich stand da, weinte und hätte am liebsten auf irgendwas eingeschlagen. In meinem ganzen Leben war ich noch nie so wütend gewesen und hatte mich gleichzeitig so elendig gefühlt. Als ich mir die Tränen dann mit dem Arm aus dem Gesicht wischen wollte, stieß ich in meiner Hektik auch noch meine Brille von der Nase. „Verdammt!“, fluchte ich und hockte mich halbblind hin. Dabei verlor ich das Gleichgewicht und landete auf allen Vieren.

Ich krallte einfach die Hände ins Gras und versuchte mir die Tränen aus den Augen zu blinzeln. Warum nur konnte nichts – einfach absolut nichts – funktionieren?

Als sich zwei starke Arme um mich schlossen, ließ ich mich einfach hineinsinken und vergrub mein Gesicht an Cios Brust. „Ich wollte ihn doch gar nicht anschreien“, weinte ich leise. „Aber er macht mich so wütend!“

„Ich bin im Moment auch nicht unbedingt sein größter Fan.“ Er drückte mich ein wenig fester an sich. „Aber das wird sich schon wieder einrenken. Lass uns jetzt erstmal reingehen und ein wenig schlafen. Wenn wir aufstehen, sieht die …“

„Nein“, unterbreche ich ihn und löste mich ein Stück. „Es war mein Ernst, ich will keinen Moment länger mit ihm unter einem Dach wohnen.“

Sorge umwölke Cios Augen. „Das sagst du jetzt nur, weil du wütend bist. Wenn du erst darüber geschlafen hast, dann …“

„Willst du mir jetzt auch etwas einreden?!“, fragte ich spitz.

Seine Stirn runzelte sich ein wenig. „Nein, natürlich nicht.“

„Dann willst du nicht, dass ich bei dir einziehe?“

Sein Mundwinkel hob sich ein Stück. „Wenn du mich gelassen hättest, dann hätte ich deine Sachen schon vor Monaten in meine Wohnung getragen.“

Das stimmte wohl. Genaugenommen waren die Hälfe meiner Sachen bereits bei ihm, schließlich verbrachte ich fast meine ganze Freizeit mit ihm zusammen. „Dann hör auf dich quer zu stellen, ich will nicht länger hierbleiben.“

Er musterte mich intensiv und fragte dann: „Bist du dir sicher?“

„Wenn ich bei dir nicht unterkriechen kann, dann gehe ich eben zu Kaspar, aber ich bleibe nicht länger hier und höre mir diesen ganzen Mist weiter an.“ Sonst würde ich irgendwann einfach anfangen zu schreien und dann nicht mehr damit aufhören können.

„Okay“, sagte er dann und wischte mir mit dem Daumen eine Träne von der Wange. „Du kommst mit zu mir. Aber wir müssen trotzdem noch mal kurz rein.“

Meine Mundwinkel sanken herab. „Warum?“ Ich wollte doch einfach nur noch hier weg.

„Anouk ist noch da drin.“ Ein kleiner Kuss landete auf meinen Lippen „Du weißt schon, mein neuer Mitbewohner. Der sitzt in eurem Wohnzimmer und befürchtet sicher schon, dass man ihn vergessen hat.“

Um ehrlich zu sein, ich hatte meinen Cousin wirklich vergessen. Armer Anouk.

 

°°°°°

Nur ein Biss-chen

 

Eineinhalb Zimmer, große Fenster, ein kleines Duschbad, eine Küchenzeile im Wohnraum, kein Flur, das war Cios Wohnung. Im Besten Falle konnte man diese Behausung gemütlich nennen. Im schlechtesten … naja. Er war von heute auf morgen ausgezogen und hatte deswegen nicht wirklich Zeit gehabt wählerisch zu sein. Wenigstens war sie sauber und trocken, wenn auch unordentlich.

In den ganzen Jahren seiner Existenz, hatte mein Freund es nicht geschafft, eine gewisse Ordnung in einen Alltag zu bringen. Zwar hatte ich ein paar Mal versucht das Chaos zu beseitigen, aber da er danach nie etwas wiedergefunden hatte und es sowieso nie länger als ein paar Tage hielt, hatte ich es auch sehr schnell wieder aufgegeben.

Darum musste ich erstmal drei einzelne Schuhe aus dem Weg schieben, bevor ich vom Hausflur aus direkt in den Wohnraum trat. Jetzt noch der Länge nach hinzuschlagen war nämlich das Letzte was ich gebrauchen konnte. Ich war so müde, dass ich vermutlich einfach liegen geblieben wäre, um an Ort und Stelle ein kleines Nickerchen gehalten hätte. Keine besonders schmeichelhafte Vorstellung.

„Tut mir leid wegen der Unordnung“, entschuldigte sich Cio bei meinem Cousin. Es raschelte, als er eilig versuchte irgendwelche Kleidungsstücke an die Wand zu schieben. „Aber ich war nicht auf Besuch eingestellt.“

Anouk zuckte nur mit den Schultern. „Kein Problem.“

Wahrscheinlich sah es bei ihm zu Hause nicht viel besser aus.

„Ich leg mich hin“, murmelte ich leise und verzog mich dann schnell in das kleine Nebenzimmer, das kaum größer war als das schmale Bett, das darin stand. Eigentlich schliefen wir beide immer auf seiner Couch, aber jetzt wo Anouk hier war, wollte ich eine Tür haben, die ich hinter mir verschließen konnte.

Wie auf Autopilot kleidete ich mich bis auf den Slip aus und holte mir dann eines von meinen Schlafhemden aus der Holztruhe neben dem Bett. Es war ein hellblaues Hemd, das nur noch drei Knöpfe besaß, die es vorne nur spärlich zusammenhielten. Die anderen Knöpfe waren mit der Zeit alle verloren gegangen. Aber ich mochte dieses Hemd und kam daher gar nicht auf die Idee es wegzuschmeißen.

Während ich meine Sachen zusammenlegte, sie auf meiner Truhe verstaute und dann ins Bett unter die Decke schlüpfte, hörte ich, wie Cio sich bei Anouk für den leeren Kühlschrank entschuldigte und ihm das Sofa für die Nacht – oder, naja, eigentlich ja Tag – vorbereitete. Er zeigte ihm noch das Bad, das sich rechts neben dem Schlafzimmer befand und räumte ihm wie es sich anhörte eine Ecke für seine Sachen frei. Erst dann schlüpfte er zu mir in das kleine Schlafzimmer.

Seine Kleidung raschelte, als er sich auszog und sie achtlos auf den Boden fallen ließ. Mit einem Klicken erlosch das Licht der kleinen Tischlampe in der Ecke und es wurde dunkel im Raum. Zwar besaß dieses Zimmer ein kleines Fenster, doch es lag in einer schmalen Gasse, in die es nur selten ein Sonnenstrahl schaffte.

Als Cio nackt zu mir unter die Decke schlüpfte und mich in seine Arme nahm, kuschelte ich mich eng an seine Brust und vergrub das Gesicht an seiner Haut. Aber das war egal, da ich mich sowieso halb auf ihn rauflegen musste, damit wir beide hier drinnen genug Platz hatten.

Er nahm einen tiefen Atemzug, als könnte er zum ersten Mal seit Stunden richtig aufatmen und ließ seine Hand dabei in meinen Nacken wandern. Ich bekam eine Gänsehaut. „Hoffentlich erwartest du jetzt nicht jeden Morgen Frühstück ans Bett. Denk dran, ich bin ein lausiger Koch.“

Da war leider viel zu viel Wahres dran. Ehrlich, dieser Mann schaffte es sogar Wasser anbrennen zu lassen, einfach indem er den Topf auf dem Herd vergaß und unter die Dusche stieg. Aber ich wusste, dass es im Grunde überhaupt nicht darum ging. Cio versuchte mich zum Reden zu bringen, weil er sich unsicher war, was in meinem Kopf los war. „Was sollen wir denn jetzt tun?“, fragte ich darum ganz direkt.

Seine Hand verharrte einen Moment, bevor sie sich ein wenig fester um meinen Nacken schloss. „Bereust du deine Entscheidung?“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf und lehnte mich zurück, damit ich ihn anschauen konnte. „Natürlich nicht. Ich will deine Gefährtin werden und daran wird nichts etwas ändern können – auch nicht mein sturköpfiger Vater.“

Ein kleines Lächeln spielte um seine Lippen. „Das weiß ich doch. Ich rede von deinem Entschluss zu Hause auszuziehen. Ich meine, es kam schon ziemlich plötzlich.“

Das war mir natürlich bewusst, aber es war ja auch nicht so, als würde ich ins kalte Wasser springen, da ich im Normalfall ja sowieso schon sechs von sieben Tagen die Woche bei Cio verbrachte. Der einzige Unterschied war, dass es nun offiziell werden würde. Doch die Art und Weise wie es dazu gekommen war, erstickte jedes Glücksgefühl, das ich in einem solchen Moment eigentlich empfinden müsste.

Meine erste eigene Wohnung. Eigentlich ein besonders Schritt im Leben eines Menschen. Doch es fühlte sich einfach nur falsch an.

„Also bist du nicht glücklich damit“, schlussfolgerte er, als mein Schweigen zu lange wurde.

Was sollte ich dazu sagen? Es stimmte ja irgendwie. Und außerdem hatte ich im Moment keine Energie mehr, um mich noch weiter damit auseinander zusetzten. „Ich bin müde“, sagte ich leise und kuschelte mich fest in Cios starke Arme. Ich liebte diese Arme. Nicht nur dass sie sehr ansehnlich waren, sie schenkten mir auch eine Geborgenheit, die ich so noch nie erlebt hatte. Naja, zumindest bis ich ihn kennenlernen durfte. Seitdem genoss ich diese Umarmung, so oft wie ich nur konnte.

Cio seufzte nur, doch auch ihn hatte dieser Tag erschöpft und so wurde sein Atem mit der Zeit tiefer, während sein Körper sich Zusehens entspannte. Ich dagegen hatte einige Probleme mit dem Einschlafen und das obwohl ich so müde war, dass ich es nicht schaffte die Augen offen zu halten. Doch irgendwann, eingehüllt in Cios Wärme und seinem unverwechselbaren Geruch, übermannte mich der Schlaf dann doch und riss mich in unruhige Träume, in denen ein überdimensionaler Ring von der Größe eines Riesenrads durch die Gegend rollte und versuchte meinen Vater zu erwischen, während meine Mutter mit Pompons in einer Cheerleaderuniform am Rand auf und ab hüpfte und jubelte. Dabei war nicht ganz klar, ob sie den Ring anfeuerte, oder meinen Vater.

Ich erwachte erst gegen Mittag und zwar durch den Geruch von Essen. Mein Magen gab ein vernehmliches Knurren von sich, das jedem Wolf zur Ehre gereicht hätte. Doch ich wollte meinen warmen Kokon unter der Decke noch nicht verlassen, also tastete ich nach Cio. Leider musste ich dabei feststellen, dass ich nicht nur allein im Bett lag, sondern das Zimmer bis auf mich auch verwaist war. Klar, Cio hatte noch nie so viel Schlaf gebraucht, wie jeder andere Normalsterbliche, aber ich hätte mir trotzdem gewünscht, ihn beim Aufwachen neben mir vorzufinden. Doch leider lief im Leben selten etwas so wie man es sich wünschte. Als Beweisstück eins konnte ich die letzten Tage vorweisen.

Super, toll, jetzt war der ganze Mist wieder in meinem Kopf und machte das kuschlig warme Bett zu einem Pfuhl der Vorwürfe und Zweifel. Da schlug ich dann doch lieber die Decke zurück und erhob mich, um nachzuschauen, was Cio da kochte – denn zu meiner Verwunderung roch es wirklich gut.

Noch während ich mir den Schlaf aus den Augen rieb, trat ich mit einem „Morgen“ in den Wohnraum. Meine Brille hatte ich am Bett liegen lassen, denn trotz der ganzen Unordnung in diesem Raum, konnte ich mich hier blind bewegen. „Was machst du da?“

„Ich mache …“, sagte Anouk und drehte sich dabei um, nur um dann mitten im Satz zu erstarren.

Mir wurde glühend heiß bewusst, dass ich da wohl eine Kleinigkeit vergessen hatte und hier gerade in nichts als einem Slip und einem Hemd stand, an dem nur noch einer von drei Knöpfen geschlossen war.

Auf einmal rammte mich etwas in die Seite und im nächsten Moment war ich von Kopf bis Fuß in eine Decke eingewickelt.

„Ich glaube du hast vergessen, dass wir die nächsten Tage nicht allein sind“, sagte Cio dich an meinem Ohr und drängte mich zurück Richtung Schlafzimmer. Dabei schirmte er mich mit seinem ganzen Körper vor Anouks Blick ab.

„Glaube ich auch.“ Ob mein Gesicht so leuchten rot aussah, wie es sich anfühlte? Oh Gott, ich hatte gerade praktisch nackt vor meinem Cousin gestanden!

„Tu mir bitte den Gefallen und zieh dich erstmal an.“

„Tut mir leid.“ Eilig drehte ich mich herum und flüchtete dann mit der Decke zurück ins Schlafzimmer. Bevor ich die Tür hinter mir zuschlug, sah ich noch wie Cio in Anouks Richtung knurrte und sich dann auf den alten Sessel neben dem flachen, überfüllten Couchtisch warf. Vermutlich hatte er schon darauf gesessen, als ich rausgekommen war.

Oh Gott, ich würde Anouk nicht mehr unter die Augen treten können. Am besten wäre es vermutlich einfach das Land zu verlassen. Dann würde ich noch viele meiner anderen Probleme hinter mir lassen können. Leider waren das nur Luftschlösser, die rein gar nichts bewirken würden, also regelte ich mich so weit runter, bis ich wieder meine natürliche Gesichtsfarbe hatte, schlüpfte dann in eine ausgebeulte Jogginghose und ein großes Shirt, das eigentlich Kaspar gehörte – oder Aric? – und huschte dann wieder in den Wohnraum. Dabei vermied ich es tunlichst, auch nur einen der beiden Männer anzuschauen und verschwand direkt im Bad.

Nach meiner Morgenwäsche und gutem Zureden, dass es doch völlig egal, war was Anouk gesehen hatte, oder eben auch nicht, nahm ich mein Tablet aus der Reisetasche, die Cio für mich gestern noch aus dem Haus geholt hatte und warf mich damit auf die Couch. Besser ich tat so als sei ich schwer beschäftigt, als mich der Peinlichkeit des Moments zu stellen.

Zu meinem Leid war mein Cousin besser erzogen als ich. „Möchtest du etwas essen?“, fragte er. „Ich habe Vollkornspagetti mit Kräuterpesto gemacht. Rein vegetarisch.“

Oh Mann, nach diesem letzten Wort musste ich einfach lächeln und war gleichzeitig auch ein wenig erstaunt darüber, dass mein Cousin daran gedacht hatte, dass ich kein Fleisch aß. „Gerne“, sagte ich deswegen und fügte etwas leiser hinzu. „Tut mir leid wegen meinem Aufzug eben.“

„Tu das nur nie wieder, ich mag meinen Kopf nämlich da wo er ist.“

Während ich beobachtete, wie er mir den Rücken kehrte und mir an der Küchenzeile einen Teller vollmachte, versuchte ich herauszufinden, was er damit gemeint hatte. Warum sollte ich ihm denn den Kopf abreißen? Es war doch mein Fehler gewesen. Aber dann fiel mein Blick auf Cio und ich musste mich einfach fragen, ob er irgendetwas zu Anouk gesagt hatte. Wäre auf jeden Fall ziemlich unfair, da er ja gar nichts getan hatte.

Für Anouk schien sich das Thema damit allerdings erledigt zu haben. Er reichte mir einen köstlich duftenden Teller und setzte sich dann neben mich auf die heute relativ ordentliche Couch und zog einen Laptop auf dem Tisch zu sich heran.

Ich blinzelte. Wow, das war nicht die alte Schrottkiste von Cio, die schon stöhnte und ächzte, wenn man nur daran dachte, sie einzuschalten. Dieses Gerät schien nicht nur ziemlich neu, ich entdeckte auch wirklich teure Programme auf dem Desktop. Überwiegend Fotobearbeitungsprogramme. Und das Hintergrundbild erst. „Hast du das gemacht?“

Er nickte und schaltete schnell den Browser ein, bevor ich die Möglichkeit hatte mit das in Schwarzweiß gehaltene Aktfoto näher anzuschauen.

„Du musst mir dringen einmal ein paar von deinen Arbeiten zeigen“, erklärte ich und schob mir eine Gabel voller Nudeln in den Mund. Es schmeckte zwar nicht so gut wie bei meinem Vater, aber mein Magen bedankte sich trotzdem mit einem zustimmenden Knurren. Außerdem würde ich mich wohl sowieso daran gewöhnen müssen, dass ich in Zukunft wohl eher selten an die Hausmannskost meines Vaters kam.

Auf einmal schmeckten die Nudeln nur noch wie Pappe. Mit einem Mal wurde mir klar, wie viel sich in nächster Zeit in meinem Leben ändern würde und mir verging der Appetit. Es war nicht nur das Essen meines Vaters. Ab sofort würde mein Zuhause ein anderer Ort sein. Ich würde meine eigene Familie gründen – ohne Kinder, auch wenn Cio das wohl noch immer nicht so sah. Vielleicht sollte ich mir wieder einen Hund anschaffen.

Seit Flair mir damals so grausam genommen worden war, geschah es immer mal wieder, dass ich über einen neuen Gefährten nachdachte. Leider hatte ich immer so wenig Zeit und war ständig unterwegs. Aber jetzt würde sich das ändern. Vielleicht war das ja der passende Zeitpunkt, über ein neues Familienmitglied nachzudenken.

Oh Mann, was überlegte ich da eigentlich? Ich sollte erstmal meine Sachen auf die Reihe bekommen, bevor ich ein unschuldiges Wesen mit in diese Seifenoper brachte.

Ich zwang mich eine zweite Gabel mit Spagetti vollzuladen und mir in den Mund zu schieben. Hauptsächlich um Cios bohrenden Blick auszuweichen. Wenn ich förmlich im Stress ertrank, hatte ich nämlich die dumme Angewohnheit, das Essen einzustellen. Das hatte schon mehr als eine Diskussion zur Folge gehabt. Und nach gestern, wollte er wohl sichergehen, dass der nächste Windhauch mich nicht einfach umpustete.

Manchmal war der Kerl wirklich eine schreckliche Glucke.

Um seinen bohrenden Blick zu entgehen, beugte ich mich vor und schaute was Anouk da trieb. Klar, das gehörte sich zwar nicht unbedingt, aber es war ja auch nicht so, als wollte ich ihn ausspionieren. Auf seinem Rechner war eine lange Liste. Leider schaffte ich es auf die Entfernung nicht die kleine Schrift zu entziffern. „Was machst du?“

„Ich schaue nach Immobilien in Silenda.“

Klar. War ja auch eine dumme Frage gewesen, schließlich war das der Grund, warum Anouk hatte mitkommen wollen. Obwohl ich mir sicher war, dass meine Oma da irgendwie die Finger mit im Spiel hatte. „Und, schon was Passendes gefunden?“ Ich nahm noch eine dritte Gabel zu mir und stellte den Teller dann trotz Cios Missbilligung auf den Tisch. Wenn ich an Pappe rumkauen wollen würde, hätte ich mir eine Küchenrolle in den Mund geschoben.

„Ein paar Wohnungen hören sich ganz interessant an.“ Er klickte eine an und rutschte dann ein Stück, damit ich es mir anschauen konnte. Eine Einzimmerwohnung, die nicht mal ein eigenes Bad hatte.

„Ähm …“, machte ich nicht sehr gescheit. „Du suchst einen Abstellraum?“

„Ich brauche nicht viel Platz.“

„Ja, aber du wirst doch wenigstens eine eigene Toilette brauchen, oder? Rutsch mal.“ Ohne ihm die Gelegenheit für Wiederworte zu geben, drängte ich ihn zur Seite und machte mich über die Tastatur her. Ich brauchte nicht lange, um ein paar halbwegs manierliche Unterkünfte zu finden, die preislich machbar waren und wenigstens ein kleines Duschbad beinhalteten.

„Schau mal hier“, sagte ich und drehte den Bildschirm, damit er die aktuelle Anzeige sehen konnte. „Das ist gar nicht so weit weg und die haben morgen ein Besichtigungstermin.“

„Ja, sieht okay aus.“

Männer! „Ich schreib dir mal die Adresse auf. Und auch die von der anderen Wohnung, die ich gefunden habe. Die kannst du dir morgen auch anschauen. Aber am besten gucke ich noch mal ein wenig weiter, vielleicht finde ich ja noch etwas Besseres.“

Cio lachte leise. „Ich glaub nicht, dass du deinen Cousin das Händchen halten muss.“

„Ich halte hier gar nichts. Aber im Gegensatz zu dir habe ich noch drei freie Tage, bevor ich wieder zur Arbeit muss und die kann ich doch nutzen, indem ich ihm helfen.“

Cio seufzte gequält, als ich ihn daran erinnerte, dass er heute Nachmittag noch zum Dienst musste.

„Weißt du was?“, fügte ich dann hinzu. „Ich komme morgen einfach mit, nicht dass du dich noch in der Stadt verläufst.“

Ja mir war sehr wohl bewusst, dass mein Cousin nicht nur ein erwachsener Mann war, sondern auch noch sieben Jahre älter. Aber so hatte ich wenigstens eine Beschäftigung und würde nicht anfangen durchzudrehen, um den Gedanken in meinem Kopf zu entkommen.

„In Ordnung, aber morgen früh muss ich erstmal ins Studio zu meinem neuen Chef.“

„Kein Problem.“ Ich beugte mich wieder über den Bildschirm um eine andere Anzeige genauer unter die Lupe zu nehmen, verwarf sie aber sehr schnell wieder. Das war bloß ein Zimmer einer Wohngemeinschaft von mehreren Studenten. Andererseits … „Was hältst du von WGs?“

„Nichts.“

Das war mal eine klare und deutliche Ansage. „Zu viele Unruhestifter?“, vermutete ich.

„Zu viele Fremde“, korrigierte er mich.

Oh-kay. Ich erklärte ihm nicht, dass man Fremde kennenlernen konnte, indem man sie … naja, kennenlernte eben und beließ es einfach dabei. „Okay, für dich also ein kleines, einsames Zimmer.“

Als es an der Tür klingelte, erhob Cio sich von seinem Platz, um uns nicht bei unseren Recherchen zu stören. Wahrscheinlich bereute er nach meiner kleinen Showeinlage in nichts als einem beinahe knopflosen Hemd schon Anouk bei sich einquartiert zu haben.

„Klick mal hier rauf“, bat mich mein Cousin.

Ich tat es und schaute dann an ihm vorbei zur Tür, als Cio sie öffnete. Als ich dann jedoch das umschattete Gesicht meines Vaters sah, erstarrte ich einfach.

„Kann ich mal mit Zaira sprechen?“

Die beiden schauten sich an, als wollten sie einander herausfordern. „Das ist nicht meine Entscheidung“, erklärte Cio dann, trat ein Stück zur Seite und schaute mich fragend an. „Schäfchen?“

Mein erster Impuls war es aufzuspringen und mich im Schlafzimmer zu verkriechen. Mein zweiter ihm vorher noch anzuschreien und anschließend ordentlich die Türen zu knallen. Letztendlich erhob ich mich jedoch einfach still, verschränkte die Arme vor der Brust und trat hinaus in den heruntergekommenen Hausflur. Sich vor ihm zu verstecken, würde das Problem nicht verschwinden lassen. Und außerdem war er zu mir gekommen. Das hieß er wollte reden. Und ich wollte diese Sache zwischen uns unbedingt klären.

Aber dieses Mal war es nicht an mir den Anfang zu machen, also blieb ich still, während Cio die Tür bis auf einen kleinen Spalt schloss und uns damit wenigstens den Anschein von Privatsphäre gab.

Mein Vater wirkte wirklich müde. Unter seinen Augen lagen tiefe Augenringe und bei einer genauen Musterung stellte ich fest, dass er noch immer die gleiche Kleidung wie heute Morgen trug. Hatte er in den letzten Stunden überhaupt ein Auge zugetan?

Ich wollte ihn fragen und gleichzeitig mit ihm schimpfen, wie er so hier auftauchen konnte. Er war sicher mit seinem Wagen hergekommen, anstatt sich ins Bett zu legen und ordentlich auszuschlafen. Da ich aber sauer auf ihn war, verbot ich es mir auch nur eine Regung zu zeigen und wartete einfach ab.

Nach einem kurzen Blick auf den offenen Spalt der Wohnungstür, rieb Papa sich über den Nacken. „Deine Mutter ist richtig sauer auf mich. Sie hat mir ordentlich den Marsch geblasen.“ Er versuchte es mit einem Lächeln, das außerordentlich gequält wirkte. „Ich glaub sogar die Nachbarn haben mitbekommen, wie sie mich gegen die Wand gehustet hat.“

Erwartete er jetzt Mitleid von mir?

Das klägliche Lächeln verrutschte und wurde zu einem Seufzen. „Sie sagt ich darf erst dann wieder zurück ins Schlafzimmer, wenn ich meinen gesunden Menschenverstand wiedergefunden habe.“

Ein „Ich verstehe worauf sie hinaus will“ konnte ich mir nicht verkneifen.

Papa atmete einmal tief ein und ließ dann die Schultern hängen. „Ich glaube, sie befürchtet, dass wir dich wegen meinem Verhalten verlieren könnten.“ Seine Lippen drückten sich einen Moment aufeinander. „Und wenn ich ehrlich bin, dann befürchte ich das auch.“

Oh nein, wie sollte ich den wütend bleiben, wenn er sowas sagte? Nein, du lässt dir jetzt keine Schuldgefühle einreden, das hat er verbockt, also bleib stark! Ja, sonst würden wir nächste Woche wieder vor dem gleichen Problem stehen. „Dazu hast du auch allen Grund.“

Man musste meinen Vater zugutehalten, dass er bei diesen Worten nicht zusammenzuckte. Doch ich sah den aufkommenden Schmerz in seinen Augen. „Ich möchte mich bei dir entschuldigen“, gestand er dann endlich. „Was ich gesagt habe und was ich getan habe … es tut mir leid. Als du verkündet hast, dass du Cio heiraten würdest, habe ich einfach den Kopf verloren. Du warst immer mein kleines Mädchen und du hast dein ganzes Leben zu mir aufgesehen, aber dann war er plötzlich da und auf einmal war ich nicht mehr länger dein Held.“

Ähm … okay. „Du bist eifersüchtig auf Cio?“

Ein schmales Lächeln erschien auf seinen Lippen. „So weit würde ich dann nicht gehen.“ Er seufzte schwer. „Ich schätze, ich habe einfach Angst mein kleines Mädchen zu verlieren.“

„Dein kleines Mädchen gibt es nicht mehr“, sagte ich viel sanfter, als ich es eigentlich vorgehabt hatte. Mir war doch wirklich nicht mehr zu helfen. Ich sollte toben und sauer sein. Stattdessen wollte ich den Frieden zwischen uns zurückhaben. „Ich bin erwachsen, Papa und du musst einfach hoffen, dass du mich gut genug aufgezogen hast, um ein selbständiges Leben führen zu können. Dazu gehören auch lebensverändernde Entscheidungen. Du kannst nicht immer versuchen, mich vor der großen bösen Welt zu beschützen, dafür bin ich mittlerweile einfach zu alt.“

„Ich weiß“, gestand er ein und verlangter sein Gewicht unruhig von einem Bein auf das andere. „Ich weiß das du recht hast und dass du viel reifer und erwachsener bist, als ich mir eingestehen möchte, aber mit einem hast du unrecht. Ich werde immer versuchen dich zu beschützen, auch wenn es dir nicht passt.“ Auf seinen Lippen erschien ein klägliches Lächeln.

„So wird das aber nicht funktionieren“, sagte ich leise. „Nicht wenn du es nicht schaffst, meine Entscheidungen zu akzeptieren. Du musst sie nicht mögen, aber doch wenigstens so viel Anstand aufbringen, sie mich treffen zu lassen – egal welche Folgen sie haben.“

„Ich weiß.“

Ich war noch nicht fertig. „Deine Meinung ist mir wichtig und wenn ich deine Hilfe brauche, dann werde ich auch zu dir kommen und mir deinen Rat holen, aber was du getan hast, das war einfach gemein von dir. Nicht nur das du versucht hast meine Pläne zu ruinieren, weil dir mein Freund nicht gefällt, du hast ihn auch auf eine Art beleidigt, die einfach unfair ist und dann noch seine Familie mit hineingezogen, um einen riesigen Streit vom Zaun zu brechen.“

„Ja, das war keiner meiner gescheiten Momente gewesen.“

„Nicht gescheit? Du weißt wie angespannt das Verhältnis zwischen Cio und seinem Vater ist. Hast du wirklich geglaubt, dass du es durch so eine Aktion besser machst?“

„Nein“, gab er kleinlaut zu. „Ich muss zugeben ich habe überhaupt nicht näher darüber nachgedacht. Ich wollte nur, dass du das Ganze noch mal überdenkst, aber Cio hat dir sosehr den Kopf verdreht, dass …“ Er unterbrach sich, als er merkte, in welche Richtung seine Worte schon wieder gingen. „Was ich eigentlich sagen will, ist, dass ich nicht verstehen wollte, wie wichtig dir dieser Junge ist. Aber als du gestern gedroht hast dich von uns abzuwenden … ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass er dir wirklich so viel bedeutet.“

„Papa, wir sind jetzt dreieinhalb Jahre zusammen. Was glaubst du denn, was uns die ganze Zeit zusammengehalten hat? Unsere Vorliebe für Pizza?“

„Nein“, gab er geschlagen zu, vermied es aber das Thema weiter zu vertiefen. War vermutlich auch besser so. „Aber ich werde dir auch nicht länger reinreden. Wie du schon gesagt hast, es ist deine Entscheidung und dein Leben. Ich werde jetzt nicht so tun, als würde ich mich über deine Pläne freuen, da ich einfach meine Zweifel habe, aber ich werde auch nicht mehr versuchen dich aufzuhalten.“

„Wirklich?“, fragte ich vorsichtig. Das war zwar nicht genau das was ich hatte hören wollen, aber einen besseren Deal würde ich von ihm in nächster Zeit wohl auch nicht bekommen. „Du wirst also nichts mehr gegen die Hochzeit sagen. Und auch nichts dagegen, dass ich ausziehen werde?“

„Nein“, sagte er mit einem deutlich knurrigen Unterton in der Stimme. Fiel ihm wohl doch nicht so einfach, wie er versuchte vorzugeben. „Ich werde mich ab jetzt raushalten, aber vergiss nicht, wenn du mich brauchst, bin ich immer da, um zuzuhören.“

„Danke.“ Ich fiel ihn um den Hals und drückte ihn ganz fest an mich.

Auch er schlang seine Arme um mich, glücklich dass ich nicht länger vor ihm zurückschreckte. „Ich habe mich wie ein Dummkopf verhalten.“

„Ja hast du“, stimmte ich ihm ohne das kleinste bisschen Raue zu und löste mich wieder von ihm. „Aber du hast es noch rechtzeitig erkannt.“

„Zum Glück.“ Er verzog gequält das Gesicht. „Jetzt muss ich nur noch deine Mutter davon überzeugen, dass ich geläutert bin und hoffen, dass sie mich wieder ins Haus lässt.“

Ich schaute erstaunt zu ihm auf. „Ich dachte Mama hat dich nur aus dem Schlafzimmer geworfen.“

„Genaugenommen hat sie meine Decke und mein Kissen raus auf die Veranda geworfen und mir die Tür vor der Nase zugeknallt.“

Oh je. „Dann hast du die ganze Zeit auf der Veranda verbracht?“

Er schnaubte. „Bestimmt nicht. Ich bin durch die Hintertür wieder rein, aber da hatte sie sich schon im Schlafzimmer eingeschossen und schrie mich durch die Tür an.“ Er verzog das Gesicht, als würde die Erinnerung allein ihn schmerzen.

Armer Papa. „Ich glaub ich rufe sie gleich mal an und berichte ihr, dass du zu Kreuze gekrochen bist, damit du wieder das Haus betreten kannst, ohne umherfliegende Gegenstände befürchten zu müssen.“

Er zog eine Augenbraue nach oben.

„Nicht, dass du es getan hast, ich werde es einfach nur so darstellen“, versicherte ich ihm.

Seufzend ließ er seine Arme von mir abgleiten. „Dafür wäre ich dir wirklich dankbar. Und … naja …“ Er zögerte und da ich keine Ahnung hatte, was er sagen wollte, blieb mich auch nichts anderes übrig, als darauf zu warten, was jetzt noch kam. „Ich weiß zwar was du gesagt hast, aber ich hatte gehofft … also so wie wir gestern auseinandergegangen sind …“

„Ich weiß“, sagte ich. „Das hat mir auch nicht besonders gefallen.“

Ein Fünkchen Hoffnung glomm in seinen Augen auf. „Dann, ich weiß zwar, dass es nicht mehr für lange wäre, aber würdest du wieder nach Hause kommen? Ich meine, mir ist natürlich klar, dass du bald mit deinem Freund zusammenziehen wirst, aber …“

„Ja“, sagte ich und lächelte. „Ich komme erstmal wieder nach Hause.“

Schlagartig schien die ganze Anspannung von meinem Vater abzufallen. „Danke“, sagte er und zog mich wieder in seine Arme. „Das meine ich ernst.“

„Aber ich komme erst, wenn Cio zum Dienst muss. Und morgen habe ich mich bereits mit Anouk verabredet. Ich habe ihm versprochen, ihm bei der Wohnungssuche zu helfen.“

„Okay.“ Er sah zwar nicht unbedingt aus, als sei es für ihn okay, aber ich musste ihm zugutehalten, dass er seine Meinung für sich behielt.

„Und es wird nicht mehr für lange sein, also gewöhne dich schon mal an den Gedanken, dass ich bald ausziehen werde.“

Sein Lächeln bekam wieder eine gequälte Note. „Versuch doch bitte deinen armen Vater nicht gleich so zu überfordern.“

„In Ordnung.“ Ich gab ihn einen Kuss auf die Wange. „Ich hab dich lieb, Papa.“

 

°°°

 

Stirnrunzelnd lass ich die neusten Nachrichten auf der Internetseite von V News und war mir fast sicher, dass ich in einem parallelen Universum gelandet sein musste. Anders ließ sich der Müll, der dort schwarz auf weiß abgedruckt war, einfach nicht erklären.

Eigentlich hatte ich mich nur darüber informieren wollen, ob es Neuigkeiten zum Thema Amor-Killer zu berichten gab. Nein, keine neuen Toten. Damit war Omas Freundin Beatrice Becker noch immer das letzte Opfer und wir blieben weiterhin bei der Zahl fünf. Leider gab es auch keine neuen Erkenntnisse, die bei der Ergreifung des Täters helfen könnten. Und auf die Frage, warum Beatrice auf die gleiche Art hergerichtet wurde wie Victoria, die anderen drei Opfer aber nicht, hatte bisher auch noch niemand eine Antwort gefunden – obwohl man in der Zwischenzeit nun doch zu der Theorie von zwei Tätern tendierte. Ich allerdings war mir da nicht so sicher. Die fünf Morde ähnelten sich einfach zu sehr, als das zwei völlig unabhängige Parteien dafür verantwortlich sein könnten. Genau wie die neusten Zeilen des Mörders.

 

Amor ist ein mächtiger Fürst und hat mich so gebeugt, dass ich bekenne,

Es gibt kein Weh, das seiner Strafe glich,

Doch gibt’s nicht größere Lust, als ihm zu dienen.

 

Dieses Mal jedoch stammten die Zeilen nicht von dem Dichter Gottfried August Bürger, sondern vom guten, alten William Shakespeare persönlich. Und dieses Mal fiel es mir auch schwerer die Worte zu verstehen. Doch wenn ich versuchte dem ganzen einen Sinn zu geben, würde ich behaupten es bedeutet, dass Amor so mächtig war, dass er einen mit seinem Pfeil alles Glück der Erde schenken konnte. Verärgerte man ihn aber, würde man in Sachen Liebe auf ewig im Unglück baden.

Das war es jedoch nicht, was mich so verärgerte. Es war der Leserbrief, der unter dem heutigen Amor-Killer-Artikel stand. Irgend so eine strunzdumme Tussi, die scheinbar nichts Besseres mit ihrer Zeit zu tun hatte, als irgendwelchen Mist zu schreiben, den keiner lesen wollte.

Im Grunde schrieb sie, dass man den Amor-Killer dringend aufgreifen müsste, bevor noch jemand Wichtiges ernsthaft verletzt wurde. Die Toten waren zwar zu bedauern, aber es hätte weitaus bedeutendere Persönlichkeiten treffen können. Zwar stand es nicht ausdrücklich da, aber ich konnte deutlich zwischen den Zeilen lesen. Sie sagte, es hätte reinrassige Lykaner treffen können. Ein Toter Misto dagegen … wer vermisste den schon? Und wenn es eben fünf tote waren, dann war es halt so. Keine große Sache.

Zähneknirschend schloss ich die Seite und konzentrierte mich lieber wieder auf den eigentlichen Grund, warum ich das Tablet zur Hand genommen hatte: Hochzeitskleider. Irgendwann musste ich mich schließlich darum kümmern und wo ich gerade alleine zu Hause war, hatte ich eh nichts Besseres zu tun.

Mama war vor einer halben Stunde zu ihrem Freund Bronco gefahren. Papa hatte schon vor einer Stunde zur Arbeit gemusst und Cio hatte seinen Dienst bereits am Nachmittag angetreten. Das bedeutete, dass ich nun wie versprochen wieder zu Hause eingezogen war – wobei ich bisher ja noch nicht wirklich ausgezogen war – und auch, dass ich ganz allein war.

Alleinsein war nicht gut. Wenn ich allein war, tendierte ich immer zum Nachdenken. Zwar hatte ich die Krise mit meinem Vater gelöst, aber das Problem an sich war noch nicht wirklich vom Tisch. Besonders im Bezug auf Diego.

Da war es doch wirklich besser, sich erstmal auf etwas Erfreuliches zu konzentrieren. Aber … brachte man bei einer Hochzeit der Lykaner überhaupt ein Kleid? Oder musste ich mich als Wolf durch den Wald jagen lassen. Klang auf jeden Fall sinnvoller.

Vielleicht sollte ich mal irgendeine von meinen Tanten anrufen und mich über den genauen Ablauf informieren. Oder im Internet recherchieren. Zwar würde ich auf ganz normalen Websites nichts zu dem Thema finden, aber es gab da ja noch das andere Netz, auf das nur die verborgene Welt zugriff hatte.

Gerade noch überlegte ich, welche von den beiden Möglichkeiten besser war, als mein Handy neben mir auf der Couch im Wohnzimmer klingelte.

Misstrauisch starrte ich es an. Wenn das jetzt eine meiner Tanten war, dann wäre es wohl ein Wink mit dem Zaunpfahl. Es war keine Tante, es war nicht mal ein weibliches Familienmitglied, sondern mein Vater, wie ich nach einem Blick aufs Display feststellte.

Ich nahm an und hielt es mir an Ohr, während ich mein Tablet in meinen Schoß sinken ließ. „Hi.“

„Hey. Du, kann es sein, dass da irgendwo ein blauer Ordner herumliegt?“

Ich schaute auf den Tisch, drehte mich herum, um auf dem Esstisch hinter der Couch nachzuschauen und reckte zum Schluss den Hals, um einen Blick in die Küche zu erhaschen – alles ohne mich nur einen Millimeter von meinem Platz zu beweisen. „Weißt du zufällig wo du ihn liegengelassen haben könnest?“

„Im Schlafzimmer?“ Es war eher eine Frage, als alles andere.

Also musste ich mich doch bewegen. War ja irgendwie klar. „Ich geh mal kurz nachschauen.“

Nein, der Ordner war nicht im Schlafzimmer. Ich entdeckte ihm zum Schluss auf der Waschmaschine in der Waschküche. Gleich neben einer leeren Tasse Tee. Hier her hatte mein Vater sich wohl verkrümelt, als meine Mutter heute ein wenig sauer auf ihn war.

„Hab ihn“, teilte ich meinem Vater mit und schlenderte mit dem Ordner in der Hand zurück zum Sofa.

„Mist“, murmelte mein Vater.

„Mist?“ Ich ließ mich ins Polster fallen. „Es ist nicht gut, dass ich ihn gefunden habe?“

„Nein, weil das bedeutet, er ist Zuhause und nicht hier.“

Ich musterte den Ordner und überlegte einen Moment, ob ich ihn öffnen sollte, entschied mich dann aber dagegen, weil ich noch genau wusste, was ich das letzte Mal zu sehen bekommen hatte, als ich neugierig auf Papas Arbeit war. „Brauchst du ihn den dringend? Soll ich ihn dir vorbeibringen?“

„Nein, brauchst du nicht, so wichtig ist er dann doch nicht.“ Irgendjemand im HQ rief etwas. „Ja, Moment“, sagte mein Vater und dann wieder zu mir: „Pass auf, ich werde nachher jemanden vorbeischicken, der den Ordner abholt.“

„Okay.“

„Ich werde heute vermutlich nicht mehr nach Hause kommen.“

„Ein Einsatz?“ Ich griff nach meinem Tablet und starrte auf ein besonders ausladendes Hochzeitskleid. Es war ganz hübsch, aber absolut nichts für mich.

„Nein, schlimmer.“ Er machte eine bedeutende Pause. „Papierkram.“

Ich gluckste leise. „Oh, armer Papa.“

Er grummelte etwas Unhöfliches und wechselte dann schnell das Thema. „Im Kühlschrank steht noch Auflauf.“

„Das weiß ich, dass hast du mir bereits gesagt, bevor du los bist.“

„Dass du es weißt, heißt noch lange nicht, dass du es auch isst, also erinnere ich dich lieber noch einmal daran.“

Wieder wurde im Hintergrund ein Ruf laut.

„Kümmere du dich mal lieber um deinen Job, solange du noch einen hast.“

„Von wem nur hast du dieses unhöfliche Verhalten?“

„Von dir“, sagte ich völlig unbekümmert und blätterte in dem online Katalog weiter. Das Kleid gefiel mir viel besser.

„Das kann ich mir nicht vorstellen“, murmelte er und verabschiedete sich dann, als man ein drittes Mal nach ihm rief. Da war wohl jemand gerade heiß begehrt.

Ich versprach noch den Ordner nachher an den Kurier zu übergeben, dann konzentrierte ich mich wieder auf das Tablet, nur um mir in Erinnerung zu rufen, dass ich immer noch nicht wusste, ob ich überhaupt ein Hochzeitskleid brauchte. Also machte ich mich erstmal an die grundlegende Recherche.

Wie ich sehr schnell herausfand, war ein Kleid nicht unbedingt nötig, obwohl sich viele Frauen für die anschließende Feierlichkeit eines besorgten. Dabei musste es aber nicht unbedingt ein Hochzeitskleid sein. Man konnte auch ein Sommerkleid, oder ein Cocktailkleid anziehen. Oder auch ein Ballkleid, ganz wie man wollte.

Sofort musste ich an das schöne Kleid denken, das Cayenne mir zu meinem zwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Ich hatte es nur diesen einen Abend getragen, was wirklich schade war. Doch leider boten sich mir nicht viele Möglichkeiten, solche Sachen anzuziehen.

Seufzend schaltete ich das Tablet aus und entschied, dass ich mit Cio würde darüber reden müssen, weil ich absolut keine Ahnung hatte, wie ich sowas organisieren sollte. Da griff ich doch lieber nach der Fernbedienung und schaute was das Abendprogramm heute so zu bieten hatte. Nicht viel, wie ich leider sehr schnell feststellte.

Gelangweilt zappte ich von einem Kanal zum nächsten und warf einen Blick auf die Uhr. Cio würde erst in zwei Stunden Feierabend haben und mir waren die Beschäftigungen ausgegangen. Vielleicht sollte ich mich mal wider an einem Spiel versuchen. Früher habe ich schließlich täglich mehrere Stunden gezockt. Doch in den letzten Monaten, hatte ich irgendwie das Interesse daran verloren. Vielleicht gab es ja ein gutes, neues Spiel.

Ich erwischte mich dabei, wie ich schon wieder zur Uhr schaute. Es waren gerade mal zehn Minuten vergangen. So konnte das nicht weitergehen. Ich würde doch wohl fähig sein, mich einen Abend lang allein mit mir zu beschäftigen.

Entschlossen stand ich auf und ging zum Regal in der Ecke, wo zwei Reihen voller VHS-Kassetten standen. Mein Vater schwor auf solche Filme. Da gingen die Meinungen zwar auseinander, aber jedem das seine. Ich schaute die wenigen Titel durch und entschied mich dann für das Geisterschloss. Ich liebte Lili Taylor als Eleanor 'Nell' Vance und machte mir sogar noch Popcorn, bevor ich den Film startete. Aber irgendwie war der Film heute nicht so entspannend, wie sonst immer. Ständig rutschte ich auf dem Sofa herum, um eine bequeme Position zu finden.

Langsam wurde mir bewusst, dass meine Unruhe nichts mit meinem Alleinsein zu tun hatte. Nein, es kam von außen.

Ich ließ mich auf den Rücken fallen und schaute durch das große Fenster über dem Esstisch raus in die Nacht. Der fast volle Mond stand hoch am Himmel und lockte schon heute Nacht mir seinem Lied, obwohl erst morgen Vollmond war. Ich würde sogar wieder an der Vollmondjagd teilnehmen. Das stand schon seit Wochen fest. Aber die Jagd war eben erst morgen, und nicht heute. Vielleicht hatte Cio nach der Arbeit ja noch Lust ein wenig mit mir laufen zu gehen. Aber das würde noch dauern.

Seufzend wandte ich mich wieder dem Fernseher zu, gerade als die Assistentin von Dr. Marrow von einer gerissenen Saite des Clavichords im Gesicht schwer verletzt wurde. Das Blut schoss nur so aus der Wunde und lief ihr dabei übers ganze Gesicht.

Natürlich war mir bewusst, dass es sich um einen Film handelte und somit höchstwahrscheinlich nur Kunstblut war, aber der plötzlichen Hunger, der mich bei diesem Anblick überkam, hatte nichts mit meiner Vorliebe für Gummibärchen übrig.

„Mist.“ Jetzt wusste ich warum ich die ganze Zeit so unruhig war. Das hatte nichts mit dem bevorstehenden Vollmond zu tun, sondern allein mit meinem Stresslevel der letzten Tage und der Tatsache, dass ich seit bestimmt zwei Wochen kein Blut mehr zu mir genommen hatte.

Mein Blick huschte wieder auf die Uhr. Cio würde erst in einer Stunde Feierabend machen können. Und nach den ganzen Vorwürfen, die Diego mir heute Morgen gemacht hatte, kam ich gar nicht erst in Versuchung, ihn anzurufen und ihn früher nach Hause zu bitten. Jedenfalls nicht zu Anfang.

Ich versuchte einfach mich weiter auf den Film zu konzentrieren. Das nagende Gefühl in meinem Magen und meine anwachsenden Fänge ignorierte ich dabei so gut wie es mir eben gelang.

Nach einer halben Stunde allerdings kam ich langsam ins Schwanken. Als Kind hatte ich mich bei meinem Vater, oder meiner Mutter sattgetrunken. Bald danach war dann auch schon Cio gekommen. Wie mir erst jetzt bewusst wurde, war er wirklich immer in meiner Nähe gewesen, wenn der Bluthunger mich übermannt hatte, oder er war wenigstens nur einen Telefonanruf weit entfernt. Aber heute musste ich warten. Ich musste einfach.

Darum zwang ich mich einfach auf der Couch liegen zu bleiben und das Handy neben mir auf dem Tisch nicht zu beachten. Als es jedoch ein paar Minuten später verkündete, dass eine Nachricht eingegangen sei, stürzte ich mich mit zitternden Fingern darauf. Sie war von Cio, doch zu meiner Bestürzung teile er mir mit, dass er wohl erst eine Stunde später kommen würde.

Vielleicht sollte ich doch besser einen Lieferservice anrufen. Hörte sich vielleicht seltsam an, aber ja, das gab es. Es war nicht ganz billig sich einen Wirt ins Haus zu bestellen – besonders nicht um diese Uhrzeit – aber langsam wurde das bohrende Gefühl in meinem Magen zu einem schmerzhaften Ziehen.

Doch ich wollte gar nicht von irgendeinem Wirt trinken. Seit ich Cio kannte, war er meine einzige Quelle und mich jetzt nach jemand anderen umzuschauen, kam mir fast wie Betrug an ihm vor. Andererseits konnte ich auch nicht einfach nur hier rumsitzen und hoffen, dass ich schon durchhalten würde. Das würde nur unglaubliche Magenschmerzen geben.

Trotz den Entschluss, den ich erst vor einer halben Stunde gefasst hatte, wählte ich Cios Nummer. Sollte Diego doch sagen was er wollte, es ging eben nicht anders. Nur leider ging Cio nicht an sein Handy. Weder beim ersten, noch beim zweiten Anruf. Und auch das dritte blieb unbeantwortet. Was machte er nur gerade, eben hatte er sein Handy doch noch in der Hand gehabt?

Langsam wurde der Schmerz so quälend, dass ich schon die Nummer meines Vaters eintippte. Ich hatte ihn zwar nicht mehr gebissen, seit ich ein kleines Mädchen gewesen war, aber abgesehen von Cio war er immer noch meine beste Option. Leider ging auch er nicht an sein verfluchtes Handy. Verdammt noch mal, wozu besaßen die Kerle überhaupt Telefone, wenn sie sie eh nicht benutzten?

Unruhig biss ich mir auf die Unterlippe, bis ich einen Blutstropfen schmeckte, was meiner Situation nicht unbedingt förderlich war. Jetzt war ich auch noch auf den Geschmack gekommen – ganz große Klasse.

Da ich im Moment sowieso nichts anders tun konnte, zwang ich mich auf der Couch sitzen zu bleiben. Er Film endete und ich schaltete auf das normale Programm um. Dabei glitt mein Blick immer wieder zu dieser verdammten Uhr, die verdammt noch mal kaputt sein musste, oder warum bewegten sich diese verdammten Zeiger so langsam?!

Okay, beruhige dich. Nur noch eine halbe Stunde, dann ist Cio da.

Das war die nächsten Minuten mein Mantra, auch wenn es nicht viel brachte.

Als es zwanzig Minuten später dann an der Haustür klingelte, flog ich förmlich durchs Haus. Doch als ich die Haustür aufgerissen hatte, musste ich zu meiner Bestürzung feststellen, dass es nicht Cio war, der dort draußen nur darauf wartete, dass ich über ihn herfiel. Es war nicht mal jemand, den ich mochte, oder den ich jetzt gebrauchen konnte. Schon wenn ich sah, wie die Fänge unter seiner Oberlippe hervorblitzten, überkam mich wieder dieses seltsame Gefühl.

Darum ging ich auch sofort in Abwehrhaltung. „Was willst du denn hier?“

„Botengänge.“ Tayfun neigte seinen Kopf so, dass seine weiße Haarsträhne in der Verandabeleuchtung aufblitzte. „Ich soll hier etwas abholen und …“ Er stutzte und musterte mich. „Alles in Ordnung?“

„Ja, klar, was sollte denn nicht in Ordnung sein?“

„Keine Ahnung. Du wirkst nur so …“ Er streckte die Hand aus, als wollte er … ach keine Ahnung was er wollte und nachdem was dann geschah, war das auch völlig egal. Seine Hand bewegte sich auf mein Gesicht zu. Ich jedoch sah nur den flatternden Puls an seinem Handgelenk. Im nächsten Moment hatte ich seinen Arm gepackt und meine Zähne in seiner Haut versenkt. Tayfun zuckte überrascht zusammen, hielt aber still, während ich den ersten herrlichen Schwall in meinen Mund sog und der quälende Schmerz in meinem Magen sich endlich beruhigte.

Ich öffnete die Augen ein Spalt. Tayfuns Augenlider waren leicht herabgesunken, der Mund ein Stück geöffnet und seine freie Hand zu einer Faust geschlossen.

Ein zweiter Schwall strömte in meinen Mund und ließ meine Fänge pulsieren. Das tat so gut. Das warme Blut linderte das anhaltende Ziehen und wärmte mich auf eine Art …

„Mal eine etwas andere Art mit dir zusammen zu stoßen.“

Seine Stimme zerriss den Bann. Ich stolperte so heftig zurück, dass ich mit dem Rücken gegen die Wand krachte und ihn einfach nur mit offenen Augen anstarren konnte, während sein Blut noch aus meinen Mundwinkeln tropfte. Was hatte ich getan? Ich hatte mich einfach auf ihn gestürzt, das hatte ich getan! Nein, nein, nein, nein! Sowas machte man nicht. Sowas machte ich nicht.

Tayfun, den meine Bestürzung zu amüsieren schien, hob seelenruhig sein blutendes Handgelenk an die Lippen, um die Wunde mit dem heilenden Speichel eines jeden Vampirs zu verschließen.

Genau in diesem Moment hörte ich Schritte den Gehweg hinaufkommen und schon in der nächsten Sekunde stand Cio mit auf der Veranda. Da ich Tayfun gebissen hatte, ohne ihn überhaupt ins Haus zu bitten – wie unhöflich – stand er nun lächeln meinem Freund gegenüber.

„Hallo starker Mann.“

Cio lehnte sich ein wenig von Tayfun zurück und musterte mich dann, wie ich da an die Wand gequetscht stand und sie beide aus großen Augen anschaute. Verflucht noch mal, warum war er denn nicht fünf Minuten früher aufgetaucht? „Geht es dir gut?“, fragte er mich auch ganz direkt.

Erst schüttelte ich den Kopf, dann zeigte ich anklagend und voller stummer Vorwürfe auf Tayfun. „Ich habe ihn gebissen!“, erklärte ich, als sei es seine Schuld, dass ich mich nicht beherrschen konnte und in einem Anfall von Bluthunger einfach über ihn hergefallen war.

Dein Ernst?, fragte der Ausdruck auf Tayfuns Gesicht auch sogleich und ich ließ den Finger kleinlaut zwischen meinen verschränkten Armen verschwinden.

„Es tut mir leid“, entschuldigte ich mich dann und fuhr mir mit der Hand durchs Gesicht. Dabei war ich mir nicht mal sicher, an wen der beiden sich meine Worte eigentlich richteten. „Ich habe diesen Film gesehen und dann war der Bluthunger da und ich konnte dich nicht erreichen und dann hast du geschrieben, dass es später werden würde. Aber dann tauchte Tayfun auf und als er den Arm ausstreckte, da habe ich einfach zugebissen.“ Ohne überhaupt einen Gedanken an die Folgen zu verschwenden. Oh Gott, seit ich mit Cio zusammen war, hatte ich meine Zähne in keinem anderen Blutspender mehr versenkt – besonders in keinen anderen Mann. Wie hatte ich das nur tun können?!

Cio hob die Lippen und knurrte. Nur galt die Drohung darin nicht mir, sondern Tayfun. Cio knurrte wirklich Tayfun an. Ich war baff! Zwar hatte er immer mal wieder andere Kerle angebrubbelt, so wie Anouk heute Mittag, aber soweit ich mich zurück erinnern konnte, war da nie ein richtiges, wirklich ernstgemeintes Knurren dabei gewesen.

Nun gut, bisher hatten wir uns ja auch noch nie in so einer Situation wiedergefunden. Darum war mir auch ein wenig bang zumute, als Cio dem Vampir den Rücken kehrte und sich so nahe vor mich stellte, dass ich seinem Atem im Gesicht spüren konnte. Als er dann auch noch die Hand hob und mir die letzten Blutreste aus dem Mundwinkel wischte, hatte ich die kleine Hoffnung, dass er mir diesen Zwischenfall verzeihen konnte.

„Bist du denn jetzt satt?“

Wie zur Antwort wurden meine Fänge wieder länger und stachen mir mit ihren Spitzen in die Unterlippe.

Ein Lächeln erhellte Cios Augen und ließ den Schalk darin aufleuchten. „Dann sollten wir uns wohl mal darum kümmern.“

Ich nickte nur. Aus irgendeinem Grund war ich gerade zu nichts anderem imstande. Vielleicht war es einfach nur die Erleichterung, dass er mir nicht böse war. Oder es war schlicht und ergreifend Gier, weil ich wusste, dass er mich gleich füttern würde und jedes weitere Wort es nur herauszögern würde.

Na das hatte sich jetzt ja angehört. Füttern. Innerlich verzog ich das Gesicht.

Cio drehte sich Tayfun zu, blieb dabei aber so stehen, als wolle er mich vor dem Vampir verbergen. „Deine Anwesenheit ist nicht weiter erwünscht.“ Er wedelte mit der Hand. „Los, verzieh dich.“

Tayfuns Lippen kräuselten sich. „Tut mir leid, Kleiner, ich kann erst gehen, wenn ich bekommen habe, weswegen ich gekommen bin.“

„Die Papiere!“, merkte ich auf, bevor Cio auf das Kleiner eingehen konnte. So wie er nämlich das Gesicht bei dem Wort verzogen hatte, fand er es gar nicht lustig. „Papa hat mich angerufen.“

Ohne einen von den beiden in die Augen zu schauen, rutschte ich an der Wand entlang. Dabei versuchte ich so viel Abstand wir möglich zu Tayfun zu halten und riss deswegen ausversehen ein Kinderfoto von mir von der Kommode.

Oh bitte, könnte sich unter mir ein Loch auftun und mich einfach verschlucken? Peinlicher ging es kaum noch. Ich schaute Tayfun nicht in die Augen, als ich die Papiere geholt hatte und sie ihm reichte und auch nicht, als ich die Tür hinter ihm schloss. Auch Cio traute ich mich nicht anzuschauen.

„Schäfchen.“

„Tu mir leid“, murmelte ich. Seufzend schloss ich die Augen. „Ich weiß nicht was über mich gekommen ist. Es war einfach … in dem einen Moment stand er vor mir und im nächsten …“ Ja, im nächsten.

Mit einer Hand auf meiner Schulter wurde ich herumgedreht. Im nächsten Moment spürte ich seine Lippen gierig auf meinen. Er stahl mir einen Kuss und das machte er so nachdrücklich, dass ich danach schwer atmend vor ihm stand. „Manchmal überrennen uns unsere Instinkte, ohne dass wir etwas dagegen machen konnten“, sagte er leise. „Bisher war es Glück, dass ich immer zugegen gewesen war, wenn dein Bluthunger dich überfallen hat. Dieses Mal hatten wir eben einfach Pech.“

Einfach Pech? Das war alles? Damit wollte er den Zwischenfall abtun?

„Und jetzt …“ Er schlang seine Arme um mich und zog mich ganz fest an sich. „Jetzt bekomme ich meine Belohnung.“

„Belohnung?“, fragte ich misstrauisch. Wie kam er denn jetzt von unkontrollierbaren Instinkten auf eine Belohnung?

Er grinste. „Naja, ich war so anständig dem Kerl nicht die Arme auszureißen. Ja ich habe ihm nicht mal eine reingehauen, obwohl ich einen kurzen Moment wirklich Lust dazu hatte. Also ja, ich denke ich habe eine Belohnung verdient.“

Ähm … ja. „Dir ist schon bewusst, dass er mein Opfer ist und gar nichts dafür kann? Es wäre also unlogisch, wenn du deinen Ärger an ihm auslässt.“

„Das hat nichts mit Logik zu tun. Es wäre mein gutes Recht, ihm wehzutun.“

Das sah ich zwar nicht so, aber ich würde es einfach mal dabei belassen. „Wenn du das sagst.“ Mein Blick fiel auf seinen Hals. Er war zwar halb von dem hohen Kragen seiner Uniform verdeckt, aber ich wusste, dass darunter der verlockende Puls saß, den ich gerade so ersehnte. Ich brauchte zwar nicht so viel Blut wie ein reiner Vampir, aber zwei kleine Schlucke waren bei Weitem nicht genug, um meinen Magen zufriedenzustellen. „Aber jetzt würde ich mich freuen, wenn du endlich deine Jacke ausziehen würdest.“

Cios Lächeln wurde breiter. „Immer so ungeduldig.“

„Ich habe mich die letzten drei Stunden in Geduld geübt, jtzt bin ich kurz vor dem Durchdrehen.“ Beinahe schon lechzend schaute ich dabei zu, wie er sich von mir losmachte und dann seine Jacke von den Schultern rutschen ließ.

„Das können wir ja nicht zulassen.“ Er packte mich beim Handgelenk und zog mich so plötzlich zu sich heran, dass ich erstmal gegen seine Brust krachte. Zeit für Beschwerden blieb nicht, denn schon waren seine Lippen auf meinen und entfachten eine ganz andere Art des Hungers, etwas noch Urtümlicheres, dass die qualvollen Schmerzen in meinem Magen in ein süßes Ziehen verwandelte und selbst den Bluthunger für einen Moment ins Abseits drängte.

Als seine Hände meine Rundungen nachzogen, dränge ich mich gegen ihn, bis selbst das letzte Lüftchen zwischen uns keinen Platz mehr fand.

Langsam erhob ich mich auf die Zehenspitzen, fuhr mit den Lippen seine Kieferpartie entlang, immer auf der Spur des süßen Pochens unter seiner Haut. Ich schmeckte schon das betäubende Sekret auf meiner Zunge, während meine Fänge erwartungsvoll mit dem Puls in seinen Adern hämmerten.

Als ich dann mit den Fängen über die empfindliche Haut seiner Halsbeuge kratze, um ihn für meinen Biss empfänglich zu machen, schloss Cio genießerisch die Augen und gab ein Geräusch von sich, das meine ganze Haut von Kopf bis Fuß kribbeln ließ.

„Irgendwann bringst du mich noch um“, murmelte er, während ich überlegte, ob ich schon zubeißen konnte, oder ob er mir das übel nehmen würde. Obwohl ich mir nicht sicher war, ob mich das im Moment überhaupt interessierte. Doch als ich den Mund weiter öffnete, packte er mich mit festem Griff an der Hüfte und hielt mich auf.

„Warte“, flüsterte er und es schien ihn eine Menge Kraft zu kosten, dieses eine Wort über die Lippen zu bringen. „Nicht hier unten“, fügte er noch hinzu, als ich mich nicht aufhalten lassen wollte.

Stimmt. Es könnte wohl ein wenig peinlich werden, wenn meine Eltern zur Haustür reinkamen und mich direkt dahinter eng umschlungen mit meinem Freund finden würde – im besten Falle. Allerdings würden meine Eltern sicher erst in ein paar Stunden wiederkommen …

„Nein“, sagte Cio bestimmt, als ich mich ihm wieder entgegen beugte. Dabei streiften seine lächelnden Lippen meine so hauch zart, dass ich eine Gänsehaut bekam. „Immer schön daran denken, der Geduldige wird belohnt.“

„Geduldig war ich schon.“

Trotz meines Protests löste er sich so weit von mir, dass das plötzliche Fehlen seiner Wärme schon beinahe ein Schlag ins Gesicht war. Und bevor ich noch versuchen konnte seinen Plan mich nach oben zu bringen zu durchkreuzen, hatte er sich schon meine Hand geschnappt und zog mich hinter sich her. Dabei sandte seine Berührung kleine kribblige Stöße unter meine Haut, die mich überlegen ließen, wie ich ihn zu Boden ringen konnte, ohne dass wir beide uns auf der Treppe eine Gehirnerschütterung zuzogen. Da war es wohl doch besser, wenn ich die paar Sekunden bis wir in meinem Zimmer waren, einfach warten würde.

In der ersten Etage gab es vier Räume. Einmal das große Bad, dann noch ein kleines Büro, das eigentlich nur als Abstellraum benutzt wurde und dann noch die beiden Schlafzimmer, von denen Cio nun das vordere ansteuerte und mich durch die Tür hineinschob.

Zu meinem bedauern ließ er mich dann allerdings los und begann mich mit einem kleinen Lächeln zu umkreisen. „So, und nun zu meiner Belohnung.“ Fast aufreizend langsam begann er damit sich das ärmellose Lederhemd aufzuknöpfen und gab seine nackte Brust damit meinen Blicken preis. Mit einer geschmeidigen Bewegung seiner Schultern, ließ er es von den Armen rutschen und achtlos zu Boden fallen.

Der Anblick ließ mich beinahe hypnotisiert näher treten und ich stellte befriedigt fest, wie er scharf den Atem einsog, als ich seine Brust mit der Hand berührte und sie langsam über seinen Bauch nach unten wandern ließ. „Belohnung?“, fragte ich unschuldig und genoss es einen Augenblick, wie er sich unter meiner Berührung versteifte. Bevor ich jedoch weitergehen konnte, wich er lächelnd vor mir zurück, bis meine Hand ins Leere fiel. „Nicht so schnell“, mahnte er.

Nicht so schnell? Eigentlich war das doch noch viel zu langsam! „Musst du mich ausgerechnet heute so quälen?“

„Ja.“ Lächelnd trat er zu meinem Schreibtisch und nahm sich die Schere aus dem Stifthalter. Ich wusste was er tun würde, noch bevor er die Spitze der Schere an seine Halsbeuge setze. Es war nur eine kleine Wunde, die er vermutlich nicht mal spürte, da ich die Haut ja bereits betäubt hatte. Doch der Hauch von frischem Blut wirkte auf mich wie die reinste Versuchung.

Meine Beine setzten sich ohne mein Zutun in Bewegung. Leider wollte Cio sein Spielchen noch ein wenig weitertreiben und so kam ich nicht umhin mich zu fragen, ob er sich unterbewusst vielleicht an mir rächen wollte, weil ich Tayfun gebissen hatte, denn er ging schon wieder auf Abstand, als ich mich ihm näherte.

Wie ein Beutefänger auf der Jagd umkreiste er mich, während ein Rinnsal seines Blutes über sein Schlüsselbein ran. „Zieh dich aus“, verlangte er dann.

Der Anblick des roten Goldes nahm mich so gefangen, dass ich ein paar Sekunden brauchte, bis ich seine Worte verarbeitet hatte und wenn ich ehrlich war, wusste ich nicht so recht was ich davon halten sollte. Normalerweise benahm Cio sich nicht so herrisch. Er wollte mich wohl wirklich wegen der Sache mit Tayfun bestrafen. Aber das würde ihm nur gelingen, wenn ich mitspielte und das hatte ich nicht vor – jedenfalls nicht so wie er sich das vorstellte.

Zuerst tat ich so, als würde ich seinem Befehl folge leisten und ließ den Knopf meiner Hose durchs Loch springen. Sobald der Reißverschluss dann auch noch offen war, glitt meine Jeans von ganz allein an meinen Beinen hinunter. Ich trat einen Schritt zurück, um so näher ans Bett zu gelangen. Mein Hemd war lang genug, sodass es nicht viel zu sehen gab. Es reichte mir bis auf die Mitte meiner Oberschenkel. Trotzdem schaute er mich an, als hätte er etwas sehr interessantes entdeckt und ein angenehmer Schauder rann mir über den Rücken.

Dann schob ich meine Hand langsam an der Knopfleiste meines Hemdes hinauf. Ganz oben begann ich damit den ersten zu öffnen. Dann kam der zweite und noch einer. Er beobachtete mich ganz genau, bis ich zu dem letzten kam. Doch anstatt den auch zu öffnen, lächelte ich ihn nur mit voll ausgefahrenen Fängen an.

Cios Blick, der von meinem Tun völlig gebannt war, schnellte zu meinem Gesicht, als ich die Arbeit einstellte und mich stattdessen auf die Bettkante sinken ließ. „Du hast da einen vergessen“, teilte er mir hilfreich mit.

„Nein habe ich nicht, aber …“ Ich spielte an dem letzten Knopf herum. „Ich glaub ich bekomme ihn nicht auf.“ Ich versuchte einen wundervollen mitleidigen Ausdruck aufzusetzen. „Willst du mir denn nicht helfen?“

Nein, sein Knurren kam nicht sehr überraschend.

Ich tat so, als würde ich mich erschrecken und dabei den letzten Knopf versehentlich öffnen. „Hoppla“, sagte ich gespielt überrascht. „Jetzt ist er doch offen.“ Doch die beiden Seiten des Hemdes lagen so, dass es nichts Außergewöhnliches zu sehen gab. Grinsend schaute ich zu ihm auf. „Wie ungeschickt ich nur wieder bin.“

„Ungeschickt, hm?“ Er pirschte sich an mich heran und beugte sich zu einem Kuss über mich. Doch bevor seine Lippen meine berühren konnten, hielt er wieder inne.

Frustriert hätte ich ihn fast gepackt und aufs Bett geworfen, doch ich zwang mich dazu ruhig zu bleiben und abzuwarten.

„Ich mag es, wenn du ungeschickt bist“, verriet er mir und dann lagen seine Lippen endlich auf meinen.

Ich ließ mich in das Laken sinken und zog ihn mit mir mit, bis sein ganzer Körper mich bedeckte. Endlich, endlich konnte ich ihn spüren. Die Gier in mir zwang mich dazu sofort der Fährte seines Blutes zu folgen. Meine Zunge glitt über das Rinnsal auf seiner Haut und ich spürte befriedigt, wie er erschauderte.

Plötzlich jedoch packte er mich an den Hüften und drehte sich mit mir im Bett herum, bis ich auf ihm lag. So war es nicht nur leichter an seinen Hals zu kommen, es gestattete ihm auch sich einfach gehen zu lassen und das kommende zu genießen.

„Komm schon, Schäfchen“, raunte er und zog mich noch etwas hoch. „Nimm dir was du brauchst.“

Mehr Einladung brauchte ich nicht. Meine Fänge bohrten sich in seine Haut und sofort strömte ein süßer Schwall seines Blutes in meinen Mund.

Cio stöhnte und drückte sich gegen mich. Leider drückte er mich dabei auch ein wenig weg, weswegen ich mich rittlings über ihn setzte und ihn damit praktisch unter mir gefangen hielt – nicht das ihn das störte.

Seine Hände gruben sich in meine Hüfte, während ich Zug um Zug aus seiner Ader trank und ihn dabei ununterbrochen Endorphine in die Blutbahn pumpte.

„Schäfchen.“ Suchend schob er seine Hand zu meinem Slip und schlüpften darunter. Ich seufzte, als er sich von unten gegen mich drückte. Als ich dann jedoch das Reißen von Stoff hörte, wäre ich beinahe zusammengezuckt. Nicht schon wieder. Irgendwann würde mir Dank ihm noch die Unterwäsche ausgehen.

„Hör nicht auf“, forderte Cio, als ich meine Zähne von ihm lösen wollte. Seine Hand legte sich auf meinen Hinterkopf, um mich genau dort zu halten, wo ich war. Ich spürte wie er an dem Knopf seiner Hose herumfummelte und dann … Ekstase.

Als er sich in mich drängte, hätte ich fast laut aufgestöhnt. Die Realität um mich herum schien langsam zu verblassen und nur die Wellen von Gefühlen, die über mich schwappten, hielten mich im hier und jetzt. Das Gefühl in mir war so übermächtig, dass ich sogar vergaß zu saugen und schon bald lösten meine Fänge sich aus seiner Haut, ohne die Wunde zu verschließen.

Aber das war uns beiden in diesem Moment sowas von egal. Ich drängte mich gegen ihn und warf den Kopf zurück, als seine Hände langsam an meinem Oberkörper hinaufwanderten. Seine Lippen formten Worte und Geräusche, die uns beide in eine andere Welt trugen, einen Ort der alleine uns gehörte und niemals von jemand anderes betreten werden konnte. Ich ließ mich fallen, in der Gewissheit, dass er mich auffangen würde und so tauchten wir beide gemeinsam ein in unser ganz persönliches Utopia.

 

°°°°°

Geheimniskrämerei

 

Die ersten Strahlen des Morgens drangen durch meine Fenster warm in mein Zimmer und mir wurde bewusst, dass ich gestern Abend vergessen hatte die Vorhänge zuzuziehen. Andererseits gab mir das nun die Gelegenheit Cio im Schlaf zu beobachten.

Die Decke war bis auf seine Taille heruntergerutscht und erlaubte mir einen herrlich ungenierten Blick auf meinem Freund. Ich konnte nicht widerstehen und strich mit meinen Fingern sachte über die glatte Brust, bis hinauf zu dem kleinen Blutfleck an seinem Hals. Die Wunde war schon lange verschwunden, doch die Spuren der Nacht hafteten noch an ihm.

So früh am Morgen, noch völlig entspannt vom Schlaf, wirkte er friedlich und unglaublich jung. Und zerzaust. Seine Haare standen wirklich in alle Richtungen ab. Richtig süß.

Ich genoss den Anblick noch einen Moment, entschied mich dann aber das Bett zu verlassen, damit er in ruhe weiterschlafen konnte. Es kam wirklich selten vor, dass er noch tief versunken in seinen Träumen lag, wenn ich schon den Tag begrüßte und so wollte ich ihn nicht weiter stören.

Bewaffnet mit frischer Kleidung, schlich ich auf Zehenspitzen aus meinem Zimmer und verschwand erstmal zu einer Morgenwäsche im Bad.

Als ich eine halbe Stunde später mit einem Handtuch im Haar ins Wohnzimmer kam, waren meine Eltern bereits wach. Meine Mutter saß in einem Sessel und hatte ein aufgeschlagenes Buch und schien scheinbar Selbstgespräche zu führen. Das konnte nur bedeuten, dass Tante Lalamika irgendwo im Raum war. Papa dagegen tigerte mal wieder mit dem Handy am Ohr in der Küche auf und ab.

Als er mich sah, runzelte sich seine Stirn leicht, doch vorläufig blieb seine Aufmerksamkeit bei seinem Gesprächspartner.

„Morgen Donasie.“

„Morgen.“ Wusste Papa etwas von dem Biss? Hatte Tayfun es ihm gesagt? Oh Gott, was sollte ich nur tun, wenn er es wirklich wusste? Man biss niemanden, einfach weil er da war, das gehörte sich nicht.

„Hast du Hunger?“, wollte Mama wissen. „Soll ich dir etwas zu essen machen?“

„Nein“, sagte ich schnell, weil mir plötzlich wieder glühend heiß vor Augen stand, wie ich bei Tayfun gegessen hatte. „Äh“, fügte ich dann nicht besonders gescheit hinzu, weil das doch ein wenig komisch geklungen haben musste und meine Mutter mich reichlich seltsam beäugte. „Ich meine, blieb ruhig sitzen, ich mache mir schon selber etwas.“

Hastig wandte ich mich ab. Puh, das war noch mal gut gegangen. Allerdings musste ich jetzt in die Küche zu meinem Vater, ob ich nun wollte oder nicht. Schließlich hatte ich gerade behauptet, mir selber etwas zu machen.

Verhalt dich einfach ganz natürlich! Genau. Tayfun hatte sicher nichts gesagt. War ja auch eigentlich keine große Sache. Ein schlichter Biss, wie er jeden Tag tausendfach passierte. Nur das es für mich eben doch nicht so einfach war. Bis gestern hatte es in meinem ganzen Leben nur drei Leute gegeben, die ich wissentlich und mit ihrem Einverständnis gebissen hatte. Das waren zum einen meine Eltern und zum anderen natürlich Cio.

Aber jetzt gehörte auch noch Tayfun dazu. Wobei ich sein Einverständnis ja nicht bekommen hatte. Doch er war eben kein Fremder mehr – auch wenn ich ihn immer noch nicht wirklich leiden konnte.

Egal, sagte ich mir. Denk nicht mehr dran und verhalte dich ganz natürlich.

Das wäre vermutlich das Beste.

Darum versuchte ich mir meine Gedanken auch nicht anmerken zu lassen, als ich in die Küche schlenderte und mir eine Schüssel aus dem Schrank nahm. Es funktionierte. Auch dann noch, als ich mir Cornflakes und Milch nahm und meine Beute auf der Anrichte abstellte. Die Flakes landeten klirrend in der Schüssel. Leider beendete mein Vater dann sein Telefonat und wandte sich mir zu.

„Wir müssen reden.“

Vor Schreck hätte ich fast die Milch verschüttet. „Reden?“, fragte ich vorsichtig, vermied es aber ihn anzuschauen. Hatte Tayfun etwa doch den Mund aufgemacht? Oh bitte nicht. Ich war mir nicht ganz sicher warum, aber ich wollte nicht das irgendjemand von diesem Zwischenfall erfuhr.

„Ja.“ Er lehnte sich neben mir an die Anrichte und verschränkte die Füße an den Knöcheln. „Das war Murphy. Der Amor-Killer war letzte Nacht wieder fleißig gewesen.“

Erst jetzt bemerkte ich den besorgten Zug um seine Mundwinkel. „Es gibt ein neues Opfer?“, mutmaßte ich, doch zu meinem Erstaunen schüttelte er den Kopf.

„Nein“, sagte er leise. Sein Blick war sehr eindringlich. „Es sind zwei neue Opfer.“

Die Milch gluckerte aus der Tüte, solange bis mir aufging, dass die Schüssel schon längst voll war. „Zwei?“, fragte ich ungläubig und griff hastig nach dem Lappen an der Spüle. Zwei neue Opfer? Aber bisher hatte es doch immer nur eines gegeben!

Mein Vater nickte grimmig und ging mir aus dem Weg, als ich die übervolle Schüssel zum Waschbecken trug. „Ja. Letzte Nacht wurde eine Frau gefunden, wieder ein Wolfsmisto. Sie hat einen kleinen Sohn namens Kolja.“ Er drückte die Lippen fest aufeinander. „Von dem Jungen fehlt jede Spur.“

Oh mein Gott, nein. „Der Sohn ist verschwunden?“

Seine Antwort bestand in einem grimmigen Nicken. „Wir wissen noch nichts Genaues, nur das was der Vater des Jungen uns erzählt hat. Mutter und Sohn wollten am Abend wohl noch schnell etwas einkaufen gehen. Als sie nicht zurück kamen, alarmierte der Vater die Wächter. Die Leiche der Frau wurde ein paar Stunden später gefunden. Leider ist das noch nicht alles. Vor einer halben Stunde erst wurde eine weitere Frauenleiche entdeckt.“

Was?! Noch eine? Zwei Unschuldige in einer Nacht, während ich mich … oh Gott. Sie waren gestorben, während ich mich mit Cio im Bett amüsiert hatte. Und dann erst der kleine Junge, was war mit ihm passiert? Hatte er gesehen was geschehen war und sich irgendwo ängstlich verkrochen? Oder hatte der Amor-Killer ihn mitgenommen? Aber zu welchem Zweck? Was könnte er von einem Kind wollen?

„Der Mörder wird mutiger“, erklärte Papa. „Und dreister. Das zweite Opfer hat er auf einem belebten Parkplatz vor einem Einkaufszentrum liegengelassen. Die Menschen haben sie gefunden.“

„Und was …“ Ich traute mich kaum zu fragen. „Was ist mit ihren Herzen?“

Mein Vater senkte den Kopf, als hätte er nur auf diese Frage gewartet. „Sind da, wo sie sein sollten. Victoria und Beatrice sind weiterhin die einzigen Opfer, bei denen man sie entfernt hat. Leider wissen wir immer noch nicht was das bedeutet. Aber wenn der Mörder sein Muster beibehält, dann wir es noch eine weitere Leiche mit Herz geben, bevor wir wieder eine ohne finden.“

Ja, weil drei Tote zwischen Victoria und Beatrice gelegen hatten. Nur was bedeutete dieses Muster? „Wurden wieder Zeilen zu Amor gefunden?“

„Ja. Amor steckt von Schalkheit voll, Macht die armen Weiblein toll“, zitierte er. „Beim zweiten Opfer wissen wir noch nichts Genaues. Wie gesagt, die Menschen haben sie im Augenblick noch und die Wächter müssen erstmal an sie rankommen.“

Als wäre sie nur irgend so ein Ding, dass man jetzt nur noch brauchte, um ein paar Beweise zu sichern. Genaugenommen war sie das ja auch nur noch, denn alles was sie bis vor kurzen noch ausgemacht hatte – ihre ganze Persönlichkeit – war mit ihrem Leben einfach aus ihrem Körper gewichen. Zurückgeblieben war nichts anderes als eine leere Hülle.

Da ich mich eine lange Minute nicht bewegte und einfach nur ins Cornflakes überschwemmte Waschbecken starrte, legte mein Vater mir eine Hand an den Arm. „Ich weiß es hängt dir wahrscheinlich schon aus den Ohren raus, aber sei bitte vorsichtig.“

„Natürlich, Papa.“

„Und trag immer die Kette.“

„Sogar beim Duschen?“

Nein, er lachte nicht. „Bitte Zaira, ich will mir nicht mehr Sorgen machen müssen, als ich es sowieso schon tue.“

Wieso nur musste er mir immer auf dieser Schiene kommen? Ich hatte doch nur versucht einen Witz zu machen und jetzt hatte ich ein schlechtes Gewissen. „Die Kette bleibt an meinem Hals und das Pfefferspray an meinem Schlüsselbund“, versprach ich.

Er sah nicht so aus, als würde ihn das zufrieden stellen, aber wusste genau, dass er nicht mehr bekommen würde. Also nickte er nur und drückte mir einen Kuss auf die Schläfe. „Danke.“

„Kein Problem.“ Ich schaute auf das Frühstücksdesaster und mir wurde klar, dass ich gar keinen Hunger mehr hatte. Die Cornflakes waren pappig und die Milch … naja, die war mehr oder weniger alle.

Seufzend machte ich mich daran den Rest der Bescherung zu beseitigen. „Ich bin dann auch gleich weg, du weißt schon, wegen Anouks Wohnung.“

Wie es aussah, wusste er noch wovon ich sprach, hatte aber wohl gehofft, dass ich es vergessen hätte.

„Cio liegt oben in meinem Bett und schläft.“

„Er ist hier?“

Uhhh, Papas Augen … zum Fürchten. „Ja“, sagte ich wachsam und wusch den Lappen unter dem Wasserhahn aus.

Mein Vater runzelt die Stirn. „Aber deine Zimmertür war geschlossen.“

Ach darum ging es. Und ich dachte schon, es hätte wieder etwas mit der Hochzeit zu tun, oder mit der Tatsache, dass Cio sich nicht von Blut ernährte. „Wir haben geschlafen, Papa.“ Nachdem wir und unserer gegenseitigen Wertschätzung versichert hatten. Aber das musste ich meinem Vater ja nicht unter die Nase reiben. „Wir haben einfach nicht daran gedacht die Tür offen zu lassen.“

Die Zweifel standen meinem Vater deutlich ins Gesicht geschrieben. „Aha“, war jedoch alles was er dazu sagte. Wahrscheinlich, weil ich seit einer Minute einen sauberen Lappen auswusch, nur um ihn nicht anschauen zu müssen. Ich war schon immer eine grauenhafte Lügnerin gewesen.

„So, ich muss dann jetzt los.“ Ich legte meine Tarnung ab, drückte Papa zum Abschied noch schnell einen Kuss auf die Wange und flüchtete dann regelrecht aus dem Haus. Was ich mit Cio hinter verschlossenen Türen trieb, war nichts was ich mit meinem Vater in irgendeiner Art besprechen wollte. Das wäre fast so schlimm, als hätte er mich auf Tayfun angesprochen. Oh Gott, Tayfun, ich würde dringend mit ihm reden müssen. Aber nicht jetzt, denn jetzt war ich verabredet.

Vielleicht war es noch ein wenig früh, dennoch fuhr ich mit dem Fahrrad durch die Stadt und schloss eine halbe Stunde später die Tür zu Cios Wohnung auf. Das Sofa war noch nicht gemacht, aber Anouk lag nicht mehr darin. Und da ich die Dusche rauschen hörte, ging ich davon aus, dass er sich inmitten seiner Morgenwäsche befand.

Um mir die Zeit zu vertreiben, begann ich damit die Sachen auf dem Sofa zusammenzulegen. Dabei bemerkte ich die offene Mappe mit den Fotos darin. Neugierig ließ ich die Decke Decke sein und fächerte die Bilder ein wenig weiter auseinander. Das war eine Serie von schwarzweiß Aktaufnahmen. Immer ein Mann und eine Frau, aber niemals das selbe Pärchen zwei Mal. In ihnen steckte Sinnlichkeit, Eleganz und eine kleine Prise Wollust, ohne dabei anstößig zu wirken.

Ich war vielleicht nur ein Laie, aber ich fand sie Fotos fantastisch und einen kurzen Moment fragte ich mich, ob mein Cousin sowas auch mit mir hinbekommen würde. Hm, sein wir ehrlich, wahrscheinlich nicht.

Sachte schob ich das Bild von einem Pärchen zur Seite, dass sich in einer innigen Umarmung küsste, um mir die Photographie darunter anzuschauen.

„Ich mag es nicht, wenn man in meinen Sachen herumstöbert.“

Erschrocken wirbelte ich herum und fiel dabei fast auf die Couch. „Mein Gott hast du mich erschreckt.“

Anouk schwang sich sein feuchtes Handtuch über die Schulter, trat zum Tisch und schob die Schwarzweißaufnahmen zusammen, bis sie wieder in der Mappe verschwunden waren.

Ob er jetzt wirklich sauer war? „Die sind wirklich gut“, versuchte ich ihn zu besänftigen.

„Sie sind in Ordnung“, erwiderte er schlicht und schnappte sich sein Hemd von der Sofalehne, um auch noch den Rest von ihm zu bedecken.

Ich stutze und kniff die Augen leicht zusammen. „Was hast du da auf dem Rücken?“

Ohne in der Bewegung inne zu halten, zog er das Hemd herunter. „Ein Andenken an meine Kindheit.“

Fast schon automatisch trat ich näher und streckte die Hand nach seinem Shirt aus, um es wieder nach oben zu schieben, besann mich dann aber eines Besseren. Ich glaubte nicht, dass mein Cousin es sonderlich schätzen würde, wenn ich ihm an die Wäsche ging. „Das sind Narben, oder?“

Er schaute mich nur stumm an, zog sein Hemd dann selber ein Stück hoch und präsentierte mir ein Narbengeflecht an seinem Unterrücken. Nein, Moment, das waren Buchstaben. Was stand da?

Ich brauchte einen Moment, um den Formen der verblassten Spuren einen Sinn zu geben. Mein Mund öffnete sich betroffen, als ich das Wort entziffert hatte.

Bastard.

„Ich weiß nicht ob man es dir gesagt hat, aber als meine Mutter damals von diesem Irren entführt wurde, war sie mit mir schwanger. Ich bin in der Sklaverei geboren.“

Natürlich wusste ich davon, nur irgendwie hatte ich einfach nicht daran gedacht. Anouk war immer so still, sodass man ihn leicht übersah. Da konnte man auch schnell vergessen, was ihm einst widerfahren war. Für mich war Anouk einfach nur mein etwas seltsamer Cousin.

Er ließ sein Hemd fallen und machte sich nun selber daran, das Bettzeug von letzter Nacht zusammen zu legen. „Ich war eins und meine Mutter hatte sich einem Befehl ihres Meisters widersetzt. Dies war seine Strafe.“

Wie konnte er nur so gleichgültig darüber sprechen? Er war als kleines Kind verstümmelt worden, so schlimm, dass man es heute noch sah. Aber warum war mir das vorher noch nie aufgefallen? Erst am letzten Wochenende hatte ich ihn zum letzten Mal in Badekleidung gesehen.

Die Antwort war genauso klar wie, wie erschütternd: Weil man ihn einfach nicht beachtete. Anouk war so still, selbst hinter seiner Kamera, dass man ihm nie viel Aufmerksamkeit schenkte. „Das tut mir wirklich leid.“

„Es hat keine Bedeutung, ich kann mich nicht mal daran erinnern.“

So wie er es sagte, war ich wirklich versucht ihm das zu glauben. Aber nun war er fürs Leben gezeichnet. Das musste doch irgendwas bei ihm bewirken. Vielleicht war das ja der Grund, warum er mit Alina herumgeknutscht hatte, schließlich hatte auch sie ihre jüngste Kindheit in der Sklaverei verbracht. Sowas verband, oder?

Vielleicht war das ja die Gelegenheit ihn ein wenig auszufragen. Ich meine, wenn wir sowieso schon beim Thema waren. Eine bessere Gelegenheit würde sich mir wahrscheinlich so schnell nicht wieder bieten. Darum fragte ich ganz vorsichtig: „Magst du Alina deswegen? Also weil ihr etwas Ähnliches passiert ist?“

Er arbeitete ungerührt weiter, seufzte dann aber, als ich ihn nur still beobachtete. „Sie hat es dir erzählt, oder?“

Oh Mist. Sollte ich mich dumm stellen, oder mit der Tür ins Haus fallen? „Nur wenn du deswegen nicht sauer bist.“ Na bitte, das war doch ein prima Mittelweg.

Seine Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. „Natürlich hat sie es dir erzählt. Sie sagt dir schließlich alles.“

Ähm … ja, das stimmte, schon, aber woher wusste er das? „Ist das ein Ja?“, traute ich mich vorsichtig zu fragen.

Anouk klopfte das Kissen auf und warf es dann auf den Deckenstapel. „Ich möchte dich nicht vor den Kopf stoßen, Zaira, aber nur weil Alina mit dir über alles spricht, heißt das noch lange nicht, dass ich es auch tue. Und das hier geht dich nichts an.“

Na das war doch mal eine sehr direkte Abfuhr. „Davon lange um den heißen Brei herumzureden, hältst du wohl nicht viel, was?“

Das wurde von ihm nicht weiter beachtet. „Ich muss los. Willst du mitkommen, oder treffen wir uns später zum Besichtigungstermin?“

„Oh, ich komme gleich mit.“ Ich musste ihm schließlich noch darüber aufklären, dass wir uns heute nicht nur zwei, sondern gleich sieben Wohnungen besichtigen würden. Ja ich gebe es zu, ich hatte gestern noch allein recherchiert und war dabei ein wenig übermütig geworden. Aber schließlich war so eine Wohnungssuche keine leichte Sache. Er musste eben einen Ort finden, an dem er sich wohlfühlen konnte. Und da brauchte man halt eine gewisse Auswahl.

Das Studio in dem er zukünftig arbeiten sollte, lag ziemlich versteckt in einer kleinen Seitenstraße. Hätte Anouk mich nicht hingeführt, wäre ich glatt daran vorbeigelaufen. Ich wartete im Vorraum, während Anouk mit dem Chef sprach und schaute mir zum Zeitvertreib die Bilder an den Wänden an. Alles sehr schlicht, aber doch … kunstvoll.

Danach ging es zur ersten Adresse auf meiner Liste. Eine kleine Einzimmerwohnung direkt unter dem Dach. Anouk fand sie gut. Die zweite Wohnung bestand aus zwei kleinen Zimmern. Anouk fand sie gut. Die dritte Wohnung war ganz ähnlich der ersten. Anouk fand sie gut. Bei der vierten Adresse fragte ich ihn gar nicht mehr, wie ihm Räumlichkeiten gefielen und traf nach meinen eigenen Kriterien eine Auswahl für ihn.

Bei der fünften Adresse war die Zuständige gleichzeitig für mehrere Wohnungsbesichtigungen verantwortlich, weswegen wir zuerst in eine andere Wohnung musste. Eine wunderschöne Wohnung, wie ich sofort bemerkte. Gemütliche Räume, große Fenster, eine offene Küche zum Wohnbereich. Und dann erst diese riesige Badewanne. Die Wohnung war wirklich ein Traum.

In einem anderen Leben.

Wahrscheinlich. Für Anouk wäre das hier nichts, auch wenn seine Augen bei dem Anblick der Räumlichkeiten genauso aufgeleuchtet hatten wie meine. Und Cio und ich würden die Miete wahrscheinlich auch dann nicht aufbringen können, wenn wir unsere Gehälter zusammenschmeißen würden. Dies war eben die Stadt der Alphas. Freie Wohnplätze waren immer heiß begehrt und dementsprechend teuer – besonders große Wohnräume.

Nach der Besichtigung der fünften Wohnung, waren wir gezwungen eine kleine Pause einzulegen, da der nächste Termin erst in zwei Stunden stattfinden würde. Darum entschlossen wir uns, in einem kleinen Café Platz zu nehmen und eine Kleinigkeit zu essen.

Wahrscheinlich war Anouk sogar froh, seine Füße nach der ganzen Rumrennerei mal hochzulegen. Obwohl er sich bisher nicht beklagt hatte und wie ich heute gemerkt hatte, nahm er auch kein Blatt vor den Mund, wenn er seine Meinung vertrat. Ja ich gab es zu, mich wurmte es doch ein wenig, dass er mit mir nicht über Alina sprechen wollte. Wann nur war ich so furchtbar neugierig geworden?

„Und“, fragte ich dann nicht ganz ohne Hintergedanken und brach ein Stück von meinem Croissant ab. „Was machst du heute Abend noch?“

Er schippte einen gehäuften Löffel Zucker in seinen Kaffee und rührte dann gemächlich darin herum. „Ich werde vermutlich noch ein paar Aufnahmen durchgehen.“

So was hatte ich mir schon beinahe gedacht. Allein in der Wohnung. Er kannte hier ja auch eigentlich niemanden und wenn er die ganze Zeit nur drinnen war, würde sich das auch nicht ändern. „Nein wirst du nicht“, widersprach ich ihm deswegen. „Du kommst heute Abend mit uns zur großen Vollmondjagd.“

„Okay“, sagte Anouk gleichgültig, nippte an seinem Kaffee und verzog angewidert das Gesicht.

Das war ja einfach gewesen. „Okay“, wiederholte ich und sah dabei zu, wie Anouk drei weitere Löffel voller Zucker in seinem Kaffee versenkte. Nun war es an mir angewidert das Gesicht zu verziehen. „Willst du das wirklich trinken?“

„Nein.“ Ein weiterer Löffel landete in der übersüßten Brühe. „Jetzt will ich es trinken.“

Mich schüttelte es. „Tut mir leid dir das sagen zu müssen, aber du bist widerlich.“

„Sagt die Frau mit dem Gemüseshake zu ihrem Croissant“, zog er mich auf.

Ich kniff die Augen leicht zusammen. „Der ist zufällig lecker.“

„Wenn du es sagst.“

Nanu, ich wusste ja gar nicht, dass mein Cousin eine verspielte Seite besaß. Aber genug der Spielereien. Ich steckte mir das Croissantstück in den Mund und ließ mir den Blätterteig auf der Zunge zergehen. „Komm heute Abend einfach zu Papas Haus, wir treffen die anderen dann oben am Schloss.“

„Wer kommt den noch mit?“, fragte er interessiert.

„Ähm … da hätten wir Cayenne mit der ganzen Sippe, Cios Eltern, vermutlich Joel und … naja, eben eine ganze Menge Leute.“

„Jemand aus der Familie?“

Ich hielt inne und musste dann versuchen mir das Lächeln zu verkneifen. „Hoffst du auf jemand bestimmten?“

„Ja, meinem Vater.“

Ach so. „Ich weiß nicht.“ Ich rupfte ein Stück vom Croissant ab und ließ es in meinem Mund verschwinden. „Kommt drauf an, ob er im HQ ist. Er ist eigentlich eher selten dabei, selbst wenn …“ Mein Handy klingelte und unterbrach mich damit. „Moment“, murmelte ich, während ich es aus der Tasche zog und es mir ohne aus Display zu schauen ans Ohr hielt. „Ja bitte?“

„Hallo mein Schatz“, sagte Papa und klang dabei einigermaßen angespannt. „Wo bist du gerade?“

„Ich sitze mit Anouk in einem Café in der Stadtmitte. Warum?“

„Darf ich dich abholen und nach Hause bringen?“

Ich runzelte die Stirn, nicht nur wegen seinem Ton, sondern auch wegen dem was er sagte. „Eigentlich wollten wir uns noch zwei Wohnungen anschauen. Warum, was ist den los?“

Mein Vater zögerte einen Moment, sagte dann aber: „Es wurde gerade noch eine Leiche gefunden, in Kerpen.“

„Was?!“ Aber das wäre heute ja dann schon das dritte Opfer. „Bist du dir sicher?“

Anouk horchte auf.

„Ja, es wurde gerade bestätigt. Der Amor-Killer war wieder tätig. Und …“ Er verfiel in Schweigen.

„Und was?“, forderte ich zu erfahren und merkte dabei gar nicht fest ich das Handy umklammerte. Noch ein Misto. Drei an einem Tag. Oh Gott, wo würde das noch hinführen?

„Und es fehlt wieder das Herz.“

Nein. Nicht noch einer. „Wer?“, fragte ich leise, weil mir plötzlich ein entsetzlicher Gedanke glasklar vor Augen stand. Von allen Opfern hatte ich zwei gekannt und nur diesen beiden fehlten die Herzen. Konnte das Zufall sein? „Wen hat er sich dieses Mal geholt?“

„Einen Mann, du kennst ihn nicht. Sein Name ist Dominique Sansouci. Er war wegen einer Geschäftsreise in Kerpen.“

Von der er nun nie wieder zurückkehren würde. Das war bitter, aber dennoch machte sich ein Gefühl der Erleichterung in mir breit. Natürlich war es schlimm, was da wieder passiert war, aber wenigstens war meine plötzliche Eingebung nichts weiter als ein Hirngespinst. Warum sollten diese Morde auch etwas mit mir zu tun haben? Das war alles nur ein schrecklicher Zufall gewesen. Aber noch etwas fiel mir auf. „Er folgt seinem Muster nicht. Seit Beatrice gab es erst zwei andere Tote.“

„Ich weiß.“

Und damit standen die Theorien und Nachforschungen wieder bei null. Verdammt. Amor tat nie etwas zweimal. Es gab keinerlei Gemeinsamkeiten zwischen den Opfern. Weder Geschlecht, noch Haar- oder Hautfarbe. Bis auf Kinder hatte er schon bei jeder Altersklasse zugegriffen. Das einzige was man wusste, war, dass er sich im Moment Richtung Norden bewegte, aber da er auch niemals zweimal am selber Ort zuschlug, konnte man auch nicht erahnen, wohin ihn sein Weg als nächstes führen würde.

Es gab nur eine einzige Sache, die allein Opfern zu eigen war, und die war es auch, die mein Vater im Moment solches Bauchweh verursachte: Jedes Opfer war zu seinen Lebzeiten ein Misto gewesen.

„Bitte Zaira“, sagte er deswegen. „Lass mich dich nach Hause holen, damit ich weiß, dass es dir gut geht.“

Ich wollte eigentlich nicht, einfach weil seine Ängste unbegründet waren, aber wir hatten uns gerade erst wieder vertragen und das wollte ich nicht gleich wieder aufs Spiel setzen. Außerdem machte er sich wirklich Sorgen. Darum gab es auch nur eine Antwort. „In Ordnung.“ Ich gab ihm die Adresse von dem kleinen Café und legte mit dem Versprechen auf, genau hier auf ihn zu warten.

Drei Leichen an einem Tag. Meine Lippen verzogen sich grimmig, als mir bewusst wurde, was das für die Zukunft bedeuten konnte. Und für jeden einzelnen Misto.

 

°°°

 

„Nein, wirst du nicht, weil ich es dir verbiete!“

Ganz ruhig, nur nicht aufregen. „Papa, du kannst es mir nicht verbieten, ich bin schon lange volljährig!“ Okay, das war nicht ruhig, aber langsam war ich wirklich genervt. Bereits seit einer halben Stunde diskutierte ich mit meinem Vater darüber, ob ich schon alt genug war, um im Dunkeln das Haus zu verlassen zu dürfen.

Ich sagte ja

Er nicht. Jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt.

„Papa, ich gehe immer zur Vollmondjagd.“

„Dann ist es auch nicht so schlimm, wenn du sie einmal verpasst“, hielt er sofort dagegen.

So ging das nun schon die ganze Zeit und langsam aber sicher ging mir die Geduld aus. „Ich möchte sie aber nicht verpassen.“

„Und ich möchte nicht, dass du nachts draußen rumläufst, solange da ein Mörder sein Unwesen treibt, der es auf Mistos abgesehen hat.“

Cio lehnte währenddessen still am Treppengeländer und verfolgte die Diskussion wie einem interessanten Ping Pong Match.

„Und du glaubst wirklich, dass der Mörder ausgerechnet heute Nacht hier auftauchen wird? Wobei, selbst wenn, ich werde mich dann inmitten einer Meute rauffreudiger Wölfe befinden. Das ist wahrscheinlich sicherer, als irgendwo sonst.“

Dieses Argument ließ mein Vater sich genau eine Sekunde durch den Kopf gehen, bevor er es dementierte. „Wenn der Mörder selber ein Lykaner ist, könnte er heute Nacht direkt neben dir stehen, ohne dass du es bemerkst – bis es zu spät ist.“ Den letzten Teil sagte er sehr düster. „Dieses Risiko werde ich nicht eingehen.“

Dem konnte ich leider nicht widersprechen, aber noch waren mir die Argumente nicht ausgegangen. „Papa, ich werde bei Cayenne sein und Cayenne ist noch heute einer der am besten geschützten Lykaner der Welt. Wenn der Mörder also schon nicht von den hunderten von Wölfen während der Jagd abgeschreckt wird, dann spätestens vor Cayennes Umbras.“ So, das sollte er jetzt erstmal schlucken.

Tat er auch. Meiner Meinung nach sogar viel zu schnell. „Die Umbras sind dazu da Cayenne zu schützen, nicht dich.“

„Und du glaubst, wenn einer von ihnen eine Gefahr auf mich zukommen sieht, bleibt er einfach tatenlos stehen, weil ich ja nicht sein Schützling bin?“

„Sei nicht lächerlich.“

Wie bitte? Ich sollte nicht lächerlich sein?

„Natürlich würden sie dir helfen. Aber sie behalten dich nicht ständig im Auge, so wie sie es bei Cayenne tun.“

Also ging es ihm darum, dass ich keine persönlichen Babysitter hatte, oder auch darum, dass er als Vampir nicht an der Jagd teilnehmen und mich schützen konnte. „Nein, Papa, aber es gibt andere, die mich im Auge behalten werden. Einer von ihnen befindet sich sogar hier bei uns im Raum. Beweisstück A.“ Ich deute auf Cio am Treppengeländer. „Glaubst du wirklich er würde zulassen, dass mir irgendwas geschieht?“

Mein Vater kniff die Augen leicht zusammen und sah so aus, als wollte er etwas sagen, dass er dann aber doch besser für sich behielt. „Nein“, sagte er dann widerwillig. Aber ich war mir nicht ganz sicher, ob er das nur aussprach, weil ich es hören wollte, oder ob er es ernst meinte.

„Siehst du, und davon abgesehen, befindet sich der Mörder im Moment hunderte von Kilometern weit weg. Seine Spuren führen nach Norden und wir befinden uns im Süden“, fühlte ich mich noch gezwungen hinzuzufügen und übertönte damit fast das Kratzen an der Haustür. „Das ist genau die entgegengesetzte Richtung. Gaaanz weit weg.“

Da Papa und ich noch schwer beschäftigt waren, stieß Cio sich vom Treppengeländer ab.

Immer mal wieder musste ich feststellen, wie finster mein Vater doch gucken konnte. „Wenn er nach dem letzten Mord direkt losgefahren ist, könnte er zur Jagd hier sein.“

Also … grrr! „Aber wie wahrscheinlich ist das bitte?“

Cio öffnete die Tür und ließ den wohl schönsten Wolf, den ich jemals gesehen hatte, in unserer Haus. Anouk. Er war von einem tiefen braun, mit einer schwarzen Marmorierung über seinen ganzen Körper. Sie tanzte nur wie Schatten auf seinem Fell, doch mit dieser dunklen Färbung, gab sie ihn einen düsteren Glanz.

Natürlich sah ich ihn nicht zum ersten Mal als Wolf, fand ihn jedoch immer wieder faszinierend.

„Genauso wahrscheinlich wie die Tatsache, dass du heute noch zur Vollmondjagd gehen wirst“, erklärte mein Vater, ohne unseren neuen Gast zu beachten.

Nein du flippst jetzt nicht aus! Aber ich konnte es mit einer anderen Taktik probieren. „Weißt du noch unser Gespräch gestern?“, fragte ich lauernd.

Sofort wurde mein Vater wachsam. „Natürlich.“

„Erinnerst du dich auch an den Teil, in dem ich dir gesagt habe, dass ich erwachsen bin und du mich meine eigenen Entscheidungen treffen lassen musst?“

Wirklich, er konnte echt finster schauen. „Das hier ist doch eine ganze andere Situation“, hielt er dagegen. „Das kannst du gar nicht vergleichen, denn hier geht es um Leben und Tod!“

Oh Drama komm raus, wo immer du steckst. „Nein, es geht darum, dass du mich nicht meine eigenen Entscheidungen treffen lassen willst.“

„Natürlich lasse ich dich deine eigenen Entscheidungen treffen. Erst vorhin habe ich dich gefragt, ob du noch einen Nachschlag vom Mittagessen willst und nichts dazu gesagt, als du nicht wolltest.“ Noch während er es sagte, kapierte er wohl selber, wie schwach dieses Argument doch war.

Ich wartete einfach still einen Moment. Und da kam es auch schon, das Seufzen mit dem er mir signalisierte, dass ich ihn in die Knie gezwungen hatte. Yeah!

„Na gut“, sagte er dann. „Okay, ja, du hast recht. Wahrscheinlich übertreibe ich einfach nur.“

„Schön dass du das endlich einsiehst. Cio, komm, machen wir uns fertig.“ Ich drehte mich herum, doch bevor ich auch nur in die Nähe der Treppe kommen konnte, stand mein Vater schon wieder vor mir. „Bitte Papa“, flehte ich. „Wir wollen los und du machst alles nur unnötig kompliziert.“

Seine Augenbrauen zogen sich ein Stück weit zusammen. „Trag deine Kette. Und bitte sei vorsichtig.“

„Ja, ich verspreche es. Lässt du mich jetzt bitte durch?“

Er grummelte etwas Unverständliches, gab dann aber endlich den Weg frei.

Ich schnappte mir Cios Hand, sobald er in meine Reichweite kam und zog ihn mit mir nach oben, bevor mein Vater noch irgendwelche weiteren Argumente aus dem Ärmel schütteln konnte, die ich geduldig abwehren musste – Geduld hatte ich gerade nun wirklich keine mehr.

Ich schob Cio in mein Zimmer, schlug die Tür zu und drehte sogar einmal den Schlüssel herum. So, ha, jetzt sollte mein Vater mal versuchen zu mir zu kommen.

Zufrieden mit mir und der Welt, drehte ich mich herum und erwischte Cio dabei, wie er … „Starrst du mir etwa gerade auf den Hintern?“

„Das ist mein Job.“ Grinsend kam er einen Schritt auf mich zu und zog mich in seine Arme. „Schon vergessen? Ich bin Beweisstück A, der Kerl der dich nicht aus den Augen lassen wird. Um genau zu sein, keinen Teil von dir.“ Wie um seine Worte zu unterstreichen, tätschelte er mir den Hintern.

„Anouk wartet unten auf uns“, mahnte ich ihn.

„Der wird auch noch ein paar Minuten länger warten.“ Er zupfte an meinem Hemd und warf einen Blick auf mein Dekolleté.

Ich gab ihm einen Klaps auf die Hand. „He! Ich habe gerade eine halbe Stunde mit meinem Vater darum gekämpft, damit wir den Abend genießen können.“

„Oh glaub mir“, säuselte er an meinen Lippen. „Das was ich mit dir vorhabe, wirst du genießen.“

Es kostete mich eine Menge Kraft, aber ich blieb standhaft. „Ja? Schön, merk es dir für einen Zeitpunkt, wenn wir ein bisschen Zeit haben.“ Ich wühlte mich aus seinen Armen heraus und machte einen großen Schritt zur Seite, um auf Sicherheitsabstand zu gehen. „Jetzt haben wir schon etwas vor.“ Ich knöpfte mein Hemd auf und ließ es zusammen mit meinem BH auf den Boden fallen.

Hinter mir gab Cio ein sehnsüchtiges Stöhnen von sich, dass mir auf eine Art schmeichelte, bei der mir wohlige Schauder über die Haut krochen. „Warum bist du nur so grausam?“, fragte er übertrieben niedergeschlagen und öffnete die Zimmertür einen Spalt, damit wir herauskonnten, sobald wir uns verwandelt hatten.

Dann ließ er ungeniert die Hüllen fallen und zwinkerte mir sogar noch zu, als er bemerkte, wie mein Blick schamlos über seinen nackten Körper wanderte, bevor er sich der Verwandlung hingab.

Ich rief mich zur Ordnung, und machte mich nun selber daran, die letzten Kleidungsstücke abzulegen und mich zu verwandeln. Nur die Kette meines Vaters blieb an meinem Hals.

Heute Nacht war die Melodie des Mondes so ohrenbetäubend schön, dass ich das Gefühl hatte, im Licht zu baden und mich selbst nach der Metamorphose noch in seinem Nachklang sonnen konnte. Naja, zumindest bis zu dem Moment, als Cio mir einmal quer über die Schnauze schleckte. Na toll.

Los, hoch mit dir. Du wolltest doch unbedingt los.“ Auf einmal stockte er und bekam dann etwas Lauerndes. „Oder hast du es dir vielleicht anders überlegt?“ Hätte er es gekonnt, hätte er wohl seine Augenbrauen hüpfen lassen.

Vergiss es.“ Ich stand auf und schüttelte mir die Reste der Verwandlung aus dem Fell. „Los, komm schon, lass uns gehen.“

Er lachte leise. „Wie Mylady wünscht.“ Verspielt biss er mir in den Nacken, hüpfte dann über mich rüber und stürmt als erstes aus dem Raum.

Na warte.“ Ich sprang hinterher und erwischte ihn noch oben an der Treppe. Den ganzen Weg nach unten balgten wir uns und unterbrachen uns an der Tür auch nur einen kurzen Moment, weil mein Vater eine Ewigkeit brauchte, um sie uns zu öffnen. Vermutlich hoffte er, dass die Sonne schon aufgegangen sein würde, wenn er nur langsam genug ginge. Ich machte ihn mit einem Knurren darauf aufmerksam, dass er mit dem Blödsinn aufhören sollte.

Draußen umfing mich diese magische Nacht mit einer lauen Brise, die den Geruch von Erwartung und Freude mit sich trug. Die Straßen waren voll von Wölfen, die es alle zum gleichen Ziel hinzog, nach oben zum Schloss, zu den Alphas, immer den Instinkten nach.

Anouk beobachtete alles aufmerksam und ärgerte sich vermutlich, weil er keine Kamera bei sich hatte, wo er doch sonst immer alles auf Foto festhielt. Und das hier war wirklich mal ein atemberaubender Anblick.

Manche der Wölfe strebten einfach stur ihrem Ziel entgegen. Andere schlichen in den Schatten entlang, als wollten sie nicht entdeckt werden – jedenfalls nicht bis sie hervorsprangen, um andere Wölfe zu erschrecken und dann schnell die Beine in die Hand zu nehmen.

Das war ein Spiel, das ich selber schon gespielt hatte – und leider auch verloren. Andererseits … gegen Cio verlor ich gerne.

Es gab große Gruppen und kleine Familien, Pärchen und Einzelgänger. Aber keine kleinen Kinder. Die Spiele unter den Lykanern konnten während einer so ausgelassenen Jagd doch ein wenig ruppig werden. Darum waren die jüngsten Teilnehmer alle um die Vierzehn Jahre alt und wussten bereits sehr genau, worauf sie sich hier einlassen würden.

Als wir ein Stück die Straße entlangtrotteten, entdeckte ich den wilden Wolf aus dem Dickicht des Waldes spähen. Doch er kam nicht näher. Das war ihm heute wohl zu viel Trubel auf den Straßen.

Wir folgten dem Verlauf der Straße zusammen mit der Masse. Anfangs war es noch einfach zusammen zu bleiben, doch je weiter wir kamen, desto größer wurde das Gedränge. Und bald schon musste ich mehr als einmal den Hals recken, um meine Jungs nicht aus den Augen zu verlieren. Wobei eigentlich sie es immer waren, die mich wiederfanden. Bei so einem Gewimmel war meine Nase wirklich nicht zu gebrauchen.

Sobald wir näher an den Hof des Alphas herankamen, wurde das Durcheinander um uns herum erträglicher. Hier waren die Wölfe nicht mehr auf den Wegen zusammengepfercht, sondern konnten sich im ganzen Wald frei bewegen. Zwar blieben sie alle im nahem Umkreis, aber man trat sich wenigstens nicht mehr gegenseitig auf die Pfoten.

Doch jetzt wurde es erst problematisch, denn wir mussten die anderen finden. Zwar trafen wir uns immer ungefähr am gleichen Ort, aber wenn wir so viel Glück hatten wie heute, dann war er bereits von einer anderen Gruppe besetzt und wir mussten die Nasen recken, um die Witterung aufzunehmen.

Anouk war dabei keine große Hilfe, denn er kannte die Fährten der anderen ja gar nicht. Und ich … naja, besser wir sprachen gar nicht erst drüber. So war es Cio, der uns zwischen den Bäumen entlang zum Rand der großen Festwiese führte – ganz in der Nähe der Alphas.

Hier vorne war das Gedränge zwar besonders groß, doch da Cayenne einst die Königin gewesen war und sie noch immer zur Familie der Alphas gehörte – wie man einsehen musste, nachdem man nicht mehr versuchte sie aufgrund ihrer Natur umzubringen – stand ihr hier vorne ein kleiner abgetrennter Bereich zu, den sie aber nur selten in Anspruch nahm.

Heute jedoch war dieser Platz besetzt.

Damit lag es nun bei uns, sich den Weg zu ihr durchzukämpfen. Na dann mal los.

Entschuldigung, bitte. Darf ich mal durch. Danke. Entschuldigung, darf ich mal bitte?“ Als ein großer breitschultriger Wolf vor Cio nicht reagierte, schubste er ihn einfach zur Seite.

Hey!“ Der andere pumpte sich auf.

Ja, tut mir leid Kumpel, aber du hast nicht reagiert und meine Lady möchte hier gern durch.“

Ich duckte mich unter dem geringschätzigen Blick von diesem großen Klotz und schlich eilig an Cio vorbei, der sich im Gegensatz zu mir nicht einen Moment einschüchtern ließ.

Anouk schlenderte mir hinter, als ginge ihn das alles nichts an.

Tja, dann viel Spaß noch“, wünschte Cio dem Kerl, doch als er einen Schritt machte, verstellte dieser ihm den Weg.

Nicht so schnell, Bürschchen.“ Der Kerl blähte sich noch ein wenig auf und war dann wohl ein wenig irritiert, dass Cio sich von seiner Größe in keinem Maße beeindrucken ließ. „Dir muss wohl mal jemand ein paar Manieren beibringen. Du kannst hier nicht die Leute rumschubsen, nur um dein Mädchen zu beeindrucken.“

Kann ich nicht?“ Die Überraschung stand ihm fast überzeugend ins Gesicht geschrieben.

Ach Cio …

Der Kerl hob die Lefzen zu einem Knurren. „Du hältst dich wohl für witzig.“

Ja doch.“ Er nickte. „Ich habe so meine Momente. Und wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich bin verabredet.“ Ohne den finsteren Blick zu beachten, drängte Cio sich an dem grauen Muskelprotz vorbei, um wieder zu uns aufzuschließen.

Das wollte der Kerl aber nicht so auf sich sitzen lassen. Er wirbelte herum und stürzte sich auf meinem Freund. Leider war dem Typen nicht klar, dass Cio ein ausgebildeter Umbra war. Darum kam es wie es kommen musste. Cio, der schon damit gerechnet hatte, sprang einfach aus dem Weg und statt meinem Freund in den Hintern zu beißen, versenkte der Graue seine Zähne in die Schulter einer weißen Wölfin. Die fand das natürlich überhaupt nicht lustig und stürzte sich sofort auf den Typen, der mit eingezogener Rute Entschuldigungen ausstieß.

Cio huschte kichernd an meine Seite.

Das hätte nun wirklich nicht sein müssen“, tadelte ich ihn.

Was, wolltest du etwa, dass er mich beißt?“

Das würdigte ich nicht mal mit einem Hauch von Interesse.

Ach komm schon, Schäfchen.“ Er rempelte mich spielerisch an der Schulter an. „Das war doch nur Spaß.“

Du hast ihn provoziert und zwar mit voller Absicht“, warf ich ihm vor.

Ja gut, habe ich, aber ich kann solche aufgeplusterten Kerle einfach nicht ausstehen. In seinem Weltbild hätte vor Angst und Furcht vor ihm zittern müssen und zwar nur, weil er die größeren Zähne hat. Schwachkopf.“

Okay, da musste ich ihm recht geben. Auch wenn Cio das Ganze eigentlich erst angefangen hatte. „Egal“, sagte ich und beschleunigte meine Schritte ein wenig. „Lass uns zu den anderen gehen.“

Cio versuchte mir während des Laufens versöhnlich am Ohr zu knabbern. Es endete in einer kleinen Balgerei, an deren Ende wir meinem blonden Halbbruder Aric vor die Pfoten kullerten. Er machte sich nicht die Mühe aus dem Weg zu springen, als Cio mit seinem Hintern gegen ihn knallte, sondern schnappte einfach nur danach.

Ja, wartet, ich mach mit!“ Eine schlanke, goldene Wölfin stürzte sich auf Cio und rannte dabei auch noch Aric über den Haufen.

Kiara!“, schimpfte Aric und warf sich nun auch noch dazu.

Ich dagegen machte schnell einen Satz, um außer Reichweite zu gelangen. Wenn Cio und Kiara miteinander rauften, wollte ich wirklich nicht dazwischen sein. Aric tat mir jetzt schon leid.

Auf der kleinen Lichtung inmitten des Rudels lag Cayenne neben ihrem Gefährten Sydney. Ihre Augen waren genüsslich geschlossen. Hatte wohl etwas damit zu tun, dass Sydney ihr am Ohr knabberte.

Kiara sah fast genauso aus, wie unsere leibliche Mutter. Cayenne war ein wenig blonder und Kiara ein wenig zierlicher, aber man erkannte auf den ersten Blick, dass sie zusammen gehörten. Ganz anders als bei mir. Wenn man mich neben meiner Erzeugerin sah, würde man niemals darauf kommen, dass ich ihre Tochter war. Naja, außer man hieß Sydney, der sah einfach alles.

Ein wenig Abseits lag Genevièv und beobachtete alles still. Diego und Joel sah ich nicht, aber ich wusste das sie in der Nähe waren. Diego schob entweder Dienst und bewachte die Königin, oder er hatte frei und bewachte stattdessen Cayenne. Der Mann sollte sich dringend ein Hobby zulegen und mal Pause von der Arbeit machen.

Komm.“ Ich stupste Anouk an. „Ich stelle dir alle vor.“

Ich weiß wer sie sind.“ Sein Blick fiel auf Genevièv. „Zumindest bei den Meisten.“

Ja, aber sie kennen dich nicht. Also komm.“

Anouk sah nicht unbedingt aus, als wollte er neue Bekanntschaften schließen. Doch dann steuerte er zu meiner Überraschung direkt auf Cayenne zu.

Anouk!“, rief sie voller Freude, sprang auf die Beine und lief ihm zur Begrüßung entgegen.

Anouk war nicht ganz so aufdringlich wie meine Erzeugerin, aber auch er schien sich über die Begegnung zu freuen. Und mir wurde einmal mehr bewusst, wie wenig ich meinen Cousin in all den Jahren beachtet hatte – selbst in den letzten Jahren, als es eigentlich gar kein Hindernis mehr gegeben hatte, ihn ein wenig besser kennenzulernen. Wahrscheinlich war mir auch deswegen entfallen, dass die beiden eine gemeinsame Vergangenheit hatten. Schließlich war Cayenne es gewesen, die ihn und seine Mutter aus der Sklaverei befreit hatte.

Da ich die beiden nicht stören wollte, setzte ich mich einfach an Ort und Stelle auf meinen Hintern und beobachtete Aric, der gerade versuchte Cio niederzuringen. Na dabei wünschte ich ihm viel Glück. Aric mochte zwar ein geborener Alpha sein, aber Cio war seit einem Jahr ein fertig ausgebildeter Umbra.

Manchmal überlegte ich, wie Kasper dazu stand, dass sein Freund sich regelmäßig einen dichten Pelz sprießen ließ. Irgendwie hatte ich ihn das noch nie gefragt. Wenn man die beiden zusammen sah, wusste man einfach, dass sie zusammen gehörten. Selbst dann, wenn sie mal wieder eine ihrer epischen Beziehungspausen hatten, in denen beide viel zu stur waren, um sich miteinander zu versöhnen, obwohl sie die Sehnsucht nach dem anderen fast umbrachte. Und unausstehlich für jeden dritten machen, der in dieser Zeit das Pech hatte, mit ihnen zu tun zu haben.

Eigentlich verbot das Gesetz der verborgenen Welt es ja, Menschen zu Eingeweihten unserer Existenz zu machen. Tat man es dennoch, wurde der betreffende Lykaner wegen Verrat schwer bestraft und dem Menschen das Gedächtnis gelöscht, damit alles, was mit Vampir und Co. zu tun hatte, ganz schnell wieder aus seinen Gedanken verschwand.

Kasper wusste durch mich von dieser Welt. Er hatte mich zufällig bei einer Verwandlung beobachtet. Es gab wohl mehrere Gründe, warum ich trotzdem nicht bestraft worden war. Zum einen war es nicht meine Absicht gewesen, es war einfach passiert, zum zweiten war Cayenne damals noch die Königin gewesen und hätte es niemals erlaubt, dass man mich deswegen bestrafen würde, aber der wirklich ausschlaggebend Grund waren wohl die damaligen Umstände gewesen: Cayennes Sturz und die Folgen, die sich daraus ergeben hatte. Die Sache mit Kasper, war im Gegensatz dazu eine unbedeutende Kleinigkeit gewesen, der man sich auch später hatte widmen können. Und genau das hatte ein übereifriger Lykaner auch getan, sobald Sadrijas Stellung ein wenig gesichert gewesen war.

Es war nur ein paar Wochen nach der Krönung der Königin geschehen, als irgendjemanden auffiel, dass der junge Mann an der Seite des ehemaligen Prinzen nicht nur ein Mensch war, sondern auch noch jemand, der hier eigentlich gar nicht sein durfte. Wir wussten bis heute nicht, von dem die Meldung gekommen war, doch jemand hatte diese Tatsache den Wächtern mitgeteilt und die hatten prompt reagiert.

Damals hatten Aric und Kasper noch keine eigene Wohnung gehabt und bei Cayenne gewohnt. Die war ziemlich überrascht gewesen, als da plötzlich eine Horde Wächter unangemeldet in ihr Haus einfiel, um dieser Gesetzlosigkeit ein Ende zu setzen. Das Problem dabei war nur, dass Cayenne und Aric trotz allem noch Alphas waren und in einem Haus mit mehreren Umbras wohnten.

Ich war nicht dabei gewesen, aber es sollte eine heftige Auseinandersetzung gegeben haben, an dessen Ende Aric einem der Wächter fast den Kopf abgerissen hatte, weil der es gewagt hatte, Kasper am Arm zu ergreifen, um meinen besten Freund aus dem Haus zu zerren. Aric mochte es nicht, wenn außer ihm jemand Kasper anfasste. Nicht nur wegen Kaspers Berührungsängsten, Aric war extrem revierfixiert und eifersüchtig.

Was Aric aber noch viel weniger mochte, als wenn irgendjemand einfach Kasper anfasste, war, wenn irgendjemand Kasper anfasste und Kasper selber das gar nicht wollte. Bei Freunden war das … naja, eine Grauzone. Er knurrte zwar, übertrieb es aber nicht. Fremde allerdings … sagen wir einmal mal so: Der Wächter konnte froh sein, nur im Krankenhaus gelandet zu sein.

Leider war die Sache damit aber nicht ausgestanden gewesen, Kasper war trotzdem noch ein Außenstehender gewesen, der hier nichts zu suchen hatte. Da aber klar gewesen war, dass Aric jeden durch die nächste Wand rammen würde, der auch nur in Kaspers Nähe kam, um ihn von ihm zu trennen, schaltete Cayenne sich ein und ließ ihre Beziehungen spielen. Sie hatte Königin Sadrija tatsächlich davon überzeugen können, dass sie ja alle eine große und glückliche Familie waren, in der man zusammenhalten und sich gegenseitig unterstützte musste. Ach ja, und auch, dass Sadrija ihr etwas schuldig war, weil Cayenne wegen ihr vom Thron gestoßen und anschließend fast umgebracht worden war. Sadrija war zwar nicht unbedingt begeistert gewesen, aber sie tat das einzige, was sie tun konnte.

In der verborgenen Welt gab es durchaus Menschen. Sie lebten und arbeiteten bei den Vampiren als Blutwirte. Manche waren privat angestellt, andere arbeiteten über Firmen oder in Blutrestaurants. Es wurde gut bezahlt, man bekam eine monatliche Gesundheitsvorsorge und manche Firmen stellten den Wirten sogar Wohnungen zur Verfügung. Das wichtigste an diesem Job war jedoch der Ausweis. Dieser Ausweis war für die Menschen eine Erlaubnis, unter unseresgleichen zu leben.

Sadrija hatte dafür gesorgt, dass Kasper einen solchen Ausweis bekam. Damit war er mit der Erlaubnis der Stadt Silenda ein offizieller Wirt, auch wenn er nicht als solcher arbeitete und hatte damit das Recht erworben, in das Geheimnis eingeweiht zu sein und im Rudel zu leben. Aber wehe dem Vampir, der es wagen sollte, diesen Ausweis für bahre Münze zu nehmen und Kasper anzapfen wollte. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was Aric mit dem machen würde.

Das Problem dabei war nur, dass Kapser in der verborgenen Welt wirklich nur als Wirt arbeiten durfte. Nur die Blutwirtfirmen würden einen Menschen anstellen, niemand sonst. Das bedeutete, dass er keine Arbeit hatte. Das belastete nicht nur ihn, sondern auch die Beziehung der beiden und war oft nicht nur ein Streitthema zwischen ihnen, sonder bereits mehrmals der Grund für ihre regelmäßigen Trennungen gewesen.

Kasper war ein unabhängiger Mensch und fand es nicht lustig, sich von seinem Freund finanzieren lassen zu müssen. Einmal hatte er mir anvertraut, dass er sich manchmal wie Arics Nutte vorkam. Er liebte meinen Halbbruder, keine Frage, aber manchmal war es für ihn eben nicht ganz einfach. Aric dagegen fand es einfach nur albern. Seiner Meinung nach war es scheiß egal, wer das Geld besorgte, Hauptsache sie konnten zusammen sein.

Auch solche Abende wie heute, belasteten Kasper. Er war ein Mensch und deswegen war es ihm nicht erlaubt, sich der Jagd unter dem Mond anzuschießen, oder auch nur mitzukommen und zuzugucken. Er musste zurückbleiben, während sein Freund sich mit der Familie und den Freunden amüsieren ging.

Wenn Aric allerdings anbot auch Zuhause zu bleiben und die Jagd einfach sausen zu lassen, wurde Kasper zickig, weil er nicht wollte, dass Aric sich seinetwegen einschränken musste.

Die beiden konnten wirklich anstrengend sein.

Als Aric knurrte, weil Cio damit begonnen hatte, auf seinem Bein herumzukauen, um seinen besten Freund zu Fall zu bringen, glitt mein Blick an ihnen vorbei zu dem erhöhten Hügel zwanzig Meter weiter, auf dem Königin Sadrija und ihr Gefährte König Carlos majestätisch thronten und ihr Rudel überwachten. Sie waren beide das genaue Gegenteil voneinander. Sie war schmal, blond und immer irgendwie durchscheinend. Er dagegen war breitschultrig, hatte nachtschwarzes Fell und wirkte immer wie ein Berg, den niemand außer er selber in Bewegung setzten konnte. Naja, niemand außer ihm und Sadrija.

Besonders im Moment bewachte er sie immer mit Argusaugen und mochte es nicht, wenn jemand ihr und ihrem kugelrunden Bauch zu nahe kam. Er knurrte zwar nicht, aber das brauchte er auch gar nicht. Er musste nur ein Blick auf die Leute werfen und die zogen sofort die Rute zwischen die Beine und entschieden, dass es vielleicht doch besser war, in die andere Richtung zu gehen.

Ich fragte mich, was das wohl für ein Gefühl war, ein ungeborenes Kind unter dem Herzen zu tragen. Wahrscheinlich würde ich es nie erfahren.

Und das willst du auch nicht. Schon vergessen? Du fühlst doch noch nicht reif für eigene Kinder. Nein, tat ich nicht, aber … was war mit der Zukunft? Grundsätzlich hatte ich ja nichts gegen Kinder, nur war ich eben … ich.

Seufzend richtete ich meinen Blick auf den anderen schwarzen Wolf, der dort oben bei den Alphas saß und seinen hochmütigen Blick, über das niedere Volk gleiten ließ. Graf Rouven. Wenn man ihn so sah, konnte man manchmal wirklich meinen, er sei hier der König und nicht nur ein kleiner Berater, der seinen Status allein dem Verwandtschaftsgrad zu König Carlos zu verdanken hatte.

Ein laues Lüftchen wehte mir durchs Fell und umschmeichelte meine Nase. Der Mond stand schon fast im Zenit. Die Kraft die er abstrahlte, war so unglaublich, dass ich sie bis unter die Haut spüren konnte. Es war ein wunderbares Gefühl. Ich liebe Vollmondnächte und mittlerweile auch die Vollmondjagd. Mein erster Besuch war zwar der reinste Reinfall gewesen, aber seitdem hatte ich immer viel Spaß unter dem Mond gehabt.

So setzte ich mich auch ein wenig gerader hin, als Königin Sadrija die Schnauze zum Himmel hob und ein Lied erklingen ließ, das so alt war wie die Wölfe selber.

Bei so vielen Lykanern dauerte es natürlich einen Moment, bis auch die letzten zur Ruhe kamen. Einer von ihnen war Cio, der noch immer an meinem völlig zerrupften Bruder zerrte und erst aufhörte, als Genevièv sie mit einem Knurren ermahnte.

Königin Sadrija ließ ihren Blick über ihre Schützlinge gleiten und gab einem dabei das Gefühl, jeden einzelnen von ihnen direkt anzuschauen „Ein Gruß unter dem Vollmond zu einer Nacht die allein uns gebührt.“

Ein paar Wölfe jaulten zustimmenden auf.

Willkommen zur Jagd.“

Als ich im Augenwinkel eine Bewegung bemerkte, schaute ich ein wenig verdutzt auf den goldenen Wolf neben mir. Ähm … okay. Ich verengte die Augen ein wenig. Eben war der Platz aber noch frei gewesen, da war ich mir ganz sicher. Aber davon abgesehen, seit wann setzte Kiara sich freiwillig zu mir? Und dann auch noch in der Öffentlichkeit, wo uns jeder sehen konnte.

Die Regeln unseres Spieles sind euch allen wohl bekannt, doch um ein bisschen Abwechslung hereinzubringen, wird es heute einen Preis für den Gewinner geben.“

Einen Preis? Ich spitzte die Ohren.

Heute werden die hellen Wölfe die Dunklen jagen. Der Wolf, der die meisten Gefangenen macht, wird zum Herbstbankett mein Ehrengast sein, genauso wie seine Beute.“

Überall aus der Menge ertönte aufgeregtes Jaulen.

Ein Biss an er Kehle bedeutet gefangen. Die dunklen Wölfe bekommen einen Vorsprung von zwanzig Minuten, in denen sie sich tief in den Wald begeben werden. Und …“

Ich muss mit dir reden“, unterbrach Kiara meine Konzentration und verdutzte mich damit erneut.

Irritiert wandte ich mich von Sadrija ab. „Jetzt?“

Ja, jetzt“, sagte sie fest, der der Ton ihrer Stimme strafte ihren Blick lügen. Sie versuchte es sich nicht anmerken zu lassen, aber sie wirkte ein wenig nervös. „Ich brauche deine Hilfe.“

Ich hörte nur noch mit halben Ohr zu, wie unsere Alpha ihre Eröffnungsrede hielt. Etwas in ihrem Ton ließ mich aufhorchen. Kiara hatte sich von sich aus noch nie an mich gewandt – noch nie! „Hilfe? Was für Hilfe?“

Einen langen Moment musterte sie mich, als sei sie sich nicht ganz sicher, wo sie beginnen sollte. „Ich habe da ein kleines Problem“, erklärte sie dann. „Ich bräuchte etwas … Unterstützung.“

Etwas bei dem ich ihr helfen konnte? Nun hatte sie mein ganze Aufmerksamkeit. „Klar“, sagte ich, ohne zu wissen, worum es eigentlich ging. Ich meine, wenn Kiara Hilfe brauchte, würde ich sie ihr sicher nicht verwehren. Auch wenn die Beziehung zwischen uns nicht ganz einfach war, sie war meine Schwester.

Sie musterte mich noch einmal. „Das was ich dir jetzt sage, darfst du niemanden verraten. Versprich es.“

Ähm … okay. Ich werde es niemanden sagen.“

Ihre Augen wurden eine Spur schmaler, so als glaubte sie mir nicht. „Auch Cio nicht.“

Okay, jetzt bekam ich langsam ein ungutes Gefühl. Trotzdem nickte ich. „In Ordnung, ich sage auch Cio nichts“, versprach ich, doch mit dem was die dann sagte, hätte ich im Leben nicht gerechnet.

Ich bin schwanger.“

Nein, mir klappte nicht die Kinnlade herunter, aber viel fehlte dazu nicht mehr. „Was?“

Ich bin schwanger“, wiederholte sie leise, als glaubte sie, ich sei zu blöd, die Bedeutung dieser Worte zu verstehen.

Ähm … herzlichen Glückwunsch.“

So wie sie mich anschaute, waren das die falschen Worte gewesen. „Das ist nichts worüber ich mich freue“, erklärte sie auch sofort. „Ich will diesen kleinen Parasiten nicht.“

Nein, dazu fiel mir nichts mehr ein.

In diesem Moment ertönte dann auch noch das Startsignal zum Lauf. Links und rechts schossen braune, schwarze und dunkelgraue Wölfe an uns vorbei und tauchten direkt in den Wald hinein. Ich jedoch blieb einfach auf meinem Hintern sitzen, starrte meine Schwester an und fragte mich, was sie nun von mir erwartete.

Vielleicht fängst du erstmal mit einem Gespräch an und findest heraus, was überhaupt los ist?

Gute Idee.

Leider wurde ich dann ziemlich grob von Cio angerempelt. „Komm schon Schäfchen, wir müssen los.“ Er zog ziemlich schonungslos an meinem Nackenfell, bis ich endlich auf die Beine kam. „Na los, beweg dich.“

Denk daran, was du versprochen hast“, erinnerte Kiara mich sofort. Ihr war genauso klar wie mir, dass wir jetzt nicht miteinander sprechen konnten, wenn ich noch etwas von meinem Nackenfell behalten wurde.

Ist ja gut“, sagte ich ein wenig zu schroff und schüttelte Cio ab. Dabei geriet Cayenne in mein Blickfeld, die jaulend die erste Gruppe anfeuerte. Wenigstens musste ich nicht mit ihr zusammenlaufen. Allerdings war auch Kiara in der anderen Gruppe und ich fand es überhaupt nicht ratsam, nach dieser Eröffnung jetzt einfach zu verschwinden.

Aber dann begann auch noch Anouk unruhig zu werden und mir blieb gar nichts anderes übrig, als mit ihm Cio in den Wald zu rennen, wenn ich keine unnötige Aufmerksamkeit auf das Problem lenken wollte. So trommelten meine Pfoten schon in der nächsten Minute über Waldboden, doch sobald der Mond nicht mehr durch die dichten Baumwipfel fiel, musste ich einfach anhalten und zurückschauen. Klar, von hier aus konnte ich Kiara nicht mehr erkennen, aber wenn ich hierblieb, würde ich sie abfangen können, sobald ihre Gruppe startete. Dann könnte ich sie zur Seite nehmen, um zu erfahren, was verdammt noch mal hier los war. Warum erzählte sie mir sowas kurz vor dem Start? Hätte sie nicht einfach vor ein paar Stunden anrufen können? Ich hatte mich den ganzen Nachmittag gelangweilt.

Was machst du?“, wollte Cio wissen. „Los, wir müssen weiter.“

Nein, ich …“ Ja was ich? Ich musste mir schnell etwas einfallen lassen. „Lasst uns hierbleiben und hier ein gutes Versteck suchen.“

Hier?“ Anouk runzelte zweifelnd die Stirn.

Ja hier.“ Ich nickte eifrig in dem Bemühen, die beiden von meiner Idee zu überzeugen – auch wenn sie selbst in meine Augen grottenschlecht war. „Alle laufen tief in den Wald, hier vorne wird uns niemand suchen. Das ist doch viel besser.“

Cio schaute über die Schulter, als könne er auf diese Weise erkennen, wie viel Zeit uns noch bliebe, bevor die zweite Gruppe sich auf die Socken machte. „Nicht wirklich“, widersprach er, als glaubte er, ich hätte sie nicht mehr alle. „Hier vorne sucht uns zwar niemand, aber das müssen sie auch gar nicht, weil sie einfach über uns stolpern werden.“

Hm, dem konnte ich nur schwerlich widersprechen – hauptsächlich darum, weil er recht hatte. Aber ich konnte mich jetzt auch nicht einfach amüsieren und auf die Jagd konzentrieren, während mir die ganze Zeit Kiaras Worte im Kopf herumgeisterten. Ich meine, schwanger? Wie zur Hölle hatte sie das hinbekommen?! Okay, streicht das.

Ich bin auch dafür, dass wir tiefer in den Wald laufen“, erklärte Anouk. „Hier vorne finden wir niemals ein gutes Versteck.“

Ja, aber auch nur, weil wir hier stehen und Quatschen, anstatt zu suchen.“ Ich schaute flehentlich von einem zum anderen. „Kommt schon, nie machen wir es so, wie ich es will, heute will ich mal bestimmen.“ Und viel wichtiger, ich wollte unbedingt mit Kiara reden.

Cio kam stirnrunzelnd auf mich zu und stupste mir an die Nase. „Ist alles in Ordnung? Du wirkst ein wenig gehetzt.“

Vielleicht weil wir auf einer Jagd sind?“, versuchte ich zu scherzen.

Anouk neigte den Kopf leicht zu Seite. „Nein, Cio hat recht. Du benimmst dich komisch.“

Na schönen dank auch. „Ich benehme mich gar nicht komisch. Ich will nur auch mal den Ton angeben.“

Ausgerechnet jetzt?“, fragte Cio und bekam dafür einen bösen Blick.

Ja, ausgerechnet jetzt.“

Zwei paar zweifelnde Blicke waren auf mich gerichtet und langsam ärgerte mich das. Sooo blöd war meine Idee dann doch nicht, auch wenn sie nur als Tarnung gedacht war. Aber wenn sie nicht wollten, bitte. „Okay, vergesst es, war eine blöde Idee. Lauft ihr ruhig tiefer in den Wald, ich bleibe hier vorne.“ Ich kehrte ihnen den Rücken. „Wir sehen uns dann später.“

Gerade überlegte ich, dass das auch nicht unbedingt etwas Schlechtes sein musste, obwohl ich mir den Abend definitiv anders vorgestellt hatte, da sprang Cio mir auch schon in den Weg, um mich aufzuhalten. „Ach komm schon Schäfchen, sei nicht sauer. Du hattest bisher schließlich nur noch nie Ambitionen den Ton anzugeben.“ Sein Gesicht rieb an meinem. „Aber wenn ich ehrlich bin, dann finde ich das irgendwie scharf.“

Ich schaute schnell zu Anouk, aber entweder hatte er nicht gehört, was Cio gesagt hatte, oder es interessierte ihn einfach nicht. „Du musst nicht hier bei mir bleiben.“ Genaugenommen würde seine Abwesenheit es viel einfacher machen. „Geh mit Anouk.“ Ich stupste ihm gegen die Nase. „Wir sehen uns dann später.“

Aber er ging nicht. Im Gegenteil, er wurde misstrauisch und misstrauisch war bei Cio gar nicht gut, weil er sich dann immer gezwungen sah, mir all meine Geheimnisse auf seine ganz spezielle Art zu entlocken. „Irgendwie habe ich das Gefühl, du willst mich loswerden.“

Quatsch“, widersprach ich sofort und versuchte nicht wie ein Lügenmaul auszusehen. Ehrlich, ich mochte es nicht besonders Cio etwas zu verschweigen – besonders nicht so etwas Wichtiges – aber ich hatte es nun einmal versprochen. „Ich will es nur mal auf meine Art probieren, das ist alles.“

Ob er mir glaubte oder nicht, er sagte: „Nun gut, dann bleiben wir halt hier und schauen, wie lange wir die Jäger an der Nase herumführen können.“ Er stellte die Ohren auf, als würde ihm dieser Gedanke gefallen. „Eigentlich könnte es auch ganz interessant werden. Wenn wir uns nur gut genug verbergen, werden sie nie bemerken, dass wir hier sind.“

Nun gut, dann würde ich die beiden eben doch nicht loswerden, aber wenigstens bekam ich meinen Willen. „Gut, dann lasst uns …“

Plötzlich zerriss der Schrei einer Frau die Nacht.

Vergessen war Kiara und ihr Problem. Vergessen war die Debatte darüber, wohin wir uns wenden sollten. Und vergessen war meine Absicht, sich heimlich davon zu machen. Einen Moment starrten wir einfach nur in die dunklen Schatten zwischen den Bäumen. Doch dann setzten wir uns wie auf ein unsichtbares Zeichen alle Gleichzeitig in Bewegung. Mir ging dabei nur ein Gedanke durch den Kopf: Bitte nicht noch ein Opfer. Der Amor-Killer hatte sich heute doch schon drei Leben geholt.

 

°°°°°

Blutige Spur

 

Mit weit ausholenden Sätzen, wetzte ich hinter Cio her, der sich an die Spitze unserer kleinen Gruppe gesetzt hatte. Ich orientierte mich an seinem Geruch, damit ich bei dem Tempo nicht mit einem Baum kollidierte. Aber es dauerte nicht lange, bis ich ans Schlusslicht fiel. Die Jungs waren nicht nur schneller, ihre Größe bot ihnen auch einen Vorteil, den ich nicht hatte.

Dem ersten Schrei war kein zweiter gefolgt und ich war mir nicht sicher, ob das ein gutes, oder ein schlechtes Zeichen war. Und natürlich machte es uns auch die Orientierung ein wenig schwer. Nach Gerüchen konnten wir uns auch nicht richten, da hier im Moment hunderte von Lykanern herumliefen und wir nicht genau wussten, nach wem wir suchen mussten.

Darum gelang es mir auch wieder zu den anderen aufzuschließen. Sie wurden langsamer, lauschten aufmerksamer. Auch ich horchte in die Nacht hinein und war dabei nicht weniger angespannt, als die beiden Männer. Kein Wesen schrie ohne guten Grund und nachdem, was in den letzten Wochen und Tagen alles geschehen war, dürfte es wohl keinen wundern, dass wir alle ein wenig angespannt waren.

Wir wurden immer langsamer und am Ende blieben wir sogar ganz stehen, um herauszufinden, wohin wir mussten. Aber niemand von uns hörte oder roch etwas Außergewöhnliches.

Ich überlegte schon, ob wir alle vielleicht halluziniert haben könnten, da richtete Cio sich kerzengerade auf und spitzte die Ohren. Eine Sekunde war er noch bei uns, dann stürmte er schon wieder davon. Anouk heftete sich direkt an seine Fersen. Ich hatte zwar nichts gehört, beeilte mich aber trotzdem, mich nicht abhängen zu lassen.

Vor uns tauchte eine zerfledderte Hecke auf. Die Kerle sprangen fast zeitgleich über das hohe Gestrüpp. Ich war zwei Sekunden hinter ihnen, setzte über das Laubwerk hinweg und landete …auf Anouk.

Ich gab noch einen überraschten Laut von mir, dann krachte ich auch schon in meinen Cousin hinein, riss ihn mit mir zu Boden und kam irgendwo unter ihm in einem Gewirr aus Gliedmaßen zum Liegen. „Was zum …“, wollte ich fluchen, erstarrte dann aber. Auch Cio lag am Boden. Wir waren alle übereinander gefallen, weil Cio nach dem Sprung mitten im Weg stehen geblieben war. Und wenn ich glaubte, dass das nackte Liebespärchen vor uns etwas damit zu tun hatte, das über unser Auftauchen genauso überrascht schien, lag ich damit wohl gar nicht mal so falsch.

Ähm …“, machte ich nicht sehr gescheit, während ich Anouk von mir runterschubste, um endlich wieder auf die Beine zu kommen.

Nicht weit entfernt erklang ein langgezogenes Wolfsheulen. Das Startsignal für die zweite Gruppe.

„Was zur Hölle!“, knurrte der muskulöse Kerl, der die Brünette beinahe unter sich begrub.

Och nee, oder? Das war der graue Wolf, den Cio vorhin geärgert hatte.

Cio schien das auch aufzugehen. „Tut mir leid Kumpel, wir haben eine Frau schreien gehört und wollten nur nachschauen, ob alles in Ordnung ist. Wir konnten ja nicht ahnen, dass sie deswegen geschrien hat. Übrigens, gute Arbeit.“ Und dann zwinkerte der Idiot dem Kerl auch noch zu.

Die besagte Frau versuchte sich peinlich berührt zu bedecken, ohne den Sichtschutz ihres Partners zu entschlüpfen.

Ja!“, sagte ich dann ein wenig übermütig und stieß Cio mit dem Kopf in die Seite. „Das ist unser Zeichen wieder zu verschwinden.“

Dabei war es doch gerade so nett“, protestierte Cio und handelte sich dafür von mir ein Zwicken in den Hintern ein. „Au!“

Anouk schnaubte. „Viel Spaß noch“, wünschte er dem Pärchen trocken und hüpfte wieder über den Strauch, der – wie ich jetzt wusste – den beiden als Sichtschutz gedient hatte. Cio jedoch konnte es nicht lassen, die beiden noch ein wenig zu Piesacken, nur wandte er sich dieses Mal direkt an die Frau. „Ähm … wenn das nicht zu aufdringlich wäre, würde ich sie bitten einmal für mich zu schreien. Sie wissen schon, nur damit wir uns versichern können, dass wirklich sie es waren, die wir gehört haben und keine …“ Cio sprang grinsend zur Seite, als der Kerl sich wütend auf ihn stürzte. Die Züge des Typen wurden wölfischer und das Zähnefletschen dadurch immer beeindruckender.

War ja nur eine Frage gewesen“, verteidigte Cio sich eilig und machte dann schnell einen Satz über das Gebüsch. „Man wird sich ja wohl noch Sorgen machen dürfen.“

Ich lächelte den Mann und seine Freundin so entschuldigend an, wie es mir möglich war, bis mir klar wurde, dass die beiden noch nackt waren und ich eindeutig zu viel sehen konnte. „Ich werde dann auch mal gehen und … ja, tut mir leid.“ Ich nahm den direkten Weg und zwängte mich durch das Gebüsch. Auf weitere Stürze durch überraschendes Stehenblieben, hatte ich keine Lust. Obwohl der Ast im Auge auch nicht unbedingt sehr angenehm war.

Hast du gesehen wie er mich angegrinst hat?“, fragte Cio und trottete an meine Seite, sobald ich das Geäst hinter mir gelassen hatte. „Ich glaube er mag mich.“

Ich glaube er wollte dich fressen“, widersprach Anouk und ich konnte ihm da nur zustimmen.

Auf jeden Fall war es peinlich.“

Nicht für uns“, murmelte Anouk und setzte sich in Bewegung.

Na super, noch so ein Witzbold. Dabei reichte meiner doch schon für mindestens fünf.

Nicht weit entfernt, erklang ein raues knurren, wie von einer Beißerei und dann ein triumphierendes Jaulen.

Cio spitzte die Ohren. „Ich denke, dass ist unser Zeichen, sich schleunigst …“

Er kam gar nicht mehr dazu den Satz zu beenden, den aus dem Gebüsch brach ein hellgrauer Wolf hervor, der sich direkt auf ihn stürzte.

Ich machte einen Satz zur Seite, stieß gegen Anouk und riss ihn fast mit mir zusammen zu Boden.

Lauft!“, befahl Anouk und gab Fersengeld. Ich zögerte einen Moment und wartete, weil ich Cio nicht zurücklassen wollte, was eigentlich nur dumm war. Cio war ein Umbra, mit ihm hatte mein kein leichtes Spiel. Darum besann ich mich schnell eines Besseren, nahm die Beine in die Hand und rannte.

Leider war Anouk ziemlich flink und bereits verschwunden, bevor ich mich ihm anschließen konnte. Dafür hörte ich aber Cio, wie er seinen Angreifer abwehrte und kaum eine Minute später an meiner Seite war.

Schnell!“, trieb er mich an und zog an mir vorbei. Das Fieber der Jagd hatte ihn gepackt und riss mich gleich mit sich.

Da ich niemals mit ihm mithalten könnte, passte er sein Tempo dem meinen an.

Wir bewegten uns parallel zum Waldrand, die Ohren und Beine immer in Bewegung. Mittlerweile war der Wald von Knurren und heiserem Bellen erfüllt. Immer wieder stieß ein Wolf ein triumphierendes Jaulen aus und zeigte damit an, dass er einen Fang gemacht hatte. Der Wald war erfüllt von Rascheln. Aber wir würden uns nicht so leicht fangen lassen. Wenn wir bis zum Morgengrauen durchhalten konnten, ohne erwischt zu werden, gehörten wir zu den Siegern. Aber das war leider gar nicht so einfach, bei einer solchen Überzahl an Gegnern. Besonders wenn die Zahl der Beute schrumpfte.

Cio verlangsamte sein Tempo und stellte lauschend die Ohren auf.

Ich lief geduckt an seiner Seite, die Nase dicht am Boden. Nur deswegen entdeckte ich die Mulde unter einer alten Eiche. „Cio, hier.“

Er warf einen Blick hinein. „Das ist kein gutes Versteck.“

Das war mir sehr wohl bewusst. „Es muss nicht gut sein, sondern nur ausreichend. Sobald die Jäger an uns vorbeigezogen sind, können wir uns etwas Besseres suchen.“

Er zweifelte an meiner Idee, genau wie vorhin schon einmal. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben du willst erwischt werden.“ Trotz seiner Worte, quetschte er sich in die Mulde und versuchte sich klein zu machen, damit ich auch noch genug Platz hatte.

Ich sagte ihm nicht, wie recht er hatte. Obwohl ich mich eigentlich nicht erwischen lassen wollte. Viel mehr ging es mir darum Kiara abzupassen. Darum zog ich auch an einen niedrigen Ast und klammerte meine Zähne darum, bis er unter meinem Gewicht einfach brach. Es raschelte und knirschte und die Landung war nicht besonders sanft, doch das begrünte Geäst würde uns verbergen. Also zerrte ich es hinter mir her, während ich rückwärts zu Cio in die Mulde kroch. Dann verharrten wir still nebeneinander und lauschten auf die Geräusche der Nacht. Und davon gab es im Moment sehr viele.

Hast du gesehen wo Anouk hingelaufen ist?“

Nein.“ Er streckte die Nase ein wenig höher, um Witterung aufnehmen zu können. „Aber er wird schon klarkommen.“

Kannst du ihn finden?“

Er machte eine wage Bewegung mit dem Kopf. „Ja. Die Frage ist nur, findet ein anderer ihn vor uns.“

Na das waren doch mal Aussichten.

Ein Geräusch in der Nähre veranlasste uns dazu, uns tiefer in die Schatten zu kauern. Still beobachteten wir, wie ein rötlicher Wolf an uns vorbeischlich. Das war kein Jäger, sondern ein Gejagter. Er bewegte sich leise, setzte jede Pfote mit Bedacht auf und verursachte kaum ein Geräusch. Und trotzdem stürzten plötzlich zwei andere Wölfe aus dem Dickicht und rangen ihn innerhalb von Sekunden nieder.

Wieder erklang ein Jaulen des Sieges. Die beiden Wölfe beglückwünschten sich zu ihrem Erfolg, während der Rote sich Grummelnd zu Boden sinken ließ und die beiden böse anfunkelte. Das wir kaum zwei Meter hinter ihnen kauerten, peilte keiner von ihnen. Zumindest bis der größere der Angreifer plötzlich die Nase zum Wittern hob.

Ich spannte mich an, bereit jeden Moment loszustürzen, doch es war nicht unser Geruch, den er aufgeschnappt hatte. Sein Blick glitt zu dem gegenüberliegenden Baum an die Stelle, wo ich den Ast abgebrochen hatte.

Mach dich bereit“, flüsterte Cio in meinem Kopf. Warum er flüsterte? Keine Ahnung. Schließlich sprach er so, dass nur ich ihn hören konnte. Es war einfach etwas, dass man ganz automatisch tat, wenn man leise sein wollte.

Ich spürte wie Cio sich anspannte und zum Sprung bereitmachte. Und gerade in dem Moment, als der Angreifer seinen Blick auf uns richtete, preschte er zähnebleckend heraus, rannte die beiden Wölfe einfach über den Haufen und lachte Laut auf, als die beiden erschrocken zur Seite sprangen und ihm damit praktisch den Weg freimachten.

Ich stürzte hinter ihm her, aber ich war langsamer als Cio und so war es nur eine Frage der Zeit, bis sie sich von ihrer Überraschung erholten und mich einfangen würden. Daher musste ich listig vorgehen. Cio würde ich eh nicht mehr einholen – es war nicht das erste Mal, dass wir während einer Jagd voneinander getrennt wurden. Darum hielt ich Ausschau nach einem neuen Versteck, rannte um einen umgefallenen Baumstamm herum, sprang über ein paar Büsche hinweg und … hielt abrupt an.

Vor mir stand eine Gruppe von drei Wölfen, die nicht minder überrascht wirkten, als ich. Cayenne, Sydney und … Kiara.

Ich schaltete Bruchteile von Sekunden, vor den anderen. „Fang mich!“, rief ich Kiara zu, sodass nur sie es hören konnte. „Los!“

Es dauerte eine endlose Sekunde, bis sie verstand und sich nur einen Tick vor Cayenne abstieß, um sich auf mich zu stürzen. Ich tat noch so, als wolle ich schnell abhauen, da warf mich die Wucht ihres Sprunges auch schon zu Boden und ich spürte ihre Zähne an der Kehle.

Aua“, stöhnte ich. Das hatte wirklich wehgetan. Sie hätte ja nicht gleich so grob sein müssen. „Okay, ist ja gut, geh runter von mir.“

Kiara löste ihren Biss von mir, während unsere leibliche Mutter schmunzelnd dabei zuschaute, wie ihre Töchter sich mühevoll auseinander fummelten. Doch dann schien ihr ein Gedanken zu kommen.

Cayennes Augen verengten sich ein wenig und ein fiebriges Glitzern trat in sie. „Wenn du hier bist, dann muss Cio in der nähe sein.“ Hätte sie gekonnt, hätte sie wohl erwartungsvoll die Pfoten aneinander gerieben. „Dieses Mal entkommt er mir nicht.“

Sydney schmunzelte nur über den Eifer seiner Gefährtin, setzte sich zusammen mit Cayenne aber sofort in Bewegung. Doch als er feststellte, dass Kiara ihnen nicht folgte, bliebt er wieder stehen. „Nudel?“

Ähm … geht schon mal vor. Ich bringe Zaira noch zum Sammelplatz und komme dann nach.“

Am Sammelplatz fanden sich die Wölfe ein, die ausgeschieden waren, um zum einen gezählt zu werden und zum anderen bei der restlichen Jagd nicht im Weg zu stehen. Allerdings begab man sich normalerweise alleine dorthin. Darum verwunderte es wohl keinen von uns, dass Sydney seine Tochter ein wenig irritiert musterte.

Nun geht schon“, forderte sie ihre Eltern noch einmal direkt auf.

Cayenne schien daran nichts seltsam zu finden. Oder sie freute sich einfach, dass Kiara freiwillig Zeit mit mir verbringen wollte. Sydney jedoch argwöhnte dem Verhalten seiner Tochter. „Beeil dich“, war dennoch alles, was er sagte, bevor er sich zusammen mit Cayenne wieder in Bewegung setzte und die beiden dann lautlos zwischen den Bäumen verschwanden.

Das war nicht sehr geschickt“, bemerkte ich. Wenn Kiara nicht wollte, dass irgendwer wusste, dass sie schwanger war, sollte sie sich in Sydneys Gegenwart besser nicht komisch benehmen – besonders nicht bei ihm. Er war ein viel zu aufmerksamer Beobachter.

Du hast mir ja keine große Wahl gelassen“, bemerkte sie spitz und schaute dabei zu, wie ich mich aufraffte und mir das trockene Laub aus dem Fell schüttelte. „Wir hätten auch später darüber sprechen können. Ist ja leider nicht so, dass ich plötzlich aufhöre schwanger zu sein.“

Also … das gab es ja wohl nicht. Gab sie jetzt wirklich mir die Schuld, für diese Situation? „Du hättest es mir ja auch später sagen können“, hielt ich sofort dagegen und funkelte sie an. „Wie kannst du plötzlich schwanger sein und warum willst du nicht, dass jemand davon erfährt?“

Der Ausdruck in ihrem Gesicht nahm etwas hochmütiges an. „Also, über das Wie musst ich dich ja hoffentlich nicht mehr aufklären und alles andere ist meine Privatsache. Es ist halt einfach passiert.“

Sowas passiert nicht einfach“, hielt ich sofort dagegen.“

Sie seufzte, als würde ich aus einer Mücke einen Elefanten machen. „Ich hab mich ein wenig mit einem Bekannten amüsiert, in Ordnung? Und im eifer des Gefechts … wir haben einfach nicht an die verdammten Kondome gedacht. Sowas kann passieren, aber jetzt habe ich diesen Parasiten in mir.“ Sie begann unruhig vor mir auf und ab zu laufen. „Das ist unpassend. Ich habe im Moment weder die Zeit, noch das Interesse an einem Baby. Ich habe genug mit meiner Arbeit zu tun und deswegen muss es weg.“

Weg? „Was meinst du mit weg?“

Sie verdrehte doch tatsächlich die Augen. „Was wohl, ich rede von Abtreibung.“

Das hatte ich bereits befürchtet, doch ich hatte es aus ihrem Mund hören müssen, um auch wirklich sicher zu gehen. „Was ist mir dem Vater?“, wollte ich wissen. Ein ungünstiger Zeitpunkt, war für mich kein hinreichender Grund, eine Abtreibung in Betracht zu zeihen, immerhin sprachen wir hier von einem ungeborenen Leben.

Kiara kam einen Moment aus dem Tritt, versuchte es aber zu überspielen, indem sie stehen blieb und den Kopf herausfordernd hob. „Der Vater ist nicht von Belang.“

Bitte? „Natürlich ist er das. Weiß er, dass du schwanger bist?“

Sie zögerte, als überlegt sie zu lügen, sagte dann aber: „Nein, er weiß es nicht und er wird es auch nicht erfahren. Außerdem weiß ich ganz genau, dass er weder ein Interesse an mir, noch an diesem Parasiten hat.“

Auch, und woher weißt du das? Bist du neuerdings Hellseher?“

Natürlich nicht.“ Sie setzte sich wieder in Bewegung. „Er ist ein Simultaner. Ich kenne ihn durch meine Arbeit und er hat bereits eine Familie. Es ist ausgeschlossen, dass zwischen uns beiden mehr als diese eine Nacht sein wird.“

Das wurde ja immer besser! Sie hatte sich mit einem Familienvater eingelassen? Das machte mich einfach nur noch sprachlos. Ich wusste wirklich nicht mehr, was dazu noch sagen sollte. Ich wusste nicht mal mehr, was ich denken sollte. Langsam fühlte ich mich von dieser Situation völlig überfordert. „Ich glaube du solltest mit Cayenne darüber sprechen. Sie kann dir bestimmt …“

Nein!“ Beinahe schon panisch, wirbelte sie zu mir herum. „Du darfst ihr nichts sagen. Weder ihr noch Papa, du hast es versprochen!“

Das hatte ich leider wirklich, doch langsam bereute ich es. Das hier ging einfach über meinen Erfahrungsschatz hinausging. „Ja, okay, ich werde nichts sagen, aber du kannst das nicht ewig verheimlichen. Früher oder später wird jemanden auffallen, dass du schwanger bist.“ Besonders bei einem so aufmerksamen Vater wie Sydney. Und dem immer größer werdenden Bauch.

Das ist kein Problem, ich habe schon einen Plan, aber dafür brauche ich dich.“

Dann kamen wir jetzt wohl zu dem Teil, in dem sie mir verriet, warum sie mich überhaupt eingeweiht hatte. „Was für einen Plan?“, fragte ich misstrauisch.

Ein ganz einfacher Plan. Ich habe mich ein wenig im Internet kundig gemacht und da gibt es diese Pillen. Die muss ich nur nehmen und dann löst sich der Embryo von der Gebärmutter, oder so.“

Redest du etwa von Abtreibungspillen?“ Ich war entsetzt. So dumm konnte sie doch gar nicht sein.

Ja.“ Sie setzte sich hin und schaute mich direkt an. „Die Erfolgsrate damit ist sehr gut, nur leider kann es zu heftigen Nebenwirkungen kommen und deswegen habe ich gehofft, dass du mir helfen würdest.“

Oh, verdammte Scheiße. Diese Pillen waren hochgradig gefährlich. Sie würden nicht nur das Leben des Ungeborenen beenden, sie konnten auch ihres bedrohen. Deswegen konnte ich gar nicht anders, als den Kopf zu schütteln. „Ich glaube, du weißt nicht, was du da von mir verlangst.“ Ich wollte ihr liebend gern helfen, aber nicht so.

Doch, ich bin mir darüber durchaus bewusst.“ Sie beugte sich mir ein wenig entgegen. „Zaira, ich habe dich noch nie um etwas gebeten, aber ich brauche deine Hilfe. Ich kann Mama und Papa nichts sagen. Sie würden wollen, dass ich das Kind behalte, aber ich bin dafür einfach noch nicht bereit.“

Das verstand ich, aber was sie da vorhatte, war auch keine Lösung. „Dann geh zu einem Arzt. Du bist schon lange volljährig, du brauchst keine Erlaubnis von deinen Eltern und das ist viel sicherer.“

Ich kann nicht zu einem Arzt gehen. Die Prozedur kann die Verwandlung auslösen, weswegen ich zu einem Arzt aus der verborgenen Welt müsste, aber die wissen alle wer ich bin. Ich bin das Goldkind, alle Welt kennt mein Gesicht und früher oder später würde Mama es erfahren. Und das darf nicht passieren. Sie würde es mir den Rest meines Lebens vorhalten.“

Das bezweifelte ich. „Aber was ist, wenn du …“

Ein Knacken im Unterholz ließ mich verstummen und uns beide herumwirbeln. Zwar hatte sie allein in meine Gedanken gesprochen, gestört werden wollten wir deswegen aber noch lange nicht.

Ich kniff die Augen leicht zusammen, um bei der Dunkelheit etwas zu erkennen. Es war jedoch der Geruch, der mir sagte wo ich suchen musste. Da, an dem Baum, halb verborgen von den Schatten und der Nacht stand ein grauer Wolf, der Wilde. Die Ohren aufgerichtet und die Nase neugierig in der Luft, beobachtete er mich.

Er kam einen Schritt auf mich zu, fiepte und wich wieder zurück. Er wollte zu mir, aber er wollte Kiara nicht zu nahe kommen.

Das ist nur der Wilde.“ Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Kiara und nahm den Faden wieder auf. „Hast du schon mal überlegt zu einer Beratungsstelle oder sowas zu gehen? Die sind da spezialisiert auf solche Fälle. Die können dir sicher helfen und …“

Ich will nicht zu einer Beratungsstelle, ich will nur dieses Baby loswerden. Hilfst du mir nun, oder muss ich es allein machen?“

Mich vor so eine Wahl zu stellen, war unfair. Warum nur hatte sie damit zu mir kommen müssen? Wenn ich jetzt etwas zu ihren Eltern sagen würde, wäre ich die Böse, aber wenn ich nichts sagen würde, könnte ich damit ihr Leben in Gefahr bringen.

Bitte Zaira. Es ist doch gar nicht weiter schwer. Wir sagen einfach, dass wir ein paar Tage wegfahren und suchen uns irgendwo ein Hotelzimmer. Ich nehme die Pillen und du passt auf mich auf. Und wenn es dann weg ist, kommen wir einfach zurück und vergessen die ganze Angelegenheit.“

Ja, das würde auch all ihre Probleme lösen. Meine jedoch nicht. „Ich weiß nicht“, sagte ich. Ich wollte ihr ja helfen, aber so? „Und wenn du das Baby bekommst und es zur Adoption frei gibst, oder so?“

Das würde Mama niemals zulassen“, verwarf sie meine Idee sofort. „Eher würde sie es selber aufziehen.“

Der wilde Wolf schlich ein paar Schritte näher und streckte den Kopf so weit es sein Hals zuließ, um an meinem Fell zu schnüffeln.

Ich ignorierte ihn einfach. Das hier war wichtiger. Ich musste Kiara davon überzeugen, einen anderen Weg einzuschlagen, einen, der nicht ihren baldigen Tod zur Folge hätte. „Wäre es denn so schlimm, wenn Cayenne das tun würde?“, fragte ich vorsichtig.

Kiara schnaubte. „Dann hätte ich das Balg ja doch am Hals. Oder glaubst du ernsthaft, ich würde mit dem Kind nichts zu tun haben, wenn meine Eltern es bei sich aufnehmen?“

Vermutlich nicht.“ Ich seufzte.

Um meine Aufmerksamkeit zu erlangen, biss der wilde Wolf mir spielerisch in die Flanke. Ich knurrte ihn an, damit er das unterließ. Wie hatte er mich nur unter den vielen Gerüchen heute Nacht finden können? Es schien fast als hätte er ein Radar, mit dem er mich immer und überall aufspüren könnte. Das war schon beinahe gruselig.

Bitte Zaira, du musst mir helfen,ich bin verzweifelt.“

Sie wirkte nicht wirklich verzweifelt, sondern eher so, als hätte sich da ein lästiges Problem aufgetan, dem sie sich schnellstens entledigen wollte.

Als ich mich von ihrem Flehen nicht sofort erweichen ließ, versuchte sie es mit einer anderen Taktik. „Wenn du mir nicht hilfst, dann werde ich es eben alleine machen.“

Diese Worte brachten mich sofort in die Defensive. „Glaubst du wirklich, dass Erpressung die beste Strategie ist?“, fragte ich streng.

Das ist kein Erpressung, sondern eine Tatsache. Ich will dieses Kind unter keine Umständen haben.“

In der Stille die daraufhin folgte, hörten wir sich nahende Schritte.

Mist“, murmelte Kiara, die die Gerüche als erstes auffing.

Anouk trat aus der Dunkelheit hervor.

Super, noch eine Unterbrechung. Aber damit war jetzt genug. Ich knurrte ihn nachdrücklich an, was ihn sofort verdutzt stehen bleiben ließ. Dann marschierte in die entgegengesetzte Richtung los. Kiara musste ich nicht extra auffordern, damit sie mir folgte.

Der wilde Wolf schien das auch als Einladung zu sehen. Er sprang an meine Seite, kniff mir mit den Zähnen in den Hals und lief dann ein paar Schritte vor, als hoffte er, ich würde ein wenig mit ihm im Wald umherstreifen. Und wenn ich ehrlich war, würde ich das in diesem Moment wirklich lieber tun, als dieses Gespräch mit meiner Schwester führen zu müssen.

Ich ging nicht weit, vielleicht zehn Meter und versicherte mich mit einem drohenden Blick, dass Anouk auch wirklich dort hinten blieb. Das hier war zu wichtig, um es weiter aufschieben zu können. Ich musste das jetzt in den Griff bekommen.

Und?“, fragte fragte Kiara dann auch ganz direkt. „Hilfst du mir nun, oder nicht?“

Ich seufzte. „Weißt du eigentlich was du da von mir verlangst? Dabei kann so viel schiefgehen. Wenn alles aus dem Ruder läuft, könntest du sogar sterben. Willst du das?“

Natürlich nicht. Darum bin ich ja auch zu dir gekommen.“

Nun war es an mir unruhig auf und ab zu laufen. „Du bringst mich gerade in eine heikle Situation, ist dir das eigentlich klar? Wenn ich dir helfe und etwas schiefgeht, werde ich mir das ewig vorwerfen. Und wenn ich dir nicht helfe und etwas passiert, wird das ewig auf meinem Gewissen lasten.“

Warum nur gehst du davon aus, dass etwas schiefgeht?“

Weil diese Pillen gefährlich sind!“, fuhr ich sie an und knurrte dabei sogar. Sie musste sich vollauf bewusstwerden, was auf sie zukommen konnte. „Sie könnten dich töten, egal ob ich da bin oder nicht. Und das alles nur, weil du mit den Folgen deiner Entscheidungen nicht leben willst!“

Kiara legte die Ohren an. „Ich bin nicht hier, um mir von dir Vortrag über Moral und Anstand anzuhören.“

Du hast mich um meine Hilfe gebeten, also kannst du dir das gefälligst auch anhören!“

Bei meinem scharfen Ton, wich Kiara tatsächlich einen Schritt zurück. „Ich habe dieses Problem bereits lange und ausführlich herumgewälzt, darum weiß ich ja auch, dass dies meine einzige Möglichkeit ist.“

Das stimmt nicht“, widersprach ich ihr sofort und fiel fast über den wilden Wolf, als er mir plötzlich in den Weg sprang. Ich knurrte ihn an, als er spielerisch nach mir biss und blieb stehen. „Du versuchst nur dich unbemerkt aus der Affäre zu ziehen. Aber wir müssen nun mal immer mit den Folgen unserer Taten leben – immer. Du kannst versuchen es zu vertuschen, aber früher oder später wird es auf dich zurückfallen.“

Mit einem Mal wurde Kiara äußerst distanziert. „Okay, ich habe verstanden. Es war ein Fehler gewesen, dich um Hilfe zu bitten.“

Nein“, widersprach ich ihr sofort. „Das war sogar das einzig Richtige, was du bisher getan hast.“

Das hatte sie wohl nicht hören wollen. Sie wirkte sie sogar richtig beleidigt. Trotzdem fragte sie: „Heißt das nun du hilfst mir, oder nicht?“

Würde ich ihr helfen? „Ich weiß nicht.“

Einen endlos langen Moment schauten wir uns einfach an. Doch dann seufzte sie einfach nur. „Weißt du was? Vergiss das ganze einfach, ich mach es alleine. Sie wandte sich zum Gehen.

Nein, warte!“

Sie blieb stehen und sah mich an.

In meinen Gedanken tobte ein Krieg. Natürlich konnte ich das tun was sie gesagt hatte und dieses ganze Gespräch einfach vergessen, aber was, wenn wirklich etwas passierte? Und wenn ich stattdessen zu Cayenne ging, würde sie mir das niemals verzeihen. Um es mal klar und deutlich auf den Punkt zu bringen: Diese Situation war scheiße!

Ich konnte sie das nicht alleine machen lassen, aber ich konnte ihr dabei auch nicht helfen. Da standen immerhin zwei Leben auf dem Spiel. Ich brauchte eine andere Lösung, doch so auf die Schnelle wollte mir absolut nichts einfallen. Vielleicht übertrieb ich auch einfach nur und diese Pillen waren gar nicht so gefährlich. Schließlich hatte die Medizin in den letzten Jahren gute Vorschritte gemacht. Aber um das zu erfahren, müsste ich mich erstmal kundig machen. Doch jetzt hier mitten im Wald, war das nicht möglich. Deswegen gab es nur eine einzige Sache die ich tun konnte, auch wenn sie mir widerstrebte. Ich musste lügen. „Okay“, sagte ich deswegen. „Ich werde dir helfen.“

Sie musterte mich einen stillen Moment. „Versprochen?“

Ja.“ Im Grunde war das keine wirkliche Lüge. Ich würde einen Weg finden ihr zu helfen, wenn auch nicht unbedingt auf die Art, die sie sich vorstellte. Ich brauchte nur eine gute Lösung für das Problem, die ich ihr unterbreiten konnte.

Danke.“

Aber du musst mir versprechen, dass du das auf keinen Fall alleine durchzuziehen wirst.“

Dafür bekam ich einen äußerst herablassenden Blick. „Ich mache mir ja wohl nicht die ganze Mühe dich von der Richtigkeit meiner Idee zu überzeugen, um es dann am Ende doch allein zu tun.“

So dachte sie vielleicht im Moment, aber bei Kiara konnte man sich halt nie sicher sein. „Versprich es mir. Du wolltest, dass ich dir verspreche den Mund zu halten und dir zu helfen, also versprich du mir das. Du machst es nicht alleine.“

Sie seufzte genervt. „Ja meinetwegen, ich verspreche es dir.“

Gut, danke. Und wenn du …“

Etwas brach aus dem Gebüsch hervor und rammte mich in die Seite. Mit einem Jaulen klatschte ich auf den Boden, während der Wilde erschrocken die Flucht antrat und bevor ich es wieder zurück auf die Beine schaffte, warf sich ein fünfhunderttonnen Gewicht auf mich rauf.

Kiara wich eilig zurück, um nicht von umherfliegenden Gliedmaßen getroffen zu werden.

Cio!“, schimpfte ich, als mir der vertraute Geruch in die Nase stieg.

An meinem Ohr wurde leise gelacht und geknabbert.

Du bist in meinem Team!“, protestierte ich. „Kein Jäger.“

Er lachte nur weiter. „Ich übe nur schon ein wenig.“

Ich wollte nicht fragen, wirklich nicht. Ich wusste genau, dass da nur wieder irgendeine Albernheit rauskam. Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – musste ich einfach wissen, was gerade schon wieder in seinem Kopf vor sich ging. „Wofür übst du denn?“

Natürlich für unsre Hochzeit. Da musst ich dich schließlich finden.“ Er knabberte zärtlich an meiner Kehle. „Und wie du unschwer merkst, habe ich dich gerade gefunden.“

Oh Mann, warum immer ich? Warum?

 

°°°

 

Missmutig starrte ich auf die Markierungen meiner Karte und versuchte einen Sinn dahinter zu finden. Elf Punkte. Drei Blaue, für jedes entfernte Herz. Sieben grüne, für die anderen Opfer und ein roter, für einen kleinen verschwundenen Jungen. Der Amor-Killer war in den letzten sieben Tagen fleißig gewesen und die Toten schienen einfach kein Ende nehmen zu wollen. Es war eine Spur aus Blut, die er durchs ganze Land zog. Keine gerade Linie, eher ein verkrüppeltes Zickzackmuster, dass von Silenda nach Kerpen führte, nur um dort eine scharfe Kurve nach Osten zu machen.

Hinter der Couch am Esstisch saß meine Mutter und schaute fluchend in ihre Karten. „Du schummelst doch“, warf sie meinem Vater vor, den das nur zum Lachen brachte.

„Ich schummle nicht, Gnocchi, du bist einfach nur schlecht in diesem Spiel.“

Dafür bekam er einen bösen Blick.

Im Fernseher liefen das Mittagsmagazin, aber keiner im Raum schenkte ihm Beachtung. Meine Mutter war viel zu sehr mit dem Versuch beschäftigt, meinen Vater in Mau-Mau zu schlagen. Solange ich mich zurück erinnern konnte, war ihr das bisher noch nie gelungen, aber sie versuchte es immer wieder – Ehrgeiz hatte sie auf jeden Fall.

Ich saß mit untergeschlagenen Beinen auf der Couch, knabberte an einer knackigen Karotte und versuchte einen Sinn in die Fakten zu bringen.

Der Amor-Killer war nun schon über einen Monat unterwegs. In dieser Zeit hatte er zehn Leben genommen und einen kleinen Jungen verschleppt. Die Opfer waren sowohl männlich, als auch weiblich, manche schon ziemlich alt, andere eher jung. Er schlug niemals zweimal an einem Ort zu und bewegte sich durchs ganze Land. Es gab kein Muster, weder in der Zeit zwischen den einzelnen Toten, noch an den Orten, wo er sie hinterließ. Manche waren öffentlich hinterlegt worden und andere so versteckt, dass man sie kaum fand. Und dann waren da noch die drei entfernten Herzen, deren Bedeutung sich mir völlig entzog. Nicht zu vergessen, Pfeil und Bogen.

Ich hatte im Internet ein wenig über Serienkiller recherchiert. Laut den Informationen, die ich dabei erhalten hatte, handelte unserer Serienmörder eher untypisch, da er sich nicht auf ein Gebiet beschränkte, sondern überall wo er auftauchte sein Unwesen trieb. Das er scheinbar gerne reiste, machte es nicht einfacher ihn zu finden.

Als Tatmotiv kamen zwei Dinge in Betracht. Entweder versuchte er dadurch etwas zu kompensieren, oder es war seine Art eine berüchtigte Berühmtheit zu erlangen.

Natürlich hatte ich noch mehr Gründe gefunden, doch diese beiden schienen mir am wahrscheinlichsten. Es konnte auch einfach Machtausübung sein. Das wichtigste dabei war jedoch das Ritual. Amor ging seine Opfer nie direkt an. Er schoss immer einen Pfeil ins Herz, was bedeutete, dass er ein sehr guter Schütze sein musste. Und sie alle wurden auf eine Art in Szene gesetzt, die die Grausamkeit noch untermalte.

Und dann war da noch die Tatsache, dass er seine Opfer nicht anrührte. Er nahm keine Trophäen in Form von Haaren oder Nägeln mit sich. Kein Schmuck, oder andere Andenken. Bis auf das Loch im Brustkorb, blieben sie alle völlig unberührt.

Außerdem war er sehr vorsichtig. Er hinterließ absolut keine Spuren. Die Pfeile waren alle eine Selbstanfertigung, sodass der Kauf nicht zurückverfolgt werden konnte. Woher ich das wusste? Mein Vater gehörte zu den Themis und erzählte mir davon, wenn ich ihn nach dem Ermittlungsstand fragte.

Dann waren da natürlich noch die ganzen Gedichte und Zitate, deren Sinn mir nach wie vor entging. Hatten die überhaupt eine Bedeutung, oder war das einfach nur Teil der Show, um die Ermittler in die Irre zu führen?

„Natürlich schummelst du!“, riss meine Mutter mich aus meinen Gedanken und warf ihre Karten mal wieder auf den Tisch. „Es kann doch einfach nicht sein, dass ich wirklich jedes Mal verliere.“

„Du verlierst nicht jedes Mal.“

„Aber meistens“, schmollte sie.

Ich ignorierte sie und widmete mich weiter meine Überlegungen. Eine weitere Tatsache bestand darin, dass jedes Opfer ein Misto gewesen war, wobei der Killer sich ausschließlich an Wolfsmistos hielt. Daher nahm ich an, dass er eine Art Hass gegen uns hegte. Und dann war da noch der kleine Kolja, der bis heute verschwunden blieb. War er schon tot und man hatte ihn einfach nur nicht gefunden, oder befand er sich in den Fängen des Killers? Beides waren keine sehr aufmunternden Optionen.

Wie schon tausend Mal in den letzten Stunden wanderte mein Blick über die einzelnen Markierungen in meinem Tablet, folgten der Spur und versuchten ein System dahinter zu finden. Aber da war nichts. Absolut gar nichts. Was nur übersah ich die ganze Zeit? Wo steckte der entscheidende Hinweis? Es musste einfach eine Spur geben, ich musste sie nur finden.

Okay, es war nicht meine Aufgabe sie zu finden, aber nachdem ich Victoria entdeckt hatte, konnte ich mich einfach nicht des Gefühls erwehren, etwas tun zu müssen. Nicht nur für die anderen, auch für mich.

Ich konzentrierte mich auf die drei blauen Punkte. Silenda, Arkan, Kerpen. Zwei davon waren reine Wervamporte, der dritte nicht. Also wieder kein Muster. Aber die Herzen mussten ihnen aus einem bestimmten Grund entfernt worden sein.

Vielleicht lag das Muster aber auch in den grünen Punkten, doch auch dort konnte ich keinerlei Symmetrie entdecken. Mal geschah eine ganze Woche gar nichts und dann holte der Killer sich plötzlich drei Leute an einem einzigen Tag. Warum?

Selbst unter den Opfern gab es keine Verbindung. Die eine war eine angesehene Großwächterin, die andere eine alte Lady mit einem Friseursalon und dann wieder eine junge Mutter. Ein Mann mit einem Drogenproblem, ein Student, der nur zu seiner Vorlesung gewollt hatte und ein Geschäftsmann, der nur aus beruflichen Gründen im Land gewesen war. Soweit bekannt war, hatten die Opfer nie wissentlich Kontakt zueinander gehabt. Sie waren Fremde. Dass ich mit zwei von ihnen bekannt gewesen war, war nichts weiter als ein kolossaler Zufall.

Verdammt, so kam ich nicht weiter.

Frustriert schmiss ich das Tablet neben mich auf die Couch. Der Amor-Killer war eine Sache, aber da gab es noch eine andere, die mich im Moment schwer belastete: Kiara. Es war eine Woche her, dass ich ihr kleines schmutziges Geheimnis erfahren hatte und noch immer war mir keine Lösung eingefallen. Zwar war es mir bisher immer gelungen sie bei ihren Anrufen zu vertrösten, aber ich spürte, wie mir die Zeit wie Wasser durch die Finger rann. Wenn ich nicht bald etwas unternahm, würde sie die Sache mit den Pillen allein durchziehen.

In den letzten Tagen war ich mehr als einmal versucht gewesen, einfach zu Cayenne zu gehen und die Sache in ihre Hände zu legen, aber ich wollte das Vertrauen von meiner Schwester nicht missbrauchen, auch nicht, wenn das zu ihrem Besten wäre – nicht solange ich noch die Hoffnung hatte, dieses Problem anders zu lösen.

Leider würde sie sich nicht mehr allzu lange hinhalten lassen. Deswegen musste ich mir dringend etwas einfallen lassen.

Wann nur war mein Leben so kompliziert geworden?

Das Klingeln meines Handys riss mich aus meinen Gedanken. Ich zog es aus meiner Hosentasche und kontrollierte das Display. Alina. Das traf sich gut. Meine Cousine schaffte es immer mich ein wenig von meinen wirren Gedanken abzulenken. War auf jeden Fall besser, als sich weiter mit abscheulichen Mördern und leichtsinnigen Geschwistern herumzuplagen.

Mit einem „Was gibt es?“ hielt ich mir das Handy ans Ohr.

„Was es gibt? Er hat mich eingeladen!“

„Wer hat dich eingeladen?“ Ich machte es mir ein wenig bequemer auf der Couch und stellte ein Bein auf. „Und wohin eingeladen?“

„Na Anouk, wer denn sonst?!“

Ja, wer sonst. War ja auch eine dumme Frage, wenn man bedachte, dass sie außer mit und Anouk nur noch zehn Millionen andere Freunde und Bekannte hatte. „Und wohin hat er dich jetzt eingeladen?“

„Na was glaubst du denn wohin? Zu sich nach Silenda! Was soll ich den jetzt machen?“ Ihre Stimme klang ein wenig wehleidig, aber auch sehnsüchtig und irgendwie verzweifelt.

„Okay, stopp mal, immer der Reihe nach. Mein letzter Stand der Dinge ist, wie du ...“ Ich unterbrach mich kurz und versicherte mich mit einem Blick auf meine Eltern, dass sie noch beschäftigt waren. „Mein letzter Stand der Dinge ist, wie du mit ihm auf der Party im Haus verschwunden bist.“

„Oh ja, die Party. Das war so toll.“

Ich konnte geradezu vor mir sehen, wie sie verträumt vor sich hinstarrte.

„Ich glaube ich habe mich endgültig und unwiderruflich in ihn verknallt.“

Gut zu wissen. „Die Party“, gab ich ihr erneut das Stichwort. Ja ich gab es zu, ich war unheimlich neugierig. Und da Anouk nicht hatte mit mir sprechen wollen, musste ich mich eben mit dem redseligen Teil dieser seltsamen Geschichte auseinandersetzten.

Alina kicherte blöde. „Du willst nur schmutzige Detail.“

„Naja, eigentlich nicht. Ich will nur wissen was passiert ist.“

„Ja ja.“ Sie seufzte. „Also gut. Ich bin ja zu ihm gegangen und da hab ich gefragt, ob wir mal miteinander sprechen können.“

„Und da er dir freiwillig gefolgt ist und du ihn nicht unter Androhung von Gewalt hinter dir herzerren musstest, gehe ich mal davon aus, dass seine Antwort ja lautete. Richtig?“

Hinter mir gab meine Mutter ein freudiges Geräusch von sich. Sie hatte wohl endlich mal ein gutes Blatt.

„Richtig“, bestätigte Alina meine Vermutung. „Wir sind also reingegangen, um in ruhe zu reden, aber da kam ständig jemand ins Haus, also haben wir uns ziemlich schnell in Opas Arbeitszimmer verzogen und die Tür verschlossen.“

Verschlossene Türen? „Oh la la.“

Wieder kicherte sie. „Also zuerst, da wusste ich nicht so richtig was ich sagen sollte und dann habe ich ihn einfach ganz direkt gefragt. Ich habe gefragt … naja, ich habe ihn gefragt, ob er mich eigentlich verarschen will.“

Mein Mundwinkel zuckte. „Aha.“

„Und da haut er doch glatt raus, dass er mir die gleiche Frage stellen könnte, denn schließlich habe ich ihn erst stundenlang in seiner Küche abgeknutscht und bin ihm dann aus dem Weg gegangen.“

Sowas machte man ja auch nicht. „Aha.“

„Und da habe ich ihm gesagt, dass ich die Situation zwischen uns einfach irgendwie seltsam finde. Ich meine, wir sind mehr oder weniger miteinander verwandt und jetzt bekam ich seine verdammten Küsse nicht mehr aus dem Kopf.“

„Ich erinner mich. Unglaublich, einfach fantastisch und unwiderstehlich.“

Sie grummelte. „Du bist blöd.“

Das ließ mich kichern.

„Wie. Auch. Immer.“ Sie betonte diese Worte sehr übertrieben. „Dann stand er wieder nur da und schaute mich an. Das machte er bestimmt eine ganze Minute lang, bevor er dann raushaut, dass ich manchmal wirklich begriffsstutzig sei.“

O-kay, das war aber nicht sehr nett. „Das war dann wohl nicht direkt die Liebeserklärung, die du dir erhofft hast.“

Sie schnaubte. „Das ist noch harmlos ausgedrückt. Nachdem er das gesagt hat, kam ich mir echt gedemütigt vor. Ich meine, ich bin extra zu ihm gegangen und er nennt mich begriffsstutzig. Ich stand da und wusste einfach nicht was ich darauf erwidern sollte. Und plötzlich kam ich mich ziemlich lächerlich vor, wie ich da im Bikini vor ihm stand und er mich scheinbar nur beleidigen wollte und sagte ihm, er solle das alles einfach vergessen. Ich meine, was sollte ich in einer solchen Situation denn sonst sagen? Auf einmal wollte ich nur noch weg von ihm, doch bevor ich aus der Tür stürmen konnte, hielt er mich am Arm fest. Und dann sagt er zu mir, ich sei die Einzige in seinem ganzen Leben, die er wirklich gerne um sich hat. Warum also sollte er mich verarschen?“

Oh, das war süß. Hätte ich Anouk gar nicht zugetraut.

„Danach sind dann nicht mehr wirklich viele Worte gefallen.“ Sie kicherte wie eine Geisteskranke. „Wenn du verstehst was ich meine.“

„Äh ...“, machte ich. „Ich hoffe die folgenden Geschehnisse beschränken sich auf Zungenpetting, denn ihr ward in Opas Büro und der fände es bestimmt nicht sehr angebracht, wenn seine Enkel sich auf seinem Schreibtisch amüsieren würden.“

Alina druckste ein wenig herum, bevor sie sagte. „Naja, da war schon ein wenig mehr.“

„Alina!“

„Was denn?! Kling nicht so schockiert. Wir haben es ja nicht wild miteinander getrieben und das Kamasutra durchprobiert. Wir haben eben einfach nur ein wenig … gefummelt. Du weißt schon. Du hast mit Cio bestimmt schon viel schlimmere Sachen gemacht.“

„Cio und ich sind auch verlobt.“ Wie sich das anhörte. Ich liebte dieses Wort. Verlobt.

„Genau“, kam es dann spöttisch. „Und bis zu eurer Verlobung, habt ihr beide keuch gelebt und euch nur mit Blicken aus der Ferne angeschmachtet.“

„Ach sei still.“

Wieder lachte sie. „Auf jeden Fall, es war … hach, ich kann das gar nicht richtig in Worte fassen. Es war einfach toll und hat sich so gut angefühlt. Ich hätte wohl ewig damit weiter machen können. Aber dann hat Oma uns zum Essen gerufen und wir mussten erstmal mein Bikinioberteil wiederfinden.“ Sie schwieg einen Augenblick. „Ich weiß immer noch nicht, wie er auf den Deckenventilator rauf gekommen ist.“

Ja, mittlerweile hatte ich ein fettes Grinsen im Gesicht. „Das klingt nach mehr, als nur ein wenig gefummelt.“

„Es hat ihm ausgesprochen gut gefallen, so viel kann ich dir versichern.“

„Das ist wohl das Wichtigste.“

Am Esstisch gab meine Mutter ein verärgertes Geräusch von sich und schimpfte leise, was meinen Vater lachen ließ.

„Ja, aber dann ist er mit euch weggefahren und ich wusste nicht was das jetzt für uns hieß. Ich meine, nachdem was passiert ist, kamen wir ja nun nicht wirklich zum Reden. Und dann wusste ich nicht ob es angebracht ist ihn anzurufen und … ach keine Ahnung. Ich war einfach … ich weiß nicht.“

„Unsicher?“, schlug ich vor.

Sie schwieg einen Moment. „Ja, vermutlich.“ Sie seufzte. „Ich wusste einfach nicht, wie es nun weitergehen sollte. Aber dann hat er mich angerufen und wir haben geredet. Das macht er jeden Tag, seit er in Silenda ist.“

„Reden?“

„Anrufen“, sagte sie in einem Tonfall, der nun mich als Begriffsstutzig hinstellte. „Jeden Abend ruft er mich an und wir reden. Und das fühlt sich gut an, kann ich dir sagen. Einfach nur über Gott und die Welt sprechen.“

Ein Anouk der mehr als fünf Worte an einem Stück von sich gab – und das auch noch freiwillig – war für mich schwer vorstellbar. „Dich scheint es ja wirklich schwer erwischt zu haben.“

„Ach Zaira, ich bin so verloren. Und gestern hat er mich dann gefragt, ob ich ihn in Silenda besuchen würde, sobald er seine eigene Wohnung hat.“

„Womit wir bei der eigentlichen Frage angekommen wären.“

„Hmhm.“ Es klickte, als würde sie mit den Fingernägeln auf Holz trommeln. „Ich würde schon gerne zu ihm fahren, aber was würde das bedeuten? Da gibt es schließlich immer noch dieses kleine Problem damit, dass er mein verfluchter Cousin ist.“

„Das hat dich aber nicht davon abgehalten, ihm – wie hast du es noch ausgedrückt? – ausgesprochen gut zu gefallen.“

„Als wenn du deinem Freund noch nie einen Blowjob verpasst hättest.“

Zu viele Details! Da war es doch besser, sich auf einen anderen Teil ihrer Aussage zu konzentrieren. „Freund?“, fragte ich lauernd. „Heißt das, ihr seid jetzt zusammen?“

„Keine Ahnung.“ Wieder klickte es. „Ich glaube, das ist mein Problem, dass ich keine Ahnung habe, was das alles genau bedeutet. Sind wir ein Pärchen, oder ist das alles bloß ein kleiner Zeitvertreib, oder könnten wir noch ein Pärchen werden? Würde das überhaupt funktionieren? Ich meine, was würde die Familie dazu sagen, besonders meine Eltern? Das ist ja eben nicht wirklich normal, dass wir uns zueinander hingezogen fühlen, aber ich bekomme ihn halt auch nicht aus meinem Kopf.“

Damit hatte sie das eigentliche Problem nun auf den Punkt gebracht. Leider konnte ich ihr darauf aber auch keine befriedigende Antwort geben. „Weißt du Alina, ich glaube du musst das einfach alles auf dich zukommen lassen und schauen was daraus wird.“

„Und wenn das alles nur Zeitverschwendung ist?“

„Und wenn nicht?“

Diese Frage ließ sie einen Moment schweigen. „Das finde ich wohl nur heraus, wenn ich seine Einladung annehme.“

„Wahrscheinlich.“ Ich zögerte einen Moment. „Wenn er dir wirklich wichtig ist, dann fahr zu ihm. Aber du solltest dir darüber ihm klaren sein, dass es Probleme nach sich ziehen wird. Es wird mit ziemlicher Sicherheit schwierig werden, weil … naja, das was da zwischen euch ist, wird manchen in der Familie sicher sauer aufstoßen.“

„Das sind nicht so tolle Aussichten.“

„Nein“, stimmte ich ihr zu. „Deswegen solltest du dich fragen, ist es das wert? Ist Anouk dir das wert? Oder ist das nichts als eine ausgeprägte Schwärmerei, die in ein paar Wochen einfach wieder verfliegt?“

Am anderen Ende der Leitung blieb es ein Weilchen still. Dann sagte sie: „Ich vermisse ihn.“

Diese Worte zauberten mir ein Lächeln auf die Lippen. „Dann solltest du auf jeden Fall zu ihm fahren.“

„Du hast recht.“ Es knallte, als hätte sie die offene Handfläche auf die Tischplatte gehauen. „Ich werde ihn gleich anrufen und es ihm sagen.“

Und dann war die Leitung tot.

„Ähm … hallo?“

Tut, tut, tut.

Na fantastisch. Jetzt fing sie auch noch an einen auf Kaspar zu machen. Ich sollte mir eindeutig Freunde mit besseren Manieren zulegen. Eine Verabschiedung, bevor man Auflegte, war ja nun nicht zu viel verlangt. Einfach nicht zu fassen.

Kopfschüttelnd beugte ich mich vor, um das Handy zurück auf den Tisch zu legen, als es in meiner Hand erneut zu klingeln begann. Nanu, hatte Alina sich nun doch noch an ihre Erziehung erinnert?

Ein Blick aufs Display zeigte mir, dass dem nicht so war. Das war nicht meine Cousine, das war Cayenne.

Einen Moment war ich versucht den Anruf einfach zu ignorieren. Ich wollte eigentlich nicht mit ihr sprechen, solange es da dieses Problem mit Kiara und der Schwangerschaft gab, aber Papa würde das sicher bemerken und Fragen stellen. Etwas, das ich noch viel weniger wollte. Also blieb mir gar nichts anderes übrig, als den Anruf entgegenzunehmen und mir das Handy ans Ohr zu halten. „Ja?“

„Hey, ich bin es.“ Im Hintergrund hörte ich das sirrende Geräusch irgendeiner Maschine. „Ich habe mich gefragt, ob du heute schon etwas vorhast.“

Hm, eigentlich nicht. „Warum?“

„Vielleicht möchtest du ja vorbeikommen. Ich habe überlegt, dass du bestimmt ein wenig Hilfe bei deinen Hochzeitsvorbereitungen gebrauchen könntest.“

Ja, das war noch etwas, das auf meine To-do-Liste stand. Aber Cayenne jetzt gegenüberzutreten, ohne bei der ersten Gelegenheit mit dem Geheimnis ihrer Tochter herauszuplatzen, würde mir schon sehr schwerfallen, zumal ich nichts lieber täte, als ihr alles zu beichten.

„Außer natürlich du möchtest nicht. Diego, kannst du das nicht später machen? Ich telefoniere gerade.“

Das ging nicht an mich. Genau wie Diegos folgende Worte, die ich nicht verstand. Aber wenigstens hörte dieses nervige Surren auf.

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Cayenne. „Diego versucht gerade den Hängeschrank in der Küche zu reparieren und ich muss leider sagen, er hat zwar viele Talente, aber Handwerk gehört eindeutig nicht dazu.“

Wieder hörte ich Diego etwas sagen, worauf Cayenne loslachte.

In dem Moment verlor meine Mutter eine weitere Runde gegen meinen Vater. „Das reicht. Ich habe keine Lust mehr.“

„Ach Gnocchi, das ist doch nur ein Spiel.“

„Das sagst du nur, weil du es immer gewinnst.“ Sie warf ihre Karten auf den Tisch, stand von ihrem Stuhl auf und warf sich beleidigt neben mich auf die Couch. Dabei setzte sie sich auch noch fast auf mein Tablet.

Während mein Vater leise in sich hinein lachte und die Karten zusammenschob, nahm meine Mutter es in die Hand und holte es durch die Berührung ausversehen aus dem Stand-by-Modus. Sie musterte die Karte die auf dem Bildschirm erschien. „Die blauen und die grünen Punkte verstehe ich ja, aber was soll der Rote?“

Cayenne begann gerade wieder zu sprechen, aber mit diesen Worten, hatte meine Mutter meine Aufmerksamkeit geweckt. „Warte mal“, sagte ich ins Handy und wandte mich dann Mama zu. „Was meinst du damit, du verstehst die Punkte?“

„Na hier.“ Sie tippte nacheinander auf die drei blauen Punkte. „In Silenda bist du geboren, in Arkan hast du ein paar Wochen als Baby verbracht und in Kerpen haben wir gewohnt, bis du zwölf warst. Der nächste Punkt wäre dann hier.“ Sie zeigte auf Koenigshain. „Und dann wieder zurück nach Silenda. Und die grünen Punkte … hier bei Augsburg zum Beispiel, da waren wir paar mal Erdbeeren pflücken, als du noch ganz klein warst. Oder hier bei Gummersbach, da haben wir uns zwei Mal mit Marica getroffen. Das ist wie eine Karte deines Lebens. Du weißt schon, den Weg, den du zurückgelegt hast.“

„Das ist nicht mein Lebensweg, das ist eine Karte von den Morden des Amor-Killers.“

Sie kniff die Augen leicht zusammen und musterte die Punkte. „Bist du sicher? Es sieht mir eher wie eine Spur aus, auf der du dich in deinem Leben bewegt hast. Hier zum Beispiel.“ Sie zeigte auf einen grünen Punkt in der Nähe von Kerpen. „Das ist ein See, da waren wir früher oft zum Schwimmen. Und wenn man den letzten beiden Punkten weiter folgt, landest du in gerader Linie in Koenigshain.“

„Bist du sicher?“

Sie nickte.

Nun wurde auch mein Vater Aufmerksam. Vergessen waren die Spielkarten, als er sich erhob und über die Rückenlehne hinweg auf die Markierungen schaute. Er musterte die Punkte kritisch. Seine Miene verhärtete sich. „Zaira, geh nach oben und pack eine Tasche.“

„Was?“

„Ich habe gesagt, du sollst eine Tasche packen. Sofort!“ Er griff nach seinem Handy.

Mit einem „Ist alles in Ordnung bei euch?“, erinnerte Cayenne mich daran, dass ich sie noch immer am Handy hatte.

„Ich weiß nicht, ich … tut mir leid, ich muss Schluss machen.“ Ohne mich weiter zu verabschieden, legte ich einfach auf. „Kannst du mir mal erklären, warum ich plötzlich meine Sachen zusammenpacken soll?“

„Weil deine Mutter recht hat“, erwiderte er und hielt sich das Handy ans Ohr. „All diese Punkte markieren Orte aus deiner Vergangenheit. Dort wo du gewohnt hast, wurden den Opfern die Herzen entnommen. Da ist kein Zufall, dass … ja, Tristan? Hör zu.“ Der letzte Teil ging nicht an mich, sondern an seinen Gesprächspartner.

Ich konnte ihn nur anstarren, unfähig diesen Gedanken zu akzeptieren. Bei diesen ganzen Morden sollte es um mich gehen? „Das ist doch absurd“, flüsterte ich und nahm meine Mutter das Gerät aus der Hand um selber noch mal einen Blick auf die Karte zu werfen.

Aber es stimmte, zumindest was die blauen Punkte betraf. An jedem dieser Orte hatte ich eine Zeitlang gelebt. Was allerdings die grünen betraf, oder der rote, blieb ich ratlos, wobei ich mich an die Treffen mit Marica durchaus erinnerte.

„Das kann nicht stimmen“, flüsterte ich. Das musste ein Zufall sein, ein grauenhafter Zufall. Einen Großteil der Opfer kannte ich nicht mal und … verdammt, hieß das der Mörder war hinter mir her? Waren die ganzen Leichen eine Botschaft für mich? Aber welche? Und warum? Und wenn das wirklich so war, dann … „Es ist meine Schuld.“

„Was? Nein!“ Mama nahm mein Gesicht zwischen die Hände und zwang mich sie anzuschauen. „Wie könnte irgendwas davon deine Schuld sein?“

Ich hielt das Tablet hoch. „Wenn das stimmt, dann ist das alles wegen mir passiert, aber … aber warum? Und, oh Gott, heißt das ich kenne den Mörder?“

„Hör mir zu Donasie, alles wird gut, verstehst du mich? Wir passen auf dich auf dir wird nichts passieren.“

Ich nickte wie auf Automatik. „Okay.“

„Okay. Und jetzt mach was dein Vater gesagt hat, pack eine Tasche.“

Wieder gab ich nur ein „Okay“ von mir, unfähig die wirbelnden Gedanken in meinem Kopf zur Ruhe zu zwingen. Mein Hirn funktionierte nur auf Sparflamme. Ich hatte die starke Vermutung unter Schock zu stehen. Wie sonst war zu erklären, dass ich immer nur an diese drei blauen Punkte denken konnte? Silenda war meine Geburtsstädte, in Arkan hatte ich als Baby gelebt und Kerpen war bis zu meinem zwölften Lebensjahr meine Heimat gewesen.

Als Mama bemerkte, dass ich nicht in der Lage war mich zu bewegen, stand sie auf und zog mich mit hoch.

Sofort lag der Blick meines Vaters auf mir und Onkel Tristan war vergessen. „Was habt ihr vor?“

„Tasche packen“, erklärte ich. „Du hast gesagt, ich soll eine Tasche packen.“

„Nein“, widersprach er sofort. „Du bleibst hier wo ich dich sehen kann. Du entfernst dich nicht mehr aus meiner Reichweite, hast du verstanden? Und jetzt fang gar nicht an mit mir zu streiten.“ Sein Blick durchbohrte mich beinahe.

„Okay“, sagte ich nur und stand dann ein wenig sinnlos herum.

Mama schaute stirnrunzelnd von mir zu meinem Vater. „Ys-oog, wie …“

„Nein“, sagte er ohne sie ausreden zu lassen und wandte sich dann wieder dem Telefonat zu.

Meine Mutter zog die Augenbrauen zusammen, schüttelte den Kopf und ließ meine Hände los. „Okay, Donasie, dann setz dich wieder hin. Ich werde eine Tasche für dich packen. Bleib hier.“

Ich nickte. Zu mehr war ich im Moment sowieso nicht fähig.

„In Ordnung.“ Entschlossen verschwand sie nach oben.

Ich bekam es kaum mit. Zehn Tote, eine Spur aus Leichen. Ein verlorenes Leben überall dort, wo ich meine Spuren hinterlassen hatte. Konnte das wirklich stimmen? War ich der Schlüssel zu dieser Mordserie?

Meinem Vater lauschte ich nur mit einem halben Ohr. Er sprach von einem Wagen und einem Versteck, vielleicht sogar außer Landes. Er würde mich hier wegbringen, um mich zu verstecken. Weg von meinem Zuhause, weg von meiner Arbeit und weg von … Cio. Oh mein Gott, ich musste Cio anrufen. Ich konnte nicht einfach ohne ein Wort verschwinden und ihn im Ungewissen zurücklassen.

Mit zitternden Fingern holte ich mein Handy hervor, doch ich wurde direkt auf die Mailbox umgeleitet. Ich wusste es war sinnlos und trotzdem versuchte ich es ein zweites und ein drittes Mal – immer mit demselben Ergebnis.

„Verdammt!“, fluchte ich und war kurz davor, das Gerät gegen die nächste Wand zu werfen, verlegte mich dann aber darauf ihm eine Textnachricht zu schicken. Ruf mich an, sofort!

Papa beendete das Telefonat. „Tristan ist in zehn Minuten hier.“

Was dann wohl hieß, dass mein Onkel sich im Moment in Silenda aufhielt. „Okay.“ Fahrig schob ich meine Brille zurecht und schaute mich nach etwas um, dass ich tun könnte. Aber im Augenblick gab es nur eines, dass ich wollte. „Wir müssen Cio holen.“

„Nein.“ Mein Vater setzte sich in Bewegung.

„Nein?“

„Nein.“ Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, lief er in sein Schlafzimmer und begann dort eine Tasche für sich und Mama zu packen.

Ich folgte ihm auf dem Fuße. „Was soll das heißen, nein?“

„Je weniger Leute wissen wo du bist, desto besser.“ Er riss eine Schublade auf und holte dort eine Kassette heraus, die ich noch nie im Leben gesehen hatte.

„Aber ich kann doch nicht einfach ohne ein Wort verschwinden. Er wird sich Sorgen machen!“

„Du kannst ihm eine Nachricht hinterlassen.“ Mein Vater steckte die Kassette ungeöffnet in seine Reisetasche und warf noch ein paar Klamotten oben drauf.

„Eine Nachricht?“ Ich glaube ich hatte mich verhört. „Cio ist nicht irgendein entfernter Bekannter, dem man freundlich von der anderen Straßenseite zuwinkt, wenn man ihm zufällig über den Weg läuft, er ist mein Verlobter!“

„Dann wird er sicher einsehen, wie wichtig es ist dich hier wegzubringen, bevor hier ein verrückter Massenmörder auftaucht, der sich aus was weiß ich für Gründen deinen Lebensweg zum Vorbild für seine perversen Phantasien angeeignet hat.“

„Aber Papa!“

„Nein, dieser Verrückte tötet Mistos. Er kennt keinerlei Skrupel und ihm scheint völlig egal zu sein, wen er verletzt, während er seinem perfiden Plan folgt. Wir werden hier keine Minute länger bleiben, als unbedingt nötig und damit ist dieses Gespräch zu ende.“

Das könnte ihm so passen, aber da war er an die falsche Adresse geraten. „Papa, wenn du glaubst …“

Er schnappte seine Tasche, ließ mich einfach stehen und marschierte aus dem Raum. Dabei lief er auch noch fast in Mama hinein, die gerade mit einer Tasche aus meinem Zimmer kam.

Ich lief ihm wieder hinterher. „Wenn du glaubst, mich einfach so abspeisen zu können, hast du dich getäuscht. Dieses Gespräch ist noch nicht beendet.“

„Keine Elektrogeräte“, sagte er zu keinem bestimmten und eilte die Treppe hinab. Dabei ignorierte er vollkommen, was ich gerade gesagt hatte. „Kein Tablet, kein Laptop, kein Handy, oder was sonst noch alles zurückverfolgt werden kann.“

„Was?!“ Drehte er jetzt völlig durch? Dabei sollte ich in so einem Moment doch den Verstand verlieren und er der rational denkende Erwachsene sein. „Ich werde nicht gehen, bevor ich mit Cio gesprochen habe.“

„Doch, das wirst du.“

Ich folgte ihm durchs Wohnzimmer in die Küche, wo er eine Schublade ein wenig zu heftig aus dem Schrank zog. „Du kannst mich nicht dazu zwingen.“

Papa wirbelte so plötzlich zu mir herum, dass ich erschrocken einen Schritt zurückwich. „Um es einmal klar auf den Punkt zu bringen, Cio ist mir im Moment scheißegal, denn hier geht es um dein Leben. Da draußen treibt ein Wahnsinniger seit Wochen sein Unwesen und tötet einen Misto nach dem anderen ohne den kleinsten Hauch von Erbarmen. Er schneidet seinen Opfern die Herzen aus der Brust, Zaira. Und jetzt deutet alles darauf hin, dass es mit dir zu tun hat. Was glaubst du wie lange es noch dauert, bis er hier auftaucht?“

„Aber …“

„Kein Aber, kein gar nichts. Tristan ist gleich hier und dann wirst du in diesen verdammten Wagen steigen, damit wir dich hier wegbringen können. Wenn der Amor-Killer dich nicht finden kann, dann kann er dich auch nicht töten, hast du das verstanden?“

Meine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Er hatte ja recht, aber trotzdem konnte ich nicht einfach so ohne ein Wort verschwinden.

„Und davon abgesehen ist es Cio bestimmt auch wichtiger dich in Sicherheit zu wissen, als noch ein letzter Abschiedsgruß.“

„Cio würde sich nicht verabschieden, er würde mitkommen“, hielt ich sofort dagegen.

Papa schnaubte, fischte ein Schlüssel aus der Schublade und verließ wieder die Küche.

„Papa!“, rief ich ihm hinterher.

„Cio wird nicht mitkommen.“

„Das hast du gar nicht zu entscheiden!“

„Doch. Je mehr wir sind, desto leichter fallen wir auf. Er bleibt hier und sobald das alles vorbei ist, könnt ihr Händchenhaltend in den Sonnenuntergang reiten.“

Warum nur musste er das so abwertend sagen? „Gut, wenn das so ist, dann werde ich halt mit ihm verschwinden. Dann sind wir nur zwei. Ein junges Pärchen, dass in der Menge einfach untergehen kann.“

„Wenn du glaubst, dass ich dich auch nur noch einen Moment aus den Augen lassen werde, sollten wir beide uns wohl nochmal miteinander bekannt machen.“

Dieser … ahrrr! Ich stand wirklich kurz davor ihn einfach anzuknurren. „Papa, ich bin schon lange volljährig. Du kannst mich nicht wie eine achtjährige herumkommandieren und dann auch noch erwarten, dass ich dir einfach so gehorche.“

In dem Moment klingelte es an der Tür.

Papa warf mir noch einen warnenden Blick zu und stampfte dann durchs Wohnzimmer zur Haustür.

„Hörst du mir überhaupt zu?“

Er ignorierte mich und machte meinem Onkel Tristan auf. Und auch Tante Lucy, wie ich überrascht feststellte.

„Hast du nicht eben noch gesagt, je weniger, desto besser?“

Mein Vater hielt sich nicht lange mit Begrüßungen auf, sondern drückte seinem Bruder einfach die Tasche in die Hand. „Gnocchi, wir müssen los.“

„Hör auf mich zu ignorieren!“, fauchte ich.

Er kniff die Augen leicht zusammen. „Tristan und Lucy werden helfen dich zu beschützen.“

„Cio kann mich auch beschützen, er ist ein Umbra, falls du das vergessen haben solltest.“

„Ja, aber er hat nicht annähert die Erfahrung, die deine Familie aufbringen kann. Er weiß nicht wie man sich versteckt oder unbemerkt untertaucht. Diese Sache hier geht über sein Können hinaus.“

Mich störte viel weniger, was Papa über Cios Fähigkeiten sagte, als viel mehr etwas anderes. „Cio gehört auch zur Familie.“

„Ich werde nicht länger mit dir darüber streiten. Und jetzt zieh deine Schuhe an.“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Nicht bevor ich mit Cio gesprochen habe.“

„Zaira, mir geht langsam die Geduld aus. Zieh jetzt deine Schuhe an.“

„Zwing mich doch.“

Das war wohl der Moment in dem ihm der Geduldsfaden endgültig riss. Natürlich machte er das nur, weil er Angst um mich hatte und mich schnellstmöglich in Sicherheit wissen wollte, aber als er dann blitzschnell meinen Arm packte und mich einfach über seine Schulter warf, ging er damit doch zu weit.

„Hey! Lass mich gefälligst wieder runter!“

Tat er nicht. Stattdessen zwängte er sich zwischen Onkel Tristen und Tante Lucy durch und hielt mich nur umso fester, als ich versuchte mich von ihm abzustoßen. „Könnte bitte jemand ihre Schuhe nehmen. Und Gnocchi, komm endlich!“

Meine Mutter eilte uns mit meiner Tasche hinterher, während mein Onkel meine Schuhe neben der Tür auflas. Nur Tante Lucy schien der ganzen Situation eher skeptisch gegenüber zu stehen.

„Lass mich verdammt noch mal los, das kannst du nicht machen!“

„Wie du siehst, kann ich es doch.“ Er hielt direkt auf einen großen Geländewagen am Straßenrand zu, den ich noch nie im Leben gesehen hatte.

„Das ist nicht witzig!“

„Zaira“, ergriff nun mein Onkel das Wort. „Wir machen das nur zu deinem Besten. Du musst verstehen …“

„Ich verstehe das sehr wohl!“, fauchte ich ihn an. „Aber nicht so, nicht bevor ich mit Cio gesprochen habe!“

Papa riss die Hintertür auf und schubste mich auf den Rücksitz.

Ich landete mir der Nase voran auf den Postern, wirbelte aber sofort wieder herum.

„Denk nicht einmal daran“, drohte Papa, als ich wieder aussteigen wollte.

„Aber …“

„Kein Aber. Wir fahren jetzt. Gnocchi, steig hinten ein.“

Langsam machte sich Verzweiflung in mir breit. Nicht nur dass ich mich einfach in Luft auflösen würde, ohne mit Cio sprechen zu können, auch der Grund für diesen plötzlichen Aufbruch machte mir zu schaffen. Dabei war nicht einmal sicher, ob das wirklich so stimmte, wie wir uns das zusammengereimt hatten. So unwahrscheinlich es auch war, es konnte noch immer nichts weiter als ein großer Zufall sein, denn es gab absolut keine Beweise für unsere Theorie.

„Papa“, versuchte ich es noch mal, als meine Mutter mit meiner Tasche zu mir auf den Rücksitz rutschte. „Jetzt hör mir doch mal bitte zu.“

Tat er nicht. Er bellte Tante Lucy nur zu, sich endlich auf ihren Hintern zu setzten und verlangte dann von meinem Onkel den Wagenschlüssel.

Nein, nein, nein, das ging viel zu schnell. Hecktisch suchte ich nach einem Ausweg, einem vernünftigen Argument, dem er sich nicht verschließen konnte, aber mir fiel absolut nichts ein, was seine Meinung ändern konnte. Mein Vater war nicht nur stur, er war auch noch völlig paranoid, wenn es um mich oder meine Mutter ging und er würde sich nicht umstimmen lassen, solange er keinen Beweis hatte, der seine Befürchtung eindeutig widerlegte.

Doch als Tante Lucy gerade die Hintertür öffnete, wurde ihre Aufmerksamkeit von etwas am Ende der Straße erregt. „Was zum Teufel?“, fragte sie und tauschte einen Blick mit ihrem Gefährten über den Wagen hinweg. Auch mein Vater blieb in der offenen Wagentür stehen.

Ich reckte den Hals um herauszufinden, was da so interessant war, dass Papa seine übertriebene Rettungsmission für einen Moment unterbrach, sah jedoch nur drei Wagen auf unser Haus zufahren. Moment, das waren doch Autos von den Wächtern der Königsgarde.

„Du bleibst sitzen“, befahl mein Vater und schlug die Fahrertür wieder zu, gerade als die königliche Prozession kreuz und quer auf der Straße zum Halten kam und damit die ganze Straße blockierte.

Links und recht purzelten die Wächter nur so aus den Autos, angeführt von Diego, der ein sehr ernstes Gesicht zur Schau trug – noch ernster als sonst.

In mir machte sich ein mulmiges Gefühl breit.

Mit all den Wächtern im Schatten, trat Diego direkt vor meinen Vater. Er musterte meine und Alinas Eltern, sah die Taschen und den fremden Wagen und reimte sich wohl zusammen, was hier gerade vorging. „Ihr wollt verreisen?“

Papa hob ein wenig das Kinn und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ja und?“

„Das kann ich nicht zulassen.“ Diegos Blick richtete sich durch die Windschutzscheibe direkt auf mich. „Auf Befehl von Königin Sadrija Amarok, Alpha durch Blut und amtierende Herrscherin des Rudels der Könige, nehme ich dich, Zaira Steele, in Gewahrsam.“

„Was?!“

 

°°°°°

Öl ins Feuer gießen

 

Die Stille um uns herum schien sich ins unermessliche zu ziehen. Mein Vater sah aus als würde ihn gleich ein Hirnschlag ereilen. In diesem Moment wusste ich genau wie er sich fühlte, mir ging es kaum anders.

„Also, wenn das ein Scherz sein soll“, versuchte Tante Lucy die angespannte Situation ein wenig ins Lächerliche zu ziehen, „dann ist er dir aber nicht sonderlich gut gelungen.“

„Das ist kein Scherz, das ist ein Befehl der Königin höchstpersönlich.“ Er senkte den Blick ein wenig. „Und ich bin hier um ihn auszuführen.“

„Dazu musst du aber erstmal an mir vorbei“, drohte Papa und schlug die Autotür zu, als würde er fürchten, Diego könnte mich sonst einfach vom Rücksitz mopsen. „Du wirst sie nicht einfach mitnehmen.“

Die Wächter hinter Diego spannten sich an. Er selber jedoch blieb völlig ruhig. „Das hast du nicht zu entscheiden, Raphael. Es ist ein Befehl meines Alphas und ich nehme meine Befehle sehr ernst.“

„Ich bin ein Vampir und unterstehe damit nicht deiner Königin. Du hast mir also gar nichts zu sagen.“

„Aber Zaira ist kein Vampir“, hielt er dagegen und wirkte eindeutig viel zu ruhig.

„Moment“, quatschte ich dazwischen. Die Ohren eines Lykaners waren gut genug, um mich auch problemlos durch die geschlossene Tür zu verstehen. „Warum willst du mich in Gewahrsam nehmen? Was habe ich denn getan?“

„Du hast gar nichts getan. Königin Sadrija möchte sich nur mit dir unterhalten.“

„Aber warum?“ Was hatte ich schon mit der Königin zu schaffen? Okay, sie war meine Großcousine mütterlicherseits, aber das war eigentlich auch alles, was uns miteinander verband. Ich wurde nicht zu Festen eingeladen, bekam keine Weihnachtsgeschenke und wurde auch nicht gegrüßt, wenn ich sie zufällig mal sah.

„Wegen deiner Verbindung zum Amor-Killer.“

Bam. Damit hatte er dann die zweite Bombe platzen lassen.

Mein Vater bekam nur mühsam die Zähne auseinander. „Woher zum Teufel weißt du von dieser Verbindung?“

„Von euch“, antwortete er seelenruhig. „Cayenne hat eben mit Zaira telefoniert, als ihr euch die Verbindung zusammengereimt habt.“

Lucy funkelte den Umbra an. „Und da fällt dir nichts Besseres ein, als damit direkt zu Sadrija zu rennen?“

„Es ist meine Pflicht“, erwiderte er schlicht. „Zaira ist die erste Spur, die wir seit Beginn dieser Mordserie entdeckt haben. Und da ich weiß wie Raphael in solchen Situationen reagiert, musste ich sofort handeln.“

Damit meinte er wohl nicht nur wie Papa mich und Mama jahrelang vor der verborgenen Welt versteckt hatte, sondern auch Cayenne, mit der er und Tristan als junge Männer, mehrere Jahre verschwunden waren – und das obwohl ihnen damals die Wächter der Alphas auf den Fersen gewesen waren.

„Tja“, sagte mein Vater dann. „Dann erkläre deiner Sadrija mal, dass du zu spät kamst und wir schon weg waren.“ Er griff nach der Fahrertür, doch Diegos Hand schoss blitzschnell vor und hielt sie zu.

Die Männer funkelten sich an und die Aggressionen die plötzlich in der Luft lagen, kamen nicht nur von meinem Vater.

„Das willst du nicht tun.“ Diego blieb ganz ruhig. „Zaira ist zum Teil Lykaner und Mitglied dieses Rudels. Damit unterliegt sie auch unseren Gesetzen. Wenn du sie nun hier wegbringst, verstößt sie damit gegen einen direkten Befehl ihres Alphas.“ Er schaute zu Onkel Tristan und Tante Lucy. „Genau wie ihr beide. Seid ihr bereit die Konsequenzen zu tragen? Ihr könntet aus dem Rudel verstoßen werden. Und das Morden würde ungehindert weitergehen.“

Das hier würde gleich eskalieren. Ich sah schon wie sie aufeinander losgingen, weil mein Vater mich unbedingt beschützen wollte und Diego es nicht zulassen konnte, dass ich einfach verschwand. Und wenn ich mir die vielen Wächter anschaute, die angespannt hinter Diego lauerten und nur auf einen Befehl warteten um loszulegen, konnte das wirklich unschön werden.

Mit einem Mal wurde mir die Tragweite dieser Situation bewusst. Es stand drei gegen zwei Duzend, vier wenn man meine Mutter dazu zählte. Ich war mir nicht sicher, welche Seite gewinnen würde, doch ich wusste, dass die Folgen für uns in beiden Fällen sehr schwerwiegend sein würden – auch für meine Eltern, denn obwohl sie nicht direkt unter den Befehlen der Alphas standen, so lebten sie doch in ihrem Herrschaftsgebiet. Sadrija könnte meinem Vater damit das Leben sehr schwer machen.

Es gab nur eines was ich tun konnte, um diese Situation zu entspannen, auch wenn mein Vater dann ziemlich sauer auf mich sein würde. Schwankend kaute ich auf meiner Unterlippe herum, warf meine Mutter dann noch einen entschuldigenden Blick zu und stieß die Wagentür mit neuer Entschlossenheit wieder auf. Mir war es egal, dass ich nur Socken trug, als ich eilig aus dem Wagen stieg. Es war nur wichtig, dass ich rauskam, bevor mein Vater mich aufhalten konnte.

„Was machst du da?“, fragte er auch sofort. „Steig sofort wieder in den verdammten Wagen ein!“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf und stellte mich halb hinter meine Tante, damit er nicht nach mir greifen konnte.

An Papas Schläfe tauchte eine Ader auf, die gefährlich zu pochen begann. „Zaira, das hier ist kein Spaß. Steig. Wieder. Ein!“

„Königin Sadrija ist mein Alpha und ich werde ihr gehorchen.“ Und damit verhindern, dass er in seiner Sturheit eines auf den Deckel bekommen konnte.

„Nein wirst du nicht!“, explodierte er und zeigte mir die voll ausgefahrenen Fänge. „Du wirst mir gehorchen und deinen Hintern wieder in dieses scheißt Auto setzen, damit ich dich hier wegbringen kann!“

Den kleinen Ausbruch nahm meine Mutter zum Anlass, um nun auch auszusteigen und sich zu meinem Vater zu stellen. Nicht um ihn zu unterstützen, sondern um ihn aufzuhalten. „Ys-oog …“

„Nein!“ Er wich ihrer Hand aus und funkelte Diego wütend an. „Sie ist in Gefahr, verstehst du?! Ich kann sie dir nicht überlassen!“

„Glaubst du wirklich ich würde es zulassen, dass ihr etwas geschieht?“

„Zaira ist dir doch völlig egal!“, warf er ihm vor. „Für dich ist sie nur irgendein Mädchen, etwas dass du brauchst. Aber sie ist meine Tochter! Und zu den Majestäten kann ich sie nicht mal begleiten, weil es mit verboten ist das Schloss zu betreten, solange ich keine ausdrückliche Einladung erhalten habe. Hast du eine Einladung für mich?“

Das musste er natürlich verneinen. „Mein Auftrag besteht darin, Zaira für ein Gespräch ins Schloss zu holen. Mehr nicht.“

„Dann kannst du das vergessen, du nimmst sie nicht mit!“

Einen langen Moment schaute Diego meinen Vater einfach nur an. „Ich bin ein Umbra, Raphael. Ich bin der Tribunus Umbra und ich gebe dir hier uns jetzt mein Wort, dass ich sie mit meinem Leben schützen werde, sollte es nötig sein. Ich werde sie nicht aus den Augen lassen und darauf achten, dass ihr nichts passiert, bis ich sie nach dem Gespräch wieder in deine Obhut übergeben kann.“

Mein Vater begann unruhig auf und ab zu laufen. Sein Hirn ableitete auf Hochtouren. Er wollte das nicht. Sein einziger Antrieb bestand im Moment darin, mich zu beschützen und so weit wie möglich aus der Gefahrenzone zu bringen. Doch alle hier arbeiteten gegen ihn. Aber das Schlimmste war das Wissen, dass ihm eigentlich gar keine Wahl blieb, nicht wenn er an das Resultat seiner Handlungen dachte – obwohl ihm das im Augenblick wahrscheinlich nicht sonderlich interessierte.

„Papa“, versuchte ich weiter auf ihn einzuwirken. „Du kannst doch mit uns kommen. Vielleicht kannst du nicht ins Schloss, aber auf den Hof darfst du.“

„Das ist eine gute Idee“, stimmte meine Mutter sofort zu. „Wir gehen ins HQ und warten dort auf sie. Dann sind wir die ganze Zeit in ihrer Nähe.“

„Und das Schloss ist voller Wächter“, fügte Diego noch hinzu. „Im Moment gibt es für sie wohl kaum einen sichereren Ort.“

„Komm schon Ys-oog.“ Mama vertrat ihm den Weg und zwang ihn damit sie anzuschauen. „Nur ein Gespräch. Danach können wir sie noch immer wegbringen.“ Sie legte ihm eine Hand auf die Brust, direkt über seinem Herzen. „So ist es das Beste. Dann können sie weiter nach dem Mörder suchen, während du uns von hier wegbringst.“

Sein Widerstand bröckelte. Er wollte das noch immer nicht, aber langsam schien ihn klar zu werden, dass er keine Wahl hatte. Und wenn er aufhörte sich quer zu stellen, würden wir das alles schneller hinter uns bringen können, was zur Folge hätte, dass er mich schneller aus der Stadt karren könnte. „Also gut“, sagte er dann widerstrebend und wandte sich direkt an Diego. „Ich werde sie in deine Obhut übergeben. Aber wenn ihr auch nur ein Haar gekrümmt wird, werde ich dich persönlich dafür verantwortlich machen und dich wie eine räudige Töle jagen.“

Diego senkte das Kinn zum Zeichen, dass er verstanden hatte und damit einverstanden war.

„Und ich werde sie begleiten.“

Alle Blicke richteten sich auf Tante Lucy.

„Du kannst nicht mitkommen“, erklärte Diego ihr.

„Und ob ich das kann. Ich bin ein Lykaner, ich bin ein Themis, ich bin ihre Tante und ihre moralische Unterstützung in so einer schwierigen Ausnahmesituation. Aber vor allen bin ich deine verfluchte Freundin! Also hör auf mir zu sagen was ich nicht kann und lass uns endlich fahren.“ Sie streckte die Brust ein wenig heraus und marschierte erhobenen Hauptes an ihm vorbei.

Onkel Tristan lachte sich leise ins Fäustchen, während Diego nur ergeben den Kopf schüttelte.

„Dann sollten wir jetzt aufbrechen.“ Diego gab mir mit einer bittenden Geste zu verstehen, dass ich ihn zu den Autos folgen sollte.

„Ähm … kann ich vorher noch meine Schuhe haben?“

Konnte ich.

Danach ging alles ziemlich schnell. Fünf Minuten später fand ich mich hinter Diego und Tante Lucy auf dem Rücksitz zwischen zwei Wächtern eingeklemmt wieder und bangte darum, was als nächsten geschehen würde, während an den Fenstern des fahrenden Autos die Landschaft vorbeiflog. Wenigstens hatte ich so Aufschub für mein Cio-Problem bekommen. Wusste er mittlerweile überhaupt schon was los war, oder verweilte er noch in dem Glauben eines ganz normalen Tags? „Weiß Cio schon davon?“

Diego warf mir durch den Rückspiegel einen kurzen Blick zu. „Nicht von mir.“

Das hatte ich mir schon gedacht.

„Ruf ihn doch an“, schlug Tante Lucy vor.

„Geht nicht, weil Papa in einem Anflug von Paranoider verboten hat auch nur eine Kartoffel mitzunehmen, weil die als Energiequelle genutzt werden kann.“

Tante Lucy, die ja nun mitbekommen hatte, was beim Aufbruch losgewesen war, griff in ihre Jackentasche und zog ihr eigenes Handy hervor. Mit einem „Hier“ reichte sie es mir nach hinten. „Cios Nummer steht im Adressbuch.“

Das war gut, aber nicht nötig, da ich Cios Handynummer auswendig konnte. Doch leider wurde ich beim Versuch ihn zu erreichen sofort wieder auf die Mailbox umgeleitet. Also blieb mir gar nichts anderes übrig, als ihm eine weitere Textnachricht zu hinterlassen, in der ich ihm mitteilte, dass ich gerade auf dem Weg zur Königin war.

Diego beobachtete mich dabei durch den Rückspiegel. „Du solltest das nicht machen. Noch steht gar nicht fest, ob du wirklich etwas mit dem Amor-Killer zu tun hast und das ist nur unnötige Ablenkung.“

Mein Blick hob sich vom Display. „Ob es nun feststeht oder nicht, ich bin sicher, dass er es erfahren möchte. Und ich will auch, dass er es erfährt.“ Vielleicht war das egoistisch, aber ich wollte ihn bei mir haben – besonders wenn mein Vater vorhatte, mich irgendwo weit weg von alledem, zu verstecken .

Er kniff die Augen leicht zusammen. „Genau das ist es was ich gemeint habe.“

Es ist ihm alles egal, Hauptsache seine Zaira ist glücklich. Ich konnte mich noch viel zu genau an diese Worte erinnern. Und auch an all die anderen, die an diesem Tag gefallen waren.

„Weißt du Diego“, sagte ich und reichte meiner Tante ihr Handy zurück. „Wenn du Cio mal für etwas loben würdest, anstatt ihm immer nur seine Fehler unter die Nase zu reiben, könnte eure Beziehung viel besser sein. Vielleicht hättet ihr dann noch eine Chance und er würde zuhören, wenn du etwas sagst. So jedenfalls wirst du ihn früher oder später verlieren.“ Das musste eben einmal klar gesagt werden, denn Diego schien gar nicht zu verstehen, was er mit seinem Verhalten bei seinem Sohn anrichtete.

Als Diego etwas darauf erwidern wollte, hob Tante Lucy drohend einen Finger, als wollte sie einen ungezogenen Jungen tadeln. „Wenn du jetzt den Mund aufmachst, dann haue ich dich. Zaira hat recht, das weißt du. Ich habe dir das auch schon tausend Mal gesagt, also halt die Klappe und schluck es runter.“

Er funkelte sie verärgert an, nahm sich aber ihren Ratschlag zu Herzen und hielt die Klappe.

Faszinierend. Ein Diego, der sich etwas von jemand anderem sagen ließ.

Der Rest der Fahrt verging in angespanntem Schweigen. Papa klebte mit seinem Wagen direkt an unserer Stoßstange. Doch auch seine Nähe konnte das aufsteigende Unbehagen in mir nicht besänftigen. Ich hatte keine Ahnung, was genau Königin Sadrija von mir erwartete, schließlich hatte ich selber gerade erst herausgefunden, dass es da vielleicht eine Verbindung gab. Bisher hatte ich noch nicht mal die Zeit gehabt, mir ernsthaft Gedanken über all das zu machen. Und so wie es gerade lief, würde das auch noch eine ganze Weile so bleiben, denn je näher wir dem Hof kamen, desto nervöser wurde ich. Dabei hatte ich doch eigentlich gar keinen Grund dazu, ich hatte ja nichts ausgefressen.

Und doch wurde ich richtig nervös, als der Wagen dann vor dem Schlossportal anhielt. Man gab mir nicht einmal mehr die Zeit auf meinen Vater zu warten, um noch kurz mit ihm reden zu können. Ich wurde direkt von einem Trupp Wächter umschlossen und hineineskortiert – ich kam mir wie ein Schwerverbrecher vor.

Tante Lucy nahm zur Beruhigung meine Hand, als Diego uns quer durch die Eingangshalle zu einer Flügeltür Tür rechts brachte. Dahinter lag die Bibliothek des Schlosses, doch bevor ich mir einen Endruck davon machen konnte, wurde ich schon durch eine weitere Tür geschoben und landete in einem großen und gemütlichen Büro. Die eine Seite war mit einem großen Schreibtisch, Regalen, Aktenschränken und einem beeindruckenden Computer ausgestattet. Auf der polierten Platte stapelten sich Aktenordner und an den Wänden hingen mehrere große Karten. Auf einer davon waren die Fundorte der Amor-Opfer eingezeichnet. Ich hatte diese Markierungen auf meinem Tablet so oft gesehen, dass ich sie sofort erkannte.

Auf der anderen Seite des Raumes gruppierten sich mehrere bequeme Sessel um einen großen steinernen Kamin. In einem davon saß Königin Sadrija in einem langen grünen Gewand. Ihre Hände hatte sie schützend auf ihren geschwollenen Leib gelegt. König Carlos saß ihr gegenüber, erhob sich aber, als wie den Raum betraten.

Außer den beiden war noch Ieshas Vater Hardy anwesend, der ja jetzt Großwächter war. Und überall an den Wänden standen Wächter und Umbras herum. Befürchteten die etwa, ich sei der Mörder und könnte mich jeden Moment auf die Königin stürzen? Ich drückte die Hand meiner Tante ein wenig fester.

Als der König vortrat, senkte Diego leicht den Kopf und trat zur Seite, um den Weg freizugeben.

Der Blick des Königs richtete sich direkt auf mich – nur der seines rechten Auges, den auf dem linken war er ja nun blind. „Zaira Steele. Es freut mich, dass du unserer Einladung gefolgt bist. Ich darf dich doch duzen, oder?“

Einladung, guter Witz. „Natürlich.“

„Danke.“ Er lächelte mich mit einer Herzlichkeit an, bei der man sich gleich willkommen fühlte und meine Nervosität ließ ein wenig nach. „Möchtest du dich nicht setzen?“ Er zeigte auf die einzelnen Sitzgelegenheiten und da man eine Einladung des Königs nicht ausschlug, parkte ich meinen Hintern auf dem Sessel, der mir am nächsten stand. Dabei ließ ich meinen Blick über die ganzen Aufpasser an den Wänden gleiten, in der Hoffnung Cio zwischen ihnen zu entdecken, aber er war nicht da. Wäre es anders, hätte er sicher schon längst auf sich aufmerksam gemacht.

Auch König Carlos setzte sich wieder auf seinen Platz. „Möchtest du vielleicht etwas trinken? Kaffee? Tee? Oder ein Wasser?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein danke.“

„In Ordnung.“ Er lehnte sich in seinem Ohrensessel zurück und schlug die Beine übereinander. „Du weißt warum wir dich hergebeten haben?“

„Wegen dem Amor-Killer.“

Er nickte. „Was kannst du uns zu diesem Thema sagen?“

„Ähm … keine Ahnung. Was wollen Sie denn wissen?“

„Zuerst einmal sag mir doch einfach, was du weißt.“

„Naja, eigentlich nur das, was ich in den Nachrichten aufgeschnappt hab. Nein, das stimmt nicht, ich weiß noch ein bisschen mehr, weil mein Vater zu den Themis gehört und mir ein paar Sachen erzählt hat.“

Da ihm das scheinbar nicht genügte, deutete er mir an doch bitte weiter zu sprechen.

„Also, ähm, er tötet immer aus der Entfernung mit einem Pfeil und trifft immer mit dem ersten Schuss ins Ziel. Zumindest wurden an den Leichen nie andere Verletzungen entdeckt, was auf einen ausgesprochen guten Schützen hinweist. Seine Opfer sind ausnahmslos Wolfsmistos. Es gibt weder ein Muster in Zeit und Ort, noch bei dem Geschlecht, dem Alter, der Herkunft oder der Hautfarbe. Mit jedem Mord wird er mutiger und unberechenbarer. Er glaubt nicht, dass man ihn erwischen wird, was darauf hindeutet, dass er sehr von sich überzeugt ist. Ein wenig arrogant, mit leichten Anwandelungen von Narzissmus. Höchstwahrscheinlich männlich. Zu dem Motiv kann ich nicht wirklich etwas sagen, aber es liegt im Bereich des Möglichen, dass er auf diese Art versucht etwas zu kompensieren, oder versucht eine Art berüchtigte Berühmtheit zu erlangen. Außerdem benimmt er sich für einen Serienkiller sehr untypisch, weil er …“ Ich verstummte, als ich die eigenartigen Blicke von allen Seiten auf mir spürte.

Unangenehm berührt, rieb ich meine Hände über meine Schenkel. „Also … nach dem ich Victoria fand, habe ich mich ein wenig mit dem Thema beschäftigt, weil es mich einfach nicht loslassen wollte.“

König Carlos urteilte nicht, er beließ es einfach dabei. „Wie kamst du darauf, dass der Amor-Killer etwas mit dir zu tun haben könnte?“

„Naja, ich eigentlich gar nicht. Meiner Mutter ist das aufgefallen.“ Ich erzählte ihn von meinem Tablet und der Karte mit den Markierungen. „…überall dort, wo die Opfer ohne Herzen gefunden wurden, habe ich mal gewohnt. Und die letzten beiden Opfer zeigen deutlich in die Richtung, wo ich bis vor ein paar Jahren zu Hause war.“

„Und wo ist das?“

„Koenigshain“, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen. „Ein kleiner Erholungsort für Menschen. Danach bin ich wieder hier nach Silenda gezogen.“

„Wenn das stimmt“, mischte sich Großwächter Hardy ein, „dann haben wir noch mit mindestens zwei weiteren Leichen zu rechnen. Vermutlich eher mehr, weil er auf seinem Weg immer eine deutliche Spur hinterlässt.“

Carlos nickte. Königin Sadrija jedoch strich sich nur geistesabwesend über den Bauch. Ich war mir nicht mal sicher ob sie überhaupt zuhörte.

Seine Majestät jedoch war sehr aufmerksam, sein Blick immer noch auf mich gerichtet. „Und was ist mit den anderen sieben Opfern? Kannst du etwas zu ihren Fundorten sagen?“

Ich biss mir auf die Unterlippe. „Nicht so wirklich, aber meine Eltern könnten vielleicht mehr dazu sagen.“

Er nickte verstehend. „Und die Opfer? Kanntest du sie?“

„Nur Großwächterin Victoria und Beatrice Becker, die anderen sind mir völlig unbekannt.“

„Und woher kanntest du die beiden?“

„Naja, kennen ist eigentlich zu viel gesagt. Großwächterin Victoria hat hier im Hof gearbeitet. Außerdem war sie die Mutter der Ex-Freundin meines Verlobten.“ Man, klang das kompliziert. „Und Beatrice war die beste Freundin meiner Oma. Ich habe sie in meinem ganzen Leben vielleicht ein Dutzend Mal zu Gesicht bekommen und nie wirklich etwas mit ihr zu tun gehabt.“

Niemand im Raum ließ sich anmerken, was sie von diesen Informationen hielten. Wussten sie es vielleicht schon?

„Kannst du dir vorstellen, was das alles mit dir zu tun hat?“

Ich schüttelte schon den Kopf, bevor er geendet hatte. „Nein, und das finde ich ziemlich beunruhigend, weil dieser Kerl meinen Lebensweg für seine abscheulichen Taten benutzt. Das bedeutet doch, dass ich einen Mörder kenne, aber wer bitte ist denn zu solch grausamen Taten fähig?“

„Genau das versuchen wir gerade herauszufinden.“

Aus unerfindlichen Grund, wurde ich nach diesen Worten ganz rot im Gesicht. Reiß dich gefälligst zusammen!

Der König stellte mir noch weitere Fragen. „Weißt du was das Herz oder der Pfeil bedeutet?“ und „Wo warst du, als die einzelnen Morde geschahen.“ Die Frage war nicht nur schwerer zu beantworten, sie trieb mir auch die Schamesröte ins Gesicht, als ich beichtete, dass ich da unter anderem mit Cio im Bett war – vor Cios Vater!

Andere Fragen waren da leichter zu beantworten, wie: „Kannst du dir vorstellen, was es mit den Gedichten und Zitaten auf sich hat? Oder mit der Verherrlichung Amors?“

Ich konnte nur Vermutungen anstellen. Vielleicht versuchte der Täter auf diese Art Anerkennung zu bekommen und eine sehr verdrehte Art der Liebe. Vielleicht war er als Kind verlassen worden. Aber wissen konnte ich es nicht.

Gerade als der König mich fragte, ob ich eine Vermutung hätte, wo der Killer als nächstes zuschlägt, ging eine Seitentür auf, die ich bisher gar nicht bemerkt hatte. Mein Herz machte einen Hüpfer, als ich Cios besorgtes Gesicht sah. Er musterte mich kurz und stellte sich dann still zu den anderen Aufpassern an die Wand.

„Umbra Elicio“, sagte Königin Sadrija und ergriff damit zum ersten Mal das Wort. Ihre Stimme war leise, fast wie ein flüstern. Und doch richteten sich sofort aller Ohren im Raum auf. „Gibt es ein Problem?“

„Nein, Königin Sadrija.“ Er senkte leicht sein Haupt.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Diego die Lippen grimmig aufeinander drückte. Der Trainingskleidung zur Folge, die Cio am Leib trug, sollte er wohl gerade in der Sporthalle sein. Aber er war hier, und dass passte seinem Vater nicht. Dass er das auch noch vor den Augen der Alphas tat und damit ihre Aufmerksamkeit erregte, gefiel ihm noch viel weniger.

„Und warum bist du dann hier?“

„Zaira ist meine Verlobte. Ich werde nicht stören, ich möchte nur anwesend sein.“

Sadrija machte eine Handbewegung, die wohl eine Zustimmung sein sollte, denn Cio senkte abermals den Kopf und blieb still an der Wand stehen. Dabei ließ er mich keinen Moment aus den Augen.

Wie gern ich einfach zu ihm rüber gelaufen wäre, um mich von ihm in den Arm nehmen zu lassen, doch das wäre im Moment wohl eher unpassend.

„Kommen wir zurück zu meiner Frage“, fuhr der König fort, als hätte diese kurze Unterbrechung gar nicht stattgefunden. „Kannst du dir vorstellen, wo der Täter als nächstes zuschlägt? Vielleicht besondere Orte aus deiner Vergangenheit?“

„Ich weiß nicht“, sagte ich ganz ehrlich. „Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob das alles nicht doch ein großer Zufall ist. Aber wenn nicht, dann wird es bald einen Toten in Koenigshain geben. Allerdings gibt es dort niemand aus der verborgenen Welt, darum haben wir da ja gewohnt. Doch bis dahin.“ Ich zuckte hilflos mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich müsste mit meinen Eltern sprechen. Vielleicht fallen ihnen ein paar Orte ein.“

Großwächter Hardy verschränkte die Arme vor der Brust. „Das heißt, sicher ist nur, dass es noch einen Toten in Koenigshain und wahrscheinlich auch in Silenda geben wird. Leider ergibt sich daraus aber auch die Frage, was geschehen wird, sobald der Mörder wieder in der Königsstadt angekommen ist.“

„Nur wenn wir ihn vorher nicht aufhalten können“, stimmte der König grimmig zu. Nachdenklich musterte er mich, bis ich mich fast unter seinem Blick wandte. Ich mochte es nicht so durchleuchtet zu werden. „Bist du gut mit Pfeil und Bogen?“

„Bitte?“ Hatte ich mich gerade verhört? „Glauben sie ich hätte die ganzen Leute umgebracht?“ Das konnte doch nicht sein ernst sein!

„Bitte antworte einfach auf die Frage.“

Wäre das nicht der König und wäre ich nicht ich, dann hätte ich ihm in diesem Moment wohl den Stinkefinger gezeigt. „Nein. Als Kind habe ich zwar ein paar Wochen Bogenschießen praktiziert, aber ich war so schlecht darin, dass ich ganz schnell wieder damit aufgehört habe. Fragen Sie meinen Vater, er kann ihnen auch sicher den Verein nennen, bei dem wir damals waren.“

Der König nickte. „Kennst du jemanden, der damit umgehen kann?“

Kannte ich jemanden? Ich wusste von mehreren Leuten, die mit Feuerwaffen umgehen konnten, darunter sogar ein paar aus meiner Familie, aber Pfeil und Bogen? Das war doch etwas ganz anderes, oder? „Ich weiß nicht. Meine Geschwister vielleicht und Cayenne? Hier am Hof macht man sowas doch, oder?“

„Niemand anderes?“, fragte der König weiter, ohne auf meine Frage einzugehen.

„Nicht das ich wüsste.“ Fieberhaft ging ich im Kopf all meine Bekanntschaften durch. Nicht nur weil der König es wissen wollte, mich selber interessierte es auch, denn wenn ich wirklich etwas mit dieser Mordserie zu tun hatte, dann konnte es durchaus sein, dass der Killer sich in meinem Bekanntenkreis befand. Aber außer den eben genannten, fiel mir absolut niemand ein. Und mal ehrlich, Aric und Kiara waren nun wirklich keine Mörder. „Aber ich könnte mich auch irren, schließlich kenne ich nicht jeden von ihnen in und auswendig.“

„Und was ist mit einer verflossenen Liebe? Gibt es vielleicht jemanden, der dir auf diese Art versucht eine Botschaft zu schicken? Das würde zumindest die Zitate und Gedichte erklären. Amor als Sinnbild der Liebe.“

„Nein, da gibt es niemanden. Cio ist der einzige, vorherige Liebschaften habe ich keine.“ Was eigentlich ein wenig traurig war, wenn ich genau darüber nachdachte.

Seufzend schloss der König für einen Moment die Augen. Von diesem Gespräch hatte er sich wohl mehr erhofft. „Weißt du sonst irgendetwas, dass uns weiterhelfen könnte? Auch wenn es nur eine unbedeutende Kleinigkeit ist. Denk bitte genau darüber nach, denn du bist die erste Spur, die wir seit dem Beginn dieser Ermittlungen haben und wie es nun mal scheint, dreht es sich dabei um dich.“

Nur kein Druck. Aber er hatte recht, also dachte ich sehr gründlich darüber nach. Ich dachte an die Leute in meinem Umfeld und ob in letzter Zeit irgendetwas anders als sonst gewesen war. Leider fiel mir dabei nur die Verlobung mit Cio ein und die hatte ganz sicher nichts damit zu tun. Dann war da natürlich auch noch Kiara, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Angst davor Mutter zu werden, sie in eine Massenmörderin verwandet hatte. Darum blieb mir am Ende nur wieder mit den Schultern zu zucken. „Tut mir leid, aber ich weiß nichts.“

Er drückte die Lippen unzufrieden aufeinander. „Nun gut. Falls dir noch etwas einfällt, dann sag uns bitte sofort Bescheid – egal ob Tag oder Nacht.“

Ich nickte.

„Und ich möchte, dass du dich mit deinen Eltern zusammensetzt. Fertigt eine Liste an, auf der ihr mögliche Orte für weitere Taten aufschreibt, Orte die eine Bedeutung für dich oder deine Familie haben.“

Noch ein Nicken.

„Außerdem möchte ich eine Liste mit all deinen Bekannten, Freunden und Familienmitgliedern haben.“

O-kay, das würde eine lange Liste werden. „Auch Menschen? Ich meine, ich habe bis vor drei Jahren unter ihnen gelebt.“

„Nur wenn sie von der verborgenen Welt wissen.“

Also doch keine allzu lange Liste. „Mache ich.“

„Gut. Hat sonst noch jemand Fragen?“

Sowohl der Großwächter, als auch Sadrija schüttelten die Köpfe.

„Dann bist du erstmal entlassen. Ich danke dir für deine Zusammenarbeit.“

„Kein Problem.“ Ich erhob mich von meinem Platz. „Aber ich will jetzt nur noch nach Hause.“

„Nein“, sagte Sadrija da und richtete damit zum ersten Mal das Wort direkt an mich. „Das kann ich nicht erlauben.“

„Ähm …“ Unsicher schaute ich von ihr zu Diego und Cio. „Was meinen sie damit?“

„Ich meine damit, dass du hier im Hof bleiben wirst, damit wir ein Auge auf dich haben können.“

„Was?!“ Das konnte sie doch nicht ernst meinen. „Aber …“

„Zaira“, sagte sie sehr leise und brachte mich damit trotzdem sofort zum Schweigen. „Du bist nicht nur der erste Hinweis auf unserer Suche, du könntest der Schlüssel zu all dem sein. Außerdem bist du ein Misto. Auch wenn sich das Ganze um dich zu drehen scheint, so kommst du doch als Opfer in Frage – vielleicht auch gerade deswegen. Ich bin nicht bereit ein Leben zu riskieren, wenn es in meiner Macht steht es zu beschützen. Aus diesen Gründen wirst du in meiner Obhut verweilen. Man wird dir ein Zimmer geben, im dem wir dich rund um die Uhr bewachen können.“

„Ja aber was ist mit meinen Eltern? Sie können mich doch nicht einfach so gefangen nehmen.“

König Carlos schüttelte nachsichtig den Kopf. „Niemand hier nimmt dich gefangen, Zaira, dies hier geschieht nur zu deinem Schutz. Versteh das bitte.“

Ich schaute hilfesuchend zu Cio, aber auch wenn er nicht mehr so stocksteif an der Wand stand, konnte auch er nichts gegen die Befehle des Alphas ausrichten. „Das können sie doch nicht machen“, versuchte ich es weiter. „Ich habe einen Job und Familie und Freunde und … und … das geht doch nicht.“ Besonders nicht, wenn ich an das letzte Mal dachte, als ich in diesen Mauern gefangen gehalten wurde. Noch heute plagten mich manchmal die Erinnerungen an diese grausamen Tage.

Zu meiner Überraschung war es Tante Lucy, der einen Schritt vortrat. „Ich würde gerne um Erlaubnis bitten zu sprechen.“

Königin Sadrija neigte den Kopf leicht zur Seite. „Du hast das Wort.“

Sie senke den Blick leicht. „Zairas Vater und ein Teil ihrer Familie gehören den Themis an. Nach dem Schloss ist es das am Besten gesicherte Gebäude auf dem ganzen Gelände. Dort sind Tag und Nacht dutzende von Leuten, die sehr gut zum Schutz von Zaira geeignet wären. Vielleicht würde sie sich dort wohler fühlen als hier, wo nicht einmal ihre Eltern zu ihr können.“

Was? Nein! Ich wollte nicht ins HQ, ich wollte nach Hause. Das Hauptquartier der Themis war kaum besser, weil ich auch dort nichts weiter als eine Gefangene wäre.

Ununterbrochen ließ Sadrija ihre Finger über ihren Bauch wandern. „Du vergisst, dass sie auch Teil meiner Familie ist. Cayenne ist meine Cousine.“

„Gewiss“, stimmte sie ihr zu. „Aber zu Euch hat sie keine so enge Verbindung. Diese Situation ist so schon schwer für sie. Ich glaube nicht, dass es allzu gut wäre, sie von allem zu trennen, was ihr im Moment Halt geben kann. Die Erkenntnis, dass man etwas mit einer Mordserie zu tun hat, kann einen schwer belasten.“

„Aber ich will gar nicht ins HQ“, sprach ich dazwischen. „Ich will nach Haus. Warum kann ich nicht einfach nach Hause gehen?“

„Weil niemand hier riskieren will, dass dein Vater einfach mit dir verschwindet“, sagte Lucy, ohne mich direkt anzuschauen.

Papa. Wäre er jetzt hier und würde das hören, er würde wahrscheinlich voll ausflippen. „Aber …“

„Schluss.“ Sadrija machte eine entschiedene Handbewegung. „Ich sehe ein, dass es für alle vermutlich das Beste ist, wenn Zaira im HQ untergebracht wird. Sie darf sich dort frei bewegen, das Gebäude aber nicht verlassen. Außerdem möchte ich zwei Wächter am Eingang postiert haben. Diego, wähle ein paar verlässliche Leute aus.“

„Aber …“, begann ich wieder, wurde jedoch unterbrochen, als Lucy mir auf den Fuß trat – schmerzhaft. Ich funkelte sie an.

„Ich gehe davon aus, dass im HQ immer jemand ein Auge auf sie haben wird?“

Lucy neigte zustimmen den Kopf. „Natürlich, ich werde persönlich dafür sorgen.“

„Gut. Dann geht nun, bevor ich wieder zur Besinnung komme und Zaira doch hier im Schloss unterbringe.“

Die Botschaft in ihren Worten ging ganz klar an mich. Sollte ich mich nicht fügen, würde sie die Leine kürzer nehmen und mir das bisschen Freiheit, dass sie mir noch zugestand, würde sich einfach in Luft auflösen – natürlich alles im Sinne meiner Sicherheit.

Ich biss die Zähne zusammen und vermied es noch einmal den Mund zu öffnen. Das hier hatte nur ein Gespräch sein sollen und nun war ich eine Gefangene. Egal wie man es auch auslegte, vorerst würde ich unter ständiger Beobachtung stehen. Und das alles nur, weil es da einen mordenden Verrückten gab. Da blieb eigentlich nur noch eine Frage offen: Wie würde mein Vater diese Neuigkeit aufnehmen? So wie ich ihn kannte, wahrscheinlich nicht sehr gut.

 

°°°

 

Kaum dass ich die Bibliothek verließ und in die Eingangshalle trat, war Cio auch schon an meiner Seite und zog mich in seine Arme. Ich ließ mich nur zu gerne von seiner Nähe trösten, denn langsam wuchs mir das Ganze über den Kopf. Und dazu war nur ein einziger Nachmittag nötig gewesen. Wie konnte das nur geschehen?

„Hey, alles wird wieder gut.“

Ich schnaubte. „Wie kannst du das sagen? Hast du da drinnen überhaupt zugehört?“

„Natürlich habe ich das, auch wenn mir noch immer nicht so ganz klar ist, was du damit zu tun hast. Aber ich weiß es, weil ich nicht zulassen werde, dass dir etwas passiert. Hast du verstanden?“

Oh wie gerne ich ihm das glauben wollte. Aber wenn einem ein Massenmörder auf den Fersen war, konnten einem schon einige Zweifel kommen.

Ein paar Meter entfernt stand Diego mit einigen Wächtern und beäugte seinen Sohn kritisch. Er sprach mit den Männern, doch mir war das im Moment völlig egal.

Tante Lucy war bei ihnen und nickte hin und wieder.

„Was soll ich denn meinem Vater erzählen? Er wird völlig ausflippen.“

Cio lehnte sich so weit zurück, dass er mir ins Gesicht sehen konnte. „Falls du den Wink mit dem Zaunpfahl nicht verstanden hast, ich verstehe immer noch nicht ganz, was hier los ist. Darum kann ich dir auch nicht sagen, was zu deinem Vater erzählen sollst.“

Ach ja. Er kam ja erst mitten in der Befragung dazu. „Hast du denn gar nicht auf dein Handy geschaut? Ich habe dir eine Millionen Nachrichten hinterlassen.“

„Ich war beim Training, Schäfchen. Mein Handy ist im meinen Schließfach.“

Ach so? „Und woher weißt du dann, dass ich hier bin?“

„Einer der Wächter kam in die Sporthalle und hat verkündet, dass es endlich eine Spur zum Amor-Killer gibt. Als dann dein Name gefallen ist und man mir sagte, dass du dich gerade in einem Gespräch mir den Alphas befindest, bin ich sofort hergekommen.“

Wenn er es auf diesen Weg erfahren hatte, wer wusste in der Zwischenzeit dann noch alles Bescheid? Vielleicht sogar der Killer selber?

„Sagst du mir bitte endlich was los ist, bevor ich noch durchdrehe?“

Na wenn er mich so lieb bat, konnte ich ja wohl schlecht nein sagen. Also erzählte ich ein weiteres Mal, wie mein Nachmittag verlaufen war. Als ich zu der Stelle kam, wo mein Vater mich einfach über die Schulter geworfen hatte und in den Wagen schmiss, weil ich mich weigerte zu gehen, bevor ich mit Cio gesprochen hatte, schmunzelte der Idiot auch noch. Doch der Rest der Geschichte brachte ihn sehr schnell dazu wieder ernst zu werden.

„Also besteht zwischen dir und dem Amor-Killer eine Verbindung.“

„So scheint es im Moment jedenfalls.“

„Und du hast absolut keine Ahnung, worin die bestehen könnte.“

„Woher denn? Sag du es mir doch, schließlich haben wir die letzten Jahre immer zusammen verbracht. Du kennst jeden meiner Bekannten. Glaubst du einer von ihnen könnte ein Mörder sein?“

Seine Augenbrauen zogen sich leicht zusammen. „Vielleicht das Frettchen?“

Dafür bekam er einen Knuff. „Ich meine es ernst, Cio.“

„Ich weiß.“ Zärtlich berührte er das kleine Loch von meinem Piercing an der Augenbraue. Diese vertraute Geste hatte etwas beruhigendes. „Ich mache nur dummer Scherze, weil ich mir Sorgen um dich mache.“

„Da ich die nächste Zeit praktisch eine Gefangene sein werde, die von allen unter Beobachtung stehen wird, ist diese Sorge ein kleinen wenig überflüssig.“ Ja ich klang ein wenig bitter, aber ich hatte auch jedes Recht dazu. Von einem Moment auf den anderen bestimmten plötzlich praktisch Fremde über mein Leben und ich hatte nicht die geringste Chance etwas dagegen zu unternehmen. Die Suche nach dem Killer würden andere führen, was bedeutete, dass ich die nächsten Tage nichts anderes tun könnte, als sorglos herumzusitzen und mich meiner Sicherheit zu erfreuen. Das gefiel mir absolut nicht. Ich wollte mein Leben nicht von anderen abhängig machen, dafür hatte ich viel zu oft um meine Selbständigkeit kämpfen müssen.

„Hey.“ Cio hob mein Gesicht an. „Wir kriegen das schon hin, hast du verstanden? Lass jetzt bloß den Kopf nicht hängen, weil wenn du jetzt anfängst zu weinen, dann fange ich auch an und mal ehrlich, niemand will einen heulenden Umbra in der Eingangshalle sehen.“

Und damit hatte er es mal wieder Geschäft mir ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern – wenn auch nur ein kleines.

„So ist schon besser“, sagte er und hauchte mir einen Kuss auf dem Mund.

Diego währenddessen beendete sein Gespräch und trat mit zwei Wächtern und Lucy an der Seite zu uns. „Zaira, das sind Wächter Mirko Vukelić und Wächter Owen McKinsey. Die beiden werden ab sofort für dich verantwortlich sein.“

Mirko war ein etwas gedrungener Mann mit nussbraunem Haar und einem sehr kantigem Kinn. Owen dagegen war lang und dünn. Seine scharfe Nase stand ihm wie ein Schnabel im Gesicht. Aber seine Augen waren aufmerksam und das Lächeln angenehm.

„Hi“, sagte ich und hob etwas unbeholfen die Hand.

Sie nickten mir beide zu.

Diegos nächste Worte waren wieder für mich gedacht. „Ich möchte, dass du dich an die beiden hältst, wenn du aus irgendeinem Grund das HQ verlassen musst. Ansonsten werden sie einfach nur aufpassen, dass niemand unbefugtes das Gebäude betritt.“

Und da es keinen Hintereingang gab, würde jeder der ins HQ wollte, gezwungenermaßen an ihnen vorbei müssen. Obwohl das so nicht ganz richtig war, wenn ich genauer darüber nachdachte. Es gab einen Hintereingang, einen versteckten und das wusste ich so genau, weil ich ihn selber schon einmal hatte benutzen müssen. Aber um den zu kennen, musste man eingeweiht sein. Und nicht an Klaustrophobie leiden, wie ich bereits am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte.

„Hast du verstanden?“, bohrte Diego nach.

Ich nickte. „Natürlich.“

„Gut, dann komm. Ich habe deinem Vater versprochen, dich wieder in seine Hände zu übergeben und ich habe noch ein bisschen was anderes zu tun. Ich nehme meinen Job nämlich sehr ernst.“

Dieser Seitenhieb war für Cio gedacht und so wie er sich anspannte, wusste auch er es auch.

„Okay“, sagte ich schnell, bevor es wieder zu einem handfesten Streit kommen konnte und drückte Cio mahnend die Hand. „Dann lasst uns gehen.“

Wir folgten Diego durch das Eingangsportal hinaus in die kreisrunde Auffahrt des Schlossanwesens. Cio behielt meine Hand in seiner. Die beiden Wächter folgten uns lautlos. Tante Lucy lief neben Diego her.

Das HQ lag westlich des Hofes und schon von weitem konnte ich die drei Leute sehen, die vor dem Gebäude warteten. Mama hatte sich im Schneidersitz auf dem Boden niedergelassen, Onkel Tristan lehnte neben ihr an der Wand. Papa jedoch wanderte ruhelos auf und ab. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als er mich entdeckte. Sofort nahm er Kurs auf mich und zog mich in seine Arme.

„Alles okay mit dir?“ Er hielt mich ein Stück von sich. „Dir geht es gut?“

„Mir ja, aber du wirst gleich einen Anfall bekommen.“ Genau, immer gleich mit der Tür ins Haus. Langes herumdrucksen würde es schließlich nicht besser machen.

Wachsamkeit glomm in Papas Augen auf. „Was meinst du damit?“

Etwas hilflos, schaute ich von Cio zu Diego.

„Zaira darf den Hof in den nächsten Tagen nicht verlassen“, kam es dann ganz direkt von meiner Tante. Manchmal hatte ich den Verdacht, es bereitete ihr ein diebisches Vergnügen meinem Vater schlechte Nachrichten zu überbringen. „Obwohl ich vielleicht besser sagen sollte, sie darf das HQ nicht verlassen.“

Die Wachsamkeit schlug in Ärger um. „Was bitte soll das heißen, sie darf nicht?“

Sie zuckte nur mit den Schultern. „Die Alphas vermuten, dass sie der Schlüssel zu all dem sein könnte und wollen sie nicht aus den Augen lassen.“

„Genaugenommen haben sie gesagt, dass sie mich so schützen wollen“, fügte ich noch schnell hinzu, bevor meinem Vater wirklich noch der Kopf explodierte. „Und deswegen soll ich die nächsten Tage im HQ bleiben. Geschützt. Du weißt schon, wegen all der Themis hier.“

Mein Vater schaute mich an. Sein Gesicht wurde völlig ausdruckslos.

„Papa?“, fragte ich vorsichtig.

In nächsten Moment ging er so plötzlich auf Diego los, dass keinem von uns die Zeit blieb ihn aufzuhalten. Er war so schnell, dass er Diego den heftigen Kinnhaken schon verpasst hatte, als wir noch versuchten zu begreifen, was hier gerade geschah.

Cios Vater fiel zwar nicht wie ein gefällter Baum um, aber er taumelte schon ein paar Schritte zurück und blinzelte mehrfach, als wenn er die Sicht wieder klar bekommen musste. Der Schlag hatte definitiv gesessen.

Ich stieß ein sehr mädchenhaftes Quietschen aus und schlug entsetzt die Hände vor dem Mund.

„Ys-oog!“, rief meine Mutter entsetzt.

Diego knurrte warnend, als mein wieder Vater einen weiteren Schritt auf ihn zumachte.

Mama war so schnell auf den Beinen und an mir vorbei, dass ich sie nur als zarten Lufthauch wahrnahm. Dann hing sie auch schon mit ihrem ganzen Gewicht an Papas Arm – nicht das ihn das Leichtgewicht wirklich gestört hätte, wenn er Diego noch eine hätte verpassen wollen.

„Ich habe es nicht gewusst“, sagte Diego leise und spuckte einen Mundvoll Blut aus. Igitt. „Mir wurde nur gesagt, ich solle sie zu einem Gespräch herbringen. Davon, dass sie sie hierbehalten wollten, hatte ich nicht die geringste Ahnung.“

Mit ausgestrecktem Finger zeigte Papa auf ihn, als wollte er ihn warnen, je wieder in seine Nähe zu kommen. Seine Fänge waren voll ausgefahren und ihm schien etwas auf den Lippen zu liegen. Aber dann machte er sich einfach nur von meiner Mutter frei, wandte sich ab und marschierte mit wütenden Schritten davon.

Mama schaute ihm unentschlossen hinterher. „Tut mir leid, Donasie, aber ich will ihn jetzt nicht alleine lassen.“

„Ist schon okay“, versicherte ich ihr, obwohl ich das eigentlich nicht okay fand und konnte dann nun zuschauen, wie sie meinem Vater schnell hinterhereilte, damit er nicht etwas Dummes tat, wie zum Beispiel die Alphas einen Kopf kürzer machen.

Das mein Vater mit dieser Wendung der Dinge nicht zufrieden sein würde, hatte ich mir schon gedacht, doch ich hatte ehrlich nicht damit gerechnet, dass er auf Diego losging. Oder mich einfach hier stehen lassen würde. Ihm war sicher bewusst, dass ich hier gut geschützt sein würde, aber noch viel lieber würde er mich aus der Gefahrenzone schaffen. Da Königin Sadrija seinen Wünschen jedoch den Riegel vorgeschoben hatte, war es völlig sinnlos, sicher weiter Gedanken darüber zu machen. Vorerst würde ich hierbleiben und er konnte absolut gar nichts dagegen tun, wenn er uns nicht zu einem Leben auf der Flucht verdammen wollte.

Diegos Kiefer schwoll leicht an und er würde sicher einen ziemlich beeindruckenden Bluterguss davontragen. Papa hatte sich mit seinem Schlag nicht zurück gehalten. Von Tante Lucy bekam er ein Taschentuch gereicht, dass er sich an die blutende Lippe halten konnte. Einen Moment befürchtete ich, dass der Anblick des Bluts meinen Bluthunger wecken würde, doch ausnahmsweise blieb mein innerer Vampir einmal friedlich und überließ mir das Feld.

„Ich glaube wir sollten erst mal reingehen und dir ein Zimmer geben.“ Onkel Tristan stieß sich von der Wand ab und hielt mir einladend die Tür auf. „Danach können wir weitersehen.“

Vermutlich hatte er recht. Und doch zögerte ich. Wenn ich erst mal in dem Gebäude drinnen war, würde ich so schnell nicht mehr hinauskommen. Nicht dass es wirklich etwas ändern würde, wenn ich einfach hier draußen blieb. Selbst wenn ich versuchen würde abzuhauen, würden sie mich innerhalb von Sekunden wieder eingefangen haben.

Da Cio meine Unsicherheit wohl spürte, zog er mich ein wenig näher zu sich und hauchte mir einen Kuss auf die Schläfe. „Na komm“, sagte er leise und zog mich mit sich mit. Dass sein Vater gerade von meinem Vater einen Schlag kassiert hatte, schien ihn nicht im mindesten zu interessieren.

Ich ließ mich nur widerstrebend in das Gebäude bringen.

Onkel Tristan führte uns direkt nach unten zu den Wohnräumen. Diego befahl den beiden Wächtern noch draußen zu bleiben und folgte uns dann mit Lucy an der Seite. Dabei ließ er sich nicht anmerken, was er von dem Fausthieb hielt, den mein Vater ihm versetzt hatte.

Ich dagegen fühlte mich irgendwie schuldig. „Tut mir leid“, sagte ich leise. „Das hätte er nicht tun dürfen.“

Diego ließ sich nicht anmerken, was er dachte. „Ich habe schon schlimmeres einstecken müssen.“ Ja, denn das Training für einen Umbra war hart.

„Es war trotzdem falsch, dass er es gemacht hat.“ Auch wenn er mein Vater war, würde ich ihn bei dieser Sache nicht in Schutz nehmen. Ich hasste Gewalt, denn es gab immer eine andere Lösung seine Streitigkeiten beizulegen.

„Ich verstehe deinen Vater, ich nehme es ihm nicht übel, also mach dir deswegen keine Gedanken.“

Leichter gesagt, als getan.

Es war schon spät, weswegen es auf den Gängen eher ruhig zuging. Manche der bewohnten Zimmer standen offen. Leute saßen zusammen und unterhielten sich und lachten zusammen. Eine Frau hatte ihre Musikanlage so laut aufgedreht, dass sie selbst durch die geschlossene Tür zu hören war.

Das Zimmer, das Onkel Tristan für mich im Sinn hatte, war weiter hinten. Es lag praktisch direkt neben der kleinen Trainingshalle und war damit weit abseits vom Schuss. War wohl Absicht, dass er mich so weit weg wie nur möglich vom Eingang einquartieren wollte.

Er öffnete den Raum, schaltete das Licht ein und trat dann zur Seite. „Es ist zwar kein Fünfsternehotel, aber es sollte ausreichen.“

Das war noch nett ausgedrückt. Der Raum war klein, kaum größer als ein Schuhkarton. Links gab es ein Etagenbett, rechts einen alten Kleiderschrank mit einem quadratische Tisch daneben, aber kein Stuhl. Das war schon alles. Auch ein Fenster suchte man vergebens. Wenigstens waren die Wände sauber und der Boden gewischt.

„Bettwäsche müsste im Schrank liegen“, erklärte Onkel Tristan. „Der Schlüssel steckt von innen in der Tür. Wenn du Hunger bekommst, bediene dich in der Küche und wenn du Langeweile hast, kannst du ruhig in den Gemeinschaftsraum gehen.“

„Das wird schon.“ Cio trat von hinten an mich heran und rieb mir über die Arme. „Wir bekommen das schon hin.“

„Wir?“ Diego runzelte die Stirn. „Solltest du nicht langsam mal zurück? Du befindest dich immer noch in deiner Dienstzeit.“

Oh nein, bitte nicht jetzt.

Aber es war schon zu spät. Die Worte standen im Raum und Cio verzog bereits ärgerlich das Gesicht. „Du hast schon mitbekommen was hier los ist, oder?“

„Vor allen Dingen habe ich mitbekommen, dass du wieder nicht das tust, was du tun sollst.“

„Diego“, mahnte Tante Lucy eindringlich.

Er ignorierte sie. „Ich verstehe, dass du dich versichern wolltest, dass es Zaira gut geht. Nur was ich nicht verstehe ist, warum du noch immer hier bist.“

„Warum?“ Er lachte scharf auf. „Es könnte vielleicht daran liegen, dass ein verfluchter Serienkiller hinter meiner Verlobten her ist. Schon mal auf die Idee gekommen?“

„Das ist nur wieder eine Ausrede.“

Oh nein. Ich griff nach Cios Arm und bat ihn mit Blicken, das Ganze nicht wieder eskalieren zu lassen. Das konnte ich nun wirklich nicht auch noch gebrauchen.

Cio drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. „Okay, in Ordnung. Du hast recht“, ruderte er zu meiner Erleichterung dann zurück. „Ich befinde mich wirklich noch in meiner Dienstzeit. Aber hier kann ich gerade nicht weg, darum ist es wohl das Beste, wenn ich mir ein paar Tage frei nehme.“

„Urlaub?“ Diego runzelte die Stirn. „Du willst, dass ich deinen Dienstplan ändere?“

„Du bist der Tribunus Umbra und außerdem auch noch mein Vater. Ja, ich bitte dich darum mir ein paar Tage Urlaub zu geben.“ Er schien an dieser Bitte halb zu ersticken, doch ich wusste es zu schätzen. Er versuchte um meinetwegen ruhig zu bleiben.

„Auf keinen Fall.“

Damit sorgte er für einen Moment des unbehaglichen Schweigens.

„Was?“ Cio sah aus, als könnte er seinen Ohren nicht trauen.

„Du hast mich schon verstanden.“

Verdammt noch mal Diego! Warum konnte er seinem Sohn nicht einmal auch nur einen Schritt entgegenkommen?

Cios Körperhaltung spannte sich spürbar an. „Ich glaube du solltest noch mal darüber nachdenken, Papa.“ Das letzte Wort sprach er mit besonderer Betonung aus, was Diego ein Stirnrunzeln ins Gesicht trieb.

„Gerade weil ich dein Vater bin, kann ich dir keine Vorzugsbehandlung geben. Darum nein, ich werde deinen Dienst nicht ändern. Du musst endlich lernen …“

„Lernen?!“ Cio wirkte beinahe ungläubig. „Zaira schwebt in Lebensgefahr und du verlangst von mir trotzdem seelenruhig zur Arbeit zu gehen?“

„Zaira ist hier sicher. Selbst wenn man es wirklich auf sie abgesehen hat – was im Moment noch fraglich ist – würde niemand es wagen ins HQ zu gehen, um ihr etwas anzutun. Das ganze Gebäude ist voller Themis. Der Hof ist voller Wächter. Was glaubst du bitte, was ihr hier drinnen passieren kann?“

Irgendwo hatte er schon Recht. So wie ich seit meiner Ankunft hier von allen Seiten bewacht wurde, würde es für einen Killer wirklich schwer werden, einfach so an mich heran zu kommen. Aber … naja, wenn ich da so an die letzten Wochen dachte und dann auch noch Victoria … lassen wir das besser.

Cio schien ganz ähnlich zu denken. „Sicher ist sie erst, wenn der Mörder gefasst ist. Sag doch selber, würdest du Mama in so einer Situation einfach irgendwo absetzen und weitermachen, als wenn nichts gewesen wäre?“

„Ja“, sagte er, ohne auch nur einen Moment zu zögern. „Wenn ich sie sicher untergebracht habe, würde ich das tun.“

Cio musste sich nach dieser Antwort schwer zusammen reißen. „Okay, aber Mama ist auch ein Umbra und bringt dadurch ganz andere Voraussetzungen mit, sie weiß sich zu verteidigen. Zaira ist Pferdewirten. Selbst wenn sie eine Mistforke in der Hand hielte, würde es ihr schwer fallen, sich zu schützen.“

Oh, vielen Dank auch, mein Schatz. Ich hielt den Mund, da ich verstand, worauf er damit hinaus wollte.

„Es besteht für sie kein Grund sich zu schützen, denn hier sind genug Leute, die das für sie tun werden. Sie muss nichts weiter machen, als hier zu bleiben. Du jedoch hast hier im Moment nichts zu suchen. Du bist in deiner Dienstzeit, doch anstatt dieses Gebäude endlich zu verlassen und auf deinen Posten zurückzukehren, stehst du hier, diskutierst mit mir und drückst dich damit nur mal wieder vor deiner Verantwortung.“

„Hier geht es nicht um Verantwortung“, knurrte Cio.

„Doch, genau darum geht es“, widersprach Diego sofort. „Darum geht es bei dir immer. Es geht einfach nicht, dass du alles nach deinen Launen änderst, nur weil es gerade unpassend ist.“

Cio zog sich zurück. Nicht körperlich, nein, innerlich. Ich sah geradezu wie er sich und seine Gefühle vor seinem Vater verschloss und nichts als ohnmächtige Wut übrigließ. Und dieser Anblick gefiel mir nicht. Cio war ein Mensch, der sein Herz auf der Zunge trug und der seine Lebensfreude wie eine leuchtende Aura zu Schau stellte. Ihn so zu sehen tat mir weh, weil es mir zeigte wie unglücklich er mit dieser Situation war.

Warum nur hörten die beiden nicht einfach auf sich zu streiten und vertrugen sich? Ich meine, mein Vater trieb mich auch regelmäßig in den Wahnsinn, weil sein Beschützerinstinkt schon vor langer Zeit paranoide Züge angenommen hatte. Aber egal wie sauer wir aufeinander waren, irgendwann rauften wir uns immer zusammen. Doch die Kluft zwischen den beiden wurde von Tag zu Tag größer und nichts schien daran etwas ändern zu können.

„Weißt du was?“, fragte Cio dann in die folgende Stille hinein. „Vergiss es. Mit dir kann man einfach nicht reden. Ich kündige, dann kannst du dir deinen ganzen Vorgesetzten-Kram zu dem Stock in deinem Arsch schieben. Das war es, ich lasse mir nichts mehr von dir sagen, es ist vorbei.“

Die Worte überraschten nicht nur Diego. Damit hatte keiner von uns gerechnet.

„Cio.“

Er warf mir nur einen kurzen, müden Blick zu und schüttelte den Kopf. Diese ewigen Streitereien waren einfach nur noch anstrengend und er wollte nicht mehr.

Und leider wurde nun auch Diego sauer. „Du wirst jetzt nicht alles wegen einer kleinen Meinungsverschiedenheit hinwerfen“, knurrte er grollend.

„Doch, genau das werde ich und weißt du auch warum? Weil das hier alles sinnlos ist.“ Er machte eine ausholende Bewegung mit den Armen, als wolle er alles um sich herum mit einbeziehen. „Schon als kleiner Junge, wollte ich nichts anderes als wie du sein. Du warst mein Held, der große Umbra, der sich vor nichts und niemand fürchtete, der immer alles in Ordnung bringen konnte. Ich bin nur Umbra geworden, weil du einer bist. Ich wollte immer so sein wie du. Ich wollte das du stolz auf mich bist, wollte deine Anerkennung.“ Die nächsten Worte waren nur noch ein grausames Zischen. „Doch je mehr ich mich bemühe, desto schlimmer wird deine Verachtung. Deswegen scheiß drauf. Scheiß auf dich, scheiß auf den Job, scheiß von mir aus auf die ganze beschissene Welt. Das hier ist vorbei.“

Cio wirbelte herum, um aus dem Raum zu stürmen.

„Du wirst jetzt nicht so einfach davonlaufen.“ Diego griff nach vorne und in dem Moment in dem er seinen Sohn am Arm erwischte, passierte es.

Als wäre es eine unterbewusste Reaktion, wirbelte Cio zähnefletschend herum, schlug Diegos Arm weg und stieß seinen Vater mit so viel Wucht von sich, dass dieser ins Stolpern geriet und mit dem Rücken gegen die offene Tür knallte. „Fass mich nicht an!“, schrie er voller Zorn, doch dann … erstarrte er einfach – genau wie jeder andere im Raum.

Ich war mir nicht sicher, wer von den Beiden in dem Moment schockierter war. Cio, der nicht glauben konnte, dass er gerade ernsthaft seinen Vater angegriffen hatte, oder Diego, der es bis zu diesem Augenblick nicht für möglich gehalten hatte, dass sein Sohn sich auf diese Art gegen ihn auflehnen könnte. Die beiden stritten ständig und Diego war dabei auch öfters sehr grob, aber noch nie war Cio seinem Vater gegenüber handgreiflich geworden.

Ich jedenfalls wusste, dass mir diese Situation absolut nicht gefiel. „Cio.“

Als er seinen Namen aus meinem Mund hörte, wurde aus dem erschrockenen Gesicht eine unbewegte Maske. „Ich habe meine Entscheidung getroffen. Lass uns gehen.“ Ohne auf meine Einwilligung zu achten, griff er meine Hand und zog mich an deren anderen vorbei aus dem Raum.

Hilflos schaute ich zurück und sah noch wie Diego geschlagen die Augen schloss und sich mit den Fingern in den Nasenrücken kniff, dann wurde ich auch schon im die nächste Ecke gezogen.

„Cio.“ Ich zog an seiner Hand, in der Hoffnung ihn damit zum anhalten zu bringen. Er zitterte am ganzen Körper, aber ich konnte nicht sagen ob aus Wut, oder wegen dem was eben passiert war. „Cio, warte, bleib stehen.“

„Ist schon gut“, sagte er leise und zog mich weiter. Er wirkte gerieben. „Alles ist gut.“

„Nein, ist es nicht.“ Ich zog wieder an seinem Arm, solange, bis ihm nichts anderes übrigblieb als stehenzubleiben, wenn er mich nicht hinter sich herschleifen wollte. „Komm schon, lass uns zurück gehen“, bat ich ihn. „Das können wir doch nicht so stehen lassen.“

Er schaute mich so gequält an, dass ich ihn einfach nur tröstend in die Arme nehmen wollte. Doch als ich einen Schritt auf ihn zu machte, setzte er sich wieder in Bewegung.

„Cio, bitte.“

Keinerlei Reaktion. Er zerrte mich nur in den Korridor nach rechts, schaute sich einmal um und steuerte dann das Männerklo auf der gegenüberliegenden Seite an. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, zog er mich hinter sich hinein, schloss die Tür und wirbelte mich dann herum.

Einen Moment verlor ich die orientieren. Dann spürte ich die Wand im Rücken und Cio vor mir, wie er sich gegen mich drängte.

Verwirrung machte sich in mir breit. „Cio, was …“

Mehr bekam ich nicht raus, bevor seine Lippen sich mit einer Verzweiflung auf meine drückten, die mir den Atem zu rauben drohte.

„Ich passe auf dich auf“, versprach er an meinem Mund und packte mich an den Hüften, als befürchtete er, ich würde ihm sonst einfach davonlaufen. „Ich lass nichts zwischen uns kommen. Auch nicht meinen Vater.“

Ach verdammt noch mal. Warum nur musste diese Situation so verzwickt sein? „Cio.“

Als er wieder versuchte mich zu küssen, packte ich sein Gesicht und hielt ihn fest.

„Hör auf, bitte.“ Ich schaute ihm tief in die Augen. „Nicht so“, sagte ich leise. „Nicht mit all der Wut.“ Und nicht, wenn er damit nur versuchte vor seinen Problemen wegzulaufen.

Er schaute mich an, forschte in meinem Gesicht, als wollte er sich jede Kleinigkeit einprägen. Dann schnappte er sich blitzschnell meine Hände, zog sie weg und küsste mich wieder so stürmisch, dass mir Hören und sehen verging und ich mich fragte, warum eigentlich nicht? Das war seine Art ein wenig Trost zu finden, sich zu versichern, dass wenigstens zwischen uns alles in Ordnung war. Und für einen kurzen Moment wollte ich ihn einfach gewähren lassen, nur um nicht mehr diesen Schmerz in seinen Augen sehen zu müssen.

Es fühlte sich gut an. Cio bei mir zu haben, fühlte sich immer gut an. Doch leider wanderten seine Lippen dann zu meiner Halsbeuge.

„Komm schon Schäfchen“, sagte er leise und knabberte an meinem Hals. Sein Atem war hektisch und das Herz in seiner Brust schlug so schnell wie mein eigenes. „Beiß mich.“

Das katapultierte mich sehr wirksam aus dem Nebel meiner Empfindungen. „Was? Jetzt?“ Hier auf dem Männerklo?

„Natürlich jetzt.“ Er lächelte, doch in seinen Augen konnte ich erkennen, dass er nicht glücklich war. „Schenk mir ein wenig Vergessen.“

Oh nein. „Cio …“

„Bitte.“ Das Wort kam schon beinahe verzweifelt über seine Lippen. Er beugte sich vor und küsste mich erneut. „Bitte tu es.“

Am liebsten wäre ich seinem Wunsch nachgekommen. Nicht weil ich plötzlich Lust auf ein bisschen Blut bekam, sondern weil ich wollte, dass dieser gequälte Ausdruck aus seinen Augen verschwand. Aber das wäre Falsch. Und im Gegensatz zu ihm wusste ich das. Dadurch würde absolut nichts besser werden. „Ich glaube nicht, dass ein Endorphinrausch das ist, was du jetzt brauchst.“

Er stockte und schaute mich ungläubig an. „Du willst nicht?“

„Es geht hier nicht ums Wollen“, versuchte ich zu erklären. Ich hob die Hand an seine Wange und strich ihm über die Haut. Ich mochte die kleinen Stoppeln. Das gab ihm etwas Verwegenes. „Es wäre einfach falsch. Deine Probleme werden sich nicht in Luft auflösen, nur weil du dich einige Zeit vom logischen Denken verabschiedest. Du solltest nicht mit mir hier drinstehen und versuchen mich zu verführen, sondern noch mal mit deinem Vater sprechen. Du liebst doch deinen Job, Cio.“

Er kniff die Lippen zusammen und wich meinem Blick aus. Er wusste, dass ich Recht hatte. Das glaubte ich zumindest. Aber dann bekam er etwas Entschlossenes.

Langsam hob er seine Hand und ich konnte beobachten, wie der Nagel seines Zeigefingers zu einer Kralle wurde. Die hob er an seinen Hals und während er mir fest in die Augen blickte, kratzte er sich damit über die Halsbeuge, bis es blutete.

Sofort brandete der verführerische Duft seines Bluts in meine Nase. Allein dieser Reiz reiche aus, damit meine Fänge sich verlängerten und erwartungsvoll kribbelten. Die Drüsen in meinen Zähnen begannen das Sekret zu produzieren, das ihn für meinen Biss empfänglich machen würde. Ich konnte seinen Geschmack schon fast auf der Zunge fühlen.

Dieser Geruch, diese Verlockung … so süß.

Als ich mich nach vorne beugte und auf Zehenspitzen stellte, um mein Ziel erreichen zu können, leuchteten seine Augen vor Erwartung und Triumph. Er glaubte – hoffte – dass ich der Versuchung, die er schon immer und in allen Lebenslagen für mich gewesen war, nicht widerstehen konnte und schloss mit einem erleichterten Seufzen flatternd die Augen, als mein Mund die zarte verletzliche Haut an seinem Hals liebkoste. Seine Arme schlangen sich um mich, um mich näher bei sich zu spüren.

Als ich meine Lippen um die kleine Wunde schloss, konnte ich ein Blut schmecken und tausende von Erinnerungen stürmten auf mich ein. Sie alle verband ich mit schönen Zeiten, mit gemeinsamen, glücklichen Momenten. Und immer hatte er ein Lächeln getragen. Doch dieses Mal nicht, dieses Mal war es anderes.

Mit der Zunge strich ich über die Wunde, bis ich spürte, wie sie sich schloss und nichts als glatte, unversehrte Haut zurückblieb. Dann hob ich das Gesicht und schaute mit Bedauern zu ihm hinauf. „Nein“, sagte ich leise, aber bestimmt. „Dieses Mal nicht.“

„Was?“ Er stolperte zurück, als hätte ich ihn geschlagen. Und genauso schaute er mich auch an. Noch nie hatte ich ernsthaft abgelehnt. Irgendwie hatte er mich immer dazu bekommen.

Aber nicht hier und heute. Nicht unter diesen Umständen. „Es tut mir leid, aber ich werde dich nicht beißen. Es wäre nicht richtig.“

Aus dem Unglauben wurde langsam etwas Schmerzliches, bevor er seine Gefühle hinter einer harten Maske verschloss. Das zu sehen tat weh. Soweit ich mich zurück erinnern konnte, hatte er seine Gefühle noch nie vor mir verborgen.

„Schön“, sagte er dann, kehrte mir den Rücken und strebte der Tür entgegen. „Dann eben nicht.“

„Cio, ich …“

„Nein, lass mich.“ Er riss die Tür auf.

„Wo willst du denn hin?“

„Nachdenken“, war alles was er sagte, dann war er weg.

Natürlich wollte ich ihm sofort hinterher. Dass er einfach so verschwand war nicht gut, aber als ich die Klinke der Tür in der Hand hielt zögerte ich. Vielleicht sollte ich ihn einfach ziehen lassen, damit er wirklich nachdenken konnte. Weiter in ihn einzudringen, würde nichts bringen. Er musste selber verstehen, was geschehen war. Darum nahm ich die Hand wieder von der Klinke und trat einen Schritt zurück. Ich wusste nicht, ob mir in meinem Leben schon jemals etwas so schwergefallen war.

Aber dann stand ich da, mitten im Männerklo und hatte absolut keine Ahnung, was ich nun tun sollte. Nach Hause konnte ich nicht, oder besser gesagt, durfte ich nicht. In mein tolles Zimmer hier wollte ich nicht, nicht wenn die Wahrscheinlichkeit, dass Diego noch da war, so hoch war.

Warum nur musste er so ein Schwachkopf sein?! Ja verdammt, ich war sauer auf ihn! Das alles so eskaliert war, war allein seine Schuld. Wenn er nur ein wenig entgegenkommender wäre. Das hier war schließlich eine Ausnahmesituation. Es war … oh Gott, hinter mir war ein Mörder her und jetzt war auch noch Cio sauer auf mich, weil ich mich geweigert hatte ihn zu beißen. Nein, nicht sauer, enttäuscht und das fand ich noch viel schlimmer.

Niedergeschlagen lehnte ich mich an die Wand und ließ mich daran einfach zu Boden sinken. Ich schlang meine Arme um meine Knie und legte den Kopf darauf. Seit ich ihn kannte, hatte ich Cio noch nie abblitzen lassen. Wie konnte ich auch, wo er doch immer für mich da war, wenn ich ihn brauchte?

Wenn ich es aus diesem Blickwinkel betrachtete, war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich wirklich richtig gehandelt hatte. Was hätte es den schon geschadet, wenn wir all unsere Probleme für ein paar Stunden auf die Wartebank geschoben hätten?

Ich wusste nicht wie lange ich dort saß und trübselig vor mich hin grübelte, doch als irgendwann die Tür aufging, schaute ich sofort hoffnungsvoll auf. Leider war der Mann, der hereinkam und mich überrascht auf dem Boden entdeckte, nicht mein Cio. Es war Tayfun. Natürlich, kaum war ich im HQ, musste er wieder auftauchen. „Mir bleibt heute aber auch gar nichts erspart“, murmelte ich.

„Na, aber.“ Er schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Das war jetzt aber nicht sehr nett.“ Seine rauchgrauen Augen musterten mich ein wenig zu intensiv. „Dir ist bewusst, dass du dich auf dem Männerklo befindest?“

Ich funkelte ihn an.

Ergeben hob er seine Hände. „Ich wollte nur sichergehen.“ Er trat hinein, direkt nach hinten zu den Pissoiren, als wäre ich gar nicht im Raum. Als ich dann auch noch hörte, wie er den Reißverschluss hinunter zog, kniff ich ganz schnell die Augen zu.

„Muss das jetzt wirklich sein?“

„Klar, deswegen bin ich schließlich hier. Was muss, das muss.“ Und um seine Worte zu unterstreichen, drangen als nächstes plätschernde Geräusche an meine Ohren.

Na super. Mein Vater hatte recht, Tayfun hatte definitiv einen an der Waffel. Vermutlich sollte ich einfach aufstehen und gehen, aber ich wollte noch nicht wieder zurück, um mich meinen Problemen zu stellen.

„Und?“, fragte Tayfun dann. „Bist du öfters hier?“

Ob ich … tsss, da konnte man wirklich nur noch den Kopf schütteln. „Nur wenn ich nichts Besseres zu tun habe.“

„Dann musst du wohl einen echt miesen Tag haben.“

Es folgte das Geräusch von einem Reißverschluss und dann der Spüle. Aber erst, als ich das Rauschen des Wasserhahns hörte, wagte ich es wieder die Augen zu öffnen.

„Dass du hier an der Wand kauerst und aussiehst, als hätte man dir gerade deinen Lolli geklaut, hat wohl nichts damit zu tun, dass der Amor-Killer an deinen ehemaligen Wohnorten blutige Herzen wie makabre Andenken zurück lässt, oder?“

Ach, er wusste auch schon davon? Die Leute am Hof waren echte Tratschtanten. „Nein, aber danke dass du mich daran erinnerst.“

„Gern geschehen.“ Er stellte das Wasser ab, nahm sich ein paar Papierhandtücher aus dem Spender und beobachtete mich, während er sich die Hände abtrocknete. „Weißt du, ich bin ein echt guter Zuhörer, und manchmal gebe ich sogar tolle Ratschläge.“

Auch eine Art seine Neugierde zum Ausdruck zu bringen. Aber ich hatte nicht die geringste Lust mit ihm über meine Probleme zu sprechen. Allerdings gab es da etwas anderes, dass ich schon längst hätte tun sollen, nur irgendwie hatte ich es die ganze Zeit vor mich hergeschoben. „Tut mir leid.“

Fragend zog er eine Augenbraue nach oben.

„Du weißt schon.“ Ich machte eine ungefähre Geste in seine Richtung. „Das ich dich einfach gebissen habe. Das hätte ich nicht tun dürfen und normalerweise mache ich sowas auch nicht. Es … es ist einfach über mich gekommen.“ Was für eine lahme Entschuldigung.

Er zuckte nur gleichgültig mit den Schultern und warf die feuchten Papierhandtücher in den Mülleimer. „Es kam zwar ein wenig überraschend, aber ich kann nicht behaupten, dass es mir besonders missfallen hat. Schade nur dass dein Freund dazwischen kam.“ Er zwinkerte mir verspielt zu und lachte auch noch leise, als ich ihn böse anfunkelte. Dabei konnte ich seine verdammten Fänge mal wieder viel zu genau sehen.

„Okay, weißt du was? Ich nehme es zurück, es tut mir nicht leid. Ich hoffe nur, es hat so richtig schön wehgetan.“

„Oh, ganz im Gegenteil, ich habe es genossen – sogar sehr.“

Da es scheinbar nichts brachte ihn anzufauchen, verlegte ich mich darauf, ihn zu ignorieren. Vielleicht würde er dann einfach wieder verschwinden.

Tat er nicht. Stattdessen ließ er sich neben mir an der Wand hinunterrutschen.

Irritiert lehnte ich mich von ihm weg. „Was bitte wird das?“

„Ich leiste dir Gesellschaft.“ Er überkreuzte die Beine an den Knöcheln und lächelte mich an. „Also, was gibt es bei dir so Neues?“

„Du meinst abgesehen davon, dass mich vermutlich ein Serienkiller jagt?“

„Ja.“ Er nickte. „Abgesehen davon.“

Für einen kurzen Moment, hatte mich die Aversion gegen Tayfun wirklich ablenken können. Doch nach dieser Frage blieb mir nichts anderes übrig, als mich wieder in meinem Gram zu begraben. „Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe? Ich habe keine Lust mit dir zu sprechen.“

„Manchmal kann es helfen mit jemanden über seine Probleme zu reden.“

„Mit dir?“ Ich schnaubte. „Ich mag dich nicht mal.“

„Autsch.“

Toll, jetzt bekam ich auch noch ein schlechtes Gewissen. „Tut mir leid.“

Er neigte den Kopf leicht zur Seite. Dabei blitze in seinem schwarzen Haar wieder die weiße Strähne auf. „Ich nehme deine Entschuldigung dieses Mal nur an, wenn du mir sagst was los ist.“

Das war ja fast Erpressung. „Warum interessiert dich das überhaupt?“

„Keine Ahnung.“ Er zuckte mit den Schultern. „Hab gerade nichts Besseres zu tun.“

Also im Grunde genauso wie ich. Nur das es bei mir daran lag … Gott, wo sollte ich da nur anfangen?

„Also?“, drängte er und stieß mich spielerisch mit der Schulter an. Mein innerer Wolf erwachte und beäugte ihn misstrauisch. „Was ist nun?“

„Es geht eigentlich gar nicht um mich“, sagte ich und fragte mich gleichzeitig, warum ich ihm das erzählte. „Es geht um Cio.“

„Ah, dein süßer Freund mit den tollen Augen. Ich steh ja auf braune Augen.“

Ah-ja. Wirklich sehr interessant.

„Ärger im Paradies?“

„Nicht so richtig.“ Eigentlich wusste ich gar nicht genau, was das zwischen uns gerade war. Er war nicht wirklich sauer auf mich, aber … ach, keine Ahnung.

„Das hört sich für meine Ohren sehr rätselhaft an. Du musst schon ein wenig genauer werden, wenn du möchtest, dass ich dir helfe.“

Na von möchten konnte man hier ja nicht unbedingt sprechen. Andererseits, was hatte ich schon zu verlieren? Die ganze Situation war so verzwickt, dass es vielleicht wirklich helfen könnte, die Meinung von einem Außenstehenden zu hören.

Aber das hier war Tayfun, der Kerl, bei dem ich schon Aggressionsprobleme bekam, wenn ich ihn nur von weiten sah, ohne überhaupt zu wissen, warum das so war.

Ach scheiß drauf! „Die Beziehung zwischen Cio und seinem Vater ist – naja – nennen wir es mal angespannt. Das war schon so, als ich ihn kennen lernte, aber in der letzten Zeit … ich weiß nicht. Es ist als wären sie zwei Vulkane, die jeden Moment hochgehen könnten.“

„So feurig ist ihr Temperament?“

Ich schnaubte. „Und das ist noch harmlos ausgedrückt. Es ist, ich weiß nicht, als würden die beiden immer aneinander vorbei reden. Der eine versteht einfach nicht, was der andere will und … egal.“ Ich unterbrach mich. Tayfun war immer noch ein Fremder, da brauchte ich nicht all zu sehr in die Details abdriften. „Jedenfalls kam es vorhin um Streit und Cio hat im Zuge dessen seinen Job hingeworfen und seinen Vater angegriffen und dann … weißt du, das ist einfach nicht seine Art und irgendwie hat es ihn … verstört.“

„Du meinst er bereut es.“

„Ja, genau, er bereut es“, stimmte ich ihm sofort zu. „Aber er ist so stur, wenn es um seinen Vater geht. Eher würde er sich die Beine abhacken, als zuzugeben, dass er einen Fehler gemacht hat. Stattdessen wollte er das ich ihn beiße.“

„Moment“, unterbrach Tayfun mich. „Er hat Stress mit seinem Alten und will sich deswegen von dir beißen lassen?“

Ich zuckte nur hilflos mit den Schultern. „Das ist seine Art den Problem zu entkommen, wenn sie ihm zu begraben drohen. Aber heute … es erschien mir falsch, deswegen habe ich nein gesagt und dann ist er einfach gegangen.“

In seinem Gesicht machte sich Verstehen breit. „Deswegen sitzt du also einsam und verlassen auf dem Klo herum.“

„Ja, vermutlich.“

Sein Blick war wachsam auf mich gerichtet. „Kann ich dich etwas fragen, ohne das du mir dafür gleich an die Gurgel gehst?“

„Von mir aus.“

„Kann es sein, dass dein Freund süchtig nach Vampirbissen ist?“

Ich schüttelte den Kopf. „Er mag es wenn ich das tue, aber es ist nicht so, dass er das ständig will. Doch das heute war so anders als sonst, deswegen konnte ich es einfach nicht tun, verstehst du?“

„Ob du es nun glaubst, oder nicht, ja das tue ich.“ Er setzte sich etwas bequemer hin – was bei dem Fliesenboden nicht unbedingt einfach war. „Jeder versucht auf seine Art mit Problemen umzugehen und so ein Biss … naja, du weißt ja bestimmt, selber, wie das ist.“

Hm … „Nicht so wirklich“, musste ich zugeben.

Nun hatte ich ihn doch überrascht. „Du bist noch nie gebissen worden?“

Aus einem mir unerfindlichen Grund, röteten sich mir bei dieser erstaunten Frage doch tatsächlich meine Wangen. „Bis vor ein paar Jahren habe ich unter Menschen gelebt. Da gab es niemanden der mich beißen konnte.“

„Und danach? So weit ich weiß, lebst du ja nun schon seit einer ganzen Weile in der verborgenen Welt.“

Ganz einfach: „Danach hatte ich Cio.“

„Ah.“ Er nickte verstehend. „Und Cio wollte nicht das du dich beißen lässt.“

„Naja, nein, oder ja. Ich weiß nicht. Wir haben nie so wirklich darüber gesprochen.“

Tayfun neigte den Kopf leicht zur Seite. „Willst du dich denn mal beißen lassen?“

„Was? Nein! Auf keinen Fall.“

Er lachte leise. „Das kam jetzt ein wenig zu schnell, meinst du nicht auch?“

Dafür wurde er von mir mit Ignoranz gestraft.

„Ach nun komm schon.“ Wieder stieß er mich mit der Schulter an. „Ist doch nur ein Biss. Und ganz ehrlich, wenn du es mal ausprobieren willst, stehe ich dir gerne zur Verfügung.“ Wie um seine Worte zu untermalen, ließ er sein Fänge ein Stückchen wachsen.

Das Verlangen in anzuknurren, stieg in mir auf, doch ich unterdrückte es. „Danke, aber ich glaube ich verzichte.“

„Du weißt nicht was du dir entgehen lässt.“

Wenn ich so daran dachte, wie Cio regierte, sobald ich meine Zähne in ihn versenkte … doch, ja, ich hatte eine sehr gute Vorstellung davon.

Als die Tür aufgestoßen wurde, schaute ich überrascht auf. Für einen Moment hatte ich wirklich vergessen, wo ich war und das hier jeder jederzeit hereinkommen konnte. „Cio.“ Ich wollte sofort aufspringen und ihm um den Hals fallen, doch sein misstrauischer Blick ließ mich zögern. Die Art wie er von mir zu Tayfun schaute, gefiel mir nicht. „Alles okay?“

Er antwortete nicht. Stattdessen stellte er eine Gegenfrage. „Was wird das hier? Pyjamaparty? “

„Schön wäre es.“ Tayfun grinste. „Aber leider nein. Zaira ist nur gerade am überlegen, ob sie sich von mir beißen lässt.“

Ich riss panisch die Augen auf. Das hatte er jetzt nicht gesagt. „Nein, so ist das nicht“, verteidigte ich mich auch sofort. „Ich habe nicht … ich …“ Ja was ich?

Cios Augen waren leicht verengt. Sein Blick glitt von mir zu ihm und wieder zurück. Seine Fäuste öffneten und schlossen sich dabei immer wieder. Es sah aus, als würde er gerne jemanden schlagen. Doch dann sagte er etwas, dass mir glatt die Sprache verschlug. „Tu es.“ Er atmete einmal tief ein, als müsste er sich selber überwinden, um die nächsten Worte auszusprechen. „Lass dich von ihm beißen.“

„Was?“ Das war doch wohl nicht sein ernst. „Spinnst du? Ich kann doch nicht …“

„Du wolltest doch wissen wie es ist“, unterbrach er mich. „Hier ist die Gelegenheit, also lass sie dir nicht entgehen.“

„Aber …“

„Nein“, schnitt er mir da Wort ab und hockte sich vor mich. Seine Hände griffen nach meinen. Er hob sie an den Mund und hauchte einen Kuss darauf. „Es ist in Ordnung, wirklich.“

Da war ich mir nicht so sicher. Was wollte er denn damit bezwecken?

Cios Blick glitt von mir ab und konzentrierte sich mit einer Schärfe auf Tayfun, die Stahl hätte zerschneiden können. „Aber nur damit wir uns hier richtig verstehen, ich werde die ganze Zeit dabei sein, verstanden? Du wirst nicht allein mit ihr verschwinden.“

„Das soll mich nicht stören.“ Tayfun lächelte mich an und wie in Erwartung auf dessen, was geschehen könnte, wurde seine Fänge noch länger. „Jetzt musst du nur noch ja sagen.“

Da hatte er wohl recht. Aber … wollte ich das wirklich?

 

°°°°°

Jungs zum Anbeißen

 

„Immer hereinspaziert. Such euch einen Platz und macht es euch bequem.“

Ich folgte der Aufforderung nur zögernd und auch nur, weil Cio meine Hand festhielt und mich mit sich in Tayfuns Quartier zog. Die ganze Situation war mir einfach ein wenig suspekt. Ich war nervös und aufgeregt und absolut nicht sicher, ob ich das wirklich tun sollte. Wenn ich nur daran dachte, wie Cio bei meinem Biss von mir reagierte, wollte ich sofort wieder das Weite suchte, weil es mir einfach unangenehm wäre, wenn mich jemand außer meinem Freund so erlebte. Andererseits reagierte nicht jeder auf einen Biss so intensiv wie Cio – er war in dieser Hinsicht schon etwas ganz Besonderes.

„Mag jemand etwas zu trinken?“ Tayfun hob ein paar alte Kleidungsstücke vom Boden auf, nur um sie dann achtlos in eine Ecke zu befördern. „Ich glaube ich habe irgendwo noch eine Flasche Selters.“

„Ich nicht, danke.“ Ich schaute mich in dem kleinen Raum um. Er war nur wenig größer, als der, den man mir zugeteilt hatte und statt einem Etagenbett, gab es hier nur ein einfaches Einmannbett – zusätzlich zu einem Bürostuhl vor dem Schreibtisch.

Das Zimmer selber war zwar sauber, aber unordentlich. Naja, abgesehen von dem Mülleimer, den sollte er dringend mal wieder leeren.

„Hat Ähnlichkeit mir meiner Wohnung“, war Cios Kommentar dazu.

Tayfun grinste ihn an. „Die musst du mir unbedingt mal zeigen.“

„Mal sehen.“

Wir alle wusste, dass es wahrscheinlich niemals dazu kommen würde, aber deswegen waren wir ja auch nicht hier.

Das wir in Tayfuns Zimmer gegangen waren, hatte durchaus seinen Sinn. Im Gegensatz zu meinem Zimmer, konnten wir hier davon ausgehen, nicht von Eltern und anderen neugierigen Familienmitgliedern gestört zu werden.

„Also, ähm … wo …“ Mein Gott, was war bloß los mit mir, dass ich es nicht mal aussprechen konnte? War ja nicht so, als plante ich einen Staatsstreich. Ich wollte nur mal wissen, wie das war, wenn man gebissen wurde. Glaubte ich. So ganz sicher war ich mir da noch nicht.

„Macht es euch einfach auf dem Bett bequem.“ Er ließ sich auf seiner Bettkante nieder und klopfte neben sich auf die Matratze. „Ich beiße auch nicht. Noch nicht jedenfalls.“ Den Worten ließ er ein Zwinkern in meine Richtung folgen.

Cio machte ein finsteres Gesicht.

„Na los.“ Erneut klopfte er anfordern neben sich. „Aber bitte Schuhe ausziehen. Ich will kein Dreck zwischen den Laken haben.“

Wir kamen seine Bitte nach, doch als meine Schuhe ordentlich an der Wand standen, stand ich wieder nur da und wusste nicht so recht, was ich als nächstes tun sollte. Zum Glück war Cio bei mir, der hatte nicht solche Probleme – oder besser gesagt, Hemmungen. Er schmiss sich einfach aufs Bett, machte es sich am Kopfende bequem und hielt mir lächelnd die Hand entgegen.

Okay, jetzt wurde es ernst. Ich atmete noch einmal tief durch und stellte mich dann neben das Bett. Das war ganz schön schmal. Würden wir da überhaupt alle hineinpassen? Schließlich … „Huch.“

Da Cio wohl der Meinung war, dass ich ein wenig Hilfestellung gebrauchen könnte, schnappte er sich einfach meinen Arm und zog mich zu sich hinunter. Dabei landete ich nicht nur fast auf der Nase, sondern auch noch auf ihm drauf. Zwar half er mir dabei mich zwischen seine Beine zu setzen, entschuldigen tat er sich aber nicht. Blödmann.

Und dann schaute ich Tayfun an. Mein Herzschlag beschleunigte sich ein kleinen wenig, als ich bemerkte, dass seine Fänge länger geworden waren.

Cio schlang von hinten die Arme um meinen Bauch und zog mich an seine Brust. Sein Kinn platzierte er auf meiner Schulter, sodass nur ich seine geflüsterten Worte verstand. „Alles in Ordnung?“

Mehr als ein Nicken brachte ich im Moment nicht zustande.

„So.“ Tayfun rieb sie die Hände. „Wollen wir dann anfangen?“

„Moment noch.“ Cio drehte mein Gesicht, bis ich ihn ansah. Auf seinen Lippen lag ein aufmunterndes Lächeln. Er beugte sich vor und hauchte mir einen zarten Kuss auf den Mund. „Entspann dich einfach, okay?“

Ich nickte. Zu etwas anderem schien ich im Moment auch gar nicht fähig.

„Okay.“ Vorsichtig nahm er mir die Brille aus dem Gesicht und ließ sie achtlos neben dem Bett zu Boden fallen. „Und keine Angst, ich bin hier.“

„Hach“, machte Tayfun. „Ihr beide seid echt süß, wisst ihr das eigentlich?“

Fast hätte Cio ihm den Stinkefinger gezeigt, beließ es dann aber bei einem herablassenden Blick. „Bist du nicht aus einem bestimmten Grund hier?“

„Naja, wenn man es genau nimmt, ist das hier ja eigentlich mein Zimmer, aber darüber sehe ich mal hinweg. Und was das andere angeht ...“ Sein Interesse legte sich wieder auf mich. „Bereit wenn du bereit bist. Du musst nur das Startsignal geben.“

Unsicher flog mein Blick von ihm zu Cio. Wenn ich noch aussteigen wollte, dann jetzt. Leider war ich mir immer noch nicht so ganz sicher, was genau ich wollte. Darum kam das nächste Wort auch mit einiger Verzögerung. „Okay.“

„Ich wusste, dass du keinen Rückzieher machen würdest.“ Tayfun trat sich die Schuhe von den Füßen und setzte sich mir dann im Schneidersitz gegenüber. „Bereit?“

Ich nickte zögernd, griff gleichzeitig aber nach Cios Hand. Dass der Biss eines Vampirs nicht wehtat, wusste ich, doch auch wenn ich schon hunderte von Malen dabei war und live und in Farbe mitangesehen hatte, wie das Vampirsekret wirkte, so hatte ich doch leichtes Muffensausen. Und es wurde auch nicht besser, als Tayfun seine Fänge in ihrer ganzen Länge ausfuhr.

Oh mein Gott, das waren ja richtige Hauer! In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie solch riesige Fangzähne gesehen. Das war der Augenblick, in dem mir klar wurde, warum Tayfun seine Fänge immer und überall zeigte. Sie waren so groß, dass er sie gar nicht komplett einziehen konnte.

„Keine Angst“, versuchte er mich zu beruhigen, als ich den Blick einfach nicht von diesen Reißzähnen abwenden konnte. „Ich kann damit umgehen, es wird nicht wegtun.“

„Ich glaube dir einfach mal.“

„Kannst du auch.“ Er hielt mir die offene Handfläche entgegen. „Da dein Freund mich vermutlich umbringen würde, sollte ich deinem Hals zu nahekommen, brauche ich deinen Arm.“

Cio schnaubte, ließ aber weder mich noch Tayfun aus den Augen, als ich ihm zögernd die Hand reichte. Doch in dem Moment als er nach mir griff, kroch ein Knurren durch meine Kehle und vibrierte in meiner Brust.

Tayfun zog eine Augenbraue nach oben.

„‘tschuldigung.“

„Ist schon okay, Schäfchen.“ Cio hauchte mir einen Kuss auf die Halsbeuge. „Entspann dich einfach.“

„Hör auf ihn“, sagte Tayfun. „Und keine Angst, wenn ich aufhören soll, musst du es nur sagen, aber ich gehe nicht davon aus, dass ich es zu hören bekomme.“

Na so viel Selbstbewusstsein würde ich auch gerne haben.

Als Tayfun sich vorbeugte, ohne mich dabei auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen und seine Fänge dann über die empfindliche Haut an meinem Handgelenk scharrten, um sie an der Stelle zu betäuben, beschleunigte sich mein Herzschlag. Gleich würde es passieren, gleich würde er seine Zähne in meiner Haut versenken.

Auf einmal war ein neuerliches Knurren im Raum zu hören. Dieses Mal kam es aber nicht von mir, sondern von Cio.

Überrascht schaute ich über die Schulter, was ihn sofort verstummen ließ. „Tut mir leid“, erklärte er mit einem schiefen lächeln. „Kommt nicht nochmal vor.“

Tayfun hob die Zähne von meiner Haut. Dort wo er sie berührt hatte, kribbelte sie und ich konnte spüren, wie sie langsam taub wurde. „Wenn das für euch beide so schwierig ist, dann sollten wir das vielleicht lieber lassen.“

„Nein“, sagte Cio, bevor ich überhaupt die Chance hatte, darüber nachzudenken. „Ich muss zwar ehrlich gestehen, dass es mir nicht besonders gefällt, zu sehen, was du da mit meinem Schäfchen tust, aber ich möchte, dass sie es auch mal spürt.“

„Na wenn du dir so sicher bist.“ Er schaute zu mir. „Aber du bist es, die hier entscheidet. Also, ja oder nein?“

Warum stellte er mir nur immer wieder diese Frage? Wartete er darauf, dass ich ablehnte? Wenn er so weiter machte, dann würde ich das sicher noch tun.

Als mein Handy plötzlich klingelte, zuckte ich am ganzen Körper zusammen, so sehr erschreckte mich das Geräusch. Cio lachte leise und zog mich näher an sich, während ich mein Handy mit geröteten Wangen aus der Hosentasche zog und es mir ohne Blick aufs Display ans Ohr hielt. „Ja?“

„Hey, Zaira, ich bin es, Kiara.“

Oh nein, das nicht jetzt auch noch. „Tut mir leid, aber es ist gerade unpassend. Cio ist bei mir und wie haben etwas vor.“ Hoffentlich verstand sie den Wink. Wie jeder Lykaner hatte Cio ausgesprochen gute Ohren und wenn er mir so nahe war, war es ihm ein Leichtes, auch den anderen Gesprächsteilnehmer zu verstehen.

„Hi Kiara“, sagte er da auch prompt.

Am anderen Ende der Leitung blieb es für ein paar Sekunden verdächtig ruhig. „Okay. Ich wollte auch nicht lange stören, aber du hattest mir versprochen, mir bei meinem kleinen … Projekt behilflich zu sein. Ich kann nicht ewig warten, weißt du?“

Projekt. Auch eine nette Umschreibung. „Ja, ich weiß, aber ich habe da dieses kleine Problem.“

„Ja, ich habe es schon von Mama gehört, aber … naja, du weißt schon.“

Seufzend schloss ich einen Moment die Augen. „Hör zu Kiara, die Alphas verbieten mir das HQ der Themis zu verlassen. Ich weiß nicht wann ich hier weg kann.“

Wieder verstummte sie. Dabei war ich mir der Blicke von Tayfun und Cio sehr wohl bewusst.

„Ach so. In Ordnung, ich verstehe schon.“

„Nein, Kiara.“ Verdammt. „Hör zu, ich finde schon einen Weg dir zu helfen. Tu einfach nichts … warte einfach auf mich, okay?“

„Ja, wie auch immer.“ Und damit war die Leitung unterbrochen.

Mit zusammengedrückten Lippen ließ ich mein Handy wieder in die Hosentasche verschwinden. So ein Mist. Bisher hatte ich gar nicht darüber nachgedacht, was mein Arrest genau bedeutete. An Kiara hatte ich überhaupt keinen Gedanken mehr verschwendet, nachdem Mama die Markierungen auf meiner Karte gedeutet hatte. Und das konnte zu einem wirklichen Problem werden. Wenn ich ihr nicht half, dann würde sie es allein versuchen. Also musste ich hier raus. Nur wie?

„Gibt es Probleme?“, fragte Cio.

Ich schaute zu ihm auf. Wie gerne würde ich ihm alles erzählen, sodass wir vielleicht zusammen eine Lösung finden konnten. Aber ich hatte versprochen Stillschweigen zu bewahren und ich wollte das Vertrauen meiner Schwester nicht missbrauchen.

„Schäfchen?“

Verdammt, die ganzen Probleme begannen mir über den Kopf zu wachsen. Aber hier, direkt vor mir hatte ich die Möglichkeit, dass alles für ein paar Stunden ins Abseits zu drängen. Natürlich war mir bewusst, dass es nichts weiter als eine feige Flucht ins Vergessen war und meine Probleme damit nicht verschwinden würden. Doch nach so einem Tag, brauchte ich wirklich dringend eine Auszeit. Dieser kurze Anruf brachte die Entscheidung, um die ich die ganze Zeit so gehadert hatte und zerstreute auch noch die letzten Zweifel. Darum ignorierte ich Cio und konzentrierte mich ganz auf Tayfun. „Okay, ich bin bereit. Tu es.“ Cio war schließlich bei mir und würde auf mich aufpassen.

Lächelnd griff Tayfun wieder nach meinem Arm.

Hinter mir spannte Cio sich leicht an, ließ den Mund aber verschlossen. Ich war mir noch nicht ganz sicher, was er mit all dem bezweckte, doch es fiel ihm nicht so leicht, wie er mich glauben lassen wollte.

„Okay, dann geht es jetzt los“, erklärte Tayfun munter.

Ich nickte nur und ließ ihn nicht aus den Augen, als er das Handgelenk an den Mund hob und mich dabei auf eine verspielte Art fixierte, die schon beinahe als Provokation aufgefasst werden konnte. Wieder schabten seine Zähne über die Haut. Ich spürte es nicht, sah es aber. Und dann schlossen sich seine Lippen um mein Handgelenk.

In gespannter Neugierde, wartete ich auf den Biss, doch alles was ich spürte, war ein sanfter Druck, mir dem er seine Zähne in mein Handgelenk bohrte. Die ersten Blutstropfen traten aus und ein sanftes Kribbeln breitete sich rund um die Bissstelle aus.

In Tayfuns Augen erschien ein überraschter Ausdruck. Seine Augen sanken leicht herab und dann sog er einen Schwall meines Blutes aus meinen Adern.

Ein Gefühl berauschender Ekstase raste wie ein Blitz durch meinen Körper und eroberte innerhalb von Sekunden auch die hintersten Winkel meines Körpers. Vor Überraschung schnappte ich nach Luft und drängte mit dem Rücken näher an Cio. Hätte er mich nicht gehalten, wäre ich vermutlich einfach umgekippt und hätte das auch noch toll gefunden.

„Schhh“, machte er und strich mir mit den Fingern beruhigend über den Bauch. „Alles ist gut. Entspann dich einfach, lass dich gehen. Ich bin hier, ich lass dich nicht los.“

Der zweite Zug ließ mich auf eine Art seufzen, die mir heiße Wangen bescherte und wäre ich noch ganz bei Sinnen gewesen, hätte ich mich vor Scham vermutlich in die nächsten dunkle Ecke versteckt, die ich finden konnte. Aber mir diesem tollen Gefühl, das alle meine Nervenzellen zum Tanzen brachte, war mir das völlig egal. Ich wollte einfach nur fühlen und genießen.

Es war als schwebte ich auf einer weichen Wolke. Gleichzeitig nahm ich um mich herum alles wahr. Cio, der mich hielt und leise flüsternd Worte in mein Ohr hauchte, wovon ich eine Gänsehaut bekam. Immer wieder strichen seine Lippen murmelnd über meinen Nacken. Ich nahm seinen warmen Atem so intensiv wie noch nie wahr. Genau wie die zarten Berührungen seiner Lippen, die immer wieder meine Haut erfreuten.

Als Tayfun ein drittes Mal kräftig an meinem Handgelenk sog, brachte das die Endorphine in meinem Blut wie Glitzerschnee zum wirbeln, sodass es in meinem Kopf ganz schwindlig wurde. Aber auf eine gute Art.

Ich öffnete die Augen und bemerkte erst jetzt, dass ich sie geschlossen hatte – wann war das passiert? Mein Blick traf den von Tayfun. Er beobachtete mich auf eine Art, die ich als unangenehm empfinden sollte, weil es einfach unangebracht war. Aber ich konnte nicht. Ich konnte nur in dem Augenblick schwelgen. Es war ein Ort der Sicherheit, weit weg von allen Problemen und Sorgen, die mir über den Kopf zu wachsen drohten.

„So ist gut“, flüsterte Cio mir ins Ohr. „Genieße es einfach.“

Der nächste Schwall Blut, den er mir entzog, ließ meine Haut auf allzu vertraute Weise kribbeln und doch war alles so viel intensiver, als ich es gewohnt war. Dunkles Fell stieß von unten durch meine Haut – nur ganz kurz, dann war es wieder verschwunden, aber nur, um gleich darauf wieder nach Freiheit zu streben.

Ich stöhnte, als der Schwindel stärker wurde und Cio mich ein wenig fester hielt. Meine Fingernägel kribbelten und ich spürte wie meine Vampirzähne ausfuhren. Um mich herum erklang das Lied des Mondes, wie eine lange vermisste Melodie.

„Was …“, begann Cio, unterbrach sich aber sofort wieder.

Meine Augen flackerten. Ich sah das Runzeln auf Tayfuns Stirn, genau wie den Zwiespalt in seinem Gesicht. Und dann zog er seine Zähne aus meinem Arm.

„Nein“, sagte ich. Irgendwie lallte ich ein wenig.

„Doch“, widersprach Tayfun mir und schaute dabei zu, wie die Wunden an meinem Arm sich ganz allein versiegelten. „Das war definitiv genug für dein erstes Mal.“

„Mein erstes Mal“, murmelte ich. Auf einmal wurde ich ein wenig schläfrig und das ekstatische Gefühl ließ ein wenig nach. Mein denken war ein wenig eingeschränkt, weswegen ich vermutlich auch ein wenig brauchte, um zu bemerken, wie die beiden Kerle mich besorgt beobachteten.

Tayfun beugte sich ein wenig vor, um mich genauer unter die Lupe zu nehmen. „Geht es dir gut?“

Dafür bekam er ein verklärtes Lächeln. „Warum mag ich dich nicht?“

Er warf einen kurzen Blick hinter mich und grinste dann schief. „Weil ich ein Vampir bin und der Wolf in dir etwas gegen mich hat.“

„Aber warum?“

„Vielleicht weil der Vampir in dir mich mag?“

Was? „Das ergibt doch keinen Sinn.“ Ich hob die Hand und war etwas verwundert, statt Nägeln Krallen zu sehen. Und meine Haut. Das Fell stieß noch immer hindurch, nur um sich gleich wieder zurück zu ziehen.

„Schäfchen?“

Eine Hand legte sich an meine Wange und drehte mein Gesicht. Die Berührung löste einen Impuls in mir aus, dem ich mich nicht erwehren konnte und plötzlich steckten meine Fänge in warmer Haut und ein herrlicher Schwall Blut strömte in meinen Mund.

Cio zischte vor Schmerz und Überraschung, doch es wurde ziemlich schnell zu einem sehr vertrauten Stöhnen. Sein Griff wurde richtiggehend besitzergreifend, als ich das köstliche Blut in meinen Mund sog und es genoss, wie es die Endorphine in meinem Blutkreislauf erneut in Aufruhr versetzte.

Tayfun lachte leise. „Na sieh mal einer an, wer hätte das Gedacht. Sie ist ein Beißer.“

Da Cio wesentlich mehr Selbstbeherrschung an den Tag legen konnte als ich, schaffte er es seine Aufmerksamkeit auf Tayfun zu richten, ohne mich dabei beim Blutsaugen zu unterbrechen. „Beißer?“

Er zuckte nur mit den Schultern. „Das ist nichts Schlimmes. Es heißt einfach nur, dass Zaira ihre Zähne in etwas versenken will, wenn man sie beißt. Das kommt nicht oft vor, ist aber auch nicht unbekannt.“

„Und was ist mit der Verwandlung?“

Für einen Moment beobachtete Tayfun mich wieder, sah zu, wie der Wolf versuchte an die Oberfläche zu gelangen, nur um vom Vampir wieder unterdrückt zu werden. „Ich glaube das hat etwas mit dem zu tun was sie ist. Du weißt schon, ein Misto.“

„Das heißt du weißt es nicht“, erkannte Cio ganz richtig.

„Nein, das heißt einfach, dass ich sowas noch nie erlebt habe.“ Sein Blick richtete sich auf die Stelle, an der ich mir das Blut meines Freundes wie ein gieriger Piranha einverleibte. „Aber vielleicht beim nächsten Mal …“

Cios zeigte ihm die Zähne. „Wer behauptet, dass es ein nächstes Mal geben wird?“

„Man kann ja wohl noch hoffen.“ Tayfun grinste ein wenig schief. „Ihr Blut ist wirklich … wow, sowas habe ich noch nie erlebt. Davon könnte ich glatt süchtig werden.“

Ich hörte den Wortwechsel der beiden und spürte auch, wie Cio sich anspannte, als wollte er den anderen Kerl wenn nötig auch mit einem Arschtritt aus dem Raum befördern, nur damit er mir nicht mehr zu nahe kommen konnte. Aber es war mir egal. Eigentlich wäre es jetzt meine Aufgabe gewesen, als Puffer zwischen die beiden zu treten, um die ansteigenden Aggressionen zu dämpfen. Doch alles was ich konnte, war mich in Cios Wärme zu sonnen und sein Blut wie eine Droge in mich hineinzusaugen, damit dieses berauschende Gefühl niemals enden würde.

„Du machst dich im Moment nicht gerade beliebt bei mir“, bemerkte Cio.

„Das vielleicht nicht, aber ich bin hier im Moment wohl der einzige, der sich fragt, ob sie dich aussaugen wird, oder du es vorher verhinderst.“

Cio schnaubte. „Erzähl keinen Müll. Man kann einen Menschen nicht aussaugen, nicht so. Dafür wären mehrere Vampire nötig, die alle gleichzeitig dein Blut anzapfen. Und jetzt halt die Klappe, ich will das genießen.“ Seine Augen fielen auf Halbmast und waren dann einzig auf mich gerichtet.

Empfand er in diesem Moment das gleiche wie ich eben? Wenn ja, dann verstand ich, warum er diesen Ausweg nutzte, wenn ihm alles zu viel wurde. Es war nicht nur berauschend, es war als tauchte man in einen Brunnen der reinsten Glücksseligkeit. Gleichzeitig wurde die Welt um einen herum dumpf und alles rückte in weite Ferne. Noch immer kribbelte meine ganze Haut und ich spürte wie der Wolf unter der Oberfläche lauerte und nur auf seine Gelegenheit wartete. Doch hier in Cios Armen fühlte er sich so wohl, dass er nicht mehr darum kämpfte herauszukommen.

Als ich eine Hand auf meinem Haar fühlte, schaute ich auf. Ein angenehmer Schauder strich über meine Nervenenden. Cio strich mir eine Strähne hinters Ohr, völlig in Gedanken versunken, als gäbe es nur uns beide auf der Welt. Friedlich. Das war es was ich in seinem Gesicht erkannte, Frieden. Und ich war es, die ihm dieses Gefühl geben konnte.

Meine Augenlider sanken herab, als meine Fänge sich langsam wieder in ihre Kammern zurückzogen.

Das Bett bewegte sich, als Tayfun sich davon erhob. Es interessierte mich genauso wenig, wie das Geräusch der sich schließenden Tür. Im Augenblick war ich einfach nur glücklich, in Cios Armen zu liegen und mir von ihm durchs Haar streicheln zu lassen.

Er seufzte zufrieden, als meine Zähne aus ihm herausglitten und ich mich in seinen Armen drehte, bis ich mein Ohr an seine Brust legen konnte.

„Schlaf jetzt“, flüsterte er mir zu. „Ich passe solange auf.“

Und ich schlief ein.

Doch es war nicht von Dauer. Seltsame Wirbel und Farben brachten mich immer wieder dazu die Augen für einen kurzen Moment aufzuschlagen, nur um danach gleich wieder zurück in eine fremde Welt gezogen zu werden.

Einmal glaubte ich zu sehen, wie Tayfun flüsternd durch den Raum lief. An sein Ohr hielt er ein Handy. Ich blinzelte und er war verschwunden. Ein weiteres Blinzeln und er saß an seinem Schreibtisch. Dann wieder war außer Cio und mir niemand im Raum.

Irgendwann jedoch war da ein Murmeln, dass mich dazu brachte die Augen ein wenig anzuheben und auch offen zu halten.

Wieder sah ich Tayfun, dieses Mal jedoch direkt vor mir. Er hatte sich neben Cio ins Bett gequetscht, was nur möglich war, da ich halb auf meinem Freund drauf lag, und bewegte tonlos die Lippen. Nette Lippen, wie ich zugeben musste. Seine Rauchgrauen Augen waren halb geschlossen und auch wenn er anwesend war, so schien er sehr weit weg zu sein, so als sei er nicht länger Teil dieser Welt. Träumte ich noch?

Meine Lider wurden schwer und schlossen sich. Meiner! Mit all der Willenskraft die ich aufbringen konnte, zwang ich sie wieder auseinander.

Tayfun lag noch immer bei uns im Bett. Sein Mund war geschlossen. Die Hand hatte er ausgestreckt und seine Finger wanderten beinahe zärtlich über Cios Kinnlinie.

Ein dumpfes Knurren kroch aus meiner Kehle und macht Tayfun darauf aufmerksam, dass ich sein Tun bemerkt hatte und es mir absolut nicht gefiel.

Mit einem entschuldigenden Lächeln, zog er seine Hand zurück und legte sie neben sein eigenes Gesicht. „Was soll ich machen? Dein Freund ist eben echt süß.“

Das wusste ich, schließlich war es mein Freund. Fragte sich nur, wie ihm das auffallen konnte. „Bist du schwul?“ Nicht das ich was gegen Schwule hatte. Mein Halbbruder und mein bester Freund waren schwul, aber … naja, keiner von den beiden hatte je versucht sich an meinen Cio ranzumachen.

„Nein.“ Er grinste schelmisch. „Ich habe keine spezielle Veranlagung. Ich mag Männer und Frauen und auch beide Gleichzeitig.“

„Also bist du bi“, fasste ich zusammen.

Er seufzte übertrieben gespielt. „Wenn du dem unbedingt ein Etikett aufkleben willst, dann ja. Aber ich nenne es lieber, spontan. Man nimmt, was sich ergibt.“

Ich zwang meinen Blick zu Cios Gesicht. Er schlief. Gut. So konnte er vielleicht verarbeiten, was heute geschehen war. Oder Gestern? Wie spät war es eigentlich?

„Geht es dir gut?“

Meine Lider sanken wieder leicht herab. „Und dir?“

Seine Mundwinkel zuckte nach oben. „Man könnte glauben, du versuchst der Frage auszuweichen.“

Nein, das tat ich nicht. „Ja“, sagte ich leise. „Mir geht es gut.“

„Das ist … gut.“ Wieder streckte er die Hand aus. Dieses Mal aber war ich sein Ziel. Es war nichts Lüsternes oder Anrüchiges an der zarten Berührung, mit der er mir über die Wange strich. Nicht mal der Wolf in mir war der Meinung sein Haupt heben zu müssen und akzeptierte es einfach nur grummelnd. Ich hatte eher das Gefühl, als versuchte Tayfun eine Verbindung zwischen uns zu schaffen, als wollte er nicht ausgeschlossen sein und sich irgendwo zugehörig fühlen.

Es war wohl das erste Mal, dass ich mir wirklich Gedanken über ihn machte und mich plötzlich fragte, wer dieser Mann wirklich war. Woher kam die weiße Strähne in seinem ansonsten schwarzen Haar? Was verbarg sich hinter dem Nebel in seinen Augen? „Woher kommst du?“

„Was?“, fragte er ein wenig überrascht.

„Wo du geboren bist. Wie bist du zu den Themis gekommen?“

Seine Züge nahmen etwas sehr gequältes an. „Das ist kein Thema, über das ich gerne spreche.“

Ich nahm seine Hand von meiner Wange und legte sie auf Cios Brust. Dann legte ich meine darauf und hielt ihn fest. Wenn er nicht gerne darüber sprach, sollte ich nicht weiter in ihn dringen. Natürlich interessierte es mich weiterhin, wer genau dieser leicht seltsame Vampir war und wie er zu dem geworden war, was er heute war. Jedes Leben auf diesem Planeten hatte seine eigene Geschichte. Aber es gab eben auch Erlebnisse, die erzählte man besser nicht, da sie nur schlafende Geister wecken würden. „Dann erzähl mir etwas anderes über dich, etwas Wahres.“

„Etwas das sonst keiner weiß?“ Ein halbes Grinsen lag auf seinen Lippen.

„Ja“, sagte ich und meinte es so. „Erzähl mir etwas von dir, das niemand weiß.“

„Hm“, machte er. „Ich mag keine Fertiggerichte. Die schmecken immer so abgestanden.“

Dafür bekam er einen leichten Klaps auf die Hand. „Ich meine es ernst. Sag mir wer du bist.“

„Wer ich bin.“ Seine Hand krallte sich leicht in Cios Hemd, aber er nahm sie nicht weg. „Yusuf“, sagte er leise. „Mein richtiger Name lautet Yusuf Demir.“

Sein richtiger Name? Aber natürlich, wie hatte ich das vergessen können? Alle Themis benutzten Decknamen. Nur bei den wenigsten, wie bei meinem Vater oder Cayenne waren die Geburtsnamen offen bekannt, weil die Umstände sie dazu gezwungen hatten. Aber alle anderen trugen zu ihrem Schutz und dem Schutz ihrer Familien Decknamen. Tayfun war nicht sein richtiger Name.

„Yusuf.“ Ich musterte ihn, verlor mich einen Moment in diesen rauchigen Augen. „Du bist Yusuf.“

„Nein“, sagte er sofort. „Meinen richtigen Namen habe ich schon vor langer Zeit abgelegt. Heute bin ich nur noch Tayfun.“

Ja, vielleicht hatte er ihn abgelegt, aber er hatte ihn nicht vergessen. Wenn er allerdings darauf bestand, würde ich seinen echten Namen wieder vergessen. „Mach die Augen zu, Tayfun. Ich bin müde.“ Ich befolgte meinen eigenen Ratschlag und war schon wieder halb weggedämmert, als ich noch das geflüsterte Worte höre.

„Danke.“

 

°°°

 

Ein kräftiges Klopfen an der Tür, riss mich nicht nur aus dem Schlaf, sondern gleich noch aus wunderschönen Träumen und katapultierte mich zurück in eine Realität, der ich gerne noch einige Augenblicke entflohen wäre. Ich blinzelte schläfrig und stellte dabei fest, dass ich noch immer halb auf Cio lag. Tayfun dagegen wälzte sich gerade ächzend und verschlafen aus dem Bett und stolperte mit halb geschlossenen Augen zur Tür – er war offensichtlich kein Morgenmensch. War es überhaupt schon morgen? Da die Zimmer im Keller keine Fenster hatten, ließ sich das nur schwer feststellen und ich hatte im Moment absolut keine Lust den Kopf zu heben, um nach einer Uhr Ausschau zu halten. Viel lieber versuchte ich noch einen Moment in den Erinnerungen zu schwelgen, doch das berauschende Gefühl, das Tayfun und Cio mir beschert hatten, war natürlich auf und davon.

Als ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde und Tayfun die Tür für den Störenfried aufzog, lenkte mich das für einen Moment ab. Es war Romy.

Ganz in schwarz, die langen Haare zu einem strengen Zopf an den Kopf gebunden, stand sie da und musterte Tayfun, der wie mir jetzt erst auffiel, nichts außer einer engen, grauen Shorts trug. Sein Haar stand ihm zerzaust zu allen Seiten vom Kopf ab.

„Oh, hallo“, begrüßte er Romy beinahe schon anzüglich. Ich hätte fast die Zähne gefletscht, als ich das hörte, unterdrückte den Impuls aber nicht rechtzeitig, weil es einfach albern wäre. Ich hatte in keiner Hinsicht auch nur irgendwie ein Anrecht auf Tayfun, also ging es mich absolut nichts an, wie er jemanden begrüßte. Ich verstand nicht mal, warum ich plötzlich da Bedürfnis hatte die Zähne zu fletschen. Noch gestern hatte ich ihn nicht mal gemocht. Mir war doch wirklich nicht mehr zu helfen.

Romy hatte nur einen müden Augenaufschlag für ihn übrig. Dabei bemerkte sie wohl das überfüllte Bett. Sie schaute mich einen Moment an, ohne erkennen zu lassen, was sie dachte, richtete ihr Augenmerk dann aber wieder auf Tayfun. „Dein Typ wird in der Zentrale verlangt. Beeil dich.“

„Klar, ich komme gleich. Außer ...“ Er machte eine kunstvolle Pause. „Möchtest du vielleicht noch reinkommen und es dir mit uns ein wenig bequem machen?“

„Nein, dieses Mal nicht.“ Damit drehte sie sich um und ließ ihn in der offenen Tür stehen.

„Dieses Mal?“, fragte ich laut und wurde mir erst dann meiner tollkühnen Ader bewusst. Warum interessierte mich das? Es ging mich nichts an. Und trotzdem fragte ich mich, ob das bedeutete, die beiden hatten mal was miteinander gehabt, oder ob das ein Versprechen für ein späteres Treffen sein würde.

Tayfun, der von meinen Gedanken nichts ahnte, schloss die Tür und zwinkerte mir zu. „Hey, ich bin ein freier Mann und manchmal versüße ich mir eben meine einsamen Abende.“

„Mit Romy?“, fragte ich einigermaßen ungläubig. Ich hatte noch nie erlebt, dass Romy sich für etwas anderes als die Jagd auf die Sklavenhändler interessierte.

„Sie ist heiß und ein echter Feger im Bett“, erklärte er mir und marschierte dann zu seinem Schrank.

Ähm … ja, zu viele Informationen. „Und mindestens dreimal so alt wie du.“

„Nur keine Eifersucht.“ Er grinste mich an. „Es ist genug von mir für alle da.“ Mit den Daumen im Bündchen zog er sich die Shorts völlig ungeniert über den Hintern.

„Oh Gott, Tayfun!“ Hastig drehte ich meinen Kopf auf Cios Brust und ignorierte sein leises Lachen. „Besitzt du eigentlich sowas wie Anstand und Schamgefühl?“

„Nicht das ich wüsste.“

Durch meine ruckartige Bewegung, hatte ich Cio geweckt. Er bewegte sich unter mir, blinzelte verschlafen und lächelte. Aber auch nur, bis er Tayfuns nackten Arsch sah. „Was zum Geier wird das?“, knurrte er.

Bildete ich mir das nur ein, oder spannte Tayfun sich wachsam an? „Ich ziehe mich um, was sonst.“ Aus dem untersten Fach griff er sich eine saubere Shorts und verpackte seinen Hintern wieder. „Solltet ihr beide vielleicht auch mal machen. Außer ihr wollt noch ein wenig in meinem Bett bleiben und unanständige Sachen treiben. Aber dann sollte ich euch vorwarnen, ich habe eine Kamera.“

Oh Mann, damit hatte er nun auch das letzte bisschen Müdigkeit vertrieben. Gähnend richtete ich mich auf und rieb mir durchs verstrubbelte Haar. „Wo ist meine Brille?“

„Neben dem Bett.“ Ohne sich groß zu bewegen, streckte Cio den Arm aus und tastete auf den Boden herum. Letztendlich musste er sich aber doch halb erheben, um sie zu finden und mir reichen zu können.

„Danke“, sagte ich und steckte sie mir ins Gesicht. Dabei beobachtete ich Tayfun, wie er nach und nach seinen Körper verhüllte und wieder zu dem wurde, denn ich kennengelernt hatte. „Sag mal, was machst du eigentlich für die Themis? Gehst du auf Einsätze, oder arbeitest du nur hier im HQ?“

„Ich spiele den Sklaven“, sagte er ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich war lange genug selber einer gewesen um genau zu wissen, wie ich mich verhalten muss. Das macht mich perfekt für die Rolle.“

Ich hörte genau wie lapidar die Worte über seine Lippen kamen, doch bemerkte ich auch, wie er sich dabei leicht anspannte. Gleichzeitig konnte ich kaum glauben, was er da sagte. Tayfun war ein Sklave gewesen? Ich wusste wirklich rein gar nichts über diesen Kerl.

„Schau mich bitte nicht so an“, bat er mich.

„Wie schaue ich denn?“

„Voller Mitleid über das grausame Schicksal, dass es nicht gut mit mir gemeint hat, weswegen ich jetzt jede Menge Trost und Zuneigung brauche. Oder vielleicht sogar eine Therapie.“ Er zog den Reißverschluss an seiner Jeans zu und nahm ein Shirt aus dem Schrank. „Ich bin erwachsen, Zaira, ich komme schon klar.“

Mir lag schon etwas auf der Zunge, doch ich schluckte er wieder herunter. Wenn er nicht darüber sprechen wollte, war das seine Entscheidung. Wer war ich schon, dass ich ihm da hineinreden dürfte? Ja, ich mochte ihn ja nicht mal wirklich. Obwohl dieses Gefühl sich nach gestern Abend doch ein wenig gelegt hatte. Er war kein schlechter Kerl.

Eine Berührung an der Wange machte mich auf Cio aufmerksam, der mich scheu musterte, als wüsste er nicht genau was er sagen sollte. Wirklich sehr untypisch für ihn. Darum blieb mir auch gar nichts anderes übrig, als ihn anzulächeln.

„Guten Morgen, mein Hübscher.“

Der vorsichtige Ausdruck in seinen Augen verschwand. „Da hat aber jemand gute Laune.“

„Natürlich.“ Ich beugte mich vor und gab ihm einen kleinen Kuss auf die Nasenspitze. „Schließlich bin ich in deinen Armen aufgewacht.“

„Oh bitte, hört auf“, verlangte Tayfun. „Sonst komme ich gleich zu euch, um auch etwas von dieser herzerweichenden Zuneigung abzubekommen.“ Er sammelte seine Schuhe vom Boden am Bettende auf und stieß seine Füße hinein. „Wenn ihr wollt, könnt ihr noch hierbleiben. Aber schließt hinter euch ab und bringt mir dann den Schlüssel.“

„Wo musst du denn so eilig hin?“, wollte Cio wissen, der bei Romys kurzem Auftauchen ja noch im Land der Träume gelegten hatte.

„Zentrale. Einsatzbesprechung.“

Kurz schaute Cio zu mir, dann glomm etwas entschlossenes in seinen Augen auf. „Weißt du was? Da komme ich mit.“

Was? „Was willst du denn in der Zentrale?“, fragte ich auch sofort.

„Mein Leben auf die Reihe bekommen.“ Er beugte sich vor, küsste mich und rollte sich dann aus dem Bett. Seine Klamotten waren zerknittert, die Haare unordentlich und seine Augen vom Schlaf noch halb geschlossen – ein echt süßer Anblick. Und trotzdem war er der festen Überzeugung, dass es völlig ausreichte, sich einmal mit den Händen durch die Haare zu fahren, um sich für den Tag zu wappnen. Naja, die Alternative für ihn wäre, erstmal nach Hause zu fahren, aber danach schien ihm im Moment nicht der Sinn zu stehen.

„Dann werde ich erstmal duschen gehen“, beschloss ich und schwang die Beine aus dem Bett.

„Geh vorher in dein Zimmer“, sagte Tayfun. „Dein Vater hat mir gesagt, dass er dir ein paar Sachen gebracht hat.“

Gerade war ich noch dabei mir das Haar hinters Ohr zu klemmen, hielt bei diesen Worten aber abrupt inne. „Mein Vater?“

„Bin ihm gestern begegnet, als ihr beide da so selig in meinem Bett vor euch hingeschnarcht habt. Hatte Durst und wollte mir was aus der Küche holen. Hab ihm gesagt, dass du hier bist und dich mit deinem Freund ein Weilchen vor der grausamen Realität verstecken willst.“

Das machte mich für einen Moment sprachlos. „Aber … du hast ihm doch nicht gesagt das wir … du weißt schon.“

„Wir ein paar erotische Beiß-mich-Spiele gespielt haben und uns anschließend ungezügelt zu dritt in den Laken gewälzt und der Leidenschaft hingegeben haben?“

Mein Mund ging auf, aber nichts kam raus.

Er zwinkerte mir wieder zu. „Das wäre zwar verlockend, einfach um sein Gesicht zu sehen, aber nein, ich habe ihm nicht gesagt, wie hübsch du aussiehst, wenn man dich beißt. Wie süß deine Wangen sich röten und deine …“

Cio nutzte den Moment um Tayfun eine zu scheuern.

„Hey!“

„Das ist immer noch meine Verlobte, also merke dir gut: Wenn sie jemand verarscht, dann bin ich das, nicht du.“

Ich verengte die Augen leicht. „Dir ist schon bewusst, dass ich dich hören kann, oder?“

Dafür bekam ich ein hinreißendes Lächeln. Aber ich kannte dieses Lächeln, darum schaffte er es nicht, mich damit zu bezirzen. Okay, er schaffte es, aber ich ließ es mir nicht anmerken.

Mit all der Würde, die ich mit zerknitterten Klamotten und morgendlichem Mundgeruch aufbringen konnte, erhob ich mich vom Bett und stolzierte an den beiden Idioten vorbei zur Tür. Leider schaffte ich es nicht mehr zur Klinke, denn Cio war der Meinung er müsste mich vorher abfangen, indem er seine Arme von hinten um meinen Bauch wickelte und mich an sich zog.

„Cio!“, schimpfte ich.

Er lachte nur leise und vergrub sein Gesicht in meinem Haar. Als er mir dann auch noch einen Kuss in den Nacken hauchte, bekam ich eine Gänsehaut. „Ich warte in der Zentrale auf dich.“

„Ich werde in Betracht ziehen, mich dort nach einer Dusche blicken zu lassen. Aber nur wenn du mich jetzt loslässt.“

„Okay.“ Noch ein Kuss. „Bis gleich.“

Sobald ich die Gelegenheit bekam, flüchtete ich aus dem Raum. Leider wusste ich nicht, warum ich das plötzlich Bedürfnis hatte, mich aus dem Staub zu machen. Zwar hatte Tayfun mir einen kurzen Moment einen Schrecken eingejagt, aber es stellte nicht wirklich ein Problem für mich dar, dass mich die beiden aufgezogen hatten. Es musste also etwas anderes sein.

Vielleicht war es auch einfach nur ein Anfall von Schamgefühl, der mich in mein Zimmer trieb. Auch wenn wir keinen Dreier geschoben hatten, wie Tayfun es für uns in allen Farben des Regenbogens dargestellt hatte, so war es doch ein wenig mehr gewesen, als ich erwartet hätte. Viel intimer und auch irgendwie aufregend – obwohl ich das niemals laut zugegeben hätte.

„Das ich sowas denke, darf er niemals erfahren.“ Mit diesen gemurmelten Worten, öffnete ich meine unverschlossene Zimmertür.

Der Raum sah noch genauso aus, wie ich ihn gestern hinterlassen hatte – nur ohne Verwandte. Ich schaltete das Licht an und entdeckte meine vertraute Reisetasche, die einsam auf meinem Bett thronte. Eine genauere Untersuchung ergab, dass mein Vater noch mal nach Hause gefahren sein musste, denn sowohl mein Handy, als auch mein Tablet lagen darin, wie zwei alte Freunde, die nur auf ein Wiedersehen mit mir warteten. Ich steckte das Handy in die Hosentasche, lies mein Tablet wo es war und suchte mir einen Satz frischer Klamotten aus der Tasche zusammen. Dann noch mein gefüllter Kulturbeutel mit dem großen Handtuch und ich war für die Gemeinschaftsduschen gewappnet.

Während ich meinen Weg antrat, fragte ich mich, wo meine Eltern abgeblieben waren. Gestern noch hatte mein Vater mich keinen Moment aus den Augen lassen wollen. Aber dann hatte der Wille der Königin ihn in die Flucht geschlagen. Ich brauchte die Tasche nicht um zu wissen, dass er früher oder später zurückgekommen war. Ohje. Er war zurückgekommen und hatte mich nicht finden können. Das war nicht gut. Hoffentlich hatte er auf der Suche nach mir nichts unüberlegtes getan. Ich würde ihn anrufen müssen, sobald ich aus der Dusche kam. Nein, erstmal würde ich schauen, ob er mit den anderen in der Zentrale war. Wenn ich ihn da nicht fand, konnte ich ihn immer noch anrufen.

Zufrieden mit diesem Plan suchte ich die Duschen auf, kleidete mich aus und stellte mich unter einen warmen Strahl. Die anderen Anwohner schliefen entweder noch, oder waren schon so lange auf den Beinen, dass sie ihre morgendliche Dusche bereits hinter sich hatten. Egal welcher Fall zutraf, ich hatte die ganze Gemeinschaftsdusche für mich alleine und ich genoss es sehr ausgiebig. Nun ja, zumindest bis mir klar wurde, warum ich so rumtrödelte.

Für einen Abend hatten Cio und ich all unsere Probleme in die Warteschleife abgestellt, aber der Abend war vorbei und der Alltag hatte uns wieder. Naja, was man im Moment halt Alltag nennen konnte. Ich durfte schließlich nicht zur Arbeit. Oder überhaupt aus diesem Gebäude heraus. Und zwar wegen eines Massenmörders, der es aus irgendeinem Grund auf mich abgesehen hatte. Das zumindest war der Stand der Vermutungen, denn mehr hatten wir nicht – nur Vermutungen.

Dann war da noch Kiara, für die ich mir dringend etwas einfallen lassen musste. Und auch noch die Hochzeit, über die ich mir auch langsam mal Gedanken machen sollte. Fragte sich nur wie, da ich ja – wie bereits mehrfach erwähnt – nicht aus diesem verfluchten Gebäude heraus durfte.

Und dann war da natürlich noch Cios Streit mit seinem Vater, bei dem er sich nicht nur von seinem Job, sondern auch gleich von seiner Familienzugehörigkeit verabschiedet hatte. Wenn ich so darüber nachdachte, war er heute Morgen erstaunlich zufrieden mit sich und der Welt gewesen, obwohl sein Leben einen Abend zuvor fast in die Brüche gegangen war. Das war … merkwürdig. Hatte das vielleicht etwas mit Tayfun zu tun? Sollte ich mit ihm auch darüber sprechen? Ich wusste es nicht. Zwar hatte die Beiß-Situation gestern schon ein wenig an seinen Nerven gezerrt, aber er schien deswegen nicht bedrückt, oder gar unglücklich.

Sollte ich deswegen vielleicht besorgt sein? Mist, warum nur gab es für solche Situationen kein Handbuch? Zukünftige Mordopfer und ihre Beziehungen. Okay, das war etwas morbide. Vielleicht dann besser: Biss – was nun? Das würde mir mein Leben im Moment unglaublich erleichtern.

Über was ich mir hier schon wieder den Kopf zerbrach. Es gab viel Wichtigeres, als sich mit dem morgen danach zu beschäftigen. Ich musste mit Cio sprechen. Jetzt.

Entschlossen beendete ich meinen morgendlichen Waschgang, zog mich an und schlenderte dann durch die Korridore zur Zentrale im Erdgeschoss. Dabei kam ich an einer Uhr vorbei und bemerkte zu meinem Erstaunen, dass wir es bereits nach zehn hatten. O-ha, der Biss musste mich wirklich ausgelaugt haben. Zwar fühlte ich mich bestens, aber zwölf Stunden Schlaf waren für mich ganz und gar nicht normal. Ging es Cio auch immer so, wenn ich von ihm trank?

Unwichtig, mahnte ich mich und setzte meinen Weg fort.

In der Zentrale waren ein Haufen Leute. Ein paar saßen an den Computern. Zwei standen hinten bei den Aktenschränken, aber die meisten standen um den großen Tisch in der Mitte herum und hörten still zu, während Murphy etwas erklärte und dazu immer wieder auf die verschiedenen Papiere und Karten zeigte, die vor ihm verteilt waren. Ich entdeckte meinen Vater unter ihnen, gleich neben Alexia und Sergio. Er schaute auf, als ich in den Raum trat und versicherte sich mit einem schnellen Blick, dass er mir soweit gut ging, unterbrach sie Besprechung aber nicht.

Tayfun stand auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches. Cio stand zwischen ihm und Murphy und beugte sich interessiert über die Papiere.

Selbst Cayenne war anwesend, wobei ich nicht recht wusste, wie ich es finden sollte, ihr hier zu begegnen. Das schlechte Gewissen wegen Kiara drückte mir aufs Gemüt. Am besten, ich ignorierte sie so gut es ging. Nicht das mir nachher noch etwas rausrutschte, was ich anschließend bereuen würde.

„Wir vermuten das drei Frauen von ihnen nicht ganz freiwillig ihrer Arbeit nachgehen“, erklärte Murphy, als ich mich neben Cio an den Tisch drängte und seine Hand ergriff. Er lächelte mich kurz an, war dann aber auch gleich wieder voll und ganz auf Murphy konzentriert.

„Das sind die Frauen.“ Alexia schob drei Fotos in die Mitte des Tisches, sodass alle sie sehen konnten. „Wir haben noch keine Ahnung, wer genau sie sind, aber unser Informant ist sich sicher, dass es sich bei ihnen um Sklavinnen handelt. Allerdings wissen wir nicht, ob es nur diese drei sind, oder ob er noch weitere von ihnen irgendwo versteckt.“ Sie fügte ein viertes Foto von einem eher durchschnittlichem Mann hinzu. Eindeutig ein Vampir. „Das ist ihr Meister. Er nennt sich Matthew Cox und ist der Besitzer des Schuppens.“

Cio hob den Kopf. „Wie kommt ihr da rein, wenn er nur Stammgäste und Empfehlungen empfängt?“

Mehrere Themis schauten ihn an, als sei er ein Alien. Unter anderem auch Murphy. „Was machst du eigentlich hier?“

Er blinzelte. „Ich habe gestern meinen Job hingeschmissen und jetzt brauche ich einen neuen“, sagte er, als sei das völlig klar und alle anderen ein wenig beschränkt, wenn sie es nicht sofort begriffen.

Ich konnte ihn nur entgeistert anstarren. Cio wollte ein Themis werden? Aber … nein, das ging nicht. Er war Personenschützer. Themis dagegen … naja, sie mussten töten um zu überleben. Und Cio trug selbst Spinnen aus dem Haus, ohne ihnen ein Härchen zu krümmen – so ganz anders als ich, die am liebsten jede einzelne von ihnen mit einer Granate aus diesem Universum sprengen würde, wenn es mir nur möglich wäre.

Links neben mir lachte Tayfun leise in sich hinein.

Ich stieß ihn mit dem Ellenbogen an, damit er damit aufhörte. Das war nicht witzig. Ich hätte doch gestern mit ihm reden sollen und ihn dazu zwingen, sich wieder mit seinem Vater zu versöhnen. Doch jetzt hier vor aller Augen, wollte ich ihn nicht darauf ansprechen.

Murphy unterdessen verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie kommst du auf die Idee, dass wir jeden dahergelaufenen Schwachkopf bei uns aufnehmen würden?“

„Naja, Tayfun hat es hier rein geschafft.“

Das ließ Tayfun wirksamer verstummen, als mein Stoß. Er funkelte Cio an.

Murphy jedoch hob nur eine Augenbraue, als wartete er auf noch etwas.

„Na gut.“ Cio hob einen Finger. „Erstens, ich beherrsche sechs verschiedene Kampftechniken, die ich schon seit meiner Kindheit trainiere. Zweitens.“ Ein zweiter Finger gesellte sich zu dem ersten. „Ich kann Befehle befolgen, ohne sie zu hinterfragen, gleichzeitig aber auch meinen eigenen Kopf benutzen. Und drittens.“ Noch ein Finger ging hoch. „Ich bin ein verdammter Umbra.“ Er legte seine Hände auf die Tischplatte, ohne Murphy auch nur für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen zu lassen. „Ich bin zielstrebig, Teamfähig und kann mich sowohl unterordnen, als auch die Führung übernehmen. Logisches Denken und Taktik, habe ich schon mit der Muttermilch in mich aufgesogen und mit meiner Kraft und Schnelligkeit, habe ich noch jeden Gegner in die Knie gezwungen. Ich bin den Umgang mit Waffen gewohnt, kann mich aber auch ohne verteidigen. Deswegen wäre es ein Verlust für die Themis ihre Chance nicht zu nutzen und mich mit an Bord zu holen.“

Darauf folgte erstmal Schweigen, das erst unterbrochen wurde, als Alexia leise lachte. „Fragt sich nur, ob er mit seinem riesigen Ego auch durch die kleinen Löcher passt, durch die wir bei unseren Aktionen manchmal kriechen müssen.“

Dafür gab es ein paar Lacher. Aber nicht von meinem Vater, der nicht so recht zu wissen schien, was er von der Aussicht, seinen zukünftigen Schwiegersohn als Kollegen zu haben, halten sollte. Glücklich schien er damit aber auf jeden Fall nicht zu sein.

Da waren wir schon zwei.

„Aber dir ist schon klar“, sagte Sergio, der Sohn vom Boss der Themis, „das dieser Job weder Ruhm noch Frauen bringt, oder?“

„Ruhm.“ Cio prustete. „Wer brauch schon Ruhm. Und ein Mädchen habe ich bereits.“ Er hob meine Hand an die Lippen und hauchte mir mit einen schelmischen Lächeln einen Kuss auf die Knöchel, sodass es auch alle sehen konnten. „Das einzige auf das ich es abgesehen habe, ist dieses schicke Tattoo, mit dem ihr alle herumrennt.“

Oh nein, er wollte das wirklich durchziehen.

Tayfun begann wieder zu Kichern. „Wo hättest du es den gern?“

Cio grinste nur. „Ja, das würdest du wohl gerne wissen.“

„Naja, wenn du mir deines zeigst, dann zeige ich dir auch meines.“

Dieser kleine Satz brachte mich wirklich dazu zu überlegen, wo Tayfun sein Tattoo hatte. Vorhin hatte ich schließlich einen Platz in der ersten Reihe gehabt, als er der der Meinung gewesen war, sich direkt vor mir umziehen zu müssen. Zwar hatte ich ihn nur ganz kurz von hinten gesehen, aber ein Tattoo war mir dabei nicht aufgefallen.

Tayfun bemerkte natürlich, wie ich ihn musterte und nahm es mit seinem üblichen Zwinkern zur Kenntnis. „Du musst nur fragen, wenn du es sehen möchtest.“

O-kay. So wie er das sagte, war ich mir plötzlich sehr sicher, dass ich nicht sehen wollte, wo er sich hatte stechen lassen.

„Bevor wir darüber sprechen, wo er sein Tattoo bekommt“, unterbrach Murphy, „müssen wir erstmal noch ein paar andere Dinge klären. Aber nicht hier. Wir unterhalten uns später mal unter vier Augen, okay?“

Cio nickte. „Klar, wann immer du willst.“

„Und eins sage ich dir gleich.“ Er hob mahnend seinen Zeigefinger. „Das hier ist kein Erlebnispark, bei dem du mal vorbei schauen kannst, weil du Papi-Probleme hast. Das hier ist ein ernstzunehmender Job, bei dem Leben davon abhängen.“

Ich riss die Augen auf. Das hatte er jetzt nicht gesagt – nicht vor all diesen Leuten.

Da Cio immer noch meine Hand hielt, spürte ich, wie sich sein Griff verstärkte, aber er ließ sich nichts anmerken. „Ich war Personenschützer. Auch in diesem Job war ich dafür verantwortlich, dass mein Schützling den Tag übersteht. Ich weiß genau worauf es ankommt.“

„Das wird sich noch zeigen“, murmelte Murphy und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf die Papiere auf dem Tisch. „Wenn du dann bitte Fortfahren würdest, Schatz.“

„Klar.“ Alexia strich sich eine Strähne ihres weißen Haares hinters Ohr. „Wie bereits gesagt, Matthew Cox. Wir wissen nicht viel über den Mann. Es ist das erste Mal, dass sein Name mit Sklaven in den Zusammenhang gebracht wurde. Bisher schien er ein sauberes Geschäft zu führen.“

„Wobei sauber in diesem Fall Auslegungssache ist“, kommentierte Romy. „In Striplokalen geht es meinst dreckig zu.“

Hm. je mehr ich hörte, desto weiter schrumpfte meine Begeisterung.

Natürlich verstand ich wie wichtig die Arbeit der Themis war, aber reichte es denn nicht, dass meine leiblichen Eltern sich diesem Kampf bereits angeschlossen hatten? Musste jetzt wirklich auch noch mein Freund da mitmachen?

„Du weißt was ich meine“, sagte Alexia und zog die Karte eines Gebäudegrundrisses in die Mitte des Tisches. „So weit wir wissen, werden die Mädchen außerhalb der Geschäftszeiten weggeschlossen, damit sie nicht auf dumme Ideen kommen. Unser Informant …“

Hastige Schritte auf dem Korridor unterbrachen nicht nur die Besprechung, sondern zog auch die allgemeine Aufmerksamkeit im Raum auf sich. Deswegen waren auch aller Augen auf die Tür gerichtet, als ein Wächter völlig außer Atem in die Zentrale platzte und hastig nach Luft schnappte.

„Was ist los?“ Mein Vater richtete sich ein wenig gerader auf. „Ist was passiert?“

„Hat der Amor-Killer wieder zugeschlagen?“, fügte Cayenne noch hinzu.

Oh nein, nicht schon wieder. Konnte der uns nicht mal für einen Tag etwas ruhe gönnen? Wenigstens so lange, bis ich die Zeit gefunden hatte, mir über die neue Situation den Kopf zu zerbrechen?

Zu der Verwunderung aller, schüttelte der Wächter dann aber den Kopf. „Nein, kein Toter. Es geht um Königin Sadrija.“ Er atmete noch einmal tief durch, bevor er verkündete: „Sie liegt in den Wehen.“

 

°°°°°

Trauma

 

Die Uhr an der Wand schien uns zu verhöhnen. Meine Augen folgten jeder Bewegung des Sekundenzeigers und ich hatte wirklich das starke Gefühl, dass das Teil kaputt sein musste. Wie sonst war es möglich, dass die Zeit einfach nicht zu vergehen schien?

Nach der Verkündung des Wächters, war alles ein wenig komisch geworden. Niemand hatte gejubelt, oder sich auf das bevorstehende Ereignis gefreut. Alle Lykaner im Raum waren einfach erstarrt und hatten die Ohren aufgerichtet, als könnten sie auf diese Art etwas von der Geburt mitbekommen – natürlich war das nicht möglich, auch nicht mit ihrem super Gehör.

Vermutlich würden die ganze Lykaner noch immer völlig bewegungslos in der Zentrale lauern, wenn die anwesenden Vampire ihnen nicht dafür gesorgt hätten, dass wir alle uns in einem etwas gemütlicheren Rahmen begaben.

Jetzt saßen wir alle im Gemeinschaftsraum des HQ. Durch einen langen Tresen, abgegrenzt vom Rest des Raumes, lag die Küche. Die Wände waren mit Holz vertäfelt, von der Decke hingen zwei einfache Lampen. Ich hatte mich mit Cio und Tayfun in der Ecke auf einem Ecksofa niedergelassen. Schräg neben uns stand ein Fernseher, der zwar lief, aber von niemanden beachtet wurde. Nervosität, Anspannung und vorsichtige Erwartungen lagen wie ein Nebel in der Luft.

Normalerweise war dieser Raum verwaist, die Leute hatten meist besseres zu tun, als sich die Zeit mit Nichtstun zu vertreiben, heute jedoch platzte er aus allen Nähten.

Die anderen hatten sich im ganzen Raum verteilt. Am großen Esstisch saß Cayenne mit Sydney und ein paar anderen Themis und unterhielt sich leise. Mein Vater spielte mit Murphy und Alexia Dart. Bisher hatte er jede Runde gewonnen, was wohl der Unaufmerksamkeit seiner Mitspieler lag. Der Rest tummelte sich in kleinen Grüppchen auf dem Boden oder auf den anderen beiden Sitzgruppen. Außer Romy. Die stand in der Ecke und warf immer wieder ihr Messer auf eine Holzscheibe an der Wand, die wohl genau zu diesem Zweck gedacht war.

Und das machten wir bereits seit Stunden. Alles war zum erliegen gekommen. Jeder Lykaner im Rudel hielt in Erwartung auf den neuen Alpha den Atem an. Selbst ich spürte einen Hauch dieser Nervosität und das obwohl ich nur zu einem Teil ein Wolf war.

Cio dagegen war ein reines Nervenbündel. Schon die ganze Zeit knetete er nervös die Hände, strich sich immer wieder durchs Haar, oder griff nach einer meiner Haarsträhnen, um daran rumzuzupfen. Im Moment hatte er sich darauf verlegt, mit dem Fuß ungeduldig auf den Boden zu tippen.

Das nervte mich mittlerweile so sehr, dass ich ihm eine Hand aufs Bein legte, bis er es endlich still hielt und mir ein entschuldigendes Lächeln zuwarf. „Sorry, bin ein wenig unruhig.“

Tayfun schnaubte. „Das nenne ich die Untertreibung des Jahres.“ Er hatte sich rechts neben mir in die Ecke gelümmelt, die Finger entspannt auf seinem Bauch verschränkt und machte sich über jeden Pelzträger in diesem Raum lustig.

Als auf dem Korridor schritte erklangen, schauten alle im Raum sofort erwartungsvoll auf. Aber es war nur ein Themis, dessen Namen ich nicht kannte.

„Ähm“, machte er, als er sich der vielen Augen im Raum bewusst wurde. „Ich wollte mir nur was zu trinken holen.“

Einstimmiges Stöhnen wehte durch den Raum. Das waren nicht die Worte, auf die wir alle gehofft hatten, sodass sich jeder wieder seinem Zeitvertreib widmete. Inklusive Cio, der nun wieder damit begann, angespannt mit dem Finger auf seinen Oberschenkel zu trommeln.

Tayfun fixierte seine Hand, als wollte er sie ihm ans Bein tackern, damit er endlich ruhe gab. „Weißt du eigentlich, wie nervtötend dieses Herumgezappel ist?“

In einer einzigen Bewegung, hob Cio die Hand und zeigte dem Vampir den Stinkefinger.

„Wirklich, sehr nett“, kommentierte Tayfun.

„Dann hör doch auf ihn zu ärgern“, nahm ich meinen Freund ich Schutz. „Es wird schließlich nicht jeden Tag ein neuer Alpha geboren.“

„Na Gott sei dank. Würden die ganzen Wölfchen das jeden Tag machen, müsste ich wohl Amok laufen.“

„Ja, aber es ist halt nicht jeden Tag.“ Ich lehnte mich zur Seite und kuschelte mich an Cios Arm. „Also lass ihn in Frieden.“

Cio grinste Tayfun über meinen Kopf hinweg an. Es gefiel ihm wohl, dass ich ihn verteidigte. Leider nahm die Uhr an der Wand diesen kleinen Zwischenfall nicht als Grund, endlich schneller zu laufen und aus ein paar weiteren Minuten, wurde bald eine halbe Stunde. Wieder begann Cio damit unruhig mit dem Fuß auf den Boden zu trommeln, ohne sich selber überhaupt bewusst darüber zu sein.

„Okay, jetzt reicht es mir.“ Noch bevor sich irgendjemand von uns darüber klar werden konnte, was Tayfun vorhatte, beugte er sich bereits über mich und drückte Cio einen Kuss mitten auf den Mund. Der riss nur überrascht die Augen auf. Ich jedoch reagierte da ein wenig anders. Mit all meiner Kraft stieß ich ihn zurück in seine Ecke und hockte im nächsten Moment mit ausgefahrenen Fängen auf seiner Brust.

„Meiner!“, fauchte ich und war kurz davor, ihm den Kopf abzureißen. Das er es wagte sich an meinen Freund ranzumachen, ging wirklich zu weit. Dazu hatte er absolut kein Recht!

Tayfun jedoch grinste nur blöde zu mir nach oben. „Na sieh mal einer an. Da steckt wohl doch mehr Vampir in dir, als alle glauben.“

Mit einem hörbaren Klacken, schloss ich den Mund. Er hatte recht. Ein Lykaner lauerte und umkreiste seine Beute, ließ seine Muskeln spielen, oder knurrte ein wenig. Selbst wenn es um seinen Gefährten ging, ging er nicht sofort in die Vollen. Ein Vampir hingegen, stürzte sofort los. Tayfun hatte meinen Mann geküsst und ich wollte ihm dafür am liebsten den Mund zutackern.

Cio jedoch schlang seine Arme um meinen Bauch und zog mich auf seinen Schoß, wo er mich mit festen Griff daran hinderte, wieder auf den Vampir loszugehen, den ich noch immer mit Blicken zu erdolchen versuchte. Dem ging es doch wohl zu gut.

„Ich fühle mich geehrt dein Interesse geweckt zu haben“, erklärte Cio mit all der Ernsthaftigkeit, die er aufbringen konnte. „Aber ich muss dir leider sagen, dass ich bereits glücklich vergeben bin und meine Freundin – wie du vielleicht gemerkt hast – es gar nicht gerne sieht, wenn andere mit mir herumknutschen.“

Machte der Idiot sich etwa über mich lustig? Dafür bekam er einen bösen Blick, der ihn nur dazu veranlasste, mir einen Kuss aufs Kinn zu geben.

Tayfun gab sich gleichgültig. „Mir ging nur dein Gezappel auf die Nerven. An eine langfristige Beziehung hatte ich dabei nicht gedacht. Aber ich kann auch nicht behaupten, dass es mir leid tut.“

„Das kann niemand, der einmal diese Lippen probiert hat“, erwiderte Cio.

Hallo? Bemerkten die beiden eigentlich, dass ich auch noch anwesend war und den ganzen Schwachsinn hören konnte, den sie so von sich gaben? „Soll ich gehen, damit ihr ungestört seid?“

Cio hielt mich ein wenig fester. „Versuch es doch. Mal sehen ob du mir entkommst.“

Oh, der Wolf wollte spielen? Das konnte er haben. Mit einem verschlagenden Lächeln, drehte ich den Kopf und nahm seine Lippen in Beschlag. Wir waren lange genug zusammen, um zu wissen, was er mochte und wie ich es erwartet hatte, löste er irgendwann die Arme um mich, um die Hände für andere Dinge frei zu haben.

Sobald ich das spürte, wie sein Griff sich lockerte, sagte ich „Reingelegt“ und stieß mich von ihm ab. Geplant war mich elegant aus seinen Armen zu befreien und ihn dann von anderen Ende des Raumes zu verspotten. Leider hatte ich Cios Schnelligkeit unterschätzt. Er versuchte noch nach mir zu greifen, erwischte mich aber nur am Arm, wodurch ich halb herumgedreht wurde und mit dem Rücken in Tayfuns Schoß landete.

Der grinste sehr anzüglich zu mir herunter. „Oh hallo. Bist du öfters hier?“

Ich streckte ihm die Zunge raus und grinste dann in dem Wissen, dass meine Fänge deutlich zutage traten. „Nur wenn ich nichts besseres zu tun habe.“

Er lachte leise in dem Wissen, dass er genau diese Worte schon mal aus meinem Mund gehört hatte. Und zwar direkt nachdem er mir die selbe Frage gestellt hatte.

„Ich will hier ja nicht als eifersüchtiger und besitzergreifender Verlobter herüberkommen, aber das meine Zukünftige sich in dem Schoß des Typen wälzt, der mir eben noch die Zunge in den Hals stecken wollte, finde ich doch leicht irritierend.“ Auffordernd hielt Cio mir seine Hand hin und sobald ich sie ergriff, zog er mich zurück in die Senkrechte.

Genau in diesem Moment erklangen vor der Tür erneut Schritte und jeder Lykaner im Raum hob neugierig und erwartungsvoll den Kopf. Wie eine Einheit, starrten wir gespannt auf den offenen Durchgang. Als dann Graf Rouven Deleo in seiner ganze geschniegelten Pracht erschien, hätte man die Spannung im Raum mit Messern schneiden können. Wenn der Graf hier war, konnte das doch nur eines bedeuten, oder?

Doch der Mann ließ seine Augen nur einmal gelangweilt über die Anwesenden gleiten und trat dann einen Schritt in den Raum hinein.

Plötzlich sirrte an seinem Gesicht haarscharf ein Messer vorbei, schlug in den Türpfosten ein und blieb dort vibrierend stecken.

Der Graf machte vor Schreck einen Satz zurück und starrte dann fassungslos auf das Messer.

Mir klappte der Unterkiefer runter, als Deleo herumwirbelte, um nach dem Verursacher Ausschau zu halten. Es war Romy. Das Messer, dass sie die ganze Zeit immer wieder gegen die Holzplatte geworfen hatte, steckte nun im Türrahmen.

Er sagte ein paar scharfe Worte zu ihr, die ich aber kaum verstand, da Tayfun anfing zu kichern.

Das war irritierend. „Was ist daran so lustig? Sie hätte ihn treffen können.“

„Nein hätte sie nicht.“ Cio beobachtete die beiden stirnrunzelnd. „Dafür ist sie zu gut mit dem Messer.“

Als ob es das besser machen würde. Messer waren schließlich kein Spielzeug.

„Warum regt ihr euch eigentlich so auf?“ Tayfun verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute nur mäßig interessiert zu Romy und den Grafen hinüber. „Der Kerl ist arrogant und mischt sich überall ein. Außerdem hat er es auf den Posten von Miguel abgesehen. So ein kleiner Denkzettel schadet schon nicht.“

„Das ist nicht nur irgendein Graf, sondern der kleine Bruder des Königs“, hielt ich sofort dagegen.

„Ja“, stimmte Tayfun mir zu. „Und er ist auch der größte Mistohasser, den ich jemals kennengelernt habe. Weswegen Romy wohl ein ganz besonderes Problem mit ihm hat.“

Romy? „Warum? Was hat sie den mit den Misto zu schaffen?“

Die Frage schien ihn zu erstaunen. „Ist dir das noch nicht aufgefallen? Du kennst sie doch schon viel länger als ich.“

Naja, kennen war vielleicht ein wenig übertrieben. Sie war eine Bekannte, eine Arbeitskollegin meiner leiblichen Eltern. „Was ist mir nicht aufgefallen?“

„Ha!“, machte Tayfun und richtete sich grinsend auf. „Romy ist ein Misto. Sogar ein ganz besonderer.“

„Romy?“ Wirklich? Ich schaute zu der Vampirin hinüber, die die Worte des Grafen einfach seelenruhig über sich ergehen ließ.

„Jo. Ihre Mutter war ein Mensch. Darum brauch sie wohl auch kein Blut. Ja es schmeckt ihr nicht mal.“

Ein Vampir der kein Blut trank? Ich hätte nicht mal geglaubt, dass es sowas gab. Und erst recht nicht, dass ich so einen Vampir kannte. Obwohl ich sie ja jetzt eigentlich nicht mehr als Vampir bezeichnen durfte, oder?

Cio neigte den Kopf leicht zur Seite. „Das ist wirklich ungewöhnlich.“

„Wenn du das schon ungewöhnlich findest, was sagst du dann erst, wenn ich dir erzähle, dass sie keine Repression hat und sie weder Vampirsekret produziert noch ihre Fänge ausfahren kann. Im Grunde ist sie ein Mensch, der wie ein Vampir aussieht und etwas verbesserte Heilkräfte besitzt.“

Das hieße ja, dass sie im Grunde zwar aussah wie ein Vampir, aber kaum mehr als ein einfacher Mensch war. „Warum habe ich davon noch nie etwas gehört?“

Tayfun zuckte mit den Schultern. „Sie hängt es eben nicht an die große Glocke.“

„Und wie kommt es denn, dass du es weißt?“, wollte Cio wissen.

Daraufhin ließ Tayfun seine Augenbrauen hüpfen. „Ein Wort: Bettgeflüster.“

Nach einem letzten herablassenden Blick auf Romy, wandte Graf Rouven sich um und marschierte weiter in den Raum herein. Doch erst nach ein paar Metern, ging mir auf, dass er direkt auf uns zuhielt. Das gefiel mir nicht, denn Tayfun hatte schon recht. Graf Deleo war ein Mistohasser und lebte das auch ganz offen aus.

Ich kuschelte mich misstrauisch und schutzsuchend an Cio und zählte die Schritte mit, die er brauchte, um zu uns zu gelangen. Dann stand er vor uns und musterte mich auf so herablassende Art, dass sich mir ganz automatisch die Stacheln aufstellten.

„Du bist Zaira Steele, richtig?“, sprach er mich auch ganz direkt an. Dabei beachtete er weder Cio noch Tayfun, die ihn keinen Moment aus den Augen ließen.

Am liebsten hätte ich ihm gar nicht geantwortet und ihm einfach den Mittelfinger gezeigt. Doch in der nächsten Sekunde bemerkte ich, wie ich wortlos nickte.

„Ich habe gerade erfahren, was du behauptest. Du kannst doch nicht wirklich glauben, dass sich diese Morde um dich drehen. Wer bist du denn schon?“

Bitte? „Ich habe gar nichts behauptet.“

Cio knurrte leise.

Leider schien das Graf Rouven überhaupt nicht zu interessieren. „Ich weiß genau wer du bist. Vor Jahren aus der Versenkung aufgetaucht, ein Niemand der seine fünfzehn Minuten Ruhm wiedererlangen möchte, bevor er bei allen in Vergessenheit gerät. Aber glaubst du, dies ist der richtige Weg um einem Platz im Rampenlicht zu ergattern? Hier geht es schließlich um eine Mordserie und nicht um Kleinmädchenträume. Ich finde es von dir ziemlich unverschämt, dass du versuchst diese Tragödie zu deinen Gunsten auszunutzen.“

Was zur Hölle …

„Ich glaube nicht dass Zaira es ist, die ins Rampenlicht möchte“, sagte Tayfun lapidar. „Und im Gegensatz zu ihr, kennt man sie doch nur, weil Sie der kleine und unbedeutende Bruder des Königs sind.“

Graf Rouven betrachtete Tayfun mit einer solchen Herablassung, dass ich plötzlich das dringende Bedürfnis verspürte, dem königlichen Bruder in den Hintern zu treten. Leider stand er zu ungünstig, als dass ich diesem Reflex nachgeben konnte. So könnte ich höchstens seine Kronjuwelen treffen.

Wäre auch kein großer Verlust.

„Ein Vampir und ein Lykaner.“ Der Graf schaute von Tayfun zu Cio und rümpfte dann die Nase, als würde dort etwas Widerliches kleben. „Wie … passend.“

Dass ich nach diesen Worten rot wurde, konnte ich nicht verhindern. Natürlich verstand ich die Anspielung und nach dem was gestern geschehen war … na gut, eigentlich war ja nichts passiert, aber eben nur eigentlich.

„Gibt es einen besonderen Grund, warum sie uns belästigen?“, wollte Cio wissen. Seine Stimme war ein einziges langgezogenes Knurren.

„Ich wollte an ihre Vernunft appellieren, damit sie dieses unverschämte Zeugnis zurück nimmt, das sie abgelegt hat und die Wächter sich mit den wahren Fakten beschäftigen können. Das Morden muss endlich ein Ende haben.“

„Als wenn sie das interessieren würde“, sagte ich leise und wunderte mich selber über mein Wagemut. Aber es stimmte. Viele Lykaner aus dem Adel hielten nur zu gerne an den alten Traditionen fest und eine Tradition war es eben, jeden Misto direkt nach seiner Geburt vom Leben zu erlösen.

Er betrachtete mich wie ein ekliges Insekt. „Du glaubst ich befürworte das?“

„Ich …“ Mist, warum nur hatte ich den Mund aufmachen müssen? Ich hasste das. Warum ging der überhaupt so auf mich los? Ich hatte ihm doch gar nichts getan.

„Was mein Schäfchen sagen möchte, ist, dass es sie einen Dreck interessiert, wenn ein paar Mischlinge einfach abgeschlachtet werden. Jeder hier weiß wie sie dazu stehen. Also tun sie nicht so, als würden ihnen diese Leute schlaflose Nächte bereiten.“

„Mein lieber Elicio“, begann der Graf und verschränkte die Arme auf dem Rücken. „Es stimmt, ich habe nicht viel für diesen Morast unserer Gesellschaft übrig.“

Das hatte er jetzt nicht gesagt. Eine solche Beleidigung war mir schon seit Jahren nicht mehr unter gekommen.

„Vorsicht“, knurrte Cio.

Graf Rouven ignorierte ihn einfach. „Aber mir ist der Frieden des Rudels wichtig. Und mit ihrer kleinen Lüge, behindert sie nicht nur die Ermittlungen, sie nimmt hier im Hauptquartier Platz weg, der eigentlich den Themis zusteht. Und das alles nur aus Eigennutz, weil sie glaubt die Leute würden sich auf diese Art wieder für sie interessieren. Und das ist nicht nur falsch, das ist eine Straftat.“

Tayfun schüttelte lächelnd den Kopf. „Wenn sie glauben, dass Zaira hier gerade eine Straftat begeht, wo sind dann die Wächter, die sie abführen sollten?“ Er schaute sich um, als würde er etwas suchen. „Also ich kann keine sehen.“

„Was dann wohl heißt, dass sie mit Ihrer Meinung ziemlich alleine dastehen“, fügte Cio noch hinzu und zog mich etwas enger an sich.

Er schaute von einem zum anderen, fixierte zum Schluss aber mich. „Wenn du deine Aussage nicht zurück nimmst, damit wir endlich vorankommen können, dann werde ich mich gezwungen sehen Schritte einzuleiten. Denn wie dein … Freund bereit gesagt hat, ich bin der Bruder des Königs und damit habe ich einiges an Einfluss.“

Bei dieser offenen Drohung, unterdrückte Cio sein Knurren nicht länger. Das weckte natürlich nicht nur die Aufmerksamkeit meines Vaters, sondern fasst aller im Raum.

Ich glaubte wirklich meine Ohren funktionierten nicht mehr richtig. Er konnte doch nicht wirklich meinen, was er da von sich gab. Glaubte er wirklich ich sei so gefühlskalt? Verdammt, ich war es gewesen, die die erste Leiche gefunden hatte! „Da ich nie irgendetwas behauptet habe, kann ich auch nichts zurück nehmen. Oder glauben sie ich bin freiwillig hier?“

„Ja, das glaube ich.“

Das … ich war sprachlos. Dabei war er hier doch der einzige Unverschämte!

Tayfun richtete sich ein wenig auf. „Und ich glaube, jemand muss ihnen mal wieder ordentlich einen Blasen, damit sie nicht so verkrampft und spießig sind.“

Das Gesicht des Grafen lief vor Empörung hochrot an. „Was erlaubst du dir? Weißt du denn nicht wer ich bin?“

„Ich kann es herausfinden.“ In einer geschmeidigen Bewegung, wie nur Vampire es können, erhob Tayfun sich von seinem Platz und griff nach dem Arm des Grafen. Im nächsten Moment hatte er ihn schon zu sich herangezogen.

Ich konnte nicht sehen, was er machte, aber plötzlich gab der Graf ein seltsames Geräusch von sich und stieß Tayfun mit solcher Wucht von sich, dass dieser sich nur mit Mühe und Not auf den Beinen halten konnte. Aber er lächelte.

„Was fällt dir ein!“, wütete Graf Rouven los. Er sah aus als wolle er Tayfun eine klatschen.

Der sagte jedoch nur: „Nicht schlecht“ und schaute dem Grafen dabei betont in den Schritt.

Er hatte doch wohl nicht etwa …

„Also wenn ich ehrlich bin, wäre ich nicht abgeneigt.“

Soweit es möglich war, verdunkelte sich das Gesicht des Grafen noch weiter. Die Ader an seiner Stirn pulsierte gefährlich. Das war irgendwie faszinierend. „Sobald ich hier das Kommando habe, wird solches Gesindel wie du hier nicht mehr zulässig sein. Stricher und Morast! Dieser Laden ist eine einzige Katastrophe!“

„Stricher?“, fragte Cio interessiert. Er fand die Beleidigung wohl genauso seltsam wie ich.

Doch Tayfun zwinkerte uns nur zu. „Irgendwo muss man sein Handwerk ja lernen.“

Ähm … war das sein ernst?

Ein Knurren kroch die Kehle des Grafen hoch. Sein zivilisiertes Verhalten stand kurz vor dem Aus.

Aus der Gruppe am Tisch löste sich meine Erzeugerin und kam mit entschlossener Mine auf uns zu.

„Ich werde das nicht mehr länger hinnehmen.“ Die Hände des Grafen hatten sich zu Fäusten geballt. „Die Zustände hier sind schlimmer als ich geglaubt habe. Ich werde …

„Hat einer von euch mal über dieses Wort nachgedacht?“, fragte Cayenne mit weicher Stimme. Sie stand so dicht hinter dem Grafen, dass er hastig einen Schritt vor ihr zurück wich, als er sich zu ihr umdrehte. Leider stieß er dadurch gegen Tayfun, der nur noch breiter grinste, als er das Unbehagen des Grafen bemerkte. „Zustand. Zu-stand.“ Sie probierte das Wort, als müsste sie es verköstigen. „Ich konnte dieses Wort schon nicht leiden, als ich noch ein Teenager war. Es hat immer einen fahlen Nachgeschmack, ganz egal in welchem Zusammenhang man es benutzt.“

Graf Rouven funkelte meine Erzeugerin wütend an. „Das hier geht sie nichts an, Cayenne.“

„Oh, Rouven, ich habe sie gar nicht bemerkt.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln, das keines war. „Ich hoffe sie sind immer schön nett zu meiner Tochter, ich kann es nämlich gar nicht leiden, wenn jemand gemein zu meinen Kindern ist.“ Um ihre Worte zu untermalen, spielte sie ein wenig mit ihrem Odeur, so dass aus dem krebsroten Gesicht eine käsige Maske wurde. Vielleicht war sie keine Königin mehr, doch an ihrer Natur konnte das nichts ändern. „Das würde mich wirklich wütend machen“, fügte sie noch hinzu und jeder in diesem Raum verstand die Drohung hinter diesen Worten.

Graf Rouven Deleo funkelte sie an, aber plötzlich schien ihm aufzugehen, dass es im Raum sehr still geworden war und aller Augen auf ihm lagen.

Mit so viel Würde wie möglich, richtete er seinen Anzug. „Ich glaube, ich bin hier fertig.“

„Das glaube ich auch“, erklärte Cayenne mit gefährlich ruhiger Stimme und zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir bewusst, dass es immer andere waren, die für mich die Kastanien aus dem Feuer holten. Hatte es irgendwann mal einen Disput gegeben, dem ich mich allein gestellt hatte? Die Diskussionen mit meinem Vater zählten nicht, immerhin war er … naja, mein Vater eben.

Ein letztes Mal wandte der Graf sich Tayfun zu. „Ihr Verhalten wird noch Konsequenzen haben.“

Wenn er geglaubt hatte, diese Drohung würde den Vampir einschüchtern, dann hatte er sich aber ins eigene Fleisch geschnitten. Er ließ einfach seine Fänge aufblitzen und lächelte ihn so lasziv an, dass sogar mir die Röte in die Wangen kroch. „Ich kann es kaum erwarten.“

Unter den Blicken aller Anwesenden strafte Rouven die Schultern und schritt mit all der Würde die ihm noch geblieben war, aus dem Raum hinaus. Dabei machte er einen großen Bogen um Romy, die sich ihr Messer zurück geholt hatte und es immer wieder in die Luft warf, bevor wie es dann geschickt auffing. Ihr Blick durchbohrte ihn, als wolle sie schon mal Maß nehmen.

Ich seufze erleichtert auf, aber besser ging es mir dadurch auch nicht, denn auch wenn der Graf einfach nur ein überhebliches Arschloch war, im Kern seiner Worte hatte er doch Recht. Was wenn wir uns wirklich alle irrten und es nichts als reiner Zufall war, dass die herzlosen Leichen an Orten gefunden worden waren, an denen ich einmal gewohnt hatte? Bisher hatte niemand einen Beweis vorlegen können, der mich zu hundert Prozent mit den Morden in Verbindung brachte.

Und dann war da noch die Tatsache, dass andere für mich meine Schlachten schlugen. Cio hatte Unrecht. Ich besaß weder Zähne noch Klauen, auch nach all den Jahren nicht. Ich war nichts weiter als ein hilfloses Schaf in einem Rudel voller Wölfe.

„Mach dir nichts draus“, sagte Cayenne, die glaubte zu wissen, was in meinem Kopf vor sich ging. „Er will sich nur wichtigmachen, weil er genau weiß, dass er ein Niemand ist.“

„Ja, wahrscheinlich hast du Recht.“ Ich löste Cios Griff von mir und rutschte von seinem Schoß. „Ich bin dann mal in meinem Zimmer.“ Bevor mich noch jemand aufhalten konnte, war ich bereits aus dem Raum verschwunden. Ich bekam noch mit wie Cayenne Cio daran hinderte mir zu folgen, da war ich auch schon draußen auf dem Flur und machte mich eilig aus dem Staub.

Am liebsten wäre ich nach Hause gelaufen, aber da gab es leider diese Kleinigkeit, die sich Befehl nannte. Niemand in diesem Gebäude würde es mir gestatten, es zu verlassen. Also konnte ich mich wirklich nur in das kleine Zimmer zurückziehen, dass Onkel Tristan mir gestern gegeben hatte.

Doch als ich darin stand, kam mir dieser kleine Rückzugsort einfach nur trostlos vor. Bisher hatte sich noch nicht mal jemand die Mühe gemacht, das Bett zu beziehen. Wozu auch, hatte ich die letzte Nacht doch mit Cio bei Tayfun verbracht.

Oh Gott, ich war noch immer nicht dazu gekommen, mit Cio über seinen Vater und seine Arbeit zu sprechen. Aber er verhielt sich auch so … normal. Gestern war er völlig ausgetickt, aber jetzt schien das vergessen, so als hätte er es einfach abgehakt und würde sich nun einer neuen Perspektive widmen. Wollte ich wirklich, dass sich das änderte, indem ich die ganzen Probleme wieder an die Oberfläche zerrte? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass die Worte des Grafen sich in mein Hirn gebohrt hatten und dort all die Zweifel zum Leben erweckten, die ich selber mit mir herumtrug.

Niedergeschlagen ließ ich mich auf die Kante des unteren Bettes sinken und begann damit in meiner Tasche herumzukramen, einfach nur um meine Finger zu beschäftigen. Die wirren Gedanken wurde ich so aber leider nicht los. Wenn das alles wirklich nur ein großer Zufall ohne jede Bedeutung war, dann folgten die Wächter im Moment einer völlig falschen Fährte. Und wenn das wirklich so war, dann unterschrieb ich damit vielleicht das Todesurteil eines Unschuldigen.

Ich musste etwas tun. Ich brauchte Beweise – eindeutige und unwiderlegbare – die mich entweder mit dem Mörder in Verbindung brachten, oder dafür sorgten, dass in die richtige Richtung ermittelt wurde. Aber wie sollte ich die finden? Es war ja nicht so …

Das Klingeln meines Handys riss mich aus meinen Gedanken, doch als ich auf dem Display lass, wer da versuchte mich zu erreichen, war das nicht unbedingt besser, als das was in meinem Kopf los war. Kiara.

Für einen Moment war ich versucht sie einfach zu ignorieren, aber dann malte ich mir aus, was für Folgen das haben könnte, also nahm ich den Anruf doch entgegen. Das Blut meiner Schwester wollte ich nicht an meinen Händen haben. „Hallo, Kiara.“

„Hey“, begrüßte sie mich. „Hast du schon eine Lösung gefunden, um aus dem HQ rauszukommen?“

Direkt auf den Punkt gebracht. Warum auch sollte sie lange um den heißen Brei herumreden? „Tut mir leid, aber heute war so viel los, dass ich …“

„Du meinst Königin Sadrija.“

Ich nickte, bis mir aufging, dass sie mich ja gar nicht sehen konnte. „Ja. Irgendwie hat das alles andere ein bisschen in den Hintergrund gedrückt. Also …“

„Also hast du noch nicht darüber nachgedacht.“

Ich möchte festhalten, dass ich es nicht mochte, wenn sie meine Sätze einfach unterbrach.

„Okay, Ich versteh schon. Sie ist ja auch viel wichtiger als ich. Ich meine, wenn alles schief läuft, kann ich die Tabletten ja auch immer noch alleine nehmen.“

„Nein“, sagte ich sofort. „Das machst du auf keinen Fall. Ich habe dir gesagt, ich werde dir helfen und ich habe vor mein Wort zu halten.“

„Und wie?“, wollte sie wissen. „Die lassen dich da doch so schnell nicht mehr raus und ich kann nicht ewig warten. Je früher man die Tabletten einnimmt, umso besser. Mit jedem Tag den ich warte, wird es schwieriger werden.“

Das hättest du dir wohl besser überlegt, bevor du die Verhütungsmittel vergisst. „Kiara, ich werde einen Weg finden dir zu helfen, du musst mir nur noch ein wenig Zeit geben.“

„Wie viel?“

„Ich weiß nicht.“

Als es plötzlich an meiner Tür klopfte, schaute ich überrascht auf. Das war nicht Cio. Cio würde nicht klopfen, er würde einfach hereinkommen.

„Eine Woche?“, versuchte Kiara die Wartezeit einzugrenzen.

„Ich weiß nicht“, wiederholte ich nur und erhob mich von meinem Bett. „Warte mal einen kurzen Moment, es hat gerade an der Tür geklopft.“

„Oh, das ist ja auch so viel wichtiger.“ Sie legte einfach auf.

Verdammt, wenn ich nicht bald etwas unternahm, würde sie mir die Entscheidung einfach aus der Hand nehmen und ich müsste dann mit den Konsequenzen leben. Und das, obwohl ich ihr doch nur helfen wollte. Warum nur war ich jetzt eigentlich die Böse?

Wütend über diese ganze verzwickte Situation, riss ich die Zimmertür auf und wollte meinen Frust an dem Störenfried auslassen, doch jedes Wort das mir auf der Zunge gelegen hatte, löste sich einfach in Luft auf. Cayenne. Natürlich. Das ausgerechnet sie nun hier war, nachdem ich gerade noch mit Kiara gesprochen hatte, passte wirklich wie die Faust aufs Auge. Ich konnte mich gerade noch daran hindern loszulachen. An dieser Situation war überhaupt nichts Lustiges.

„Alles okay mit dir?“ Cayenne musterte mich. „Du warst so schnell weg, da wollte ich mal nach dir sehen.“

Ich schaute an ihr vorbei in den Korridor, aber außer ihr war niemand da.

„Ich habe Cio gesagt, ich will mit dir ein Gespräch zwischen Frauen führen und dass er da nur stören würde.“

„Und dann ist er einfach weg geblieben?“ Das konnte ich mir nicht wirklich vorstellen.

Cayenne grinste ein wenig verlegen. „Naja, nicht so wirklich. Ich musste ein wenig mit meinem Odeur herumspielen und ihm befehlen sich ja nicht vom Fleck zu bewegen, bis ich zurückkomme.“

Ja, das klang in meinen Ohren schon glaubhafter.

„Bittest du mich herein?“, fragte sie dann. „Außer natürlich du willst lieber deine Ruhe haben.“

Eigentlich schon, aber … eigentlich war es auch völlig egal. „Klar, komm rein, wenn du möchtest.“ Ich ließ die Tür einfach offen und setzte mich zurück auf meinen Platz.

Cayenne ließ sich nicht lange bitten und trat in den Raum. Dabei ließ sie ihren Blick ein wenig über die Einrichtung schweifen. „Ein wenig … kahl.“

Ich schnaubte. „Hab noch nicht viel Zeit hier verbracht.“

„Hoffen wir mal, dass das auch so bleibt.“ Elegant ließ sie sich neben mir auf der Bettkante sinken. „Weißt du, in meiner Zeit als Königin habe ich eines sehr früh gelernt: Der Adel ist Dumm und ihre Ansichten völlig überholt. Darum sage ich dir, dass du dir nichts von dem was Rouven gesagt hat zu herzen nehmen darfst. Er ist nur ein dummer, selbstverliebter Trottel, der keinen anderen Lebensinhalt hat, als sich selber über alle anderen zu stellen.“

Das mochte schon stimmen, aber … „Was wenn er recht hat?“, sprach ich meine Bedenken aus. „Was wenn wirklich alles nur ein dummer Zufall ist und ich gar nichts mit der ganzen Sache zu tun habe?“

„Dann hast du ein paar Tage im HQ vergeudet.“ Sie griff nach meiner Hand und drückte sie. „Das ist doch zu verkraften, oder?“

„Ja schon, aber …“ Aber im Grunde hatte mich etwas ganz anderes dem Gemeinschaftsraum getrieben. Meine Schwächen und Unfähigkeit, auch nur eine Schlacht alleine zu schlagen. Immer waren es andere, die mich aus brenzligen Situationen befreiten. Ich besaß einfach nicht die Stärke mich zu verteidigen. Da war es doch einfacher die Rute zwischen die Beine zu klemmen und sich zu ducken.

„Aber?“, fragte Cayenne und beugte sich ein wenig vor.

Ich schüttelte den Kopf, unwillig meine Unzulänglichkeit einzugestehen. „Egal. Lass uns von etwas anderem sprechen, dieses Thema deprimiert mich nur.“

Forschend musterte sie mein Gesicht. Offenbar wollte sie das Thema noch nicht beenden, aber sie wollte mich auch nicht drängen. „Okay. Dann erzähl mir von deiner bevorstehenden Hochzeit. Hab ihr schon angefangen zu planen?“

Hm, nicht so wirklich. „In groben Zügen.“

„Das heißt ihr wisst schon wann? Also mit Termin und Ort?“

Naja. „Nein.“

„Macht ihr eine Feier, oder nur die Zeremonie?“

„Äh … keine Ahnung.“

Cayenne zog die Augenbrauen leicht zusammen. „Hast du einen Hochzeitsplaner?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Was genau habt ihr den bisher geplant?“

Ah, endlich eine Frage die ich auch beantworten konnte. „Wir haben schon die drei Kerberosse ausgewählt.“

Sie versuchte es zu vertuschen, aber ich sah genau wie ihr Mundwinkel einen kurzen Moment nach oben zuckte. „Immerhin ein Anfang, jetzt fehlt nur noch der Rest.“

Ja, so konnte man es auch ausdrücken. „Vielleicht magst du mir bei dem Rest ja ein bisschen helfen“, sagte ich vorsichtig. „Immerhin hast du schon einmal geheiratet.“

Ein sanftes Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Zweimal.“

Auf meinem Gesicht erschien ein großes Fragezeichen. Hatte ich da was nicht mitbekommen?

„Damals, kurz nachdem Sadrija das Rudel übernommen hat, bat Sydney mich offiziell seine Gefährtin zu werden. Und naja, was soll ich sagen? Kurz darauf haben wir die Zeremonie abgehalten.“

Ich war baff. „Aber … wie? Ich meine, warum weiß ich davon nichts?“

„Weil wir es heimlich getan haben, nur Sydney und ich. Du bist die erste, der ich das erzähle.“

Oh bitte nein, nicht noch mehr Geheimnisse. „Aha“, machte ich und merkte ein wenig zu spät, dass das wohl nicht die Reaktion war, die sie sich erhofft hatte. „Ich meine, das ist toll … ich, ähm, gratuliere. Das … geht das überhaupt?“ Immerhin erwählte ein Lykaner in seinem ganzen Leben nur einen einzigen Gefährten und der war in ihrem Fall ja Nikolaj gewesen.

Cayenne setzte gerade zu einer Antwort an, als wir hastige Schritte näherkommen hörten. Nur Sekunden Später stand ein freudestrahlender Murphy im Türrahmen und strahlte übers ganze Gesicht. „Das Baby ist da, es ist ein Mädchen!“

 

°°°

 

Vier Tage waren nun schon vergangen, seit ich das Hauptquartier der Themis betreten hatte und langsam aber sicher entwickelte ich einen ausgewachsenen Hüttenkollaps. Nicht nur, dass wir im Fall des Amor-Killers keine neuen Entwicklungen zu verzeichnen hatten und wir nach wie vor in der Luft hingen, die ganze Welt hielt im Moment auch angespannt den Atem an, da seit Tagen keine neuen Leichen aufgetaucht waren.

Nachdem die Geburt von Prinzessin Cataleya Amarok verkündet worden war, hatte das Rudel gefeiert. Zwei Tage, in denen die Lykaner die Sau herausließen und nichts und niemand vor ihnen sicher war. Alle waren völlig aus de Häuschen gewesen und das nicht nur hier im Hof. Auf der ganzen Welt spielten die Lykaner verrückt, so sehr freuten sie sich über den Nachwuchs im Königshaus.

Leider bekam ich davon nicht viel mit, da ich ja praktisch eine Gefangene des HQs war. Ich konnte nichts anderes tun, als warten und hoffen. Und das nun schon seit vier verdammten Tagen.

Und dann immer diese Nachrichten.

Die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst, legte ich das Handy zur Seite. Nein, Kiara rief nicht mehr an, mittlerweile hatte sie dich darauf verlegt mir alle zwei Stunden eine Textnachrichten zu schicken und die wurden immer ungeduldiger. Ich würde sie nicht mehr lange an ihrem Vorhaben hindern können. Wenn mir nicht endlich etwas einfiel, dann würde sie es allein tun und dann konnte was-weiß-ich alles passieren.

Aber es war ja auch nicht nur sie, die ich retten musste, da war noch das kleine Baby in ihrem Bauch. Kiara wusste gar nicht was für ein Glück sie eigentlich hatte. Auch wenn es aus Unachtsamkeit heraus geschehen war, dieses kleine Leben war ein Geschenk, etwas das ich wahrscheinlich nie würde erhalten können. Und sie wollte es einfach wegwerfen, weil es unbequem war. Manchmal verstand ich wirklich nicht, was im Kopf meiner Schwester vor sich ging.

Neben mir regte Cio sich. Wir lagen nebeneinander in meinem Bett, ich halb an ihn gekuschelt und schauten einen Film auf meinem Tablet, das an seinen Beinen lehnte. „Du hast mich noch gar nicht gefragt, was Murphy gesagt hat.“

„Murphy?“ Ich könnte das nicht. Ein Baby einfach so entsorgen, selbst wenn es zu einer unpassenden Zeit kam. Das würde ich einfach nicht übers Herz bringen.

„Du weißt schon, der Kerl der während Miguels Abwesenheit hier das Sagen hat, obwohl er immer behauptet, dass es nicht so ist. Groß, breitschultrig, krumme Nase.“

„Ich weiß wer Murphy ist.“ Nur hatte mein Kopf nur ein bestimmtes Volumen und das war bereits wegen Überfüllung geschlossen.

„Gut zu wissen. Auf jeden Fall nimmt er mich zum nächsten Auftrag mit. Zur Probe versteht sich. Danach sehen wir weiter, aber so wie es im Moment ausschaut, habe ich ganz gute Aussichten auf eine Festanstellung. Natürlich hat Miguel als Chef das letzte Wort in der Sache, aber zu meinem Glück, arbeitet deine halbe Familie hier und der eine oder andere wird sicher ein gutes Wort für mich einlegen.“ Er lehnte sich ein wenig zur Seite und wartete offenbar darauf, dass ich etwas sagte. Was nicht geschah. „Ich hab das starke Gefühl, du hörst mir gar nicht richtig zu.“

„Hm?“

Er lachte leise. „Sag mir worüber du nachdenkst.“

„Über Babys“, antwortete ich, ohne mir weiter den Kopf drüber zu zerbrechen.

Erst blinzelte Cio mich an, dann breitete sich auf seinen Lippen langsam ein Strahlen aus.

Oh nein, da hatte ich jetzt ja etwas angerichtet. „Denk jetzt bloß nichts falsches, es geht dabei nicht um uns.“

„Bist du sicher?“, fragte er verspielt. Das Tablet wurde achtlos zur Seite geschoben, dann rollte er sich schon halb auf mich. „Wir können direkt mit der Familienplanung beginnen. Ich bin allzeit bereit.“

Sein Gewicht auf mir zu spüren und die vertraute Nähe zu fühlen, verlockte mich meine Probleme einfach weit von mir zu schieben und den Moment mit Cio zu genießen. Aber dafür hatte ich gerade keine Zeit. Ich musste nachdenken. Darum drehte ich auch den Kopf weg, als er versuchte mich zu Küssen und damit in seinen Bann zu schlagen.

Cio stutzte, rückte aber nicht von mir ab. „Ist was nicht in Ordnung?“

Ob was nicht in Ordnung war? Die bessere Frage lautete doch wohl, was zur Zeit in Ordnung war. Diese Liste war nämlich wesentlich kürzer. Ein Seufzen kroch über meine Lippen, die Antwort allerdings sparte ich mir.

„Schäfchen?“ Er beugte sich vor. „Was ist los?“

Was los war? Wo sollte ich da nur anfangen? Davon abgesehen, dass ich gar nicht anfangen durfte. Ich hatte versprochen es für mich zu behalten.

„Zaira.“ Er drehte mein Gesicht zu sich, sodass ich seinem Blick nicht länger ausweichen konnte. „Wenn du es mir nicht freiwillig sagen willst, werde ich dich dazu triezen müssen. Du weißt doch wie gerne ich deine Geheimnisse lüfte.“

„Es geht nicht um mich.“ Ich biss mir auf die Lippe. Was sollte ich nur tun? Ich wusste einfach nicht mehr weiter. Aber vielleicht hatte Cio ja eine Idee. Ich könnte mit ihm darüber reden, ohne ihm zu viele Einzelheiten zu geben.

Er wartete geduldig, bis ich mich mit einem Seufzen geschlagen gab. „Eine ... Bekannte von mir ist schwanger, aber sie will das Baby nicht haben. Sie hat sich Pillen besorgt, damit sie es heimlich abtreiben kann und hat mich gebeten sie dabei zu beaufsichtigen, damit ihr nichts passiert. Aber diese Pillen sind gefährlich. Ich versuche sie schon die ganze Zeit dazu zu bringen diese Schnapsidee aufzugeben, aber sie weigert sich. Und jetzt hat sie mir gedroht, wenn ich ihr nicht bald helfe, dann macht sie es eben alleine. Sie will nicht mit ihren Eltern sprechen, weil sie befürchtet, das Baby dann behalten zu müssen.“ Ich sah ihm flehentlich an. „Ich habe Angst um sie. Sie kann dabei sterben. Und dann ist da auch noch das ungeborene Baby. Das darf man doch nicht einfach so wegmachen.“

Mit jedem meiner Worte war das Runzeln auf Cios Stirn tiefer geworden. Die Rädchen in seinem Kopf arbeiteten auf Hochbetrieb. Und dann sagte er aus heiterem Himmel: „Kiara.“

Vor Schreck riss ich die Augen auf. „Was?!“ Oh je, war dieses Piepsen etwa gerade von mir gekommen?

Seine Augen verengten sich leicht. „Mir ist sehr wohl aufgefallen, wie ihr beide auf der Vollmondjagd miteinander getuschelt habt. Und auch dass sie dich seitdem ständig anruft. Das ist für euch beide schon recht ungewöhnlich. Sonst telefoniert ihr vielleicht einmal im halben Jahr miteinander.“

Mist.

Er setzte sich auf und fixierte mich, als wollte er allein mit seinem Blick in meinen Kopf eindringen. „Habe ich Recht? Geht es um Kiara?“

Am besten wäre es, wenn ich es einfach abstreiten würde, aber dann wäre ich wieder da wo ich angefangen hatte und ich wusste wirklich nicht mehr weiter. Warum nur hatte sie nicht an ein Kondom gedacht? Dann müsste ich mich jetzt nicht mit ihren verdammten Problemen herumschlagen.

„Zaira, bitte, sag es mir.“

Meine Lippen pressten sich zusammen, aber letztendlich ließ ich trotz meines Versprechens einfach den Kopf hängen. „Ich habe ihr versprochen, niemanden etwas davon zu erzählen.“

Cio fuhr auf, stieg aus dem Bett, schüttelte den Kopf und warf mir einen Blick zu. Dann zog er sein Handy aus der Hosentasche.

Meine Augen verengten sich misstrauisch. „Was hast du vor?“

„Was wohl, ich werde Cayenne anrufen.“

Mit einem „Nein!“ sprang ich auf und riss ihm das Handy aus der Hand. Ich hielt es versteckt hinter meinem Rücken und wich vor ihm zurück. „Das darfst du nicht, das würde sie mir niemals verzeihen.“

Er schaute mich an, als würde er eine Fremde vor sich sehen. Der Ausdruck wich aber schnell Verärgerung. „Willst du riskieren, dass sie stirbt, nur weil sie einen dummen Fehler gemacht hat und sich jetzt nicht den Konsequenzen stellen will?“

„Nein, natürlich nicht. Das ist doch gerade mein Problem.“ Ich warf die Arme in die Luft. „Aber wenn du jetzt Cayenne anrufst, dann weiß sie, dass ich den Mund aufgemacht habe.“

„Das ist doch völlig egal, hier geht es um ihr Leben! Du hast es doch selber gesagt, diese Pillen sind gefährlich!“

„Meinst du das weiß ich nicht? Ich kann an nichts mehr anderes denken, aber was soll ich denn machen?“

„Du hättest es Cayenne sagen müssen, sobald du es erfahren hast!“, fuhr er mich in einem Ton an, der mich krängte. So hatte er noch nie mit mir gesprochen. Aber eigentlich sollte ich mich nicht wundern, schließlich war Kiara mit ihm zusammen aufgewachsen. Sie war ihm wichtig und mein Schweigen konnte ihr schaden.

„Es tut mir leid“, sagte ich leise.

„Das sollte es auch.“

Ja, das tat weh. Ich biss die Zähne zusammen.

„Dir bleiben jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder du hoffst weiter auf ein Wunder, oder du tust das Richtige. Ich jedenfalls werde nicht einfach daneben stehen und einem Unglück entgegen sehen, dass sich leicht verhindern lässt.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und steuerte die Tür an.

„Wo gehst du hin?“

„Ich fahre jetzt zu Kiara, um ihr den Kopf zurecht zu rücken und dann werde ich zu Cayenne gehen und ihr sagen was los ist. Denn mir ist egal ob Kiara sauer auf mich ist. Sie wird drüber hinweg kommen. Und selbst wenn nicht, besser sie ist beleidigt und wohlauf, als tot!“ Er riss die Tür auf, marschierte raus und knallte sie hinter mit so viel Wuchst zu, dass ich zusammen zuckte.

Ich stand da und konnte nicht fassen, was hier gerade geschehen war. Aus dem Bett hörte ich noch immer den Film auf meinem Tablet. Eben hatten wir noch miteinander gekuschelt und alles war in Ordnung gewesen. Aber jetzt …

Er war einfach gegangen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass wir jemals miteinander gestritten hätten, nicht über ernsthafte Themen, nicht so. Cio war noch nie sauer auf mich gewesen, nicht auf diese Art. Aber jetzt war er es und dieses Gefühl mochte ich nicht. Es schmerzte.

Um das wieder zu regeln, gab es nur eine Möglichkeit. Ich wog sein Handy in meiner Hand. Jetzt würde Cayenne es auf jeden Fall erfahren und Kiara würde ihr Vertrauen in mich verlieren. Aber Cio hatte Recht, es war von Anfang an meine Pflicht gewesen, etwas zu sagen. Es gab nur noch eines, was ich tun konnte. Darum suchte ich mir auf Cios Handy Cayennes Nummer heraus und drückte anrufen.

Ein paar angespannte Sekunden stand ich einfach nur da und bangte darum, was nun geschehen würde. Dann wurde am anderen Ende abgenommen.

„Jo?“

„Hey, Cayenne, ich bin es … Zaira.“

In der Leitung blieb es kurz still.

„Alles okay bei dir? Du hörst dich so seltsam an.“

„Ja, weil … pass auf, ich muss dir etwas wichtiges erzählen.“ Nur zögernd begann ich ihr von dem Problem ihrer Tochter zu erzählen und wie Kiara damit zu mir gekommen war, um mich um Hilfe zu bitten. Und dass Cio mich nun praktisch zwang ihr alles zu erzählen, hielt ich auch nicht zurück. „Es tut mir leid“, endete ich. „Ich wollte ihr nur helfen und hab die ganze Zeit gehofft, dass sie es sich vielleicht noch mal anders überlegt, aber sie will einfach nicht von ihrem Plan abrücken.“

„Ich verstehe.“ Ihre Stimme klang so tonlos und beherrscht, dass ich nicht wusste, was ich davon halten sollte. „Danke dass du es mir gesagt hast.“

„Es tut mir leid“, sagte ich noch einmal. „Bitte sei nicht sauer auf sie. Sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte.“

„Ich kümmere mich darum.“

„Okay.“

Als sie meine geschlagene Stimme hörte, seufzte sie. „Zaira, ich gebe dir daran keine Schuld. Ich bin zwar nicht glücklich darüber, dass du es mir so lange verschwiegen hast, aber du kannst nichts dafür. Kiara kann ziemlich manipulativ sein, wenn sie etwas will und darum hat sie sich wohl das schwächste Glied der Familie rausgesucht. Sie wusste einfach, dass du den Mund halten würdest, egal ob du ihrem Plan zugestimmt oder abgelehnt hättest.“

Autsch. Das zu hören tat weh. Also war ich nicht nur dumm, sondern auch noch naiv. Da ging es mir doch gleich viel besser.

„Also mach dir bitte keine Vorwürfe. Okay?“

Was blieb mir anderes übrig, als mit „Ja, okay“ zu antworten?

„Gut. Aber ich werde dich jetzt trotzdem abhängen. Ich muss ein ernstes Wörtchen mit meiner Jüngsten über Verantwortung führen.“

„Natürlich. Dann … äh, viel Glück, schätze ich.“

„Bis bald, Zaira.“

Sie unterbrach die Verbindung zuerst, weswegen ich wieder allein in meinem Zimmer stand ich nicht recht wusste, was ich als nächstes tun sollte. Ich könnte Cio anrufen und ihm erzählen, dass ich Cayenne alles gebeichtet habe. Zumindest könnte ich das, wenn ich ihm nicht sein Handy weggenommen hätte. So blieb mir gar nichts anders übrig, als mich wieder aufs Bett zu setzten und darauf zu warten, dass er zurück kam.

Eine Stunde verging. Zwei. Mein Blick glitt immer wieder zur Digitaluhr auf Cios Handy. Er hatte ein Foto von mir als sein Hintergrundbild gewählt. Aber da war er nicht so sauer auf mich gewesen.

Der Nachmittag ging in den Abend über und ich musste mir wohl oder übel eingestehen, dass Cio ziemlich sauer auf mich war und so schnell nicht wieder bei mir auftauchen würde. Das hatte ich so richtig verbockt und ich konnte nicht mal jemand anderem die Schuld dafür in die Schuhe schieben. Wäre ich doch nur gleich zu Cayenne gegangen. Dann wäre mir nicht nur endloses Wälzen des Problems erspart geblieben, sondern auch die Auseinandersetzung mit Cio.

Leider war man immer erst hinterher schlauer und ich war da leider keine Ausnahme von der Regel. Natürlich war es sein gutes Recht auf mich sauer zu sein, auch wenn es meine Situation nicht besser machte. Ich konnte ja nicht mal das HQ verlassen, um mich auf die Suche nach ihm zu machen, da ich hier nicht raus durfte. Aber mein Zimmer, das durfte ich verlassen. Und das tat ich auch, bevor der Anblick meiner kahlen Wände mich noch verrückt machte. Also verließ ich mein Bett und schaute auf der Suche nach Ablenkung im Gemeinschaftsraum vorbei. Wie nicht anderes zu erwarten, war er bis eine Fliege völlig ausgestorben. Wozu gab es diesen Raum eigentlich, wenn die Themis ihn doch so gut wie nie nutzten?

Einen Moment war ich versucht mich auf dem Sofa in der Ecke nieder zu lassen und den Fernseher einzuschalten. Aber im Grunde hätte ich dann auch einfach in meinem Zimmer bleiben können. Also begann ich mit einer ziellosen Wanderung im HQ.

In mein Zimmer zurückgehen wollte ich nicht. Da war ich nur allein und würde nachdenken und mir Vorwürfe machen und darum bangen vielleicht einen so großen Fehler gemacht zu haben, dass er mir nicht verzeihen konnte.

Jetzt mal doch nicht gleich den Teufel an die Wand! In allen Beziehungen wird gestritten. Umso besser ist der anschließende Versöhnungssex.

War nur fraglich, ob Cio das auch so sah.

Kurz war ich versucht Kaspar anzurufen, aber der würde keine Gelegenheit ungenutzt lassen, um auf meinem Freund herumzuhacken. Bei Aric brauchte ich es gar nicht erst versuchen, der war in Beziehungsangelegenheiten noch hilfloser als ich. Blieb also nur noch Alina. Ich wog gerade die Pro und Kontra ab, als ich an einer Tür vorbei kam und mir klar wurde, dass es da vielleicht noch jemanden gab, der mich ein wenig ablenken konnte. Vielleicht war er sogar besser als alle anderen zusammen, denn er würde sich sicher nicht für meine kleinen Problemchen interessieren.

Aber was würde Cio dazu sagen, wenn ich mich einfach bei Tayfun verkroch? Es würde ihm sicher nicht gefallen. Andererseits, nach dem Biss vor ein paar Tagen, hatte er vielleicht gar kein Problem damit. In den letzten Tagen verstanden die beiden sich schließlich sehr gut, auch wenn bei mir hin und wieder noch der leichte Groll meines Wolfes hochkochte und ich deswegen manchmal knurrte.

Ich zögerte, hob dann aber die Faust und klopfte vorsichtig an. Im nächsten Moment überlegte ich allerdings bereits, ob ich vielleicht noch schnell die Flucht ergreifen könnte, bevor er dazu kam darauf zu reagieren. Oder wenn ich ganz großes Glück hatte, dann war er vielleicht nicht mal in seinem Zimmer. Ja, er war bestimmt nicht da.

Zufrieden, dass ich die Situation so gut gemeistert hatte, nickte ich mir zu. Leider wurde die Tür im nächsten Moment geöffnet.

Als Tayfun mich sah, wirkte er erst überrascht, begann dann aber sehr schnell auf sehr charmante Weise zu lächeln. „Oh, hallo. Was treibt dich den zu mir?“

Ich konnte seine Fänge sehen, die Fänge mit denen er mich gebissen hatte und ein Schauder der Erinnerung rieselte über meinen Rücken. Und genauso gut konnte ich sehen, dass er außer einer bequemen Jogginghose nichts am Leib trug. „Ähm …“, machte ich und schaute nach links und rechts, einfach um etwas zu tun zu haben.

Er neigte den Kopf neugierig zu Seite. „Möchtest du vielleicht hereinkommen?“

„Da bin ich mir selber noch nicht ganz sicher.“

Das ließ ihn herzlich grinsen. „Na komm schon.“ Er schob die Tür einladend weiter auf. „Ich beiße auch nur, wenn du mich ausdrücklich darum bittest.“

Wie beruhigend. „Ich denke, deine Zähne darfst du heute für dich behalten.“ Ich schlüpfte in den Raum und stellte fest, dass er aufgeräumt hatte. Genaugenommen sah es hier heute aus wie in einer Mönchszelle.

„Wie schade.“ Tayfun schloss die Tür hinter mit wieder, warf sich auf sein Bett und klopfte einladend neben sich.

Ich nahm diese Einladung nur halb an, indem ich meine Schuhe von den Füßen trat und mich im Schneidersitz bei ihm auf der Matratze nieder ließ. „Und, was machst du gerade?“

„Ich lese ein Buch.“ Zum Beweis zog er eine zerknitterte Ausgabe von Paradise Lost, geschrieben von John Milton hervor.

„Ich wusste gar nicht, dass heutzutage wirklich noch jemand richtige Bücher ließt, wo doch alle E-Books und Tablets und Laptops besitzen.“

„Nichts geht über das Lesevergnügen mit einem echten Buch in der Hand. Dieser ganze Hyphe von diesem computerisierten Müll war noch nie was für mich gewesen. Da habe ich doch lieber ein paar zerknitterte Seiten in der Hand.“

Hm, er hatte schon recht, manchmal war es ganz nett ein Buch in der Hand zu halten, aber deswegen waren E-Books noch lange nicht schlecht. Ich mochte beides.

Tayfun legte das Buch zurück in die Ecke. „Du bist doch bestimmt nicht hier aufgetaucht, weil du über Bücher sprechen möchtest.“

„Nein, nicht wirklich“, gab ich zu und zupfte an einem losen Faden meiner Hose. „Ich wollte nur … ich weiß auch nicht. Wahrscheinlich suche ich einfach nur ein wenig Ablenkung.“

„Ablenkung, hm?“ Er zog sich ein Kissen heran und stopfte es sich in den Rücken. „Möchtest du darüber reden?“

„Ich weiß nicht. Nicht so wirklich.“ Eigentlich wollte ich einfach nur … ach, ich hatte keine Ahnung was genau ich im Moment wollte. Naja, außer Cio. Aber der wollte ja gerade nichts von mir. „Hast du heute noch was vor?“

„Warum? Was hast du geplant?“

„Gar nichts.“ Das war ja mein Problem. „Naja, eigentlich wollte ich den Abend mit Cio verbringen, aber der ist sauer auf mich.“

„Ah“, machte Tayfun. „Jetzt verstehe ich warum du hier bist. Du suchst eine neue unkomplizierte Beziehung. Aber ich muss dich leider enttäuschen, ich bin nicht so der Typ für feste Sachen, ich bleibe lieber ungebunden.“

Nicht die Augen zu verdrehen, war wirklich schwer. „Wie gut, dass du mich darüber aufgeklärt hast, bevor ich mich Hals über Kopf in dich verlieben konnte.“

Er nickte. „Aber rummachen können wir trotzdem, wenn du möchtest.“

Ich nahm das nächste Kissen, dass ich erreichen konnte, und warf es ihm direkt ins Gesicht.

„Hey!“ Er schubste es auf den Boden. „Ein einfaches Nein hätte auch gereicht.“

„Ich fand es so leichter. Damit …“

Ein Handy klingelte. Zuerst glaubte ich es sei Cios. Keine Ahnung warum, aber als ich das Zimmer verlassen hatte, hatte ich es einfach eingesteckt. Aber es war nicht Cios, wie ich nach einem kurzen Check herausfand, es war mein eigenes. Unbekannter Teilnehmer.

Cio!

Natürlich war er es. Ich hatte ja schließlich noch sein Handy, also konnte er mich von da nicht anrufen. Hastig hielt ich es mir ans Ohr. „Ja?“

„Was habe ich dir eigentlich getan, dass du mir das antust?!“

Nein, es war nicht Cio, wie mir sofort klar wurde. „Kiara?“

„Ich habe dir vertraut und du hast mich einfach verraten!“, warf sie mir vor. Ihre Stimme klang verweint. „Weißt du was Mama jetzt von mir verlangt? Ich muss das Baby kriegen! Du hast mein Leben ruiniert!“

Sie darauf hinzuweisen, dass sie allein es gewesen war, die das Kondom vergessen hatte, war in diesem Moment wohl nicht unbedingt die richtige Strategie. „Hör zu, es tut mir leid, aber …“

„Mich interessiert nicht was du zu sagen hast. Ich hasse dich!“ Und damit legte sie wieder auf.

Ich drückte die Lippen zusammen und ließ langsam das Handy in den Schoß sinken. Ich hatte doch gewusst was kommen würde. Es tat trotzdem weh.

„Da scheint jemand ziemlich sauer auf dich zu sein.“

War ja klar, dass er das mitangehört hatte, sie hatte ja auch laut genug geschrien. „Im Moment scheint so ziemlich jeder auf mich sauer zu sein.“ Okay, das war ein kleinen wenig übertrieben, aber es fühlte sich so an.

„Ich nicht“, sagte er sofort. „Ich mag dich.“

Zum ersten Mal seit Stunden spürte ich wieder ein Lächeln auf meinen Lippen.

„Und weist du was ich deswegen jetzt machen werde?“

„Was?“, fragte ich misstrauisch und war mir nicht so sicher, ob ich das wirklich wissen wollte.

„Ich werde deine Verbindung zur Außenwelt kappen, damit ich dich für den Rest des Abends ganz für mich alleine habe.“ Damit nahm er mir das Handy aus der Hand und schaltete es einfach aus. „Und damit du nicht in Versuchung kommst es einfach wieder einzuschalten, werde ich es hier aufbewahren.“ Damit schob er es unter sein Kissen.

Ich schmunzelte und zog dann Cios Handy aus der Hosentasche. „Ich habe noch eines.“

„Oh Mann.“ Auch das schnappte er sich und schaltete es aus. „Sonst noch irgendwelche Dinge, die ich dir wegnehmen muss?“

„Nein, jetzt trage ich nur noch meine Kleider am Leib.“

Sein Grinsen wurde so richtig dreckig.

„Denk nicht einmal daran“, warnte ich ihn.

„Spaßbremse.“ Er tastete zwischen seinen Decken herum, bis er eine Fernbedienung zutage förderte – was versteckte da sonst noch alles in seinem Bett? Damit schaltete er einen kleinen Fernseher auf dem Tisch an. „Irgendwelche Wünsche?“

„Nein, ist mir egal. Nur keine Nachrichten.“

„Also kein Bildungsfernsehen für dich.“

Wie witzig. „Das hat gar nichts mit Bildung zu tun. Ich hab für heute nur einfach schon zu viele schlechte Nachrichten bekommen.“ Mehr brauchte ich nun wirklich nicht.

Tayfun zappte durch die Kanäle. „Was neues vom Amor-Killer?“

„Nein“, sagte ich kurz angebunden. Dieses Thema wollte ich für heute ruhen lassen. Deswegen war wohl ein Themenwechsel angesagt. „Sag mal, hast du was zu trinken da?“

Er schaute mich an, begann zu grinsen und hielt mir dann sein Handgelenk hin. „Nur zu, bedien dich ruhig. Aber mach mich hinterher bitte nicht für die Folgen verantwortlich.“

Ich zog eine Augenbraue nach oben, die deutlich sagte: dein Ernst? „Das habe ich nicht gemeint und das weißt du auch.“

Mit einem Seufzen erhob er sich aus dem Bett. „Wie schon gesagt, Spaßbremse.“

Nur um das mal klarzustellen, ich war keine Spaßbremse. Aber im Gegensatz zu ihm besaß ich einen Hauch von Anstand. „Ich brauche im Moment eben kein Blut.“

„Dir ist schon klar, dass man auch saugen kann, wenn man kein Hunger hat?“ Er öffnete seinen Schrank und zog eine Kiste mit Seltersflaschen hervor.

„Natürlich. Aber du bist nicht Cio, was heißt, dass ich dich nicht beißen werde.“

„Du vergisst, das hast du schon.“ Er grinste mich über die Schulter hinweg an, nahm eine Flasche und reichte mir mit einem „hier“ ohne die Kiste zurück in den Schrank zu stellen. Dann setzte er sich wieder neben mich.

Ich ignorierte ihn, genau wie die Tatsache, dass er recht hatte und nahm einen großen Schluck aus der Flasche.

„Strafst du ich jetzt mit Schweigen, weil ich die Wahrheit gesagt habe?“

Als ich wieder nichts sagte, stieß er mich mit dem Arm an. Leider hatte ich noch immer die Flasche am Mund. Und so kam es wie es kommen musste. Das Mundstück rutschte ab und im nächsten Augenblick war mein ganzes Hemd von oben bis unten durchnässt. Ich schaffte es gerade noch so die Flasche nicht auf den Boden fallen zu lassen. Dann saß ich wie ein begossener Pudel da – im wahrsten Sinne des Wortes.

Tayfun versuchte seine Belustigung zu verstecken. Hauptsächlich weil ich ihn anfunkelte, als wollte ich ihm den Hals umdrehen. Leider war er nicht besonders gut darin und es endete in einer seltsamen Grimasse. „Tut mir leid, aber ich muss das jetzt sagen: Wet T-shirt Contest!“ Er riss jubelnd die Arme hoch und schaffte es gerade noch lachend auszuweichen, als ich nach ihm schlug.

„Das ist nicht lustig“, schimpfte ich und erhob mich vom Bett. Toll, jetzt musste ich mich auch noch umziehen.

„Doch, ist es“, widersprach Tayfun mir sofort und stand ebenfalls auf. Nur ging er zu seinem Kleiderschrank und zog ein großes Shirt von einem der Stapel. „Hier.“ Er hielt es mir unter die Nase. „Das ist trocken.“

Argwöhnisch schaute ich von dem Shirt zu ihm. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich mich hier direkt vor dir umziehe, oder?“

Das brachte ihm zum Grinsen. „Keine Sorge, ich drehe dir einfach den Rücken zu und verspreche auch nicht zu schummeln, auch wenn ich noch so sehr in Versuchung bin.“ Er hielt mir das Shirt direkt unter die Nase. „Komm schon. Sonst musst du extra zurück in dein Zimmer und dann müsste ich dich erst rauslassen und dann wieder reinlassen und zwischendurch auch noch warten.“

„Wie kommst du darauf, dass ich zurück kommen würde?“

Er schenkte mir nur ein stummes Lächeln, bis ich seufzend nach dem Oberheil griff und ihm den Rücken zudrehte.

„Und wage es ja nicht zu gucken.“

„Indianerehrenwort.“

Mit einem Blick über die Schulter versicherte ich mich, dass er mir wirklich den Rücken zugekehrt hatte und dann machte ich einen auf Supermann – fehlte eigentlich nur noch die Telefonzelle.

Das Shirt war weiß, ein wenig abgetragen und reichte mir bis auf die Oberschenkel. Aber es war weich und vor allen Dingen trocken. „Okay, fertig, kannst wieder gucken.“

„Oh, jetzt wo alles Interessante wieder verhüllt ist.“

Ich warf das nasse Hemd nach ihm. Er fing es mit Leichtigkeit und hing es dann zum Trocknen über die Stuhllehne. Dann legte er sich zurück in sein Bett und klopfte wieder neben sich auf die Matratze.

„Los, mach es dir bequem. Da kommt gleich ein Film, den ich sehen möchte.“

„Klingt ja sehr spannend.“ Erst wollte ich mich wieder in den Schneidersitz begeben, aber dann dachte ich mir, warum eigentlich? Wir wollten schließlich einen Film schauen, und dazu hatte ich es gerne bequem. Also streckte ich mich neben Tayfun aus und achtete dabei sorgsam darauf, ihn nicht zu berühren.

Er musste es bemerken, da ich eine ganze Weile neben ihm hin und her rutschte, bis ich die perfekte Position gefunden hatte, sagte aber nichts dazu. Stattdessen wartete er geduldig, bis ich endlich still lag, stopfte sich dann noch ein Kissen in den Rücken um höher zu liegen und schaltete auf einen anderen Sender.

„Danke“, sagte ich, während ich mir eine Werbung für Zahnpaste anschaute.

„Bitte, gern geschehen, worum auch immer es geht.“

„Einfach dafür das du da bist.“ Ich drehte das Gesicht bis ich ihn anschauen konnte. „Das meine ich ernst.“

Ein viel sanfteres Lächeln, als ich je an ihm gesehen hatte, erschien auf seinen Lippen. „Hey, das ist alles nur Eigennutz. Ohne dich würde ich den Abend allein verbringen und müsste wieder Selbstgespräche führen. So ein bisschen Abwechslung ist ganz nett.“

Oh Mann. „Du hast einen Knall.“

„Ich weiß, aber der macht mich so liebenswert.“ Er drehte sich auf die Seite und hob den Arm, als wollte er ihn über mich legen, überlegte es sich dann aber anders, und quetschte ihn zwischen sich und mich.

Ich wandte mich dem Fernseher wieder zu, bevor ich noch auf die dumme Idee kam ihm zu erlauben, mich in den Arm zu nehmen und wartete darauf, dass der Film begann.

„Aber ich freue mich trotzdem, dass du hier bist“, fügte er noch leise hinzu.

Dazu blieb ich still und rief mir wieder in Erinnerung, dass ich ihn doch eigentlich gar nicht mochte. Was es eigentlich nur umso seltsamer machte, dass ich hier war.

Wo nur war Cio abgeblieben? Dachte er gerade an mich? War er noch sauer? Vielleicht war er ja noch bei Kiara, obwohl ich das bezweifelte, da sein Vater dort wohnte und die beiden sich seit der großen Auseinandersetzung tunlichst aus dem Weg gingen.

Vielleicht sollte ich Anouk anrufen und nachfragen, ob er nach Hause gekommen war.

„Hey.“ Tayfun berührte mich vorsichtig an der Schulter. „Alles okay?“

„Klar!“ Ich versuchte zu lächeln. „Warum auch nicht?“

„Weil du seit zehn Minuten keinen Ton mehr von dir gegeben hast. Also entweder bin ich ein so schlechter Gastgeber, dass du bereits vor Langeweile eingeschlafen bist, oder aber du denkst an Cio und euren Streit.“

War ich wirklich so durchschaubar? „Ich denke er braucht nur ein bisschen Zeit. Ich hab eben Mist gebaut.“ Und das obwohl ich eigentlich alles nur besser machen wollte.

„Ja“, stimmte Tayfun mir zu und drückte meine Schulter. „Du hast recht, das wird schon wieder.“

Genau. Ich musste nur ein wenig Geduld haben. Darum richtete ich meine Aufmerksamkeit auf den Fernseher und störte mich auch nicht daran, dass Tayfun seine Hand auf meiner Schulter liegen ließ.

Leider schaffte ich es nicht mich auf die Handlung des Filmes zu konzentrieren. Weder bei diesem, noch bei dem danach.

Als ich mich dazu entschloss auf mein eigenes Zimmer zu gehen, waren schon mehrere Stunden vergangen und Tayfun bereits eingeschlafen. Im Schlaf wirkte er so viel ernster, als im wachen Zustand. Die Lippen fest zusammengekniffenen, hatte er eine Hand ins Kissen gekrallt. Offensichtlich bestanden seine Träume nicht aus Regenbögen und Einhörnern. Darum löste ich seine Hand, nahm sie in meine und beschloss einfach liegen zu bleiben.

Der Schlaf kam überraschend schnell, doch wirklich erholsam war er nicht. Immer wieder wurde ich halb wach, irritiert davon, dass da nicht Cio neben mir lag. Aber erst als es am nächsten Morgen sehr nachdrücklich an der Tür klopfte, bekam ich meine Augen einen Spalt breit auf.

Ich lag auf der Seite, das Gesicht Tayfun zugewandt, der selber verschlafen blinzelte.

„Ich hasse morgendliche Störenfriede“, murmelte er leise.

„Schaff dir einen Wachhund an, der alle Quälgeister vor zehn Uhr wegjagt.“

Ein verschlafenes Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Möchtest du nicht mein Wachhund sein?“

„Nicht vor zehn Uhr.“

Ein weiteres Klopfen machte uns darauf aufmerksam, dass da jemand gerne Zutritt hätte.

Seufzend hievte Tayfun sich hoch und kletterte über mich rüber. Ich dagegen drehte mich nur herum, zog mir die Decke bis ans Kinn und beobachtete mit halb geschlossenen Augen, wie er durch das kleine Zimmer ging und die Tür einen Spalt öffnete. „Oh, du bist es nur.“ Er gähnte ausgiebig.

„Weißt du wo Zaira ist?“

Cio! Mit einem Schlag war meine Müdigkeit verschwunden und ich saß aufrecht im Bett.

Seine Stimme klang äußerst angespannt. „Gestern Abend sind zwei neue Leichen aufgetaucht und ich kann sie nirgendwo finden. Ihr Handy ist aus und seit gestern hat sie niemand mehr gesehen.“

Was? Der Amor-Killer hatte wieder zugeschlagen? Und dann gleich zwei Leichen in einer Nacht?

Als Tayfun wortlos die Tür so weit öffnete, dass Cio einen Blick aufs Bett werfen konnte, lächelte ich vorsichtig. Zwar hatte ich Cayenne angerufen, wie er wollte, doch ich war mir nicht ganz sicher, ob die Sache damit zwischen uns geklärt war. „Hey“, begrüßte ich ihn und strich mit eine Haarsträhne hinters Ohr.

Bei meinem Anblick, runzelte er die Stirn, musterte mein vom Schlaf zerwühltes Haar und das Shirt, bevor er mit einem Blick feststellte, das Tayfun noch immer nichts weiter als die Jogginghose trug.

Seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Auf einmal wandte er sich einfach ab und verschwand einfach aus meinem Blickfeld.

Oh nein.

„Hey“, rief Tayfun ihm noch hinter. „Wo willst du denn hin?“

Ich war schon halb aus dem Bett, als er das fragte. Ich würde ihn nicht noch einmal einfach so verschwinden lassen, ohne die Chance zu haben ihn irgendwie zu erreichen. „Cio!“, rief ich und drängte mich an Tayfun vorbei aus dem Zimmer. Cio war bereits am Ende des Korridors.

Ich rannte ihm auf Socken hinterher und erreichte ihn gerade, als er einen Fuß auf die Treppe setzen wollte. Hastig griff ich nach seinem Arm, doch in dem Moment, als ich ihn berührte, riss er sich von mir los, als wollte er auf gar keinen Fall von mir angefasst werden. Und sein Blick dabei … das war schon körperlicher Schmerz.

Lass dich auf keinen Fall von ihm zurückweisen!

„Hör zu“, begann ich und legte eine Hand aufs Treppengeländer, damit er nicht einfach nach oben abhauen konnte. „Ich weiß, dass es mit einer einfachen Entschuldigung nicht getan ist, aber ich habe Cayenne angerufen und ihr alles gesagt. Sie weiß jetzt was mit Kiara los ist und kümmert sich darum. Und … und … ich weiß das ich einen Fehler gemacht habe. Ich wollte doch nur helfen, das musst du mir glauben.“

Er schaute mich nur mit einer Kälte an, die ich nicht verstand. „Bist du jetzt fertig?“

Was? Nervös wickelte ich den Saum meines Shirts um meine Hand. „Ich … ich weiß nicht.“ Verdammt, was sollte ich den noch sagen? Ich hatte gehofft, nach einer Nacht könnten wir uns wieder vertragen. „Bitte Cio. Ich wollte Kiara doch nicht schaden, ich …“

„Glaubst du wirklich hier geht es um Kiara?!“, schnauzte er mich plötzlich an.

Unwillkürlich machte ich einen Schritt zurück und stolperte dabei fast auch noch über die unterste Treppenstufe. „Ja“, sagte ich unsicher und musterte ihn verwirrt. Worum sollte es denn sonst gehen? „Du bist sauer auf mich, weil ich niemanden gesagt habe, was mit Kiara los ist.“

„Kiara ist mir gerade völlig scheiß egal!“, fauchte er mich an. Dabei ging eine Welle der Wut von ihm aus, die mich einschüchterte. Wäre Cio nicht mein Cio, hätte ich sicher den Rückzug angetreten. Aber das hier war eben mein Cio. Ich würde mich nicht einfach so von ihm verjagen lassen, nicht bevor ich herausgefunden hatte, worüber er sich so aufregte.

Ich schluckte und schaute suchend nach rechts. Tayfun stand noch in der offenen Zimmertür und beobachtete uns wachsam. „Dann … ich.“ Nervös zuckte meine Zunge über die Lippen. Dabei dachte ich fieberhaft darüber nach, was ihn so wütend gemacht haben konnte. Leider fiel mir nur die Sache mit Kiara ein. „Was hab ich falsch gemacht?“

Cio schnaubte, als könnte er es nicht fassen, dass ich es überhaupt wagte, ihm so eine Frage zu stellen. „Was du falsch gemacht hast?!“ Er kam einen drohenden Schritt auf mich zu, der mich automatisch mit dem Rücken zur Wand zurückweichen ließ. „Wie wäre es damit, dass du sofort zu einem anderen gerannt bist, nur weil unser Himmel mal nicht voller Glücksbärchis hängt.“

„Was?“ Was faselte er denn da?

„Tu nicht so dumm“, knurrte er mich an. „Das ist schließlich nicht das erste Mal dass ich das erlebe. Der Haussegen hängt ein wenig schief und du suchst sofort Trost bei einem anderen! Das mache ich bestimmt nicht noch mal mit!“

Und da machte es bei mir Klick. Hier ging es nicht um Kiara, sondern um mich und Tayfun. Er hatte mich in dem Bett eines anderen gefunden. So wie damals Iesha in Arics Bett, kurz bevor alles in die Brüche gegangen war. „Du denkst … nein, das ist falsch. Ich bin beim Fernsehen eingeschlafen.“ Vorsichtig streckte ich eine Hand nach ihm aus, doch er zuckte sofort davor zurück. „Bitte, das musst du mir glauben.“

„Hältst du mich wirklich für so dumm? Schau ihn dir doch an! Er ist schon seit dem ersten Tag scharf auf dich und du trägst seine Klamotten!“

„Aber doch nur, weil ich mich bekleckert habe. Ich …“

„Bekleckert? Ich kann ihn verdammt noch mal überall an dir riechen!“

Ja, weil ich in seinem Bett direkt neben ihm geschlafen hatte. „Cio, du musst mir glauben, da ist wirklich nichts gewesen. Frag doch Tayfun und …“

„Du willst das ich mit dem Arschloch spreche, der die ganze Nacht halbnackt neben dir im Bett gelegen hat?“

Hm, wenn er das so ausdrückte, war das vielleicht doch keine so gute Idee. „Vor allen Dingen möchte ich, dass du dich ein wenig beruhigst.“ Sein Verhalten schüchterte mich nämlich ein.

„Beruhigen? Meine verdammte Freundin steigt mit einem anderen Kerl in die Kiste und du willst, dass ich mich beruhige?!“

Wie bitte? „Das denkst du? Dass ich mit Tayfun geschlafen habe, weil du sauer auf mich bist?“ Das konnte ich nicht glauben. „Hast du wirklich so wenig Vertrauen zu mir?“

Die ganze Wut verschwand hinter einer Maske und das ängstigte mich noch mehr, als wenn er mich weiter angeschrien hätte. „Ich brauche kein Vertrauen, wenn ich die Beweise so eindeutig vor der Nase habe.“

Etwas in seiner Stimme ließ mich innerlich erstarren. Dieser Ton, dieser kalte, schneidende Ton. „Was soll das heißen?“, fragte ich ohne wirklich eine Antwort darauf haben zu wollen.

Cio starrte mich nur stumm an.

Etwas begann mir die Kehle zuzuschnüren und in meinem Herzen machte sich eine kalte Angst bemerkbar. „Sag mir was du damit meinst“, forderte ich und wagte es kaum die nächsten Worte auszusprechen. „Du willst doch nicht … du kannst nicht … machst du Schluss?“

 

°°°°°

Weinendes Herz

 

In seinen Augen stand der gleiche Schmerz, der mir gerade das Herz zerriss und einen kurzen Moment bangte ich um seine Antwort.

Aber dann rieb er sich nur müde übers Gesicht, bevor die Worte leise über seine Lippen kamen. „Ich weiß es nicht.“

Auf einmal schien meine Lunge nicht mehr richtig funktionieren zu wollen. Ich versuchte Luft zu holen, doch mein Brustkorb krampfte sich schmerzvoll zusammen. „Was sagst du da?“

„Ich weiß es nicht“, wiederholte er und wich einen Schritt vor mir zurück. Dabei schüttelte er den Kopf, als wollte er seine Gedanken loswerden. „Ich weiß nur, dass ich dich im Moment nicht sehen will.“

„Aber … es ist doch gar nichts passiert! Ich bin einfach nur eingeschlafen!“ Deswegen konnte er mich doch nicht verlassen!

„Wenn ich dir das nur glauben könnte. Leider hat das Leben mich gelehrt, immer dann einen Arschtritt zu bekommen, wenn man es am wenigsten erwartet.“

„Aber …“ Ich stolperte einen Schritt nach vorne und wollte nach ihm greifen, doch er wich wieder vor meiner Berührung zurück. Der Schmerz bohrte sich in mein Herz. „Cio“, sagte ich leise. „Ich bin nicht Iesha.“

Der Ausdruck in seinem Gesicht verzerrte sich. „Nein und das macht es noch viel schlimmer.“ Er umrundete mich und hastete die Treppenstufen hoch, als müsste er sich vor meinem Anblick schleunigst in Sicherheit bringen.

Sechs Sekunden, dann war er weg und mir sackten einfach die Beine weg.

„Zaira!“, rief Tayfun und eilte an meine Seite. Fast zögernd hockte er sich neben mich und schien nicht recht zu wissen, was er tun sollte. Seine Hand zuckte in meine Richtung, doch er brauchte zwei Anläufe, um mich vorsichtig am Arm zu berühren. „Hey.“

Eine unendliche Leere machte sich in mir breit. Ich hatte keinen Tränen. Da war nur dieses namenlose Entsetzen, das jede Faser meines Seins ergriff und mich von innen zu zerreißen drohte. Er konnte mich nicht verlassen, wir gehörten doch zusammen. Und außerdem hatte ich doch gar nichts falsch gemacht.

„Zaira, schau mich an. Hey, schau mich an.“ Da ich es einfach nicht schaffte meinen Blick von der leeren Treppe abzuwenden, schob er sich in mein Sichtfeld. „Hör mir zu. Ich werde mit Cio sprechen und ihm sagen, dass da nichts gelaufen ist. Okay?“

Und was soll das bringen?, hätte ich fast gefragt. Noch nie hatte Cio mich so angeschaut, nie so voller Abscheu und Schmerz, der sich mir bis in die Seele zu bohren schien. Und Tayfun … Tayfun machte er auch verantwortlich. Wenn er Cio im Moment zu nahe kam, wusste ich nicht was passieren würde. Cio war nicht gewalttätig, aber er war verletzt. Ich hatte ihn verletzt, weil ich so dumm gewesen war Ieshas Beispiel zu folgen. Nicht dass ich das gleiche getan hätte wie sie, aber für ihn sah es so aus. Durch das was damals geschehen war, hatte Cio noch heute ein Trauma und ich hatte all diese Wunden nun wieder aufgerissen. Natürlich hatte er jetzt Angst, diesen Schmerz von damals erneut durchstehen zu müssen.

„Zaira?“ Tayfun strich mir zögernd über die Wange. „Bitte, sag doch etwas.“

Aber ich war nicht Iesha. Niemals würde ich ihm solch einen Schmerz zufügen. Das musste ich ihm klar machen. „Ich muss zu Cio“, sagte ich leise.

„Was?“

„Cio, ich muss zu ihm.“ Ich sprang auf die Beine und tat das, was ich gleich hätte tun sollen. Ich rannte meinem Freund hinterher. Zum einem um ihm klar zu machen, dass ich ihn niemals auf diese Art verletzen würde. Und zum anderen, um ihn in den Hintern zu treten, sobald er mir endlich glaubte. Wie konnte er nur denken, dass so eine kleine Auseinandersetzung mich zu so was treiben würde? Dass es überhaupt etwas gab, was mich dazu bringen könnte, ihn auf irgendeine Art zu verletzen?

Das war eine Frage die ich ihm stellen würde, sobald ich ihn eingeholt hatte. Aber ich fand ihn nicht. Er war weder auf den Korridoren, noch in den Räumen an denen ich vorbei kam. Selbst die Zentrale war bis auf Romy und meine Eltern verwaist, als ich um die Ecke schlitterte.

Mein Vater erhob sofort alarmiert den Kopf, als er mich erblickte. „Was ist passiert?“

Ich schüttelte nur den Kopf. „Cio, hab ihr ihn gesehen?“

„Er ist gerade Richtung Ausgang“ sagte Romy und zeigte in die angegebene Richtung. „Aber wenn du ihn noch erwischen willst, dann solltest du …“

Ich wartete nicht darauf, dass sie mir sagte, ich müsste mich beeilen, ich rannte direkt auf den Ausgang zu und beachtete auch nicht meine Eltern, die nach mir riefen. Meine Beine trugen mich einfach so schnell sie konnten, vorwärts. Aber ich fand Cio nicht. Ich war schon fast beim Ausgang und sah ihn immer noch nicht.

Er ist gegangen.

Eigentlich war es nicht möglich, aber meine Beine wurden noch schneller. Und dann stürmte ich durch die Eingangstür.

Da war er. Vielleicht zwanzig Meter entfernt konnte ich erkennen, wie er sich hastig von HQ wegbewegte.

„Cio!“, rief ich und setzte mich wieder in Bewegung. Doch ich schaffte es keinen Meter weit, da schlangen sich bereits zwei Arme um meinen Bauch und rissen mich zurück. „Was? Nein! Was soll das?!“

Es war einer der Wächter, dieser McKinsey.

Mist, die hatte ich ja völlig vergessen. „Lassen sie mich los, sofort!“

„Tut mir leid“, ächzte mein Geiselnehmer. „Wir haben Befehlt dich nicht aus dem HQ zu lassen.“

„Ich mir egal!“ Ich knurrte und trat nach hinten aus, um den Kerl loszuwerden, aber der hatte einen stahlharten Griff. „Nehmen sie die Finger weg! Cio!“

Dieses Mal reagierte er. Ich sah wie seine Schritte ins Stocken gerieten und seine Schultern sich anspannten. Also rief ich wieder nach ihm, während nun auch der zweite Wächter mithalf um mich zu bändigen und zurück in das Gebäude zu bekommen.

„Bitte!“, flehte ich. „Geh nicht!“

Und dann drehte er sich endlich zu mir herum. Was er dann sah, gefiel ihm nicht. Da waren zwei Männer, die mich gegen meinen Willen festhielten und etwas wollten, das ganz und gar gegen meinen Willen geschah.

Ich flehte ihn mit Blicken an zu mir zu kommen, mir zu helfen und mit mir zu reden. Und für den Bruchteil eines Augenblickes, schien er wirklich mit sich zu kämpfen. Er wollte mir helfen. Trotz allem was er glaubte, was ich ihm angetan hatte, sah ich wie er mir zu Hilfe eilen wollte.

Ein Keim der Hoffnung erblühte in mir. Doch dann drehte er sich abrupt weg, zog die Schultern hoch und stapfte eilige davon.

„Nein!“ Mein Schrei hallte über das ganze Schlossgelände. Ich streckte die Hand nach ihm aus, als könnte ich ihn so erreichen. Aber natürlich klappte das nicht. In diesem Moment zerbracht etwas ganz tief in mir. Ich hatte seine Hilfe gebraucht und er hatte sich einfach von mir abgewandt.

Meine Wehrversuche erstarben einfach, während dieser McKinsey leise vor sich hin fluchte. „Jetzt mach es uns doch nicht so schwer, mein Gott.“

„Ich glaube sie sollten jetzt dringend die Hände von meiner Tochter nehmen“, kam es da so drohend von meiner Mutter, dass sie selbst Papa Konkurrenz machte. Sie war nicht nur mit meinem Vater zusammen in der Tür aufgetaucht, sie sah auch aus, als wollte die Wächter zum Krallenwetzen benutzen.

Ich sackte in mich zusammen, sobald der Wächter der Bitte meiner Mutter nachkam. Und da spürte ich die Tränen auf meinen Wangen. Er war gegangen. Er war wirklich gegangen. Mein Herz schien nicht nur in hundert Splitter zu zerbersten, diese Splitter bohrten sich auch noch schmerzhaft in mein Fleisch. So jedenfalls fühlte es sich an.

Als sich zwei vertraute Arme um mich schlagen, ließ ich mich einfach hineinfallen.

„Schhh, Donasie. Alles wird gut.“

„Gut?“ Das ich nicht lachte. „Er ist gegangen“, weinte ich. „Ich … ich habe alles kaputt gemacht.“

„Nein, hey, das stimmt doch gar nicht.“ Meine Mutter versuchte mir die Tränen von den Wangen zu wischen, aber es kamen immer mehr. „Ich weiß nicht was los ist, aber er liebt dich. Alles wird wieder gut.“

„Das kannst du nicht wissen.“ Nicht nach dem was in seinen Augen geschehen war. Es war eine Wiederholung seiner schlimmsten Angst, etwas das ihn schon einmal beinahe zerstört hatte. Und dabei war es egal, dass nichts geschehen war, solange er das nicht glauben konnte.

„Doch, das weiß ich.“ Meine Mutter drückte mein Kinn hoch, bis ich ihr ins Gesicht schauen musste. „Ihr seid verbunden, Donasie, ihr bedeutet einander so viel, dass nichts – wirklich gar nichts – zwischen euch kommen kann. Nicht mal dein sturer Vater.“

Wenn ich ihr doch nur glauben könnte. Aber dieses Mal war es etwas anderes. Wie er mich angesehen hatte. Wenn ich nur daran dachte, wallte ein neuer Schwall Tränen auf, um sich über mein Gesicht zu ergießen. Wie hatte das nur geschehen können? Noch vor ein paar Tagen hatte ich über unsere bevorstehende Hochzeit nachgedacht und jetzt wusste ich nicht mal mehr, ob ich Cio jemals wieder berühren durfte.

„Ich will ja nicht stören“, kam es von Wächter Owen McKinsey. „Aber ich muss darauf bestehen, dass Zaira wieder nach drinnen geht. Königin Sadrija …“

„Fass meine Tochter an und du verlierst deine Hände“, warnte meine Mutter den Kerl und fuhr drohend die Krallen aus.

Mein Vater schob sich schützend zwischen seine Familie und der Bedrohung.

Wächter Owen versteifte sich. „Königin Sadrija …“

„Lass gut sein, Owen“, griff nun der zweite Wächter ein. „Sie sind doch praktisch noch im HQ.“

Das schien McKinsey anders zu sehen. Unzufriedenen wich er einen Schritt zurück und postierte sich wieder neben der Tür. „Auf deine Verantwortung.“

Der andere Wächter, Mirko Vukelić, schüttelte über die Haltung seines Kollegen nur den Kopf, enthielt sich aber jeden weiteren Kommentars.

Mit einem letzten wachsamen Blick auf die beiden wandte meine Mutter sich wieder mir zu. Sie sagte etwas, doch ich hörte gar nicht zu. Verloren in meinem Schmerz konnte ich nur an das denken, was geschehen war, wie er sich einfach von mir abgewandt hatte. Ich sah es immer wieder vor mir, wie er mir seine Hilfe verweigert hatte. Und das alles nur, weil ich so dumm gewesen war, in Tayfuns Bett liegen zu bleiben, anstatt in mein eigenes zu schlüpfen.

Das konnte ich nur wieder gerade biegen, wenn ich ihn dazu brachte, mir zu vertrauen. Er würde nichts von dem was ich sagen könnte glauben, wenn er mir nicht vertraute. Aber um Vertrauen zu gewinnen, brauchte es Zeit und Willen. Ich war mir nicht sicher, ob Cio im Moment willens war mir zuzuhören. Aber auch das musste er. Ja, ich musste mit Cio sprechen. Ganz dringend. Also wartete ich auf der Treppe vor dem Gebäude, denn irgendwann musste er schließlich zurückkommen, oder? Selbst als meine Eltern mich dazu drängten wenigstens drinnen zu warten, bewegte ich mich nicht von der Stelle. Ich saß nur da, sondierte das Geländer alle zwei Minuten aufs Neue und wartete.

Aber er kam nicht.

Ich saß da, ignorierte die Wächter genauso wie meine Eltern und auch jeden anderen, der an uns vorbei kam. Dabei wurde ich immer verzweifelter. Vier Stunden, fünf. Die Zeit verging nur zäh. Jede Minute kam mir wie ein ganzes Jahr vor. Und je weiter die Sonne über den Himmel wanderte, desto schwer wurde mein Herz und irgendwann musste ich es einsehen: er kam nicht zurück. Mich in Tayfuns Bett zu finden hatte ihn so tief verletzt, dass er sich weigerte, wieder hier aufzutauchen. Das hieß, ich musste ihn suchen. Ich musste mit ihm sprechen, aber mein Handy lag noch immer bei Tayfun, genau wie das von Cio.

Verdammt noch mal, warum nur hatte ich es ihm weggenommen? Das ganze wäre nicht passiert, wenn ich ihm sein Handy gelassen hätte. Nein, das stimmte so nicht. Schließlich hatte es schon mit unserer Auseinandersetzung über Kiara angefangen.

Es war alles meine Schuld. Wäre ich nicht so versessen darauf gewesen Kiaras Vertrauen zu behalten, wäre alles anders gelaufen. Aber nun hatte ich nicht nur das ihre verloren, sondern gleich auch noch Cios. Ich war dumm gewesen, so dumm!

Leider halfen Selbstvorwürfe mir im Moment auch nicht. Sie zogen mich nur noch weiter runter und erschwerten es mir einen Ausweg aus dieser Lage zu finden. Cio dort draußen, ich hier drinnen und keine Möglichkeit ihn zu erreichen.

Die einzige Chance hier rauszukommen, damit ich ihn suchen könnte, wäre ein Ausbruch. Aber vor dem einzigen Ausgang dieses Gemäuers standen zwei Wächter, die mich sofort aufhalten würden, sollte ich versuchen aufzustehen und zu gehen – von meinen Eltern einmal ganz zu schweigen, die mich die nächste Zeit sicher nicht mehr aus den Augen lassen würden.

Aus einem Fenster zu klettern, kam auch nicht in Frage. Nicht das sie zu hoch wären, aber sie waren alle vergittert – und ich besaß leider keinen Schweißbrenner. Und dann war da natürlich noch der ausdrückliche Order von Königin Sadrija. Mein Alpha hatte mir befohlen hier zu bleiben und auch wenn ich nur ein halber Wolf war, so war es mir doch ein so instinktives Bedürfnis, ihrem Wort Folge zu leisten, dass ich nur sehr schwer dagegen ankam.

Doch als die Sonne am Horizont zu versinken begann, wurde das Bedürfnis zu gehorchen immer schwächer. Dagegen wurde das Gefühl unbedingt mit Cio sprechen zu müssen, immer drängender. Aber ich kam hier nicht weg. Das HQ war eine Falle, aus der ich …

Ein Geistesblitz schoss durch meinen Kopf. Natürlich. Es gab einen Hintereingang, keinen offiziellen zwar, aber er war da und er konnte mich hier raus bringen.

In meinem Kopf entstand ein wahnwitziger Plan, der nicht nur mich aufs Übelste in Schwierigkeiten bringen konnte. Aber ich musste verschwinden, hier ging es immerhin um Cio. Also tat ich das einzige, was ich in dieser Situation noch tun konnte: Ich gab auf.

Es war nicht weiter schwer vor meinen Eltern einen geschlagenen Eindruck zu machen, als ich mich erhob, um in mein Zimmer zu schleichen. Die Tränen waren vielleicht getrocknet, doch die Pein in meiner Brust hatte nicht nachgelassen. Es war beinahe ein körperlicher Schmerz. Er wollte mich lähmen und zwingen in der nächsten dunklen Ecke zusammenzubrechen. Aber das durfte ich nicht. Noch gab es eine Chance. Ich musste nur mit Cio reden, dann würde sich alles wieder finden.

Leider fanden meine Eltern, ich sollte im Moment nicht allein sein und ließen mich dementsprechend keinen Moment aus den Augen. Sie begleiteten mich nicht nur in meinem Zimmer, Mama legte sich sogar zu mir ins Bett und zog mich tröstend in ihre Arme. Das gab den Anstoß zu einer Flut von Gefühlen, die einfach über mir zusammenbrach. Ich versuchte noch sie aufzuhalten, doch sie waren zu stark. Meine Augen brannten und dann weinte ich. Ja, ich hatte einen Plan, aber das hieß noch lange nicht, dass die Welt plötzlich wieder rosig war.

Irgendwann klopfte es an meine Tür. Papa stand von der Bettkante auf, öffnete aber nur einen kleinen Spalt. Doch das war unnötig. Sobald ich draußen Tayfun Stimme hörte, spannte ich mich automatisch an. Er war nicht schuld an dieser Situation. Es wäre falsch ihm das zu unterstellen und ihm Vorwürfe zu machen, und doch war da plötzlich dieser eine Gedanke. Wäre Tayfun nicht gewesen, wäre noch alles in Ordnung.

„Ich wollte nur mal nach Zaira schauen.“

Papa schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass sie im Moment jemanden sehen möchte.“

Eine Pause entstand, als warteten beide Männer, ob ich dieser Aussage widersprach – was ich nicht tat. Ich blieb einfach still liegen und verkroch mich in der schützenden Umarmung meiner Mutter.

„Na gut“, sagte Tayfun dann nach einer ganzen Weile. „Dann schaue ich morgen noch mal vorbei. Und … ja, morgen dann.“

Als Tayfun sich zum gehen wandte, lag meinen Vater noch etwas auf der Zunge. Er drückte die Lippen zusammen, als wäre er sich nicht sicher, ob es vielleicht doch besser wäre den Mund zu halten, doch dann sagte er: „Vielleicht ist es besser, wenn du Zaira für ein Weilchen in Ruhe lässt.“

Durch Tür und Wand – und, ach ja, die Tatsache, dass ich ihnen den Rücken zugewandt hatte – wusste ich nicht was als nächstes geschah. Ich hörte nur Tayfuns schneidend kalte Stimmer und wusste, damit hatte mein Vater in verletzt. „Natürlich.“

Papa drückte die Lippen zusammen, als würde es ihm leidtun, aber dann schloss er einfach wieder die Zimmertür und ließ sich wieder auf die Bettkante sinken. Seine Hand legte er auf meinem Arm, doch seine Stimme blieb stumm. Wahrscheinlich schaffte er es einfach nicht die richtigen Worte zu finden, schließlich hatte er kein großes Geheimnis daraus gemacht, was er von der Verbindung zwischen mir und Cio hielt. Andererseits wusste er was mir dieser Kerl bedeutete. Also war es besser, dass er einfach nur anwesend war.

Allerdings wurde mein Plan dadurch nicht einfacher. Solange meine Eltern mich so genau im Auge behielten, kam ich hier nicht weg. Also tat ich so, als würden meine Atemzüge tiefer werden und die Erschöpfung mich in den Schlaf reißen. Trotzdem dauerte es noch eine ganze Weile, bis mein Vater nicht nur seinen Platz, sondern auch das Zimmer verließ, um mich nicht zu stören. Meine Mutter allerdings wollte mich nicht aus den Augen lassen. Auch als die Nacht schon lange über uns hineingerochen sein musste, lag sie noch bei mir im Bett. Zwar war sie eingeschlafen, aber ihre Arme waren noch immer fest um mich gewickelt, sodass sie vermutlich sofort aufwachen würde, sollte ich mich auch nur ein kleinen wenig bewegen. Das machte es für mich natürlich erheblich schwerer mich unbemerkt aus dem Staub zu machen. Leider würde sie aber auch nicht einfach verschwinden, daher blieb mir irgendwann gar nichts mehr anderes übrig, als vorsichtig ihren Arm von mir zu heben und zu versuchen unbemerkt aus dem Bett zu schlüpfen, wenn ich nicht noch im Morgengrauen hier liegen wollte.

Natürlich geschah was geschehen musste. Blinzelnd öffnete sie die Augen und hob den Kopf, als ich gerade mal einen Fuß aus dem Bett bewegt habe.

„Donasie?“

„Schhh, schon gut. Schlaf weiter.“ Ich hoffte das sie noch so müder war, dass sie meiner Aufforderung nachkommen würde. Leider machten mir da ihre mütterlichen Instinkte mir einen Strich durch die Rechnung.

„Was ist los?“ Verschlafen rieb sie sich über die Augen und richtete sich ein wenig auf.

„Nichts. Ich muss nur mal aufs Klo.“ Ihr bei dieser Lüge ins Gesicht zu schauen, brachte ich nicht über mich. Ich hatte es schon immer gehasst meine Mutter zu belügen. Das schlechte Gewissen, das mich hinterher immer plagte war schlimmer als bei jedem anderen, den ich schon einmal angelogen hatte. Daher schwang ich einfach nur hastig meine Beine über die Bettkante und ging hinüber zu dem kleinen Tisch, um meine Brille aufzulesen. Zum Glück hatte mein Vater das Licht angelassen, als er den Raum verlassen hatte, sonst wäre ich garantiert irgendwo gegen gerannt.

„Soll ich mitkommen?“

„Nein“, sagte ich niedergeschlagen und suchte meine Schuhe zusammen. „Das schaffe ich schon.“

„Gut, aber ...“ Sie verstummte, öffnete wieder den Mund um ihren Satz zu beenden, doch ich schüttelte den Kopf. Ich wollte ihre Worte nicht hören, wollte nicht dass sie mir wieder sagte, das alles schon wieder in Ordnung kommen würde. Nichts würde wieder in Ordnung kommen, solange ich hier eingesperrt war und darum musste ich nun auch gehen.

„Bin gleich wieder zurück“, log ich ein weiteres mal und machte mich eilig daran, aus meinem Zimmer zu kommen.

Der Korridor lag still da. Um diese Zeit trieben sich hier nur selten Leute herum. Selbst die Beleuchtung war bis auf ein Minimum reduziert. Alle Türen geschlossen. Ich war allein. Gut.

Ich verdrängte mein schlechtes Gewissen so gut es mir eben möglich war und wandte mich nach rechts zur Turnhalle. Später würde noch genug Zeit bleiben mich bei meiner Mutter zu entschuldigen, jetzt musste ich erstmal zu Cio und versuchen zu retten was noch zu retten war. Also zögerte ich nicht länger und strebte meinem Ziel entgegen.

Die Turnhalle lag im Dunkeln. Die Wände waren übersät mit Sprossenwänden. In einem Seitenraum standen fein säuberlich aufgereiht ein Haufen Trainingsgeräte und Schränke. Mich jedoch interessierte nur das kleine Gitter an der gegenüberliegenden Wand, das den Zugang zu dem engen Versorgungsschacht dahinter verdeckte. Das war mein Fluchtweg aus dieser Gefängniszelle.

Schnell kontrollierte ich noch einmal den Korridor um sicher zu gehen, dass ich auch wirklich allein war, eilte dann durch die Hallte und ließ mich vor dem Gitter in die Hocke sinken.

Vor knapp drei Jahren waren Cio und ich durch diesen Schacht ins HQ eingedrungen, um das Rudel der Könige zu retten. Zwar war alles ein wenig anders gekommen, als wir uns das damals vorgestellt hatten, aber am Ende hatte sich alles zum Guten gewendet. Blieb nur zu hoffen, dass mir auch dieses Mal das Glück hold sein würde. Adlerdings, wenn ich da so an die letzte Zeit dachte …

Denk nicht darüber nach!

Entschlossen begann ich die Ränder des Gitters abzutasten, um nach dem versteckten Mechanismus zu suchen, mit dem es sich öffnen ließ. Dabei erinnerte ich mich daran, das Cio in damals beschädigt hatte.

Cio …

Verbissen ließ ich meine Finger wandern, fand aber nichts und begann irgendwann einfach an dem Gitter zu rütteln, um es aus der Wand zu lösen. Plötzlich hörte ich ein leises Klicken und im nächsten Moment hielt ich das Gitter in meinen Händen. Einen Moment war ich verdutzt und fragte mich wie ich das gemacht hatte, aber der Gedanke verschwand sehr schnell wieder, als ich in das dunkle Loch vor mir blickte.

Damals hatten in dem Schacht rote Lampen ein wenig Licht gespendet, dieses Mal jedoch war alles in Finsternis getaucht. Cio hatte an dem Tag unseres Einbruchs vermutlich das Licht aktiviert, aber ich hatte absolut keine Ahnung, wie er das gemacht hatte. Das bedeutete, ich würde da bei völliger Finsternis durchkriechen müssen.

Sofort machte sie Unruhe in mir breit. Ich wollte da nicht rein. Mit Cio zusammen war es eine Sache gewesen, aber ganz alleine? Leider zwangen die Umstände mich dazu, wenn ich die wichtigste Person in meinem Leben nicht verlieren wollte. „Für Cio“, flüsterte ich leise, stellte das Gitter an die Wand und ging dann vor dem Loch auf alle Viere.

Allein der Blick in die Finsternis ließ meinen Puls bereits schneller schlagen. „Du hast das schon einmal gemacht“, redete ich mir gut zu. „Also reiß dich gefälligst zusammen und beweg deinen Hinter da hinein.“

Keine Ahnung warum ich glaubte Selbstgespräche würden mir helfen. Vielleicht war es die Müdigkeit, vielleicht auch der Stress. Aber letztendlich legte ich mich auf den Bauch und und robbte in den Versorgungsschacht hinein.

Es war schlimmer als ich es in Erinnerung hatte. Weil ich allein war, weil diese Finsternis meine Augen noch nutzloser werden ließen, als sie meistens sowieso schon waren. Ich konnte spüren wie mein Herzschlag sich mit jedem Meter den ich hinter mich brachte schneller schlug und auch wie mein Puls raste. Ich hatte das Gefühl die Wände würden näher kommen und versuchen mich zu erdrücken.

Mein Atem ging viel zu schnell, aber ich durfte nicht aufgeben. Jetzt steckte ich bereits in diesem verfluchten Schacht, jetzt konnte ich auch bis zum Ende durchhalten.

Leider wurde es mit jedem Meter für mich schwieriger meine Muskeln dazu zu bewegen meinem Willen zu gehorchen. „Komm schon“, redete ich mir gut zu und schloss die Augen – nicht das es einen Unterschied gemacht hätte.

Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie ich es das letzte Mal geschafft hatte und kam nicht umhin sofort wieder an Cio zu denken. Nicht nur dass er bei mir gewesen war, er hatte auch die ganze Zeit mit mir gesprochen und mir damit eine Sicherheit vermittelt, die mir nun fehlte. Ich wusste noch genau, wie ich damals in Panik ausgebrochen war, als ich glaubte wir würden hier drinnen feststecken.

„Das du mich zwingst noch einmal in diesen Schacht zu kriechen, werde ich dir hundertfach heimzahlen“, murmelte ich in die Stille hinein und schaffte es endlich mich ein kleinen Stückchen vorwärts zu bewegen. „Ich werde dir die Fußnägel Pink lackieren und ausversehen eine rote Socke in deine Weißwäsche fallen lassen.“ Und noch ein Stück. „Und ich werde allen erzählen, dass du ein Fan von Ditry Dancing bist und dir den Film mindestens einmal die Woche anschaust!“

Mir selber zu erklären, was genau ich ihm alles antun würde, sobald ich ihn gefunden hatte und die Dinge hoffentlich wieder in Ordnung gebracht hatte, lenkte mich ein wenig ab.

Die Augen hielt ich weiter geschlossen, während ich mich murmelnd vorwärts bewegte. Wenn ich die Finsternis um mich herum nicht sah, konnte sie mich nicht so einschüchtern. Meter um Meter tastete ich mich vorwärts, versuchte mich nicht auf das zu konzentrieren, was ich hier tat, sondern auf das was ich tun würde, wenn ich hier raus war. Und dann, ganz plötzlich, verschwand die Enge im mich herum. Ich konnte die Arme nach links und rechts ausstrecken und ertastete das Ende des Versorgungsschachts.

Einen Moment blieb ich einfach nur schwer atmend liegen und zwang meinen Herzschlag runter. „Und ich werde dich zwingen auch noch einmal durch diesen dreckigen Tunnel zu kriechen!“ Obwohl ihn das vermutlich weniger stören würde als in rosa Shirts durch die Gegen laufen zu müssen. Andererseits sprachen wir hier von Cio. Der würde sich wohl auch noch einen Spaß daraus machen in einem Tutu die Straße entlang zu hüpfen. Vielleicht würde ich ihn dazu auch noch zu zwingen.

Aber jetzt stemmte ich mich erstmal auf die Arme und zog auch noch meine Beine aus dem Schacht. Dann hockte ich einfach nur da und wartete darauf, dass mein Puls sich ein wenig beruhigte.

Der Raum in dem ich mich nun befand, war vielleicht zwei mal zwei Meter. Nicht das ich es sah, denn auch hier war es stockfinster, aber ich erinnerte mich noch sehr gut von meinem letzten Besuch daran.

Die erste Etappe hatte ich damit hinter mich gebracht, ich war aus dem HQ entkommen. Jetzt musste ich nun von unbemerkt vom Hof verschwinden um mich meiner eigentlichen Aufgabe widmen zu können. Dazu musste ich aus diesem Raum raus.

Von meinem ersten und bisher auch einzigen Aufenthalt hier, wusste ich, dass dieser kleine Raum versteckt hinter einem Fahrstuhl lag. Durch den musste ich hindurch, um in die dahinterliegende Tiefgarage zu gelangen. Aber dazu musste ich erst einmal herausfinden, wie ich dir Tür zu Fahrstuhl öffnen konnte. Also stemmte ich mich auf die Beine, tastete mich blind an den Wänden entlang, bis meine Hände statt kalten Steinmauern eine Metallwand fanden und tastete daran herum.

Das öffnen erwies sich dann als leichter, als ich geglaubt hatte. Ein wenig Druck reichte aus und plötzlich flutete durch einen kleinen Spalt ein wenig Licht in den dunklen Raum. Die Wand hatte sich geöffnet. Wie an einer Tür, zog ich vorsichtig daran und schaute in den hell erleuchteten Raum dahinter. Der Fahrstuhl.

Nach der langen Dunkelheit musste ich ein wenig blinzeln und kam nicht umhin mich zu fragen, ob ich hier wohl auch so einfach herausgekommen wäre, wenn der Fahrstuhl sich in einer anderen Etage befunden hätte.

Ist doch jetzt egal! Mach hin, bevor man dich entdeckt!

Der nächste Teil meines Plans war sehr einfach. Verwandeln und weg. Als schwarzer Wolf in der Dunkelheit würde ich mich eher davon machen können, als in meiner menschlichen Gestalt. Darum drückte ich die Rückwand des Fahrstuhls wieder ein wenig ran und begann eilig damit mich zu entkleiden. Hemd, Hose, Unterwäsche, Brille. Nur als ich meinen Ring ablegen wollte, zögerte ich einen Moment. Den wollte ich nicht zurück lassen. Im Moment war er das einzige, was mir noch von Cio geblieben war.

Kurzentschlossen zog ich die Kordel aus dem Bund meiner Jogginghose, fädelte den Ring daran auf und hängte mir das ganze um den Hals. Dann begann ich ohne weitere Zeitverschwendung mit meiner Verwandlung.

Normalerweise genoss ich die Metamorphose und schwelgte anschließend noch ein wenig in dem Gefühl durch die Melodie des Mondes. Dieses Mal jedoch war der Gestaltwechsel noch nicht mal richtig abgeschlossen, als ich mich bereist auf vier Pfoten erhob und mein Fell ausschüttelte. Meine Sachen ließ ich unbeachtet zurück, als ich mit der Schnauze die Rückwand des Fahrstuhls aufschob und ihn mit klackenden Krallen betrat.

Einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich die Rückwand nicht vielleicht doch lieber schließen sollte, verwarf diesen Gedanken doch sogleich wieder und stellte mich einfach an dem Tastenfeld auf um mit meiner linken Pfote den Knopf für diese Etage zu drücken. Sofort öffneten sich die Türen zur Tiefgarage.

Mein Herz begann wieder ein wenig schneller zu schlagen, als ich meinen Kopf vorsichtig in die weitläufige Garage steckte. Zwar war es unwahrscheinlich, dass sich mitten in der Nach jemand hier herumtrieb, aber eben nicht ausgeschlossen und nachdem ich mich nun schon durch diesen verdammten Schacht gequält hatte, wollte ich mich nun auf keinen Fall erwischen lassen.

Wie erhofft, war die niedrige Halle völlig verwaist. Trotzdem trat ich nur zögernd hinaus und schlich dann um die vielen geparkten Wagen herum durch die Schatten, immer dem Ausgang entgegen.

Es gab ein großes Tor, dass nur mit einer Fernbedienung geöffnet werden konnte – die ich natürlich nicht besaß. Und daneben noch eine Tür. Die war mein Ziel.

Sobald ich die letzte Wagenreihe erreicht hatte, spähte ich vorsichtshalber noch einmal in alle Richtungen, bevor ich zu der Tür trabte, mich auf die Hinterbeine stellte und mit der Pfote die Klinke runter drückte. Zu meiner Erleichterung war sie nicht verschlossen und schwang auch sogleich nach innen auf, weswegen sie mich fast noch am Kopf erwischte.

Wieder wagte ich einen vorsichtigen Blick nach draußen. Ein kühles Lüftchen fuhr mir ins Fell. Die Nacht war Sternenklar und der Himmel vom Halbmond beschienen. Ich spitzte die Ohren und erhob witternd die Nase. Mehrere Gerüche wehten mir entgegen. Irgendwo konnte ich Stimmen hören. Auf den Außenmauern waren Schemen zu erkennen: Die Wächter.

Ich überlegte. Zwar waren nicht mehr viele Leute unterwegs, aber immer noch mehr als genug. Wenn ich hier herumschlich und sie mich entdeckten, war alles aus. Darum konnte ich nur eines tun, das gleiche wie damals im Garten, als Cio und ich uns aufs Schlossgelände geschlichen hatten. Den wie hatte er damals zu mir gesagt? Manchmal ist auffällig am unauffälligstem. Also atmete ich noch einmal tief durch, richtete mich aus meiner geduckten Haltung auf und trat einfach hinaus ins Freie. Wenn die Leute einen Wolf sahen, der einfach über den Hof schlenderte, war das weniger auffällig, als eine geduckte Gestalt, die von Schatten zu Schatten schlich. Das war meine einzige Chance.

Darum versuchte ich möglichst unschuldig auszusehen, als ich mit gemächlichen Schritten quer über den Hof schlenderte. Dabei warf ich einen kurzen Blick zum HQ, vor dessen Eingang zwei Wächter standen. Nicht Mirko und Owen, das hier war die Nachtschicht. Und sie hatten keine Ahnung, dass sich ihr Schützling nicht länger in ihrer Obhut befand. Würden sie deswegen ärger bekommen? Ich meine, früher oder später würde mein Fehlen schließlich auffallen.

Ich verbot mir einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden und sah zu, dass ich weiter kam. Der Haufen meiner Probleme und Sorgen war bereits zu einem Berg angewachsen. Ich hatte kein Interesse daran, ihn zum Mount Everest zu machen, wenn es sich vermeiden ließ. Also konzentriere ich mich lieber darauf eine Pfote vor die andere zu setzten und dabei einen möglichst unauffälligen Eindruck zu erwecken.

Meine Ohren waren ständig in Bewegung und lauschten den nächtlichen Geräuschen im Schloss. Mit der Nase prüfte ich immer wieder unauffällig die Gerüche in der Luft. So kam ich völlig unbehelligt dem großen steinernen Außenportal immer näher und damit leider auch den Diensthabenden Wächtern.

Zum Glück war es immer einfacher aus dem Hof rauszukommen als hinein. Darauf setzte ich zumindest, als das Tor bereits vor mir aufragte und ich weiter drauf zutrottete, als hätte ich jedes Recht dazu. Leider begann mein Puls sich wieder zu beschleunigen und das wurde auch nicht besser, als die beiden Wächter mich bemerkten und mir aufmerksam entgegensahen. Fünf Meter, vier, drei.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich sie erreichte, ihnen mit einem „Abend“ zunickte und dann einfach an ihnen vorbei in die heiß ersehnte Freiheit lief. Kaum dass ich das Tor hinter mir gelassen hatte, wollten meinen Pfoten losrennen, aber ich zwang mich dazu langsam und gemächlich weiter zu laufen, solange bis ich mir sicher war, mich nicht mehr in ihrem Sichtfeld zu befinden. Erst dann gab ich meinem Fluchtreflex nach und stürmte den Hauptweg hinunter nach Silenda.

Meine Sinne erwachten zu neuem Leben, während jede Faser meines Körpers danach schrie, schneller zu werden und Cio zu finden.

Der Wind zerrte an meinem Fell und die Dunkelheit der Nacht machte es mir mit meinen Augen nicht besonders einfach etwas zu erkennen, daher konzentrierte ich mich auf das wenige Licht, das die Straßenlaternen in Silenda verteilten. Sie waren meine Anker. Zumindest bis zu dem Zeitpult, als ich die ersten Straßen der Ortschaft betrat. Hier musste ich mich entscheiden, wohin ich mich als erstes wenden wollte. Cios Wohnung wäre ein guter Ansatzpunkt, also war dies mein erster Zielort.

Schon als ich in seine Straße einbog, konnte ich ihn überall um mich herum riechen. Er war diesen Weg so oft gegangen, dass seine Witterung in der Luft hing. Leider waren sie alle alt und schal. Mein Herz das bei seinem Geruch vor vorsichtiger Hoffnung ein wenig schneller zu schlagen begonnen hatte, fing wieder an zu schmerzen. Auch die Fenster seiner Dachgeschosswohnung waren dunkel. Aber ich musste sichergehen, dass er wirklich nicht hier war und so beeilte ich mich zu seiner Haustür zu kommen. Schließlich konnte es sein, dass er wie jeder andere vernünftige Mensch um diese Zeit in seinem Bett lag und schlief.

Den Klingelknopf betätigte ich mit meiner Pfote. Einmal, zweimal, dreimal. Dann trat ich ein paar Schritte zurück und starrte wieder zu den Fenstern hinauf, in denen tatsächlich Licht aufleuchtete.

Vor Aufregung rannte ich wieder an die Tür und drückte ein weiteres Mal auf die Klingel. Gleich darauf wurde der Summer betätigt. Ich warf mich mit meinem Ganzen Körpergewicht gegen die Tür und raste dann die Treppe nach oben. Ich musste schnell sein, damit er mir nicht die Tür vor der Nase zuknallen konnte. Ich musste mit ihm reden und würde ihn zwingen mir zuzuhören. Doch als ich den Treppenabsatz zu seiner Wohnung erreichte, blieb ich abrupt stehen und sackte ein wenig in mich zusammen. Das war nicht Cio, der da in der Tür auf den nächtlichen Ruhestörer wartete, sondern Anouk in einer Pyjamahose.

Er schaute mich einen Moment stumm an, bevor er fragte: „Solltest du dich nicht im Hauptquartier der Themis befinden?“

Äh … ja. Auf diese Frage würde ich gar nicht erst eingehen. „Ist Cio da?“, fragte ich vorsichtig, auch wenn der Hauch der Hoffnung bereits auf dem Rückzug war.

Als er dann auch noch den Kopf schüttelte, sackte ich ein wenig in mich zusammen und kam nicht gegen die aufsteigenden Tränen an.

„Vielleicht solltest du hereinkommen.“

Und dann? Nein. Ich musste weitersuchen. Dann war er eben nicht hier, aber irgendwo würde er sein und ich würde nicht aufgeben, bevor ich ihn gefunden hatte. Also wirbelte ich einfach wieder herum und stürmte die Treppe wieder hinunter, hinaus auf die Straße, nach links. Ich begann damit in der ganzen Ortschaft herumzulaufen, suchte all die Orte auf, die für mich – für uns beide – eine Bedeutung hatten. Plätze an denen wir gerne waren, doch nirgends fing ich auch nur den Hauch einer Witterung von ihm auf.

Mit der Zeit begannen meine Pfoten zu schmerzen und meiner Lunge drohte der Saft auszugehen. Im Gegensatz zu anderen Städten war Silenda nur ein winziger Fleck auf den Landkarten – immer vorausgesetzt, man hatte die Richtige Karte – aber dennoch konnte man hier stundenlang herumlaufen und trotzdem hatte man nur einen kleinen Teil der Gegend erkundet.

Ich bog gerade auf den Parkplatz eines Supermarkts ein, als mir plötzlich ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf schoss und mich damit abrupt zum Stehen brachte. Damals, nachdem Iesha ihn betrogen hatte, wollte Cio die Beziehung auf eine Art retten, die einen Ausgleich zwischen ihnen schaffen sollte und war deswegen zu einer anderen Frau ins Bett gestiegen. Allein der Gedanke daran, dass er dies nun auch bei uns versuchen könnte, dass er sich gerade in diesem Moment bei einer anderen Frau befinden könnte, während ich mich aus dem HQ geschlichen hatte und die ganze Stadt nach ihm absuchte, drohte mir mein Herz einfach mitten durch zu reißen.

Nein. Nein, sowas durfte ich nicht denken. Das würde er mir nicht antun. Er hatte doch selber gesagt, diese ganze Scheiße würde er kein zweites Mal durchmachen. Das hieß doch auch, dass er kein zweites Mal so handeln würde, oder?

Aber er hatte so verletzt ausgesehen, völlig am Boden zerstört. In einem solchen Moment suchte jeder ein wenig Trost.

Nein“, knurrte ich. „Nein, das würde er nicht tun.“ Ja, die Geschehnisse von damals hatten ihn geprägt, aber er würde seine eigenen Fehler doch nicht wiederholen. Mit mir war es anders, das hatte er mir so oft versichert. Darum schüttelte ich den Kopf, als konnte ich diesen absurden Gedanken, mitsamt der Angst die daraus entsprang, einfach abschütteln und setzte mich wieder in Bewegung.

Es war mir egal wie sehr meine Pfoten von dem harten Pflasterstein schmerzten. Es interessierte mich auch nicht, dass mein Körper langsam schlapp machte, ich zwang mich immer weiter und weiter zu laufen, rannte durch Straßen, an Häusern und Geschäften vorbei, immer in der Hoffnung auf eine Spur von ihm. Ich wagte mich sogar in die Nähe von Cayennes Haus, den dort lebte seine Mutter. Doch hier roch ich jeden, nur nicht den Mann den ich suchte, also verschwand ich wieder genauso schnell wie ich gekommen war, bevor sie mich entdecken konnten.

In einem Anflug von Verzweiflung rannte ich sogar zu mir nach Hause in der Hoffnung, dass er sich dort herumtrieb, aber dem einzigen Wesen dem ich dort begegnete, war der wilde Wolf, der sich wieder einmal zwischen den Bäumen hinter dem Haus herumtrieb und freudig die Ohren aufstellte, als er mich bemerkte.

Ich rannte einfach weiter.

Über den Dächern der Stadt begann der Himmel sich zu verfärben und kündigte damit den herannahenden Morgen an. In den Häusern um mich herum begann sich langsam Leben zu regen und die Straßen waren mittlerweile keine unbelebten Gassen mehr, in denen sich nur ein paar Nachtschwärmer herumtrieben.

Silenda erwachte und mehr als einer schaute mir hinterher, als ich an ihnen vorbei rannte.

Mein Weg führte mich Kreuz und Quer durch die Stadt, getrieben von diesem Gedanken, der sich einfach nicht abschütteln lassen wollte. Mir waren die Ideen ausgegangen, wo ich noch nach ihm suchen konnte, also konnte ich auf nichts anderes als auf einen Zufall mehr hoffen.

Irgendwann kam ich am Tempel von Leukos vorbei und wurde langsamer. Die Statur unseres Urvaters war in die Schatten des Morgens getaucht. Ich hielt an und schaute auf den majestätischen Steinwolf zwischen den Säulen. Ich wusste, dass oft Wölfe herkamen und ihre Wünsche und Sorgen an ihn richteten, in der vagen Hoffnung, dass Leukos sie erhören würde. Für mich selber war das immer nur Humbug gewesen. Und doch erwischte ich mich dabei, wie ich einen Schritt auf den Tempel zu machte. „Bitte“, sagte ich leise. „Ich habe dich noch nie im etwas gebeten, aber jetzt … bitte lass mich ihn finden. Sorge dafür, dass er keine Dummheiten macht, bis ich bei ihm bin.“

Natürlich gab der steinerne Wolf keine Antwort. Es war schließlich nichts weiter als ein Abbild in Form einer Statur. Und doch hoffte ich, dass es da irgendjemanden gab – Leukos, oder Gott, meinetwegen auch das Schicksal, oder eine andere höhere Macht – die mich erhören und mir helfen würde.

Mehr konnte ich hier allerdings nicht tun, also wandte ich mich ab um meine Suche fortzusetzen, nur um sofort wieder stehen zu bleiben.

Am Straßenrand hatte unbemerkt ein Wagen gehalten, dem gerade zwei Wächter entstiegen. Die Stadtwächter, oder eben auch die Polizei der verborgenen Welt. Der Anblick der beiden erschreckte mich so sehr, dass ich sofort auf dem Absatz kehrt machte und in die andere Richtung davon raste.

„Das ist sie wirklich!“, hörte ich den einen der beiden noch rufen und hätte mir am liebsten selber in den Hintern gebissen. Natürlich war mir klar gewesen, dass die Wächter früher oder später nach mir suchen würden, wenn ich nicht von allein wieder auftauchte, aber jetzt waren sie nur hinter mir her, weil ich vor ihren Augen einfach davon gestürzt war.

„He, warte!“

Das war nicht unauffällig“, sagte ich zu mir selber und ließ es wie einen Fluch klingen. Dumm. Einfach nur dumm.

Da die beiden nicht in ihrer Wolfsgestalt waren, war es trotz meiner erschöpften Reversen nicht weiter schwer sie schnell hinter mir zu lassen und um die nächste Ecke zu verschwinden. Nur um sofort wieder stehen zu bleiben.

Noch ein Wagen der Wächter. Ein Mann und eine Frau. Einer hielt ein Funkgerät an seinen Mund.

„Ich sehe sie.“

Mist. Sofort rannte ich in die andere Richtung davon.

„Bleib stehen!“, rief die Frau mir hinterher und nahm die Verfolgung auf.

Tat ich nicht, aber weit kam ich trotzdem nicht. Schon an der nächsten Ecke stand ein weiterer schwarzer Wagen mit Wächtern. Und dieses Mal war einer von ihnen ein grauer Wolf. Sie sahen mich und rannten los und dieses Mal kam ich nicht so schnell vom Fleck.

Natürlich versuchte ich wieder abzuhauen, aber leider rutschte ich dabei mit den Pfoten weg und landete fast auf der Nase. Ich brauchte zwei wertvolle Sekunden, um wieder auf die Beine zu kommen, aber da war es bereits zu spät. Etwas Schweres landete auf meinem Rücken und riss mich mit sich zu Boden.

Nein!“, schrie ich noch, da verbissen sich bereits ein paar Scharfe Zähne in meinem losen Nackenfell und hielten mich fest. „Loslassen!“

Der Graue Wolf wälzte sich auf mich hinauf, damit ich ihm nicht entkommen konnte. Gleichzeitig nährten sich eilig ein dutzend Füße und noch während ich den Kopf herumriss um nach dem grauen Wolf zu schnappen, packten zwei Hände meine Schnauze und drückten mich nach unten.

Sie haben mich!

Ich zappelte und winselte, obwohl mir klar war, dass es nichts bringen würde.

„Lieg still“, fluchte einer der Wächter. „Wir tun dir doch nichts.“

Das war mir egal. Wenn sie mich wieder in Gewahrsam nahmen, hatte ich keine Chance mehr nach Cio zu suchen, denn ein zweites Mal würde es mir sicher nicht gelingen aus den HQ auszubrechen – immer vorausgesetzt, sie brachten mich dorthin zurück und steckten mich nicht in irgendein dunkles Verlies – zu meiner eigenen Sicherheit natürlich.

Nehmt eure Finger weg!“ Ich versuchte meinen Kopf loszureißen, um sie zu beißen.

„Ich schwöre es, ich verpasse dir Maulkorb und Leine, wenn du nicht damit aufhörst.“

„Vincent“, mahnte eine weiche Stimme, dann trat eine Frau in mein Sichtfeld und fixierte mich. „Wir können das jetzt auf zwei Arten klären. Entweder du wehrst dich weiter, dann wird die Angelegenheit für uns alle ziemlich unschön, oder du kommst artig mit uns mit. So oder so, du wirst hier nicht mehr wegkommen. Deine Entscheidung.“

Und das war der Moment, in dem ich einfach aufgab. Ich hatte seit einem Tag nicht mehr geschlafen, meine Kräfte waren am Ende und meine eigenen Gedanken führten mich von einer Hölle in die Nächste. Ich erschlaffte einfach und spürte erst jetzt wie sehr meine Pfoten schmerzten und meine Lunge nach der ganzen Anstrengung schrie. Mein ganzer Körper zitterte von der Tortur der letzten Stunden und meine Muskeln spannten sich immer wieder krampfhaft zusammen.

„Ich glaube sie hat sich entschieden“, sagte die Wächterin und erhob sich wieder.

Im nächsten Moment verschwand das erdrückende Gefühl von meinem Rücken und mein Nackenfell wurde freigegeben.

„Keine Dummheiten“, mahnte dieser Vincent, dann ließ auch er meine Schnauze los.

Ich war frei und trotzdem konnte ich nicht die Kraft aufbringen, mich auf die Beine zu erheben.

Mehrere Blicke waren wachsam auf mich gerichtet. Alle schienen bereit sich sofort wieder auf mich zu stürzen, sollte ich auch nur eine falsche Bewegung tun, aber das einzige was ich machte war meinen Tränen nachzugeben.

Ich hatte versagt. Ich hatte Cio nicht gefunden und jetzt würde ich auch keine Gelegenheit mehr dazu bekommen.

„Na los, steh auf.“ Als ich nicht reagierte, hockte die Wächterin sich erneut vor mich. „Na komm schon. Wir bringen dich hier weg, dann kannst du dich ein wenig ausruhen.“

Ich wollte hier nicht weg und mich ausruhen. Und doch erhob ich mich und ließ mich von meinen Aufpassern unter scharfer Beobachtung zum nächsten Wagen bringen. Nebenbei bekam ich noch mit, wie einer von ihren irgendjemand anrief und erklärte: „Wir haben sie gefunden und in Gewahrsam genommen.“ Den Rest hörte ich nicht mehr, denn schon wurde die hintere Wagentür geschlossen und ich war wieder da wo ich angefangen hatte.

Eine Taubheit, die nichts mit meiner körperlichen Verfassung zu tun hatte, machte sich in mir breit. All meine Hoffnungen hatten darauf gesetzt, dass ich Cio finden und mit ihm reden konnte. Aber nun würde ich wieder warten müssen und hoffen dass er zu mir käme. Es war alles umsonst gewesen.

Still weinte ich vor mich hin, als vorne zwei Wächter einstiegen und der Wagen sich im nächsten Moment in Bewegung setzte. Ich achtete nicht darauf wohn wir fuhren, zu sehr war ich in meinem eigenen Kopf gefangen. Darum war ich doch ein kleinen wenig verwundert, als wir nicht wie vermutet hinauf zum Hof fuhren, sondern in die nächste Wächterstelle. Das war so etwas wie ein Polizeirevier.

Als die hintere Wagentür geöffnet wurde und ich aussteigen sollte, verunsicherte der Anblick dieses Gebäudes mich ein wenig. „Was wollen wir hier?“

„Du wirst hier warten, bis man dich abholt und hinauf ins Schloss bringt.“

Fast hätte ich gelacht. Das hier war vermutlich meine Strafe dafür, dass ich mich dem Befehl der Königin widersetzt hatte. Eine Art Denkzettel, damit ich noch noch einmal auf komische Ideen kam. Gehen sie nicht über Los, ziehen sie keine zweihundert Euro ein, machen sie sich direkt auf den Weg in den Knast, damit sie ein wenig Zeit haben, über ihre Verfehlungen nachzudenken.

Meinetwegen. Wo genau sie mich nun einsperrten, war mittlerweile auch völlig egal. Ich ergab mich einfach meinem Schicksal, sprang aus dem Wagen und ließ mich mit hängenden Schultern in das alte Backsteingebäude hineinführen.

Durch einen kurzen Korridor mit einer durch Panzerglas gesicherten Anmeldung, führte man mich vorbei an Büroräumen in den hinteren Teil des Gebäudes. Erst wusste ich nicht, wohin sie mich bringen würden, doch dann passierten wir zwei gesicherte Gittertüren und mir wurde klar, dass ich meine Wartezeit wohl in einer Zelle verbringen würde, aus der ich nicht so einfach abhauen konnte.

Auch egal. Im Moment war mir einfach alles egal. Es war nichts mehr wichtig, denn …

Plötzlich drang ein Duft in meine Nase, der all meine Sinne zu neuem Leben erwachen ließ. Das war er. Oh mein Gott, das war er!

„Hey!“, rief einer der Wächter, als ich plötzlich vorstürmte und die wenigen Meter bis zu der Zelle ohne sie hinter mich brachte.

Sie eilten mir sofort hinterher, aber das war mir egal, den da war er. Cio. In seiner alten Lederjacke saß er in der hintersten Ecke der Zelle auf einer Bank, die an der Wand befestigt war. Seine Augen waren umschattet und Blutunterlaufen, der Blick nach unten gerichtet und die Arme vor der Brust verschränkt. Er wirkte … traurig, ein wenig zerzaust. Auf seiner Wange erblühte ein heftiger Bluterguss.

Cio“, sagte ich leise, ohne mir dessen überhaupt bewusst zu sein.

Sein Gesicht wirbelte zu mir herum. Er schaute mir ungläubig entgegen. Leider wurde daraus sehr schnell etwas Bitteres. „Natürlich“, murmelte er. „Die Nacht war ja noch nicht beschissen genug.“

Bei der Ablehnung in seiner Stimme zog ich instinktiv den Kopf zwischen die Schulter und klemmte die Rute zwischen meine Hinterläufe.

Einer der Wächter trat verärgert an meine Seite. „Du legst es wirklich darauf an Ärger zu machen, was?“

Ich beachtete ihn nicht. Meine Aufmerksamkeit galt allein der Gestalt in der Ecke.

Der Wächter murmelte ein paar unverständliche Worte, die sicher keine Nettigkeiten enthielten und schloss dabei das Gitter zur Zelle auf. Mit einem „Rein da“ öffnete er die Tür.

Ich zögerte.

„Ja, jetzt, nicht erst nächstes Jahr.“

Unter dem strengen Blick des Wächters, schlich ich in die Zelle und zuckte zusammen, als er sie hinter mir wieder ins Schloss zog. „Sobald sie jemand erübrigen können, wirst du abgeholt“, erklärte er mir noch, dann kehrte er mir den Rücken und ich konnte seinen sich entfernenden Schritten lauschen.

Cio dagegen blieb argwöhnisch. Auf seiner Stirn hatten sich ein paar Falten gebildet. Ihm war sicher klar, dass ich nicht wegen ihm hier her gekommen war, also musste er sich die gleiche Frage stellen, die auch in meinen Gedanken herumwirbelte. Was zum Teufel hatte er/sie angestellt, dass er/sie in einer Zelle gelandet war?

Der Schmerz nach unserem letzten Treffen saß aber noch zu tief, so wandte er sich einfach wieder von mir ab und starrte stur ins Nichts vor sich.

Ich wollte zu ihm und doch traute ich mich nicht mich auch nur einen Millimeter vom Fleck zu bewegen. Die Konfrontation mit ihm war nun so plötzlich gekommen, dass ich noch einen Moment brauchte und erstmal meinen Blick durch die Zelle gleiten ließ. Erst dabei fiel mir auf, dass außer Cio noch ein weiterer Mann in dieser Zelle saßen. Naja, eigentlich saß er nicht. Er hatte sich auf der seitlichen Bank ausgestreckt und schnarchte leise.

Fenster gab es keine. Drei Wände aus rotem Backstein, die Vierte aus Gitterstangen. In der Ecke stand ein altes Klo, das seine besten Zeiten schon lange hinter sich gelassen hatte.

Cio saß in der Ecke, so weit wie möglich weg von den anderen Spießgesellen.

Cio“, sagte ich wieder.

Dieses Mal wandte er sich nicht zu mir um, aber ich sah wieder Zug um seine Lippen sich verhärtete. Er hatte mich gehört, doch scheinbar wollte er noch immer nicht mit mir sprechen. Tja, Pech gehabt. Vorerst saßen wir beide in dieser Zelle fest und er konnte nicht wieder einfach vor mir abhauen.

Meine Pfoten dazu zu bewegen sich ihm zu näheren war trotzdem nicht so einfach. Davon abgesehen, dass sie furchtbar schmerzten, wollte ich ihn auch nicht in die Ecke drängen. Aber hier zu stehen und ihn anzustarren, würde mich auch nicht weiter bringen. Also sammelte ich all meinen Mut zusammen und schlich geduckt auf ihn zu.

Er musste hören, dass ich mich ihm näherte, doch selbst als ich so nahe bei ihm war, dass ich nur noch den Kopf ausstrecken musste, um ihn mit der Nase zu berühren, gab er keine Regung von sich. Allerdings konnte ich nun etwas an ihm wahrnehmen, das mir vorher entgangen war. Cio roch wie eine verdammte Eckkneipe. Er dünstete den Geruch nach Alkohol geradezu aus.

Ein kleiner Funke der Freude machte sich in mir breit. Cio war bei keine anderen Frau gewesen, er hatte sich einfach nur volllaufen lassen. Allerdings hätte er das auch mit einer Frau zusammen machen können.

Jetzt hör verdammt noch mal auf, dir immer das schlimmste vorzustellen!

Ich rutschte ein wenig zur Seite, um in sein Blickfeld zu kommen. „Was machst du hier?“, fragte ich vorsichtig.

Er antwortete nicht oder gab mir auf irgendeine andere Art zu verstehen, dass er mich gehört hatte.

Ich … ich hab dich gesucht.“

Wieder keine Reaktion.

Du warst so schnell weg und … du musst mir glauben, da ist nichts passiert.“ Ich rutschte ein wenig näher an ihn heran. Wie gerne ich ihn berühren wollte. Ich sehnte mich danach. „Als du nach der Sache mit Kiara gegangen bist, habe ich stundenlang auf dich gewartet und … und … irgendwann ist mir einfach die Decke auf den Kopf gefallen, also bin ihr rumgelaufen und … bitte Cio. Ich und Tayfun haben nur einen Film geschaut und sind dabei eingeschlafen. Und sein Shirt hatte ich nur an, weil ich mich mit Selters bekleckert habe. Ich würde dir niemals untreu werden. Das könnte ich dir gar nicht antun.“

Noch immer kam kein Wort über seine Lippen. Er saß einfach nur da und tat so, als wäre ich Luft. Das Schmerzte.

Cio, ich liebe dich doch.“

Darauf bekam ich endlich die erhoffte Reaktion. Leider kam die in Form eines herabwürdigen Schnaubens. Er glaubte mir nicht.

Meine Augen begannen wieder zu brennen, aber so schnell würde ich nicht aufgeben. „Glaubst du wirklich, ich würde alles was wir haben, wegen irgendeinem Vampir einfach so hinschmeißen? Nach allem was wir durchgemacht haben, nachdem ich mit meinem Vater so um unsere Beziehung gekämpft habe? In meinem ganzen Leben gab es nur einen Mann der es geschafft, der mein Herz erobert hat und das ist ganz sicher nicht Tayfun. Das warst du Cio, nur du. Die anderen Männer sind mir völlig egal, nur du bist mir wichtig.“

Bitte, sag doch endlich etwas, flehte ich ihn stumm an. „Was kann ich tun, damit du mir glaubst?“, fragte ich leise. Ich rechnete nicht mit einer Antwort und war deswegen auch nicht allzu enttäuscht, als er einfach nur weiter stumm auf der Bank saß und ins leere starrte.

Aber dann saß ich das glitzern in seinen Augen und schöpfte neue Hoffnung. Vorsichtig streckte ich den Kopf aus und Berührte ihn mit der Nase am Knie. Die Reaktion kam prompt.

„Bleib weg von mir!“, fauchte er mich an und sprang auf die Beine, um vor mir zu flüchten. „Lass mich einfach in Ruhe.“

Durch seinen plötzlichen Ausbruch, wachte nicht nur unser Zellengenosse auf und schaute sich verschlafen um.

Bitte Cio, so hör mir doch zu, ich ...“

Aber er kehrte mir schon wieder den Rücken zu und verzog sich ans andere Ende der Bank – möglichst weit weg von mir.

Verdammt, so würde ich ihn nie dazu bekommen mir zuzuhören und mit mir zu reden. Ich musste etwas tun, das ihn dazu zwang sich mir mitzuteilen. Aber wie sollte ich das machen? Der Gedanke, der sich daraufhin in meinem Kopf festsetzte, verdeutlichte wohl nur, wie verzweifelt ich mittlerweile war. Ich könnte mich verwandeln.

Nicht das ich glaubte meine weiblichen Reize würden ihn zum umdenken bewegen, aber vielleicht – nur ganz vielleicht – würde das endlich etwas bewirken. Es würde ihm sicher nicht gefallen, wenn ich nackt mit einem Fremden in einer Zelle hocken würde und der Kerl auf der Bank beobachtete mich nun schon, seit er durch Cios Ruf aufgeschreckt war.

Darum tat ich es einfach. Ich ignorierte mein Schamgefühl genauso wie die Tatsache, dass ich mir hier auf dem Steinboden ohne Fell vermutlich den Hintern abfrieren würde und verwandelte mich. Es war unangenehm. Meine Muskeln und Knochen schmerzten noch von den Anstrengungen der letzten Stunden und nahmen es nicht gerade gut auf, was ich ihnen nun abverlangte, denn leider verschwanden meine kleinen Wehwehchen durch meine Verwandlung nicht.

Es dauerte länger als sonst, was nicht nur an meiner Erschöpfung lag. Ich schaffte es einfach nicht mich auf die Melodie des Mondes zu konzentrieren. Aber irgendwann wurden aus meinen Vorderbeinen Arme und aus meinen geschundenen Pfoten ziemlich ramponierte Hände. Das Fell zog sich langsam unter meine Haut zurück, während mein Körper sich immer weiter verformte.

„Was zum Teufel machst du da?!“, schnauzte Cio mich plötzlich an.

Noch halb in der Verwandlung schaute ich auf und konnte dabei zusehen, wie er sich hastig die Jacke von den Schultern riss und sie dann eilig um mich herum wickelte. Dabei knurrte er auch noch unseren Zellengenossen mit einer Inbrunst an, die seinen ganzen Brustkorb vibrieren ließ. Der Kerl schaute nach Cios Geschmack wohl etwas zu genau hin.

„Danke“, flüsterte ich und griff nach den Seiten der Jacke, um sie vorne zuzuhalten. Dabei kam ich mit meinen geschundenen Händen an den Reißverschluss und zischte leise. Das tat weh.

Cio starrte mich an wütend an. Unter seinem Blick machte ich mich unter der Jacke noch kleiner, um auch alles wichtige zu verdecken.

„Sprichst du jetzt mit mir? Bitte?“

Tat er nicht. Er kehrte mir einfach nur den Rücken und trat ans Gitter. „He!“, rief er nach draußen. „Können wir hier einen Bademantel oder sowas haben?“

Als ich das hörte, wagte mein Herz einen vorsichtiges Klopfen der Freude. Er kümmerte sich um mich. Das war doch ein gutes Zeichen, oder? Das hieß, es war doch noch nicht alles verloren. Aber was konnte ich sagen, damit zwischen uns wieder alles in Ordnung kam? Ich glaubte nicht, dass er meine Unschuldsbekundungen, oder weitere Ausführungen der Geschehnisse noch einmal hören wollte. Auch Liebeserklärungen brachten nichts. Ich musste ihm meine meine Worte beweisen. „Erinnerst du dich noch an die Zeit als wir uns kennengelernt haben?“

Er sagte nichts, blieb einfach am Gitter stehen und umklammerte die Stäbe mit den Händen. Aber seine Augen bewegten sich in meine Richtung.

„Ich weiß was du denkst, wie sollten wir das vergessen, bei allem was damals los war.“ Ich zog mein Bein ein wenig weiter an, da mich ein Steinchen pikte. „Und bestimmt erinnerst du dich auch noch an unseren Einbruch ins HQ und an den verdammten Versorgungsschacht, durch den wir kriechen mussten.“ Ich grinste etwas schief. „Diese Enge dort unten … das ist noch schlimmer als meine Spinnenphobie und ich habe mir geschworen da nie wieder reinzugehen. Aber heute, als du nicht zurückkamst und sie mich einfach nicht weglassen wollten … es war der einzige Weg und da rauszukommen.“

Ich schaute ihm hoffnungsvoll entgegen. Verstand er was ich ihm damit sagen wollte? Das ich sogar meine größten Ängste überwand, um zu ihm zu gelangen? So viel bedeutete er mir.

Seine Lippen pressten sich aufeinander, als wollte er sich selber daran hindern den Mund zu öffnen.

„Leider habe ich den Lichtschalter nicht gefunden, deswegen musste ich durch die Dunkelheit kriechen. Nur der Gedanke an dich hat mich dazu gebracht immer weiter zu gehen.“ Die letzten Worte endeten in einem Flüstern, aber ich wusste dass er sie gehört hatte.

Zu einer Erwiderung kam es dann aber nicht, weil draußen Schritte erklangen und gleich darauf ein Wächter an der Zelle auftauchte. Er warf einen Blick zu uns hinein, sah mich unter der eigentlich viel zu kurzen Jacke kauern und reichte ein Hemd durchs Gitter.

„Danke“, sagte Cio und nahm es entgegen.

„Das will ich wiederhaben“, war seine einzige Antwort. Dann drehte er sich schon wieder um und verschwand.

Cios Griff um den Stoff wurde fester. Dann drehte er sich herum und trat mit zwei langen Schritten an mich heran. Mit einem „Hier“ hielt er mir das Hemd entgegen. Dankbar streckte ich die Hand danach aus. Doch bevor ich es auch nur berühren konnte, fügte er noch hinzu: „Ein weiteres fremdes Männerhemd für deine Sammlung.“

Ich verharrte mitten in der Bewegung. Der Spruch war nicht nur gemein, er war absichtlich grausam und verletzend. Er wollte mich damit für etwas bestrafen, was ich gar nicht getan hatte und es funktionierte.

Als wenn ihm aufgegangen wäre, wie kränkend diese Worte für mich waren, verschwand ein Teil der Härte aus seinen Augen. „Das hätte ich nicht sagen …“

„Nein, nein“, wiegelte ich sofort ab, zog meine Hand zurück und versuchte mich unter der Jacke so klein wie möglich zu machen. Eher würde ich mir hier auf dem kalten Steinboden den nackten Arsch abfrieren, als jemals wieder etwas zu tun, das ihn verletzen könnte. „Ist schon okay so. Ich will es nicht.“

Cio schaute auf etwas an meinem Hals. Der Ring an dem Band lag durch meine Bewegung nun auf der Jacke und blinkte fast unschuldig vor sich hin.

„Ich wollte ihn nicht zurück lassen“, erklärte ich leise.

Er schnaubte nur und ließ das Hemd an Ort und Stelle achtlos zu Boden fallen. „Als wenn das jetzt noch irgendwas bedeuten würde.“ So schnell wie er mir den Rücken kehrte und zurück auf seinen Platz auf der Bank ging, konnte man glauben, dass er versuchte vor mir zu flüchten. Oder eben einfach wieder Abstand zwischen uns zu bringen.

Meine Haut begann zu kribbeln und ich war eigentlich nicht sonderlich verwundert, schwarzes Fell an meinen Finger sprießen und wieder verschwinden zu sehen. Das passierte schließlich immer, wenn ich unter extremen Stress stand.

Aber es war nicht sein Verhalten, oder seine Haltung, die mich gerade so tief verletzt hatten, dass ich glaubte der Schmerz in meiner Brust würde mich jeden Moment zerreißen. Es waren seine Worte. Der Verlobungsring, in Cios Augen hatte er seine Bedeutung verloren.

Ich dachte an den Moment zurück, als er ihn mir auf dem Steg am See gegeben hatte. Wie glücklich wir an diesem Tag doch gewesen waren. Und jetzt … ich hatte alles kaputt gemacht, weil ich so dumm gewesen war seine größte Angst zu wecken.

Mir wurde bewusst, dass ich sagen konnte, was auch immer ich wollte, es würde nichts ändern. Er würde mir nicht zuhören und meinen Worten keinen Glauben schenken – nicht bevor er selber dazu bereit war.

Und wenn er niemals dazu bereit sein würde?

Dieser Gedanke erschütterte mich so sehr, dass ich nicht mehr gegen die Verwandlung ankam. In Sekunden wurde ich in meine andere Gestalt gerissen. Und es schmerzte. Es schmerzte so sehr, wie ich es bisher nur ein einziges Mal erlebt hatte, damals, als mein Vater angeschossen wurde und der Wolf in mir die Führung übernommen hatte. Ich gab ein Geräusch von mir, halb Schrei halb Jaulen, was Cio dazu brachte sich mir wieder zuzuwenden. Meine Gedanken lösten sich auf und dann lag ich schwer atmend in einem kahlen Raum und blickte mich vorsichtig um.

Dieser Ort, ich kannte in nicht. Vorsichtig zog ich mich ein wenig zurück und schaute mich wachsam um. Da waren zwei Männer. Ich hob die Nase um die Witterung zu prüfen. Dieser Geruch. Gefährte. Da, der Mann. Gefährte. Achtsam erhob ich mich auf die Pfoten. Etwas rutschte von meinem Rücken und ließ mich vor Schreck zur Seite springen. Was war das? Es roch nach meinem Gefährten. Der Mann. Ich wollte zu ihm.

Langsam schlich ich auf ihn zu. Er knurrte, als ich näher kam. Ich ließ mich sofort unterwürfig auf den Boden fallen und wartete. Sein starrer Blick war auf mich gerichtet. Die Geräusche verklangen, aber trotzdem wagte ich es eine ganze Weile nicht mich vom Fleck zu rühren – nicht solange ich seinen Blick auf mir spürte.

Wellen der Wut gingen von ihm aus, die auch nicht nachließen, als er sich von mir abwandte. Ich kroch näher an ihn heran. Noch näher. Er ignorierte mich. Vorsichtig erhob ich mich wieder und schlich weiter auf ihn zu. Direkt neben ihn blieb ich geduckt stehen.

Cio, schrie mein Herz. Gefährte.

Sehr langsam kroch ich unter seine ausgestreckten Beine und rollte mich dort zusammen. Er stand nicht auf oder ging gar weg, aber er beachtete mich auch nicht. Da war nichts als diese stille verzweifelte Wut, die jede Faser seines Seins erfüllte.

 

°°°

 

Weder meine Nase, noch meine Ohren waren so gut wie die eines reinrassigen Lykaners, trotzdem hörte ich wie sich die Tür zur Wächterstation öffnete und nahm den vertrauten Geruch wahr, der mit dem Wind in die Zelle wehte. Es war Genevièv, Cios Mutter.

Ich wusste nicht wie lange ich bereits hier lag. Irgendwie hatte sich mein ganzes Denken eine Zeitlang verabschiedet, weshalb ich ein wenig verwirrt gewesen war, als ich mich plötzlich eingerollt unter der Bank und Cio wiederfand. Der Wolf hatte eine Zeitlang die Führung übernommen, soviel war mir mittlerweile klar.

Wusste Cio das? Hatte er es deswegen zugelassen, dass ich mich zu ihn legte? Ich hatte nicht gefragt. Genaugenommen hatte ich noch gar nichts gesagt, seit ich wieder zu mir gekommen war, aus Angst vor weiteren Zurückweisungen. Vielleicht glaubte er immer noch ich sei nur Wolf. Vielleicht wusste er, dass es nicht so war. Vielleicht war es ihm aber auch einfach völlig egal. Dieser Gedanke schmerzte am Meisten und auch die Ankunft seiner Mutter konnte mich nicht davon ablenken.

Ich hörte sie vorne mit den Wächtern sprechen. Auch Cio musste sie hören, ließ sich aber nichts anmerken. Er blieb einfach weiterhin auf seinem Hintern sitzen, als ginge ihn die ganze Sache nichts an. Selbst dann, als seine Mutter mit zwei Wächtern an die Zelle trat, reagierte er mit keinem Muskel. Nur seine Augen richteten sich auf den weiblichen Teil seiner Erzeugerfraktion.

Genevièv legte eine Hand um eine der Stangen und beäugte ihren Sohn mit einem strengen Blick. Auch mich bemerkte sie, obwohl ich halb versteckt unter ihm lag. Einen Moment wirkte sie überrascht – sollte ich doch eigentlich sicher im HQ sitzen und Däumchen drehen – aber die Überraschung wandelte sich sehr schnell zu Resignation. „Natürlich“, sagte sie leise. „Warum wundert es mich eigentlich noch euch beide hier zusammen vorzufinden. Selbst in einer Zelle seid ihr unzertrennlich.“

Bei diesen Worten sprang Cio so schnell auf, als wollte er damit verhindern seiner Mutter einen weiteren Grund zu liefen, der mich mit ihm in Verbindung brachte. Scheinbar wusste sie noch nichts von unserem Streit.

Ich dagegen zog mich tiefer in die Schatten unter der Bank zurück.

Cio schnappte sich noch seine Jacke vom Boden und trat dann ungeduldig ans Gitter. „Kann ich jetzt endlich gehen?“

Der Wächter machte ein missbilligendes Geräusch, deutete Genevièv aber zur Seite zu treten und öffnete dann die Zelle. „Ich hoffe, wir sehen uns nicht so schnell wieder.“

„Keine Sorge, ich hab nicht vor noch einmal in diesem Kabuff zu versauern.“ Er drängte sich an dem Wächter und seiner Mutter vorbei und verschwand so schnell um die nächste Ecke, dass er schon aus meinem Sichtfeld verschwunden war, bevor der Wächter die Zelle wieder verschlossen hatte.

Er war gegangen. Er war einfach gegangen und hatte sich noch nicht einmal zu mir umgedreht. Kein Wort, nicht einmal ein Blick. Er hatte mich einfach in dieser Zelle zurückgelassen und wieder konnte ich nichts anderes tun, als ihm in ohnmächtiger Machtlosigkeit hinterherzuschauen, denn Genevièv war scheinbar nicht nicht gekommen, um mich aus dem Kittchen zu holen. Ihrer Reaktion nach, hatte sie nicht einmal gewusst, dass ich hier sein würde.

„Und wann darf ich gehen?!“, fragte eine lallende Stimme links neben mir.

„Wenn du wieder nüchtern bist“, war die Antwort des Wächters, bevor er Genevièv mit einer Handbewegung dazu aufforderte ihm zu folgen.

Sie warf mir noch ein Stirnrunzeln zu, verschwand dann aber auch sehr schnell.

Ich blieb allein zurück. Mein Herz war taub. Nicht einmal mehr Tränen hatte ich.

„Komm, put put put.“ Der Mann machte ein seltsames Geräusch, mit dem er wohl versuchte mich unter der Bank hervorzulocken. „Komm kleiner Wolf.“

Ohne ihn aus den Augen zu lassen, kroch ich unter der Bank entlang, um noch mehr Abstand zwischen uns zu bringen.

„Ach nun hab dich doch nicht so.“ Mühsam richtete er sich auf und kippte dabei fast noch von seiner Bank. Der Kerl hatte eindeutig mehr als nur einen zu viel im Tee. „Komm her Wolfi.“ Beim Sprechen blitzten die beiden Fänge in seinem Mund auf.

Ich knurrte warnend. Bei all der Scheiße, hatte mir ein besoffener Vampir mit Koordinationsschwierigkeiten gerade noch gefehlt.

„Oh, aber sowas macht man doch nicht.“ Schwerfällig erhob er sich von seiner Bank und wankte in meiner Richtung. Es schien ganz so, als hätte er nur darauf gewartet endlich mit mir allein zu sein.

Zwar hatte ich nicht die geringste Ahnung, was genau er vorhatte, aber ich hatte auch kein Interesse daran, es herauszufinden. Darum huschte ich eilends davon, als er sich mit einiger Anstrengung vor der Bank auf die Knie sinken ließ und mit der Hand unter die Bank griff. Ich schlüpfte einfach unter seinem Arm hindurch, eilte quer durch die Zelle und kauerte mich unter der anderen Bank zusammen.

„He!“, schimpfte er und versucht mir mit den Augen zu folgen. Dabei verlor er das Gleichgewicht und landete auf seinem Allerwertesten. „Mann, warum schaukelt das so?“ Mit Unterstützung der Bank zog er sich ein weiteres Mal auf die Beine.

Wenn er mir noch einmal zu nahe kam, würde ich so lange jaulen, bis die Wächter sich hier her bewegten. Doch so weit kam es gar nicht erst, denn noch in der gleichen Minute, ging die Tür zu den Büroräumen und der Wächter erschien wieder an der Zelle.

„Hey!“ Er schlug gegen das Gitter, bis er die Aufmerksamkeit des Saufkopfs hatte. „Lass das Mädchen in Ruhe, außer du willst in die geschlossene Zelle.“

Der Vampir runzelte die Stirn, als bräuchte er einen Moment, den Worten einen Sinn zu geben. „Schon gut“, sagte er dann und ließ sich nicht besonders elegant auf die Bank plumpsen. „Ich mach doch gar nichts.“

„Das will ich für dich hoffen. Und vergiss nicht, da hängt eine Kamera. Ich sehe alles, was ihr hier drinnen treibt.“

„Ja ja, schon gut“, murrte der Kerl und warf mir einen bösen Blick zu, als wäre der Anpfiff meine Schuld gewesen.

Der Wächter warf mir noch einen kurzen prüfenden Blick zu, dann war er auch schon wieder verschwunden und ich ein weiteres Mal mit meinem Zellengenossen allein.

Dann hieß es für mich warten. Wenigstens lenkte die Anwesenheit des Vampirs mich ein wenig von den Gedanken in meinem Kopf ab, da ich ihn vorsichtshalber die ganze Zeit wachsam im Auge behielt. Leider reichte das nicht um sie vollständig abzuschalten. Was mich im Inneren bewegte, war einfach viel zu intensiv, als dass ich es ignorieren konnte.

Letztendlich hatte Cio doch noch gefunden, nur leider hatte mir das unterm Strich rein gar nichts gebracht. Er hasste mich, ja verabscheute mich geradezu für etwas, das ich nicht einmal getan hatte. Aber ich fühlte den Schmerz nicht länger. Es war als hätte Cio mit seinem Abgang auch all meine Gefühle mit sich genommen. Da war nur noch dieses dumpfe Pochen in dem Krater den er hinterlassen hatte.

Ich musste mir eingestehen, dass ich es versaut hatte. Unwiderruflich. Ich konnte nichts mehr tun, solange Cio sich nicht darauf besann, was uns verband und wie tief diese Verbindung ging. Warum nur vertraute er mir nicht? Ja, ich wusste genau was Iesha ihm angetan hatte und wie tief sie ihn damit verletzt hatte, aber ich war nicht sie. Wie konnte er auch nur einen Moment in Betracht ziehen, ich würde so etwas tun? Verdammt noch mal, ich hatte ihm doch nie einen Grund gegeben, an mir oder meinen Worten zu zweifeln.

Als ich ein Stechen in meiner Brust fühlte, musste ich mir eingestehen, dass er doch nicht alle Gefühle mit sich genommen hatte. Ein paar der schmerzhaften hatte er mir gelassen.

So lag ich unter der Bank, gefangen in meiner eigenen kleinen Hölle und konnte nichts anderes tun als auf das zu warten, was man für mich als nächstes geplant hatte.

Es war mir egal. Sollten sie doch kommen und mich holen. Meinetwegen konnte auch der Amor-Killer kommen und sein Werk an mir verrichten. Es konnte nicht annähernd so sehr schmerzen, wie der Kummer der mich mit jeder Faser quälte.

Daher war es mir auch egal, als die Tür ein weiteres Mal hörte und sich erneut Schritte der Zelle näherten. Ich schaute nicht mal auf, als sie direkt vor dem Gitter zum Halten kamen und gleich darauf der Schlüssel im Schloss gedreht wurde.

„Zaira“, sprach mich eine nur allzu vertraute Stimme an.

Ich bewegte nichts als meine Augen. Draußen stand Diego und schien auf mich zu warten. „Komm, lass uns gehen.“

Von mir aus. Auch das war mir egal. „Ich dachte die Wächter sollten mich abholen“, murmelte ich, als ich mich mit hängender Rute erhob und geschlagen aus der Zelle schlich. Dabei trat ich so vorsichtig auf, wie ich nur konnte. Meine Pfoten taten immer noch weh.

Diegos nächste Worte überraschten mich. „Cio hat mich angerufen und mich gebeten, dich hier rauszuholen.“

Mitten in der Zellentür blieb ich stehen und starrte ihn ungläubig an. Ich glaubte meinen Ohren nicht trauen zu können. Cio hatte seinen Vater um Hilfe gebeten?! Seinen Vater, mit dem er sich bei sich jeder bietenden Gelegenheit anfing zu streiten? Den Mann, mit dem er mehr oder weniger gerochen hatte? Und das auch noch wegen mir?

„Komm“, wiederholte Diego und wandte sich zum Gehen.

An meinem Herzen begann ein kleiner Riss zu heilen. Ich wagte kaum zu hoffen, aber das musste doch etwas zu bedeuten haben, oder? Cio hatte um Hilfe gebeten, damit ich nicht allein in dieser Zelle sitzen musste. Er hatte sich beim Gehen nicht umgedreht, aber er wollte mich auch nicht allein hier zurück lassen. Sich an Diego zu wenden, musste ihn eine unglaubliche Überwindung gekostet haben. Und er hatte das für mich getan.

Mit vorsichtiger Hoffnung folgte ich Diego nach vorne zu den Büros. Er musste noch einige Papiere unterschreiben, bevor er mich mitnehmen konnte, trat dann aber auch schon sehr bald zusammen mit mir aus dem Gebäude hinaus auf die Straße, die von der Mittagssonne hell beschien war.

„Hier lang.“ Diego führte mich nach links zu einem kleinen Besucherparkplatz, auf dem zurzeit nur drei Autos standen. Einer davon war der blauen Mazda von Genevièv und an ihm lehnte Cio.

Ich blieb stehen, als ich seinem Blick begegnete. Einen Moment taten wir beide nichts, als uns stumm in die Augen zu blicken. Doch dann wandte er sich einfach ab und verschwand auf dem Rücksitz des Wagens.

Diego wartete nur schweigend, bis ich mich wieder in Bewegung setzte. Da er dabei direkt den Wagen seiner Gefährtin ansteuerte, ging ich davon aus, dass auch ich in den Mazda musste. Auf die Rückbank. Zu Cio.

Ich zögerte, als Diego mir dir Tür öffnete.

„Na los“, sagte er leise. Irgendwie wirkte er ein wenig reuig. Vielleicht hatte es ja geholfen, dass sein Sohn beinahe die Band zu ihm gekappt hatte und er verstand endlich, dass die Bande zwischen ihnen beiden bald brechen würde, wenn er nicht endlich zur Besinnung kam.

Sehr zögernd sprang ich zu Cio auf die Rückbank. Vorsichtige Erwartung hatte sich in mir breit gemacht, doch er beachtete mich gar nicht. Sein Blick war durchs Seitenfenster nach draußen gerichtet, als versuchte er auszublenden, dass ich direkt neben ihm war. Ja, er hatte mir aus der Zelle geholfen, aber er war noch nicht bereit meine Gegenwart zur Kenntnis zu nehmen.

Aber er hat dir geholfen. Das war ein Anfang, wenn auch nur ein kleiner.

„Rute“, sagte Diego.

Hastig zog ich meinen Schwanz in den Wagen, damit er nicht eingeklemmt wurde, als Diego die Tür zuschlug und setzte mich dann vorsichtig neben Cio auf den Rücksitz. Vorne am Lenkrad saß Genevièv und beobachtete uns beide Aufmerksam durch den Rückspiegel. Ihr musste auffallen, dass wir Abstand zueinander hielten.

Diego nahm auf dem Beifahrersitz Platz und fünf Minuten später befanden wir uns bereits wieder auf dem Weg hinauf zum Schloss. Doch für die Umgebung hatte ich keine Augen. Immer wieder warf ich vorsichtige Blicke zu Cio, bis ich mich endlich traute ihn anzusprechen. Leider war „Danke“ alles was ich zu sagen hatte. Und da er nicht darauf reagierte, unterließ ich jeden weiteren Versuch ihn zum Reden zu bringen. Solange seine Eltern mit im Wagen saßen, würde das sowieso nichts bringen. Er brauchte Zeit das Geschehene zu verarbeiten und ins richtige Licht zu rücken, das war mir jetzt klar. Ihn zu etwas zwingen zu wollen, oder ihn gar zu bedrängen, würde mich von meinem Ziel nur immer weiter fortführen. So schwer es mir auch fiel, vorerst musste ich die Füße still halten und abwarten.

Die Fahrt verlief weitestgehend schweigend. Als das Portal der steinernen Außenmauer in Sicht kam, überkam mich eine bleierne Schwere. „Zurück in die Gefangenschaft“, murmelte ich.

Niemand reagierte darauf. Das war auch gar nicht nötig, wussten wir doch alle um die Wahrheit in meinen Worten.

Hinter dem Tor bangte ich einen kurzen Augenblick darum, wo genau ich nun hingebracht wurde, doch bevor ich danach fragten konnte, wies Diego seine Gefährtin schon an, direkt vor dem Eingang des HQs zu halten.

Der Anblick der sich mir dort bot, vermittelte mir ein Gefühl von Dejavu. Mein Vater der unruhig vor dem Eingang auf und ab lief. Meine Mutter im Schneidersitz und die beiden Wächter an der Treppe.

Mit knirschenden Reifen kam der Wagen zum Stehen und noch bevor der Motor ausgeschaltet war, stieg Cio bereits aus und eilte in das Gebäude hinein, ohne den kleinsten Blick für seine Umgebung und die Leute die dort standen. Er hatte es so eilig wegzukommen, dass er nicht einmal die Wagentür schloss.

Ich sprang auf und war einen Moment versucht ihm hinterherzurennen, blieb dann aber direkt vor dem Wagen einfach auf dem Kies stehen.

„Donasie!“ Meine Mutter sprang auf die Beine und rannte auf den Wagen zu, doch mein Vater war noch vor ihr bei mir. Er wirkte sauer, gleichzeitig schienen sich aber auch neue Sorgenfalten in seine Haut eingegraben zu haben.

Einen Moment stand er nur unschlüssig da, nicht sicher, ob er mich für meine Dummheit die Sicherheit des Hofes zu verlassen anschreien sollte, oder es doch besser war mir ruhig und gesittet Vorhaltungen zu machen. Schlussendlich schlang er aber einfach nur seine Arme um mich und vergrub erleichtert sein Gesicht in meinem Fell. „Was hast du dir nur dabei gedacht einfach abzuhauen?“

Da er mich im Moment sowieso nicht verstehen würde, versuchte ich gar nicht erst eine Erklärung zu finden, die ihn zufrieden stellen würde. Ich blieb einfach nur stehen und wartete ab, bis auch meine Mutter ihre Arme um mich legte und leise mit mir schimpfte. Ich ließ es einfach über mich ergehen, bis die beiden soweit waren von mir abzulassen. Erst dann setzte ich mich mit hängenden Schultern in Bewegung. Plötzlich war ich unglaublich müde, aber es kam gar nicht in Frage die Augen zu schließen. Cio war wieder hier und ich hatte furchtbare Angst, dass er einfach wieder verschwinden würde, wenn ich einen Moment nicht hinsah. Deswegen durfte ich die Tür nicht aus den Augen lassen.

„Komm Donasie, wir besorgen dir erstmal etwas zu Essen. Und dann vielleicht eine Dusche.“ Mit leichten Druck brachte sie mich dazu, meine Beine in Bewegung zu setzten. Noch immer trat ich dabei sehr vorsichtig auf. Wunden Pfoten auf Kies waren kein schönes Gefühl.

Mein Vater blieb noch einen Augenblick bei Diego und Genevièv zurück, während meine Mutter mich bereits ins Gebäude führte. Doch als sie den Korridor entlanglaufen wollte, blieb ich stehen. Sie lief noch zwei Schritte, bevor sie bemerkte, dass ich mich nicht mehr an ihrer Seite befand. Verwundert machte sie ein halbe Drehung und schaute mich dann fragend an. „Donasie?“

Ich konnte ihr nicht folgen. Ich durfte den Eingang nicht aus den Augen lassen. Wenn Cio wieder verschwand, würde ich keine zweite Chance bekommen ihn zu suchen. Sicher war ihnen mittlerweile klar, wie ich aus dem Gebäude gekommen war und sie würden es kein zweites Mal zulassen, dass ich Fahnenflucht begann. Darum tat ich das einzige, was mir in dieser Situation noch übrig blieb. Ich trat in die Ecke neben die Tür, rollte mich dort zusammen und starrte den Korridor hinunter, ohne wirklich etwas zu sehen.

„Was machst du denn?“, fragte meine Mutter verwirrt.

Ich schaute nur wortlos zu ihr auf. Da ich nicht bereit war mich zu verwandeln, war dies die einzige Möglichkeit mit ihr zu kommunizieren. Im Moment wollte ich einfach nicht mit meinen Eltern sprechen und ihnen ihre Fragen beantworten. Leider schien sie nichts außer dem Schmerz in meinen Augen sehen zu können.

„Ach Donasie.“ Sie hockte sich vor mich und strich mir vorsichtig über den Kopf. „Das ist doch kein guter Platz um sich auszuruhen.“

Doch, das war genau der richtige Platz. Wenn Cio das HQ verlassen wollte, dann musste er an mir vorbei. Der einzig bessere Platz wäre in seinen Armen, aber der war mir zur Zeit verwehrt, also musste ich nehmen was ich kriegen konnte.

Ein paar Themis kamen an uns vorbei und warfen uns neugierige Blicke zu, bevor sie das Gebäude verließen. Sowohl meine Mutter als auch ich ignorierten sie einfach.

„Willst du nicht doch wieder aufstehen?“, fragte sie leise. Dabei fuhr ihre Hand unaufhörlich durch mein Fell.

Ich schaute sie nur stumm an.

„Ach mein armer kleiner ...“ Sie unterbrach sich, als ihr Blick auf meine Pfoten fiel. „Oh mein Gott, Donasie!“ Beinahe schon ungläubig drehte sie meine rechte Pfote vorsichtig herum. Normalerweise waren meine Ballen komplett schwarz. Jetzt zeigten sich darauf ein paar kleine, offene Wunden.

Sofort kontrollierte meine Mutter auch meine restlichen drei Pfoten, die kaum besser aussahen. „Wie kannst du darauf noch laufen?“

Genau als sie diese Frage stellte, betrat mein Vater das Gebäude. Die Verwunderung darüber, dass ich hier im Korridor an der Wand lag, wurde sehr schnell ersetzt, als er meine aufgerissenen Ballen in ihrer Hand bemerkte. Seine Lippen drückten sich zu einem wütenden Strich zusammen. Aber er sagte nichts dazu, verschwand nur still, um ein paar Minuten später mit Wasserschüssel und Salbe wieder aufzutauchen.

Still kümmerten die beiden sich um meine Pfoten. Ich war so mit meinen eigenen Problemen und Sorgen beschäftigt, dass mir gar nicht auffiel, wie anormal das für die beiden war. Kein Schimpfen, keine ungebetenen Ratschläge. Keiner klagte mich wegen meiner Lügen an, oder tadelten mich, weil ich einfach abgehauen war. Ja sie verlangen nicht einmal von mir mich zurückzuverwandeln, damit sie mit mir sprechen konnten. Sie kümmerten sich einfach nur um meine Pfoten, bis alles gesäubert und mit Salbe beschmiert war. Dann verschwand mein Vater erneut, nur um mit einer Decke wiederzukommen.

Während all dessen wurden meine Augen immer schwerer. Ich war so müde. Seit fast eineinhalb Tagen hatte ich nicht mehr geschlafen. Aber auch wenn meine Augen wie Feuer brannten, ich durfte sie nicht schließen, ich musste wachsam bleiben. Darum zwang ich mich die ganze Zeit den Kopf oben zu halten, damit ich nicht einfach einschlafen konnte. Ich würde nicht schlafen, ich würde …

Hastig riss ich den Kopf wieder nach oben. Verdammt, jetzt wäre ich doch fast weggepennt.

Ich schüttelte den Kopf und ignorierte dabei meine Eltern, die nicht weit von mir entfernt an der Wand lehnten und mich aufmerksam im Auge behielten. Wahrscheinlich würden sie jetzt im Schichtwechsel arbeiten, damit ich nicht mehr so einfach abhanden kommen konnte. War schließlich nicht das erste mal, dass ich mich ohne ihr Wissen einfach aus dem Staub gemacht hatte. Wenn ich so darüber nachdachte, machte ich das eigentlich ziemlich oft. Aber ich tat es ja auch nur, wenn mir keine andere Wahl blieb. Wie damals, als ich ohne ihr Wissen in die verborgene Welt eingetaucht war. Oder als bei dem kleinen Ausflug nach Italien, als wir meine Eltern auf einem Schiff im Hafen von Ponte Doria bei Genova vermutet hatten. Ich wusste noch genau, wie die Luft damals gerochen hatte und das Wasser unter dem Schiff. Immer wieder schlug es dagegen. Ein Rhythmus, der niemals ein ende fand. Plötzlich ragten um mich herum Türme aus Containern auf. Ein Labyrinth. Ich steckte die Nase in die Luft und versuchte die Witterung von Cio aufzunehmen. Er musste hier sein, ich wusste es, ich musste ihn nur finden.

Der Wind strich schneiden kalt durch mein Fell. In der Ferne hörte ich die Stimme von Tayfun, der klangvoll die Geschichte Paradise Lost von John Milton zum Besten gab. Die Luft schmeckte salzig. Aber wo was Cio?

Die Türme um mich herum wurden immer höher und begannen gefährlich zu schaukeln. Irgendwo krachte ein Container mit lautem Getöse von seiner Spitze. Vor Schreck sprang ich zur Seite und jaulte gleich darauf vor Schmerz auf. Meine Pfoten. Oh Gott, meine Pfoten waren nichts als blutige Stümpfe.

Ich ruckte hoch und schaute mich orientierungslos nach allen Seiten um. Nein, ich befand mich nicht auf einem Containerschiff, ich war im HQ. Genaugenommen lag ich neben den Eingang.

Verdammt!“, fluchte ich. Ich war doch eingeschlafen. Und das nicht nur für einen kurzen Moment, wie ich mit einem Blick durchs Fenster feststellen konnte. Draußen dämmerte es bereits. Mein Blick richtete sich auf meine Pfoten. Nein, das waren keine blutigen Stümpfe, nur ein paar wunde Ballen, die ich mir bei der Suche nach Cio zugezogen …

Cio!

Augenblicklich erwachten meine Sinne zum Leben und wehten mir einen nur allzu vertrauten Geruch um die Nase. Er war hier, ganz in der Nähe. Aber er war nicht durch die Tür gegangen. Er hatte sich also nicht an mir vorbei geschlichen.

Dieser Gedanke war bittersüß und erinnerte mich nur zu genau an das, was geschehen war. Meine Brust zog sich zusammen. Nein, verbot ich mir. Ich würde nicht wieder mit weinen anfangen. Das war nicht nötig. Ich wusste doch, dass noch nicht alles verloren war, ich musste ihm nur ein wenig Zeit geben. Aber nach ihm zu sehen, konnte sicher nicht schaden. Nicht nur um mich zu versichern, dass er auch wirklich noch hier war. Ich wollte ihm sehen, musste wissen dass es ihm gut ging und vielleicht – nur ganz vielleicht – war er ja mittlerweile bereit mit zuzuhören.

Als ich mich jedoch bewegte, bewegte sich ein anderer Körper hinter mir. Ich brauchte nur einen Blick über meine Schulter zu werfen um meine Mutter zu sehen, die sich in ihrer Panthergestalt an mich gekuschelt hatte. Eine Pfote ruhte dabei schwer auf meinem Rücken. Von meinem Vater fehlte jede Spur. Allerdings konnte ich ihn riechen, also konnte er auch nicht allzu weit entfernt sein.

Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, rückte ich von ihr ab. Nicht das ich wieder vor hatte zu verschwinden, aber die letzte Nacht war für sie kaum weniger Anstrengend gewesen, als für mich, da musste ich sie nicht unnötig aus dem Schlaf reißen.

Langsam robbte ich von ihr weg, bis ihre Pfote von meinem Rücken rutschte und auf dem Deckenknäuel landete, der halb unter und halb über uns gelegen hatte. Erst dann erhob ich mich vorsichtig auf die Pfoten und schüttelte mir den unerwünschten Schlaf aus dem Fell.

Ich war noch immer müde. Die Erschöpfung hatte sich tief in meine Knochen gegraben. Aber Cios Geruch in der Luft schob all das in den Hintergrund, denn in mir lauerte eine Sehnsucht, die mich trotz allen Widrigkeiten zu ihm trieb.

Behutsam setzte ich eine Pfote vor die andere. Die Salbe schien geholfen zu haben. Sie waren noch nicht wieder in Ordnung, aber sie schmerzten bei weitem nicht mehr so sehr, wie bei meiner Ankunft im HQ. Wahrscheinlich war die Salbe aus Vampirspeichel gemacht worden.

Immer der Nase nach, folgte ich der Witterung in der Luft. Sie brachte mich in die Zentrale, die im Augenblick ziemlich überfüllt war. Ein ganzer Haufen Leute hatte sich um den großen Tisch in der Mitte versammelt. Cio war unter ihnen, genau gegenüber von meinem Vater und Cayenne. Sie schienen sich in einer Strategiebesprechung für eine kurz bevorstehende Mission zu befinden.

Um nicht zu stören, setzte ich mich still und heimlich direkt neben die Tür. Mein Vater richtete sofort seinen Blick auf mich, blieb aber wo er war. Ich bemerkte es kaum, hatte ich doch nur Augen für Cio. Er hatte geduscht und wirkte ausgeruht. Die Klamotten die er trug kannte ich nicht, was wohl hieß, er hatte sie hier im HQ bekommen.

Genau wie ein paar der anderen, musste auch er meine Ankunft bemerkt haben. Cio war immer sehr aufmerksam. Wahrscheinlich hatte er mich schon vor allen anderen bemerkt, aber er beachtete mich nicht. Nicht mal einen kurzen Blick hatte er für mich übrig. Und das lag sicher nicht allein an seiner Konzentration.

Es schmerzte. Ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen, aber diese Ablehnung war so deutlich, dass sie auch den anderen auffallen musste. Nicht dass es mich im Moment interessierte was die anderen über uns dachten.

Wenn ich nur wüsste was in seinem Kopf vor sich ging und was ich tun konnte, um diese Sache zwischen uns aus der Welt zu schaffen. Ich wusste das ich einen Fehler gemacht hatte, aber ich verstand einfach nicht, warum er mir so wenig vertraute. Hatte ich irgendwann mal etwas getan, was ihn an meinen Worten zweifeln ließ? Vielleicht hatte ich etwas getan, ohne es zu bemerken. Das war für mich das Einzige, was sein Verhalten erklärte.

Bevor ich diese Gedanken weiter verfolgen konnte, drang mir eine andere bekannte Witterung in die Nase. Im gleichen Moment trat Tayfun neben mich und seine Hand landete zu einem Tätscheln auf meinem Kopf.

„Na, wieder alles okay bei …“

Nein, nicht er! Ich sprang nicht nur von ihm weg, ich riss dabei auch noch einen der Bürostühle mit um und krachte beinahe auf die Nase.

Überrascht schaute er mich an. „Hey“, sagte er. „Ganz ruhig, ich bin …“

Als er versuchte die Hand erneut nach mir auszustrecken, brannte bei mir eine Sicherung durch. „Fassmichnichtan!“, schrie ich so, dass es auch jeder im Raum hören konnte, der dazu fähig war, schnappte nach ihm und wich knurrend weiter zurück. Dabei bleckte ich die Zähne so stark, dass mein blankes Zahnfleisch ihm entgegenblitze. Die Ohren angelegt, die Rute steil nach oben. Sogar das Fell auf meinem Rücken war gesträubt.

Tayfun wurde eine Spur blasser und trat sehr wachsam einen Schritt vor mir zurück. Sein ganzer Körper war angespannt. Aber das war mir egal. Er sollte mich nicht berühren, nie wieder. Es würde Cio verletzten und das konnte ich nicht zulassen.

Cio …

Hastig schaute ich mich nach ihm um. Dabei bemerkte ich kaum, wie still es im Raum geworden war und dass aller Aufmerksamkeit auf mir lag. Manche erstaunt, wie Cayenne, andere verärgert durch die Unterbrechung, wieder andere fragend. Oder missmutig, wie bei meinem Vater. Ich hatte nur Augen für Cio, der mich endlich – ENDLICH! – anschaute. Sein Blick ging von Tayfun zu mir. Seine Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst und nichts an ihm verriet mir, was in seinem Kopf vor sich ging, als er mir einen langen Moment wortlos in die Augen starrte.

Es tut mir leid“, sagte ich leise und nur zu ihm. Doch unter diesem Blick wurde ich immer kleiner. Diese Ablehnung, die tat so verdammt weh. „Es … es tut mir leid“, wiederholte ich schwach und zog den Kopf ein. Und dann wandte er sich einfach wieder ab.

Irgendjemand hob den Stuhl auf und stellte ihn zurück auf seinen Platz. Mein Vater warf mir einen mitfühlenden Blick zu – Cio bekam einen äußerst verärgerten von ihm – und Tayfun machte stirnrunzelnd einen großen Bogen um mich. Und ich? Mir blieb gar nichts anderes übrig, als die Rute bis unter den Bauch zu klemmen und mit hochgezogenen Schultern unter dem nächsten Schreibtisch zu kriechen. Nicht nur dass ich hier nicht im Weg liegen würde, es würde auch verhindern, dass wieder irgendein Kerl kam und versuchte mir den Kopf zu tätscheln – mal ehrlich, sah ich aus wie ein Hund? Nie wieder würde ich es zulassen, dass ein anderer als Cio mich berührte, egal ob Freund, Fremder, oder Verwandter. Ich würde es unter allen Umständen verhindern, dass ich Cio noch einmal verletzte.

Leider war das Schicksal mal wieder ein richtig gemeines Ass, denn außer mir gab es einen weiteren Wolf in diesem Raum, der sich immer unter die Schreibtische legte, um nicht im Weg zu sein. Sydney.

Da ich meine Aufmerksamkeit weiterhin auf Cio richtete, bemerkte ich ihn nicht. Naja, zumindest nicht, bis ich diesen alles durchdringenden Blick spürte.

Hastig schaute ich nach links und da lag er. Seine Augen ungewandt auf mich gerichtet. Als er sich dann auch noch erhob und auf mich zu trottete, bleckte ich erneut die Zähne. Es war egal, wer er war und dass er mit der ganzen Sache nichts zu tun hatte. Er war ein Mann und ich würde ihn nicht in meiner Nähe dulden – das durfte ich einfach nicht.

Sydney hielt sofort an, wandte sich aber nicht ab. Er schaute mich einfach nur stumm an, als könnte er mir so auch meine dunkelsten Geheimnisse aus den verborgensten Teilen meinen Hirns entlocken. „Hast du dich jemals gefragt, woran Cayennes Geist zerbrochen ist?“, fragte er nach einem unendlich langen Moment sehr leise.

Ich antwortete nicht, drückte mich nur tiefer in meine Ecke.

Es war ihre Machtlosigkeit, der Schmerz, den andere ihr zufügten. Früher war sie so stark, einfach unerschütterlich, aber wenn der Schmerz die Möglichkeit bekommt sich immer und immer tiefer in eine Seele zu graben, zerbricht auch der stärkste Geist daran.“ Er machte einen Schritt auf mich zu, blieb aber sofort wieder stehen, als ich erneut die Zähne bleckte. „Pass auf, dass dein Schmerz nicht die Gelegenheit erhält, dich zu zerbrechen.“

Das würde schon nicht passieren. Egal wie enttäuscht Cio von mir war, das würde er niemals zulassen. Im Moment war er einfach nur enttäuscht von mir und wusste nicht genau wohin mit seinen Gefühlen und so sehr mich das auch scherzte, ich konnte es verstehen.

Vielleicht …“

Bevor er noch die Gelegenheit bekam mir weitere Geschichten zu erzählen, oder gar Ratschläge zu geben, die ich nicht wollte, erhob ich mich und huschte hastig durch den Raum unter den Tisch, um den sich die Themis versammelt hatten. Ich kroch so nahe wie möglich an Cio heran, ohne jemanden dabei auf die Zehen zu treten oder gar zu stören und legte mich zu seinen Füßen nieder. Sein Geruch schlug mir entgegen. Er roch so gut, so vertraut und sie Sehnsucht nahm ihm übermannte mich fast. Wenn ich ihn doch nur berühren dürfte, mich an ihn schmiegen. Ich wünschte es mir so sehr.

„Also gut“, verkündete Murphy dann. „So machen wir es. Tayfun, du spielst den hörigen Sklaven. Romeo wird wieder der Geschäftsmann sein – er wird in Cottbus mit uns zusammen treffen. Sergio und ich werden die Bodyguards geben und du mein kleiner Abc-Schütze“, – er tätschelt Cios Schulter – „du wirst die ganze Zeit nicht einen Millimeter von meiner Seite weichen, haben wir uns verstanden?“

„Ich bin durchaus in der Lage, sinnvolle Befehle zu befolgen.“

Als ich Cios Stimme hörte, zog sich etwas in mir schmerzhaft zusammen. Er klang so … normal.

„Das hört sich gut an. Mal schauen wie du dich so machst. Und der Rest von euch hält sich in der Nähe bereit, damit wir zuschlagen können, sobald Romeo das Zeichen gibt.“

Aber Moment … was? Hieß das Cio würde wegfahren? Jetzt? Aber … nein, er konnte doch nicht einfach verschwinden.

Fast hätte ich gewinselt. Reiß dich zusammen, gib ihm Luft zum atmen. Aber es war so schwer.

Murphy klatschte in die Hände. „Na dann los mit euch. Tut was immer ihr noch tun müsst, packt ein paar Sachen, vernascht eure Liebsten und betet zu Leukos, damit wir alle wieder heil nach Hause kommen. In einer halben Stunde treffen wir uns wieder hier, dann geht es los.“

Murmelnd kamen die Anwesenden in Bewegung.

Sie würden also wirklich bald aufbrechen. Genaugenommen in einer halben Stunde. Dann wäre Cio für mich eine ganze Weile unerreichbar. Vielleicht … vielleicht war das gar nicht so schlecht. Ein wenig Abstand könnte ihn die ganze Sacher klarer sehen lassen. Zumindest redete ich mir das ein, obwohl ich selber nicht daran glaubte.

Auch Cio entfernte sich von seinem Platz und da es mir das einzig Sinnvolle erschien, erhob auch ich mich und schlich hinter ihm her hinaus in den Korridor. Vielleicht bekam ich ja noch eine Gelegenheit mit ihm zu sprechen, bevor er aufbrach.

Als Cayenne nach mir rief, ignorierte ich sie einfach. Genau wie die wachsamen Blicke meines Vaters, die mich verfolgten, bis ich die Zentrale verlassen hatte. Das hier war eine Sache zwischen mir und Cio und die ging niemand anderen etwas an.

Ich wollte nicht dass er ging. Ein Themis zu sein war viel gefährlicher, als die Arbeit als Umbra, denn dabei begab man zwangsläufig von einer Gefahr in die Nächste. Sklavenhändler waren im Allgemein keine netten Zeitgenossen. Zwar wusste ich nicht mit Sicherheit, was genau geschah, wenn sie wieder zu einem Auftrag aufbrachen, aber ich hatte Papa in den letzten Jahren oft genug gesehen, wenn er wieder nach Hause gekommen war. Einmal hatte er sogar einen Streifschuss am Arm abbekommen. Es reichte mir eigentlich schon, dass meine leiblichen Eltern sich ständig in Lebensgefahr begaben, ich wollte nicht auch noch dass mein …

Rums.

Überrascht wich ich zurück und musste feststellen, dass ich in Cio reingelaufen war, der mich nun böse anfunkelte. Sofort wurde ich wieder kleiner. Es war schon peinlich, wie schnell ich in mich zusammen sackte, um ihm zu zeigen, wie unterwürfig ich war. Wenn das so weiter ging, würde sich meine Rute nie wieder von meinem Bauch lösen. „Tut mir leid“, flüsterte ich und wich seinem Blick aus, einfach weil ich die Härte und Abweisung darin nicht ertrug.

Bei meiner Entschuldigung, verwandelte sein Gesicht sich in eine ausdruckslose Maske, wie er sie immer bei der Arbeit getragen hatte. „Hör auf hinter mir her zu schleichen“, knurrte er mit harter Stimme. „Ich will dich nicht sehen.“

Soweit es überhaupt möglich noch war, wurde ich noch kleiner. Seine Zurückweisung tat mit jedem Mal mehr weh. „Tut mir leid.“ Mann, mir fiel aber auch nichts anderes ein.

Cio schnaubte nur und wandte mir dann den Rücken zu.

„Das reicht jetzt!“, donnert mein Vater plötzlich quer durch den Flur. Er war aus der Zentrale gekommen und hatte das kleine Häufchen Elend, das ich darstellte, entdeckt. Mit langen wütenden Schritten marschierte er auf mich zu. Dabei strahlte er seine Wut wie eine spürbare Aura ab, die alles in der Nähe zu verschlingen drohte.

Nein, Moment, nicht ich war sein Ziel. Seine Schritte führten ihn an mir vorbei, zielgerichtet auf Cio zu. Und dabei sah er aus, als wolle er jeden Moment einen Mord begehen.

Ich wusste nicht genau wie das folgende geschah. Plötzlich hatte ich einfach Panik. Wenn mein Vater sich einmischte, würde er alles nur noch schlimmer machen und mir und Cio damit die letzte Chance rauben, jemals wieder zueinander zu finden. Das konnte ich nicht zulassen. Das durfte ich nicht zulassen, denn nicht Cio war es gewesen, der hier die Fehler gemacht hatte.

„Cio!“, fauchte mein Vater.

Cio drehte sich herum und in dem Moment griff mein Vater nach ihm.

Ich dachte gar nicht darüber nach was ich da tat. In dem einen Augenblick kauerte ich noch auf dem Boden und in nächsten segelte ich mit gebleckten Zähnen durch die Luft, bereit sie meinem Vater in den Arm zu schlagen.

 

°°°°°

Herzfinsternis

 

Ich erwischte ihn nicht. Mein Vater war ein reinrassiger Vampir und seine Reaktionen dementsprechend schnell. Meine Zähne gingen ins Leere, doch hätte ich ihn erwischt, hätte es nicht nur wehgetan.

Der Aufprall auf dem Boden war hart. Zähnebleckend landete ich zwischen dem Mann dem ich von ganzem Herzen liebte und dem Mann, dem ich mein Leben zu verdanken hatte, um sie beide voneinander fern zu halten. Meine Knochen wurden bei der Landung durchgeschüttelt und meine geschunden Pfoten begannen wieder unangenehm zu pochen. Und dann ging mir auf, was ich da gerade fast getan hätte.

Erschrocken über mich selbst und den fassungslosen Ausdruck in den Augen meines Vaters, sackte ich wieder in mich zusammen. Ich gab sicher ein tolles Bild ab. Die Ohren Angelegt, den Kopf unterwürfig gesenkt und die Rute zwischen die Beine geklemmt. Doch gleichzeitig war ich verzweifelt genug, um ihm weiterhin meine blanken Zähne zu zeigen und leise anzuknurren, ihn gleichzeitig aber auch mit den Augen um Vergebung anzuflehen. Es tat mir Leid, so fürchterlich leid, aber ich durfte das einfach nicht zulassen – das musste er verstehen.

Cio sah nicht weniger erschrocken aus, ja geradezu schockiert. Ihm war genauso klar wie mir, dass ich das nur tat, um ihn vor meinem Vater zu schützen. Und er wusste absolut nicht was er davon halten sollte.

„Bist du nun zufrieden?!“, fauchte Papa plötzlich Cio an. „Ist es das was du erreichen wolltest?! Na dann herzlichen Glückwunsch!“

Er schockierte Ausdruck in Cios Gesicht wich eiserner Distanziertheit. „Ich habe gar nichts getan!“, verteidigte er sich sofort. „Also mach mich nicht blöd an!“

Von dem Gebrüll geweckt, hob meine Mutter am Ende des Korridors verschlafen den Kopf und blinzelte müde, bis sie unsere Konstellation bemerkte. Stirnrunzelnd und noch halb im Land der Träume, versuchte sie daraus schlau zu werden.

„Gar nichts?!“ Mein Vater sah aus, als würde ihn gleich der Schlag treffen. „Schau sie dir doch an!“ Er zeigte so nachdrücklich auf mich, dass ich die Lefzen etwas höher zog.

Bitte Papa, geh doch einfach.“

„Hältst du das für normal?! Sie hat solche Angst dich zu verlieren, dass sie sogar versucht mich zu beißen! Ich wusste von Anfang an, dass du nur Ärger bringst und ihr am Ende das Herz brichst, aber ich hätte nie gedacht, dass du versuchen würdest sie auf so grausame Art zu zerstören!“

Geh endlich!“, schrie ich und machte einen Satz nach vorne, um ihn von Cio wegzutreiben. Mit jedem seiner Worte machte er die Situation nur schlimmer. Aber mein Vater bewegte sich keinen Millimeter und zwang mich damit gleich wieder zum Rückzug. Ich wollte ihn nicht beißen.

„Zaira!“ Meine Mutter – die gerade erst auf die Beine kam – war von meinem Handeln so geschockt, dass sie mich in sprachlosem Entsetzen einfach nur anschaute.

Ich beachtete sie nicht, darum konnte ich mich jetzt nicht auch noch kümmern. „Bitte“, flehte ich meinen Vater knurrend an und spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, ich wollte das nicht tun, aber er ließ mir keine Wahl.

Natürlich verstand mein Vater nichts von dem was ich sagte – im Gegensatz zu Cio und dem Dutzend Lykanern, die aus der Zentrale gekommen waren und sich auf dem Korridor zwischen Zentrale und Ausgang herumtrieben. Unter ihnen befanden sich auch Cayenne und Sydney.

„Nicht ich bin hier das Problem“, knurrte Cio und kehrte uns allen den Rücken.

„Du bist ein elender Mistkerl“, fauchte Papa ihm hinterher. „Dein Vater hat schon Recht, sowas wie dich verdient niemand!“

Bei der Erwähnung von Diego zog Cio die Schultern hoch, schaute aber nicht zurück oder reagierte sonst wie auf die Beleidigung. Er lief einfach weiter auf den Ausgang zu, direkt an meiner angespannten Mutter vorbei und verschwand hinaus – zusammen mit meinem Herzen.

Ich konnte nicht hinterher. Ich musste aufpassen, dass Papa ihm nicht folgen konnte, denn ich wüsste nicht was er im Moment mit meinem Freund machen würde, wenn er ihn zwischen die Finger bekam. Auch wenn es wehtat ihn einfach ziehen zu lassen, im Augenblick war es besser so.

Aber mein Vater versuchte gar nicht an mir vorbei zu kommen, um ihm zu folgen. Er stand einfach nur da, öffnete und schloss immer wieder die Fäuste und schaute mich eine ganze Weile einfach nur an. In seinem Blick rangen Wut, Mitleid und Resignation miteinander. Und erst als ich aufhörte zu knurren und nichts weiter war, als ein lächerliches Häufchen Elend auf vier geschunden Pfoten, schloss er mit einem Seufzen für einen Moment die Augen.

„Zaira“, sagte er leise und ging langsam vor mir in die Hocke. Doch als er versuchte die Hand nach mir auszustrecken, wich ich hastig vor ihm zurück, bis die Wand mir einen weiteren Rückzug unmöglich machte.

Nein“, sagte ich leise und schüttelte den Kopf. „Nicht.“ Ja, er war mein Vater, aber er war auch ein Mann und ich hatte mir geschworen, mich nie mehr von einem anderen Mann als Cio berühren zu lassen – egal wie sehr es auch wehtun mochte.

Diese Zurückweisung schmerzte meinen Vater so sehr, dass ich es sogar in seinen Augen sehen konnte. Beinahe schon kraftlos, ließ er seinen Arm zurück an seine Seite fallen. Dabei wirkte er so hilflos, wie ich ihn in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen hatte. Er wusste absolut nicht was er tun sollte.

Damit waren wir schon zu zweit.

Es tut mir leid“, flüsterte ich. Das war mittlerweile wohl mein neues Mantra. „Es tut mir leid.“ Noch immer rannen Tränen aus meinen Augen.

„Haben wir nicht irgendwas zu tun?“, rief Cayenne plötzlich. „Verschwindet endlich ihr neugieriges Pack.“ Sie spielte ein wenig mit ihrem Odeur, um ihren Worten ein wenig Nachdruck zu verleihen und die ganzen Schaulustigen von ihren Plätzen zu vertreiben. Es funktioniert, wenn auch nur langsam.

Und ich kauerte noch immer unter dem Blicken meines Vaters völlig verloren und allein an der Wand. Aber nun, nachdem unser Publikum sich weitestgehend verteilt hatte und verschwunden war, wandte sich auch Cayenne zu mir um. Ich tat nichts, als sie sich neben mich kniete und achtsam die Hand nach mir ausstreckte. Selbst als sie meinen Hals berührte und vorsichtig mit der Hand in mein Fell fuhr, regte ich mich nicht.

„Was ist nur passiert?“, fragte sie sehr leise.

Wo sollte ich da nur anfangen? „Ich ...“ Ich schüttelte den Kopf und befreite mich damit auch von ihrer Berührung. „Egal.“ Es war Zeit den Rückzug anzutreten. „Tut mir leid, ich muss gehen.“ Hastig wich ich vor ihr und auch allen anderen zurück, drehte mich herum und floh tief in die Eingeweide des HQs. Die Treppe hinunter in den Keller, nach hinten zum letzten Zimmer. Mein Zimmer. Die Tür bekam ich mit den Pfoten auf. Dabei krachte sie gegen die Wand und hinterließ eine Delle in der Tapete.

Es war egal. Alles war egal. Ich wollte nur weg um mit meinem Kummer allein zu sein. Ich schaltete nicht mal das Licht ein, obwohl ich dazu auch als Wolf durchaus in der Lage gewesen wäre. Ich verkroch mich einfach in der hintersten Ecke unter meinem Bett und versank in einem Meer des Kummers, der mich mit sich in die Tiefe zu reißen drohte.

Die Tränen in meinem Gesicht waren nur ein unbedeutender Ausdruck dessen, was mein Herz im Moment in Stücke zu zerreißen drohte. Alles wurde immer schlimmer. Verdammt noch mal, ich hatte meinen Vater angegriffen. Ich hatte ihn auf eine Art vor den Kopf gestoßen, die ich mir selbst in meinen schlimmsten Zeiten niemals hätte vorstellen können. Und nun war Cio wieder weg. Bald sogar aus Silenda, auf dem Weg zu seinem ersten Auftrag mit den Themis. Zu einem Auftrag, an dem auch mein Vater teilnehmen würde.

Oh Gott.

Plötzlich fror ich bis auf die Knochen und das hatte absolut nicht mit den Temperaturen im Raum zu tun. Ich wollte zu Cio. Ich wollte mich wenigstens noch von ihm verabschieden, bevor er aufbrach und ihm viel Glück wünschen. Aber heute würde er sicher nicht mehr ins HQ zurückkehren.

Wahrscheinlich war er gerade auf den Weg in seine Wohnung um ein paar Sachen zu packen, die er brauchen würde. Und dann wäre er für … ich wusste nicht einmal wie lange er weg sein würde. Er könnte schon morgen wieder hier sein. Oder auch erst in einer Woche.

Warum nur war ich zu Tayfun gegangen? Ich rühmte mich doch immer damit, wie gut ich Cio kannte, ich hätte wissen müssen was passieren würden, wenn ich ohne ihn bei dem Vampir sein würde. Ich hatte einfach nicht nachgedacht. Bei uns war es immer so gut gelaufen, dass ich mir einfach nicht hätte vorstellen können, dass es zwischen uns jemals ernsthaft kriseln könnte. Obwohl das ja mehr war als eine kleine Krise, das war schon eine ausgewachsene Katastrophe. Eine Welt die plötzlich in Schutt und Asche lag. Meine Welt. Und ich konnte im Moment nichts tun, um etwas daran zu ändern.

Als der Boden im Korridor knarrte, spannte ich mich an. Noch in der gleichen Minute schlich meine Mutter auf leisen Tatzen in den Raum. „Donasie?“

Ich reagierte nicht. Das war auch nicht nötig. In ihrer Tiergestalt funktionierte ihre Nase noch besser als meine und so hatte sie mich schon nach kurzer Zeit in der Ecke unter dem Bett entdeckt.

„Ach mein kleiner Schatz.“

Keine Ahnung wie sie das anstellte – schließlich war sie als Panther ein wenig größer als ich – aber sie schaffte es zu mir unter das Bett zu kriechen, ohne das Gestell dabei zum Wackeln zu bringen. Ich bewegte mich nicht, als sie sich an mich schmiegte, als wollte sie mich vor der großen bösen Welt abschirmen.

Wie sie es schon getan hatte, als ich noch ein kleines Kind war, das Trost bei seiner Mutter suchte, schnurrte sie leise und kuschelte sich so eng an mich, als könnte sie so den ganzen Schmerz der mich belastete aus mir heraus ziehen. Leider funktionierte es nicht und doch hatte ihre mütterliche Nähe etwas Tröstliches, dass es endlich schaffte den Schmerz in mir ein wenig zu lindern. Es war nicht so, dass er verschwand. Der Sturm in mir legte sich nur, bis er zu einem verregneten Abbild meiner selbst wurde.

So lagen wir da. Stunde um Stunde. Zwischendurch kam mein Vater noch kurz vorbei um uns zu sagen, dass er nun aufbrechen würde. Auch Cayenne tauchte auf und blieb eine ganze Weile, in der sie sich leise mit Mama unterhielt. Sie nahm an dieser Mission nicht teil, schließlich musste die Zentrale ja besetzt bleiben. Ich vermutete, dass sie nur wegen mir in der Stadt blieb.

Mir war es egal. Sollte sie doch tun und lassen was sie wollte. Genauso egal war es mir, als sie am späten Abend aufbrach und mich mit Mama allein zurück ließ, obwohl die nun folgende Stille es nicht wirklich erträglicher machte.

Die Nacht war lang und trotz Mamas Nähe fühlte ich mich so einsam wie noch nie in meinem Leben. Jahrhunderte schienen an mir vorbeizuziehen, bevor mein Körper endgültig die Segel strich und eine Zwangspause erwirkte. Die drei Stunden Schlaf am Mittag waren bei weitem nicht genug gewesen und so hätte es mich eigentlich nicht wundern sollen, dass das Mittagessen schon lange vorbei war, als ich das nächste Mal die Augen öffnete. Wobei ich das nicht freiwillig tat. Aber mein Handy bimmelte wie verrückt und wollte ganz dringend meine Aufmerksamkeit.

Ich ließ es einfach bimmeln. Im Moment gab es nur einen den ich sprechen wollte und der würde mit Sicherheit nicht anrufen.

Seufzend streckte ich meine schmerzenden Gliedmaßen von mir. Die Nacht auf dem Boden unter einem Bett zu verbringen, war nicht zu empfehlen. Naja, außer man wollte der Welt ein kleines Weilchen entfliehen, dann konnte es durchaus praktisch sein.

Meine Mutter lag nicht mehr unter dem Bett, weswegen ich mich nicht erst an ihr vorbei drängen musste, um aus der schmalen Lücke zwischen Boden und Matratze hervorzukriechen. Aber weit konnte sie nicht sein, denn ich hörte ihre Stimme.

Gerade als ich es endlich geschafft hatte mich in die Freiheit zu kämpfen, begann mein Handy erneut um meine Aufmerksamkeit zu betteln. Es lag ein Stück neben meinem Bett auf dem Boden, direkt neben meiner offenen Reisetasche und einem Stapel ungewaschener Klamotten, auf denen meine Brille thronte. Da hatte wohl jemand meine Sachen in dem versteckten Raum hinter dem Fahrstuhl gefunden.

Ich warf einen gleichgültigen Blick auf das aufleuchtende Display. Alina. Wahrscheinlich hatte sie von der ganzen Sache gehört und wollte jetzt mit mir reden. Aber ich hatte keine Lust zu telefonieren. Nicht mit ihr und auch mit keinem anderen.

Genauso gut konnte es natürlich sein, dass sie von all dem noch gar keine Ahnung hatte und nur wieder über Anouk sprechen wollte. Doch die Aussicht darauf von einer Liebesgeschichte zu hören, verlockte mich noch weniger, als ein Gespräch über Cio. Also ließ ich das Handy einfach weiter klingeln und sprang in mein Bett. Nicht das ich schlafen wollte, aber ich hatte keine Ahnung was ich sonst tun sollte. Ich wollte einfach nur … ach, ich wusste auch nicht so genau, was ich eigentlich wollte.

Nein, streicht das, ich wusste ganz genau was ich wollte, doch das war für mich im Moment in unerreichbarer Ferne. Und alles andere … naja, alles andere war egal. Solange Cio nicht bei mir war, schien nichts mehr eine Bedeutung zu haben. Farben wirkten ausgelutschter, Geräusche waren nicht mehr als ein dumpfer Abklatsch.

Die Stimmer meiner Mutter wurde lauter. Da sie sich nicht im Zimmer befand und meine Tür offen war, ging ich davon aus, dass sie sich draußen auf dem Korridor befand. Ich hatte keine Ahnung mit wem sie sich unterhielt, noch verstand ich was sie sagte – dafür war sie einfach zu weit weg. Doch je näher sie dem Zimmer kam, desto deutlicher wurden ihren Worte.

„… will nicht, dass sie davon etwas erfährt, hast du verstanden? Sie hat schon genug durchgemacht. Ich weiß nicht was los ist, aber etwas ist passiert und es macht ihr Schwer zu schaffen. Ich weiß nicht, was sie noch alles verkraftet.“

Schweigen antwortete ihr. Das hieß, dass sie entweder telefonierte, oder ihr Gesprächspartner mit Körpersprache antwortete.

„Gut. Und wenn sie dich nicht sehen will, dann gehst du wieder. Da lasse ich nicht mit mir diskutieren.“

Wieder antwortete ihr Schweigen.

Ich hatte meinen Blick auf die Tür gerichtet und sah sie sofort, als sie das Zimmer betrat. Sie lief wieder auf zwei Beinen durch die Gegend. „Und wenn ...“ Sie verstummte, als sie mich auf dem Bett liegen sah. „Donasie.“ Hastig lief sie durch das Zimmer und ließ sich direkt neben mir auf der Bettkante nieder. Sie wirkte müde. Sorgenfalten hatten sich in ihr Gesicht gegraben, aber sie schenkte mir ein Lächeln, als sie sanft mit der Hand durch mein Fell streichelte. „Hey mein Schatz, wie geht es dir?“

Da sie meine Antwort eh nicht hören konnte, sparte ich mir die Worte. Dafür lag meine Aufmerksamkeit auf dem Besucher, der in der Tür stehen geblieben war und mich mit kritischem Blick musterte. Aric, mein älterer Halbbruder.

Er war ein schlanker, großgewachsener Mann mit blondem Haar. Mann könnte ihn durchaus als attraktiv beschreiben. Doch das auffälligste an ihm waren wohl seine Augen. Egal ob er auf zwei oder auf vier Beinen durch die Gegend lief, sie waren immer die eines Wolfes.

Was will Mama, dass ich nicht erfahre?“

„Äh“, machte er nicht sonderlich gescheit und schaute sofort zu meiner Mutter. „Ich glaube sie hat gehört was du gesagt hast.“

Einen Moment verharrte die Hand meiner Mutter mitten in der Bewegung, dann streichelte sie mich unbeirrt weiter. „Was hat sie gehört?“

„Sie will wissen, was sie nicht erfahren soll.“

Mein Handy begann wieder zu klingeln. Keiner beachtete es.

Wenn ich Glück hatte, wäre der Akku bald leer, dann könnte mich das Ding nicht weiter belästigen.

Seufzend strich meine Mutter sich über das Gesicht. „Okay“, sagte sie dann geschlagen. „Okay, meinetwegen.“

Da sie verstummte und scheinbar nicht vorhatte meine Frage zu beantworten, nahm Aric das in die Hand. „Vor ein paar Stunden hat man ein weiteres Opfer des Amor-Killers entdeckt. Eine Frau, nur ein paar Ortschaften von Koenigshain entfernt. Der Ort nennt sich Riesa. Sie ist damit das dreizehnte Opfer.“

In Riesa. Dort hatte ich zwei oder drei Mal Turniere im Eishockes gehabt. Eigentlich sollte mich das jetzt beunruhigen. Andererseits hatten wir es doch alle schon geahnt und auch wenn es dabei wirklich um mich gehen sollte – was noch immer nicht mehr als reine Theorie war – so schaffte ich es nicht einmal Interesse dafür zu heucheln. Darum blieb ich einfach nur still liegen.

Aric wartete eine ganze Weile, bevor er sich entschied den Raum zu betreten und sich mit dem Hintern an den Tisch lehnte – einen Stuhl besaß ich schließlich nicht. „Kannst du uns einen Moment alleine lassen?“, fragte er meine Mutter.

Meine Mutter schaute ihn an, als spräche er chinesisch. Mich jetzt allein lassen und sich mehr als einen halben Meter von mir zu entfernen? Undenkbar.

„Bitte“, fügte er noch hinzu.

Ein Biss auf die Unterlippe. Dann ein Blick von ihm zu mir. „Ist das okay für dich?“

Okay? Genaugenommen war mir das völlig egal, solange er mir nicht zu nahe kam. Wenn er reden wollte, bitte. Ich war schließlich weder verpflichtet ihm zu antworten, noch ihm zuzuhören.

Als ich keine Reaktion von mir gab, schaute sie fragend zu Aric, aber auch der konnte nur nichtssagend mit den Schultern zucken. Darum zögerte meine Mutter wohl auch, bevor sie sich einverstanden erklärte.

„Okay, in Ordnung.“ Ihre Hand fuhr noch einmal durch mein Fell. „Ich bin nicht weit weg, hörst du, Donasie? Ich gehe nur in die Küche und mache dir was zu essen, du musst schließlich am verhungern sein.“

War ich nicht. Zwar fühlte mein Magen sich hohl und leer an, aber der Schmerz den ich darin verspürte, kam aus einer ganz anderen quelle.

„Ich bin gleich wieder da.“ Sie beugte sich vor, um mir einen Kuss auf den Kopf zu geben. Ein letztes Streicheln, dann ging sie und schloss die Tür sehr leise hinter sich.

Nun war ich mit Aric allein.

Das Klingeln meines Handys brach ab, nur um in der nächsten Minute zu verkünden, dass ich eine Nachricht bekommen hatte.

„Ich glaube da versucht jemand dich zu erreichen.“

Ich schaute ihn nur wortlos an.

„Willst du denn gar nicht wissen wer?“

Zur Antwort wandte ich einfach nur den Kopf ab.

Er atmete tief ein. „Mama hat mir erzählt was gestern vor der Zentrale geschehen ist.“

Super. Warum machten wir nicht gleich ein großes Plakat, auf dem wir meine Unfähigkeit verdeutlichten.

„Sie sagt, du und Cio, ihr habt euch gestritten, aber sie weiß nicht warum.“

Also war diese Kleinigkeit doch noch ein Geheimnis.

„Sie vermutet, dass es wegen Kiara ist. Ich war mir sicher, dass dem nicht so ist. Also habe ich Cio angerufen, da der Idiot ja nicht auf die Idee kam sich von sich aus bei mir zu melden.“

Bei diesen Worten riss ich den Kopf herum. Damit hatte er nun doch meine ungeteilte Aufmerksamkeit. „Wann und … geht es ihm gut?“

„Heute Vormittag und er ist unversehrt, wenn du das wissen willst. Der Auftrag gestern ist wohl gut gelaufen, aber er wird noch einige Tage in In Cottbus bleiben.“

Ich legte die Ohren an. „Ach so.“

„Er ist ziemlich fertig, weil er denkt, dass du die gleiche Scheiße wie Iesha mit ihm abziehen würdest.“

Also wusste jetzt noch jemand von meinem Nicht-Vergehen. „Erzähl mir etwas, dass ich noch nicht weiß.“

„Ich hab ihm gesagt, dass er wohl der größte Schwachkopf auf Erden ist, wenn er auch nur in Betracht zieht, dass du sowas machen würdest. Als ihr damals zusammen gekommen seid, warst du praktisch noch eine Jungfrau gewesen …“

Oh, wie nett.

„… und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du dich aus heiterem Himmel für einen anderen Kerl interessierst, wo ihr beiden doch praktisch miteinander verwachsen seid. Du bekommst es ja nicht mal mit, wenn dir auf der Straße ein Typ hinterher schaut und bis heute hast du nicht kapiert, dass der Schönling auf der Feier letztes Jahr versucht hat dich anzumachen.“

Welcher Schönling?“

Er stieß ein leises Lachen aus. „Siehst du? Du hast ihn nicht mal wahrgenommen, weil du nur Augen für Cio hast.“

Als ich nichts sagte, stieß er sich von Tisch ab und setzte sich neben mich auf die Bettkante.

Natürlich rückte ich sofort von ihm ab. Die hochgezogene Augenbraue, die ich dafür bekam, war mir völlig egal. Sollte er doch denken was er wollte. „Er hat mir auch erzählt, dass du fast deinen Vater gebissen hättest, weil der auf ihn losgehen wollte.“

Ich legte die Ohren an und zog den Kopf an. Das war nichts an das ich unbedingt erinnert werden wollte.

„Das hat ihn … geschockt, könnte man wohl sagen. Er schafft es nicht es mit dem in Einklang zu bringen, was ihm sein gemartertes Hirn sonst so vorgaukelt.“

Und noch eine Information, die ich bereits hatte.

„Ich kann es zwar nicht mit Sicherheit sagen, aber ich glaube, ich habe ihn zum Nachdenken gebracht.“

Wirklich?“ Da war er wieder, dieser verdammte Keim der Hoffnung, der versuchte in den Resten meines Herzens Wurzeln zu schlagen.

„Wirklich“, lächelte Aric und streckte die Hand nach mir aus.

Sofort knurrte ich in seine Richtung und rückte noch weiter von ihm ab.

Er verharrte mitten in der Bewegung und runzelte die Stirn, zog seine Hand aber nicht zurück. Ganz im Gegenteil. Nach einem kurzen Moment, versuchte er es sogar noch mal.

Ich fletschte die Zähne und sprang eilig aus dem Bett, bevor er es wirklich noch schaffte mich anzutatschen. Hastig floh ich unter den Tisch und kauerte mich dort zusammen.

Aric beobachtete mich dabei verwundert. „Kannst du mir mal sagen, was der Blödsinn soll?“ Als ich nicht reagierte, erhob er sich vom Bett.

Bleib weg!“, verlangte ich.

Er blieb kurz stehen und ging dann in die Hocke, um mich unter dem Tisch sehen zu können. „Entweder du sagst mir was los ist, oder ich hol dich da unter dem Tisch hervor, egal ob du willst oder nicht.“

Dafür zeigte ich ihm die Zähne.

Zur Antwort sendete er mir sein Odeur entgegen. Nicht so gekonnt wie Cayenne es immer machte, nein, das hier war geradezu eine Flutwelle, die über mir zusammenschlug und all meinen Instinkten riet, mich zu ducken und dass zu tun, was der Alpha verlangte.

Hör auf! Das ist unfair!“

„Einfach nach mir zu beißen, ist auch nicht gerade sehr nett von dir. Also, sprichst du nun mit mir, oder nicht?“

In meiner Brust erklang ein Knurren. Große Brüder waren doch wirklich das Letzte.

„Wie du willst.“ Natürlich versuchte ich nach ihm zu schnappen, einfach um ihn auf Abstand zu halten, aber er war als Alpha aufgewachsen. Zwar hatte man ihm den Titel als Prinz aberkannt, aber das änderte noch lange nichts an seinem Erfahrungsschatz. So fiel es ihm zusammen mit seinem Odeur nicht weiter schwer, mich in die Ecke zu drängen bis ich nicht weiter zurück konnte.

Er ließ sich auf die Knie fallen und griff mit beiden Händen unter den Tisch.

Ich bleckte warnend die Zähne, woraufhin Aric entschlossen meine Schnauze mit festen Griff packte und mich ein Stück nach Vorne zerrte, bis er mich mit seiner zweiten Hand im Nacken zu fassen bekam.

Nein!“, schrie ich und begann wild zu strampeln. „Fass mich nicht an, nimm deine Pfoten weg!“

Ohne meiner Forderungen zu beachten, zog er mich gnadenlos unter dem Tisch hervor. Dann drückte er mich einfach unerbittlich auf den Boden und starrte mich an, bis ich nichts mehr anderes tun konnte, als mich meinem Alpha zu unterwerfen.

Ja schon klar, offiziell war Aric kein Alpha mehr, aber das hatte niemand meinen Instinkten mitgeteilt. Der Wucht seiner Macht hatte ich einfach nichts entgegen zu setzen. Und dann brach ich einfach in Tränen aus. Ein Tag. Ich hatte es genau einen Tag geschafft meinen Schwur aufrecht zu erhalten. Wie erbärmlich war das bitte?

Aric, der merkte, dass er gewonnen hatte, lockerte wachsam seinen Griff in meinem Nacken und begann damit beruhigend mein Fell zu kraulen, ohne dabei zu ahnen, dass es genau das war, was ich absolut nicht wollte. „Und jetzt sag mir was los ist.“

Das war ein klarer Befehl und sein Odeur drückte noch so sehr auf mein Gemüt, dass ich nicht die geringste Chance hatte mich dem zu widersetzen.

Du bist nicht Cio“, flüsterte ich und kniff die Augen zusammen. Dicke Tränen kullerten aus meinen Augenwinkeln und verfingen sich in meinem Fell.

Er zog die Stirn kraus. „Ich versteh nicht.“

Natürlich nicht, einfach weil das ein völlig abnormales Verhalten für einen Lykaner war – selbst für einen Mischling wie mich. „Ich will von dir nicht angefasst werden, von keinem Mann, nie wieder. Es verletzt Cio.“

Und da machte es bei Aric endlich klick – nicht dass es jetzt noch besonders schwer gewesen wäre. Er seufzte, zog sein Odeur zurück und ließ meine Schnauze los. Die Hand in meinem Nacken blieb jedoch liegen und vermittelte mir ganz gegen meinen Willen ein Gefühl von Vertrauen und Geborgenheit. Er war nicht nur mein Bruder, er war auch noch ein Alpha und Alphas schützen ihre Schäfchen.

Ich will Cio nicht noch einmal verletzen.“

„Aber so verletzt du alle anderen um dich herum.“ Langsam ließ er sich auf seinen Hintern fallen und zog mich zu sich heran. Er schien gar nicht einzusehen wegen meinen Bedenken sein Vorhaben auf Eis zu legen. „Du verletzt deine Eltern, wenn du deinen Vater zurückweist. Es verletzt mich, wenn du versuchst mich zu beißen. Und es verletzt auch dich selber.“

Aber Cio …“

„Wird das verstehen. Jeder Lykaner macht das, ihn selber mit eingeschlossen. Er kuschelt mit Kiara und Alina. Und manchmal auch mit meiner Mutter. Selbst mit mir, wenn er mal das Bedürfnis danach verspürt. Hat dich das jemals gestört?“

Nein“, gestand ich nach einem Moment des Zögerns. Es hatte mich noch nie gestört, wenn Cio sich auch bei anderen auf diese Art ihrer Zuneigung versichert hatte. Warum sollte es auch? Ich wusste das er mich liebte und ich vertraute ihm.

„Nein, weil es völlig normal ist.“ Arics Hand wanderte hinter mein Ohr und kraulte mich dort. „Was du da gerade versuchst, kommt nahe an die Strafe des einsamen Wolfes heran. Wenn du damit nicht aufhörst, wird dich das krank machen.“

Das wusste ich, aber bisher hatte ich noch gar nicht wirklich über die Folgen meinen Schwurs nachgedacht. Ich hatte mir wirklich die Strafe des einsamen Wolfes auferlegt, ohne es selber zu bemerken. Vielleicht, weil ich insgeheim glaubte es verdient zu haben. „Oh Gott.“ Völlig ohne mein Zutun, kroch ich in Arics Schoß und vergrub meinen Kopf an seinem Bauch.

Er strich mir einfach weiter beruhigend durchs Fell, während ich die Sicherheit und die Zuwendung dieser einfachen Handlung mit jeder Faser meines Körpers in mich aufsog und die Tränen langsam versiegten.

So fand meine Mutter uns wenig später, als sie mit einem vollbeladenen Tablet zurück ins Zimmer kam. Sie sagte nichts, stellte das mitgebrachte Essen nur leise auf dem Tisch ab und setzte sich dann abwartend aufs Bett, während ich mich einfach weiter bei meinem großen Bruder verkroch und erst jetzt bemerkte, wie sehr ich das brauchte. Aric hatte schon recht, ein Wolf ohne sein Rudel war nur ein halber Wolf.

Schon irgendwie paradox, dass das ausgerechnet von mir kam.

Nach einiger Zeit bewegte Aric sich, als wenn die Position langsam unbequem werden würde und ich nahm das zum Anlass, mich aus seinen Armen zu lösen.

„Du brauchst nicht aufstehen“, kam es auch sofort von ihm.

Ich schüttelte nur den Kopf. „Nein, ist schon okay.“

Der Zweifel stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Sicher?“

Ja. Und … danke.“ Das letzte Wort kam ziemlich kleinlaut heraus.

Aric grinste ein wenig schief. „Für irgendwas müssen große Brüder ja gut sein. Und im Gegensatz zu Kiara, habe ich dir noch nie den Kopf waschen müssen.“

Vom Bett aus beobachtete meine Mutter uns beide. Ihr lagen Fragen auf der Zunge, das war nicht zu verkennen, aber sie traute sich scheinbar nicht uns beide zu stören. Außerdem war ich noch immer ein Wolf und ohne Dolmetscher würden wir uns sowieso nur sehr schwer miteinander verständigen können. Darum stand ich mit hängender Rute auf und schlürfte zu meiner Reisetasche hinüber.

„Was hast du vor?“, wollte er wissen, während ich mit der Schnauze in meiner Tasche herumwühlte und versuchte eine Hose mit den Zähnen rauszuziehen, ohne alles vollzusabbern oder Löcher in den Stoff zu reißen.

Ich brauche Klamotten, ich will duschen gehen.“

„Eine Dusche hast du auch wirklich dringend nötig.“

Ich machte mir nicht mal die Mühe ihn dafür einen bösen Blick zuzuwerfen, hatte er doch recht. Seit fast drei Tagen hatte ich kein Wasser mehr an meine Haut gelassen und das nach der ganzen Anstrengung durch das Rennen. Ich musste wie ein verlotterter Hund miefen, der sich in dem Inhalt einer überquellenden Mülltonne mitten im Sommer gesuhlt hatte.

Meine Mutter horchte bei Arics Erwiderung auf. Wortlos erhob sie sich von ihrem Platz, kniete sich an meine Seite und zog einen Stapel sauberer Kleidung und ein Handtuch hervor. Nach einigem Wühlen fand sie auch noch meinen Kulturbeutel und erhob sich mit ihrer Beute. „Komm Donasie, ich nehme die Sachen für dich.“

Da ich nicht dumm war, war mir sofort klar, dass sie das hauptsächlich machte, um mich im Auge zu behalten. Ja, dank Aric und seiner doch ein wenig absonderlichen Form der Zuneigung, ging es mir ein wenig besser, aber noch lange nicht gut und das war ihr klar.

Ich beschwerte mich nicht, folgte meiner Mutter nur aus dem Zimmer und schlich ihr durch den Flur hinterher zu den Duschräumen. Die waren leider nicht so verwaist, wie ich mir das gewünscht hätte, aber außer ein paar neugierigen Blicken, die mir die anderen vier Frauen zuwarfen, als ich in die Duschkabine schlüpfte, hatte ich meine Ruhe.

Mich auf die Melodie des Mondes zu konzentrieren, fiel mir so schwer, dass es mehrere Minuten dauerte, bis die Metamorphose überhaupt begann. Bis ich mich dann endlich wieder in meiner menschlichen Gestalt befand, verging einer weitere kleine Ewigkeit – und das lag nicht nur am abnehmenden Mond.

Die Verwandlung selber strengte mich so sehr an, dass ich noch eine Zeitlang einfach zusammengekauert auf dem weißgefließten Boden sitzen blieb, bevor ich mich dazu aufraffen konnte die Dusche anzustellen und mich unter den heißen Strahl zu stellen.

Eigentlich fand ich es immer sehr angenehm, mit den Tag und die Sorgen mit dem heißen Wasser aus einem Duschkopf vom Körper spülen zu lassen. Heute jedoch war es nichts weiter als eine einfache Prozedur, die ich schnellstmöglich hinter mich bringen wollte. Gleichgültig wusch ich mir das Haar und den Körper. Dann trat ich klitschnass aus der Kabine und nahm direkt das Handtuch entgegen, mit dem meine Mutter schon bereit stand. Den Ring mit der Kordel ließ ich an meinem Hals hängen. Ihn an meinem Finger zu sehen, würde ich im Moment einfach nicht ertragen.

Ich trocknete mich ab, kleidete mich ein und nahm gerade meinen Kulturbeutel zur Hand, als meine Mutter mir den Weg vertrat. Ihre Augenbrauen waren sorgenvoll zusammengezogen.

„Rede mit mir, Donasie.“

„Was willst du denn hören?“, fragte ich tonlos und richtete den Blick auf die kleine grüne Tasche in meiner Hand. Das war immer noch besser als ihr in die Augen schauen zu müssen und den Ausdruck darin zu sehen.

„Sag mir, was passiert ist, sag mir, ob es dir gut geht oder dass ich mir keine Sorgen machen muss. Meinetwegen erzähl mir auch wie grün das Gras ist und wie groß die Bäume, nur rede bitte endlich mit mir.“

„Du musst dir keine Sorgen machen.“ Ohne aufzublicken, lief ich an ihr vorbei auf die Tür zu.

„Du hast gestern versucht deinen Vater zu beißen, verdammt noch mal!“

Das ließ mich sehr wirksam inne halten. Allein der Gedanke daran reichte aus, um mein schlechtes Gewissen erneut aufwallen zu lassen. Ich hasste Gewaltakte jeglicher Art. Aber nie – niemals in meinem Leben – hätte ich damit gerechnet, dass ich mich einmal auf diese Weise einem Familienmitglied gegenüber verhalten würde. Und schon gar nicht meinem Vater – ganz egal, wie sehr er mich zur Weißglut bringen konnte. „Ich wollte ihm nichts tun“, sagte ich sehr leise. „Ich wollte nur … ich ...“ Verdammt, ich wollte das jetzt nicht mit ihr durchkauen. „Er sollte sich nur nicht einmischen.“

Meine Mutter stieß einen sehr schweren Seufzer aus. „Ach Donasie, er meint es doch nur gut.“

Aber doch nicht so. „Hör zu.“ Ich drehte mich zu ihr um. „Es tut mir leid. Das Ganze … es ist fürchterlich eskaliert. Ich hab keine Ahnung, was da in mich gefahren ist und ich habe auch so schon ein furchtbar schlechtes Gewissen deswegen, aber im Moment habe ich einfach nicht die Kraft mir auch noch um seine oder deine Gefühle Sorgen zu machen. Ich hab … ich habe gerade genug Probleme.“

Langsam, als hätte sie Angst mich sonst zu verschrecken, kam sie auf mich zu und legte mir dann eine Hand auf die Schulter. „Was ist den zwischen dir und Cio vorgefallen?“

Viel zu viel. Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe Mist gebaut, das ist passiert und jetzt … ich könnte ihn deswegen verlieren.“

„Cio?“, fragte sie ungläubig. „Was bitte kannst du den getan haben, um ihn zu verscheuchen?“ Wie sie das fragte. Es war als würde es diese Möglichkeit in ihrem Universum nicht geben, einfach weil Cio und ich zusammen gehörten.

„Ich habe seine schlimmsten Ängste geweckt.“

„Was ...“

„Bitte Mama“, unterbrach ich sie. „Ich möchte nicht darüber sprechen. Ich will einfach nur … ich ...“ Ich verstummte. Ich wollte ihn einfach nur wieder an meiner Seite wissen. Ich wollte das alles wieder wie vor diesem ganzen Mist war. Ich wollte meinen Cio zurück.

Sie seufzte und zog mich dann in ihre Arme. „Keine Angst, das wird schon wieder. Ihr beide gehört einfach zusammen.“

Ja, bisher hatte ich das auch immer geglaubt. Jetzt allerdings, nach allem was geschehen war … Cio dachte vielleicht nicht mehr so und das schmerzte bis tief in meine Seele.

„Komm, lass uns erstmal zurückgehen. Der Rest wird sich schon finden.“ Sie legte einen Arm um meine Taille und führte mich aus dem großen Gemeinschaftsbad durch den Korridor zurück auf mein Zimmer.

Aric war immer noch da. Allerdings saß er nicht mehr auf dem Boden, sondern hatte es sich mit einem Kissen im Rücken am Fußende meines Bettes bequem gemacht. Und er war nicht länger allein. Cayenne saß mit dem Hintern auf meinem Tisch und stibitzte sich gerade eine Weintraube von dem Essensberg neben ihr. Unter dem Tisch lag Sydney, wie ein übergroßes Kuscheltier.

„Hey“, sagte Cayenne, als Mama mich in den Raum führte und musterte mich einmal von oben bis unten. „Da bist du ja wieder.“

„Nimmst du deine Pfoten aus dem Essen“, schimpfte meine Mutter plötzlich, ließ von mir ab und schlug Cayenne doch tatsächlich auf die Finger. Die Weintraube fiel zurück auf das Tablet. „Das ist für Zaira.“

Meine Erzeugerin schaute meine Mutter verdutzt an. Mit einer Schellte hatte sie wohl im Leben nicht gerechnet.

Vom Bett kam ein leises Lachen.

Ich ignorierte sie alle, warf meinen Kulturbeutel auf meine Tasche und kroch dann neben Aric ins Bett. Ich lehnte mich an ihn, bis mein Kopf auf an seiner Schulter ruhte und zog die Beine an. Dabei konnte ich beobachten, wie Mama sich empört das Tablet vom Tisch schnappte, Cayenne noch einen bösen Blick zuwarf und dann erhobenen Hauptes auf mich zu kam. „Hier, iss das, bevor hier noch mehr hungrige Wölfe auftauchen.“ Sie stellte mir das Tablet direkt vor die Füße.

Essen? Ich schaute den Nahrungsberg an, als sei er ein widerliches Alien. Ich hatte keinen Hunger und allein der Gedanke daran, etwas davon zu mir zu nehmen, löste beinahe Würgereflexe bei mir aus. „Ich will nichts essen.“

Aller Augen im Raum waren auf mich gerichtet, doch es war nur Aric, der mich ansprach. „Wann hast du denn das letzte Mal etwas gegessen?“

Das war … ich musste wirklich über die Frage nachdenken. Das letzte Mal als ich etwas zu mir genommen hatte, war noch vor dem Streit mit Cio gewesen, als das Geheimnis um Kiara Schwangerschaft auch wirklich noch ein Geheimnis gewesen war. Das war Tage her. Darum verkniff ich mir die Antwort und biss mir einfach auf die Unterlippe.

Aric schien zu ahnen, was in meinem Kopf vor sich ging. „Hör zu, wir machen das jetzt folgendermaßen. Du isst das hier freiwillig, oder wir wiederholen unser Spielchen von vorhin.“

„Spielchen?“, fragte meine Mutter auch sogleich.

Ich beachtete sie gar nicht. „Du kannst ein ganz schöner Kotzbrocken sein.“

„Hey, jetzt benimmst du dich auch fast noch wie Kiara, nur dass sie noch ein wenig Arroganz in die Stimme legt, wenn sie mich beschimpft.“

Dafür bekam er einen äußerst finsteren Blick, den er mit einer erhobenen Augenbraue erwiderte.

„Also, wie hättest du es gerne?“

Da ich mir die Schmach der Erniedrigung nicht vor Publikum antun wollte, betrachtete ich das Tablet erneut mit äußerstem Widerwillen. Ein Teller mit zwei Broten. Der Käse darauf war bereits leicht angetrocknet. Eine kleine Schüssel mit aufgeschnittenem Obst und ein großes Glas Wasser. Alles stand erwartungsvoll vor mir und wenn ich nicht freiwillig zugriff, würde Aric mich zwingen das zu essen. „Ich hasse dich“, teilte ich ihm mit und nahm eines der Brote zur Hand.

„Das ist okay, solange du es mit vollem Magen tust.“

Vier paar Augen beobachteten ganz genau, wie ich den ersten Bissen nahm, schauten aber ganz schnell weg, als ich ihnen allen böse Blicke zuwarf. Ich kam mir ja vor wie unterm Mikroskop. Als ich den zweiten Bissen nahm, lehnte meine Mutter sich neben Cayenne an den Tisch und begann ein leises Gespräch mit ihr. Und beim dritten gab mein Magen ein vernehmliches Geräusch von sich, das jedem Grizzlybär zur Ehre gereicht hätte. Bei dem ganzen Scheiß der durch meinen Kopf tobte, hatte ich gar nicht gemerkt, dass ich halb am verhungern war und war selber überrascht, wie schnell ich alles verputzte.

Doch als meine Mutter mir anbot, mir noch mehr zu machen, lehnte ich dankend ab. Egal wie lange ich nichts mehr gegessen hatte, mein Magen hatte nur ein bestimmtes Volumen und war nun wegen Überfüllung geschlossen.

Danach lehnte ich mich einfach wieder gegen Aric und dämmerte ein wenig vor mich hin. Die Stimmen um mich herum waren beruhigend. Natürlich, es schmerzte noch immer auf eine Art, die nicht mit Salben behandelt werden konnte, aber ich fühlte mich nicht länger völlig alleine. Auch wenn dieser Tag in Trostlosigkeit versank, so war es doch tröstlich, nicht ganz alleine zu sein.

Erst eine Ewigkeit später, als Arics Handy klingelte, erwachte ich aus meinem Halbschlaf. Ein Blick auf die kleine Digitaluhr auf dem Tisch verriet mir, dass es bereits nach einundzwanzig Uhr war. In einem Raum ohne Fenster war es wirklich schrecklich sich nach der Tageszeit zu orientieren.

Das Telefonat war sehr kurz und nach dessen Beendigung teilte Aric uns mit, dass Kaspar sich freuen würde, wenn sein Freund heute auch noch mal den Weg nach Hause fand. Ach ja, und er ließ mich grüßen. Außerdem war er schwer beleidigt, dass ich es bisher nicht für nötig gehalten hatte, mich bei ihm zu melden.

Tja, was sollte ich dazu noch groß sagen? Kaspar war halt schon immer ein äußerst einfühlsamer Mensch gewesen.

Zwar brach Aric nicht sofort auf, lange blieb er aber auch nicht mehr. Er hatte sich sogar schon von allen verabschiedet und wollte gerade zur Tür raus, da drehte er sich noch einmal zu mir herum. „Ein Wort der Warnung: Igelst du dich jetzt wieder so ein, komme ich wieder her. Und das nächste Mal werde ich nicht mehr so nett sein.“ Da sprach der Alpha aus seiner Stimme.

Ich unterdrückte den Impuls, ihm den Stinkefinger zu zeigen.

„Verstanden?“

„Aric. Geh zu Kaspar. Mir geht es gut.“

Keine Chance ihm von dem Wahrheitsgehalt meiner Worte zu überzeugen. Wie auch? Sie waren nichts weiter als eine fette Lüge und das wussten wir alle – mich eingeschlossen.

Aric wandte sich mit einem letzten, mahnenden Blick von mir ab und trat aus dem Raum, nur um im gleichen Moment in Romy reinzulaufen. Dass sie nicht zusammenstießen lag allein daran, dass sie hastig einen Schritt zur Seite machte. Dabei funkelte sie ihn an, als wollte sie sagen: „Kannst du nicht aufpassen wohin du läufst?!“

Aric machte sich nicht die Mühe, sich bei ihr zu entschuldigen. Er stolzierte einfach an ihr vorbei. Tja, wie schon einmal erwähnt. Man konnte einem Prinzen seinen Titel aberkennen, aber sein Verhalten änderte er deswegen noch lange nicht.

„Manchmal würde ich ihm sooo gerne den Hintern versohlen“, murmelte Romy.

Cayennes Mundwinkel zuckten. „Wolltest du etwas Bestimmtes?“

„Ja.“ Sie warf noch einen bösen Blick hinter Aric her und lehnte sich dann in den Türrahmen. „Du hast gesagt, ich soll dir Bescheid geben, falls eine neue Meldung reinkommt.“

Sofort viel alle Heiterkeit von meiner Erzeugerin ab. „Noch einer?“

Romy nickte grimmig. „Ich habe gerade die Nachricht bekommen. Yulan Toro, siebenunddreißig Jahre alt. Witwer, keine Kinder, nur ein älterer Bruder.“

Cayenne drückte die Lippen grimmig zusammen. „Wo?“

Diese Frage beantwortete Romy nicht sofort. Sie schaute erst zu meiner Mutter, dann zu mir. „Koenigshain, in Ryders alter Wohnung.“

Ich horchte auf, genau wie meine Mutter, die Romy mit geweiteten Augen anstarrte. „Was sagst du da?“

„Ja, die neuen Mieter der Wohnung waren wohl auch nicht so begeistert, als sie ihn gefunden haben.“ Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Cayenne. „Der Amor-Killer war wohl der Meinung, eine Leiche am Tag würde nicht genügen, also hat er sich noch jemanden geholt. Yulan Toro wohnt eigentlich in Bautzen bei Dresden, weswegen unsere Leute vor Ort denken, dass er irgendwo eingefangen wurde und man ihn dann dort hingebracht hat, da es in Koenigshain bekanntermaßen keine Mistos gibt. Rausgeschnittenes Herz, durchbohrt mit einem Pfeil, ein nettes Zitat in seiner Hand. Alles wie gehabt.“

Unruhig trommelte Cayenne mit den Finger auf ihren Schenkeln. „Was stand in dem Zitat?“

„Was wagt der freche Amor nicht! Ich habe nachgeschaut, es stammt von einem gewissen Publius Ovidius Naso, kurz Ovid genannt. Das war ein römischer Dichter, der schon vor zweitausend Jahren ins Gras gebissen hat.“

Was wagt der freche Amor nicht. Wie passend, denn wie es aussah, wagte es sich mittlerweile eine ganze Menge.

Und unsere Leute?“

Betäubt.“

Cayenne stellte das Trommeln ein. „Was soll das heißen, betäubt?“

Das was ich sage. Wie es aussieht, wurde jeder Wächter den Sadrija dort abgestellt hat mit Chloroform betäubt, um nicht im Weg zu sein.“

Sadrija hat zwei Dutzend Wächter dorthin beordert!“, kam es fassungslos von meiner Mutter. „Wie konnte er die alle ausschalten?“

Romy zuckte mit den Schultern. „Vielleicht müssen wir unsere Theorie von mehreren Tätern wieder aufnehmen.“

Diese Entwickelung schien Cayenne gar nicht zu gefallen.

Und das ist noch noch alles“, fuhr Romy fort. „ Yulan Toro wurde nicht nur in die Wohnung gebracht, man hat ihn in das hintere Zimmer gelegt, in das mit dem Balkon.“

Meine Mutter schlug die Hand vor den Mund. „Aber das war Zairas Zimmer!“

Romy nickte finster, als wüsste sie das bereits.

Dann haben wir wohl nun unsere Bestätigung“, murmelte Cayenne grimmig. „Hier geht es wirklich um Zaira.“

Mama war so schnell neben mir, dass ich gar nicht sah, wie sie sich durch den Raum bewegte. Sie ergriff meine Hand und schienen kurz zu überlegen, wenn sie Fressen musste, damit das alles endlich endete und ich wieder sicher war.

Mich sollte das ganze wohl interessieren. Wahrscheinlich sollte ich bei so einer Nachricht Angst empfinden und in Panik verfallen. Doch irgendwie berührte mich das gar nicht. Nicht der Tod dieses Mannes. Nicht die Tatsache, dass man ihn in meinem alten Zimmer gefunden hatte und auch nicht die Bestätigung, dass dieser Irre es auf mich abgesehen hatte. Es war alles ganz weit weg, als würde es einem anderen passieren, in einem anderen Leben zu einer anderen Zeit.

Wir müssen diesen Kerl schnappen“, knurrte Cayenne und sprang vom Tisch, als wollte sie sofort losstürzen, um ihren Worten Taten folgen zu lassen. „Das war nun schon der vierzehnte Mord.“

Romy lupfte ihre Augenbraue leicht. „Ist ja nicht so, dass wir das bereits seit Wochen versuchen.“

Meine Erzeugerin funkelte sie an.

Natürlich ließ Romy sich davon nicht einschüchtern. „Sadrija will Zairas Wachen verdoppeln. Sie überlegt sogar einen Umbra für sie abzustellen.“

Gut gut.“ Gedankenverloren starrte Cayenne zu Boden. Dann strafte sie entschlossen die Schultern und hielt auf die Tür zu. „Ich werde mit Sadrija sprechen.“

Das war das Startsignal für Sydney zum Leben zu erwachen. Die ganze Zeit hatte er so still unter dem Tisch gelegen, dass ich seine Anwesenheit schon fast vergessen hatte. Nun aber trabte er eilig hinter Cayenne her.

Romy trat den beiden aus dem Weg und wandte sich nun zum ersten Mal direkt an mich. „Und du wage es ja nicht noch mal dieses Gebäude zu verlassen. Mir egal ob du Liebeskummer und Beziehungsprobleme hast. Der Amor-Killer ist hinter dir her, daran lässt sich nicht mehr rütteln. Wenn du dich aus unserem Schutz begibst, bist du so gut wie tot.“

Fast hätte ich sie angeknurrt. Was glaubte sie wer sie war, dass sie so mit mir sprach? Ich war schließlich nicht dumm.

Sie wandte sich meiner Mutter zu. „Kann ich dich kurz sprechen? Unter vier Augen?“

Mama schien von dieser Bitte nicht sehr angetan. Sie zögerte und klammerte sich dabei an meine Hand, als wollte sie mit mir verschmelzen. Dann nickte sie aber doch. „Ich bin gleich wieder da, Donasie.“

Ich reagierte nicht. Sollten sie doch machen was sie wollten. Ich konnte sowieso nichts dagegen tun.

Bleib hier“, sagte sie noch, bevor sie meine Hand losließ und Romy nach draußen folgte.

Die sich schließende Tür übertönte fast das Piepen meines Handys, das mir den Eingang einer neuen Nachricht mitteilte. Schon verwunderlich, dass das Teil immer noch Saft besaß, so oft wie es heute schon geklingelt hatte.

Keine Ahnung warum – eigentlich interessierte es mich nicht mal – aber ich griff nach dem kleinen Gerät und checkte das Display. Acht anrufe in Abwesenheit, drei neue Nachrichten. Sechs Anrufe waren von Alina, einer von meinem Vater und einer von Kaspar. Die erste Nachricht war auch von Alina. Sie schrieb mir, dass ich gefälligst an mein verdammtes Telefon gehen sollte und dass sie sich Sorgen machte. Also war die Mitteilung von dem Streit zwischen Cio und mir bereits bis zu ihr vorgedrungen. Die zweite Mitteilung war von meinem Vater. Er hoffte das es mir gut geht und das ich den Kopf nicht hängen lassen sollte. Ich klickte sie einfach weg, um mich der letzten zu widmen.

Cio.

Vor Schreck hätte ich fast mein Handy fallen gelassen. Cio, er hatte mir geschrieben. Oh mein Gott! Wie hatte er nur sein Handy zurückbekommen? Das war doch bei Tayfun gewesen und … verdammt, das war doch völlig egal. Er hatte mir geschrieben, nur das war wichtig. Meine Hände hatten wohl in meinem ganzen Leben noch nie so gezittert, wie in dem Moment, als ich die Nachricht öffnete und die drei kleinen Worte las, die er mir geschickt hatte.

Wir müssen reden.

 

°°°

 

Zärtlich ließ ich meine Finger über das Display meines Handys gleiten und strich die Konturen von Cios Gesicht nach. Ich wusste nicht mehr wann ich dieses Foto von ihm geschossen hatte, doch auf seinen Lippen lag genau das Lächeln, das ich so sehr vermisste. Aber Cio war nicht hier. Seit nun schon drei Tagen trieb er sich mit den Themis in Cottbus herum und ignorierte jede meiner Nachrichten.

Na gut, so viele waren es auch nicht. Nur ein Anruf und zwei Textnachrichten, die ich ihm gleich nachdem ich seine gelesen hatte geschickt hatte, doch jede Reaktion war ausgeblieben. Scheinbar hatte er kein Interesse daran mit mir ein Gespräch am Handy zu führen. Ich war mir nicht sicher, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Es konnte gut sein, dass er mit mir von Angesicht zu Angesicht sprechen wollte, um zu retten, was noch zu retten war. Genauso gut konnte es aber auch sein, dass er mir in Gesicht sehen wollte, wenn er mir sagte, wie sehr er mich hasste und dass die Beziehung zwischen uns beendete war.

Ich biss mir auf die Unterlippe. Denk nichts an sowas, noch ist alles offen.

Mit Papa hatte ich gestern kurz telefoniert. Er wusste noch nicht wann genau sie aus Cottbus wegkamen und hatte mich sehr eindringlich ermahnt, das HQ auf keinen Fall zu verlassen. Die Neuigkeit mit dem Toten in meinem altern Zimmer war sehr schnell zu ihm durchgedrungen. Über Cio hatte er kein Wort verloren, also hatte auch ich ihm gegenüber dieses Thema gemieden. Ganz anders Alina. Da ich sie nicht zurückgerufen hatte, wollte mein Handy am nächsten Tag gar nicht mehr aufhören zu klingeln – solange bis ich mich geschlagen gegeben hatte und rangegangen war. Die ersten fünf Minuten hatte sie nur mit mir geschimpft, weil ich sie ignoriert hatte und sie sich Sorgen um mich machte und auch Cio einfach nicht an sein Handy gehen wollte. Danach hatte sie solange auf mich eingeredet, bis sich meine Zunge endlich von meinem Gaumen löste und ich ihr die ganze Geschichte erzählt hatte.

Ich hatte Alina noch nie sprachlos erlebt, doch als ich geendet hatte, war es in der Leitung eine ganze Weile still geblieben. Dann hatte sie verkündet, dass sie eine Bratpfanne kaufen müsste, um sie Cio auf den Kopf zu hauen. Wahrscheinlich hatte sie es lustig gemeint, aber ich hatte nicht gelacht und ihr das Versprechen abgenommen Cio in ruhe zu lassen. Nicht er hatte hier den Fehler gemacht. Es war einfach unfair, dass alle auf ihm herumhackten. Sowas wollte ich nicht hören.

Als es an meiner Zimmertür klopfte, überlegte ich einen Moment mich einfach schlafend zu stellen, legte dann aber seufzend das Handy zur Seite. „Ja?“

Die Tür ging auf und Cayenne steckte den Kopf hinein. Sie lächelte, als sie mich in dem Bett sah, dass ich nun schon seit Tagen hütete, einfach weil ich nicht die Kraft aufbrachte es zu verlassen. Wozu auch? Ich durfte ja sowieso nirgends hingehen.

„Hey, na, wie geht es dir?“

Da ich nicht davon ausging, dass sie eine ehrliche Antwort haben wollte, zuckte ich einfach nichtssagend mit den Schultern.

„Das wird schon wieder.“

Wenn ich diesen Satz noch einmal zu hören bekam, würde ich anfangen zu schreien.

Cayenne schob die Tür ein wenig weiter auf und ließ Sydney hinein, bevor sie im folge und die Tür von innen schloss. Dann setzte sie ich auf ihren inzwischen angestammten Platz auf dem Tisch. „Was hast du heute schönes gemacht?“

Noch ein Schulterzucken.

Leider verstand Cayenne den Wink mit dem Zaunpfahl nicht – oder sie ignorierte ihn einfach – denn sie gab nicht auf. „Ich war eben bei Sadrija. Wir haben über dich gesprochen.“

„Will sie mich wieder in eine Zelle stecken?“ Nicht das ich im Moment groß was dagegen gehabt hätte.

Ihre Augenbrauen zogen sich leicht zusammen. „Nein, aber wir haben über deine Situation hier gesprochen. Es ist nicht gut, wenn du den ganzen Tag eingesperrt in diesem Raum sitzt.“

„Das heißt ihr wollt mich in irgendeinen anderen Raum sperren?“

Sie schüttelte den Kopf. „Im Gegenteil. Ich habe sie dazu gebracht dir ein wenig deiner Freiheit zurückzugeben. Wenn du sie willst.“

Ich runzelte die Stirn. Das hieß doch nicht etwa … „Darf ich nach Hause gehen?“

Ein schiefes Lächeln, das sie bezaubernd aussehen ließ, erschien auf Cayennes Lippen. „So viel Freiheit gewährt sie dir dann doch nicht. Aber wenn du möchtest, darfst du ab sofort in Begleitung deiner Wachen das HQ verlassen und wieder im Stall arbeiten.“

Bitte? „Ich darf arbeiten?“

Sie nickte. „Pass auf. Was du jetzt brauchst, ist nicht die Einsamkeit dieses Zimmers, sondern Ablenkung. Vielleicht glaubst du es mir nicht, aber ich weiß was du im Moment durchmachst und auch dass du dich einfach nur verkriechen willst. Aber das macht es nicht besser. Du musst am Leben teilnehmen, wenn auch nur ein kleines bisschen.“

„Indem ich arbeiten gehe.“

„Du warst doch immer gerne in den Ställen. Die Arbeit mir den Pferden macht dir Spaß, oder täusche ich mich da?“

Ein zögerliches Kopfschütteln.

„Na siehst du. Ich denke es wird dir gut tun, etwas zu tun zu haben. Allerdings musst du darauf achten, immer in der Nähe deiner Wächter zu bleiben. Und du darfst das HQ auch nur tagsüber verlassen, da dann am meisten Betrieb auf dem Hof herrscht. Du darfst nicht vor acht gehen und musst spätestens um sechs wieder hier sein. Und du darfst nur von hier in den Stall und wieder zurück.“

Das mit dem kleinen bisschen Freiheit, hatte sie scheinbar wörtlich gemeint.

„Es war nur eine Idee von mir“, sagte sie zögernd, als ich nichts erwiderte. „Du musst das nicht tun, wenn du nicht möchtest.“

„Das ist es nicht“, sagte ich leise. „Es ist … ich weiß auch nicht. Ich glaube ich will einfach mein Leben zurück.“ Und vor allen Dingen Cio.

Cayenne versuchte es mit einem Lächeln zu kaschieren, doch ich erkannte Mitleid, wenn ich es sah. „Das wirst du auch. Es dauert eben einfach nur noch ein kleinen bisschen. Du musst Geduld haben. Irgendwann wird es wieder besser, das kann ich dir versprechen.“

Na wenn sie da den Mund mal nicht zu voll nahm. Wenn man den Amor-Killer nämlich nicht schnappte, würde ich am Ende wahrscheinlich einfach tot sein.

Wann war ich nur so morbide geworden?

„Also, was sagst du. Möchtest du es mal probieren?“

Nein. Ja. Ach, keine Ahnung. „Ich kann es ja mal versuchen.“ Wenn ich beschäftigt war, würde die Zeit bis zu Cios Rückkehr mir vielleicht nicht ganz so lange vorkommen.

„Schön.“ Mit viel zu viel Begeisterung sprang Cayenne von ihrem Platz und hielt mir die Hand hin. „Komm, ich begleite dich nach oben.“

Jetzt sofort?

Bevor ich dazu kam diese Frage laut auszusprechen, öffnete sich die Tür zu meinem Zimmer und meine Mutter trat frisch geduscht mit noch nassen Haaren ins Zimmer. „Morgen“, murmelte sie, als sie Cayenne und Sydney entdeckte, stutzte aber, als sie Cayennes Hand bemerkte. „Was geht hier vor?“

„Beschäftigungstherapie.“

Ja, so könnte man es vermutlich auch bezeichnen.

In Mamas Gesicht erschien ein großes Fragezeichen. „Was soll das heißen?“

Oh oh, das dürfte interessant werden.

Cayenne schaute kurz zu mir und strafte dann die Schulter, als würde sie sich für einen Kampf wappnen wollen. Dann berichtete sie meine Mutter in kurzen Sätzen, was sie mir gerade erzählt hatte.

Wie nicht anderes zu erwarten, kam von meiner Mutter sofort ein ganz klares: „Nein.“ Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr nasses Haar hin und her flog. „Du spinnst doch wohl. Sie bleibt hier wo sie sicher ist.“

Diese wenigen Worte schienen Cayenne persönlich zu beleidigen. „Glaubst du wirklich ich hätte das arrangiert, wenn sie dabei nicht sicher wäre? Du vergisst wohl mal wieder, wer hier eigentlich ihre Mutter ist. Das bist nicht du, Tarajika.“

Meine Mutter war so klein, dass sie Cayenne gerade mal bis zu Schulter reichte – wenn sie auf Zehenspitzen stand. Aber nun schien sie über sich hinaus zu wachsen. „Ich bin eher ihre Mutter als du es jemals sein wirst. Ich habe sie aufgezogen! Du hast sie nur zur Welt gebracht und das kann jeder! Die wahre Aufgabe beginnt erst danach, das weist du genauso gut wie ich.“

Alle Freundlichkeit fiel von Cayenne ab und ließ nichts als Eiseskälte zurück. „Du weist genau, dass mich die Umstände damals dazu zwangen.“

Unter dem Tisch erhob sich Sydney und trat wachsam näher.

„Das ändert nichts an meinen Worten. Ich bin ihre Mutter und ich sage sie bleibt hier!“

„Eingesperrt und vor der Welt versteckt, so wie ihr es schon ihr ganzes Leben lang mit ihr tut?“ Cayenne verzog ihre Lippen. „Du bist der Grund, warum ich mein kleines Mädchen erst wiedersehen konnte, als sie schon zwanzig Jahre war. Deinetwegen musstet ihr im Exil leben und ...“

„Hör auf Cayenne“, unterbrach ich sie mit ruhiger Stimme. Ja, sie war die Frau die mich zur Welt gebracht hatte und mittlerweile hatte ich sie sehr gerne, aber Mama hatte recht, nicht Cayenne war es, die ich als Mutter ansah. Und Mamas Vergangenheit ins Spiel zu bringen und sie für etwas zu verurteilen, für das sie nichts konnte, war unfair. Außerdem, wenn man es ganz genau nahm, war es Cayennes Schuld, dass wir uns hatten verbergen müssen, denn sie war es gewesen, die damals die Ailuranthropen auf Mama aufmerksam gemacht hatte.

Cayenne schaute kurz zu mir herüber und presste dabei ihre Lippern aufeinander. Ihr schien noch mehr auf der Zunge zu liegen, aber sie riss sich zusammen. Sie sah wohl ein, dass sie hier nur verlieren konnte. Oder aber sie tat es mir zuliebe.

Bevor die beiden noch auf die Idee kamen sich doch noch die Köpfe einzuschlagen, schwang ich die Beine aus dem Bett. Wenn sie sich streiten wollten, dann ohne mich. Ich hatte genug von diesen ganzen Familienfehden.

Mama schaute misstrauisch dabei zu, wie ich in die Ecke ging und mit den Füßen in meine Schuhe trat. „Was hast du vor?“

„Ich gehe jetzt in den Stall.“ Ich sah schon wie meine Mutter ihre Lungen füllte, um mir zu widersprechen und schmetterte sie noch bevor sie das erste Wort rausbringen konnte mir einem „Ich bin volljährig, du kannst mir nichts mehr sagen“ ab.

„Aber Donasie ...“

„Tut mir leid, Mama, aber ich kann hier nicht mehr länger untätig herumsitzen.“ Ich hatte all diese Diskussionen und Streits einfach so satt. Langsam kam es mir so vor, als suchte die Leute um mich herum regelrecht nach Gründen miteinander streiten zu können und ohne Cio … ich schaffte das allein nicht mehr. Da war die Flucht nach Vorne der wesentlich einfachere Ausweg. „Mach dir keine Sorgen“, versuchte ich meine Mutter noch zu beruhigen, einfach um sie zu besänftigen. „Hier laufen so viele Wächter herum, hier kann mir gar nichts passieren.“

So wie sie mich anschaute, glaubte sie mir kein Wort.

Ich konnte es ihr nicht verdenken, war doch das erste Opfer des Amor-Killers genau dort gefunden worden, wohin ich nun gehen wollte. Aber nun wollte ich auch nicht mehr zurück. Die Aussicht darauf hier raus zu können und wenn es nur für ein paar Stunden war, die ich im Stall verbringen musste, schien mich ein wenig freier Atmen zu lassen.

„Ich bring doch noch nach oben“, sagte Cayenne. Sie vermied es tunlichst in Mamas Richtung zu schauen und wirkte auch sonst ein weniger distanzierter, als ich sie kannte. Tja, so weit ich wusste, was dies das erste Mal gewesen, dass die beiden wegen mir aneinandergeraten waren und Dinge gesagt hatten, die beiden schon lange auf der Seele lasteten. Dies war für keinen von uns eine leichte Situation.

Wie Cayenne gesagt hatte, brachte sie mich nach oben zum Eingang, wo nicht nur zwei, sondern gleich vier Wächter auf aus warteten. Eine wunderschöne Brünette namens Darja Vasilieva und ein Mann in den mittleren Jahren namens David Ford, hatten sich meiner bestehenden Eskorte angeschlossen. Ich wurde noch einmal gründlich ermahnt, immer in ihrem Sichtfeld zu bleiben und mich ausschließlich zwischen hier und den Stallungen zu bewegen, dann folgte ich ihnen auch schon in die Menagerie.

In den letzten Tagen war es deutlich kühler geworden und ich fröstelte ein wenig. Wenn die Temperaturen noch weiter absanken, würde ich bald meine Jacken aus meinem Schrank rausholen müssen – immer vorausgesetzt, ich dürfte irgendwann wieder nach Hause.

Die vertrauten Geräusche und Gerüche die mich schon vor dem Stall in Empfang nahmen, ließ eine Flut von Erinnerungen in mir aufsteigen und gaben mir ein befreiendes Gefühl. Bisher war mir gar nicht klar gewesen, wie sehr ich das alles hier in der letzten Zeit vermisst hatte. Das hier war etwas, dass schon seit meiner jüngsten Kindheit zu mir gehörte. Wie ein roter Faden, zog es sich durch mein Leben und würde es wohl immer tun.

Das Schnauben und Scharren der Pferde begrüßte mich. In seiner Box wieherte der Lipizzaner Adventure zur Begrüßung. Natürlich trat ich sofort zu ihm und ließ mich ausgiebig beschnüffeln. Bevor ich allerdings an die Arbeit gehen konnte, musste ich erstmal Gisel suchen, um mir von ihr ein paar Aufgaben abzuholen. Dann borgte ich mir noch eine Latzhose und Stiefel – mein Zeug war schließlich alles zu Hause. Da Pauline heute auch noch krankgeschrieben war, war meine Hilfe auch sehr willkommen.

Die Arbeit schaffte es wirklich mich abzulenken. Zwar standen die Wächter immer mal wieder im Weg herum, doch der Umgang mit den Tieren sorgte dafür, dass mir nicht allzu viel Zeit zum Nachdenken blieb. Ich musste mich auf das konzentrieren, was ich tat, denn so ein Tritt von einem Pferd konnte ganz schön wehtun.

Am Ende ging Wächter Mirko mir sogar ein wenig zur Hand. Wächter Owen und die beiden anderen hielten sich beflissen im Hintergrund.

Es war der Stallhelfer Ryan, der mich irgendwann darauf hinwies, dass wir es schon kurz vor halb sechs hatten. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie spät es eigentlich schon war und war gar nicht glücklich darüber, bald wieder zurück ins HQ zu müssen. Leider hatte ich den Regeln zugestimmt und deswegen würde ich mich auch daran halten.

Als ich um kurz vor sechs meine Sachen wegräumte, versicherte sich Gisel noch mal, dass ich morgen wieder hier auftauchen würde. Zwar hatte Pauline sich nur bis einschließlich heute krankgemeldet, aber sie wollte auf Nummer sicher gehen. Wenn das so weiter ging, würde der Stallmeister Gorge Cheval bald ein paar Entlassungen vornehmen müssen, um anschließend verlässlicheres Personal einstellen zu können.

Ja, diesen kleinen Seitenhieb hatte ich sehr wohl verstanden. Aber es war ja auch nicht so, dass ich freiwillig von der Arbeit ferngeblieben war.

Wächter Owen drängte bereits zum Aufbruch, als ich mich noch schweren Herzens von von den Pferden verabschiedete und den Wächtern dann ein wenig wehmütig zurück zum HQ folgte.

Meine Mutter erwartete mich mit einem Buch in der Hand in meinem Zimmer. Auf ihren Lippen lag ein Lächeln. Sie war mir also nicht böse, wegen dem was vor meinem Aufbruch geschehen war. Wenigstens etwas gutes. Allerdings empfahl sie mir dringend eine Dusche, da der Geruch der Pferde an mir klebte, als sei ich einen einen Berg Dung gefallen – ihre Worte, nicht meine. Also schnappte ich mir Wäsche zum wechseln und verschwand auf einen Abstecher ins Gemeinschaftsbad.

Auf dem Rückweg, als ich noch dabei war mir meine kurzen Haare mir einem Handtuch trocken zu rubbeln, konnte ich Mamas sehr eindringliche Stimme bereits von Weitem hören. Anfangs verstand ich kein Wort, doch das änderte sich, je näher ich kam.

„... nicht erzählt, was zwischen euch beiden vorgefallen ist, aber es macht ihr sehr zu schaffen. Ich habe sie noch nie so am Boden erlebt.“

Stirnrunzelnd bog ich in den Korridor ab, in dem mein Zimmer lag und blieb sofort wie vom Donner gerührt stehen. Das Handtuch fiel mir aus der Hand auf den Boden und mein Herz machte einen Satz hinauf in meinen Hals.

Cio.

Da stand mein Cio und ließ mit wachsender Anspannung die Standpauke meiner Mutter über sich ergehen. Er trug seine alte Lederjacke und hatte sogar seine Wollmütze wieder aus der Versenkung geholt. Die Hände waren tief in seinen Taschen vergraben.

Meine Mutter stand ihm gegenüber im Türrahmen und versperrte ihm so den Weg ins Innere. Ihrer Stimme und Haltung haftete eine Strenge an, die ich so nicht von ihr kannte. „So wie du sie behandelt hast, war das Letzte. Als du einfach gegangen bist ...“ Sie suchte nach den richtigen Worten. „Ich an ihrer Stelle würde dich davonjagen. Du weist gar nicht was für ein Glück du hast.“

Er erwiderte nichts. Seine Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst, als wollte er sich selber daran hindern den Mund zu öffnen.

„Versteh mich nicht falsch, ich hab dich wirklich sehr gerne, Cio.“ Der Ausdruck in ihrem Gesicht wurde weicher. Sie löste ihre Arme und legte ihm eine Hand auf die Brust. „Du bist ein toller junger Mann und du schaffst es sie auf eine Weise glücklich zu machen, wie es sonst niemanden von uns möglich ist, aber wenn du nicht aufhörst auf dem Herzen meiner Tochter herumzutrampeln, wirst du erfahren zu was ein Ailuranthrop alles fähig ist.“

„Mama!“

Bei meinem empörten Ruf, wandten sich beide zu mir um.

Mama zeigte keine Spur von Reue. Schon beinahe trotzig hob sie das Kinn, als wollte sie mich herausfordern ihr zu widersprechen, damit sie eine zweite Predigt für mich noch hinten dran hängen konnte.

Ich jedoch hatte nur Augen für Cio. Er wirkte müde. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe und an seiner Lippe hatte er eine auffällige Platzwunde. Sein Shirt war zerknittert, seine Jeans hatte ein Loch am Knie.

Es war, als würde ich ihn nach vielen Jahren das erste Mal wieder sehen. Mit jeder einzelnen Faser meines Körpers zog es mich zu ihm. Ich wollte mich in seine Arme werfen und mich in der Vertrautheit seiner Gegenwart suhlen, aber ich bewegte mich nicht vom Fleck. Ich traute mich nicht, denn ich wusste nicht was mich erwartete.

„Beherzige meine Worte“, empfahl meine Mutter noch, dann trat sie mit einem letzten Blick auf mich zurück ins Zimmer und schloss die Tür leise hinter sich. Das bedeutete aber nicht, dass wir nun allein waren. Überall in den Zimmern und auf den Fluren konnte ich Mitglieder der Themis hören. Zwei kamen sogar gerade aus der kleinen Turnhalle und liefen schnatternd an uns vorbei. Cio nickten sie nur zu, bei mir allerdings verharrten sie einen Augenblick.

„Du hast da was fallen lassen.“

„Was?“ Beinahe schon erschrocken schaute ich nach unten. Mein Handtuch. „Ähm … ja, danke.“ Hastig hob ich es wieder auf, um Cio nicht zu lange aus den Augen lassen zu müssen. Ich hatte Angst, dass er einfach wieder verschwinden würde, sobald er sich nicht mehr in meinem Sichtbereich befand. Aber als ich den Blick wieder hob, stand er noch immer am selben Platz.

„Schönen Abend noch“, verabschiedeten sich die beiden.

Ich hob nicht mal die Hand, stand nur da und wartete darauf, was nun passieren würde. Aber es geschah nichts. Cio stand einfach nur da, als wüsste er nicht so genau, wie er sich mir näheren sollte. Oder als überlegte er schnellstmöglich wieder die Flucht zu ergreifen.

Das darfst du nicht zulassen. Aber wie sollte ich das verhindern? Was wenn er es sich anders überlegt hatte und doch nicht mehr mit mir sprechen wollte. Er steht vor deiner Zimmertür verdammt, also sei nicht so feige und geh zu ihm, mach den ersten Schritt!

Das wollte ich – unbedingt sogar – doch bis ich meine Beine davon überzeugt hatte sich in Bewegung zu setzen, vergingen noch einige weitere Sekunden. Und dann schaffte ich es auch nur sehr langsam vom Fleck. Jeder Schritt schien ein unüberwindbares Hindernis zu sein.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich blähte die Nasenflügel und sog seinen ganz persönlichen Geruch wie ein Schwamm in mich auf. Er fehlte mir so sehr. Als ich dann jedoch vor ihm stand und sein Blick mich praktisch hypnotisierte, wusste ich wieder nicht so recht weiter. Ich wollte nichts falsch machen. Er jedoch schwieg weiterhin, als wollte er, dass ich anfing. Nur wie?

„Ähm“, machte ich und wickelte nervös das Handtuch um meine Hand. Dabei tastete ich ihn so gründlich mit den Augen ab, dass es schon an eine Verletzung seiner Intimsphäre grenzte. Ich stellte fest, dass die Platzwunde an seiner Lippe nicht seine einzige Verletzung war. Aus dem Kragen an seinem Hals schauten noch ein paar Kratzer hervor. „Du siehst … äh …“ Wie sollte ich das nett ausdrücken.

„Ramponiert aus, ich weiß.“

Seine Stimme zu hören, war wie ein elektrischer Schlag. Sie ließ all meine Sinne vibrierten. Meine Finger zuckten. Ich wollte ihn berühren. Aber das durfte ich nicht. Also wickelte ich das Handtuch wieder ab, nur um es mir dann um die andere Hand zu schlingen. „Naja … ja.“

Er versuchte sich an einem Lächeln, das seine Augen nicht mal dann erreicht hätte, wenn sein Leben davon abgehangen hätte. „Keine Sorge, das ist nichts. Tayfun hat es viel schlimmer getroffen.“ Er sagte das so herausfordernd, als wollte er testen, wie ich drauf reagierte.

„Das ist mir egal. Ich will nur wissen wie es dir geht. Was ist passiert? Papa hat gesagt, der Auftrag ist problemlos abgelaufen.“

Sehr langsam zog Cio seine rechte Hand aus der Jackentasche. Er drehte sie so, dass wir beide unseren Blick darauf richten konnten. Die Knöchel waren aufgeplatzt. „Das hatte nichts mit dem Auftrag zu tun. Ich bin nur … naja, Tayfun und ich sind aneinander geraten.“

Wie bitte? „Tayfun war das?“

Cio zuckte nur gleichgültig mit den Schultern und ließ die Hand wieder sinken. „Er wollte mit mir sprechen. Ich wollte nicht zuhören. Am Ende mussten mich drei Leute von ihm runterziehen.“

Ich wusste nicht wie ich das finden sollte. Natürlich war mir klar, dass Cio im Moment nicht gut auf Tayfun zu sprechen war – obwohl es dazu eigentlich gar keinen Grund gab – aber Gewalt war niemals eine Lösung.

„Schau nicht so. Das ist alles halb so wild. Den dummen Vampir hat es viel schlimmer getroffen als mich.“

Das war nicht das was ich hatte hören wollen und der befriedigende Ton in seiner Stimme gefiel mir ganz und gar nicht. So kannte ich Cio gar nicht. „Das ist … ähm ...“

Als hinter uns die Tür aufging, unterbrach ich mich und schaute mich um. Der Bewohner des gegenüberliegenden Zimmers nickte uns zu und schlenderte dann pfeifend den Korridor hinunter.

Auch Cio schien die anhaltende Rush Hour hier auf den Fluren nicht recht zu gefallen. Besonders nicht, als von der Turnhalle her schon wieder Stimmen lauter wurden. Er warf einen Blick über die Schulter zu meiner Zimmertür, aber darin befand sich noch immer meine Mutter. Das war also auch nicht optimal.

„Komm mit“, forderte er mich dann auf und einen Moment schien es, als wollte er nach meiner Hand greifen. Es war nur eine kleine Bewegung und ich betete darum, dass er dem Impuls nachgab. Aber dann schloss er sie einfach nur zur Faust und wandte sich eilig ab. „Da hinten gibt es ein leeres Büro.“ Und schon setzte er sich in Bewegung.

Die Enttäuschung die ich plötzlich verspürte, wollte mir den Brustkorb zusammenschnüren. Reiß dich zusammen, er ist eben noch nicht so weit. Ich verbot mir einen Gefühlsausbruch, warf das Handtuch und meine anderen Sachen noch vor meine Zimmertür auf den Boden und folgte Cio dann eilig den Gang hinunter.

Den Raum den Cio im Sinn hatte, lag direkt gegenüber von der Turnhalle. Uns folgten ein paar neugierige Blicke, als wir darin verschwanden, aber niemand kam uns hinterher. Das Zimmer selber schien nur noch als Abstellraum benutzt zu werden. Türme von Stühlen, mehrere aufeinander und nebeneinander gestapelte Tische, ein paar Regale und haufenweise Kartons.

Cio schaute sich um, als wollte er sich ein Plätzchen zum Sitzen suchen, blieb letztendlich aber einfach mitten im Raum stehen.

Ich schloss die Tür hinter mir und lehnte mich dann von innen dagegen. Endlich waren wir alleine. Nun konnten wir ungestört miteinander sprechen, aber … zwischen uns blieb es still. Wir standen da, schauten uns an und keiner bekam ein Wort raus. Niemand wollte etwas Falsches sagen und die Distanz zwischen uns noch vergrößern. Gleichzeit gab es so viel was zwischen uns stand. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass wir jemals so befangen miteinander umgegangen waren. Nicht mal als wir uns kennengelernt hatten. Wir hatten schon immer einen Draht zueinander gehabt. Nun jedoch lag ein ganzer Berg zwischen uns.

Sag was, irgendwas. Mach den Anfang! „Ähm … wie ist der Auftrag für dich gelaufen?“ Ja, ganz toll. Am liebsten hätte ich mir selber in den Hintern getreten. Besonders, da ich das ja schon wusste.

„Ganz gut.“ Cio verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Lederjacke knarzte dabei. „Alles verlief planmäßig. Wir konnten vier Frauen retten und Murphy war zufrieden mit mir. Jetzt muss Miguel nur noch seinen Segen geben, dann bin ich dabei.“

„Oh … ähm …. das ist … gut.“ Noch jemand der mir etwas bedeutete und sich ständig in Gefahr brachte.

Als wüsste er ganz genau was ich dachte, zuckte Cios Mundwinkel. „Für mich auf jeden Fall. Nur werde ich dann vermutlich ziemlich oft unterwegs sein.“

Ich schluckte krampfhaft. „Ja“, sagte ich leise und schaffte es nicht länger seinem Blick standzuhalten. „Ich weiß.“ Ich konnte seinen Blick spüren und hörte auch, wie er sich unruhig bewegte. Aber mir fiel absolut nichts ein, was ich dazu sagen könnte, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen. Ich wollte nicht dass er für die Themis arbeitete.

„Hör zu“, sagte er dann plötzlich. „Lass uns aufhören um den heißen Brei herumzureden.“

„Okay.“

„Okay.“ Pause. „Was da passiert ist, als ich dich da in seinem Bett gesehen habe, ich hab gedacht mich trifft der Schlag. Ich meine, nie im Leben hätte ich damit gerechnet, dass ausgerechnet du sowas tun könntest.“

„Aber ich hab doch gar nichts getan“, sagte ich kleinlaut. „Das musst du mir glauben.“

„Ich weiß. Ich … ich ...“ Unruhig verlagerte er sein Gewicht von einem Bein auf das andere. „Du bist doch mein Schäfchen und dass du sowas machen könntest … eher würde mein Vater auf den Mond fliegen und dort Tango mit ein paar Aliens tanzen. Verstehst du was ich sagen will?“

Dieser verdammte Keim der Hoffnung begann sich zu regen und erste zarte Wurzeln zu schlagen. „Du glaubst mir“, sagte ich vorsichtig.

„Ja. Nein. Ich weiß nicht.“ Er verzog seine Lippen zu einer grimmigen Linie. „Ich will dir glauben, weil ich mir einfach nicht vorstellen kann, dass du mir sowas antun würdest – weil ich es mir nicht vorstellen will – aber da ist dieser verflixte Zweifel in meinem Hinterkopf, der einfach keine Ruhe gibt. Egal was ich tue, ich werde ihn nicht los. Er hat sich an mir festgekrallt. “

„Weil du Angst hast, ich könnte das gleiche tun wie Iesha.“

Dazu sagte er nichts. Das brauchte er auch nicht.

„Ich bin nicht Iesha, Cio. Ich bin absolut nicht wie sie.“ Ich wusste, dass ich das schon zu ihm gesagt hatte, aber mir schien es wichtig, dass er es noch mal hörte und es auch verstand. „Erinnerst du dich noch an die Eulenkarte, die du mir zu meinem zwanzigsten Geburtstag gegeben hast und an den Tag, als ich den Gutschein darin eingelöst habe? Damals habe ich dir ein Versprechen gegeben. Ich habe dir versprochen, dich niemals anzulügen und ich habe mich bis heute jeden einzelnen Tag daran gehalten. Ich kann dich nicht anlügen, Cio. Selbst wenn ich es wollte, könnte ich es nicht, weil mir dieses Versprechen etwas bedeutet. Weil es dir etwas bedeutet.“

Beinahe schon geschlagen ließ er seinen Kopf hängen. „Wie kann ich mir da sicher sein?“

Das war eine Frage die sehr leicht zu beantworten war, doch die Umsetzung dieser Antwort war alles andere als einfach. „Du musst mir vertrauen.“

Darauf reagierte er nicht. Er wollte es, aber er wusste nicht wie.

Zwischen uns breitete sich eine unangenehme Stille aus, die mich mit jeder verstreichenden Sekunde nervöser machte. Auf meiner Zunge lag eine Frage, vor der ich mich fürchtete. Die falsche Antwort darauf könnte mich zerstören, aber wenn wir hier nur stumm voreinander standen, würden wir auf der Stelle treten. „Willst du ...“ Ich biss mir so fest auf die Unterlippe, dass sich meine Fänge ins Fleisch bohrten.

Cio schaute mich nur abwartend an.

Tu es einfach, dann hast du es hinter dir. Wenn mir die Antwort nicht gefiel, konnte ich mich immer noch von der nächsten Brücke stürzen. „Willst du die Beziehung beenden?“

Da, es war raus. Meine größte Angst. Ich hielt die Luft an und konnte nichts anderes tun als zu warten.

Cio musterte mich – sehr lange. Und dann seufzte er. „Nein“, kam es leise über seine Lippen. „Nein, das will ich nicht. Ich will nicht Schluss machen, denn ich will dich nicht in den Armen eines anderen sehen.“

Das war nicht ganz das, was ich mir erhofft hatte, einfach weil es klang, als wollte er sein Spielzeug für sich behalten, auch wenn er nicht mehr damit spielen wollte und trotzdem begann ich vorsichtig zu lächeln. „Wirklich?“

„Ich kann dich nicht gehen lassen, Schäfchen. Du bist mir zu wichtig und ich glaube ich würde durchdrehen, wenn du nicht mehr da wärst.“

Oh mein Gott. Auf einmal schien ich viel freier Atmen zu können. Natürlich war es noch nicht optimal, aber es war ein Schritt in die richtige Richtung. „Gut“, sagte ich. „Das ist gut.“

Er hob eine Augenbraue. „Du findest es gut, wenn ich durchdrehe?“

„Nein!“, sagte ich sofort und schloss dann mit einem klacken den Mund. Das hatte nicht so panisch herüberkommen sollen. „Ich meine es ist gut, dass du uns nicht aufgibst und versuchen willst … zu vertrauen – mir zu vertrauen.“

„Ja“, sagte er nach einem Moment des Zögerns. „Das ist vermutlich gut.“ Leider hörte er sich nicht sehr überzeugt an.

Verdammt. „Ich habe dich nicht betrogen“, rief ich ihm daher noch mal ins Gedächtnis. „Ich weiß es fällt dir schwer mir das zu glauben, aber alles was ich gesagt habe, entspricht der Wahrheit. Mir ist auch klar, dass du Zeit brauchen wirst und … ich weiß nicht. Ich gebe dir Zeit, so viel wie du brauchst. Selbst wenn du ein wenig Abstand brauchst … naja, das würde mir zwar nicht besonders gut gefallen, aber ich werde nicht versuchen dich zu bedrängen. Ich will nur … ich ...“ Nervös begann ich damit meine Hände zu kneten. „Ich vermisse dich, Cio.“

Er schloss die Augen, als hätte er genau das hören müssen, um endlich wieder ein wenig klarer im Kopf zu werden.

„Ich will nur, dass es wieder so wird wie es war“, fügte ich noch leise hinzu.

Langsam hob er den Kopf. Lange Zeit schaute er mich nur schweigend an. Dann machte er endlich einen Schritt auf mich zu – und das nicht nur im übertragenden Sinne.

Ich hielt die Luft an, als er direkt vor mir stehen blieb und vorsichtig eine Hand hob. Als ich seine Finger an meiner Wange spürte, begann der Keim in meinem Herzen zu blühen.

„Das will ich auch“, sagte er leise. „Ich will das alles nur vergessen.“

Bei diesen Worten befürchtete ich einen Moment, dass er vom Beißen sprach, doch dann nahm er einfach meine Hand und Hauchte mir einen Kuss auf die Knöchel und legte sie sich dann auf sein Herz.

„Ich werde dafür sorgen, dass wir das alles hinter uns lassen können.“

Das brachte mich zum lächeln. Mein strahlender Ritter in seiner schimmernden Rüstung, tatkräftig in jeder Situation, die das Leben uns vor die Füße warf.

„Nichts wird zwischen uns kommen“, versprach ich ihm und trat ein wenig näher. Das Gefühl ihm wieder so nahe sein zu dürfen, war unbeschreiblich. Es war als wäre ein verlorener Teil zurückgekommen. „Absolut nichts.“ Meine Hand krallte sich leicht in sein blaues Shirt.

Dieses Mal fiel sein Lächeln schon ehrlicher aus. Nach meinem Geschmack war es viel zu zurückhaltend, aber es war mehr, als ich es zu hoffen gewagt hatte. „Das lassen wir nicht zu, hm?“

Zärtlich strich er mir eine Strähne hinters Ohr und ich konnte schon fühlen, wie er sich vorbeugte um mich zu küssen, doch das tat er nicht. Sein Finger zog nur die Linie meines Kiefers nach und wanderte dann langsam meinen Hals entlang, bis er gegen die Schnur stieß, an der mein Ring hing.

„Ach ja“, sagte er plötzlich und zog seine Hand zurück, um in seinen Jackentaschen herumzukramen. „Ich hab ja noch was für dich.“

„Für mich?“

Er grinste ein wenig und beförderte dann ein langes, geflochtenes Leberband mit einem silbernen Klippverschluss daran zu Tage. „Für deinen Ring“, erklärte er verschmitzt. „Das ist wesentlich hübscher, als diese Kordel um deinem Hals. Wo hast du die eigentlich her?“ Noch während er redete, zog er mir die Kordel über den Kopf und versuchte sich an dem Knoten, der das Ganze in meinem Nacken zusammengehalten hatte. Mir fiel sehr wohl auf, dass er mich dabei so wenig wie nötig berührte. Der Stich in meinem Herzen kam nicht unerwartet.

„Das ist die Zugkordel aus meiner Jogginghose.“

„Die brauchst du jetzt nicht mehr.“ Er zog den Ring von der Schnur ab und fädelte ihn auf das Leberband. Es war schwarz und würde in meinem Fell fast unsichtbar sein. „Los, dreh dich um“, wies er mich an.

Ich folgte seiner Aufforderung und bekam eine Gänsehaut, als er mir die Haare aus dem Nacken strich. Der Ring landete auf meinem Dekolleté und plötzlich wurde mir noch etwas bewusst. Wehmütig strich ich mit dem Finger darüber, während Cio sich noch mit dem Verschluss herumplagte. „Die Hochzeit werden wir wohl erstmal auf Eis legen.“ Denn solange zwischen uns nicht wieder alles im Reinen war, konnten wir diesen Schritt nicht wagen.

Darauf antwortete er nicht. Das war auch nicht nötig. Stattdessen drehte er mich wieder zu sich herum und nahm mein Gesicht in die Hände. „Wir schaffen das“, versprach er und beugte sich vor. Doch wieder waren nicht meine Lippen das Ziel. Er hauchte mir nur einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und zog mich dann in seine Arme.

Hier war es schön. Ich drängte mich nicht nur gegen ihn, ich versuchte praktisch in ihn hinein zu kriechen und das Gefühl der Geborgenheit in mich aufzusaugen. Ich wollte das nicht nur, ich brauchte das. Aber dass er noch immer nicht versuchte mich zu küssen, wo er doch sonst kaum eine Gelegenheit ausließ um mir an die Wäsche zu gehen, versetzte dieser Situation einen mächtigen Dämpfer.

Gib ihm Zeit, verdammt noch mal!

Das war das einzige, was ich versuchen konnte.

Schier eine Ewigkeit standen wir dort in dem alten Büro, das nur noch ein kleines, staubiges Lager war und hielten uns in den Armen. Keiner von uns beiden wollte loslassen, also taten wir es auch nicht. Wir blieben einfach wo wir waren und versuchten das wiederzufinden, was auf so empfindliche Art gestört worden war. Die Verbindung zwischen uns, das was uns so unzertrennlich machte. Ich wünschte es mir so sehnlich zurück, dass es schon wehtat.

„Ich sollte vermutlich langsam gehen.“

Augenblicklich spannte ich mich an. Das war absolut das Gegenteil von dem was ich gerade gedacht hatte. „Du willst gehen?“

„Wollen ist denke ich das falsche Wort, aber ich habe die letzten Tage nicht besonders viel geschlafen und ich bräuchte auch dringend eine Dusche.“

„Ich finde du riechst gut“, sagte ich leise und vergrub wie zum Beweis meine Nase an seiner Brust. Ich liebte seinen Geruch.

Cio gab ein leises Lachen von sich, das seinen Brustkorb zum vibrieren brachte. „Es ist doch nur für ein paar Stunden. Wir sehen uns doch morgen wieder.“

„Versprochen?“

Behutsam löste er sich von mir. Dabei verrutschte meine Brille ein wenig, wurde von ihm aber sofort wieder in Ordnung gebracht. „Versprochen. Wir könnten uns einen Film anschauen. Ich besorge Pizza oder so und dann machen wir es uns gemütlich.“

„Das klingt toll.“ Das tat es wirklich. Leider würden wir diese kleine Verabredung nicht in seiner Wohnung oder in meinem Zimmer abhalten können, aber das war egal. Wichtig war nur, dass er endlich wieder bei mir war.

„Dann machen wir es so.“ Er ließ von mir ab, griff aber nach meiner Hand, bevor er die Tür zum Korridor aufzog und mich mit einem vorsichtigen Lächeln vorließ.

Es war seltsam so mit Cio zu laufen. Wir hatten das schon tausend Mal getan und doch fühlte es sich dieses Mal ganz anders an. Ja, wir hatten endlich miteinander gesprochen und versuchen das zwischen uns zu kitten, aber zum ersten Mal fragte ich mich, ob es jemals wieder so sein konnte, wie es war.

Hör auf sowas zu denken, damit forderst du das Schicksal nur heraus!

Um mich von dem Karussell in meinem Kopf abzulenken, musterte ich Cio. Er wirkte wirklich müde. Und … naja, ramponiert, wie er es so schön ausgedrückt hatte. Ich wollte gar nicht wissen, wie Tayfun aussah, wenn Cio schon so mitgenommen war. Andererseits heilten Vampire viel schneller als Lykaner. Vielleicht sollte ich Cio heilen. Ob er das zulassen würde? Der Bluterguss auf seiner Wange war ja schon fast verheilt, nur noch ein Schatten.

Moment mal, der war doch gar nicht von Tayfun, den hatte er schon gehabt, als wir zu Zellengenossen verdammt worden waren.

Während wir den Korridor entlang wanderten, drängte sich mir auf einmal eine ganz andere Frage auf. „Wie bist du eigentlich in dieser Zelle gelandet?“

Nur ein kurzer Seitenblick, dann war sein Blick wieder nach vorne gerichtet. „Schlägerei im Moonlight. Ich hatte ein wenig viel getrunken und war nicht allzu gut drauf.“

Keine gute Kombination. „Und da hast du dich mit jemanden geprügelt?“

„Da war ein Kerl, der war der Meinung, ich sitze auf seinem Platz. Als ich ihn ignorierte, hat er mir eine verpasst. Als ich anschließend mit ihm den Boden aufgewischt habe, hat er das sicher bereut.“

Das konnte ich mir vorstellen. „Und da hat wohl jemand die Wächter gerufen.“

„Seine Freundin. Sie hatte wohl Angst, dass ich ihn umbringe. Dabei habe ich mich noch zurückgehalten.“

Ich wollte nicht fragen, was genau er damit meinte. Die Vorstellung dass Cio jemanden ins Krankenhaus brachte, war mir zuwider. Da stellte ich mir doch lieber vor, das der Kerl nur ein paar Schrammen abbekommen hatte.

„Und du?“, fragte Cio. „Was hast du angestellt, dass man dich einlochen musste?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Nichts weiter. Ich bin einfach nur abgehauen, das war alles.“

„Durch den Schacht, ich erinnere mich.“

Er hatte also doch zugehört. Ein kleines Glücksgefühl stieg in mir auf. Leider verschwand es auch wieder sehr schnell, denn wir hatten mittlerweile meine Zimmertür erreicht und ich wollte mich noch nicht von ihm trennen.

„Also“, sagte er dann. „Wir sehen uns dann morgen, okay?“

„Okay“, war alles was ich herausbrachte. Ich wollte das er bei mir blieb.

„Hey.“ Mit sanftem Druck legte Cio ein Finger an mein Kinn und hob mein Gesicht, bis ich ihn ansehen musste. „Ich bin morgen wieder hier. Du hast mein Wort.“

„Ich weiß.“

„Gut.“ Er zögerte einen Moment, nicht sicher was genau er jetzt tun sollte. Seine Hand hob sich und berührte in der vertrauten Geste das kleine Loch an meiner Augenbraue. Dann senkte er den Kopf und dieses Mal berührten seine Lippen die richtige Stelle. Es war wie ein elektrischer Schlag, den ich bis in die Zehenspitzen spüren konnte und mich sofort in seinen Bann schlug. Solche Gefühle konnte nur er in mir hervorlocken.

Der Kuss war sanft, vorsichtig, tastend. Wir waren und beide noch nicht ganz sicher, wo genau wir nun standen und was es für uns bedeutete, aber das hier zu spüren, führte uns ein wenig in die richtige Richtung.

Leider war der Kuss schneller beendet, als mir das lieb war und so kam der Abschied, noch bevor ich dazu bereit war. Aber ich wusste, dass ich ihn nicht bedrängen durfte. Er brauchte ein wenig Freiraum, um mit allem klarzukommen, also gab ich ihn ihm und schaute ihm schweigend hinterher, als er den Korridor hinunterlief. Bevor er jedoch abbog, schaute er noch mal zu mir zurück und schenkte mir ein Lächeln, dass ich sofort erwiderte.

Als dann verschwand, tat es nicht annähend so weh wie beim letzten Mal. Er hatte sich zu mir zurückgeschaut und wir waren für morgen verabredet. Ich fühlte mich so leicht wie schon seit Tagen nicht mehr und konnte geradezu spüren, wie sich ein dümmliches Lächeln auf meinen Lippen breit machte.

Mit diesem Grinsen im Gesicht, klaubte ich das Handtuch die anderen Sachen vom Boden – das hatte schließlich keine Beine bekommen und war davon gerannt – und trat in mein Zimmer. Doch noch mit der Klinke in der Hand, blieb ich gleich wieder stehen.

Mama war noch da, aber sie war nicht allein. Papa saß neben ihr auf der Bettkante und schaute auf, sobald ich im Türrahmen stand.

Einen Moment wusste ich nicht was ich tun sollte. Klar, wir hatten in der Zwischenzeit zweimal miteinander telefoniert, aber da war noch immer dieser Zwischenfall, bei dem ich fast meine Zähne in seinem Arm versenkt hätte. Es war keine Drohung gewesen, das wussten wir beide. Hätte ich ihn erwischt, wären das nicht nur ein paar Kratzer gewesen.

Da Papa mein Problem wohl erahnte, machte er den ersten Schritt. Er öffnete einfach die Arme und ich konnte gar nicht anders. Erneut landeten meine Sachen auf dem Boden und ich flog quer durch das Zimmer, um meinem Vater um den Hals zu fallen. Ich drückte ihn so fest an mich, dass ich ihm wohl die Luft abschnürte, aber er beschwerte sich nicht, er tat es mir einfach gleich.

„Es tut mir leid“, flüsterte ich mit tränenerstickter Stimme. Ja, schon klar, es gab eigentlich keinen Grund zu heulen, aber in diesem Moment war ich so erleichtert, dass ich gar nicht anders konnte, als dem leichten Brennen in meinen Augen nachzugeben.

„Ist schon gut“, versicherte er mir und strich mir beruhigend über den Rücken. „Ich mache dir keinen Vorwurf.“

Er war eben doch der Beste Vater auf der ganzen Welt. Ich war mir nicht sicher, ob ich so einen Angriff einfach hätte verzeihen können. Nein, ich war mir sogar ziemlich sicher, dass ich das nicht gekonnt hätte. Noch heute zuckte ich zusammen, wenn Cayenne mich überraschend berührte und dabei war das was sie getan hatte nicht annähend so schlimm, wie das wozu ich bereit gewesen war.

Als sich meine Mutter dann auch noch der Umarmung anschloss, weil sie sie – wie sie sagte – nicht außen vor sein wollte, brachen wir in Lachen aus.

An diesem Abend war ich so glücklich wie schon lange nicht mehr. Wir entschlossen uns sogar dazu, in der Küche gemeinsam zu kochen und bevor ich mich unter die Decke verkroch, rief ich sogar noch Alina an. Sie löcherte mich mit tausend Fragen und erst bei dem Gespräch fiel mir auf, dass ich ganz vergessen hatte Cio zu erzählen, was Cayenne für mich arrangiert hatte.

Nicht so schlimm, ich würde es ihm einfach morgen sagen, denn morgen würden wir uns ja sehen.

In dieser Nacht schlief ich zum ersten Mal seit Tagen wieder richtig gut und stieg morgens voller Elan aus dem Bett. Es war gerade mal kurz nach Sechs, also musste ich noch zwei Stunden vertrödeln, bis ich endlich in den Stall durfte. Zwischendurch war ich versucht Cio eine Nachricht zu schicken, wollte ihn aber auch nicht stören, falls er noch schlief. Also spielte ich einfach mit meinem Vater Karten, bis die Uhr es mir erlaubte das Gebäude zu verlassen – genau wie meine Mutter war mein Vater nicht sehr angetan von Cayennes Einmischung. Ich sagte ihm das gleiche wie meiner Mutter am Tag zuvor: Ich war bereits seit Jahren volljährig. Trotzdem bat ich ihn noch Cio zu sagen wo ich war, sollte er hier auftauchen, anstatt mich auf meinem Handy anzurufen.

Die vier Wächter erwarteten mich bereits vor dem Eingang, doch im Gegensatz zu gestern, waren die beiden neuen heute in ihrer Wolfsgestalt. Wie eine kleine Eskorte folgten sie mir über das Gelände des Schlosses hinüber zur Menagerie. Ich besorgte wieder Stiefel und Latzhose und schlenderte beschwingt in den Stall um nach Gisel Ausschau zu halten – meine Wächter blieben in meinem Schatten.

Zu meiner Verwunderung war der Stall bis auf die Pferde verwaist. Ich hörte auch niemanden in den Boxen arbeiten, also entschied ich mich auf der Koppel nachzuschauen. Wenn Gisel nicht dort war, müsste ich rüber in die Reitstube gehen.

Der schnellste Weg zum Weideplatz der Pferde war direkt durch den Stall. Doch auf halben Wege durch die Gasse bemerkte ich, dass ich doch nicht so allein war, wie ich geglaubt hatte – und ich sprach hier nicht von meinem Anhang.

Da kicherte jemand. Nanu, das war doch Pauline, wenn ich mich nicht täuschte. Sie war wohl wieder gesund. Und so wie sie schnurrte, schien sie sich in bester Gesellschaft zu befinden und sich köstlich zu amüsieren. Einen Moment überlegte ich, ob ich stören sollte, einfach weil ich gute Laune hatte und es doch witzig wäre, sie ein wenig zu ärgern. Aber dann entschied ich mich dagegen, weil es gemein wäre. Besser ich ließ sie ungestört und lief außen am Stall vorbei.

Gerade wandte ich mich um, als ich das zweite Lachen hörte. Leiser, tiefer und überaus bekannt. Dieses heisere Lachen hatte ich schon so oft gehört, dass ich gar nicht mehr zählen konnte.

Ich erstarrte einfach mitten in der Bewegung und versuchte meinem beschleunigten Herzschlag zu erklären, dass ich mich getäuscht hatte. Das konnte nicht sein. Aber dann hörte ich es wieder und etwas in mir schien unwiderruflich zu brechen.

Am Besten wäre es wohl gewesen, wenn ich einfach gegangen wäre und das ganze als Hirngespinst abgetan hätte, aber das konnte ich nicht. Meine Schritte verselbständigten sich einfach und trugen mich immer näher an die Pferdebox heran, aus der ich die leisen Stimmen hörte.

Noch zwei Meter, einer. Meine Schritte verharrten, sobald ich in die Box hineinsehen konnte und mein Herz erstarrte zu Eis.

 

°°°°°

Schrei der Seele

 

Das was mich dort erwartete, brachte nicht nur mein Denken zum Stillstand, auch mein Herz setzte einen Schlag aus, nur um im nächsten Moment vor Schmerz zu bersten. Was ich da sah … nein, das konnte nicht wahr sein. Meine Sinne mussten mir einen Streich spielen, denn so etwas würde Cio mir niemals antun. Nicht nachdem was gestern geschehen war, nicht nachdem was wir besprochen hatten, nachdem was er mir versprochen hatte. Er hatte gesagt, wir würden das wieder hinkriegen, es konnte also nicht stimmen.

Und doch stand er nun zusammen mit Pauline in dieser Box und ließ seinen ganzen Charme spielen.

Sie lehnte mit dem Rücken an der hinteren Wand, während Cio ihr am Ohrläppchen knabberte und sie an einer ihrer Gürtelschlaufen näher an sich zog, etwas, dass er auch bei mir schon öfters getan hatte.

„Und wenn uns jemand erwischt?“, flüsterte sie und kicherte wieder. Ihre Hand glitt dabei seinen Bizeps hinauf und begann damit ihn in seinem Nacken zu kraulen. Dabei strahlte sie, als hätte sie einen Sechser im Lotto gemacht. Und Cio? Der ließ das einfach zu. Mich hatte er gestern nicht mal küssen können und ihr kam er jetzt sogar noch entgegen.

„No Risk, no Fun“, erklärte er ihr leise lächelnd und drängte sich näher an sie heran.

Mir war schon lange bewusst, dass Pauline eine heimlich Schwäche für Cio hatte, nur war mir nicht klar gewesen, dass auch er es wusste. Und auch hätte ich niemals geglaubt, dass er es ausnutzen und versuchen würde, mich zu betrügen. Ich war doch nicht Iesha.

Das war wie ein schwerer Autoanfall. Dieser Anblick überschwemmte mich mit Entsetzen und doch schaffte ich es nicht mich abzuwenden. Es krallte sich an mein Herz und riss mit aller Kraft daran, um nichts als blutige Fetzen zurück zu lassen.

Sie bemerkten mich nicht mal. Ich stand völlig offen da, aber die beiden waren so miteinander beschäftigt, dass ihnen alles andere egal war.

Meine Gedanken rasten so sehr, dass ich erst mitbekam, wie Ryan von der Weide aus in den Stall trat, als er mich ansprach.

„Hey Zaira, da bist du ja. Gisel sucht dich schon.“

Dieser Ruf riss mich aus meiner verstörenden Trance. Ich schaute zu meinem Kollegen – vielleicht ein halbe Sekunde – aber die reichte für Cio und Pauline endlich zu bemerken, dass sie nicht länger allein waren. Cio riss den Kopf so heftig herum, dass sein Nacken knackte und wirkte geradezu schockiert mich vor der offenen Box stehen zu sehen. Jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht, bis er kaum mehr als eine Leiche war. Dann löste er sich sehr langsam von Pauline – die kaum besser aussah – und trat einen Schritt zurück. Und noch einen. Abstand, das war es, was er zwischen sich und meiner Kollegin brachte. Dabei ließ er mich keine Sekunde aus den Augen. Keiner der beiden hatte damit gerechnet, dass ich hier auftauchen würde – das sah ich ihnen deutlich an.

Meine Augen begannen zu brennen, während ich ihn wortlos darum anflehte, mir das zu erklären. Verflucht noch mal, sag etwas!, forderte ich ihn stumm auf. Irgendwas. Sag mir dass meine Augen mir einen Streich spielen, dass ich das was ich zu sehen glaube nicht stimmt, dass es für all das eine ganz logische Erklärung gibt. Bitte, sag es.

Aber er sagte nichts. Er starrte mich nur in dem gleichen namenlosen Entsetzen an, das ich verspürte und mir langsam aber sich mein Herz zu einer zähen blutigen Masse zerquetschte.

Und dann öffnete er den Mund, aber alles was rauskam, war heiße Luft.

Ja, ich an seiner Stelle wüsste vermutlich auch nicht so recht, was ich hätte sagen sollen. War ja nicht so, als gäbe für solche Situationen einen Leitfaden, in dem man alles nachlesen konnte.

Ich versuchte es mit einem gezwungenen Lächeln, das sicher in einer Grimasse endete. Ihm wäre im Leben nicht in den Sinn gekommen, dass ich hier auftauchen könnte. Wie auch. Laut seines Wissensstandes durfte ich das HQ ja nicht verlassen. „Ich hab vergessen es dir gestern zu erzählen. Ich darf wieder im Stall arbeiten. Cayenne meinte, das wäre …“ Verdammt, was faselte ich denn da für einen Schwachsinn? Wenn interessierte es denn, warum ich hier war? Und dann quoll die erste Träne aus meinem Auge und rollte mir über die Wange. „Ich wollte nicht stören“, würgte ich an dem Kloß in meinem Hals vorbei und wandte mich so hastig ab, dass ich fast in einen meiner Wächter reinrannte. Na toll, das Publikum hatte Plätze in der ersten Reihe.

Das war der Moment in den Bewegung in Cio kam. „Schäfchen!“ Er sprang nicht nur aus der Box heraus, er versuchte auch gleichzeitig mich am Arm zu erwischen. Es war nur eine kleine Bewegung im Augenwinkel, doch mein Körper reagierte, als hätte er nur darauf gewartet.

Bevor er mich berühren konnte, holte ich aus und schlug seine Hand weg. „Nein!“, schrie ich und taumelte vor ihm zurück. „Fass mich nicht an“, flehte ich mit einer Verzweiflung in der Stimme, die mir bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt gewesen war. Es tat so weh. Die letzten Tage, alles was ich durchgemacht hatte, es war nichts gegen den Schmerz, den ich nun fühlte.

Mein Kopf ging von links nach rechts, die Tränen liefen nun ungehindert über mein Gesicht und erschwerten mir die Sicht. „Bitte, fass mich nicht an. Nie wieder.“

Der schmerzhafte Ausdruck in seinem Gesicht zermahlte die Reste meines Herzens zu Staub.

Was bitte hat er denn jetzt für ein Recht verletzt auszusehen?!

„Schäfchen …“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, sag nichts.“

„Aber ich habe das für uns getan“, versuchte er mir zu versichern. „Damit alles wieder so wie vorher ist.“

Die Erkenntnis war wie ein heftiger Schlag mitten ins Gesicht. Oh Gott, er hatte das gleiche vor, wie damals bei Iesha. Er wollte den Punktestand ausgleichen, damit hinterher alles wieder in Ordnung war. Dabei hatte es schon damals nicht funktioniert. Wie konnte er nur glauben, dass es heute anderes wäre? Er war doch sonst nicht so dumm.

„Für uns?“, fragte ich und konnte es einfach nicht glauben. „Du denkst, das wäre für uns?“

„Ja. Ja, dann können wir das alles vergessen, alles was war.“ Er machte wieder einen Schritt auf mich zu, der mich sofort vor ihm zurückweichen ließ. „Schäfchen, bitte.“

Ich gab ein sehr unglückliches Lachen von mir. „Du glaubst wirklich, du tust das für uns?“ Am ende wurde meine Stimme ein wenig schrill. „Du glaubst wenn du mit Pauline fickst, ist anschließend wieder alles in Ordnung?! Bist du wirklich so verdreht in deinem Kopf?! Du willst dich doch nur an mir rächen und das für etwas, das ich nicht mal getan habe!“ Oh Gott, warum schrie ich denn jetzt auch noch?

Cio distanzierte sich ein wenig von mir in ging in die Defensive. „Ich weiß was ich gesehen habe.“

„Gar nichts hast du gesehen! Du hast gesehen wie ich in seinem Bett lag – voll angezogen – du hast ihn in der Tür stehen sehen – auch angezogen! Du konntest gar nichts sehen, weil es gar nichts zu sehen gab!“ Die letzten Worte schrie ich ihm entgegen. Frustriert wischte ich mir dies verdammten Tränen aus den Augen und stieß mir dabei auch noch fast die Brille von der Nase. Aber mir war es egal. „Ich habe in seinem Bett geschlafen, wie ich es schon tausend Mal bei Aric und Kaspar getan habe. Wir haben nur geschlafen, wie auch in der Nacht, als du dabei warst! Alles andere, der ganze Scheiß der dich so quält, ist nichts weiter als eine bohrende Ausgeburt deiner Phantasie! Es ist alles ein Hirngespinst, wir ...“ Ich stockte, als mir plötzlich etwas bewusst wurde. „Wir sind nur noch ein Hirngespinst“, fügte ich erschrocken hinzu.

Einen Moment starrte er mich nur verständnislos an. „Was?“, knurrte er dann.

„Wir sind nur noch ein Hirngespinst“, wiederholte ich und fühlte mich dabei, als würde ich ins Bodenlose fallen. „Du vertraust mir nicht mehr und jetzt … jetzt kann ich dir nicht mehr vertrauen.“ Beinahe von selbst wanderte meine Hand zu meinem Ausschnitt und umklammerte dort den Ring, dieses Sinnbild unserer Verbindung. Die Erinnerung an den Tag auf dem Steg, schnürte mir dabei fast die Kehle zu. Sehr langsam zog ich das Leberband über meinen Kopf und warf einen letzten Blick auf den kleinen Weißgoldring daran.

„Was machst du da?“, fragte er ungläubig.

Vorsichtig wog ich dieses Stück unserer Liebe in der Hand. „Weißt du, in all den Jahren hast du mir nicht ein einziges Mal gesagt, dass du mich liebst. Ich habe es verstanden und darüber weggesehen. Ich weiß wie schwer es für dich ist das zu sagen. Es war auch nie nötig. Du hast mir deine Gefühle jeden Tag gezeigt, aber ich bin nicht Iesha, Cio. Ich werde nicht tatenlos danebenstehen, wenn du versuchst mich für etwas zu bestrafen, dass ich nie getan habe, nicht so.“ Mein Herz schien noch einmal zu zerspringen, als ich den Arm ausstreckte und ihm das Leberband samt baumelnden Ring vors Gesicht hielt. „Damit das funktioniert, müssen wir einander vertrauen können, aber jetzt ist alles kaputt und ich werde mich nicht auf diese Art von dir erniedrigen lassen. Das verkraftet keiner von uns beiden.“

Seine Augen weiteten sich kaum merklich. „Du machst Schluss?“ Er klang nicht nur ungläubig, sondern auch fassungslos. „Ich verzeihe dir deinen Fehltritt und so dankst du es mir?“

„Es gibt nichts zu verzeihen, du Riesenarschloch, denn ich habe keinen Fehler gemacht!“, schrie ich ihn an und warf ihm den Ring um die Ohren. Es war mir egal, dass Cio sich wegduckte und er deswegen im Dreck landete, jetzt hatte er sowieso keine Bedeutung mehr. „Du bist hier der Schuldige.“ Meine letzten Worte endeten in einem Schluchzen. „Du allein.“ Damit warf ich mich herum und rannte an dem stummen Ryan vorbei hinaus auf die Weide der Pferde.

„Zaira!“, rief Cio und rannte mir sofort hinterher. „Warte!“ In seiner Stimme schwang Panik, Unglaube und Angst mit.

Der Schmerz der an meiner Seele zerrte, erweckte nicht nur den Wolf in mir, er ließ ihn auch so plötzlich aus mir hervorbrechen, dass ich mit einem Schrei zu Boden stürzte und sehr unsanft auf meiner Schulter landete. Die Stiefel rutschten mir von den Pfoten, als ich versuchte – noch halb in der Verwandlung – wieder auf die Beine zu kommen.

„Schäfchen!“, rief Cio wieder verzweifelt. Er war nur noch ein paar Meter hinter mir.

Die Furcht davor, er könnte mir wieder zu nahe kommen, trieb mich voran. Als ich wegen meiner Kleidung stolperte, zerrte ich sie mir mit den Zähnen vom Leib, bis sie rissen. Meine Brille fiel vergessen ins Gras. Tränen vernebelten mir die Sicht und verklebten mir das Fell an den Augen. Ich wollte nur noch weg von ihm und so viel Abstand wie möglich zwischen uns bringen. Leider war Cio schon immer sehr schnell gewesen und schaffte es irgendwie mir in den Weg zu springen, bevor ich noch einen weiteren Schritt machen konnte. Dabei hatte er seine Hände leicht erhoben, als wollte er mir so den Weg abschneiden.

„Schäfchen, bitte, tu das nicht.“ Er klang so verzweifelt, als würde er nahe an einem bröckelnden Abgrund stehen und um sein Gleichgewicht bangen. Noch nie in seinem Leben war er verlassen worden. Vor mir hatte er zwei ernsthafte Beziehungen gehabt und beide waren von ihm beendet worden. „Wir bekommen das wieder hin, das schwöre ich dir.“

Wie schnell man doch die Plätze tauschen konnte. Noch gestern war ich es gewesen, die gefleht hatte. Und nun stand er vor mir und es lag in meiner Hand, ihm das Herz aus der Brust zu reißen, so wie er es mit mir getan hatte.

Aber das wollte ich gar nicht. Ich wollte einfach nur weg von ihm. Also sprang ich nach rechts, um an ihm vorbei zu kommen, doch er war sofort wieder vor mir. Als er dann auch noch ein Schritt auf mich zumachte, zeigte ich ihm die Zähne. Ich zog die Lefzen so hoch, bis er mein Zahnfleisch sehen konnte. Dabei flossen mir noch immer Tränen aus den Augenwinkeln.

„Zaira, bitte.“

Nein“, knurrte ich. „Ich hasse dich!“ Damit jagte ich so schnell es mir möglich war an ihm vorbei, immer Richtung Waldgrenze. Die grasenden Pferde auf der Weide, waren von meinem Anblick nur wenig beeindruckt, waren ihnen Wölfe doch nur zu gut bekannt. Es interessierte sie nicht, dass da ein Wolf über die Koppel raste.

Ich spürte kaum das Gras unter meinen Pfoten, als ich immer weiter hetzte. Eigentlich fühlte ich gar nichts. Ich war einfach nur taub. Dieses Bild von Cio und Pauline hatte sich in mein Hirn gebrannt. Ich wurde es einfach nicht los. Genau wie diesen verletzten Ausdruck in seinem Gesicht. Ich hatte ihm das angetan. Aber es war nicht meine Schuld.

Mit weiten Sätzen sprang ich ins Unterholz. Leider übersah ich dabei die Wurzel einer Kiefer und stürzte so heftig ins Geäst, dass ich mir das ganze Gesicht aufgeschürft hätte, wenn das ohne Fell passiert wäre. So bekam ich nur Dreck und Blätter in die Nase und knickte mir die Pfote um. Und dann … dann blieb ich einfach liegen und weinte. Auf einmal schien alles so sinnlos. Aufstehen, weitergehen, hierbleiben. Ich konnte tief im Wald verschwinden, oder einfach nur hier am Waldrand liegen bleiben. Es war egal, weil es keinen unterschied machte. Mein Schmerz würde mich begleiten, egal wohin ich auch floh, denn das war etwas, dass ich nicht so einfach hinter mir lassen konnte. Cio war doch ein Teil von mir und ich liebte ihn trotz allem.

Oh Gott, wie hatte er mir das nur antun können? Wie konnte er nur annehmen, ein wenig Sex mit meiner Arbeitskollegin würde alles wieder in Ordnung bringen? Und Pauline, wie hatte sie da nur mitmachen können? Ich verstand es einfach nicht.

Als es hinter mir plötzlich raschelte, schaute ich panisch auf, aus Angst Cio könnte immer noch hinter mir her sein, doch es waren Wölfe, zwei meiner Wächter, um genau zu sein.

Fast hätte ich angefangen zu schreien. Nicht mal jetzt konnten sie mich in ruhe lassen. Wenigstens hielten sie Abstand und blieben stumm. Was sollten sie auch sonst tun? Es war ihre Aufgabe auf mich aufzupassen, sie durften mich nicht aus den Augen lassen. Darum war ich auch nicht weiter erstaunt, als kurz darauf auch Wächter Mirko und Wächter Owen ein wenig außer Atem zwischen den Bäumen auftauchten. Auch sie hielten Abstand.

Ich ignorierte sie einfach und versank in meinem Schmerz. Etwas anderes konnte ich im Augenblick ohnehin nicht tun, da ich im Moment auf keine Fall auf den Hof zurückkehren wollte. Ja, mir war klar, dass ich mich eigentlich nicht vom Schlossgelände entfernen durfte. Genaugenommen durfte ich nicht weiter als die Koppel der Pferde reichte, aber allein der Gedanke wieder umkehren zu müssen, ließ Überkeit in mir aufsteigen. Und wenn man es genau nahm, was die Koppel ja nur wenige Meter entfernt. Also blieb ich einfach wo ich war und weinte. Ich weinte Stundenlang und bis ich keine Tränen mehr hatte. Und auch dann blieb ich einfach liegen und starrte blicklos ins Nichts.

Cio tauchte nicht auf. Irgendetwas von dem was ich zu ihm gesagt hatte, hielt ihn davon ab mir weiter nachzulaufen. Ich hatte ihn noch nie angeschrien oder ernsthaft beleidigt. Unsere schlimmsten Streits hatten mit einem Augenrollen und genervtem Geseufze geendet. Aber jetzt war alles zu Ende. Ich war nicht Iesha. Ich würde nicht dabei zusehen, wie er von einem Bett in das nächste hüpfte, in dem verzweifelten Versuch dort etwas zu finden, das uns helfen könnte.

Hätte ich ihn heute nicht zufällig erwischt, wäre es mir dann genauso ergangen wie Iesha? So weit es mir bekannt war, wusste sie bis heute nicht was er getan hatte. Hätte ich irgendwann gemerkt, dass er mir fremdging, oder einfach nur vertrauensvoll mein Leben gelebt und ihn vielleicht sogar zu meinem Gefährten genommen? Das wollte ich mir gar nicht vorstellen, es tat einfach zu weh.

Und jetzt war alles vorbei.

Dieser Gedanke sog all meine Lebenskraft aus mir heraus. Von einer Minute zur anderen war das Leben aussichtslos geworden.

An den Schatten um mich herum und den Strahlen der Sonne im Geäst, erkannte ich, wie die Zeit verging. Aber ich spürte es gar nicht. Um mich herum schien alles stillzustehen. Eine unendliche Leere, andauernd, finster, fern von allem was ich kannte und liebte. Ich war allein, verloren und gefangen in dieser Dunkelheit, die mich langsam zu verschlingen drohte. Wäre ich gestorben, ich hätte es vermutlich gar nicht bemerkt. Hier und jetzt war alles sinnlos.

Die vier Wächter behielten mich und meine Umgebung die ganze Zeit aufmerksam im Auge, ließen mich aber ansonsten in Frieden. Wahrscheinlich hätten sie sowieso nicht gewusst, was sie zu mir sagen sollten. Oder es war ihnen einfach egal, denn im Grunde war ich eine Fremde für sie und mit meinen Problemen hatte sie ja nun gar nichts am Hut.

Erst als es stunden später plötzlich im Unterholz raschelte, merkten die vier wachsam auf. Ich blieb einfach wo ich war und erwartete halb, dass Cio durch das Geäst brach. Schon die Vorstellung reichte, dass sich mein ganzer Körper anspannte, bereit jederzeit wieder die Flucht zu ergreifen und ihn erneut hinter mir zu lassen. Aber da brach nichts durch die Büsche. Dort schlich jemand umher. Langsam, vorsichtig, wachsam. Nicht so als wollte er unbemerkt bleiben, eher, als sei er sich nicht sicher, ob er ins Freie treten wollte.

Einer der Wächterwölfe, die Frau, erhob sich und machte aufmerksam ein paar Schritte in die Richtung der Geräusche.

Ich hob nicht mal den Kopf, als graues Fell durch grüne Blätter schimmern sah und sich gleich darauf eine Wolfsnase langsam ins Freie schob. Der Wind trug mir den Geruch entgegen und ich wusste schon dass es der wilde Wolf war, bevor er überhaupt ins Freie trat.

Fast hätte ich gelacht. Das wurde doch langsam wirklich lächerlich. Ich konnte gehen wohin ich auch wollte – Tag und Nacht – er fand mich. Manchmal dauerte es etwas, aber früher oder später tauchte er auf. Da musste ich mich zwangsläufig fragen, ob ich einen Peilsender bei mir trug – ich meine, abgesehen von dem, den mir mein Vater verpasst hatte. Es war einfach … seltsam.

Sobald der Wilde komplett im Freien stand, musterte er die vier Wächter kritisch und als der eine Wächter die Zähne bleckte, trat er vorsichtshalber einen Schritt zurück. Aber nicht um zu verschwinden. Er versuchte die Situation einzuschätzen. Die vier waren im suspekt, also lief er geduckt zurück in die Büsche, nur um wenige Meter weiter wieder aufzutauchen – näher als zuvor.

Nun erhob sich auch der andere Wächterwolf.

Last ihn“, sagte ich leise.

Die beiden Wächter verharrten.

Der Wilde dagegen, schlich immer näher an mich heran, bis er so nahe bei mir war, dass er an meinem Fell schnüffeln konnte.

Ich sah wie die vier Wächter sich anspannten und auch wie der Wilde freudig die Ohren aufstellte, kümmerte mich aber nicht darum. Dazu war ich einfach zu fertig. Selbst als der Wilde damit begann mir spielerisch in den Nacken und die Ohren zu beißen und mich mit Kläfflauten zum Spielen aufforderte, blieb ich einfach wo ich war und hing meinen düsteren Gedanken nach.

Cio hatte diesen Wolf noch nie gemocht, aber das war nun völlig egal. Ab sofort ging es ihn nichts mehr an, was ich tat, oder was mit mir geschah. Eine neue Welle der Traurigkeit schlug über mir zusammen. Es tat so weh das zu denken.

Da ich mich nicht rührte, begann der Wilde zu winseln und als auch das nichts brachte, stupste er mich ein paar Mal mit der Nase an. Erst nur kurz. Dann wurde er mutiger, solange bis er seinen Kopf gegen meinen drückte.

Plötzlich wurde ich überrollt von einer Flut an Bildern. Ich rannte durch den Wald. In der Luft lag ihr Geruch, ganz frisch. Ich konnte sie nicht finden. Die Witterung verflog. Da waren andere Wölfe, viele. Ich hatte Angst vor ihnen, sie akzeptierten mich nicht.

Ich schlich um ihr Haus herum. Es war leer und verlassen. Sie war schon lange nicht mehr hier gewesen. Schnell wieder zurück in den Wald und …

Ich riss meinen Kopf hoch und schaute den Wilden überrascht an. Diese geisterhaften Bilder und Gefühle … die kamen von ihm. Eindeutig. Aber … wie war das möglich? Von sowas hatte ich noch nie etwas gehört. Wilde Wölfe konnten nicht mit Lykanern kommunizieren und schon gar nicht auf diese Art. Er jedoch tat es. Das war eine nicht zu bestreitende Tatsache und es war auch nicht das erste Mal.

Das war … seltsam, um es mal vorsichtig auszudrücken.

Als ich ihn wieder nur anschaute, winselte er leise und ließ sich dann einfach neben mich plumpsen. Dann begann er damit mir das Fell zu säubern. Erst zögerlich, aber als ich mich nicht wehrte, wurde er immer selbstsicherer. Neue Bilder allerdings drängten sich nicht in meinen Geist, weswegen ich mir fast einreden konnte, dass alles nur eingebildet zu haben.

Ich kam nicht umhin mich zu fragen, woher dieser Wolf eigentlich kam. War er aus einem Versuchslabor entkommen, in dem man an seinen Genen herumgespielt hatte? Oder war das einfach eine seltene Mutation von Mutter Natur? Er war noch nicht sehr alt, maximal zwei oder drei Jahre. Vielleicht sollte ich ihm einen Namen geben, schließlich kannte ich ihn nun schon fast ein Jahr und so wie es aussah, würde er mir noch eine ganze Weile erhalten bleiben.

Aber eigentlich war es mir egal wie er hieß, oder woher er kam, oder auch warum er war wie er war. Im Augenblick hätte es mich vermutlich nicht mal interessiert, wenn er mich gebissen hätte. Es war sowieso alles sinnlos.

Doch der Wilde blieb Handzahm. Er widmete sich einfach meiner Körperpflege – wobei ich mir nicht sicher war, wie ich es finden sollte, dass er mir das ganze Fell vollsabberte – und schien vollauf zufrieden damit zu sein. Als er dann der Meinung war, genug Haare auf der Zunge zu haben, legte er sich so nahe neben mich, dass sich unser Fell berührte und seufzte glücklich.

Er war wohl wirklich einsam. Auch für einen wilden Wolf konnte es nicht einfach sein allein durchs Leben zu streifen. Genau wie die Lykaner waren sie Rudeltiere und brauchten die Zugehörigkeit, die Sicherheit und die Struktur, die jedes Rudel mit sich brachte. Und aus irgendeinem Grund hatte er sich in den Kopf gesetzt, das alles bei mir zu finden. Wenn ich ihn mir so ansah, das zerrissene Ohr und auch den Stummelschwanz, dann hatte er vielleicht schon versucht, das alles bei anderen Wölfen zu finden, war dabei aber nur auf Ablehnung und Aggression gestoßen. Wahrscheinlich weil er so anders war. Das kam bei wilden Wölfen sicher nicht so gut an. Selbst Lykaner, würden ihn vermutlich wegbeißen – naja, mit Ausnahmen, wie man an uns sah.

Der Wilde wurde mit der Zeit so mutig, dass er sich richtig eng an mich kuschelte und sich erst wieder anspannte, als Wächter Mirko sich nach einiger Zeit von seinem Platz erhob und wachsam auf uns zukam. Er blieb liegen, schien aber bereit jeden Moment aufzuspringen und das Weite zu suchen, sollte es nötig sein.

Ich hatte für ihn nur einen müden Blick übrig.

„Ich will nicht pietätlos erscheinen“, sprach der Wächter mich leise an, „aber es beginnt bereits zu dämmern. Es wird Zeit zum Hof zurückzukehren.“

Was? Ich sollte da wieder hin? Jetzt?

„Bitte“, fügte er noch hinzu, als wollte er mich nicht dazu zwingen – wozu er mir Sicherheit in der Lage gewesen wäre. Das Mitleid, das dabei von ihm ausging, ließ mich sehr schnell den Blick abwenden. Ich wollte es nicht. Ich wollte nur, dass man mich in ruhe ließ. Aber leider bestand da immer noch die Tatsache, dass ich irgendetwas mit dem Amor-Killer zu tun hatte und Königin Sadrija würde mit Sicherheit nicht sehr erfreut sein, wenn man mich erneut suchen müsste – dazu noch aus demselben Grund: Cio.

Aber was wenn er noch auf dem Schlossgelände war und ich ihm dort begegnete?

„Bitte Zaira, komm mit uns.“

Wahrscheinlich war Cio sowieso nicht mehr da. Warum auch? Wegen mir sicher nicht und das war auch gut so. Jedenfalls versuchte ich mir das einzureden, als ich mich niedergeschlagen erhob und damit begann, eine Pfote vor die andere zu setzen.

Wächter Mirko übernahm die Führen, als sich auch die anderen Wächter erhoben und in Bewegung setzten – direkt auf die Baumgrenze zu.

Meine Gelenke waren vom langen Liegen steif und schmerzten bei jedem Schritt. Und als der Wilde dann auch noch auf die Beine sprang und mich spielerisch anrempelte, knurrte ich warnend, damit er den Scheiß unterließ. Spielen stand auf meiner Liste der Dinge, die ich unbedingt tun wollte, ziemlich weit unten. Gleich hinter kopfüber in den Grand Canyon zu springen.

Er ließ sich davon nicht abschrecken, sondern lief einfach freudig neben mir her – natürlich nicht ohne die vier Wächter vor uns im Auge zu behalten. Doch dann kam ich zur Baumgrenze. Ich lief weiter, folgte meinen Aufpassern, einfach weil ich es musste und bekam erst mit, dass der Wilde zurückgeblieben war, als er mir beinahe schon kläglich hinterherfiepte.

Ich kümmerte mich nicht darum, lief weiter über die Koppel und ließ ihn unter den Bäumen zurück. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Ich konnte ihn schließlich nicht mitnehmen. Er war immer noch ein wilder Wolf und hier würde er mit Sicherheit nicht glücklich werden. Also blieb mir gar nichts anderes übrig, als ihn in der aufkommenden Dämmerung allein zurückzulassen.

Zu meiner Erleichterung wählten die Wächter einen Weg, der uns nicht mal in der Nähe der Menagerie führte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich momentan einen Aufenthalt bei den Ställen verkraften würde. Es war das zweite Mal, dass mich dort das Grauen überkommen hatte. Dieser Ort schien mir in der letzten Zeit einfach kein Glück zu bringen. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich jemals wieder ein Fuß dort hineinsetzten konnte. Wenn ich an dieser Box vorbei müsste, in der Cio und Pauline …

Oh Gott, allein bei dem Gedanken daran zog mein Herz sich auf eine Art zusammen, die mir den Atem zu rauben drohte. Das könnte ich nicht. Ich wusste es ganz genau, dazu war ich einfach nicht fähig, nicht ohne daran denken zu müssen, was dort geschehen war und nicht ohne dieses Schmerz jedes Mal aufs Neue zu fühlen.

Ich würde mir einen neuen Job suchen müssen. Dieser Gedanke war so banal, dass ich fast gelacht hätte, aber es wäre kein fröhliches Lachen geworden. Mit dem was Cio getan hatte, hatte er mir wirklich alles genommen.

Ich war so am Arsch.

Wir hielten uns links und verließen die Koppel über einen alten Pfad, der nur selten genutzt wurde, einfach weil er ein Umweg zum Hof war. Die Sonne war schon fast hinter dem Horizont verschwunden, als wir den Vorhof erreichten und damit nur noch ein paar Minuten vom HQ entfernt waren. Dabei war ich sosehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, dass ich die lauten Stimmen erst wahrnahm, als die Quelle davon nur noch wenige Meter von uns entfernt war.

„... nach dem Zwischenfall über die Weide in den Wald gerannt, also werden wir dort mit unserer Suche beginnen“, erklärte Wächter Hardy gerade einer Gruppe von vielleicht dreißig Leuten, die sich am Fuße der großen Treppe zum Schlossportal versammelt hatte. „Drei Teams. Ein Suchtrupp geht nach Osten, eines nach Nordosten und eines hält sich weiter südlich, dann …“

„Das ist doch Scheiße!“, fauchte ein großer, sehr wütender Vampir. Mein Vater stand mit bei der Gruppe, genau wie meine Mutter, die unruhig in ihrer Panthergestalt um die Leute herumstreifte. „Warum hat man uns nicht Bescheid gesagt, sobald sie verschwunden ist?“

„Sie ist ja nicht allein“, versuchte König Carlos ihn zu beruhigen. Auch er befand sich zusammen mit seinem Bruder Graf Deleo bei diesen Leuten. „Die vier Wächter sind bei ihr und ...“

„Vier Wächter?! In Koenigshain hat dieser Verrückte fast dreißig Leute ausgeschaltet und das ohne weitere Probleme!“ Wütend wandte er sich ab, nur um gleich darauf zu erstarren. Er sah mich. „Zaira.“

Dieses eine kleine Wort, die Art wie er es aussprach, Überraschung, Sorge und Erleichterung, es ließ den Damm erneut brechen und auf einmal wollte ich nur noch zu meinem Papa. Ich wollte, dass er mich in den Arm nahm und mir versprach, dass alles wieder gut werden würde, so wie er es schon getan hatte, als ich noch ein kleines Kind war. Ich wollte, dass er meine Welt wieder in Ordnung brachte und all meine Probleme und Sorgen mit ein paar Worten verschwinden ließ.

Natürlich war das Blödsinn. Keine Macht der Welt war dazu fähig. Und doch stürmte ohne weiter darüber nachzudenken los und rannte dabei auch noch fast einen meiner Wächter um. Auch ein paar Leute aus dem Suchtrupps traten hastig mir aus dem Weg, als ich an ihnen vorbei preschte.

Noch bevor mein Vater ganz in die Hocke gegangen war, hatte ich ihn erreicht und warf mich in seine Arme. Ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust. Und dann weinte ich. Das alles war so schrecklich, ich konnte gar nicht anders. Es war mir egal, dass da so viele Leute waren, die alles sehen konnten. Es war mir egal, was sie denken mochten. Und es war mir egal, was sie hinter meinem Rücken über mich sagen würden. Ich wollte mich einfach nur in der Umarmung meines Vaters verkriechen und nie wieder daraus auftauchen.

„Dir geht es gut“, murmelte er und drückte das Gesicht in mein Fell, als würde er fürchten, ich könnte mich sonst einfach wieder in Luft auflösen. „Verdammt, warum nur musst du immer weglaufen?“, schimpfte er leise. Sein Griff wurde noch etwas fester.

Ich antwortete nicht. Von den Kommunikationsschwierigkeiten, die im Augenblick zwischen uns herrschen einmal abgesehen, war ich auch viel zu aufgelöst, um einen verständlichen Satz rauszubringen. Ich wollte einfach nur das mein Vater mich einen Augenblick vor der großen bösen Welt beschützte.

Als ich dann auch noch das leise Schnurren meiner Mutter hörte und spürte, wie sie ihren großen Katzenschädel an mir rieb, konnte ich für einen Moment wirklich glauben, dass meine Welt wieder in Ordnung kommen würde

„Was ist passiert, Donasie?“, fragte meine Mutter leise. „Sie sagen du hast dich wieder mit Cio gestritten.“

Gestritten? Was für ein Witz. Ein Streit war eine Differenz, die man beilegen konnte. Aber das was er getan hatte, das was passiert war, das war viel schlimmer als ein einfacher Streit.

Als leise Schritte näher kamen, wäre ich am liebsten in meinen Vater hineingekrochen, einfach damit man mich in Ruhe ließ.

„Das war ein wenig mehr als ein Streit“, hörte ich dann Wächter Mirko erklären. „Ich denke sie hat die Verlobung gelöst.“

„Sie?“, fragte meine Mutter ungläubig. „Aber sie liebt ihn.“

Wächter Mirko gab ein Schnauben von sich. „Nachdem was er getan hat, kann er froh sein, dass nicht mehr geschehen ist. Meine Gefährtin hätte mich in Stücke gerissen, wenn sie mich mit einer anderen Frau erwischt hätte.“

Mein Vater spannte sich deutlich an. „Was?!“

Nun trat auch der König und sein Bruder näher. „Bitte erzählen sie ein wenig genauer.“

Dieser Bitte kam Wächter Mirko nach. In kurzen und sachlichen Sätzen berichtete er was vorgefallen war. Jedes seiner Worte lieferte mir ein gestochen scharfes Bild und ließ mich das alles noch einmal durchleben.

„Sie hat sich nicht vom Schlossgelände entfernt“, endete Wächter Mirko dann mit seinem Bericht. „Wir waren die ganze Zeit am Waldrand, direkt hinter der Koppel und als ich sie aufforderte uns zurückzubegleiten, kam sie ohne Widerspruch mit. Es wurde also keine Regel verletzt.“

Versuchte er gerade mich zu beschützen? Das war irgendwie nett, wenn auch völlig bedeutungslos.

„Dieser Mistkerl“, murmelte mein Vater und kraulte beruhigend durch mein Fell.

Ich konnte ihm nicht widersprechen. Nachdem was er getan hatte – egal aus welchem Grund – war er eindeutig ein Mistkerl. Aber er war mein Mistkerl gewesen. Und nun war alles vorbei.

„Das bedeutet“, mischte sich nun Graf Rouven Deleo ein, „diese ganze Aufregung war völlig umsonst?“ Er schnaubte. „Unreife Kinder und ihre Beziehungen. Sie versetzten einen Haufen Leute in Aufruhr und das nur wegen ihrer unbedeutenden Streitereien. Eine Verschwendung von Ressourcen die anderswo gebraucht werden und …“

„Rouven!“, unterbrach König Carlos seinen Bruder mit strenger Stimme. „Es reicht. Zeig ein wenig Anteilnahme. Dies ist schließlich keine einfache Lappalie, also halt den Mund, wenn du nichts Konstruktives beizutragen hast.“

Die Rüge des Königs brachte seinen Bruder nicht nur zum Verstummen, sie veranlasste mich auch den Kopf ein wenig zu drehen, um den Grafen zu beobachten.

„Natürlich“, sagte dieser steif. Sein Gesicht war zu einer nichtssagenden Maske erstarrt, doch in seinen Augen loderte Wut. „Wie mein König befielt.“ Voller Hohn zog er die Hände aus den Hosentaschen und machte eine spöttische Verbeugung vor ihm. Dabei fiel ihm eine kleine Münze aus der Tasche und landete direkt vor meiner Nase auf dem Kies. Er reagierte sofort und nahm sie hastig wieder an sich, doch da hatte ich die kleine Kupfermünze mit der eingeätzten Blüte bereits gesehen.

Er warf mir einen derart bösen Blick zu, als wäre es meine Schuld gewesen, dass er sie für einen Moment verloren hatte. „Ich denke, ich werde hier im Moment nicht mehr gebraucht.“

„Das denke ich auch“, stimmte der König ihm kalt zu. Die Brüder schienen nicht gerade das beste Verhältnis zueinander zu haben. Das war wohl der Neid. Sowas konnte eine Beziehung schon zerstören. Das und auch andere Dinge.

„Dann sehen wir uns wohl beim Abendessen“, erklärte der Graf noch hochtrabend und wandte sich dann auf dem Absatz um.

König Carlos seufzte müde. „Ich möchte mich für meinen Bruder entschuldigen. Er ist manchmal ein wenig elitär und vergisst wo seine Grenzen liegen.“

Mein Vater grummelte etwas Unverständliches, dass mit Sicherheit keine Nettigkeit war.

„Ich glaube wir sollten nun auch gehen“, warf meine Mutter ein, bevor jemand genauer nachfragen konnte. „Die Aufregung tut uns leid, aber Zaira braucht jetzt Ruhe.“

Wie sich das anhörte, als sei ich schwer krank. Naja, anfühlen tat es sich auf jeden Fall so.

„Ja, natürlich.“ König Carlos nickte zustimmend. „Bringt sie zurück ins HQ, dort kann sie sich ein wenig erholen.“

An den Ort, an dem Cio mir gestern noch geschworen hatte, dass alles wieder gut werden würde? Das war der Witz des Jahrhunderts. Trotzdem erhob ich mich, als mein Vater langsam die Arme von mir löste und folgte ihm unter seinem wachsamen Blick. Der Schmerz blieb an mir haften. Ich wollte einfach nur noch sterben, damit es endlich aufhörte.

 

°°°

 

Mein Handy piepste und kündigte damit eine weitere empfangende Nachricht an. Sie war von Cio. Natürlich war sie von Cio, genau wie die anderen fünfhunderttausend, die er mir seit zwei Tagen schickte. Und auch wenn ich wusste, dass es schmerzen würde, schaffte ich es nicht der Versuchung zu widerstehen und las sie – wie auch alle anderen zuvor.

 

Bitte, rede mit mir.

Wir müssen wirklich miteinander sprechen.

Schäfchen, bitte.

Dir ist bewusst, dass ich sehen kann, dass du meine Nachrichten gelesen hast? :)

 

Der Schmerz wurde wieder stärker, aber ich hatte keine Tränen mehr. Meine Augen waren genauso verdorrt wie mein Herz und nichts und niemand würde etwas daran ändern können, denn ich bekam dieses Bild einfach nicht aus dem Kopf. Ich musste nur die Augen schließen um zu sehen, wie Cio bei Pauline stand. Und jetzt waren nicht einmal meiner Eltern hier, um mich ein wenig abzulenken.

Papa war gestern Abend zu einer neuen Mission aufgebrochen und Mama war nach Hause gefahren, um dort nach dem Rechten zu sehen. Blumen gießen, Post reinholen, Rechnungen bezahlen. Keine Ahnung was sie dort noch alles trieb. Sie war bereits vor über fünf Stunden verschwunden und hatte bis jetzt kein Lebenszeichen von sich gegeben. Aber lange würde sie sicher nicht mehr fort sein. Seit ich Cio vor zwei Tagen den Ring um die Ohren geworfen hatte, konnten sie mich kaum fünf Minuten allein lassen. Es war ein wenig anstrengend gewesen, aber jetzt wo ich allein war und das Handy ständig piepte, wünschte ich sie mir sehnlichst zurück.

Wie auf Kommando, wurde ich über eine weitere eingehende Nachricht informiert. Ich wusste schon was ich lesen würde, noch bevor ich sie öffnete.

 

Lass uns doch reden.

Komm schon Schäfchen, lass mich nicht betteln.

 

Meine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Gestern hatte dieser Terror begonnen und seitdem hatte er mir was-weiß-ich wie viele Mitteilungen gesendet. Immer wollte er mir mir reden. Hin und wieder versuchte er mich sogar mit einem kleinen Scherz aus der Reserve zu locken, doch in keiner, hatte er sich für das was geschehen war, entschuldigt.

Er schien gar nicht zu verstehen, was er für einen Fehler er gemacht hatte. Und davon abgesehen, wusste er doch wo ich zu finden war – nicht das ich noch ein Interesse daran hatte ihn zu sehen – aber bisher hatte er sich noch nicht getraut mir unter die Augen zu treten. Vielleicht hatte er aber auch einfach nur Angst davor meinem Vater zu begegnen. Im Augenblick würde er ihm wohl ohne zu zögern im nächsten Klo ertränken. Und ich würde ihn nicht mal daran hindern. Deswegen hoffte er wahrscheinlich, dass ich irgendwann einem Gespräch zustimmen würde, denn dann – und nur dann – würde ich Papa daran hindern, ihm jedes einzelne seiner Gliedmaße einzeln auszureißen.

Aber das würde nicht passieren. Ich wollte Cio absolut nicht sehen. Was er da getan hatte, schmerzte noch immer wie im ersten Moment. Das mit Pauline konnte ich ihm nicht verzeihen und deswegen konnte ich ihm auch nicht mehr vertrauen. Im Moment wollte ich einfach nur Abstand von allem haben. Ich hatte sogar schon beschlossen für einige Zeit nach Arkan zu gehen. Dort könnte ich das alles hinter mir lassen und meine Oma würde sich sicher freuen, mich im Haus zu haben. Meine fristlose Kündigung hatte ich bereits geschrieben und musste sie jetzt nur noch abgeben. Und ansonsten gab es hier nichts mehr was mich halten konnte.

Leider war da immer noch die Sache mit dem Amor-Killer, die mich dazu verdammte hier untätig rumzusitzen, während ich nichts anderes tun konnte als abzuwarten und zu hoffen, dass alles irgendwann ein Ende haben würde. Dabei war Hoffnung etwas, dass ich in der Zwischenzeit komplett aufgebraucht hatte.

Mittlerweile hatte man sogar sechs Wächter vor die Tür gestellt, denn die Zahl der Opfer betrug inzwischen siebzehn. Der Amor-Killer bewegte sich im Moment auf direktem Wege auf Silenda zu – und damit auf mich. Ein Gutes hatte das aber, auf die eine oder andere Art würde es sicher bald vorbei sein.

Das erneute Piepen meines Handys riss mich ein Stück weit aus meinen düsteren Gedanken. Aber dieses Mal las ich die Nachricht nicht. Ich wollte nicht mehr von dem hören was er zu sagen hatte. Ich wollte von ihm einfach nur in Frieden gelassen werden. Und wo zu Teufel blieb eigentlich meine Mutter?! Es konnte doch nicht fast sechs Stunden dauern ein paar blöde Blumen zu gießen. Verdammt, wenn ich nicht bald etwas tat, würde ich sicher noch durchdrehen. Vielleicht sollte ich in den Gemeinschaftsraum gehen und mir einen Film anschauen? Da war sowieso nie jemand drinnen.

Als das Handy mir ein weiteres Mal eine neue Nachricht ankündigte, stopfte ich es wütend unter mein Kissen und schwang die Beine aus dem Bett. Alles war besser als noch einen weiteren Moment länger gefangen mit meinen Gedanken und diesen scheiß Mobiltelefon in diesem Raum zu verbringen. Und wenn es nur war um irgendeinen dummen Film auf irgendeinem dummen Fernseher zu schauen. Ich musste auf andere Gedanken kommen, ich musste Cio aus meinem Kopf verbannen und das schaffte ich nur, wenn ich mich beschäftigte. Darum stürmte ich schon beinahe fluchtartig aus meinem Zimmer und suchte mir meinen Weg in den Gemeinschaftsraum. Ich nahm mir nicht einmal die Zeit mir meine Schuhe anzuziehen. Wozu auch? Ich würde das Gebäude ja sowieso nicht verlassen.

Mein Ziel war wie nicht anders zu erwarten komplett verwaist. In der Küchenecke standen ein paar benutzte Teller und ein halbvolles Glas mir Apfelschorle. Das waren aber die einzigen Anzeichen dafür, dass dieser Raum doch hin und wieder genutzt wurde.

Ich ignorierte den Abwasch, warf mich auf die hintere Couch in der Ecke und griff entschlossen zur Fernbedienung. Doch als ich sie auf den kleinen Fernseher richtete, entsann ich mich wieder, wann ich das letzte Mal hier gesessen hatte. Das war an dem Tag gewesen, als Königin Sadrija ihre Tochter zur Welt gebracht hatte. Und Cio war bei mir gewesen. Er hatte neben mir gesessen und immer wieder nervös an meinen Haaren gezupft. Etwas das er nun auch nicht mehr tun würde.

Meine eben erst erlangte Entschlossenheit verpuffte einfach wie ein Rauchfaden im Wind. Kraftlos sanken meine Arme herunter, die Fernbedienung landete auf dem Boden und ich spürte wie mir wieder Tränen in die Augen stiegen. Dann rollte die erste über meine Wange. Eine zweite folgte sofort und noch eine. Ein unaufhaltsamer Strom, den ich nicht bändigen konnte. Es war nichts so, dass ich wild anfing zu schluchzen und zu heulen. Es waren stumme Tränen, die heimlich und allein vergossen wurden.

Oh Gott, was machte ich eigentlich hier? Was sollte das alles? Was sollte ich nur tun? Alle sagten mir immer wieder, das wird schon wieder und ich solle einfach meinem Herzen folgen, dann würde schon alles wieder gut werden. Aber wenn das Herz nun in tausend Stücke zerbrochen war, welchem Stück sollte man dann folgen? Und zusätzlich schrie einem der Verstand noch zu, dass dieses dumme Herz an dieser ganzen verdammten Miesere schuld war und ich gar nicht mehr auf das Sehnen darin achten sollte. Es würde mich nur immer und immer weiter ins Unglück stürzen.

Nein, mein Herz war im Moment wirklich kein guter Wegweiser. Und dass alles hier, allein der Gedanke ich könnte mich von meinem Leid ablenken … das war doch alles sinnlos. Einfach nur … sinnlos. Es war als befände ich mich in meiner ganz persönlichen Hölle, gefangen in diesem entsetzlichen und eisigen Gefühl des Verlustes und der Einsamkeit, aus dem es auch in der Ewigkeit kein Entrinnen geben würde.

Mein Gott war ich verkorkst.

Keine Ahnung wie lange ich bereits dort saß, als ich draußen auf dem Korridor Schritte hörte. Ich schaute nicht auf. Das war auch gar nicht nötig, denn aus meiner Position hatte ich einen perfekten Blick auf die Tür und erkannte daher sofort Tayfun.

Er kam nicht herein. Er schien mich nicht mal zu bemerken, sondern ging einfach an dem Raum vorbei. Doch kaum dass er aus meinem Sichtfeld verschwunden waren, verharrten die Schritte für einen Moment. Schon in der nächsten Sekunde legte er den Rückwärtsgang ein und dann stand er in der Tür und schaute mich an. Natürlich war nicht zu übersehen, wie verheult ich war. Darum zog ich einfach nur die Beine an die Brust, wandte den Blick ab und hoffte dass er wieder verschwinden würde.

Aber das tat er nicht. Er stand da und schaute mich an. Ich hörte wie er einen zögerlichen Schritt in den Raum machte, dann aber sofort wieder stehen blieb, als würde er sich nicht trauen weiter in den Raum zu treten, gleichzeitig aber auch nicht einfach gehen wollen. „Ähm“, machte er. „Kann ich mich dir gefahrlos näheren, oder verspürst du noch immer den dringenden Wunsch mir wehzutun?“

Diese Frage gab mir beinahe den Rest. Bei alles was los war, hatte ich das völlig verdrängt. Mein Vater war nicht der einzige gewesen, den ich beinahe gebissen hätte, auch Tayfun hätte meine Zähne fast zu spüren bekommen. Ich hatte ihn fürchterlich vor den Kopf gestoßen und das nur wegen Cio. In der letzten Zeit hatte ich so viel wegen Cio getan. Doch nun war das alles wertlos.

„Es tut mir leid“, sagte ich leise ohne ihn anzuschauen. „Das ich nach dir geschnappt habe und geknurrt und ...“ Der Schluchzer, der aus meiner Kehle kroch, ließ sich nicht aufhalten. „Es tut mir so leid.“

Ich spürte geradezu wie er zögerte, bevor er wachsam das Zimmer durchquerte. Als er sich dann vorsichtig und mit reichlich Abstand neben mich setzte, kam ein neuer Schub Tränen. Ich hatte geglaubt nach den letzten Tagen völlig ausgetrocknet zu sein, aber da hatte ich mich wohl getäuscht.

Zwei Mal öffnete Tayfun den Mund, bevor er einen Ton herausbrachte. „Immer noch Streit mit Cio?“, fragte er sanft.

Ich verzog verächtlich die Lippen und schnaubte. „Wir streiten nicht mehr“, sagte ich leise und wischte mir mit dem Arm über die Augen – es half nicht wirklich. „Ich habe es beendet.“

„Oh.“

Tja, was sollte er dazu auch anderes sagen?

Tayfun musterte mich ausgiebig, zog dann eine zerknitterte Packung Taschentücher aus der Hosentasche und reichte sie mir. „Du scheinst damit aber nicht sehr glücklich zu sein.“

Das war wohl der Witz des Jahrhunderts. „Wäre ich bei ihm geblieben, wäre ich noch unglücklicher.“ Und das war die reine Wahrheit. Wie konnte ich in einer Beziehung bleiben, die von Misstrauen und Zweifeln geprägt war? Immer wenn er allein irgendwohin gehen würde, müsste ich mich fragen, was genau er trieb. Das wäre ein untragbarer Zustand, der uns beide nach und nach zerstören würde, bis nichts anderes als Hass und Feindseligkeit mehr übrig war.

„Nimm es mir nicht übel, aber so wie du aussiehst, ist das schwer zu glauben.“

„Es ist aber so.“ Kurz war ich versucht ihm zu sagen, was genau geschehen war, aber eigentlich wollte ich gar nicht darüber reden. Ja ich wollte nicht einmal daran denken. „Egal, bitte, lass uns über etwas anderes reden. An diesen Dreckskerl will ich keinen Gedanken mehr verschwenden. Das hat er nicht verdient.“ Und es tat einfach zu sehr weh.

Um mich abzulenken, drehte ich das Päckchen mit den Taschentüchern drei mal in den Händen, bevor ich eines herauszog und damit begann mir die geröteten Wangen abzutupfen.

„Welche Themen schweben dir denn so vor?“

„Keine Ahnung. Alles ist besser als … das.“

Er schnaubte. „Da möchte ich dir aber widersprechen. Es gibt Schlimmeres als das Ende einer Beziehung.“

Wie er das sagte ließ mich aufhorchen, auch wenn ich ihm im Moment nicht zustimmen konnte. Er wirkte nachdenklich und verschlossen. „Du hast wohl auch so etwas wie deine ganz persönliche Hölle.“

Leicht überrascht schaute er auf, grinste dann aber. Es wirkte jedoch nicht glücklich, eher gequält. „Hat die nicht jeder von uns?“

„Wahrscheinlich.“ Ich schaute ihn an. „Erzählst du mir davon?“

„Du willst dich wohl an dem Leid anderer laben, um nicht in deinem eigenen zu versinken.“

„Vielleicht. Keine Ahnung.“ Ich lehnte mich zurück und nahm meine Brille ab in dem Versuch sie wieder trocken zu bekommen, um nicht die ganze Zeit verschwommen zu sehen. Das Reden half ein wenig. Auch wenn meine Augen noch brannten, so hatte ich nicht mehr das Bedürfnis mich in einem Wasserfall aufzulösen. „Es hat mit deiner Zeit als Sklaven zu tun, oder?“

Er blieb sehr lange still, bevor ein leises „Ja“ über seine Lippen kam. „Obwohl nicht alles daran schlecht gewesen war. Am Anfang … am Anfang war ich sogar glücklich.“

Das überraschte mich dann doch. „Ich habe noch nie von einem glücklichen Sklaven gehört.“

Sein Mundwinkel zuckte. „Weil du dich in den falschen Kreisen bewegst. Glaubst du wirklich jeder Sklave auf diese Welt ist das was man sich unter diesem Wort verstellt? Ein Leibeigener, auf Gedeih und Verderb den Launen seines Meisters ausgesetzt? Nicht mehr als Eigentum, dass man je nach Befinden zum spielen aus der Ecke holen kann, um sein eigenes Wohlbehagen zu steigern und seinen Leibeigenen zu erniedrigen?“

„Ähm … naja.“ Also wenn ich ehrlich war, dann musste ich diese Frage wohl bejahen.

Tayfun verzog verächtlich den Mund. „Es gibt Leute die sind einfach nur einsam und holen sich einen Sklaven ins Haus um einen Freund zu haben mit dem sie reden können. Diesen Leuten liegt nichts daran anderen wehzutun oder sie sogar zu missbrauchen. Sie kümmern sich sogar sehr gut um ihre Diener. Sie wollen dass es ihnen gut geht, weil es ihnen selber dann auch gut geht.“

Auf einer sehr verquere Weise ergab das sogar einen Sinn, auch wenn ich noch nie davon gehört hatte. „Und so ein Sklave bist du gewesen?“

„Ja und nein.“ Er zögerte und begann damit an seinen Gedankenverloren an seinen Fingernägeln zu zupfen. „Ich weiß nicht woher ich komme, oder wer meine leiblichen Eltern sind und ob sie überhaupt noch leben. Ich war nur wenige Tage alt, als die Sklavenhändler mich entführten. Das zumindest hat Tiago einmal erwähnt.“

„Tiago?“

„Tiago De Luca. Lykaner, Sklavenhändler, Sadist.“ Der Ausdruck in seinem Gesicht nahm sehr seltsame Züge an. Verachtung, Angst, aber auch … Sehnsucht? Reue? „Der Mann der mich hat entführen lassen, um mich anschließend für viel Geld an eine Familie zu verkaufen, die nicht in der Lage war eigene Kinder zu bekommen.“ Er ließ seine Fingernägel los und lehnte sich zurück. „Die Frau dort – meine Mutter wie ich damals geglaubt hatte – liebte mich abgöttisch. Sie hat mir jeden Wunsch von den Lippen abgelesen und war immer um mein Wohlbefinden besorgt. Ich war das Wichtigste in ihrem Leben und das zeigte sie nicht nur mir jeden Tag, sondern auch ihrem Mann.“ Das letzte Wort spie er sehr bitter aus.

„Das … äh … ist doch gut, oder?“, fragte ich vorsichtig.

„Nein.“ Zur Untermalung dieses Wortes schüttelte er den Kopf. „Ihr Mann, also mein Vater – oder eben das was für mich damals einem Vater am nächsten kam – liebte meine Mutter so sehr, dass er wirklich alles getan hätte um sie glücklich zu machen. Leider war es ihr sehnlichster Wunsch ein eigenes Kind zu haben, doch das konnte er nicht geben. Keine Ahnung ob er impotent war, oder einfach nur zeugungsunfähig, auf jeden Fall konnte er ihr kein Kind schenken.“

Oh, ich wusste worauf das hinauslief. „Also hat er ihr eines besorgt.“

Er nickte. „Ich glaube mein Vater mochte mich nicht, weil ich ihn immer an seine Unzulänglichkeit als Mann erinnert habe. Oder einfach nur, weil er glaubte ich würde ihm seine Frau wegnehmen. Keinen Schimmer. Es war auch nicht so, dass er mich schlug, oder anschrie, oder sonst etwas in dieser Richtung tat. Es war einfach die Art und Weise wie er mit mir umgegangen war. Im Grunde hatte ich von ihm nur Ablehnung erfahren, also habe ich mich umso mehr an meine Mutter gehängt, denn sie liebte mich.“

Ich schlang die Arme um die Beine und legte das Kinn auf meine Knie, blieb aber still. Ich wollte ihn nicht unterbrechen.

„Mein Leben war nicht schlecht. Die Meiste Zeit war ich sogar glücklich gewesen. Ich wurde geliebt und umsorgt, was brauchte ich mehr? Aber dann … dann fing es an.“ Er verstummte einen Moment und schien tief in der Vergangenheit gefangen zu sein. „Es war kurz nach meinem achten Geburtstag. Meine Mutter fühlte sich nicht gut und kurz darauf bekam sie die Diagnose vom Arzt: Krebs. Gehirntumor, inoperabel. Sie ist noch im gleichen Jahr gestorben.“

Einem Impuls folgend griff ich nach seiner Hand und drückte sie leicht.

Er erwiderte es nicht, entzog sich mir aber auch nicht. „Damals ist für mich eine Welt zusammengebrochen. Als sie starb wusste ich noch nicht, dass ich nur ein Sklave war. Sie waren meine Eltern und damit alles was ich hatte. Aber nun war der eine Teil tot und der andere, naja, der andere hatte keinerlei Verwendung mehr für mich und wollte mich im Grunde nur noch vom Hals haben. Ich versuchte bei ihm Trost zu finden, doch er steckte mich ins Auto und brachte mich dahin, woher er mich Jahre zuvor bekommen hatte. Er gab mich zurück an Tiago und hat sich dann einfach aus dem Staub gemacht.“

Wie er das sagte. Jetzt kam wohl der Teil mit seiner ganz persönlichen Hölle.

„Damals verstand ich nicht, warum mein Vater mich bei diesem seltsamen Mann ließ. Dort war es so anders als alles was ich kannte. Anfangs ...“ Er atmete einmal tief durch. „Also, die ersten Tage ...“ Wieder verstummte er. „Sagen wir einfach so: Ich fand sehr schnell heraus, dass Tiago eine Schwäche für kleine Jungs hatte und ich … naja, ich gefiel ihm. Er verkaufte mich nicht weiter, er behielt mich für sich selber.“

Oh mein Gott. „Tayfun.“

Er schüttelte den Kopf. „Nicht“, sagte er leise und versuchte mich nach einem weiteren tiefen Atemzug anzugrinsen. Es wirkte sehr gequält. „Bitte, kein Mitleid. Die Erinnerung an diese Zeit ist schon schlimm genug.“

Auch wenn es mir nicht gefiel, so kam ich seiner Bitte nach und hielt den Mund. Seine Hand aber ließ ich nicht los. Er sollte wissen, dass er nicht allein war.

„Tiago … Tiago stand nicht nur auf kleine Jungs, er war auch mit Leib und Seele ein Sadist. Er liebte es, wenn ich aus Angst vor ihm zitterte und vor Schmerz schrie. Aber der wahre Meister in ihm zeigte sich immer erst dann, wenn er seine Psychospielchen mit mir trieb. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht mich zu brechen und irgendwie gelang es ihm auch … ich weiß nicht, ich … mit der Zeit wurde ich abhängig von ihm, willenlos. Ich wollte ihm gefallen und tat alles was er von mir wollte. Das war wie ein innerer Zwang. So bekam ich das was ich brauchte, eine verdrehte Art von Liebe und Zuneigung. Und ich tat wirklich alles, damit ich sie behielt. Es war wie eine Sucht. Ja, ich war süchtig nach Liebe und Zuneigung. Nachdem meine Mutter tot war und mein Vater mich nicht mehr wollte, hatte ich solche Angst vor dem Verlassen, dass ich … ich …“ Seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. „Ich konnte einfach nicht anders, verstehst du?“

Wenn ich ehrlich war, nein. Aber ich hatte auch nicht das durchleiden müssen, was ihm widerfahren war. Nicht mal im Ansatz. Zum Glück schien Tayfun keine Antwort zu erwarten, denn ich wusste im Augenblick wirklich nicht, was ich darauf erwidern sollte.

Nachdenklich begann er mit meinen Fingern zu spielen. Strich an ihnen auf und ab und drehte sie hin und her. Ich ließ ihn einfach machen. „Kennst du den Spruch sich zu Tode ängstigen?“, fragte er ganz leise.

Da ich nicht wusste was jetzt kommen würde, nickte ich nur vorsichtig. Er schien es nicht mal zu bemerken und langsam bereute ich, dass ich ihn dazu gebracht hatte über das zu sprechen, was einmal gewesen war.

„In meiner Zeit bei Tiago lernte ich was diese Worte bedeuten. Tiago De Luca weidete sich geradezu daran, wenn andere vor ihm vor Angst schlotterten, besonders bei mir. Immerzu wollte er meine Angst riechen, sehen, schmecken. Und er hatte echt den Bogen raus. Er wusste immer genau wie er mich anfassen musste, damit ich mich auf eine Art fürchtete, die mich beinahe in den Wahnsinn trieb. Das da ...“ Er zeigte auf die weiße Strähne in seinem Haar. „Das verdanke ich ihm. Er hat es wirklich geschafft, dass meine Haare vor Angst weiß geworden sind.“

Oh Gott.

„Aber mit der Zeit lernte ich dazu. Du musst wissen, ich bin vielleicht süchtig nach Zuneigung und Aufmerksamkeit, aber ich verabscheue Schmerzen und deswegen habe ich gelernt selbst unter den schlimmsten Bedingungen zu lächeln. Ich habe … ich habe gelernt meine Angst zu verstecken und … naja, ich weiß nicht. Es war schwer, besonders am Anfang. Tiago fand das nämlich überhaupt nicht witzig. Er wollte meine Angst sehen – unbedingt. Aber ich schrie nicht mehr, ich weinte nicht, ich … ich lächelte. Ganz egal was er tat, ich lächelte einfach, als würde es mir gefallen.“ Ohne mich anzuschauen, verschränkte er seine Finger mit meinen und hielt sie fest, als bräuchte er einen Anker, um nicht einfach verloren zu gehen.

Ich wollte ihm sagen, dass er aufhören sollte. Warum erzählte er mir das überhaupt, wenn es ihm doch so zu schaffen machte. Doch bevor ich die richtigen Worte finden konnte, sprach er bereits weiter.

„Ich habe damit angefangen, weil ich die kleine Hoffnung hegte, er würde aufhören mir wehzutun, wenn er dadurch nicht mehr bekam, was er unbedingt wollte. Und es hörte wirklich auf. Wenn ich nicht vor Angst vor ihm auf dem Boden kauerte, hatte er kein Interesse an mir. Er fand mich dann einfach nicht amüsant, es gab ihm keine Befriedigung mehr.“

„Aber, das ist doch gut“, warf ich ich vorsichtig ein. „Oder?“

„Wie man es nimmt.“ Er drehte den Kopf zu mir herum. „Da ich ihm keinen Spaß mehr machte, verlor er zusehends das Interesse an mir und damit verlor ich auch einen Teil seiner Zuneigung. Vielleicht war ich ihm mittlerweile auch einfach nur zu alt geworden – ich weiß es nicht. Er konnte mich nicht mehr gebrauchen und trotz allem tat das weh.“

Ich drückte seine Hand. Mehr konnte ich nicht für ihn tun.

„Ich war mittlerweile sechzehn und durch die vielen Jahre bei ihm so verdreht und verbraucht, dass er mich auch nicht weiterverkaufen konnte. Eine Zeitlang hatte er überlegt mich einfach umzubringen, aber dann entschied er sich dafür mich lieber auf den Strich zu schicken.“

„Auf den Strich?“ Sowas hatte er doch schon einmal erzählt. Ich hatte es für einen Scherz gehalten.

Tayfun nickte. „Ja, Tiago wollte, dass ich sein kleiner Stricher werde, also wurde ich sein Stricher. Ich lief die rote Meile auf und ab und war jedem zu Diensten, der dafür bezahlen konnte. Manchmal glaube ich, er hat versucht mich auf diese Art zu bestrafen.“

Er war draußen auf der Straße gewesen? „Aber … hast du den nie versucht zu fliehen? Ich meine, es hat doch sicher Gelegenheiten gegeben. Warum bist du nicht abgehauen?“

Sein Gesicht verzog sich, als würde ihm diese Frage schmerzen bereiten. „Du musst das verstehen. Ich stand bereits seit acht Jahren unter Tiagos Fuchtel. Ich war unterwürfig und völlig abhängig von ihm. Allein der Gedanke ihn zu verlassen, ließ mich halb verrückt werden, denn trotz allem was er mir angetan hat, war er doch der einzige der mir geblieben war.“

Ja aber so? Ich sprach die Frage nicht laut aus.

Er seufzte. „Tiago fasste mich ab diesen Zeitpunkt kaum noch an und das war nicht unbedingt das Schlimmste was ich mir vorstellen konnte. Ehrlich gesagt verbesserte sich meine Situation damit sogar. Im Grunde war ich nur noch ein Angestellter, der für ihn Geld anschaffte. Aber leider wollte Tiago jemanden an dem er seine Gelüste befriedigen konnte. Eine Zeitlang gab er sich hin und wieder noch mit mir zufrieden. Doch dann … ich war einundzwanzig, da kam eine Lieferung neuer Sklaven. Unter ihnen befand sich auch ein kleiner Junge, vielleicht fünf oder sechs Jahre.“

Oh bitte nein, das konnte nicht wahr sein.

„Der kleine Vampir stand nun das gleiche Schicksal bevor wie mir und zu Anfang … naja, ich war eigentlich nur geschockt und hatte Angst, dass Tiago sich nun von mir abwenden würde. Aber dann sah ich es. Ich sah was er mit dem Jungen vorhatte und irgendwie – ich weiß auch nicht – ich glaube mir ist einfach eine Sicherung durchgebrannt. Ich hatte einen Blackout und als ich wieder zu mir kam, war ich blutüberströmt, obwohl ich keine Verletzungen aufwies und Tiago lag tot auf dem Boden.“

Ich hielt die Luft an. Keine Ahnung warum, aber ich tat es.

„Ich brauchte eine Weile um zu verstehen was geschehen war. Tiagos Kehle war völlig zerfetzt, als sei ein wildes Tier über ihn hergefallen und der kleine Junge kauerte völlig verängstigt in der Ecke und weinte. Ich dagegen stand einfach nur da und versuchte mit der neuen Situation klar zu kommen. Tiago war tot. Ich hatte ihn getötet. “

In seiner Stimme schwang ein Schmerz mit, den ich absolut nicht verstand. „Du hast nichts falsches getan“, versuchte ich ihn zu trösten, doch er schüttelte nur den Kopf.

„Du verstehst das nicht. Tiago war … ich brauchte ihn.“

Oh mein Gott, er hatte ihn geliebt. Trotz der Folter und all den schlimmen dingen die der Lykaner ihm angetan hatte, war Tayfuns Zuneigung echt gewesen – wenn auch auf eine sehr verdrehte weise.

„Ich rannte nicht weg. Ich wusste ich hätte es tun sollen, aber ich konnte nicht. Ich setzte mich zu ihm, nahm seine Hand und blieb an seiner Seite.“

„Du hast nichts falsch gemacht“, versuchte ich ihm noch einmal zu erklären, doch er schien mich gar nicht zu hören.

„So fand man uns dann. Ich weiß nicht wie lange ich dort gesessen hatte, als seine Partner auftauchen und in das Malheur hineinstolperten. Den Jungen sperrte man direkt zurück zu den anderen Sklaven. Ich weiß nicht was aus ihm geworden ist.“

„Und du?“

Er gab ein bitteres Geräusch von sich. „Für mich hatten sie sich etwas anderes ausgedacht. Natürlich erst nachdem sie mich halb tot geprügelt und missbraucht hatten. Ich landete in einem Drecksloch von Keller, wo man mich einschloss und zum Sterben zurückließ. Aber ich wollte nicht sterben.“ Er verzog die Lippen zu etwas, das ganz sicher kein Lächeln war.

„Aber du bist dann doch noch entkommen.“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, die Themis kamen und holten mich heraus. Ich war mehr tot als lebendig als sie mich fanden und bekam gar nicht mehr mit was um mich herum vor sich ging. Und als ich dann Tage später im Krankenhaus zu mir kam, geriet ich so in Panik, dass sie mich unter Beruhigungsmittel setzten mussten.“ Als er meinen Gesichtsausdruck sah, lächelte er leicht schief. „Und danach …. tja, ich hab eine Therapie gebraucht.“

Nach der Marter wunderte mich das gar nicht. „Solange es dir geholfen hat.“

„Fünf Jahre meines Lebens wurden von Quacksalbern bestimmt.“

Nachdem was er durchgestanden hatte, konnte er von Glück reden. Wie nur hatte er es geschafft das alles zu überleben und dabei nicht völlig durchzudrehen? Das war mir wirklich ein Rätsel.

Fünf Jahre. Das war noch zu der Zeit, als die Verborgene Welt für mich kaum mehr gewesen war, als die Geschichten meines Vaters.

„Irgendwann hatte ich keine Lust mehr auf diesen Scheiß und versuchte einfach ein normales Leben zu führen, aber am Ende war das einfach zu schwierig für mich. Ohne jemand der mich anleitete, schaffte ich es nicht mich einzugliedern. Wahrscheinlich habe ich mich deswegen den Themis angeschlossen. Die Leute hier verstehen wenigstens ein bisschen, was mit mir los ist und können sich darauf einstellen.“

„Aber auch sie benutzen dich als Sklaven“, sagte ich traurig. „Du hast es mir selber gesagt.“

Er zuckte nur hilflos mit den Schultern. „Das ist das was ich kenne und das was ich kann. Vielleicht ist das für dich verwerflich, aber ich … keine Ahnung, ich brauche das einfach.“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf und stellte die Beine auf den Boden. Dann ergriff ich auch noch seine andere Hand und hielt sie fest mit meiner verschränkt. „Ich finde das überhaupt nicht verwerflich. Du versuchst einfach nur deinen Platz im Leben zu finden. Das ist nichts Schlechtes. Ich finde es sogar gut. Du kämpfst weiter und lässt dich nicht unterkriegen.“

Damit bekam ich endlich wieder ein echtes Lächeln von ihm. „Du fragst dich sicher warum ich dir das alles erzähle, obwohl wir uns doch eigentlich kaum kennen.“

Jetzt gerade im Moment nicht, aber dieser Gedanke war mir durchaus gekommen. Obwohl mir ja bereits aufgefallen war, dass Tayfun sehr offen mit allen umging und selten ein Geheimnis aus seiner Person machte. Ich kannte sogar schon seinen richtigen Namen. „Vermutlich musstest du dir alles mal von der Seele reden.“

„Nein, das ist es nicht. Es ist ...“ Er zögerte, als müsste er erst nach den richtigen Worten suchen. „Ich muss dir das einfach erklären. Seit Tiago … also, das ist so ein Tick, den ich einfach nicht loswerde.“

„Das du deine Lebensgeschichte erzählst?“

„Nein, dass ich mich an Lykaner hänge, die mir Angst machen.“

„Du meinst ...“ Ich verstummte abrupt, als mir die Bedeutung dieser Worte aufging. „Du hast Angst vor mir?“, fragte ich vorsichtig. Das wollte ich nicht.

„Ja und nein. Du bist ein Wolf – irgendwie.“

Sehr nett.

„In der Zentrale, da warst du so aggressiv zu mir das … ich weiß nicht wie ich das beschreiben soll. Du hast damit gewissermaßen einen Schalter bei mir umgelegt. Deswegen … ach, keine Ahnung, vergiss den letzten Teil einfach.“

Als wenn ich das jetzt noch könnte, aber ich verstand, was er mir damit sagen wollte. Aggressive Wölfe brachten ihn dazu hörig zu werden, weil er es gewohnt war auf diese Art Zuneigung zu bekommen. Es war ein antrainierter Instinkt, gegen den er sich nicht wehren konnte. „Bitte, hab keine Angst vor mir, ich wollte dir niemals wehtun. Ich war nur …“ Wie sollte ich das ausdrücken?

„Ein wenig neben der Spur?“, schlug er vor.

„So könnte man wohl sagen.“ Ohne um Erlaubnis zu bitten, ließ ich seine Hände los und umarmte ihn. Ich drückte ihn einfach nur an mich, weil ich glaubte, dass er das im Moment gut gebrauchen konnte.

Zuerst schien er ein wenig überrascht, aber er ließ es geschehen und entspannte sich dabei sogar etwas.

Zum ersten Mal verstand ich ein wenig, warum mein Vater und Cayenne taten was sie taten. Diese Sklavenhändler hatten eindeutig eine Strafe verdient. Nicht das ich nicht schon vorher dieser Meinung gewesen wäre, aber jetzt … ich konnte nicht behaupten, dass es mir um Leute wie Tiago De Luca leid tat und das verwirrte mich. Ich war noch immer gegen Gewalt und alles was damit zusammenhing. Aber nachdem was ich gehört hatte, musste ich wohl aufhören in Schwarz und Weiß zu denken, dafür war die Grauzone einfach zu groß.

„So, und jetzt bist du dran.“ Tayfun gab mich frei und lächelte, sodass seine Fänge bestens zur Geltung kamen.

Ich zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. „Womit dran?“

„Ich habe blankgezogen, jetzt bist du dran.“ Er wurde etwas ernster. „Warum ist es zwischen dir uns Cio aus. Er wollte sich doch wieder vertragen.“

Cio.

Ich fuhr meine Schilde hoch um mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich allein die Erwähnung seines Namens schmerzte. Tayfun hatte es wirklich geschafft ihn für eine Weile aus meinem Kopf zu verbannen. Aber jetzt war er wieder da. „Du hast mir das nur erzählt um zu erfahren, was zwischen uns los ist?“

„Nein.“ Sein Blick wurde weicher. „Ich habe dir das erzählt, damit du mich ein wenig besser verstehst und damit du weist wie du mit mir umgehen muss, da ich dich mag und gerne in meinem Leben behalten würde.“

Was? Sollte das heißen, er wollte mir eine Gebrauchsanweisung für sich geben? Das war äußerst schräg, um es mal vorsichtig auszudrücken.

„Aber jetzt muss ich ein wenig auf andere Gedanken gebracht werden“, fügte er dann noch hinzu.

Das nannte man dann wohl einen Ausgleich schaffen.

Eigentlich wollte ich gar nicht darüber reden, aber nachdem was er mir gerade alles anvertraut hatte, wie konnte ich da ablehnen? „Ich habe ihm beim Fremdgehen erwischt.“

Tayfuns Augen erweiterten sich. „Das ist nicht dein Ernst.“

Schön wäre es. „Cio hat sich in den Kopf gesetzt, dass zwischen uns alles wieder in Ordnung kommen wird, wenn er meine Kollegin flachlegt. Leider hat er sich für seine Verführung den Stall ausgesucht und war ziemlich überrascht, als ich plötzlich vor ihm stand.“

Er verzog das Gesicht, als würde ihn so viel Dummheit schmerzen. „Okay, vielleicht sollten wir dieses Thema doch lieber meiden. Außerdem bekomme ich langsam Hunger.“

„Hunger?“ Wie konnte er jetzt nur ans Essen denken.

„Du weißt schon, das Bedürfnis Nahrung zu sich zu nehmen. Das nennt man auch Hunger.“

„Ich weis durchaus was Hunger ist.“

„Aber?“, fragte er lauernd.

„Nichts aber.“ Ich zuckte nur mit den Schultern. „Ich neige in Stresssituationen halt nur dazu den Appetit zu verlieren.“

„Wann hast du denn das letzte Mal etwas gegessen?“

An dem Morgen, als ich glaubte meine Welt würde wieder in Ordnung kommen und ich mich darauf gefreut hatte, später mit Cio einen Film anzuschauen. „Ist schon ein paar Tage her.“

„Das habe ich mir gedacht. Darum werde ich uns jetzt etwas zu essen machen und wenn du es nicht isst, dann werde ich schwer beleidigt sein.“

Aber ich wollte doch gar nichts!

Tayfun schien das völlig egal zu sein. Er erhob sich und machte eine Schritt auf die Küchenzeile zu, bliebt dann aber plötzlich stehen und wandte sich zur Tür herum. Auf seinen Lippen erschien ein laszives Lächeln, dass seine Augen geradezu aufleuchten ließ. „Oh, wie ich sehe, ist das Dessert gerade eingetroffen.“

Ich schaute an ihm vorbei und bemerkte erst jetzt den jungen Mann, der sich dem Gemeinschaftsraum im Stillen genähert hatte und nun abwartend in der Tür stand. Der Blick seiner braunen Augen war dabei zielsicher auf mich gerichtet und wurde nur halb von der braunen Lockenpracht auf seinem Kopf verdeckt.

„Kaspar!“ Ich sprang so schnell auf die Beine, dass ich fast über meine eigenen Füße stolperte. Dann schlang ich ihm auch schon die Arme um den Hals und klammerte mich an den drahtigen Körper. Klar wusste ich dass er Berührungen als unangenehm empfand – schließlich waren wir schon seit unserer Jugend miteinander befreundet – und so wie er sich anspannte, hatte er mit einem solchen Überfall wohl auch nicht gerechnet. Aber ich brauchte das, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Ich wollte ihn ja schließlich nicht überfordern und in die Flucht schlagen. Darum ließ ich sehr schnell wieder von ihm ab und grinste ihn einfach nur an. Ich freute mich wirklich ihn zu sehen. „Was machst du denn hier?“

„Alina hat mich angerufen“, sagte er ganz direkt und ohne Umschweife. „Du hast dich von Cio getrennt?“

Das Lächeln fiel mir buchstäblich aus dem Gesicht. Woher zum Teufel wusste Alina nun schon wieder was los war? Ich hatte bisher mit niemanden darüber gesprochen.

Bevor ich darauf antworten musste, trat Tayfun an meine Seite. „Na hallo mein Hübscher.“

Kaspar ließ seinen Blick einmal geringschätzig über den Vampir gleiten, packte mich dann ohne weiteres Federlassen am Arm und zog mich ein Stück zur Seite. Dann sprach er mich an, als hätte es diese kleine Unterbrechung gar nicht gegeben. „Warum hast du mich nicht angerufen? Ich nehme es dir echt übel, dass ich das von deiner Cousine erfahren musste.“

Seine Worte drängten mich in die Defensive. „Du teilst mir doch auch nicht jede Trennung von Aric mit, das finde ich auch meist nur zufällig raus.“

„Zwischen mir und Aric ist das ein bisschen was anderes, als zwischen dir und Cio und das weißt du ganz genau.“

Ja, das wusste ich. Die regelmäßigen Trennungen zwischen den beiden, gehörten praktisch zu ihrer Beziehung dazu. „Wo ist Aric eigentlich?“

„Noch oben, er spricht noch mit seiner Mutter. Aber lenke jetzt nicht vom Thema ab. Warum hast du mich nicht angerufen, wenn dieser Drecksack dich betrügt?“

Ach, den Grund kannte er also auch? Sollte mich eigentlich nicht überraschen. „Genau deswegen“, sagte ich und wandte mich von ihm ab, um mich wieder auf meinem Platz auf der Couch zu setzten.

Tayfun folgte mir. Es setzte sich wieder neben mich und das Essen schien vergessen.

„Für dich ist das doch nur ein Grund mehr ihn zu beleidigen und über ihn herzuziehen.“ Ich verschränkte abweisend die Arme vor der Brust. „Und das will ich nicht hören.“

„Warum?“ Er folgte mir. „Ohne diesen trotteligen Idioten bist du doch sowieso besser dran.“

„Das ist völlig egal.“ Und völlig falsch. „Bitte, ich will nicht darüber reden. Ich will nicht mal daran denken, also lass es einfach gut sein.“

Unzufrieden drückte er die Lippen zusammen. Das passte ihm gar nicht. Tja, Pech gehabt, hier ging es nicht um ihn, also hatte er da auch kein Mitspracherecht.

Tayfun nutzte die entstehende Stille, um erneut auf sich aufmerksam zu machen. Vielleicht wollte er aber auch nur die Situation entspannen. Bei ihm konnte man sich da nie so sicher sein. „Möchtest du mich nicht vorstellen?“, fragte er ganz unschuldig.

Seufzend zeigte ich auf Kaspar. „Tayfun, darf ich dir vorstellen, das ist mein bester Freund Kaspar. Kaspar, das ist Tayfun, er ist ein Kollege von Papa.“

„Hey.“

Kaspar musterte die Hand die Tayfun ihm hinhielt nur mit mäßigem Interesse, schnaubte dann und ließ sich dann rechts neben mir in den Sessel fallen. „Und nun?“, fragte er an mich gewandt. „Willst du nun einfach so tun als wenn nicht gewesen wäre?“

Er konnte es also doch nicht einfach sein lassen. Zum Glück schien Tayfun die Schnauze voll davon zu haben ignoriert zu werden und mischte sich ein, bevor ich auch nur darüber nachdenken konnte, wie ich Kaspar von dem Thema abbringen konnte.

„Dein bester Freund ist also ein Mensch.“ Seine Stimme schnurrte förmlich vor Begeisterung. „Lecker.“

Skeptisch und leicht argwöhnisch verzog Kaspar das Gesicht. „Wo findest du nur immer solche Vögel?“

Ein Schulterzucken, mehr bekam er nicht.

Tayfun jedoch nahm das zum Anlass ein wenig breiter zu grinsen und damit direkt auf seine Fänge aufmerksam zu machen. „Du bist ja richtig süß. Da bekomme ich glatt Lust ein wenig an dir rumzuknabbern.“

Ohje. „Tayfun, dass solltest du lassen. Er ist bereits vergeben.“

„Ach, dass ist nicht so schlimm.“ Dann stand er doch tatsächlich auf und ließ sich neben Kaspar auf der Armlehne des Sessels nieder. Das erinnerte mich sehr stark an unserer Zusammentreffen im Moonlight. „Oder was meinst du.“

Dieser Kerl irritierte Kaspar nicht nur, es war ihm auch unangenehm, dass er ihm so nahe kam. Fremde konnte er nicht ausstehen – schon gar nicht wenn sie in seinen privaten Bereich eindrangen. „Verzieh dich!“

„Zwing mich doch.“ Und dann legte Tayfun ihm auch noch eine Hand aufs Bein.

In diesem Moment nährten sich Schritte und gleich darauf erschien Aric im Zimmer. Es sah den Vampir, sah dass er gerade versuchte bei Kaspar auf Tuchfühlung zu gehen und ließ mit einem Knurren sein Odeur explodieren.

Von der Heftigkeit dieses Ausbruchs zuckte ich zusammen – außer mir konnte es in diesem Raum sowieso niemand riechen – und kam deswegen nicht mehr rechtzeitig auf die Beine, um meinen Bruder daran zu hindern durch den Raum zu stürmen und den überrumpelten Tayfun an der Kehle zu packen und von seinen Freund wegzuzerren. Es ging so schnell, dass ich noch halb saß, als Aric den Vampir bereits in die Luft hob und wütend knurrte. „Fass ihn noch einmal an und ich töte dich!“, drohte mein Bruder und meinte es eindeutig ernst.

Sofort griff Tayfun nach Arics Handgelenk. Aber nicht um sich zu bereifen, sondern nur um sich festzuhalten. Er wehrte sich überhaupt nicht.

„Nein, nicht!“ Ich packte Aric beim Arm und zog ihn runter, damit Tayfun wenigstens wieder auf den Beinen stehen konnte. Es war sicher nicht gut, wenn er da in der Luft baumelte. „Lass ihn sofort los!“

Der Geruch von Angst, den Tayfun verströmte, war nur ein Hauch, der meine Nase streifte. Trotz der Furcht die er in dem Griff eines wütenden Lykaners verspüren musste, lächelte er. Und nicht nur das, er löste sogar eine Hand, um sie über Arics Brust wandern zu lassen, als wollte er ihn so ein wenig besänftigen.

„Immer ruhig bleiben, mein Hübscher. Das war doch nur Spaß.“

„Aric, lass ihn los!“, forderte ich und zerrte noch weiter an seinem Arm, bevor noch ein Unglück geschehen konnte. „Sonst haue ich dich!“

Diese vier Worte brachten ihn zum verstummen. Ja schon klar was er dachte, ich und Gewalt, ha ha, der Witz des Jahren. Aber wenigstens löste er endlich seinen Griff von Tayfuns Hals. „Fass ihn nie wieder an“, sagte er noch im warnenden Ton und wandte sich dann zu Kaspar um.

Der saß nicht mehr in dem Sessel, der stand nun daneben und schien nicht weniger wütend. Doch galt dieses Gefühl nicht Tayfun.

„Alles okay?“, wollte mein Bruder wissen und streckte die Hand nach seinem Freud aus, doch der trat sofort einen Schritt zurück.

„Warum musst du ständig solche Szenen machen? Ich brauche keinen Prinzen in edler Rüstung, ich kann mich auch alleine verteidigen. “

Sofort schaltete Aric in den Modus beleidigte Leberwurst. „Ja, das habe ich gesehen.“

Na toll, jetzt ging das wieder los. „Jungs …“

„Du kannst das gar nicht sehen, weil du immer sofort der Meinung bist, alles und jeden wegzubeißen zu müssen.“

„Was vielleicht damit zusammenhängt, dass du es nicht magst angefasst zu werden. Schon mal darüber nachgedacht?“

Okay, das kannte ich schon, da brauchte ich mich vorerst nicht einmischen. Würde sowieso nichts bringen. Da war es wesentlich aussichtsreicher, wenn ich mich erstmal Tayfun widmete. Einerseits um ihn anzuschnauzen, aber hauptsächlich um zu schauen, ob alles mit ihm in Ordnung war. So ein Lykaner – besonders ein reinrassiger – konnte mir einer Kraft aufwarten, gegen die kein Vampir ankam.

Während Kaspar also weiter darauf beharrte, alles allein zu können und Aric ihm erklärte, dass er ein Idiot war, der sich ruhig mal helfen lassen könnte, wandte ich mich Tayfun zu, der die beiden Streithähne wachsam im Auge behielt.

„Du bist ein Dummkopf“, warf ich ihm vor und stellte mich auf die Zehenspitzen, um einen besseren Blick auf seinen Hals zu bekommen.

Dieser Vorwurf schien ihn zu erfreuen. Zumindest begann er wieder zu lächeln.

„Das ist nicht lustig“, teilte ich ihm mit und strich vorsichtig über die Rötung an seinem Hals. „Aric ist extrem eifersüchtig. Also wenn ich dir das nächste Mal sage lass es, dann hörst du gefälligst auf mich, verstanden?“

„Okay.“

Ich ließ mich wieder auf meine Hacken sinken und musterte ihn misstrauisch. Okay? Einfach so? Nahm er mich jetzt auf den Arm, oder meint er das ernst? Ich war mir nicht ganz sicher.

„Schau nicht so skeptisch.“ Er tippte mir mit dem Finger verspielt gegen die Nase. „Davon bekommst du nur Falten.“

„Ich versuche nur gerade dich einzuschätzen.“ Aber irgendwie gelang mir das nicht recht. Er hatte eben eindeutig Angst gehabt, aber nun stand er wieder hier, als sei nichts geschehen.

„Lass es, davon bekommst du nur einen Krampf im Hirn.“

Wahrscheinlich. Egal. „Wolltest du dir nicht gerade etwas zu essen machen?“

„Stimmt.“ Er zog sein Handy aus der Hosentasche.

Hä? „Du brauchst ein Handy um essen zu machen?“

„Nein, aber ich brauche es um Essen zu bestellen.“ Er warf einen Blick zu Aric und Kaspar, die einander gerade böse anfunkelten.

„Ionier die beiden einfach. Das kann noch ein bisschen dauern.“

Er grinste wieder. „Eigentlich habe ich grade darüber nachgedacht, ob wir den beiden auch etwas bestellen sollten.“

Ich folgte seinem Blick. „Gute Frage.“

 

°°°

 

Am Ende entschied Tayfun, dass es nicht sehr nett wäre die beiden auf dem Trockenen sitzen zu lassen, während wir uns die Bäuche vorschlugen – wobei ich noch mal darauf hinwies, dass ich gar keinen Hunger hatte – und bestellte die Karte des nahegelegenen Chinesen einmal rauf und runter. Dann setzten wir uns wieder zurück auf unsere Plätze und verfolgten den Clinch zwischen meinem Bruder und meinem besten Freund wie ein interessantes Tennisspiel.

Es dauerte noch fast zehn Minuten, bis Kaspar die Auseinandersetzung mit einem „Halt dich einfach mal ein bisschen zurück“ beendete und sich schlecht gelaunt zurück auf seinem Platz auf den Sessel setzte. Und da schlechte Laune für Kaspar so ziemlich der Normalzustand war, konnte ich mich endlich ein wenig entspannen.

Leider war Aric immer noch auf Konfrontationskurs und da er die beiden anderen abgehakt hatte, war ich nun an der Reihe. „Mit dir hab ich auch noch ein Hühnchen zu rupfen.“

Mit mir? „Warum? Was habe ich denn jetzt angestellt?“

Es kam nur ein Wort. „Cio.“

Sofort zog ich meine Mauern hoch. Würde mich jetzt jeder darauf ansprechen? Verstand denn keiner, dass ich mit dem Thema einfach in Ruhe gelassen werden wollte?

„Ich bin langsam wirklich beleidigt. Weder du noch Cio halten es für nötig sich bei mir zu melden. Irgendwie bin ich immer der Letzte, der hier etwas erfährt.“

Meine Lippen wurden zu einem dünnen Strich.

„Ist dir mal in den Sinn gekommen, dass es für sie ein wenig schmerzhaft ist darüber zu sprechen?“, sprang Tayfun für mich in die Breche.

Aric spießte ihn mit einem Blick auf, gab sich dann aber mir einem schweren Atemzug geschlagen und setzte sich einfach zu Kaspar auf die Sessellehne. So war er seinem Freund sehr nahe, achtete aber trotzdem darauf, ihn nicht unnötig zu berühren. Das musste für Aric wirklich schwer sein. Diese ständig erzwungene Distanz zwischen ihnen war mit ein Grund, warum es bei ihnen so oft kriselte. Als Lykaner brauchte mein Bruder den Körperkontakt, doch durch Kaspars Vergangenheit viel es meinem besten Freund nicht ganz einfach sie immer und überall zuzulassen.

„Ich bin einfach nur sauer“, murmelte Aric dann, als sei es eine Entschuldigung. „Der Schwachkopf bezeichnet sich immerhin als mein bester Freund und dann hält er es nicht einmal für nötig sich bei mir zu melden, wenn sein Leben in die Brüche geht.“

Dazu schwieg ich lieber.

Tayfun legte seinen Kopf auf die Rückenlehne. „Manchmal müssen wir erstmal mit uns selber klarkommen, bevor wir uns anderen mitteilen können.“

„Das ist eine Glücklicherweise, oder?“, fragte Kaspar sogleich.

Tayfun lächelte verschmitzt. „Nein, das kommt wirklich von mir. Ich kann ziemlich tiefsinnig sein, wenn ich möchte.“

Das ließ Aric schnauben, aber irgendwie schaffte der Vampir es so die ganze Situation zu entspannen und das Thema in weniger gefährliche Bahnen zu lenken. Und nun nachdem die Grenzen sehr deutlich abgesteckt worden waren, verstanden die drei sich sogar ganz gut. Naja, wenn man mal von Kaspars grummeliger Art absah, aber das war – wie bereits erwähnt – völlig normal für ihn.

Als eine halbe Stunde später dann das Essen eintraf, fielen die drei sofort wie hungrige Wölfe darüber her. Als Aric jedoch bemerkte, dass ich in meinem gebratenen Reis nur herumstocherte, verengten seine Augen sich leicht. „Dir ist bewusst, dass das Essen so nicht in deinem Mund landen kann, oder?“

Ich funkelte ihn an. „Ich hab keinen Hunger.“

„Das ist mir eigentlich ziemlich egal. Iss, oder wir wiederholen unser Spielchen vom letzten Mal.“

Dafür bekam er einen wirklich bösen Blick. „Würdest du bitte damit aufhören mich ständig zu bevormunden? Ich bin nicht Kiara und ich habe viele Jahre überlebt, ohne mir von dir meinen Weg vorkauen zu lassen.“

„Iss einfach, Zaira“, fing nun auch noch Kaspar an.

Ja, super, verschwört euch ruhig alle gegen mich. „Langsam denke ich, dass es für euch beide an der Zeit ist nach Hause zu gehen.“

Sie bewegten sich nicht vom Fleck – natürlich nicht. Sie starrten mich nur an, solange bis ich endlich die mitgelieferte Plastikgabel in den Wärmebehälter steckte und mir anschließend ein kleines Häufchen Reis in den Mund schob. „Zufrieden?“, fragte ich etwas zu spitz und versuchte die pappige Masse in meinem Mund meine Kehle hinunter zu zwingen. Normalerweise liebte ich gebratenen Reiß, aber jetzt hätte ich ihn am liebsten einfach aus dem Fenster geworfen.

Trotzdem zwang ich mich unter ihren strengen Blicken zwei weitere Gabeln zu essen, bevor ich das alles mit einem „Ich bin voll“ zurück auf den Tisch stellte und die Beine an die Brust zog.

„Pass bloß auf dass du nicht zu viel isst, du könntest sonst satt werden“, spottete Kaspar und machte sich bereits über den zweiten Behälter her.

Ich öffnete den Mund, um seine Nettigkeiten zu erwidern, als ein Wirbelwind mit kurzem gelben Haar den Raum stürmte. Nein wirklich, das war kein blond, das war ein richtiges Sonnengelb. „Zaira!“, rief meine Cousine, ließ ihre beiden Taschen auf den Tisch fallen und warf sich zu mir auf die Couch. Dass sie dabei fast noch Tayfun mitriss, interessierte sie nicht. Sie schlang einfach nur die Arme um mich und drückte mich an ihre Brust.

Ich war ein wenig perplex. „Was machst du denn hier?“ Sie müsste doch eigentlich in Arkan sein.

„Was wohl? Ich bin sofort ins Auto gestiegen und hergekommen, als ich es gehört habe. Oh meine Süße, es tut mir so leid für dich.“

Super, jetzt entwickelte sich das hier auch noch zu einer Mitleidsparty. „Woher weißt du es?“, grummelte ich. Es nervte mich eigentlich nur. Nein, das war falsch. Ich versuchte mich nur genervt zu geben, aber in Wirklichkeit tat es weh, immer und immer wieder darauf aufmerksam gemacht zu werden, was ich verloren hatte.

„Woher wohl, von deiner Mutter. Ich wollte dich vorhin anrufen, hab aber die falsche Nummer gewählt und bin bei dir Zuhause gelandet. Tante Ara ist rangegangen und hat mir erzählt was los ist.“

Natürlich hatte sie das. „Und dir fiel nichts besseres ein, als es gleich jeden in meinem Bekanntenkreis unter die Nase zu reiben?“

„Kaspar und Aric sind nicht jeder und ich war der Meinung, du solltest nicht allein sein. Außerdem braucht man für ein Besäufnis mehr als nur zwei Leute.“

„Besäufnis?“ Hatte ich etwas nicht mitbekommen?

„Klar. Wir werden heute all unsere Probleme und Sorgen im Alkohol ertränken.“ Sie beugte sich vor und inspizierte den Inhalt einer der Asiaboxen und holte dann schulterzuckend eine Frühlingsrolle heraus, die sofort in ihrem Mund verschwand. „Anouk müsste auch bald kommen“, erklärte sie mit vollem Mund.

Mein Cousin auch noch? „Alina.“

Sie grinste nur kauend. „Ach ja“, sagte sie dann, schluckte ihren Bissen runter und stellte die Reste zurück auf den Tisch. „Ich hab dir ja noch etwas mitgebracht.“ Gerade als sie nach ihren Taschen greifen wollte, fiel ihr zum ersten Mal auf, dass sich außer uns noch eine weitere auf der Couch befand. „Wer bist du denn?“

Tayfun grinste. „Der geheimnisvolle Fremde.“

„Uh“, machte Alina, lehnte sich zu mir und sagte dann vertraulich in einem perfekten Bühnenflüstern. „Der ist echt süß, den sollten wir behalten.“

„Oh Gott, Alina.“ Ging es eigentlich noch peinlicher? Erst versuchte mein Bruder Tayfun umzubringen und nun wollte meine Cousine mich mit ihm verkuppeln.

Tayfun jedoch schien es zu gefallen. Sein Grinsen wurde immer breiter, während Kaspar für die Aussage meiner Cousine nur ein abschätzendes Schnauben übrig hatte.

Das bekam Alina natürlich sofort mit. „Oh, keine Angst, dich habe ich nicht vergessen.“ Und dann stand sie auf und versuchte meinen besten Freund zu erwürgen. Okay, eigentlich wollte sie ihn umarmen, aber Kasper hasste es von ihr umarmt zu werden. Er fand das nicht sehr witzig und versuchte sie abzuwehren, aber sie gab nicht auf, bis sie es geschafft hatte ihm einen Schmatzer auf die Wange zu drücken, den er sich sofort angewidert abwischte und sie böse anfunkelte. „Ich hab dir schon tausend mal gesagt, du sollst das lassen.“

„Ich weiß“, kam es völlig unbekümmert von ihr. Dann gab es noch eine Umarmung für Aric, bevor sie sich ihren beiden Taschen widmete. „Ach ja, deine Mutter hat mich noch gebeten dir auszurichten, dass sie nicht genau weiß, wann sie wieder herkommt. Ihr Auto springt irgendwie nicht mehr an und jetzt muss sie auf den Abschleppdienst warten und dann in die Werkstatt.“

Meine Mutter wollte in eine Autowerkstatt? Alleine? Na hoffentlich ging das gut. Aber wenigstens erklärte das ihre lange Abwesenheit.

Alina stellte die kleinere der Taschen zwischen das Essen auf den Tisch. Es gab ein klirrendes Geräusch, wie Glas, dass gegeneinander schlug. Mit einem „Tadaa!“ zog sie dann sie Seiten herunter und zum Vorschein kamen sechs Flaschen mit alkoholischen Flüssigkeiten darin.

Aric stieß ein pfiff aus und griff direkt nach bauchigen Whiskeyflasche in einem hässlichen grün. „Das ist ein Ardbeg Corryvreckan Committee Reserve von 2008.“ Er schaute ein wenig überrascht auf. „Die ist bestimmt fünfhundert wert. Wo hast du die her?“

„Wirklich?“ Alina nahm ihn die Flasche aus der Hand und ließ den Blick darüber wandern, als hätte sie Ahnung von der Materie. „Die stand schon seit Jahren bei meinen Eltern im Schrank. Die haben sie mal von irgendwem geschenkt bekommen“, murmelte sie leise vor sich hin.

„Dann solltest du sie vielleicht wieder dorthin zurückstellen“, überlegte Kaspar.

Alina schaute ihn an. „Nö“, sagte sie dann und stellte sie zurück auf den Tisch. „Meine Eltern trinken sowieso nie etwas und heute können wir das gut gebrauchen. Das perfekte Heilmittel sozusagen.“

Tayfun ließ ein leises Lachen hören.

Ich wusste nicht so recht was ich davon halten sollte. Alkohol als Heilmittel? Da konnte so ziemlich alles bei schief gehen.

„Aber das war es gar nicht was ich für dich habe.“ Alina griff zwischen die Flaschen und zog eine Tüte mit meinen Lieblingsgummibärchen heraus, die sie mich auch sogleich triumphierend vor die Nase hielt. „Da, die hab ich für dich besorgt.“

Ich nahm sie ihr ab. „Ähm … danke?“ Scheinbar war ihr nicht so ganz bewusst, dass ich keine drei mehr war und meine Probleme sich nicht mit einer Tüte Gummibärchen lösen ließen.

„Nichts zu danken. Eigentlich wollte ich dir ja Schokolade mitbringen, aber die magst du ja nicht.“

„Du magst keine Schokolade?“ Tayfun schaute mich an, als würde mir ein Geweih aus dem Kopf sprießen.

„Die hat so einen komischen Nachgeschmack.“

„Das ich das noch erleben darf“, sagte Tayfun mit leichter Faszination. „Eine Frau die keine Schokolade mag.“

Währenddessen musterte Aric nachdenklich die ganzen Flaschen auf dem Tisch. „Kann es sein, dass die alle von deinen Eltern stammen?“

„Na klar“, stimmte meine Cousine sofort zu, platzierte sich wieder zwischen Tayfun und mir auf dem Sofa und griff erneut nach den Frühlingsrollen. Sie klemmte sich den Behälter zwischen die Knie und angelte sich dann eine Rolle heraus. Wenn man nur eine Hand hatte, musste man manchmal eben in wenig erfinderisch sein. „Ich hatte schließlich keine Zeit mehr einkaufen zu gehen und Mama und Papa vermissen das Zeug eh nicht.“

Na hoffentlich täuschte sie sich da nicht. „Ich denke nicht, dass wir das tun sollten.“ Ober besser gesagt, dass ich das tun sollte.

Alina kniff die Augen leicht zusammen und schaute mich beinahe schon böse an. „Und ob wir das tun sollten. Deswegen habe ich alle zusammengerufen. Und besonders du musst dringend mal abschalten.“

So unrecht hatte sie da nicht. Es wäre schon ganz nett alles mal eine Zeitlang verdrängen zu können und den ganzen Mist zurück in die Warteschlange zu stellen. „Aber nicht hier“, sagte ich dann. „Die Themis fänden es sicher nicht toll, wenn wir ihren Gemeinschaftsraum in eine Kneipe verwandeln und uns hier volllaufen lassen.“

„Wir können uns in mein Zimmer verziehen“, schlug Tayfun vor.

Ich zog eine Augenbraue nach oben. „Du hast noch weniger Sitzmöglichkeiten als ich, und bei mir sind die schon rar.“

„Aber mein Zimmer ist größer als deines.“

„Und unordentlicher.“

Da streckt der Kerl mir doch tatsächlich die Zunge raus. Hallo? Wie alt war der denn, drei?

Alina lachte. „Okay, wir gehen zu Zaira. Komm du geheimnisvoller Fremder.“ Ohne großes Federlassen, stellte sie die Asiabox erneut auf den Tisch, nahm Tayfun bei der Hand und zog ihn hinter sich her aus dem Raum. Bevor sie allerdings aus unserem Sichtfeld verschwand, mahnte sie uns noch, dass wir uns mit dem Saubermachen beeilen sollten und ja nicht ihre Taschen vergessen dürften.

Aric stand sofort auf um den Anweisungen nachzukommen und begann damit die Essensreste zusammenzupacken. Ich half ihm. Kasper jedoch blieb völlig entspannt sitzen und verputzte gelassen sein Essen.

Während der Arbeit kam ich nicht umhin mich zu fragen, warum Alina ausgerechnet Tayfun mitgenommen hatte. Eigentlich war ihr Lieblingsopfer doch Kaspar. Irgendwie wollte mir das nicht so richtig gefallen. Die heckte doch bestimmt schon wieder irgendwas aus.

Kaspar beendete seine Mahlzeit erst, als wir praktisch von fertig waren. Aber wenigstens nahm er dann ohne zu murrend Alinas Reisetasche. Aric schnappte sich die andere und ich trug die Gummibärchen. Dann machten wir uns auf den Weg.

Die Tür zu meinem Zimmer stand offen und schon auf dem Korridor konnte ich Alina lachen hören. Keinen Schimmer worüber sie lachte und als ich mein Zimmer sah, war mir das auch völlig egal. Ich erkannte den Raum kaum wieder. Tayfun und Alina hatten die Matratze aus dem oberen Etagenbett geholt und in die schmale Lücke zwischen Tisch und Bett gestopft. Meine Sachen waren hinter die Tür verband worden und ein Berg von Kissen und Decken türmte sich nun auf jeder beliebigen Freifläche.

Tayfun hatte sich in meinem Bett ausgestreckt und grinste. Alina versuchte währenddessen das Bettzeug so zu verteilen, dass alles ein wenig gemütlicher wurde.

„Da seid ihr ja endlich. Ich wollte euch schon holen kommen.“

Mit einem skeptischen Blick stellte Kaspar Alinas Reisetasche auf meine Sachen, während Aric die Flaschen auf dem Tisch verteilte. „Du hast gar nichts von einer Pyjamaparty gesagt.“

Alina riss die Arme hoch. „Überraschung!“ Aber dann runzelte sie dir Stirn. „Wo sind die Gläser?“

Kaspar, Aric und ich warfen uns einen Blick zu. Am ende zuckte ich mit den Schultern. „In der Küche?“

Meine Cousine seufzte, als läge die Last der Welt auf ihren Schultern. „An alles muss man selber denken“, murmelte sie, erhob sich und verließ den Raum.

Währenddessen trat Kaspar sich die Schuhe von den Füßen und suchte sich einen Platz auf der Matratze auf dem Boden – wahrscheinlich weil die am weitesten von Tayfun entfernt war.

„Ich mag deine Cousine“, grinste Tayfun.

„Jeder mag Alina.“

„Ich nicht“, widersprach Kaspar sofort.

Dafür bekam er nicht nur von mir, sondern auch von Aric ein Schnauben. Das nahm ihm keiner von uns ab, dafür kannten wir ihn zu gut.

„Lasst das gefälligst“, grummelte er. „Ich ...“ Als ein gedämpftes Piepen ertönte, verstummte er und schaute sich nach der Ursache um.

„Das kommt von Zairas Kissen“ erklärte Tayfun hilfreich. „Das hat es schon ein paar Mal gemacht.“

Mein Handy. Cio. Sofort verhärtenden sich meine Gesichtsmuskeln. „Ignoriert es einfach“, empfahl ich ihnen, schnappte mir die Flasche mit dem teuren Whiskey vom Tisch, weil das die einzige war, die Aric bisher geöffnet hatte und setzte sie direkt an den Mund.

Die Flüssigkeit brannte mir dir Kehle hinab und schien mir meine inneren Organe verätzen zu wollen. Ich schaffte drei große Schlücke, bevor ich es nicht mehr aushielt und einen ernsthaften Hustenkrampf bekam, der mir die Tränen in die Augen trieb.

„Hey, immer schön langsam.“ Aric wollte mir die Flasche wegnehmen, aber ich drehte mich einfach aus seiner Reichweite und setzte mich dann ans Fußende meines Bettes auf die Kante. Als es dann erneut piepte, setzte ich die Falsche gleich noch einmal an, obwohl mir das Zeug absolut nicht schmeckte.

„Dir ist schon klar, dass man so einen teuren Whiskey genießt und nicht einfach in sich hineinschüttet?“, fragte Tayfun und tastete unter meinem Kissen umher, bis er mein Handy zu fassen bekam.

Einen Moment war ich versucht es ihm wegzunehmen, einfach weil es ihn nichts anging. Aber dann dachte ich nur: scheiß drauf! Hier war doch sowieso jedem klar, von wem die ankommenden Nachrichten stammten.

Aber Tayfun hatte gar nicht vor die Nachrichten zu lesen. Er schaltete das Gerät nur ab und schob es dann zurück auf seinen Platz. „Vielleicht solltest du dir eine neue Nummer besorgen.“

Aric schaute ihn an, als wollte er ihm etwas Schweres an den Kopf werfen. „Vielleicht solltest du dich da raushalten.“

Schon klar warum er so aggressiv reagierte. Cio war nicht nur sein bester, sondern auch sein ältester Freund. Und wahrscheinlich hegte er noch die leise Hoffnung, dass Cio und ich uns wieder zusammenraufen würden. Allerdings würden die Chancen dafür rapide sinken, wenn sich da so ein neunmalkluger Vampir einmischte.

Wie Aric sich doch täuschte. Das hier hatte kein Zukunft mehr, nicht nachdem was Cio getan hatte.

„Ja, das sollte ich wirklich machen“, stimmte ich Tayfun zu. „Sonst kann ich mein Handy vermutlich nie wieder einschalten.“ Mein Mundwinkel zuckte. „Ich werde mir gleich morgen eine neue Karte besorgen.“ Damit setzte ich die Flasche erneut an. Wieder brannte die Flüssigkeit mir die Speiseröhre hinunter, doch langsam gewöhnte ich mich daran. Fantastisch, jetzt trieb Cio mich auch noch in den Alkoholismus.

Aric warf Tayfun einen giftigen Blick zu, enthielt sich aber jedem weiteren Kommentar.

Im nächsten Moment schon schneite Alina mit sechs Gläsern in der Hand wieder herein. Sie befüllte sie, verteilte sie an alle und nahm mir meine Flasche weg. „Du bist kein Baby, also brauchst du auch nicht aus der Flasche trinken“, war ihre Erklärung. Nebenbei schimpfte sie noch mit Aric, dass er ihr nicht im Weg herumstehen sollte, schließlich war neben Kaspar reichlich Platz auf den er sich pflanzen konnte und setzte sich neben mich, wobei sie Tayfuns Beine ein wenig zur Seite schob. Dann hob sie ihre Glas zu einem Trinkspruch und grinste uns der Reihe nach an. „Das Leben ist an manchen Tagen nur im Vollrausch zu ertragen. Also, ex und Hopp, ab in den Kopp.“ Damit setzte sie das Glas an die Lippen und leerte ihr Glas mit einem Mal.

„Wow“, sagte Tayfun. „Hab selten ein Mädel mit so einem Zug am Leib gesehen.“

Kaspar nippte nur an seinem Glas. „Alina war schon immer etwas … Besonders.“

Der Spott in seiner Stimme brachte meine Cousine dazu ihm den Stinkefinger zu zeigen. „Kann ja nicht jeder so ein Mädchen wie du sein.“

Auch ich setzte mein Glas an. Dieses Mal war es jedoch kein Whiskey, es war Wein und er schmeckte mir sogar.

Bis auf Aric, wurden die Gläser bei allen ziemlich schnell leer, sodass Alina sich gezwungen sah wieder aufzuspringen und alle neu zu befüllen.

Tayfun beobachtete sie dabei sehr aufmerksam und ich fürchtete schon, dass er gleich wieder zum Casanova werden würde, doch dann überraschte er mich.

„Das ist dir jetzt vielleicht ein wenig aufdringlich, aber ich würde doch zu gerne wissen, warum du nur noch eine Hand hast.“

Ein kurzer Blick über die Schulter, ein zucken des Mundwinkels. „Es gibt nicht viele, die mich so direkt danach fragen würden.“

Sofort erklärte Tayfun mit einem Grinsen: „Ich bin eben auch etwas ganz Besonderes.“

Da konnte ich ihm nicht mal widersprechen. Fraglich war nur, ob das bei ihm positiv oder negativ zu bewerten war. Ich hielt mich da raus und nahm einfach nur mein Glas wieder entgegen. Schließlich wollten wir uns doch heute die Kante geben, oder? Und da ich noch klar denken konnte, hatte ich mit Sicherheit noch nicht genug getrunken.

Alina verteilte noch die restlichen Gläser und setzte sich dann auf die untere Matratze – wahrscheinlich einfach nur um Kaspar zu ärgern.

„Und?“, fragte Tayfun dann neugierig.

„Keine Ahnung“, erwiderte sie dann ehrlich.

Er zog eine Augenbraue leicht nach oben. „Du hast keine Ahnung wie dir deine Hand abhanden gekommen ist? Das musst du mir etwas genauer erklären.“

Aber erst trank sie noch einen kräftigen Schluck. „Ich war noch ein kleines Kind, als meine Eltern mich aus einem Kabuff für Sklaven befreiten. Damals hat meine Hand schon gefehlt. Die Ärzte sagten, dass sie glatt abgeschlagen worden sei, aber da war ich so klein gewesen, dass ich mich nicht mehr daran erinnern konnte.“

In Tayfuns Gesicht veränderte sich etwas. Es war nur eine Kleinigkeit und fiel gar nicht auf wenn man nicht genau hinsah. „Du warst eine Sklavin?“

„So weit ich weiß.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber ich kann mich kaum noch daran erinnern. Das alles ist schon so lange her und ich war damals noch so jung gewesen. Im Grunde weiß ich das meiste auch nur aus Erzählungen der anderen.“

Ein leicht wehmütiges Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Da hast du aber noch mal Glück gehabt.“

Fast wäre ich zu ihm rüber gerutscht und hätte nach seiner Hand gegriffen. Dann entschied ich mich aber dafür lieber schnell mein Glas zu leeren.

„Vermutlich. Aber … Moment“, unterbrach sie sich selber, als ihr Handy in der Tasche zu bimmeln begann. Ein Blick aufs Display ließ sie strahlen und es ohne zögern ans Ohr halten. Das war dann wohl Anouk. „Hey, wo bleibst du denn? Wir warten schon auf dich und ...“ Sie verstummte. Ihr Lächeln fiel ein wenig in sich zusammen, als sie den Worten meines Cousins lauschte. Dann nickte sie. Einmal, zweimal. „Ja, ist wohl besser“, sagte sie dann. „Wir können uns ja auch morgen sehen. Ich komme einfach vorbei, okay?“ Wieder lauschte sie und nickte, als würde ihr Gesprächspartner es sehen können. „In Ordnung, dann bis morgen.“

Enttäuscht ließ sie das Handy wieder in ihrer Tasche verschwinden. „Anouk kann nicht kommen. Er muss ...“ Sie warf mir einen kurzen Blick zu. „Er hat zu tun.“

Anouk hatte zu tun, Anouk, der zur Zeit bei Cio wohnte, der Mann der mich schon seit Tagen versuchte zu erreichen und der mir gesagt hatte, dass er wohl durchdrehen würde, wenn ich nicht mehr da wäre. Wenn man das alles zusammen nahm, konnte man sich durchaus vorstellen, womit er zu tun hatte. „Na dann hoffe ich, dass er genauso viel Spaß hat wie wir.“ Ich setzte das Glas wieder an die Lippen und leerte es auf ex.

In der nächsten Stunde gaben wir uns alle gut die Kannte. Zwei Flaschen waren schnell geleert und die Dritte bereits angefangen. Alina gab gerade eine Geschichte über sich und einem Typen namens Ren-Shi zum Besten, den sie vor ein paar Jahren für eine kurze Zeit gedatet hatte und der sich schon nach kurzer Zeit als Vollpfosten entpuppt hatte.

Mein Hirn war beschwipst und meine Haut kribbelte überall angenehm und wohlig. Irgendwer hatte die Playlist auf seinem Handy gestartet und so summte ich leise die Melodie mit – ich kannte den Song nicht, aber er gefiel mir. Dabei nippte ich immer wieder an meinem Glas und ließ meinen Blick von einem zum anderen wandern.

Kaspar hatte sich ein Kissen in den Rücken gestopfte und lehnte nun an meinem Schrank. Seine Hand war mit Arics verflochten, der ihm immer wieder behutsam über die Knöchel strich. So süß sah man die beiden selten zusammen.

„… und dann kam der Kellner und brachte die Rechnung. Ren-Shi begann also in seiner Jacke nach dem Portemonnaie zu suchen, fand es aber nicht. Dann erklärt er mir mit einem blöden Grinsen, dass er es wohl mal wieder vergessen hat und ob ich das nicht übernehmen könnte.“ Alina klang richtig empört. Sie kniete auf der unteren Matratze und hatte die Arme auf mein Bett gestützt.

Tayfun zuckte nur die Schulter. „Ihr Frauen wollt doch immer Gleichberechtigung. Dann könnt ihr auch mal die Rechnung bezahlen.“

„Darum geht es gar nicht. Es geht darum, dass er mich eingeladen hat – zum zweiten Mal – und genau wie beim ersten Mal wieder seine Brieftasche vergessen hatte.“

„Sowas kommt vor“, nahm der Vampir den Unbekannten in Schutz. Obwohl, vielleicht war er ihm gar nicht so unbekannt, schließlich war Ren-Shi Wächter am Hof. Da war es gut möglich, dass die beiden sich schon mal über den Weg gelaufen waren.

„Ja, das habe ich auch gedacht“, stimmte Alina ihm zu. „Solche Leute gibt es eben. Also zahlte ich und ging noch mal schnell aufs Klo.“

Eine Bewegung im Augenwinkel brachte mich dazu den Kopf zu drehen. Kaspar hatte sich zu Aric gebeugt und flüsterte ihn etwas ins Ohr. Aric schaute daraufhin erst überrascht, begann dann aber sofort sehr breit zu Grinsen und küsste Kaspar.

„Und als ich nach dem Pinkeln wieder rauskomme, was muss ich da sehen?“

„Weiß nicht“, gab Tayfun zu und trank den Rest aus seinem Glas in einem Zug leer.

„Ich sah Ren-Shi an der Bar, wo man ihm gerade einen Drink zuschob. Natürlich dachte ich zuerst, hallo? Du hast kein Geld dabei, also warum zum Teufel bestellst du noch was?“

„Er hatte ja dich.“

„Ja, dieser Gedanke kam mir auch. Aber dann zog der Mistkerl aus seiner Tasche sein Portemonnaie und bezahlte den Drink. Ist das zu fassen?!“

Tayfun schüttelte nur grinsend den Kopf. „Der Schlauste war der wohl nicht gerade.“

„Da sagst du ein wahres Wort. Und als ich dann zu ihm ging, seinen Drink nahm und ihm ihn ins Gesicht geschüttet habe, da hat er genauso blöd geguckt wie er war.“ Sie nahm einen Schluck von ihrem Glas. „Aber er war wenigstens so schlau sich von da an von mir fernzuhalten. Idiot.“ Als sie hinter sich ein schmatzendes Geräusch hörte, drehte sie den Kopf herum und grinste breit. „Na aber hallo!“

Dem konnte ich nur zustimmen. Was die beiden in der Ecke gerade abzogen, war zwar nicht unbedingt eine wilde Knutscherei, aber ganz jugendfrei war es dann auch nicht mehr. Besonders nicht als Aric damit anfing seine Hand an Kaspars Bein hochwanden zu lassen – sehr hoch.

„Hey!“, machte Alina und stieß Aric mit dem Fuß an. „Ihr seid hier nicht alleine.“

„Lass sie doch“, mischte sich nun auch Tayfun ein. „Die beiden scheinen doch Spaß zu haben.“

„Aber ich habe dabei keinen Spaß, also sollen sie aufhören.“ Sie stieß Aric ein weiteres Mal an.

Der unterbrach nun seinen Kuss und funkelte Alina böse an. „Was?“

„Ihr solltet mal einen Gang zurückschalten, bevor hier die ersten Hüllen fallen.“

Das Knurren das dann erklang, kam nicht von Aric, sondern von Kaspar. „Such dir endlich einen Freund“, grummelte er und kam dann ein wenig wackelig auf die Beine. Der Versuch Aric gleich mit hochzuziehen scheiterte an mangelndem Gleichgewicht. Aber letztendlich schafften sie es beide aufzustehen.

Als Kaspar und Aric dann mit einem „Wartet nicht auf uns“ aus dem Raum stolperten, richtete Alina sich ein wenig auf.

„Ich weiß genau dass ihr jetzt Poppen geht!“, rief sie ihnen durch die zufallende Tür hinterher. Und ließ dann schwermütig ihren Kopf auf ihre Arme sinken. „Das will ich auch.“

„Poppen?“, fragte Tayfun sofort interessiert.

„Nein, du Vogel.“ Sie schnaubte, als sei das ein völlig abwegiger Gedanke. „Ich will das, weswegen sich sich jetzt ungezügelt ihren Trieben hingeben. Schöne Gefühle.“

Oh ja, ich verstand genau was sie meinte. Zweisamkeit. Zusammenhalt. Vertrauen.

„Wenn du das willst, bin ich durchaus bereit dir behilflich zu sein.“

Alina schaute auf, schüttelte dann aber beinahe bedauernd den Kopf. „Nein danke. Du bist zwar ganz niedlich, aber du bist ein Vampir. Außerdem versuche ich gerade herauszufinden, ob das zwischen mir und meinem Cousin etwas werden kann, ohne das meine ganze Familie durch den daraus entstehenden Schock an einem kollektiven Herzversagen zeitnah ins Gras beißt.“

Verständnislos schaute Tayfun sie eine ganze Weile an, wandte sich dann aber mir zu. „Hä?“

„Frag nicht“, sagte ich sofort. „Ist kompliziert, aber bei weitem nicht so schräg wie es sich anhört.“

Der Zweifel stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Da werde ich wohl einfach auf den Wort vertrauen müssen.“ Er wandte sich wieder Alina zu. „Und auch wenn mir deine Gedankengänge sehr gut gefallen, so hast du mich doch missverstanden. Ich rede vom beißen, nicht vom vögeln.“

„Beißen?“ Sie horchte auf. „Das habe ich schon lange nicht mehr gemacht.“

„Hast du denn Lust drauf?“

„Ähm“, machte ich. Irgendwie kam ich mir langsam etwas überflüssig vor. Genaugenommen kam ich mir das schon die ganze Zeit, aber jetzt im Besonderen.

Tayfun grinste mich an. „Keine Sorge, du kommst auch noch dran, wenn du möchtest.“

„Sowas macht Zaira nicht“, erklärte Alina und kroch ins Bett. „Aber ich schon.“

„So so, sowas macht sie also nicht.“ Sein Mundwinkel zuckte. „Gut zu wissen.“

Ich ignorierte die beiden und die Tatsache, dass ich das durchaus schon getan hatte – und das nicht mal vor allzu langer Zeit – und sorgte erstmal für Nachschub. Ich brauchte mir nun wirklich nicht anschauen wie meine Cousine sich neben Tayfun kniete und ihm ihr Handgelenk vor die Nase hielt. Nicht wenn ich daran dachte, dass er das auch schon bei mir getan hatte, während Cio mich schützend im Arm gehalten hatte.

Verdammt, warum nur musste ich ständig an diesen Idioten denken? Der sollte endlich aus meinem Gedanken verschwinden. War das denn so schwer zu verstehen?

Kurzentschlossen ließ ich mein Glas einfach auf dem Tisch stehen und griff wieder nach der dickbäuchigen Flasche. Ich spürte zwar schon ziemlich genau, dass ich eigentlich nichts mehr trinken sollte, aber das war mir egal. Wie hatte Alina gesagt? Wir waren hier um uns die Kante zu geben. Und wenn ich kotzen gehen musste, dann war das eben so.

Als Alina hinter mir kicherte und erklärte, dass das kitzelte, setzte ich die Flasche für einen großen Schluck an die Lippen.

„Wow, das sind ja monstermäßige Fänge.“

Da Tayfun gerade dabei war die Haut an ihrem Handgelenk zu betäuben, konnte er sie nur mit den Augen anlächeln.

„Keine Sorge“, sagte ich, ohne weiter darüber nachzudenken. „Er kann damit umgehen.“

„Na das hoffe ich doch mal, sonst … hey“, kam es dann etwas überrascht und ein kleinen wenig lauernd. „Woher weißt du das denn?“

Kurz war ich versucht mich herauszureden, aber warum eigentlich? Ich hatte schließlich nichts Vorbenotendes getan. Es konnte aber auch sein, das mich der Alkohol ein wenig mutiger machte, als ich mich fühlte. „Er hat mich gebissen. Vor zwei Wochen schon.“

„Und das erzählst du mir erst jetzt?!“ Sie klang richtig empört.

„Keine große Sache“, war alles was ich sagte, bevor ich mich mit dem Hintern an den Tisch lehne und die Flasche erneut ansetzte.

Ich sah wie sie den Mund öffnete, aber in diesem Moment fragte Tayfun: „Bereit?“

Kurz sah es so aus, als wollte sie ihn noch um einen Moment Geduld bitten, aber etwas in meinem Blick hinderte sie daran weiter auf dem Thema herumzureiten. Darum sagte sie nur „Ja“, versprach mir aber mit den Augen, dass wir uns noch einmal darüber unterhalten würden.

Ein Glück für mich, dass Tayfun in dem Moment zubiss.

„Uh“, machte sie und ich konnte dabei zusehen, wie ihr Blick leicht glasig wurde. „Wow.“ Sie sank ein wenig nach vorne und lehnte sich mit der Stirn an Tayfuns Schulter. „Ich hatte ganz vergessen wie das ist“, lächelte sie in freudiger Glücksseligkeit.

Tja, ich hatte es nicht vergessen.

Um die aufkommenden Erinnerungen abzuwehren, schloss ich für einen Moment die Augen, nur um sie in der nächsten Sekunde sofort wieder aufzureißen. Blut. Verdammt, ich roch ihr Blut und meine Vampirsinne reagierten darauf.

Nein, nein, nein, nein, nein. Das durfte doch verdammt noch mal nicht wahr sein! Warum musste der Bluthunger ausgerechnet jetzt kommen? Ich wollte all meine Probleme doch nur für einen Abend vergessen. Doch ich spürte, wie in meinem Magen durch den Blutgeruch ein leichtes Ziehen ausgelöst wurde. Meine Fänge begannen zu pochen und wurden etwas länger.

Aber ich wollte jetzt nicht. Ich konnte nicht. Cio war doch nicht hier. Oh Gott, ich hatte seit Jahren immer nur von Cio getrunken, aber jetzt war er nicht mehr da. Das bedeutete ich musste wieder auf die Jagd gehen oder einen willigen Wirt finden.

Der Geruch wurde intensiver, als Alina ein Geräusch des Entzückens von sich gab.

Atme durch den Mund!

Es half nicht. Ich konnte es noch immer riechen. Versuchsweise drückte ich mir die Hand über Nase und Mund. Leider spürte ich dabei nur wie meine Fänge noch weiter ausfuhren.

Beinahe schon panisch sah ich zu Tayfun und Alina. Meine Cousine hatte die Augen geschlossen und schien um sich herum kaum noch etwas wahrzunehmen. Tayfuns Blick war jedoch auf mich gerichtet. Er bemerkte meine schnellen Atemzüge und wie ich versuchte den Geruch auszusperren und runzelte leicht die Stirn.

Ein neuerliches Ziehen attackierte mich. Es gab kein zurück mehr, es war zu spät, ich musste Blut zu mir nehmen.

Als mir das klar wurde, hätte ich fast angefangen zu weinen.

„Nein“, seufzte Alina, als Tayfun die Zähne aus ihrer Haut zog. „Noch nicht aufhören.“

„Du bist ja wie deine Cousine“, witzelte Tayfun und half Alina dabei sich auf der Matratze auszustrecken. Dabei ließ er mich nicht aus den Augen. Wahrscheinlich befürchtete er, dass ich gleich ausflippen, oder das Weite suchen würde. Aber selbst wenn ich hätte weggehen wollen, hätte ich nicht gekonnt. Nicht nur der Blutgeruch hielt mich hier. Ich wusste auch nicht wohin ich hätte gehen können. Das könnte mir dem Alkohol zusammenhängen, oder auch mit der Tatsache, dass ich mich von niemand anderem als Cio ernähren wollte. Doch nun ließ mir meine verdammte Existenz mal wieder keine Wahl. Ich konnte nicht mal zu meinen Eltern, da sie beide durch Abwesenheit glänzten.

Vielleicht war es doch langsam an der Zeit in Panik zu geraten.

„Wo willst du hin?“, nuschelte Alina als Tayfun sich vom Bett erhob.

„Bin gleich wieder da“, versprach er ihr und trat dann wachsam auf mich zu.

„Nein!“ Ich riss die Arme hoch, damit er mir nicht zu nahe kam. „Bleib weg von mir.“ Mir war noch sehr bewusst, was das letzte Mal geschehen war, als ich hunger hatte und er in der Nähe gewesen war. Leider drang der Geruch des Blutes durch die Abwesenheit meiner Hand nur noch intensiver in meine Nase. Meine Fänge fuhren zu ihrer vollen Länge aus und begannen damit ihr betäubendes Sekret abzusondern.

„Du brauchst es“, sagte Tayfun sehr sanft. Ein Blick auf mich hatte wohl gereicht, um ihm klar zu machen, was mit mir los war. Natürlich, er war selber ein Vampir, da hatte man schon ein wenig Ahnung von der Materie.

„Ich kann nicht.“ Meine Augen begannen zu brennen, während mein Magen langsam ungeduldig wurde. „Ich … ich brauche Cio.“

Tayfun zögerte, bevor er vorsichtig fragte: „Möchtest du dass ich ihn anrufe und herhole?“

Im ersten Augenblick wollte ich allein aus Reflex ja sagen, aber dann schob sich sofort das Bild von Cio und Pauline vor mein inneres Auge. „Nein.“ Ich wollte Cio nicht sehen, ich wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben, egal wie sehr die Reste meines Herzens auch nach ihm schrien. „Nein, ich kann nicht,“ flüsterte ich. „Ich kann das nicht.“

„Du wirst es aber tun müssen. Wenn nicht von ihm, dann von jemand anderem.“ Seine Stimme war sanft, aber auch belehrend.

„Wie?“, fragte ich leise. Langsam sackte ich auf die Knie. „Wie soll ich das machen?“

Da Tayfun nicht so dumm war zu glauben, ich sprach von der technischen Seite, ging er neben mir in die Hocke und hielt mir sein Handgelenk hin. Als er das namenlose Entsetzen in meinen Augen sah, lächelte er leicht. „Es wäre nicht das erste Mal, dass du das machst, falls du dich erinnerst. Und dieses Mal bekommst du sogar vorher meine Erlaubnis.“

Natürlich konnte ich mich erinnern. Sehr lebhaft sogar. Ich wusste noch sehr genau wie ich ihn gebissen hatte und auch was geschehen war, nachdem Cio ihn Fortgeschickt hatte.

„Es wird nicht besser, Zaira. Du musst was dagegen tun, und du weißt es auch.“

Aber nicht so, nicht jetzt und nicht hier. Verdammt, warum hatten die beiden nur mit ihren Beißspielchen anfangen müssen? Natürlich war mir klar, dass es früher oder später sowieso geschehen wäre, aber im Augenblick wäre mir später lieber gewesen. „Ich will nicht.“

Tayfun wartete nur wortlos ab. Seinen Arm aber hielt er weiterhin in meiner Reichweite.

Mir war klar was er damit bezweckte. Irgendwann würde ich nachgeben – freiwillig oder auch nicht – und er wollte dann da sein, um mir zu helfen.

Wieder durchfuhr meinen Magen dieses Ziehen und dann … dann gab ich einfach auf. Es hatte sowieso keinen Sinn sich zu wehren, ich musste es tun und Tayfun bot sich an.

Als ich nach seinem Handgelenk griff, rollte die erste Träne über meine Wange. Ich kniff die Augen zusammen, als ich mich vorbeugte und meine Zähne vorsichtig über seinen Puls kratzen ließ.

„Ist schon gut“, murmelte er beruhigend. „Es ist in Ordnung.“

Ich hörte ihn kaum, dafür war das Rauschen in meinen Ohren mit einem Mal viel zu laut. Und dennoch bekam ich mit, wie er sich halb hinter mich schob, um mir das beißen zu erleichtern. Dabei kam er mir so nahe, dass ich seine Körperwärme spüren konnte. Doch es fühlte sich falsch an. Der Geruch stimmte nicht, die Art wie er mit mir sprach und ihn so nahe bei mir zu fühlen. Er war nicht Cio. Und Cio würde es auch nie wieder sein.

Stumm bahnten sich weitere Tränen ihren Weg. Meine Hände klammerten sich ein wenig fester um sein Handgelenk, als ich es hätte tun müssen. Und dann biss ich zu.

Tayfun zuckte dabei nicht zusammen oder gab eine andere Reaktion von sich, als der erste köstliche Schwall seines Blutes in meinen Mund floss. Er hob nur die Hand und strich mir damit vorsichtig über das Haar, während ich sein Blut in mich sog und dabei lautlos Tränen der Verzweiflung vergoss.

 

°°°°°

Ein Geist aus dunkler Nacht

 

Es war weder das leise Schnarchen von Aric, das mich weckte, noch Tayfuns Arm, der aus irgendeinem Grund halb über meinem Gesicht lag. Es war Alinas Gewicht, das mir langsam aber sicher die Luftzufuhr abschnürte. Warum bitte lag sie auf mir? Gestern Abend hatte sie es sich doch zwischen mir und Tayfun bequem gemacht.

Oh Mann, ich war noch so müde, dass ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Und meine Zunge fühlte sich irgendwie pelzig an. Lag wohl an dem Genus von zu viel Alkohol.

Mit noch halb geschlossenen Augen und einiger Anstrengung, schob ich meine Cousine von mir runter und rutschte bis ganz an die Wand. Das Bett quietschte leise und Alina maulte verschlafen in ihren nicht vorhandenen Bart. Durch die Bewegung im Bett und Alina, die sich einfach auf die andere Seite rollte, begann nun auch Tayfun sich zu regen. Konnte aber auch daran liegen, dass meine Cousine ihn bei ihrem Manöver halb aus dem Bett schob.

Er öffnete verschlafen die Augen, sah das Dilemma das Platzmangels und ließ seinen Kopf wieder zurück ins Kissen fallen.

„Lieg still“, murmelte Alina und begann damit es sich bequem zu machen, indem sie sich nun halb auf ihn drauf legte.

„Dann mach dich nicht so breit“, nuschelte er zurück und versuchte dann seine müden Muskeln davon zu überzeugen, Alina wieder in meine Richtung zu schieben. Er drängelte so lange, bis sein Hintern nicht mehr aus dem Bett hing. Leider lag Alina so wieder fast auf mir drauf.

Okay, so würde das sicher nichts werden. Keine Ahnung wie wir es gestern Abend – oder besser gesagt schon heute Morgen – geschafft hatten, uns alle drei in dieses schmale Bett zu quetschen aber jetzt wurde es mir eindeutig zu eng. Darum blieb mir gar nichts anderes übrig, als mich verschlafen aufzurichten und müde die Augen zu reiben, um einen Ausweg aus dieser Situation zu finden. Eigentlich konnte ich da nur eines tun: Das Bett verlassen. Da ich aber nicht über die beiden rüberklettern wollte, rutschte ich hinunter ans Fußende, schob ihre Beine ein wenig zur Seite und setze mich an die Bettkante.

Die Bewegung machte Alina darauf aufmerksam, dass ich wach war – so mehr oder weniger. Sie drehte sich halb auf den Rücken und blinzelte mich verschlafen an. „Was machst du?“

„Aufstehen, bevor ich auf die Idee komme euch beide aus dem Bett zu schubsen.“

Mit einem genervten Seufzen, machte sich nun auch noch Kaspar bemerkbar. „Könnt ihr mal die Klappe halten? Ich will noch schlafen.“

Alinas Blick wurde wacher. In boshafter Vorfreude begann sie zu grinsen. Dann richtete auch sie sich auf und lehnte sich über Tayfun hinüber, um nach Kaspar auf der unteren Matratze zu schauen. „Uh, wer ist denn da schon wach?“ Die Frage war wohl eher rhetorischer Natur, denn sie wartete gar nicht auf eine Antwort. Ohne das kleinste Zögern, kletterte sie über Tayfun hinweg, der sofort schmerzhaft das Gesicht verzog – sie hatte ihn mit dem Knie am Bein erwischt – und ließ sich unten auf die Matratze fallen.

„Was …“, begann Kaspar und versuchte noch sich wegzudrehen, als sie auch schon die Arme um ihn schlang und an sich drückte. „Nein, was soll der Müll? Lass das, geh weg!“

„Du bekommst jetzt einen guten Morgen Kuss.“ Sie spitzte übertrieben die Lippen und machte exorbitante Schmatzgeräusche, während er versuchte sich mit Armen und Beinen aus ihrer Umklammerung zu befreien – sie war ein Lykaner und selbst mit nur einer Hand war sie stärker als er, einfache Mathematik.

Durch die Unruhen neben sich, wurde nur auch Aric wach. Er öffnete nur ein Auge und auch nur so weit wie er musste, um die Konstellation neben sich zu erfassen. „Was machst du da mit Kaspar?“, nuschelte er so verschlafen, dass man kaum ein Wort verstand.

Alina strahlte ihn an. „Ich wünsche ihm einen guten morgen.“

„Er mag das nicht.“

„Na gerade deswegen macht es doch so viel Spaß.“ Sie ließ ein Stück weit von Kaspar ab, um sich zu Aric zu beugen. Doch bevor sie nun ihm einen Schmatzer aufdrücken konnte, griff er sich einfach eines der hundert Kissen und zog es sich über den Kopf.

„Hey!“, schimpfte sie.

Kaspar nutzte seine Gelegenheit und schubste sie von sich runter.

„Huch“, machte sie und landete halb auf meinem Bruder drauf. Der schlang nun seinerseits die Arme um sie, drehte sich mit ihr zusammen auf die andere Seite und hielt sie fest.

„Hey, lass mich los.“

„Nein, du ärgerst nur wieder Kaspar.“

Tayfun lachte leise. Aber nur bis sein Blick auf mich fiel. Da wurde das Lächeln in seinem Gesicht gleich ein wenig sanfter. „Alles klar?“

„Klar“, sagte ich sofort und zuckte mit den Schultern. „Warum auch nicht?“ Das Leben war doch einfach wunderbar.

Dass ich keine Antwort bekam, überraschte mich gar nicht. Der gestrige Abend war noch – um es mal vorsichtig auszudrücken – heikel gewesen.

Nachdem Tayfun sie gebissen hatte, war Alina mehr oder weniger weggetreten gewesen. Sie hatte die ganze nur Zeit glücklich im Bett gelegen, vergnügt vor sich hingesummt und hin und wieder einen Schluck aus ihrem Glas genommen. Ich war mir gar nicht sicher ob sie überhaupt gepeilt hatte, was da zwischen Tayfun und mir gewesen war.

Na gut, im Grunde war ja nicht viel gewesen. Ich hatte sein Blut getrunken. Nicht nur weil mein Bluthunger mich dazu gezwungen hatte, auch weil er es angeboten hatte. Und die ganze Zeit über waren mir meine Tränen über die Wangen gelaufen. Erst als ich so weit war um von ihm abzulassen, waren sie versiegt. Konnte aber auch an dem Schnaps liegen, den ich danach sofort in mich reingeschüttet hatte, um zu vergessen was ich gerade getan hatte. Keine Ahnung warum es mir so schwer fiel, die Blutaufnahme als das anzusehen, was es war: Nahrung. Vielleicht weil ich es nicht so oft brauchte. Oder auch weil ich mein Leben lang fast immer nur von Leuten getrunken hatte, die mir etwas bedeuteten. Und auch wenn Tayfun im Grunde seines Herzens ein feiner Kerl war, so war er doch ein Fremder und … ach zum Teufel, was versuchte ich mir hier eigentlich einzureden. Es war mir einfach schwergefallen, weil er nicht Cio war.

Als Aric und Kaspar irgendwann wieder aufgetaucht waren, hatte ich mit einer Flasche unten auf dem Bett gesessen und versucht meinen Kummer zu ertränken. Naja, zumindest bis Aric mir die Flasche weggenommen und gedroht hatte, mir den Hintern zu versohlen, sollte ich sie noch mal anrühren. Er war der festen Überzeugung gewesen, dass ich für einen Abend genug hatte.

Also hatte ich mich neben Alina ins Bett verzogen und alle großen Brüder im Stummen verflucht, während er noch mit Kaspar und Tayfun stundenlang dagesessen und gequatscht hatte. Keine Ahnung wann genau ich eingeschlafen war, aber ich hatte sehr wohl noch mitbekommen, wie die Jungs sich schlafen gelegt hatten.

Der Schrei von Alina riss mich aus meinen Gedanken. Aric begrub sie gerade unter sich, um ihr dann ganz nach Wolfsmanier in den Nacken zu beißen. Sie versuchte sich lachend zu wehren, aber er war nicht nur schwerer als sie, sondern auch stärker und hatte nicht vor die Rangelei so schnell zu beenden. Die beiden wurden so wild, dass Kaspar sich grummelnd erhob und sich müde neben mich auf die Bettkante setzte. Da er dabei genau wie Aric kein T-Shirt trug, waren die vielen kleinen Brandnarben von den ausgedrückten Zigaretten auf seinem Rücken deutlich zu sehen. Eine Erinnerung an seine grausame Kindheit.

„Wenn wir sowas das nächste mal machen, wird sie nicht eingeladen“, erklärte er.

Ich sagte ihm besser nicht, dass sie das alles organisiert hatte. „Wie willst du sie davon abhalten?“

„Auftragskiller.“ Er sagte das mit so viel Ernsthaftigkeit, dass Tayfun losprustete.

Sogar meine Mundwinkel zuckten nach oben. „Den würde sie vermutlich auch noch mit einladen.“

Alina strampelte und buckelte. Dabei schien sie Aric ausersehen irgendwo zu erwischen, wo es richtig wehtat. Er gab auf jeden Fall ein Stöhnen von sich und kippte dann übertrieben gespielt zur Seite. Sofort beugte Alina sich über ihn, um zu schauen, ob alles in Ordnung war. Leider begriff sie zu spät, dass es nur eine Finte war und so hatte Aric sie im nächsten Moment schon wieder am Wickel.

Kaspar rieb sich müde den Schlaf aus den Augen. „Und, was hast du jetzt vor?“

Das kleine Lächeln auf meinen Lippen verblasste. Diese Frage hatte ich bisher gemieden, aber wahrscheinlich konnte ich mich hier nicht ewig verstecken. Früher oder später würde ich dieses Zimmer wieder verlassen müssen. Ich musste mein Leben weiterleben – auch ohne Cio.

„Okay, Schluss jetzt“, sagte Alina, als Aric versuchte sie erneut zu Boden zu ziehen. „Ich muss pinkeln.“

Das war ihm offensichtlich egal, denn er schlag seinen Arm um ihre Taille und zog sie wieder zurück auf die Matratze.

„Das wäre doch mal eine Idee für den Anfang“, murmelte ich.

Kaspar zog eine Augenbraue nach oben. „Pinkeln gehen?“

„Pinkeln, duschen, frühstücken und dann … naja, ich will noch meine Kündigung abgeben.“ Denn eines war sicher, diesen Stall würde ich nie wieder betreten.

Angespanntes Schweigen antwortete mir. Zumindest bist Tayfun verkündete. „Ich bin dabei. Also mit dem Duschen und dem Frühstück. Obwohl, wenn du magst, können wir auch zusammen pinkeln gehen.“

Das würdigte ich nicht mal mit einer Antwort. „Ich denke so machen wir es“, sagte ich zu Kaspar. „Du kannst mit Aric ja im Gemeinschaftsraum warten, dann frühstücken wir noch zusammen, bevor ich Gorge suchen gehe.“

Er nickte nur.

„Wie gesagt, ich bin dabei.“ Tayfun wälzte sich aus dem Bett, bis er auf den Beinen stand. Dabei wich er den beiden Chaoten auf dem Boden aus.

„Feierabend“, verkündete Alina und versetzte Aric einen Stoß, der ihn mit dem Rücken auf die Matratze beförderte. Dann sprang sie eilig auf die Beine und nahm Reißaus. Sie rannte um Tayfun herum und benutzte ihn als Schutzschild.

Na dann sollte ich den Tag wohl mal beginnen lassen.

Der Raum war nicht sehr groß, weswegen ich zweimal den Verrücken in meinem Zimmer ausweichen musste, während ich meine Sachen für die Dusche zusammensuchte. Es war fast schon ein Kampf mit Sack und Pack zur Tür zu kommen und ich musste zugeben, dass mich das Chaos zum Lächeln brachte. Leider hielt es nicht lange an, denn als ich mein Zimmertür öffnete, entdeckte ich die einzige Person auf der ganzen Welt, die ich im Moment absolut nicht sehen wollte.

Cio.

Mit den Händen in den Hosentaschen und seiner Lieblingsmütze auf dem Kopf – die Mütze die ich ihm vor zwei Jahren geschenkt hatte, nachdem seine alte damit begonnen hatte sich in Wohlgefallen aufzulösen – lehnte er an der Gegenüberliegenden Wand. Seine Gefühle hielt er hinter der neutralen Maske verborgen, die er immer im Dienst aufsetzte. Doch der Blick seiner umschalteten Augen war direkt auf mich gerichtet.

Ich stand da und wusste nicht was ich tun sollte. Der Schmerz der mich bei seinem Anblick überrollte war so mächtig, dass er mich fast in die Knie gezwungen hätte. Dass er auf mich wartete, war offensichtlich, doch das wollte ich nicht. Ich hatte ihm doch gesagt, dass er sich von mir fernhalten sollte. Und jetzt … verdammt, was sollte ich tun?

Plötzlich verhärteten sich die Züge in seinem Gesicht. Im nächsten Moment spürte ich wie jemand hinter mich trat und ein kurzer Blick über die Schulter reichte, um zu wissen, dass es Tayfun war, der sich der sich durchs vom Schlaf zerzauste Haar strich.

Er machte den Mund auf um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder, als er Cio im Korridor bemerkte.

Ohne dass ich erst darauf hingewiesen werden musste, wusste ich sofort, was sich in Cios Gedanken abspielte. Tayfun war mit mir in meinem Zimmer gewesen – die ganze Nacht. Ich wollte mich weigern Schuldgefühle zu empfinden, schließlich hatte ich nichts Falsches oder Vorbetendes getan, aber dann dachte ich daran wie ich Tayfuns Blut getrunken hatte.

Nein!, fauchte ich mich in Gedanken selber an. Ich würde jetzt kein schlechtes Gewissen haben. Es ging ihn nichts mehr an, was und mit wem ich es tat. Und wenn ich einem ganzen Sportteam an der Halsschlagader nuckeln würde, wäre das auch meine Sache. Kein Grund, dem Bedürfnis sich vor ihm zu rechtfertigen, nachzugeben. Oder überhaupt erst dieses Bedürfnis zu haben.

„Hey, warum geht es denn hier nicht weiter?“, schimpfte Alina und drängelte sich zwischen mir und Tayfun durch. „Ich muss immer noch pinkeln und wenn ihr hier keine Sauerei haben wollt, dann ...“ Sie verstummte abrupt, als sie Cios Gestalt ansichtig wurde. Einen Moment fixierte sie ihn, dann trat sie einen Schritt vor und holte aus. Als ihre Hand seine Wange traf, gab es ein Klatschen, das in meinen Ohren überlaut nachklang. Ich riss fassungslos die Augen auf. Alina hatte Cio eine heftige Ohrfeige verpasst.

„Du Drecksack!“, beschimpfte sie ihn, während er beinahe schon ungläubig nach der roten Stelle an seiner Wange fasste. Alina war sonst so Handzahm. „Mach dass du Land gewinnst, bevor ich meine Zähne in denen wertlosen Arsch versenke!“

Wenn ich behaupten würde, dass ich geschockt war, käme das meinem Zustand schon sehr nahe. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass Alina irgendjemand gegenüber schon mal ernsthaft handgreiflich geworden war. So war sie einfach nicht.

Als sich dann auch noch Kaspar aus dem Zimmer drängte, trat ich eilig einen Schritt zur Seite. Er schaute Cio einmal abschätzend an, griff dann nach meiner Hand und zog mich mit sich den Korridor hinab. Dabei schaffte er es noch irgendwie Cio im Vorbeigehen mit der Schulter anzurempeln.

„Schäfchen“, hörte ich ihn leise hinter mir sagen.

Ich wusste ich sollte es nicht tun, aber ich konnte gar nicht anders, als noch einen kurzen Blick über die Schulter zu werfen. Doch als ich den verletzten Ausdruck in seinem Gesicht sah, kehrte wieder das Bild aus dem Stall zurück. Er und Pauline, eng umschlungen.

In meinem Gesicht verschwand jegliches Gefühl.

„Halt dich von ihr fern!“, fauchte Alina ihn noch einmal an und folgte uns dann.

Tayfun hob im Vorbeigehen grüßend die Hand und machte sich dann auch auf dem Weg. Nur Aric, der als letzter aus dem Zimmer kam, blieb bei ihm stehen. Aric war nicht nur sein Freund, er war auch die meiste Zeit seines Lebens sein Alpha gewesen und sah es wohl als seine Pflicht an, dem traurigen Scheißhaufen zu helfen. Oder mit ihm zu reden. Oder was auch immer er vorhatte.

Es interessierte mich nicht, es interessierte mich absolut nicht. Cio und ich waren geschiedene Leute und er konnte machen was er wollte. Genau wie Aric. Und es bedeutete gar nichts, dass mein Herz sich schon wieder schmerzhaft zusammenzog und ich am liebsten zurückgerannt wäre. Dabei war ich mir nicht mal sicher, warum ich das wollte. Vielleicht um es Alina gleichzutun und ihm für das was er getan hatte eine zu kleben, aber irgendwie bezweifelte ich das. Ich war einfach niemand, der so etwas tat.

Die nächste halbe Stunde verbrachte ich in einem Wechselbad der Gefühle. Wut, Trauer und Verzweiflung wechselten sich mit Desinteresse und Gedanken über meine einsame Zukunft ab. In dem einen Moment wünschte ich ihn zum Teufel und im nächsten fragte ich mich, wie er mir das nur hatte antun können. Das war schon keine Gefühlsachterbahn mehr, das war schon eine heftige Loopingbahn, auf der man richtig durchgeschüttelt wurde, bis einem kotzübel wurde und man sich nur noch übergeben wollte.

Als ich dann schließlich frisch geduscht und sauber angezogen in den Gemeinschaftsraum kam, konnte ich von dem ganzen Scheiß in meinem Kopf kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Am liebsten wäre ich wieder zurück in mein Bett gekrochen, wo ich die flüssigen Reste unserer kleinen Party auf sehr effiziente weise vernichtet hätte. Aber ich wollte nicht zeigen wie sehr mich sein Anblick mitgenommen hatte. Ich wollte mir selber beweisen, dass das alles nichts mehr bedeutete und ich es schaffen konnte ohne ihn weiter zu machen. Also blieb ich wo ich war und machte gute Mine zum bösen Spiel.

Alina, Kaspar und Tayfun waren bereits hier. Meine Cousine stand am Herd und drohte dem Vampir mit der Bratpfanne, bevor sie sie auf die Kochflamme stellte und ein paar Eier darin aufschlug. Kaspar steckte mit dem Kopf im großen Kühlschrank. Die Lebensmittel daran wurden vom Hof gestellt und waren für alle in diesem Gebäude. Naja okay, eigentlich waren sie für die Themis gedacht, aber wer achtete schon so genau darauf? Von Aric keine Spur. Und von Cio auch nicht. Zum Glück. Ich wollte ihn einfach nicht sehen. Und wenn ich ehrlich war, wollte ich auch nichts essen.

Da ich gestern Abend Blut getrunken hatte, hatte ich sogar eine gute Ausrede, die ich auch sofort ausnutzte, als ich nur vier statt fünf Teller auf den Tisch stellte.

„Ich weiß, dass du da nur Mist von dir gibst“, teilte Alina mir mit. Mit einem „Pass mal bitte auf das Rührei auf“ drückte sie Tayfun den Kochlöffel in die Hand und trat an meine Seite. Dann hakte sie ihren Arm bei mir unter und legte den Kopf an meine Schulter, sodass es mir nicht länger möglich war das Besteck zu verteilen. „Weißt du, wenn der du endlich wieder in Freiheit entlassen wirst, dann fahren wir in den Urlaub. Nur du und ich. Was hältst du davon?“

Ein Urlaub allein mit Alina? Der Gedanke ließ mich lächeln.

„Das nehme ich mal als Ja auf.“ Sie ließ von mir ab und setzte sich auf den nächstgelegenen Stuhl. „Wir könnten nach Kanada fahren.“

Ich legte das letzte Messer auf den Tisch und setzte mich neben sie. „Was sollen wir denn in Kanada?“

„Was schon? Wir könnten durch die Wildnis streifen und in Iglus schlafen.“

Ah ja.

„Oder wir fliegen nach Florida, um uns am Strand zu räkeln und die salzige Luft zu genießen.“

Wie sie das so sagte, konnte ich es mir schon bildlich vorstellen. „Was hast du gegen Europa?“

„Nichts.“ Sie legte die Unterarme auf den Tisch ab, während Kaspar eine Wagenladung Essen zum Tisch brachte und es dort verteilte. „Aber wenn du unbedingt hier bleiben willst, könnten wir auch nach Spanien oder in die Türkei fliegen. Irgendwo hin wo es schön warm ist.“

Ich erklärte ihr wohl besser nicht, dass Kanada alles andere als warm war.

„Ich bin dabei“, verkündete Tayfun vom Herd.

„Du bist nicht eingeladen“, gab Alina ihm unmissverständlich zu verstehen. „Und pass auf, dass das Rührei nicht anbrennt.“

Er salutierte und stellte gleich darauf den Herd ab.

Ich lächelte leicht. „Das hört sich wirklich toll an.“ War nur fraglich, wie mein Vater auf diese Idee reagierte. Dass er nicht hier war und mich mit Argusaugen bewachte, lag allein daran, dass seine Fähigkeiten im Moment woanders gebraucht wurden – was auch immer das genau hieß.

„Gut, dann ist das also abgemacht.“ Alina griff quer über den Tisch, um Kaspar das Brot aus der Hand zu klauen, in das er gerade beißen wollte. Er schaute sie böse an, resignierte dann aber einfach und schmierte sich ein neues.

„Hier kommen die Eier“, verkündete Tayfun und stellte die Pfanne mittig auf den Tisch. Dann ließ er sich am Kopfende des Tisches auf den freien Stuhl sinken.

„Ich hoffe du hast sie nicht anbrennen lassen.“ Alina griff nach der Keller und häufte sich beinahe die Hälfte des Inhalts auf ihren Teller. Jup, meine Cousine stand auf Eier zum Frühstück.

„Wow“, sagte Tayfun. „Schafft so ein zartes Persönchen wie du überhaupt so viel?“

„Ich schaffe sogar die ganze Pfanne, aber ich will ja nicht gierig erscheinen und ihr wollt sicher auch noch etwas.“

„Ich nicht“, sagte Kaspar sofort. „Aber Aric mag Eier.“

„Das wissen wir.“ Alina grinste über die Zweideutigkeit ihrer Worte.

Kaspar schüttelte nur den Kopf. „Manchmal bist du so ein Kind.“

„Das nehme ich als Kompliment.“ Sie schob sich eine gehäufte Gabel mit Ei in den Mund und seufzte genussvoll.

Ich erhob mich von dem Stuhl. „Ich hol mir einen Saft, wollt ihr auch einen?“

Alle nickten.

War ja klar. Warum nur hatte ich gefragt? Das hatte wohl etwas mit Höflichkeit und Erziehung zu tun. Also ging ich in die Küchenecke, suchte die Schränke und das Kühlgerät ab, bis ich auf eine Flasche mit Multivitamin stieß, die von niemanden der Anwohner mit Namen gekennzeichnet war und begann damit fünf Gläser zu füllen.

Ich stellte gerade das zweite wieder ab und griff nach dem dritten, als ich vom Korridor Schritte und die Stimme von Aric vernahm.

„... darüber nachdenken“, sagte er, als er in den Gemeinschaftsraum trat. An seiner Seite war Cio. Die Schultern hochgezogen, die Mundwinkel nach unten. Egal was er hatte von Aric zu hören bekommen, es gefiel ihm nicht.

Bei seinem Anblick spannte ich mich ganz automatisch an, obwohl ich nicht genau wusste warum. Um die Flucht zu ergreifen? Oder ihn zu schlagen?

„Was willst du denn noch hier?“, fragte Alina auch sofort mit einem sehr feindseligen Ton in der Stimme. „Verschwinde, du bist hier nicht willkommen.“

Cio blieb stehen und schaute sie an. Die Wange wo Alina ihn erwischt hatte, war noch immer leuchtend rot.

„Lass ihn“, befahl Aric und kam zum Tisch. Er strich Kaspar unschuldig über die Schulter, als könnte er sich so versichern, dass es ihm gut, griff sich dann die Pfanne und ließ sich neben Kaspar auf den Stuhl fallen. Dabei ignorierte er Alinas finsteren Blick.

Ich kehrte ihnen allen den Rücken und drückte die Lippen zu einen dünnen Strich zusammen. Meine Hände zitterten, als ich versuchte das nächste Glas zu befüllen, aber ich wollte mich von ihm nicht in die Flucht schlagen lassen. Ich war immerhin zuerst hier gewesen. Und das hier waren zum großteils meine Freunde und meine Familie. Er war der Eindringling, den niemand hier haben wollte. Naja, vielleicht bis auf Aric. Und Tayfun schätzte ich doch ziemlich neutral ein.

Verdammt.

Als Cio seinen Blick auf mich richtete, spürte ich das, als würde mir jemand einen Schürhaken in den Rücken stoßen. Meine Hände begannen so heftig zu zittern, dass ich hastig das Glas und die Flasche abstellen musste, um nichts zu verschütten. Ich kniff die Augen zusammen, drückte die Handflächen flach auf die Anrichte und atmete tief ein.

Beachte ihn nicht. Er ist unbedeutend. Er ist nicht mehr wichtig.

Ich konnte hören, wie Alina leise eine Gemeinheit murmelte. Aber viel lauter war das Geräusch der Schritte, als Cio sich wieder in Bewegung setzte. Ich wusste wohin er wollte, ich brauchte gar nicht hinzusehen um zu bemerken, wie er sich mir näherte.

Direkt unter meiner Haut kratzte der Wolf. Ich spürte das Kribbeln und wusste, dass mein Fell kurz davor war durchzubrechen. „Geh weg“, sagte ich sehr leise, als er direkt hinter mir stehen blieb.

Sein Zögern lag spürbar in der Luft, genau wie seine Entschlossenheit. „Nein.“

Verdammt!

„Wir müssen reden, Schäfchen. Könntest du … können wir uns draußen kurz unterhalten?“

Ich murmelte so leise, dass er mich nicht so nennen sollte, dass er es unmöglich verstehen konnte.

„Was?“, fragte er auch sofort und trat einen Schritt näher. „Du musst schon ein wenig lauter sprechen.“

Irgendwas an den Worten machte mich so sauer, dass ich wutentbrannt herumwirbelte und ihn anfauchte: „Du sollst mich nicht so nennen!“ Das ich dabei eines der vollen Gläser ausversehen umstieß und der Saft die Anrichte überschwemmte, war mir in diesem Moment scheißegal. „Ich bin nicht dein Schäfchen! Ich will das nie wieder hören! Ich will dich nicht sehen! Ich will nicht mal die gleiche Luft wie du atmen! Das einzige was ich will, ist, dass du aus meinem Leben verschwindest, damit ich dich nie wiedersehen muss!“ Meine Augen sprühten vor Zorn. „Das ist der einzige Weg, damit ich dich und das, was du getan hast, vergessen kann.“

So wie er aussah, hatten ihn meine letzten Worte mehr getroffen, als mein Geschrei. Vielleicht war es aber auch diese dumme kleine Träne, die sich aus meinem Augenwinkel löse.

„Zaira, bitte.“

„Lass mich in Ruhe.“ Ich drehte mich weg, nur um zu merken, dass die Anwesenden nicht einmal mehr so taten, als würden sie frühstücken. „Ich hasse dich“, sagte ich noch leise und beeilte mich dann aus dem Raum zu kommen. Dabei ignorierte ich die Tatsache, dass er mich nun doch in die Flucht geschlagen hatte, aber ich hatte es dort keinen Moment länger ausgehalten. Seine Nähe, sein Geruch. Es tat einfach zu weh und ich wollte nicht vor ihm in Tränen ausbrechen. Das hatte er nicht verdient, nachdem was er getan hatte, hatte er mich nicht verdient. Warum also konnte er es nicht endlich einfach gut sein lassen?

Als hinter mir hastige Schritte aufkamen, befürchtete ich schon, dass er mir folgte, doch es war nur Alina, die fröhlich an meine Seite eilte. „Und?“, fragte sie dann ganz direkt, als wäre gar nichts geschehen. „Was haben wir jetzt vor?“

„Du musst nicht meinen Aufpasser spielen“, sagte ich leise. „Keine Angst, ich werde schon nichts Dummes tun.“ Nicht wegen ihm, nie wieder.

Sie schaute mich an, als wäre sie nie auf diesen Gedanken gekommen. „Das hat damit gar nichts zu tun. Ich muss nur irgendwie die Zeit totschlagen, bis ich mich mit Anouk treffe. Und du bist ein wesentlich angenehmere Gesellschaft, als diese vertrottelten Kerle.“ Sie sagte das so liebevoll, dass sie es damit wirklich schaffte mein Gemüt ein wenig zu besänftigen. „Also, was haben wir jetzt vor?“

„Ich hole nur kurz meine Kündigung, dann will ich zu Menagerie.“ Auf diese Art konnte ich das Gebäude verlassen, in dem Cio sich befand und mich auch gleichzeitig von einem Ort der Erinnerungen verabschieden. Zwei Fliegen mit einer Klatsche sozusagen. Leider fühlte sich das irgendwie bitter an. Trotzdem suchten wir beide kurz mein Zimmer auf – ich musste hier dringend aufräumen – und verließen dann zusammen das Gebäude.

Sechs Wächter standen mittlerweile vor dem Eingang und waren ein wenig überrascht mich zu sehen. Sie wussten was im Stall vorgefallen war und hatten wohl nicht damit gerechnet, dass ich so schnell wieder aus der Versenkung auftauchen würde. Doch keiner widersprach, als ich mich mit Alina an meiner Seite auf dem Weg zur Menagerie machte. Ich hatte schließlich immer noch die Erlaubnis der Königin.

Auf unserem Weg konnte meine liebe Cousine es sich nicht verkneifen, ein wenig mit Wächter Mirko zu flirten. Er sagte ihr aber sehr schnell, dass er sich zwar geschmeichelt fühlt, aber bereits vergeben war.

Sie winkte nur ab. „Ich hatte ja auch nicht vor sie zu Heiraten. Ich habe selber einen … hm.“ Sie verstummte. Da wusste wohl jemand nicht, wie er die Beziehung beschreiben sollte.

„Anouk?“, schlug ich vor.

„Ja genau, ich habe einen Anouk. Irgendwie.“ Sie grinste und hakte sich bei mir unter. „Und heute werde ich ihn endlich wieder sehen.“

Da blieb nur zu hoffen, dass es bei ihr besser laufen würde, als bei mir.

Die Menagerie kam nach meinem Geschmack viel zu schnell in Sichtweite. Und mit jedem Schritt, den ich auf den Stall zumachte, schienen meine Beine schwerer zu werden. Aber ich musste dort rein. Es war nicht unwahrscheinlich, dass sich der Stallmeister Gorge Cheval darin aufhielt. Und er war es zu dem ich musste. Doch ausnahmsweise schien mir das Schicksal einmal wohlgesonnen zu sein, denn kurz bevor ich das offene Tor zu Stall erreichte, führte Gisel meinen Liebling Adventure an der Leine heraus. Der außergewöhnlich große Lipizzaner trottete artig hinter ihr her.

Als Gisel mich und meinen Anhang bemerkte, blieb sie stehen und wartete auf mich. „Schön das du auch mal zur Arbeit erscheinst.“

Bei so einer Begrüßung kam man sich doch gleich richtig willkommen vor. „Tut mir leid dass ich dich enttäuschen muss“, sagte ich und trat an ihr vorbei zu dem Pferd. Adventure drehte mir sofort den Kopf entgegen und begann mit seinem Heuatem an meinen Haaren zu knabbern. „Ich bin hier weil ich Gorge suche, um ihn meine Kündigung aushändigen.“

Gisel schaute mich einen Moment ruhig an und seufzte dann. „Das habe ich befürchtet. Nachdem was war … ich kann es verstehen, auch wenn es mir nicht gefällt.“

Ich streckte die Hände nach Adventure aus und begann damit ihm am Hals zu streichel. „Das klingt ja fast so, als würdest du mich vermissen, wenn ich weg bin.“ Schwer vorstellbar, wo sie doch immer so grob zu mir war und keine Gelegenheit ausgelassen hatte, um mich herumzuscheuchen.

„Du gehst gut mit den Tieren um und weißt was du tust, auch ohne dass ich es dir tausend mal sagen muss. Du bist zuverlässig, wenn nicht gerade das Chaos um dich herum tobt.“ Sie wiegte den Kopf leicht hin und her. „Solche Arbeitskräfte brauchen wir hier und es wird sicher nicht ganz einfach werden dich zu ersetzen.“

Diese kleine Lobeshymne auf mich überraschte mich dann doch.

„Außerdem wird jetzt wieder eine Flut von Bewerbern auf mich zukommen.“ Sie verzog leicht angewidert das Gesicht. „Es wäre also wesentlich einfacher für mich, wenn du einfach bleiben würdest.“

Das hatte jetzt fast so geklungen, als würde sich mich in Zukunft vermissen. Ich war gerührt. „Leider ist das keine Option für mich.“

„Ich verstehe schon.“ Sie klopfte mir auf die Schulter. „Dann mach es gut und pass auf dich auf.“

„Werde ich.“ Ich drückte Adventure noch einen Kuss auf die Nüstern und trat dann zurück, um nicht unter die Hufe zu geraten. Doch gerade als sie sich abwandte, fiel mir noch was ein. „Warte. Weißt du wo ich Gorge finden kann?“

„Ich glaube der treibt sich in der Reitstube herum.“

„Okay, dann schaue ich da mal nach. Danke.“

Sie hob zum Abschied nur stumm die Hand und kümmerte sich dann wieder um das Pferd.

Ich schaute ihr noch einen kurzen Augenblick hinterher, bevor ich mich dankbar dort nicht hinein zu müssen, vom Stall abwandte und die Richtung zur Reitstube einschlug.

Alina kam sofort wieder an meine Seite. „Wow, die hat ja Zähne auf den Haaren.“

Etwas verdutzt schaute ich sie an. „Du meinst wohl Haare auf den Zähnen.“

„Ja, das sagte ich doch.“ Sie winkte ab. „Egal, ist sowieso irgendwie eklig. Haare auf den Zähnen.“ Die Vorstellung brachte sie dazu sich zu schütteln.

Ja, okay, ich hatte absolut eine Ahnung, was das jetzt sollte, also erwiderte ich nicht darauf, sondern marschierte mit meinem Anhang im Nacken hinauf zur Reitstube, in der ich so oft meine Pausen verbracht hatte. Nicht selten war Cio auch da gewesen, einfach um Zeit mit mir zu verbringen.

Ich verbot es mir daran zu denken. Es war wirklich besser diesen Ort so schnell wie möglich aus meinem Leben zu streichen, einfach damit ich all das vergessen konnte.

Die Reitstube war ein kleiner Bau mit einer alten Holzveranda, der halb versteckt zwischen den Bäumen stand. Die Tür stand offen und schon bevor ich hindurch trat, hörte ich das alte Radio leise vor sich hindudeln.

Ein weiteres Mal war das Glück auf meiner Seite. Gorge war wirklich da. Leise summend saß er vornübergebeugt über einem Stapel Papierkram am Tisch. Doch als er hörte wie ich den Raum betrat, schaute er auf. „Zaira“, sagte er überrascht.

Ich hob zum Gruß die Hand. „Hey. Hast du einen Augenblick Zeit für mich? Ich müsste mal mit dir reden.“

„Natürlich.“ Er zeigte auf dem ihm gegenüberliegenden Stuhl. „Setz dich doch.“

„Danke.“ Auch wenn es nicht lange dauern würde, kam ich der Aufforderung nach und ließ mich ihm gegenüber nieder. Alina war zwar nicht eingeladen worden, schloss sich mir aber trotzdem an. Meine Wächter dagegen blieben im diskreten Abstand an der Tür zurück und behielten die Lage im Auge – nicht das im Augenblick eine allzu große Gefahr drohte.

„Das ist meine Cousine“, stellte ich Alina vor.

Sie lächelte. „Hi.“

„Angenehm.“ Er schob die Papiere vor sich ein wenig zur Seite und verschränkte dann die Hände auf dem Tisch. „So, dann sag mir mal was los ist.“

„Ich bin hier um meine Kündigung abzugeben.“ Der bereits vorbereitete Brief in meiner Hand landete vor ihm auf dem Tisch. „Mit sofortiger Wirkung.“

Erstaunt und ein wenig verwirrt, öffnete Ronald den Brief und lass die wenigen Zeilen leise für sich durch. Dann faltete er ihn wieder zusammen, legte ihn zurück auf den Tisch und seine Hände oben drauf. „Darf ich nach dem Grund fragen? Das kommt für mich doch ein wenig überraschend.“

Weil mein Ex der Meinung war in einer der Stallboxen rumzufummeln und ich es einfach nicht ertrage, dorthin zurückzukehren. „Es kommen mehrere Gründe zusammen. Aber hauptsächlich brauche ich Abstand von allem.“

Verstehend nickte er. „Ja, ich habe es schon gehört. Dieser Mörder ist hinter dir her. Das ist natürlich sehr belastend.“

Ich nickte einfach. Wenn er von der Sache mit Cio nichts wusste, würde ich die Letzte sein, die ihn mit der Nase darauf stieß. „Wenn das vorbei ist, will ich das alles einfach nur hinter mir lassen.“

Wieder ein Nicken. „Ich verstehe. Schade.“ Er schob den Brief auf den Stapel seiner Papiere. „Du wirst uns hier fehlen. Ich habe deine Arbeit immer sehr geschätzt.“

„Danke.“ Das meinte ich ehrlich. Es war nett zu hören, dass man wertgeschätzt wurde.

„Gibt es nichts womit ich dich zum Bleiben überreden kann?“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf „Tut mir leid.“

„Ja, dann ist es halt so. Aber ich musste es eben versuchen.“ Er lächelte, sodass seine Fänge ein Stück aus dem Mund schauten. „Falls du es dir aber noch einmal anders überlegst, oder zu einem späteren Zeitpunkt wieder hier anfangen möchtest, dann sag mir Bescheid. Du wirst hier immer willkommen sein.“

„Das ist wirklich nett.“ Ich erhob mich von meinem Stuhl, da das Gespräch für mich damit beendet war.

Alina und Gorge folgten meinem Beispiel.

„Dann wünsche ich dir für die Zukunft alles gute.“ Er reichte mir die Hand.

Ja, das wünschte ich mir auch „Danke. Und gleichfalls.“ Irgendwie überkam mich nun doch ein Gefühl von Schwermut. Zwar war ich nur durch Zufall hier gelandet, aber in den letzten Jahren hatte ich hier immer gerne gearbeitet. Dass es jetzt so endete, war, um es mal deutlich zu sagen, scheiße. Aber ich brachte es einfach nicht über mich noch einmal einen Fuß in diesen Stall zu setzen. Ich wollte nicht mehr daran erinnert werden, was ich darin gesehen hatte.

Als ich Ronalds Hand losließ, schaute er über meine Schulter hinweg zur Tür. „Ah, Pauline, gut das du hier bist, ich wollte sowieso noch mit dir sprechen.“

Bei dem Namen spannte sich mein ganzer Körper an. Plötzlich hatte ich auf den Ohren ein Rauschen. Mein Herzschlag beschleunigte sich und meine Haut begann zu kribbeln. Ich konnte es gerade noch so verhindern ein Knurren von mir zu geben, als ich mich langsam zur Tür umdrehte.

Und da stand sie wirklich, direkt zwischen meinen sechs Wächtern. Schüchtern und schuldbewusst schaute sie von Gorge zu mir und hob dann zögernd die Hand. „Hey“, sagte sie mir einem versucht fröhlichen Lächeln. „Gisel hat mir gesagt, dass ich dich hier finden kann.“

Nun kroch das Knurren doch aus meiner Kehle. Tief, gefährlich, warnend. Ich spürte kaum wie Alina vorsichtshalber nach meinem Arm griff. Auch wenn sie Pauline nicht kannte, so hatte sie den Namen doch breites bei mehr als einer Gelegenheit gehört und wusste genau wer hier zwischen meinen Wächtern stand.

„Ähm …“, machte sie etwas unsicher. „Also … ich wollte mich bei dir entschuldigen.“

In meinem Kopf brach ein Wirbelsturm los. Natürlich war sie in diesem Spiel nicht die alleinige Schuldige, aber sie war auch kein unschuldiges Opfer. Sie hatte gewusst wer Cio war, sie hatte gewusst, dass er mir die Welt bedeutet und ich mit ihm den Rest meines Lebens verbringen wollte. Und doch hatte sie einfach darauf geschissen, als sich ihr die Gelegenheit bot. Weil es ihr egal war, dass es da eine andere Frau gab. Weil sie egoistisch war und nur an sich selber gedacht hatte. Weil sie das wollte, was ich hatte.

„Was das passiert ist, tut mir leid“, fügte sie noch hinzu. „Das meine ich ganz ehrlich. Und ich wollte, dass du das weißt.“

„Du entschuldigst dich?“, fragte ich sehr leise. In meinen Ohren begann die Melodie des Mondes mit einer Intensität zu dröhnen, die mir bis in die Knochen vibrierte. Konnte aber auch gut möglich sein, dass ich einfach nur vor Wut bebte. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie einen solchen Zorn auf jemanden empfunden. „Du glaubst wirklich, dass ich das entschuldigen würde? Dass dann aller wieder in Ordnung ist und einfach weitermachen können? Du glaubst wohl auch noch an Einhörner.“

Alinas Griff wurde fester. „Zaira“, sagte sie warnend und schüttelte den Kopf.

Ich ignorierte sie. „Du wusstest genau wer er ist und was du da tust.“

„Naja“, sie lächelte etwas unsicher. „Ich meine, kannst du es mir denn wirklich übel nehmen, dass ich es versucht habe? So bist du schließlich auch mit ihm zusammen gekommen.“

Das schlug dem Fass echt den Boden aus. Das war Berechnung, eiskalt und ohne jeden Zweifel. Und noch dazu war es nicht wahr. „Du Miststück!“, fauchte ich und stürzte mich dann einfach auf sie. Alina schaffte es nicht mich festzuhalten. Zwar versuchte sie es und wurde dadurch noch ein wenig mitgerissen, aber dann kam meine Verwandlung über mich und ich entkam ihr. Ich wechselte die Gestalt noch im Sprung. Im nächsten Moment riss ich Pauline bereits mit mir zu Boden und riss mit den Zähnen an ihrem Hemd. Ich war so schnell, dass sie gar nicht mehr die Gelegenheit bekam auszuweichen.

Sie schrie erschrocken auf und gab ein schmerzhaftes Geräusch von sich, als ihr Kopf auf dem Boden knallte. Und dann begann auch sie sich zu verwandeln.

„Zaira!“, rief Alina. „Hör auf!“

Die Wächter gingen eilig zur Seite, als wir zu nahe kamen. Solche Raufereien gab es unter Lykanern Haufenweise. Sie würden sich nicht einmischen, nicht solange keiner von uns ernsthaft in Lebensgefahr schwebte.

Ich verlor meine Schuhe und schaffte es durch die Bewegung die Hose loszuwerden und mein Hemd war weit genug, dass es nicht riss. Zumindest bis Paulines Zähne gewachsen waren und sie noch halb in der Verwandlung damit begann nach mir zu beißen. Und dann wurde es richtig böse.

Ich war so zornig, dass ich mich nicht mehr zurück hielt. Zwar gab es da einen kleinen rationalen Teil in mir, der mir sehr deutlich vermittelte, dass hierdurch nichts besser werden würde und es mir Cio nicht zurückbrachte, aber der wurde ohne Probleme von der brennenden Wut in mir übertönt.

Pauline versuchte mich von sich herunter zu stoßen, während ich mir gebleckten Zähnen an ihrem Fell riss. Kleiderfetzen flogen herum. Mein Hemd riss. Wir schenkten uns wirklich gar nichts.

„Zaira!“, rief Alina wieder und tänzelte um mich herum. Wahrscheinlich wartete sie einen günstigen Moment ab, um uns auseinander zu bringen.

Du glaubst ich würde das entschuldigen?!“, brüllte ich sie an und schnappte nach ihrem Kopf. Meine Ohren waren angelegt, mein Pelz gesträubt und die Rute steil aufgerichtet. Am liebsten hätte ich sie in der Luft zerrissen. „Du bist eine verdammt Hure!“

Lass mich los, du Verrückte!“ Sie biss mir ins Bein und zerrte daran, bis ich den Halt verlor und zur Seite rutschte. Leider hielt ich ihren Krangenpelz dabei fest. Meine Zähne rutschten ab und rissen ihr die Haut auf. Jedoch nur oberflächlich, da ihr Fell sie vor meinen Bissen schützte. Leider.

„Zaira, hör auf, oder ich mische mich auch noch ein!“, schimpfte Alina, wurde aber rigoros ignoriert.

Nicht mal wenn du zu kreuze kriechen würdest, würde ich dir das verzeihen!“

In dem Moment sah Alina ihre Gelegenheit. Während ich Pauline am Ohr riss, bis ich Blut schmeckte, war mein Nacken völlig ungeschützt. Sie packte mich einfach am am Krangenfell und riss mich mit aller Kraft nach hinten. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und stürzte mit mir zusammen zu Boden.

Pauline jaulte auf, als ich ihr dabei das Ohr zerfetzte, rappelte sich aber eilig auf die Beine und brachte sich knurrend und geduckt hinter den Wächtern in Sicherheit.

Währenddessen versuchte ich mich aus Alinas Griff zu lösen, aber der war eisern und unnachgiebig. Bis jetzt hatte ich nicht mal im Ansatz geahnt, was für eine Kraft in diesem zarten Persönchen steckte. „Lass mich los!“, knurrte ich und strampelte mit den Beinen. Meine Krallen kratzen über den Holzfußboden. „Die mach ich fertig!“

„Träum weiter, du beruhigst dich jetzt erstmal.“

Du bist doch nicht mehr ganz dicht.“ Die starken Worte waren nur gespielt. So wie Pauline die Rute zwischen die Beine geklemmt hatte, fehlte eigentlich nur noch, dass sie sich auf den Rücken drehte und mir den Bauch zeigte. „Kranker Misto. Dreckiges Blut.

Alina kniff die Augen leicht zusammen. „Wenn du von mir nicht auch noch eine Abreibung haben möchtest, solltest du langsam mal den Mund halten.“

Sie beachtete meine Cousine nicht. „Früher oder später hätte er dich sowieso verlassen.“

Ich gab es auf mich gegen Alina zu wehren – hatte sowieso keinen Zweck. Stattdessen fixierte ich meine Gegnerin mit einer Intensität, unter der sie sich noch weiter duckte. Seltsamerweise aber nicht nur sie, auch die anderen Lykaner im Raum schienen ein wenig in sich zusammenzuschrumpfen. Aber ich hatte nur Augen für dieses kleine Stück Scheiße. „Er hat mich nicht verlassen“, erklärte ich mit einem Grollen in der Stimme. „Und nur damit du es weißt, du warst nichts weiter als ein Mittel zum Zweck, dass er benutzen wollte. Das ist der einzige Grund, warum er mehr als einen kurzen Blick für dich übrig hatte. Er brauchte eine Schlampe und du warst nur zu gerne bereit dich zur Verfügung zu stellen.“

Betroffen senkte die den Kopf ein wenig. „Du bist wirklich krank.“

„Du willst wirklich noch eine Abreibung haben“, bemerkte Alina und versuchte auf die Beine zu kommen, ohne mich dabei loszulassen. Es gelang ihr. Zwar hatte sie einige Mühe damit, aber letztendlich stand sie wieder auf ihren Beinen. „Wir werden jetzt gehen“, sagte sie unnachgiebig und zerrte mich Richtung Tür.

Einen Moment war ich versucht mich zu wehren, aber dann richtete ich den Blick noch einmal auf Pauline. Wie sie da kauerte, mit den zerfetzten Kleidungsresten am Leib, sah sie einfach nur erbärmlich aus. Ich konnte ihre Angst riechen und zum ersten Mal in meinem Leben war es mir völlig egal. Sie sollte vor mir Angst haben. Sie sollte wissen was geschehen konnte, wenn sie die Finger nicht von anderer Frauen Männer lassen konnte. Sie hatte verdient, was gerade passiert war.

„Beweg dich jetzt“, schimpfte Alina und zerrte wieder an mir.

Ich ließ es zu. Ich schaute nicht zurück, oder erklärte mich Gorge, der das Ganze wachsam im Auge behalten hatte, ich verließ einfach das Gebäude und kehrte damit diesem Teil meines Lebens für immer den Rücken.

Alina ließ mich erst los, als wir von der Veranda herunter waren. Besser gesagt, sie versetzte mir einen Schubs, der mich fast die drei Stufen hinunter beförderte.

Kurz war ich versucht ihr die Zähne zu zeigen, beließ es dann aber bei einem leisen knurren und trotte los. Noch immer bebte ich am ganzen Körper vor Wut. Dass sie es gewagt hatte mir unter die Augen zu treten und dann auch noch um Verzeihung zu bitten, nach dem was sie getan hatte, war wirklich der Gipfel. Was hatte sie den bitte geglaubt was passieren würde? Dass ich ihr alles verzieh und wir dann gemeinsam ein fröhliches Liedchen trällern würden?

„Ich hoffe dir geht es nun ein wenig besser“, sagte Alina ein wenig spitz. Sie lief direkt hinter mir, jederzeit breit sich noch einmal auf mich zu stürzen, sollte ich zurück in die Reitstube wollen. Auch meine Wächter waren nicht weit entfernt.

Sie hat es verdient!“, fauchte ich sie an und stolperte fast über die Reste meines Hemdes. Wütend und ungeduldig begann ich mit den Zähnen daran zu zerren, um es loszuwerden. „Und du wärst an meiner Stelle genauso ausgeflippt, also hör auf mir Vorhaltungen zu machen!“

Da konnte sie mir nicht widersprechen. Wir wussten beide, dass es die Wahrheit war.

„Warte, ich helfe dir.“ Sie hockte sich neben mich und begann damit mich von dem Stoff zu befreien. Erst die zwei verbleibenden Knöpfe, dann das linke Vorderbein. Dabei sagte sie mit weniger Strenge in der Stimme: „Ich mache mir nur Sorgen um dich. Sowas machst du normalerweise nicht. Du verabscheust Gewalt. Und dann erst das Odeur. Ich habe gar nicht gewusst, dass du das kannst.“

Verwirrt drehte ich ihr den Kopf zu. „Hä?“, machte ich nicht besonders gescheit.

Sie zog mir das Hemd über den Rücken weg, sodass ich aus dem anderen Ärmel raustreten konnte. „Sag mir jetzt nicht, dass du das nicht gemerkt hast.“

Ich habe ehrlich keine Ahnung von was du da sprichst.“

Sie musterte mich einen Moment, als vermutete sie hinten meinen Worten eine Lüge. Doch dann schien sie sich wieder darauf zu besinnen, wer genau ich war. „Am Ende, nachdem ich dich von ihr runtergezogen habe, hast du plötzlich Odeur ausgedünstet.“

Was?“ Das konnte nicht sein. Sowas hatte ich noch nie getan, weder willentlich, noch ausversehen. Klar, ich stammte von einem Alpha ab und meine Geschwister waren dazu in der Lage, aber doch nicht ich. Obwohl, ich wusste dass Aric es konnte, aber Kiara? Ich hatte es bei ihr jedenfalls noch nie erlebt.

„Es war bei weitem nicht so stark wie bei Cayenne, oder Aric.“ Mitsamt Hemd in der Hand, richtete sie sich wieder auf. „Aber es war da – wenn auch nur kurz.“

Zweifelnd verzog ich die Augenbrauen.

„Frag doch deine Anhängsel, wenn du mir nicht glaubst.“ Sie deutete auf die Wächter, die nicht mal so taten, als würden sie nicht zuhören. Zwei von ihnen nickten sogar, als wollten sie Alinas Worte bestätigen.

„Du hast das wirklich nicht bemerkt?“, wollte sie wissen.

Ich konnte nur den Kopf schütteln. Ich und Odeur? Irgendwie passte das absolut nicht zusammen. Andererseits war ich in meinem ganzen Leben auch noch nie so zornig gewesen. Vielleicht hing es ja damit zusammen? Das wäre eine Erklärung, doch der Gedanke an sich blieb einfach skurril. Ich war kein Alpha.

„Ist ja auch nicht so wichtig“, wiegelte Alina ab und drehte das Hemd in den Händen. „Du wirst dir wohl ein neues besorgen müssen.“

Wäre nicht das erste.“ Ich trottete wieder los.

„Und eine neue Brille wirst du auch brauchen.“

Ich blieb wieder stehen. „Warum?“

„Weil deine nur noch Schrott ist.“ Wie um es zu beweisen, zog sie sie aus ihrer Tasche – wann hatte sie die denn aufgesammelt? Eines der Gläser war gebrochen und der Rahmen völlig verbogen. „Irgendeiner von euch muss da drauf gefallen sein.“

Auch egal. Jetzt war es sowieso nicht mehr zu ändern.

„Hast du noch eine Ersatzbrille?“

Nicht hier.“ Die lag sicher verwahrt Zuhause in meinem Schreibtisch. „Ich ruf Mama nachher an, damit sie sie mir bringt.“

„Tu das.“

Als ich in der Nähe plötzlich ein Knurren hörte, spannte ich mich in Erwartung eines heimtückischen Angriffs von hinten an. Doch es kam nicht aus Richtung Reitstube, sondern von den Zwingeranlagen, die meistens leer standen. Genaugenommen wurden sie nur von den Angestellten genutzt, wenn sie ihre Vierbeinigen Freunde während der Arbeitszeit irgendwo unterbringen wollten.

Aber dieses Knurren, ich kannte es. Und dann wurde daraus ein Jaulen.

Ich blieb stehen, richtete die Ohren auf und lauschte, um herauszufinden woher genau es kam und warum es mir so bekannt vorkam.

„Was ist?“ Auch Alina spitzte die Ohren.

Das Jaulen wiederholte sich. Ein Kläfflaut, winseln, knurren.

Moment mal“, sagte ich und setzte mich in Bewegung. „Das kenne ich.“

„Was heißt, du kennst das?“, fragte Alina und folgte mir eilig.

Ich antwortete nicht, folgte nur den Geräuschen, die mit jedem Schritt lauter wurden.

Die alte Zwingeranlage mit den acht Boxen lag ein wenig versteckt hinter ein paar Bäumen und war nur durch einen ausgetretenen Trampelpfad zu erreichen. Darum roch ich ihn bereits, bevor ich ihn sah. Der Wilde war auf dem Gelände. Verdammt, was hatte er hier zu suchen?

Meine Schritte wurden schneller, bis ich schon fast rannte. Ein wilder Wolf auf dem Schlossgelände? Das konnte doch nur schiefgehen.

Ich brachte die letzten Bäume hinter mich. Dann sah ich ihn.

Drei Wächter umringten ihn. Einer von ihnen hielt eine lange Fangstange für Hunde in den Händen. Am anderen Ende saß der Wilde mit dem Kopf in der Schlinge, knurrte, jaulte und wehrte sich nach Leibeskräften gegen die Übermacht, die versuchte ihn in einen der Zwinger zu stopfen.

Was macht ihr da?“, fragte ich und eilte wieder los. „Lasst ihn in ruhe!“

Einer der Wächter schaute auf und verstellte mir den Weg, als er mich näherkommen sah. „Bleib weg“, forderte er mich auf und breitete die Arme aus.

Als wenn mich das aufhalten könnte. Ich tauchte einfach unter seinem Armen hindurch, blieb dann aber doch stehen, weil ich nicht genau wusste, was ich tun sollte. „Hey, lasst ihn los.“

„Verdammt noch mal.“ Eine Hand griff nach meinem Nacken, doch bevor sie mich zu fassen bekam, sprang ich schnell zur Seite. „Was soll, das? Verschwinde, das ist doch kein Streichelzoo.“

Das weiß ich sehr wohl“, blaffte ich ihn an. „Aber ich kenne ihn. Er wohnt in den Wäldern.“

„Der hier?“ Der Wächter sah auf, als er meinen Anhang bemerkte und runzelte die Stirn. „Wir haben ihn in der Nähe der Ställe gefunden und ihn eingefangen, bevor er eines der Pferde reißt.“

Und mit einem Schlag verstand ich. Er hatte mich gesucht. Zuhause hatte er mich nicht mehr finden können und durch meine momentane Knechtschaft, konnte ich auch nicht mehr in den Wald. Darum war er aufs Schlossgelände gekommen, denn hier hatte er mich nicht nur zum letzten Mal gesehen, hier hing auch mein Geruch in der Luft.

Ich wollte ihnen sagen, dass sie ihn einfach wieder laufen lassen sollten. Mitanzusehen, wie er sich gegen die Gefangennahme wehrte und die Geräusche dabei zu hören … das sollte so nicht sein. Aber wenn sie ihn freiließen, würde er wiederkommen. Das wusste ich genau, weil er das bei mir Zuhause auch immer tat. Und wenn er so weiter machte, würde er sich mit Sicherheit noch selber verletzten.

Das wollte ich nicht. Nicht nur weil es meine Schuld war, dass er nun in dieser Klemme steckte, ich mochte ihn, wie mir klar wurde. Ich wollte nicht, dass ihm etwas geschah. Darum musste ich eingreifen.

Ich warf einen Blick zu Alina, die das Ganze mit einem Stirnrunzeln beobachtete und lief dann hastig auf den Wilden zu, der in seiner Panik immer wieder versuchte in die Fangstange zu beißen.

„Hey!“, rief der Wächter noch, aber da war ich bereits außerhalb seiner Reichweite.

Hey du“, sprach ich den Wilden an und versuchte ihn mit einem leisen Jaulen auf mich aufmerksam zu machen. Dabei ignorierte ich die beiden Wächter, die vertuschten ihn in den offenen Zwinger zu stopfen. „Hey mein Hübscher, erkennst du mich?“ Ich trat noch etwas näher, doch in seiner Panik konnte der Wolf nicht zwischen Freund und Feind unterscheiden. Völlig verängstige knurrte er und biss nach mir, als ich ihm zu nahe kam.

„Spinnst du?!“, blaffte mich nur der Kerl mit der Stange an. „Verschwinde!“

Ich ignorierte ihn. Gleichzeitig wurde mir aber klar, dass es so nicht funktionieren würde. Egal wie ich es drehte und wendete, vorerst würde der Wilde in den Zwinger müssen – nach Möglichkeit, ohne sich dabei zu verletzten.

In meinem Kopf kristallisierte sich ein Plan.

Entschlossen umrundete ich die Wächter und eilte in den Zwinger. Dort legte ich mich einfach auf den Boden und zwar so, dass der Wind meine Witterung genau in seine Richtig trieb.

„Verdammt was soll das?“, ächzte der Kerl mit der Stange. „Bist du so eine verrückte Tierschützerin, oder was? Raus da!“

Ich ignorierte ihn wie auch schon zuvor und jaulte wieder. Lauter als zuvor, immer wieder, solange bis der Wilder herumwirbelte und einen Moment erstarrte. Seine Nasenflügel blähten sich und ich wusste, er hatte meine Witterung aufgenommen.

„Verdammt noch mal, komm aus dem scheiß Zwinger, sonst ...“

„Nein“, unterbrach Wächter Mirko ihn da. „Lass sie.“

„Was? Bist du verrückt? Das ist doch kein Hund.“

„Vertrau mir, sie weiß was sie tut.“

Der Zweifel stand den Fängern ins Gesicht geschrieben, aber wenigsten hörten sie auf mich anzumachen.

Ich beachtete niemanden von ihnen. Mein ganze Aufmerksamkeit war allein auf den Wilden gerichtet und als ich mir sicher war, dass er mich wirklich bemerkt hatte, gab ich einen auffordernden Kläfflaut von mir. „Na komm schon“, flüsterte ich, „Du weißt wer ich bin. Bei mir bist du sicher.“ Ob er mich hören konnte, wusste ich nicht. Ein normaler Wolf konnte das nicht, aber bei diesem Wolf hatte ich bereits mehr als einmal festgestellt, dass er nicht normal war. Also redete ich weiter. „Na los, Kleiner, ich bin hier.“

Schwer hechelnd zog der Wilde an der Stange, aber es steckte bei weitem nicht mehr so viel Elan dahinter, wie noch zuvor. Und als ich dann ein weiteres mal jaulte, machte er freiwillig einen zögernden Schritt in meine Richtung.

Ja, genau so. So ist gut. Komm zu mir.“

„Lasst die Stange los“, verlangte Wächter Mirko.

Die drei Fänger sahen ihn an, als hätten sie einen Alien vor sich.

„Na los.“

Die Männer zögerten, aber dann gab der Rechte die Stange frei und ließ sie einfach zu Boden fallen.

Ich fiepte wieder.

Natürlich merkte der Wilde sofort, dass da kein Widerstand mehr war, doch entgegen der Annahme der Anwesenden, versuchte er nicht das Weite zu suchen. Stattdessen machte er einen weiteren zaghaften Schritt in meine Richtung

Na los, du brauchst keine Angst haben.“ Ich sah es in seinen Augen. Er wollte zu mir. Doch der Zwinger verunsicherte ihn. Also zwang ich mich dazu mich zu entspannen, um ihm zu zeigen, dass hier drinnen keine Gefahr lauerte. „Hab keine Angst.“

Noch ein Schritt. Dann ein Zweiter. Und dann lief er einfach in den Zwinger hinein, die Fangstange hinter sich herschleifend. Er war noch nicht einmal richtig drinnen, da wurde die Tür auch schon ins Schloss geworfen.

Der Wilde machte erschrocken einen Satz zur Seite und lief dann unruhig und geduckt am Gitter entlang. Er hechelte noch immer stark und knurrte hin und wieder leise, als wollte er die Anwesenden warnen ihm nicht zu nahe zu kommen.

Ich blieb einfach still liegen und wartete ab. Früher oder später musste er sich schließlich beruhigen.

Leider schien das eher später der Fall zu sein. Diese Situation, der Zwinger, die Leute, das alles ängstigte ihn. Deswegen versuchte ich es noch einmal mit einem Jaulen. Er sollte sich auf mich konzentrieren, nicht auf sein Umfeld.

Es dauerte einige Zeit, aber irgendwann schlich er auf mich zu und ließ sich dann dich bei mir nieder, als würde er dort Schutz suchen. Seine Angst hing wie ein Geruch in seinem Fell und er lag so nahe, dass ich seinen schnellen Herzschlag spüren konnte, genau wie die Anspannung in seinem Körper. Das hier war ihm nicht geheuer.

Alles ist gut“, versicherte ich ihm und rieb meinen Kopf an seinem. „Ganz ruhig, dir wird nichts passieren.“ Vorsichtig suchte ich mit den Zähnen nach der Schlaufe der Haltestange und zog daran, bis sie weit genug war, dass ich sie ihm über den Kopf ziehen konnte. Dann blieb ich einfach nur still liegen und wartete darauf, dass er sich ein wenig beruhigte. Der Zwinger, die Hundehütte in der Ecke, ach was, allein schon der Geruch hier drinnen, mussten eine ziemliche Belastung für ihn sein. Er kannte das so gar nicht. Wie auch? Bisher hatte er im Wald gelebt.

Draußen trat Alina ein wenig näher. Sie schien nicht recht zu wissen, was sie tun sollte. „Und was passiert nun?“, fragte sie niemand bestimmten. „Ich meine, er ist ein wildes Tier und ihr könnt ihn ja nicht ewig hier einsperren.“

„Das haben wir auch nicht vor“, sagte der Kerl, der versucht hatte sich mir den Weg zu verstellen. „Uns war nur wichtig ihn erstmal hier drinnen zu haben, bevor er etwas Dummes anstellen konnte.“

„Damit ist meine Frage aber noch nicht beantwortet.“

„Er wird tierärztlich untersucht werden“, erklärte der, der die Stange gehalten hatte. „Wir werden schauen ob er gesund ist. Dann wird er weggebracht und irgendwo ausgesetzt, wo er für niemanden eine Gefahr darstellt.“

Ich machte mir gar nicht erst die Mühe ihm zu erklären, dass dieser Wolf zwar ein wildes Tier war, aber für niemanden eine Gefahr darstellte. Das konnte ich mit ziemlicher Sicherheit sagen. Er streifte schon so lange um Silenda herum und nie hatte es Probleme gegeben. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich daran etwas ändern würde, wenn man ihn einfach wieder frei ließ. Doch solange ich hier war, würde man ihn in dieser Gegend nicht freilassen können. Er würde immer wieder kommen.

Alina schien mit der Antwort zufrieden. Sie trat näher an den Zaun, um sich den Wolf genauer anzuschauen.

Der Wilde spannte sich sofort wieder an.

Toll Alina. Ich grummelte beruhigend, rutschte ein wenig näher und legte meinen Kopf auf seinen Rücken. Er brauchte nicht nur Ablenkung, er brauchte Zuwendung und Sicherheit. Und im Augenblick war ich die einzige, die ihm das geben konnte.

Alina legte die Hände ans Gitter und musterte uns beide gründlich. Dann sprach sie die Frage aus, die ihr auf der Zunge lang. „Und wie lange wirst du da jetzt drinnen bleiben?“

Wenn ich das nur wüsste.

 

°°°

 

„Er tut mir einfach so leid“, sagte ich leise und zog die Knie an die Brust. „Er sitzt nur da drinnen, weil er nach mir gesucht hat, verstehst du?“

Mama schüttelte mitleidig den Kopf. „Dir ist schon klar, dass du nicht jeden Fehler auf dich nehmen kannst, oder?“

„Das hat damit doch gar nichts zu tun.“ Seufzend legte ich mein Kinn auf meine Knie. Es war schon später Nachmittag und ich war erst vor einer guten Stunde aus dem Zwinger rausgekommen, einfach weil ich es nicht über mich gebracht hatte ihn allein zurück zu lassen. Und jetzt fragte ich mich die ganze Zeit, was ich tun könnte, um seine Situation zu verbessern. Zu wissen, dass es da drinnen war, weggesperrt und einsam … ich fühlte mich verantwortlich, denn irgendwie war es ja auch meine Schuld.

Die Situation war wirklich mehr als bescheiden.

Alina war die ganze Zeit mit mir am Zwinger gewesen und hatte deswegen sogar das Treffen mit Anouk auf später verschoben. Doch nun war sie gegangen. Natürlich nicht ohne mir zu versichern, dass sie mich später noch einmal anrufen würde, um mir zu erzählen wie es gelaufen war. Außer wenn es sehr gut lief, dann würde sie sich frühstens morgen melden.

Kaspar und Aric dagegen waren schon lange weg. Nachdem wir nicht wieder aufgetaucht waren, hatten sie uns auf dem Gelände gesucht, nur um mich in einem neuerlichen Schlamassel wiederzufinden. Und da die beiden nicht Alinas Durchhaltevermögen besaßen, hatten sie sich schon nach kurzer Zeit verabschiedet.

Wo Tayfun abgeblieben war? Keine Ahnung, aber der trieb sich hier mit Sicherheit irgendwo herum. Und Cio war mir egal. Der sollte mir einfach nur fernbleiben.

Wer nach meiner Ankunft wieder aus der Versenkung aufgetaucht war, war meine Mutter. Sie war gerade dabei gewesen die Matratze vom Boden auf das obere Etagenbett zu stemmen, als ich in mein Zimmer gekommen war. Hatte lustig ausgesehen. Die Matratze war dreimal so groß wie sie und hatte absolut nicht wieder in das Gestell gewollt, nicht ohne dass ich meiner Mutter hilfreich zur Hand ging.

Die Nacht hatte sie allein zu Hause verbracht, weil Alina darum gebeten hatte. Laut meiner Mutter, hatte sie ihr heimlich ein Textnachricht geschickt, um auch sicher zu gehen, dass keine Elternteile unser Besäufnis störten. Typisch meine Cousine.

Aber nun saß ich mit ihr im Gemeinschaftsraum und zerbrach mir den Kopf über ein Problem, das eigentlich gar nicht meines sein sollte, während sie im Sessel saß und ein Buch las. Naja, sie las es, wenn ich sie nicht gerade vollquatschte.

„Es ist einfach … ach keine Ahnung. Er gehört in die Wildnis und nicht in einen Käfig.“

„Ich verstehe was du meinst.“ Sie ließ ihr Buch auf den Schoß sinken. „Und sie werden ihn ja auch nur vorübergehend darin eingesperrt lassen.“

Ja, aber anschließend würden sie ihn weit weg bringen und das war es was mir daran nicht gefiel. Es war albern, aber ich wollte nicht, dass er einfach so verschwand. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass er da war und wollte, dass es so blieb.

Andererseits hatte ich mich entschlossen Silenda zumindest ein Weilchen hinter mir zu lassen und nach Arkan konnte ich ihn ja schlecht mitnehmen. „Das ist doch alles scheiße“, murmelte ich und nahm mir mein Tablet vom Tisch. Ich musste mich ablenken. Leider bestand meine Ablenkung darin im Internet nach Wildparks und Schutzgebieten zu suchen, in denen der Wilde es gut haben könnte. Auch versuchte ich mich ein wenig mehr über wilde Wölfe im allgemein zu informieren – ohne Brille musste ich mir das Tablet so nah vors Gesicht halten, dass ich damit fast meine Nase berührte.

Ich hatte grade eine Seite gefunden, in die Struktur und die Hierarchie eines Wolfsrudels genau erklärt wurde – die waren uns wirklich ähnlicher als ich geglaubt hatte, halt nur etwas primitiver – als Cayenne hereinschneite. Natürlich war Sydney wie immer ein lautloser Schatten, der ihr folgte. Die beiden erwischte man wirklich so gut wie nie alleine.

„Ah, da bist du ja“, begrüßte sie mich mit einem Lächeln, „Genau nach dir habe ich gesucht.“

Meine Mutter ließ ihr Buch zwar nicht sinken, doch aus dem Augenwinkel sah sie dabei zu, wie Cayenne sich neben mich auf das Sofa setzte. Ich glaube sie nahm es ihr immer noch übel, dass sie meine Mutter sein wollte und nicht nur meine Erzeugerin.

Ich ließ mein Tablet etwas sinken, „Was habe ich angestellt?“

„Du?“ Sie lachte. „Gar nichts. Ich habe nur eine Überraschung für dich.“

Nun ließ meine Mutter ihr Buch doch sinken. Ihre letzte Überraschung war ihr wahrscheinlich noch gut in Erinnerung geblieben.

„Was für eine Überraschung?“, fragte ich vorsichtig. Die letzte hatte mit der Kündigung meines Jobs geendet. Ach ja, und mit dem Ende der Beziehung zu Cio. Okay, es war unfair es wie ein Vorwurf klingen zu lassen. Eigentlich müsste ich ihr sogar dankbar sein, sonst hätte ich wohl nicht erfahren, war mein Ex so hinter meine Rücken trieb.

Ich verbot es mir den aufkommenden Schmerz zuzulassen.

„Naja, ich habe gehört was passiert ist und deswegen habe ich vorhin mit Sadrija gesprochen.“

Oh oh, genauso hatte es beim letzten Mal auch angefangen.

„Und wenn du möchtest, bekommst du einen Abend … hm, Urlaub wäre wohl das beste Wort dafür.“

Verständnislos neigte ich den Kopf zur Seite. „Und das heißt?“

„Wenn du mal hier raus möchtest, damit du dass alles mal für einen Abend hinter dir lassen kannst, kannst du nachher mit mir nach Hause kommen. Wir machen uns dann einen schönen Abend. Morgen früh würden wird dann zusammen frühstücken und dann würde ich dich wieder herbringen.“ Sie lächelte hoffnungsvoll. „Was hältst du davon?“

Bevor ich darauf antworten konnte, schlug meine Mutter ihr Buch mit einem Knall zu. „Das hast du dir ja schön ausgedacht. Nicht nur, dass du sie wieder aus der Sicherheit der HQs bringen willst, warum sollte sie mit dir gehen, wenn sie Urlaub hat? Ich glaube sie fände es viel schöner mit mir nach Hause zu kommen. Da wo sie wohnt und ihr Zimmer ist.“ Meine Mutter schaute Cayenne so provokant an, dass es schon eine Herausforderung war.

Cayenne wurde sofort äußerst sachlich, auch wenn ihre Augen verärgert funkelten. „Das ist ganz einfach. Ich habe Umbras und ein Sicherheitssystem, dass direkt mir dem Hof verbunden ist. Du hast nur eine Haustür, die sogar ein Mensch aufbrechen könnte.“

Mama drückte die Lippen fest aufeinander. Sie konnte meiner Erzeugerin nicht widersprechen, denn sie wusste, dass sie recht hatte. Deswegen musste es ihr aber noch lange nicht gefallen. „Und was ist mit dem Amor-Killer? Er hat mittlerweile bereits achtzehn Leben genommen. Der letzte war in der Nähe von München. Das sind gerade Mal hundert Kilometer bis hier her.“

Was? Es gab bereits ein achtzehntes Opfer? Wann? Und warum hatte ich bis jetzt noch nichts davon gehört? Okay, ich gebe es zu, das war eine äußerst dumme Frage.

„Es ist ein kalkuliertes Risiko.“ Cayennes Ausdruck wurde ein wenig weicher. „Wenn du möchtest, dann bist du auch eingeladen, Tarajika. Ich wollte sowieso einen Frauenabend machen.“

„Nein danke“, sagte meine Mutter, ließ es aber wie ein „fahr doch zur Hölle“ klingen. So weit kam es noch, dass meine Mutter von ihrer Mamakonkurrenz Almosen annahm. „Mach dir einen schönen Abend mit Zaira. Wenn ihr etwas passiert, weiß ich ja, wem ich den Kopf abreißen werde – langsam und sehr schmerzhaft.“ Damit schlug sie ihr Buch wieder auf.

„Bei mir wird sie sicher sein – immer.“ Nun war es Cayenne die herausfordernd klang. „Wir werden uns nachher einen schönen Abend machen und morgen werde ich sie wieder wohlbehalten herbringen.“

Ähm … hatte ich meine Zustimmung bereits gegeben? Ich konnte mich nicht daran erinnern.

„Das hoffe ich“, sagte Mama sehr leise. „Es wäre besser für dich.“

Bei dieser offenen Drohung, spannte sich nicht nur Cayenne an, auch Sydney, der die ganze Zeit still neben ihr saß, schien ein kleinen wenig zu wachsen.

„Okay“, sagte ich schnell, bevor das hier noch eskalieren konnte. „Ich bin dabei.“ Nicht nur weil ich dann endlich mal wieder etwas anderes als den Hof sah, es würde mit Sicherheit auch eine Erleichterung für mich sein, von dem ganzen Scheiß hier ein Weilchen wegzukommen. Vielleicht würde ich Cayenne sogar davon überzeugen können, mich mehr als nur eine Nacht bei sich zu behalten. Aber immer schön eines nach dem anderen. Für diesen Vorschlag würde ich den richtigen Moment abwarten müssen und der war ganz sicher nicht, wenn meine Mutter daneben saß und eigentlich nichts lieber täte, als meine Erzeugerin um ein paar Gliedmaßen zu erleichtern.

„Das freut mich.“ Cayenne strahlte.

Meine Mutter nicht.

„Also, noch habe ich ein bisschen zu tun.“ Sie warf einen prüfenden Blick auf die zierliche Uhr an ihrem Handgelenk. „Ich denke so zwei Stunden, dann würde ich dich holen kommen.“

„Okay.“

Sie ließ ihre Hand wieder sinken. „Du kannst dir in der Zwischenzeit ja schon mal überlegen, was für einen Film wir heute Abend schauen wollen und … möchtest du etwas bestimmtes zum Essen haben? Ich würde Genevièv bitten es noch schnell zu besorgen, sie wollte sowieso noch einkaufen gehen.“

Ich schüttelte bereits den Kopf, bevor sie geendet hatte. „Nein danke, du brauchst dir keine Umstände zu machen, das weißt du doch.“

„In Ordnung. Na dann.“ Sie schlug sich auf die Schenkel und stand dann lächelnd auf. „Wir sehen uns dann nachher.“

„Ich werde hier sein.“

Zum Abschied hob sie noch die Hand in Richtung meiner Mutter – wahrscheinlich einfach weil der Anstand es so verlangte – aber Mama ignorierte sie mit einer eisigen Kälte, die sogar mich leicht frösteln ließ. Sie blätterte einfach die Seite ihres Buches um und beachtete gar nicht wie Cayenne zusammen mit Sydney den Raum verließ.

Ich schaute ihr nachdenklich hinterher.

In den letzten Jahren hatte ich mir eigentlich nie so wirklich Gedanken darüber gemacht, wie meine Mutter und Cayenne zueinander standen. Sie waren immer in halbwegs höflichem Desinteresse miteinander umgegangen. Doch jetzt, wo sie sich dank mir praktisch jeden Tag im HQ über den Weg liefen, bemerkte ich die Spannungen zwischen ihnen. Spannungen die nur wegen mir entstanden, weil sie mich beide lieb hatten und beide meine Mütter sein wollten. Das war ein seltsames Gefühl und ich war mir nicht ganz sicher, ob ich es mochte. Ich meine, irgendwo fühlte man sich ja schon geschmeichelt, aber Disharmonie gefiel mir nicht – besonders nicht, wenn ich jedes Mal einschreiten musste. Verdammt noch mal, das waren zwei erwachsene Frauen und ich hatte schon genug Probleme. Das hier brauchte ich nicht auch noch. Trotzdem würde ich wohl mit ihnen reden müssen.

Kurz war ich versucht direkt hier und jetzt mit meiner Mutter anzufangen, aber dann nahm ich doch lieber wieder mein Tablet zur Hand. Ein anderen Mal, versprach ich mir selber. Im Moment hatte ich weder die Lust noch die Kraft mich mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Da blieb ich doch lieber bei meiner Recherche.

Zu meiner Schande musste ich gestehen, dass ich zwar eine ganz gute Ahnung von Hunden und auch Lykanern hatte, aber normale Wölfe entzogen sich doch meinem Horizont. Sie waren viel komplexer, als ich mir das hatte vorstellen können, besonders wenn ein Tier von außerhalb in das Rudel aufgenommen werden wollte. Das konnte dann schon mal blutig werden.

Auf jeden Fall bekam ich so eine ganz gute Vorstellung davon, wie der Wilde seine Rute abhandengekommen war. Von seinem zerfetzten Ohr ganz zu schweigen.

Ich war gerade dabei ein paar Links durchzuklicken, als ich mir auf einmal beobachtet vorkam. Ich schaute zu meiner Mutter rüber, aber die war in ihr Buch vertieft, also drehte ich den Kopf und begegnete mit dem Blick der einzigen Person auf Erden, die ich ganz weit weg wünschte.

Cio. Er stand draußen auf dem Korridor und schaute mich an. Er tat nichts anderes als zu schauen und doch machte mein Herz einen freudigen Hüpfer, nur um sich gleich darauf vor Schmerz zusammenzuziehen. Die Frage warum er immer noch hier war, konnte ich mir sparen. Er arbeitete hier – so mehr oder weniger.

Vielleicht sollte ich mal mit dem Boss der Themis sprechen und ihn bitten, Cio nicht anzustellen – falls es dafür nicht schon zu spät war. Nicht aus Rache, sondern einfach, damit er kein Grund mehr hatte hier aufzutauchen. Okay, es wäre wohl doch ein kleinen wenig Rache, aber Hauptsächlich, damit ich ihn hier nicht mehr sehen musste.

Bevor ich noch auf die Idee kam meine Gedanken in die Tat umzusetzen, senkte ich den Blick wieder auf meinen Bildschirm und ließ mir dabei die Haare vors Gesicht fallen. Ich hoffte er verstand den Wink mit dem Zaunpfahl und würde mich in ruhe lassen. Leider spürte ich seinen Blick noch eine ganze Weile auf mir, bevor er sich mit einem traurigen Seufzer abwandte und wieder seiner Wege ging.

Ich konnte gar nicht anders, als den Kopf zu heben, als seine sich langsam entfernenden Schritte hörte. Der Korridor war leer. Ein Gefühl der Erleichterung sowie der Enttäuschung machten sich in mir breit. Es war wirklich verwirrend beides auf einmal zu fühlen. Und es schien so viel mehr wehzutun, als einfacher Schmerz.

Warum nur konnte ich ihn nicht einfach hassen? Warum musste er mir immer noch etwas bedeuten? Das war nicht fair. Er hatte Scheiße gebaut und ich verspürte den Schmerz. Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn er mir einfach gleichgültig sein könnte, aber leider war das nicht so einfach. Gefühle funktionierten nicht auf diese Art. Selbst wenn es wehtat, würden sie nur sehr langsam verblassen, falls sie überhaupt jemals gänzlich verschwanden.

Cio und ich hatten eine so tiefe Verbindung geteilt, dass es besonders schlimm schmerzte und im Moment hatte ich nicht das Gefühl, dass diese Wunde jemals heilen würde. Warum nur hatte er mir nicht einfach vertraut?

Eine solche Frage zu beantworten, war nicht einfach, also versuchte ich es gar nicht erst. Es hätte sowieso keinen Sinn, die Sache zwischen uns war vorbei und nichts würde daran etwas ändern können. Also konzentrierte ich mich lieber wieder auf mein Tablet.

Erst dabei fiel mir auf, dass auch Mama ihren Blick auf die Tür gerichtet hatte. Nachdenklich, im Zwiegespräch mit sich selber, oder vielleicht auch mit meiner toten Tante Lalamika. Dann klappte sie ihr Buch zusammen, legte es auf den Tisch und erhob sich von ihrem Platz. „Ich werde mal kurz nach Hause fahren, um deine andere Brille zu holen, bevor du dir deine Augen noch ganz kaputt machst.“

Dafür schenkte ich ihr ein kleines Lächeln. „Danke.“

Sie bückte sich zu mir runter und gab mir einen Kuss auf den Kopf. „Vielleicht glaubst du es jetzt nicht, aber jeder Schmerz verblasst einmal und manchmal erwachsen aus den tiefsten Wunden Hoffnung und Zukunft.“

Mir diesen doch leicht kryptischen Worten verließ sie den Gemeinschaftsraum.

Ich fragte gar nicht nach. Manchmal sagte sie eben so seltsame Dinge. Das kam von ihrer Verbindung mit den Geistern und ihrem Glauben. Das hatte schon irgendwie etwas hellseherisches.

Unheimlich.

Wenigstens konnte ich mir jetzt sicher sein, dass mich dieser Schmerz nicht für den Rest meines Lebens verfolgen würde. Auch wenn ich es – wie sie gesagt hatte – im Moment noch nicht glauben konnte.

Es dauerte fast eine dreiviertel Stunde, bis sie wieder auftauchte und kurz darauf erschien auch schon Cayenne auf der Bildfläche, um mir mitzuteilen, dass sie fertig war und wie los könnten.

In ein Auto zu steigen und den Hof ohne Wächtern, dafür aber mit der Erlaubnis der Königin nach mehr als zwei Wochen zu verlassen, war ein seltsames Gefühl. Sobald wir durch das Tor waren und der Straße nach Silenda folgten, schien ich viel freier atmen zu können. Und doch schien der Tag grau und trüb zu sein. Ein blasser Abklatsch von den lebhaften Erinnerungen in meinem Kopf.

Die Fahrt dauerte nicht lange. Cayenne wohnte in einer etwas abgelegenen Villa am Stadtrand. Naja, eigentlich war es mehr ein altes Herrenhaus. Es war auf jeden Fall riesig. Tja, als ehemalige Königin und Mitglied der Alphafamilie, stand einem eben doch ein gewisser Lebensstandart zu.

Cayenne schloss die Haustür auf und ließ Sydney als erstes hindurch gehen. „Du wirst schon sehen“, sagte sie und trat zur Seite, damit auch ich noch vor ihr ins Haus kam. „Ich schicke die Männer alle weg und dann machen wir uns einen richtig schönen Frauenabend.“

„Alle?“, fragte ich zweifelnd. „Ich dachte Diego und Joel sollen auf mich aufpassen.“ Nicht dass ich darauf bestehen würde. Das immer jemand hinter mir war, gefiel mir sowieso nicht besonders gut.

Cayenne winkte nur ab, als wäre das eine Nichtigkeit und ließ die Haustür ins Schloss fallen. „Die werden draußen Streife laufen – ihre Idee, nicht meine. Und Sydney will laufen gehen, was heißt, dass er nicht vor morgen früh wieder auftauchen wird. Das heißt wir Frauen haben das ganze Haus für uns alleine.“

„Juhu“, hörte ich äußerst sarkastisch am anderen Ende des Korridor. Kiara stand in einem lagen, taubengrauen Kleid dort und wenn ich von dem feindseligen Blick ausging, dann hatte sie mir wohl noch nicht verzeihen können. „Dann kann ja nichts mehr schiefgehen.“

Verdammt, sie hatte ich ja völlig vergessen. Unser letztes Gespräch war mir dafür aber umso genau in Erinnerung geblieben. Obwohl man das ja nicht wirklich als Gespräch bezeichnen konnte. Sie hatte mich nur angerufen, um mich anzuschreien und dann einfach aufgelegt. Trotzdem probierte ich es mit einem vorsichtigen „Hi“ in ihre Richtung.

Sie funkelte mich an. „Versuch es erst gar nicht.“

„Kiara“, drohte Cayenne. „Denk dran, mach andere nicht für deine Fehler verantwortlich.“

Nun funkelte sie ihre Mutter an. „Natürlich nicht, wie käme ich denn dazu? Ist doch alles gut so wie es ist.“ Damit drehte sie sich um und verschwand mit einer knallenden Tür im nächsten Zimmer.

Cayenne seufzte, eher genervt als bedrückt. „Ich habe drei Kinder, aber keines von ihnen ist so stur, egoistisch und aufsässig wie dieses. Von wem hat sie das nur?“

„Naja, sie erinnert mich ein wenig an dich.“ Als mir aufging, was ich da sagte, schaute ich erschrocken zu ihr rüber. Ohje, hoffentlich verstand sie das jetzt nicht falsch.

Sie jedoch schmunzelte nur. „Da könntest du recht haben“, war alles was sie dazu sagte und damit schien das Thema für sie beendet.

Wir entledigten uns unserer Schuhe, Jacken und Taschen und fanden uns dann in der Küche ein, wo Genevièv bereits dabei war das Abendessen zu kochen und uns mitteilte, dass sie Sydney nachher in den Wald begleiten würde, damit Cayenne mit ihren Kindern ungestört sein könnte. So waren wir nach dem Abendessen nur noch zu dritt, oder besser gesagt zu zweit. Kiara blieb zwar im Haus, hatte aber kein Interesse daran den Abend mit mir zu verbringen.

Ja, sie sagte mir das ins Gesicht und ja, es tat weh. Ach Cayennes anschließende Maßreglung konnte daran nichts ändern.

Später saß ich dann mit Cayenne alleine in ihrem Wohnzimmer, das sowohl rustikal als auch modern gehalten war. Und gegenüber hing ein riesiger Flachbildfernseher an der Wand, über dessen Bildschirm Horden von Zombies liefen, während Cayenne und ich Popcorn und Gummibärchen in uns hinein schaufelten.

Zuerst hatten wir überlegt eine Komödie zu schauen, aber ich wollte im Moment nichts schauen, was auch nur annähernd als Liebesgeschichte durchgehen konnte. Und da Cayenne ein Faible für Horrorfilme hatte, war es nicht schwer gewesen eine Alternative zu finden.

Der Film war fast zu Ende, als Kiara dann doch noch aus ihrem Zimmer kam. Sie setzte sich auf den am weitesten von mir entfernten Platz und behandelte mich wie Luft.

Ich versuchte erst gar nicht mich bei ihr zu entschuldigen. Es wäre umsonst.

Als der Abspann des Films über den Bildschirm lief, streckte Cayenne sich neben mir ausgiebig. Es war bereits nach neun und draußen finster wie die Nacht. Naja, es war ja auch Nacht.

„Und jetzt?“, fragte sie dann. „Noch ein Film?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Mir egal.“

„Kiara?“

Sie schaute ihre Mutter gar nicht erst an. „Wow, du hast bemerkt, dass ich auch noch anwesend bin.“

Cayenne verdrehte die Augen. „Heute sind wir aber wieder mal ein richtiges Sonnenscheinchen, was?“

Dafür bekam sie nun doch einen bösen Blick.

„Okay, wenn ihr nicht wollt, dann können wir auch ein Spiel spielen.“

Ein Spieleabend?

„Oder … ich weiß“ Sie richtete sich ein wenig gerade auf. „Das habe ich in meiner Jungend immer mal wieder mit Diego und Lucy gespielt. Es heißt, meine peinlichsten Geheimnisse.“

Ohje. „Du willst meine Geheimnisse wissen?“

„Ja und nein. Im Grunde geht es bei dem Spiel darum, lustige Geschichten zu erzählen. Und damit ihr wisst was ich meine, fange ich einfach mal an. Also, lass mal nachdenken.“ Ihre Stirn runzelte sich für einen Moment. „Okay, ich hab es. Passt auf. Ich war vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre und mal wieder von Zuhause ausgebüchst, um mit Diego und Lucy auf eine Party zu gehen. Der Abend war toll. Wir haben viel getanzt und gelacht und, naja, auch viel getrunken.“ Ihr Mundwinkel zuckte. „Jedenfalls hat Diego es irgendwann geschafft mich von der Tanzfläche in sein nagelneuen Wagen zu bekommen – er hat kurz vorher erst seinen vorläufigen Führerschein bekommen. Diego war nie ein besonderer Partylöwe gewesen und kam eigentlich immer nur mit weil … naja, egal.“

Ich wusste warum. Weil es seine Pflicht gewesen war, weil er schon damals als ihr Umbra galt, auch wenn sie noch keine Ahnung gehabt hatte, was um sie herum los gewesen war.

„Auf jeden Fall hat er mich in seinen Wagen verfrachtet. An diesem Abend war ich so voll gewesen, dass ich praktisch eingeschlafen war, sobald mein Hintern das Polster berührt hatte. Als wir dann Zuhause ankamen und Lucy mich weckte, bemerkte ich, wie es unter meinem Hintern doch ziemlich nass war.“ Sie grinste ein wenig schief. „Ich habe mir in die Hose gepinkelt und es nicht einmal gemerkt – obwohl ich glaube ich geträumt hatte, auf einem Klo zu sitzen.“

Und das auch noch in dem neuen Wagen. Ich musste schmunzeln.

„Aber damit noch nicht genug. Mein vernebeltes Hirn riet mir einfach sitzen zu bleiben, bis alles getrocknet war. Dann würde keiner von den Beiden etwas davon erfahren. Leider spielten meine Freunde dabei nicht mit. Als ich mich weigerte auszusteigen, zogen sie mich einfach aus dem Wagen und durch die hastige Bewegung ist mir auch noch so schlecht geworden, dass ich Lucy direkt auf die Schuhe gekotzt habe.“

Damit hatte sie mich. Ich lachte los, weil ich Tante Lucys angewiderten Gesichtsausdruck geradezu vor mir sehen konnte.

„Tja, Lucy und Diego fanden es nicht so witzig, weil sie es hatten saubermachen müssen. Ich war einfach zu weggetreten gewesen. Danach hatten mir beide verboten jemals wieder so viel Alkohol in mich hinein zu schütten.“

Ich grinste. „Ich kann sie verstehen.“

„Ich auch. Heute kann ich auch darüber lachen, aber damals war mir das so unangenehm gewesen, dass ich vor Scham am liebsten im Erdboden versunken wäre.“

Wäre mir wohl genauso ergangen.“

„So, und jetzt du. Aber denk dran, es muss so richtig schön peinlich sein.“

Auf Anhieb fielen mir da ein paar Dinge ein, die ich erzählen konnte. Leider waren viele davon sehr privat und manche sogar geradezu intim. Das wollte ich meiner Erzeugerin nun nicht gerade erzählen. Außerdem spiele Cio in fast allen von ihnen eine große Rolle und an ihn wollte ich im Moment absolut nicht denken. Also entschied ich mich für etwas ganz harmloses, was mir sogar heute noch ein wenig peinlich war. „In der achten Klasse hatte ich einen Mathelehrer, der doppelt so alt war wie ich. Er trug die hässlichsten Hawaiihemden die er finden konnte und versuchte immer auf der Freundschaftsschiene mit seinen Schülern umzugehen, was teilweise einfach nur albern war. Eigentlich machte sich die ganze Klasse immer über ihn lustig, aber … naja, er war nett und irgendwie entwickelte ich eine kleine Schwärmerei für ihn.“

Cayennes Mundwinkel kletterten an ihren Wangen hinauf. „Und? War er wenigsten süß?“

Ich dachte zurück an meine Zeit in der achten Klasse und wie ich immer ganz nervös geworden war, wenn eine Mathestunde auf dem Stundenplan gestanden hatte. Das Grinsen erschien von ganz alleine auf meinem Lippen. „Ich fand ihn süß.“

„Das ist doch das Wichtigste.“ Sie wandte sich der kleinen Mimose zu. „So, jetzt bist du dran.“

„Von wegen, so ein blödes Spiel spiele ich nicht mit.“

„Dann mache ich eben weiter“, erklärte Cayenne, ohne auf die schlechte Laune ihrer Tochter einzugehen.

Irgendwie tat Kiara mir ja schon ein wenig leid. Ihre Situation war schwierig, das ließ sich nicht bestreiten. Aber deswegen brauchte sie ihre schlechte Laune auch nicht an der Familie auslassen, wir hatten schließlich keinen Fehler gemacht, das war ganz allein auf ihren Mist gewachsen.

Das Cayenne nicht versuchte ihre Tochter zum Mitspielen zu überzeugen, schien Kiara dann aber auch nicht zu gefallen. Es dauerte vielleicht noch zehn Minuten, dann verschwand sie mit einem gemurmelten „Ich gehe ins Bett“ in ihr Zimmer. Natürlich vergaß sie dabei nicht die Tür ordentlich hinter sich zuzuknallen.

So blieben Cayenne und ich allein zurück und ließen die Hosen voreinander runter – metaphorisch gesprochen. Danach entschieden wir uns dafür noch einen Film ihrer Sammlung anzuschauen und zum ersten Mal seit einer ganzen Weile begann ich mich gut zu fühlen. Es war die richtige Entscheidung gewesen, herzukommen und den Hof hinter sich lassen zu können – wenn auch nur für ein paar Stunden.

Kurz nach Mitternacht verkündete Cayenne gähnend, dass sie jetzt auch schlafen gehen würde. Ich war in der Zwischenzeit schon halb eingepennt und widersprach daher nicht, als sie mich ins Gästezimmer schickte. Leider peilte ich zu spät, dass es sich bei diesem Raum um Cios altes Zimmer handelte. Er war völlig anders eingerichtet, als zu Cios Zeit. Ein großes, gemütliches Bett dominierte den inzwischen blau gestrichenen Raum. Und doch wusste ich noch genau wie es hier früher ausgesehen hatte. So viele stunden meines Lebens hatte ich hier verbracht, glückliche Stunden der Zweisamkeit.

Daran zu denken tat weh, also versuchte ich es zu verdrängen. Ich war müde genug, um gleich einzuschlafen zu können, nur leider spielte mein Hirn da nicht mit. Immer wieder drehte ich mich von einer Seite auf die andere, sodass ich eine stunde später noch immer wach dalag.

Ich könnte zu Cayenne gehen, damit sie mir ein anderes Zimmer gab. Sie würde es sicher verstehen, aber dazu müsste ich sie wecken und das wollte ich nicht. Ich könnte auch einfach mit Sack und Pack auf die Couch umziehen, aber Cayenne und Kiara waren nicht die einzigen Anwohner dieses Hauses. Ich wollte nicht im Weg sein, wenn einer von ihnen nach Hause kam. Diego und Joel mussten wegen mir schon die Nacht draußen verbringen, da wollte ich nicht auch noch den anderen zur Last fallen.

Schlussendlich entschied ich mich dafür, erstmal in die Küche zu gehen und mir ein Glas Wasser zu holen. Dabei konnte ich mir immer noch überlegen, was ich nun tun sollte.

Ich war schon so oft hier gewesen, dass ich zwar meine Brille aufsetze, um nicht gegen einen Türrahmen zu laufen, das Licht aber ausgeschaltet ließ. Die Gläser standen im Hängeschrank links neben der Hintertür. Das Waschbecken war direkt darunter.

Auch wenn ich nicht sehr durstig war, leerte ich ein ganzes Glas, wusch es dann aus und stellte es ins Abtropfgitter. Dann trocknete ich mir noch die Hände ab und wollte die Küche gerade wieder verlassen, als ich ein seltsames Geräusch von der Hintertür hörte. Ein Kratzen und Schaben, nicht sehr laut. Im ersten Moment erschrak ich, doch dann schüttele ich über mich selber den Kopf. Das war sicher nur einer der Anwohner, der nicht reinkam, weil er auf vier Beinen unterwegs war. Also tat ich das, was man als guter Gast eben tat. Ich schaltete das Licht an, um etwas zu sehen, doch dazu die Tür zu öffnen, kam ich nicht mehr, denn in dem Moment als die Lampe aufleuchtete, schwang sie leise nach innen auf. Nur war es gar kein Wolf, der da im Türrahmen stand, es war ein Mann. Ob ich ihn kannte, konnte ich nicht sagen, denn er trug zu seiner schwarzen Kleidung eine Skimütze auf dem Kopf, die sein Gesicht verbarg.

In seinen Augen konnte ich die Überraschung erkennen, mich hier am Lichtschalter zu sehen. Scheinbar hatte er nicht damit gerechnet, jemanden hier in der Küche vorzufinden – noch dazu wach.

Und dann entdeckte ich den Bogen und den Köcher über seiner Schulter, nur halb verborgen von den Schatten der Nacht.

 

°°°°°

Elixier des Lebens

 

Mein völlig übermüdetes Hirn brauchte eine endlose Sekunde um zu verstehen, dass dieser Mann kein Anwohner des Hauses war. Und zum Personal gehörte er sicher auch nicht – außer der Gärtner pflegte sehr seltsame Angewohnheiten. Doch erst als ein zweiter Maskierter zu dem ersten trat, wurde mir sehr deutlich bewusst, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

„Verdammt!“, fluchte der zweite mit Blick auf mich und drängte sich dann an dem ersten vorbei. „Das ist die Kleine. Die sollte doch im HQ sitzen!“

Meine inneren Alarmsirenen kreischten los. Pfeil und Bogen, maskierte Fremde die unerlaubt ins Haus eindrangen.

Steh nicht da und glotz blöd, hau ab!

Adrenalin überflutete mein Blut. Mich hielt nichts mehr auf meinem Platz. Ich wirbelte herum und füllte meine Lungen für den wohl lautesten Schrei, den ich in meinem bisherigen Leben ausgestoßen hatte. „Cayenne!“ Ich hatte so viel Schwung, dass ich im Flur an die gegenüberliegende Wand knallte. „Wach auf!“

Hinter mir hörte ich die hastigen Schritte meiner Verfolger und ein Blick über die Schulter teilte mir mit, dass es nicht nur zwei, sondern gleich drei Eindringlinge waren.

Ich rannte den Korridor hinunter. „Cayenne!“ Ich musste ihr Schlafzimmer erreichen. Sie hatte Erfahrung mit so was, sie würde wissen was zu tun war und sie würde …

Rechts ging eine Tür auf. Das kam so plötzlich, dass ich fast hineinlief.

„Was schreist du hier so herum?“, fragte Kiara verschlafen. Dann eindeckte sie die drei Männer, die mir dicht auf den Fersen waren.

Ich hielt mich nicht lange mit Erklärungen auf, schnappte sie einfach am Arm und zog sie mit mir mit.

Und dann passierte alles auf einmal.

Von meinen Rufen aufgeschreckt, stürzte Cayenne in einem blickdichten Negligee aus ihrem Zimmer. Gleichzeitig warf ich einen Blick über die Schulter. Einer der Einbrecher war stehen geblieben. Ein Pfeil lag schussbereit auf an der gespannten Bogensehne.

„Duckt euch!“, rief Cayenne. Eine Welle von Odeur flutete durch den Flur und schien uns niederzudrücken. Im gleichen Moment ließ der Schütze die Sehne los, doch durch die Woge des Odeurs verriss er den Pfeil – tja, selbst Geistesgestörte kamen nicht gänzlich gegen ihre Instinkte an.

Der Pfeil sirrte so nahe an mir vorbei, dass ich den Windhauch an meinem Ohr fühlen konnte und meine Wange einen Schnitt davontrug. Dann stieß Cayenne einen schmerzhaften Schrei aus, gefolgt von einem derben Fluch.

„Mama!“, rief Kiara und stürzte direkt auf sie zu.

Verdammt, der Pfeil steckte in ihrer Schulter. Und nicht nur das, er hatte sie wie einen Schmetterling an die Wand gepinnt. Sie versuchte ihn herauszuziehen, doch er steckte zu tief in der Wand.

„Schieß doch!“, wurde hinter mir gerufen.

„Die Mädchen stehen im Weg!“, fauchte der andere.

Sie wollten Cayenne, wurde mir klar, den berühmteste Misto der verborgenen Welt.

Noch ein Schritt, dann stand ich bei ihr und versuchte zusammen mit Kiara den Pfeil aus der Wand zu reißen.

„Der Knopf“, knurrte Cayenne. Sie musste unheimliche Schmerzen haben. „Kiara, der Knopf!“

Kiara zögerte, dann wirbelte sie herum und rannte in Cayennes Schlafzimmer, während ich nun versuchte den Pfeil abzubrechen, aber der war aus irgendeinem scheiß Plastik, das sich nur biegen wollte.

Plötzlich wurden Cayennes Augen groß. „Pass auf!“, rief sie noch, da erwischte mich auch schon der Schlag gegen den Kopf. Ich wurde zur Seite geschleudert und krachte gegen die Wand. Schmerz durchzuckte meine Schulter, doch durch die Wucht war es mir endlich gelungen den Pfeil abzubrechen.

Es musste unheimlich wehtun, trotzdem zögerte meine Erzeugerin keine Sekunde. Sie riss sich von der Wand los und stürzte mit wütend auf meinen Angreifer zu. In ihrer Hand hielt sie etwas kleines, silbernes. War das nicht dieser Skorpionanhänger von ihrer Kette? Sie rammte ihn dem Kerl mitten in die Brust.

In dem Moment tauchte der zweite Angreifer direkt vor ihr auf. Er schwang den Bogen wie eine Keule und schlug ihr damit so fest ins Gesicht, dass sie zur Seite geschleudert wurde, während ihr Opfer zuckend und mit Schaum vor dem Mund die Augen verdrehte. Krämpfe schüttelten seinen Körper, sein Gesicht lief rot an.

„Jetzt bist du erledigt“, verkündete der Zweite, zog gekonnt einen weiteren Pfeil aus dem Köcher und spannte ihn in seinen Bogen. Die Spitze zielte direkt auf Cayennes Herz.

Nein!

Ohne zu wissen, was ich da eigentlich tat, sprang ich wieder auf die Beine und stürzte auf den Kerl zu. Ich rammte ihn mit meinem ganzen Körper genau in dem Moment, als im ganzen Haus plötzlich Sirenen los schrillten. In einem Gewirr aus Armen und Beinen krachten wir zu Boden.

„Scheiße!“, rief der dritte mit seltsam verzerrter Stimme.

Kiara tauchte wieder in der Schlafzimmertür auf. Cayenne lag benommen am Boden und schien nicht zu wissen, wo oben und unten war.

„Wir müssen weg!“, rief der dritte.

Der Zweite stieß mich mit einer Wucht von sich, die mich auf den Rücken beförderte. „Sie ist noch nicht tot!“

„Scheiß drauf!“

„Das könnt ihr vergessen!“, knurrte Kiara und stürzte auf die Angreifer zu.

Ich war mir nicht sicher, was genau dann geschah, Kiara steckte halb in der Verwandlung, als sie sich auf den Zweiten stürzte. Doch plötzlich war auch der dritte da und stieß sie heftig zur Seite. Meine Schwester knallte mit dem Bauch voran gegen die Ecke der Kommode und gab ein beinahe tonlosen Schrei von sich.

Der Dritte nutzte die Gelegenheit und sprang hastig auf die Beine. Erst jetzt bemerkte ich, dass der Dritte einen ganzen Kopf kleiner war als sein Partner.

Dann bekam ich einen heftigen Tritt in den Magen. „Dreckiger Morast, du kommst auch noch an die Reihe.“

Ich krümmte mich zusammen, während die Sirenen durchs ganze Haus schallten und zwei der Eindringlinge eilig das Weite suchten. Ihr Kumpane blieb mit verrenkten Gliedern und verdrehten Augen auf dem Boden liegen.

„Baby“, flüsterte Cayenne plötzlich. „Baby, nein.“

Ich versuchte gegen den Schmerz zu atmen, blinzelte und wurde mir bewusst, dass ich irgendwo meine Brille verloren hatte.

Cayenne kniete auf den Boden. Ihre Schulterwunde blutete so stark, dass ich nur noch rot sah. Sie hatte Kiara in ihren Schoß gezogen, Kiara die weinte, Kiara, die sich vor Schmerz zusammengekauert hatte. Auch sie blutete stark. Jedoch nicht an der Schulter, es lief ihr in Rinnsalen an den Schenkeln hinab.

„Nicht weinen“, flüsterte Cayenne mit sanfter Stimme und wiegte ihre Tochter im Schoß. Dabei hatte sie einen leicht entrückten Ausdruck in den Augen. „Baby. Mein armes Baby.“

Oh nein, bitte nicht. „Diego!“, brüllte ich mit angespannter stimme. „Joel!“ Ich wusste das sie mich hören würden, sie mussten schließlich ganz in der Nähe sein, aber warum waren nicht schon längst aufgetaucht? Allein schon die Sirenen waren laut genug, um die halbe Nachbarschaft zu wecken.

„Armes, armes Baby.“

Verdammt. Mit schmerzverzerrtem Gesicht raspelte ich mich auf die Beine und hockte mich dann zu ihnen. Dabei musste ich mir den Bauch halten. Der Tritt hatte wirklich gesessen.

„Schhh, nicht weinen Baby.“

„Cayenne“, sprach ich meine Erzeugerin an und legte ihr vorsichtig eine Hand auf den Arm.

Sofort erstarrte sie.

„Bitte Cayenne, bekomme jetzt keinen Anfall. Ich kann damit nicht umgehen. Und Sydney … er ist nicht hier. Du musst dich zusammenreißen. Bitte.“

Sie hörte mich. Ich blick schien ein wenig klarer zu werden. Dann schloss sie die Augen und atmete tief ein – immer und immer wieder.

Kiara wimmerte.

Plötzlich konnte ich über den Lärm der Sirenen ein lautes Krachen hören. Jemand brach die Haustür mit brachialer Gewalt auf. Und dann stürmten die Wächter der Königsgarde in das Haus. Vor Erleichterung brach ich in Tränen aus.

Die nächste Stunde verging in einem Mix aus Nebel und Hektik. Die Wächter durchsuchten das Haus nach weiteren Eindringlingen, dabei entdeckten sie Joel und Diego, beide versteckt in hohen Büschen. Betäubt. In ihren Fellen entdeckten sie Betäubungsdarts, wie von einer Wildtierjagd.

Die Krankenwagen trafen ein. Cayenne und Kiara wurden ins Krankenhaus gebracht. Diego legte man unter ärztliche Aufsicht auf die Couch, und als er erwachte, begann er alles auszukotzen, was sich in seinem Magen befand. Egal was das für ein Narkotikum man ihm da verabreicht hatte, er vertrug es sehr schlecht. Aber es war immer noch besser, als das was Joel erwartete, der bekam nämlich einen Herzinfarkt, woraufhin man auch ihn hastig ins Krankenhaus brachte.

Meine Mutter stürmte kurze Zeit später das Haus. Sie hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, sich anzukleiden, bevor sie aufgebrochen und hierher gestürzt war. Sie trug nur eines von Papas alten T-Shirts. Keine Hose, keine Schuhe.

Aber in dem Moment, als sie mich in ihre Arme riss und beruhigende Worte murmelte, war das völlig egal. Na und, dann war meine Mutter eben ein wenig schräg und rannte mitten in der Nacht nur im T-Shirt durch die Gegend. Da wo es wichtig war und wo es drauf ankam, war sie einer der tollsten und besten Menschen, die ich kannte. Und ich ließ mich nur zu gerne von ihr trösten.

Es dauerte sehr lange, bis ein wenig Ruhe einkehrte. Mittlerweile saß ich in der Küche auf einem der Stühle. Mama saß neben mir auf dem Tisch und schrieb hastig eine Textnachricht auf ihrem Handy – vermutlich an Papa. Dabei ließ sie keinen Moment meine Hand los.

Immer wieder kamen und verließen Wächter den Raum. Manche von ihnen kannte ich. Einer war sogar Wächter Mirko, der dann auch mit ernstem Gesicht zu mir trat und mich bat genau zu berichten, was hier genau geschehen war.

Also erzählte ich es. Ich begann damit, wie ich in die Küche gegangen war, weil ich nicht schlafen konnte und Geräusche an der Tür gehört hatte. Ich erzählte alles was mir wichtig erschien, auch wenn ich überhaupt nicht daran denken wollte.

Ich redete sehr lange und konnte am Ende nur noch eines sagen. „Sie hatten es auf Cayenne abgesehen, nicht auf mich. Mich haben sie nur zur Seite gestoßen, damit ich nicht im Weg war. Aber … sie haben gewusst wer ich war und waren auch überrascht gewesen, mich hier zu sehen. Einer von ihnen sagte … einer sagte, dass ich doch eigentlich im HQ sein müsste. Und kurz bevor sie weggelaufen sind, da sagte der Kleine zu mir … er sagte ...“ Ich stockte, als ich an die Worte erinnerte.

„Ja?“

Mama drückte ermutigend meine Hand.

„Er sagte, ich würde auch noch an die Reihe kommen.“ Oh Gott, sie wollten mich töten. Nicht dass es eine Neuigkeit für mich war, aber etwas anzunehmen, war etwas ganz anderes, als es hautnah am eigenen Leib zu erfahren.

Plötzlich fror ich bis auf die Knochen. Sie wollten mich töten. Und ich wusste noch immer nicht warum. Von den Stimmen der Eindringlinge hatte ich keine gekannt. Und Cayenne … „Oh Gott, wir müssen Sydney suchen!“ Wie hatte ich das nur vergessen können? „Er ist mit Genevièv in den Wald gegangen. Und … und … Aric. Ich muss Aric anrufen.“

„Keine Sorge“, beruhigte Wächter Mirko mich augenblicklich. „Cayennes Sohn wurde bereits benachrichtigt und befindet sich bereits auf dem Weg ins Krankenhaus und das mit ihrem Gefährten werde ich gleich in die Wege leiten.“

„Das … das ist gut.“ Ich schob meine Brille auf meiner Nase zurecht. Irgendwie hatte sie es geschafft, das ganze Chaos unbeschadet zu überleben. Zum Glück, denn eine Ersatzbrille für meine Ersatzbrille besaß ich nicht.

„Du hast gesagt, der Killer sei abgehauen. Wer ist dann der Tote?“

Ich zuckte mit den Schultern, bereute diese Bewegung aber sogleich. Es tat höllisch weh. Ich musste mir ernsthaft etwas gezerrt haben. Aber ich wollte nicht noch einmal zu den Sanitätern. Sie hatten mich schon halbwegs wieder zusammengeflickt. Deswegen hatte ich nun auch ein Pflaster auf der Wange zu kleben. „Es waren drei.“

„Drei?“

Ich nickte. „Alle mit Pfeil und Bogen. Schwarz gekleidet. Sie haben Skimasken getragen.“

„Das heißt du konntest keinen von ihnen erkennen?“

Ein Kopfschütteln reichte als Antwort. „Ich kann nur sagen, dass der eine einen ganzen Kopf kleiner war, als die beiden anderen. Und auch viel schmächtiger.“

Wächter Mirko nickte und fragte dann: „Würdest du dir den Toten einmal ansehen? Vielleicht erkennst du ihn ja.“

Ich sollte mir einen Toten ansehen?! Der Kerl der nicht nur versucht hatte Cayenne umzubringen, sondern es auch noch fast geschafft hatte?

„Natürlich nicht sofort“, fügte er schnell hinzu, als er meinen entsetzten Gesichtsausdruck bemerkte. „Es wäre nur wichtig für die Ermittlungen, schließlich wissen wir mittlerweile, dass es hier um dich geht.“

Ein widerwilliges Nicken, zu mehr war ich nicht imstande. „Ich will einfach nur, dass es aufhört.“

Mitfühlend betrachtete Wächter Mirko mich. „Das kann ich verstehen und wir tun alles was in unserer Macht steht, um ...“

Als auf dem Korridor ein Ruf laut wurde und sich dann eilige Schritte nährten, verstummte Wächter Mirko. Im nächsten Moment stürzte Cio völlig panisch in den Raum. Sein Gesicht war ein Spiegel seiner Angst.

„Schäfchen!“ Plötzlich war er direkt vor mir. Seine Hände flogen über mich, ohne mich auch nur zu berühren, so als wollte er sichergehen, dass ich noch vollständig war.

Seine plötzliche Anwesenheit überraschte mich so sehr, dass ich einfach nur starr dasaß und nicht wusste, was ich tun sollte. Warum war er hier? Wie hatte er davon erfahren? Der Morgen dämmerte zwar schon, aber es war sicher noch nicht in den Nachrichten erschien.

„Oh Gott, Schäfchen.“ Und dann brach Cio direkt vor meinen Augen zusammen. Er ging einfach in die Knie, schlang die Arme um meine Taille und vergrub sein Gesicht in meinem Schoß. „Dir geht es gut“, murmelte er leise. „Dir ist nichts passiert.“

Eine Art Stromstoß durchzuckte mich. Aber das ging mir dann doch zu weit, das durfte ich nicht erlauben. Ich wollte ihn von mir stoßen, hatte die Hände sogar schon erhoben, aber auf halben Wege erstarrte ich. Cios Wangen … sie waren nass. Eine Träne löste sich aus seinem Augenwinkel und folgte der Spur der Vorhergegangenen. Er weinte. Cio hatte solche Angst um mich gehabt, dass er nun weinte.

Das hatte er noch nie getan. In all den Jahren die wir uns nun schon kannten, war niemals auch nur eine Träne geflossen. Doch nun klammerte er sich leise weinend an mich, als hinge sein Leben davon ab.

Hilflos schaute ich zu meiner Mutter. Was sollte ich denn jetzt machen? Ich konnte ihn doch nicht einfach von mir stoßen, nicht wenn er so offensichtlich Höllenqualen litt. Das brachte ich nicht über mich, egal wie sehr seine Nähe und die Erinnerung schmerze. Ich konnte es einfach nicht.

„Es tut mir leid“, flüsterte er. „Was ich getan habe … ich bin so ein Trottel. Es tut mir so leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid.“

Meine Augen weiteten sich ein wenig. Cio entschuldigte sich. Immer und immer wieder. Aber es war nicht nur das was er sagte, sondern auch wie er es sagte. Es schmerzte bis in meine Seele und ließ mein Herz gleichzeitig ein kleinen wenig heilen.

„Ich hätte dir vertrauen müssen. Ich bin ein Dummkopf, ich habe alles kaputt gemacht. Es tut mir so leid.“

All der Hass und das Leid der letzten Tage schienen sich mit einem Mal von mir zu entfernen. Es war nicht vergessen – das ganz sicher nicht – aber genau hier in diesem Augenblick spielte es für mich nur noch eine geringe Rolle, denn er brauchte mich. Und wenn ich ehrlich zu mir selber war, dann brauchte ich ihn auch.

Ich löste mich aus dem Griff meine Mutter und strich ihm vorsichtig übers Haar. Er trug seine Mütze nicht und schien auch einfach nur schnell in irgendwelche Klamotten geschlüpft zu sein, um eilig herzuhasten.

„Ist schon gut“, sagte ich sanft und strich mit meiner Hand immer wieder über sein Haar. „Alles ist gut.“

Ein Gefühl der Ruhe überkam mich. In Moment, dort in der Küche, vergaß ich die Leute um mich herum. Meine Mutter und auch die Wächter. Sie waren nicht wichtig. Ich wollte nur, dass es Cio besser ging. Da musste ich mich doch wirklich fragen, ob ich masochistisch veranlagt war. Denn nur weil er gerade hier war, war die Welt nicht plötzlich wieder in Ordnung. Und trotzdem fühlte ich mich endlich nicht mehr so zerrissen. Dieser Mann, so stark er auch sein musste, zeigte gerade eine Verletzlichkeit, die ich ihm gar nicht zugetraut hatte. Er suchte Schutz bei mir – ausgerechnet bei mir! – und nur ich schien seine Wunden heilen zu können.

Es dauerte lange, bis das Beben seiner Schultern endlich nachließ. Und noch länger, bis er so weit war sich von mir lösen zu können. Er schien sich geradezu dazu zwingen zu müssen die Arme von mir zu nehmen und sich zurück auf die Beine zu arbeiten. Dabei versuchte er unbemerkt die Spuren in seinem Gesicht zu entfernen.

Als wenn das jetzt noch was gebracht hätte. Jeder hier in der Küche hatte mitbekommen, was gerade geschehen war. Aber Cio war eben ein Kerl und die weinten nun mal nicht – selbst dann nicht, wenn sie es gerade getan hatten.

Er schaute weg, schaute wieder zu mir und lächelte ein wenig schief. „Tut mir leid, bin wohl gerade ein wenig ausgeflippt.“

Ja, so könnte man es auch nennen.

„Ich … tut mir leid.“ Er senkte den Blick, offensichtlich unwissend, was er tun oder sagen sollte. Seine Haut war sehr blass, die Augen dunkel umschattet und völlig übermüdet. Er sah einfach nur fertig aus und das nicht nur wegen dem, was hier im Haus geschehen war. Die ganze Geschichte belastete ihn noch schlimmer als mich.

„Du solltest nach deinem Vater sehen“, sagte ich leise. „Das Betäubungsmittel ist ihm nicht bekommen.“

Er schaute zur offenen Küchentür, als könnte er Diego von dort aus sehen, schüttelte dann aber den Kopf. „Nein. Ich lass dich nicht mehr aus den Augen. Ist mir egal ob du das willst oder nicht.“ Seine Züge bekamen etwas Störrisches. „Ich lasse dich nicht mehr im Stich, ich passe auf dich auf.“

Augenblicklich distanzierte ich mich wieder ein wenig von ihm. „Ich gehe dich nichts mehr an.“ Das musste ich ihm klar machen.

„Das ist mir sowas von scheißegal.“ Er funkelte mich auf eine Art an, die eine ganz direkte Herausforderung war. „Vorerst wirst du mich nicht loswerden und da kannst du dich Kopfstellen.“

Meine Stirn legte sich in Falten. Ich war mir absolut nicht sicher, wie ich das finden sollte. Solche Entscheidungen standen ihm nicht mehr zu. „Du wolltest mir fremdgehen, Cio“, erinnerte ich ihn und mich gleich dazu. „Und hätte ich dich nicht erwischt, dann hättest du es auch getan.“ Das wusste ich mit Sicherheit.

Was daraufhin in seinem Gesicht aufflackerte, war nichts anderes als Reue. „Du hast recht“, sagte er ganz direkt. „Und das werde ich wohl bis ans Ende meines Lebens bereuen. Aber das spielt im Moment keine Rolle, nicht wenn es um dein Leben geht, also versuch erst gar nicht mich umzustimmen. Es wird dir nicht gelingen.“

Bevor ich noch die Gelegenheit bekam etwas dazu zu sagen, begann meine Mutter neben mir lautstark zu gähnen und damit die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

„Langsam werde ich wirklich müde“, teilte sie uns mit und rieb sich dann wie zum Beweis über die Augen. „Sei mir nicht böse, Donasie, aber ich glaube, ich fahre nach Hause und lege mich schlafen.“

Hä? „Nach Hause?“ Jetzt? Aber da durfte ich doch nicht hin. Natürlich war mir klar, dass ich zurück ins HQ musste – und das nicht nur, weil die Wächter es mir bereits mitgeteilt hatten. So wie die Dinge standen, war das im Moment der einzige sichere Ort für mich. Aber ich wollte da nicht allein hin.

Sie nickte. „Ja, nach dem ganzen Stress brauche ich ein wenig Ruhe und Erholung. Das verstehst du doch sicher.“

Sie brauchte das? Hallo? War ich irgendwie im falschen Film gelandet? Was war denn jetzt los?

„Das ist doch okay für dich, oder?“

Nein, das war es nicht. Ich wollte meine Mutter bei mir haben. Aber gleichzeitig wollte ich ihn nicht noch mehr Kummer zumuten, als sie diese Nacht schon hatte ertragen müssen. Zu hören, dass das eigene Kind beinahe getötet worden war, konnte für keine Mutter leicht sein. Nur deswegen sagte ich: „Klar doch.“ Trotzdem wusste ich nicht, wie ich es finden sollte, dass sie mich ausgerechnet heute, nach alles was geschehen war, allein lassen wollte. „Wenn du nach Hause möchtest.“

„Sehr schön.“ Beinahe schon übermütig, sprang sie leichtfüßig vom Tisch. Dann wandte sie sich Cio zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Dass er sich dabei anspannte, ignorierte sie einfach. „Du bist doch sicher so nett Zaira zurück ins HQ zu bringen.“

„Ähm ...“ Er warf mir einen flüchtigen Blick zu. In seinen Augen stand die gleiche Verwirrung, die auch mich gerade plagte. „Klar, ja, das kann ich machen, ich meine, das mache ich.“ Er runzelte die Stirn.

„Sehr schön. Bei dir wird sie in guten Händen sein.“ Sie widmete sich noch einmal mir, um mir zum Abschied einen Kuss auf dem Kopf zu geben und mir eine gute Nacht zu wünschen. Dann wandte sie sich zum Gehen, mahnte Cio im Vorbeilaufen aber noch: „Und dass du ja gut auf mein Mädchen Acht gibst.“ In der nächsten Minute war sie zur Tür hinaus.

Ich konnte ihr nur völlig verständnislos hinterher schauen. Warum war es ihr Wunsch, dass ausgerechnet Cio auf mich aufpasste? Sie wusste doch nur zu genau, wie es zwischen uns beiden stand und um ganz ehrlich zu sein, war ich von ihrer Idee ganz und gar nicht begeistert.

„Versuch gar nicht erst mich loszuwerden“, sagte Cio, sobald er den Widerwillen in meinem Gesicht bemerkte. „Ich werde nicht verschwinden.“

Leider kannte ich ihn nur zu gut, um zu wissen, dass jedes Wort von dem was er gerade sagte, sein vollster Ernst war. Das gefiel mir nicht, auch wenn ein ganz kleiner – mikroskopisch kleiner – teil sich darüber freute. Zeigte es mir doch, dass ich ihm nicht egal war. „Es wird rein gar nichts ändern“, erklärte ich mit fester Stimme. „Was geschehen ist, kannst du nicht mehr rückgängig machen.“

„Ich weiß.“ Seine Stimme klang traurig, doch leider konnte seine Reue mein Vertrauen nicht zurückbringen. Die Wunde war einfach zu frisch und zu tief, als dass ich ihm seinen Fehltritt einfach so verzeihen konnte – egal ob und wie viel ich ihm noch bedeutete.

Bevor wir dann aufbrachen, verstrich noch einmal eine halbe Stunde. Nicht nur weil Wächter Mirko noch ein paar Fragen an mich hatte, ich wollte auch noch nach Diego schauen. Er war wütend, leicht weggetreten und ein wenig grün um die Nase, aber ansonsten schien es ihm ganz hervorragend zu gehen. Dann rief ich noch bei Aric an, um in Erfahrung zu bringen, wie es Cayenne und Kiara ging.

Meine Erzeugerin hatte eine Gehirnerschütterung, die Wunde in ihrer Schulter musste genäht werden, aber ansonsten waren es nur oberflächliche Blessuren. Kiara lag im Operationssaal, ihre Gebärmutter war gerissen und das Baby hatte sie verloren. Wegnistens hatte sie nun was sie die ganze Zeit wollte, dachte ich bitter.

Was mit Joel war, wusste Aric nicht, aber er versprach sich bei mir zu melden, sobald er etwas erfuhr. Ich nahm ihm noch das Versprechen ab mich auch anzurufen, wenn Kiara aus dem OP kam, erst dann verließ ich zusammen mit Cio das Haus und setzte mich in einen Wagen der Wächter. Natürlich nahm er sofort neben mir auf dem Rücksitz platz, während sich vorne zwei Wächter einquartierten.

Als der Motor gestartet wurde, röhrten noch vier weitere auf. Sie brachten mich in einer ganzen Kolonne zurück in den Hof. Niemand wollte riskieren, dass mir etwas zustieß, nicht solange sie glaubten, dass ich der Schlüssel zum Ende dieser Mordserie sein könnte.

Es war eine stille Fahrt. Mit den Wächtern hatte ich nichts zu besprechen und mit Cio wollte ich nicht sprechen. Der Augenblick der Zweisamkeit war vorbei und nun wollte ich eigentlich nur noch, dass er wieder ging. Gleichzeit aber auch, dass er es nicht tat. Mir war doch wirklich nicht mehr zu helfen.

Um mich abzulenken, dachte ich an das, was ich gerade hinter mir hatte. Es war schrecklich gewesen, ja, und doch musste ich es tun. In der ganzen Hektik könnte es Spur geben, die uns endlich auf die richtige Fährte lockte, der entscheidende Hinweis sozusagen. Doch immer wieder schob sich mir ein ganz anderes Bild vor mein geistiges Auge. Cayenne, die auf blutend auf dem Boden kniete und ihre Tochter in den Schoß gezogen hatte. Und irgendwie tat das weh.

Auch ich hatte am Boden gelegen, aber Cayenne war an Kiaras Seite geeilt, nicht an meine. Sie hatte sich überhaupt nicht um mich gekümmert. Natürlich hatte sie versucht mich zu beschützen, als diese Geisteskranken ins Haus eingedrungen war, aber nachdem sie weg waren, war ich für sie nur noch ein stiller Teilnehmer gewesen.

Ich wusste, dass sie mich lieb hatte und auch, dass sie eine Beziehung zu mir haben wollte, aber nie war mir klarer gewesen, dass sie trotz allem niemals meine richtige Mutter sein konnte, nicht so wie Mama – wegen der ich jetzt mit Cio in einem Wagen saß.

Der Verdacht, dass sie das mit Absicht so eingefädelt hatte, kam mir nicht zum ersten Mal. Eigentlich war das ganz einfach herauszufinden.

Ich verbot mir all meine Gefühle – sowohl die Guten, als auch die Schlechten – und drehte den Kopf nach links. Mein Mund öffnete sich, nur um sich gleich wieder zu schließen. Ich zögerte. Ach nun komm schon, ist doch nur eine Frage und kein Heiratsantrag. Okay, schlechter Vergleich. „Sag mal“, begann ich vorsichtig, vermied es nun aber doch ihn anzuschauen. „Woher hast du gewusst, was passiert ist?“

Sein Blick richtete sich auf mich. Ich konnte es spüren. „Deine Mutter hat mir eine Nachricht geschrieben in der stand, dass du bei Cayenne bist und der Amor-Killer euch dort angegriffen hat.“

Wusste ich es doch. Verdammt Mama! Was sollte der Mist? Was bezweckte sie damit? Sie konnte doch nicht wirklich glauben, dass es etwas bringen würde, wenn sie mich und Cio in so einer Situation zusammen brachte.

„Sie hat mir damit wirklich den Schreck meines Lebens eingejagt“, fügte er noch hinzu. Er versuchte es scherzhaft klingen zu lassen, doch ich spürte die Wahrheit in seinen Worten. Er hatte Angst gehabt. Um mich. Verflucht.

Während der restlichen Fahrt, fiel zwischen uns kein Wort mehr. Ich versuchte auch nicht weiter darüber nachzudenken, was meine Mutter sich dabei gedacht hatte – mit mäßigem Erfolg. Doch mit der Zeit wurde mir eines klar: Das war das erste Mal, dass ein Opfer vor dem Amor-Killer gerettet worden war. Zwar war es nichts als Zufall gewesen, aber es machte doch irgendwie Hoffnung. Der Amor-Killer war nun nicht länger ein gesichtsloses Gespinst, er war aus Fleisch und Blut und man konnte ihm entgegentreten. Ich musste es wissen. Ich hatte nicht nur einen von ihnen sterben sehen und einen von ihnen weggestoßen.

Leider musste ich dann wieder an die Worte denken, die mir die übrigen Täter vor ihrer Fluch noch um die Ohren gehauen hatten. Ich würde auch noch an die Reihe kommen.

Plötzlich fröstelte es mich.

Der Hof kam schneller in Sicht, als ich gedacht hätte. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass ich die ganze Zeit so in Gedanken versunken war. Die Wächter entließen mich direkt vor dem Gebäude und bläuten mir noch einmal sehr eindringlich ein, dass ich diese Gemäuer nicht mal dann verlassen sollte, wenn das Dach in Flammen stand – nicht solange keiner von ihnen mich holen kam.

Cio versicherte ihnen, dass er schon aufpassen wird, dass ich drinnen blieb.

Ich sparte mir jeden Kommentar dazu und ging einfach hinein. Ich brauchte keine Aufpasser, der mich drinnen hielt, schon gar nicht Cio. Als ich versuchte ihm das noch mal deutlich zu machen und ihn aufforderte nach Hause zu gehen, sagte er schlicht: „Ich habe es versprochen, ich werde dich nicht mehr alleine lassen.“

Ja, und seine Versprechen hielt Cio immer. Das hatte er auch mit dem letzten versucht. Nur leider war die Art wie er es versucht hatte, das Allerletzte gewesen.

Denk nicht daran.

Genau, nichts denken, nichts fühlen. Als wenn das so einfach wäre.

Als wir uns meinem Zimmer nährten, wurde ich ein wenig nervös. Cio lief direkt hinter mir und ich musste mich einfach fragen, ob er mit in mein Zimmer kommen wollte. Aber das würde ich nicht erlauben, egal wie groß sein Beschützerinstinkt im Moment auch sein musste. Das war eine Grenze, die ich ihm nicht erlauben würde zu übertreten.

Aber so weit kam es gar nicht erst. Cio hatte nicht vor den Korridor zu verlassen. Er trat meine Tür gegenüber an die Wand und lehnte sich dort gegen. Es war genau die gleiche Stelle, an der er mich gestern Morgen überrascht hatte – war das wirklich erst einen Tag her?

Ich trat an meine Tür und war einen Augenblick wirklich versucht noch etwas zu sagen, aber ich hatte absolut keine Ahnung was. Was machte man in einer solchen Situation? Wie verhielt man sich? Leider besaß ich dafür kein Leitfaden und ich bezweifelte, dass ich etwas im Internet finden würde, also trat ich einfach ohne ihn noch einmal anzuschauen in mein Zimmer und schloss ihn aus.

Sobald die Tür zwischen uns war, atmete ich einmal tief durch. Vergiss ihn einfach, sagte ich mir. Tu so als wäre er gar nicht da. Mir blieb gar nichts anderes übrig als auf Autopilot zu schalten. Ich war müde und völlig fertig. Darum rechnete ich fest damit ins Land der Träume abzudriften, sobald das Licht aus war und mein Kopf das Kissen berührte. Leider stellte ich sehr schnell fest, dass ich meinen toten Punkt bereits hinter mir gelassen hatte, was zur Folge hatte, dass ich wieder damit begann, mich von einer Seite auf die andere zu drehen – konnte aber auch an dem Kerl liegen, der da vor meiner Zimmertür lauerte.

Nach einer Ewigkeit des Herumwälzens, gab ich auf. Es hatte keinen Sinn, nicht solange ich es nicht schaffte meinen Kopf abzuschalten. Darum schaltete ich das Licht wieder ein, schnappte mir mein Tablet und holte mir eines meiner vielen E-Books auf den Bildschirm. Nur schaffte mein übermüdetes Hirn es kaum, die ganzen Worte zu verarbeiten. Außerdem war mir nur zu deutlich bewusst, wie dünn die Wände hier waren. Cio musste mitbekommen haben, dass ich wieder aufgestanden war. Was er wohl dachte? Vielleicht war er ja doch gegangen.

Das ist doch völlig egal. Vergiss ihn einfach.

Entschlossen richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf den Text, nur um das Tablet zehn Minuten später mit einem genervten Seufzer wegzulegen und mich erneut zu erheben. Ich suchte mir noch eine halbwegs saubere Jogginghose aus meiner Tasche – ich sollte wirklich dringend Wäsche waschen – um dann entschlossen die Tür zu öffnen.

Cio stand immer noch an der gleichen Stelle und schaute mir entgegen. Natürlich. Er war ein Umbra. Er hatte gelernt stundenlang still in der Ecke zu stehen und so zu tun, als wäre er ein Teil der Einrichtung. Einen Augenblick war ich versucht ihn noch einmal wegzuschicken, vielleicht sogar ihn anzuschreien, damit er nach Hause ging und sich aufs Ohr haute – er sah so müde aus. Doch ich wusste, dass es nichts bringen würde. Und solange er hier draußen lauerte, würde ich hier drinnen auch keine Ruhe finden. Darum gab es nur eine Lösung. „Komm rein“, sagte ich leise, drehte ihm den Rücken zu und kroch zurück zu meinem Tablet in meine Bett.

Ich brauchte nicht aufschauen, um zu wissen, dass er der Aufforderung folgte. Ich hörte seine Schritte und auch wie der die Tür leise von innen schloss, bevor er sich mit verschränken Armen dagegen lehnte und damit begann das Zimmer unter die Lupe zu nehmen. Die obere Matratze, die trotz unserer Bemühungen nicht richtig im Gestell lag. Die Kissenstapel und Deckenberge, die sich darauf türmten. Ich hatte keine Ahnung, wo Alina und Tayfun die aufgetrieben hatten, also hatte ich sie alle einfach nach oben geschmissen.

Wieder versuchte ich mich auf mein Buch zu konzentrieren, doch seine Anwesenheit bewirkte, dass ich ihn ständig aus dem Augenwinkel beobachtete.

Er sah so fertig aus. Wenn er sich nicht bald hinlegte, würde er sicher irgendwann einfach umfallen. Ich meine, ich wusste ja, dass er nicht viel Schlaf brauchte, aber ganz ohne würde auch er nicht auf Dauer aushalten.

Verdammt, was kümmerte es mich eigentlich? Ich sollte ihn zu Teufel wünschen und seine Existenz verfluchen. Stadtessen erwischte ich mich dabei, wie ich den Mund öffnete. „Du solltest dich schlafen legen.“ Ich zeigte nach oben, um zu verdeutliche, was genau ich meinte. „Du siehst müde aus.“

Sein Blick richtete sich kurz nach oben, dann kroch ein kleines Lächeln auf seine Lippen. „Es geht schon.“

Natürlich, wie konnte es auch anders sein? Der große Umbra brauchte keinen Schlaf. Er brauchte nur eine Aufgabe, alles andere war unwichtig. Sollte er doch tun was er wollte. Konnte mir doch egal sein.

Leider wurde ich mir Cios Gegenwart mit jeder verstreichenden Minute bewusster. Es wurde so schlimm, dass ich den einen Satz dreimal lesen musste und hinterher immer noch nicht wusste was da stand. Es war weniger seine Anwesenheit, die mich störte, es war sein Wohlbefinden. Trotz allem was er getan hatte, lag es mir am Herzen. Und ihn hier so zu sehen, am ende seiner Kraft und dennoch zu stolz es zuzugeben, erinnerte mich an so viele Momente unseres gemeinsamen Lebens.

Ich wusste, dass ich es nicht tun sollte, einfach weil es falsch war. Aber genauso wusste ich, dass es nur einen Weg gab ihn dazu zu bewegen, sich etwas Schlaf zu holen. Darum rutschte ich bis und die Wand und klopfte dann neben mich auf die Matratze. „Leg dich hin, Cio, du musst schlafen.“

Als ich das sagte, stieß er sich sofort von der Tür ab, blieb aber genauso schnell wieder stehen. Er zögerte, als wäre er sich nicht sicher, ob ich ihn nur verarschen wollte.

„Na los, komm her.“ Bevor ich wieder zur Besinnung komme.

Was er dachte, konnte ich nicht sagen, denn während er sich die Schuhe von den Füßen trat, wich er meinem Blick aus. Er war Barfuß, keine Socken. Wahrscheinlich war er genau wie meine Mutter einfach losgestürzt, sobald er die Nachricht erhalten hatte.

Routiniert griff er als nächstes nach dem Knopf an seiner Hose. Verharrte dann aber wieder und ließ die Hände zurück an seine Seiten fallen. Gute Idee, die Hose sollte ruhig da bleiben wo sie gerade war.

Ich versuchte nicht darauf zu achten, wie er anschließend zum Bett kam und sich vorsichtig neben mir ausstreckte. Sein Gesicht war mir zugewandt, aber er lag so dicht an der Kante, das zwischen uns noch eine dritte Person bequem platz gefunden hätte. Gut so. Nur weil ich ihm erlaubte, sich neben mich ins Bett zu legen, hieß das noch lange nicht, dass er auf Tuchfühlung gehen durfte. Ich verzog das Gesicht. Wie sich das anhörte. Als wäre ich eine ehrfurchtgebietende Priesterin, oder so was, in deren Gegenwart alle auf die Knie fallen durften.

Gott, was ich schon wieder für Gedanken hatte. Ich brauchte wirklich dringend schlaf. Aber jetzt wo Cio hier neben mir lag, glaubte ich nicht, auch nur ein Auge zuzubekommen. Seltsam war nur, dass mich seine Nähe ruhiger werden ließ. Ich begann endlich mich zu entspannen und sogar das zu verstehen, was ich hier auf meinem Tablet las. Nur wusste ich nicht wie ich das finden sollte.

Natürlich war mir bewusst, dass Gefühle nicht einfach so über Nacht verschwanden. Ich liebte ihn, daran hatte sich nichts geändert. Aber er hatte mich auf eine Art verletzt, die sogar an meiner Seele zerrte. Das konnte ich nicht so einfach zu den Akten legen, denn leider war Cio ein Wiederholungstäter. Iesha war zwar nicht das beste Beispiel, aber bei ihr war es genauso verlaufen. Ich schaffte es einfach nicht ihm wieder zu vertrauen.

Langsam merkte ich, wie meine Augen schwerer wurden und auch mein Kopf alle Systeme nach und nach herunterfuhr. Ich war gerade am überlegen, ob es sich lohnen würde einen neuen gute-Nacht-und-Augen-zu-Versuch zu starten, als Cio seine Hand ausstreckte und sie auf meinen Bauch legte.

Sofort ruckte mein Blick zu ihm. Er hatte das zu unterlassen, doch noch während ich den Mund öffnete, um ihn anzufahren, musste ich feststellen, dass er schlief. Seine Augen waren geschlossen, die Atemzüge tief und gleichmäßig, der Körper völlig entspannt. Er suchte im Schlaf nach mir.

Ich wusste ich sollte das unterbinden, aber … ich wollte nicht. Es war dumm, masochistisch und in unserer Situation einfach nur falsch. Aber das hier war Cio und dass er sogar im tiefsten Schlummer meine Nähe wollte, riss einen teil meiner Mauern ein.

„Warum nur hast du mir nicht einfach vertrauen können“, fragte ich sehr leise.

Seufzend legte ich das Tablet weg, zog eines der Kissen hinter meinem Rücken hervor und schloss die Augen, damit der Schlaf nun auch endlich über mich kommen konnte. Seine Hand ließ ich dabei genau dort wo sie war.

 

°°°

 

Eine Welle der Lust überrollte mich und führte mich aus dem Taumel des Schlafes in einen Traum, der so viel mehr war, als eine Ausgeburt meiner Phantasie. Ein sanfter Kuss auf meiner Halsbeuge ließ nicht nur meine Haut kribbeln. Ich seufzte wohlig und verlor mich in den Berührungen starke Hände, die kundig meinen Schenkel hinaufglitten und am Bund meiner Hose verharrten. Das war so vertraut und … willkommen. Ich liebte diese Art von Berührungen, liebte das vorsichtige Herantasten und die Gefühle die meinen Körper durchfluteten.

Eine hauchzarte Berührung mit den Lippen. Erst auf dem einen Mundwinkel, dann auf dem anderen. Der Geruch nach ihm, er überflutete mich und ließ meine Sinne nach und nach zu neuem Leben erwachen.

„Cio“, flüsterte ich und dieses eine Wort war wie eine eiskalte Dusche. Auf einmal war mir nur allzu bewusst, was genau hier gerade geschah. Erschrocken riss ich die Augen auf. „Nein!“, rief ich und wollte ihn von mir wegstoßen.

Er war schneller. Noch in der Luft fing er meinen Arm auf, schwang dann eilig ein Bein über mich rüber und kniete sich über mich, als hätte er Angst, ich würde ihm sonst einfach weglaufen – was durchaus hätte passieren können.

„Was soll das?!“ Ich versuchte ihn mir der freien Hand wegzuschubsen, doch auch die fing er einfach ab, drückte sie mit der anderen über meinen Kopf in die Kissen und hielt mich fest.

„Nicht“, sagte er sehr leise, beugte sich wieder vor und begann erneut damit mich zu küssen. Auf die Wange, auf mein Kinn. Sein Atem streichelte meine Haut.

„Verdammt was machst du da?“ Von dem offensichtlichen einmal abgesehen. Ich buckelte unter ihm, doch davon ließ er sich nicht stören. Er fuhr mit einer Verzweiflung fort, die mich schlucken ließ. „Hör auf damit, lass das!“

„Nein.“ Wieder kaum mehr als ein Murmeln. Er rieb sein Gesicht an meinem Hals, nahm meinen Geruch in sich auf und drängte sich noch dichter gegen mich.

„Verdammt, Cio, hör auf, ich will das nicht!“

„Lass einfach los, Schäfchen.“ Seine Lippen zogen eine Spur über meine Kinnlinie. „Entspann dich. Denk nicht nach.“

Nicht nachdenken? Hatte er jetzt vollkommen den Verstand verloren?! „Nimm deine Finger von mir, ich will das nicht!“ Mein Herzschlag beschleunigte sich, aber nicht weil ich es so sehr genoss. Ich hatte keine Ahnung was in ihn gefahren war, aber ich wusste, dass ich das sofort beenden musste. Das durfte er nicht. „Was du da tust ist Vergewaltigung!“, fauchte ich ihn an und hoffte ihn damit endlich wachzurütteln.

Er erstarrte. Sein ganzer Körper spannte sich an, während sein Atem hektisch immer wieder gegen meine Haut stieß. „Tu das nicht“, flehte er mich an. „Mach es nicht zu etwas Schmutzigem.“

„Aber ich will nicht mit dir schlafen! Ich will nicht das du mich anfasst, oder mich küsst, oder sonst etwas!“ Verstand er denn nicht, wie sehr mich das schmerzte? Was es mich an Überwindung gekostet hatte, ihn überhaupt in die Augen zu schauen?

Dem Abgrund nahe drückte er seine Stirn gegen meine Schulter. „Ich kann dich nicht verlieren“, flüsterte er so leise, dass ich es kaum verstand. Er klammerte sich geradezu an mich, obwohl er es doch war, der mich in die Matratze drückte. „Schick mich nicht weg.“

„Lass mich los, Cio.“

Der Griff um meine Handgelenke wurde fester. Nicht so dass es wehtat, aber entkommen würde ich ihm aus eigener Kraft ganz sicher nicht. Er wollte nicht von mir ablassen. Er kauerte einfach über mir und schien fieberhaft zu überlegen, wie er mich umstimmen konnte.

„Elicio“, sagte ich sehr streng. „Nimm deine Hände weg. Sofort!“ Sonst würde ich anfangen zu schreien und bei den dünnen Wänden, würde mein Zimmer innerhalb kürzester Teit von der halben Besatzung dieses Gebäudes gestürmt werden.

Erst reagierte er nicht, doch dann spürte ich, wie seine Hände sich lockerten. Es schien ihn all seine Kraft zu kosten, mich freizugeben und sich aufzurichten.

Sobald ich die Möglichkeit hatte, rutschte ich von ihm weg und riss sogar schützend meine Decke vor mich. „Raus“, knurrte ich.

Seine Augen flehten mich an das nicht zu tun.

„Verlass mein Zimmer.“

„Bitte, nein.“ Er kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. „Lass mich … lass mich einfach machen, dann kommt alles wieder in Ordnung.“

„Was?“ Er hatte wirklich den Verstand verloren? „Du glaubst, wenn du mich zum Sex zwingst, wir unsere Liebe neu erblühen? Hast du sie noch alle?!“

„Aber so hat es doch auch begonnen.“ Er rückte etwas näher, als könnte er mich so von seinem Vorhaben überzeugen. „Weißt du nicht mehr? Damals in Neuss beim Gracia-Rudel? Du wolltest … du hast immer versucht mich wegzustoßen, aber ich habe nicht aufgegeben und am Ende … dann hast du mich geliebt.“ Er schaute mich flehentlich an. „Du musst es nur zulassen, dann wird alles wieder gut.“

Ach du … scheiße. „Du glaubst ich hätte mich in dich verliebt, weil wir miteinander geschlafen haben?“

Meine Worte verunsicherten ihn. Ich sah es ihm an.

Seufzend strich ich mir durchs Gesicht. Oh Gott, was lief hier eigentlich für ein Film? Und das alles direkt nach dem Aufwachen. „Cio, als mir klar wurde, dass ich dich liebe, standen wir in Arics Zimmer, während deine Freundin besoffen auf der Couch geschlafen hat und du mir unbedingt einen Geburtstagskuss geben wolltest.“ Ich schüttelte den Kopf. „Und damals hattest du auch noch nicht versucht mich zu betrügen.“

Die eiskalten Worte waren wie ein Dolchstoß für ihn. „Aber … da hatte ich doch noch gar nichts getan um dich zu gewinnen.“

Nein, das hatte er nicht und es war auch nie nötig gewesen. Es war seine Art, sein ganzes Wesen, das mich fasziniert und für ihn eingenommen hatte. Sein Lachen, der Funke in seinen Augen, der offene Umgang. Und ja, auch die Tatsache, dass er sich nie hatte abschrecken lassen, egal was für Marotten ich an den Tag gelegt hatte. „Wir können nicht mehr zurück“, sagte ich leise und hoffte das er es verstand. „Das Vertrauen zwischen uns ist zerbrochen und das lässt sich nicht so einfach wieder flicken.“

„Aber wir können es doch wenigstens versuchen!“, hielt er sofort dagegen. „Es ist nur zu scheitern verurteilt, wenn wir es nicht probieren. Bitte.“ Sein Gesicht spiegelte seinen inneren Schmerz wieder. „Ich brauche dich zum Leben und … nein, du bist mein Leben und wenn du mich wegschickst … bitte, tu das nicht. Ich will dich nicht verlieren.“ Seine Hände krallten sich ins Laken. „Ich kann dich nicht verlieren. Ich liebe dich doch und wenn du nicht mehr da bist … ich bin nur am durchdrehen und … bitte, gib uns noch eine Chance. Wenn wir es nur versuchen, dann können wir es schaffen. Zusammen schaffen wie alles.“

Die Hand, die ich die ganze Zeit zusammen mit meiner Decke an meine Brust gedrückt hatte, sackte langsam herab, während ich seine Worte verarbeitete. „Was hast du gesagt?“, fragte ich so leise, dass es kaum mehr als ein Hauch auf meinen Lippen war.

Er machte den Mund auf, schien sich aber nicht sicher zu sein, was genau ich meinte. Oder wie er meine Reaktion einschätzen sollte. „Ich … ich weiß nicht“, sagte er zögernd.

Also war das wohl nur so dahingesagt gewesen, um mich von seinem Vorhaben zu überzeugen. Mein Blick sank herab, als die Enttäuschung von mir Besitz ergriff. Natürlich hatte er das nur so gesagt. Was hatte ich denn anderes erwartet? Und es würde sowieso nichts ändern, einfach weil …

„Ich liebe dich, Zaira.“

Mein Denken erstarrte, als mein Blick sich von ganz alleine auf ihn richtete. „Was?“

„Ich weiß ich hätte es schon früher sagen sollen, aber irgendwie habe ich nie den Richtigen Moment gefunden und dann war da immer diese Angst, die mich daran hinderte und …“

Weiter kam er nicht. Ich hatte ihn so schnell an mich gezogen und seinen Mund mit meinem verschlossen, dass der Rest seiner Worte sich einfach in Luft auflösten.

Er liebte mich. Er hatte endlich diese verdammten drei kleinen Worte gesagt, auf die ich schon so lange gehofft hatte und auf einmal war der ganze Rest egal. Scheiß auf die Nacht bei Tayfun, scheiß auf seinen Betrugsversuch. Andere Pärchen machten schließlich hin und wieder Krisen durch und ließen sie dann wieder hinter sich. Warum sollte uns das nicht auch gelingen? Und … und … oh mein Gott, er hatte es wirklich gesagt, er liebte mich!

Cio ließ sich nicht lange bitten. Ob ihn meine Reaktion überraschte, ließ er sich nicht anmerken. Er erwiderte den Kuss nicht nur, er riss auch sofort das Ruder an sich. Sein Arm schlag sich um meine Hüfte, zog mich auf seinen Schoß. Mit der anderen Hand begann er die Knopfleiste an meinem Hemd so hektisch zu öffnen, dass sicher einer oder zwei Knöpfe verloren gingen. „Ich liebe dich“, flüsterte er an meinen Lippen, riss mir ungeduldig das Hemd von den Schultern und küsste mich wieder.

Oh Gott. Bis jetzt hatte ich gar nicht geahnt, wie sehr ich das hatte hören müssen. Dass er es nun sagte – immer und immer wieder – er hatte wahrscheinlich gar keine Ahnung, was mir das bedeutete, wie tief diese Worte in mich drangen und das sie nicht nur mein Herz berührten , sondern auch meine Seele.

„Ich habe dich so vermisst.“ Eine Hand griff in mein Haar und zog meinen Kopf nach hinten. Sofort begann Cio an meiner entblößten Kehle zu knabbern und hörte gespannt zu, wie mein Atem immer schneller wurde.

Ich klammerte mich an seine Schultern, schloss meine Augen und ließ mich von der Flut der Gefühle überrollen. Es war dumm von mir gewesen zu denken, ich könnte ohne das hier leben. Er brauchte mich zum leben? Mir ging es nicht anders.

Dieser Gedanke ängstigte mich. Nie war mir deutlicher vor Augen geführt worden, wie abhängig wie mittlerweile voneinander waren.

Mein Herzschlag beschleunigte sich, als seine Hand meinen Oberkörper erkundeten und den Weg für seine Lippen bahnten. Ein Laut, der tief aus meiner Seele zu kommen schien, schlüpfte über meine Lippen. Im nächsten Moment ließ Cio mich nach hinten kippen.

Überrascht klammerte ich mich an ihm fest, doch er ließ mich nicht los, nicht bis ich sicher auf dem Rücken lag.

„Cio“, seufzte ich, als seine Lippen Berge und Täler erkundeten, bis sie fast im Süden angekommen waren. Meine Hände griffen von ganz allein in sein Haar, als er mir langsam den Slip samt Hose herunterzog. Meine Schenkel öffneten sich allein für ihn. Und dann konnte ich mich ein ganzes Weilchen auf nichts anderes konzentrieren, als auf diesen kleinen Punkt in meiner Körpermitte, der mich quälend süßes Wonne erleben ließ.

Wie sehr ich das hier vermisst hatte. Wie sehr ich ihn vermisst hatte.

Mein Atem kam immer hektischer über meine Lippen, mein Herz schien mir aus der Brust springen zu wollen. Oh Gott, was machte dieser Kerl da nur mit seiner Zunge?

Die Antwort darauf bekam ich in Form einer Woge der Wollust, die über mich hinweg brandete. Ich warf den Kopf in den Nacken und stöhnte völlig ungeniert, während ich die Gefühle bist zum Letzten in all seinen Facetten auskostete.

Damit war Cio aber noch lange nicht mit mir fertig. Die Wonne pulsierte noch doch meine Adern. Mein Körper begann sich zu entspannen, während Cio an mir heraufrutschte und unsere Lippen sich ein weiteres Mal fanden.

Meine Hände waren träge und doch konnte ich der Versuchung nicht widerstehen und ließ sie unter sein Shirt wandern. Ich schob es immer weiter nach oben, bis Cio sich ihm endlich entledigte, nur um sich sofort wieder auf mich zu stürzen.

„Ich liebe dich“, flüsterte ich und strich seinen Bauch hinab, um an den Knopf seiner Hose zu kommen. Nach meiner Meinung hatte er noch immer viel zu viel an und dass musste ich schleunigst ändern. „Du hast mir so gefehlt.“

Cio gab ein äußerst seltsames Geräusch von sich, als ich den Knopf durch das Loch springen ließ und den Reißverschluss herunter zog. Beinahe schon provozierend langsam schob ich ihm die Hose über den Hintern, sodass Cio sich gezwungen sah mir ungeduldig zu Hand zu gehen. Dabei riss er sich die Hose nicht nur vom Leib, er schmiss sie auch so achtlos von sich, dass sie nicht nur quer durch das Zimmer flog, sondern auch noch auf dem Schrank landete. Keine Shorts – wie praktisch.

Nun hatte ich endlich freien Zugang und nutzte das voll aus. Ich genoss es geradezu, wie sein Atem immer schneller wurde und es kaum noch schaffte, seinem eigenem Vorhaben nachzugehen.

„Oh Gott, Schäfchen“, stöhnte er und vergrub sein Gesicht an meiner Brust. „Ich war so dumm.“ Seine Hände klammerten sich an mich. „Bitte sagt mir, dass ich dich noch nicht verloren habe. Ich brauche dich.“

Ich hielt mitten in der Bewegung inne.

Aus Angst etwas falsches gesagt zu haben, schnellte sein Blick sofort nach oben, doch ich legte ihm sogleich beruhigend eine Hand auf die Wange.

„Wie könntest du mich verlieren?“, fragte ich leise. Mein Daumen wanderte an seinem Auge entlang. Die Ringe waren nicht ganz verschwunden, doch die tiefen Schatten hatten sich ein wenig zurückgezogen. „Du bist doch mein Lebenselixier.“

Es war Erleichterung, die in seinen Augen aufflackerte, bevor er sie langsam schloss. Ein tiefer Atemzug, ein wenig zitterig. Ich fühlte es auf meiner Haut. „Verlass mich nie wieder. Bitte, tu mir das nie wieder an. Das verkrafte ich nicht.“

Genau wie ich. Der Schmerz der letzten Tage war so erschütternd und übermächtig gewesen, dass ich mir hier in diesem Augenblick gar nicht erklären konnte, wie ich das überstanden hatte. Aber jetzt war er hier bei mir und ich wusste, dass ich ihn nicht wieder gehenlassen konnte. Es war egal, wie sehr er mich verletzt hatte, es ging nicht. Cio war mir nicht nur unter die Haut gegangen, er hatte sich dort festgekrallt. Würde ich versuchen ihn zu entfernen, würde das uns beide in Stücke reißen.

„Komm her“, flüsterte ich und zog seinen Mund für einen Kuss an meine Lippen. Ich wollte ihm zeigen, was er mir in diesem Moment bedeutete. Das was zwischen uns war, war keine Kleinigkeit. Es ging so viel tiefer, als alles was ich bisher kennengelernt hatte.

Meine Beine schlangen sich um seine Hüfte und dann wurden wir eins. Wir vereinigten uns in Körper und Geist. Wir suchten die Nähe und den Halt des anderen und wir fanden unser Utopia, in dem nur wir existieren und unsere Gefühle regierten.

Es war nicht das erste Mal, dass wir diesen Punkt erreichten, doch schien er dieses Mal so viel bedeutungsvoller und intensiver. Vielleicht weil das der Augenblick war, in dem die Wunden, die wir uns gegenseitig zugefügt hatten, endlich zu heilen begannen. Es war auch egal. Wichtig war nur, dass wir beide hier waren, jeweils im Arm des anderen und die Schwelle der Leidenschaft gemeinsam überschritten.

Selbst in den Nachwehen konnten wir uns nicht voneinander lösen – nicht dass einer von und das vorgehabt hätte. Wir hielten einander nicht nur fest, wir berührten und küssten uns unablässig. Erst als die entspannende Erschöpfung über uns kam und unsere Bewegungen träger wurden, bettete Cio seinen Kopf mit einem Seufzen an meine Brust.

Wie ich es schon so oft getan hatte, ließ ich meine Finger immer wieder durch sein Haar und über seinen Nacken gleiten, bis er eine Gänsehaut bekam. Das ließ mich lächeln, doch schon sehr bald verbalste es wieder ein wenig.

Was so stürmisch begonnen hatte, legte sich nun zur Ruhe und setzte meine Gedanken wieder in Bewegung. Was ich gesagt hatte, jedes Wort davon war ehrlich gemeint, aber Worte konnten das Vergangene nicht ungeschehen machen. Ja, ich wollte es noch einmal versuchen. Selbst wenn das hier jetzt nicht geschehen wäre, wäre ich früher oder später wieder in seinen Armen gelandet – das war ich mir sicher. Aber das änderte nicht daran, dass unserer gegenseitiges Vertrauen stark gelitten hatte.

Ich sollte versuchen das Ganze mal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, sozusagen die gute Seite sehen. Ja, er hatte etwas für mich Unvorstellbares vorgehabt, aber er hatte es nicht getan. Natürlich nur, weil ich ihm in die Quere gekommen war, aber … verdammt, ich wollte doch nur die gute Seite daran sehen!

Und das mit Tayfun … hm, irgendwie konnte ich daran absolut keine positiven Seiten finden. Ich hatte damit an Cios tiefsten Ängsten gerüttelt, da ließ sich nichts schönreden. Natürlich, es war keine Absicht gewesen, aber das änderte nichts an dem Ergebnis.

Seufzend strich ich mit dem Finger seine Wirbelsäule hinab und ließ meine Hand dann dort liegen. „Was sollen wir denn jetzt tun?“

Ohne den Kopf zu heben, hauchte er mir einen Kuss auf die Brust. „Wie wäre es mit einer zweiten Runde?“

Dafür bekam er einen bösen Blick. „Ich meine es Ernst.“

„Ich auch.“

Okay, dafür gab es nun einen Klapps auf den nackten Hintern.

Mit einem tiefen Atemzug schwand der Schalk. Seine Umarmung wurde ein wenig fester. „Ich weiß nicht was du hören möchtest. Ich … keine Ahnung. Können wir nicht einfach da weitermachen, wo wir aufgehört haben?“

Das wäre wirklich schön. All die Fehler einfach vergessen, als wären sie nie geschehen. „Ich weiß nicht, ob das so funktionieren wird.“

„Doch, wenn wir daran glauben.“ Er stützte sich auf die Unterarme und schob sich etwas hoch, sodass sein Gesicht direkt über meinem schwebte. „Wenn wir zusammen sind, dann schaffen wir alles. Wir … also als Team, wir sind unschlagbar. Das waren wir schon immer.“

Dem konnte ich nicht widersprechen. „Aber sind wir denn noch ein Team?“, fragte ich sehr leise.

„Wenn wir es nicht versuchen, werden wir es nicht erfahren.“ Er lehnte seine Stirn gegen meine. „Ich will es versuchen, ich will das es funktioniert. Und wenn ...“ Er stockte, schluckte einmal krampfhaft und kniff dann die Augen zusammen. „Selbst wenn du mit Tayfun, oder sonst einem Kerl in die Kiste gehst … es ist … ich würde nichts sagen. Verlass mich nur nie wieder.“

Meine Augen weiteten sich entsetzt. „Was sagst du da? Spinnst du?!“

Er verzog gequält das Gesicht. „Ich wollte nur sagen ...“

„Ich habe sehr gute Ohren, ich weiß was du gesagt hast.“ Ich griff nach seine Gesicht und zwang ihn mich anzuschauen. „Glaubst du wirklich, dass ich dir sowas antun könnte? Warum sollte ich durch fremde Betten hüpfen, wenn ich dich doch habe?“

„Ich weiß nicht“, sagte er langsam.

„Kann ich verstehen, mir fällt auch kein guter Grund ein, weil allein die Vorstellung völlig absurd ist. Kein Mann kann dir das Wasser reichen. Und ganz ehrlich, wenn es dich nicht stört, wenn ich mit einem anderen Mann schlafe, dann ist dieser Versuch bereits jetzt zum scheitern verurteilt.“

Er senkte die Augenlider. „Ich habe nicht gesagt, dass es mich nicht stören würde.“

„Und das ist auch gut so.“ Ich hob seinen Kopf etwas hör, damit er mich wieder ansah. „Aber bitte, du musst mir versprechen, dass du niemals – und damit meine ich wirklich nie wieder – einen solch törichten Versuch unternimmst unsere Beziehung zu retten. Ein zweites Mal verkrafte ich das nicht.“ Das musste ich ihm einfach klar machen. Im Moment war ich mir nicht mal sicher, wie ich den ersten Versuch verarbeiten sollte.

„Nie wieder“, versprach er. „Ich bin nicht so dumm den selben selbstzerstörerischen Fehler zweimal zu begehen.“

„Gut.“ Ich zog ihn zu einem sehr langen Kuss an meine Lippen. Die Zeit schien eine ganze Ewigkeit lang still zu stehen, während wir einfach nur dalagen, uns küssten und auf eine Art berührten, die allein uns gehörte. Es war irgendwie irreal und doch alles was ich mir für diesen Moment wünschte.

Leider hielt nichts ewig, denn die Welt dort draußen vor der Tür hatte mich nicht vergessen. Ich badete geradezu in Cio Wärme und genoss sein Gewicht auf mir, als wir sehr unschön durch mein Handy unterbrochen wurden, einfach indem es klingelte.

Einen Moment war ich versucht es zu ignorieren, doch dann erinnerte ich mich daran, das Aric mich anrufen wollte, sobald es etwas neues gab. Also löste ich mich von Cio, beugte mich zur Seite und angelte mit ausgestrecktem Arm nach meinem Handy auf dem Boden – die sollten hier wirklich ganz dringend einen Nachttisch reinstellen. Da ich so aber nicht rankam, schob ich Cio zur Seite und richtete mich halb auf. Sobald ich samt Handy wieder sicher im Bett kniete, warf ich einen Blick auf mein Display. Es, war nicht Aric. Trotzdem war es ratsam den Anruf entgegenzunehmen. „Hi Papa“, sagte ich, sobald ich es mir an Ohr hielt.

„Hallo mein Schatz. Hab ich dich geweckt?“

„Nein.“ Ich setzte mich ein wenig bequemer hin. „Ich bin schon eine ganze Weile wach.“ Das war keine Lüge. Ich hatte es bisher nur noch nicht aus dem Bett geschafft. Aber warum das so war, würde ich ihm mit Sicherheit nicht unter die Nase reiben.

„Hast du denn schlafen können?“, fragte er sehr vorsichtig.

„Mama hat dir wohl schon erzählt, was passiert ist.“

Das Bettzeug raschelte, als Cio sich aufrichtete und damit begann meine Schulter zu küssen. Das machte er nicht um mich zu ärgern, oder in Verlegenheit zu bringen. Er suchte schlich meine Nähe und versicherte sich damit, dass er das wieder durfte.

„Sie hat mich heute morgen angerufen.“ Er gab ein schweres Stöhnen von sich. „Es tut mir leid, dass ich nicht da gewesen bin. Ich habe deswegen bereits mit Murphy gesprochen. Solange der Killer noch herumläuft, werde ich keine Aufträge mehr annehmen, egal wie dringend wir einen Schlossknacker brauchen.“

Schlossknacker? „Du meinst wohl, die Killer. Es sind zwei. Der dritte ...“

„Ja, ich weiß, der Stachel des Skorpions.“

Hä? „Ähm … nein, Cayenne hat ihm irgendwas ins Herz gerammt. Ich glaube es war der Anhänger ihrer Kette.“

Papa gab ein halb gequältes Lachen von sich. „Oh mein Schatz, manchmal bist du noch so unschuldig.“

Was sollte den dieser Spruch nun? Wollte er mich ärgern?

Ich bekam eine Gänsehaut, als Cio seine Finger ganz sachte über meinen Arm streichen ließ.

„Hör zu, warum ich anrufe, ich bin eben in Silenda angekommen. Ich sammle jetzt deine Mutter ein. Dann wollte noch schnell Essen beim Italiener holen und wäre dann so in zwanzig bis dreißig Minuten bei dir im HQ. Dann kannst du mir in Ruhe erzählen, was passiert ist.“

„Okay.“

„Möchtest du irgendetwas besonderes haben?“

„Nein, das gleiche wie immer.“

„Gut. Und ...“ Er machte eine kurze Pause in dem er einen tiefen Atemzug nahm. „Es wir alles wieder gut werden.“

„Ich weiß.“ Mein Blick legte sich auf Cio. Ein erster Schritt in die richtige Richtung war sogar schon getan.

„Dann bis gleich.“

„Bis gleich.“ Ich drückte den Anruf weg und legte das Handy zur Seite.

Cio begegnete meinem Blick ein wenig gequält. „Dein Vater hat dir nicht gerade zufällig mitgeteilt, dass er plötzlich eine Schwäche für mich entwickelt hat?“

Das war echt ein guter Witz. „Keine Angst du großer Umbra, ich werde ich doch vor meinem Papi beschützen.“

„Ich nehme dich beim Wort, ich würde meine Eingeweide und Gliedmaßen nämlich gerne da behalten, wo sie sich gerade befinden.“

„Keine Sorge, ich werde ihm verbieten, dir auch nur ein Haar zu krümmen.“ Ich gab ihm einen verspielten Kuss auf die Nasenspitze. „Und wenn das nicht funktioniert, kannst du dich immer noch hinter mir verstecken.“

„Ja, weil ich niemals schnell genug sein werde, vor ihm davonzulaufen.“

Nein, das war er nicht. Aber ich würde schon aufpassen, dass Papa ihn in Frieden ließ. Noch nicht mal die letzten Tage hätte ich gewollt, dass er Cio etwas tat und das obwohl ich wusste, dass er dazu durchaus in der Lage war. „Na los, komm in die Gänge. Papa wird gleich hier auftauchen und ich will vorher noch duschen gehen.“

„Da komme ich mit.“

Da die anderen Frauen dieser Einrichtung es sicher nicht gutheißen würden, wenn ein Mann sich in ihrem Waschraum aufhielt und ich ganz sicher nicht zu einer Horde nackter Männer in einen anderen Duschraum ging, trennten sich unsere Wege auf dem Korridor.

Es war seit einer gefühlten Ewigkeit das erste Mal, dass ich mich in meiner Haut wieder wohl fühlte. Auch wenn noch nicht alles wieder in Ordnung war und es noch einiges zu regeln gab, so war ich endlich einmal wieder glücklich. Einfach nur … glücklich. Die ganze Zeit klebte ein Lächeln in meinem Gesicht, das selbst dann nicht verschwunden wäre, wenn ich es gewollt hätte. Es hatte sich festgesetzt.

Als ich die Dusche verließ und Cio direkt davor auf dem Flur sah, wurde es sogar noch breiter. Nicht weil ich mich so freute ihn zu sehen, sondern wegen dem albernen Shirt, das er trug. Es war knallgelb und mit einem dutzend Pfotenabdrücken auf der Brust. Darüber stand in großen Buchstaben: Katzenkampfzone. Das hatte er sich sicher aus der Kleidersammlung im Lager geholt.

„Schickes Shirt.“ Ich nahm meine Sachen in die eine Hand und begann mit der anderen auf jede einzelne der Pfotenabdrücke zu tippen. „Wenn musstest du dafür überfallen?“

Er versuchte böse zu gucken. Klappte nicht. „Es war das einzige in meiner Größe, dass ich auf die Schnelle gefunden habe.“

Ah ja. Ich lupfte sein Hosenbein. „Ah, und Socken hast du auch gefunden. Sind da die passenden Kätzchen drauf?“

„Wirklich, sehr witzig.“

Ich grinste. „Finde ich auch. Wie sieht es mit den Shorts aus?“ Vorhin hatte er schließlich keine angehabt.

Cio antwortete nicht. Stattdessen nahm er mein Gesicht zwischen die Hände. „Ich liebe dich, Schäfchen.“

Mein Grinsen wurde weicher. „Ich glaube, ich werde nie genug davon bekommen, das zu hören.“

„Dann werde ich es dir ab jetzt jeden Tag sagen.“

„Das hört sich toll an, aber …“ Wie formulierte ich das jetzt am Besten? „Wir müssen reden Cio. Nur weil wir es noch einmal versuchen, heißt das noch lange nicht, dass wieder alles in Ordnung ist.“

Seine Züge nahmen etwas Gequältes an. „Du weißt doch, ich kann nicht so gut reden.“ Er forschte in meinem Gesicht. „Ich schlage vor, du redest und ich höre dir zu, in Ordnung?“

Mein Blick wurde Ernst. „So funktioniert das nicht.“

Er atmete tief ein und gab sich dabei geschlagen. „Okay, du hast recht. Wir reden, sobald wir das mit deinem Vater hinter uns gebracht haben.“

„Das hört sich gut an.“ Ich beugte mich vor und küsste ihn. Eigentlich hatte es nur ein flüchtiger Kuss werden sollen, doch Cio hielt mein Gesicht noch immer fest und hatte nicht vor, das hier so schnell zu beenden. Und ich ließ es zu. Ich wollte das genauso sehr wie er, brauchte es. Es war fast, als stünden wir wieder am Anfang unserer Beziehung, nur dass wir dieses Mal viel vorsichtiger miteinander umgingen. Wir waren uns eben beide noch nicht sicher, wohin das führte und was der andere uns nun zugestand. Es war komisch und das nicht unbedingt auf eine gute Art.

Meine Hand entwickelte ein Eigenleben. Sie fasste Cio beim Hosenbund und zog ihn so nahe an mich, dass ich seinen beständigen Herzschlag an meiner Brust spüren konnte. Das hatte mir gefehlt. Ich wollte das nie mehr missen müssen. Hoffentlich bekamen wir das hin. Ich brauchte ihn doch.

Eine Zeitlang verlor ich mich völlig in Cios Zuneigung. Erst als ein Räuspern erklang, dass ich beim dritten Mal langsam aber sicher als störend empfand, löst ich mich vorsichtig von ihm, um herauszufinden, wer da die Frechheit besaß uns ausgerechnet während unserer Versöhnung zu stören. Doch als ich sie sah, wurden meine Augen einfach nur groß. „Cayenne?“

Cio gab mein Gesicht frei, griff aber sofort nach meiner Hand. Er forderte Cayenne geradezu dazu auf, etwas dazu zu sagen.

„Diego war so nett mich herzufahren. Ich wollte sehen, wie es dir geht.“ Mit hochgezogener Augenbraue, schaute sie von mir zu Cio und wieder zurück. „Im Moment scheinst du dich jedenfalls nicht beklagen zu können.“

Nein, ich würde nicht rot anlaufen! Es gab absolut nichts, für das ich mich schämen müsste.

„Und ich wollte mich bei dir bedanken. Ohne dich würde ich jetzt wohl nicht hier stehen.“

Ja, weil sie auf dem Boden gelegen hatte, nur einen Herzschlag vom Tod entfernt. Der Pfeils des Schützens hätte sie sicher getötet, wenn ich mich nicht auf ihn gestürzt hätte. Doch das war gerade nebensächlich. Etwas anderes fand ich fiel wichtiger. „Aber was machst du denn hier? Solltest du nicht im Krankenhaus sein?“

Sie verzog ein wenig das Gesicht und griff nach Sydney Fell, als bräuchte sie diesen Halt, um nicht zusammenzubrechen.

Er drückte sich sofort an ihr Bein.

„Die Ärzte haben gesagt, ich dürfte wieder nach Hause. Meine Schulter ist zwar dick bandagiert und mein Kopf veranstaltet ein Solo im Schlagzeugspielen, aber ansonsten geht es mir soweit gut.“

„Das ist gut.“ Ich zögerte mit der nächsten Frage. „Und Kiara? Aric sagt, sie musste operiert werden.“

Trauer verdunkelte ihre Augen. „Sie hat das Kind verloren und ...“ Sie schüttelte den Kopf. „Ihre Gebärmutter ist gerissen und wahrscheinlich wird sie nun niemals eigene Kinder bekommen können.“

„Oh mein Gott.“

„Aric ist gerade bei ihr. Er will sie im Moment nicht aus den Augen lassen.“

Ja, das kannte ich irgendwoher. „Und Joel?“

Hilflos zuckte sie mit den Schultern, bereute es aber augenblicklich. Das musste wehgetan haben. „Er hat einen zweiten Infarkt erlitten, direkt nach seiner Ankunft im Krankenhaus. Das Betäubungsmittel greift sein Herz an. Im Moment ist sein Zustand kritisch. Die Ärzte sagen, dass die nächsten vierundzwanzig Stunden entscheidend sind.“

„Das heißt er kann sterben?“, fragte ich sehr leise und konnte kaum glauben was ich da hörte.

Cayenne sagte nur: „Wir hoffen auf das Beste.“

Ich brauchte nicht noch einmal nachfragen, um den Sinn dahinter zu verstehen. Würde Joel an den Folgen des Angriffs wirklich sterben, wäre er der erste Reinblüter auf Amors Liste. Zwar wäre er nur ein Kollateralschaden, aber deswegen würde es noch lange nicht an Bedeutung verlieren.

Wenn ich genau darüber nachdachte, war sogar bereits ein Reinblütiger wegen dem Killer tot. Kiaras Baby würde niemals das Licht der Welt erblicken. „Ich möchte sie besuchen“, sagte ich leise. „Im Krankenhaus. Ich möchte ins Krankenhaus.“

Cayenne schüttelte den Kopf. „Das geht nicht, das würde Sadrija niemals erlauben und ich werde nicht zu ihr gehen und sie darum bitten. Du musst hier bleiben, nur hier ist es sicher für dich.“

„Aber ...“

„Nein“, schnitt sie mir das Wort sofort ab. „Du bleibst hier.“

Das war wohl das erste Mal, dass Cayenne mir etwas abschlug und ich war absolut nicht begeistert, dass sie ausgerechnet heute damit beginnen musste.

„Sie hat Recht, Schäfchen.“ Er zog an meiner Hand, bis ich zu ihm aufsah. „Nur hier kann man dich richtig beschützen.“

Na toll, einfach fantastisch. „Wie gut das ich hier in Sicherheit eingesperrt bin, während alle anderen ...“

„Cayenne!“, rief eine aufgeregte Stimme den Korridor hinunter. Es war Alexia, Murphys weißhaarige Gefährtin. „Schnell, du musst kommen, es hat ein neues Opfer gegeben. Hier am Hof!“

Oh nein, bitte nicht.

Meine Gedanken standen Cayenne ins Gesicht geschrieben. „Wer ist es?“

„Ich weiß nicht. Aber es soll direkt hinterm HQ passiert sein. Komm.“ Noch während sie sprach, ging sie bereits rückwärts und nachdem sie alles gesagt hatte, wirbelte sie herum und lief den Weg zurück, den sie gerade erst gekommen war.

Cayenne warf mir noch einen kurzen Blick zu. „Du bleibst hier“, befahl sie mir und folgte dann ihrer Kollegin aus dem Keller.

Ich schaute zu Cio hoch.

„Wir haben uns noch nie etwas sagen lassen, oder?“, fragte er ganz direkt.

„Nein haben wir nicht.“

„Dann sollten wir jetzt nicht damit anfangen.“

Da war ich ganz seiner Meinung. Ich legte meine Sachen eilig an der Wand ab und rannte dann hinter Cayenne her. Cio blieb direkt an meiner Seite.

Wir waren nicht die einzigen, die von der Nachricht erfahren hatten und aus dem HQ eilten, doch nur ich wurde am Eingang von den Wächtern abgefangen. Sie wollten verhindern, dass ich den anderen folgte. Wächter Owen griff sogar nach meinem Arm und hielt mich fest, um mich notfalls auch mit Gewalt zurück in das Gebäude zu stecken. Dabei ging er nicht gerade sanft mit mir um. Der Griff war so fest, dass ich vor Schmerz das Gesicht verzog.

Das sah Cio gar nicht gerne. Er packte unserer beider Arme, riss den Kerl von mir weg und gab ihm einen heftigen Stoß, der ihn aus meiner Reichweite beförderte. „Nicht anfassen“, sagte er mit einer deutlichen Warnung in der Stimme.

Owen knurrte. „Wenn dieses Mädchen endlich mal Befehle befolgen würde, müssten wir auch nicht zu solchen Mitteln greifen.“

„Es ist tagsüber, ich darf das Gebäude verlassen“, erinnerte ich ihn und rieb mir mein Handgelenk. Gott, warum nur hatte der Kerl gleich so grob werden müssen?

Die Schönheitskönigin Wächterin Darja Vasilieva schüttelte den Kopf. „Denk doch mal mit Mädchen. Das da hinten ist eine Leiche. Vom Amor-Killer.“ Das betonte sie sehr deutlich, so als hielte sie mich für unterbelichtet. „Der Mann der dich töten will. Ich glaube nicht, dass das im Moment der beste Ort für dich ist.“

Leider musste ich mir eingestehen, dass sie damit vermutlich recht hatte.

„Aber der Amor-Killer ist sicher nicht dort hinten“, hielt Cio dagegen. Er schien sich nicht so einfach geschlagen geben zu wollen.

Sie schnaubte ungläubig. „Man sollte doch annehmen, dass du nachdem was gestern passiert ist, ein wenig vernünftig wärst. Oder hat dir das Erlebte nicht gereicht?“ Damit drängte sie mich in die Defensive.

Notiz an mich selber, die würde niemals eine Weihnachtsgrußkarte von mir bekommen. „Solange es mir nicht von Königin Sadrija persönlich anders befohlen wird, werde ich mich genau an ihren Wortlaut ihrer Befehle halten.“ Keine Ahnung woher ich plötzlich den Mut nahm, aber irgendwas an den Worten der Frau ärgerte mich einfach. „Zwischen acht und achtzehn Uhr darf ich ich zwischen dem HQ und dem Stall bewegen. Das hier ist beim HQ.“ Ich funkelte sich noch einmal an und griff dann nach Cios Hand. „Komm“, sagte ich. Dabei war es mir völlig egal, ob die Wächter mir folgten. Ich musste wissen, was los war. Wann war dieser Mord geschehen? Bevor oder nachdem die Killer bei Cayenne eingedrungen waren? Und wer war es?

Die Antworten auf dieser Frage bekam ich, sobald ich die Rückseite des Gebäudes erreichte.

Direkt an der Wand hatte sich eine riesige Traube gebildet. Nicht nur Themis, da waren auch zahllose Wächter. Auch Diego entdeckte ich unter ihnen, direkt neben Cayenne. Er hatte seine Hand auf ihre Schulter gelegt und sprach eindringlich auf sie ein. Sie war blass.

Ich hielt mich nicht lange mit ihnen auf. Den Geruch des Blutes schlug mir bereits hier hinten entgegen. Beharrlich drängte ich mich durch die Schaulustigen, bis ich in vorderster Reihe stand. Oh. Mein. Gott. Auf diesen Anblick war ich nicht gefasst gewesen.

Einen kurzen Moment geisterten mir Tayfuns Worte durch den Kopf. Ich erinnerte mich, wie er mir von einem ganz außergewöhnlichen Misto erzählte hatte.

Romy.

Oh Gott, die Killer hatten sich Romy geholt! Und die Art wie er sie drapiert hatte. Es sah aus, als würden sie an der Wand stehen. In ihrer Schulter steckte ein Pfeil, mit dem sie aufrecht gehalten wurde. Ihre Hand hatte man hochgebunden, als würde sie versuchen, ihn sich aus der Schulter zu ziehen. Genauso wie gestern bei Cayenne. Sie hatten die Szene von ihrem missglückten Überfall nachgestellt. Es gab nur einen Unterschied. Romy hatte ein tiefes Loch in der Brust. Ihr Herz baumelte ein paar Meter weiter an einem Baum und schwang im Wind leicht hin und her. Es war durchbohrt mit einem Pfeil.

Trostpreis, ging es mir durch den Kopf. Sie hatten Cayenne nicht erwischt und nur deswegen hatte Romy sterben müssen. Sie hatten Cayenne nicht bekommen, weil ich das verhindert hatte. Ich war schuld an Romys Tod. Dieser Gedanke war völlig unsinnig, aber ich kam nicht davon los. Noch heute morgen hatte ich für einen kurzen Moment geglaubt, dass ich durch mein Eingreifen etwas bewirkt hatte, dass man den Amor-Killer besiegen konnte, aber das stimmte gar nicht. Cayenne war verletzt, Kiaras Baby tot, meine Schwester könnte niemals Kinder haben, Joel lag im Krankenhaus. Und nun war auch noch Romy tot.

Ein Wimmern kroch mir die Kehle hinauf. Ich ging einfach in die Knie.

„Schäfchen!“

Mit vielem hatte ich gerechnet, doch dieser Anblick schien mir sämtliche Kraft zu entziehen.

„Hey, Schäfchen.“ Cio hockte sich neben mich und drehte mein Gesicht so, dass ich Romy nicht länger sehen konnte. „Komm, lass uns gehen. Du hast genug.“

Ich schüttelte den Kopf. Nicht weil ich ihm widersprechen wollte, sondern weil ich einfach nicht verstand, warum das alles geschah. „Warum tut er das?“, fragte ich leise. „Was habe ich damit zu tun?“

„Ich weiß es nicht.“ Das schien ihn genauso verrückt zu machen wie mich.

Auch ich konnte es mir einfach nicht erklären. Und das es auch noch hier im Hof passiert war, als ich praktisch nebenan gelegen hatte, war noch schlimmer. Diese Männer besaßen keine Skrupel. Sie mussten direkt nach dem Überfall auf Cayenne hier hergekommen sein. Zu einem späteren Zeitpunkt wäre es wegen der vielen Wächter vor dem Eingang gar nicht möglich gewesen,

Es war ein Spiel. Sie spielten ein Spiel mit mir, verrieten mir aber die Regeln nicht.

„Komm schon, Schäfchen, steh auf.“

Aber wozu? Was würde das bringen?

„Was machst du da bei meiner Tochter?!“

Bei Papas plötzlicher Stimme, spannte Cio jeden Muskel an. „Ich versuche sie zum Aufstehen zu bewegen.“

Ich hob den Blick. Papa stand da und sah aus, als würde er jeden Moment einen Mord begehen – und ich musste nicht lange nachdenken, um darauf zu kommen, wer sein Opfer sein würde.

Mama stand direkt neben ihm, doch ihre Aufmerksamkeit galt allein dem grausigen Fund. Sie mussten gerade aufgetaucht sein und waren dann einfach der Masse hinter das HQ gefolgt.

„Nimm deine Finger von ihr und verschwinde, wenn du nicht willst, dass ich dir wehtue.“

Cios Gesicht verlor jeglichen Ausdruck. „Nein.“

Während mein Vater um seine Beherrschung bangte, konnte ich gar nicht anders, als ein weiteres Mal zu Romy zu schauen. Zu dem hängenden Kopf, halb verborgen von dem langen schwarzen Haar. Ein paar Blätter hatten sich darin verfangen. Sie musste auf dem Boden gelegen haben. Hier im Gras, zu ihren Füßen.

Ich senkte den Blick. Da lag etwas glänzendes zu ihren Füßen. Ich bemerkte es nur, weil in diesem Moment ein Sonnenstrahl darauf schien und es matt funkeln ließ.

„Ich werde es nur noch einmal sagen, bevor ich anfange dir jeden Knochen einzeln zu brechen“, drohte mein Vater und meine jedes Wort genau so wie er es sagte. „Verschwinde. Von. Hier.“

„Nein, Papa“, sagte ich leise und befreite mich von Cios Händen. Nicht wegen meinem Vater, aber ich musste mir das näher ansehen.

Zwei Schritte, dann ging ich in die Hocke. Es war ein Geldstück. Es glänzte im Sonnenlicht.

In dem Moment dachte ich gar nicht daran, dass es ein Beweisstück sein könnte, ich griff einfach danach um sie mir genauer anzuschauen. Es konnte hier schon seit Ewigkeiten liegen. Wer wusste schon, wann es wer hier verloren hatte? Aber es lag eben genau zu Romys Füßen.

Das Metall fühlte sich kühl an, wurde in meiner Hand aber schnell wärmer. Eine Kupfermünze. Die eine Seite war völlig glatt, die andere nicht.

Meine Augen weiteten sich im Augenblick der Erkenntnis. Diesen Taler sah ich nicht zum ersten Mal. Und er war so einmalig, dass es keinen Zweifel daran bestand, wem er gehörte. Mit einem Schlag wusste ich ganz genau, wer sich hinter der schwarzen Skimaske verborgen hatte und sein grausames Spiel mit mir trieb.

 

°°°°°

Das wahre Gesicht

 

„Oh mein Gott.“ Die Worte waren kaum mehr als ein gehauchtes Murmeln, doch Cio war nahe genug, um sie zu verstehen.

„Was?“, fragte er und richtete den Blick auf die kleine Kupfermünze. „Was ist das?“

Aufgeregt und fassungslos zugleich, schnellte ich hoch und hielt sie ihm so hektisch unter die Nase, dass er mit dem Kopf davor zurück zuckte. „Ich weiß wem die gehört, ich weiß wer der Amor-Killer ist!“ Oder wenigstens einer der zwei. Aber wenn wir erstmal einen hatten, würde der Zweite auch nicht mehr weit kommen – da war ich mir sicher.

„Was?!“ Er nahm mir den Taler mit der eingravierten öffnen Blüte aus der Hand und musterte sie mit gerunzelter Stirn. Dabei war mir gar nicht bewusst, das mein Ausruf die Aufmerksamkeit aller in der Nähe erregt hatte. Auf einmal stand ich im Mittelpunkt.

„Graf Deleo“, sagte ich schnell. „Der kleine Bruder vom König. Das ist seine Münze, er ist der Amor-Killer, er hat das getan.“ Mein ausgestreckter Finger zeigte auf Romy. „Deleo ist ihr Mörder!“

„Bist du dir sicher?“ Cio zweifelte nicht an mir, er wollte nur sichergehen.

Ein Stück entfernt vernahm ich das Schnauben von Wächterin Darja. „Bist du eigentlich noch ganz dicht?“, fragte sie mich dann auch direkt. „Hast du eigentlich eine Ahnung, wen du da beschuldigst?“

„Aber es stimmt, ich habe es gesehen.“ Verzweifelt versuchte ich einen Beweis zu finden, der meine Behauptung untermauerte. Da fiel es mir wie Schuppten von den Augen. „Papa!“ Ich riss Cio die Münze aus der Hand und eilte zu ihm. „Du hast sie doch auch gesehen.“ Ich hielt ihm das Kupferstück direkt vor die Augen, damit er die Blüte darauf erkennen konnte. „Weißt du nicht mehr? Vor dem Schloss, als ihr gerade Suchtrupps nach mir losschicken wolltet, da ist sie ihm aus der Tasche gefallen – direkt neben mich. Du musst es gesehen haben.“

Mein Vater schaute sich die Münze sehr genau an, drückte dann aber die Lippen aufeinander. „Es tut mir leid mein Schatz. Ich habe zwar mitbekommen, wie ihm etwas aus der Tasche gefallen ist, aber ich könnte beim besten Willen nicht beschwören, was es gewesen ist.“

„Was?“ Das war doch jetzt nicht sein Ernst. „Schau doch genauer hin. Du musst dich erinnern!“

Er schaute nicht genauer hin. Stattdessen legte er seine Hand auf meine und drückte sie herunter. „Ich weiß wie sehr du diesen Killer finden möchtest, aber ...“

Ich riss mich von ihm los. „Das hat doch damit nichts zu tun!“ Verdammt, war das zu fassen? Ich hatte endlich einen Verdacht – mehr sogar – und sie taten alles, um ihn als nutzlos abzutun. Natürlich war mir bewusst, wer Graf Rouven war, aber das machte ihn doch noch lange nicht unfehlbar. „Ich habe es doch aber gesehen“, sagte ich beinahe schon verzweifelt und schaute mich nach jemanden um, der mir glauben schenkte. „Ihr könnte das doch nicht einfach so abtun.“

„Das tun wir nicht“, sagte Wächter Mirko besänftigend. „Natürlich werden wir dem Hinweis nachgehen. Aber das ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst. Graf Rouven ist nicht irgendwer, also müssen wir die Münze erstmal im Labor analysieren lassen. DNA-Probe, Fingerabdrücke und …“

„Ihr wollt ihn davonkommen lassen, nur weil er einen Grafentitel trägt?“ Ich konnte es kaum fassen. „Heißt das, dass nun jeder Omega den Launen der Betas ausgesetzt ist und nichts zu befürchten hat?“

„Schäfchen, ich glaube du solltest dich ein wenig beruhigen.“ Cio griff nach meiner Hand, aber ich schüttelte sie sofort wieder ab.

„Ich soll mich beruhigen? Der Kerl mordet seit Wochen. Männer, Frauen, ja sogar ein Kind hat er entführt und niemand will etwas unternehmen!“

„Das hat doch niemand behauptet.“ Wieder griff er nach mir und ließ es dieses Mal nicht zu, dass ich mich noch einmal von ihm freimachte. Er wandte mir einfach die Münze aus der Hand und verschränkte seine Finger dann mit meinen. „Du musst nur Geduld haben.“

„Geduld?“ Ich lachte bitter auf. „Während die Münze geduldig im Labor untersucht wird, könnten weitere Leute sterben, ist dir das eigentlich klar?“

„Tut mir leid, Schäfchen. Du weißt genau, dass ich den Mistkerl lieber heute als morgen zwischen die Finger bekommen würde, aber anders geht es nun mal nicht, denn du beschuldigst hier den kleinen Bruder des Königs.“

„Ja, weil der Beweis direkt in deiner Hand ist!“ Ich zeigte darauf um ihn auch unmissverständlich klar zu machen, was genau ich meinte. „Die hier gehört Graf Rouven!“

Zweifel und Argwohn schlugen mir von allen Seiten entgegen. Selbst Cio schien nicht recht zu wissen, was er von meiner Vorwurf halten sollte. Er wollte mir glauben, aber ich klagte hier nun mal jemanden an, von dem allgemein bekannt war, dass er gerne wieder die alte Tradition einführen würde, in der jeder Misto direkt nach der Geburt getötet wurde. Vermutlich glaubten sie, dass dies Grund genug sei, falsche Anschuldigungen in den Raum zu stellen, schließlich war ich ein Misto und hatte schon allein deswegen einen Grund ihn loswerden zu wollen.

Noch dazu fürchteten sich die Anwesenden davor, den Zorn der Alphas auf sich zu ziehen, weil sie jemanden aus der direkten Familie eines unsagbaren Verbrechens bezichtigen.

Und dann gab es da noch andere Tatsachen, die gegen mich sprachen. Mittlerweile war es mehr als bloße Vermutung, dass der Killer auf irgendeine Art eine persönliche Verbindung zu mir hatte, aber mir dem Grafen war ich erst nach den ersten Morden in Kontakt gekommen.

Doch da gab es ja noch den zweiten Mann. Vielleicht ging das ja alles von ihm aus. Das musste ich ihnen klar machen. Und wenn mir keiner glauben wollte, dann musste ich es eben auf andere Weise versuchen.

„Schön. Wie ihr wollt. Dann eben nicht.“ Ich zog an meiner Hand und als er sie nicht freigeben wollte, knurrte ich ihn an. „Lass los.“

„Warum?“ Er lauter auf mich. „Was hast du vor?“

„Da sich hier alle vor Angst in die Hose machen, werde ich eben den Grafen zur Rede stellen!“

Augenblicklich wurde sein Griff fester. „Nein.“

Ich glaubte mich verhört zu haben. „Versuchst du gerade wirklich mir das zu verbieten?“

„Ich versuche dich vor einem Fehler zu bewahren.“

„Es ist aber kein Fehler“, knurrte ich. „Ich habe gesehen, wie er diese Münze hastig an sich genommen und zurück in seine Tasche gesteckt hat. Mit meinen eigenen Augen!“

„Niemand zweifelt an deinen Worten, Schäfchen, wir müssen nur einfach ...“

„Jeder hier Zweifel daran!“, unterbrach ich ihn. „Schau dich doch mal um, die halten mich alle für verrückt.“

„Weil deine Anschuldigung verrückt ist“, erklärte Wächterin Darja. „Er ist der kleine Bruder des Königs, eine hohe Persönlichkeit. Er hat sicher besseres zu tun, als kleinen Mischlingen hinterherzujagen.“

„Das eine schließt das andere nicht aus“, gab ich mir fester Stimme zurück.

Schweigen antwortete mir. Doch dann trat Cayenne nach Vorne. „Ich glaube ich weiß, wie wir die Sache ein wenig beschleunigen können. Cio, gib mir die Münze.“

„Ähm“, machte Wächter Mirko, als Cio bereits die Hand hob. „Das ist ein Beweisstück, das darf nicht vom Tatort entfernt werden.“

So wie Cayenne ihn anschaute, hätte sie wohl gerne genervt die Augen verdreht. Stattdessen zog sie ihr Handy hervor. „Cio, halt mir mal die Münze hin, damit ich sie fotografieren kann.“

Wieder kam er ihrer Aufforderung nach und drehte sie sogar herum, damit sie beide Seiten aufnehmen konnte. Dann übergab er sie an einen Wächter, der bereits mit einem Klarsichtbeutel vorgetreten war.

„Schön“, sagte Cayenne dann. „Lass uns gehen.“

Ich schaute mich um, um herauszufinden, mit wem genau sie sprach.

„Ja, Zaira, ich meine dich.“

„Was?“, kam es auch sofort von meinem Vater und machte einen drohenden Schritt auf sie zu – nicht das Cayenne sich davon beeindrucken ließ. „Wo willst du denn bitte mit ihr hin?“

„Na zu Sadrija.“

Die Königin! Sie würde mir sicher zuhören. „Da ist eine gute Idee.“

„Ist es nicht“, widersprach mein Vater mir sofort, versuchte mich aber ausnahmsweise einmal nicht von meinem Vorhaben abzuhalten. Er schloss sich uns sogar an, zusammen mit Mama, Cio und Sydney. Und meinem Trupp Wächtern.

Am Anfang führte Cayenne uns noch über das Gelände, doch ich war mittlerweile so ungeduldig, dass ich nicht nur zu ihr aufschloss, sonder sie auch gleich hinter mir ließ.

Als die Wächter am Portal den kleinen Pulk näherkommen sahen, traten sie wachsam nach vorne. Einer legte sogar sie Hand an die Waffe an seiner Taille. Das ließ mich dann doch wieder verharren und darauf warten, bis Cayenne an meiner Seite war.

„Isabelle“, sprach sie auch direkt die Frau an und nickte dem anderen zu. „Keith.“

Dieser Keith verzog sofort das Gesicht. Cayennes Anwesenheit schien ihn ganz und gar nicht zu erfreuen. „Bitte sag es nicht.“ Es war schon beinahe ein Flehen.

„Ich muss mit Sadrija sprechen.“

Keith stöhnte. „Ich habe doch gesagt, du sollst es nicht sagen.“

„Keine Besuche mehr nach achtzehn Uhr“, fügte Isabelle noch hinzu. „Das weißt du doch.“

„Es ist wichtig“, erklärte Cayenne.

„Ist es das nicht immer?“ Keith schüttelte den Kopf. „Aber wir haben unsere Befehle und …“ Er zuckte zusammen, als eine Wolke von Odeur ihn traf und damit seine Instinkte ansprach. „Cayenne lass das, sonst werden wir irgendwann unsere Loyalität zu Königin Sadrija unter bewies stellen müssen.“

Und das ging nur auf eine Art: Kampf. Cayenne war ein Misto und auch wenn sie Odeur besaß, kräftemäßig war sie einem reinrassigen Werwolf weit unterlegen. Was sie da tat, war ein Spiel mit dem Feuer. „Ist es denn heute so weit?“

Isabelle schüttelte den Kopf. Dabei war nicht ganz klar, ob sie damit auf ihre Frage antworten wollte oder es einfach mit ihrer Person zu tun hatte. „Königin Sadrija wird nicht erfreut sein“, erklärte sie ihr sehr Ernst, trat aber ans Portal und zog es für sie auf.

„Ich werde das mit Sadrija schon klären. Kommt.“ Sie winkte ihrem Anhang zu ihr zu folgen.

Ich griff Cios Hand und schloss mich ihr unter den wachsamen Blicken der Portalwächter direkt an. Doch kaum hatte ich die Schwelle zum großen Eingangsfoyer übertreten, tauchte auch schon das erste Problem auf.

„Sie nicht“, sagte Wächterin Isabelle und als ich über die Schulter zurück schaute, sah ich wie sie sich meinem Vater in den Weg gestellt hatte. „Nur Lykaner, das ist ihnen sicher bekannt.“

Mein Vater sich über sich hinaus zu wachsen. „Versuch doch mich davon abzuhalten.“

Oh nein. „Papa, bitte.“

Mama trat an seine Seite, stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Egal was sie sagte, es schien ihn nicht zufrieden zu stellen. Dennoch trat er einen Schritt zurück und funkelte dabei ununterbrochen den Wächter an.

„Ich bin doch gleich wieder da“, sagte ich ihm noch schnell, dann eilte ich Cayenne auch wieder hinterher. Ich wusste wie schwer es meinem Vater fiel, mich sowas alleine machen zu lassen, aber hier war ich sicher und es würde bestimmt nicht lange dauern. Königin Sadrija würde sicher sofort handeln. Sie war eine gerechte Herrscherin, davon war ich überzeugt.

Als ich wieder zu Cayenne aufschloss, war sie bereits in der Raummitte angekommen und fragte gerade eines der Hausmädchen nach Sadrija.

„Die Königin?“ Sie ließ ihren Blick über unsere illustre Runde gleiten. „Ich glaube sie befindet sich im Moment auf der Terrasse vor dem Rosensaal.“

Cayenne bedankte sich schnell bei ihr und dann waren wir auch schon wieder unterwegs.

Während ich ihr mit Cio an der Hand durch die Gänge und Korridore folgte, musste ich mal wieder feststellen, was dieses Gebäude doch für eine große Pracht beherbergte. Nicht nur die alten Gemälde, Wandteppiche und Läufer. Es gab Skulpturen, Vasen, Dekoration aus purem Gold. Sammelstücke aus vielen Generationen. Und dann erst das Mosaik auf dem Boden im Rosensaal. Es stellte eine riesige, sich öffnende Rose dar – daher auch der Name.

Die gläsernen Türen zur Terrasse waren weit geöffnet und schon beim Betreten konnte ich Sadrija draußen auf einer edlen Hollywoodschaukel aus Holz sehen, die so groß war, dass sich darauf bequem fünf Leute ausstrecken konnten. Mit den vielen Kissen im Rücken, wirkte es schon fast wie ein schwebendes Bett.

Direkt davor stand ein Arrangement aus eleganten Gartenmöbeln aus Teakholz und einem ausladenden Blumenbukett in sehr zarten Farben.

Die Königin bemerkte uns recht schnell, wandte ihre Aufmerksamkeit von dem Bündel in ihrem Arm aber erst ab, als wir zu ihr auf die Terrasse traten – das musste ihre Tochter sein, die kleine Cataleya. Das war das erste Mal, dass ich sie zu Gesicht bekam. Naja, ich bekam ein kleines zappelndes Ärmchen zu Gesicht, der Rest verbarg sich unter einer warmen Decke, in die man sie dick eingemummelt hatte.

Aber Königin Sadrija war mit ihrer Tochter hier draußen nicht allein. Stumm wie Ölgötzen, standen eine Reihe von Umbras verteilt in der Nähe. Und etwas Abseits von der Hollywoodschaukel entdeckte ich noch zwei Frauen, an einem kleinen Tisch, die der Kleidung nach Bedienstete des Hauses sein mussten.

Als Sadrija dann ihren Kopf hob, wirkte sie nicht gerade erfreut. Und zu meiner Verwunderung, richtete sich ihr Blick zwischen den aufkreuzenden Wächtern und dem ganzen anderen Gesindel ausgerechnet auf mich. „Zaira.“ Sie sprach meinen Namen sehr leise aus, fast sanft. Und doch klang es für mich, als hätte sie ihn mir direkt ins Ohr gebrüllt. „Ich wusste gar nicht, dass ich Spaziergänge quer über den Hof erlaubt habe.“

Mist. „Ähm … naja, nein.“

Ihr Blick war sehr eindringlich, so als wollte sie mich allein für meine Anwesenheit tadeln. Das mochte ich nicht besonders.

Zu meinem Glück, beließ sie es aber einfach dabei und wandte sich meiner Erzeugerin zu. „Und Cayenne, natürlich.“ Sie richtete ihren Blick wieder auf das zappelnde Bündel in ihrem Armen, als sei sie allein ihrer Aufmerksamkeit wert. „Hast du wieder einmal meine Wächter geärgert?“

„Irgendwie muss ich mir ja die Zeit vertreiben.“

Sadrija hob ihre Hand und drückte die Decke der kleinen vorsichtig um ihr Gesicht zurecht. „Du weißt, dass ich um diese Zeit niemanden mehr empfange.“

„Es ist wichtig.“

„Ist es das nicht immer?“ Sie schüttelte den Kopf, als hätten sie dieses Gespräch schon mehr als einmal geführt. „Und es würde auch nichts bringen dich wegzuschicken, oder? Du würdest mich nur weiter nerven und immer wieder kommen, solange bis ich dir zuhöre und du deinen Willen ...“

„Wir wissen wer der Amor-Killer ist“, unterbrach Cayenne sie in ihrem kleinen Monolog.

Mit einem hörbaren Klacken schloss Sadrija ihren Mund. Nun hatte Cayenne ihr Interesse geweckt, doch was genau sie dachte, ließ sich nicht erkennen. Sie sagte schlicht: „Ich bin ganz Ohr.“

„Du hast sicher mitbekommen, dass vor kurzem ein weiterer Mord hier am Hof entdeckt wurde.“

„Ja, ich wurde darüber bereits in Kenntnis gesetzt.“

„Das Opfer gehört zu den Themis. Rochelle Briggs, auch bekannt als Romy. Sie war ein Misto, aber ein Vampir.“

Stimmt, daran hatte ich bis jetzt gar nicht gedacht. Bisher hatte sich der Amor-Killer immer nur Wolfsmischlinge geholt. Warum also jetzt ein Vampir? Das hatte sicher etwas mit dem schiefgelaufenen Überfall auf Cayenne zu tun.

Die Königin nickte. „Weiter.“

Cayenne warf mir einen kurzen Blick zu, bevor die der Aufforderung nachkam. „Zaira hat bei der L... sie hat bei Romy etwas entdeckt, von dem wir glauben, dass es dem Mörder gehört, eine sehr spezielle Münze.“ Sie zog ihr Handy aus der Tasche, holte die Bilder aufs Display und reichte es dann ihrer Cousine. „Zaira sagt, sie gehört Rouven.“

Die einzige Reaktion die darauf kam, war eine hochgezogene Augenbraue. Ansonsten sagte sie nichts, schaute sich nur das Bild und zoomte es sogar heran. „Wie kommst du darauf, dass mein Schwager der Eigentümer ist?“

Erst als mehrere Blicke sich auf mich richteten – den der Königin eingeschlossen – peilte ich, dass die Frage an mich gerichtet war und nicht an Cayenne. „Ähm … ich habe gesehen wie sie ihm aus der Tasche gefallen ist und er sie wieder aufgehoben war. Vor ein paar Tagen, am Schlossportal. König Carlos war auch da gewesen.“

Wieder ließ Sadrija nicht erkennen, was sie darüber dachte. „Ich sehe diese Münze zum ersten mal aber … du sagst mein Gefährte war auch anwesend?“

Ich nickte. „Ja und noch ein paar Leute von den Suchtrupps.“

Sie legte das Handy neben sich auf das Polster. „Leonie?“

„Ja!“ Eine von den beiden Frauen sprang hastig auf die Beine und eilte mit einer tiefen Verbeugung zu ihrer Königin. „Ich bin hier.“

„Das sehe ich.“ Ich Mundwinkel zuckte, während die junge Frau rot anlief. „Sei doch bitte so nett und hole Carlos her.“

„Natürlich eure Majestät, sofort.“

„Und kein Wort zu niemanden, über das was du hier gerade gehört hast.“

„Natürlich.“ Die Kleine war so flink, dass sie schon von der Terrasse verschwunden war, kaum dass sie zu Ende gesprochen hatte.

Der Blick der blonden Königin richtete sich wieder auf mich. „Was du da behauptest, sind schwerwiegende Vorwürfe, ich hoffe das ist dir bewusst.“

Die Eindringlichkeit ihres Blickes, ließ mich unsicher einen Schritt zurück treten. Konnte auch an dieser allmächtigen Alphaaura liegen. Mein Griff um Cios Hand wurde fester. Ich brauchte den Halt, um nicht einfach wegzulaufen. Die Königin war vielleicht gerecht, aber auch ein kleinen wenig unheimlich. „Ich würde das nicht sagen, wenn ich mir nicht sicher wäre.“

„Das hoffe ich. Rouven wird sicher nicht erfreut sein, solche Anschuldigungen über sich zu hören.“ Als das kleine Wesen in ihrem Arm ein Quengeln verlauten ließ, war ihre Aufmerksamkeit sofort wieder bei diesem kleinen Wunder. Beruhigen strich sie ihr mit dem Finger über die Wange. „Ich kann auch nicht behaupten, dass mir diese Entwicklung gefällt.“

Über mir hörte ich ein leises Schaben. Dann fiel ein Krümmel auf meine Schulter. Verwundert schaute ich nach oben und … ach du scheiße! Hastig schaute ich wieder nach vorne.

„Es ist nicht gut, wenn jemand aus der Alphafamilie ein solcher Verdacht nachhängt. Das stört das Gleichgewicht des Rudels.“

Cio, von meinem Verhalten neugierig gemacht, warf auch einen kurzen Blick nach oben. Doch im Gegensatz zu mir, lag ein Schmunzeln auf seinen Lippen, als er eilig wieder nach vorne schaute.

Was er gesehen hatte? Meine Mutter! Meine verdammte Mutter turnte da oben in ihrer Katzengestalt auf dem Sims herum. Klar, sie durfte genauso wenig ins Schloss wie mein Vater, da hatte sie eben einen anderen Weg gefunden, mich im Auge zu behalten. Gott Mama! Blieb nur zu hoffen, dass sie sich nicht in aller Öffentlichkeit ausgezogen und verwandelt hatte. Zuzutrauen wäre es ihr.

„Und üble Nachrede werde ich nicht dulden, nur damit wir uns verstehen.“

Und genau das war der Grund, warum die Wächter alle so gezögert hatten diese Neuigkeiten ihrer Königin zu überbringen.

„Wenn Zaira sagt, dass sie Rouven gehört, dann ist das so“, sprang meine Erzeugerin schützend für mich in die Bresche. „Sie lügt nicht.“

„Ich hege keinen Zweifel daran, dass sie glaubt, was sie sagt. Aber nur weil man etwas glaubt, heißt das noch lange nicht, dass es auch der Wahrheit entspricht.“

Ich öffnete den Mund, doch ich schaffte es nicht mal einen Ton herauszubringen, da gebot mir ihre erhobene Hand auch schon Einhalt.

„Wir werden abwarten was Carlos dazu zu sagen hat, dann sehen wir weiter.“

Das war nicht unbedingt das, was ich hatte hören wollen, aber wenigstens hatte sie meinen Verdacht nicht einfach abgeschmettert und mich in den nächsten Kerker werfen lassen – das lag durchaus in ihrer Macht. Immer vorausgesetzt natürlich, dass sie hier überhaupt Kerker besaßen.

Bis zu Carlos Eintreffen, herrschte ab da bedächtiges Schweigen, das ich wohl nur überstand, weil ich mich die ganze Zeit an Cio festklammerte und nicht versuchte darüber nachzudenken, wo genau meine Mutter sich im Augenblick befand.

Der König trat mit zwei weiteren Umbras und Leonie im Anhang hinaus auf die Terrasse. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug und ein leichtes Schmunzeln. „Keinen Wort zu niemanden?“, fragte er auch ganz direkt und hockte sich neben die Hollywoodschaukel, um nach dem kleinen Bündel in Sadrijas Armen zu schauen. Die ganzen Anwesenden beachtete er dabei nicht weiter. Er hatte nur Augen für seine kleine Familie. Sowas lernte man wohl, wenn man ein Leben in einem Goldfischglas lebte.

„Verzeih mir“, sagte Sadrija sofort, „Dich hatte ich nicht mit eingeschlossen.“ Sie beugte sich ein wenig vor und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen und zum ersten Mal bemerkte ich, dass es zwischen den beiden mehr gab, als nur eine oberflächliche Bindung. Da war Zuneigung, Vertrauen und Glück.

„Verrätst du mir, warum du mich hast rufen lassen?“

„Gleich.“ Sie drehte den Kopf „Leah, würdest du Cataleya bitte ins Bett bringen? Sie wird langsam müde.“

„Wie Ihr wünscht.“ Die zweite, etwas ältere Frau erhob sich von dem kleinen Tisch. Auch sie trat mit einer Verbeugung näher, nahm dann vorsichtig das kleine Bündel an sich und verließ mit ihm die Terrasse. Die Hälfte der anwesenden Umbras schlossen sich ihr wortlos an.

Als sie an mir vorbei kam, bekam ich einen kurzen Blick auf das kleine Mädchen. Schwarzes Haar, dunkle Haut, große Augen. Plötzlich musste ich wieder daran denken, dass ich vielleicht niemals so etwas haben würde. Das machte mich traurig.

„Also?“, bohrte Carlos wieder nach und setzte sich zu Sadrija auf die Kante der Hollywoodschaukel. „Was gibt es so Dringendes.“

„Man hat dir sicher bereits von dem neuen Opfer berichtet.“

Er nickte. „Ich war gerade auf dem Weg dorthin, als Leonie mich bat dich aufzusuchen.“

„Dort wurde etwas gefunden.“ Sie griff nach Cayennes Handy, holte es aus dem Stand-by-Modus und zeigte ihrem Gefährten das Bild auf dem Display. „Hast du die schon einmal gesehen?“

Er runzelte die Stirn. „Gehört die nicht Rouven? Ich hab schon einige Male gesehen, wie er damit herumgespielt hat, wenn er …“ Als würde ihm aufgehen, was seine Worte bedeuteten, verstummte er sofort.

Sadrijas Ausdruck wurde weicher. „Es tut mir leid“, sagte sie leise und wandte sich dann an mein Wächtergefolge. „Sucht Graf Rouven und nehmt ihn in Gewahrsam. Sofort.“

So wie die Wächter sich bei dem Befehl aufrichteten und ihrer Anweisung sofort nachkamen, fehlte eigentlich nur noch, dass sie die Hacken zusammenschlugen und „Aye aye, Sir!“ riefen.

Carlos schaute ihnen mit grimmig zusammengezogenen Lippern hinterher.

Mit einer Zärtlichkeit, die sogar mich berührte, legte Sadrija ihrem Gefährten eine Hand auf die Wange. „Wir werden ihn noch nicht verurteilen und voreilige Schlüsse ziehen, aber wir müssen das klären.“

„Und wenn er es wirklich getan hat?“, fragte König Carlos leise. „Seine Rassenfeindlichkeit ist offen bekannt.“

„Traust du ihm denn zu, dass er es war?“

„Ich weiß nicht.“ Etwas verzweifeltes lag in seiner Stimme. Es ging hier immerhin um seinen kleinen Bruder und wenn man ihm diese Taten nachweisen konnte, gab es nur eine Möglichkeit, wie das hier endete: Hinrichtung. Kein Alpha duldete einen Mörder, weder in seinem Rudel noch als einsamer Wolf.

„Carlos.“ Sie wartete bis er sie ansah. „Wir werden erstmal nur mit ihm sprechen und uns anhören, was er dazu zu sagen hat. Erst dann werde ich eine Entscheidung fällen.“ Sie wollte gerade noch etwas hinzufügen, als einer der Wächter eilig die Terrasse betrat.

Er verbeugte sich schnell und sagte dann: „Graf Rouven hat vor zehn Minuten den Hof mit unbekanntem Ziel verlassen.“

Was?!

Der Ausdruck in Sadrijas Gesicht wurde eisig. „Findet ihn, jeder der zur Verfügung steht soll nach ihm suchen. Ich will dass er zu mir gebracht wird.“

„Ich werde alles in die Wege leiten, Majestät.“ Mit einer weiteren Verbeugung wandte er sich wieder von ihr ab und eilte an mir vorbei.

Ich wusste nicht so recht wie ich das finden sollte. Er verschwand ausgerechnet jetzt, wo man ihn doch sonst nie vom Hof wegbekam? War das Zufall, oder hatte er von den Ereignissen um seine Person etwas mitbekommen? Das war doch wieder so ein Tritt vom Schicksal in den Allerwertesten.

„Keine Sorge“, murmelte Cio. Er beugte sich vor und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. „Bald ist dieser Alptraum vorbei.“

 

°°°

 

Wie hypnotisiert schaute ich dabei zu, wie die Suppe sich auf dem Teller der Mikrowelle drehte und die breiige Flüssigkeit in der Schale langsam erwärmte. Schon erstaunlich, wozu der Mensch alles fähig war. Ich hatte keine Ahnung, wer die Mikrowelle erfunden hatte, doch ich war ihm ziemlich dankbar. Das konnte einem das Leben unglaublich erleichtern. Aber hauptsächlich benutzte ich es im Moment, um mich abzulenken.

Siebzehn Stunden. Mittlerweile war eine ganze Nacht vergangen, was bedeutete, dass ich bereits siebzehn verdammten Stunden darauf wartete, dass dieser Alptraum endlich ein ende hatte – ja ich hatte mitgezählt. Doch obwohl wir nun wussten, wer der Feind war, saß ich nun schon wieder in diesem verfluchten Gebäude fest und konnte nichts anderes tun, als zu warten und zu bangen.

Okay, das mit dem Ablenken funktionierte nicht besonders gut. Aber … das war doch wirklich zum Haareraufen. Jeder verdammte Lykaner, den Sadrija hatte entbehren können, suchte in diesem Moment nach dem Mistkerl von Deleo. Doch er war wie vom Erdboden verschluckt.

Papa hatte gemeint, dass ihn jemand rechtzeitig gewarnt haben musste. Nur so war es zu erklären, dass er sich dem Zugriff so knapp hatte entziehen können. Doch damit dass er nicht wieder aufgetaucht war, hatte er seine Schuld mehr oder weniger eingestanden. Es gab einfach keinen anderen vernünftigen Grund, warum er ausgerechnet jetzt von der Bildfläche verschwinden sollte. An Zufall glaubte ich nicht, nicht in diesem Fall.

Mir tat nur König Carlos leid. Bevor Sadrija uns gestern alle von der Terrasse verband hatte – ja auch meine Mutter – war noch einiges an Worten gefallen. Carlos hatte sich gefragt, ob er das ganze hätte verhindern können, wenn er nur aufmerksamer gewesen wäre.

Niemand hatte ihm das beantworten können. Ganz genauso wie eine andere Frage, die mir immer noch auf der Seele lastete. Warum ich? Was hatte ich mit diesem Mann zu schaffen, dass er mit seinen Morden meinen Lebensweg nachstellte? Das musste mit dem anderen Killer zu tun haben, von dem wir bisher leider noch nicht mehr wussten, als dass er existierte.

Ein klirren neben mir riss mich aus meinen Gedanken. Cio stand an der Anrichte und schmierte sich ein Sandwich. Sein Messer lag auf dem Boden.

Er grinste mich an, hob es auf und spülte es unter klarem Wasser ab, bevor er mit seiner Aufgabe fortfuhr.

Auf einmal hatte ich das dringende Bedürfnis ihn zu berühren, einfach nur weil er da war. Also gab ich dem Impuls nach. Behutsam griff ich hinten nach seinem Shirt, wickelte dann meine Arme um seinen Bauch und drückte mein Gesicht gegen seinen Rücken. Allein ihn bei mir zu haben – seine Wärme, seine Nähe und der Geruch – halfen mir dabei die Gedanken in meinem Kopf zu beruhigen.

Cio hielt mit seiner Arbeit inne. Eine Hand legte sich direkt auf meine, als er mich über die Schulter hinweg anschaute. „Alles in Ordnung?“

Ich schüttelte den Kopf und sagte: „Ja.“ Dann drehte ich das Gesicht, damit ich ihn ansehen konnte.

In seinen Augen lag Belustigung. „Soll ich mir jetzt aussuchen, welche Antwort mir besser gefällt?“

Mir einem leisen Seufzen ließ ich die Arme wieder sinken und lehnte mich neben ihn an die Anrichte. Das die Mikrowelle mir mit einem lauten Pling mitteilte, dass meine Suppe fertig war, ignorierte ich für den Augenblick. „Es ist nur … das ist alles Mist. Jetzt wissen wir nach wem wir suchen müssen und ich sitze trotzdem wieder hier drinnen fest. Das ist einfach ...“ Ich suchte nach dem richtigen Wort.

„Ganz großer Mist?“, schlug er vor.

Wieder schüttelte ich den Kopf, einfach um diese verdammten Gedanken loszuwerden. „Ich glaube ich entwickle im Moment nur einen Hüttenkollaps.“

„Dann sollten wir nach dem Essen vielleicht einen kleinen Spaziergang unternehmen.“

Ich wiegte den Kopf hin und her, nicht sicher ob mir diese Idee gefiel. Aber dann kam mir ein Gedanke. „Das sollten wir wirklich machen. Dann kann ich den Wilden besuchen.“ Das war sowieso überfällig. Durch alles was gestern geschehen war, war ich nicht mehr dazu gekommen nach ihm zu schauen.

„Der Wilde?“ Cio klappte das Sandwich zu und machte sich daran noch ein drittes auf seinen Teller zu quetschen.

Ich hatte ihm etwas von meiner Suppe angeboten, doch Flüssignahrung war nach seiner Auffassung nur etwas für Babys, Alkoholiker und alte Menschen, die keine Zähne mehr im Mund hatten. Als ich ihn dann gefragt hatte, in welche Kategorie er mich den bitte steckte, hatte er nur frech gegrinst.

„Der wilde Wolf“, erklärte ich. „Du weißt schon, der aus dem Wald, der auf dein T-Shirt gepinkelt hat, weil du ihn immer ärgerst. Sie haben ihn einfangen müssen, weil er mir aufs Schlossgelände gefolgt ist. Jetzt sitzt er bei der Menagerie in einem Zwinger, während sie überlegen, was sie mit ihm tun sollen.“

Seine rechte Augenbraue wanderte ein Stück nach oben. „Ich habe da wohl einiges nicht mitbekommen.“ Er stellte das letzte Sandwich fertig und hielt es mir dann unter die Nase. „Für dich, Käse, drei Sorten. So wie du es magst.“

Okay, das war süß. „Iss du mal, ich habe meine Suppe.“ Wie zum Beweis stieß ich mich von der Anrichte ab und holte sie aus der Mikrowelle.

Cio zuckte nur mit den Schultern, biss in das Käsesandwich und trug dabei seinen Teller mit den beiden anderen zum Tisch, wo er am Kopfende platz nahm.

Ich musste mir noch einen Löffel aus der Schublade holen, bevor ich mich zu ihm gesellen konnte.

„Hmh“, machte er, kaum dass ich saß. „Richtiges Essen, lecker.“ Er biss ein weiteres Mal ab.

Ich schnaubte nur. Ihm zu erklären das Suppe und auch andere vegetarische Gerichte als richtiges Essen durchgingen, hatte keinen Sinn. Für ihn gehörte zu einer richtigen Mahlzeit Fleisch hinzu. Mich störte das nicht, nur hatten wir deswegen ein wenig erfinderisch werden müssen. Wenn ich mir Kartoffelgratin zubereitete, machte er sich dazu ein Steak und machte meine Hauptspeise damit zu seiner Beilage.

Es funktionierte ganz gut.

Mein Löffel klapperte gegen meinen Teller, als ich bemerkte, wie er mich beobachtete. „Was?“, fragte ich auch ganz direkt. Hoffentlich hing mir kein Popel aus der Nase, das wäre echt widerlich.

„Wenn ich mich nicht irre, musst du bald wieder trinken, oder?“

Der Löffel verharrte nur Millimeter vor meinem Mund, aber nach dieser Frage war mein Hunger mit einem Schlag verschwunden und das Besteck landete wieder auf meinem Teller. „Hm, nein, ich denke nicht“, sagte ich vorsichtig. Dabei wich ich seinem Blick aus. Ich biss mir auf die Lippe, aber nun stand dieses Thema im Raum. „Hör zu“, sagte ich und drehte mich zu ihm um. „Ich … wir … da ist so viel passiert und … ich wollte es dir nicht verheimlichen, ich habe es einfach nur vergessen.“

Seine Hand mit dem Sandwich sackte herab, bis das Brot wieder auf dem Teller lag. Sein Blick war wachsam. „Was hast du vergessen?“

„Das ist … das war ...“ Verdammt noch mal, warum musste das ausgerechnet jetzt zur Sprache kommen, wo wir uns doch gerade erst wieder annähten. „Ich habe erst vor kurzem getrunken“, sagte ich dann vorsichtig. „Du weißt doch wie das bei mir ist. Entweder da ist gar nichts, oder es überrollt mich einfach und dann kann ich nichts dagegen tun.“ Was für eine schwache Entschuldigung.

Er sagte nichts.

„Bitte Cio, wir haben gesoffen und dann kam Alina auf die blöde Idee sich von Tayfun beißen zu lassen. Es war mir egal, es hat mich absolut nicht interessiert, aber dann hab ich das Blut gerochen.“

Seine Hände wurden ganz weiß, so sehr drückte er sie auf die Tischplatte. „Du hast von ihm getrunken.“

„Papa und Mama waren nicht da und du … es war spät und er hat es angeboten und ...“ Ich verstummte. Das lief gar nicht gut. Ich sah es ihm an. Es verletzte ihn. „Ja, habe ich“, sagte ich deswegen nur noch. Jedes weitere Wort wäre zu viel gewesen.

Er starrte stur auf seinen Teller. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Ich wollte etwas sagen, aber ich wusste nicht was. Ich wollte es nicht noch schlimmer machen.

Als er plötzlich seine Hände wütend auf den Tisch knallte und so schnell hochfuhr, dass sein Stuhl umkippte, zuckte ich zusammen. Er schaute mich nicht an, als er sich eilig abwandte und auf die Tür zuhielt.

Nein, nein, nein, nein, nein. „Cio“, sagte ich sehr leise. „Bitte, geh nicht.“

Er verharrte am Türrahmen. „Fünf Minuten“, sagte er mit deutlicher Wut in der Stimme. „Gib mir … gib mir fünf Minuten.“ Damit verschwand er aus meinem Blickfeld.

Natürlich sprang auch ich auf. Im musste ihm hinterer, aber dann hörte ich ihn auf dem Korridor. Er lief nicht weg, er war nur um die Ecke gegangen. Ein dumpfes Krachen verriet mir, dass er wohl gerade gegen die Wand geschlagen hatte.

Okay, Fünf Minuten, die würde ich ihm geben. Ich schaute zur Uhr, um mir auf die Sekunde genau einzuprägen, wie spät es war. Dabei musste ich mir immer wieder sagen, dass er in fünf Minuten wieder reinkommen würde.

Mein Blick war starr auf die Uhr gerichtet. Aber die Zeit lief ab und er blieb draußen. Ich wartete noch ein wenig länger, doch irgendwann hielt ich es einfach nicht mehr aus.

Ich versuchte nicht mich heranzuschleichen, trotzdem waren mein Schritte sehr leise, als ich aus dem Raum trat.

Cio saß an der Wand, als sei er an ihr heruntergerutscht. Die Hände gegen die Stirn gedrückt, bebte er vor Wut am ganzen Körper. „Du ahnst nicht, wie sehr es mich gerade danach verlangt ihm wehzutun“, sagte er leise.

„Tu es nicht. Bitte.“ Ich zögerte, kniete mich dann aber neben ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Einen Moment bangte ich darum, ob er es zulassen würde und verspürte eine unendliche Erleichterung, als er mich nicht von sich stieß. „Er hat nichts falsch gemacht, er wollte nur helfen.“

„Aber ausgerechnet Tayfun“, knurrte er. „Das ist … keine Ahnung, das macht mich fertig. Ich möchte ihm die Fänge aus dem Mund reißen und … verdammt!“

Irgendwo konnte ich es verstehen, aber das würde nichts an dem ändern, was bereits geschehen war. „Es war nur eine Mahlzeit“, versuchte ich ihn zu beruhigen.

Er atmete ein paar mal tief ein. Seine Augen waren geschlossen und sein Körper wie ein Stahlseil gespannt. Ich rückte ein wenig näher und hoffte dass ihn das trösten wurde.

„Alina war dabei gewesen, oder? Ihr ward nicht alleine.“

Das „Ja!“ lag mir sofort auf der Zunge, aber wir hatten uns geschworen, einander niemals anzulügen. Halbwahrheiten zählten für mich auch dazu. „Nein, waren wir nicht, aber ich weiß nicht wie viel sie mitbekommen hat. Sie war betrunken und von dem Biss ziemlich weggetreten.“

Seine Lippen pressten sich zusammen.

„Cio“, begann ich um ihn zu versichern, dass das alles völlig bedeutungslos war. Leider kamen in dem Moment Cayenne und Sydney den Korridor herunter.

Cayenne sah uns, warf dann einen Blick in den Gemeinschaftsraum und zog eine Augenbraue fragend nach oben. „Stimmt was mit der Couch nicht, oder warum sitzt ihr hier draußen?“

Cio gab ein verärgertes Knurren von sich.

Sie schaute von ihm zu mir und wieder zurück. „Die Stimmung scheint nicht besonders gut. Komme ich gerade ungelegen?“

„Ja verdammt, das tust du!“ Cio fuhr hoch und baute sich so drohend vor ihr auf, dass Cayenne tatsächlich einen Schritt zurück machte. „Sagt was du zu sagen hast und dann verschwinde wieder!“

Das eine Welle von Odeur durch den Korridor brandete und Sydney zähnefletschend einen Schritt nach vorne machte, überraschte mich nicht. Und trotzdem zuckte ich dabei zusammen.

„Ich glaube du vergisst, mit wem du hier sprichst.“ Sie war ihm unterlegen, aber sie zeigte keine Angst. Das musste von der jahrelangen Aufgabe als Königin kommen. „Lass deine schlechte Laune nicht an mir aus. Ich kann nichts dafür, dass du ein Idiot bist, der sein Glück wegen eines irgendeines unwichtigen Mädchens aufs Spiel setzt.“

Bam. Das war ein Schlag mitten ins Gesicht, für den ich ihr am liebsten eine geklatscht hätte.

Cios Hände waren so fest zusammengeballt, dass sie schon ganz weiß waren. „Du tust immer so allwissend, aber im Grunde weißt du gar nichts.“

„Ich weiß dass du einen Fehler gemacht hast und jetzt mit den Folgen …“

„Das reicht jetzt“, unterbrach ich sie wütend. „Hör auf damit, sofort!“

Sie funkelte mich an, hielt aber den Mund.

„Cio“, sagte ich sehr vorsichtig und legte ihm eine Hand auf die Brust. Sein Herz trommelte wie wild. „Geh rein, bitte.“

Sein Blick schnellte zu mir, sein Lippen waren kaum mehr als ein Strich. Aber dann drehte es sich ruckartig herum und verschwand im Gemeinschaftsraum.

Sobald er weg war, funkelte ich meine Erzeugerin verärgert an. „Das war mehr als nur gemein von dir. Und noch dazu völlig unnötig.“

Cayenne war nicht weniger verärgert. „Ich habe Cio heranwachsen sehen. Er ist zusammen mit meinen Kindern aufgewachsen und ein wichtiger Teil meiner Familie geworden, weswegen ich ihm viel erlaube. Wenn er Probleme oder Sorgen hat, kann er gerne zu mir kommen, ich werde ihn niemals abweisen, aber ich erlaube es niemanden – auch ihm nicht – mich so anzugehen. Besonders dann nicht, wenn ich nicht mal was getan habe.“

„Das hättest du aber auch anders sagen können. Ihm seinen Fehler unter die Nase zu reiben, war einfach nur arschig von dir. Soll ich mal genauso sein? Soll ich dich daran erinnern, was du alles falsch gemacht hast? Zum Beispiel, dass du deine drei Tage alte Tochter weggegeben hast, weil du ja eine ach so große Königin sein musstest, die das Rudel nicht im Stich lassen konnte, dafür aber ihr eigen Fleisch und Blut?“

Damit hatte ich sie verletzt, das sah ich ihr an. Aber das war mir im Moment völlig egal.

„Ja“, sagte ich. „So ein Schlag unter die Gürtellinie kann ganz schon verletzend sein, besonders wenn er von jemanden kommt, dem man liebt hat.“

Sie wich meinem Blick nicht aus – dafür war sie einfach zu viel Alpha – aber einen Moment schien es, als hätte sie es gerne getan. „Du hast recht“, räumte sie dann ein. „Was zwischen euch beiden ist, geht mich nichts an und es war nicht richtig von mir, mein Wissen gegen ihn zu verwenden.“

„Halbwissen“, hielt ich ihr sofort vor. „Du hast vielleicht gehört was passiert ist, aber sicher nicht warum es so weit gekommen ist. Wüsstest du es, hättest du damit gar nicht erst davon angefangen, denn ich und Kiara sind hier die Wurzel allen Übels. Sie hat mich gebeten ihr zu helfen und aus ihrem Zustand ein Geheimnis zu machen, weil sie befürchtet hat, das Kind sonst behalten zu müssen. Ich habe zugestimmt und nur deswegen konnte es so weit kommen. Cio hat das alles nicht gewollt, es waren die Umstände, die ihn zu dieser törichten Aktion getrieben haben.“

Dass ihre beiden Töchter in die Sache involviert waren, überraschte sie, ich sah es ihr an. Ihr war gar nicht in den Sinn gekommen, dass Kiara auch nur entfernt etwas damit zu tun haben könnte, einfach weil sie gar nicht über die Ursache nachgedacht hatte. Sie hatte etwas gehört und es für bare Münze genommen. „Okay, ich sehe es ein. Ich habe wirklich keine genaue Vorstellung von dem was hier los ist.“ Sie schaute zur Tür. „Ich werde mich bei ihm entschuldigen.“

„Nein.“ Ja, mir war durchaus bewusst, wem ich hier versuchte Vorschriften zu machen. Er war mir gleich. „Lass ihn bitte in ruhe. Wie du vielleicht gemerkt hast, möchte er im Moment nicht belästigt werden.“ Genaugenommen war ich mir nicht mal sicher, ob er mit mir sprechen wollte.

Sie presste die Lippen zusammen, als wollte sie sich selber am reden hindern. Selbst als Sydney sich tröstend an ihr Bein drückte, reagierte sie nicht.

Na toll, warum kam ich mir denn jetzt schuldig vor? Das war doch wirklich zum Kotzen. „Du wolltest doch etwas von mir“, versuchte ich dann das Thema zu wechseln. Eigentlich war es mir egal was sie zu sagen hatte, ich wollte nur schnell zu Cio, aber sie hatte mich extra aufgesucht, da konnte ich sie doch nicht einfach wegschicken.

„Ich wollte dich nur über den neusten Stand in Kenntnis setzen“, erklärte sie sehr sachlich. „Rouven ist offiziell abgetaucht. Wir wissen nicht wie, aber er hat wohl den Braten gerochen und sich aus dem Staub gemacht, bevor es zu spät ist.“

Das war mir schon bewusst gewesen. „Die Frage ist nur wie, wie konnte er den Braten so schnell riechen?“

„Jemand muss ihn gewarnt haben.“ Sie schaute mich sehr ernst an. „Deswegen müssen wir jetzt auch davon ausgehen, dass er hier einen Komplizen hat, der ihn über alles auf dem Laufenden hält.“

Die Härchen in meinem Nacken richteten sich auf. „Der zweite Killer? Du meinst … der ist auch hier am Hof?“

„Ich weiß nicht.“ Cayenne tippte sich mit dem Finger gegen den Schenkel. „Wir können es nicht ausschließen, aber es muss auch kein Komplize sein, es kann einfach ein besonders treuer Diener sein oder ein Bewunderer, der mitbekommen hat was hier los ist und damit direkt zu Rouven gegangen ist.“

„Das schränkt es aber nicht besonders ein.“

„Leider“, stimmte sie mir zu. „Deswegen darfst du jetzt auch nicht unvorsichtig werden. Wir wissen jetzt zwar nach wem wir suchen müssen, aber das bedeutet noch lange nicht, dass du nun außer Gefahr bist.“

„Ja, denn im Moment wissen wir eigentlich nur, dass wir mal wieder gar nichts wissen“, sagte ich bitter. Das war, als wären wir wieder bei Null angekommen, kaum das wir einen Schritt auf die eins zugemacht hatten.

Cayennes Hand zuckte, als wollte sie nach mir greifen. Doch dann ließ sie es. Ich hatte sie wohl tiefer verletzt, als mir bewusst war. „Steigere dich da nicht zu sehr hinein. Rouven ist nicht der erste durchgeknallte Graf mit einem Gottkomplex, den ich jage. Das Rudel ist groß und sehr aufmerksam. Früher oder später werden wir ihn finden und dann ist es endlich vorbei.“

Das blieb zu hoffen. „Danke das du extra hergekommen bist, um mir das zu sagen.“

Die Frau war nicht dumm und verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. „Pass auf dich auf Zaira und sag Cio … sag ihm, es tut mir leid.“

„Mache ich.“ Obwohl ich das wahrscheinlich gar nicht musste. Cio hatte sehr gute Ohren und unter Garantie alles von dem was wir hier draußen besprochen hatten, mitbekommen.

Zum Abschied hob Cayenne noch einmal die Hand, dann wandte sie sich ab und verschwand mit Sydney den Flur hinunter.

Ich hingegen musste mich nun wieder dem stellen, bei dem ich gerade unterbrochen wurde, also ging in zurück in den Gemeinschaftsraum.

Unser verfrühtes Mittagessen, oder auch spätes Frühstück, stand einsam und vergessen auf dem Tisch. Cio hatte sich auf die Couch gesetzt. Der Kopf gesenkt, die Ellbogen auf die Schenkel gestützt, die Hände baumelnd zwischen den Beinen. Seine Gefühle hatte er wie so oft in letzter Zeit hinter der Maske der Umbras versteckt.

Es tat mir weh ihn so zu sehen. Auch wenn ich es verstand, dieser verschlossene Cio fühlte sich einfach Falsch an. Aber ich ließ mir nichts anmerken, als ich zu ihm trat.

An der Couch jedoch zögerte ich. Ich war mir nicht sicher, wie nahe ich ihm im Moment kommen durfte, also nahm ich nicht neben ihm, sondern ihm gegenüber auf dem niedrigen Couchtisch Platz. Zwei Mal öffnete ich den Mund, war mir aber nie sicher, wie ich den Anfang machen sollte. Ich hasste diesen Zustand. Normalerweise gingen wir so offen und ungezwungen miteinander um. Doch jetzt schien es da tausend Mauern zu geben, die wir nur nach und nach, mit sehr viel Vorsicht und Geduld, einreißen konnten. Aber jedes Mal wenn wir einen Fehler machten, wurden die Mauern wieder hochgezogen und wir mussten von Vorne anfangen.

Wenigstens schien er nicht mehr das Verlangen zu verspüren, jedem der ihm zu nahe kam, den Kopf abzureißen.

„Ich habe noch nie erlebt, dass du jemanden so grob in seine Schraken gewiesen hast“, sagte er leise. „Das passt gar nicht zu dir.“

Was er wohl dazu sagen würde, wenn er wüsste, dass ich Pauline den Hintern versohlt hatte? Ich denke, das war ein Thema, dass ich besser ein anderes Mal anschnitt. „Sie hätte das nicht zu dir sagen dürfen.“

Langsam griff er nach meiner Hand und zog meine Finger mit seinen nach. „Hat er dich angefasst? Tayfun? Als du bei ihm getrunken hast?“

Ein nein wäre an dieser Stelle wohl die richtige Antwort, doch vielleicht war die Wahrheit hier wirklich die bessere Option. „Er hat mir übers Haar gestreichelt, um mich zu trösten. Ich habe die ganze Zeit geweint. Bei ihm zu trinken … ich wollte das nicht. Es hat sich falsch angefühlt.“

Mit einer Welle der Erleichterung schloss Cio die Augen, hob meine Hand an die Lippen und hauchte einen zarten Kuss auf die Knöchel. „Ich werde dafür sorgen, dass du das nie wieder tun musst.“

An dieser Stelle wäre es eigentlich meine Pflicht gewesen ihn darauf hinzuweisen, dass das unmöglich war, einfach weil mein Bluthunger viel zu unbeständig war, aber das hörte sich so wundervoll an, dass ich hier und jetzt einfach nur daran glauben wollte. „Ist … bist du mir böse?“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Wie hast du es doch gerade so schön zu Cayenne gesagt? Du hast das nicht gewollt, es waren die Umstände, die dich dazu getrieben haben.“

Ich hatte doch gewusst, dass er zuhörte. „Danke.“

„Bedanke dich nicht bei mir, ich will Tayfun immer noch weh tun.“

„Aber du wirst es nicht tun“, versicherte ich mich sofort. Das hatte Tayfun nämlich nicht verdient.

Cio antwortete nicht sofort, als müsste er erst überlegen, was er dazu sagen sollte. „Ich werde nicht zu ihm gehen und mich von ihm fernhalten, weil ich ehrlich nicht weiß, wie ich reagieren werde, wenn ich ihm gegenüber stehe.“

Mehr konnte ich im Moment wohl nicht von ihm verlangen. „Ich liebe dich, Cio.“ Ich sah ihm tief in die Augen, damit er die Wahrheit in meinen Worten erkennen konnte. „Bitte, vergiss das niemals.“

Endlich ließ er seine Maske fallen und ließ mich wieder ein kleinen wenig hinter seine Mauern blicken. Er beugte sich vor, bis unsere Lippe sich berührten. Es war ein sehr keuscher Kuss, aber von einer solchen Zärtlichkeit, dass wieder ein Splitter meines Herzens an seinen Platz zurück fand. Langsam war ich wieder in der Lage, meine Seele für ihn zu öffnen und dass obwohl mir durchaus bewusst war, dass er die drei kleinen Worte nicht zu mir gesagt hatte. Aber nachdem was eben geschehen war, sollte ich mich nicht beklagen. Ich konnte froh sein, dass er nicht sofort wieder das Weite gesucht hatte – naja, nicht sehr weit jedenfalls.

Es fiel mir schwer den Kuss zu lösen, als er sich ein wenig vor mir zurück zog. Ich wollte ihn noch nicht gehen lassen, aber ich traute mich auch nicht ihn wieder zu mir heranzuziehen. Daher blieb ich einfach still sitzen, als er sanft das Piercingloch an meiner Augenbraue berührte. „Willst du deine Suppe noch essen?“

Etwas ratlos schaute ich zum Tisch und den beiden einsamen Tellern. Meine Suppe war in der Zwischenzeit bestimmt wieder kalt und klumpig – nicht besonders appetitanregend. „Nein, ich habe keinen Hunger mehr.“

Sein rechter Mundwinkel kletterte langsam nach oben, als hätte er nichts anderes erwartet. „Geht mir genauso.“ Mit einem Seufzen ließ er von mir ab und kam auf die Beine. „Dann vernichte ich mal unsere Reste. Anschließend können wir ein wenig frische Luft schnappen gehen, das können wir beide gebrauchen. Und den kleinen Scheißer willst du sicher immer noch sehen.“

Das wollte ich durchaus. Aber etwas anderes wollte ich noch viel mehr.

Als würde er meine Gedanken ahnen, hockte er sich noch mal neben mich. „Hey.“ Er nahm meine Hand in seine und drückte sie leicht. „Was ich gesagt habe, war mein Ernst. Ich will dass das hier funktioniert und ich werde nicht wieder einfach davonlaufen und dich im Stich lassen, okay?“

Ich nickte. „Okay.“ Niemals hätte ich gedacht, dass mir diese Worte so viel bedeuten könnten.

„Gut. Dann darfst du jetzt aufstehen und mir beim aufräumen helfen.“ Er zog mich mit sich zusammen auf die Beine und legte sogar noch kurz die Arme um mich.

„Wir großzügig von dir“, spottete ich.

Die Küchenzeile war schnell in Ordnung gebracht. Das Essen landete im Müll, die Zutaten im Kühlschrank und das dreckige Geschirr in der Spülmaschine. Dann holte ich mir nur noch eine leichte Jacke aus meinem Zimmer und schon waren wir auf dem Weg nach oben.

Am Eingang des HQ warteten nur zwei Wächter, Mirko und Owen. Sadrija hatte wirklich jeden von seinem Posten abgezogen, der entbehrlich gewesen war – zum Glück auch die Schönheitskönigin. Dadurch das Graf Rouven Deleo nun enttarnt war, ging die Königin davon aus, dass die Gefahr für mich vorerst gesunken war. Zwar konnte noch immer niemand sagen, was ich damit zu tun hatte, aber wenigstens waren wir einen Schritt weiter gekommen.

Die beiden Wächter schlossen sich uns stumm an, als wir den Weg zur Menagerie einschlugen. Dabei fiel mir sehr schnell auf, dass es heute ungewöhnlich ruhig am Hof zuging. Es war keine bedächtige Ruhe, oder sowas, er waren nur viel weniger Leute unterwegs. Und viele von denen, die hier rumliefen, strahlten eine innere Unruhe aus.

Sadrija hatte recht. Unruhen im Hause der Alphas wirkten sich in gewisser Weise auf das ganze Rudel aus. Nie war das deutlich geworden, als hier und jetzt.

Der Weg zu der Menagerie war so vertraut, dass meine Beine mich von ganz alleine dorthin brachten.

Als wir das kleine Wäldchen erreichten, hinter dem sich die Zwinger verbargen, konnte ich bereits von weitem mehrere Stimmen hören. Drei um genau zu sein. Und wie sich kurz darauf herausstellte, kannte ich sie alle.

Die eine gehörte einem der Wächter, die ihn mit eingefangen hatten. Die zweite zu Alexander Cheval. Er war so etwas wie der Manager der gesamten Menagerie. Er musste so in dem Alter meiner Eltern sein. Die letzte Stimme gehörte zu einem etwas älteren Mann, mit dem ich bereits öfter zusammengearbeitet hatte, der Tierarzt.

Als wir näher kamen, verstummten die drei und sahen uns entgegen. Ähm … okay. Ich hob grüßend eine Hand, ignorierte sie aber weitestgehend, da ich ja wegen dem Wilden hier war.

Zuerst sah ich ihn nicht und begann mir schon Sorgen zu machen, aber dann hörte ich das leise Knurren aus der Hundehütte in der Ecke. Er hatte sich versteckt.

„Hey mein Hübscher“, sprach ich ihn an und lief am Käfig entlang, um die perfekte Position zu finden, damit der Wind meinen Geruch zu ihm tragen konnte. Leider war die da, wo die drei Männer standen. „Ähm … kann ich mal da hin? Ich will das er mich riechen kann.“

In den Ohren Außenstehender mochte sich eine solcher Bitte seltsam anhören, aber wir waren hier immerhin am Hof der Lykaner. Also kamen die drei meine Bitte nach.

„Danke.“ Ich hockte mich ans Gitter und machte Lockgeräusche.

Das Knurren verstummte und eine Nase wurde vorsichtig aus dem Haus geschoben.

„Ah“, machte der Tierarzt. „Dann bist du wohl das Wolfsmädchen.“

Cio ging um den Zwinger herum und lehnte sich mit verschränkten Armen an einen der Eckpfosten.

Ich schaute zum Tierarzt auf. „Und Sie sind dann wohl der Wolfsarzt.“

Er schmunzelte. „Ich habe ihn untersucht, falls du darauf anspielst. Ich wollte nur noch mal nachschauen, ob er alles gut überstanden hat. Auf jeden Fall scheint er sich an mich zu erinnern.“

Damit spielte er dann wohl auf das Knurren an. „Und, was hat ihre Untersuchung ergeben?“

„Er ist nicht krank, wenn du das meinst. Ein wenig unterernährt und voller Zecken, doch nichts, was sich nicht leicht behandeln ließe.“

Ich hörte das dicke Aber in seiner Stimme. „Doch das ist nicht alles, was sie über ihn herausgefunden haben“, half ich ihm auf die Sprünge.

In der kleinen Hütte kratzten Krallen auf Holz. Dann steckte der Wilde seinen Kopf heraus, hob die Nase und schaute sich wachsam um.

„Nein“, stimmte er mir zu. „Die Blutuntersuchung hat etwas sehr außergewöhnliches ans Licht gebracht.“

Außergewöhnlich wie in Bilder in anderer Leute Köpfe senden? Das sagte ich natürlich nicht laut, ich wollte ja nicht als verrückt abgestempelt werden. „So, was denn?“ Ich schnalzte ein paar mal mit der Zunge, um den Wilden auf mich aufmerksam zu machen.

„Die Untersuchung hat ergeben: Dieser Wolf ist gar kein Wolf.“

Okay, damit stand es fest, ich war hier nicht die einzige Verrückte.

 

°°°°°

Letzte Chance

 

„Ich versteh nicht.“ Verwirrt schaute ich vom Tierarzt zu dem wilden Wolf, der in der Zwischenzeit zwar eine Pfote aus der Hütte gesteckt hatte, sich aber noch immer nicht traute herauszukommen. „Was soll das heißen, dieser Wolf ist gar kein Wolf. Natürlich ist das ein Wolf. Was sollte er denn sonst sein, ein Flughörnchen?“ Dafür war er definitiv zu groß.

Es war der Manager Alexander, der schmunzelnd den Kopf schüttelte. „Dieser Wolf ist ein Mischling.“

„Ein Misto, um genau zu sein“, fügte der Tierarzt noch hinzu. „Aber nicht so wie wir ein Misto normalerweise klassifizieren, er ist ein Tier. Ein sehr seltenes Phänomen.“

„Hä?“ Ich war mal wieder eine Ausgeburt an epischen Ergüssen. Aber ganz ehrlich mal, was er da sagte, ergab absolut keinen Sinn.

„Was mein Schäfchen damit sagen möchte“, mischte sich nun auch Cio ein. „Können sie das ein wenig genauer erklären? Am Besten so, dass wir Laien es auch verstehen.“

Der Tierarzt nickt. „Natürlich, kein Problem. Also: Manchmal kann es vorkommen, dass sich Lykaner aus den verschiedensten Gründen in die Wälder zurückziehen und dort als Wolf in ein ganz normales Wolfsrudel eingliedert. Es passiert nur selten, einfach weil normale Wölfe uns nach Möglichkeit meiden. Doch wenn ein Lykaner es in so sein Rudel schafft, ist es schon vorgekommen, dass sie sich mit den wilden Wölfen gepaart haben.“

Bei der Vorstellung, verzog ich das Gesicht. Sie waren immerhin Tiere, wir nicht. Sex mit Tieren? Das war eklig. Aber ich bekam so langsam eine Ahnung davon, worauf das hinauslief. „Sie wollen damit sagen, der Wilde ist das Kind eines normalen Wolfs und eines Lykaners?“

„Das besagen zumindest die Ergebnisse des Bluttest.“ Er schaute zu dem Objekt unserer Unterhalten, das sich nun äußerst wachsam endlich aus seiner Hütte traute und dann sehr schnell in geduckter Haltung zu mir ans Gitter lief. Sofort steckte er die Nase zwischen den Stangen hindurch und versuchte fiepsend meine Hand zu lecken.

Alexander verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. „In diesem Wolf steckt zu einem gewissen Teil ein Lykaner. Das ist eine Tatsache, die wir nicht ignorieren können.“

„Das heißt er kann sich verwandeln?“ Als ich meine Hand bei dieser Frage wegzog, jaulte der Wilde mich kläglich an.

Der Tierarzt schüttelte den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht. Er hat bisher jedenfalls keine Anzeichen dafür gezeigt. Wie es scheint, ist er nur dem Blut nach ein Misto. Ansonsten aber nicht mehr als ein einfaches Tier. Naja, und er ist weitaus älter, als es den Anschein hat.“

„Älter?“

„Ja, älter. Auf den ersten Blick wurde man vermuten, dass er vier oder fünf Jahre sei. Aber bei der Untersuchung habe ich festgestellt, dass er auch wie ein Lykaner altert. Er ist jung. Ich würde schätzen, Mitte zwanzig.“

Ich blinzelte ihn verblüfft an. Der Wilde war in meinem Alter? „Und er kann genauso alt werden wie ein Lykaner?“

Mit der Antwort ließ der Tierarzt sich dieses Mal ein wenig Zeit. „Theoretisch würde ich ja sagen, da er die Veranlagung dazu hat. Leider lässt sich sowas immer schwer voraussagen, weil es doch viel mit dem Erbgut zu tun hat.“

„Es ist auch nicht relevant“, erklärte Alexander. „Trotz seiner kleinen Merkmale, ist er nur ein einfacher Wolf, mehr müssen wir nicht wissen.“

Dem konnte ich nicht zustimmen. „Er kann sprechen.“

Alle Männer im Umkreis schauten mich an, als würden mir Hörner aus dem Kopf sprießen.

„Er hat mir dir gesprochen?“, fragte Cio und schien sich nicht sicher zu sein, was er davon halten sollte.

„Naja, ja, irgendwie. Also nicht so richtig.“ Das war doch mal sehr verständlich ausgedrückt.

Alexander senkte ein wenig den Kopf. „Ich glaube, das solltest du uns ein wenig genauer erklären. Mit uns hat er bisher jedenfalls nicht gesprochen.“

„Weil er Angst vor euch hat.“ Ich erhob mich auf die Beine und lief am Gitter entlang zu der verschlossenen Tür. Der Wolf blieb direkt neben mir. „Und es ist auch kein richtiges Sprechen, es ist eher wie … ich weiß nicht genau wie ich das nennen soll. Wenn er seinen Kopf gegen meinen drückt, kann er mir Gefühle und Bilder senden, als wollte er sich mir mitteilen.“

Der Tierarzt runzelte die Stirn. „Was meinst du mit senden?“

„Naja, es ist wie bei uns, wenn wir uns verwandelt haben. Sie wissen schon, Gedankensprache.“ Ich tippte mir gegen die Schläfe. „Es kommt aus unserem Kopf und geht in einen anderen. Das macht er eben mit Bildern und Berührungen. Ob es auch anders geht, keine Ahnung, er hat das erst zweimal mit mir gemacht.“ Ich schaute zu, wie der Wilde ungeduldig vor der Tür auf und ab rannte. „Ich glaube er versucht auf diese Art Anschluss zu finden. Er hat mir gezeigt, wie wir uns zum ersten Mal begegnet sind und wie er mich danach immer mal wieder im Wald beobachtet hat.“

„Er hat dich verfolgt?“ Das schien Alexander nicht besonders zu gefallen.

Ich zuckte mit den Schultern. „So könnte man es auch ausdrücken. Er ist eigentlich so ziemlich immer aufgetaucht, wenn ich mich im Wald befunden habe, als hätte er ein inneres Ortungssystem, mit dem er mich immer und überall aufspüren kann. Er glaubt wohl, dass er bei mir Anschluss finden kann, dass ich … keine Ahnung, ein Teil seines Rudels bin, oder so. Deswegen ist er auch aufs Schlossgelände gelaufen. Er wollte keine Pferde reißen, er wollte zu mir.“

„So wie du das sagst“, überlegte der Tierarzt, „räumst du ihm logisch Denken ein.“

„In gewisser Weise, ja.“ Logisches denken, erhöhte Intelligenz und einen kleinen Hang zum Dramatischen.

Ich öffnete den Schießmechanismus des Zwingers und schlüpfte eilig zu dem Wilden in den Käfig hinein. Sofort hüpfte er wie ein Flummi freudig an mir auf und ab und versuchte mir mit der Zunge durchs Gesicht zu fahren. Klappte nicht, zum Glück, Sabber im Gesicht war eklig.

„Das ändert einiges“, sagte der Wächter und ergriff damit zum ersten Mal das Wort.

Stirnrunzelnd schaute ich zu ihm auf und versuchte den Wilden daran zu hindern an Körperteilen zu schnüffeln, an denen ich absolut nicht beschnüffelt werden wollte. „Was meinen sie damit?“

„Ganz einfach. Wenn er über Intelligenz, Erinnerungsvermögen und Sprache verfügt, dann können wir ihn nicht einfach wieder auswildern. Die Gefahr dass er wieder hier auftaucht, ist zu groß. Und wer weiß, was er dann für einen Schaden anrichten würde.“

Was ich da zu hören bekam, gefiel mir ganz und gar nicht. „Das heißt, sie wollen ihn eingesperrt lassen?“

„Das oder einschläfern.“

Ich begann zu knurren. Sie wollten meinen Wolf einschläfern lassen, weil er nicht der Norm entsprach? Dem ging es doch wohl zu gut. „Wagen sie es nicht ihm auch nur ein Haar zu krümmen.“

Der Wilde reagierte auf mein Verhalten. Er spannte sich an, sträubte das Nackenfell und knurrte, auch wenn er nicht wusste, woher genau die Gefahr kam.

Der Blick des Wächters wurde etwas weicher. „Schau mich nicht an, als wäre ich ein Unmensch. Ein Leben in Gefangenschaft wäre ein viel größeres Vergehen, als ihn von seinem Dasein zu befreien.“

„Ja, weil man einem Misto am Besten von dem Elend seiner Existenz erlöst, indem man ihm einfach umbringt. Das hat etwas vom Amor-Killer, finden Sie nicht auch? Vielleicht sind sie ja der Komplize, nach dem das ganze Rudel sucht.“

Mir war klar, dass ich Blödsinn redete. Die Wahrscheinlichkeit dem Mann gegenüber zu stehen, der mit in Cayennes Haus eingedrungen war, war praktisch nicht vorhanden. Der Kerl hier war viel zu groß. Aber dass er den Wolf einfach töten wollte, weil das Problem damit als gelöst angesehen werden konnte, machte mich einfach sauer.

Er war ein Misto, na und? Ich war auch einer, deswegen war mein Leben aber noch lange nicht weniger wert als das eines anderen Lykaners.

Der Wächter funkelte mich böse an.

Cio kam einen Schritt näher.

Der Wilde knurrte und strich unruhig um meine Beine herum.

„Okay, ich glaube wir sollten uns alle ein wenig beruhigen“, schritt Alexander ein. „Im Moment wird hier niemand eingeschläfert und schon gar nicht, weil er ein Misto ist. Er bleibt erstmal hier, während wir darüber nachdenken, was mit ihm passieren soll.“

„Sie könnten ihn einfach wieder freilassen“, sagte ich. „Er streunt schon seit Monaten in den Wäldern der Könige umher und er hat noch nie jemanden ein Haar gekrümmt.“

„Ich werde das in meine Überlegung mit einbeziehen“, versprach Alexander. Scheinbar hatte er als Manager die Verantwortung für den Wolf übernommen. „Vorerst wird er jedoch hier drinnen bleiben müssen.“

Ich grummelte etwas nicht sehr Nettes, dass sie zum Glück nicht verstehen konnten, kehrte ihnen dann den Rücken und setzte mich zu dem Wilden auf den staubigen Boden. Dabei bemerkte ich die rohen Fleischklumpen, die ihm irgendjemand in den Zwinger geworfen hatte. Er schien keinen von ihn angerührt zu haben.

Der Tierarzt trat ans Gitter. „Wenn du es schaffst ihm zum Fressen zu bewegen, wäre das gut. Da sind Vitamine drin und etwas gegen den Zeckenbefall.“

„Ich werde dafür sorgen, dass er sie frisst.“ Fragte sich nur, wie ich das anstellen sollte. Ich konnte sie ihm ja schlecht ins Maul stopfen, ohne dass er sie mir wieder vor die Füße kotzte.

„Das ist gut.“ Er klopfte mit den Knöcheln ans Gitter. „Ich werde mich dann jetzt auch verabschieden. Da warten noch ein paar Patienten auf mich.“

Der Wächter und Alexander schlossen sich ihm an, mahnten mich aber noch einmal eindringlich, den Wilden auf keinen Fall aus dem Zwinger zu lassen.

Da mir diese Idee in den letzten Minuten durchaus gekommen war, hielt ich meinen Mund und dachte mir mein Teil. Ich würde es auf jeden Fall zu verhindern wissen, dass man ihn verletzte, nur weil er nicht ins Schema passte. Aber erstmal würde ich versuchen, mich um sein leibliches Wohl zu kümmern. Darum begann ich damit die Fleischbrocken vom Boden aufzusammeln und zu einem sandigen Haufen zu türmen – igitt.

Der Wilde beobachtete mich dabei sehr genau. Einmal sprang er sogar vor und zwickte mir in den Arm. Ob nun wegen dem Futter, oder weil er mit mir spielen wollte, wusste ich nicht, aber ich knurrte ihn dafür an.

Verdutzt blieb er stehen, als könnte er nicht recht glauben, dass ich so wie ich jetzt war knurren konnte. Dann flitzte er einmal an mir vorbei, um mich von der anderen Seite anzuschauen.

Ich kümmerte mich einfach weiter um meinen Fleischhaufen und setzt mich dann daneben.

Als der Wilde dann wieder näher kam, um an mir und dem Futter zu schnüffeln, knurrte ich ihn ein weiteres Mal an.

„Meins“, erklärte ich ihm.

Cio trat mit hochgezogener Augenbraue an den Zaun. „Du bist Vegetarier, falls ich dich daran erinnern muss. Außerdem sieht das nicht besonders appetitlich aus. Oder hygienisch.“

Als ich ihm antwortete, schaute ich nicht auf, weil ich den Wolf im Auge behielt. „In den Rudeln wilder Wölfe herrscht eine strenge Hierarchie, ähnlich wie bei uns. Das Rudel wird angeführt von dem Alphatier, meistens ein weiblicher Wolf. Das Alphatier frisst immer zuerst, die anderen haben solange zu warten, bis der Anführer satt ist. Erst wenn er die Beute freigibt, dürfen sie sich bedienen.“

„Du versuchst also gerade sein Alpha zu sein?“ Er grinste.

Dafür bekam er einen bösen Blick. „Ich zeige ihm, dass das mein Essen ist und hoffe, dass er dabei so heiß drauf wird, dass er alles verschlingt, sobald ich es ihm erlaube.“

„Und du glaubst das klappt?“

„Hinwerfen hat jedenfalls nicht funktioniert, oder?“

„Auch wieder wahr.“

Ich knurrte den Wilden noch ein paar Mal an, bevor ich so tat, als würde das Essen mich nicht mehr interessieren. Ich stand auf, ließ es liegen und lehnte mich mit dem Rücken ans Gitter. Sofort spürte ich, wie Cio näher trat und meinen Nacken durch das Drahtgeflecht berührte.

Genau wie ich blieb er stehen, während wir beobachteten, wie der Wilde wachsam und ohne mich aus den Augen zu lassen, an das Futter herantrat. Er streckte den Hals, schnüffelte, schnappte sich dann ein Stück und rannte eilig in eine andere Ecke, wo er es hastig herunterschlang.

„Es funktioniert tatsächlich“, murmelte Cio ein wenig zu überrascht für meinen Geschmack.

„Man könnte meinen, du hättest an meiner Idee gezweifelt.“

„Ich hatte meine Bedenken“, räumte er ein und strich mit seinem Finger meine Wirbelsäule hinab.

Davon bekam ich eine Gänsehaut, die ihn leise lachen ließ und ihn dazu veranlasste, das Ganze noch einmal zu wiederholen. Es war schön das zu hören. Das hatte ich vermisst.

Der Wilde versuchte ein weiteres Mal unbemerkt an das Futter zu kommen. Der Wilde. Irgendwie hörte sich das komisch an. Es passte zwar, aber langsam hatte er sich einen richtigen Namen verdient. Gab es irgendwelche Berühmten Wölfe? Mir fiel da eigentlich nur der aus dem Dschungelbuch ein. Akela. Das war ganz hübscher Name, aber irgendwie passte er nicht. Akela war ein majestätisches Tier, der Wilde sah eher … naja wild aus und … genau, das war es. „Ferox“, flüsterte ich.

„Was?“

„Ich nenne ihn Ferox. Das ist lateinisch und heißt nichts anderes als wild, mutig und trotzig. Das passt doch zu ihm, findest du nicht?“

„Davon mal abgesehen, dass ich mich frage, seit wann du Lateinisch sprichst, du gibst ihm einen Namen?“

„Ja, tue ich. Und ich spreche kein Lateinisch. Es gibt da so ein wirklich tolles Buch, wo es um mehrere Gruppierungen innerhalb einer Gesellschaft geht. Eine dieser Gruppen nennt sich die Ferox. Als ich es damals gelesen habe, war ich neugierig, was das bedeutet, also habe ich ein wenig nachgeforscht, bis ich meine Antwort hatte. Ferox bedeutet wild, darum heißt er jetzt Ferox.“

Cio gab ein Geräusch von sich, als wollte er noch etwas sagen, hielt es aber für besser den Mund zu halten.

Ich schaute über meine Schulter hinweg zu ihm. „Was? Gefällt er dir nicht?“

„Der Name ist in Ordnung, nur … wenn du ihm einen Namen gibst, dann beginnst du eine Bindung zu ihm aufzubauen. Und wie ich das finden soll, weiß ich nicht so genau. Da hab ich glatt das Gefühl, du würdest dir ein neues Haustier zulegen und ...“

„Oh mein Gott!“, unterbrach ich ihn und wirbelte zu ihm herum. Ferox verschluckte sich vor Schreck an seinem Futter und musste es wieder hochwürgen, um nicht daran zu ersticken. „Das ist die Lösung, ich adoptiere ihn einfach!“

Cio schaute mich an, als würde ich eine andere Sprache sprechen, während ich bereits begann darüber nachzusinnen, wie sich diese Idee am Besten umsetzten ließ. „Du willst einen Wolf zu deinem Haustier machen?“

„Wenn es die Leute hier davon abhält ihn einzuschläfern, ja. Außerdem ist er doch sowieso schon völlig auf mich fixiert. Das bietet sich doch geradezu an.“

„Ja, wenn man mal von dem kleinen Problem seiner Unterbringung absieht. Sie werden es sicher nicht erlauben, dass du ihn einfach frei rumlaufen lässt und im Haus würde er sicher auf den Teppich pinkeln.“

„Das bekomme ich schon hin.“

„Wenn du ihm eine Leine anlegst, wird er sie sicher fressen“, redete er weiter, als hätte ich nichts gesagt. „Und er wird die Mülltonen leeren und Zecken in deinem Bett hinterlassen und kleine Wolfshäufchen auf dem teuren Parkett und ...“

Ich griff durch das Gitter und nahm sein Kinn in die Hand, damit er aufhörte meine Idee schlechtzureden. „Mir ist durchaus bewusst, dass ich da noch einige Einzelheiten klären muss. Ich weiß auch, dass er kein Hund ist, aber ich werde ihn nicht sterben lassen, nur weil er ein Misto ist. Dass kann ich einfach nicht, verstehst du? Er ist … wie ich.“ Etwas, dass selten und besonders war, geradezu einmalig. Aber wenn man aufgrund seiner Andersartigkeit keine Beziehung zu einem anderen Wesen fand, konnte einen dieses Novum auch einsam machen. „Vielleicht ist er gerade deswegen auf mich aufmerksam geworden. Nicht weil ich eine Hündin bin, sondern weil wir gleich sind.“ Anders, als alle anderen.

Er verstand worauf ich hinaus wollte, welche Parallelen ich zog und auch dass mir das viel bedeutete. Es gefiel ihm nicht, doch nach einigen Momenten des Widerstands, seufzte er geschlagen. „Okay, ich werde dir helfen den kleinen Scheißer zu einem angesehenen Mitglied der Haustiergesellschaft zu machen.“

„Danke!“ Strahlen steckte ich die Arme durch das Gitter und schlag sie um Cio. Es war ein wenig umständlich, aber das war mir egal. Dass er mir helfen wollte bedeutete mir wirklich viel.

Ferox, der von seiner Zukunft noch nichts ahnte, nutze meine Ablenkung, um sich wieder heranzuschleichen und auch noch die Reste seiner Mahlzeit eilig zu vertilgen.

 

°°°

 

Die Gedanken darum, wie ich meine Idee am Besten in die Tat umsetzte, ohne dabei eine Katastrophe zu verursachen, beschäftigten mich noch am Abend, als ich auf Cios Rückkehr wartete. Er war vor einer knappen Stunde aufgebrochen, um ungesundes Essen bei der Pizzeria zu besorgen und bisher noch nicht wieder aufgetaucht.

Ich saß seitdem grübelnd in meinem Bett und kam zu dem Entschluss, dass eine dauerhafte Lösung gar nicht so einfach war. Vielleicht sollte ich Ferox erstmal irgendwo privat unterbringen, damit er dem Zugriff des Hofes entkam. Aber wo? Pflegestellen für Wölfe waren nach meinem Wissensstand eher selten. Ich würde wohl selber eine Unterbringung schaffen müssen. Vielleicht ein großer Zwinger im Garten meines Vaters? Das wäre nicht optimal, aber für den Anfang in Ordnung. Dazu müsste ich auch nur meinen Vater von meinem Vorhaben überzeugen.

Eine Kleinigkeit. Hallo Sarkasmus!

Aber damit nicht genug der Probleme. Graf Rouven blieb weiterhin verschwunden. Er musste sich irgendwo verkrochen haben und wollte wahrscheinlich abwarten, bis Gras über die Sache gewachsen war. Nur schade für ihn, dass das Gedächtnis des Rudels weit reichte. In seinem Leben würde ab jetzt nichts mehr so sein, wie es einmal war.

Es tat mir nicht leid darum. Er hatte verdient, was ihm bevorstand. Es waren ja nicht nur die Leute, die er umgebracht hatte, da waren ja auch noch die Hinterbliebenen. Und der kleine Junge. Wie hatte Papa ihn noch genannt? Kolja? Er war bis heute nicht mehr aufgetaucht. Ich vermutete, dass er in der Zwischenzeit auch auf der Opferliste des Amor-Killers stand.

Deleo musste geschnappt werden, damit die Sache endlich ein ende hatte. Die Frage war nur wie, denn suchen taten wir ihn ja bereits – mit wenig Erfolg. Es war, als hätte sich der Boden aufgetan und ihn verschluckt. Aber irgendwo musste er ja abgeblieben sein.

Das brachte mich zu Alina. Durch alles was passiert war, hatte ich gar nicht gemerkt, dass sie auch einen ganzen Tag abgetaucht war – zusammen mit Anouk. Ich wusste nicht genau, was die beiden getrieben hatte, da ich bisher keine Gelegenheit bekommen hatte, mit ihr zu sprechen. Der Grund dafür war einfach, sie war sauer auf mich – so mehr oder weniger.

Nach ihrem Ausflug mit Anouk, der weiß-Gott-wo gewesen war, hatte sie aus den Nachrichten erfahren, was in Cayennes Haus vorgefallen war. Und von der Münze. Und von Graf Deleo. Nun nahm sie es mir sehr übel, dass ich sie nicht angerufen hatte und sie vor Sorge fast tot umgefallen war – ja, sie hatte ein kleinen wenig übertrieben. Dann hatte sie verkündet, dass sie nun offiziell sauer auf mich war und mir die Ohren langziehen würde, sobald wir uns das nächste Mal sahen. Da sie aber wieder nach Hause gemusst hatte, würde das wohl noch ein wenig auf sich warten lassen.

Das Öffnen meiner Zimmertür riss mich aus meinen düsteren Gedanken. Wie nicht anders zu erwarten, trat Cio herein. Auf seiner Hand balancierte er drei Pizzakartons und seine Schrottmühle von Laptop – funktionierte das Teil überhaupt noch?

Ich zog eine Augenbraue nach oben. „Hast du noch jemanden eingeladen?“

„Nein, ich habe einfach hunger.“ Er grinste, gab der Tür einen Tritt, damit sie ins Schloss fiel und stellte die Kartons auf dem Tisch ab. „Und da du sicher auch ein oder zwei Stücken abhaben möchtest, habe ich gleich mehrere Pizzen mitgebracht.“

„Ein, oder zwei Stücken, so so.“

Mit einem großen Schritt war er bei mir am Bett, beugte sich über mich und gab mein einen Kuss. „Wenn du nett zu mir bist, bekommst du vielleicht sogar ein Drittes.“

„Wie ungeheuer nobel von dir.“

„So bin ich eben. Nobel und sexy und charmant. Der pure Luxus, wenn du so willst.“

„Und so bescheiden.“

„Das Auch. Und hey, bevor ich es vergesse, ich habe noch etwas besorgt.“ Er setzte neben mich ins Bett und zog ein Handy aus seiner Jackentasche, das er mir mit einem „Tadaa!“ vor die Nase hielt.

„Wow“, sagte ich. „Du hast mir ein Telefon mitgebracht. Dir ist aber schon bewusst, dass ich bereits eins besitze, oder?“ Und noch dazu ein viel besseres, nicht so ein Billigteil aus dem Supermarkt.

„Das ist nicht für dich, dass ist für mich.“

Okay. „Dann hast du also dir ein neues Handy mitgebracht.“ Ich schaute zweifelnd auf das Teil in seiner Hand. „Du besitzt aber auch schon eines.“ Auch ein viel besseres.

Cio ließ sich von meinen Bedenken nicht stören. „Das hier“, er wedelte damit direkt vor meiner Nase herum, „ist nicht irgendein Handy, das ist ein ganz besonderes Handy.“

„Aha.“ Ich wusste wirklich nicht, was ich sonst dazu sagen sollte.

„Ich nenne es das Bluthandy.“

Mein Gesichtsausdruck sprach wohl Bände.

„Okay, an dem Namen muss ich noch ein wenig feilen, aber der Sinn dahinter ist folgender: dieses Handy werde ich ab jetzt immer bei mir tragen – eingeschaltet wohlgemerkt. Und nur du bekommst dafür die Nummer. Das ist also mein ganz persönliches Schäfchenhandy.“

„Und auf dem anderen darf ich ab jetzt nicht mehr anrufen, weil?“

„Natürlich kannst du auf dem anderen noch anrufen. Aber das muss ich immer mal wieder ausschalten. Beim Training, oder bei einem Auftrag. Dieses hier aber werde ich niemals ausschalten.“ Wieder wackelte er damit vor meiner Nase herum. „Nur du bekommst die Nummer und wenn dein Bluthunger dich mal wieder überfällt, dann rufst du einfach hier an und ich bin in Nullkommanichts bei dir. Selbst dann, wenn wir mal wieder einen kleinen Disput haben. Gut, oder?“

Ach darum ging es hier. Das zweite Handy sollte ein Sicherheitsnetz sein, sowohl für ihn, als auch für mich. Er hatte sich Gedanken gemacht und eine Lösung gefunden. So wäre es in Zukunft eher unwahrscheinlich, dass wir noch einmal in solch prekäre Situationen kamen, wie in der letzten Zeit.

„Das ist doch gut, oder?“, fragte er noch einmal etwas unsicher nach, weil ich schwieg.

Ich beugte mich vor und gab ihm einen Kuss. „Das ist phantastisch.“

Da war es wieder, sein Lächeln.

„Dann musst du mir jetzt aber auch die Nummer geben, sonst nützt es mir nicht viel.“

Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Er speicherte die Nummer sogar persönlich in meinem Handy ab und zwar unter dem Namen Bloody Mary. Er fand das witzig. Ich schaute ihn nur schief an.

Nachdem das erledigt war, konzentrierte Cio sich ganz auf die Aufgabe seinen Laptop in Gang zu bekommen, um einen Film zu starten, den er für heute Abend besorgt hatte.

Ich kümmerte mich inzwischen um die Pizza. Zwei Hawaii für ihn und eine Spinat für mich. Doch während ich sie zum Bett trug und es mir damit neben Cio bequem machte, stellte ich eines sehr schnell fest. „Die sind ja schon kalt.“

„Ja, ich hätte sie wohl erst zum Schluss holen sollen und nicht gleich als erstes“, sagte er ohne mich dabei anzuschauen. Gleich darauf startete der Film.

Naja, warme Pizza schmeckte zwar besser, aber ich hatte hunger. Also vertilgte ich ein Stück und noch ein Stück und dann noch ein Drittes.

Der Laptop landete am Fußende des Bettes. Wir machten es uns nebeneinander bequem und mampften unser Essen.

Eigentlich machten wir das ziemlich oft, aber heute war es irgendwie besonders schön. Einfach weil er da war, weil wir allein waren und weil ich mir so einbilden konnte, dass die Welt völlig in Ordnung war.

Ich hatte gerade mal die Hälfte von meinem Essen verdrückt, da nahm Cio sich schon ein Stück von seiner zweiten. Dabei schien er dem Film wie gebannt zu folgen, was ich ehrlich gesagt nicht verstehen konnte. Der Film war … äh, wie drückte ich das jetzt nett aus? Oh, ich weiß: Der Film war echt grottig. Die Handlung war banal, die Abfolge unlogisch und die Figuren extrem oberflächlich. Im Grunde schien es nur darum zu gehen, möglichst viele Leute aus dem verfeindeten Mafiaclan auf sehr schmerzhafte Weise umzubringen.

„Ich glaube, ich werde den Job bei den Themis doch nicht annehmen“, sagte er plötzlich.

Das überraschte mich jetzt doch. „Warum? Du wolltest ihn doch unbedingt.“

„Ich müsste immer mal wieder für ein paar Tage weg und der Gedanke gefällt mir nicht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Außerdem wärst du damit nicht sehr glücklich.“

Da war etwas Wahres dran, dass konnte ich nicht bestreiten. Mir war bewusst, dass es eine wichtige Arbeit war und man damit vielen Leuten helfen konnte. Aber alle Themis – auch wenn sich das jetzt extrem anhörte – waren auf die eine oder andere Art Mörder – auch meine Erzeugerfraktion. Cio war nicht so. Ihm fehlte die Gefühlskälte, die dieser Beruf mit sich brachte. Töten veränderte die Leute nun einmal und ich wollte nicht, dass er sich veränderte – nicht so extrem. „Was willst du denn stattdessen machen?“

„Ich weiß noch nicht.“ Als ein Schusswechsel auf dem Bildschirm seine Stimme zu übertönen drohte, beugte Cio sich kurz vor, um den Ton etwas leiser zu stellen.

„Willst du … willst du wieder als Umbra anfangen?“, fragte ich vorsichtig.

Er schüttelte sofort den Kopf. „Nein, das mache ich nicht mehr, nicht solange mein Vater mein Vorgesetzter ist, das funktioniert einfach nicht, aber es gibt ja auch noch andere Berufe. Ich könnte bei der Post anfangen, oder auch Regale im Supermarkt einräumen.“

Meine Augenbraue wanderte skeptisch nach oben. „Du willst im Supermarkt arbeiten?“

„Guck nicht so.“ Er tippte mir auf die Nasenspitze. „Das war nur ein Beispiel. Ich wollte damit eigentlich nur sagen, ich werde schon etwas anderes finden. Meine Möglichkeiten sind unendlich.“

„Ja aber ...“ Ich biss mir auf die Unterlippe.

„Aber was?“

„Wirst du damit auch glücklich sein?“

Sein Blick wurde weicher. „Ich bin glücklich, solange du bei mir bist. Alles andere ist nebensächlich.“

Das zu hören fühlte sich gut an. Aber irgendwie hatte es auch einen bitteren Nachgeschmack. Er sollte sein Leben nicht nach mir ausrichten, das wäre falsch. „Du musst auch deinen Träumen folgen, nicht nur meinen.“

Er lächelte so süß, dass mir das Herz aufging. „Aber du bist doch mein Traum.“ Er beugte sich vor. Seine Lippen strichen zärtlich über meine. „Du bist alles was ich mir wünsche“, sagte er sehr leise und küsste mich dann. Einmal, zweimal. „Was sollte ich denn noch mehr haben wollen?“

„Einen Job, mit dem du deinen Lebensunterhalt bestreiten kannst?“, schlug ich leicht atemlos vor.

Er lachte leise. „Du kannst mir ja dabei helfen einen zu finden.“

„Erstmal muss ich selber einen neuen finden.“

Verdutzt ruckte er zurück. „Was?“

„Ich hab gekündigt, weil …“ Vielleicht war dies nicht gerade der Moment, um die alten Kamelen schon wieder aus der Versenkung zu zerren. „Ich brauchte eine Veränderung.“

Leider war er nicht auf den Kopf gefallen und wusste sofort, was der wahre Grund meiner Kündigung war. Doch er ließ es einfach so stehen. Er wollte den Vorfall genauso wenig wieder zwischen uns bringen, wie ich, darum nahm er einfach nur meine Hand in seine und lehnte sich wieder zurück, um der nicht vorhandenen Handlung des Films zu folgen.

Ich dagegen griff wieder nach meiner Pizza. Es war besser sich darauf zu konzentrieren, als auf Dinge, die wir beide einfach nur vergessen wollten.

„Hm“, machte Cio irgendwann und stellte zwei Drittel seiner zweiten Pizza weg. „Der ist nicht so gut, oder?“

Ihm war es also auch aufgefallen. „Der wird es auf jeden Fall nicht auf meine Top-Ten-Liste schaffen.“

Ohne mich anzuschauen, ließ er seine Hand in seiner Hosentasche verschwinden. „Weißt du noch unser letzter Besuch in Arkan? Nachdem ich dir den Antrag gemacht hatte und wir zum Haus zurück sind?“

Die breiige Masse in meinem Mund schien auf einmal zu Pappe zu werden und ließ sich nur noch schwer herunterwürgen. Wie sollte ich das vergessen? Das war einer der schönsten Momente in meinem Leben gewesen. Seit dem schien eine Ewigkeit ins Land gezogen zu sein.

„Weißt du noch, was du gesagt hast, als wir mit deiner Oma auf dem Flur standen?“ Er zog seine Hand aus der Tasche und darin lag das lange geflochtene Lederband mit dem glänzenden Weißgoldring daran. „Du sagtest … du … also du hast gesagt, dass du meinen Antrag sogar bei einem schlechten Film und kalter Pizza angenommen hättest.“

Und auf einmal bekam diese ganze Situation eine völlig andere Bedeutung. Das Essen war nicht wegen eines Denkfehlers kalt und der Film nicht zufällig schlecht. Dahinter steckte Absicht. Ich legte mein Stück zu den anderen zurück in den Karton und klappte den Deckel zu. Mir war der Appetit vergangen. „Cio …“

„Ja, ich weiß, es ist eigentlich noch zu früh“, sagte er sofort, als er meine Reaktion bemerkte. „Und ich will dich auch gar nicht bedrängen, nur … ich weiß nicht.“ Er spielte mit dem Ring zwischen seinen Fingern und warf mir einen unsicheren Blick zu. „Ich würde ihn gerne wieder an dir sehen und … ja, es wäre ein Versprechen, aber nicht für sofort, nur … für irgendwann eben, für unsere Zukunft. Vielleicht … vielleicht in ein paar Jahren.“ Zum Ende hin wurden seine Worte immer leiser, als würde ihm die Kraft zum weitersprechen fehlen.

Oh Verdammt. Warum nur hatte er das jetzt tun müssen? Es war nicht so, dass ich nicht ja sagen wollte. Es war nur … da stand noch immer so viel zwischen uns und ich war mir nicht sicher, ob wir diesen Schritt jetzt wirklich schon gehen sollten.

„Bitte.“ Seine Stimme war leise. „Sag etwas.“

Sagen? Wenn das nur so einfach wäre. „Ich weiß was du hören möchtest, aber ich weiß nicht, ob ich das schon kann. Wir müssen … bevor ich daran überhaupt denken kann, müssen wir erst über unsere Probleme sprechen. Immer drumherumzureden und allen Risiken auszuweichen … das würde uns beide mit der Zeit einfach nur zermürben.“

Er schaute mich an. Seine Augen spiegelten die gleichen Gefühle, die mich gerade aufwühlten, diese Unsicherheit, das brüchige Vertrauen. „Okay“, sagte er dann, drückte meine Hand ein wenig fester und schaltete den Film aus. „Du hast recht, wir müssen reden. Vorher kommen wir nicht weiter.“

Gut. Es war gut, dass er so dachte. Nur leider haperte es mir der Umsetzung ein wenig. Die Worte lagen ihm auf den Lippen, aber obwohl er dreimal den Mund öffnete, blieben sie alle wo sie waren.

Dann mach du doch den Anfang. Leider war ich im Moment auch nicht gerade gesprächiger. Man möge sich da nur an die Szene vom Morgen erinnern. Das Thema Blut trinken war zwar vorerst vom Tisch, aber ich wollte nicht wissen, was geschah, wenn Cio und Tayfun sich plötzlich über den Weg liefen. Doch wir mussten das klären und es ewig herauszuzögern, würde es mit Sicherheit nicht besser machen.

„Warum hast du mir nicht vertraut“, fragte ich sehr leise. „Was habe ich getan, dass du glauben konntest, ich hätte dich betrogen?“

„Gleich die schwierigen Fragen, wie?“ Er versuchte zu lächeln. Es endete irgendwo zwischen einer gequälten Maske und dem Gefühl, doch dringend woanders gebraucht zu werden.

Ich wartete einfach schweigend ab. Wenn er mir jetzt auswich, oder das Gespräch abbrach, dann wusste ich mit Sicherheit, dass wir noch weit entfernt von einem Ring waren.

„Ich weiß nicht“, sagte er dann und wich meinem Blick aus. „Es war … es war wie ein Schock und plötzlich habe ich mich in einer anderen Zeit befunden und … keine Ahnung, ich weiß nicht wie ich das sagen soll.“ Er verfiel einen Moment ins Schweigen. „Ich habe dir immer vertrauen können, du hast mich nie angelogen, aber als ich dich da sah … es war nicht weil ich dir nicht vertraut habe, aber Tayfun.“ Seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. „Er mag dich – viel zu sehr nach meinem Geschmack. Und als ich dich da gesehen habe … ich habe geglaubt, dass … was-weiß-ich, dass er dich herumgekriegt hat, oder so. Dass er dich in einem schwachen Moment erwischt hat, weil ich dich vorher so wegen Kiara angemacht hatte.“

Weil wir das erste Mal in unserer Beziehung im Streit auseinander gegangen waren. Ich war mir nicht sicher, ob ich es schon mal erwähnt hatte, aber bis zu diesen Zeitpunkt, war Cio noch nie ernsthaft sauer auf mich gewesen. Ich machte ihm deswegen keine Vorwürfe, er hatte völlig recht gehabt, aber jetzt verstand ich ein kleinen wenig besser. „Nichts auf der Welt könnte mich dazu kriegen, dich zu betrügen.“

Als er schwieg, nahm ich sein Gesicht zwischen die Hände und zwang ihn mich anzuschauen. „Ich kann dir nicht sagen wie es um Tayfuns Gefühle steht, dafür kenne ich ihn einfach nicht gut genug, aber ich kann dir sagen, dass ich dich ehrlich und von ganzem Herzen liebe. Ja, Tayfun ist nett und lustig und sieht auch nicht gerade schlecht aus.“

Seine Lippen kräuselten sich leicht. „Irgendwie überzeugt mich das jetzt nicht so sehr.“

Ich ignorierte seinen Einwurf. „Er ist all das und sicher noch viel mehr, aber er hat einen ganz großen Fehler, der es für mich unmöglich macht, ihn jemals näher zu kommen. Möchtest du wissen, welcher das ist?“

Er zögerte, aber als ihm klar wurde, dass ich auf eine Erwiderung wartete, fragte er: „Welcher?“

„Er ist nicht du, Cio.“ Ich sah ihm fest in die Augen. „Es ist egal ob er süß ist oder lustig, oder sogar der Fang des Jahrhunderts. Er ist nicht du und deswegen hat er niemals eine Chance bei mir. Verstehst du das?“

Beinahe schon ergeben, ließ er die Augenlider sinken. „Es tut mir leid. Ich war ein Idiot – ein blinder Idiot. Hätte ich nur … ich hätte dir einfach vertrauen müssen, dann wäre das alles nicht passiert.“

„Wir sind beide schuld, wir haben uns beide nicht richtig verhalten.“ Ich gab sein Gesicht wieder frei, griff dafür aber nach seiner Hand. „Und jetzt … jetzt müssen wir wieder lernen einander zu vertrauen.“

„Ich vertraue dir.“

Dafür bekam er ein halbes Lächeln. „Es ist gut, dass du das sagst.“ Jetzt musste ich nur noch darauf vertrauen, dass es ehrlich war. Wenn ich doch nur dieses verdammte Bild von ihm und Pauline aus meinem Kopf bekommen würde. Damit waren wir dann wohl auch schon beim nächsten Punkt auf unserer Liste angekommen. „Das mit Pauline … warum ...“ Ich biss mir auf die Lippen.

„Das hatte nichts zu bedeuten“, sagte er sofort.

„Aber … warum sie?“ Das musste ich einfach wissen.

„Keine Ahnung.“ Er wich meinem Blick aus, nicht als müsste er nachdenken, sondern als wollte er nicht, dass ich die Wahrheit in seinen Augen erkannte.

Ich wusste dass dieses Gespräch schwer war, sowohl für ihn, als auch für mich. Und trotzdem durfte ich nicht zulassen, dass sich Lügen einschlichen – und sei es nur, um mich nicht zu verletzen. „Ich weiß, dass das nicht die Wahrheit ist.“

Der Griff um meine Hand wurde fester. „Zwing mich nicht, dir das zu sagen.“

„Das werde ich nicht“, versprach ich und meinte es auch so, auch wenn mein Herz dabei schmerzte. „Aber bevor du nicht mit mir sprichst, werden wir nicht weiter als bis hier hin kommen.“ Das musste ich ihm einfach deutlich machen.

Das ließ seine Gedanken in Schwung kommen. Ich konnte geradezu sehen, wie es hinter seiner Stirn anfing zu arbeiten, doch letztendlich kam er wohl zu dem Schluss, dass es nur eine Möglichkeit gab, es vorwärts zu treiben. „Ich glaube du hattest recht“, sagte er beinahe schon resigniert. „Als du gesagt hast, ich würde das nur aus Rache tun.“

Okay, das zu hören tat weh. Ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen und da er mich gerade nicht anschaute, war ich wohl auch erfolgreich.

„Pauline … naja, ich habe es bei ihr versucht … sie ist deine Kollegin und dazu noch äußerst geschwätzig, also hättest du es auch erfahren“, brachte er dann eilig in einem Schwang heraus, bevor er es sich noch einmal anders überlegen konnte. „Sie war einfach … da. Es erschien mir die beste Wahl zu sein.“

„Um mich zu verletzten, so wie ich dich verletzt hatte.“

Er nickte nur. „Es war dumm, dass weiß ich.“

„Ja, das war es“, stimmte ich ihm zu. „Aber zumindest Pauline wird sich jetzt nicht mehr an dich heranwagen.“ Das in meiner Stimme ein Knurren mitschwang, konnte ich nicht verhindern.

Er schaute verwirrt zu mir rüber. „Warum?“

„Na weil …“ Ich verstummte nicht nur, ich lief sicher auch hochrot an. „Ähm …“

Etwas Lauerndes trat in seinen Blick. „Was hast du gemacht, Schäfchen?“

Wie sollte ich das erklären, ohne wie eine eifersüchtige Furie herüberzukommen? „Ich habe ihr den Hintern versohlt.“ Ja super, fall doch einfach mal mit der Tür ins Haus.

Sein Mundwinkel zuckte. „Du?“

„Lach nicht.“ Ich funkelte ihn an. „Das war nicht witzig und … mein Gott, sie kam zu mir, um sich bei mir zu entschuldigen und mir zu sagen, ich müsse sie doch verstehen, dass sie es versuchen musste und da … naja, ich bin eben sauer geworden.“

Was macht dieser Blödmann daraufhin? Er fängt doch tatsächlich an leise zu lachen.

„Das ist nicht lustig, ich hätte sie ernsthaft verletzten können.“ Ich versuchte meine Hand wegzuziehen, doch er hielt sie nur umso fester. „Lass mich los.“

„Nein.“ Er zog mich mit einem Ruck zu sich heran und schlang eilig einen Arm um mich, damit ich nicht wegkam. „Ich habe doch schon immer gesagt, du besitzt Zähne und Klauen.“

„Du bist blöd“, warf ich ihm vor, was ihn seltsamerweise noch breiter grinsen ließ.

„Und du bist bezaubernd.“

„Was? Du findest es bezaubernd, dass ich versuche eine andere Frau in der Luft zu zerreißen?“

Das Lächeln blieb, bis ihm wohl die Parallelen auffielen. Iesha war damals derart eifersüchtig gewesen, dass sie andere Frauen angegriffen hatte, nur weil sie sich mit Cio im selben Raum befunden hatten. „Nein, du hast recht. Das ist ...“

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn. Wir schauten beide in die Richtung, aber keiner bewegte sich. Ich wollte gar nicht wissen, wer da draußen stand. Die sollten alle wegbleiben, das hier war zu wichtig, um es einfach zu unterbrechen. Doch das Klopfen wiederholte sich.

„Zaira?“

Verdammt, das war mein Vater.

„Ich wimmle ihn nur schnell ab.“ Leider wurde aus diesem Vorhaben nichts, denn kaum dass ich die Tür einen Spalt geöffnet hatte, musste ich feststellen, dass da nicht nur ein Teil der Erzeugerfraktion stand, Cayenne war auch da – zusammen mit Königin Sadrija.

„Ähm …“ Ich schaute von einem zum Anderen. „Ist etwas passiert?“ Warum sollten sie sonst alle gemeinsam hier auftauchen?

Papa schüttelte den Kopf. „Ja und nein. Und genau deswegen müssen wir mit dir reden.“

Nein, das ergab in meinen Ohren absolut keinen Sinn. „Können wir das vertagen? Ich bin gerade ein wenig beschäftigt.“ Ja mir war bewusst, dass ich gerade versuchte die Königin der Lykaner abzuwimmeln. Aber das war mir im Moment völlig egal. Die Decke stand nicht in Flammen und die Erde tat sich nicht auf, also konnte es sicher auch bis morgen warten.

Cayenne schien das jedoch nicht so zu sehen. „Es ist wirklich wichtig.“

„Ist es das nicht immer“, grummelte ich, was mir mehr als nur einen prüfenden Blick einbrachte. Lauter sagte ich dann. „Komm rein und fühlt euch wie zu Hause.“ Und dann geht ganz schnell wieder.

Ich kehrte ihnen den Rücken, ließ die Tür offen und setzte mich zurück zu Cio ins Bett. Dabei ließ ich sie fühlen, dass sie im Moment unerwünscht waren.

Cayenne und Papa wussten wie es in diesem Zimmer aussah. Sadrija ließ prüfend ihren Blick hindurch gleiten. Was sie dachte, blieb uns verborgen.

Als Papa Cio in meinem Bett sitzen sah, verzog er unzufrieden das Gesicht. Aber wenigstens war er so intelligent, seine Meinung für sich zu behalten.

Es war Cayenne, die den Anfang machte. „Joel ist heute an den Folgen des Überfalls gestorben.“

Ich setzte mich kerzengerade auf. „Was?“

„Das Mittel hat sein Herz angegriffen und …“ Sie presste einen Moment die Lippen zusammen und schluckte angestrengt. Er war einer ihrer ältesten Vertrauten gewesen und der Verlust schmerzte. „Er hat es nicht geschafft.“

Noch jemand, der auf das Konto des Amor-Killers ging. „Das tut mir leid.“

„Es lässt sich leider nicht mehr ändern“, sagte Königin Sadrija und drückte die unverletzte Schulter ihrer Cousine. „Aber durch seinen Tod sind wir zu dem Entschluss gekommen, dass wir einen anderen Weg einschlagen müssen, um Rouven aus der Versenkung zu holen.“

„Okay.“

„Ich möchte, dass du wieder zu deinen Eltern nach Hause gehst und dein Leben fortführst, als wäre alles wieder in Ordnung. Wir hoffen, dass Rouven glaubt, wir würden ihn nicht mehr als Risiko einstufen, weil er nun enttarnt ist. Wir möchten, dass er wieder anfängt dir nachzustellen. Dann …“

„Was?!“, knurrte Cio und sprang halb aus dem Bett. „Ihr wollt sie als Lockvogel benutzen, um diesen Irren herauszulocken?! Seid ihr noch ganz dicht?!“

Ja, das war in etwa das, was mir auch durch den Kopf ging.

Sadrijas ganze Aufmerksamkeit legte sich mit einem Hauch von Odeur auf Cio. „Verlass bitte den Raum.“

Er duckte sich und fletschte die Zähne. „Nein.“ Dieses eine Wort kostete ihm unglaublich viel Kraft. Es war nicht einfach, sich gegen seine angeborenen Instinkte zu stemmen.

„Sofort, Elicio.“ Das Odeur wurde stärker.

Cio kämpfte gegen den Befehl an und schaffte es sogar einige Sekunden, was sehr viel über seine Willensstärke aussagte. Doch am Ende knickte er mit zusammengekniffenen Lippen ein. „Das könnt ihr nicht tun.“

Sadrija blieb unnachgiebig. „Elicio, jetzt bitte.“

Er schlug unzufrieden gegen das Bett und stampfte zur Tür.

Ich dachte gar nicht weiter darüber nach, ich sprang auch auf und kam sogar zwei Schritte, bevor Königin Sadrija sagte. „Du nicht Zaira, du bleibst hier, wir sind noch nicht fertig.“

Ihr Befehl erwischte mich und hielt mich an Ort und Stelle.

Ich schaute hilflos zu Cio, der noch einen Blick auf mich warf, bevor er die Tür so heftig hinter sich zuknallte, dass der ganze Türrahmen wackelte.

„Das war nicht richtig“, sagte ich, bevor einer von ihnen den Mund aufmachen konnte. „Ihr platzt hier rein und nehmt euch dabei so wichtig, das nichts anders außer eurem Anliegen mehr zählt. Dabei kommt keiner von euch auf die Idee, das wir vielleicht gerade ungestört sein wollten – und nein, hier geht es nicht um Sex.“

„Es tut mir leid, wenn wir euch gestört haben, aber hierbei geht es um mehr als das Wohl des Einzelnen.“

„Um mein Wohl scheint es jedenfalls nicht zu gehen, sonst würdet ihr nicht herkommen, um mich als Köder benutzen zu wollen.“

Papa und Cayenne runzelten die Stirn.

Sadrija legte nur den Kopf leicht schräg. „Hattest du nicht gesagt, sie sei das umgänglichste und vernünftigste deiner Kinder? Im Moment erinnert sie mich sehr stark an dich in ihrem Alter.“

Cayenne schüttelte den Kopf. „Das ist auch eher ungewöhnlich für sie.“

Jetzt redeten die auch noch über mich, als sei ich gar nicht im Raum? Hallo, nahmen die mich überhaupt ernst? Ich funkelte sie alle an. Ja, auch meinen Vater. Zwar hatte er bisher noch kein Wort gesagt, aber er war auch hier. „Wolltet ihr nicht etwas ach so Wichtiges von mir?“

„Zaira“, mahnte mein Vater.

Ach, jetzt bekam er den Mund also doch auf. „Warum spielst du da überhaupt mit? Sonst würdest du mich doch am liebsten in eine Hochsicherheitszelle stecken, damit mir niemand zu nahe kommen kann.“

„Cayenne hielt es für angebracht, als erstes mit mir zu sprechen, damit ich nicht – wie hast du es noch gleich ausgedrückt?“

„Sie schnappst, verschwindest und nie wieder auftauchst.“

Aha. „Und sie hat dich wirklich überzeugen können?“ Das konnte ich nicht glauben.

„Sie hatte sehr gute Argumente.“

„Die da wären?“ Das interessierte mich nun wirklich.

Ich konnte geradezu hören, wie er mit den Zähnen knirschte. „Unter anderem, dass du erwachsen bist und ich dich nicht einfach entführen darf.“

Und noch mal. „Und das hat schon gereicht?“ Da steckte doch bestimmt noch mehr dahinter.

Sadrija trat einen Schritt zur Seite. „Ich würde es begrüßen, wenn ihr dieses Gespräch auf einen späteren Zeitpunkt vertagt und wir nun das eigentliche Anliegen klären könnten.“

Klar, warum auch nicht. Alles andere war ja auch unwichtig. Abweisend verschränkte ich die Arme vor der Brust. „Na dann los, überzeugt mich.“

„Ich brauche dich nicht überzeugen, Zaira, ich bin dein Alpha.“

„Ein Alpha ist da, um sein Rudel zu schützen“, hielt ich sofort dagegen. Verdammt, was war nur mit mir los? Ich biss mir doch sonst eher die Zunge ab, als mich gegen andere zu stellen. Und meine Pubertät hatte ich schon lange hinter mir gelassen. Aber es machte mich einfach nur sauer. Ja, ich war wütend und ich hatte auch alles Recht der Welt dazu.

„Genau. Ich muss das Rudel schützen und dazu brauche ich dich.“ Sie griff nach vorne und zupfte eine meiner Haarsträhnen zurecht. Es wirkte irgendwie beruhigend. Die Macht eines Alphas. „Solange wir Rouven und seinen Komplizen nicht finden, kann es jeden Tag weitere Tote geben. Er hat vorher bereits im Verborgenen gearbeitet und nur weil er jetzt in den Untergrund gegangen ist, bedeutet das nicht, dass er mit seiner Arbeit aufhören wird.“

Nein, vermutlich nicht.

„Darum werde ich dich offiziell aus meinem persönlichen Schutzkreis entlassen und wieder nach Hause schicken. Es werden immer und überall Wächter in Zivil um dich herum sein. Du wirst sie wahrscheinlich nicht bemerken, aber sie werden da sein, um in einem Ernstfall sofort eingreifen zu können.“

„Hast du noch die Kette, die ich dir gegeben habe?“, warf mein Vater da ein.

Automatisch griff ich an meinen Hals und zog die Kette mit dem kleinen tropfenförmigen Anhänger heraus. „Wie versprochen.“

„Gut.“ Königin Sadrija nickte. „Trage sie auch weiterhin. Bewege dich in deinem normalen Umfeld. Besuche Freunde, gehe deiner Arbeit nach, gestalte deine Freizeit. Sei nach Möglichkeit allein unterwegs. Hier.“ Sie zog ein kleines Gerät aus ihrer Rocktasche und ließ es mir in die offene Handfläche fallen. Es sah fast aus wie eine Armbanduhr, nur das es statt einem Ziffernblatt nur einen roten Knopf in der Mitte gab. „Wenn du dort draufdrückst, werden sofort die Wächter alarmiert. Es ist mir einem GPS-Sender ausgestattet, der mit einem Satelliten verbunden ist. Egal wo du ihn betätigst, wir werden dich innerhalb kürzester Zeit finden.“

Also noch eine Art Peilsender, einer mit direktem Draht zu dem Rettertrupp. „Er ist ziemlich auffällig.“

„Du musst ihn nicht ums Handgelenk binden, du kannst ihn dir auch einfach in die Tasche stecken. Wichtig ist nur, dass du ihn bei dir trägst.“

Das hörte sich nach einem Lückenlosen Plan an. Nur leider stand hier mein Leben auf dem Spiel, wenn etwas schief ging. Ich erinnerte mich nur zu gut an den Überfall vor ein paar Tagen. Und wenn ich mir Cayennes dickbandagierte Schulter so ansah, war er auch bei ihr noch nicht in Vergessenheit geraten. „Und wenn ich mich weigere mitzumachen?“

Der Ausdruck in Sadrijas Gesicht wurde sehr ernst. „Zaira. Ich entziehe dir hiermit meinen Schutz. Du hast den Hof noch heute zu verlassen und darfst ihn ohne Einladung nicht wieder betreten.“

Aha, wenn ich nicht freiwillig mitspielte, würde sie mich zwingen. „Ich könnte einfach verschwinden.“

Ihr Ausdruck bekam etwas Berechnendes. „Du willst die Verantwortung für weitere Tode auf deine Schultern laden, um dich wie ein Feigling in irgendeinem Loch zu verkriechen?“

Verdammt. Diese … ahrrr! Fast hätte ich geknurrt. Natürlich konnte ich das nicht machen, nicht wenn es in meiner Macht stand, dass alles zu beenden. Außerdem, wollte ich mich den Rest meines Lebens wirklich verstecken? An jeder Straßenecke darum bangen müssen, ob es gleich geschehen würde, ob es heute so weit war, dass der Amor-Killer mich holte? Das war doch kein Leben. Ich wollte einfach nur, dass es vorbei ging und dass ich und auch die anderen Mistos endlich wieder sicher waren.

„Ich denke, dass ist im Moment die beste – vielleicht sogar die letzte – Chance die wir haben, um ihn schnellstmöglich zu ergreifen, bevor noch weitere Unglücke geschehen“, fügte Sadrija noch hinzu, als bräuchte ich einen extra Anstoß.

Und dann kam mir eine Idee, die gleich noch eines meiner Probleme lösen würde. Wenn ich schon mein Leben aufs Spiel setzte, dann konnte ich das auch zu meinem Vorteil nutzen. „Okay, ich spiele mit. Unter einer Bedingung.“

Interessiert neigte Königin Sadrija den Kopf zur Seite. „Und die wäre?“

„Ich möchte etwas haben, den wilden Wolf aus dem Zwinger. Ich will es schriftlich, mit Siegel. Er geht in meinen Besitz über und darf von niemanden angefasst werden.“ Niemand darf ihn einschläfern.

Da sie nicht nachfragte, von was zur Hölle ich hier sprach, wusste wie wohl ganz genau, worum es mir ging. „Wie kommst du darauf, dass ich ihn dir geben würde?“

„Er gehört ihnen nicht.“

„Aber dir auch nicht.“ Ihre Worte waren sanft, doch verdeutlichten, dass ich mich gerade auf einem sehr schmalen Grad bewegte.

Jetzt mach bloß keinen Rückzieher! „Lassen wir ihn heraus und schauen zu wem er läuft“, forderte ich sie heraus. Das war nicht besonders gescheit, aber ich wollte Ferox haben und das hier war die beste Möglichkeit, die sich mir gerade bot.

„Ich bin ein Alpha, Zaira.“ Was so viel hieß, wie, dass Lykaner sich automatisch zu ihr hingezogen fühlten. Und als Misto war es durchaus möglich, dass es auch bei ihm so war.

„Das mag sein“, erwiderte ich und reckte das Kinn. Nur nicht einschüchtern lassen. „Aber ich bin sein Alpha. Ferox hat mich ausgesucht und zwar schon vor vielen Monaten, als hier noch niemand wusste, dass er überhaupt existiert.“

Ihre Hand, die die ganze Zeit mir meiner Haarsträhne gespielt hatte, legte sich auf meine Schulter. „Ich habe mich getäuscht. Du bist genauso starrköpfig wie Cayenne, aber bei weitem höflicher und – wenn ich das so sagen darf – intelligenter.“

Ähm … okay. Ich warf meiner Erzeugerin einen kurzen Blick zu, aber sie wirkte in keinster Weise beleidigt.

„Cayenne bevorzugt die Kopf-durch-die-Wand-Taktik. Du gehst bei weitem logischer vor. Und mit nachvollziehbaren Argumenten.“ Sie trat einen Schritt zurück und gab mich damit wieder frei. „Kümmere dich gut um ihn und denk daran, dass man dich von nun an für seine Taten verantwortlich machen kann.“

Okay, die Nachricht war angekommen. „Sind wir dann hier fertig?“

Als Sadrija nickte, setzte ich mich sofort in Bewegung. Ich drängte mich an ihnen vorbei und riss die Tür auf.

Cio stand wieder an der Gegenüberliegenden Wand. In seiner Hand lag der kleine Ring, den er nachdenklich immer wieder hin und her drehte. Als ich die Tür aufriss, schaute er jedoch sofort hoch. Er war nicht glücklich. Vermutlich hatte er jedes Wort von dem was hier drinnen gesprochen wurde, verstanden – die Wände hier waren wirklich dünn.

Das er nicht weggelaufen war, erleichterte mich so sehr, dass ich einfach zu ihm trat, sein Gesicht an meines zog und ihn küsste. Dabei war es mir völlig gleich, wer uns sehen konnte, oder was sie dachten. Ich wollte nur, dass er wusste, dass ich absolut nicht damit einverstanden war, wie Sadrija ihn einfach vor die Tür gesetzt hatte und auch, dass ich ihn nicht vergessen hatte.

Als Cio sich mit einem etwas verklärtem Blick von mir löste, lag ein Lächeln auf seinen Lippen. „Wofür war das?“

Ich antwortete nicht. Stattdessen griff ich nach seiner Hand mit dem Ring und hielt sie hoch, sodass er direkt zwischen uns schwebte. „Ja“, sagte ich. „Ein Versprechen. Nicht sofort, aber ja.“ Wenn wir dieses ganze Chaos endlich hinter uns lassen konnten.

Erst sagte er gar nicht, als sei er sich unsicher, ob ich hier einen blöden Scherz mit ihm trieb. Dann fragte er: „Wirklich?“

Ich nickte. „Wirklich und für immer.“

Dass seine Hände leicht zitterten, als er mir das Band um den Hals legte, wunderte mich nicht. Ich zog ein einfach nur zu einem weiteren Kuss an mich, an dessen Ende Cio seine Stirn an meine drückte und mich festhielt, als wollte er mich nie wieder gehen lassen. „Ich liebe dich“, flüsterte er.

„Vergiss das nie“, flüsterte ich zurück und nahm seine Hand. Dabei bemerkte ich sowohl die interessierten Gesichter der beiden Frauen, als auch den unwilligen Ausdruck in dem Gesicht meines Vaters.

Ich schaute trotzig zurück. „Lass uns hier verschwinden“, sagte ich zu Cio.

 

°°°°°

Reines Blut

 

„Nein.“

Ferox schaute mich derart trotzig an, dass ich mir der Verdacht kam, einem kleinen bockigen Kind gegenüber zu hocken. Er legte die Ohren an, drehte den Kopf leicht, um an mir vorbei den Bauarbeiter wieder ins Visier nehmen zu können und knurrte erneut.

„Ferox, nein.“ Mahnend hob ich den Finger, auch wenn ich keine Ahnung hatte, ob das irgendetwas bringen würde. „Die Helfer werden nicht angeknurrt, die tun dir nichts.“

Ob er mir das glaubte oder nicht, er verstummte. Aber nur um aufzustehen und sich in die andere Ecke des Zwingers zu verzeihen, von wo aus er weiterhin den Trubel um sich herum grummelnd im Auge behalten konnte.

Na toll, ich hatte mir einen starrköpfigen Wolf adoptiert. Als wenn es in meinem Leben davon nicht bereits genug geben würde.

Seufzend zog ich mich am Gitter des Zwinger hoch und schaute mir das organisierte Chaos im Garten meiner Eltern an. Vor vier Tagen war ich nach Wochen der Gefangenschaft im HQ endlich wieder nach Hause gekommen. Direkt am nächsten Morgen hatte es an der Haustür geklingelt. Man möge sich meine Überraschung vorstellen, als ich sie öffnete und ich mich einem ganzen Bautrupp gegenüber sah, dessen Vorarbeiter mir einen Brief unter die Nase hielt. Darin hatten nur wenige Worte gestanden.

 

Eine kleine Starthilfe.

Sei ein guter Alpha

 

Sadrija

 

Und damit hatte dieser Irrsinn angefangen. Noch am selben Tag hatten sie den kompletten Begrenzungszaun unseres Grundstücks niedergerissen und mithilfe eines Schaufelbaggers damit begonnen, einen schmalen Graben auf der Grundstücksgrenze auszuheben. In der Zwischenzeit hatte man den Graben nicht nur schon fertig gestellt, sondern ihn auch mit Beton gefüllt, in dem nun in regelmäßigen Abständen stabile Zaunpfosten aus rostfreiem Stahl steckten. Das sollte verhindern, dass Ferox sich einfach unter dem Zaun durchgaben konnte. Natürlich waren sie auch dementsprechend hoch. Drei Meter, wenn ich das richtig verstanden hatte.

Unten, direkt am Boden waren die einzelnen Pfosten durch lange Querstreben miteinander verbunden. So konnte der Zaun nicht nur links und rechts, sondern auch noch unten an dem Gerüst befestigt werden.

Im Moment waren die Bauarbeiter damit beschäftigt, den Zaun zu ziehen. Noch waren sie nicht sehr weit gekommen, aber sie hatten ja auch erst heute Morgen damit angefangen.

Ferox hatte man vor zwei Tagen, zusammen mit einem ausbruchsicheren Zwinger hergebracht. Eines musste ich meiner Großcousine ja lassen: Sie machte keine halben Sachen und dafür war ich sowas von dankbar, dass ich dafür keine Worte fand. Ohne sie hätte ich das nicht annähernd so gut und professionell auf die Reihe bekommen – und das nicht nur, weil es mir am Geld mangelte. Bis das hier angefangen hatte, war mir gar nicht richtig bewusst gewesen, was für ein Aufwand es sein würde, einen Wolf sicher unterzubringen.

Noch musste mein neuer Rudelgefährte zwar im Zwinger bleiben, aber in ein paar Tagen sollten die Bauarbeiten fertig sein und dann könnte er raus.

Der Garten war natürlich viel kleiner, als das was er gewohnt war, aber er würde ja nur hier drinnen sein müssen, wenn ich nicht gerade mit ihm durch den Wald streifte. Ja, ich hatte das bereits ausprobiert. Er kam mit mir in den Wald und auch wieder zurück.

Okay, er war nach seiner Freilassung direkt ausgebüchst, aber nach ein paar Stunden wieder bei mir aufgetaucht. Mit ein wenig Übung, würde ich irgendwann nicht mehr stundenlang im Garten sitzen müssen, um auf seine Rückkehr zu warten.

„Sei artig“, mahnte ich ihn noch einmal und schlenderte dann zu Cio und meinem Vater hinüber, die gerade versuchten gemeinsam eine Hundehütte zusammenzuzimmern. Die Spannungen zwischen ihnen lagen deutlich in der Luft, aber um meinetwillen, bemühten sie sich nett zueinander zu sein – wobei das hauptsächlich auf meinen Vater zutraf. Cio versuchte einfach nur, ihn nicht zu ärgern.

Meine Mutter saß ganz in der Nähe im Gras und beäugte die beiden kritisch. Ihrer Meinung nach brauchten wir keine Hundehütte, Ferox war schließlich kein Hund, er war ein Wolf und Wölfe lebten in Höhlen. Als wir ihr erklärten, dass wir hier im Garten keine Höhle aufbauen könnten, sagte sie nur: „Wo ein Wille ist, ist auch ein weg.“

Sie schien von der Aussicht einen Wolf zu beherbergen regelrecht begeistert. Mein Vater war da eher Zwiegespalten, aber er hatte zugestimmt. Wahrscheinlich hoffte er mich damit weiterhin unter seinem Dach beherbergen zu können.

Wie genau das in Zukunft nun aussehen würde, wusste ich ehrlich gesagt noch nicht. Ich meine, wir waren jetzt wieder verlobt und sobald sich alles beruhige hatte und … naja, früher oder später würden wir auf jeden Fall zusammenziehen, egal ob Papas Garten gerade in einen Wolfsgehege umgestaltet wurde, oder nicht. Das war nun einmal eine Tatsache.

Gerade, als ich neben meinen Vater trat, um zu schauen, was genau er da tat, setzte er grummelnd die Bohrmaschine ab.

„Gib mir mal den anderen Bit“, sagte er zu niemand bestimmten.

Da ich meinem Vater nicht zum ersten Mal bei einem handwerklichen Projekt assistierte, wusste ich sofort, was er von mir wollte. Den kleinen Aufsatz für seine Bohrmaschine, um die Schraube an der Seitenwand festzuziehen. Ich reichte ihm das Gewünschte.

Cio war währenddessen dabei die Isolierung im Innenraum anzubringen, bevor sie das Dach aufsetzten. „Da stimmt was nicht“, murmelte er, nahm die Schraube, die er gerade versuchte reinzudrehen und hielt sie zum Vergleich an die Außenwand. „Die sind zu kurz.“

„Dann nimm halt andere“, gab mein Vater zurück.

„Da sind aber keine anderen, dass sind schon die Längsten die du hast.“

Genervt, als hielt er meinen Freund für völlig unfähig – okay, zugegeben, Cio war auch kein Handwerker, seine Qualitäten lagen woanders – drückte Papa mir die Bohrmaschine in die Hand und schaute sich die Sache selber an. Leider musste er dabei feststellen, dass mein Freund recht hatte. „Die sind zu kurz.“

„Sag ich doch.“ Triumphierend hob Cio die Nase ein wenig.

Papa ignorierte ihn. „Da muss ich nochmal in den Baumark, sonst bekommen wir das heute nicht mehr fertig.“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Am Besten sofort.“ Der Gedanke gefiel ihm nicht. Da waren so viele Fremde in unserem Garten und seine Paranoider sagte ihm, dass jeder von ihnen ein Verbrecher sein konnte, der in seiner Abwesenheit, was-weiß-ich, vielleicht eine Bombe im Haus installieren könnte.

„Ich kann doch schnell fahren“, bot ich an und legte den Akuschrauber auf einem Stapel Bauholz. „Ich hab im Moment sowieso nichts besseres zu tun.“

Diese Überlegung führte bei meinem Vater auch nicht gerade zu Begeisterungsstürmen. „Es wäre mir lieber, wenn du im Haus bleibst.“

Ja, das verstand ich. „Du weist doch was Sadrija gesagt hat. Ich soll mich ganz normal durch die Stadt bewegen.“ Nicht dass ich sonderlich begeistert davon war, aber ich musste mich auch außerhalb dieser Mauern aufhalten, um ein möglichst gutes Angriffsziel zu bieten – kein netter Gedanke. „Nur zum Baummarkt und zurück, da kann nicht viel passieren.“

Er schnaubte, als hätte ihn das Leben bereits etwas besseres belehrt. „Trägst du deine Kette?“

Ich nickte. „Und den Panikknopf und auch das Pfefferspray.“

Es gefiel ihm trotzdem nicht. „Sei vorsichtig, halt dein Handy bereit und geh keine Risiken ein.“

Da ich wusste, wie ernst die Situation war, nickte ich einfach nur. „Du musst mir nur noch aufschreiben, was genau du brauchst.“

Das tat er dann auch. Mit vielen weiteren Mahnungen und der Überlegung, vielleicht doch besser selber zu fahren. Am Ende saß ich dann mit einem Zettel in der Hand auf dem Beifahrersitz, während Cio den Wagen meiner Eltern aus der Ausfahrt lenkte.

Ich hatte meinen Führerschein zwar schon angefangen, konnte ihn durch die ganzen Ereignisse bisher aber noch nicht zu Ende bringen. Cio dagegen hatte seinen bereits in der Tasche.

Er wirkte während der ganzen Fahrt zum Baumarkt äußerst wachsam und angespannt, weswegen ich ihm eine Hand aufs Knie legte. „Ganz ruhig, großer Umbra.“

Der Versuch eines Lächelns, erschien in seinem Gesicht. „Du hast ja doch endlich einen Spitznamen für mich.“

„Nein, eigentlich nicht. Das sage ich nur, wenn ich dich aufziehen will.“

„Schade, dabei würde der mir richtig gut gefallen.“

„Aber auch nur, weil er dein Ego streichelt.“

„Hey, von irgendwem muss es ja gestreichelt werden.“ Er setzte den Blinker, um auf die innere Fahrspur zu wechseln. Die Einfahrt zum Baummarkt war nur noch ein paar Meter entfernt. „Anouk hat heute übrigens seinen Mietvertrag unterschrieben.“

„Das heißt, du hast deine Wohnung bald wieder ganz für dich allein?“

Wir haben sie dann für uns allein“, verbesserte er sofort und bog in die Einfahrt ein, als der Gegenverkehr einen Moment durch die Ampel unterbrochen wurde.

„Das hört sich gut an.“ Das meinte ich ganz ehrlich. Seit meiner Rückkehr ins Haus meiner Eltern, waren wir uns nicht mehr näher gekommen. Zum einen, weil da immer noch diese ungewohnte Unsicherheit zwischen uns herrschte, aber hauptsächlich, weil mein Vater alle zwanzig Minuten nach mir schaute, um sicher zu gehen, dass ich noch vorhanden war. Das machte die traute Zweisamkeit schon ein wenig schwierig.

Da der Parkplatz weitestgehend leer war, konnten wir ziemlich nahe am Eingang parken. Das war etwas, dass wir noch alleine hinbekamen, doch bei den Schrauben gab es eine solch große Auswahl – wer hätte gedacht, dass es so viele verschiedene Schrauben gab? – das wir uns an einen der Angestellten wenden mussten. Ein netter älterer Mann mit viel Geduld.

Gerade als er uns ein paar Schrauben abfüllte, bekam ich plötzlich das Gefühl beobachtet zu werden. Ich schaute mich nach allen Seiten um, aber außer uns befand sich niemand anderes in diesem Gang. Das war schon irgendwie seltsam. Aber wahrscheinlich wurde ich langsam nur genauso paranoid wie mein Vater. Ein gutes Vorbild dafür hatte ich schließlich.

Als sich das Gefühl an der Kasse jedoch wiederholte, wurde ich misstrauisch. Von hier konnte ich weitere Kunden sehen. Ein Mann in den mittleren Jahren, eine junge Frau mit einer großen Topfpflanze auf dem Wagen. Zwei junge Männer, die sich gerade das Sortiment an Schraubenziehern anschauten. Ein paar Angestellte. Aber niemand von diesen Leuten beachtete mich auch nur im Mindestens. Vielleicht war einer von ihnen ja ein Wächter. Sadrija hatte mir doch gesagt, dass sie mich im Auge behalten würden – nicht dass ich in den letzten Tagen etwas davon gemerkt hatte.

„Das macht dann drei fünfzig.“

Ich zog mein Portemonnaie raus, um das Geld abzuzählen. In diesem Moment gab es einen Knall, der mich so heftig zusammenzucken ließ, dass mein Kleingeld in alle Himmelsrichtungen davonflog. Erschrocken schaute ich mich um, nur um festzustellen, dass einem der beiden Männer ein Set Schraubenzieher heruntergefallen war.

Plötzlich legte sich mir eine Hand auf die Schulter.

Ich fuhr erschrocken herum und stolperte zurück.

„Hey“, sagte Cio vorsichtig, die Hand noch immer erhoben. „Warum so nervös?“

Oh Gott, es war nur Cio gewesen. Vor Erleichterung musste ich erstmal tief ausatmen. „Ich hab nur gedacht … keine Ahnung.“

„Schon gut.“ Er trat vor und legte mir besänftigend eine Hand ans Gesicht. „Alles ist gut, ich bin hier.“

Ja, er war hier. Da war kein Verrückter, der mir nach dem Leben trachtete – also zumindest nicht hier im Baummarkt. Alles war in Ordnung, also gab es keinen Grund sich hier vor Angst in die Hosen zu machen.

„Geht es wieder?“

Ich nickte nur, weil ich meiner Stimme gerade nicht traute. Es war völlig albern, aber der Schreck saß mir jetzt in den Knochen. Wie es schien, hatte der Überfall auf Cayennes Haus doch mehr Eindruck bei mir hinterlassen, als ich bis jetzt bemerkt hatte.

„Okay. Ich bezahle nur schnell und dann fahren wir wieder.“

Wieder ein nicken.

Mit einem prüfenden Blick auf mich, begann Cio damit mein Kleingeld einzusammeln und die Schrauben zu bezahlen. Dann schnappte er sich meine Hand und führte mich aus dem Laden.

Ich klammerte mich dabei so fest an ihn, dass es schon albern war, aber dieses Gefühl beobachtet zu werden, wollte einfach nicht verschwinden und das gefiel mir nicht. Selbst als ich wieder im Auto saß und Cio den Motor anließ, hielt diese Beklemmung mich gefangen. Es half nicht mal, dass er direkt neben mir saß.

Als es dann plötzlich an meine Fensterscheibe klopfte, wäre ich vor Schreck fast an die Decke gesprungen.

Da stand ein Mann, ein Lykaner, der mir das Zeichen gab, die Fensterscheibe herunterzufahren.

Cio, dem das scheinbar genauso wenig gefiel wie mir, stieg noch einmal auf seiner Seite auf. „Ja?“, fragte er quer übers Autodach.

Der Mann schaute etwas verwundert von mir zu ihm, sagte dann aber nur: „Hier, das haben sie vergessen.“ In seiner Hand klimperten ein paar Münzen.

Oh Gott, Kleingeld. Ich hatte hier fast einen Herzinfarkt erlitten und das nur wegen eines bisschen Kleingeld.

Mit einem kurzen Blick auf mich, kümmerte Cio sich darum. Er nahm es entgegen, bedankte sich ein paar Mal und saß dann auch schon wieder neben mir im Wagen. „Was ist los?“

Ich biss mir auf die Unterlippe.

„Schäfchen.“

Ach verdammt. „Ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl beobachtet zu werden und … ich weiß ja selber dass es albern ist. Deleo wird mich sicher nicht am helllichten Tag auf einem Baumarktparkplatz angreifen, aber trotzdem habe ich das Gefühl … “ Mist.

Cio griff nach meiner Hand. „Hab keine Angst, dir wird nichts passieren, das würde ich niemals zulassen.“

„Ich weiß.“ Das war einfach eine unumstößliche Tatsache, an der sich nicht rütteln ließ. Aber Deleo hatte schon ganz andere Kaliber ausgeschaltet. Man möge sich nur an die vielen Wächter in Koenigshain erinnern. Was konnte da schon ein einzelner Umbra tun?

So darfst du nicht denken!

Nein, das durfte ich nicht, aber deswegen verschwand meine Unsicherheit noch lange nicht.

„Weißt du was wir jetzt machen?“

„Nach Hause fahren?“, riet ich einfach mal ins Blaue hinein.

Das ließ ihn lächeln. „Das auch. Dann werde ich dir ein schönes, heißes Bad einlassen und wenn du darin liegst und dich entspannst, bekommst du eine göttliche Massage, ganz nach Cio-Art.“

Na wenn das mal keine tollen Aussichten waren. „Musst du nicht noch eine Hundehütte fertig bauen?“

„Hm“, machte er, hob meine Hand an die Lippen und hauchte einen Kuss auf die Knöchel. „Auf der einen Seite habe ich einem Haufen verschwitzen Bauarbeiter in deinem Garten und deinem Vater, der die ganze Zeit versucht mich mit seinen Blicken zu ermorden. Auf der anderen ist da ein nacktes Schäfchen in einer dampfenden Badewanne. Die Entscheidung sollte mir nicht allzu schwer fallen.“

Ja, wenn er es so formulierte, würde selbst ich zu der zweiten Variante tendieren. „Was stehen wir hier dann noch rum?“

„Immer so ungeduldig“, grinste er, gab mir noch einen Kuss und starrte den Motor dann ein weiteres Mal. Um uns dann sicher vom Parkplatz zu bringen.

Es war schon erstaunlich. Zwar hatte ich noch immer das Gefühl unsichtbarer Augen auf mir, doch nun fühlte ich mich viel ruhiger. Und das hatte nicht nur etwas damit zu tun, dass wir nun den Laden hinter uns ließen und uns zurück in den Nachmittagsverkehr einfädelten. Es war Cios Gegenwart, die mich beruhigte, seine Worte und einfach … naja, einfach er eben.

Wie hatte ich nur je glauben können, ein Leben ohne ihn führen zu können? Nein, stopp, dass hatte ich nie geglaubt. Aber noch vor ein paar Tagen wäre mir nicht in den Sinn gekommen, dass es für uns noch eine Chance geben können.

Vielleicht hatte mein Vater ja doch recht und ich war noch zu jung um wirklich zu wissen, was noch alles auf mich zukommen konnte. Aber ich musste es auch nicht wissen. Ich würde es herausfinden, zusammen mit Cio. Und ich würde es nicht zulassen, dass noch einmal etwas zwischen uns kam.

Die Aussicht auf das was mich zu Hause erwarten würde, lenkte mich so sehr ab, dass ich die halbe Strecke an nichts anderes mehr denken konnte. Erst als wir von der Hauptstraße in die kleine Wohnsiedlung abbogen, wurde meine Aufmerksamkeit von etwas anderem erregt.

Da stand eine blonde Frau, in Jeans und weißer Bluse mitten auf der Straße. Sie schrie jemanden in einem schwarzen Land Rover an.

Cio wurde langsamer, als eine Handtasche in einem hohen Bogen aus dem schwarzen Wagen flog und sich der ganze Inhalt über die Straße verteilte.

„Du Mistkerl!“, schrie die Frau so laut, dass ich es sogar bei geschlossenen Fenster und angeschaltetem Motor hören konnte. Als der Land Rover sich dann auch noch mit quietschenden Reifen von ihr entfernte, riss sie sich den eigenen Schuh vom Fuß und warf ihn ihm wütend hinterher. „Ja, verpiss dich nur du Arschloch! Sowas wie dich braucht keiner!“

Der Schuh knallte gegen das Heckfenster und fiel dann achtlos zu Boden, während die Frau zitternd vor Wut allein auf der Straße zurück blieb.

Oh ha, da war aber jemand sehr temperamentvoll.

„Ist das nicht deine Wächterin?“, fragte Cio plötzlich. „Diese … äh, Dora?“

„Darja“, verbesserte ich ihn, denn auch ich erkannte sie jetzt. „Wächterin Darja Vasilieva.“ In ihrer Zivilkleidung und den hektischen Wutflecken im Gesicht, sah sie ganz anders aus las in ihrer Uniform.

Cio ließ seinen Wagen direkt dort zum Stehen kommen, wo gerade noch der schwarze Land Rover gehalten hatte. Gerade als er seine Fensterscheibe runterließ, wirbelte sie wütend zu ihm herum. Wahrscheinlich um ihm mitzuteilen, dass sie keine neugierigen Schaulustigen brauchte und er sich auch verpissen sollte. Doch dann erkannte sie ihn und schloss den Mund wieder.

„Alles in Ordnung?“, fragte er vorsichtig.

„Klar, sieht man das nicht?“, fragte sie spitz, hockte sich auf den Boden und begann damit ihre Handseligkeiten einzusammeln.

Cio schaute fragten zu mir rüber, als wollte er wissen, ob er ihr helfen durfte.

Um ehrlich zu sein, gefiel mir dieser Gedanke nicht besonders gut. Diese Frau sah nicht nur umwerfend aus, sie war auch noch ein Miststück. Ja, ich mochte sie nicht. Aber der Gedanke sie hier einfach stehen zu lassen, gefiel mir noch viel weniger.

Als griff ich seufzend nach meinem Sicherheitsgurt, schnallte mich ab und stieg aus dem Wangen. Wortlos lief ich die Straße entlang und sammelte ihren Schuh ein, während Cio sich zu Darja hockte und ihr dabei half, ihr Zeug von der Straße aufzulesen.

„Danke“, sagte sie grimmig zu mir, als ich wieder bei ihnen ankam und ihr ihren Schuh reichte. Sie warf noch einen wütenden Blick in die Richtung, in die der schwarze Wagen verschwunden war, schien dann aber einfach in sich zusammenzufallen. „Tut mir leid, dass ihr das mitansehen musstet. Ihr habt sicher besseres zu tun, als irgendwelchen Leuten ihren Scheiß hinterherzuräumen.“

Wie zum Beispiel ein entspannendes Bad? „Ist schon okay.“

Sie grinste mich ein wenig schief an. „Kerle, was? Man kann nicht ohne sie, aber wenn man sie hat, möchte man sie nur zum Teufel jagen.“

Dem konnte ich nicht zustimmen. Zwar waren meine Erfahrungen mit Männern eher begrenzt, aber ich hatte bereits gemerkt, dass Frauen und Männer gleichermaßen zickig sein konnten. Es drückte sich nur auf verschiedene Weise aus. „Dein Freund?“

„Das wird sich noch zeigen“, murrte sie grimmig und nahm die Sonnenbrille entgegen, die Cio ihr hinhielt. „Danke.“

„Können wir sonst noch was für dich tun?“, fragte er sie.

Sie schüttelte den Kopf, hielt dann aber wieder inne, als sei ihr ein Gedanke gekommen. „Naja, wenn es nicht zu aufdringlich ist, könntet ihr mich dann zu meiner Freundin fahren? Sie wohnt nicht weit von hier.“

Eigentlich wollte ich nach Hause und das entspannende Bad nehmen, von dem Cio gesprochen hatte, aber ich brachte es auch nicht über mich nein zu sagen. „Klar, steig ein.“

Cio zog eine Augenbraue hoch, als wollte er fragen: „Wirklich?“

Ich zuckte nur mit den Schultern. Was sollten wir denn sonst machen? Wir konnten sie hier ja nicht einfach auf der Straße stehen lassen. So etwas machte man einfach nicht.

„Das ist wirklich nett von euch.“ Sie drückte meine Hand, gab Cio einen Kuss auf die Wange – vor dem er praktisch instinktiv zurückzuckte – und kletterte auf den Rücksitz.

Cio wischte sich mit einem äußerst angeekeltem Ausdruck im Gesicht den Lippenstift von der Wange. Keinen Schimmer, ob er das nur wegen mir tat, oder es ihn wirklich anwiderte, mich jedenfalls ließ es lächeln. Da war diese umwerfend schöne Frau, neben der ich bloß ein graues, unansehnliches Mäuschen war, doch Cio gab mir das Gefühl, hier die einzige Schönheit zu sein. Ich konnte gar nicht anders, als mich ihm ein wenig aufzudrängen und mir einen Kuss zu holen.

Es missfiel ihm definitiv nicht und dennoch zog er fragend eine Augenbraue nach oben.

„Du bist toll“, sagte ich schlicht und zwinkerte ihm verspielt zu.

Sofort warf er sich völlig übertrieben in die Brust. „Ich wusste, dass dir das früher oder später auch auffällt.“

Oh ja und einen ziemlich großen Knall hatte er auch noch.

Grinsend stiegen wir zurück in den Wagen.

Darja hatte ihr Handy hervorgeholt und tippte mit grimmigen Gesicht eine Nachricht ein.

„Wo soll es hingehen?“, fragte Cio.

„Stadtrand“, sagte sie abwesend. „Richtung Königssee.“

Das war aber nicht gerade um die Ecke. Dazu mussten wir in die komplett andere Richtung.

Als würde Cio meine Gedanken lesen können, warf er mir einen Blick zu. Aber wir hatten nun einmal zugesagt und konnten sie jetzt schlecht wieder aus dem Wagen werfen. Ja, sie war vielleicht eine Oberzicke, aber … am besten wir beließen es einfach bei diesem Aber.

„Dann mal alle anschnallen“, forderte Cio und lenkte den Wangen auf die Gegenspur.

Die Fahrt verlief weitestgehend schweigend. Von Darja kam nur hin und wieder ein „Hier musst du abbiegen“ oder „Rechts lang“, bis wir in eine Gegend kamen, die mir völlig unbekannt war. Die Häuser hier waren ziemlich heruntergekommen und die Straßen wirkten auch nicht sehr vertrauenerweckend. Darja navigierte uns hindurch, bis die Häuser weniger wurden und sich immer mal wieder mit einen Stück Wald abwechselten.

„Ist nicht mehr weit“, sagte Darja, als wir Silenda schon fast verlassen hatten. „Die nächste Einfahrt links, da wohnt meine Freundin.“

Cio schaute etwas zweifelnd, als könnte er sich nicht vorstellen, dass in dieser Gegend überhaupt jemand wohnte, hielt sich aber an ihre Vorgabe. So hielten wir ein paar Minuten später mit laufendem Motor vor einem heruntergekommenen Bau, der mehr eine Scheune, als ein Haus zu sein schien. Ein paar Fenster waren vernagelt, die Tür hing schief in den Angeln und das Mauerwerk war mit so vielen Rissen durchzogen, dass es mich wunder, warum es noch stand. Die Statik wirkte jedenfalls nicht sehr vertrauenswürdig.

„Hier?“, fragte ich zweifelnd und drehte mich zu ihr herum.

In dem Moment griff sie nach Cios Schulter. Es ging so schnell, dass ich gar nicht verstand, was sie da machte. Oder warum Cio nur Sekundenbruchteile danach mit wutverzerrtem Gesicht zur ihr herumwirbelte, ihre Hand packte und ihre Finger mit einem Ruck nach hinten klappte, bis es durchdringend knackte.

Darja schrie auf und riss sich von ihm los. „Scheiße!“, fluchte sie. „Du hast mir die Finger gebrochen!“

Cio griff nach seinem Hals und zog etwas heraus. Seine Bewegungen wurden dabei seltsam träge und sein Blick wurde zunehmend glasig. Er riss seine Hand mit einem Ruck nach vorne und darin lag eine Spritze mit ein wenig Blut an der Spitze. Sie war leer.

„Lauf Schäfchen“, nuschelte Cio mit schwerer werdender Zunge. Seine Hand sackte kraftlos in seinen Schoß, als wäre es zu anstrengend sie weiter hochzuhalten. „Lauf weg.“

Weglaufen. Die Erkenntnis kam mit einem Schlag. Darja hatte Cio ausgeschaltet und dafür konnte es nur einen Grund geben.

„Lauf“, flüsterte er wieder, bemüht seine schläfrigen Augen offen zu halten.

Die Angst kam so plötzlich, dass ich unter ihr fast begraben wurde. Oh Gott, was sollte ich tun? Ich konnte doch nicht einfach das Weite suchen und ihn hier schutzlos bei dieser Verrückten zurück lassen.

Der Panikknopf, du hohle Nuss!

Der war in meiner Hosentasche.

Ich wollte danach greifen, doch dann hörte ich das Klicken und im nächsten Moment spürte ich die Mündung einer Waffe an meinem Kopf. Ich erstarrte einfach. Ich musste die Waffe nicht sehen, um zu wissen, was da war. Das passierte mir nicht zum ersten Mal und dieses Gefühl … es war etwas, was man niemals vergessen konnte.

„So ist gut“, sagte Darja mit schmerzverzerrter Stimme und drückte mir die Mündung ein wenig fester gegen den Kopf. „Nur keine falsche Bewegung. Wir bleiben hier einfach schön sitzen, bis Verstärkung eintrifft.“

Verstärkung? Mein Herz begann vor Panik zu rasen. Meine Hände wurden schwitzig und meine Haut fing an unangenehm zu jucken. Oh Gott, jetzt bloß nicht verwandeln. Zwar würde ich mich als Wolf besser verteidigen können, doch das brachte mir gar nichts, wenn sie mich mitten in der Verwandlung einfach erschoss.

Hilfesuchend schaute ich zu Cio und konnte gerade noch sehen, wie seine Augen sich voller Verzweiflung schlossen. Er hatte den Kampf gegen das Betäubungsmittel verloren. Ich konnte nichts anderes tun, als dazusitzen und gegen die Verwandlung anzukämpfen, während mein Atem stoßweise über meine Lippen fiel.

Verdammt, was sollte ich denn jetzt tun? Sicher nicht auf ihre Verstärkung warten.

Ich versuchte mich unauffällig nach einer Lösung umzuschauen, die nach Möglichkeit weder Cio noch mich ins Grab brachte. Dabei fiel mein Blick in den Rückspiegel. Ein schwarzer Land Rover bog in die Einfahrt ein.

Der gleiche Wagen, den wir vorhin in der Innenstadt hatten wegfahren seinen.

Oh Gott, das war alles geplant gewesen, nichts weiter als eine Show und ich war wie der letzte Trottel darauf reingefallen.

Angst krallte sich an mir fest. Der Wagen hielt direkt hinter uns. Ich erwartete schon Halb Graf Rouven – denn wer sonst sollte es auf mich abgesehen haben? – aber es war eine brünette Frau in einem knielangen Sommerkleid, die dem Wagen entstieg und entschlossen auf uns zukam. Sie war mir völlig unbekannt. Ein bisschen unscheinbar. Klein. Genauso klein wie der dritte Maskierte in Cayennes Haus.

Konnte das sein? War der letzte Komplize eine Frau? Ich erinnerte mich an die verzerrte Stimme, mit der er geredet hatte. Für sowas gab es doch Geräte, oder? Die hielt man sich vor den Mund oder an die Kehle und dann klang die Stimme ganz anders.

Ich versuchte mir meine Angst nicht anmerken zu lassen, als sie an die Beifahrertür trat und sie aufriss.

„Aussteigen“, forderte sie mich auf. In ihrer linken Hand befand sich eine weitere Waffe. Sie war zwar zu Boden gerichtet, aber das konnte sich schnell ändern.

Ich konnte ihrer Aufforderung nicht nachkommen. Nicht nur, weil meine Furcht mich beinahe lähmte. Wenn ich den Wagen verließ, konnte weiß ich was passieren. Ich wollte da nicht raus, ich konnte Cio doch nicht zurücklassen.

Sie runzelte die Stirn. „Muss ich erst deutlicher werden?“

Darja stieß mir von hinten die Waffe gegen den Kopf – schmerzhaft. „Bist du taub? Du sollst aussteigen.“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf.

Die Brünette kniff die Augen leicht zusammen. Dann hob sie die Waffe. Aber ihr Lauf zeigte nicht auf mich. Sie zielte an mir vorbei, direkt auf Cios Brust. „Möchtest du es dir vielleicht noch einmal anders überlegen?“, fragte sie beinahe höflich.

Du verdammtes Miststück! Am liebsten wäre ich ihr an die Kehle gesprungen, doch ich hatte zu viel Angst, dass sich ein Schuss lösen könnte und Cio verletzt wurde. Im Augenblick war er ihnen völlig ausgeliefert.

Mit zitternden Händen und unter wachsamen Blicken, schnallte ich mich los und stieg aus dem Wagen. Ich stand noch nicht einmal richtig, da packte die Brünette mich bereits mit grobem Griff am Oberarm und riss mich herum, sodass ich mir dem Rücken gegen die Kühlerhaube knallte.

Auch Darja verließ den Wagen. Dabei drückte sie ihre rechte Hand gegen ihre Brust.

Die Brünette warf ihr einen prüfenden Blick zu. „Alles okay mit dir?“

„Geht schon“, murmelte sie und warf dem ausgeknockten Cio einen wütenden Blick zu. „Das Arschloch hat mir zwei Finger gebrochen.“ Aber ihre linke Hand funktionierte noch und stellte das sogleich unter Beweis, indem sie wieder mit ihrer Waffe auf mich zielte.

„Ich hab dir schon ein paar Mal gesagt, du musst schneller werden“, erwiderte die Brünette schlicht und griff dann nach meinem Ausschnitt.

Ich schlug ihre Hand weg. Es war rein instinktiv und brachte mir einen mörderischen Blick ein, der es mich auf der Stelle bereuen ließ.

„Keine Sorge“, sagte die Brünette. „Sowas wie dir würde ich nicht mal an die Wäsche gehen, wenn du das letzte lebende Wesen auf dieser Welt wärst.“

Falls ich bisher noch nicht genug Beweise gehabt hatte, überzeugte mich das nun völlig. Diese Rassenfeindlichkeit … sie gehörte eindeutig zu Deleo. Nur deswegen befahl ich mir still zu halten, als sie ein weiteres Mal nach meinem Hemdausschnitt griff und die oberen Knöpfe einfach aufriss. Damit legte sie meinen Verlobungsring frei. Aber nicht nur den.

Als ich entsetzt begriff, was sie vorhatte, war es schon zu spät. Nur ein schneller Griff und sie hatte mir nicht nur den Ring vom Hals gerissen, sondern auch gleich noch die Kette mit dem Peilsender von Papa.

„Nein!“, rief ich noch, da flog beides bereits durch die Luft und verschwand irgendwo am Haus im Kniehohen Gras. Cios Ring und … oh Gott, der Peilsender. Nun bekam ich es richtig mit der Angst zu tun. Sie nahmen mir die Möglichkeit gefunden zu werden. Sie brachten mich nicht um, sie wollten mich also wegbringen, oder? Zu Deleo? Ich hatte zwar noch den Panikknopf in der Hosentasche, aber dieser Gedanke allein konnte mich nun auch nicht mehr beruhigen.

Ich schaffte es nicht länger, mich gegen die Verwandlung zu wehren. Schwarzes Fell stieß durch meine Haut und breitete sich über meinen ganzen Körper aus. Meine Knochen begannen sich zu verformen, meine Zähne wurden länger und meine Nägel färbten sich schwarz.

Die Brünette runzelte die Stirn. „Wenn du nicht willst, dass ich dich auf der Stelle erschieße, dann solltest du besser sofort damit aufhören.“

„Ich kann … nicht.“ Es fiel mir unheimlich schwer diese Schwäche vor ihnen zuzugeben, aber noch viel größer war die Angst, dass sie mich einfach erschossen, weil sie glaubten, ich wollte sie angreifen.

Darja gab ein abwertendes Geräusch von sich. „Da haben wir sie wieder, die Abartigkeit eines Misto. Keine Kontrolle über ihr eigenes Wesen.“

„Dann müssen wir sie halt kontrollieren.“ Aus ihrer Rocktasche zog die Brünette eine weitere Spritze.

Ich konnte sie nur im namenlosen Entsetzen anstarren, als sie die Schutzkappe abzog und sie mir ohne weitere Vorwarnung in den Arm stieß. Sie machte das so effizient, als wäre ihr diese Bewegung bereits ins Blut übergegangen. Ich versuchte noch auszuweichen, doch da spürte ich auch schon den Stich.

Eine eisige Kälte breitete sich direkt unter meiner Haut aus. Ich zog eilig den Arm weg, riss mir dabei auch noch die Haut auf, aber da war es bereits zu spät. Meine Sicht verschwamm und meine Glieder wurden plötzlich zu schwer für meinen Körper. Ich versuchte auf den Beinen zu bleiben, aber sie wollten meinem Willen nicht länger gehorchen. Erst knickten meine Beine weg. Ich schaffte es noch mich am Wagen festzuhalten, aber dann verschwand das Gefühl aus meinen Fingern.

Die Beiden Frauen traten einfach zur Seite und schaute mit unbeweglichen Minen dabei zu, wie ich einen aussichtslosen Kampf gegen das Medikament in meinem Kreislauf ausfocht.

Farben verwischten, Konturen wurden unscharf. Die Welt begann sich zu drehen. Mir wurde schlecht. Dann kippte sie einfach zu Seite und ich versank in einem endlosen Schwarz, aus dem es kein Entrinnen gab.

 

°°°

 

Ein Taumel aus verwischten Bildern, dunklen Farben und schattigen Gestalten tanzte durch meinen Kopf. Ich war nicht richtig wach, aber ich schlief auch nicht. Es war ein Gefühl, als würde ich im Treibsand stecken und ganz langsam darin versinken. Es schien mir unmöglich, aus eigener Kraft zu entkommen.

Ein Gefühl stieg in mir auf, als würde mein Magen würgen. Auf meiner Zunge schmeckte ich Galle. Mir war fürchterlich übel und mein Schädel dröhnte, als hätte ich einen Tanklaster voll Wodka ganz alleine geleert. Poch, poch, poch. Immer im Gleichklang mit meinem Pulsschlag.

Ich wollte wieder im dämmrigen Tal des Schlafes versinken, aber da war etwas, eine Erinnerung, die mit aller Kraft an mir zerrte. Ich bekam sie nicht zu greifen. Da war so viel Nebel, der alles zu verschlingen drohte.

Meine Ohren begannen wieder zu funktionieren. Da war ein Rauschen. Nein, Stimmen, Geräusche. Ein Fernseher! Nachrichten?

Gott, was war nur mit meinem Kopf los? Meine Gedanken waren so unklar und wirr, dass ich nicht mal hätte sagen können, wo oben und unten war.

Mit aller Kraft zwang ich mich dazu die Augen zu öffnen. Es brauchte Zeit und sehr viel Überredungskunst, doch am Ende drangen durch einen Spalt Licht, Farben und Formen in mein Hirn. Das war ein … Zimmer. Wohnzimmer?

Ich blinzelte um meinen Blick klarer zu bekommen. Ja, ein Wohnzimmer. Da war ein zarter Lufthauch. Ein offenes Fenster, vor dem grüne Bäume sanft im Wind hin und her schwangen. Edle Regale und Schränke an den Wänden. Ein Großbildfernseher. Ein Kamin mit Bildern von mir unbekannten Personen.

Ich lag auf einer schwarzen Ledercouch. Vor mir ein flacher Tisch, links und rechts jeweils ein Sessel.

In dem einen Sessel saß eine blonde Frau. Sie war wirklich hübsch, fast zu schön um wahr zu sein. Und … ich kannte sie.

Darja, geisterte ihr Name durch mein angeschlagenes Hirn. Auf einmal war alles wieder da. Der Baumarkt, die Wächterin auf der Straße, Cio der bewusstlos in seinem Gurt hing. Ich riss den Kopf hoch, nur um sofort mit einem Stöhnen zurück ins Polster zu sinken. Oh Verdammt, was nur hatte sich in dieser Spritze befunden? Das war doch kein normales Narkotikum. Es wirkte viel zu schnell und die Nebenwirkungen waren extrem.

„Na sieh mal einer an“, verhöhnte Darja mich mir einem süffisanten Grinsen auf den schönen Lippen. „Dornröschen ist wach und das ganz ohne den Kuss ihres Prinzen.“

Cio. Ging es ihm gut? War er auch schon aufgewacht und suchte nach mir? Aber wie sollte er mich nur finden? Mein Peilsender war weg, genauso wie mein Verlobungsring. Sie konnte mich nicht aufspüren, sie würden mich nicht finden!

Jetzt reiß dich mal ein wenig zusammen! Panik würde mir jetzt sicher nicht weiterhelfen. Ja, sie konnten mich nicht finden, nicht ohne … der Panikknopf! Den hatten sie mir nicht weggenommen. Er musste sich noch in meiner Hosentasche befinden, ich musste ihn nur drücken. Unauffällig und möglichst bald. „Wo bin ich?“, fragte ich mit schwerer Zunge und bewegte vorsichtig die Arme. Ich war nicht gefesselt. „Wie lange hab ich geschlafen?“

„Lange“, antwortete Darja. Sie hielt etwas in der Hand, dass sie unentwegt hin und her drehte. Nicht ihre Waffe, die lag ganz offen vor ihr auf dem Tisch, als wartete sie nur darauf, von jemanden ergriffen zu werden. Der kleine Finger und der Ringfinger ihrer rechten Hand waren dick bandagiert. „Und wo du bist … kennst du diesen Film, mit dem großen Oger? Dort gibt es eine Stadt und die nennt sich Far Far Away.“

Weit, weit, weg. Was sollte das heißen? Wo hatten sie mich hingebracht?

„Mach die keine falschen Hoffnungen, hier wird dich niemand finden. In einem Umkreis von hundert Kilometern gibt es kein anderes Haus – naja, kein bewohntes.“ Sie grinste tückisch. „Na, bekommst du jetzt Angst, du kleine Missgeburt?“

Lass dich nicht einschüchtern, verdammt noch mal! Ich setzte mich sehr vorsichtig auf, um weder mein Magen noch meinen Kopf zu überfordern. Dabei schob ich meine Hand unauffällig in meine rechte Hosentasche.

Scheiße, sie war leer!

„Suchst du das?“, fragte Darja und hielt den Panikknopf hoch, sodass ich ihn sehen konnte. Damit hatte sie die ganze Zeit rumgespielt. „Schon praktisch diese Teile. Egal wo auf der Welt man sich befindet, man drückt nur diesen Knopf und schon kommen die Helferlein von allein Seiten angelaufen, um einen aus seiner misslichen Lage zu befreien.“ Sie grinste mich derart boshaft an, dass ich mich tiefer in die Polster drückte. „Allerdings muss man dazu den großen roten Knopf drücken. Leider wirst du nicht mehr in diesen Genuss kommen.“ Damit erhob sie sich von ihrem Platz, durchquerte das Wohnzimmer zu dem offenen Fenster und ließ mich dabei zuschauen, wie sie ihn hinausschleuderte.

„Nein!“, rief ich und streckte die Hand aus, als könnte ich sie so daran hindern, doch da war er schon weg, irgendwo verloren in der wilden Natur, die uns umgab.

Plötzlich wurde mir eiskalt. Das war meine letzte Möglichkeit auf Hilfe gewesen. Nun war ich ganz auf mich allein gestellt.

„Na?“, fragte Darja dann. Ihr Ton glich auf einmal einem Schnurren. „Gefällt dir die Show?“

Da sie an mir vorbeischaute, sah ich mich gezwungen einen Blick über die Schulter zu werfen. Als erstes fiel mir der prächtige Wandspiegel auf, der kurz-und-klein geschlagen über den Boden verstreut lag – da hatte wohl jemand einen kleinen Wutanfall gehabt. Doch was mir das Blut in den Adern gefrieren ließ, war der Mann der daneben am Türrahmen lehnte und mich mit gleichmütiger Mine betrachtete.

Graf Rouven Deleo, der Amor-Killer.

Er war hier, er war wirklich hier. Zusammen mit mir in diesem Zimmer.

Nein, bitte nicht.

Ich hatte in meinem Leben schon einige Dinge durchstehen müssen, aber noch nie hatte ich mich so sehr geängstigt, wie in dem Moment, als ich ihn leibhaftig vor mir sah. Es waren nicht nur die Taten, die er begannen hatte, da war auch das Wissen darum, was ich getan hatte.

Wegen mir war er aufgeflogen.

Wegen mir musste er sich nun verstecken.

Wegen mir würde sein Leben nie mehr das sein, was es bisher gewesen war. Ein Rausch in Luxus und Geld unter dem Dach der Alphas.

Ich glaubte nicht mehr an Märchen, deswegen konnte ich mir sehr genau vorstellen, welche Wut in ihm brodelte. Dieser Blick … das was ich getan hatte, würde er mir niemals verzeihen. Da war es ganz egal, ob ich ein Misto war, oder nicht. Er wollte mich büßen lassen, nur deswegen hatte er mich hergeholt.

Darja schlenderte lächelnd auf ihn zu und schmiegte sich so vertrauensvoll an seinem Arm, dass mir mit einem mal klar war, wer die Petzte am Hofe war. Sie musste zu ihm gelaufen sein, kaum dass Cayenne und ich uns auf den Weg zu Königin Sadrija gemacht hatten. Kein Wunder, dass er rechtzeitig entkommen war.

Er betrachtete mich auf eine Art, die mich auf die gleiche Stufe wie ein widerliches Insekt stellte, welches man schnellstmöglich erschlug, bevor es noch auf die Idee kam sich zu vermehren. Aber als Darja ihre Hand an seiner Brust hianufwandern ließ, wandte er ihr seine Aufmerksamkeit zu. Der kalte Blick verschwand. Er begann zu lächeln, strich ihr über die Wange und küsste sie, als sei ich gar nicht im Raum.

Leider minderte das meine Unruhe aber kein bisschen. Sollte ich versuchen die Gunst der Stunde zu nutzen und abzuhauen, wäre ich sofort wieder im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit. Ich könnte es mit einem Hechtsprung aus dem Fenster versuchen, aber so wie es aussah, befand ich mich nicht im Erdgeschoss. Bei dem Versuch auf diesem Weg zu entkommen, würde ich mir nur alle Knochen brechen.

Aber ich musste hier raus!

Hecktisch begann ich den Raum nach einem Ausweg abzusuchen. Dabei bemerkte ich wieder die Waffe auf dem Tisch. Sie lag immer noch da und niemand beachtete sie – niemand außer mir.

Ich wusste wie man mit Waffen umging. Noch bevor ich meinen ersten BH gebraucht hatte, war Papa mit mir auf dem Schießstand gewesen und hatte mir neben dem Umgang mit Waffen auch ein wenig Selbstverteidigung beigebracht. Beide Fähigkeiten waren nie zum Einsatz gekommen. Ich mochte es nicht. Das kalte Metall in der Hand, der laute Knall und dann erst der Rückstoß. Ich konnte schießen, aber bisher war es nie nötig gewesen. Jetzt allerdings … vielleicht war das meine einzige Chance hier lebend wegzukommen, den daran, dass er mir ans Leder wollte, hatte er in den letzten Wochen keinen Zweifel gelassen.

Ich warf noch einen wie ich hoffte unauffälligen Blick auf die beiden Turteltauben und rutschte dann vorsichtig an die Sofakante. Den Arm ausstrecken würde nicht reichen, dafür war der Tisch zu breit. Aber wenn ich nur schnell genug …

Ich an deiner Stelle würde das nicht tun“, erklang eine drohende Stimme in meinem Kopf.

Erschrocken wirbelte ich herum. Die schnelle Bewegung brachte meinen Magen so sehr in Aufruhr, dass ich wieder Galle im Mund schmeckte.

Neben dem Sessel auf dem Darja gesessen hatte, lag eine schlanke, braune Wölfin, die ich bis jetzt übersehen hatte. Scheiße, die hatte ich vergessen. Diese verdammte Wächterin hatte ja nicht alleine gearbeitet. Da war noch diese Brünette aus dem Land Rover gewesen.

Ich schluckte, als sie langsam auf die Beine kam und mich dabei so intensiv fixierte, als wollte sie mir am liebsten direkt an die Kehle springen.

„Oh, da habe ich doch glatt mein Spielzeug vergessen“, spottete Darja, ließ von Rouven ab und schlenderte zurück zum Tisch. Sie nahm die Waffe, drehte sich einmal verspielt um die eigene Achse und ließ sich dann mit einem Zwinkern zu mir wieder in den Sessel fallen. „Zum Glück passt Greta so gut auf, sonst hätte das mächtig ins Auge gehen können.“

Wenn mir der Verdacht kam, dass sie die Waffe mit voller Absicht dort liegen lassen hatte, lag ich wohl nicht allzu falsch damit. Sie hatte nur mit mir gespielt und ich war ihr sofort in die Falle gegangen. Natürlich würde sie keine Waffe unbeaufsichtigt liegen lassen. Es war dumm von mir gewesen.

Ich schlang die Arme um mich und verbot mit dem Brennen in meinen Augen nachzugeben. Heulen würde mich hier sicher nicht weiterbringen und diese blöde Kuh sicher nur weiter belustigen. Diesen Triumph gönnte ich ihr nicht.

Als Deleo sich dazu entschloss nun auch an unserer illustren Runde teilzunehmen, drückte ich mich wieder tiefer ins Polster. Er trat auf die andere Seite des Tisches. Sein Blick war so kalt, dass ich schon Eiszapfen klirren hörte.

„Damals, als König Isaac noch an der Macht war und das zweite Kind von Prinzessin Alica gerade das Licht der Welt erblickte, wurde mein Bruder Ramez dazu auserkoren, zu gegebener Zeit der Gefährte dieses Mädchens zu werden.“

Geschichtsstunde? Ähm … okay.

Deleo verschränkte die Arme auf dem Rücken. „Leider stellten sich ein paar unvorhergesehene Ereignisse ein, wegen denen sich die Thronfolge änderte und so wurde aus Prinzessin Sadrija eine Gräfin, der es erlaubt war, jeden zu ehelichen, der ihr beliebte und an Ramez hatte sie keinerlei Interesse.“

Er musste von dem Vorfall sprechen, der Cayenne damals auf den Thron gebracht hatte. Aber worauf wollte er damit hinaus? Ich wagte es nicht nachzufragen.

„Leider hat das Schicksal es nicht sehr gut mit Sadrija gemeint und sie für viele Jahre in die Gefangenschaft der Sklavenhändler getrieben. Doch eine Frau von großem Wert, konnte sie befreien und zu ihren Wurzeln zurückbringen.“

Von großem Wert? Er sprach doch nicht von Gräfin Xaverine. Diese Frau hatte keinen großen Wert gehabt, die war nichts weiter als eine verrückte Hexe gewesen.

„Durch die Aufdeckung von abscheulichen Geheimnissen und der Einhaltung von Leukos Gesetzen, gelang Sadrija der Aufstieg an die Spitze des Rudels, um als ihre einzig wahre Königin zu herrschen. Aber jeder Herrscher braucht einen Gegenpart und so kam mein Bruder Ramez wieder ins Spiel. Immerhin war er ihr einst versprochen gewesen.“ Er hockte sich hin und begann damit Gretas Fell zu streicheln. „Ramez wurde zu ihr aufs Schloss geladen, damit die beiden einander kennenlernen konnten. Man erlaubte ihm sogar, seine beiden Brüder mitzubringen, also begleiteten Carlos und ich ihn an den Hof.“

Ich hatte gar nicht gewusst, dass es da noch einen dritten Bruder gab.

„Wie sich jedoch schnell zeigte, hatte Sadrija keinerlei Interesse an Ramez. Er war ungehobelt und zudringlich. Und das bei einer Frau, die so viel hatte durchleiden müssen, dass man sie mit Samthandschuhen anfassen musste. Es kam wie es kommen musste, Sadrija schickte ihn wieder fort. Allerdings … in dieser Zeit am Schloss, wandte sie sich einem anderen Mann zu. Carlos. Die beiden schienen wie füreinander geschaffen. Sie vereinigten sich, herrschten zusammen und bekamen sogar ein Kind. All diese glücklichen Umstände, erlaubten es mir am Hof zu bleiben, einen hohen gesellschaftlichen Stand einzunehmen und all die Vorzüge eines Grafen in vollen Zügen zu genießen.“ Sein Blick verdüsterte sich. „Und du kleines Miststück hast alles wofür ich gearbeitet habe, an einem einzigen Nachmittag mit deiner verdammten Lüge vernichtet und mich zu einem Leben in der Versenkung verurteilt.“

Okay, jetzt wusste ich, worauf er hatte hinaus gewollt. „Ich habe nicht gelogen“, sagte ich leise. „Es war ihre Münze.“

„Natürlich war es meine Münze!“, fauchte er mich an und fuhr in die Höhe. „Diese Misto-Schlampe hatte sie mir ja auch am Tag zuvor abgenommen!“

Was? Nein, das konnte nicht sein. Er versuchte doch nur sein Fell zu retten. „Das ist nicht wahr.“

„Bezichtigst du dreckiges, kleines Stück mich gerade einer Lüge?!“ Er machte einen drohenden Schritt auf mich zu. Auch wenn der Tisch noch zwischen uns stand, riss ich hastig die Beine hoch. Ich wollte ihm kein Angriffsziel bieten. „Dieses Themis-Flittchen kam zu mir, riss sie mir aus der Hand und behauptete genau zu wissen, wofür sie steht.“ Er schnaubte, als sei das völlig lachhaft. „Sie sagte sie würde all dem einen Riegel vorschieben.“

Und dann hatte er sie getötet.

„Dabei wusste sie gar nichts. Du und sie, ihr nennt es eine Münze, dabei ist es so viel mehr. Ein Siegel und das Emblem von Leukos einzig wahrem Rudel, so viel älter als du oder ich. Es ist eine Auszeichnung für reines Blut über viele Generationen, bestimmt für die wahren Nachfahren unseres großen Urvaters. Und es hat rein gar nichts mit dem Amor-Killer und dreckigen Mischlingen zu tun, die das Rudel der Könige zunehmend mit ihrer unreinen Brut zugrunde richten. “

Moment, da kam ich nicht mehr mit. Sollte das heißen, dass es innerhalb des Rudels ein weiteres Rudel gab, dass sich selber als die einzig wahren Nachfahren des großen Leukos bezeichnete?

Graf Rouven strich sich über den gutsitzenden Anzug, als würde es ihm dabei helfen, zu seiner gespielten Ruhe zurückzufinden. „Natürlich kann ich nicht behaupten, dass mir die Arbeit des Amor-Killers missfällt. Es ist schon lange an der Zeit, einmal mit dem Gesöff unserer Gesellschaft aufzuräumen, aber zu meinem Bedauern agiert Leukos Rudel eher im Verborgenen. Dabei würde ein Aktivposten doch viel bessere Ergebnisse erzielen, findest du nicht auch?“

Da ich mir nicht sicher war, ob er auf diese Frage eine Antwort haben wollte, oder was genau es bedeutete, im verborgenen zu agieren, hielt ich einfach den Mund.

„Wie dem auch sei. Nun sitze ich hier in diesem Haus fest und das macht mich absolut nicht glücklich. Ein Lykaner von meinem Wert, gehört nicht in den Untergrund. Schon gar nicht wegen der Aussage einer minderwertigen Kreatur wie dir. Du bist nicht nur ein einfacher Misto, nein, du verinnerlichst alle Spezies in dir und wirst dadurch zu einem besonders scheußlichen Geschöpf. Ein Fehler der Natur.“

Ein Fehler. Es war nicht das erste mal, dass man mir solche Worte um die Ohren haute. Und auch wenn ich hier einen verrückten Killer vor mir hatte, taten sie nicht weniger weh. Er hatte es nur auf mich abgesehen, weil ich es gewagt hatte geboren zu werden. Das war kein schönes Gefühl.

„Aber Fehler können korrigiert werden.“ Er schlenderte hinüber zu einem der Regale und öffnete dort eine hölzerne Schatulle.

In Erwartung, dass er eine Waffe herausholen würde, spannte sich mein ganzer Körper an, doch es war nur eine Zigarre, die er sich prüfend unter die Nase hielt. „Ich wollte es eigentlich wie einen Unfall aussehen lassen, aber da meine Ladys sich nicht besonders schlau angestellt haben und es nun einen Zeugen deiner Entführung gibt, ist das nun keine Option mehr.“

„Aber Cio … er ist ein reinblütiger Wolf.“

Deleo fuhr wütend zu mir herum. „Davon abgesehen, dass niemand so einem Dissident hinterher weinen würde, wie oft soll ich es dir noch sagen? Ich habe nichts mit dem Amor-Killer zu tun.“

Er log. Es konnte gar nicht anders sein. Romy sollte ihm seine Münze weggenommen haben? Okay, dazu wäre sie durchaus in der Lage gewesen, aber … nein. Er musste einfach lügen. Die Beweise passten einfach zu gut. Schon allein die Spritzen mit dem Betäubungsmittel, sowas benutzte nur der Killer. Außerdem gehörte er zum Adel und bei denen war Bogenschießen ein Freizeitsport. Nein, ich war mir sicher, er wollte einfach nur nicht zugeben, wer er wirklich war.

Ein jämmerlicher Abklatsch eines Lächeln erschien auf meinen Lippen. „Jetzt hätte ich Ihnen wirklich fast geglaubt.“

„Es ist mir ziemlich gleich, ob du mir glaubst oder nicht!“, fauchte er mich an und legte die Zigarre verärgert zurück. „Wichtig ist nur die Dinge wieder in Ordnung zu bringen und mit dir werde ich anfangen.“

Es lief mir eiskalt den Rücken runter. Die Situation überforderte mich langsam. Ich war nervös und unsicher in meiner Hilflosigkeit und wusste nicht was ich tun sollte.

Für den Anfang könntest du aufhören ihn zu verärgern.

Als wenn das etwas an seiner Feindseligkeit ändern würde. „Sie werden mich töten, oder?“

Seine Lider sanken ein wenig herab. „Macht dir dieser Gedanke Angst?“, fragte er lauernd. „Zu wissen, das dies dein letzter Tag sein wird? Dass du die Sonne nie wieder aufgehen sehen wirst und Lied des Mondes nicht mehr für dich spielen wird?“

Um ehrlich zu sein, ja. Aber noch viel mehr fürchtete ich mich davor, meine Familie nie mehr in den Arm nehmen zu können. Kein Rumgealber mit Mama, kein Umarmungen von Papa und kein Cio. Nie wieder Cio.

Meine Augen begannen zu brennen. „Sie müssen das nicht tun“, sagte ich sehr leise. „Sie könnten einfach aufhören.“

Daraufhin begann Darja zu kichern. „Oh, fängt das kleine Mädchen jetzt schon mit dem Betteln an? Ein wenig mehr hätte ich dir schon zugetraut.“

Dafür bekam sie einen giftigen Blick.

Was hast du erwartet?“ Greta setzte sich auf. „Sie ist ein naives Kind, völlig unbeholfen und verloren, wenn andere nicht für sie einstehen.“

„Ein wertloser Misto“, fügte Rouven noch hinzu. Seine Stimme war düster, der Blick zum fürchten.

Mich schauderte es. Ich warf einen verzweifelten Blick zur offenen Tür. Irgendwie hatte ich gehofft, dass jemand zu meiner Rettung kam. So war es immer gewesen. Ich hatte nie allein dagestanden, aber jetzt konnte ich so viel hoffen und bangen wie ich wollte. Da war niemand. Nur ich.

„Ich denke es ist an der Zeit die Sache zu beenden. Darja? Bitte.“

„Mit dem allergrößten Vergnügen.“ Die Wächterin schwang ihre Beine auf den Boden und erhob sich.

Mit einem Mal schlug mir mein Herz bis zum Hals. Als ich sie auf mich zukommen sah, hielt mich nichts mehr auf der Couch. Mein Magen war egal, mein Kopf war egal, es war nur wichtig hier zu verschwinden, also sprang ich auf die Beine, kletterte über das Sofa und rannte auf die Tür zu. Es geschah aus reiner Verzweiflung. Ich hörte das Rauschen meines Blutes und spürte den schnellen Puls unter meiner Haut, der mich mit Adrenalin vollpumpte.

Lauf, lauf schneller!

Die Scherben des Spiegels knirschten unter meinen Füßen. Hinter mir hörte ich ein Lachen.

Ich hatte den Türrahmen fast erreicht, als mich etwas schweres hart im Rücken traf. Ich wurde nach vorne geschleudert, schaffte es gerade noch so die Hände auszustrecken, um nicht mit dem Gesicht frontal auf dem Boden zu landen.

Der Aufprall war hart. Ein paar Scherben schnitten mir in die Haut. Das Gewicht auf dem Rücken drückte mir die Luft aus der Lunge. Meine Brille flog davon. Ich gab ein erstickten Schrei von mir. Dann spürte ich die Zähne in meinem Nacken und hörte das leise knurren an meinem Ohr.

„Nein“, flehte ich kläglich und hasste mich selber dafür so weinerlich zu sein. Aber was sollte ich denn sonst tun? Es stand nicht nur drei zu eins, das waren auch alles reinblütige Lykaner. Ich hatte keine Chance gegen sie, also konnte ich nur noch um mein Leben flehen. „Bitte nicht.“ Ich wollte nicht sterben.

„Aber aber, Greta“, sagte Graf Deleo. Gemächlich kam er auf mich zu. „Nicht hier drinnen, du weißt, ich will hier keine Blutflecken haben.“

Oh Gott.

Das Knurren verstummte, doch das Gewicht und die Zähne blieben.

„Ganz schön flink, dass muss ich ihr lassen.“ Darjas Füße erschienen in meinem Sichtfeld. „Aber das wird dir auch nicht mehr helfen.“ Sie gab Greta ein Zeichen, woraufhin diese von meinem Rücken stieg.

Ich bekam kaum die Zeit einen Atemzug zu nehmen, oder mir sogar die Scherben aus der Haut zu pulen. Schon packte Darja mich am Kopf und riss mich an den Haaren grob nach oben.

„Ahhh!“, machte ich und griff an meinem Kopf, um sie daran zu hindern, mich zu skalpieren. Tränen schossen mir in die Augen. Ich versuchte gegen den Schmerz atmen, dabei war die Angst, die sich an mir festkralle, viel schlimmer.

„Keine falsche Bewegung“, fauchte Darja und im nächsten Moment spürte ich die Waffe in meinem Rücken. „Du hast doch gehört, Rouven möchte hier drinnen kein Blut.“

Oh Gott, warum nur musste das mir passieren? Ich hatte doch niemanden etwas getan. Ich war ein friedliches Wesen. Ich verabscheute Gewalt und Auseinandersetzungen. Und doch befand ich mich nun in der Hand eines durchgeknallten Serienkillers, der mich nur noch nicht umgebracht hatte, weile er keine Flecken auf seinem Teppich haben wollte.

Das Schluchzen kam von ganz alleine. „Bitte“, sagte ich. „Ich will nicht sterben.“ Ich war doch noch so jung.

„Oh, wie herzerweichend“, spottete Darja. „Aber ich will meine Lieblingsserie nicht verpassen. Also los, immer schön Greata hinterher und keine Sperenzchen.“ Sie versetzte mir eine Stoß, der mich nach vorne stolpern und mit dem Arm gegen die Wand krachen ließ.

Ich zischte, als sich der Schmerz in meinen Arm grub und musste durch meinen tränenverschleierten Blick erkenne, dass mein Arm Blutverschmiert war. Da steckte eine Glasscherbe drin und die Wucht des Aufpralls, hatte sie noch tiefer in mein Fleisch gedrückt.

„Wird es bald?“ Darja deutete mir, mich endlich in Bewegung zu setzen.

Ich wollte nicht. Ich hatte Angst vor dem, was mich am Ziel erwarte. Aber genauso fürchtete ich mich vor dem was passieren würde, wenn ich nicht gehorchte.

Warum half mir denn niemand?

Vorsichtig drückte ich mich von der Wand ab. Dabei hinterließ ich einen blutigen Handabdruck an der Tapete. Ich zitterte am ganzen Körper und weinte leise, doch niemanden hier interessierte meine Verzweiflung. Ich konnte nichts anderes tun, als zu gehorchen und langsam hinter Greta den Korridor entlangzuwandern.

Darja war mit ihrer Waffe direkt hinter mir und summte leise ein fröhliches Liedchen. Das war völlig surreal.

Ein Fuß vor den anderen. Das Blut lief über meinen Arm, die Wunde pochte im Takt meines Pulses. Mit zitternden Fingern versuchte ich die Scherbe herauszuziehen. Sie steckte tief drinnen und ich rutschte durch das Blut zweimal ab, bevor es mir endlich gelang sie richtig zu greifen.

Der Schmerz als ich sie herauszog, war unglaublich. Ich schluchzte wieder auf und wäre fast in die Knie gegangen. Dann entglitt sie einfach meinen zitternden Fingern. Ich besaß nicht die Kraft sie festzuhalten, oder sogar als Waffe einzusetzen. Ich konnte immer nur daran denken, dass es gleich vorbei sein würde.

Greta führte uns eine Treppe hinunter, durch ein helles Foyer hinaus zur Haustür.

Das warme Wetter und das muntere Zwitscher der Vögel, dass mich draußen erwartete, war wie ein Hohn und zerrte noch zusätzlich an meinen Nerven. Irgendwo tief in mir verborgen, kauerte mein Wolf in einer Ecke und fletschte verzweifelt die Zähne, wagte es aber nicht sich zu rühren. Vielleicht weil es diese Situation nur noch schlimmer gemacht hätte. Vielleicht hatte er aber auch nur genauso viel Angst wie ich.

„Ein herrlicher Tag“, sinnierte Darja und sog die frische Luft tief in ihre Lungen. Direkt hinter ihr trat Rouven aus dem Haus.

Wie aus einem Bilderbuch, breitete sich direkt vor dem Haus ein Weiher aus. Ein paar Wasservögel schwammen gemächlich an der Oberfläche und genossen den strahlend blauen Himmel. Im Gras zirpten Grillen und ein Eichhörnchen huschte eilig über ein paar Äste der nahem Bäume.

Oh Gott, wo war ich hier nur gelandet? Mir kam nichts bekannt vor, nicht die Landschaft und auch nicht die Gerüche in der Luft.

„Es wird Zeit diese Sache zu bereinigen“, verkündete der Graf.

Mit tränenverschwommenen Wangen wirbelte ich zu ihm herum und sah mit Entsetzen dabei zu, wie er sich von Darja die Waffe reichen ließ. „Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, bitte, tun Sie das nicht.“ Ich war kurz davor auf die Knie zu gehen und ihn anzubetteln. Im Moment brauchte ich keinen Stolz, der würde mir nichts bringen, wenn ich tot war.

Wie armselig.“ Greta setzte sich ein Stück von mir entfernt ist Gras und hielt mich genau im Auge. Sollte ich einen weiteren Fluchtversuch unternehmen, wäre sie sofort wieder zur Stelle.

Deleo positionierte sich direkt vor mir und streckte den Arm mit der Waffe aus, sodass sie gerade mal einen halben Meter vor mir in der Luft hing. Er zielte auf meine Brust. Seine Hand blieb dabei völlig ruhig, was mir deutlich bewusst machte, dass er schon getötet haben musste. Natürlich hatte er das, nur das er normalerweise keine Waffe benutzte, sondern Pfeil und Bogen.

„Bitte“, versuchte ich es noch einmal völlig verzweifelt. „Ich will nicht sterben.“

„Und ich will kein Leben als Aussätziger führen, doch dank dir, werden wir nun wohl beide nicht das bekommen, was wir uns wünschen.“ Seine Stimme war weich wie Samt.

Ich biss mir auf die Lippen und starrte die Waffe an, sah wie sein Zeigefinger ganz ruhig am Anzug lag. Dieser Mann kannte kein Mitgefühl, nicht für jemanden wie mich.

In diesem Moment erinnerte ich mich daran, wie Papa vor Wochen zu mir gesagt hatte, dass ich ein leichtes Opfer war, weil ich mich nie traute zuzuschlagen, nicht wenn es darum ging mich selber zu schützen. Nur wenn meine Instinkte das Ruder übernahmen, erwachte das Raubtier in mir. Aber meine Instinkte wollten einfach nicht erwachen.

„Ich denke es wird wehtun“, verkündete Rouven, als wollte er mir zum Abschied noch mal eins reinwürgen. Sein Blick war so eisig, dass es mich fröstelte und ich das Gefühl bekam, dass er sowas nicht zum ersten Mal in seinem Leben tat.

Aber ich wollte nicht sterben. Ich hatte doch noch so viel, für das sich das Leben lohnte.

„Ich hoffe es auf jeden Fall.“

Ich weiß nicht genau, was dann geschah. Es war, als würde ich meinen Körper verlassen und die ganze Szene wie eine Unbeteiligte aus der Ferne beobachten. Gleichzeitig war ich aber mitten im Geschehen und sah wie ich mit dem Mut der Verzweiflung blind nach vorne griff. Es gab einen ganz einfachen Weg, einen Gegner zu entwaffnen, man musste nur schnell genug sein.

Ich packte den Lauf der Waffe mit der linken Hand riss ihn zu mir heran und schlug mir der Rechten seine Hand weg, schaffte es aber nicht mehr rechtzeitig die Waffe herumzudrehen, bevor er sich mit einem Wutschrei auf mich stürzte. Er riss uns beide zu Boden und versuchte mir die Waffe wieder zu entreißen, aber ich hielt sie eisern fest. Wenn er sie bekam, war ich tot.

„Du verdammtes Miststück!“, fluchte er und versetzte mir einen Kinnhaken, der mein Kopf zur Seite schleuderte. Irgendwie verlor er dabei das Gleichgewicht und fiel zur Seite. Die Waffe hielten wir noch immer beide fest. Und dann löste sich ein Schuss.

In meiner Brust explodierte der Schmerz, doch das kam nur vom Rückstoß. Deleos Hemd dagegen war auf einem nicht mehr weiß. Ein roter Fleck breitete sich auf seiner Brust aus, während er fassungslos an sich heruntersah.

„Nein!“, schrie Darja und stürzte auf uns zu.

Ich stieß ihn schwer atmend von mir und robbte ein Stück von ihm weg und kam stolpernd auf die Beine. Die Waffe umklammerte ich dabei, als würde es um mein Leben gehen – was es ja auch tat. Mein ganzer Körper zitterte, doch aus irgendeinem Grund verwandelte ich mich nicht.

„Rouven, nein, oh Gott, Rouven.“ Darja fiel neben ihm auf die Knie und drückte ihre Hände auf das Loch in seiner Brust. Blutiger Schaum sammelte sich vor seinem Mund, während er röchelnd versuchte Sauerstoff in seine Lungen zu bekommen. Seine Augen verdrehten sich nach hinten, sein Körper begann zu zucken, während Darja in anflehte durchzuhalten, weil sie ihn doch brauchte. Aber es half nichts. Direkt vor meinen Augen hauchte Graf Rouven Deleo sein Leben aus.

„Nein, nein, nein.“ Darja schüttelte ihn. „Verdammt nein, das kannst du mir nicht antun!“

Auf einmal bekam ich fürchterliche Angst vor dem, was sie mir gleich antun würde. Sie würde mich nicht nur töten, sie würde mich leiden lassen. Sie würde mir auf eine mir bisher unbekannte Art Schmerzen zufügen.

Meine Hand hob sich. Ich konnte mit Waffen umgehen, ich hatte es gelernt und selbst durch meinen tränenverschleierten Blick wusste ich wie ich zielen musste, um genau ins Schwarze zu treffen.

„Du!“, knurrte sie und wirbelte zu mir herum, doch da zog ich bereits den Abzug der Waffe durch. Ihr Kopf ruckte nach hinten, ein kleines Loch erschien auf ihrer Stirn. Ich sah noch den überraschten Ausdruck in ihrem Gesicht, dann fiel sie einfach zur Seite und blieb regungslos neben dem Grafen im Gras liegen.

Ich konnte sie nur entsetzt anstarren.

Was hatte ich getan?

Oh mein Gott, was hatte ich getan?!

Ein Wimmern kam mir über die Lippen. Mein Blick hob sich. Panik und Unsicherheit tobten durch mich hindurch. Und dann sah ich Greta, die völlig erstarrt einfach dastand und nicht glauben konnte, was sich direkt vor ihren Augen abgespielt hatte.

Wieder hob ich die Waffe und zielte.

Gretas Augen weiteten sich. Sie schluckte und machte einen vorsichtigen Schritt zurück.

Ich musste sie auch töten, ich wusste es. Wenn ich es nicht tat, würde sie mich umbringen. Mein Finger zuckte am Abzug. Ich hatte sie genau im Visier. Aber … ich konnte nicht. „Bitte“, sagte ich verweint und flehentlich. „Bitte, verschwinde einfach.“ Ich wollte das nicht tun. Ich hatte nichts von all dem hier gewollt, aber ich konnte sie auch nicht einfach gewähren lassen. Ich wollte nicht sterben. „Bitte“, wiederholte ich.

Greta blieb einfach stehen. Sie war nicht aggressiv oder bedrohlich, sie stand einfach nur da, als müsste sie die neue Situation erst einmal verarbeiten. Dann machte sie einen vorsichtigen Schritt rückwärts. Und noch einen. Und einen weiteren.

Ich schluchzte auf, als sie plötzlich herumwirbelte und mit weiten Sätzen in dem Wald um uns herum verschwand. Dann war ich allein, allein mit zwei Toten, allein mit zwei Wesen, denen ich das Leben genommen hatte. Das mit Deleo konnte ich noch als Unfall durchgehen lassen, doch Darja … ich hatte sie einfach erschossen.

Meine Kraft verließ mich. Ich sackte zitternd in mich zusammen und schaffte es einfach nicht den Blick von diesem grausamen Bild abzuwenden. Mein Arm tat weh, meine Brust tat weh. Ich hatte Angst und war allein und meine Hand klammerte sich noch immer um dieses Mordinstrument.

Mit einem Schrei warf ich die Waffe von mir und schlug mir heulend die Hände vors Gesicht. Ich hatte getötet, ganz ohne das meine Instinkte mich dazu gezwungen hatten. Es war Vorsatz gewesen, eiskalte Berechnung. Ja, es war um mein Leben gegangen, aber …. oh Gott, ich hatte getötet. Nicht mal die Tatsache, dass ich einen von ihnen hatte entkommen lassen, konnte mich trösten. Ja, Greta lebte noch, aber …

Oh Gott, ich hatte sie laufen lassen. Sie war zwar weggerannt, aber sie konnte jeder Zeit zurück kommen, um sich an mir zu rächen. Und ich hatte meine einzige Waffe weggeworfen. Ich schluchzte auf, als ich damit begann, das Gras wild mit den Augen abzusuchen. Aber selbst als ich sie entdeckte und ich mit zitternden Beinen auf sie zukrabbelte, um sie eilig wieder an mich zu nehmen, konnte mich das nicht beruhigen.

Ich nahm sie nicht nur an mich, ich drückte sie wie einen Schatz an meine Brust.

Was sollte ich denn jetzt tun? Ich wusste weder wo ich mich befand, noch wie lange ich schon verschwunden war. Sicher hatte man mein Fehlen bereits bemerkt, aber es gab keinerlei Hinweise darauf, wo man mich finden könnte. Ein Handy hatte ich nicht dabei und ich bezweifelte, dass Rouven eines hatte, sonst hätte man ihn sicher darüber geortet.

Aber Darja besaß eines. Sie hatte es im Auto benutzt.

Ich wollte nicht zu ihr gehen. Ich wollte nicht sehen, was ich getan hatte, aber ich brauchte Hilfe, weil ich das einfach nicht allein schaffte.

Meine Hände zitterten noch immer, als ich versuchte mir die Tränen wegzuwischen. Die Waffe blieb fest in meine Griff. Ich musste mich zwingen auf die Beine zu kommen und einen Fuß vor den anderen zu setzten. Dabei versuchte ich nicht allzu genau hinzuschauen. Als ich jedoch neben den beiden in die Knie ging, zitterten meine Hände so stark, dass ich es kaum schaffte nach Darjas Hosentasche zu greifen, um das Handy herauszuziehen, das sich darin abzeichnete. Ich brauchte drei versuche und musste sogar die Waffe ablegen, um er herauszubekommen, nur um dann festzustellen, dass es ausgeschaltet war.

„Nein“, weinte ich und versuchte es einzuschalten. Es ging nicht. Das verdammte Handy wollte sich nicht einschalten lassen.

Nun ließen die Tränen meine Sicht Vollendens verschwimmen. Warum nur musste mir das alles passieren? Was hatte ich denn so schlimmes getan, dass ausgerechnet mir das widerfahren musste? Ich versuchte doch immer nett zu allen zu sein, hielt mich an Gesetzte und Versprechen.

Das war nicht fair.

Das war absolut nicht fair.

Ich saß da und weinte und wusste nicht was ich tun sollte. Ich hatte keine Möglichkeit Hilfe zu holen, also würde ich aus eigener Kraft aufstehen und gehen müssen. Ich würde …

Meine Augen weiteten sich ein kleinen wenig, als ich direkt am Weiher etwas Rotes im Gras entdeckte. Keine Ahnung, was genau mich dazu bewog, die Waffe zu ergreifen und mit ihr zusammen an den Rand des Teiches zu stolpern. Doch als ich wieder in die Knie ging und meine Hand ins Gras steckte, hielt ich den Panikknopf in der Hand.

Darja hatte ihn aus dem Fenster geworfen, aber jetzt hatte ich ihn wieder. Er lag in meiner Hand.

Mein Daumen drückte den Knopf herunter und befürchtete bereits, dass das Gerät bei dem Sturz aus dem Fenster beschädigt worden war. Doch dann gab es durchdringendes Piepen von sich. Ich sackte einfach auf meinem Hintern, klammerte mich an meine Waffe und weinte.

 

°°°

 

Vorwurf. Ja, das war es was diese toten Augen ausdrückten. Sie warfen mir meine Tat vor, beschuldigten mich ein Leben ausgelöscht zu haben. Es war kein unschuldiges Leben, aber es war ein Leben gewesen und ich hatte es genommen. Oh Gott, ich hatte getötete und das ohne auch nur einen Augenblick zu zögern.

Ich drückte mich mit dem Rücken fester an den Baum am Weiher. Die Waffe lag genau wie er Panikknopf neben mir im Gras, aber ich hatte keines von beiden noch einmal gebraucht. Greta war nicht zurückgekehrt und auch sonst niemand.

Ich war allein und wusste nicht wie lange schon. Da waren nur die Schatten unten den Bäumen, die immer länger wurden. Am Horizont dämmerte es bereits. Ein Frosch quakte ganz in der Nähe und Wasserläufer flitzten über die Oberfläche des Teiches. Eigentlich war es ganz friedlich hier, ruhig. Zu ruhig. Es kam mir vor wie eine Totenstille.

Ich zog die Beine fester an die Brust. Mein Arm tat weh, meine Augen fühlten sich geschwollen und aufgedunsen an und meine Hände wollten einfach nicht aufhören zu zittern. Der einzige Trost den ich im Moment finden konnte, war die Tatsache, dass ich meine Brille verloren hatte und deswegen nicht alles so genau sehen konnte. Meine Tat blieb verschwommen, auch wenn meine Erinnerung mit ununterbrochen vorgaukelte, den Knall immer noch in meinen Ohren verklingen zu hören.

Die Kühle des herannahenden Abends hatte nicht mit dir Kälte in meinen Gliedern zu tun. Ich wollte nicht denken, ich wollte nicht fühlen und ich wollte mich nicht erinnern. Ich wollte nur …

Ein lautes Krachen im Haus ließ mich so heftig zusammenzucken, dass die Wunde an meinem Arm wieder anfing zu bluten.

Ich schaute panisch hinauf zum offenen Fenster, vor dem sachte im Wind die pastellfarbenen Vorhänge wehten. War endlich jemand gekommen um mich zu retten? Ein Hauch von Erleichterung streifte mich, doch dann erinnerte ich mich an Greta. War wie zurückgekommen? Oh Gott, nein. Ich hätte sie niemals gehen lassen dürfen. Das war ein Fehler gewesen, doch ich hatte es einfach nicht fertig gebracht, noch jemanden zu erschießen.

Hecktisch griff ich nach der Waffe und versuchte meine zitternden Gliedmaßen unter Kontrolle zu bekommen. Ich brauchte drei Anläufe, um sie zu entsichern und konnte praktisch spüren, die mein Adrenalinspiegel dabei in die Höhe schoss.

Im Haus wurden Stimmen laut. Rufe. Jemand eilte am Fenster vorbei. Und dann kamen mehrere Leute aus der Eingangstür ins Freie. Wächter, genau wie Darja.

Das Zittern wurde wieder stärker. Ich zögerte nicht, riss die Waffe hoch und richtete den Lauf auf sie. Nicht noch einmal, schwor ich mir. Ich wollte das kein weiteres Mal durchmachen müssen.

„Wir haben etwas!“, rief der eine von ihnen ins Haus hinein, während sich ein paar der anderen auf die Leichen zubewegten und damit auch auf mich.

Es war wohl das Klicken meiner Waffe, dass sie auf mich aufmerksam machte und sie abrupt anhielten ließ, als sie bemerkten, wie ich auf sie zielte. Ihre Blicken waren wachsam, versuchten mich einzuschätzen, ob ich eine leichte Beute für sie sein würde. Das Zittern meiner Hände entging ihnen nicht.

Mein Atem wurde schneller, während mein Blick hektisch zwischen ihnen hin und her flog, nicht sicher auf wenn er sich konzentrieren sollte. Woher sollte ich denn auch wissen, wer von ihnen die größte Gefahr für mich darstellte? Sie konnten alle Feinde sein. Genau die Darja, genau wie der Amor-Killer.

Ich konnte ihnen nicht vertrauen.

„Hey“, sagte ein großgewachsener Blondschopf und hob wachsam die Hände als wollte er mir zeigen, dass er unbewaffnet war. „Keine Angst, wir tun dir nichts.“

„Bist du Zaira?“, fragte der Kerl neben ihm und machte einen vorsichtigen Schritt auf mich zu.

Ich riss die Waffe höher. „Bleiben sie weg!“, schrie ich ihn an. Ich wollte nicht, dass er zu mir kam. Wächter waren da um uns zu schützen, aber Darja hatte mich nicht geschützt. Wer konnte schon wissen, was sie vorhatten. Oh Gott, warum hatte ich sie nur gerufen? „Geht weg!“ Ich wollte nicht noch einmal schießen, aber ich würde es tun, wenn sie mich dazu zwangen. Ich wollte doch nicht sterben.

„Okay.“ Der Mann trat wieder einen Schritt zurück. „Ganz ruhig, wir werden dir nichts tun, wir kommen nicht näher. Wir reden nur, in Ordnung?“

Ich glaubte ihnen nicht, das konnte ich einfach nicht. Mein Vertrauen in die Welt war erschüttert und meine Angst hielt mich in ihrer grausamen Umklammerung.

„Kannst du uns sagen, ob du Zaira bist?“, fragte der Blonde.

In dem Moment bemerkte ich die Bewegung aus dem Augenwinkel. Ich dachte gar nicht nach, riss einfach nur die Waffe herum und schoss auf die Frau, die sich da versuchte mir unbemerkt zu näheren.

Der Knall schallte über den Weiher und schreckte ein paar Vögel auf.

Die Frau machte einen Satz zurück, als Gras und Erde zu ihren Füßen aufspritzten.

„Wegbleiben!“, schrie ich wieder und schaute mich panisch um. Plötzlich schienen die Wächter überall zu sein. Mein Atem wurde hektischer. Meine Augen waren vor Furcht weit aufgerissen. Ich stand kurz davor zu hyperventilieren. Wenn sie noch mal näher kämen, dann würde …

„Zaira!“

Bei dem vertrauten Ruf meines Vaters, wirbelte ich den Kopf herum. Und da war er, wirklich und leibhaftig. Mit sorgenvoller Mine eilte er vom Haus weg, rannte zwischen den Wächtern hindurch, genau auf mich zu.

„Papa.“ Es war fast ein Flehen. Und dann begann ich wieder zu weinen.

„Zaira, hey.“ Kurz bevor er mich erreichte, wurden seine Schritte langsamer. „Hey mein Schatz, nimm die Waffe runter, okay? Du brauchst sie jetzt nicht mehr. Ich bin jetzt hier.“

Ich sollte was tun? War der wahnsinnig? Hastig schüttelte ich den Kopf. Vielleicht bildete ich mir das nur ein, aber die Wächter hier draußen schienen immer mehr zu werden. Ich wagte es nicht meinen einzigen Schutz gegen sie niederzulegen.

„Komm schon Schatz, wir sind hier um dir zu helfen.“ Langsam, als wollte er mich nicht erschrecken, ging er vor mir auf die Knie und griff nach vorne.

Ich begann immer schlimmer zu zittern.

„Ist schon gut, du brauchst keine Angst mehr zu haben“, sagte er beruhigend und legte seine Finger langsam um den Lauf der Waffe.

Einen Moment wollte ich sie einfach an mich reißen, damit er sie mir nicht wegnehmen konnte, doch im gleichen Augenblick packte er mein Handgelenk, als würde er das bereits ahnen. Das machte es mir unmöglich die Waffe vor ihm in Sicherheit zu bringen.

„Nein!“, schrie ich noch, da entwand er sie auch schon meinem Griff, warf sie eilig hinter sich ins Gras und damit auch aus meiner Reichweite. Ich wollte sofort hinterher, doch er packte mich einfach und riss mich an sich. Seine Arme schlangen sich um meinen Rücken, eine Hand legte sich auf meinen Hinterkopf und dann drückte er mich einfach an seinen Körper.

„Schhhh“, machte er, während mein Atem wieder hektischer wurde und ich panisch zwischen den ganzen Wächtern hin und her schaute. Einer von ihnen trat heran und nahm die Pistole aus meiner Reichweite. „Ist schon gut“, sagte Papa leise. „Alles ist gut, dir wird nichts mehr passieren.“

Das konnte er nicht wissen, das konnte niemand.

Ängstlich krallte ich mich in sein Hemd. Ich wollte nichts lieber tun, als mein Gesicht an seiner Brust zu vergraben, um mich vor der Welt zu verstecken, aber ich wagte es nicht die Wächter aus den Augen zu lassen. Sie kamen nun näher. Ein Paar schauten sich meine Opfer an, andere schienen das Gebiet abzusuchen. Jeder bewegte sich. Ich schaffte es nicht mich auf einen von ihnen zu fokussieren.

„Alles wird gut, ich bin ja jetzt hier.“ Vorsichtig strich Papa mir übers Haar. „Niemand wird dir mehr wehtun.“

Wie gerne ich ihm das glauben wollte, aber das konnte ich nicht. Ich konnte mich nur an ihn klammern und weinen, während um mich herum Wächter zu verschwommenen Flecken wurden. Ein paar Rufe. Aus dem Haus tauchten Sanitäter auf. Sie mussten sich durch die Hintertür Zutritt verschafft haben.

„Das ist Graf Rouven“, stellte einer der Wächter fest. „Und Wächterin Darja.“

Ein paar Blicke wurden in meine Richtung geworfen.

Einer der Sanitäter kam vorsichtig mit einem großen Koffer auf uns zu. Als er sich dann neben uns hocken wollte, wurde ich panisch und versuchte mich aus Papas Armen zu entwinden, um von hier wegzukommen. Ich kannte ihn nicht, ich wollte ihn nicht in meiner Nähe haben. Wer wusste schon, welche Abgründe in ihm lauerten?

„Schhh“, machte Papa wieder und zog mich enger an sich. „Er will nur helfen, Kleines, hab keine Angst.“

Aber ich hatte Angst. Ich hatte so fürchterliche Angst, dass ich gar nicht aufhören konnte zu zittern und sogar anfing zu wimmern, als der Sanitäter eine Stiftleuchte herausholte und damit in meine Augen leuchtete.

„Ich glaube sie hat einen Schock“, sagte mein Vater leise.

Der Sanitäter nickte. „Ich möchte ihr etwas zur Beruhigung geben. Können sie sie festhalten?“

Ich spürte wie Papa nickte. Doch als ich sah wie der Arzt seinen Koffer aufklappte und eine Spritzte hervorholte, wurde ich richtig panisch.

„Nein!“, schrie ich und versuchte nach dem Kerl zu treten.

Papa hatte Schwierigkeiten mich festzuhalten, fauchte jedoch den Wächter an, der versuchte näher zu kommen, um ihm zu helfen.

„Geht weg!“ Ich wollte mich von meinem Vater losreißen, aber das ließ er nicht zu. „Bitte, geht doch weg“, weinte ich und vergrub das Gesicht nun doch an seinem Hemd. Ich wollte nichts mehr sehen, ich wollte nichts mehr hören. Ich wollte nur, dass all das endlich ein Ende hatte. Ich wollte vergessen, was geschehen war und was ich getan hatte. Ich wollte einfach die Zeit zurück drehen, wollte mich in Cios Arme kuscheln und von einer schönen Zukunft träumen, in der …

Oh Gott. „Cio“, flüsterte ich und riss hastig den Kopf hoch. „Cio, er ist …“

„Ihm geht es gut“, sagte mein Vater sofort, um mich zu beruhigen. „Er ist im Krankenhaus, weil ihm das Narkotikum nicht gut bekommen ist, aber ansonsten ist alles in Ordnung mit ihm.“

Er war in Ordnung. Zum ersten Mal seit stunden, spürte ich so etwas wie Erleichterung. Aber das verschwand sehr schnell wieder, als ich einen Stich im Arm spürte.

Erschrocken wollte ich mich wegstoßen, aber das erlaubte mein Vater nicht. Seine Arme waren wie Stahlseile, aus denen ich mich nicht befreien konnte, als der Sanitäter mir das Beruhigungsmittel spritzte. In dem Moment fühlte ich mich so verraten von ihm, dass das Zittern wieder heftiger wurde und doch wusste ist, dass er das nur zu meinem Besten tat. Weil er mich lieb hatte, weil er sich Sorgen machte, weil er wollte, dass man mir half. Und es beruhigte mich auch nicht nur, es machte mich auch ein wenig schläfrig.

Die nächsten Stunden waren in einen dunstigen Nebel gehüllt. Papa wich keinen Moment von meiner Seite, als man mich auf eine Trage schnallte, in ein Sanitätsfahrzeug schob und vom Schauplatz des Verbrechens wegbrachte. Er hielt die ganze Zeit meine Hand und redete beruhigend auf mich ein.

Mehrere Male glaubte ich zu erkennen, wie er sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. Und immerzu erzählte er mir, wie tapfer ich doch gewesen war und dass nun alles vorbei war, dass der Amor-Killer tot war und mir nun nie wieder etwas tun konnte.

Ich hatte es geschafft. Ich hatte es ganz alleine geschafft und er war unheimlich stolz auf mich.

Ich nicht. Dafür konnte ich mich einfach viel zu gut an der Gefühl der Waffe in meiner Hand erinnern. Und auch wie ich sie benutzt hatte um zu töten. Dabei war es ganz egal, dass ich es nur getan hatte, um mein Leben zu retten. Das war eine Schuld, die nun für immer auf meinen Schultern lasten würde.

Es war schon spät in der Nacht, als wir das Krankenhaus in Silenda erreichten. Meine Mutter war da und Cayenne und Aric und so viele andere. Ich sah sie, als man mich auf der Bahre an ihnen vorbeirollte, doch man wollte sie vorerst nicht zu mir lassen. Sie wollten mich erst untersuchen. Ich bekam einen Verband um den Arm und Schmerztabletten. Ein paar Wächter tauchten auf, um mit mir zu sprechen, doch Cayenne verscheuchte sie. Selbst König Carlos glaubte ich einmal kurz zu sehen.

Ich hatte keine Ahnung wie spät es war, als Ruhe einkehrte. Draußen vor dem Fenster meines Krankenhauszimmers begann die Sonne bereits an den Horizont zu klettern. Mama lag neben mir im Bett, Papa saß daneben auf einem Stuhl und hielt meine Hand. Er sah genauso fertig aus, wie ich mich fühlte und strich unentwegt mit dem Daumen über mein Haar. Sorgenfalten hatten sich tief in sein Gesicht gegraben. Es schien als sei er in den letzten Stunden um zehn Jahre gealtert.

Trotz allem was geschehen war, begann ich in der Stille des Zimmers langsam wegzudösen. Das hatte bestimmt etwas mit dem Zeug aus dem Tropf zu tun, der in meinem Arm steckte. Aber das war okay. Die Angst hielt mich nicht mehr so fest in ihren Klauen. Von Entspannung war ich noch meilenweit entfernt, aber meine Eltern waren bei mir und sie würden aufpassen.

Meine Augen schlossen sich bereits, als ich hörte wie sich die Tür zum Zimmer leise öffnete. Es war wirklich kaum zu hören, trotzdem riss ich sofort wieder die Augen auf und fuhr panisch auf.

Sofort war mein Vater auf den Beinen. „Schhh, ganz ruhig“, sagte er und versuchte mich an den Schultern zurück ins Bett zu drücken.

Ich aber hatte nur Augen für den jungen Mann, der da eilig in mein Zimmer schlüpfte, als würde er befürchten, wieder weggezerrt zu werden, wenn er nicht schnell genug war. Jogginghosen und ein weißes Shirt. Er hatte sich umgezogen.

Meine Augen begann wieder zu brennen. „Cio“, flüsterte ich und konnte nicht verhindern, dass ich aufschluchzte.

Papa warf ihm einen bösen Blick zu, doch Cio ignorierte ihn einfach. Er sah mich, eilte zu meinem Bett und riss mich ohne Rücksicht auf Verluste in seine Arme.

„Oh Gott, Schäfchen“, flüsterte er leise, vergrub sein Gesicht an meiner Halsbeuge und hielt mich so fest an sich gedrückt, dass ich kaum noch Luft bekam.

Es war mir egal. Ich konnte ihn riechen, fühlte seine Wärme und spürte endlich wieder so etwas wie Sicherheit. Er war hier, er war bei mir und es ging ihm gut.

„Es tut mir so leid“, flüsterte er. „Ich habe nicht richtig aufgepasst und … es tut mir leid.“ Er zitterte am ganzen Körper. „Ich wäre schon früher hier gewesen, aber sie wollten mich nicht aus meinem Bett lassen.“ Sein warmer Atem stieß gegen meine Haut. „Sie wollten mich nicht zu dir lassen. Es tut mir leid.“

Ich krallte ich ins sein Hemd.

Mein Vater setzte sich stumm zurück auf seinen Stuhl. Mama lag nur still da und beobachtete uns, während wir uns aneinander klammerten und nicht mehr loslassen wollten. Nie wieder.

 

°°°°°

Seifenblasen

 

„Und das hier ist für eure Hochzeitsnacht.“ Schwungvoll zog Mama eine Pappschachtel aus der Papiertasche zu ihren Füßen und legte sie mir begeistert in den Schoß. „Na los, mach auf. Das ist ein Geschenk für euch beide.“ Sie zwinkerte mir vielsagend zu und ich verkniff es mir einfach, etwas darauf zu erwidern.

Alina besaß dieses Taktgefühl natürlich nicht. „Dir ist schon klar, dass die beiden bereits seit Jahren Sex miteinander haben?“

„Alina!“ Also wirklich.

Mama winkte ab. „Natürlich weiß ich das. Aber noch nicht in diesem bezaubernden Negligé.“

Von links neben mir kam ein leises Lachen. Cio amüsierte sich köstlich – so wie immer.

Ich warf ihm einen bösen Blick zu.

„Na los“, forderte Mama mich erneut auf und rutschte aufgeregt neben mir auf der Sofalehne herum. „Öffne es endlich.“

Also gut. Unter Alinas und Cios neugierigen Blicken, hob ich den Deckel der Pappschachtel ab. Aric schaute nicht hin, der schien sich auf einmal brennend für sein Handy zu interessieren. Anouk dagegen … naja, bei ihm wusste man nie so genau, aber im Augenblick schien sein Interesse auf Alina zu liegen, die neben ihm auf der Lehne seines Sessels saß. Sein Finger zuckte, als wollte er sie berühren, aber er tat es nicht. War wohl auch besser so, denn außer mir wusste in der Familie noch immer niemand, dass zwischen den beiden nicht nur familiäre Freundschaft herrschte.

Ich legte den Pappdeckel auf den Wohnzimmertisch ab und schlug vorsichtig das Seidenpapier darin zur Seite. Damit offenbarte ich … nichts. Genaugenommen ein Hauch von Nichts.

Oh-kay. Eigentlich hätte ich damit rechnen müssen.

Vorsichtig nahm ich das Negligé an den Trägern heraus und hielt es hoch, um es betrachten zu können. Es war weinrot und konnte vorne geöffnet werden. Der Stoff war durchsichtig und so hauch dünn, dass er praktisch nicht vorhanden war. Nur an der Brust wurde durch strategisch angebrachte Schnörkel und Spitze ein wenig verdeckt. Wenn ich das anzog, konnte ich eigentlich auch gleich nackt bleiben.

„Und?“, fragte meine Mama erwartungsvoll.

„Ähm … es ist … weich.“ Das war keine Lüge.

Wieder lachte Cio. „Also mir gefällt es.“ Er beugte sich zur Seite und griff in die Schachtel, um zwischen dem ganzen Seidenpapier noch einen kleine Stofffetzen zutage zu befördern. „Aha!“, machte er und hielt es triumphierend in die Höhe. „Sogar mit Höschen.“

Alina grinste. „Dann kann die Hochzeitsnacht ja kommen.“

„Ich hoffe ihr habt Spaß damit“, wünschte meine Mutter uns grinsend.

War den eigentlich klar, wie peinlich das war?

Cio beute sich zu mir und hauchte mir lächelnd einen zarten Kuss auf die Schulter. „Ich werde es dir in unserer Hochzeitsnacht mit den Zähnen genussvoll von deine Haut reißen.“

Bevor ich dazu etwas sagen konnte, schallte ein „Wie bitte?!“ durchs Wohnzimmer. Papa kam gerade die Treppe herunter und so entgeistert, wie er seinen zukünftigen Schwiegersohn anschaute, hatte wohl gehört, was Cio gesagt hatte.

Na super. Könnte sich bitte der Boden unter meinen Füßen auftun und mich verschlingen? Eilig ließ ich meine Arme mit dem Negligé sinken. Das musste er nun nicht auch noch sehen.

Cios Grinsen fiel ein wenig in sich zusammen. „Äh“, machte er nicht besonders gescheit.

„Ys-oog!“ Mama sprang auf und eilte zu meinem Vater, bevor er die unausgesprochene Morddrohung an meinem Verlobten in die Tat umsetzten zu können. „Komm“, sagte sie und zerrte ihn am Arm durchs Wohnzimmer. „Du kannst mir helfen den Kuchen aufzuschneiden.“

Papa sah absolut nicht so aus, als hätte er gerade ein Interesse daran Kuchen aufzuschneiden. Er durchbohrte Cio mit einem derart finsteren Blick, dass ich mir nicht sicher war, ob es im Moment so schlau war, ihm ein Messer in die Hand zu geben. Wenn er sich etwas Mühe gab, würde er den Kuchen sicher auch mit einem harmlosen Teelöffel klein bekommen, oder?

Cios Blick folgte den beiden wachsam, bis sie in der Küche verschwunden waren. „Manchmal ist dein Vater wirklich gruselig.“

„Warum musst du auch immer solche Sachen sagen, wenn andere zuhören können?“ Nein, ich hatte keinerlei Mitleid mit ihm.

„Das mache ich nur für dich.“

Natürlich.

Ich zupfte den baumelnden Slip von seinem Finger und steckte ihn zurück zwischen das Seidenpapier.

„Ach komm schon, nicht böse sein“, säuselte Cio direkt an meiner Wange. Sein warmer Atem kitzelte meine Haut. „Nicht heute.“

Nein, nicht heute, denn heute war es endlich so weit, heute würde unser gemeinsames Leben beginnen. Naja. Zumindest der offizielle Teil.

Es war Halloween. Das war vielleicht ein wenig unorthodox, wo viele ihre Hochzeiten doch lieber auf den Valentinstag oder ähnliche Tage legten, doch Cio und ich fanden es irgendwie ganz witzig am Tag der Geister den Anfang für den Rest unseres Lebens einzuläuten. Und jetzt wo das ganze Grauen endlich hinter uns lag … ich wollte einfach wieder Normalität in unserem Leben haben. Die Geister und den Schrecken der Vergangenen Zeit hinter uns lassen, sozusagen.

Ich brauchte das. Wir brauchten das.

Die Tage nach meiner Entführung hingen noch immer wie ein dunkler Schatten über uns. In den letzten drei Wochen hatte man mich immer wieder nach den Ereignissen im Haus in den Bergen befragt, um zu klären, ob ich dafür bestraft werden musste, einen Grafen und eine Wächterin getötet zu haben. Ein paar der Betawölfe waren dafür gewesen. Sadrija hatte nur einen müden Augenaufschlag für sie übrig gehabt und erklärt, wer sich den Schrecken einer solchen Situation nicht vorstellen konnte, sollte vielleicht mal einer genaueren Untersuchung unterzogen werden. Es würde sie doch brennend interessieren, ob es da noch mehr Wölfe in ihrem Rudel gab, die sich als die einzig wahren Nachkommen unseres Urvaters bezeichneten. Daraufhin waren die Betawölfe sehr schnell still geworden.

Greta hatte man nur wenige Tage nach meiner Rettung gefunden. König Carlos hatte gewusst wer sie war, sobald ihr Name gefallen war und direkt jemanden in ihre Wohnung geschickt. Sie waren zu spät gewesen, die brünette Frau hatte sich selber das Leben genommen.

Damit war der Fall des Amor-Killers abgeschlossen. Es hatte keine weiteren Leichen gegeben, keine blutigen Herzen, Gedichte oder Pfeile. So plötzlich wie es begonnen hatte, so plötzlich hatte es auch wieder geendet. Ich hatte es beendet und obwohl mich das erleichtern sollte, tat es das nicht. Es war nicht so, dass ich nun an einer ausgeprägten Psychose litt, aber die Ereignisse lagen noch immer über meinem Gemüt und … nun ja, ich verließ das Haus nicht mehr gerne alleine. Vor ein paar Tagen hatte ich fast einen Panikanfall bekommen, nur weil der Auspuff eines vorbeifahrenden Autos geknallt hatte und mich das so sehr an das Geräusch einer abgefeuerten Waffe erinnerte, dass ich glaubte, jemand würde auf mich schießen. Kaspar und Aric, die gerade mit mir unterwegs gewesen waren, um die Trauringe beim Juwelier abzuholen, hatte alle Hände voll zu tun gehabt, mich wieder zu beruhigen.

Es war kein schöner Nachmittag gewesen und die Ringe hatte Cio dann am nächsten Tag holen müssen. Alleine.

Als es an der Tür klingelte, schoss meine Mutter mit einem „Ich mach das schon, bleibt sitzen“ aus der Küche und verschwand genauso schnell wieder im Flur.

„Und“, fragte Cio schelmisch. „Bist du noch böse?“

„Das muss ich mir noch überlegen.“ Ernst zu bleiben war gar nicht so einfach, wenn er einem dabei die ganze Zeit so auf die Pelle rückte.

„Damit kann ich leben, solange du nur dieses Teil heute Nacht trägst.“

Ich lachte leise. „Wie kommst du darauf, dass ich das anziehen würde?“

„Weil es viel zu schade wäre, es einfach nur in den Schrank zu packen, um es dort zu vergessen.“ Sein Grinsen war schon Raubtierhaft, brachte ihm jedoch nur eine erhobene Augenbraue ein. „Na gut, wenn du es nicht willst, dann werde ich es eben anziehen“, sagte er dann, schnappte sich das Negligé aus dem Karton und hielt es sich vor die Brust, als wollte er überprüfen, ob es im passen würde. „Was meinst du, würde mir das stehen?“

Alina lachte. „Es passt jedenfalls zu deiner Augenfarbe.“

„Findest du?“ Er warf sich in Pose. Doch als meine Mutter zurück ins Wohnzimmer trat, verblasste seine gute Laune ein wenig.

Sie war nicht allein.

Hinter ihr stand Diego mit einer edlen Samtschatulle in der Hand und das erste was er sah, war sein Sohn, der gerade zu entscheiden versuchte, ob ihm meine Reizwäsche stand.

Ich riss Cio eilig das Negligé aus der Hand, warf es zurück in die Schachtel und machte den Deckel drauf. Aus den Augen, aus dem Sinn. „Hi“, sagte ich schnell.

Diegos Blick huschte kurz zu mir. „Hallo.“

„Ich bin dann mal wieder in der Küche. Aric, Anouk, Alina? Ihr könnt mal helfen kommen.“

„Habt ihr das gehört?“ Alina sprang auf die Beine. Dabei hüpfte ihr Sonnengelbes Haar wie eine Wolke um sie herum. „Wir sind das A-Team. Yeah!“ Sie schnappte sich erst Anouks und dann Arics Hand und zog die beiden hinter sich in die Küche.

Oh oh, wenn meine Mutter für freie Bahn sorgte, war da doch schon wieder etwas im Argen. Aber Diego stand nur da und schien sich nicht sicher, was genau er hier eigentlich tat. Es war nicht so, dass er unruhig herumhampelte, oder nervöse Zuckungen entwickelte. Das war einfach nicht seine Art, aber er tat auch sonst nichts und das war eher ungewöhnlich.

Cio schien auch nichts sagen zu wollen. Er beobachtete seinen Vater nur misstrauisch, als wartete er nur darauf, wieder eins von ihm auf dem Deckel zu bekommen. Ich konnte geradezu sehen, wie er bereits seine Stacheln aufstellte.

Okay, wenn die beiden das nicht hinbekamen, sollte ich vielleicht den Anfang machen. „Ähm … möchtest du dich setzten?“ Ich deutete auf den Sessel, in dem eben noch Aric gesessen hatte. „Und vielleicht etwas zu trinken?“

„Nein, danke.“ Wie zur Untermalung, schüttelte er auch noch den Kopf. „Ich hatte nicht vor lange zu bleiben. Ich wollte euch nur Glück wünschen und hab hier ein Kleinigkeit.“ Etwas unbeholfen hob er die Schatulle an und hatte damit plötzlich unglaubliche Ähnlichkeit mit seinem Sohn. „Es ist für die Hochzeit und … es ist nichts Besonderes.“

Als Cio immer noch nichts dazu sagte, trat Diego weiter in den Raum hinein und legte das Samtkästchen auf dem Tisch ab.

„Ich hab es bei meiner eigenen Hochzeit mit deiner Mutter getragen und dachte … naja, vielleicht möchtest du es auch benutzen.“ Mit dem Finger schob er es noch ein Stück in Richtung seines Sohnes und schien zunehmend enttäuschter, dass Cio sich immer noch nicht bewegte.

Ich stieß meinem Zukünftigen sehr nachdrücklich in die Seite und gab ihm allein mit einem Blick zu verstehen, dass er seinem Vater ein wenig entgegenkommen sollte. Ich meine, ich verstand ihn ja, aber Diego war extra hergekommen, um Cio zu bringen, was auch immer in dieser Schatulle lag. Er war nicht auf Krawall aus und es schien im wichtig zu sein. Sozusagen ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Cio schien nicht allzu begeistert und blieb misstrauisch. Doch wenigstens beugte er sich endlich vor und zog das Samtkästchen zu sich heran. Es war blau und hatte ungefähr die Größe von einer Müslischachtel. Ein wenig flacher, aber nicht viel.

Verschlossen war es mit einem goldenen Klipp, den Cio nun vorsichtig nach oben schnappen ließ. Dann klappte er langsam den Deckel hoch.

Darin lag, gebettet auf einem Seidenkissen, ein edles Hochzeitshalsband, das wie zwei Flügel geformt war. Vorne war es offen. Man hängte es sich um den Nacken. Die goldenen Flügelspitzen würden dann zum Brustkorb zeigen.

„Das ist wunderschön“, sagte ich ehrfürchtig.

„Es war ein Geschenk von Cayenne als ich die Gefährtenverbindung mit Ginny eingegangen bin und ich hab gehofft … also, wenn du es haben möchtest …“ Er ließ den Satz einfach offen verklingen.

Cio strich mit einem Finger vorsichtig über die goldenen Glieder, die zusammen den Flügel bildeten. „Danke.“

Eines von Diegos seltenen Lächeln huschte über sein Gesicht. „Nicht dafür. Es war schon immer dazu gedachte, an dich zu gehen, sobald du es wagst, dieses Schritt in die Zukunft zu machen.“

„Und das, obwohl du doch gar nichts möchtest, dass ich diesen Schritt mache.“ Cio hob herausfordernd das Kinn.

Oh nein. „Er wird es nachher tragen“, sagte ich eilig und warf Cio einen Blick zu der deutlich besagte, dass ich ihm den Hals umdrehen würde, wenn er ausgerechnet heute einen Streit vom Zaun brach.

„Das würde mich freuen“, sagte Diego leise und trat einen Schritt zurück. „Ich werde dann jetzt auch wieder gehen und … viel Glück bei der Suche.“

„Ich brauche kein Glück“, erwiderte Cio kühl. „Ich weiß was ich tue und ich bin gut darin.“

„Ich weiß“, sagte Diego so leise, dass ich es kaum verstand und wandte sich dann zum Flur um.

Ich stieß Cio in die Seite. „Was soll das? Geh ihm hinterher. Er ist nur deinetwegen gekommen. Er wollte dir alles gute für heute wünschen.“

Stur beschrieb den Ausdruck in Cios Gesicht nicht mal annähend.

„Bitte“, sagte ich. „Für mich.“ Aber hauptsächlich für ihn und seinen Vater.

Seine Augen verengten sich ein wenig. Doch gerade als die Haustür ins Schloss fiel, stand er mit einem Knurren vom Sofa auf. „Das ist echt unfair, wenn du das machst“, schimpfte er und rannte eilig durchs Wohnzimmer. Gleich darauf ging die Haustür ein weiteres Mal.

Sobald ich das hörte, sprang auch ich auf und eilte in den Flur, um die beiden durchs Fenster neben der Tür im Auge zu behalten. Natürlich nur im sicher zu gehen, dass nichts passierte und nicht weil ich neugierig war.

Gerade als ich die Gardine zur Seite schob, drehte Diego sich herum, als hätte Cio ihn gerufen. Er war fast bei seinem Wagen, wartete nun aber auf seinen Sohn, der eilig auf ihn zugejoggt kam.

Erst standen die beiden sich nur gegenüber, aber dann sah ich, wie Cio anfing leicht mit der Hand zu gestikulieren. Leider waren meine Ohren nicht gut genug, um sie über die Entfernung und durch die Wand zu hören. Nicht das ich vorhatte zu lauschen. Natürlich nicht, sowas tat man ja nicht.

Ich sah Diego nicken. Das war gut. Das hieß, dass sie sich zumindest nicht anschrien. Und auch die Haltung wirkte nicht aggressiv – bei keinem von beiden.

Das ging ein paar Minuten so. Irgendwann hob Diego sogar die Hand uns legte sie seinem Sohn auf die Schulter. Und Cio? Er ließ es zu. Zwar wirkte er noch immer nicht völlig entspannt, aber es war auch nicht so, dass er seinem Vater kategorisch die Tür vor der Nase zuschlug.

Vielleicht … vielleicht war heute wirklich ein guter Tag, für den ersten Schritt in eine gute Zukunft.

Noch während ich das überlegte, nickte Cio seinen Vater zu, strich sich dabei am Hinterkopf über die Wollmütze und hob zum Abschied die Hand.

Einen Moment war ich versucht schnell abzuhauen, damit er mich nicht beim Spionieren erwischte, aber dann öffnete ich einfach die Haustür und schaute ihm erwartungsvoll entgegen. Auf seinen Lippen lag ein vorsichtiges Lächeln. Das war doch ein gutes Zeichen, oder?

Ich trat einen Schritt zur Seite, als er ins Haus kam und die Tür schloss. „Und?“, fragte ich auch ganz direkt.

Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Was und?“

Für dieses gespielte Unwissen, gab es einen Klaps auf die Brust. „Komm schon, raus mit der Sprache. Ihr habt nicht gestritten.“

Sein Mundwinkel zuckte. „Er hat angeboten, uns nach den Flitterwochen beim Umzug zu helfen.“

Uh, das war gut. „Hast du das Angebot angenommen?“

Er nickte, schien dabei aber nicht allzu glücklich. „Hör zu, ich weiß was du dir wünschst, aber ich weiß nicht, ob ich das kann. Nach unserem letzten Streit im HQ …“ Er verstummte gezwungenermaßen, weil ich ihm den Finger auf dem Mund hielt.

„Hier geht es nicht um das was ich mir wünsche, hier geht es um dich und deinen Vater. Und ich weiß dass keiner von euch beiden sehr glücklich darüber sein würde, wenn diese Beziehung komplett in die Brüche geht.“

Er sah nicht überzeugt aus, als er meine Hand nahm und auf jede Fingerspitze einen Kuss hauchte. Die Dinge die uns auseinandergetrieben hatten, waren noch lange nicht vergessen, aber wir bemühten uns beide und langsam fanden wir wieder zueinander. Das sollte auch so sein, den schließlich würden wir heute heiraten.

„Das ist eine ganz miese Tour das Thema zu wechseln“, teilte ich ihm mit.

Das ließ ihn grinsen. „Vielleicht gefällt es dir so ja besser“, sagte er und griff gleichzeitig nach meinem Kinn. Doch bevor er mich küssen konnte, klingelte es an der Haustür.

Wir beide schielten zur Seite und überlegten, ob wir sie wohl einfach ignorieren konnten. Aber als es dann ein zweites Mal klingelte, siegte meine Erziehung.

„Merk dir wo wir stehen geblieben sind“, forderte ich Cio auf und öffnete dann mit einem breiten Lächeln die Haustür. Als ich sah wer draußen stand, wurde es sogar noch breiter, nur um im nächsten Moment komplett in sich zusammen zu fallen. Ich schlug die Tür so hastig zu, als würde draußen der Sensenmann auf mich lauern.

Cio zog eine Augenbraue hoch.

„Ähm … da hat sich jemand im Haus geirrt.“

Leider klopfte es daraufhin und strafte damit meine Worte lügen.

Ich hob den Finger. „Wenn du mich bitte einen Moment entschuldigst.“ Vorsichtig und so dass Cio nicht sehen konnte, wer da draußen stand, öffnete ich die Tür einen kleinen Spalt. „Geh weg, wenn du nicht willst …“

Cio riss mir die Haustür aus der Hand und stand unserem uneingeladenen Besucher damit direkt gegenüber.

„… dass Cio dir in den Hintern beißt“, schloss ich etwas lahm und trat dann schnell vor meinem Verlobten, der nun aussah, als würde er gleich einen Mord begehen. Tja, Tayfun hatte mittlerweile diese Wirkung auf ihn.

„Was zur Hölle willst du hier?“, knurrte er auch ganz direkt. „Verschwinde!“

Oh nein. Nicht hier und nicht heute. Sehr nachdrücklich schob ich Cio zurück in den Flur und kickte die Tür hastig mit dem Fuß wieder zu. Es tat mir leid für Tayfun, aber ein Mord auf meiner Hochzeit, könnte den Tag ein wenig ruinieren.

Leider schien eine geschlossene Tür im Moment nicht zu helfen. „Das er es wagt“, knurrte Cio und sah aus, als wollte er gleich direkt durchs Holz brechen, um sich auf den Vampir zu stürzen. Er hatte die Hände nicht nur zu Fäusten geballt, er zitterte auch am ganzen Körper und an seinem Handrücken konnte ich Fell sprießen sehen.

„Cio.“ Ich griff nach seinem Gesicht und zwang ihn mich anzuschauen. „Hey, ganz ruhig. Du weist doch noch was ich gesagt habe, oder?“

„Das ist völlig egal! Er hat hier nicht aufzutauchen, besonders nicht heute!“

Okay, so würde ich das nicht hinbekommen, nicht solange Cio die Tür anstarrte, als wollte er sie allein mit seinem Blick in Flammen aufgehen lassen. „Komm“, sagte ich und griff seine Hand. Als er sich nicht bewegte, zog ich an ihm. „Los, komm mit mir.“ Es war nicht ganz einfach, ihn zum Gehen zu bewegen und wurde sogar noch schwieriger, als Tayfun von draußen durchs Fenster spähte. Ich musste Cio praktisch von der Tür wegzerren.

Kaum dass wir das Wohnzimmer betreten hatten, steckte Papa den Kopf auf der Küche. Cios Knurren hatte ihn wohl angelockt. „Was ist los?“

Das zu erklären, würde zu lange dauern. Ich hatte jetzt wichtigeres zu tun. „Tayfun steht an der Tür. Kannst du bitte zu ihm gehen?“ Ich wartete gar nicht auf eine Antwort, sondern zog Cio einfach weiter hinter mir her, hinaus in den Garten, wo Ferox im Schatten seiner Hundehütte im Gras döste. Dort schob ich ihn zu den alten Gartenmöbeln. Nicht weil ich glaubte ihn dazu zu bekommen, sich hinzusetzen, sie waren einfach nur schön weit von der Hintertür entfernt.

Ich war nicht so dumm zu glauben, er würde nicht einfach wieder zurück laufen, darum behielt ich seine Hand fest in meiner, als ich mich vor ihn stellte. „Hey, sieh mich an.“

Er tat es. In seinen Augen brannte eine unermüdliche Wut. Er wollte absolut nicht, dass Tayfun jemals wieder in meine Nähe kam. Nicht nur weil er ihm trotz allem noch eine Teilschuld an allem gab. Seit ich ihm erzählt hatte, dass ich mich bei Tayfun nähren musste, um nicht einfach über irgendeinen Unwissenden herzufallen, war allein die Erwähnung seines Namens wie ein rotes Tuch für ihn.

„Wen liebe ich?“, fragte ich ganz direkt.

Cio schnaubte, strich sich mit der freien Hand unruhig übers die Mütze und verlagerte sein Gewicht aufs andere Bein.

„Ich meine es Ernst.“ Ich schob mich so hin, dass ich ihm wieder in die Augen sehen konnte. „Wen liebe ich? Sag es mir.“

Kurz drückten seine Lippen sich aufeinander. „Mich.“

„Genau. Und wer hat das Schäfchenhandy?“

„Ich.“

Ich nickte. „Und wen werde ich heute für den Rest meines Lebens zu meinem Gefährten machen?“

„Das hat doch gar nichts damit zu tun, dass dieser Mistkerl hier aufgetaucht ist“, knurrte er. „Ich weis das alles, aber …“

„Kein aber“, unterbrach ich ihn. „Das was ich gerade gesagt habe, ist alles was für mich eine Bedeutung hat. Nicht Tayfun, der nur irgendein netter Kerl ist und uns wahrscheinlich nur seine Glückwünsche aussprechen wollte, denn er weiß das auch. Er weiß dass es für mich nur dich gibt.“

Im Schatten der Hundehütte, gähnte Ferox einmal herzhaft, bevor er aufstand, sich das Fell ausschüttelte und dann zu mir getrottet kam. Dabei machte er einen großen Bogen um Cio. Er nahm es ihm noch immer sehr übel, dass mein Verlobter ihn vor zwei Wochen grob gemaßregelt hatte. Wenn ich ehrlich war, hatte mir das auch nicht besonders gefallen, aber da Ferox ständig versucht hatte nach Cio zu schnappen, war diesem gar nichts anderes übrig geblieben, als ihn grob zu unterwerfen, damit der Wilde verstand, wer hier wo in der Rangordnung stand.

„Cio.“ Ich gab seine Hand frei, aber nur um mit beiden Händen nach seinem Gesicht greifen zu können. „Tayfun ist keine Konkurrenz für dich. Und das wird er auch niemals sein. Wir beide werden heute heiraten, danach fahren wir nach für zwei Wochen nach Ägypten – nur wir beide. Und sobald wir zurück sind, beziehen wir unsere Wohnung. Verstehst du, was ich dir sagen möchte?“

„Das wir uns gegenseitig Alibis geben können, sollte der Mord an ihm irgendwann ans Tageslicht kommen.“

Nein, auch wenn das nur so lapidar dahingesagt war und Cio sowas niemals tun würde, fand ich das absolut nicht witzig. Nicht mehr seit meiner Entführung.

Das sah er mir wohl auch an. „Tut mir leid, das war dumm gewesen.“

Ferox schlich um mich herum und stupste mir ein paar Mal gegen die Beine. Als ich ihn nicht beachtete, zwickte er mir in die Wade, wofür ich ihn anknurrte. Das konnte ich ja mal gar nicht leiden und das nicht nur, weil er mir auf die Art breites drei Hosen kaputt gemacht hatte.

Cio seufzte. „Ich verstehe was du sagen willst, aber … wenn ich ihn sehe, will ich ihm einfach nur den Hals umdrehen.“

„Aber das möchte ich nicht.“

„Was wohl auch der einzige Grund ist, warum ich es bisher noch nicht getan habe.“

Ferox umrundete uns ein weiteres Mal und als er immer noch keine Aufmerksamkeit bekam, setzte er sich direkt neben mich und drücke sich gegen meine Bein.

Cio griff nach meinen Händen, zog sie aus seinem Gesicht. Nicht weil er mich loswerden wollte, er hielt sie fest in seinen, damit ich ihm auch auf keinen Fall entkam. „Okay, du hast recht, ich habe überreagiert.“

Das hatte ich zwar nicht gesagt, aber ja, darauf lief es wohl hinaus. „Ich liebe dich, du starker, römischer Gott.“

„Ich weis. Es ist nur …“

„Nein“, sagte ich, bevor er weiterreden konnte. „Kein Aber, kein Nur, kein Nichts. Du bist alles was ich will und nur das ist heute wichtig. Okay?“

Es dauerte einen Moment, bis Cio sich geschlagen gab. „Okay. Du hast recht.“

Mein Mundwinkel zuckte. „Das soll hin und wieder schon einmal vorkommen.“ Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen schnellen Kuss. Als ich mich dann jedoch wieder auf die Fußballen zurückfallen ließ, folgte er mir einfach. Das war eine Verlockung, der ich nur zu gerne nachkam.

Leider wählte mein Vater diesen Moment, um mit einem lauten Räuspern den Garten zu betreten.

Ferox sprang wie von der Tarantel gestochen auf die Beine und flitzte unter den alten Gartentisch. Wir konnten es uns nicht erklären, aber irgendwas an meinem Vater ängstige den Wilden so sehr, dass er sofort das Weite suchte, wenn Papa in der Nähe war.

Mein Papa achtete nicht darauf. Genauso wenig wie er auf den bösen Blick achtete, den ich ihm zuwarf. Das er gerade störte, schien er beflissen zu übersehen. Das war wohl seine Art mir zu sagen, dass er mit meinen Plänen noch immer nicht einverstanden war. Sturer Vampir.

Da ich ja nicht einfach wild knutschend vor meinem Vater stehen konnte – sowas machte man einfach nicht – trat ich einen Schritt von Cio zurück, als er bei uns ankam.

„Tayfun ist wieder gegangen. Er sagte, er wollte nicht weiter stören, sondern nur ein kleines Geschenk vorbeibringen.“ Wie zum Beweis, hielt mein Vater die Hand hoch und zeigte uns das kleine Samtsäckchen, dass er bis dahin darin verborgen hatte. Es war Blutrot, mit einer schwarzen Kordel und einem aufgedruckten Herz, in dem ein Pfeil steckte.

Ich verzog das Gesicht. Klar, dieses Herz war ein Zeichen der Liebe, wie es jeden Tag tausendfach benutzt wurde. Nur nachdem was wir gerade hinter uns gelassen hatten … ich fand es einfach extrem unpassend.

Auch Cio verzog das Gesicht. Das konnte aber auch daran liegen, dass dieses Geschenk von Tayfun kam.

„Tayfun hat mich darum gebeten euch auszurichten, dass er ziemlich lange danach gesucht hat“, erklärte Papa. „Und auch, dass er nicht aufgegeben hat, weil ihr beide euch sicher darüber freuen würdet.

Cios einzige Antwort bestand in einem Schnauben.

„Danke“, sagte ich und griff nach Papas Hand. Aber nicht um das Geschenk entgegen zu nehmen, sondern um seine Hand darum zu schließen. „Tust du mir den Gefallen und bewahrst es für mich auf?“ Ich wollte es nicht wegschmeißen, ich hatte Tayfun gerne. Aber so wie Cio das kleine Säckchen anstarrte, wollte ich es im Moment auch nicht in die Hand nehmen.

Papa schien über die Bitte zwar ein wenig verwundert, nahm die Hand aber wieder runter. „Ich werde es zu den anderen Geschenken legen.“

„Danke.“

„Und macht nicht mehr zu lange. Du musst dich noch fertig machen, in spätestens einer Stunde müssen wir los.“

Das ließ mich lächeln. „Ich weiß.“

Papa verzog das Gesicht. „Warum musstest du nur erwachsen werden?“

„Das passiert ganz automatisch“, schmunzelte ich. „Dagegen konnte ich gar nichts tun.“

Er seufzte schwer, weswegen ich ihn einfach in den Arm nehmen musste.

„Sei nicht traurig, du hast deine Sache doch gut gemacht. Und jetzt ist es an mir dir zu zeigen, was ich alles von dir gelernt habe.“

Leider munterte ihn das nicht auf, aber wenigstens war er mittlerweile so weit, mir nicht mehr ungebeten reinzureden. „Macht nur nicht mehr so lange hier draußen.“ Er gab mich wieder frei. „Und wenn ihr noch Kuchen möchtet, dann solltet ihr euch beeilen. Deine Mutter hat ihn nicht nur aufgeschnitten, der Heuschreckenschwarm da drin futtert ihn auch schon auf.“

Beeilen war gut. Als wir fünf Minuten später in die Küche kamen, war noch genau ein kleines Stück übrig, das einsam und verlassen zwischen einem Haufen Krümel darauf wartete seinem Schicksal entgegenzutreten. Cio und ich teilten es uns. Und da nicht mehr viel Kuchen da war, glichen wir das mit einem Berg Sprühsahne aus, die wir uns auch gegenseitig lachend in den Mund sprühten.

Das war eine Sauerei. Aber wenigstens hatten wir Spaß dabei.

Doch irgendwann verkündete Alina, dass es Zeit war sich fertig zu machen, weil ansonsten sie meinen Termin wahrnehmen und heute irgendjemanden heiteren würde, nur damit es eine Hochzeit gab. Dass sie dabei unauffällig in Anouks Richtung grinste, fiel wohl nur mir auf.

„Bevor du heiraten kannst“, sagte Aric, „sind ja wohl erstmal Kaspar und ich an der Reihe.“

„Ihr wollte heiraten?“, fragte Cio. Dabei wurde sein Grinsen immer breiter. „Und wer von euch beiden tragt dann das Hochzeitskleid?“

Uh, wenn Blicke töten könnten.

Ich ließ die beiden in ihrem Schabernack alleine, erklärte dass ich gleich wieder da sein würde und ging wieder hinaus in den Garten.

Ferox lauerte direkt an der offenen Hintertür auf mich. Das tat er oft. Dabei trat er aber niemals über die Schwelle. Das Haus war ihm nicht geheuer. Auch seine Hundehütte benutzter er nicht so wie sie gedacht war. Er lag daneben und auch oben drauf, aber darin hatte ich ihn noch nie gesehen.

„Hey mein Hübscher.“ Ich hockte mich zu ihm auf den Boden und versuchte seine überschwängliche Begrüßung ein wenig abzumildern. Dabei landeten ein paar seiner Haare in meinem Mund und seine Zunge einmal quer in meinem Gesicht. Hmm, lecker … Wolfssabber.

Angewidert wischte ich mir übers Gesicht und fing ihn dann am Kopf ein, bevor er mich nochmal umrunden konnte. „Okay, ganz ruhig jetzt. Wir gehen jetzt spielen, okay?“ Ich drückte meine Stirn an seine und dachte an Dinge, die er mir bereits gezeigt hatte. Wie er durch den Wald rannte, wie er witternd die Luft prüfte und wie er mich zwischen den Bäumen entdeckte.

Ich hatte keine Ahnung, ob die Kommunikation auch auf diesem Wege funktionierte, aber immer wenn ich das tat, hielt er aufmerksam still. „Finde mich“, flüsterte ich und läutete damit ein Spiel ein, dass ich mehrmals die Woche mit ihm spielte.

Fexor stellte aufmerksam die Ohren auf.

„Finde mich, Ferox, finde mich.“ Sobald ich ihn losließ, flitzte er aufgeregt zu dem Gartentor, das direkt in den Wald führte und sprang zweimal daran hinauf, bevor er unruhig hin und her lief, als wollte er sagen: „Beweg dich mal ein wenig schneller!“

Ich hatte es nicht ganz so eilig und strich ihm auch noch einmal über den Kopf, bevor ich das Sicherheitsschloss entriegelte und das Tor öffnete.

Er sprang hinaus, blieb dann aber sofort wieder stehen und schaute neugierig über seine Schulter zurück.

„Finde mich“, forderte ich ihn erneut auf, denn ich wollte ihn gerne dabei haben und im Gegensatz zu einem Hund, konnte ich ihn ja schlecht im Auto mitnehmen. Ich hatte es schon versucht, aber das war ihm genauso zuwider, wie das Haus.

Ferox gab einen Fipen von sich. Dann wirbelte er herum und verschwand in den Wäldern der Könige.

 

°°°

 

„Am liebsten würde ich dich wieder ins Auto packen, nach Hause fahren und dir für die nächsten fünfzig Jahre Stubenarrest geben.“

Ich verdrehte die Augen. Da ich bereits verwandelt war, konnte ich meinem Vater nur so kommunizieren und ihm mitteilen, was ich von seiner Überlegung hielt.

Wir waren vor einer guten Stunde an dem kleinen Hochzeitstempel im Wald der Könige angekommen. Es war ein großer Steinpavillon mit einer gläsernen Kuppel, unter der eine kleine Sporthalle Platz gefunden hätte. Die Bäume rundherum erstrahlten in einem Meer aus Rot- und Goldtönen. Der Himmel war blau und die Sonne gab einem das Gefühl einer Herbstsymphonie. Es war dort einfach wunderschön gewesen.

Nun aber befanden wir uns tief im Wald und folgten meinem Vater.

Ich hatte keine Ahnung, wo genau es hingehen sollte. Als Brautvater war es Papas Pflicht, einen Ort zu suchen, der geeignet war, um mich vor dem Raub meines finsteren Bräutigams zu schützen, damit er mich behalten konnte. Der Gedanke ließ mich schmunzeln. Papa würde es sicher freuen, wenn Cio scheitern würde und er mich nachher wieder mit nach Hause nehmen könnte. Nicht dass ich das erlauben würde.

Neben mir lachte Alina, als sie spielerisch in Anouks Flanke biss, dann um ihn herumrannte, sodass er sich mit ihr mit drehen musste, um sie nicht aus den Augen zu verlieren und dann ganz schnell das Weite suchte.

Er knurrte gespielt finster und setzte ihr sofort nach.

Aric musste einen Moment stehen bleiben, um von den beiden nicht umgerannt zu werden und trabte dann an meine Seite.

Alinas Fell war nicht Sonnengelb, wie man vielleicht vermutet hätte, nein, es war rotbraun. Bei der Verwandlung nahm sie automatisch ihre natürliche Haarfarbe an. Und genau wie Aric und Anouk, trug auch sie ein breites, silbernes Halsband, dessen Verschluss so geformt war, dass es geschlossen das Zeichen der Unendlichkeit ergab.

Traditionell trugen die Kerberosse Halsbänder, auf denen in irgendeiner Form Schwerte, Schilde oder andere Waffen abgebildet waren. Damit wollte man verdeutlichen, dass es Krieger waren, aber ich wollte keine Mordinstrumente auf meiner Hochzeit haben, nicht mal als harmlose Abbildung, also hatten wir uns für das Unendlichkeitssymbol entschieden. Meiner Meinung nach passte das auch viel besser zu einer Hochzeit.

In der Nähe mehrerer ausladender Eichen blieb Papa stehen und zog sein GPS-Gerät kurz zurate. Als Vampir war es für ihn ein wenig umständlicher, sich im Wald zu orientieren. Und auch sich zu bewegen. Manchmal hatte es schon seine Vorteile, auf vier Beinen durch die Gegend laufen zu können.

„Wir müssten gleich da sein“, erklärte Papa und korrigierte seinen Kurs ein wenig nach links.

Aus dem Gebüsch brachen lachend Alina und Anouk hervor, rannten meinen Vater fast über den Haufen, nur um gleich wieder im Unterholz zu verschwinden.

„Hey!“, rief er ihnen hinterher.

Gibt es für Kerberosse keine Regeln?“, fragte ich Aric und trottete mit ihm zusammen hinter meinem Vater her. „Sowas wie ein Verhaltenskodex?“

Früher, in alter Zeit“, bestätigte er. „Heute wird darauf nur noch selten Rücksicht genommen. Beim Hochadel kommen diese Traditionen manchmal noch zum Einsatz, aber im Allgemein ist dieses Ritual nur noch ein großes Spiel, bei dem man Spaß haben soll.“

Also Spaß hatten Alina und Anouk eindeutig. Nach meinem Geschmack vielleicht sogar ein wenig zu viel.

Irgendwo im Gebüsch kreischte meine Cousine auf. Dann hörte ich sie lachen und und um Hilfe schreien. Scheinbar hatte Anouk sie endlich erwischt.

Papa umrundete einige alte Fichten und blieb dann einen Augenblick stehen. „Das müsste es sein“, erklärte er und ging dann weiter.

Jetzt war es also so weit, nun würde ich erfahren, wo der Rest meines Lebens begann. Neugierig beschleunigte ich meine Schritte, lief um die Fichten herum und blieb dann sofort wieder stehen. Oh, okay.

Vor mir breitete sich eine große Lichtung aus, in deren Mitte ein großes, ausgebranntes Haus stand. Naja, die Reste davon standen noch. Der steinerne Kamin war noch zu einem Großteil erhalten, genau wie ein Teil der Grundmauern. Im Grunde war es nur noch eine sehr alte Ruine.

Das Feuer, dass hier einst gewütet haben musste, war schon vor sehr vielen Jahren wieder erloschen. Moos, Efeu und andere Kletterpflanzen hatten sich über die vergessenen Reste hergemacht, als wollten sie, dass es zu einem Teil der Natur wurde.

Vereinzelt schimmerte noch das Gestein hervor und hier und da erblickte schwarz verkohlte Holzbalken. In einem erhöhten Loch, wo einige Ziegelsteine sich mit der Zeit gelockert hatten und herausgefallen waren, hatte ein Vogel sein Nest gebaut.

Die Lichtung selber war mit hohem Gras und bunten Blumen wild überwuchert. Doch obwohl das hier schon seit Jahrzehnten verlassen sein musste, hatten sich weder Setzlinge noch Sträucher auf dem doch recht weitläufigen Gelände niedergelassen. Die Baumgrenze um uns herum ergab einen perfekten Kreis, so als würde der Wald es nicht wagen, dieses Gebiet für sich zu beanspruchen.

Das verlieh diesem Ort etwas … Verwunschenes. Mit ein wenig Phantasie konnte ich mir glatt vorstellen, die Reste von Rapunzels einsamen Turm gefunden zu haben.

„Große Freifläche“, erklärte mein Vater und grinste Aric an. „Keine Chance sich unbemerkt heranzupirschen.“ Er zeigte in das Geäst einer Erle. „Das Nest ist noch nicht verlassen. Amselküken.“

Davon abgesehen, dass das für diese Jahreszeit äußerst seltsam war, verstand ich sofort, was er uns damit sagen wollte. Das war ein natürliches Alarmsystem. Würde sich ein Jäger näheren, würden die Vögel Alarm schlagen. Cio hatte so gut wie keine Chance, sich uns unbemerkt zu näheren.

„Die Mauerreste können als Deckung genutzt werden“, erklärte mein Vater weiter. „Auf der Rückseite, hinter dem Kamin sind ein paar Dornenbüsche.“

Dein Vater will es ihm wohl so schwer wie möglich machen“, schmunzelte Aric.

Dem musste ich leider zustimmen. Entweder er wollte wirklich sicher gehen, dass Cio auf mich aufpassen konnte, oder – und meiner Meinung nach viel wahrscheinlicher – er wollte ihn dafür bestrafen, dass er es geschafft hatte mein Herz zu erobern.

Laut lachend brach Alina durch die Baumreihen, blieb bei dem Anblick aber abrupt stehen. „Wow“, sagte sie nur und wurde im nächsten Moment nach vorne gestoßen. Anouk hatte wohl nicht damit gerechnet, dass sie plötzlich stehen bleiben würde und schaffte es nicht mehr rechtzeitig zu bremsen. Er rammte sie und ging zusammen mit ihr zu Boden.

„Das ist dann wohl mein Stichwort.“ Papa hockte sich vor mich, strich mir durch mein schwarzes Fell und richtete mein Hochzeitshalsband mit den tropfenförmigen Perlen, die bei jeder Bewegung leise gegeneinander klimperten. „Manchmal wünschte ich, ich könnte die Zeit zurückdrehen“, murmelte er und kraulte mich hinter dem Ohr. „Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, als ich dich das erste Mal im Arm gehalten habe.“

Aric, dem wohl aufging, dass das hier gerade zu einem privaten Moment werden könnte, gab uns ein wenig Zeit und trabte zu Anouk und Alina rüber, die im Gras nun miteinander herumbalgten.

„Du warst so winzig gewesen.“

Ich streckte den Kopf vor und berührte ihn mit der Nase an der Wange.

„Ich weiß noch wie du deinen erster Schritt gemacht hast. Damals hast du meine Hand festgehalten, um nicht zu stürzen.“ Seine Stimme klang ein wenig wehmütig. „Heute gehst du deinen Weg alleine. Du brauchst nicht länger meine Hand zu halten, du stehst nun fest auf deinen eigenen Beinen.“

Oh Papa.“ Ich drängte mich gegen ihn und schob meinen Kopf in seine Halsbeuge, als er mich in die Arme nahm. So wie er das darstellte, konnte man ja glauben, das hier wäre ein Abschied für immer. Nur weil ich heute heiratete, bedeutete das doch noch lange nicht, dass ich ihn nicht mehr brauchte. Mein Vater würde immer ein wichtiger Teil meines Lebens sein, daran konnte auch dieser Tag nichts ändern.

Als er sich wieder von mir löste, könnte ich schwören, eine Träne in seinem Auge schimmern zu sehen. „Denk nur immer daran, wenn du etwas brauchst, ich bin für dich da.“

Ich weiß.“ Ich stupste ihm gegen die Nase und trat dann einen Stück zurück. Wenn das hier nicht bald aufhörte, würde ich anfangen zu heulen. Ja, ich freute mich auf das, was vor mir lag und ich wollte mein Leben trotz allem mit Cio verbringen, aber erst hier in diesem Augenblick wurde mir klar, wenn man in eine neue Phase seines Lebens eintauchte, ließ man die alte hinter sich. Das war nicht unbedingt schlecht, aber man ließ eben doch einen Teil hinter sich.

Ich wusste, dass er immer für mich da sein würde, wenn ich ihn brauchte, und dennoch … nach dem heutigen Tag würde alles ein wenig anders sein.

Langsam erhob mein Vater sich wieder. Dabei versuchte er sich unbemerkte die Träne aus dem Augenwinkel zu wischen. „Ich denke, es ist dann jetzt für an der Zeit zu gehen.“ Beinahe schon wehmütig strich er mir noch einmal über den Kopf. „Pass auf dich auf, Kleines. Wir sehen uns dann beim Pavillon.“

Zum Zeichen, dass ich ihn verstanden hatte, leckte ich ihm einmal über die Hand und sah sowohl Stolz, als auch Wehmut in seinen Augen.

Er sah so traurig aus, dass ich gar nicht anders konnte, als mich noch einmal gegen seine Beine zur drücken. Gerne hätte ich ihm noch versichert, dass ich ja nicht aus seinem Leben verschwinden würde, nur – naja – aus seinem Haus. Wenn da nur nicht die lästige Sprachbarriere wäre.

In der Ferne hörte ich das durchdringende Heulen eines Wolfes. Es kam nicht von Cio. Der würde den Wald erst nach Papas Rückkehr zum Hochzeitstempel betreten. Nein, es gehörte Ferox, er suchte mich.

Ich warf den Kopf in den Nacken und heulte zum Himmel hinauf.

Ferox' Antwort kam umgehend.

Das ließ mich lächeln. Dieser Wolf war unglaublich. Also, entweder verfügte er über ein extrem guten Geruchssinn, oder er hatte einfach ein unfehlbaren Instinkt. Einen Peilsender jedenfalls trug ich nicht bei mir.

Da Papa sich noch immer nicht in Bewegung gesetzt hatte und damit im Grunde nur das Unvermeidliche herauszögerte, trat ich wieder näher und drückte meinen Kopf solange gegen seine Beine, bis er sich endlich in Bewegung setzte.

„Ja, ist ja schon gut, ich gehe ja schon“, beschwichtigte er mich, kraulte mich zum Abschied aber noch mal kurz hinter dem Ohr. „Wir sehen uns bei der Trauung“, versprach er noch, dann kehrte er mir den Rücken und ich konnte dabei zusehen, wie er langsam über die Lichtung davon ging, bis er von dem herbstlichen Wald mit den farbenfrohen Bäumen geschluckt wurde.

Ja, nach dem heutigen Tag würde sich wirklich einiges ändern. Aber ich hatte den starken Verdacht, dass viele andere Dinge genauso bleiben würden, wie sie waren.

Einen Moment blieb ich einfach nur stehen, schloss die Augen und genoss den frischen Wind, der durch mein Fell streifte. Ich lauschte auf die Geräusche des Waldes und das Rascheln der Bäume. Ich liebte den Wald. Ich liebte die Natur. Vor allen Dingen aber liebte ich Cio und dies hier war unser Tag.

Mit eine tiefen Atemzug öffnete ich die Augen wieder und gesellte mich an Arics Seite. Alina und Anouk rauften noch immer miteinander. Im Moment stand sie gerade über ihm und kaute ihm am Hinterbein herum, während er ausgelassen lachte. Dabei versuchte er sie mit den Vorderbeinen wegzudrücken.

Es war schon irgendwie erstaunlich. Ich hatte meinen Cousin noch nie so vergnügt erlebt. Das war Alinas Talent. Sie schaffte es bei jedem, das Beste an ihm zu Tage zu befördern, ohne etwas groß dafür tun zu müssen. Vielleicht war es ja genau das, was Anouk so an ihr reizte. Sie war eben etwas ganz Besonderes. Ja selbst Kasper sah das so, obwohl der das natürlich niemals zugegeben hätte.

Apropos Kasper. „Habt ihr beide euch wieder vertragen, oder werdet ihr heute mal wieder so tun, als würdet ihr euch nicht kennen, nur um euch dann gegenseitig aus der Ferne anzuschmachten?“ Vor vier Tagen hatte ich nämlich zufällig herausgefunden, dass die beiden sich mal wieder gezankt hatten.

Uh, große Brüder konnten wirklich finster gucken. „Ich schmachte nicht.“

Nein“, stimmte ich ihm zu. „Du starrst ihn nur die ganze Zeit an, als wolltest du ihn dir am liebsten wie ein Neandertaler über die Schulter werfen, um ihn in deine Höhle zu schleifen, während er in einer anderen Ecke steht, dich beobachtet und sich fragt, warum du das nicht einfach tust.“

Er schnaubte. „Kasper würde mich umbringen, wenn ich sowas auch nur versuchen würde.“

Ich wartete einfach.

Wir haben uns heute morgen vertragen“, sagte er dann, während er zuschaute, wie Anouk sich auf meine Cousine warf, um ihr verspielt in den Nacken zu beißen.

Du hörst dich aber nicht sehr glücklich an.“

Weil das Problem damit noch nicht aus der Welt ist. Es macht ihn einfach fertig, den ganzen Tag Zuhause zu sitzen und nichts zu tun zu haben.“ Einen Moment schwieg er. „Ich verstehe ihn ja, aber ich kann es doch auch nicht ändern.“

Da musste ich ihm leider zustimmen. „Was ist aus der Überlegung geworden, dass er sich außerhalb von Silenda einen Job sucht?“

Das ist alles zu weit entfernt. Er wäre dann höchstens noch zum Schlafen Zuhause, wenn überhaupt.“

Und das gefällt mir dir nicht.“

Nein, aber ich würde nichts dagegen sagen. Er ist es, der es nicht machen will. Er sagt, wenn er nur noch am Wochenende zum Poppen bei mir auftaucht, könnte er auch gleich wieder Single werden.“

Jup, das klang ganz nach Kasper. „Was wollt ihr also tun?“ So konnte es schließlich nicht ewig weitergehen.

Ich habe überlegt wegzuziehen.“

Überrascht drehte ich mich zu ihm um.

Ich hab es ihm noch nicht gesagt, aber … bei Hamburg gibt es einen Randbezirk, der ausschließlich von Lykanern bewohnt wird.“

Du willst in die Stadt ziehen?“ Das war … ungewöhnlich. Kein Lykaner lebte gerne in der Stadt. Zu voll, zu laut und es stank zum Himmel. Es gab kaum Natur und man musste ständig aufpassen und vor den Menschen auf der Hut sein. Es wäre nämlich nicht sehr ratsam, wenn die mitbekämen, dass der Nachbar sich regelmäßig einen Pelz wachsen ließ.

Es ist nur eine Überlegung.

In Städten hielten sich eigentlich nur Simultanen auf und das auch nur, weil das Rudel der Könige ihnen woanders keinen Platz zugestand. Moment. „Soll das heißen … du würdest das Rudel verlassen?“ Allein der Gedanke entsetzte mich schon.

Er zuckte nur ein wenig hilflos mit den Schultern. „Es wäre ganz ähnlich wie hier in Silenda, nur ohne Vampire. Als mein Gefährte würde ihm dort niemand den Zutritt verweigern. Bei den Simultanen gibt es kein Gesetz, dass es verbietet, Menschen zu Eingeweihten zu machen und Hamburg ist groß. Dort wäre es für ihn sicher ein Leichtes, Arbeit zu finden. Ich denke, er wäre dort glücklicher.“

Wahrscheinlich. Trotzdem gefiel mir dieser Gedanken nicht. Nicht nur, dass mein bester Freund und mein großer Bruder dann am anderen Ende des Landes leben würden, sie würden nicht einmal mehr zum Rudel gehören, was den Kontakt zu ihnen schwer machen würde. Trotz all der politischen Anstrengenden, waren die Beziehungen zwischen den einzelnen Rudeln noch immer schwierig.

Und du?“, fragte ich ihn, „wärst du auch glücklich?“

Das ist das Problem, ich weiß es nicht.“ Er seufzte. „Es würde ihm besser gehen. Viele der Spannungen zwischen uns würden sich dadurch vermutlich einfach in Luft auflösen, aber wie würde es sein, in einem anderen Rudel zu leben?“

Noch dazu als Alpha.“

Er gab ein bitteres Geräusch von sich. „Ja, das ist wohl eines der Hautprobleme.“

Im Rudel der Könige wurden geborene Alphas akzeptiert, solange sie nicht versuchten, dass Rudel für sich zu gewinnen. Das wurde dann nämlich als Herausforderung angesehen, was bedeutete, dass er sich der ganzen Königsfamilie würde stellen müssen. Wenn er es schaffte, die Familie zu schlagen, würde er selber den Platz als Alpha des Rudels annehmen, wenn nicht, müsste er im besten Fall das Rudel verlassen. Im Schlimmsten … naja, im Schlimmsten würde er nie wieder etwas tun.

Bei den meisten Simultanen lief das ein wenig anders ab. Fremde Alphas wurden nicht geduldet. Entweder man verjagte sie, oder tötete sie einfach, bevor sie einem das Rudel streitig machen konnten.

Würde das Rudel bei Hamburg dich aufnehmen?“

Wahrscheinlich. Das Rudel ist verhältnismäßig groß und Kiara hat mir erzählt, dass es dort mehrere geborene Alphas gibt, die nicht zur Herrschaftsfamilie gehören.“

Aber?“

Sie arbeiten alle für den Obersten. So kann er sie ständig im Auge behalten.“

Um im Notfall sofort eingreifen zu können. Das war nicht dumm. „Und du glaubst, dass du nicht in der Lage wärst, dich ihm unterzuordnen.“

Ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann. Hier gehöre ich zur Herrschaftsfamilie. Offiziell bin ich zwar kein Alpha mehr, aber meine Großcousine ist die Königin und das erlaubt mir einige Freiheiten, die ich dort sicher nicht hätte.“

Schwierige Situation.“

Er schnaubte. „Das ist noch harmlos ausgedrückt.“

Und wenn ihr einfach in einen kleinen Ort zieht? In Arkan zum Beispiel. Ich weiß, dass ein Teil der Anwohner in den angrenzenden Ortschaften der Menschen arbeitet.“

Das wäre natürlich auch eine Möglichkeit, aber das würde halt auch bedeuteten …“

Ein Knacken links um Unterholz, ließ uns beide aufblicken. Ich musste über Arics Rücken hinweg schauen, um dem Geräusch folgen zu können und übersah Ferox beinahe. Ganz langsam und vorsichtig schob er sich zwischen ein paar Sträuchern hindurch, erstarrte aber sofort, als ich ihn bemerkte.

Erst wunderte ich mich, warum er nicht einfach heraus kam, aber dann wurde mir klar, dass ihn sowohl Aric, als auch die beiden Raufbolde ein Stück weiter verunsicherten. Also erhob ich mich und entfernte mich ein wenig von den Anderen. Die Reaktion kam prompt. Erst hob er den Kopf, dann winselte er einmal und dann schoss er heraus und begann mich zu begrüßen, indem er mich immer wieder überschwänglich ansprang und ein paar Mal zwickte. Ehrlich, das musste ich ihm ganz dringend abgewöhnen, sonst würde ich irgendwann voller Löcher sein.

Ich knurrte einmal, um ihn zurechtzuweisen und ging dann wieder zu Aric.

Er ließ sich davon nicht einschüchtern. Er hüpfte schon beinahe vor Freude, als er mich begleitete, aber als ich mich dann wieder neben meinen Bruder setzte, zögerte er unsicher.

Nun komm“, sagte ich und legte mich ganz entspannt hin. Bis Cio auftauchte, würde es noch ein wenig dauern. „Keine Angst, er beißt nicht.“

Bist du dir da sicher?“, fragte Aric schmunzelnd.

Ich schnappte verspielt nach ihm.

He“, schimpfte er und schnappte nun seinerseits nach mir.

Hey, ich bin die Braut, du musst nett zu mir sein.“

Warum sollte ich nett sein, wenn du so rotzfrech bist?“

Rotzfrech? Oh, ich würde ihm gleich zeigen, wer hier rotzfrech war. Ich fixierte ihn und stürzte mich dann auf ihn. Dass ich Aric dabei umwarf, gelang mir wohl nur, weil ich den Überraschungsmoment auf meiner Seite hatte.

Ferox jedoch, schaute nur verdutzt dabei zu, was sich hier vor seiner Nase abspielte. Während ich mit Aric rangelte und auf dem Boden herumrollte, lief er winselnd neben uns auf und ab, als sei er sich nicht ganz sicher, was er nun tun sollte. Ich war nicht in Gefahr, aber er kannte dieses anderen Wolf auch nicht. Das war seltsam für ihn.

Solltet ihr damit nicht warten, bis Cio da ist?“, fragte Anouk. Er lag auf dem Bauch und beobachtete uns.

Alina turnte auf seinem Rücken herum, hielt bei seinen Worten jedoch inne und wandte sich zu uns um. „Ach, so ein bisschen Vorarbeit kann schon nicht schaden.“

Aber was wird der Bräutigam sagen, wenn er hier ankommt und die Braut nichts mehr für ihn übrig gelassen hat?“, hielt er dagegen.

Genau, als wenn ich die drei alleine fertig machen könnte.

Leichtfüßig sprang Alina neben ihn und setzte sich auf ihren Hintern. „So wie ich Cio kenne, wird er vor Stolz auf seine Gefährtin platzen.“

Ja, diese Einschätzung teilte ich. Trotzdem beendete ich die Rangelei recht schnell, um nicht völlig zerrupft auszusehen, wenn Cio nachher hier ankam. Naja, nicht noch zerrupfter, als ich es im Moment eh schon tat.

Ferox dagegen beobachtete uns noch immer völlig fasziniert. Plötzlich sprintete er los, kniff mir mit den Zähnen in die Schulter und hopste eilig aus meiner Reichweite.

Au!“, schimpfte ich und fuhr zu ihm herum, doch da hatte er sich schon wieder in Bewegung gesetzt. Nur war dieses Mal nicht ich sein Ziel, sondern Aric.

Der war einen Moment verblüfft, als ihn da so ein vorlauter Wolf in den Hintern zwickte, dann einmal um mich herum rannte, um anschließend neugierig auf seine Reaktion zu warten.

Ich glaube er möchte mitspielen“, überlegte Alina, erhob sich und lief schwanzwedelnd auf ihn zu.

Ferox wich sofort unsicher einen Schritt vor ihr zurück, doch als sie sich dann vor ihn kauerte und ihn mit ein paar Kläfflauten zum Spielen aufforderte, war er nicht abgeneigt. Er schaute von ihr zu mir, winselte einmal und attackierte dann sie. Es endete damit, dass die beiden sich gegenseitig kreuz und quer über die Lichtung jagten. Dabei schien Alina nicht weniger Spaß zu haben, als er

Anouk jedoch beobachtete das Spiel misstrauisch.

Mach dir keine Sorgen“, beruhigte ich ihn. „Er ist harmlos.“

Ob er mir nun glaubte oder nicht, er ließ die beiden nicht aus den Augen. Naja, zumindest nicht, bis die beiden Fersengeld gaben und zwischen den Bäumen verschwanden.

Und er ist weg“, fügte Aric ein wenig trocken hinzu.

Anouk seufzte, arbeitete sich schwerfällig auf die Beine und trottete den beiden hinterher. Er hatte die Lichtung schon halb überquert, als Aric plötzlich ein Quietschen von sich gab und wie von der Tarantel gestochen aufsprang.

Was ist?“, fragte ich, als er nach hinten schaute. Nein, nicht nach hinten, er schaute auf seine Flanke.

Ein paar seltsam genuschelte Worte drangen in meinem Kopf, ergaben aber keinen Sinn. Allein an der Stimme erkannte ich, dass sie von meinem Bruder stammten.

Aric?“

Er hob den Kopf. Sein Blick wirkte seltsam trüb und er schien auf einmal Schwierigkeiten zu haben sich auf den Beinen zu halten. Wieder nuschelte er etwas und wieder verstand ich kein Wort.

Ich erhob mich. „Was ist mit dir?“

Noch bevor er überhaupt die Chance bekam, etwas dazu zu sagen, schallte ein schmerzverzerrtes Jaulen über die Lichtung. Fast in der selben Sekunde hörte ich, wie Anouk panisch Alinas Namen ausstieß.

Ich wirbelte herum, entdeckte aber keinen der beiden. Verdammt, was war den jetzt los? Hatte Ferox etwas … oh mein Gott, hatte Ferox etwas Alina gebissen? Aber … nein, das würde er nicht machen, er …

Neben mir gab es einem dumpfen Aufschlag.

Aric!“, rief ich und wirbelte zu ihm herm. Er war zusammengebrochen. Schnell stellte ich fest, dass er sich zwar nicht bewegte und seine Augen fest verschlossen waren, er aber noch atmete. Nur leider beruhigte mich das gerade irgendwie nicht. „Aric“, versuchte ich es noch einmal und stieß ihn an, aber er reagierte nicht. „Aric, wach auf“, murmelte ich und schaute unruhig in die Runde. „Alina?“, rief ich laut und schickte auch noch ein Jaulen hinterher. „Anouk!“

Keine Antwort. Dafür raschelte es plötzlich neben mir im Gebüsch.

Ich spannte mich an. Mit einem Mal fühlte ich mich nicht mehr allzu gut in meiner Haut. Das Fell in meinem Nacken sträubte sich. Ich machte einen vorsichtigen Schritt zurück und wäre vor Schreck fast in die Luft gesprungen, als Ferox angerast kam. „Mein Gott!“, knurrte ich ihn an und versuchte mein Herz dazu zu bewegen, sich wieder zu beruhigen. „Erschrecke mich doch nicht so!“

Ferox duckte sich unter meinem Knurren ein wenig, schaute dann kurz über die Schulter und huschte eilig an meine Seite. Dabei ließ er den Wald keinen Moment aus den Augen. Seine Ohren drehten sich unentwegt hin und her und seine Körperhaltung war angespannt. Der Stummel zeigte nach unten.

Verdammt, was war hier los. „Alina?“, rief ich noch einmal, bekam aber wieder keine Antwort. Dafür hörte ich plötzlich ein tiefes Knurren, gefolgt von einem schmerzhaften Aufjaulen.

Alina!“, rief Anouk und dann war die Luft plötzlich erfüllt von den Geräuschen einer wilden Beißerei. Nicht dort wo sie hingelaufen waren, sondern links von mir. Die Geräusche kamen aus der Richtung, aus der auch Ferox gekommen war.

Unsicher machte ich einen Schritt auf die Geräusche zu, blieb dann aber auch sofort wieder stehen. Nicht weil ich nicht wissen wollte, was da los war, ich konnte Aric nicht einfach hier liegen lassen. Besonders nicht, wenn ich nicht wusste, warum er einfach umgefallen war. Niemand fiel so einfach um. Besonders dann nicht, wenn es ihm die ganze Zeit gut gegangen war.

Auf einmal raschelte es wieder im Gebüsch.

In Erwartung Alina oder Anouk zu sehen, reckte ich den Hals, doch Ferox begann tief aus der Kehle zu knurren. Sein Pelz sträubte sich und mit einem mal war er genauso groß wie ich. Das machte mir nervös. Mein ganzer Körper begann sich anzuspannen.

Neben einem dicken Baumstamm tauchte gemächlich ein dunkelgrauer Wolf auf, der anhiel, sobald er meiner ansichtig wurde. Es war eindeutig ein Lykaner. So groß waren keine wilden Wölfe. Die Ohren aufgerichtet, stand er einfach nur da und schaute mich an.

Unsicher was ich jetzt tun sollte, blieb ich einfach stehen und starrte zurück. So bemerkte ich den zweiten Wolf, der neben ihm auftauchte, sofort. Braun, etwas kleiner und schlanker. Eine Hündin.

Ferox zog seine Lefzen höher.

Ich konnte ihm nur zustimmen, diese Situation machte mich zunehmend nervös. Mein Blick ging kurz in die Richtung, aus der immer noch die Geräusche der Keilerei an meine Ohren drangen und als ich wieder nach vorne schaute, standen da auf einmal fünf Wölfe, die mich schweigend beobachteten, als würden sie auf etwas Bestimmtes warten.

Mein Herzschlag beschleunigte sich auf ein ungesundes Maß. Hier war etwas faul, so sollte das nicht ablaufen. Vielleicht waren das ja nur ein paar Wanderer, die zufällig meinen Weg kreuzten. Das würde zwar das Auftauchen der Fünf Wölfe vor mir erklären, aber leider nicht die Geräusche der Keilerei. Oder Arics Zusammenbruch. „Verschwindet!“, rief ich ihnen zu. Genau, bloß keine Angst zeigen.

Der große Graue lachte leise. „Oh kleiner Welpe“, höhnte er in einem herablassenden Tonfall. „Das werden wir mit Sicherheit nicht tun.“

Die Stimme kam mir bekannt vor, aber ich konnte sie nicht zuordnen.

Zu meiner Rechten erklang ein lautes schmerzverzerrtes Jaulen. Anouk.

Jetzt bekam ich langsam Panik. Was geschah hier? Wo war Alina und warum zu Hölle wachte Aric nicht auf, um mal wieder den großen Bruder raushängen zu lassen?

Als die fünf Wölfe sich plötzlich auf mich zuzubewegen, wurde mir klar, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Ich trat zurück. Ein Schritt, noch ein Schritt. Ich wollte wegrennen, aber ich durfte nicht. Ich konnte Aric nicht einfach hier liegen lassen, sie könnten sonst etwas mit ihm tun.

Aber vielleicht, wenn ich sie von ihm weglocken würde … dann könnte ich auch Hilfe holen. Wie lange würde es noch dauern, bis Cio den Wald betrat? Hatte Papa schon den Hochzeitstempel erreicht? Auf dem Weg hier her hatten wir eine knappe Stunde gebraucht, aber wir waren noch keine Stunde hier, oder? Und selbst wenn, Cio wäre dann trotzdem zu weit entfernt, um etwas tun zu können.

Ich konnte hier nicht stehen bleiben, ich musste ihm entgegen laufen, dass wäre unsere einzige Chance. Mit dem Mut der Verzweiflung, rannte ich los. Ich stieß mich so plötzlich ab, dass ein paar Blätter in die Luft flogen und die fünf Wölfe einen kurzen Moment verdutzt stehen blieben, weil ich in ihre Richtung rannte. Doch dreißig Meter vor ihnen, schlug ich einen Haken nach rechts und tauchte dann zwischen den Bäumen unter.

Ich erlaubte mir nur einen kuren Blick über die Schulter, um mich zu versichern, dass sie alle hinter mir waren. Nicht das ich etwas daran hätte ändern können, wenn es nicht so wäre. Aber sie waren da, genau wie Ferox, der versuchte nicht den Anschluss zu verlieren.

Plötzlich tauchten vor mir vier weitere Wölfe wie aus dem Nichts auf und brachten mich so dazu, abrupt stehen zu bleiben. Sie schnitten mir nicht nur den Weg ab, sie kamen auch lauernd näher, während ich hinter mir die anderen Wölfe herannahen hörte.

Mein Blick ging panisch zurück, dann machte ich eine viertel Drehung und rannte nach Nordosten. Ferox blieb in meinem Windschatten. Keine Ahnung was hier los war, aber mir war klar, dass ich das nicht alleine bewältigen konnte. Ich musste zurück zum Tempel, ich musste Hilfe holen. Ich musste verdammt noch mal aufhören kopflos rumzurennen.

Die Geräusche unzähliger Pfoten verriet mir, dass die Fremden die Verfolgung aufgenommen hatten. Ein paar lachte und jaulten, als wollten sie mich anspornen, doch etwas schneller zu laufen.

Oh Gott, was war hier los?

Ich kam vielleicht fünfzig Meter weit, bevor vor mir zwei weitere Wölfe auftauchten. Einer davon beugte sich gerade über einen regungslosen Körper am Boden. Anouk.

Der Anblick ließ mich erstarren. Da war Blut, so viel Blut. An ihm und auch an den Schnauzen er beiden Wölfe. Sie wirkten beide ziemlich zerrupft und der größere von ihnen hatte eine böse Wunde an der Schulter. Und Anouk … er bewegte sich nicht. Atmete er noch? Ich konnte es nicht erkennen. Ein Wimmern kroch aus meiner Kehle, als die beiden Wölfe ihre Blicke auf mich richteten und sich dann langsam in Bewegung setzten – genau auf mich zu.

Was wollt ihr von uns?!“ Wieder zwangen sie mich dazu, vor ihnen zurück zu weichen. Ich wollte nicht in ihre Nähe gelangen. Aber Anouk … ich konnte nicht weglaufen, ich musste ihm doch helfen. Oh Gott, was hatten sie nur mit ihm gemacht. Und … Alina! Wo war Alina?

Eine Einladung für eine ganze besondere Party aussprechen“, lachte eine Stimme viel zu nahe hinter mir.

Ich sprang herum und musste dabei feststellen, dass ich mittlerweile von elf Wölfen umzingelt war, die bedrohlich immer näher rückten. „Geht weg!“

Das ließ ein paar von ihnen lachen.

Nicht ohne dich“, verkündete der große Graue. „Holt sie euch.“

So schnell wie die Meute sich auf mich stürzte, bekam ich gar nicht mehr die Gelegenheit ihnen auszuweichen. Mindestens drei Körper krachten gegen mich. Irgendwer packte mich mit den Zähnen im Nacken und drückte mich mit der Nase in den Dreck. Mein Bein wurde verdreht. Ich jaulte auf.

Ganz in der Nähe knurrte und kläffte Ferox.

Wäre ich nicht so panisch gewesen, hätte ich wohl versucht nachzuschauen, was mit ihm los war, aber so konnte ich nur hilflos am Boden herumzappeln und versuchen meine Kehle vor Bissen zu schützen, während ein halbes Dutzend Wölfe mich grob auf den Boden drückte.

Irgendwer riss an meiner Kette, bis sie klimpernd in das trockene Laub fiel.

Ich wimmerte. Die Angst hatte mich mit einem mal so heftig in ihren Klauen, dass ich nicht nur anfing zu zittern, ich bebte geradezu. Ich hatte keine Ahnung was hier los war oder was sie von mir wollten. Was hatte ich getan? Ich kannte diese Leute nicht einmal.

Ferox jaulte auf und dann konnte ich ihn verängstigt weglaufen hören. Warnendes Knurren, ein siegreiches Schnauben. „Und komm ja nicht wieder du Flickenteppich!“

Ein Biss in die Schnauze zwang mich zur Bewegungslosigkeit. Oh Gott, nein, bitte, nein.

Der große Graue trat in mein Sichtfeld und schaute triumphierend auf mich hinab. „Warum alle dich für so was Besonderes halten, ist mir wirklich schleierhaft.“

Ich wagte es nicht etwas darauf zu erwidern. Ich hätte sowieso nicht gewusst was. Ich wusste ja nicht mal, was hier los war.

Dann hör mich jetzt mal gut zu, du kleine Schlampe.“ Der große Graue beugte sich zu mir herunter, bis sich unsere Nasen fast berührten. Sein Atem roch unangenehm und dieser kalte Blick, schien mich durchbohren zu wollen. „Wir Hübschen werden jetzt einen kleinen Ausflug machen und du wirst artig und ohne Zickereien mitkommen.“

Was? Nein, nein, nein. Ich wimmerte und zuckte zurück. Leider bohrten sich dadurch die Zähne fester in meine Schnauze.

Wenn du tust was ich dir sage, wird dir nichts passieren. Wenn du mich verärgerst, wird das Konsequenzen haben, die dir sicher nicht gefallen werden. Hast du das verstanden?“

Ich konnte nur hilflos zu ihm hinauf schauen. Aber das schien auszureichen, um ihn zufrieden zu stellen. Er richtete sich wieder auf, befahl „Abmarsch“ und setzte sich in Bewegung.

Das erdrückende Gewicht der anderen Wölfe verschwand nach und nach. Der Griff um meine Schnauze ließ erst zum Schluss von mir ab. Ich war frei. Aber ich schaffte es nicht mich zu bewegen. Meine Angst lähmte mich. Ich war umzingelt und würde es niemals schaffen ihre Reihen zu durchbrechen. Dafür waren es einfach zu viele.

Los, komm in die Gänge.“ Ein brauner Rüde stieß mich sehr unsanft in die Seite und biss nach meiner Flanke, als ich nicht sofort auf die Beine kam. Im Moment blieb mir gar nichts anderes übrig, als genau das zu tun, was sie von mir verlangten. Also setzte ich, eingekesselt zwischen ihnen, eine Pfote vor die andere und zwang mich dazu, nicht in blinde Panik zu verfallen. Egal was hier los war, das würde sich doch sicher klären lassen. Ein Missverständnis, mehr nicht. Sie verwechselten mich. Anders konnte es gar nicht sein. Nicht dass ich das hier jemand anderem wünschte, aber ich hatte nichts Falsches getan.

Aber war was mit Aric und Anouk? Und wo war Alina?

Meine Rute klebte praktisch unter meinem Bauch, als sie mich von dem blutigen Leib meines Cousins wegbrachten. Ich wagte es nicht einmal einen Blick zurück auf den regungslosen Körper zu werfen. Lebte er noch? Was hatten sie mit ihm gemacht? Anouk war kein einfacher Gegner, aber nun lag er da.

Das Knurren von dem großen Grauen machte mich darauf aufmerksam, dass da jemand im Gebüsch lauerte und uns genau im Auge behielt. Ferox. Er war nicht weggelaufen. Er war hier, aber er traute sich nicht näher zu kommen. Auch er hatte gegen diese Übermacht keine Chance.

Plötzlich erklang in weiter Ferne ein durchdringendes Heulen, das durch den ganzen Wald schallte und mein verängstigtes Herz vor Freude einen Sprung machen ließ. Cio, er war hier. Er begab sich auf die Suche nach mir.

Bevor ich irgendwie auf das Heulen reagieren konnte, stürzte der große Graue sich auf mich und warf mich zu Boden. Seine Zähne schlossen sich schmerzhaft um meine Kehle. „Kein Ton.“

Ich konnte nichts anderes tun, als ihn mit großen Augen anzuschauen. Ich wagte es kaum zu atmen, aus Angst etwas Falsches zu tun und damit seinen Zorn zu wecken.

Schön dass wir uns verstehen.“ Der große Graue gab mich wieder frei.

Als dann aber ganz in der Nähe ein Heulen zum Himmel schallte, war ich nicht die einzige, die sich überrascht nach dem Ursprung umsah.

Der Flickenteppich“, knurrte ein Wolf hinter mir.

Der große Graue grollte in der Kehle. „Kümmert euch um das Mistvieh.“

Nein!“ Ich sprang auf, fiel aber sofort wieder zurück, als sein Blick sich auf mich richtete. „Bitte“, flehte ich. „Er ist doch nur ein harmloses Tier.“

In der Ferne hörte ich wieder Cios heulen. Das war wohl eine Reaktion auf Ferox' Ruf. Ich wollte Antworten. Jede Faser meines Körpers schrie mich an auf diesen Ruf zu reagieren. Ich wollte, dass er kam und mich aus dieser Hölle befreite. Doch er war zu weit entfernt. So schnell war nicht einmal Cio.

Und gleich wird er nur noch ein Stück totes Fleisch sein“, beschied der große Graue. „Los jetzt. Ihr drei bringt ihn zum schweigen, der Rest kommt mit mir zum Wagen.“

Oh Bitte, nein, das konnten sie doch nicht tun. Aber die Wölfe teilten sich sofort auf und ich wurde eilig weiter getrieben. Dabei war es ihnen egal, dass ich immer wieder über meine zitternden Beine stolperte. Wenn ich zu langsam wurde, bissen sie einfach nach mir, um mich immer schön in Bewegung zu halten.

Wir waren noch nicht weit gekommen, als Ferox ein weiteres Mal zum Himmel heulte. Das gab mir ein kleinen wenig Hoffnung. Doch das Heulen brach ab und wurde durch ein ein ängstliches Quietschen ersetzt.

Ferox!

Mir blieb keine Gelegenheit nachzuschauen, was da los war. Der Wilde war schlau und schnell, aber hatte er auch eine Chance gegen drei Gegner? Ich war mir nicht sicher.

Als wieder Cios Gesang durch den Wald hallte, war ich den Tränen nahe. Dieses Mal bekam er überhaupt keine Antwort und das ängstigte mich so sehr, dass mein Herz ins Stocken geriet. Er jaulte noch mal und nach einer Minute hörte ich ihn wieder, doch sein Gesang blieb unbeantwortet. Ob er verstand, dass hier etwas nicht stimmte?

Oh Gott, das sollte doch der schönste Tag in meinem Leben werden und nun wurde er zu einem Alptraum und ich wusste absolut nicht, was ich dagegen unternehmen sollte.

Es dauerte nicht lange, bis wir einen weißen Transporter erreichten, der auf einem alten Waldweg parkte. Zwei mir unbekannte Männer lehnten daran. Eine blies gerade den Rauch seiner Zigarette aus dem Mund.

„Das seid ihr ja endlich“, murrte er, drückte sich vom Wagen ab und riss die Seitentür auf.

Bis auf eine große Hundetransportbox schien der Innenraum leer zu sein. Mir schwante Böses.

Die beiden Männer zogen die Box ein wenig nach vorne. Einer öffnete die Gittertür, dann schauten sie abwartend zu uns hinüber.

Der große Graue wandte sich direkt an mich. „Geh freiwillig hinein, oder wir zwingen dich. Mir ist beides Recht.“

Ich konnte nichts gegen das klägliche Wimmer in meiner Kehle tun. Ich wollte da nicht rein – unter keinen Umständen. Das erinnerte mich viel zu sehr an die Entführung durch Darja und Greta. Aber genau das war es doch auch, oder? Nur warum? Der Amor-Killer war doch tot. Es hatte seit Wochen keine Opfer mehr gegeben. Aber vielleicht … vielleicht waren das Freunde von Rouven, die sich an mir rächen wollten? Er war immerhin ein hochangesehener Betawolf mit reichlich Anhängern gewesen. Oder vielleicht gehörten diese Leute ja auch zu Leukos Nachkommen, dieser Gruppe, denen er angehört hatte.

Eigentlich aber war es auch nicht wichtig, wer sie waren. Egal wie man es drehte und wendete, ich wollte absolut nicht in diese Box. Wer wusste schon, was dann mit mir passieren würde. Aber was hatte ich denn sonst für eine Wahl? Wenn ich nicht gehorchte …

Ein Biss in die Flanke ließ mich aufjaulen und nach vorne stolpern.

Letzte Chance“, verkündete der Graue. „Geh in die Box.“

Meine Augen begannen fürchterlich zu brennen. Alles in mir sträubte sich allein bei dem Gedanken, dort hinein zu springen. Und dennoch setzte ich mich unter den wachsamen Blicken langsam in Bewegung. Niemand hatte Mitleid mit mir. Niemanden interessierte es, dass ich vor Angst am ganzen Körper zitterte, als ich die Vorderpfoten in die Öffnung stellte und dann einfach erstarrte. Ich konnte das nicht, ich brachte es einfach nicht fertig.

„Jetzt reicht es mir“, knurrte der Mann mit der Zigarette, packte mich und stieß mich grob in die Box hinein. Ich knallte mit dem Kopf gegen die Rückseite und spürte einen Schmerz im Bein, als sie versuchten die Box zu schließen, bevor ich alle Gliedmaßen hineingezogen hatte.

Das Schloss klickte mit einer Endgültigkeit zu, die mein Puls viel zu schnell schlagen ließ.

Die Box war nicht groß. Ich musste mich klein zusammenkauern, um überhaupt genug Platz zu finden. Als sie dann zurück in den Wagen geschoben wurde, knallte ich mit der Schnauze gegen das Gitter.

Warum passierte sowas immer mir? Ich wollte hier weg.

Sobald die beiden Männer zur Seite traten, sprangen die Wölfe einer nach dem andren in den Innenraum und machten es sich dort bequem. Aber erst als die drei Feroxjäger zurück kamen, läuteten die Männer zum Aufbruch.

Ich konnte nichts anderes tun als dabei zuzusehen, wie sie die Seitentür des Wagens zuschlugen. Doch bevor sie sich ganz schloss, als nur noch ein kleiner Spalt Tageslicht in den Innenraum fiel, konnte ich einen grauen Wolfskopf mit einem zerfledderten Ohr im Unterholz kauern sehen. Ferox. Sie hatten ihn nicht erwischt. Nur leider würde mir das nun auch nicht mehr helfen.

 

°°°°°

Sadistische Spiele

 

Langsam rollte der weiße Transporter aus. Er schaukelte noch einmal hin und her, dann stand er still. Als der Motor dann auch noch ausgestellt wurde, begann die Meute um mich herum unruhig zu werden.

Ich zitterte am ganzen Körper. Nicht nur, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich gelandet war, weil die Ladefläche kein Fenster besaß, an dem ich mich hätte orientieren können, man hatte mir noch immer nicht gesagt, was das ganze bedeutete, oder warum sie das taten. Auch aus den leisen Gesprächsfetzen der Anwesenden hatte ich nichts heraushören könne, was für mich von Bedeutung gewesen wäre. Das einzige was ich wusste war, dass sie irgendetwas mit mir vorhatten. Sonst hätten sie sich sicher nicht die Mühe gemacht mich einzufangen, in eine Transportbox für Hunde zu stopfen und anschließend stundenlang durch die Gegend zu fahren.

Sicher hatte man bereits entdeckt, dass ich verschwunden war. Sie mussten einfach bemerkt haben, dass ich weg war. Nur glaubte ich nicht, dass mir das im Moment half. Ich trug keinen Peilsender, kein Handy, ja selbst mein Halsband war verloren gegangen. Niemand würde kommen um mich zu retten, genau wie das letzte Mal. Nur hatte ich es dieses Mal mit mehr als drei Gegnern zu tun.

Allein die Vorstellung noch einmal zu so etwas gezwungen zu sein, wie bei der Berghütte, ließ mein Atem schneller werden. Keine Gewalt mehr, kein Tod. Das konnte ich nicht, nicht noch mal.

Draußen hörte ich Stimmen. Die Wagentüren der Fahrerkabine wurden geöffnet. Gleichzeitig riss jemand die Seitentür auf und ließ damit den frischen Geruch nach Wald und Wiese in das Innere des Wagens.

Na endlich“, kam es von der braunen Wölfin, die auch sogleich als erste aus dem Wagen sprang und draußen erstmal ihr Fell ausschüttelte. Die anderen folgten ihrem Beispiel. Ich dagegen musste mit entsetzen feststellen, dass die Nacht bereits anbrach und der Mond seinen Aufstieg begann. Wie lange steckte ich denn schon in diesem beengtem Käfig? Und wo war ich hier überhaupt gelandet?

Durch das Gitter und die offene Wagentür, konnte ich nur einen kleinen Ausschnitt erkennen. Weite, zugewucherte Felder. Ein paar vereinzelte Bäume und Sträucher und eine entfernte Baumgrenze, die den Beginn eines großen Waldes markierte. Aber keine Zivilisation, kein Ort, an dem ich Hilfe holen könnte, sollte es mir gelingen zu fliehen. Da war gar nichts, außer ein paar geparkten Autos, die wohl den anwesenden Lykanern gehörten.

Ich wusste nicht woran es lag. Die Angst hing noch immer wie dunkler Nebel über meinem Gemüt, doch die Fahrt hatte mich auch ein wenig ruhiger werden lassen. Vielleicht lag es nur daran, dass bisher nichts weiter passiert war und nun musste ich weiterhin versuchen ruhig zu bleiben. Vor Angst schlotternd durchzudrehen, würde mir sicher nicht helfen. Darum bewegte ich mich auch nicht, als alle Wölfe ausgestiegen waren und die beiden Männer aus der Fahrerkabine zur Seitentür kamen.

Einer griff hinein und zog die Box samt mir mit einem Ruck nach vorne, sodass ich mit der Nase fast gegen das Gitter knallte. „Ich denke es sind zu viele“, erklärte er. Es war der Mann mit der Zigarette. Er stank widerlich nach abgestandenem Rauch und altem Tabak. „Die alle wieder verschwinden zu lassen, wird nicht einfach sein.“

„Wozu verschwinden lassen?“ Der zweite Kerl packte mit an und gemeinsam hievten sie mich samt Box aus dem Wagen und stellten mich draußen unsanft auf dem Boden ab. „Soll das Rudel ruhig sehen, was heute Nach hier passiert. Es wird sie zum Nachdenken anregen.“

Da die Worte der beiden Männer in meinen Ohren nicht viel Sinn ergaben, konzentrierte ich mich auf meine Umgebung. Ich konnte endlich mehr davon sehen.

Es schien, als würden wir uns auf einer alten, verlassenen Farm befinden. Das Haupthaus war zum Großteil vermodert und eingestürzt, aber da waren noch zwei kleine Ställe und eine offene Scheune, die voller Gerümpel war. Ein verrosteter Pflug, Landwirtschaftsgeräte, die nur noch für die Schrottpresse taugten und ein überwucherter Heuwagen, dessen Räder neben ihm im hohen Gras lagen. Ein alter halb zerfallener Zaun zeigte an, wo früher einmal die Grundstücksgrenze gewesen sein musste.

Hinter der Scheune konnte ich noch ein altes Getreidesilo entdecken. Und neben dem Haupthaus stand ein schiefer Wasserturm.

Doch all das waren nur die äußeren Umstände. Auf dem ganzen Platz zwischen den Gebäuden herrschte hohe Betriebsamkeit. Da waren Männer und Frauen, die geschäftig hin und her liefen. Ein paar verschwanden in dem größeren der beiden Ställe, andere kamen dort heraus. Wölfe liefen herum, oder saßen … oh mein Gott! Meine Augen weiteten sich ein kleinen wenig.

Die Beiden Männer hoben meine Box schwatzend wieder an und trugen mich auf das eingestürzte Haupthaus zu. So konnte ich meine Entdeckung sogar noch besser sehen, doch es war kein schöner Anblick. Direkt davor befanden sich noch alte Anbindestangen, wie sie für Pferde und anderes Getier genutzt wurden. Sie waren alt und angesengt, aber noch intakt. Und außerdem waren sie in Benutzung.

Mindestens ein dutzend Männer und Frauen waren daran festgebunden, genau wie ein paar Wölfe, denen man Maulkörbe verpasst hatte. Der jüngste von ihnen schien gerade mal Anfang zwanzig zu sein, der ältere hatte schlohweißes Haar und einen gebeugten Rücken. Seine Augen verrieten mir, dass er ein Lykaner war.

Sie alle wirkten ausgezehrt, ungepflegt und verängstigt, so als würden sie sich schon seit Tagen in der Gewalt dieser Leute befinden.

Waren das Sklaven? War das hier vielleicht sowas wie ein Sklavenmarkt? Aber warum sollten sich Sklavenhändler die Mühe machen, ausgerechnet mich von meiner Hochzeit zu entführen, um mich hier her zu bringen? Ich war weder besonders Hübsch noch außergewöhnlich Begabt. Das machte keinen Sinn.

Meine Hundebox bekam bedenkliche Schräglage, als die beiden Männer mich neben den – was? Gefangenen? Sklaven? Opfern? – absetzten. Dabei war es ihnen ganz egal, dass ich mit den Pfoten wegrutschte und Schwierigkeiten bekam mich auf den Beinen zu halten. Der Boden knirschte unter ihren Stiefeln, dann stand die Box wieder still und die beiden machten sich auf dem Weg in den großen Stall. Das bedeutete aber noch lange nicht, dass wir nun unbeobachtet waren. Eigens dafür abgestellte Wölfe saßen ganz in der Nähe und passten auf, das wir auch artig blieben.

Ich drehte den Kopf und versuchte durch die seitlichen Schlitze zu den anderen Gefangenen zuschauen. Sie trugen Handschellen. Ängstlich drängten sie sich gegeneinander. Eine etwas ältere Lykanerin weinte leise, ein junger Mann starrte blicklos ins Leere. Sie wirkten zum Teil, als würden sie sich bereits eine ganze Weile in der Gewalt dieser Leute befinden.

Ich wollte sie gerade ansprechen um herauszufinden, was hier eigentlich los war, doch jedes Wort das ich kannte verpuffte einfach, als ich die drei Gestalten bemerkte, die gerade den Stall verließen und direkt auf uns zukamen. Ein Mann, eine junge Frau und ein Wolf.

Das konnte nicht sein. Das war doch … was sollte das?

Der Wolf war der große Graue, der mir noch immer irgendwie bekannt vorkam. Der Mann, das war – oh mein Gott – das war Wächter Owen McKinsey, der Mann, der mich die ganzen Wochen im HQ hatte schützen sollen. Aber was mich wirklich schockierte war der Anblick der jungen Frau.

Das braune Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz an den Hinterkopf gebunden, was ihrem hübschen Gesicht eine unnatürliche Strenge verlieh. Sie trug Jeans, Stiefel und ein einfaches Shirt. Und auf ihren Lippen lag es selbstgefälliges Lächeln.

Das war … Iesha.

Verdammte scheiße noch mal, sollte das heißen, Iesha hatte mich von Sklavenhändlern entführen lassen? Aber … nein, das konnte nicht sein. Wie passte Wächter Owen da ins Bild? Er schien sehr vertraut mit Cios Ex, beinahe, als wären sie befreundet.

Ich konnte nichts dagegen tun, als mich das altbekannte Gefühl der Furcht überkam, dass ich bei ihrem Anblick immer verspürte, seit sie das erste Mal über mich hergefallen war. Wie bei einem Phantomschmerz fing meine Wange an zu pochen.

Als sie breit grinsend vor meiner Box ankam und in die Hocke ging, um mich in diesem Plastikkasten kauern zu sehen, drückte ich mich so gut es eben ging, in den hinteren Teil. Leider brachte es mir nicht viel, hier drinnen war es verflucht eng.

„Na sieh mal einer an, was die Wölfe da angeschleppt haben. Eine kleine Schweineschwarte.“

Ich legte die Ohren an und zog die Schultern hoch. Meine Lefzen gingen nach oben. Ich hasste sie mit einer Intensität, die bis auf meine Seele brannte. Und doch schaffte sie es allein durch ihre Gegenwart mich einzuschüchtern.

„Du glaubst gar nicht wie lange ich auf diesen Augenblick gewartet habe. Nun werde ich dich für alles büßen lassen, was du mir angetan hast.“

Meine Lefzen gingen noch ein Stück höher. „Ich habe dir gar nichts getan.“

Sie schlug so plötzlich gegen das Gitter, dass ich erschrocken zurück zuckte. „Du hast mir Cio weggenommen, du kleines Flittchen!“, fauchte sie und spießte mich praktisch mit ihrem Blick auf. „Aber ich habe es dir bereits gesagt, ich bin zurückgekommen um meine Fehler zu korrigieren, es hat eben nur ein wenig Zeit gekostet.“

Fehler korrigieren? Ich war mir nicht sicher, ob ich wissen wollte, was genau sie damit meinte.

Iesha ließ sich vor der Box in den Schneidersitz gleiten, als würde sie ein wenig schwatzten wollen. „Owen? Logen? Bereitet schon mal alles vor, wir fangen gleich an.“

Und mit einem mal wusste ich, warum mir der graue Wolf so bekannt vorkam. Auch ihn hatte ich hin und wieder am Hof gesehen. Er war ein Umbra aus Sadrijas Gefolge!

Die beiden nickten und machten sich dann sofort ans Werk, riefen Befehle und Anweisungen und in die betriebsamen Leutchen kam noch mehr Bewegung. Ein paar machten sich sofort auf dem Weg zu den Gefangenen, der größte Teil jedoch verschwand im Stall.

„Du fragst dich bestimmt, was nun auf dich zukommt.“ Ieshas Augen blitzten vor Vergnügen. „Es ist das Finale meines großartigen Plans. Zwar hat es mich Monate gekostet, aber das war es wert. Zu sehen, wie du dich aufreibst und langsam an den ganzen Toten zugrunde gehst.“

Wovon zum Teufel redete sie da? „Was für Tote?“ Sie konnte doch nicht meinen, was in meinem Hirn gerade Gestalt annahm.

Sie lachte leise. „Hast du es etwa immer noch nicht kapiert? Wie schafft man es nur mit so viel Dummheit durchs Leben zu kommen?“

Ich bin nicht dumm.“ Und ich hasste es, wenn man sowas über mich sagte.

„Doch, bist du. Sonst hättest du längst verstanden. Besonders, wo du es doch warst, die mein erstes Opfer gefunden hat.“

Nein. Nein, das war nicht wahr, das konnte nicht wahr sein.

„Auf dem Heuboden im Stall. Ich war geradezu verzückt, als ich erfahren habe, dass ausgerechnet du es warst, die als erstes auf meine Mutter gestoßen ist. Das muss ein ziemlicher Schock für dich gewesen sein.“

Aber … nein, das konnte nicht sein. So grausam war nicht einmal Iesha. „Graf Deleo war der Amor-Killer.“

Sie lächelte nur.

Du kannst es nicht gewesen sein, Victoria war deine Mutter!“

„Sie war die Frau die mich für drei Jahre in die geschlossene Abteilung der Klapsmühle gesteckt hat.“ Ihr Blick verdunkelte sich vor Wut. „Sie hat verdient, was sie bekommen hat. Keine Mutter, die ihr Kind wirklich liebt, würde sowas tun.“

Aber …“

„Kein Aber!“ Wieder schlug sie gegen das Gitter. „Sie hat mich weggesperrt und es mir unmöglich gemacht an Cio heranzukommen. Sie war genauso eine Mistoschlampe, wie du eine bist. Und euch braucht sowieso keiner. Ihr seid nur der Dreck der Gesellschaft. Darum ist es nun an mir, die Pläne von Gräfin Xaverine zu Ende zu führen und euch vom Antlitz der Erde zu tilgen.“

Was hatte denn jetzt Gräfin Xaverine mit all dem zu tun? Die war doch schon seit Jahren tot.

„Aber ich konnte natürlich nicht einfach nur mordend durch die Gegend laufen. Mein Plan brauchte … Finesse. Und so habe ich es geschafft drei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Die Rache an meiner Mutter, die Verwirklichung von Xaverines Plänen und zu guter Letzt, dein Tod.“

Oh Gott. Iesha hatte ja schon immer einen an der Waffel gehabt und war ein wenig fanatisch gewesen, aber jetzt war sie einfach nur noch verrückt, völlig durchgeknallt.

„Und sobald du weg bist, kann Cio endlich wieder zu mir zurück finden.“ Ihre Augenlider sanken leicht herab. „Darum habe ich auch Amor gewählt. Ich fand ihn recht Sinnbildlich. Du weißt schon, Liebe, Herzchen … Pfeil und Bogen. Ich war schon als kleines Mädchen recht geschickt mit Pfeil und Bogen.“

Das war doch krank. Sie konnte doch nicht wirklich glauben, dass Cio zu ihr zurückkehren würde – besonders nicht, wenn sie es war, die mich töten würde.

„Und Anhänger die mir halfen, waren nicht schwer aufzutreiben. Gräfin Xaverine hatte viele Gefolgsleute gehabt und es gibt noch immer Lykaner, die treu zu ihrem Erbe stehen. Sie waren begeistert, als ich mit meinem Vorhaben zu ihnen gekommen bin.“

Das konnte ich nicht glauben. Was sie da sagte … es durfte nicht stimmen. „Aber Rouven …“

„Oh ja, der Graf.“ Der Gedanke an den toten Mann schien sie zu erheitern. „Ich habe gehört, wie du ihn in aller Öffentlichkeit beschuldigt und eine Hexenjagd auf ihn eröffnet hast. Das war faszinierend. Du hast dich so sehr in die Ecke gedrängt gefühlt, dass du am ende einen Unschuldigen getötet hast. Schon erstaunlich, wozu man andere so treiben kann, findest du nicht auch?“

Ich knurrte leise, während ich versuchte Ordnung in das Chaos meiner Gedanken zu bekommen. Iesha war der Amor-Killer, sie hatte eine Spur aus Leichen hinter sich gelassen. Um mich loszuwerden. Um Cio zurückzubekommen. Und um das Erbe der Gräfin fortzuführen. Rouven Deleo war unschuldig gewesen – zumindest was diese Tat betraf, denn dass er versucht hatte mich aus dem Weg zu räumen, war unwiderlegbar. „Du bist krank“, knurrte ich und wusste nicht, woher ich den Mut dazu nahm. „Man hätte dich niemals rauslassen dürfen.“

Als hätte ich etwas höchst interessantes gesagt, neigte Iesha den Kopf leicht zur Seite. „Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dein Ableben genießen werde. Ich werde dich hetzten, bis du am Ende deiner Kräfte bist und dann werde ich dich in der Luft zerreißen. Ja, ich werde in deinem Blut baden und dann werde ich Cio zurück an meine Seite holen. Sobald ich wieder bei ihm bin, wird er an dich keinen Gedanken mehr verschwenden. Du wirst einfach aus seiner Erinnerung getilgt.“

Cio, oh Gott. Sollte mir etwas passieren … er würde zugrunde gehen. Das durfte ich nicht zulassen. „Du liebst ihn gar nicht wirklich.“

Sie verengte ihre Augen leicht.

Würdest du ihn lieben, würdest du ihn in ruhe lassen.“

„Oh, du dumme, kleine Missgeburt.“ Sie beugte sich mir ein kleinen wenig entgegen. „Du hast keine Ahnung, was dieser Mann mir bedeutet. Schau nur zurück auf die Spur der Toten. Das habe ich alles nur für ihn gemacht. Was kannst du ihm schon bieten, was hast du je für ihn getan?“

Die Antwort darauf war schlicht. Gleichzeitig aber auch das wertvollste, was ich zu geben hatte. „Ich liebe ihn.“

Etwas an diesen Worten machte sie so sauer, dass sich ihr ganzes Gesicht vor Wut verzerrte. Sie sah aus, als wollte sie mich am liebsten an Ort und Stelle fressen, um diese Problem ein für alle Mal aus der Welt zu räumen. Sie achtete nicht mal auf Wächter Owen, der sich ihr langsam von hinten näherte.

„Was?“, knurrte sie.

Okay, sie war wohl doch aufmerksamer, als ich geglaubt hatte.

„Wir sind fast fertig. Die Beute ist in Position und die meisten haben sich bereits verwandelt.“

Mein Blick glitt zu den Anbindestangen. Sie waren leer. Die Gefangenen hatte man nach vorne zu dem maroden Resten des Zauns gebracht. Die verwandelten Lykaner unter ihnen trugen Maulkörbe. Die eine Frau zitterte so sehr, dass ich ihre Fesseln bis her her klirren hören konnte.

Einer von Ieshas Anhängern riss sie gerade unsanft hinter sich hier und stieß sie dann zu den anderen vor sich in den Dreck. Ein zweiter Mann warf ein schmutziges Bündel neben ihr in den Staub. Es hatte dünne Ärmchen und große Augen, die so weit aufgerissen waren, dass ich selbst von hier aus die Angst darin erkennen konnte.

Oh Gott, dass war ein kleiner Junge! Er war so verdreckt, dass ich unter der Schmutzschicht kaum sein Gesicht ausmachen konnte, aber er konnte auf keinen Fall älter als vier oder fünf Jahre sein.

Ieshas Wut verschwand hinter einem skrupellosem Lächeln. „Wir werden jetzt ein kleines Spiel spielen“, sagte sie zu mir. „Allein zu deinen Ehren. Eigentlich hatte ich ja geplant, dich als das zwanzigste Opfer des Amor-Killers mitten in Silenda auszustellen, aber … naja, Pläne ändern sich. Als ich erfahren habe, dass du Cio heute zu deinem Gefährten machen willst und ihn mir damit für immer wegnehmen, wusste ich, dass es nicht reichen würde, dir einfach nur das Herz aus der Brust zu schneiden. Deswegen habe ich entschieden, dass eine kleine Jagd unser Spiel ein wenig interessanter gestalten könnte. Sozusagen zur Feier des Tages. Aber am Ende wird es nicht heißen, sie dürfen die Braut nun küssen, sondern, sie dürfen die Braut nun töten.“ Ihr Grinsen wurde zu einem Zähnefletschen. „Und da die anderen auch ein wenig Spaß haben wollten, habe ich mir gedacht, wir veranstalteten unsere ganz persönliche Vollmondjagd. So ein paar Mistos, wird sowieso keiner vermissen.“

Mein Blick schnellte zu den Gefangenen am Zaun. Sollte das heißen, das jeder einzelne von ihnen ein Misto war? „Was meinst du mit Jagd?“ Die Frage war dumm, da es mir schon längst klar war, aber ich griff nach Strohhalmen. Vielleicht hatte ich sie ja falsch verstanden. Ich betete, dass ich sie falsch verstanden hatte.

Ihre Augen funkelten vor vergnügen. „Was glaubst du denn?“

Bitte, nein, das konnte sie nicht ernst meinen. Wieder schnellte mein Blick zu den Gefangenen.

„Sie werden die Beute sein.“ Sie schaute zum Stall, als dem nach und nach immer mehr Wölfe kamen. Zehn, zwanzig, dreißig. Nur eine Handvoll von ihnen waren Menschen geblieben. „Und sie die Jäger.“ Mit aufgestützten Händen beugte sie sich so weit vor, dass nur ich ihre geflüsterten Worte verstehen konnte. „Und sie alle werden nur sterben, weil du mir meinen Mann weggenommen hast.“

Das kannst du nicht tun.“ Panisch schaute ich zwischen ihr und der immer größer werdenden Gruppe am Zaun hin und her. „Cio würde dir das nie verzeihen.“

Sie schnaubte nur abfällig, stemmte sich dann zurück auf die Beine und klopfte sich den Dreck von der Hose. „Bring sie zu den anderen“, wies sie Owen an, der noch immer geduldig wartete. „Aber denk dran, niemand wird sie anrühren. Sie ist meine Beute.“

„Nur deswegen hat Logen sie geholt.“

Sie tätschelte Owens Brust, als sei er ein braver, kleiner Hund und wandte sich dann von uns ab.

Ich konnte nur tatenlos dabei zuschauen, wie sie über das Gelände schritt und kurz darauf im Stall verschwand, um sich zu verwandeln. Um jagt auf mich machen zu können. Um mich zu töten. Oh Gott, Cios verrückte Exfreundin wollte mich umbringen und ich wusste nicht was ich dagegen unternehmen sollte. In einer körperlichen Konfrontation war Iesha mir überlegen, da war ich mir sicher.

„Na dann wollen wir mal.“ Owen trat an die Box, beugte sich hinunter und entriegelte die Gittertür. Als er sie aufzog, drängte ich mich so gut es mir möglich war nach hinten und fletschte warnend die Zähne. Doch mein Knurren schien ihn sogar noch zu belustigen. „Du solltest dir bewusst machen, in welcher Situation zu steckst. Wenn du mich beißt, wird es hier niemanden geben, der mich davon abhält dir ernsthaft wehzutun.“

Das wird Iesha aber nicht gefallen“, sagte ich und versuchte die Verzweiflung aus meiner Stimme rauszuhalten. „Ich bin ihre Beute.“

„Ja, aber das bedeutet nur, dass ich dich nicht töten darf. Von windelweich prügeln hat sie nichts verlauten lassen.“

Scheiße! „Bitte“, flehte ich. „Sie sind doch Wächter. Sie haben geschworen das Rudel zu beschützen.“

Als hätte er alle Zeit der Welt, hockte er sich vor die offene Box und bedachte mich mit einer gleichmütigen Mine. „Ich habe geschworen die Lykaner zu beschützen, aber du bist kein Lykaner.“

Oh bitte nicht. „Ich bin auch ein Wesen aus Fleisch und Blut.“

„Ob das stimmt, werden wir ja sehr bald feststellen, nicht wahr?“ Er griff so plötzlich nach vorne, dass ich es nicht mehr schaffte den Kopf wegzudrehen. Seine Hand schloss sich mit der Kraft eines reinrassigen Lykaners im meine Schnauze. Im nächsten Moment wurde ich an ihr nach vorne gerissen. Ich versuchte mich dagegen zu stemmen, aber meine Pfoten rutschten auf dem galten Plastik einfach weg. Er zerrte mich ein Stück heraus und sobald mein Kopf im Freien war, griff er mit der anderen Hand in mein Nackenfell.

Ich jaulte auf, als seine Fingernägel sich dabei in meine Haut gruben. Es interessierte ihn nicht. Es interessierte ihn nicht, dass ich mich wehrte und es interessierte ihn nicht, dass ich mich gegen ihn stemmte. Er zog mich unerbittlich aus der scheußlichen Box und riss mich dann an Kopf und Schnauze so hoch, dass ich es nur noch schaffte auf den Hinterbeinen zu balancieren.

„Gibt dir keine Mühe“, sagte er, als ich mit den Vorderpfoten sinnlos in der Luft herumfuchtelte. „Du hast mir nichts entgegenzusetzen.“

Ja, aber ich konnte mich doch auch nicht einfach widerstandslos von ihm mitschleifen lassen. Aber genau das war es, was hier passierte. Die Angst kroch mir in die Glieder und ließ mich am ganzen Körper zittern. „Bitte, tun sie das nicht.“

Er beachtete weder meine Worte, noch mein hilfloses Fiepen. Er war nicht absichtlich grob, es war ihm nur einfach völlig egal, dass er mir wehtat. Ich war ihm egal, denn ich war nur ein wertloser Misto. Und Iesha war hier die Rädelsführerin. Es war mir schleierhaft, wie sie das geschafft hatte, doch die Wölfe hier hörten auf sie und Wächter Owen machte da keinen Unterschied.

Der Versuch mich mit den Hinterbeinen gegen ihn zu stemmen brachte rein gar nichts. Er zog mich einfach weiter, quer über das Gelände und warf mich dann neben den anderen Gefangenen in den Dreck.

Meine Pfote knickte um. Ich jaulte auf.

Die Lykanerin neben mir gab ein verängstigtes Wimmern von sich. Nein, keine Lykanerin, ein Misto. Sie alle hier waren Wolfsmistos.

Der Griff um meine Schnauze verschwand, der in meinem Nacken blieb und drückte mich zu Boden. Plötzlich wurde mir etwas nicht all zu sanft ins Gesicht gerammt. Ein Maulkorb. Oh bitte nein, sie nahmen mir meine einzige Möglichkeit mich zu verteidigen. Natürlich konnte ich mich einfach verwandeln, um das Teil sofort wieder loszuwerden, aber damit würde ich mich noch verletzlicher machen. So blieben mir wenigstens noch mein Fell und meine Beine, mit denen ich ihnen davonlaufen konnte. Das war die einzige Möglichkeit, die mir noch geblieben war.

„Bleib liegen“, verlangte Wächter Owen sehr nachdrücklich und stieß mich zur Untermalung seiner Worte mit der Schnauze voran in den Dreck. Das metallene Gestell des Beißkorbes knallte gegen meine Stirn und trieb mir die Tränen in die Augen.

Wieder wimmerte die Frau. Der einzige Grund, warum sie keinen Maulkorb trug, war die Tatsache, dass sie sich nicht verwandelt hatte. Vielleicht konnte sie das ja auch gar nicht. Es gab durchaus Mistos, die sich gar nicht, oder nur teilweise verwandeln konnten.

Das hier würde keine Jagd werden, sondern ein Gemetzel. Sie wollten uns einfach nur abschlachten. Ich konnte es in ihren Augen sehen. Jagdfieber. Die Wölfe waren heiß darauf uns zu hetzen und dann zur Strecke zu bringen. Und niemand von uns schien den Mut aufzubringen, sich gegen diese Ungerechtigkeit zu stellen.

Wer sollte es ihnen verübeln? Ieshas Wölfe waren uns eins zu drei überlegen. Ich selber traute mich kaum auch nur einen Muskel zu bewegen, aus Angst, was dann würde passieren können. Aber ich wollte nicht sterben. Warum nur fand ich mich ständig in solchen Situationen wieder? Ich hatte nie irgendjemand etwas getan. Mein einziges Verbrechen bestand darin, geboren worden zu sein und dagegen hatte ich mich nicht wehren können.

Die aufgeregte Meute um uns herum begann unruhig zu werden. Sie schauten alle erwartungsvoll zum Stall hinüber, als Iesha aus seinem Inneren auftauchte. Sie war eine wunderschöne braune Wölfin mit einer katzenhaften Anmut und einer angeborenen Eleganz.

Wie konnte etwas so Schönes in Wahrheit so hässlich und verdorben sein? Mit selbstgerechter Sicherheit schritt sie auf uns zu und ließ den Blick von einem zum anderen gleiten.

Um mich herum tänzelten die Wölfe aufregt herum. Viele von ihnen mussten älter sein als Iesha und doch sahen sie alle zu ihr auf.

Bringt sie in Position“, forderte Iesha die Anwesenden auf.

Owen und die beiden anderen Kerle kamen der Anweisung sofort nach. Sie stießen und schubsten ihre Beute herum, bis sie eine ungerade Linie bildeten. Ich wurde ziemlich weit nach rechts verfrachtet und dort wieder grob zu Boden gedrückt. Einen Moment überlegte ich, einfach loszurennen, aber da waren so viele Wölfe um uns herum, dass ich sicher nicht weit kommen würde. Nur ein falscher Schritt und sie würden sich auf mich stürzen. Und trotzdem flitzte mein Blick in der vagen Hoffnung hin und her, eine Lösung für unser Problem zu finden. Aber mein Hirn war vor Angst geradezu verkrampft. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Da war nur ein einziger Satz, der immer und immer wieder durch meinen Kopf geisterte. Sie werden uns töten. Sie werden uns töten. Sie werden uns töten und wir konnten absolut nichts dagegen tun!

Ein panischer Aufschrei zu meiner Linken, ließ mich den Kopf drehen. Der kleine Junge wurde ans Ende der Reihe verfrachtet. Auf seinen Wangen hatten die Tränen dunkle Schlieren gebildet. Als Wächter Owen ihn angewidert fallen ließ, kauerte er sich vor Angst zusammen und weinte bitterlich. Seine Augen waren riesig, aus dem Mund schauten kleine … Vampirfänge. Er war kein Wolf, er war ein Vampir! Aber … was? Warum? Was wollte Iesha von einem kleinen Vampir?

Ich schaffte es nicht den Blick von ihm abzuwenden, als unsere Peinigerin mit herablassender Überlegenheit vor uns trat. Doch es war Wächter Owen, der das Wort ergriff. „Ihr bekommt zehn Sekunden Vorsprung. Lauft. Lauft so schnell ihr könnt, dann schafft ihr es vielleicht euer erbärmliches Leben zu retten.“

Zehn Sekunden. Zehn verdammte Sekunden, die über unser Leben entscheiden konnten.

„Eins!“, rief Wächter Owen.

Keiner bewegte sich.

Die Jäger stellten erwartungsvoll die Ohren auf.

„Zwei!“

Der Alte Mann neben mir machte einen vorsichtigen Schritt, aber niemand hielt ihn auf.

„Drei!“

Eine Frau rannte los. Das war das Startzeichen für die anderen. Ein Rüde sprang so eilig auf die Beine, dass er direkt wieder hinknallte. Eine Wölfin sprang mit weiten Sätzen an ihn vorbei.

„Vier!“

Mein Herz raste. Mir blieben noch sechs Sekunden, aber ich schaffte es nicht den kleinen Jungen aus den Augen zu lassen. Er war vor Angst erstarrt, er würde nicht weglaufen. Und selbst wenn er es versuchte, was würde ihm das bringen?

„Fünf!“

Halbzeit. Die Zahl schallte über die weiten Felder. Ein paar der Wölfe hatten beinahe die entfernte Baumgrenze erreicht.

„Sechs!“

Ich konnte nicht loslaufen, ich brachte es einfach nicht über mich.

„Sieben!“

Und dann traf ich eine folgenschwere Entscheiden, aber es war mir unmöglich den kleinen Jungen schutzlos bei dieser blutrünstigen Meute zurückzulassen.

„Acht!“

Mich hielt nichts mehr an meinem Platz. Ich sprang auf die Beine. Und auch wenn ich nichts lieber getan hätte, als den Fliehenden zu folgen und mich in Sicherheit zu bringen, stürzte nach links zu dem Jungen.

„Neun!“

Niemand hielt mich auf, als ich den Kleinen praktisch unter mir begrub und mich schützend über ihn kauerte. Er schrie erschrocken und völlig verängstigt auf, versuchte aber nicht mich wegzustoßen.

„Zehn!“

Die Meute rannte los. Es sah aus, als würde sich ein einziges Wesen in Bewegung setzten und die Hatz auf die Beute eröffnen.

Ich fletschte die Zähne. Wenn jemand an dieses Kind wollte, müsste er erst an mir vorbei.

Die meisten jagten einfach davon, aber ein paar hatten mich und den Kleinen ins Auge gefasst. Eine braune Wölfin kam mir dabei zu nahe. Ich schnappte nach ihr, weswegen sie knurrend zur Seite sprang und mich wütend anfunkelte. Nicht dass ich ihr wirklich etwas hätte tun können, solange mir dieses Drahtgestell auf der Nase saß, aber so einen Maulkorb ins Gesicht zu bekommen, tat sicher auch weh.

Uh“, höhnte ein rothaariger Wolf. „Der Mischling hat Zähne.“

Als er einen Schritt auf mich zu machte, zog ich die Lefzen so hoch, dass meine Schnauze nur noch aus scharfen Zähnen zu bestehen schien. Meine Ohren waren angelegt. Meine Rute klemmte zwischen meinen Beinen und mein Herz schlug mir bis in die Kehle. Ich spürte wie ich zitterte, aber ich wagte es nicht mich einen Millimeter zu bewegen.

Der kleine Junge weinte noch immer, aber er blieb still unter meiner zusammengekauerten Gestalt liegen. Vielleicht spürte er ja, dass ich ihn schützen wollte. Aber wahrscheinlich war er einfach nur zu verängstigt, um etwas anderes zu tun.

Und dann trat Iesha zwischen die handvoll Wölfe. Die Art wie sie mich anschaute … das Zittern wurde schlimmer. „Oh, willst du es mir nach all dieser Zeit wirklich so einfach machen?“

Ich antwortete nicht. Egal was ich sagte, es wäre falsch. Selbst mein Schweigen war vermutlich ein Fehler.

Der Rote Wolf trat zu ihr. „Ich glaube ich bekomme sie dazu, dass sie sich bewegt.“

Weit von uns entfernt schallte ein grauenhafter Schrei durch die Wälder. Als er gleich darauf wieder abbrach, schien die folgende Stille geradezu erdrückend. Und als dann ein triumphierendes Heulen zum nächtlichen Himmel hinauf hallte, lief mir ein eiskalter Schauder über den Rücken.

Oh Gott, ich würde die nächste sein. Wie war ich nur auf die Idee gekommen, den kleinen Jungen retten zu können? Ich konnte doch nicht einmal mich selber retten.

Als Iesha einen Schritt auf mich zumachte, war das zu viel für meine Nerven. Auf einmal begann der Wolf in mir sich zurückzuziehen. Ich spürte es an dem Kribbeln unter meiner Haut und den ziehen in meinen Gelenken. „Oh Nein.“ Panisch schaute ich an mir hinab und konnte sehen, wie mein Fell sich langsam zurückzog und die Form meines Körpers begann sich zu ändern. „Nein, nein, nein.“ Ich begann mich zu verwandeln und ich konnte absolut nichts dagegen unternehmen. Dabei war es mir dieses Mal nicht einmal wichtig, dass mich alle gleich nackt sehen würden. Ohne meinen Pelz war ich ihnen vollkommen schutzlos ausgeliefert.

Als der Maulkorb von meinem Kopf rutschte, weil er einfach keinen Halt mehr fand, konnte ich nichts anderes tun, als mit weit aufgerissenen Augen die Wölfe und Männer anzustarren, die mich stumm beobachteten. Ich versuchte mich zusammenzukauern und alles wichtige zu verbergen, um ihnen nicht zu viel Angriffsfläche zu geben. Gleichzeitig zog ich den Jungen schützend an mich und zeigte meine Fänge in einer Drohgebärde. Würde ich nicht so zittern, wäre es vielleicht beeindruckend gewesen.

Und dann begann Iesha leise zu lachen. Sie bewegte sich nicht, oder kam wieder auf mich zu, sie lachte einfach nur. „Wie kann ein einziges Wesen nur so erbärmlich sein?“

Die Beine angezogen, einen Arm vor der Brust, drückte ich den Jungen mit der anderen an mich. Ich spürte seine kleinen Finger an meinem Bauch und auch wie er sich schutzsuchend bei mir in Deckung ging. Sein Herz schlug mindestens genauso schnell wie meines und auch das Zittern stammte nicht mehr länger nur von mir allein.

Na, gar keine Antwort?“ Iesha begann damit mich zu umkreisen. „Wahrscheinlich bist du dir selber einfach nur peinlich. Also ich an deiner Stelle hätte schon längst Selbstmord begangen.“

Dann mach das doch!, hätte ich ihr fast entgegen geschrien. Stattdessen ließ ich meine Fänge zu ihrer vollen Länge ausfahren.

Oh, soll mich das beeindrucken?“ Plötzlich sprang sie zur Seite und versetzte mir einen Stoß, der mich in den Dreck beförderte. Ich knallte auf die Schulter, schaffte es aber weiterhin zwischen ihr und dem Jungen zu blieben.

Hastig drehte ich mich wieder herum. Ich durfte sie nicht aus den Augen lassen. Mein Herz schlug, als wollte es schreiend das Weite suchen, kam aber nicht vom Fleck, da es in meiner Brust festgewachsen war.

Irgendwo im Wald erklang wieder ein Heulen. Ein paar der Wölfe schauten sich begierig danach um. Sie wollten mitmachen, das hier war ihnen zu langweilig. Sie wollten nicht nur Zuschauer bei dem Spiel Auf-Leben-und-Tod sein, sie wollten selber den Richter und Henker spielen und die Leute dafür bestrafen, dass sie es gewagt hatten zu existieren.

Iesha gehörte nicht zu ihnen. Sie bedachte mich nur nachdenklich, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie mir direkt an die Kehle gehen wollte, oder es mehr Spaß machen würde, mich für ein Weilchen zu Quälen, bevor sie mir das Licht ausknipste. Doch dann fiel ihr Blick auf den kleinen Jungen und ich konnte geradezu sehen, wie eine neue Idee in ihrem gestörten Hirn Form annahm. „Dich jetzt zu töten wäre viel zu einfach“, sagte sie leise und neigte den Kopf auf eine sehr hündische Art leicht zur Seite. „Es gibt Wege um meinen Sieg über dich noch triumphaler werden zu lassen.“

Ich konnte nichts dagegen tun, dass mein Brustkorb sich bei diesen Worten schneller bewegte. Das wurde auch nicht besser, als sie den Kleinen fixierte. Oh Gott, was hatte sie jetzt schon wieder vor?

Owen, sperr die beiden ein, ich werde mich nach unserer kleinen Jagd um sich kümmern.“

Der Wächter nickte grimmig.

Und gebt ihr was zum Anziehen. Dieser Anblick ist eine Zumutung für jeden Magen, sowas will keiner sehen.“

Du miese kleine … „Cio will es sehen“, sagte ich, bevor ich mich daran hindern konnte. „Sehr oft sogar.“

Es war geradezu faszinierend dabei zuzuschauen, wie ihre gelassene Fassade bröckelte und die heiße Wut dahinter zutage trat. Darum überraschte es mich auch nicht, als sie sich auf mich stürzte, nur mit ihrer Schnelligkeit hatte ich nicht gerechnet.

Als ihre Zähne sich in meine Wade bohrten, schrie ich vor Schmerz auf und versuchte mein Bein wegzureißen, doch das gelang mir erst, als sie wieder von mir abließ und mich mit ihrem hasserfüllten Blick aufspießte.

Ich riss mein Bein hastig an mich und schaffte es kaum die Tränen zu unterdrücken. Die Löcher in der Haut brannten, Blut sickerte heraus und lief an meinem Schenkel hinunter. Der metallische Geruch stach mir in der Nase. Oh Gott, das brannte, als hätte sie vorher eine Portion Chilli verdrückt.

Bringt sie weg“, forderte Iesha unbarmherzig und wandte sich von mir ab. „Ich kümmere mich nachher um sie.“

Die Anderen Wölfe folgten ihrem Beispiel und hängten sich an ihre Fersen, als sie mit weiten Sätzen über das Feld davon raste und kurze Zeit später in den Wald dahinter eintauchte. Zurück blieben nur die drei Männer, von denen einer Wächter Owen war. Er war es auch, der mich am Oberarm packte und mich schonungslos auf die Beine zerrte. Dass ich wegen dem Schmerz in meiner Wade beinahe weggeklickte, beachtete er nicht.

Ein zweiter Mann schnappte sich den kleinen Jungen. Er schrie auf und begann wieder völlig verängstigt zu weinen. Sein kleines Händchen griff nach mir, aber da hatte der Mann ihn sich schon unter den Arm geklemmt.

„Nein“, sagte ich. „Tut ihm nicht weh!“

Niemand beachtete mich. Wächter Owen zog mich nur vorwärts, an der Scheune vorbei über das Gelände, hinüber zm alten Stall, in dem sie Quartier aufgeschlagen hatten. Steinchen, Äste und vertrocknetes Gras bohrten sich in meine Fußsohlen. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Der Schmerz in meiner Wade strahlte in allen Richtungen ab und machte es mir unmöglich problemlos aufzutreten. Und sobald wir den Stall betraten, bohrte sich auch noch ein Splitter in meinen Zeh.

Das Gebäude wirkte von innen genauso heruntergekommen wie von außen. Im vorderen Bereich hatte man den Unrat zur Seite gekehrt und ein paar wacklige Klappstühle aufgestellt. Die Stallgasse war so verdreckt, dass der Boden darunter nicht mehr zu erkennen war. Überall waren die Wände mit Schriftzeichen und Graffitis beschmiert. Am Ende der Gasse war ein kleines Loch in der Wand, wo die Bretter weggerottet waren. Die Decke an der Seite war leicht eingesunken und manche der Boxentüren hingen schief in den Angeln – wenn sie überhaupt noch vorhanden waren.

Bei der hochgeschlossenen Pferdebox die Wächter Owen für mich im Sinn hatte, war das Tor aber leider völlig intakt. Zwar ein wenig angerostet, aber nichtsdestotrotz funktionstüchtig. An der Verriegelung hing eine offene Kette mit einem Vorhängeschloss.

Wächter Owen zog das Boxentor auf und schubste mich hinein. Ich schaffte es gerade noch die Hände auszustrecken und nicht auf mein lädiertes Bein zu fallen. Das alte, ranzige Stroh hier drinnen war zwar nicht so hart wie der kahle Steinboden darunter, aber die spitzen Halme bohrten sich mir trotzdem in die Haut und mein Bein schenke mir noch eine zusätzliche Schmerzenswelle, die mich zischen ließ.

Mit dem kleinen Jungen wurde nicht viel anderes verfahren. Niemand hatte Mitleid mit ihm, nur weil er ein Kind war. Die Tatsache, dass er völlig unschuldig war, interessierte hier keinen.

Der dritte Kerl warf dann noch ein Kleidungsstück hinein, dass ich bereits auf den ersten Blick als ein alter, gelber Regenmantel entpuppte, der vermutlich bereits seit Jahren in diesem Stall hing.

Dann wurde das Tor auch schon geschlossen. Wächter Owen legte persönlich die Kette davor und ließ das Schloss zuschnappen. Noch ein letzter Blick auf uns, dann verschwand er mit seinen Spießgesellen in den vorderen Bereich zu den Klappstühlen.

Ich griff hastig nach dem Mantel. Es war mir egal, dass er völlig verdreckt war und darin vielleicht sogar Käfer und Spinnen gehaust hatten, ich wollte ihn einfach nur anziehen, um mir nicht ganz so schutzlos vorzukommen.

Der Reißverschluss klemmte und ich brauchte mehrere Versuche, um ihn zu schließen. Dann schaute ich mich nach dem kleinen Jungen um. Er zitterte am ganzen Leib. Die großen, blassblauen Augen waren voller Tränen und an der Wange hatte er eine blutende Schramme, die eben noch nicht dagewesen war.

„Hey“, sagte ich vorsichtig und rutschte langsam auf ihn zu, um ihn nicht noch weiter zu verschrecken. Als ich ihn an der Wange berührte, um die Tränen wegzuwischen, zuckte er jedoch sofort zusammen. „Nicht weinen, kleiner Mann. Alles wird gut.“ Es war dumm so etwas zu versprechen, wo ich nicht einmal selber daran glaubte, aber irgendwie musste ich ihn doch beruhigen. „Ich werde ihnen nicht erlauben dir wehzutun.“

Er blinzelte einmal und dann bekam er auch noch Schluckauf.

„Ach verdammt.“ Vorsichtig und in Achtung auf mein Bein, rutschte ich näher und schlag tröstend meine Arme um ihn. „Schhh“, machte ich, wie mein Vater es als keines Kind auch immer bei mir getan hatte und strich ihm beruhigend über den Rücken. „Hab keine Angst, wir kommen hier schon raus.“ Fragte sich nur wie.

Damit dass Iesha uns hatte hier einsperren lassen, hatten wir ein wenig Aufschub bekommen, aber … naja, wir waren eben eingesperrt. Der Spalt zwischen Decke und Box war so schmal, dass nicht mal der kleine herübergerast hätte und die Wände waren zwar in einem schlechten Zustand und voller Graffitis, aber genau wie der Rest der Box mehr oder weniger intakt. Mit ein wenig Körperkraft könnte ich es vielleicht schaffen sie einzutreten, aber das wäre laut und da waren ja noch immer die drei Männer, die alle ausgezeichnete Ohren hätten. Die wären vermutlich bereits hier, bevor ich es überhaupt schaffte ein zweites Mal zuzutreten. Mit meinem verletzten Bein.

Nein, so würde ich hier nicht rauskommen.

Auf einmal schien meine ganze Kraft mich einfach verlassen zu wollen. Eigentlich sollte ich jetzt mit Cio auf dem Weg in die Flitterwochen sein, aber stattdessen saß ich in diesem Käfig und fand einfach keinen Ausweg aus dieser Situation. Und Cio war sicher auch schon halb verrückt vor Sorge um mich. Seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus hatte er mich kaum einen Moment aus den Augen gelassen und sich immer versichert, dass mein Vater oder jemand anderes in der Nähe war, wenn er es doch einmal tun musste.

Und jetzt war ich schon wieder verschwunden. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie es im Moment in ihm aussah. Ich wusste wenigstens, was um mich herum geschah und was auf mich zukommen würde. Es waren keine guten Aussichten und ehrlich gesagt machte mir das eine scheiß Angst, aber wenigstens musste ich nicht mehr im Dunkeln tappen.

Der kleine Junge in meinen Armen regte sich ein wenig. Er hatte die Arme zwischen sich und mich gezogen und schien sich in meiner Umarmung verstecken zu wollen. Seine Wangen waren noch feucht, auch wenn er nicht mehr weinte. Der Schluckauf verklang langsam, während ich ihn schützend an meiner Brust barg.

„Ich will zu Mama.“

Oh nein. Was sollte ich dazu denn sagen? Ich wusste ja nicht mal wer seine Mutter war. Sie könnte eine von den Frauen dort draußen sein, die gerade um ihr Leben rannten, oder irgendwo völlig verzweifelt sitzen und darauf warten, dass man eine Spur fand, die sie zu ihrem Sohn führen würde.

„Bist du ein Vampir?“, fragte er mich leise.

Überrascht schaute ich nach unten. Klar das ein Kind so eine Frage stellte. Erst war ich ein Wolf gewesen und dann hatte ich den Feind mit meinen Vampirfängen bedroht. „Zum Teil.“

„Ich auch“, flüsterte er und nahm einen bräunlichen Fleck an meiner Jacke ins Visier.

Also doch kein Vampir, sondern ein Vampirmisto. Hätte mich eigentlich nicht überraschen sollen. „Wie heißt du?“

„Kolja.“

Ko... oh mein Gott! Fast hätte ich ihn gefragt, ob er mich verarschen wollte. Kolja war doch der kleine Junge, der mit dem siebenten Opfer verschwunden war. Das war jetzt sieben oder acht Wochen her! Iesha hatte den kleinen die ganze Zeit gefangen gehalten? Warum zum Teufel?

„Und wie heißt du?“ Er grub sein Gesicht aus meinen Armen hervor und schaute mich mit großen, unschuldigen Augen an.

„Zaira“, sagte ich leise und musste mir bewusst machen, dass er seine Mutter nie wieder sehen würde. Iesha hatte sie getötet, genau wie all sie anderen Mischlinge. „Mein Name ist Zaira.“

„Ich rieche dein Blut.“ Wie auf Befehl begann sein Magen zu knurren und die kleinen Fänge ein wenig zu wachsen. „Da bekomme ich immer hunger.“

Das war ja fast wie bei mir. „Wann hast du denn das letzte Mal etwas gegessen?“

„Weiß ich nicht.“

Und eigentlich war es ja auch egal. Wenn er Bluthunger hatte, konnte ich nur eines tun. „Okay“, sagte ich deswegen und entwirrte meine Arme von ihm. Dann drehte ich ihn in meinem Schoss und schob den steifen Ärmel der Regenjacke nach oben.

Sein Blick fiel begierig auf mein Handgelenk. Da Vampire aber erst in der Pubertät damit begannen ihr Sekret zu produzieren, hob ich es an meinen eigenen Mund, um die Stelle zu betäuben. Erst als ich nichts mehr spüren konnte, hielt ich es ihm vor den Mund.

Kolja versenkte seine Zähnchen so schnell in meiner Ader, dass mir klar wurde, wie groß sein Hunger sein musste. Das machte mich unglaublich wütend. Allein dafür sollte ich Iesha den Kopf abreißen. Wie konnte sie das nur einem Kind antun? Er hatte ihr doch gar nichts getan.

Der erste Zug war ein leicht unangenehmes ziehen. Kleine Vampire sorgen für keinen Endorphineschub. Wahrscheinlich weil es sehr unpraktisch wäre, wenn die Elten jedes Mal benebelt durch die Gegend schlingern würden, nachdem sie den Nachwuchs gefüttert hatten. Und bei einem Misto war es sowieso immer ein Roulettespiel, ob einem der eigene Körper diese Fähigkeit irgendwann zugestand. Ich selber konnte es erst mit siebzehn, ein Alter, in dem reinrassige Vampire schon lange allein auf die Jagd gingen. Bis dahin hatte mein Vater mich immer begleiten müssen, wenn er sich nicht sogar selber zur Verfügung gestellt hatte.

Aber Kolja hatte nun niemanden mehr, der ihm beistehen konnte. Seine Mutter war tot und sein Vater … naja, wenn ich ehrlich war, wusste ich nicht, was mit seinem Vater war. Ich wusste nur, dass er gerade nicht hier war.

Ohne mein Zutun, zog ich ihn näher an mich heran, während ich die Graffitis an der Wand anstarrte. Das meiste waren bloß unleserliche Schrittzüge, doch es gab auch ein Bild. Ein lachender Totenschädel mit gekreuzten Knochen darunter, der uns zu verhöhnen schien. Na wenn das nicht mal wieder passend war.

 

°°°

 

Das Geräusch nahender Schritte und leiser Stimmen weckte mich aus meinen trüben Gedanken, gegen die auch meine Erschöpfung nichts ausrichten konnte. Mein Kopf war ein Karussell. Er drehte sich unaufhörlich und wollte einfach keine Ruhe geben. Immer wieder spielte er mir die Dinge, die geschehen waren, in allen Einzelheiten, vor. Aber nun merkte ich auf und legte dem schlafenden Kolja schützend eine Hand auf den Kopf.

„… noch ein Weilchen unterwegs sein. Aber wenn sie zurück kommt …“

„Ja, ich weiß schon.“

Die zweite Stimme gehörte Wächter Owen, der auch schon im nächsten Moment vor dem Boxentor auftauchte und sich am Schloss zuschaffen machte.

Der Andere war der Kerl, der mir vorhin den Regenmantel in die Box geworfen hatte. „Ich bin mir nicht sicher, ob Iesha das gutheißen würde.“

„Solange ich sie nicht kaputt mache, wird sie nichts sagen.“ Owen entriegelte das Schloss und zog dann die Kette mit einem Klirren vom Gitter. Als er dann das Tor weit genug öffnete, um hinein schlüpfen zu können, spannte ich mich an und hätte mich am liebsten in der nächsten Ecke verkrochen. Leider konnte ich mich gerade nicht bewegen, denn Kolja schlief in meinem Schoß. Nach dem Nähren hatte er sich praktisch sofort zusammengerollt und war eingeschlafen. Ich wollte gar nicht wissen, was er in den letzten Wochen alles hatte durchmachen müssen.

„Ich will aber keine Ärger bekommen“, erklärte der Regenjackentyp. Er wirkte ein wenig nervös.

Ärger? Was sollte das heißen? War es jetzt so weit? Würde ich nun erfahren, welche neue Idee Iesha zu meinem Ableben gekommen war?

„Jetzt mach kein Drama daraus. Wenn würde es ja auf mich zurückfallen.“

Zu meiner Verwunderung, schob Wächter Owen das Tor wieder zu, sobald er drinnen war. Meine Augen verengten sich misstrauisch und mein Herz schlug etwas schneller, aber ich befahl mir ruhig zu bleiben, auch wenn mir das nicht gefiel.

„Na dann wünsche ich dir viel Spaß.“ Der namenlose Kerl warf mir einen undefinierbaren Blick zu, klopfte zum Abschied einmal gegen das Tor und verschwand dann wieder nach vorne.

Nein, das gefiel mir ganz und gar nicht.

„So, dann wollen wir mal.“ Wächter Owen drehte sich zu mir herum und musterte mich einen Moment, wie ich da im schimmligen Stroh saß und mein kaputtes Bein von mir gestreckt hatte. Es war vielleicht eine Stunde vergangen, seit Iesha zugebissen hatte und das reichte auch für mich und meinen Vampirspeichel nicht, um vollkommen zu heilen. Dafür war die Wunde zu tief gewesen. Außerdem waren die Löcher verdreckt, so konnte ich sie nicht heilen.

Als sein Blick dann auf dem Jungen hängen blieb, spannte ich mich noch weiter an.

„Weck ihn auf.“

Beinahe automatisch beugte ich mich ein wenig über ihn, um eine schützende Barriere zu bilden. Ich kannte den Jungen im Grunde zwar überhaupt nicht, aber ich musste ihn beschützen. Das war wie ein Instinkt. „Warum?“

„Weil ich es sonst tue und ich habe keinen Bock auf eine heulende Göre.“ Abwartend verschränkte er die muskulösen Arme vor der Brust. Er ließ nicht erkennen, was in seinem Kopf vor sich ging, aber dass er es ernst meinte, bezweifelte ich keinen Moment.

Ich war mir nicht sicher, worauf das hier hinauslaufen würde, aber bevor dieser grobschlächtige Kerl Hand an den kleinen Mann legte, war es wirklich besser, wenn ich mich darum kümmerte.

Den Wächter aus den Augen zu lassen missfiel mir, darum schielte ich immer wieder in seine Richtung, während ich Kolja vorsichtig an der Schulter rüttelte. „Hey kleiner Mann, Zeit aufzuwachen.“

Erst regte er sich nicht. Doch als ich ihn dann vorsichtig an der Wange berührte, schreckte er so schnell hoch, dass wir fast noch mit den Köpfen zusammenknallten. Mit riesigen Augen schaute er sich panisch nach allen Seiten um. Sobald er Owen bemerkte, kroch er eilig von meinem Schoß und versteckte sich wachsam in meinem Rücken.

Ich fasste nach hinten und drückte beunruhigend sein Bein. „Ist schon gut, hab keine Angst.“

Wächter Owen strich sich nachdenklich über das Kinn und ließ seinen Blick ein weiteres Mal über mich wandern. Dabei verharrten seine Augen für meinen Geschmack einen Moment zu lange auf meinen nackten Beinen. „Ich denke das wird gehen.“

Noch ehe ich mir einen Reim darauf machen konnte, machte er einen Ausfallschritt nach vorne und packte mich am Oberarm. Natürlich versuchte ich sofort von ihm loszukommen und schlug instinktiv nach seiner Hand, doch genauso gut hätte ich versuchen können ihn mit Wattebäuche zu bewerfen, das hätte sicher den selben Effekt gehabt. Er riss mich einfach auf die Beine, wirbelte mich herum und stieß mich dann mit dem Gesicht voran gegen die Rückwand der Stallbox – direkt auf den grinsenden Totenschädel.

Kolja schrie erschrocken auf und krabbelte eilig von uns weg.

Mein Bein krachte dabei gegen das Holz und entlockte mir ein schmerzverzerrtes Stöhnen. Ich wäre wohl sofort wieder in mich zusammengesunken, wenn Wächter Owen nicht hinter mich getreten wäre und mich am Nacken gepackt hätte. Leider war mir meine Dankbarkeit im Moment ausgegangen und hätte ich zwei gesunde Beine gehabt, hätte ich wohl nach hinten ausgetreten. So konnte ich mich nur an der Wand abstützen, während er mein Gesicht gegen das marode Holz drückte.

Doch dann griff er um mich herum, packte mein linkes Handgelenk und drehte es mir auf den Rücken. Dabei schob er es so hoch, dass ich vor Schmerz das Gesicht verzog. „So, dann wollen wir doch mal schauen, was so eine kleine Schlampe wie du zu bieten hat.“ Der Griff in meinem Nacken verschwand. Aber dafür spürte ich seine Hand gleich darauf an meinem Schenkel und musste mit wachsendem Entsetzen feststellen, wie sie gierig daran nach oben wanderte.

Ich erstarrte einfach. Eine endlose Sekunde lang verweigerte mein Hirn mir jeglichen Dienst, weil ich einfach nicht glauben konnte, was da gerade geschah. Dann ging mir jeder vernunftbehafteter Gedanken flöten. „Nein!“, schrie ich und stieß mich mit der freien Hand von der Wand ab. Dabei war es mir völlig egal, das mein Bein vor Schmerz aufschrie und mein Arm weiter nach oben gedrückt wurde. Das konnte ich nicht erlauben, das würde ich auf keinen Fall zulassen! „Nein, Finger weg!“

Wächter Owen nahm die Hand weg, aber nur um nach meinem freien Arm zu greifen und diesen auch noch auf meinen Rücken zu drehen. „Wehr dich ruhig“, flüsterte er mir dabei ins Ohr. Er war so nahe, dass ich seinen widerlichen Atem im Nacken spüren konnte. „Es wird dir nichts bringen.“

Wie zum Beweis, packte er meine beiden Handgelenke mit einer Hand und drückte mich wieder grob an die Wand. Als ich weiter versuchte mich zu wehren, schob er meine Arme einfach etwas höher, sodass ich kaum noch auf den Zehenspitzen stehen konnte und unter meinen hektischen Atemzügen einen Laut des Schmerzes von mir gab.

Vorne im Stall wurde ein Radio eingeschaltet und laut gestellt. Die beiden anderen wollten wohl nicht hören, was hier hinten vor sich ging.

„Bitte“, flehte ich, als er mit der freien Hand wieder nach meinem Schenkel tatschte und sie unter den Regenmantel schob, wo er damit begann meinen Hintern zu begrapschen.

Gott, nein, dass durfte er nicht tun! Ich durfte das nicht zulassen, aber wie sollte ich mich wehren? Er war viel stärker als ich, ich war verletzt und ihm völlig ausgeliefert.

„Oh ja, was ich da spüre, gefällt mir.“

Ich kniff die Augen zusammen und versuchte nicht in Panik zu verfallen, auch wenn die Angst mir das Denken erschwerte. Irgendwas musste ich doch tun können. Ich brauchte nur einen Ausweg, eine Idee, ein …

Das Ritschen eines Reißverschlusses ließ mein Herz beinahe stehenbleiben. Es war nicht der Reißverschluss der Regenjacke gewesen und Owen hatte nur einen Reißverschluss: Den an seiner Hose! Warum half mir denn keiner? Ich wollte das nicht. Ich wollte seine Hand nicht spüren und auch nicht wie er sich gegen mich drängte. Ich wollte ihm in die Eier treten und ihn … das war es! Oh Gott, das war es!

Die Idee nahm so schnell Gestalt in meinem Kopf an, als wäre sie schon die ganze Zeit da gewesen und hätte sich einfach nur in einer dunklen Ecke versteckt. Ich musste ihn überlisten, das war meine einzige Chance. Und ich musste es auf eine Art tun, die mir bereits jetzt die Galle in die Kehle trieb. Doch es war immer noch besser, als das was er für mich geplant hatte.

Aber ich musste es schlau angehen, musste es glaubhaft tun und durfte mich nicht nicht wehren, als er seine widerliche Hand zwischen meine Beine schob und mich dort berührte, wo nur Cio es durfte.

Cio …

Nein, denk jetzt nicht an ihn, konzentriere dich! „Warte“, sagte ich mit hektischem Atem. „Warte, nur kurz. Ich will …“

„Es ist mir ziemlich egal was du willst.“ Er zog seine Hand weg und versuchte sein Knie zwischen meine Beine zu schieben.

„Ich will mitmachen!“, stieß ich hektisch hervor und hoffte, dass er darauf ansprang.

Es klappte immerhin so weit, dass er einen Moment inne hielt.

Ich hatte seine Aufmerksamkeit geweckt. Jetzt durfte ich nur keinen Fehler machen. „Ich will … ich möchte mich umdrehen und mitmachen.“

Erst geschah gar nichts, dann drückte er meine Arme wieder höher, bis ich vor Schmerz das Gesicht verzog. „Willst du mich verarschen?“ Sein widerlicher Atem kitzelte mich am Ohr. „Du willst mitmachen? Freiwillig? Wieso?“

„Ich mag keine Schmerzen“, zischte ich durch zusammengebissenen Zähnen. Oh Gott, gleich würde er mir die Arme auskugeln. „Ich mach das lieber freiwillig, als dazu gezwungen zu werden.“ Komm schon, spring drauf an. Bitte. „Nur keine Schmerzen.“

Der Druck auf meine Schultergelenke ließ ein wenig nach. Dann riss er mich plötzlich herum und stieß mich mit dem Rücken gegen die Wand. Das Positive daran war, dass er endlich meine Hände freigegeben hatte. Das Negative: nun hatte ich seine Hand an der Kehle und es war weder eine sanfte noch eine harmlose Berührung. Ich spürte wie sich seine Fingernägel in meine Haut bohrten.

„Du willst mich freiwillig ficken?“

Ich nickte eilig.

Sein Gesicht kam meinem sehr nahe und es wunderte mich, dass sein Atem nur nach Zahnpaste roch und nicht nach Schwefel und Ass. „Wenn du versuchst mich zu verarschen, wird dir das leidtun.“

Hier gab es nur einem, dem es gleich leidtun würde. „Ich verarsche dich nicht. Ich will nur … keine Gewalt, das ist meine einzige Bedingung.“

Er kniff die Augen leicht zusammen. „Glaubst du wirklich, du bist in der Lage Bedingungen zu stellen?“

„Nein“, sagte ich ganz ehrlich, aber ich musste es glaubhaft machen.

Die Rädchen in seinem Kopf begannen zu arbeiten. Seine Augenbrauen zogen sich leicht zusammen und sein Blick klebte praktisch auf meinem sich schnell hebenden und senkendem Brustkorb. Das war so widerlich, dass ich mich auf der Stelle mit einer Drahtbürste und Seifenlauge abspülen wollte, nur um dieses Gefühl loszuwerden.

„In Ordnung“, sagte er dann nach einer Weile und lockerte seinen Griff an meiner Kehle ein wenig. „Öffne die Jacke.“

Ich starrte ihn nur an. Auf einmal war ich mir nicht mehr sicher, ob ich das wirklich tun könnte.

Seine Augen verengten sich um eine Spur. „Was ist nun? Ich dachte du willst mitmachen. Freiwillig.“ Das letzte Wort triefte geradezu vor Spott. Er glaubte mir nicht, nicht wirklich. Ich an seiner Stelle wäre vermutlich auch wachsam und misstrauisch. Obwohl ich ja niemals an seiner Stelle sein würde. Nicht nur weil ich kein Mann war, sondern auch, weil ich sowas niemals einem anderen Wesen antun könnte.

Nun komm schon, tu es einfach, es gibt keinen anderen Weg! Ja, denn niemand würde mich retten kommen. Ich konnte mich nur selber retten. Und das ging nur auf diesem Weg.

Meine Finger zitterten, als ich sie an den Reißverschluss hob und damit begann den Schlitten langsam nach unten zu ziehen. Der Widerling beobachtete dabei jede Bewegung von mir. Als das erste Stückchen nackter Haut sichtbar wurde, öffnete sich sein Mund leicht.

Ich zog den Schlitten immer weiter nach unten. Am Saum klemmte er ein wenig, sodass ich begann nervös daran herumzureißen, bis er sich endlich öffnete. Dann ließ ich meine Arme einfach wieder zur Seite fallen und wartete. Die beiden Seiten der Jacke blieben so liegen, dass nur ein schmaler Streifen Haut sichtbar war, ein Streifen, der von meiner Kehle direkt bis zu meiner intimsten Stelle führte. Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht gekotzt.

Seine Augen richteten sich sofort begierig darauf. „Ausziehen“, knurrte er. Es war nicht aggressiv, es war … lüstern.

Ich schluckte, zwang mich aber dazu die Hände zu heben und die Seiten langsam auseinander zu ziehen. Sobald ich meine Brust freigelegt hatte, richtete sein Blick sich darauf. Die Arme frei zu bekommen und den Mantel los zu werden, war nicht ganz einfach, da er mich noch immer gegen die Rückwand drückte. Aber ich schaffte es mich von dem Kleidungsstück zu befreien.

„Oh ja.“ Wächter Owen griff nach meiner Brust und begann sie zu betatschen und zu kneten. „Wir werden viel Spaß miteinander haben.“

Mir wurde schlecht. Am liebsten hätte ich seine Hand weggeschlagen und ihm in die Eier zu treten, doch die Gefahr, dass ich nicht traf, war zu hoch. Deswegen zwang ich mich einfach still zu halten. Später, wenn ich hier raus war, konnte ich mir noch immer die Haut vom Körper schrubben, um dieses scheußliche Gefühl loszuwerden. Aber im Moment war ich ihm noch ausgeliefert.

Wächter Owen trat etwas näher. Seine Hand wanderte von einer Brust zur anderen und glitt dann langsam an meinem Körper nach unten. Sein Atem war deutlich schneller geworden und seine Aufmerksamkeit hatte ein wenig nachgelassen. Der Hand an meiner Kehle lag nur noch locker an meinem Hals. „Spreiz die Beine“, befahl er mir.

Oh Gott. Ich wollte hier weg. Ich wollte hier so dringend weg, dass es schon wehtat. Und dennoch stellte ich meine Beine ein wenig auseinander, ohne auf das Pochen in meiner Wade zu achten. Ich musste das tun. Ich musste ihn in Sicherheit wiegen und ihm glaubhaft machen, dass es in Ordnung war, auch wenn ich ihm am liebsten die Hände abgehackt hätte.

Seine gierigen Fingen tasteten sich an die Stelle vor, die nur Cio berühren durfte. Als er dann auch noch ein widerliches Geräusch von sich gab, versuchte ich an etwas anderes zu denken, an den Wald und den Wind, an Pferde und meine Arbeit mir ihnen. Es funktionierte nicht. Ich schaffte es weder körperlich noch geistig mich dieser Situation zu entziehen.

„Gefällt dir das?“ Er rückte ein wenig näher und tat so, als wolle er nach meinen Lippen beißen. „Macht dich das an?“

Mein Nicken war wohl die größte Lüge in meinem ganzen Leben.

Owen lachte selbstgefällig. „Nein, tut es nicht, aber das stört mich nicht.“ Als er noch zudringlicher wurde, spannte sich mein ganzer Körper an. Er biss mir ins Ohrläppchen und strich mit der freien Hand wieder nach oben zu meiner Brust. „Jetzt bist du an der Reihe. Fass mich an.“

Mein Blick huschte zu seinem bereits offenen Hosenstall, hinter dem sich nicht nur dunkle Shorts abzeichneten. Ich schluckte.

„Na los, oder wir machen es wieder auf meine Art.“

Diese Drohung brauchte er nicht näher erläutern. Ich schluckte und musste mich zwingen meinen Arm zu bewegen. Ihm dann im Schritt zu berühren, kostete mich all meine Überwindung.

„Nicht so, tu es richtig.“

Oh Gott. Ich möchte nicht erläutern, was genau ich als nächstes tun musste, um ihn zufriedenzustellen. Nur wollte ich nicht länger ihm die Hände abhacken, sondern meine eigenen. Und als er dann auch noch anfing zu stöhnen, begann meine Haut zu kribbeln. Dunkles Fell durchstieß kurz meine Haut, verschwand aber genauso schnell wieder.

Bitte nicht jetzt, bitte. Dafür stand ich viel zu kurz vor dem Ziel.

Die Hand an meiner Kehle rutschte tiefer. Owens Augen hingen nur noch auf halbmast und sein Atem war eindeutig schneller geworden. „Oh ja“, stöhnte er.

Konnte ich es jetzt schon wagen? Ich steckte meine Hand tiefer in seine Hose, bis ich die empfindlichsten Teile eines Mannes zwischen die Finger bekam. Das selige Lächeln, dass sich auf seinen Lippen ausbreitete, spornte mich an, den nächsten Schritt zu wagen.

Ich verlagerte mein Gewicht auf mein gesundes Bein, legte ihm die freie Hand auf die Brust, um einen Halt nicht zu verlieren und bangte darum den Wolf im Zaun zu halten, der sich immer weiter an die Oberfläche kämpfen wollte. Dann drückte ich mit all der Kraft zu, die ich aufbringen konnte.

Das Lächeln fiel Wächter Owen aus dem Gesicht. Eine Schrecksekunde tat er gar nichts. Dann lief sein Gesicht von den höllischen Schmerzen rot an. Er schlug mir mitten ins Gesicht und schleuderte mich damit zur Seite, aber ich ließ nicht los. Sein Mund öffnete sich zu einem Schrei, während er langsam in die Knie sank.

Ich drückte ihm sofort eine Hand auf den Mund und sank mit ihm zu Boden. Ich durfte nicht riskieren, dass die anderen beiden Männer mitbekamen, was hier hinten vor sich ging. Dabei drückte ich immer fester zu und ließ mich auch nicht abschütteln, als er erneut versuchte mich loszuwerden. Er müsste sich schon die Eier abreißen, um das zu bewerkstelligen.

Sein Atem ging genauso hektisch wie meiner, aber dann musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass wieder Fell durch meine Haut stieß und dieses Mal zog es sich nicht wieder zurück. Nein, doch nicht jetzt!

Wenn ich jetzt losließ, dann wäre ich erledigt. Aber schon bemerkte ich, wie meine Hand ihre Form veränderte und langsam abrutschte. So würde ich es niemals schaffen zu warten, bis er vor Scherzen ohnmächtig werden würde. Von Panik getrieben, tat ich das einzige, was mir noch übrig blieb, ich ging ihn an die Kehle. Meine Halb verwandelten Kiefer bohrten sich in sein Fleisch. Ich drückte so fest zu, dass aus seinem Röcheln bald ein Gurgeln wurde.

Er bäumte sich unter mir auf, griff unkontrolliert nach mir und versetzte mir sogar einen Schlag auf den Kopf, aber ich ließ nicht los. Als meine Hände den Halt verloren, stellte ich meine Pfoten links und rechts von ihm ab und drückte meine Kiefer noch weiter zusammen. Nicht loslassen, auf keinen Fall loslassen.

Ich schmeckte sein Blut auf meiner Zunge und hätte fast gewürgt.

Seine Bewegungen wurden träger. Dann fielen seine Arme kraftlos zu den Seiten. Aber ich wagte es noch immer nicht meinen Biss von seiner Kehle zu lösen. Noch nicht. Er durfte nicht wieder aufwachen. Oh Gott, ich tat es schon wieder, ich tötete. Warum zwang man mich nur ständig zu töten? Ich wollte das nicht. Ich wollte das alles nicht.

Als vorne plötzlich der Radiosender gewechselt wurde, erlitt ich fast einen Herzanfall. Aber dann schallte wieder Musik durch den Stall. Hatten sie etwas gemerkt? Ich musste hier weg, sofort! Selbst wenn sie nichts gemerkt hatten, würde ich nicht ewig Zeit haben.

Kurzerhand spukte ich die blutigen Reste der gequetschten Kehle aus und schaute mich eilig nach Kolja um. Aber ich fand ihn nicht. Stattdessen entdecke ich in der Ecke einen kleinen, schwarzen Welpen, der zusammengekauert in Koljas Lumpen vor Angst zitterte und mich mit großen, blassblauen Augen anstarrte.

Kolja?“, fragte ich leise.

Der Welpe legte die Ohren an und machte sich noch kleiner.

Eine endlose Sekunde tat ich nichts weiter als dazustehen und mir darüber klar zu werden, was das bedeutete. Er war genau wie ich. Er war nicht nur ein Vampir, er war auch ein Lykaner. Und er war völlig verängstigt. Aber darauf konnte ich im Moment keine Rücksicht nehmen. Dazu hatten wir keine Zeit, wir mussten hier weg.

Deswegen hielt ich mich auch nicht länger mit unwichtigen Nebensächlichkeiten auf. Ich eilte zum Boxentor, das Wächter Owen zum Glück einen kleinen Spalt offen gelassen hatte. Mit Schnauze und Pfoten zwängte ich es weiter auf, bis die Öffnung groß genug war, um hindurchzupassen.

Mir einem vorsichtigen Blick nach links versicherte ich mich, dass die beiden anderen Typen noch auf den Klappstühlen waren, dann rannte ich zurück in die Box zu Kolja.

Er wimmerte leise, als ich eilig versuchte die Kleidung von ihm wegzureißen. Aber die würden stören. „Ganz ruhig“, flüsterte ich und riss das zerschlissene Hemd mit den Zähnen auf. „Wir werden hier jetzt verschwinden. Du wirst sehen, alles wird gut, aber du musst leise sein.“ Ich spukte die Reste zur Seite, griff ihn mit den Zähnen vorsichtig im Nacken und hob ihn an. Seine Hose rutschte einfach zu Boden.

Wieder wimmerte er.

Leise, Kolja, sei still. Bitte.“ Er war schwerer, als ich vermutet hatte und ich musste meinen Kopf sehr hoch halten. So würde ich nicht sehr schnell vorwärts kommen, aber ich konnte ihn auch nicht zurücklassen.

Der kleine Mann war schlau genug die Beine anzuziehen, als ich eilig zurück zum Boxentor lief. Mit einem letzten Blick nach rechts versicherte ich mich, dass die Männer noch immer mit sich selber beschäftigt waren. Dann huschte ich aus der Box und hastete nach links, genau auf das Loch in der Wand zu, das ich bereits bei meiner Ankunft entdeckt hatte.

Es war nicht groß und ich ließ ein wenig Fell zurück, als ich mich mit dem Kleinen in der Schnauze hindurch quetschte, aber dann waren wir im Freien. Ich spürte Kies unter den Pfoten und ein laues Lüftchen, dass mir um die Nase wehte. Irgendwo in den Wäldern heulte ein Wolf zum Mond und verkündete eine weitere siegreiche Jagd.

Drei Sekunden, so viel Zeit gab ich mir, um mich zu orientieren. Die anderen Mischlinge und Jäger waren vorhin alle in nordöstliche Richtung gerannt. Darum wandte ich mich nach Westen. Dort schien der Wald zwar nicht so dicht, aber ich wollte auf keinen Fall mitten zwischen diese verrückten Fanatiker geraten.

Ich bewegte mich durch die Schatten der Gebäude. Mein verletztes Bein schmerzte und Kolja war nicht gerade ein Fliegengewicht, aber ich weigerte mich auch nur einen Moment stehen zu bleiben. Nur als wir das letzte Gebäude erreicht hatten, verharrte ich einen kurzen Moment, um auch wirklich sicher zu gehen, dass hier draußen niemand war, der mich sehen konnte. Dann rannte ich los.

Das überwucherte Feld hatte ich in Minuten hinter mich gebracht. Dann rauschten wir auch schon an den ersten Bäumen vorbei und trotz meiner Kurzsicht wurde ich keinen Moment langsamer. Ich wollte einfach nur so schnell wie möglich viel Abstand zwischen mich und dieses Grauen bringen.

Dann schallte ein durchdringendes Heulen durch den Wald. War wieder einer der Mischlinge getötet worden? Oder hatte man entdeckt, dass Kolja und ich entwischt waren? Ich würde sicher nicht stehen bleiben, um es herauszufinden.

Wieder ein Heulen, aus nordöstlicher Richtung. Es wurde mehrstimmig erwidert.

Oh Gott, ich musste mich beeilen.

Fünf Minuten, zehn Minuten. Ich rannte immer weiter. Das Blätterdach ließ nur wenig Mondlicht bis zum Boden durchdringen. Ich konnte kaum etwas sehen. Seitenstechen malträtierte mich, der Schmerz in meinem Bein wurde immer schlimmer, aber ich durfte nicht stehen bleiben. Wenn sie mich erwischten, wäre das mein Ende, denn nochmal würde Iesha nicht den Fehler begehen, mein Ableben auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Doch leider verließ mich langsam die Kraft. Ich hatte seit fast vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen und nur das halbe Stück Kuchen gegessen, das meine Familie übrig gelassen hatte. Kolja schien immer schwerer zu werden und mein verletztes Bein drohte mir mittlerweile bei jedem Schritt einfach wegzukicken. Dazu noch der Stress.

Kolja winselte leise und erst da wurde mir bewusst, dass sich meine Kiefer langsam verkrampften. Aber ich konnte noch nicht aufgeben, wir waren noch nicht weit genug entfernt.

Schhh“, flüsterte ich in seinen Kopf und zwang meine Zähne ein wenig weiter auseinander, ohne ihn dabei fallen zu lassen. „Alles wird gut, ich bring uns hier weg.“

Als wieder ein Heulen durch den Wald schallte, blieb ich abrupt stehen und schaute zurück. Das war näher gewesen, als zuvor. War die Jagt beendet, oder hatte sich einer der Flüchtlinge einen Weg in meine Richtung geschlagen und wurde nun verfolgt. Vielleicht war ich ja auch dieser Flüchtling. Sie mussten mittlerweile einfach bemerkt haben, dass ich verschwunden war.

Dieser Gedanke erschrecke mich so sehr, dass ich sofort wieder losstürzte. Das war ein Fehler. Durch den plötzlichen Druck kreischte mein Bein vor Schmerz auf. Ich knickte weg, stürzte zur Seite und verlor Kolja aus meinem Griff. Mein Atem ging so hektisch, dass es schon ein Schnaufen war. Das tat so verdammt weh.

Einen Moment schloss ich die Augen und versuchte gegen den Schmerz zu atmen. Das war alles nur eine Sache des Willens. Wenn ich mir einbildete, dass der Schmerz nicht real war, dann würde er vielleicht wieder verschwinden.

Zaira?“ Eine vorsichtige Berührung an meiner Nase ließ mich die Augen wieder öffnen. Kolja kauerte direkt vor mir und blickte ängstlich auf, als erneutes Heulen aufkam.

Mir geht es gut“, versicherte ich ihm und zwang mich zurück auf die Beine. Ich durfte nicht schlapp machen. Doch der Schmerz in meinem Bein wollte einfach nicht verschwinden. Es stand geradezu in Flammen.

Komm in die Gänge!

Ich klaubte Kolja vom Boden auf und setzte mich wieder in Bewegung. Doch an Rennen war nicht mehr zu denken, ich bekam gerade noch ein schnelles Humpeln hin und das war auch noch meine eigene Schuld. Wenn ich Iesha nur nicht provoziert hätte. Leider war es für Selbstvorwürfe zu spät und störte mich nur in meiner Konzentration. Ich musste darauf achten, wohin ich lief und dass ich den Wind im Rücken hatte. Das wurde besonders deutlich, als ich an einer Böschung ankam und sie fast hinuntergestürzt wäre, weil ich immer wieder ängstliche Blicke über die Schulter warf.

Der baumelnde Welpe fiepte kläglich, als ich um mein Gleichgewicht bangte und dabei versehentlich wieder zu fest zubiss. Ich musste mich nach rechts wenden, um einen sicheren Weg die Böschung hinunter zu finden, denn hier war es zu steil und versprach Knochenbrüche.

Die herbstlichen Blätter raschelten unter meinem eiligen Humpeln. Ein Ast brach. Sofort verharrte ich. Das war nicht von mir gekommen. Mein Kopf ruckte zur Seite. Das Unterholz war voller Schatten. Ich hob die Nase ein wenig, um die Luft zu prüfen und da witterte ich ihn: Umbra Logan.

Mich hielt nichts mehr auf meinem Platz. Scheiß auf einen sicheren Weg, mir blieb gar keine andere Wahl, als den direkten Weg die Böschung hinunter zu nehmen.

Das Trommeln meines Herzens begleitete mich auf dem Weg nach unten. Lose Blätter und Äste rutschten unter meinen Pfoten und machten den Abstieg zu einer Tortur. Immer wieder drohte ich wegzurutschen und schaffte es gerade noch so auf den Beinen zu bleiben. Kolja wurde ordentlich durchgeschüttelt, gab aber keinen Mucks von sich. Der kleine Kerl war mutiger als ich.

Und dann geschah es, der Erdboden sackte weg. Ich verlor das Gleichgewicht und Stürzte. Bis nach unten war es nicht mehr weit und wären meine Beine in Ordnung gewesen, wäre ich einfach gesprungen, aber so schlitterte ich einfach nur haltlos hinunter. Dabei versuchte ich Kolja so zu halten, dass er nicht mein Airbag sein würde.

Ich überschlug mich einmal, dann knallte ich auf den Rücken und blieb liegen.

Schwer atmend stellte ich fest, dass ich es geschafft hatte, den Kleinen festzuhalten. „Alles okay?“, fragte ich besorgt und drehte mich zu Seite. Dabei verbot ich mir auf den Schmerz zu achten.

Ich hab mir den Kopf gestoßen. Er tut weh.“

Ich sog die Luft ein. Kein Blut, also dürfte er nur eine kleine Beule haben. „Das geht vorbei“, versprach ich und warf einen Blick die Böschung hinauf.

Da standen sie. Ein großer grauer Wolf und eine braune Wölfin. Logen und die Tante aus dem Wagen.

Genau in dem Moment als die Wölfin den Kopf in den Nacken schmiss und ein durchdringendes Heulen ausstieß, sprang ich wieder auf die Beine und eilte los. Dabei bemerkte ich sehr wohl, wie Logen mir auf direktem Wege den Abhang hinunter folgte. Er gab sich keine Mühe leise zu sein, genau wie die Wölfin, die ihm gleich darauf folgte.

Ich kam nur ein paar Meter weit, bevor mir klar wurde, dass ich ihnen niemals davonlaufen konnte. Nicht mit meinem verletztem Bein, nicht mit Kolja in der Schnauze und nicht mit ihrer Ausdauer. Hastig schaute ich mich nach einer rettenden Gelegenheit um, aber da war nur ein alter halb eingestürzter Dachsbau, in dem höchstens der Kleine Platz gefunden hätte. Und der war weder ein sicheres Versteck, noch ein Fluchtweg.

Zaira?“, fragte der Kleine ängstlich und fing an zu zappel.

Ich warf einen hastigen Blick über die Schulter. Die beiden sprangen gerade das letzte Stück der Böschung herunter. Nein, nein, bitte nicht. Ich wirbelte herum, schnurgerade auf den Dachsbau zu. Wie hatten sie mich nur so schnell finden können? So langsam war ich doch gar nicht gewesen.

Kolja wimmerte wieder, als ich ihn vorsichtig vor dem Dachsbau in den Wurzeln der alten Eiche absetzte und ihn einen sanften aber nachdrücklichen Stups versetzte.

Geh da rein.“

Er schaute mich mit großen Augen an.

Los Kolja, rein mit dir.“ Ein Geräusch hinter mir, brachte mich dazu über die Schulter zu schauen. Da waren sie, nur wenige Meter von mir entfernt. Langsam, aber bedrohlich kamen sie auf mich zu und würden sich vermutlich sofort auf mich stürzen, sollte ich auch nur den Versuch unternehmen abzuhauen. Aber das hatte ich gar nicht vor.

Ich schaute wieder zum Loch und sah gerade noch wie eine kleine schwarze Rutenspitze darin verschwand. Sobald ich ihn nicht mehr sah, positionierte ich mich davor. Mir dem Hintern voran schob ich mich so weit es ging hinein. So verschloss ich nicht nur den Dachsbau, so bot ich auch eine kleinere Angriffsfläche und konnte meine verletztes Bein schützen. Wenn sie an mich heran wollten, würden sie es als erstes mit meinen Zähnen zu tun bekommen. Nicht dass ich glaubte, dass würde sie daran hindern mich aus dem Loch zu ziehen, aber welche Wahl hatte ich schon?

Beide traten Schritt für Schritt näher. Ich zog die Lefzen so hoch ich konnte, um ihnen zu zeigen, mit was sie sich anlegten, wenn sie zu nahe kommen würden. Es schien sie nicht sonderlich zu beeindrucken. Konnte an meiner zusammengekauerten Gestalt und dem Zittern meines Körpers liegen.

Bitte“, sagte ich obwohl ich wusste, dass ich mir die Worte eigentlich sparen konnte. „Geht doch einfach weg.“

Die braune Wölfin zog ihre Augenbrauen nach oben. „Und wo bleibt da der Spaß?“

Das hier ist kein Spaß!“, fauchte ich sie an und versuchte mich weiter in das Loch zu quetschen. Aber es war zu eng und jede Bewegung ließ mein Bein mich unangenehm spüren.

Also ich fand die Nacht bis jetzt recht spaßig.“ Sie umkreiste mich ein Stück, als würde sie nur einen nächtlichen Spaziergang machen. „Und dich nun da in diesem Loch kauern zu sehen, hat auch einen gewissen Unterhaltungswert.“

Aber was habe ich euch denn getan?“ Langsam wurde ich so verzweifelt, dass ich den Tränen nahe war. „Warum tut ihr das?“

Die Wölfin hielt an. „Weil wir die Gefahr sehen, die von einem Misto ausgeht. Ihr erleidet zu oft Kontrollverlust. Schau dir doch nur deine Mutter an. Sie wurde nicht ohne Grund als die verrückte Königin bezeichnet.“

Dem konnte ich nicht widersprechen, aber zu dem Rudel war sie immer gut gewesen. Die Wölfe hatten sie gebraucht, nur die Betas waren von ihrer Einstellung nie besonders begeistert gewesen.

Und bei dir selber ist es auch nicht anders, oder?“ Lauernd senkte sie ein wenig den Kopf. „Ich habe es selber gesehen, deine unkontrollierten Verwandlungen.“

Da konnte ich wohl nur froh sein, dass sie nichts von meinem Problem mit dem Bluthunger wusste. „Das sind keine Gründe, das sind Rechtfertigungen. Was geht es dich an, ob ich meine Verwandlung kontrollieren kann, ich tue doch niemanden etwas.“

Vielleicht“, sagte sie und wandte den Blick dann zwischen die Bäume. Auch Umbra Logan hob den Kopf und fixierte einen Punkt, der sich meinem Sichtfeld entzog.

Mein Herz begann schneller zu schlagen. Was war da? Kam da Rettung? War es ein verirrter Flüchtling? Oder doch … diesen Gedanken wollte ich nicht zu Ende führen. Es hatte sicher einen Grund, warum die beiden bisher noch nicht angegriffen hatten. Sie bewachten mich einfach nur und passten auf, dass ich nicht entwischen konnte. Dabei mussten sie doch sehen, dass von mir keine Gefahr ausging, nicht so wie von ihnen selber. Aber dazu waren sie zu verblendet.

Der Wahn vom reinen Blut war schon fast krankhaft bei ihnen verwurzelt. Egal was ich sagte, ich würde sie nicht dazu bringen können zu verschwinden, aber kämpfen konnte ich auch nicht. Bei Deleo hatte ich einfach Glück gehabt. Wächter Owen war ich nur mit einem Trick entkommen, aber das hier war ein Umbra, ein Elitesoldat der Königin. Was hatte ich schon für eine Chance gegen so einen Wolf? Ganz klar, nicht die geringste.

Als der Graue ein leises Kläffen von sich gab, wäre ich vor Schreck fast an die Decke gesprungen. Mein Herz schlug mittlerweile so schnell, dass man es als Motor in einen Düsenjet hätte einbauen können. Irgendwo zwischen den Bäumen hörte ich Blätter rascheln. Da kam jemand.

Ich versuchte mich noch kleiner zu machen, aber dann sah ich Iesha aus den Schatten auftauchen. Mit geschmeidiger Eleganz tauchte sie auf, als sei sie ein Teil der Natur. Ihre Schritte machten keine Geräusch. Ganz im Gegenteil zu dem rötlichen Wolf an ihrer Seite. Ihre Haltung sprach von Überlegenheit und Herablassung für mich. Sie besaß sogar die Frechheit leise zu lachen, als sie mich in dem Dachsbau entdeckte. „Sieh an, sieh an, ein Wurm in einem Loch. Wie armselig du doch aussiehst.“

Ich zeigte ihr die Zähne und leckte mit der Zunge darüber.

Kaum drei Meter vor mir, setzte sie sich entspannt ins Laub. „Du hast einen meiner Männer getötet und dich dann aus dem Staub gemacht. Und trotzdem sitze ich nun wieder vor dir. Was sagt dir das?“

Das alles Sinnlos gewesen war. „Bitte Iesha, hör einfach damit auf.“

Sie überging das. Stattdessen hob sie die Nase ein wenig und witterte. „Wo ist der kleine Junge? Ich kann ihn riechen.“

Hinter ihr in dem Dachsbau“, erklärte der Umbra Logan. „Sie glaubt wohl, dass sie ihn so schützen kann.“

Eine Idee glomm in Ieshas Augen auf. „Spielen wir ein Spiel. Wer von euch den Welpen zuerst tötet, hat einen Wunsch bei mir frei.“

Die drei Wölfe stellten aufmerksam die Ohren auf.

Zaira darf dabei aber nicht verletzt werden.“ Sie musterte mich kurz. „Nicht allzu sehr jedenfalls, denn sie gehört mir allein.“

Oh nein.

Iesha blieb wo sie war, die anderen allerdings kamen sofort näher. Sie brauchten kein Startzeichen, das Spiel war eröffnet, sobald ihre Anführerin geendet hatte.

Ich knurrte warnend und ließ meine Zunge immer wieder über mein blankes Zahnfleisch gleiten. „Glaubt ihr Sadrija würde das billigen?!“, versuchte ich sie aufzuhalten.

Niemand reagierte darauf.

Mein Hirn arbeitete auf Hochtouren. Fieberhaft dachte ich darüber nach, was sie zum Umdenken bewegen könnte, oder sie wenigstens aufhielt, aber da stürzte die braune Wölfin nach vorne, um gezielt nach meiner Pfote schnappten zu können.

Sofort biss ich nach ihr.

Das nutzte der braune Wolf aus, um mit den Zähnen nach meinem Nacken zu fassen. Mein einziges Glück war, dass er mich nicht richtig zu greifen bekam. So kam ich durch eine schnelle Drehung des Kopfes wieder frei. Aber so konnte ich nicht ewig weiter machen. Ich musste den kleinen schützen, ich musste mich schützen, aber wie lange konnte ich gegen drei Angreifer durchhalten?

Immer wieder stießen sie hervor, schnappten, bissen und zwickten nach mir. Sie versuchten mich mürbe zu machen, warteten auf einen Fehler meinerseits, um an den Kleinen heranzukommen, ohne mich dabei zu verletzten.

Iesha genoss die Show voller Genugtuung. Als der Umbra es dann schaffte mich an der Pfote zu packen und mich ein Stück herauszuziehen, stellte sie sogar erwartungsvoll die Ohren auf. Sie gab sich vielleicht ruhig und gelassen, doch in ihren Augen brannte die Begierde. Sie wollte meinen Kopf haben und diese ganze Farce war für sie nur ein kleines Vorspiel, dass sie veranstaltete, um mich zu quälen.

Ich jaulte auf, als ich einen Biss in der Schulter spürte, schnappte und trat um mich. Irgendjemand packte mich am Ohr. Ich drehte mich halb zur Seite, bekam ein Stück Fell zwischen die Zähne und biss einfach zu.

Die Wölfin kläffte und riss sich hastig von mir los. Leider vergaß ich rechtzeitig loszulassen und wurde so noch ein Stück ins Freie gezogen. Natürlich versuchte ich sofort wieder rückwärts zu robben, doch bevor mir das gelang, packte der Rote mich im Nacken und begann zu zerren.

Nein!“, schrie ich und versuchte mich gegen ihn zu stemmen, doch meine Pfoten rutschten auf dem Laub weg. „Lass los!“

Plötzlich jagte aus dem dunklen Wald ein Schatten heran und stürzte sich direkt und ohne Zögern auf den roten Wolf. Er riss ihn mit sich zu Boden, biss nach ihm und rupfte ihm ein wenig Fell aus, bevor er sich mit gebleckten Zähnen zur Seite sprang und sich mit gesträubtem Fell vor dem Feind aufbaute.

Das kam für die anderen so überraschend, das im ersten Moment niemand auf den grauen Wolf mit dem zerfledderten Ohr und der Stummelrute reagierte. Sie standen einfach nur da und starrten ihn an.

 

°°°°°

Schatten im Wald

 

Ferox! Oh mein Gott, das war wirklich Ferox! Ich konnte es nicht glauben.

Was zum Teufel …“, begann Iesha und erhob sich, verharrte aber sofort wieder, als ein weiterer Wolf herangejagt kam und direkt zwischen mich und meine Peiniger sprang. Er strahlte eine solche Aggressivität aus, dass ich eine ganze Sekunde brauchte, um zu kapieren, dass es Cio war. So hatte ich ihn in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.

Seine Flanken bebten von der Anstrengung des Laufs, das gesträubte Fell ließ ihn doppelt so groß erscheinen und seine Schnauze schien nur noch aus messerscharfen Zähnen zu bestehen, mit denen er jeden zerreißen würde, der auch nur einen Schritt zu nahe kam.

Die drei Wölfe – ja selbst Umbra Logan – wichen wachsam zurück.

Nur Iesha machte einen vorsichtigen Schritt auf ihn zu. „Cio.“

Sein Blick richtete sich auf sie und egal was sie darin erblickte, es ließ sie in der Bewegung erstarren und deutlich schlucken.

Auch ich schaffte es nicht den Blick abzuwenden. Er war hier, er war wirklich hier. Am liebsten hätte ich vor Freude geheult. Ich war nicht mehr alleine, aber auch mit ihm, war diese Situation noch nicht ausgestanden. Da waren noch immer Iesha und Umbra Logan, genau wie die beiden anderen und die ganzen Wölfe, die irgendwo im Wald herumliefen und eine Treibjagd veranstalteten.

Und dann war da noch der Kleine. Ich rutschte langsam rückwärts zum Dachsbau und verschloss ihn wieder mit meinem Hintern. Niemand würde an Kolja herankommen.

Ferox huschte leise knurrend im Hintergrund herum, bereit sofort wieder einzugreifen, sollte es nötig werden.

Schäfchen?“

Als ich Cios Stimme in meinem Kopf hörte, zuckte ich überrascht zusammen. „Ich bin hier.“ Was bitte war das für eine dumme Aussage? Natürlich war ich hier. Das war der einzige Grund, warum auch ich hier war.

Verschwinde hier.“ Seine Schultern schienen noch breiter zu werden, als der Umbra sich bewegte. „Sofort.“

Und ihn alleine zurücklassen? Außerdem konnte ich nicht gehen. „Mein Bein ist verletzt und … da sind noch andere. Im Wald.“

Sein Knurren wurde lauter und ich konnte geradezu hören was er dachte. Scheiße.

Cio“, sagte Iesha wieder und senkte den Kopf leicht unterwürfig. „Ich …“

Mit einem Sprung nach Vorne schnitt er ihr nicht nur das Wort ab, sondern trieb sie auch ein Stück zurück. „Das du es überhaupt wagst mich anzusprechen, nachdem was du getan hast! Ich habe dir gesagt, dass du ihr niemals zu nahe kommen sollst, weil du mich sonst von einer Seite kennenlernen würdest, die du dir nicht einmal in deinen schlimmsten Alpträumen vorstellen kannst!“ Er machte noch einen drohenden Schritt auf sie zu. „Hast du geglaubt das wären nichts als leere Worte?!“

Wieder schluckte sie. „Aber … du verstehst nicht. Wenn sie erstmal weg ist, dann kann es wieder so werden, wie es einmal war und wir …“

Er lachte scharf auf. „Wenn du glaubst es bestünde auch nur die kleinste Chance, dass ich jemals wieder mit dir zusammen komme, bist du noch dümmer, als ich geglaubt habe. Niemals würde ich das was ich in ihr gefunden habe gegen diese bedeutungslose Scharade eintauschen, die wir einmal Beziehung genannt haben. Du bist ein Nichts im Gegensatz zu ihr, nur wertloser Dreck unter meinen Pfoten.“

Der Schmerz durch diese Worte spiegelte sich in ihren Augen wieder. „Das meinst du nicht so.“

Cios Rute richtete sich steil auf. „Du hast keine Vorstellung davon, wie Ernst ich das meine.“ Sein Kopf sank so weit herab, bis er mit dem Rücken eine gerade Linie bildete. „Ich werde jede Gefahr beseitigen die ihr droht. Ohne Ausnahme.“ Damit stürzte er auf sie zu.

Iesha war davon so überrascht, dass sie sich keinen Millimeter bewegte. Sie tat nichts anderes als ihn entsetzt anzustarren, weil sie einfach nicht verstehen konnte, was hier gerade geschah. Umbra Logan war jedoch nicht so verblendet wie sie. Er sprang im gleichen Moment wie Cio. Sie prallten direkt vor Iesha aufeinander und wurden zu einem knurrenden und beißendem Knäuel, das sich nichts schenkte.

Als dann auch noch der rote Wolf zu ihnen stürzte, um seinem Freund zur Seite zu stehen, wäre ich beinahe aufgesprungen, doch in dem Moment schoss die braune Wölfin herbei, um sich mir in den Weg zu stellen. Sie schnappte nach mir und knurrte. Dabei bemerkte sie nicht wie Ferox angerannt kam. Er rammte sie einfach in die Seite und schleuderte sie mit so viel Schwung weg, dass sie gegen einen Baum knallte. Aber das reichte ihm noch nicht. Er setzte ihr sofort nach.

Nein!“ Verdammt! So schnell ich konnte, befreite ich mich aus dem Loch und stürzte den beiden hinterher. Cio würde vielleicht mit zwei Gegengen fertig werden, aber Ferox war nur ein Tier, das der Kraft eines Lykaners nichts entgegenzusetzen hatte.

Hinter mir jaulte ein Wolf. Knurren erfüllte die Luft. Der Rote quietschte und schrie auf.

Mich trennten vielleicht noch zwei Meter von Ferox, als er und die Wölfin sich ineinander verbissen. Doch ich sollte sie niemals erreichen, denn plötzlich stand Iesha direkt vor mir.

In ihren Augen glänzten Tränen und sie schien völlig verzweifelt, als sie drohend auf mich zutrat und mich damit unwillkürlich zurück drängte. „Du bist schuld“, flüsterte sie. „Du hast ihn mir weggenommen und alles kaputt gemacht.“ Ihr Kopf sank ein wenig herab. „Dafür wirst du nun sterben.“

Ich schaffte es ihrem Angriff auszuweichen, doch leider belastete ich dabei mein Bein und knickte mir einem Aufjaulen um. In der nächsten Sekunde sprang sie schon auf meinen Rücken und verbiss sich in meiner Schulter. Mein einziges Glück war, dass ich einen dicken Pelz hatte und sie keine Halt fand. Ich drehte mich einfach zur Seite und schnappte nun meinerseits nach ihr. Leider hinderte meine Behinderung mich an meiner Bewegungsfreiheit und so konnte ich nichts anderes tun als sie auf Abstand zu halten, während sie damit begann mich knurrend zu umkreisen.

In der Nähe hörte ich Ferox aufjaulen. Die Geräusche aus dem Dreiergespann waren kaum in Worte zu fassen, aber ich wagte nicht mal einen kurzen Blick hinüber, weil das bedeuten würde Iesha aus den Augen zu lassen.

Doch auf einmal schien sie es sich anders zu überlegen. Sie machte einen Schritt von mir weg, schaute zum Dachsbau, schaute wieder zu mir und rannte dann los.

Nein!“, schrie ich ihr hinterher und bemühte mich unter Schmerzen auf die Beine zu kommen.

Aus dem Bau hörte ich Kolja erschrocken winseln, als Iesha damit begann, dass Loch durch Buddeln zu vergrößern, um an den Kleinen heranzukommen.

Das lässt du!“, fauchte ich und warf mich ihr entgegen. Das war mein Fehler. Sie sprang einfach zur Seite, als hätte sie nur darauf gewartet und noch bevor ich mir klar darüber werden konnte, was als nächstes kam, sprang sie mir direkt an die Kehle und riss mich zu Boden.

Als die Zähne sich in meine Haut bohrten, schrie ich vor Schmerz auf und trat rein instinktiv nach ihr. Ich spürte wie ich sie erwischte und meine Krallen an ihrem Fell zerrten, doch sie ließ nicht von mir ab. Ihr Biss wurde nur noch fester und drohte mir die Luft abzuschnüren.

In meiner blinden Panik versuchte ich nach ihr zu schnappen, erwischte aber nur Luft. Tränen traten mir in die Augen.

Alles Zappeln half nichts. Die Ränder an meinem Sichtfeld wurden dunkler, der Schmerz fraß sich durch meinen Körper, ich bekam gerade noch ein Röcheln zustande. Meine Bewegungen wurden träger. Luft, ich brauchte Luft!

Schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen.

Iesha drückte noch fester zu und … dann verschwand sie einfach. Der Druck auf meine Kehle löste sich auf. Ich rollte zur Seite, sog hektisch den Atem ein und hustete immer und immer wieder. Deswegen bekam ich nicht mit, dass es Cio gewesen war, der sie von mir runtergezerrt und mit aller Kraft weggeschleudert hatte. Aber ich hörte den Aufprall und auch wie Iesha aufjaulte, als sie mit dem Kopf gegen eine Wurzel knallte.

Gerade als ich versuchte die Tränen wegzublinzeln und mich zu orientieren, stürzte er sich mit gebleckten Zähnen wieder auf sie und nahm dabei keine Rücksicht, nur weil sie eine Frau war, oder sie eine gemeinsame Vergangenheit hatten. Iesha hatte versucht mich zu töten und das würde und konnte er nicht verzeihen.

Iesha schrie auf. Sie versuchte nicht ihn zu verletzen, sondern nur von ihm wegzukommen, als er sie wieder in den Dreck stieß und seine Zähne in ihrer Flanke und ihre Schulter versenkte.

Meine Kehle tat weh. Ich bekam noch immer nicht richtig Luft und musste hektisch blinzeln, um meinen Blick wieder einigermaßen klar zu bekommen. Darum war es wohl nur ein Zufall, dass ich mitbekam, wie Umbra Logan sich blutend den beiden näherte.

Pass auf!“, rief ich, bevor er Cio in den Rücken springen konnte.

Mein Freund reagierte in Bruchteilen von Sekunden, ließ von Iesha ab und machte einen Satz zur Seite. Aber damit spielte er Umbra Logen in die Hand, den Cio war zur falschen Seite gesprungen. Der große Graue riss ihn einfach von den Beinen und dann gingen die beiden ein weiteres Mal in einem knurrenden Knäuel unter.

Und dann jaulte Cio auf. Logan hatte ihn am Ohr erwischt und zerrte daran, als wollte er sie ihm abreißen.

Ich wusste es war dumm, besonders, da ich mich kaum auf den Beinen halten konnte und gegen einen Umbra sowieso keine Chance hatte, aber auf einmal rannte ich auf die Beiden zu. Es war mehr ein Stolpern als alles andere, doch ich erreichte sie und versenkte meine Zähne in die Rute des großen Grauen.

Der Umbra knurrte und wirbelte herum, doch bevor er nach mir schnappen konnte, sprang Cio ihm in den Rücken und verbiss sich in seinem Nacken. Er riss so heftig daran, dass die bereits blutige Wunde noch weiter aufgerissen wurde.

Logen konzentriere sich sofort wieder auf ihn, doch da fasste ich auch schon nach seinem Hinterbein und riss es ihm unter dem Körper weg.

Cio griff nach, bekam die ungeschützte Kehle des Umbras zu fassen und verstärkte den Druck. Er schüttelte ihn mit ungezügelter Kraft und dann hörte ich das wohl widerlichste Geräusch in meinem ganzen Leben.

Zuerst verstand ich nicht, woher auf einmal das ganze Blut kam, oder warum da plötzlich ein großes Loch war, wo doch eigentlich der Kehlkopf von Logen sitzen sollte. Doch als Cio einen blutigen Fleischfetzen ausspuckte, drang die Erkenntnis langsam zu mir durch. Genau wie die plötzliche Stille, die uns umgab.

Umbra Logan war tot. Der rote Wolf war tot. Er lag ein Stück weiter zwischen den Bäumen. Ferox humpelte gerade von einer brauen Gestalt weg, die regungslos im Unterholz lag.

Cio schaute sich leise knurrend um. Sein Körper zitterte geradezu vor Anspannung. „Wo ist Iesha?“

Iesha? Auch ich drehte den Kopf, konnte sie in den Schatten der Bäume aber nicht entdecken. Das Blut überlagerte jeden Geruch, den ich von ihr hätte auffangen können. Hatte sie sich aus dem Staub gemacht? Das konnte ich nicht glauben. Sie saß bestimmt irgendwo und lauerte auf eine Gelegenheit. „Ich sehe sie nicht.“

Cios Knurren wurde dunkler. „Iesha!“, brüllte er in den Wald hinaus. „Komm raus du elendes Miststück!“

Wir warteten. Endlose Sekunden starrten wir in den nächtlichen Wald und lauschten auf alle Geräusche im Unterholz, aber Iesha blieb verschwunden.

Sie ist weg“, sagte ich leise und konnte es nicht glauben. Iesha hatte die Gunst der Stunde ergriffen und war davongelaufen, weil … weil sie verstanden hatte, dass Cio es ernst meinte. Sie wusste nicht warum, weil es nicht in ihr Weltbild passte, aber ihr musste einfach klar geworden sein, wie ernst es ihm gewesen war, denn er hatte sich nicht zurückgehalten, als er auf sie losgegangen war. Hätte Cio die Möglichkeit bekommen, er hätte ihr Leben beendet.

Bei der plötzlichen Berührung an meinem Kopf, erschrak ich so sehr, dass ich herumwirble und nach dem Urheber schnappte, nur um festzustellen, dass es nur Ferox war, der überrascht einen Satz nach hinten machte und mich dann winselnd anschaute.

Hey“, sagte Cio, trat näher und schmiegte sein Gesicht an meinen Hals. „Alles gut. Ich habe dich gefunden und jetzt …“ Er stockte und schluckte angestrengt, als würde ihm etwas im Hals stecken. „Ich lasse nicht zu, dass dir etwas geschieht.“

Cio.“ Ich drängte mich gegen ihn und auf einmal ließ meine ganze Anspannung nach. Ich begann zu zittern und zu weinen und versuchte bei ihm Schutz zu suchen. Er war gekommen. Er hatte mich gefunden und gerettet. Und er hatte für mich getötet. Oh Gott, noch mehr Blut, noch mehr Leichen. Es schien einfach kein Ende nehmen zu wollen.

Nicht weinen, Schäfchen.“ Er legte eine Pfote um meine Schultern und leckte vorsichtig an meinem wunden Hals. „Ich bin jetzt bei dir.“

Das zu hören, ihn so nahe bei mir zu spüren, war eine unglaubliche Erleichterung, aber es konnte nichts gegen das ausrichten, was bereits geschehen war. „Wie hast du mich nur gefunden?“ Ich wusste ja selber nicht mal, wo genau ich mich befand. So lange wie wir gefahren waren, konnten wir uns im Moment sogar hinter der Grenze befinden.

Ferox“, sagte er leise und schmiegte sich enger an mich. „Nachdem wir Anouk und die anderen gefunden haben … ich bin fast ausgerastet. Da kam der kleine Scheißer …“

Anouk!“ Ich riss den Kopf hoch. „Was ist mit ihm? Ich hab ihn im Gebüsch gesehen, aber bevor ich ihm helfen konnte, haben sie mich geholt.“

Cio rieb seinen Kopf beruhigend an meinem. „Ihm geht es gut. Ihnen allen geht es gut. Bevor ich kapiert habe, warum Ferox ständig versuchte mir in den Hintern zu beißen, waren sie alle wieder bei Bewusstsein.“

Ferox hat versucht dich zu beißen?“

Das war seine Art mir mitzuteilen, dass ich ihm folgen soll. Und dann …“ Er runzelt die Stirn. „Ich glaube er hat mit mir gesprochen. Er hat den Kopf gegen meinen gedrückt. Ich sah einen weißen Lieferwagen und dich in einer Hundebox.“

Ich schaute mich nach meiner Suchmaschine um und stellte fest, dass er sehr interessiert am Dachsbau herumschnüffelte. „Kolja!“, rief ich entsetzt über mich selber. Ich hatte ihn vergessen. Ja klar, in den letzten Minuten hatte ich ein bisschen was anderes zu tun gehabt, aber der Kleine musste mittlerweile völlig verängstigt sein.

Als ich mich eilig auf die Beine arbeitete, stellte Cio wachsam die Ohren auf und schaute sich nach einer drohenden Gefahr um.

Ich achtete nicht darauf, eilte nur zu dem Loch, schob Ferox zur Seite und steckte den Kopf ein Stück hinein. Darin war es so dunkel, dass ich nichts als Schwärze sah. „Kolja?“

Aus den Tiefen kam ein klägliches Winseln.

Oh danke, ihm war nichts passiert. „Kolja, komm raus. Es ist jetzt sicher.“

Aber die Wölfe …“

Sie tun dir nichts mehr. Komm her kleiner Mann.“

Aus dem Inneren kam ein Schaben. Ich hörte wie Sand rieselte und auch ein kleines Niesen. Gerade als Cio halb neugierig halb wachsam neben mich trat, kam eine kleine erdige Schnauze zum Vorschein.

Ich fackelte nicht lange, steckte einfach den Kopf rein und zog ihn das letzte Stück am Nackenpelz heraus.

Der Kleine schaute sich ängstlich um und begann sogar zu zittern, als er Cio und Ferox bemerkte, wehrte sich aber nicht, als ich ihn zu mir heranzog und ihn gründlich auf Verletzungen absuchte. Aber da war nur ein kleines Loch in seine Nacken, dass ich ihm bei unserer Flucht vermutlich selber zugefügt hatte.

Falls Cio überrascht war, mich in Begleitung eines kleinen Jungen zu sehen, so ließ er es sich nicht anmerken. Er musterte Kolja zwar, aber es war ihm wichtiger, die Umgebung um Auge zu behalten. „Wir müssen hier verschwinden, Schäfchen. Du hast doch gesagt, da sind noch andere.“

Ferox kam neugierig näher und umkreiste mich, als sei er sich nicht sicher, ob ich es gutheißen würde, wenn er dem Welpen zu nahe kam.

Die Treibjagd. Da sind bestimmt noch fünfzig andere Lykaner, die gerade dabei sind einen Haufen Mistos durch den Wald zu jagen.“

Cio legte die Ohren an. „Was sagst du da?“

Das ist … Cio, nicht Deleo war der Amor-Killer, sondern Iesha. Sie …“

Irgendwo in der Ferne erklang zum x-ten mal in dieser Nach ein triumphierendes Heulen, das wie ein Messer durch die Stille schnitt.

Steh auf.“ Unbarmherzig und ohne Rücksicht auf meinen Zustand, dränge Cio mich auf die Beine.

Ich war erschöpft und wollte eigentlich nichts lieber tun, als mich einfach zusammenzurollen und ein wenig zu schlafen. Aber das hier war weder der richtige Ort, noch die richtige Zeit.

Ich nehme den Kleinen“, verkündete Cio, doch als er ihn im Nacken greifen wollte, schrie Kolja verängstigt auf und versteckte sich eilig zwischen meinen Beinen. Vielleicht lag es an dem Blut in seinem Gesicht, vielleicht auch an den unterdrückten Aggressionen, die ihn noch immer wie eine Aura umgab. Sicher war nur, dass der Kleine Angst vor Cio hatte.

Ist schon gut“, versuchte ich Kolja zu beruhigen und nahm mich seiner dann selber an, auch wenn ich mir nicht ganz sicher war, wie ich das bewerkstelligen sollte. Mir ging es wirklich nicht gut.

Cio wirkte zweifelnd, beließ es aber dabei und begann stattdessen mich durch den Wald zu treiben. Er verlangte nicht dass ich rannte, doch er gab ein zügiges Tempo vor.

Stunde um Stunde.

Wenn ich langsamer wurde, drängte er mich zur Eile. Wenn ich Kolja für einen Moment absetzte, weil mein Kiefer mir einfach wehtat, schlich er wachsam knurrend um mich herum und versuchte mir jedes Mal den Kleinen abzunehmen, aber der fing immer und immer wieder an zu winseln. Der Einzige, der die ganze Zeit mehr oder weniger entspannt blieb, war Ferox. Er schien es geradezu zu genießen, mit uns durch den Wald zu ziehen. Doch auch er war nicht unbeschadet aus seinem Kampf hervorgegangen. Auf dem Rücken hatte er mehrere Bisswunden und er setzte das linke Vorderbein nicht richtig auf.

Langsam wurde die nächtliche Dunkelheit vom dämmrigen Morgen ersetzt. In den Bäumen begannen die Vögel zu erwachen und mehr als einmal kreuzte ein Eichhörnchen unseren Weg, nur um eilig im nächsten Baum zu verschwinden.

Ich hatte keine Ahnung wie lange wir bereits unterwegs waren. Meine Pfoten schmerzten und mein Hinterbein war mittlerweile völlig taub. Es war nur noch ein Automatismus einen Schritt nach dem anderen zu tun. Ich war so müde und kratzte bereits an den Resten meiner Reserven. Das Zittern meines Körpers war inzwischen ein Zeichen meiner Erschöpfung.

Bald haben wir es geschafft“, erklärte Cio. Das tat er schon die ganze Zeit. Er wollte mich damit ermutigen nicht aufzugeben. „Es ist nicht mehr weit.“

Da er mir das schon vor Stunden gesagt hatte, glaubte ich ihm nicht mehr.

Du wirst schon sehen, bald sind wir in Sicherheit.“

Bei jedem Schritt raschelten die Blätter unter meinen Pfoten. Ich schaffte es nicht mal mehr sie richtig anzuheben. Es war nur noch ein Schlürfen. Meine Beine schienen aus Blei zu bestehen. Woher nur nahm Cio die ganze Energie?

Beim nächsten Schritt versagte mir mein Körper plötzlich den Dienst. Ich schaffte es nicht mehr länger mich auf den Beinen zu halten und sackte einfach in mich zusammen.

Schäfchen!“ Sofort war Cio bei mir. Er ignorierte Kolja, der eilig hinter mich kroch und stieß mich vorsichtig an. „Komm schon, du musst wieder aufstehen.“

Ich schloss einfach die Augen. „Ich kann nicht mehr, Cio.“

Doch, du kannst und du wirst.“ Er schubste mich mit seinem großen Schädel sehr nachdrücklich, aber ich blieb einfach wo ich war. „Bitte Schäfchen, steh auf.“

Es geht nicht.“ Mein Körper streikte. Mein Atem ging so schwer und mein Kopf fühlte sich an, als hätte sich dort ein Armeisennest häuslich niedergelassen.

Cio knurrte unwillig. Sein Blick huschte unruhig hin und her und seine Ohren waren unablässig in Bewegung. „Okay“, sagte er dann und umkreiste mich einmal. „Okay, wir machen eine kurze Pause. Aber nicht lange, wir können hier nicht bleiben.“

Ich antwortete nicht, schloss nur die Augen.

Aus dem Kurz wurden sehr bald zwanzig Minuten, in denen ich immer wieder wegnickte. Kolja machte es sich zwischen meinen Vorderbeinen bequem, während Ferox gähnend in meinem Rücken lag. Ich schaffte es nicht wirklich mich zu entspannen, aber ich war einfach fertig. Nicht mal Cio, der nervös neben mir saß und über mich wachte, konnte mir die Ruhe vermitteln, die ich gebraucht hätte, um mich wenigstens ein kleinen bisschen zu entspannen.

Seine Ohren waren unablässig in Bewegung. Alle paar Minuten prüfte er die Witterungen um uns herum. Dabei war er so angespannt, dass seine Muskeln geradezu vibrieren. Es machte ihn unruhig hier untätig herumzusitzen. Er wollte mich hier wegbringen, wollte dass wir alle endlich wieder sicher waren, aber ich schaffte es einfach nicht zurück auf die Beine.

Weißt du“, sagte ich irgendwann ganz leise. „Wenn alles nach Plan gelaufen wäre, säßen wir jetzt im Flugzeug.“

Verwirrt schaute er zu mir herunter.

Ägypten. Unsere Flitterwochen. Vielleicht wären wir sogar schon in unserem Hotel.“

Verstehen machte sich in ihm breit. „Mach dir keine Sorgen, wir kommen schon noch nach Ägypten.“

Doch dazu mussten wir vorher noch einen weiteren Hochzeitsversuch starten. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich es über mich bringen konnte, noch einmal in einen Wald zu gehen. „Gibt es bei Lykanern nicht so etwas wie standesamtliche Vermählung?“ Ich wollte es scherzhaft klingen lassen, aber so wie er mich anschaute, war mir das wohl nicht gelungen.

Schäfchen.“ Dieses eine Wort schwamm in einem ganzen See voller Schuldgefühlen. „Wenn ich gewusst hätte was …“

Es ist nicht deine Schuld“, unterbrach ich ihn. „Niemand hätte damit rechnen können, was geschehen würde.“

So konnte ich das vielleicht sehen, doch in seinen Augen hatte er versagt. Dabei war es völlig unwichtig, dass er nicht allwissend war. Er hatte mich nur ein einziges Mal aus den Augen gelassen und die Folgen waren in eine Katastrophe ausgeartet. Dabei wusste er nur das Wenige, was ich ihm bereits erzählt hatte. Wenn er erfahren würde, wie mir die Flucht gelungen war, wie ich zugelassen hatte, dass Wächter Owen mich berührte … ich wollte mir gar nicht ausmalen, was er von mir denken würde.

Hey“, sagte er und beugte sich zu mir, als würde er meinen plötzlichen Stimmungsumschwung bemerken. „Es wird alles wieder gut, du wirst schon sehen.“

Als er bei seinem Kuschelversuch Kolja ein wenig zu nahe kam, gab der Kurze ein leises Knurren von sich. Verdutzt schaute Cio ihn an und gab ihn dann einen spielerischen Stups gegen die Nase. Sofort drängte Kolja sich enger an mich musterte Cio misstrauisch.

Iesha hat ihn seit Wochen gefangen gehalten“, erklärte ich leise. Dann sprach ich nur in seine Gedanken, da ich nicht wollte, dass Kolja es jetzt und hier erfuhr. „Seine Mutter war Ieshas siebentes Opfer.“

Wut flammte in Cios Augen auf.

Und das ist noch nicht alles.“ Ich schaute zu ihm auf. „Cio, er ist genau wie ich. Er ist kein Wolfsmisto, als ich ihn entdeckte, war er ein Vampir.“

Du meinst …“ Plötzlich sprang er auf die Beine und bleckte knurrend die Zähne.

Sofort spannte ich mich an und duckte mich ein wenig. Ich sah nichts Verdächtiges und hatte auch nichts gehört, aber Cio würde nicht so reagieren, wenn alles in Ordnung wäre.

Auch Ferox erhob sich auf die müden Beine und behielt den Wald um uns herum, wachsam im Auge.

Dann hörte ich das leise Rascheln. Es kam von den Bäumen zu unserer linken. Ich spannte mich an und senkte meinen Kopf direkt über Kolja. Plötzlich bekam ich ein Gefühl von Dejavu. Neben einem der Bäume trat ein großer, grauer Wolf heraus und blieb stehen, sobald er uns sah.

Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich konnte nichts gegen das Wimmern tun.

Cio sträubte sich das Fell. Er machte einen Schritt über mich rüber, sodass ich unter ihm lag und knurrte warnend. „Bleib weg.“

Der graue Wolf richtete die Ohren auf. „Ich bin Wächter Keith und gehöre …“

Ich weiß genau wer du bist!“, knurrte Cio. „Aber es war ein Wächter gewesen, der meine Verlobte das erste mal versuchte zu töten. Es war ein Umbra, der es vor ein paar Stunden ein weiteres Mal versuchte.“

Und dann gab es da noch einen Wächter, der versucht hatte mich zu vergewaltigen.

Wenn du also nicht willst, dass ich dich in der Luft zerreiße, bleib weg!“

Der Wächter kam nicht näher, dafür tauchte aber ein zweiter grauer Wolf neben ihm auf. Ein paar Meter weiter erschien ein Brauner.

Keiner von ihnen näherte sich sich uns, der Braune setzte einen Ruf ab, der durch den ganzen Wald hallte.

Ich begann zu zittern und wurde unter Cio immer kleiner. Das war genau wie heute Mittag.

Als würde Cio meine wachsende Unruhe spüren, wurde auch er immer nervöser. Sein Blick schoss von links nach rechts, sein Brustkorb vibrierte vom Knurren und seine Lefzen waren so weit hinaufgezogen, dass sie sein Zahnfleisch sehen konnten. Als dann noch ein schwarzer Wolf auftauchte und einen unbedachten Schritt zu viel machte, stürzte Cio nach vorne und hätte ihm wohl in die Schnauze gebissen, wenn der andere nicht blitzartig zurückgewichen wäre.

Bleibt zurück“, befahl Wächter Keith. Erst jetzt fiel mir auf, dass er deutlich kleiner war, als Umbra Logan und auch viel schmaler. Nur beruhigte mich das nicht, denn es bedeutete noch lange nicht, dass er nicht auch zu Iesha gehörte.

Cio begann damit unruhig um mich herumzulaufen. Er gab ein furchtbares Bild ab und wüsste ich nicht, dass er niemals eine Gefahr für mich darstellen würde, hätte mich dieser Anblick wohl zu Tode geängstigt. Sein drohendes Knurren war das einzige Geräusch in der Umgebung. Niemand außer ihm wagte es sich zu bewegen oder gar einzugreifen. Zumindest nicht, bis eine weitere Gruppe Wölfe, angeführt von einer zierlichen blonden Wölfin, das Areal betrat.

Sadrija. Bei Leukos, es war Königin Sadrija persönlich.

Cio verharrte mitten in der Bewegung. Sein Kopf sank unterwürfig und unsicher, aber er hörte nicht auf zu knurren. Jeder andere Wolf schien auf einmal eine Gefahr für mich dazustellen.

Elicio“, sagte sie leise.

Seine Rute senkte sich ein wenig, doch er wagte es nicht den Platz zwischen ihr und mir aufzugeben.

Eure Majestät“, begann Wächter Keith. „Wenn ich …“

Still“, sagte sie nur und fixierte Cio. Ein Hauch von Odeur schwebte uns entgegen. Es war nicht so erdrückend wie ich es von Cayenne gewohnt war, noch barg es diese Übermacht. Es war viel mehr ein Streicheln der Sinne, als sollte es nur beruhigen.

Cio wich einen unsicheren Schritt vor ihr zurück. Sein Knurren wurde leiser, aber die Lefzen zog er noch höher.

Wachsam aber entschlossen setzte Sadrija sich in Bewegung. Sie lief nicht schnell, ließ sich von Cios Haltung aber auch nicht einschüchtern. Schritt um Schritt kam sie näher. Unter ihrem Blick wurde Cio immer kleiner. Die Gestalt schrumpfte praktisch in sich zusammen und seine Rute wanderte zwischen seine Hinterläufe.

Wenn man Cio und Sadrija nebeneinander gestellt hätte, bemerkte man sehr deutlich, dass er einen ganzen Kopf größer war als sie. Doch als sie nun direkt vor ihm zum Stehen kam, war er so weit in sich zusammengesunken, dass er ihr nur noch bis an die Brust reichte.

Die Wächter um uns herum, lauerten wachsam auf das was nun passieren würde.

Alles ist gut“, sagte Sadrija leise und berührte Cio mit der Nase sanft am Kopf. Ihr Odeur umwehte uns. „Hab keine Angst.“

Aber es was ein Graf und ein Wächter. Und jetzt noch ein Umbra.“

Ich glaubte nicht, dass sie sofort verstand, worauf er hinaus wollte, nur das er furchtbare Angst hatte. Vor dem was geschehen war, vor dem was hätte geschehen können. Sein Vertrauen in die Wölfe, die uns eigentlich hätten schützen sollen, war erschüttert worden. Wer sollte es ihm verübeln, mir ging es doch nicht anders.

Ich bin kein Graf, ich bin kein Wächter und ich bin auch kein Umbra. Ich bin dein Alpha Elicio und ich bin da um dich zu schützen. Dir wird nichts passieren.“

Cio schaute unsicher von ihr zu mir, dann senkte er den Kopf und schloss ergeben die Augen. „Ich vertraue Euch, meine Königin.“ Mit diesen Worten unterwarf er sich ihr und ihren Gesetzen.

 

°°°

 

Rote und blaue Blinklichter streifend über die Lichtung. Sanitäter rannten von einem Lager zum nächsten. Ein Wagen fuhr ab, um einen Notfall wegzubringen und wurde sofort von zwei neuen ersetzt. Wächter und Helfer versuchten ein wenig Ordnung in das Chaos zu bringen. Irgendwo außerhalb meines Sichtfeldes schrie eine Frau, dass man das nicht mit ihr machen könnte.

Ich zog die Decke enger um meine Schultern und schaute wieder zu Cio hinüber, um mich zu versichern, dass er noch immer bei Sadrija und dem halben Dutzend Wächtern stand. Nicht dass ich glaubte, er würde einfach verschwinden, aber … naja, ich fühlte mich eben besser, wenn ich wusste, dass er in meiner Nähe war.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel. Es war Stunden her, seit man mich zu dieser Lichtung gebracht hatte. Eigentlich wollte man mich nur in einen Wagen stopfen und zurück nach Silenda in das nächste Krankenhaus bringen, aber dann hatte ich angefangen zu erzählen, was auf der Farm geschehen war, von Iesha, dem Amor-Killer und der Jagd nach den Mistos. Von meiner Flucht und wie Cio mich gefunden und gerettet hatte. Das einzige was ich für mich behalten hatte, war der Zusammenstoß im Stall. Darüber konnte ich einfach nicht sprechen. Wenn ich nur daran dachte, wollte ich mir die Haut vom Körper schälen. Und es war auch nicht so wichtig, wie der Grund, warum ich noch immer hier war: Die Opfer der Jagd.

Sadrija hatte gehandelt, sobald ich ihr davon erzählt hatte. Nun waren dutzende von Wächtern in diesem Wald unterwegs und suchten sie. Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass sie mehr als ein paar Leichen zurückbringen würden, aber mittlerweile hatten sie sieben Mistos gefunden, drei von ihnen lebten noch.

Aber sie suchten nicht nur die Opfer, sie verfolgten auch Ieshas kleine Fanatiker. Die meisten hatten sich zwar aus dem Staub gemacht, sobald sie mitbekommen hatten, was hier los war, doch ein paar waren ihnen schon ins Netz gegangen.

Tja, so schnell wurden aus den Jägern die Gejagten. Ich wünschte mir, das jeder von ihnen die gleichen Ängste durchstand, wie ihre Opfer.

„Hier.“

Ich zuckte zusammen, als aus dem Nichts eine Wasserflasche in meinem Sichtfeld erschien. Aber sie kam nur von der nett lächelnden Sanitäterin, die schon mehr als einmal nach mir gesehen hatte und auch die Erstversorgung meiner Verletzungen übernommen hatte.

Auch wenn ich keinen Durst hatte, nahm ich sie entgegen, stellte sie aber sofort neben mich in die offene Heckklappe des Sanitätswagens.

„Die ist zum Trinken gedacht“, erklärte die Frau schmunzelnd und kletterte an mir vorbei in das Fahrzeug hinein.

Kolja, der in dem übergroßen OP-Hemd noch kleiner und schmächtiger wirkte, rutschte sofort zur Seite, klammerte sich an meinen linken Arm und behielt die Frau misstrauisch im Auge. Er weigerte sich schon die ganze Zeit von meiner Seite zu weichen.

Im Morgengrauen hatten sie versucht ihn ins Krankenhaus zu bringen. Das Ergebnis waren panische Schreie, ein völlig verängstigtes Kind und ein Wächter, der nun zwei Löcher im Arm hatte. Der Mann hatte sich nur vor den Kleinen gehockt und versucht ihm verständlich zu machen, dass er ins Krankenhaus musste. Als er ihn dann am Arm berührt hatte, hatte Kolja zugebissen. Den derben Flüchen des Wächters zu urteilen, sogar sehr fest.

Kolja weigerte sich, auch nur einen Millimeter von mir abzurücken. Dadurch dass ich ihn gerettet hatte, sah er in mir momentan so etwas wie seinen Schutzengel. Alle anderen waren die Feinde. Er wollte keinen Schritt ohne mich machen.

Ich konnte es ihm nicht verübeln. Ich selber klammerte mich ja geradezu an Cios Nähe und ich war nur ein paar Stunden in Ieshas Gewalt gewesen. Was der Kleine in den letzten Wochen durchgemacht haben musste, wollte ich mir gar nicht vorstellen. Ich war nur froh, dass es endlich vorbei war und dieses Mal hoffentlich endgültig.

Leider war Iesha den Wächtern bisher noch nicht ins Netz gegangen. Sie blieb verschwunden und wenn ich ehrlich war, wünschte ich mir auch, dass es so blieb. Wenn ich diese Verrückte nie wieder sehen musste, war das für mich völlig in Ordnung. Das Problem dabei war nur, dass Iesha gefährlich war. Nicht nur für mich, sondern für jeden, der ihr über den Weg lief. Und nachdem Cio sie nun angegriffen hatte … ich war mir nicht sicher, zu was das bei ihr führen könnte.

Neben mir regte Kolja sich. Er griff nach der Wasserflasche und versuchte sie zu öffnen, ohne mich dabei loszulassen.

„Warte, ich helfe …“ Zu spät. Die Flasche rutschte ihm aus der Hand, fiel zu Boden und kullerte ein Stück über den Boden. Okay, da würde ich das nächste Mal wohl schneller sein müssen.

Etwas umständlich befreite ich mich von der Decke und Koljas Klammergriff und erhob mich von der Heckklappe des Fahrzeuges. Die OP-Kleidung, die man mir gegeben hatte, flüsterte leise, als sie durch die Bewegung aneinander rieb.

Ich bückte mich nach der Falsche, schraubte sie auf und reichte die dem kleinen Mann. Dabei bemerkte ich Ferox, der in einiger Entfernung im Gebüsch lauerte und mich im Auge behielt. Wie ich ihn wieder nach Hause bekommen sollte, war mir schleierhaft. Freiwillig würde er keinen Wagen besteigen, was bedeutete, er würde alleine nach Hause laufen müssen. Ich zweifelte nicht daran, dass er es konnte, es gefiel mir nur nicht. Er war noch immer verletzt, aber die Alternative wäre nicht nur viel Aufwändiger, sondern auch belastender. Einfangen, betäuben, verschiffen.

Nein, ich würde ihm einfach sagen, dass er wieder nach Hause gehen sollte und mich dann um alles weitere kümmern.

Als Kolja die Flasche absetzte und sie mir zurück reichen wollte, kam rechts von mir plötzlich Hektik auf. Ein blonder Mann mit Reißzähnen versuchte sich an den Wächtern vorbei zu schieben. „Kolja!“, rief er panisch und gehetzt. „Kolja!“

Der kleine Mann ließ vor Schreck die Wasserflasche fallen. Er drehte sich herum und beim Anblick des Mannes traten ihm Tränen in die Augen. „Papa.“

Der blonde Mann stieß einen der Wächter grob zur Seite, stürzte zu seinem Sohn und riss den Kleinen in seine Arme. „Oh Gott, Kolja“, schluchzte er und drückte ihn so fest an sich, dass ich schon befürchtete, er würde ihn zerquetschen.

Doch auch wenn der kleine Junge dann wirklich anfing zu weinen, er klammerte sich an seinen Vater, als würde er ihn nie wieder loslassen wollen. Keiner der beiden hatte wohl damit gerechnet, den anderen jemals wieder zu sehen.

Ich trat ein Stück zurück, um die beiden nicht zu stören. In der gleichen Sekunde spürte ich plötzlich eine Berührung an der Hüfte. Ein Blitz der Angst durchzuckte mich. „Nein!“ Ich wirbelte herum und schlug instinktiv zu. Doch mein Angriff traf nicht, dafür waren Cios Reflexe einfach zu gut. Er fing meine Hand ab, bevor ich ihm durchs Gesicht kratzen konnte.

Meine Nägel waren in der Sekunde zu Krallen geworden. Oh Gott, ich hätte Cio fast meine Krallen durchs Gesicht gezogen. Ich begann wieder zu zittern. Die Berührung … für einen Moment hatte ich geglaubt, es wäre Wächter Owen, aber … oh Gott. „Tut mir leid“, sagte ich sehr leise und schämte mich. Nicht nur für das was ich gerade fast getan hätte, auch für das was ich hatte tun müssen, um Owens Gier zu entkommen. Ich konnte nicht einmal mit ihm darüber sprechen, einfach weil … im Moment ekelte ich mich vor mir selber. Wie sollte ich nach allem was gewesen war erklären, dass ich einem anderen Mann erlaubt hatte mich zu berühren?

Cio seufzte leise, hauchte mir einen Kuss auf die Knöchel und nahm mich in den Arm. „Vergiss es einfach, Schäfchen.“

Aber das konnte ich nicht. Ich konnte das alles nicht vergessen. Im Moment ertrug ich es kaum von ihm gehalten zu werden. Das hatte wir nicht verdient. Ich war schwach und ich war dreckig und … oh Gott, jetzt fing ich auch noch an zu heulen. Dabei wusste ich nicht mal genau warum. Es war so viel mehr, als meine Erschöpfung. Eigentlich sollte ich mich doch freuen. Ich war in Sicherheit und Cio war bei mir, doch es ging nicht. Ich schaffte es nicht mich auch nur für eine Sekunde zu entspannen.

Cio hielt mich einfach nur fest, während ich weinte und mich an ihn klammerte. Diese Umarmung war das einzige, was mich im Moment noch auf den Beinen hielt.

 

°°°°°

Kleiner Wunder

 

erste Mal, dass Reese und ich nicht nur den gleichen finsteren Gesichtsausdruck trugen, sondern auch genau das gleiche dachten.

Reese, darf ich dir vorstellen, das ist meine beste Freundin Evangeline mit der manchmal etwas zu großen Klappe. Eve, das ist mein Lehrcoach Reese Tack, der Idiot, der sich nicht erklären kann, wo die von ihm aufgehängten Gefahrenhinweise abgeblieben sind.“

Evangelines aufgeregtes Leuchten verblasste etwas und wurde durch ein peinlich berührtes Lächeln ersetzt. „Ähm … ja, nett Sie kennen zu lernen. Sie können mich ruhig Eve …

 

Das leise Klopfen an meiner Tür ließ mich von meinem Tablet aufschauen. „Herein“, sagte ich leise und senkte mein E-Book. Es war noch früher Vormittag und das Frühstück war erst vor kurzem abgeräumt worden. Nicht das hier irgendjemand darauf Rücksicht nahm, wann es Frühstück gab, wenn sie irgendwelche Untersuchungen an mir vornehmen wollten.

Die Tür zum Krankenzimmer wurde von meiner lächelnden Ärztin Frau Dr. med. Sanchez aufgedrückt. „Guten Morgen Frau Steele.“

„Morgen“, erwiderte ich und war mir nicht sicher, ob ich mich über ihren Besuch freuen sollte. Antonia Sanches war eine nette und auch sehr geduldige Ärztin, aber sie hatte die dumme Angewohnheit, mich mit Spritzen und Untersuchungen zu malträtieren.

Ihr Lächeln jedoch war ansteckend. „Wie geht es ihnen heute?“, fragte sie und schloss leise die Tür hinter sich.

„So weit so gut, denke ich.“

„Das höre ich gerne. Ich will auch nicht lange stören, aber ich würde gerne ein paar ihrer Untersuchungsergebnisse mit Ihnen besprechen.“

Irgendwie hörte sich das nicht so toll an. „Okay.“ Ich schaltete mein Tablet und damit auch das E-Book darauf in den Stand-by-Modus und legte es zur Seite.

Bereits seit zwei Tagen lag ich in diesem Krankenhausbett. Durch die Quetschung an meiner Kehle hatten die Ärzte es für nötig befunden, mich ein paar Tage unter Beobachtung zu halten. Heute sollte ich entlassen werden, deswegen wunderte es mich ein wenig, dass sie noch mal mit Untersuchungsergebnissen zu mir kam.

Mit einem Klemmbrett bewaffnet, kam die brünette Lykanerin durch den Raum und setzte sich in den Stuhl, der normalerweise eigentlich von Cio besetzt war. Er hatte mich kaum eine Minute aus den Augen gelassen, aber gestern Abend hatte er so müde gewirkt, dass ich ihn nach Hause geschickt hatte. Dass er noch nicht wieder aufgetaucht war, war ein eindeutiges Zeichen für mich, wie erschöpft genau er gewesen sein musste. Ich würde nichts sagen – besonders nicht, weil meine Eltern sicher auch jeden Moment hier eintrudeln würden.

Dr. Sanchez platzierte ihr Klemmbrett auf ihren Beinen und lächelte freundlich. „Sie können es sicher kaum noch erwarten, wieder nach Hause zu kommen.“

Ich lächelte ein wenig schief. „Ist das wirklich so offensichtlich?“

„Da sie jeder Krankenschwester, die hier hinein kommt, erklären, dass sie jetzt gehen möchten, ja, ein wenig. Aber bevor sie uns verlassen, würde ich gerne mit ihnen über ihre letzte Blutuntersuchung sprechen. Es gab da eine kleine Auffälligkeit. Aber keine Angst, es ist nichts Schwerwiegendes.“

Nein, irgendwie beruhigte mich das nicht. „Was meinen sie mit Auffälligkeit?“

„Dass sie bereits seit drei Wochen nicht mehr alleine unterwegs sind.“ Sie streckte mir die Hand entgegen. „Herzlichen Glückwunsch, sie sind schwanger.“

Leerlauf. Mit einem mal war jeder halbwegs klare Gedanke aus meinem Kopf verschwunden. Ich starrte einfach nur ihre ausgestreckte Hand an und wusste nicht, was ich damit machen sollte. „Wenn sie sagen, ich sei schwanger, dann meinen sie …“ Ich ließ den Satz offen, weil ich ihn einfach nicht zu Ende denken konnte.

„Dann meine ich damit, dass sie ein Baby bekommen werden.“ Sie nahm ihre Hand herunter. „Ihrer Reaktion entnehme ich, dass dies keine geplante Schwangerschaft ist.“

Geplant? Mein Gott, im Moment hatte ich nicht mal einen Job! Und … aber … verdammt! „Aber ich nehme doch die Pille.“

„Die Pille bietet keinen hundertprozentigen Schutz. Besonders bei einem Misto wie sie es sind, ist es nicht immer ganz einfach die richtige Zusammensetzung zu finden, da sehr viele Faktoren in ihren Zyklus mit hinein spielen. Dazu kommt auch noch der Stress, dem sie in der letzten Zeit ausgesetzt gewesen sind. Das ist auch ein Grund, warum ich mit ihnen sprechen wollte. Als Misto werden sie automatisch als Risikoschwangerschaft eingestuft und …“

Die Tür öffnete sich ohne ein Klopfen und unterbrach meine Ärztin damit.

„Hey“, sagte Alina und kam zum Bett gehüpft. Sie schaute von der Ärztin zu mir und zog die Augenbrauen leicht zusammen. „Störe ich gerade?“

„Nein“, sagte ich, bevor Dr. Sanchez den Mund aufmachen konnte. „Wir waren sowieso gerade fertig.“

Die Ärztin runzelte die Stirn.

Ich warf ihr einen bittenden Blick zu.

Sie seufzte. „In Ordnung. Aber ich werde ihnen einen Termin geben, den sie auch wahrnehmen müssen.“

Ich nickte. Keine Ahnung, warum das so ein großer Schock für mich war, oder warum ich nicht darüber reden wollte, aber ich wollte einfach nur dass sie verschwand.

Ich und schwanger? Was sollte ich denn jetzt schon mit einem Kind? In der letzten Zeit war alles so verworren, dass ich erstmal mit mir selber klar kommen musste. Und Cio. Er würde sich sicher freuen. Er wollte eigene Kinder, das wusste ich, aber … doch nicht jetzt.

„Einverstanden?“ Die Ärztin bedachte mich mit einem eindringlichen Blick.

Ich nickte.

„Gut, dann werde ich sie jetzt auch nicht mehr weiter stören.“

Ha, als wenn das jetzt noch noch einen Unterschied machen würde. Wie hatte das nur passieren können? Okay, über die Technik und den Ablauf wusste ich Bescheid, was ich wissen wollte, war: Warum?

Die Ärztin verabschiedete sich noch mit einem freundlichen Gruß bei meiner Cousine und ließ uns dann wieder alleine.

Alina nahm direkt ihren Platz ein. „Ich war gerade bei Anouk“, verkündete sie, ohne den Hauch einer Ahnung von dem, was hier gerade geschehen war. „Es geht ihm schon viel besser. Wenn es weiter so läuft, kann er in zwei Wochen entlassen werden.“

„Das ist gut.“ Besonders wenn man bedachte, wie schwer Anouk verletzt worden war.

Im Wald hatte Cio es mir nicht sagen wollen, doch sobald ich im Krankenhaus war, hatte ich erfahren, was wirklich auf meiner Hochzeit los gewesen war. Alina und Aric hatte man von weitem mit Betäubungspfeilen betäubt und einfach im Unterholz liegen gelassen. Aric war auf seinen raufgefallen, weswegen ich ihn nicht bemerkt hatte. Anouk jedoch hatte mitbekommen, wie Alina zusammengebrochen war und sich direkt auf die Angreifer gestürzt. Leider waren die ihm zwei zu eins überlegen gewesen. Er hatte einen Haufen Bisswunden, Hautabschürfungen, eine gerissene Milz und ein gebrochenes Bein. Als man ihn fand, hatte er kurz vor dem Verbluten gestanden. Es grenze an ein Wunder, dass sie ihn nicht umgebracht hatten. Aus diesem Grund befand sich im Moment auch fast die ganze Familie in Silenda. Meine Tante Vivien wich kaum noch von der Seite ihres Sohnes, was es Alina sehr schwer machte, ihren Freund zu bemuttern.

Das wusste ich so genau, weil sie sich gestern bei mir darüber beschwert hatte.

„Und, warum schaust du, als hätte dir jemand deinen Lolli geklaut?“

Wohl doch nicht so unaufmerksam, wie ich es mir in diesem Fall gewünscht hätte. Aber ihr das mit der Schwangerschaft jetzt sagen? Ich wusste selber noch nicht mal, wie genau ich dazu stand. „Nicht so wichtig. Erzähl mir lieber, was es Neues gibt.“

„Im Grunde nicht viel. Die Wächter suchen immer noch nach Iesha und ihren Anhängern. Mama treibt mich in den Wahnsinn, weil sie mich alle halbe Stunde anruft um sicherzugehen, dass ich noch lebe und Tante Amber hat sich endgültig von ihrer Freundin verabschiedet.“

„Serena ist weg vom Fenster?“

Sie nickte und begann mir dann vom aktuellen Familientratsch zu berichten. Das konnte mich zwar nicht wirklich von meiner neusten Sorge ablenken, doch im Augenblick war es ganz gut, meine Gedanken erstmal in eine andere Richtung zu lenken, bis ich mir selber im Klaren darüber war, was das nun für mich bedeutete. Ein eigenes Kind war immerhin eine große Verantwortung, der man sich den Rest seines Lebens widmen musste.

Als die Tür zum Krankenzimmer das nächste Mal geöffnet wurde, erzählte Alina mir gerade, dass sie überlegte eine Semersterpause einzulegen, um ein paar Wochen bei Anouk bleiben zu können. Natürlich nur um ihm beim Umzug zu helfen und ihm die ersten Wochen nach dem Krankenhausaufenthalt zur Seite zu stehen. Und vielleicht um ein paar Doktorspielchen mit ihm zu treiben.

Ich schmunzelte. Doch sobald ich Cio in den Raum treten sah, wurde daraus ein Lächeln.

„Guten Morgen, Traumfrau“, begrüßte er mich und gab mir ungeachtet Alinas Gegenwart einen sehr innigen Begrüßungskuss, der doch leider sehr kurz ausfiel. Nicht wegen ihm, oder der Anwesenden, sondern weil … ich konnte es einfach nicht. Das mit Owen … er spukte noch immer in meinem Kopf herum und jedes Mal wenn Cio mich berührte, befand ich mich plötzlich wieder in dieser Pferdebox und ließ dass alles zu. Ich fühlte mich schmutzig und unrein, nicht gut genug für Cio. Doch bisher hatte ich es noch nicht über mich gebracht mit ihm oder überhaupt jemanden darüber zu sprechen. Und jetzt hatte ich noch etwas, dass mir auf der Seele brannte. Dabei hatte ich geglaubt, dass nun endlich alles vorbei sei.

So konnte man sich täuschen.

Cio merkte natürlich, wie schnell ich mich wieder vor ihm zurückzog und auch mein gespieltes Lächeln konnte ihn nicht über meine Unsicherheit hinwegtäuschen. Darüber reden wir noch, sagten seine Augen, doch solange Alina hier war, würde er mich nicht bedrängen. „Und, bereit ins heimatliche Nest zurückzukehren?“

Ich stieß einen schweren Seufzer aus, während er sich auf meiner Bettkante niederließ. „Ich ja, aber die Ärzte lassen mich erst heute Nachmittag gehen.“

„Ich könnte dich entführen.“ Er zwinkerte mir zu. „Einfach über die Schulter werfen und dann raus hier.“

Bevor ich dazu kam etwas dazu zu sagen, beugte Alina sich vor und zupfte an Cios Hose. „Ist dir aufgefallen, dass da lauter Löcher drinnen sind?“

Er warf ihr einen bösen Blick zu. „Die sind da erst seit zehn Minuten drin.“

Oh nein. „Ferox?“, riet ich einfach mal ins Blaue.

Er knurrte grimmig. „Er sitzt immer noch draußen und belauert den Eingang.“

Mist.

Wie ich vermutet hatte, war es für Ferox ein Leichtes gewesen, den Weg nach Hause zu finden. Nur Leider war sein Ziel nicht das Haus meiner Eltern gewesen, sondern das Krankenhaus. Es war nicht so, dass er versuchte hineinzukommen, oder sogar die Leute anfiel, die hier ein und aus gingen, er saß einfach nur draußen und wartete. Nur wenn Cio an ihm vorbei kam, kroch er aus seinem Versteck und begann dann immer wie wild an seinen Sachen zu zerren. Das war jetzt die dritte Hose, die dem Wilden zum Opfer gefallen war.

Ich war mir nicht ganz sicher, ob er damit seinen Unmut darüber ausdrückte, dass Cio zu mir konnte und er nicht, oder ob er meinem Freund damit dazu bringen wollte, mich aus dem Gebäude zu holen. Sicher war nur, dass ich Cio jetzt mehrere Hosen schuldete.

„Also ich habe ihn nicht bemerkt, als ich vorhin hier angekommen bin“, erklärte Alina.

„Aber auch nur, weil er nicht versucht hat, dir in aller Öffentlichkeit die Hose runter zu reißen.“

„Wäre auch etwas seltsam, da ich doch einen Rock trage. Solltest du vielleicht auch mal versuchen.“

Und da kam der nächste böse Blick. „Ein Rock? Sehe ich aus wie du?“

„Oh!“ Dafür gab sie ihn einen Klaps gegen das Knie, dass ihn grinsen ließ.

Kopfschüttelnd schlug ich meine Decke zurück und stieg vorsichtig aus dem Bett. Dank der ganzen Medikamente schmerzte mein Bein zwar nicht mehr, aber es war noch lange nicht wieder geheilt. Der Biss war zwar nicht so schlimm gewesen, aber bei der Flucht hatte ich mein malträtiertes Bein überstrapaziert und es damit schlimmer gemacht. Der ganze Dreck aus dem Wald, war auch nicht gerade förderlich für die Heilung. Es würde wohl noch ein paar Tage dauern, bis ich wieder manierlich würde laufen können.

Cio beobachtete mich dabei kritisch. „Wo soll es hingehen?“

„Aufs Klo.“ Ich griff nach meinen Krücken und stemmte mich auf die Beine.

„Ruf nach mir, wenn du Hilfe brauchst“, rief Cio noch, bevor ich die Badezimmertür hinter mir schloss.

„Wohl kaum.“ Mir war bewusst, dass er es durchaus ernst meinte, aber mal ehrlich, auch in einer Beziehung gab es ein paar Grenzen, die nicht unbedingt überschritten werden mussten. Und ein Besuch auf der Schüssel, gehörte durchaus dazu.

Ich hörte Alina und Cio lachen, während ich im Bad erledigte, was man da halt so erledigte. Es war schön das zu hören, zeigte es mir doch, dass wir trotz der ganzen Ereignisse ein kleinen wenig Normalität zurückgewonnen hatten. Aber ich wusste, würde ich zu lange hier drinnen bleiben, würde Cio früher oder später an die Tür klopften. Ja, der Normalzustand war zurückgekehrt, aber er machte sich trotzdem ununterbrochen Sorgen um mich. Dennoch erwischte ich mich beim Händewaschen dabei, wie ich meinen eigenen Bauch im Spiegelbild beobachtete.

Ich stellte das Wasser ab, trocknete meine Hände und stand dann einfach vor dem Spiegel. Alles sah ganz normal aus. Selbst als ich mein Hemd hob und meinen Bauch sehr eindringlich musterte, bemerkte ich keinen Unterschied. Natürlich nicht, dafür war es ja noch viel zu früh, ich konnte schließlich höchsten ein paar Woche schwanger sein. Aber irgendwann würde man etwas sehen.

Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich mit einem dicken Babybauch aussehen würde, wie Cio hinter mich trat und seine Hände darauf legte und ganz plötzlich musste ich lächeln.

 

°°°

 

Cio legte seine Hände auf die beiden Münzen auf dem Tisch, so dass sie verdeckt wurden – eine Münze unter jeder Hand. „Okay, und jetzt pass auf. Abra kadabra uuund voila!“ Er klappte seine Hände hoch und beide Münzen lagen unter seiner vorderen Hand.

Ich zog eine Augenbraue nach oben. „Wow, ich bin beeindruckt.“

Er grinste. „Pass auf, ich zeig dir noch einen.“ Er legte die Finger so aneinander, dass aus zwei Daumen einer wurde. Der Zeigefinger kam oben rüber. „So, nun sag die Zauberformel.“

Ich schaute ihn nur an.

„Ach komm schon, sonst funktioniert es nicht.“

Oh Mann. „Abra kadabra.“

Kaum waren die Worte ausgesprochen, tat Cio so, als zöge er seine linke Hand unter Anstrengung all seiner Kräfte weg und plötzlich war sein Daumen in zwei Teile geteilt. „Tada!“

Da konnte ich wirklich nichts mehr anderes tun, als amüsiert den Kopf zu schütteln und mich auf der Couch in Papas Wohnzimmer zurückzulehnen.

Es war nun eine Woche her, dass ich das Krankenhaus verlassen hatte und entgegen den Wünschen meines Vaters, hatten Cio und ich entschieden, dass es an der Zeit war den nächsten Schritt zu wagen und meine Sachen endlich in Cios Wohnung zu schaffen – und zwar heute. Das hatte nichts mit meiner Schwangerschaft zu tun. Genaugenommen wussten außer mir und ein paar Ärzten noch niemand, dass da ein neues Leben in mir heranwuchs.

Ein paar Mal war ich versucht gewesen, es Cio zu sagen, doch dann bekam ich immer Muffensausen. Es konnte so viel schief gehen und ich wollte ihm seine Hoffnungen nicht zerstören. Und dann war da noch die Sache mit dem Anfassen.

Es wurde zwar besser, aber wenn es zu überraschend kam, zuckte ich noch immer zusammen. Bisher hatte ich vermeiden können Cio darüber aufzuklären, doch allzu lange würde er sich sicher nicht mehr hinhalten lassen. Dafür liebte er es viel zu sehr, mir meine kleinen Geheimnisse zu entlocken. Aber mit Offenlegung dieses Geheimnisses würde er nicht glücklich werden.

„Okay, und jetzt …“

„Es wäre schön, wenn du auch mal helfen könntest“, knurrte mein Vater Cio von der Treppe aus an. In seinen Armen hielt er einen großen Karton, in dem sich laut Beschriftung meine Bücher befanden. Uh, der wog einiges.

„Ich helfe doch, ich unterhalte das Publikum.“

Papa zog seine Oberlippe ein wenig nach oben.

Seufzend erhob Cio sich. „Tut mir leid, aber ich muss zur tatkräftigen Unterstützung herbeieilen. Kommst du klar?“

„Mir geht es gut, Cio.“

Irgendwie schien ihn dass nicht zu überzeugen. Trotzdem sagte er „Okay“, beugte sich kurz vor und gab mir einen schnellen Kuss, bevor er sich erhob und nach oben in mein Zimmer verschwand.

Es fiel mir immer noch schwer, ihn aus den Augen zu lassen, denn so gut, wie ich gerne behauptete, ging es mir dann doch nicht. Was Cio und ich in den letzten Wochen durchgemacht hatten, war schon sehr belastend gewesen, doch nach meiner Tortur auf der alten Farm … ich fühlte mich nicht mehr wie ich und ich wusste nicht, wie ich das wieder ändern sollte.

Cio war in den letzten Tagen noch aufmerksamer, als er es eh schon war und hatte mich mehr als einmal tröstend in den Armen gehalten, wenn ich plötzlich einen Weinkrampf bekommen hatte, ohne zu wissen, warum es geschah.

Momentan war es weder für ihn, noch für mich einfach und was die Hochzeit anging … wir hatten nicht mehr darüber gesprochen.

Mein Ring war noch immer verschollen. Cio hatte versprochen mir einen neuen zu besorgen, aber irgendwie würde es nicht das selbe sein. Und wenn ich nur daran dachte, wieder in den Wald hinaus zu gehen, um einen weiteren Versuch zu wagen, fühlte ich, wie die Angst langsam zurück in meinem Körper sickerte.

Das war Ieshas Schuld. Eigentlich sollte ich jetzt verheiratet und mit Cio in den Flitterwochen sein, aber auch wenn ihre Pläne nicht gelungen waren, hatte sie es doch geschafft, uns diesen Tag kaputt zu machen und damit die Verbindung zwischen uns gestört hatte. Nicht nur wegen der Hochzeit, sondern wegen allem.

Alles war irgendwie komisch geworden.

Schritte auf der Treppe kündeten von Cios Rückkehr. Er grinste mich breit an und verschwand dann mit den beiden Kartons in seinen Armen auch zur Tür hinaus.

Da es mir zu langweilig war hier allein auf der Couch rumzusitzen und ich von den ganzen trüben Gedanken in meinem Kopf weg wollte, schnappte ich mir meine Krücken, stemmte mich hoch und humpelte ihm hinterher.

Direkt vor unserem Haus stand ein Lastwagen, den Onkel Tristan heute Morgen angeschleppt hatte. Alina und Aric turnten auf der Ladefläche herum und nahmen die Kisten entgegen. Diego befand sich auch irgendwo im Inneren und versuchte die Möbel und Kartons halbwegs ordentlich unterzubringen.

Schon erstaunlich, was man mit der Zeit alles so an Krempel ansammelte.

Ein Stück weiter stand meine Mutter und unterhielt sich mit Kaspar. Cayenne war auch schon hier gewesen, aber die war vor einer halben Stunde losgezogen, um für alle einen Happen zu essen zu besorgen. Wer nicht hier war, war Anouk, der lag noch im Krankenhaus. Und auch Kiara glänzte durch Abwesenheit. Es wunderte mich nicht wirklich, aber ich fand es schade.

Alle anderen jedoch waren gekommen. Es war ein heilloses Durcheinander und während ich sie alle beobachtete, wurde mir richtig warm ums Herz. Das hörte sich vielleicht abgedroschen an, aber das war es nun einmal, was ich in diesem Moment fühlte.

Alina sagte irgendwas zu Cio, woraufhin er so tat, als wollte er sie von der Ladefläche ziehen. Sie schrie lachend auf, packte den Haltegriff und hielt sich fest. Mein Vater beäugte das kritisch, sagte aber nichts dazu.

Als Cio klar wurde, dass er sie nicht runterziehen konnte, sagte etwas, machte aus was-weiß-ich für Gründen eine Pirouette und bemerkte dabei, dass ich vor dem Haus stand und sie alle beobachtete. Sofort war Alina vergessen. Er lächelte mich an und nahm direkt Kurs auf mich.

Trotz allem was geschehen war und den Wolken, die noch über uns hingen, wirkte er nach langer Zeit einfach nur glücklich. Und das machte auch mich glücklich.

„Hallo Mitbewohnerin“, säuselte er, fasste vorsichtig nach meinen Hüften, um mir nicht ausversehen meine Krücken wegzuschlagen und hielt mich fest.

„Hallo Mitbewohner.“

„Uh, das hört sich toll an.“ Er stahl sich einen kleinen Kuss von meinen Lippen und lehnte dann seine Stirn an meine. „Hab ich dir heute schon gesagt, wie sehr ich dich liebe?“

Ich grinste. „Nicht mehr seit dem Frühstück.“

„Dann bleibt mir ja noch ein wenig Zeit, bis ich das wiederholen muss.“

Muss. Wie sich das anhörte. Als würde ich ihn dazu zwingen. „Vielleicht schaffe ich es ja später noch, dir eine Liebeserklärung zu entlocken.“

Das ließ ihn leise lachen. „Versprich nichts, was du nicht halten kannst.“

„Cio!“, rief mein Vater. „Wenn du meine Tochter schon aus meinem Haus in deinen Sündenpfuhl lockst, dann hilf gefälligst mit ihre Sachen in den Wagen zu laden!“

Oh ja, ich liebte diese Familie.

 

°°°°°

Epilog

 

Hass, das war es was durch Ieshas Adern rauschte. Purer, unverfälschter Hass. Und wenn sie sah, wie diese Schlampe mit ihrem Cio einen auf glückliche Familie machte, brannte er sogar noch heißer in ihr.

Alles war schiefgegangen, das große Endspiel war ein einziges Desaster geworden und nicht mal die Tatsache, dass diese Missgeburt nun wegen ihr auf Krücken durch die Gegend schwabbeln musste, konnte ihren Zorn lindern, denn Cio hatte sie angegriffen. Iesha konnte es immer noch nicht fassen, doch die Bisswunden an Schulter und Nacken waren Beweise, die sich nicht einfach verleugnen ließen.

Wäre Umbra Logan nicht dazwischen gegangen … sie wusste nicht wie es ausgegangen wäre, denn Cio war so zornig gewesen. Auf sie, auf das was sie getan hatte, weil er nicht verstehen konnte. Dabei hatte sie das doch alles nur für ihn getan, für ihn und ihre gemeinsame Zukunft. Sie verstand nicht, wie er das hatte tun können, aber sie wusste, dass dieses Flittchen auf dem Handyvideo daran schuld war und dafür würde sie büßen.

Aber nicht nur sie. Iesha würde Rache nehmen und diese abscheuliche Kreatur leiden lassen. Sie würde ihr alles nehmen, was sie liebte. Sie würde sie verletzten und ihr Leben zur Hölle machen, bevor sie ihr dann eigenhändig den Hals umdrehte. Keine Spielchen mehr, keine Verzögerungen und ausgeklügelten Pläne, nichts als blutige Rache.

„Behalte sie im Auge“, befahl Iesha Jamal und schaltete das Video auf dem Handy ab, als das Miststück sich von ihrem Cio trennte um zum Garten zu gehen und dieses hässlichen Wolf herauszulassen, den sie sich seit neustem als Haustier hielt. „Ich will über alles informiert werden.“

„Das ist nicht mehr so einfach“, erwiderte Jamal ruhig. Er war die einzige Person, die ihr nach dieser Episode noch geblieben war.

Sie funkelte ihn nur an. „Du bist doch nicht dumm, also lass dir gefälligst etwas einfallen.“ Sie reichte ihm sein Handy zurück. „Ich will über alles informiert werden.“ Und dann würde dieses Walross genauso leiden, wie sie nun litt. Oh ja, Iesha würde persönlich dafür sorgen, dass diese Hure unterging und dabei alles mitriss was ihr lieb und teuer war.

 

°°°°°

Impressum

Cover: Cover by Kathrin Franke-Mois - Epic Moon Coverdesign
Tag der Veröffentlichung: 22.01.2018

Alle Rechte vorbehalten

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