Cover

Prolog

Ein Funke aus Licht. Er trieb im unendlichen Nichts. Pulsierend. Er lebte nicht, doch war er auch nicht tot. Er fühlte nichts, und doch war da etwas, das er nicht zu benennen vermochte. Er kannte keine Worte und keine Gedanken. Er war sich seiner selbst nicht bewusst, und doch wusste er um seine Existenz.

Zeit verstrich. Der Funke wuchs heran, erschuf sich selbst, gedieh und erblühte zu seinem eigenen, einzigartigen Ich. Er bekam Form und Farbe, seine Glieder streckten sich, berührten das Nichts und ließen es zerfallen, um eine Welt zu schaffen, die er erfassen konnte. Eine kahle, unendliche Einöde, formlos und wässernd. Nichts als Grau.

Der erste Atemzug schmerzte in der Lunge, der zweite blähte seine Nasenflügel auf. Er blinzelte. Augen – er konnte sehen, doch da gab es nichts, was es sich anzusehen lohnte. Vor ihm erstreckte sich nichts als Leere.

Seine Hände streiften über trockenen Boden, sein gebeugter Leib zitterte. Es war kalt, so kalt.

Ein Wunsch reifte in seinem Inneren heran. Der Wunsch nach Wärme. Und so, wie er es wollte, so geschah es auch. Wärme strahlte auf ihn herab, doch ihr folgte das Licht. Geblendet schloss er die Augen, mit dem Willen, etwas Dunkelheit zu erschaffen.

Der Boden um ihn herum vibrierte, die Erde brach auf. Eine Pflanze schob sich hinaus, wuchs und wuchs, bis sie ihn weit überragte. Aus einem dünnen Stock wurde ein dicker Stamm. Äste verzweigten sich in alle Richtungen, griffen nach dem Firmament und den vier Himmelsrichtungen. Die Zweige vibrierten, gebaren Blätter, bis der Stamm eine Krone aus saftigem Grün trug. Zarte Knospen schoben sich ins Licht der Welt, brachen auf und erblühten in farbenfroher Pracht. Unter dem Gewicht von reifen Früchten bogen die Äste sich dem Boden entgegen.

Rascheln und Knistern verstummte. Alles wurde wieder ruhig.

Langsam, da er sich noch nicht an die Glieder seines Körpers gewohnt hatte, erhob er sich vom Boden und starrte hinauf in den Baum, ohne zu wissen, was er dort vor sich hatte. Haltsuchend bewegte er einen Fuß – ein erster Schritt, der ihn näher an dieses Wunder heranbringen sollte. Allerdings wollten seine Beine dieses ungewohnte Gewicht nicht tragen. Er stolperte, verlor das Gleichgewicht und landete auf Händen und Knien auf dem harten Boden.

Der Schmerz, der ihn durchzuckte, war nicht nur ungewohnt, sondern auch fremd. So etwas kannte er nicht und er mochte es auch nicht. Er wollte keinen Schmerz fühlen, wenn er stolperte.

Die Welt um ihn herum gab seinem Anliegen nach. Der ganze Grund unter ihm schien zu erzittern, während überall kleine grüne Halme ihren Weg ins Freie suchten und das unendliche Grau um ihn herum in etwas Weiches verwandelten.

Langsam, fast zögernd, ließ er seine Hände über das weiche Gras streichen. Es gefiel ihm. Mit allen seinen Sinnen nahm er die Farbe und den Geruch in sich auf. Er mochte es; die Beschaffenheit entzückte ihn.

Zufrieden seufzend bettete er sich unter den Baum und schloss die Augen. Er lag einfach nur da, ruhte in der Wärme unter dem Schutz des Baumes, doch es war so still. Keine Geräusche drangen an seine Ohren, alles war ruhig.

Am Anfang war es in Ordnung, doch die Zeit rann dahin und mit jedem verstreichenden Moment wurde die Stille drückender. Schon bald fühlte er sich sehr einsam. Sollte das alles sein, was er besaß? Alles, was er sich von diesem Leben erhoffen konnte?

Er wurde unruhig.

Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als er die Augen das nächste Mal aufschlug. Nichts hatte sich verändert, alles war noch genau so, wie er es begehrt hatte. Und doch fehlte ihm etwas.

Sich seines Körpers nun zum ersten Mal in seiner Existenz bewusst, erhob er sich und betrachtete die endlosen Weiten aus Grün. Die Stille schien ihn zu verspotten; die Einsamkeit ruhte wie eine schwere Last auf seinen Schultern. Vielleicht gab es dort draußen noch einen Funken. Wenn er nun gehen und ihn suchen würde, wäre er nicht länger allein. Doch als er den Mut fand, sich von seinem Baum zu entfernen, knackte und knisterte es hinter ihm. Er brauchte einen Moment, um festzustellen, dass diese Geräusche von dem Baum kamen. Direkt vor seinen Augen begann er zu vergehen und das Gras zu verdorren.

Trauer erfüllte sein Herz. Dies wollte er nicht, darum setzte er sich wieder unter seinen Baum, der im selben Moment erneut zu voller Blüte erwachte.

Er verstand. Er war es, der dies erschaffen hatte, und ohne ihn würde es einfach wieder erlöschen, als hätte es dieses Wunder niemals gegeben.

Unter der Last der Verantwortung verharrte er an dieser kleinen Oase in der endlosen Öde, doch die Einsamkeit wurde immer unerträglicher. Er wünschte sich so sehr, nicht länger allein zu sein, und wie schon zuvor war sein Sehnen alles, was es brauchte, um etwas zu erschaffen.

Es war ein Funke, so wie er selbst einer gewesen war. Ein kleiner Quell des Lichts, der sich formte, bis er ihm glich und keuchend zu Boden ging. Doch er war ihm nicht gleich. Dieser Funke war zierlicher als er selbst, die Haut war zarter als seine eigene und besaß weich geschwungene Rundungen, wo er keine hatte.

Hoffnung keimte in ihm, doch der zweite Funke schaute ihn nur an, sah, was er geschaffen hatte, und wandte sich von ihm ab, um fortzugehen.

Der erste Funke blickte ihm lange hinterher. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er den anderen am Horizont verschwinden sah. Doch das eigentliche Wunder waren die Dinge, die er auf seinem Weg hinter sich erschuf. Berge und Täler, reißende Flüsse und endlose Wälder.

Leider vergingen die Wunder einfach, wenn er sich zu weit von ihnen entfernte. Das machte den ersten Funken traurig. Er wollte nicht, dass sich all diese Schönheit wieder auflöste, und so erschuf er das Einzige, das diese Welt auf ewig erhalten würde.

 

°°°°°

Tag Eins

Fünf kleine Finger drückten sich vorsichtig gegen die glatte Oberfläche des Glases. „Aja!“

Ich ließ mein Buch in den Schoß sinken und sah zu meiner kleinen, zweijährigen Tochter, die sich wirklich für alles begeistern konnte. Besonders der große Schrankspiegel hatte es ihr angetan. Sie bekam nie genug davon. Stundenlang konnte sie davorsitzen und sich selbst ansehen.

„Aja!“

„Nein Phinchen, nicht Aja. Das heißt Spiegel, das hab ich dir doch schon ganz oft erklärt. Spie-gel.“

Seraphine zog ihre Stirn über den großen, grünen Augen leicht kraus. „Aja!“, rief sie wieder freudig und klatschte in die Hände. „Aja! Aja!“

Schmunzelnd beobachtete ich, wie sie mit ihren kleinen Patschehändchen wieder gegen den Spiegel schlug und dabei jauchzte, als würde sie ein Einhorn auf einem Regenbogen beobachten und nicht ihr eigenes Spiegelbild.

Wehmut machte sich in meinem Herzen breit. Es war der Spiegel, durch den ich bereits zweimal getreten war.

Drei Jahre war es nun her, dass Askea mich in meine Heimat zurückgeschickt hatte. Drei Jahre, in denen kein Tag vergangen war, an dem ich nicht an ihn oder Fax gedacht hätte. Drei Jahre, in denen ich nur dank meiner Tochter nicht zerbrochen war.

Sieben Monate nach meiner Rückkehr war sie zur Welt gekommen. Die Schwangerschaft mit ihr war problematisch gewesen. Ab dem vieren Monat hatte ich das Bett nicht mehr verlassen dürfen, um einer Fehlgeburt entgegenzuwirken, und dennoch war sie zu früh gekommen. Einunddreißigste Schwangerschaftswoche.

Tage und Wochen hatte ich an ihrem Brutkasten um sie gebangt. Es war mir fast wie ein Wunder vorgekommen, als die Ärzte mir endlich erlaubt hatten, sie mit nach Hause zu nehmen. Seitdem hütete ich sie wie meinen Augapfel. Sie war der größte Schatz in meinem Leben und ich würde sie gegen nichts in der Welt eintauschen wollen. Niemals.

Und doch konnte sie diese quälende Sehnsucht in meinem Herzen nicht lindern.

Jeden Tag, wenn ich aus meinem Bett stieg, sah ich den Spiegel an meinem Schrank und wünschte mir, ihn noch einmal zu durchschreiten – auch wenn es nur für wenige Tage wäre. Doch das konnte ich nicht. Ich wusste, dass es mein Todesurteil bedeuten würde. Askea hatte richtig gehandelt, als er mich hierher zurückgeschickt hatte – heute war mir das bewusst. Leider milderte das meinen Schmerz nicht.

Aber was diese Qual wirklich unerträglich machte, war die Ungewissheit. Bis heute hatte ich keine Ahnung, was mit meinem drakonischen Dämon und seinem Sohn geschehen war, und ich hatte Angst davor, es herauszufinden, weil es mich zerstören könnte. Was, wenn sie den Jägern damals nicht hatten entkommen können? Noch heute zeigte der Spiegel die Spuren des Kampfes. Das Holz, das ihn einrahmte, war verbrannt und schwarz, die Einfassung leicht geschmolzen. Doch trotz der schmerzhaften Erinnerungen wagte ich es nicht, ihn abzunehmen. Dieser Spiegel war alles, was mir geblieben war.

Er und das Foto auf meinem Handy.

„Niedlich“, hatte Talita vor Jahren gesagt, als ich es ihr gezeigt hatte, und es dann heimlich für mich rahmen lassen. Jetzt stand es auf meinem Schreibtisch.

„Aja!“, rief Seraphine wieder und gluckste begeistert. Sie war mir praktisch wie aus dem Gesicht geschnitten. In ihrem Alter hatten Talita und ich ganz genauso ausgesehen, nur waren unsere Ohren nie so spitz gewesen. Und unser Haar war blond gewesen, nicht rot. Das Vermächtnis ihres Vaters.

„Mamam, Aja.“ Als sie hüpfte, tanzten die kleinen Zöpfchen auf ihrem Kopf.

„Ja, mein Schatz, ich sehe es.“ Ich neigte den Kopf leicht zur Seite und musterte meine Tochter. Manchmal fragte ich mich, ob sie an dem Spiegel etwas wahrnahm, was mir verborgen blieb. Wie sonst sollte ich ihre Begeisterung für dieses Möbelstück erklären?

Hör auf, dich selbst verrücktzumachen. Das war nur wieder Wunschdenken. Leider.

Seufzend legte ich mein Buch zur Seite und erhob mich von meinem Bett. Ich musste mich dringend von meinen Gedanken ablenken, also holte ich Seraphines Malzeug aus dem Schrank und setzte mich damit auf den Boden. „Guck mal, Phinchen, wollen mir malen?“

„Ja!“ Begeistert klatschte sie einmal in die Hände und lief dann, so schnell es ihre kurzen Beinchen zuließen, zu mir auf ihre Spieldecke. Mit einem Rums ließ sie sich mir gegenüber auf den Hintern fallen und griff sofort nach dem roten Stift. Das war ihre Lieblingsfarbe.

„Malbuch oder Blatt?“, fragte ich schmunzelnd.

„Bat“, sagte sie und griff bereits danach, ohne mir die Chance zu geben, es ihr zu reichen.

Für ihr Alter sprach Seraphine sehr schlecht. Die Ärzte sagten, dass es nicht weiter schlimm wäre. Ihrer Meinung nach käme das davon, dass sie eine Frühgeburt gewesen war, und es würde sich mit der Zeit von alleine regeln. Trotzdem machte ich mir Sorgen um sie. Sie war schließlich meine Tochter. Sie war alles, was mir aus meiner Zeit in der anderen Welt geblieben war, und gleichzeitig das größte Geschenk, das ich jemals hätte bekommen können.

Die Kappe ihres Stiftes riss Seraphine so schwungvoll ab, dass sie ihr beinahe aus der Hand geflogen wäre. Sie bemerkte es nicht einmal, griff nur nach ihrem Blatt und hielt im gleichen Moment wieder inne.

Ihre Mundwinkel sanken herab und in ihrem Auge bildete sich eine kleine Träne. „Mamam“, ihre Lippe zitterte, „aua.“

Oh je, da war eine kleine rote Linie auf ihrem Finger. Sie hatte sich geschnitten, als sie zu schnell nach dem Papier gegriffen hatte.

Vorsichtig hob ich ihre Hand und pustete darauf. „Das ist nicht schlimm“, tröstete ich sie. „Das verheilt ganz schnell.“

Ihre Lippe zitterte noch immer. „Aua“, jammerte sie wieder.

„Ach Schatz.“ Ich strich ihr übers Gesicht und wischte die kleine Träne weg. „Pass auf, ich geh kurz in die Küche und hole dir ein Pflaster, dann ist gleich wieder alles in Ordnung. Okay?“

Das Beben ihrer Unterlippe ebbte ein wenig ab.

„Okay.“ Ich beugte mich vor, nahm ihr Gesicht mit den weichen Puderbäckchen zwischen die Hände und gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. Dann erhob ich mich und verließ das Zimmer, das ich seit meiner Geburt bewohnte.

Ja, ich wohnte noch immer im Haus meines Vaters. Vielleicht war das für eine Fünfundzwanzigjährige seltsam, aber es war einfach praktisch. Wenn ich zu meiner Arbeit als Bürokraft musste, war immer jemand da, der auf die Kleine aufpassen konnte. Und hier, im Herzen meiner Familie, fühlte ich mich auch nicht so verloren.

Auch Talita und Veith lebten noch immer unter diesem Dach. Für Veith war es als Lykaner einfach normal, sein Leben mit der Familie zu verbringen. Mein Vater störte sich nicht daran, ganz im Gegenteil. So konnte er immer einen Blick auf seine kleinen Mädchen haben und war auch nicht so alleine. Schließlich waren wir alles, was ihm nach dem Tod unserer Mutter noch geblieben war. Das und seine Kreuzworträtsel, von denen nun auch wieder eines auf seinem Schoß lag, als ich das Wohnzimmer betrat.

Überrascht schaute er auf. „Musst du nicht arbeiten?“

„Ich habe Urlaub, Papa.“

„Du auch?“

Ich schmunzelte. „Talita und ich haben ihn zusammengelegt, damit wir ein paar Tage wegfahren können.“ Ich lehnte mich zu ihm vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Mein Vater war letztes Jahr in Rente gegangen, seitdem bekam er kaum noch etwas um sich herum mit. Nicht dass ihm irgendwie geistiger Verfall drohte, doch er war meist so beschäftigt, dass unwichtige Sachen einfach an ihm vorübergingen.

„Wo soll es denn hingehen?“

Ich zuckte mit den Achseln und lief an ihm vorbei in Richtung Küche, von wo ich Talitas und Veiths Stimmen hörte. „Das haben wir noch nicht entschieden“, erklärte ich noch über die Schulter hinweg, bevor ich in unsere heimische Kombüse trat. Vorbei an dem großen Tisch mit den ganzen Papierstapeln meiner Schwester ging es zum Hängeschrank in der Ecke. Dort kramte ich den Erste-Hilfe-Kasten hervor.

„Ist etwas passiert?“

Veith bemerkte sowas natürlich sofort.

Ich schmunzelte ihn an. Heute trug er sein sandfarbenes Haar ein wenig kürzer als zu der Zeit, in der ich ihn kennengelernt hatte. Ansonsten hatte er sich kein bisschen verändert. Er war immer noch ein Hingucker, bei dem es sich auch lohnte, einen zweiten Blick zu riskieren. Leider war er nicht mein Hingucker.

„Phinchen hat sich an einem Blatt geschnitten und braucht jetzt dringend ein Pflaster, damit die Welt wieder in Ordnung kommt.“

„Oh, armes Phinchen.“ Auch Tal schmunzelte, schob dann die Liste vor ihrer Nase zur Seite und streckte sich, bis ihre Gelenke knackten. „Hätte ich nur gewusst, was auf mich zukommt, hätte ich es mir vielleicht noch einmal anders überlegt.“

„Natürlich“, stimmte ich ihr augenverdrehend zu und zog ein Pflaster mit kleinen Herzchen aus dem Kasten. „Deswegen hältst du auch jedem, dem du begegnest, deinen Verlobungsring unter die Nase. Egal, ob es ihn interessiert oder nicht.“

Sie grinste nur breit.

Vor ungefähr einem Jahr war Veith zu mir gekommen. Er hatte sich mit Talita einen Liebesfilm angesehen, in dem es darum ging, dass die Braut immer direkt vor dem Altar die Flucht ergriff und es deswegen einfach nicht schaffte, unter die Haube zu kommen. Danach hatte Talita von dem Ring und den Kleidern geschwärmt.

Veith hatte das für einen Wink mit dem Zaunpfahl gehalten und mich um Hilfe gebeten. Das nächste Juweliergeschäft war unseres gewesen und nur drei Wochen später hatte er ihr einen Antrag gemacht.

Nun rückte der Termin für die Hochzeit immer näher. Talita hatte im Moment nur noch Gästelisten, Dekoration, Musik und Blumenbouquets im Kopf. Das Kleid war beim Schneider, um noch letzte Änderungen vorzunehmen, die Kirche bereits seit Monaten reserviert und der Pastor schon lange bestellt.

„Ich bin eben stolz auf meinen zukünftigen Mann“, säuselte sie und beugte sich über den Tisch, um ihm einen Kuss zu geben.

Ich stellte schnell den Kasten zurück, um es nicht sehen zu müssen. Es war nicht so, dass ich ihr das Glück missgönnte, doch ich kam gegen diesen Hauch von Eifersucht einfach nicht an, wenn ich die beiden zusammen sah.

Sie hatte mir erzählt, wie schwer es gewesen war, sich ihn zu angeln, und auch sie kannte meine Geschichte mit Askea. Es war anders, aber deswegen noch lange nicht einfacher gewesen. Doch der Unterschied, der zwischen uns bestand, war, dass sie ihr Glück mit nach Hause hatte bringen können. Ich hingegen war allein zurückgekehrt.

„Dann wünsche ich euch beiden noch viel Vergnügen bei der Auswahl der …“ Ich lugte über ihre Schulter auf den ganzen Papierkram, der vor ihr auf dem Tisch ausgebreitet war. „Bei was auch immer ihr im Moment gerade auswählt.“

„Wie stellen gerade das Menü für den Cateringservice zusammen und müssen dann noch den Tischplan ausarbeiten.“

„Wie gesagt, viel Spaß. Und wenn ihr Hilfe braucht, dann sagt Bescheid.“ Ich machte schnell, dass ich davonkam, damit sie nicht wirklich auf die Idee kamen, mich miteinzubeziehen. Natürlich half ich ihr gerne, doch im Moment gab es da ein kleines Mädchen, das sehnsüchtig auf ihr Pflaster wartete. Außerdem fühlte ich mich immer etwas unwohl, wenn ich sah, was die beiden hatten und was mir wiederum verwehrt blieb.

Seufzend schüttelte ich über mich selbst den Kopf. Heute hatte ich wohl mal wieder einen melancholischen Tag erwischt. Zum Glück war das nicht immer so.

Als ich zurück in mein Zimmer kam, erstarrte ich noch auf der Türschwelle. Das Pflaster fiel mir aus der Hand und segelte leise zu Boden.

Verwaist lag das Malzeug auf dem Boden. Der rote Stift lag auf dem Blatt, der passende Deckel dazu daneben auf dem Teppich. Das Zimmer war leer, von Seraphine keine Spur.

Doch das war es nicht, was mein Herz fast zum Stillstand brachte. Es war der Spiegel. Er war … offen. Am Rand war ein kleiner roter Fleck und das Portal leuchtete in einem schwachen Blau.

„Nein“, flüsterte ich und sah mich hektisch im Zimmer um, aber mein kleines Mädchen war nicht da. „Phinchen?“ Ich sah sogar unter dem Bett nach. „Phinchen!“ Das konnte nicht sein.

Natürlich, die Kleine war meine Tochter, aber es konnte ihr doch unmöglich gelungen sein, das Portal in die andere Welt zu öffnen. „Seraphine!“ Mein Ton wechselte von leichter Ungeduld zu Besorgnis. Eine mir bisher unbekannte Panik stieg langsam in mir auf. „Tal, Veith!“, schrie ich und rannte aus dem Zimmer, um das Bad zu überprüfen, aber auch hier konnte ich sie nicht finden.

Ich stürmte wieder zurück in mein Zimmer. Seraphine hatte sich geschnitten. Blut war für den Übergang nötig, genau wie ein Pentagramm. Sie konnte einfach nicht auf der anderen Seite des Spiegels sein, sie wusste doch noch nicht einmal, was ein Pentagramm war!

Ich riss die Schranktür auf, in der Hoffnung, dass sie sich vielleicht darin versteckt hatte, aber bis auf meine Kleidung und eine alte Sporttasche war er leer.

Gerade als ich ihn wieder schloss, hörte ich hastige Schritte auf der Treppe. Ich wirbelte herum, als Talita und Veith mit meinem Vater auf den Fersen in mein Zimmer stürmten.

„Was ist los, warum hast du geschrien?“ Veiths verwirrter Blick richtete sich auf das offene Portal.

„Ist Phinchen bei euch?“ Bitte sagt ja, bitte.

Alle drei schüttelten den Kopf.

„Verdammt!“ Ich schlug gegen den Schrank und rannte zu Seraphines Malzeug. Ohne darüber nachzudenken, griff ich nach dem erstbesten Stift und malte mir das Zeichen der Hexen auf den Handrücken. Dabei zitterten meine Finger so sehr, dass es krumm und schief wurde. Egal.

„Was ist los?“ Talita schaute sich suchend in meinem Zimmer um und entdeckte das offene Portal. Sie schlug die Hände vor den Mund. „Tiara, warum …?“

„Das war ich nicht“, erklärte ich und kramte in der Schublade meines Nachttisches herum, bis ich mein Taschenmesser zwischen die Finger bekam. „Es war schon offen, als ich ins Zimmer kam.“

„Phinchen“, hauchte Veith.

Mit zusammengekniffenen Lippen nickte ich „Ich weiß nicht wie, aber sie muss es geschafft haben, das Portal zu öffnen. Und jetzt ist sie weg.“ Die Klinge meines Messers klappte auf. Etwas zu heftig ließ ich sie über meinen Finger schneiden – aua. Sofort quoll Blut heraus.

„Was hast du vor?“, fragte mein Vater.

„Was schon? Sie ist meine Tochter. Ich muss ihr hinterher.“

„Nein, warte Tia, du kannst doch nicht –“

„Ich muss“, schnitt ich Talita das Wort ab. Nichts konnte mich aufhalten. Es war mir egal, ob die Magie mich wieder krankmachen würde, darüber konnte ich mir später noch Gedanken machen.

Entschlossen schritt ich zum Spiegel, warf meiner Familie einen kurzen Blick zu und atmete noch einmal tief durch. „Bring mich zu meiner Tochter.“ Ich drückte meinen Finger in das blaue Licht, dann trat ich hinein.

 

°°°

 

Das Licht des Spiegels spuckte mich direkt auf einen unebenen Steinboden aus. Ich stolperte, knallte auf die Knie und schürfte mir die Haut an den Händen auf. „A-au“, zischte ich mit zusammengebissenen Zähnen und kniff für einen Moment die Augen zusammen. Eine elegante Landung sah definitiv anders aus.

„Mamam!“, erklang ein freudiges Stimmchen quietschend.

Mein Blick schnellte hoch. Seraphine stand an einem grob gezimmerten Holzregal und strahlte mich an, als wäre sie die Sonne selbst. „Phinchen!“

„Mamam!“

Kleine Steinchen gruben sich in meine Handballen, als ich hastig auf die Beine sprang und sie in meine Arme riss. Erleichtert drückte ich sie an mich, versicherte mich, dass sie auch wirklich hier war. „Wie kannst du mir nur so einen Schrecken einjagen?“, flüsterte ich und hob sie hoch. Sie schien unversehrt. Rosige Bäckchen, ein strahlendes Lächeln und lauter hüpfende Zöpfchen auf ihrem Kopf. Selbst der kleine Schnitt an ihrem Finger war verheilt.

Immer noch aufgewühlt, jedoch erleichtert, stieß ich den Atem aus. „Oh Gott, Phinchen, mach das nie wieder.“

Ihr Händchen griff nach meiner Wange. „Mamam, aua?“

Ich blinzelte, spürte die Träne, die über mein Gesicht lief. „Nein“, sagte ich, wischte sie hastig fort und lächelte aufmunternd. „Nein, mit mir ist alles in Ordnung.“ Auch wenn mein Herz immer noch wie wild schlug. Ihr war nichts passiert, sie war in Ordnung. Alles würde gut werden.

„Mamam, gug.“

Ein Blick auf ihre kleine Faust und mein Herz setzte einen Schlag aus, denn auf das, was sie mir da zeigte, war ich nicht vorbereitet. Von ihren Fingern umklammert, hielt sie mir ein altes, leicht angekohltes Armband vor die Nase. Sie musste es aus dem Regal genommen haben. Ein Perlenarmband. Holzperlen, mehrere Reihen. Die Farbe war verblasst und die einzelnen Glieder zum Teil angesengt, doch ich erkannte es sofort.

Dieses Armband … Ich selbst hatte es vor vielen Jahren hergestellt. Jede einzelne Perle war von mir bemalt worden. Es war ein Geschenk für Askea gewesen.

Askea.

Als mir die Bedeutung dieses Anblicks klar wurde, begann mein Herz wie wild zu trommeln. Ich wirbelte herum. Eine grobe Höhle. Außer mir und Phinchen war niemand hier. Hinten in der Ecke befand sich ein Lager aus Fellen, genau wie hier vorne und an der gegenüberliegenden Wand. Drei Schlaflager. Dann gab es da noch das schiefe Regal und eine Feuerstelle in der Mitte unter dem Rauchabzug. Abgesehen davon war dieses steinerne Heim leer. Viel mehr hätte hier auch nicht hineingepasst, so klein war es. Dass ich hier drinnen aufrecht stehen konnte, glich schon beinahe einem Wunder.

Ein weiterer Blick durch die Höhle offenbarte mir andere vertraute Dinge aus meiner Vergangenheit. Der Spiegel, den Askea für mich besorgt hatte und der nun vergessen an der Wand lehnte. Die Seesäcke mit den kunstvollen Verzierungen. Der Topf mit der Beule, den Askea einmal gegen die Wand geworfen hatte, weil er sauer auf mich gewesen war. Die Schale mit der Kerbe in der Seite.

Vor Staunen wurden meine Augen immer größer. Diese Dinge gehörten Askea. An jedem einzelnen Gegenstand hingen Erinnerungen. Ich hatte sie alle berührt.

Langsam drehte ich mich um meine eigene Achse, während Erinnerungen aus der Vergangenheit meinen Kopf erfüllten.

Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen. Kleine Steinchen knirschten unter meinen Hauslatschen.

Ein frischer, warmer Windstoß machte mich auf den Ausgang aufmerksam. Es war nur ein großes Loch in der Wand, das wenig von der Landschaft draußen preisgab. Ein kleines Wäldchen aus Akazien versperrte mir den Blick auf die Umgebung, doch ich konnte das helle Licht der Sonnen und den so vertrauten roten Sand sehen.

Ich war zurück.

Oh mein Gott, ich war wirklich zurück!

Das Herz in meiner Brust begann vor Freue zu hüpfen. Ich war wieder im Roten Hinterland.

Langsam ließ ich Seraphine hinunter und drehte mich ein weiteres Mal um mich selbst. Diese Höhle war mir völlig fremd, doch die Dinge darin waren mir so vertraut. Und dann entdeckte ich einen Kampfstab in der Ecke.

Fast ehrfürchtig näherte ich mich ihm. Meine Finger zitterten leicht, als ich ihn berührte und vorsichtig in die Hand nahm. Ich kannte ihn, doch er hatte sich verändert. Die Runen und Muster waren mit Farbe gefüllt und um das untere und obere Drittel waren lederne Bänder für einen festen Griff gewickelt worden. Trotzdem war es der Stab, den Askea für mich gemacht hatte. Er hatte seine Arbeit an ihm beendet.

„Askea“, flüsterte ich.

Es gab einen lauten Rums, der mich herumwirbeln ließ. Ich erwartete, dass Seraphine irgendetwas heruntergeschmissen hatte, doch das Geräusch war von ganz anderer Stelle gekommen. Veith. Er lag vor dem Spiegel und versuchte gerade, sich auf die Beine zu rappeln. In dem Moment erleuchtete der Spiegel hinter ihm erneut und spuckte Talita aus. Sie landete genau auf ihrem Verlobten und streckte ihn ein weiteres Mal zu Boden.

Trotz meiner überwältigenden Lage konnte es mir nicht verkneifen zu kichern; es sah einfach zu lustig aus.

„Tal!“, strahlte Seraphine, ließ alles stehen und liegen und kam angewackelt – nur das Armband behielt sie fest im Griff.

Veith und meine Schwester mühten sich gerade damit ab, in eine sitzende Position zu kommen und sich zu orientieren, als mein kleines Mädchen ihrem Onkel einfach einen Schmatzer auf die Wange gab. Überrascht und auch ein wenig verwirrt zuckte er zurück, schaute von ihr zu mir und weiter zu Talita, die auf den Knien hockte und sich den Kopf hielt.

Ich blinzelte. „Warum sind deine Haare grün?“

Erschrocken riss sie den Kopf hoch, schien es aber sofort zu bereuen. Sie verzog das Gesicht und drückte ihre Hände gegen die Schläfen. Es war wirklich ein qualvoller Anblick. Diese Kopfschmerzen …

Moment.

Natürlich. Warum war mir das nicht schon früher aufgefallen? Als ich das erste Mal in die magische Welt gekommen war, hatte auch ich Kopfschmerzen gehabt. Es hatte so sehr geschmerzt, dass ich mich im ersten Moment überhaupt nicht bewegen hatte wollen. Doch jetzt war da gar nichts. Ich fühlte mich pudelwohl. Eine kurze Musterung meines kleinen Engels ließ den Schluss zu, dass auch mit ihr alles in Ordnung war. Sie hüpfte einfach nur auf und ab und freute sich, dass ihr Onkel und ihre Tante hier waren.

Plötzlich lag ein leises Grollen in der Luft. Verwundert wandte ich mich zu Veith, der mich anknurrte und seine Hand schützend vor Talita hielt.

„Wer bist du?“, fragte er sehr leise.

Sollte das ein Scherz sein? Nein, natürlich war das kein Scherz. Er war durch den Spiegel gegangen, genau wie Talita. Wer durch den Spiegel ging, verlor seine Erinnerungen. Veith erkannte mich nicht, denn er hatte mich ja erst in der nicht-magischen Welt kennengelernt.

Hieß es, dass er alles vergessen hatte, was dort drüben passiert war? Ich runzelte die Stirn. Und Talita? Konnte sie sich auch nicht erinnern? Aber warum zum Teufel konnte ich mich eigentlich erinnern?

„Antworte mir“, knurrte Veith und rückte ein wenig von Seraphine ab, als sie ihm zu nahe kam und Anstalten machte, ihm das Armband zu zeigen.

„Hey, mach das nicht! Sie weiß nicht, dass du dich nicht an sie erinnern kannst.“ Moment, so vertraut, wie sie mit ihrem Onkel umging, musste sie sich auch an ihn erinnern. Aber … wie war das möglich? Und warum wusste sie, wer ich war? Das hätte sie doch eigentlich alles vergessen müssen. Die Falten auf meiner Stirn gruben sich tiefer in meine Haut.

„Du siehst … aus wie ich“, flüsterte Talita plötzlich. Ihre Augen waren weit aufgerissen, als glaubte sie, ein Gespenst vor sich zu haben.

„Wir sind ja auch eineiige Zwillinge.“ Als Seraphine das Armband wieder vorstreckte, hob ich sie auf den Arm und schaute von einem zum anderen.

„Aber …“, sie ließ ihren Blick durch die Höhle schweifen, „wo sind wir?“

„In der magischen Welt. Wahrscheinlich im Roten Hinterland.“ Davon zumindest ging ich aus.

Auf Veiths Stirn erschien wieder diese kleine Furche, die sich dort so oft einen Platz suchte. „Wir wollten diese Welt verlassen.“

„Das habt ihr auch.“ Ich neigte den Kopf leicht zur Seite. „Vor ungefähr fünf Jahren seid ihr in der Welt der Menschen gelandet. Dort habt ihr bis jetzt gelebt. Ihr habt gearbeitet, euch verlobt und –“

„Verlobt?!“ Talita riss abermals ihre Augen auf.

„Schau auf deine Hand. Den Ring hat er dir letztes Jahr gegeben. Seitdem hältst du ihn jedem ungefragt unter die Nase.“

Talita sah auf die Finger ihrer linken Hand, doch die Überraschung ließ einfach nicht nach.

„Wenn es stimmt, was du sagst, warum sind wir dann wieder hier?“, wollte Veith von mir wissen. Er richtete sich ein wenig mehr auf und fixierte mich, als wollte er mich mit seinem Blick durchbohren.

„Wegen Phinchen.“ Ich ließ sie ein wenig auf meiner Hüfte hüpfen, was sie zum Lachen brachte. „Ich weiß nicht wie, aber es ist ihr gelungen, das Portal hierher zu öffnen und hindurchzugehen. Ich bin ihr hinterher.“

Talitas Augen richteten sich auf mein Mäuschen. Ihr Mund ging auf …

„Wage ja nicht zu fragen, wer das ist!“, warnte ich sie.

Tals Augen huschten zu meinen. „Ist das … ist das meine Tochter?“

Mein Mundwinkel zuckte, halb belustigt, halb beleidigt. „Nein, das ist meine Tochter. Du bist nur die Tante. Tante Tal, um genau zu sein.“

„Tal!“, rief Seraphine.

„Und warum sind wie dann hier?“ Die Falte auf Veiths Stirn wollte gar nicht mehr verschwinden.

Ja, das war eine ausgezeichnete Frage, auf die es eigentlich nur eine Antwort geben konnte. „Ich weiß es nicht mit Sicherheit, aber wahrscheinlich, weil ihr euch um Phinchen und mich Sorgen gemacht habt.“

„Warum sollten wir uns um dich sorgen?“, fragte Veith auch sofort nach.

„Davon abgesehen, dass ich mich liebhabt?“ Ich schmunzelte, wurde aber sofort wieder ernst. „Weil ihr wisst, dass die Magie mich krank macht. Bei meinem letzten Besuch hier wäre ich fast gestorben. Ich hab nur überlebt, weil Askea mich durch den Spiegel gestoßen hat.“

„Askea?“ Talita zischte und legte die Hände wieder an den Kopf. „Das ist genau wie beim letzten Mal.“

Ja, daran erinnerte ich mich auch noch gut. Diese Kopfschmerzen waren wirklich gemein.

Veith richtete sich zu seiner vollen Größe auf und überragte mich damit nicht nur ein kleines Stück, sondern stieß sich auch fast noch den Kopf an der Höhlendecke. Wenn er wegen der verlorenen Erinnerungen keine Kopfschmerzen hatte, dann würde er sie sicher gleich bekommen – die Decke war wirklich niedrig. „Wenn es stimmt, was du da sagst … Wenn wir wirklich in Talitas Welt waren und hierher zurückgekehrt sind, warum kannst du dich dann an alles erinnern und wir nicht?“

„Ja, das ist die Millionen-Dollar-Frage.“ Ich biss mir auf die Unterlippe und schaute von ihm zu Tal. „Aber ich kann sie dir nicht beantworten, weil ich es selbst nicht weiß. Das letzte Mal, als ich hergekommen bin, ist meine komplette Erinnerung weg gewesen. Doch jetzt …“

Veiths Kopf fuhr zum Eingang, genau in dem Moment, in dem es in der Höhle laut schepperte.

Auch ich wirbelte herum, und nein, dieses Mal war kein weiterer Verwandter durchs Portal gekommen. Allerdings waren nicht länger allein. Im Eingang der Höhle stand ein junger Rubin, dessen Augen vor Überraschung geweitet waren. Um seine Füße herum lagen mehrere Schüsseln verstreut. Die musste er eben vor Schreck fallengelassen haben.

Ich kannte diesen Jungen. Er war älter geworden, drei Jahre, um genau zu sein. Seine Statur war nicht mehr ganz so schmächtig, das Gesicht nicht mehr ganz so weich, und mit seiner Größe hatte er mich fast eingeholt.

„Fax?“, fragte ich leise und konnte nichts gegen die aufsteigenden Tränen in meinen Augen tun. Ein überwältigendes Gefühl der Freude ergriff von mir Besitz.

Veith begann beim Anblick des Dämons sofort zu knurren, doch ich hörte es kaum. Wie in Trance drückte ich meinem Schwager in spe Seraphine in den Arm und machte einen Schritt auf Fax zu. Noch ein weiteren und ich stand vor ihm, riss ihn in meine Arme und drückte ihn, so fest ich konnte, an mich.

„Oh Gott, Fax, ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht.“ Ich presste ihn so fest, dass er sicher nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt wurde, aber es war mir egal. So lange hatte ich darum gebangt, ob er den Angriff der Jäger überlebt hatte, und nun stand er direkt vor mir. Gesund und munter. Ich war so glücklich.

Fax zögerte, doch ich hörte ihn schwer schlucken, so als bemühte er sich, seine Gefühle zu ersticken. Schließlich schlang er aber doch seine Arme um mich und drückte mich nicht weniger fest als ich ihn.

„Es geht dir gut“, flüsterte ich und konnte einfach nicht glauben, dass ich meinen kleinen Jungen wirklich in den Armen hielt. „Es geht dir gut.“

„Mamá.“ Seine Stimme klang erstickt, aber ich würde den Teufel tun und mir anmerken lassen, dass ich es bemerkt hatte. Er war schließlich ein echter Kerl. Wie hatte er mir einmal gesagt? Nur Babys weinten und er war ja kein Baby mehr.

Ich zwar auch nicht, aber trotzdem machte ich keinen Hehl aus meine Tränen. Ich freute mich einfach so.

„Mamam!“

Lächelnd löste ich mich ein wenig von ihm und strich ihm liebevoll übers Gesicht. Er war wirklich schon fast so groß wie ich. „Mein Gott, wo willst du nur hinwachsen?“ Ich versuchte mir die Tränen aus dem Gesicht zu wischen, doch es gelang mir nur mit geringem Erfolg, da immer wieder ein paar neue nachkamen.

„Ähm …“ Er schaute über meine Schulter zu den anderen, nicht sicher, was er von ihnen halten sollte. Besonders lange verweilte sein Blick auf Talita. „Was machst du hier?“

„Im Moment freue ich mich einfach nur, dich zu sehen.“

„Mamam!“, rief Seraphine nun etwas nachdrücklicher, weil ich ihr nicht sofort meine Aufmerksamkeit schenkte.

Ich drehte mich um und lächelte in die Runde. „Darf ich euch vorstellen? Das ist Fax, mein Sohn.“

Veith kniff die Augen leicht zusammen. „Du nennst einen Dämon deinen Sohn?“

Talitas Augen wurden wieder kreisrund, während Fax sich ein wenig hinter mich schob, um nicht direkt dem stechenden Blick des großen bösen Werwolfs ausgeliefert zu sein.

„Eigentlich ist er mein Ziehsohn, aber ja, er ist auch ein Dämon.“ Ich ließ meine Mundwinkel ein wenig herabsinken und kniff die Augen zu blitzespuckenden Schlitzen zusammen. „Und wenn du nicht nett zu ihm bist, dann tue ich dir weh, verstanden?“

Veiths Kiefer pressten sich aufeinander. Offensichtlich hatte er alles von dem, was ich gesagt hatte, verstanden – es passte ihm nur nicht. Fax war ein Dämon, und durch Veiths Erinnerung hielt er im Moment wahrscheinlich nicht viel mehr von ihm als alle anderen Mortatia. Er wusste nichts mehr von dem, was ich ihm erzählt hatte. Aber er würde es schon wieder lernen.

„In Ordnung.“ Ich ging die zwei Schritte zu Veith und nahm ihm meine Tochter ab, die schon sehnsüchtig die Arme nach mir ausstreckte. In ihrer Hand baumelte noch immer das Armband.

Mit ihr auf der Hüfte drehte ich mich wieder zu Fax um. „Darf ich vorstellen: Das ist deine kleine Schwester Seraphine.“

„Meine …“ Fax‘ Mund war kaum offen, da klappte er ihn auch schon zu.

„Ja, deine Schwester. Sag hallo, Phinchen.“

„Aks.“ Sie klatschte in die Hände.

„Fax, Phinchen“, korrigierte ich sie belustigt. „Nicht Aks, sondern Fax.“

„Aks.“

Fax wusste noch immer nicht, wohin er schauen sollte. Der Lykaner war ihm unheimlich, genau wie die Frau, die mein Gesicht trug. Und dann war da auch noch ich, die wie aus dem Nichts mit einem kleinen Schwesterchen auftauchte. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Doch bevor ich mich weiter darum kümmern konnte, drängte sich eine andere Frage in den Vordergrund. „Sag mal, wo ist dein Vater?“

„Papá?“

Mein Mundwinkel zuckte. „Ja, der Mann, der mich entführt hat. Groß, rot, herrisch.“

„Ähm …“ Plötzlich schien sich Fax in seiner Haut nicht mehr wohlzufühlen. Er leckte sich nervös über die Lippen, schaute kurz über seine Schulter und wich damit meinem Blick aus.

Oh nein. Das Lächeln schwand aus meinem Gesicht. „Ist ihm etwas passiert? Die Jäger, haben sie …“ Oh Gott, ich konnte diesen Satz nicht einmal zu Ende denken.

„Nein!“, lenkte Fax sofort ein und riss sogar beschwichtigend die Hände hoch, um seine Antwort zu verdeutlichen. „Nein, es geht ihm gut, alles in Ordnung … so mehr oder weniger.“ Die letzten Worte waren eigentlich nur noch ein Murmeln.

Ich runzelte die Stirn. Wenn es ihm gutging, warum druckste Fax dann so herum? Und warum schaffte er es nicht, mir in die Augen zu schauen? Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. Irgendwas war hier faul. „Fax, wo ist Askea?“

Unbehaglich begann er auf seiner Unterlippe herumzukauen, schaute dann einen kurzen Moment zu mir hoch, bevor er hastig wieder damit begann, den Boden unter seinen Füßen zu studieren. „Draußen“, sagte er dann leise, konnte den nervösen Unterton in seiner Stimme aber nicht verstecken.

Nein, ich verstand absolut nicht, was ihn gerade so nervös machte, aber ich würde es gleich selbst herausfinden. „Okay.“ Immer noch etwas verwundert, ging ich an ihm vorbei.

Ein Blick auf meine Schwester und ihren Verlobten sorgte dafür, dass Fax sich an meine Fersen heftete.

Die einst so vertraute, trockene Hitze der Wüste empfing mich, sobald ich aus dem Schutz der Höhle trat, und ließ viele Erinnerungen aus meiner Zeit hier in mir aufsteigen. Von hier aus konnte ich nun auch endlich mal wieder die unendlichen Weiten des Roten Hinterlandes genießen, die Dünen und verstreuten Flecken der wenigen Pflanzen, die es auch bei diesen unmenschlichen Bedingungen schafften zu überleben. Das alles hatte ich so vermisst.

Ich sog die warme Luft tief in meine Lunge, genoss den altvertrauten Geruch und drehte mich herum. Das Armband in Seraphines Hand klackte dabei leise.

Wir standen auf dem Vorsprung eines Felsens, der sanft ein paar Meter in die Tiefe führte, bevor er vom Sand verschluckt wurde. Da man von hier aus nur nach rechts laufen konnte, folgte ich dem schmalen Pfad, doch schon nach ein paar Schritten blieb ich wie angewurzelt stehen.

Das, was ich da sah, ließ mich für einen Moment völlig erstarren.

Da war er. Mit geschlossenen Augen saß er am Rand des Pfades und ließ die Beine hinunterbaumeln. Er sah noch genauso aus wie in meiner Erinnerung. Die weinrote Haut schien mit der Umgebung verschmelzen zu wollen und sein Leib steckte in brauner Lederkleidung aus Tierhäuten. Aus meiner Position hatte ich einen erstklassigen Blick auf sein Profil. Das kantige Kinn, die muskulösen Oberarme, die lange Narbe in seinem Gesicht. Und auch ohne es sehen zu müssen, wusste ich um die Konturen seiner muskulösen Brust. Lange, spitze Ohren, kein Haar auf dem Kopf. Er wirkte so entspannt, genau wie in meiner Erinnerung.

Nur gab es da einen Faktor, der dieses Bild störte.

Nubia.

Die Dämonin kniete hinter ihm und strich ihm unentwegt über den Kopf. Auf ihren Lippen lag ein Lächeln, während ihre Hände in seinen Nacken sanken und ihn dort kraulten.

Er wehrte sich nicht dagegen.

Der plötzliche Stich in meinem Herzen kam nicht unerwartet.

„Aja!“, rief Seraphine in dem Moment begeistert und streckte die Hände nach ihrem Vater aus.

Askeas Kopf zuckte in meine Richtung, und als Nubia mich erblickte, verharrten ihre Hände mitten in der Bewegung. Doch ich hatte nur Augen für Askea. Er starrte mich an, als wäre ich ein Geist. Sein Mund öffnete sich, doch er schaffte es nicht, auch nur ein Wort zu formen.

Mir ging es da ganz anders. „Nubia?“, fragte ich und konnte die Wut in meiner Stimme einfach nicht unterdrücken. Die beiden zu sehen, so vertraut miteinander … es tat unendlich weh. „Von allen Frauen, die in dieser Welt herumlaufen, suchst du dir ausgerechnet die aus, die mehr als einmal versucht hat, dein Kind zu töten?!“ Du ersetzt mich durch sie? Mein Herz zog sich zusammen.

„Sie ist nicht meine Gefährtin.“

Diese Erwiderung machte mich für einen Moment sprachlos. Ich sah ihn nach drei Jahren endlich wieder, erwischte ihn dann mit ihr, und das Erste, was er zu mir sagte, war, dass er sie nicht zu seiner Gefährtin gemacht hatte?!

Ein Gefühl, wie ich es schon lange nicht mehr gespürt hatte, erwachte in mir zum Leben: meine Magie. Ich konnte sie deutlich fühlen. Sie kribbelte unter meiner Haut, als wartete sie nur darauf, endlich wieder von mir benutzt zu werden.

Sehr langsam ließ Nubia ihre Hand über Askeas Schulter wandern, bevor sie sie an ihre Seite fallen ließ. Dabei fixierte sie mich, als wollte sie Blitze aus ihren Augen schießen.

Langsam kam Askea auf die Beine. Nicht einen Moment ließ er mich aus den Augen. Dann fragte er mich doch tatsächlich: „Warum bist du hier?“

„Du Arschloch.“ Meine Magie brach in einer Welle aus mir hervor und riss alles in meiner Umgebung um. Askea knallte auf den Rücken, Nubia fiel sogar den Pfad hinunter in die Sanddünen. Auch Fax riss es von den Beinen. Nur Veith schaffte es noch rechtzeitig, Talita in die Höhle zu schieben und hinterherzuspringen, bevor ich die beiden auch noch erwischen konnte.

Die Einzige, die sich über meinen kleinen Ausbruch freute, war Seraphine, die jauchzend in die Hände klatschte, als wollte sie sagen: „Nochmal!“

Schweratmend stand ich da und schaute auf das, was ich gerade angerichtet hatte. Nubia rappelte sich schimpfend auf die Beine. Ich konnte sie zwar nicht sehen, aber deutlich hören. Fax zog sich ein wenig von mir zurück, während Talita und Veith – teils vorsichtig, teils neugierig – aus der Höhle spähten.

Doch meine Augen waren auf Askea gerichtet, der zurück auf die Beine sprang und mich wütend anfunkelte. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. „Warum bist du hier?“, fragte er erneut. In seiner Stimme schwang eine erregte Wut mit, die direkt auf mich abzielte.

Diese Frage kränkte mich nicht nur, sie schmerzte auch tief in mir.  

Als ich nicht antwortete, marschierte er auf mich zu und baute sich direkt vor mir auf. Seine Augen sprühten vor Zorn. „Warum bist du wieder hier?!“, brüllte er mich jetzt an. „Willst du unbedingt sterben?!“

Plötzlich verstand ich seine Wut. Er war nicht sauer, weil er mich sah und ich seine kleine Liaison mit Nubia störte, sondern weil er befürchtete, ich würde wieder zusammenbrechen. „Mir geht es gut, du brauchst dir keine Sorgen zu machen“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich war nicht weniger sauer auf ihn. Mein wütender Blick glitt zu Nubia, die gerade zurück auf den Pfad trat und direkt auf mich zuhielt.

„Dir geht es gut?“, schrie er mich an. „Und deswegen wirfst du gleich wieder mit deiner Magie um dich? Was meinst du, wie lange es dir noch gutgehen wird, wenn du das nochmal tust?!“

„So, wie ich dich hier gerade vorgefunden habe, scheint dich das ja nicht wirklich zu interessieren!“, warf ich ihm vor.

Seine Kiefer mahlten aufeinander, als wollte er eine zähe Schuhsohle kleinkriegen.  

Nubia nutzte genau diesen Moment, um neben ihm aufzutauchen. Sie hob einfach die Hand und schlug damit in meine Richtung. Doch bevor sie mich auch nur berühren konnte, fing Askea ihre Hand ab und stieß sie zur Seite. „Wage es nie wieder, ihr zu nahe zu kommen!“, fauchte er die Dämonin an. „Rührst du sie auch nur ein einziges Mal an, lernst du mich von einer anderen Seite kennen. Und jetzt verschwinde in die Höhle!“

Sie funkelte Askea an, doch die Wut, die von ihr abstrahlte, galt in Wirklichkeit mir. „Das wirst du bereuen“, versprach sie mir, wandte sich ab und stieß Fax zur Seite. Am Eingang der Höhle stockte sie kurz und sah erstaunt zwischen Veith und Talita hin und her, doch als der Lykaner sie warnend anknurrte, reckte sie einfach das Kinn in die Höhe und marschierte an ihnen vorbei.

„Und du geh wieder nach Hause!“, fuhr er nun mich an. „Sofort!“

„Mir geht es gut“, wiederholte ich.

„Geh!“

„Nein.“ Meine Stimme war fest und ließ keinen Widerspruch zu. Ich konnte nicht ewig bleiben, das war mir bewusst, aber im Augenblick ging es mir gut und so konnte ich meinen Aufenthalt hier noch ein klein wenig verlängern. Ich hatte die Magie so vermisst, ich hatte das Land und Fax vermisst. Aber vor allen Dingen hatte ich ihn vermisst, und bevor wir nicht ein paar vernünftige Worte miteinander gewechselt hätten, würde ich nicht verschwinden. „Ich bleibe.“

Vor Wut brüllte er auf, drehte mir dann den Rücken zu und sprang vom Vorsprung. Und dann, als ich ihm mit Blicken folgte, bemerkte ich zum ersten Mal den Hintergrund.

Askeas Höhle befand sich in der Nähe des Drachengebirges, fünf, vielleicht sechs Stunden Fußweg entfernt – kaum ein Katzensprung. Und deswegen konnte ich es auch so deutlich sehen.

Mir entglitten alle Gesichtszüge.

Das Drachengebirge … Es war zerstört. Dort, wo es einst majestätisch in den Himmel geragt hatte, war nur noch eine zerklüftete Landschaft von zerstörten Felsen geblieben. Es schien, als wäre es an mehreren Stellen regelrecht auseinandergebrochen.

Der Boden, der von dort wegführte, hatte Risse, die teilweise ganze Schluchten bildeten. Scharfkantige Felsen schauten daraus hervor. Alles war zerstört. Oh mein Gott, was war hier nur passiert? So existierte dieser Ort in meiner Erinnerung gar nicht.

Talita trat zögernd neben mich und folgte mit den Augen nervös meiner Blickrichtung. „Wo sind wir hier?“

„Am Drachengebirge.“

Den Blick, den sie mir daraufhin zuwarf, konnte man nur mit dem Wort ‚erschüttert‘ beschreiben. „Das kann nicht sein.“

„So ist es aber.“

„Aber ich habe es doch erst vor ein paar Tagen gesehen, und da war noch alles in Ordnung.“

Ein paar Tage? Ach so, natürlich dachte sie das. Ihre Erinnerungen an die letzten Jahre waren verschwunden. „Fax?“, fragte ich. „Was ist hier passiert?“

Er zuckte nur hilflos mit den Schultern. „Die Magie.“

Warum nur musste man Dämonen jedes einzelne Wort aus der Nase ziehen? „Das verstehe ich nicht, kannst du das ein bisschen genauer erklären?“

„Na ja, die Magie hat –“

Ein plötzliches Klirren ließ uns alle herumfahren.

„Das kam aus der Höhle“, sagte Veith.

Wieder klirrte es.

„Nubia.“ Fax setzte sich in Bewegung und ich folgte direkt hinter ihm, doch mit dem, was ich in der Höhle zu sehen bekam, hätte ich nicht gerechnet.

Nubia stand mit einem Kochtopf in der Hand vor dem mannshohen Spiegel, den Askea damals für mich besorgt hatte, und schlug ein drittes Mal mit dem Geschirr auf ihn ein, so lange, bis nichts als kleine Scherben von ihm übrig waren. Dann fuhr sie wütend zu mir herum. „Verschwinde hier, und komm nie wieder!“, fauchte sie mich an.

„Ähm …“, machte ich nicht sehr gescheit und schaute auf die Reste zu ihren Füßen.

„Das können wir nicht“, sagte Talita da ganz unerwartet. „Dadurch, dass du so intelligent warst, unseren Rückweg zu zerstören, bevor wir hindurchgegangen sind, sitzen wir hier jetzt wohl erstmal fest.“

Erst nachdem Talita das gesagt hatte, schien Nubia klarzuwerden, dass es die Wahrheit war. Wir konnten nicht zurück. Auf jeden Fall nicht auf diesem Weg.

Wütend auf sich, mich und die ganze Welt, feuerte sie den Topf in die Scherben und rauschte an uns vorbei aus der Höhle.

Fax sah ihr hinterher. „Sie hat den Spiegel schon immer gehasst, denn er war die Verbindung zwischen dir und Papá.“

Eine Verbindung zwischen mir und Askea.

Automatisch griff ich zu meiner Schulter – zu der Markierung, die in den letzten Jahren nichts weiter als eine dunklere Stelle meiner Haut gewesen war – und kam nicht umhin, mich zu fragen, ob es da wirklich noch eine Verbindung zwischen ihm und mir gab.

Seraphine neigte fragend den Kopf. „Mamam?“

„Alles okay, mein Schatz.“ Ich ließ meine Hand wieder sinken. Alles würde in Ordnung kommen, Askea musste sich nur beruhigen.

 

°°°

 

„Es ist schlimmer geworden.“ Fax stocherte mit seinem Stock in der kalten Asche des Lagerfeuers. In den letzten drei Jahren hatte er sich ganz schön gemausert. Er war immer noch ziemlich schmächtig, aber man sah deutlich, dass er nach seinem Vater schlagen würde. „Erinnerst du dich noch an den See, der plötzlich zu kochen angefangen hat und sich dann rot verfärbte?“

„Wie sollte ich das vergessen?“ So etwas hatte ich noch nie gesehen. Das Wasser hatte einfach angefangen zu brodeln, bis alles zu Dampft geworden war. Aber das Schlimmste war gewesen, dass Fax mittendrin gestanden hatte.

„Das Gleiche ist mit dem Fluss in unserer Höhle passiert“, erzählte er.

„Im Klüngel?“

Er nickte. „Ein halbes Jahr, nachdem die Jäger verschwunden sind, sind wir wieder dorthin, um ein paar Sachen zu holen. Der Bach hat schon geblubbert, als wir dort angekommen sind, doch es war die Überschwemmung, die uns fast sofort wieder in die Flucht geschlagen hat.“

„Moment, Überschwemmung? Aber du hast doch gerade gesagt …“

„Die Überschwemmung kam nicht vom Fluss. Sie kam von draußen. Der Krater hat sich mit Wasser gefüllt und alles überflutet.“ Er warf seinen Stock in die kalte Asche und lehnte sich auf dem Schlaflager seines Vaters zurück. „Alles ist anders geworden, Mamá. Die Magie kennt keine Regeln mehr.“

Verständnislos zog ich die Stirn kraus und schob Seraphine ein Stück von der Feuerstelle weg. Ich wollte nicht, dass sie mit dem Armband in der Asche spielte.

Talita ließ gerade die letzten Spiegelscherben in den verbeulten Topf fallen, wischte sich die Hände an den Hosen ab und setzte sich dann neben Veith auf Fax‘ Felllager rechts von uns.

Ich saß mit Seraphine neben meinem Sohn auf dem von Askea. Aber was Fax da sagte, ergab keinen Sinn. „Die Magie stellt doch ihre eigenen Regeln auf.“ Wie sonst war es möglich, dass Tiere von der Größe eines Wals feuerspeiend durch die Luft fliegen konnten?

„Ja, aber sie hält sich auch nicht mehr an ihre eigenen Regeln. Die Magie spielt verrückt. An einem Tag regnet es Funken, und am nächsten verwandelt sich die halbe Wüste in eine blühende Oase, in der die Tiere von Pflanzen gefressen werden statt umgekehrt.“

Oh nein, dieses Bild wollte ich mir gar nicht genauer ausmalen. Was sollten das nur für Pflanzen sein? Es kam mir ziemlich unwahrscheinlich vor, dass Fax hier von ein paar Grashalmen sprach. Und Feuerregen? So etwas hatte ich noch nicht einmal in schlechten Filmen gesehen. Aber eine andere Frage fand ich im Moment viel wichtiger. „Wie ist das nur möglich?“

Fax zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, aber es wird immer schlimmer. Jeden Tag macht die Magie neue verrückte Dinge.“

Veith beugte sich ein wenig vor. „Ist das nur hier so oder auch auf der anderen Seite des Drachengebirges?“

Wieder zuckte der Junge mit den Schultern, wagte es aber nicht, den Blick zu heben und dem Lykaner direkt ins Gesicht zu schauen. „Ich weiß nicht. Ich habe das Rote Hinterland noch nie verlassen.“

Ich verstand nicht, worauf mein Schwager mit dieser Frage hinauswollte, Talita aber scheinbar schon. Eine plötzliche Erkenntnis machte sich, zusammen mit wachsendem Entsetzen, auf ihrem Gesicht bemerkbar. Genau wie Veith verstand sie noch immer nicht ganz, was hier vor sich ging, nur dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Allein der Anblick des Drachengebirges war ein deutliches Zeichen gewesen. „Glaubst du, im Wolfsbaumwald sieht es genauso aus?“

Veith presste den Kiefer aufeinander. „Ich weiß nicht“, sagte er leise, doch aus seiner Stimme war die Sorge herauszuhören.

Seraphine nutzte den Moment der Stille, um laut in die Hände zu klatschen und sich dann auf Fax‘ Beine zu setzen, um ihm das Armband zu zeigen. Er schaute etwas hilflos von der Kleinen zu mir, nahm es dann aber.

Ich lehnte mich an die Wand zurück und starrte auf das leere Lager mir gegenüber.

Vorhin, als ich hier angekommen war, hatte ich mir gar keine großen Gedanken darüber gemacht, warum es in dieser Höhle drei Lager gab. Vorhin hatte ich mir über viele Dinge keine Gedanken gemacht. Jetzt sah die Sache ganz anders aus. „Sag mal, Fax, wie ist Nubia eigentlich bei euch gelandet?“

„Papá hat sie mitgebracht.“ Er zog Seraphines Arm ein wenig zu sich und legte ihr das Armband ums Handgelenk. Dafür wurde er mit einem Küsschen auf die Wange belohnt.

„Wann?“, fragte ich, obwohl ich nicht sicher war, ob ich die Antwort auch wirklich hören wollte. „Wann hat er sie mitgebracht?“

„Vor zwei oder drei Monaten. Ich weiß nicht, wie er auf sie gestoßen ist ­– er hat es mir nicht erzählt –, aber als er vom Jagen wiedergekommen ist, war sie bei ihm. Seitdem ist sie nicht mehr verschwunden.“

Natürlich nicht. Sie hatte ja schon nach dem Tod von Aamu – Askeas erster Gefährtin und Fax‘ leiblicher Mutter – versucht, an ihn heranzukommen. Trotzdem fand ich es leichtsinnig von Askea, sie hierherzubringen. „Hat dein Vater denn keine Angst, dass sie wieder versucht, dich umzubringen?“

Talita fiel die Kinnlade herunter. „Sie hat versucht dich umzubringen?!“

„Ja, schon oft, aber Papá und Mamá haben mich immer beschützt.“

„Dein Vater scheint … ein seltsamer Mann zu sein“, bemerkte Veith.

Fax kniff die Augen leicht zusammen. „Papá passt auf, dass mir nichts passiert. Er lässt mich niemals mit Nubia alleine.“

„Aber warum ist sie dann hier?“ Wollte er sie etwa zu seiner Gefährtin machen?

„Sie macht die Hausarbeit, mehr nicht.“ Er legte die Hände zusammen und wackelte mit den Fingern.

Seraphine versuchte sofort, sie zu greifen.

„Das glaubst auch nur du“, giftete da eine Stimme hinter uns.

Der Stimme folgend, drehte ich mich herum und sah Nubia hereinspazieren. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, einem von uns ihre Aufmerksamkeit zu schenken, sondern ging einfach an uns vorbei zum hinteren Regal.

Ich jedoch runzelte die Stirn. Was meinte sie nur damit?

„Der Baum“, sagte Veith da plötzlich. Seine Augenbrauen waren dabei so fest zusammengezogen, dass die Falte auf seiner Stirn besonders tief wirkte. „Du bist eine Hexe und hast den Baum verzaubert. Ihr wart Stachelbeeren pflücken.“

Er konnte sich daran erinnern, dass ich ihm diese Geschichte erzählt hatte? „Ähm … Ja, ich komme nach meiner Mutter.“ Boudicca, die oberste Hexe des Zirkels der Schwarzmondschwestern, hatte sich nämlich geirrt. Mein magisches Erbe hatte ich nicht von meinem Vater. Er war ein Therianer. Meine Mutter war die Hexe gewesen.

Nun schaute auch Talita verwirrt. „Aber ich dachte, wir sind eineiige Zwillinge? Und ich bin keine Hexe.“

„Ja, weil du nach Papa schlägst.“

„Papa?“

Oh je, sie hatte ja wirklich alles vergessen. Natürlich, solange sie in dieser Welt gewesen war, hatte sie keine Ahnung gehabt, wo genau sie hergekommen und wie sie überhaupt hier gelandet war. Das hatte sie alles erst nach ihrer Rückkehr erfahren. Aber da ihre Erinnerungen nun erneut in der Welt unserer Geburt zurückgeblieben waren, konnte sie sich nur noch an das erinnern, was hier in der magischen Welt passiert war. „Okay, pass auf: Unser Vater ist ein Therianer und unsere Mutter war eine Hexe. Die beiden –“

„War?“

Diese eine Frage reichte, um den alten Schmerz erneut aufbrechen zu lassen. „Ja“, flüsterte ich. „Vor ein paar Jahren … Sie ist gestorben … Ein –“

„Du bist ja immer noch hier!“ Die aufgebrachte Stimme ließ mich herumwirbeln. Askea stand im Eingang der Höhle und funkelte mich wütend an. In seiner Hand baumelten zwei tote Tiere. Abendessen. „Habe ich dir nicht klar und deutlich gesagt, dass du zurückgehen sollst?“

Mehr als deutlich sogar. „Davon abgesehen, dass ich mir von dir noch nie etwas habe sagen lassen, kann ich auch nicht zurück, weil dein Hausmädchen in einem Anfall von geistiger Umnachtung den Spiegel zerschlagen hat.“ Ich zeigte auf den großen Topf mit den Scherben. „Und da ich nicht davon ausgehe, dass du noch einen Spiegel besitzt, sitzen wir hier vorerst fest.“

Askeas Augen verengten sich zu zwei wütenden Schlitzen, als sein Blick von dem Topf zu Nubia wanderte. „Wie kann ein einzelnes Wesen nur so dumm sein und trotzdem überleben?“

Oh weh, das war hart. „Askea …“, versuchte ich ihn zu beruhigen.

„Kein Wunder, dass du mich brauchst. Wie oft habe ich dir gesagt, dass du diesen Spiegel nicht anzurühren hast?!“

Nubia presste ihre Lippen aufeinander.

„Bist du taub oder wirklich zu beschränkt, um meine Worte zu verstehen?“

„Askea, hör auf, mir –“

„Weißt du, was das bedeutet? Hast du überhaupt eine Ahnung, was du da angerichtet hast?!“

„Askea, es reicht!“ Nicht, dass ich Nubia schützen wollte, doch was er da sagte, fand ich ungerecht. Besonders, da seine Wut eigentlich etwas ganz anderem entsprang.

„Willst du sie nun auch noch schützen?“, fuhr er nun mich an.

„Nein.“ Ich seufzte und strich mir eine lange blonde Strähne hinters Ohr. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, mir geht es gut, wirklich. Und –“

„Aber wie lange noch?“, fiel er mir ins Wort. „Das letzte Mal hast du dich so verausgabt, dass dein Leben nur noch an einem seidenen Faden hing!“

„Das war es wert“, sagte ich geradeheraus.

Wütend ballten sich seine Hände zu Fäusten. Er dachte an denselben Vorfall wie ich. Damals, als ich so viel Magie eingesetzt hatte, dass ich mich damit praktisch selbst zerstört hatte. Aber es war nicht anders gegangen. Die Jäger waren in der Überzahl gewesen und die magische Barriere hatte uns den Fluchtweg abgeschnitten. Mir war nur diese Möglichkeit geblieben.

„Wage es nicht, Magie zu wirken“, knurrte er mich an und warf Nubia seine Beute vor die Brust. „Kümmere dich darum. Und hoffentlich bist du intelligent genug, das nicht auch noch zu versauen!“ Mit diesen Worten drehte er sich um und stapfte wieder aus der Höhle.

Ich schaute ihm einen Moment hinterher, richtete meinen Blick dann aber auf Nubia.

„Wenn du nicht aufhörst, mich anzustarren, kratze ich dir die Augen aus!“, fauchte sie mich an.

„Versuch es nur.“ Bisher war sie immer unterlegen, und das wusste sie genauso gut wie ich.

„Verdammte Jägerin!“, fluchte Nubia und drehte mir den Rücken zu, um sich um das Abendessen zu kümmern.

Jägerin. So hatte mich schon lange niemand mehr genannt.

„Sie ist keine Jägerin!“, fauchte Fax zu meiner Überraschung und funkelte Nubia an, doch sie ignorierte ihn einfach. Früher hätte er sich das nicht getraut.

„Jägerin?“ Talita schaute zwischen uns hin und her. „Was für eine Jägerin?“

„Eine Dämonenjägerin.“

Ich konnte förmlich sehen, wie die Fragezeichen über ihrem Kopf aufpoppten.

Es war wohl Zeit für eine kleine Erklärung. „Okay, pass auf. Eigentlich begann es damit, dass du damals aus der magischen Welt zurückgekommen bist und die Wahrheit über deine Herkunft erfahren hast …“

Und die beinhaltete, dass meine Eltern ursprünglich von einem magischen Ort jenseits des Spiegels stammten. Meine Mutter, eine Hexe, verliebte sich in einen Therianer, doch da es auf dieser Seite unmöglich war, Kinder auf die Welt zu bringen, die von verschiedenen Spezies stammten, entschieden unsere Eltern, in die Welt ohne Magie zu flüchten. Dort bekamen sie einen gesunden Jungen: Taylor, unseren großen Bruder. Talita und ich kamen erst ein paar Jahre später dazu.

Leider verstarb Taylor bei einem Badeunfall am See. Jahre später schickte meine Mutter Talita wegen eines Vorfalls, an dem sie fast zerbrochen wäre, in die magische Welt. Sie war sich sicher, dass ihr Kind dort vergessen und endlich wieder heilen konnte. Genau das geschah dann auch, aber Talita fragte sich immer, was sie wohl auf der anderen Seite des Spiegels zurückgelassen hatte, und fand einen Weg zurückzukommen – mit einem Lykaner im Gepäck.

Bei meinem Anblick fiel ihr damals auch wieder ein, dass sie eine Zwillingsschwester hatte. Diese Zwillingsschwester – also ich – wollte natürlich unbedingt erfahren, wo Talita sich fast zwei verdammte Jahre rumgetrieben hatte. Sie erzählte mir von einer magischen Welt.

Natürlich glaubte ich ihr nicht, aber dann passierte etwas.

Meine Mutter wurde auf der Straße von einem betrunkenen Autofahrer erwischt und starb während der Notoperation im Krankenhaus.

Damals schmerzte dieser Verlust so sehr, dass ich nur eines wollte: Vergessen. Und so nahm in meinem Kopf eine verrückte Idee Gestalt an. Ich glaubte nicht wirklich, dass es klappen würde, und wagte doch den Schritt. Ich stieg durch das Portal in meinem Spiegel, um mich an dem Vergessen in einer anderen Welt zu erfreuen.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich mitten in der Wüste, ohne eine Ahnung zu haben, wo ich war, wer ich war, oder wie ich dorthin gekommen war. Doch lange blieb ich nicht allein, da tauchte dieser rote Mann auf. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als ihn vor fleischfressenden Einhörnern zu retten. Okay, ich hätte auch einfach in die andere Richtung rennen können, doch das wäre mir im Traum nicht eingefallen. Besonders, da er einen kleinen Jungen bei sich hatte und die beiden sich in einer brenzligen Situation befanden.

Das Ganze endete damit, dass erst ich ihn und er dann mich rettete. Damit waren wir seiner Meinung nach quitt, und letztendlich ließ er mich einfach allein in der Wüste stehen. Zwei Tage irrte ich dort mutterseelenallein herum – na ja, bis auf einen kleinen Fennlix, der sich dazu entschlossen hatte, mich zu begleiten.

An dieser Stelle stoppte ich meine Geschichte für einen Augenblick und schaute fragend zu Fax. „Sag mal, wo ist Guardian eigentlich?“

„Ich weiß es nicht.“ Er sah mich an und ignorierte Seraphine, die gerade damit beschäftigt war, sein Gesicht mit ihren Fingern zu erforschen. Besonders die langen Ohren hatten es ihr angetan. „Das letzte Mal habe ich ihn gesehen, als er aus der Höhle gerannt ist. Damals, als die Jäger uns überfallen haben.“

Ja, mein kleiner Wächter musste die Angreifer gehört haben. Ich hatte noch genau vor Augen, wie er laut fauchend hinausgestürmt war. „Das heißt, er ist nicht hier?“

Fax schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen. Und Papá auch nicht, soweit ich weiß.“

Guardian war also verschwunden. Dieser Gedanke gefiel mir überhaupt nicht. Was war nur mit ihm passiert? Hatten die Jäger ihm etwas angetan? Dieser Gedanke gefiel mir noch viel weniger.

Ich schaute zu Talita und Veith, die natürlich keine Ahnung hatten, worum es gerade ging. „Okay, egal. Ich bin also tagelang ohne Wasser und Essen durch die Wüste gewandert. Und gerade, als ich geglaubt habe, dass es mit mir zu Ende gehen würde, war ein rettender Engel aufgetaucht – wortwörtlich. Der Mann, der mich fand und in sein Lager brachte, war ein Engel. Ryu, ein Engel der Dämonenjäger.“

Dämonenjäger waren Mortatia, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die Dämonen von diesem Planeten zu tilgen, da sie ihrer Meinung nach der Ursprung allen Übels waren. Alleine da draußen, ohne Verpflegung oder jemanden, den ich kannte, entschied ich, mich ihnen anzuschließen, und wurde so eine von ihnen. Nur mit dem Jagen und Töten von Dämonen hatte ich die ganze Zeit über so meine Probleme gehabt, doch ich konnte es verbergen. Zumindest bis zu dem Augenblick, als der rote Mann aus der Wüste wieder in mein Leben getreten war.

Die Jäger brachten ihn zwar alleine ins Lager, doch schon ein paar Tage später entdeckte ich das Kind, das er bei unserer ersten Begegnung bei sich gehabt hatte. Es verbarg sich in der Nähe des Lagers der Jäger – keine gute Idee für ein Dämonenkind.

Ich machte es mir zur Aufgabe, den Jungen vor den Jägern zu verstecken. Irgendwie funktionierte es, doch leider folgte dem, was als gute Tat gedacht gewesen war, eine Katastrophe. Eines Morgens war der Junge samt Vater verschwunden und meine beste Freundin Asha lag tot in ihrem Zelt. Da man ein paar Tage zuvor festgestellt hatte, dass ich einen freundlichen Umgang mit den Dämonen pflegte, glaubten alle, ich hätte sie freigelassen und einer von ihnen hätte Asha umgebracht.

Selbst ich glaubte das. Ich war mich sicher, die Tat wäre von Askea begangen worden, und machte mich dann auf den Weg, den Mörder meiner Freundin zu finden und zu töten. Askea jedoch machte bei diesem Spiel nicht mit. Als ich ihn fand, machte er mich gegen meinen Willen zu seiner Gefährtin, entführte mich und brachte mich in den Hort der Dämonen.

Nach anfänglichen Schwierigkeiten rauften wir uns irgendwie zusammen. Irgendwann begann ich sogar, ihn zu lieben. Noch heute war mir schleierhaft, wie das hatte passieren können, doch so war es gewesen.

Nur leider war ich bereits seit meiner Ankunft in der magischen Welt krank, denn die beiden Magien meiner Eltern in mir stritten um die Vorherrschaft und zerstörten mich dadurch nach und nach. Askea konnte das nicht mitansehen und wollte mich in meine Welt zurückschicken. Wir stritten uns, danach vertrugen wir uns auch wieder.

Und dann tauchten die Jäger in der Zuflucht der Dämonen auf.

Durch einen Aufspürzauber war es ihnen gelungen, mich – und damit auch ihre Beute – zu finden. Ein Kampf brach aus, bei dem ich erfuhr, dass nicht Askea Asha getötet hatte, sondern ein Jäger Namens Gaio, ein Freund. „Ich konnte es nicht glauben“, sagte ich leise. „Gaio war immer so anders als die anderen, und ausgerechnet er hat Asha getötet. Und nun versuchten sie auch noch, Askea und Fax zu töten. Das konnte ich nicht zulassen. Ich habe meine Magie eingesetzt, um sie zu retten. Mit Erfolg, wie ich hinzufügen möchte.“ Ich seufzte und versuchte, mir das alte Gefühl der Enttäuschung und des Verrats nicht anmerken zu lassen. „Doch leider hat diese Aktion sofort ihren Tribut gefordert. Ich wäre beinahe unserem Schöpfer gegenübergetreten. Nur Askea habe ich es zu verdanken, dass ich noch immer hier bin. Noch während des Kampfes hat er mich durch den Spiegel zurückgeschickt.“ So sehr ich es auch gewollt hätte, damals hatte ich nicht die Kraft besessen, mich dagegen zu wehren.

Seufzend ließ ich meinen Kopf zur Seite kippen. „Ein paar Wochen später habe ich erfahren, dass ich schwanger bin.“ Ich lächelte, als ich mich daran erinnerte, wie Talita mir den Schwangerschaftstest vor die Nase gehalten hatte, weil ich jeden Morgen mit der Toilette auf Tuchfühlung gegangen war. „Nun wusste ich mit Sicherheit, dass ich nicht zurück konnte. Ich habe mir einen Job gesucht, in der gleichen Firma wie du, Talita. Ich bin deine Sekretärin.“

„Wirklich?“

„Nein.“ Ich grinste. „Ich bin die Sekretärin des Chefs. Du bist für die Kundenbetreuung zuständig.“ Ich schwieg einen Augenblick. „Danach war alles so … normal. Wir sind bei Papa im Haus geblieben, damit er nicht so alleine ist. Ihr habt euch verlobt. Ihr saßt noch heute Morgen in der Küche und habt Hochzeitsvorbereitungen getroffen. Aber Phinchen ist es irgendwie gelungen, das Portal zu öffnen. Ich bin ihr natürlich sofort nach, genau wie ihr, und … Na ja, den Rest der Geschichte kennt ihr ja.“ Zumindest war das die grobe Zusammenfassung der Vergangenheit.

„Und die Jäger?“, fragte Veith. „Was ist aus ihnen geworden?“

Das war eine gute Frage, eine, über die ich mir bisher noch gar keine Gedanken gemacht hatte. Amir, Ryu, Kiran, Elias und Gaio. Was war aus ihnen geworden? „Fax?“

„Sie sind weg“, lautete seine Antwort. „Die Männer in unserer Höhle sind in den Flammen gestorben, dann hat Papá mich aus dem Klüngel gebracht. Viele Jäger sind von dieser Jagd nicht zurückgekehrt. Ich weiß nicht genau, was geschehen ist – das musst du Papá fragen. Ich weiß nur noch, dass es eine riesige Explosion gab. Dann war da überall Licht.“ Er verzog das Gesicht, als würden die Worte für ihn genauso seltsam klingen wie für uns. „Viele Dämonen sind an diesem Tag gestorben. Die restlichen haben sich verstreut, genau wie die Jäger. Ich habe schon seit mehr als einem Jahr keinen Jäger mehr gesehen. Sie sind rar geworden, genau wie die Dämonen.“

„Gibt es denn eine neue Zuflucht?“, wollte ich wissen.

Einmal mehr zuckte er mit den Schultern. „Keine Ahnung. Nubia ist außer Papá der erste Dämon, dem ich seit damals begegnet bin.“

Das war ja noch viel schlimmer, als ich zuerst angenommen hatte. Nicht nur die Jäger waren verschwunden, sondern auch die Dämonen. Und dann noch die Magie, die völlig verrücktspielte.

Mir wurde klar, dass ich niemals erfahren hätte, was hier vor sich ging, wenn Seraphine nicht einfach durch den Spiegel marschiert wäre.

 

°°°

 

Wie Talita da an Veith gekuschelt auf dem Lager lag, wirkte sie irgendwie verloren. Sie schien immer noch nicht ganz zu verstehen, was hier alles passiert war. „Das alles muss doch eine Ursache haben“, murmelte sie.

„Vielleicht ist die Magie ja krank, eine Erkältung oder so, und das sind die Symptome.“ Ich strich meiner schlafenden Seraphine über den Rücken, lauschte ihren gleichmäßigen Atemzügen. Vor einer guten Stunde war sie endlich eingeschlafen. Es war ein langer Tag für sie gewesen. „Fieber, Schnupfen, Husten.“

„Ja, vielleicht“, stimmte Talita mir zu, schien aber nicht wirklich überzeugt zu sein.

Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, saß ich auf Askeas Lager und ignorierte die brennenden Blicke, die Nubia mir zuwarf. Es passte ihr nicht, dass ich mich hier niedergelassen hatte, aber um noch mehr Lager aufzuschlagen, war einfach nicht genug Platz in der Höhle. Mit dem vierten Schlafplatz, den ich für Veith und Talita links von mir aufgebaut hatte, konnte man sich schon kaum bis gar nicht mehr in der Höhle bewegen.

Fax lag wie früher ganz hinten in der Höhle. Er schlief schon, aber ich würde kein Auge zumachen, bevor Askea nicht zurück war.

Ich war sauer auf ihn, und doch wünschte ich mir nichts mehr, als dass er endlich zurückkam.

Unser Wiedersehen hätte ganz anders verlaufen sollen. Natürlich war ich an dieser Situation nicht ganz unschuldig, und seine Sorge um mich machte es auch nicht besser. Dabei wollte ich ihn doch einfach nur wieder in die Arme nehmen.

„Ich glaub, mein Kopf braucht ´ne Pause“, überlegte Talita. „Sonst wird mein Hirn irgendwann einfach explodieren.“

Veiths Mundwinkel zuckten. „Das sagst du in letzter Zeit so oft, dass …“ Er stockte und runzelte die Stirn.

„Dass was?“, nuschelte Talita.

„Dass … nicht so wichtig.“ Sein Blick schien auf etwas gerichtet zu sein, das nur ihm zugänglich war.

Ich schaute zu den beiden rüber und zwei Fragen schossen mir durch den Kopf: Warum nur hatte Talita grüne Haare? Und zweitens: Das, was Veith gerade gesagt hatte … Konnte es sein, dass er sich an etwas erinnerte?

So abwegig war dieser Gedanke gar nicht. Auch wenn die Erinnerungen auf der anderen Seite des Spiegels zurückblieben, so gab es Mittel und Wege, wieder an sie heranzukommen. Talita hatte mir erzählt, dass es bei ihr immer ganz spontan geschehen war – meistens zumindest. Ich hatte damals nur ein Wort sagen müssen und war für einen Augenblick gedanklich in der Vergangenheit gelandet. Auch Veith würde sicher Rückblenden zu der Zeit in der nicht-magischen Welt haben.

Wieder strich meine Hand über Seraphines Rücken.

„Woran denkst du?“, wollte Talita von Veith wissen. Ihre Augen schlossen sich erschöpft, bis ihre Wimpern auf ihren Wangen ruhten.

„An meinen Vater und Kovu.“

„Willst du sie sehen?“

„Ich weiß nicht.“ Für den Moment verfiel er in Schweigen. „Vielleicht ist es besser, wenn sie gar nicht erfahren, dass ich hier bin. Schließlich werde ich bald wieder gehen.“

Na ja, so bald nun auch nicht, denn im Moment hatten wir keinen Spiegel. Da wir uns in einer Wüste befanden, würde es auch ein paar Tage dauern, bis wir an einen herankamen. Schließlich wuchsen die nicht auf Bäumen – von denen es in der Wüste bekanntlich ja nun auch nicht wirklich viele gab. „Ich hab mal einen Lykaner getroffen“, warf ich einfach mal in den Raum. Zwar hatte ich ihnen diese Geschichte bereits vor Jahren erzählt, aber sie hatten ja alles vergessen. „War ganz lustig.“

Talita schnaubte. „Ich denke nicht, dass es viele Mortatia gibt, die eine Begegnung mit einem Lykaner als ‚lustig‘ bezeichnen würden.“

„Na ja, aber auch nur, weil sie nicht so eine prächtige Aussicht genießen durften wie ich.“

Eines ihrer Augen öffnete sich einen kleinen Spalt. Sie sah wirklich müde aus. „Aussicht?“

Ich grinste verschwörerisch. „Da war dieses kleine Vieh. Es ist aus dem Baum gefallen und ich habe es mir angesehen. Als ich mich dann umgedreht habe, stand da ein nackter Kerl direkt vor mir.“ Mein Lächeln wurde breiter. „Und er kam mir ziemlich nahe.“

„Ich weiß, was du meinst.“ Nun schmunzelte auch Talita. „Keinen Respekt vor der persönlichen Zone.“

So konnte man es auch ausdrücken, aber eigentlich war er mir ja nur so nahgekommen, weil …

Du bist nicht Talita.

Mein Lächeln schmolz ein wenig in sich zusammen. „Ich glaube, er hat dich gekannt. Er hat mich mit dir verwechselt und …“ Ein heißer Schauer kroch mir plötzlich über den Rücken und ließ jedes weitere Wort auf meiner Zunge einfach verschwinden.

Noch bevor ich den Kopf drehte, wusste ich bereits, dass Askea die Höhle betreten hatte. Er machte kein Geräusch oder versuchte sonst irgendwie, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es war wie früher – ich spürte es einfach, sobald er in meiner Nähe war. Aber mit dem, was er dann tat, überrumpelte er mich dann doch.

Mit weit ausholenden Schritten hielt er auf sein Lager zu, kniete sich dann halb über mich und riss den Halsausschnitt meines Shirts auf.

Ritsch.

„Askea!“, protestierte ich.

Er ignorierte mich. Mit dieser Entschlossenheit im Blick, die ich so gut von ihm kannte, strich er den störenden Stoff von meiner Schulter und beugte sich vor. Schon lagen seine Lippen auf meiner Haut. Er packte mich bei der Taille und hielt mich fest, als würde ich ansonsten schreiend das Weite suchen.

„Oh Gott.“ Es war ein halber Fluch. Ich griff nach seinen Armen, klammerte mich an ihnen fest, als er die Essenz seiner Magie durch die alte Markierung in mich hineinfließen ließ. Leider benutzte er heute nicht nur seine Lippen dafür. Ich konnte seine Fänge spüren. Es tat ein bisschen weh.

„Tiara!“ Talita sprang auf die Beine und wollte auf mich zustürmen – wahrscheinlich, um Askea wegzureißen, was keine gute Idee gewesen wäre –, doch Veith hielt sie mit seinem ausgestreckten Arm auf. Dafür aber knurrte er meinen ganz persönlichen Dämon an.

Ich kniff die Augen zusammen, als die Hitze seiner Magie plötzlich zunahm. „Zu heiß“, zischte ich.

Veiths Knurren wurde lauter.

Askea drehte den Kopf leicht, ohne von meiner Schulter abzulassen, und knurrte zurück. Ich konnte es nicht sehen, mir aber sehr gut vorstellen, wie er die Oberlippe hochzog, um Veith seine Fänge zu zeigen. Bei den Reißzähnen konnte das schon ein eindrucksvoller Anblick sein.

„Oh Gott, er beißt sie!“

„Nein, tut er nicht“, widersprach ich und zog an Askea. „Ich bin kein Rubin, Askea, das ist zu heiß!“

Wieder verlagerte er sein Gewicht leicht.

Oh Gott, jetzt begann auch noch seine Haut zu glühen. Nein, das war ganz und gar nicht angenehm. „Askea!“, rief ich ein weiteres Mal, und endlich schien es zu ihm durchzudringen.

Seine Schultern zitterten leicht, seine Zähne lösten sich von meiner Haut und die Hitze seiner Magie kühlte spürbar ab. Seine Lippen jedoch blieben an meiner Markierung.

„Was macht er da mit ihr?“, wollte Talita wissen.

„Er brennt sie.“ Veiths Stimme war noch immer ein Knurren. „So können männliche Dämonen ihre Gefährtinnen kontrollieren.“

„Kontrollieren?“

„Es ist eine magische Verbindung. Durch sie kann er ihr seinen Willen aufzwingen.“

„Was?!“

Nein, das war nicht ganz richtig. Es stimmte, männliche Dämonen brannten ihre Gefährtinnen und schufen damit eine magische Verbindung zwischen den beiden, die es den Männern erlaubte, die Frauen bis zu einem gewissen Grad zu kontrollieren. Wenn ich etwas tun wollte, was er nicht für gut befand, konnte er mich allein durch einen Gedanken daran hindern. So hatte er damals zum Bespiel verhindert, dass ich mit einem Messer auf ihn einstach oder vor ihm weglief. Aber er konnte mich zu nichts zwingen, was ich nicht wollte. Die Verbindung machte mich nicht zu seiner Marionette.

„Wir müssen etwas tun!“, schrie Talita panisch.

„Nein!“, widersprach ich, bevor sie wirklich noch auf die Idee kam, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen. „Lasst ihn.“ Meine Hände lösten sich von seinen Armen, strichen über seinen Rücken hinauf in seinen Nacken.

Noch immer zitterte er leicht, während er unsere Verbindung erneuerte, doch jetzt war er ruhiger, kontrollierter.

Ich schlang die Arme um ihn und zog ihn näher an mich. Wie sehr hatte ich das vermisst, seine Nähe, seinen Geruch und dieses vertraute Gefühl! Er hatte mir gefehlt – so sehr.

Als ich die Augen wieder öffnete, erblickte ich Nubia, die mich mit so viel Hass ansah, dass ich befürchtete, demnächst einen Dolch im Rücken zu haben. Aber ich würde das hier nicht abbrechen. Askea gehörte zu mir, er war mein drakonischer Dämon. Wenn sie auch einen wollte, musste sie sich einen anderen suchen. Den hier konnte sie nicht haben.

Die Zeit dehnte sich. Ich spürte die Blicke der anderen. Auch Askea musste sie spüren, doch er ließ sich nicht beirren. Zwischendurch glaubte ich schon, dass er gar nicht mehr von mir ablassen würde – stören würde es mich nicht unbedingt –, doch dann spürte ich, wie der Strom seiner Magie langsam nachließ, bis er komplett versiegte.

„Geht es dir jetzt besser?“, fragte ich leicht sarkastisch, ließ ihn aber spüren, dass ich es nicht so meinte, wie es sich anhörte.

Er brummte nur, hob dann den Kopf und schaute mich an. „Du hättest nicht zurückkommen sollen.“

Super, fing das schon wieder an – ausgerechnet jetzt! „Mir blieb keine andere Wahl. Unsere Tochter hat es geschafft, das Portal zu öffnen. Sie ist in ihrer kindlichen Neugierde einfach hindurchspaziert.“

Askea warf dem schlafenden Mädchen einen kurzen Blick zu. Er schien nicht überrascht zu sein, dass ich ihn praktisch als Vater bezeichnet hatte. Ganz im Gegenteil, da war plötzlich etwas Selbstzufriedenes in seinem Blick. „Dann hättest du gehen sollen, sobald du sie gefunden hast.“

Oh, du mieser …! „Warum, störe ich etwa?“ Dieses Mal war der bissige Unterton genau so gemeint, wie er klang.

„Früher hast du nie so dumme Fragen gestellt.“

War das jetzt ein Ja oder ein Nein? Ich funkelte ihn an, entließ meinen Unmut dann aber mit einem Seufzen. „Ich wollte dich sehen.“

„Das hast du jetzt. Nun ist es an der Zeit, wieder zu gehen.“

Talita gab ein fassungsloses Geräusch von sich. „Erst machst du das mit ihr und dann schickst du sie wieder weg?!“

Askea wirbelte herum und zeigte ihr die Zähne. Sofort knurrte auch Veith wieder.

„Askea.“ Ich legte ihm eine Hand auf die Wange und wollte sein Gesicht zu mir drehen, doch er nahm sie einfach und zog sie von seinem Gesicht.

„Misch dich nicht in Dinge ein, von denen du nichts verstehst, dumme Katze!“

„Vorsicht“, knurrte Veith.

„Hört auf“, fuhr ich dazwischen. „Tal, was Veith dir erzählt hat, ist nicht richtig. Askea kann mir seinen Willen nicht aufzwingen, auch wenn er das manchmal vielleicht möchte.“

„Aber warum …?“

„Es ist die Art der Dämonen, zu überleben. Es gehört zu ihnen.“ Ich legte meine Hand erneut auf Askeas Wange. Dieses Mal zog er sie nicht weg. „Und ich gehöre zu ihm. Was er tut, ist in Ordnung. Er darf das.“ Genaugenommen genoss ich es sogar, aber die Gründe dafür würde ich den beiden jetzt nicht unter die Nase reiben.

Veith kniff die Augen leicht zusammen. „Selbst wenn er es nicht dürfte, würde er es tun.“

Wollte er mich ärgern? „Veith, du solltest –“

„Was tust du eigentlich in meiner Höhle?“, unterbrach Askea mich, den Blick auf Veith gerichtet. „Hast du nicht irgendwo einen Wald, wo du über wehrlose Opfer herfallen kannst?“

Veith zog die Oberlippe hoch. Es war kein nettes Lächeln. „Ich schütze nur meine Familie. Und auch Tiara gehört dazu.“

Oh nein. „Askea, das –“

„Du brauchst Tia nicht zu beschützen, das ist meine Aufgabe. Pass lieber auf deine Katze auf.“

„Glaub mir, meine Katze ist bei mir sehr sicher.“

Die beiden Männer lieferten sich ein Blickduell, und ich glaubte, im falschen Film gelandet zu sein. „Schluss jetzt, alle beide.“

Natürlich hörten sie nicht auf mich. Warum einfach, wenn es auch kompliziert ging?

Askea zog die Oberlippe noch ein wenig höher. „Halt dich von meiner Gefährtin fern.“

„Halt du dich von meiner Gefährtin fern.“

„Ähm …“, machte Talita, der das wohl mittlerweile genauso albern vorkam wie mir.

Nubia wählte diesen Augenblick, um wütend aufzustehen und ein weiteres Mal an diesem Tag aus der Höhle zu rauschen.

Vielleicht war es gemein, das zu denken, aber ich glaubte, sie wollte auch einen Gefährten, der andere davor warnte, ihr zu nahe zu kommen.

„Okay.“ Talita legte Veith die Hand auf die Schulter. „Ich glaube, Tiara hat Recht. Sie …“ Sie warf mir einen kurzen Blick zu. „Sie wird schon wissen, was sie tut.“

„Askea ist nicht gefährlich.“ Ich schaute zu Veith. „Nicht für mich.“ Für andere würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen.

Es dauerte noch ein paar angespannte Sekunden, bevor Veith seine steife Haltung aufgab und sich zurück auf das Lager sinken ließ. Askea ließ er dabei aber nicht aus den Augen.

„Askea?“, fragte ich.

Er atmete einmal tief durch. Es fiel ihm sichtlich schwer, den anderen Mann in seiner Höhle zu akzeptieren, doch endlich verlor auch er ein wenig von seiner feindlichen Haltung und wandte sich wieder mir zu. „Ich werde mich morgen auf den Weg machen und einen neuen Spiegel besorgen. Es wird ein paar Tage dauern, weil –“

„Nein.“

Er ignorierte meinen Einwurf einfach. „… die Wüste in den letzten Jahren ziemlich leer geworden ist. Aber ich werde –“

„Hast du gehört, was ich gesagt habe?“

„… schon einen finden. Dann kannst du zurückgehen.“

„Das kannst du dir sparen, denn ich werde nicht gehen.“

„Doch, wirst du.“

„Nein.“

Askea bedachte mich mit einem mörderischen Ausdruck im Gesicht. Er hatte sichtlich Mühe, seine aufsteigenden Aggressionen im Zaun zu halten. „Tia, das war kein Vorschlag. Ich werde dir diesen Spiegel besorgen, und dann wirst du deinen Hintern hindurchbewegen.“

„Nein, werde ich nicht.“ Ich war gerade erst hier angekommen, ich wollte nicht sofort wieder gehen.

„Tia.“

„Mir geht es gut, Askea.“

„Das ist mir egal. Du wirst gehen.“

„Nein, werde ich nicht.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn an. Das konnte ich mindestens genauso gut wie er, vielleicht sogar noch besser.

In Askeas Kehle stieg ein Grollen auf. „Treib es nicht zu weit.“

Oh, dieser sture Esel! „Wann begreifst du eigentlich, dass ich ein Wesen bin, das eigenständig denken und handeln kann? Du hast mir nichts zu sagen. Wenn ich gehen will, werde ich gehen, aber im Moment will ich bleiben. Deswegen werde ich das auch tun.“ Mein Ausdruck wurde ein wenig sanfter, meine Stimme leiser. „Ich habe dich vermisst, Askea, verstehst du das denn nicht? Ich möchte dich nicht sofort wieder verlassen.“

„Es ist gefährlich.“

„Das war es damals auch und –“

„Und deswegen wärst du fast gestorben!“, fauchte er mich an. „Ich lasse das kein zweites Mal zu!“

Seine Wut beeindruckte mich nicht. Ich legte ihm meine Hand auf die Wange, direkt über die lange Narbe in seinem Gesicht. „Das ist nicht deine Entscheidung.“

Er knurrte mich an. Er knurrte mich doch tatsächlich an. Blödmann.

„Ich verspreche dir, aufzupassen. Sobald ich etwas spüre, werde ich sofort zurückgehen. Aber bis dahin werde ich hierbleiben. Nur ein paar Tage.“ Ich hoffte so sehr, dass er verstand, dass er wusste, wie sehr ich ihn vermisst hatte.

Damals hatten wir nicht wirklich viel Zeit miteinander verbringen können und er musste doch auch noch seine Tochter kennenlernen. Es gab so viel, was ich noch von ihm wollte, sodass ich nicht einfach wieder verschwinden konnte. „Ich werde bleiben“, sagte ich deswegen noch einmal nachdrücklich.

„Das werden wir noch sehen.“ Damit erhob er sich und holte sich die Reste vom Abendessen.

 

°°°°°

Tag Zwei

 

„Du brauchst keinen Spiegel zu besorgen, ich werde nicht gehen!“

„Du wirst gehen, und wenn ich dich dazu zwingen muss!“

„Du willst mich zwingen? Das will ich sehen.“ Selbstsicher verschränkte ich die Arme vor der Brust.

Ich hatte an diesem Morgen noch nicht einmal die Augen richtig geöffnet, da hatte er schon wieder davon angefangen. Und als er gesehen hatte, wie ich Seraphines Windeln mit Magie gereinigt hatte – ich konnte sie ja schlecht in dreckigen Windeln rumlaufen lassen –, war es vollends aus gewesen. Seitdem ging es wie in einem Pingpong-Match zwischen uns hin und her.

Zuschauer hatten wir natürlich auch. Fax beobachtete unseren Streit vorsichtig von seinem Lager aus. Seraphine war auf Veiths Schoß geklettert, der zwar so tat, als wäre der Brei vor seiner Nase viel interessanter als diese mühselige Diskussion, aber genauso wie Talita einfach nicht weghören konnte. Es war unmöglich, dafür waren wir viel zu laut.

„Verstehst du es nicht?“, mischte sich da auch noch Nubia ein. „Er will dich hier nicht mehr haben, also verschwinde!“

Ich würdigte sie nicht einmal eines Blickes. „Wen von uns beiden er nicht hier haben möchte, steht ja wohl auf einem ganz anderen Blatt.“

„Er will dich nicht, er braucht dich nicht. Alles, was er braucht, kann ich ihm geben.“

Die Selbstzufriedenheit in ihrer Stimme brachte mich nun doch dazu, ihr mein Gesicht zuzuwenden. Und nicht nur ihre Stimme war von dieser Arroganz erfüllt, auch ihre Haltung und ihr Blick.

Alles“, betonte sie noch mit einem gehässigen Unterton.

Ich runzelte die Stirn. Was sie alles für ihn tat, wusste ich doch bereits. Warum also betonte sie das so? Doch dieses Lächeln und ihr Blick …

Alles.

Die Ahnung einer Bedeutung beschlich mich. Es war, als würde ich in einen tiefen Abgrund blicken – ohne Sicherungsseil. Aber … Nein, das konnte nicht sein, das konnte sie einfach nicht gemeint haben. Sie versuchte doch nur, mich zu verunsichern und auszubooten, weil sie wusste, wie viel dieser Mann mir bedeutete. Ich hatte ihn und sie wollte ihn. Und dennoch …

Alles.

Plötzlich wurde mir speiübel. Ich schaute zu Askea, sah in dieses Gesicht, das ich so vermisst hatte, sah diesen drakonischen Dämon, nach dem ich mich die letzten Jahre so gesehnt hatte, und brachte es kaum fertig, die brennende Frage über die Lippen zu bringen. Aber ich musste es wissen. Was Nubia da angedeutet hatte … Ich musste einfach erfahren, ob es die Wahrheit war. „Hast du mit ihr geschlafen?“

Askea blickte mir unverwandt entgegen. „Du hättest nie zurückkommen sollen.“

Nein, bitte, nein. „Ist das …“ Ich schluckte. Jetzt tat Talita nicht einmal mehr so, als würde sie frühstücken. Nur Veith ließ sich nicht beirren. „Ist das ein Ja?“

„Ja.“

Alle Gesichtsmuskeln entglitten mir. Das sagte er einfach so, ohne Reue, als würde es nichts bedeuten.

Die letzten Jahre hatte ich mich so sehr nach ihm verzehrt. Es war kein Tag vergangen, an dem ich nicht an ihn gedacht hatte und hierher zurückkehren wollte, zurück an seine Seite. Und währenddessen hatte er nichts Besseres zu tun gehabt, als Nubia flachzulegen?!

Ich spürte das Brennen in meinen Augen, das Zittern in meinen Händen und auch, wie mein Herz ein paar Risse bekam, als wollte es jeden Moment einfach in meiner Brust zerspringen.

Ich wollte ihn anschreien, wollte ihn schlagen, doch ich brachte es nicht fertig. Es würde nichts ändern, es würde trotzdem noch wehtun.

„Tiara“, sagte Talita.

Ich beachtete sie nicht, wirbelte stattdessen herum und rannte aus der Höhle. Wie hatte er mir das antun können? Wieso hatte er …?

Gerade als ich den Pfad betrat, schlang sich eine Hand um meinen Arm und riss mich zurück. Im nächsten Moment wurde ich mit dem Rücken gegen die Außenwand der Höhle gedrückt und Askea ragte vor mir auf. Dieser Mann, der in so kurzer Zeit zu meiner ganzen Welt geworden war. Wie konnte er es wagen, nun vor mir zu stehen und nicht einmal reumütig zu wirken, wenigstens ein bisschen? Ich spürte, wie meine Lippe bebte, aber ich konnte nichts dagegen tun. Warum nur, warum hatte er das getan?

Meine Hände ballten sich zusammen. „Lass mich los.“

„Nein.“

Dieser verdammte …! „Du sollst mich loslassen, du Mistkerl!“ Ich wollte ihn von mir stoßen und mich aus seinem Griff befreien, doch wie er mir in diesem Moment deutlich machte, funktionierte unsere Verbindung prächtig. Das Mal auf meiner Schulter begann zu kribbeln, und obwohl ich in diesem Moment nichts lieber getan hätte, als ihn rückwärts den Abhang hinunterzustoßen, schaffte ich es nicht einmal, meinen Arm zu heben. Seine Magie verhinderte es, er verhinderte es.

„Du hast keinen Grund, wütend zu sein“, sagte er leise.

Mein Blick schoss zu ihm hoch und meine Enttäuschung explodierte. „Und ob ich den habe!“, schrie ich ihn an. „Du hast dieses Flittchen flachgelegt, dann machst du hier so einen Affenzirkus! Und zum Schluss brennst du mich wieder, nur um dann –“

„Du warst ja nicht mehr da“, unterbrach er mich ganz sachlich.  

Einen Moment verschlug mir das wirklich die Sprache. Sollte das etwa heißen, dass ich jetzt auch noch selbst schuld war? „Und das ist ein Grund für dich, Nubia zu bespringen?!“

„Du warst nicht mehr da“, wiederholte er und beugte sich mir leicht entgegen, bis sich unsere Nasenspitzen fast berührten. Seine Stimme war ein heiserer Orkan. „Du warst jahrelang weg und hättest nie wiederkommen sollen. Glaubst du wirklich, ich hätte bis ans Ende meiner Tage kein weibliches Wesen mehr berührt? Du warst weg, und bis gestern glaubte ich, dich nie wiederzusehen!“

Welches Recht hatte er, jetzt wütend zu werden? „Das ist deine Rechtfertigung? Ich war auch drei Jahre alleine! Mir ist nicht einmal in den Sinn gekommen, mich nach einem anderen Mann umzusehen!“

„Aber früher oder später hättest du das getan.“

„Hätte ich nicht!“

„Ach nein? Sei doch mal realistisch. Wäre Seraphine nicht durch das Portal gelaufen, wärst du nicht hierher zurückgekehrt, und das wäre richtig gewesen. Hier wirst du krank, dort kannst du ein unbesorgtes Leben führen. Und ja, vielleicht hast du wirklich keinem anderen Mann hinterhergeschaut, aber irgendwann hättest du es getan. Vielleicht nicht morgen und vielleicht auch nicht nächste Woche, aber du bist eine junge, gesunde Frau und du wärst sicher nicht dein Leben lang allein geblieben.“

„Das kannst du gar nicht wissen!“

„Es wäre nur vernünftig.“

„Ich war noch nie vernünftig.“ Halt, Moment, das war jetzt irgendwie nicht zu meinem Vorteil.

Askea jedoch schnaubte nur. „Da sagst du wohl ein wahres Wort, denn wenn du vernünftig wärst, würdest du durch den nächsten Spiegel treten und diese Welt einfach vergessen.“ Das letzte Wort spie er mir besonders scharf entgegen.

„Aber ich kann dich nicht vergessen“, sagte ich leise und verfluchte mich innerlich dafür, dass meine Worte mich in diesem Moment so schwach wirken ließen.

Askea schaute mich nur an. „Es wäre aber das Beste.“

Vielleicht, aber … „Willst du das denn? Willst du, dass ich dich vergesse?“

Das Kribbeln meiner Markierung ließ nach und verschwand. Für den Moment hatte er die Kontrolle über mich aufgegeben.

„Nein“, entgegnete er genauso leise.

Ich schloss die Augen. Manchmal war seine Ehrlichkeit so widersprüchlich, dass ich mir am liebsten die Haare gerauft hätte. Und trotz allem musste ich einsehen, dass in seinen Worten ein Körnchen Wahrheit lag.

Wäre alles so gelaufen, wie es hätte sein sollen, würde ich jetzt nicht hier stehen. Genaugenommen wäre ich nie wieder in diese Welt zurückgekehrt. Und natürlich hätte ich niemals gewollt, dass Askea einsam und allein blieb, aber … „Warum Nubia?“ Warum hatte er nicht irgendeine Fremde zu seiner Zukünftigen auserkoren? Warum diese Frau, die schon mehr als einmal versucht hatte, Fax das Leben zu nehmen?

„Es gibt nicht mehr viele von uns“, war seine schlichte Antwort.

Sollte das etwa heißen, dass das hier sowas wie ein Arterhaltungsprogramm war? Fast hätte ich gelacht – aber nur fast. „Wie oft?“ Ich erstickte beinahe an dieser Frage, aber ich musste es wissen. „Wie oft hast du mit ihr geschlafen?“

„Nur, als sie fruchtbar war.“

Ähm … Woher bitte wusste er, wann sie fruchtbar war? „Das ist keine Antwort.“

„Zweimal.“

Einmal mehr als mit mir. Oh Gott, warum nur tat ich mir das an? Warum musste das so wehtun?

„Tia, ich verstehe –“

„Hast du sie geküsst?“, unterbrach ich ihn. „Hast du sie geküsst?“ So wie mich?

„Dämonen küssen nicht.“

Nein, diese Antwort ließ mein Herz leider nicht erleichtert aufatmen, doch der feste Ring darum lockerte sich ein wenig. „Du hast mich geküsst.“

„Das ist etwas anderes.“

„Warum?“

Langsam hob er die Hand und legte sie an meine Wange. Ich spürte seine Finger, spürte, wie er über meine Haut strich, über meinen Hals, bis auf die Markierung, die durch mein zerrissenes Shirt halb frei lag. „Sie ist nicht meine Gefährtin“, sagte er leise. „Sie ist nicht du.“

„Und doch hast du mit ihr geschlafen.“

Er ließ seine Hand fallen und trat einen Schritt zurück.

„Es tut mir leid, Askea, ich verstehe, was du sagen willst, und trotzdem … Es fühlt sich an wie Verrat. Es tut weh, verstehst du?“

„Ja.“

Natürlich verstand er. Wahrscheinlich verstand er sogar mehr als ich. Leider machte es das nicht einfacher für mich. „Ich weiß nicht …“ Ich biss mir auf die Lippe. „Ich muss nachdenken. Geh weg und lass mich nachdenken.“

„Tiara.“ Nur meinen Namen, mehr sagte er nicht, doch zum ersten Mal, seit ich hier aufgetaucht war, hörte ich in seiner Stimme etwas wie Sehnsucht nach mir. Aber nach dem, was er getan hatte … Es war nur logisch. Natürlich war es logisch. Und vielleicht hatte er auch Recht. Wäre ich nicht zurückgekommen, hätte es durchaus passieren können, dass ich irgendwann einen anderen Mann gefunden hätte. Doch dem war nicht so, und nun stand ich hier und wusste nicht, was ich tun sollte. Es schmerzte einfach.

„Ich muss nachdenken“, wiederholte ich und kehrte ihm dem Rücken zu. Ich rannte nicht direkt vor ihm weg, als ich den Hügel verließ, doch ich brauchte einen Moment Abstand. Zu meiner Verwunderung ließ er mich auch gehen.

Seit dem Moment meiner Ankunft wollte er mich nur zurückschicken. Hatte er vielleicht versucht, das mit Nubia vor mir geheimzuhalten? Irgendwie konnte ich mir das nicht vorstellen. Als es zur Sprache gekommen war, hatte er es sofort zugegeben, ohne darauf zu achten, wie sehr seine Antwort mich schmerzen würde.

Ich hatte ganz vergessen, wie schwer es mit einem Mann sein konnte, dessen Gefühlswelt ganz anders geschaffen war als meine eigene. Ich wusste genau, was er für mich empfand. Es war keine Liebe – nicht so, wie andere Wesen sie kannten – und doch war es eines der höchsten Gefühle, die Dämonen empfinden konnten. Es gab dafür nur einfach kein Wort.

Aber ich hatte ein Wort. Ich liebte ihn. Und das machte es nur noch schwerer für mich.

Wenn es doch nur nicht so wehtun würde.

Ich erklomm eine Sanddüne, die vom Wind mit einem wellenförmigen Muster belegt worden war. Der Sand drang in meine Schuhe ein, die Sonnen brannten heiß auf mich herab. Jeans und Shirt waren keine passende Kleidung für dieses Gebiet. Und Hauslatschen erst recht nicht.

Trotzdem kämpfte ich mich bis ganz nach oben, doch was ich da sah, ließ mich auf der Stelle erstarren. Die Wüste, sie war … zerstört.

Die Landschaft war von hier aus unendlich weit, genau wie in meiner Erinnerung, doch das war alles, was sie mit dem damaligen Bild gemeinsam hatte.

Der Boden, der sich vor mir ausbreitete, war trocken und steinhart. Die Oberfläche war rissig und jeder Baum, den ich erblickte, nur noch ein knochiges Stück Feuerholz. Dann waren da die dunklen Spalten, die tief ins Erdreich führten, aus denen bläulicher Qualm wie ein unaufhörlicher Dunst aufstieg. Er machte die Luft milchig und ließ sie unnatürlich flimmern. Kleine elektrische Ladungen zuckten in dem Nebel umher.

Scharfkantige Gesteinsbrocken ragten wie grässliche Zähne aus dem Boden. Ihre Kanten schimmerten in den Sonnen. Der Stein selbst schien eine Flüssigkeit abzusondern – giftgrünen Schleim, der dickflüssig über die Kanten und Ecken zu Boden floss, wo sich die Rinnsale zu einem giftigen Adernetz zusammenschlossen und kleine Bläschen bildeten.

Es sah grauenhaft aus.

„Tiara?“

Ich warf einen Blick über die Schulter und sah, wie Talita sich die Dünne hinaufkämpfte. Sie rutschte weg, landete im Sand und wurde mit ihm wieder ein Stück nach unten gezogen.

Fluchend kämpfte sie sich zurück auf die Beine, doch bevor sie letztendlich oben ankam, landete sie noch ein paarmal in den körnigen Fluten der Wüste.

„Der Wald ist mir wirklich lieber“, grummelte sie, als sie endlich neben mir stand, und klopfte sich den Sand aus der Kleidung.

Ich hätte ihr sagen können, dass das zwecklos war, da wir uns mitten in der Wüste befanden, doch das würde sie mit der Zeit schon selbst herausfinden. „Man lernt, darauf zu laufen.“

Sie hielt inne. „Was?“

„Der Sand. Mit der Zeit lernt man, wie man sich darauf bewegen muss, damit er einem nicht ständig unter den Füßen wegrutscht.“

„Ich bleibe trotzdem dabei, Wald ist besser. Da ist es auch nicht so heiß.“

„Ich liebe die Wüste.“ Mein Blick glitt wieder in die Tiefe. „Zumindest so, wie sie früher war.“

Talita folgte meinem Blick betroffen. „Was ist hier passiert?“

„Das hat Fax doch erzählt. Die Magie.“ Sie zerstörte alles, was sie geschaffen hatte. Nur warum? Dafür musste es doch einen Grund geben.

„Glaubst du, dass es nur hier passiert?“, fragte sie leise. „Oder …?“ Sie verstummte, als würde sie es nicht wagen, die nächsten Worte über die Lippen zu bringen. Ich konnte mir vorstellen, wohin ihre Worte führen sollten.

„Vor drei Jahren trat ich durch den Spiegel und landete in dieser Wüste, irgendwo dort draußen.“ Ich beschrieb mit dem Arm einen Bogen, der die ganze zerstörte Landschaft miteinschloss. „Hier lebte ich auch die meiste Zeit, doch einmal habe ich sie mit einer Gruppe Jäger verlassen, um neue Vorräte zu holen. Unser Weg führte uns durch das Gebirge. Dort stießen wir auf einen Drachen.“

Sie sog scharf die Luft ein.

„Er war tot“, fügte ich schnell hinzu. „Keiner weiß warum, aber zu dieser Zeit haben die Drachen am Himmel sich in Feuerbälle verwandelt und sind einfach abgestürzt. Soweit ich weiß, hat keiner von ihnen überlebt.“

„Oh mein Gott.“

„Danach haben wir das Drachengebirge verlassen und sind durch den Wald dahinter gereist, den … Wie heißt der noch gleich?“

„Wolfsbaumwald. Dort habe ich viel Zeit verbracht.“ Ein kleines Lächeln huschte über ihre Lippen. „Dort habe ich Veith kennengelernt. Sein Rudel lebt dort.“

Der Ton in ihrer Stimme … darin schwang so viel Sehnsucht mit. Mir wurde die Brust eng. Sie wollte wissen, was hinter dem Gebirge lag, und auch, wenn ich es nicht wusste, so hatte ich wenigstens den Hauch einer Ahnung – zumindest, wenn ich von meinen Erinnerungen ausging. Aber jetzt … Ich konnte mit meiner Erzählung nicht fortfahren. Sie liebte diesen Ort, der bereits vor drei Jahren krank gewesen war. Ich hatte es gesehen. Der Wald hatte im Sterben gelegen, genau wie die Tiere dort und …

Du bist nicht Talita.

Abrupt drehte ich mich herum. „Lass uns zurückgehen.“

„Ähm … okay.“ Stirnrunzelnd folgte sie mir die Düne hinunter und warf mir immer wieder aus dem Augenwinkel kurze, kritische Blicke zu. Doch erst, als wir unten angekommen waren, traute sie sich, den Mund zu öffnen. „Ist … alles in Ordnung mit dir?“

„Klar, warum auch nicht?“ Ich lächelte. Hoffentlich sah es nicht ganz so schrecklich aus, wie es sich anfühlte.

„Na ja, ich dachte … Also ich hab nicht gelauscht, aber dein Streit mit Askea und das vor der Höhle …“ Sie machte eine kurze Pause und gab sich dann seufzend geschlagen. „Okay, ich habe gelauscht.“

Meine Schritte wurden langsamer.

„Ich bin dir eigentlich hinterher, weil … Na ja, ich dachte, du könntest jemanden zum Reden gebrauchen.“

Meine Schritte erstarben, und das lag nicht nur an dem eierförmigen Hinkelstein, der vor mir im Sand lag und mir den Weg versperrte. Den hätte ich einfach umrunden können. „Ich weiß, wie er dir vorkommt“, sagte ich leise. „Wie ein herrischer Macho, der sich von allem nur das Beste herauspickt.“

Talita wand sich unbehaglich. „Na ja …“

„So ist er nicht.“ Ich seufzte und lehnte mich mit den Unterarmen auf den Stein.

Talita lehnte sich neben mir an. „Mein … Verlobter ist ein Lykaner.“ Wie sie es aussprach. Sie probierte das Wort regelrecht auf ihren Lippen. Verlobter. Es schien sich auf ihrer Zunge noch immer seltsam anzufühlen. „Lykaner sind anders als die anderen Mortatia. Wo man Elfen und Feen noch mit Menschen vergleichen könnte, sind sie eher Tiere. Als ich bei ihnen ankam, hat Veiths Onkel versucht, mich zu fressen.“ Bei der Erinnerung verzog sie angewidert das Gesicht.

„Ich weiß, das hast du mir erzählt.“

Etwas verwundert schaute sie mich an, aber dann schien ihr wieder einzufallen, was ich ihr alles erzählt hatte. „Worauf ich eigentlich hinaus will: Lykaner sind ein Völkchen für sich. Es ist nicht einfach, mit ihnen klarzukommen, und noch schwerer, ihr Vertrauen zu gewinnen. Und selbst, wenn du es hast, schließen sie dich noch aus, weil du keiner von ihnen bist. Das kann ziemlich anstrengend sein.“

„Kann ich mir vorstellen.“ Ich seufzte. „Ich verstehe, was du mir sagen willst, aber ein Lykaner lässt sich kaum mit einem Dämon vergleichen. Nicht nur, dass sie nicht zu den Mortatian gezählt werden, sie sind weder wie Menschen, noch wie Tiere. Sie sind etwas anderes.“

„Etwas anderes?“

„Etwas … Urtümliches, irgendwie …“ Ich suchte nach dem richtigen Wort, aber auf die Schnelle wollte mir nichts einfallen. „Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, ich kapiere es selbst nicht so richtig. Du musst Zeit mit ihnen verbringen, um zu verstehen, was ich meine. Dämonen sind mächtig, und doch verstecken sie sich. Sie fühlen nicht wie wir und tun Dinge, die uns nicht einmal im Traum einfallen würden.“

„Wir haben uns wohl beide keine einfachen Männer ausgesucht, was?“

Das ließ mich lächeln.

„Aber sieh es mal so.“ Talita drehte sich um und stützte ihre Arme neben mir auf den Felsen. „Einfache Männer würden auch sehr schnell langweilig werden.“

Seufz. „Leider bringt mich das nicht weiter. Ich meine, ich verstehe, was er sagt und auch, dass er irgendwo Recht hat. Ich war drei Jahre weg und es gab kein Zeichen dafür, dass ich jemals wieder zurückkommen würde, aber …“

„Es tut trotzdem weh.“

Meine Hände ballten sich zu Fäusten. „Du machst dir keine Vorstellung davon.“

„Da sei dir mal nicht so sicher.“

Bevor ich sie fragen konnte, was genau sie damit meinte, begann der Felsen unter unseren Armen plötzlich zu beben.

Überrascht sprangen Talita und ich zurück, nur leider war sie die Einzige, die es bei dieser Aktion schaffte, auf den Beinen zu bleiben. Ich landete auf meinem Hintern und starrte mit großen Augen den Hinkelstein vor mir an.

Ein Knirschen erfüllte die Luft, die glatte Oberfläche des Steins sprang auf, Risse bildeten sich und heller rötlicher Schleim drang daraus hervor.

Hastig krabbelte ich ein Stück rückwärts, wurde dann von Talita auf die Beine gezerrt und noch weiter weggezogen. Plötzlich begannen um den Stein herum Pflanzen zu sprießen. Gras und Blumen. In Zeitraffer wuchsen sie heran, öffneten wunderschöne sternenförmige Blüten in allen Farben, die ich mir nur vorstellen konnte. Doch genauso schnell, wie diese Blumen erblühten, verwelkten sie auch wieder, trockneten aus, so lange, bis nur noch Staub von ihnen übrigblieb. Doch daneben blühten bereits zwei weitere Blumen, mit denen das Gleiche geschah.

Es war wie ein Kreislauf. Für jede Blüte, die verdorrte, kam eine neue, nur um gleich darauf auch zu vertrocknen.

Wieder knirschte es. Weitere Risse zogen sich durch den Felsen.

Dieses Mal war ich es, die Talita noch ein Stück wegzog und mit großen Augen dabei zusehen musste, wie der Stein nach und nach aufbrach.

Nein, Moment, das war gar kein Stein, das war ein Ei. Und da schlüpfte etwas sehr Großes aus.

Ich schluckte, als ein Teil der Schale herausbrach und in dem Meer aus Blüten landete. Ein schuppiger Schwanz wurde sichtbar.

Knacken, Knirschen. Noch ein Stück Schale brach ab. Da war ein schuppiges Bein, und der Fuß daran hatte lange Krallen.

„Das ist ein Drache“, hauchte Talita plötzlich ehrfürchtig.

Im nächsten Moment brach die komplette Schale auseinander und ein kleiner, verschleimter Drache landete in den magischen Blumen.

„Oh mein Gott.“ Das war unglaublich.

Der Kleine atmete ziemlich schwer, schlug mit dem Schwanz in der Luft herum und gab ein klägliches Quäken von sich, als er versuchte, auf die Beine zu kommen. Doch so, wie er sich das vorstellte, wollte es nicht funktionieren. Immer wieder rutschte er weg, wobei seine Krallen den Boden aufwühlten und dabei tiefe Furchen hinterließen.

„Wir müssen ihm helfen“, sagte Talita.

Ich schaute sie nur ungläubig an und zog sie vorsichtshalber noch ein Stück zurück, als das Baby erneut versuchte, auf die Beine zu kommen. Dieses Mal gelang es ihm und … Moment, war er nicht eben noch kleiner gewesen? Ein sehr ungutes Gefühl beschlich mich. „Tal, ich glaube, wir sollten verschwinden.“

„Was? Wir können ihn doch nicht einfach alleinlassen!“, protestierte sie. „Er ist doch noch so klein.“

Der Drache schwenkte den Kopf hin und her, und dieses Mal war ich mir sicher, dass er größer geworden war. „Doch, genau das sollten wir tun.“ Ich zog an ihrem Arm, aber sie stemmte sich dagegen.

„Nein, wir …“

Ein Feuerstrahl sauste haarscharf an uns vorbei.

Plötzlich begann der Drache wie wild mit den Flügen zu schlagen und ich konnte es jetzt wirklich nicht mehr leugnen. Genau wie die ganzen Blumen wuchs das Vieh im Zeitraffer heran. Direkt vor meinen Augen wurde er größer und größer. Seine Knochen knackten und sein Fleisch brodelte. Er verformte sich. Die Spanbreite der Flügel war schon nach wenigen Sekunden enorm, zwei lange Hörner sprossen aus seinem Kopf, der Hals wurde immer länger. Bald schon überragte er uns. Kleine Stacheln durchstachen die Haut auf seinem Rücken und reckten sich der Sonne entgegen. Alles Niedliche und Babyhafte verschwand aus seiner Gestalt.

Die Köpfe in den Nacken gelegt, starrten Talita und ich ihn ungläubig an. Ich war nicht mehr fähig, mich zu bewegen, als der Drache sich aufbäumte, seinen langen Hals ausstreckte und brüllte.

Doch dann, ganz plötzlich, begannen die bläulichen Schuppen grau zu werden. Er wuchs noch immer, jetzt aber deutlich langsamer. Wurde er schmaler? Warum waren seine Augen plötzlich so milchig?

Sein ganzer Körper fing plötzlich an zu zucken. Er warf sich auf die Seite, zerquetschte die Blumen und schrie auf, als würde jemand versuchen, ihm bei lebendigem Leibe die Haut abzuziehen.

Kaum wurde mir bewusst, was da direkt vor mir geschah, bahnten sich Tränen ihren Weg über meine Wangen. Der Drache starb, genau wie die Blumen, und wir konnten nichts dagegen tun.

Vor unseren Augen schien er zu altern, hörte aber nicht auf zu wachsen. Seine Schuppen wurden ganz bleich, die Augen trüb. Zuckungen schüttelten seinen Körper.

Die feinen Häute, die wie geschmeidiges Leder die Gelenke seiner Flügel bespannten, wurden brüchig wie Pergament und zerfielen dann einfach zu Staub. Obwohl er noch lebte, begann er vor unseren Augen langsam aber sicher zu mumifizieren.

Er schrie in Todesqualen, und obwohl sein Kampf ewig erschien, lag er irgendwann nur noch röchelnd am Boden. Leise verging auch dieses Geräusch im Wind der Wüste.

Seine Haut begann sich aufzulösen, der Verwesungsprozess setzte ein. Ich konnte nur hoffen, dass er jetzt schon tot war. Immer weiter trocknete der Körper aus. Bald schon war er nur noch eine Hülle, die über Knochen gespannt war, doch auch diese zerfiel einfach zu Staub und ließ nichts weiter als ein Drachenskelett in einem Meer aus sprießenden und verblühenden Blumen übrig.

Unfähig, mich zu bewegen, klammerte ich mich so fest an Talitas Hand, dass es schmerzte. Genau wie mir rannen auch ihr Tränen über die Wangen. Das, was wir gerade erlebt hatten, war einfach nur grausam gewesen, doch es war nichts im Vergleich zu dem, was dieser Drache gespürt haben musste.

 

°°°

 

Genau wie früher konnte mich der Anblick des unendlichen Landes in seinen Bann ziehen. Bei Nacht, wenn der rötliche Boden fast schwarz wirkte, war es sogar noch faszinierender. In der Ferne war die Silhouette des Drachengebirges zu erkennen, doch die zerklüfteten Einschnitte darin störten mich. Sie machten die Veränderungen der letzten Jahre nur noch realer.

Seufzend zog ich die Knie ein wenig fester an meine Brust und bettete mein Kinn darauf. Askea hatte sich immer noch nicht beruhigt. Wenn er überhaupt mal in der Höhle war, knurrte er mich nur von der Seite an, obwohl der Fehler doch eigentlich bei ihm lag und er sich dessen sicher auch bewusst war.

Seltsamerweise war er nun doch nicht losgezogen, um einen Spiegel zu holen. Es schien mir fast, als traute er sich nicht, mich längere Zeit aus den Augen zu lassen. Andererseits … Hatte er mich denn überhaupt nicht vermisst? Wahrscheinlich nicht, musste ich mir bitter eingestehen, schließlich hatte er ja jetzt Nubia, bei der er seinen Samenstau abreagieren konnte.

Ach, was dachte ich denn da? So war das doch gar nicht. Aber so fühlte es sich eben an.

Das war alles so verwirrend und widersprüchlich. Ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich denken oder tun sollte.

Als hinter mir Schritte erklangen, schaute ich über die Schulter. Hand in Hand traten Talita und Veith aus der Höhle auf mich zu.

„Hast du einen Moment?“, fragte meine Schwester. „Wir würden gerne mit dir reden.“

„Klar, setzt euch.“ Ich klopfte neben mir auf den Stein.

Talita folgte dieser Aufforderung, Veith jedoch blieb stehen. Er wirkte unruhig.

„Alles okay?“ Oh nein. Ein Gedanke schnellte durch meinen Kopf und ließ mich vor Angst bis in die Knochen frieren. „Ist was mit Phinchen?“

„Nein.“ Talita schüttelte sehr nachdrücklich den Kopf. „Sie schläft den Schlaf der Gerechten. Askea ist bei ihr.“

Das war gut … glaubte ich. „Und was ist dann los?“

Die beiden tauschten einen Blick, dann sah Talita mich sehr ernst an. „Vorhin, da wolltest du mir etwas erzählen. Über den Wolfsbaumwald.“

„Ähm …“ Ohje, diesen Moment hatte ich gefürchtet. Nicht, weil ich nichts darüber erzählen wollte, sondern weil ich Angst vor Talitas Reaktion hatte. Sie hatte mir so viel von diesem Ort erzählt, und ich wusste, dass er ihr eine Menge bedeutete. Ich wollte sie nicht verletzen.

„Vorhin ist es mir nicht aufgefallen, aber als das Thema aufgekommen ist, hast du es plötzlich ziemlich eilig gehabt, das Gespräch zu beenden. Warum?“

Ich warf einen vorsichtigen Blick von ihr zu Veith und bettete mein Kinn dann schnell wieder auf meinen Knien. „Ist nicht so wichtig.“

„Tiara, bitte.“ Talita legte ihre Hand auf meinen Arm. „Bitte sag es uns.“

Ich schloss die Augen. „Es wird euch sicher nicht gefallen, was ich zu sagen habe.“

„Wir möchten es trotzdem wissen“, sagte Veith ruhig.

Verdammt, das würde sicher kein gutes Ende nehmen. Ich schwieg noch einen Moment, machte mir dann aber klar, dass es nichts ändern würde, wenn ich es weiter hinauszögerte. „Erinnert ihr euch an den Lykaner, von dem ich euch gestern erzählt habe? Der plötzlich nackt vor mir stand?“

Talita nickte. „Ja.“

Ich schlug die Augen wieder auf und sah meiner Schwester ins Gesicht. „Er war krank. Wie mir Amir später erklärt hat, würde er wahrscheinlich daran sterben.“

„Amir?“, fragte Talita.

„Er war der Chef bei den Jägern und –“

„Wie sah er aus?“, unterbrach mich Veith und hockte sich neben Talita. Äußerlich wirkte er wie die Ruhe in Person, doch in seinen Augen lag eine fast gehetzte Rastlosigkeit. „Der Mann im Wald, wie hat er ausgesehen?“

„Er wirkte nicht krank, falls du das meinst.“

„Darum geht es nicht.“

„Veith könnte ihn kennen“, fügte Talita hinzu. „Sein Rudel, ja, seine ganze Familie lebt in diesem Wald.“

Seine Familie?! Oh Gott, nein, bitte nicht.

Du bist nicht Talita.

„Tiara?“

Es tat richtig weh, diese Worte auszusprechen. „Du bist nicht Talita“, flüsterte ich.

Verwirrt krauste sie ihre Stirn. „Ich verstehe nicht.“

„Er kam zu mir, weil er glaubte, ich sei du. Und dann sagte er: Du bist nicht Talita. Das heißt, er muss dich gekannt haben.“

Tal schlug die Hände vor den Mund.

„Sag mir, wie er aussah“, forderte Veith.

Ich schluckte. „Er hatte langes Haar, das er zu einem Zopf geflochten hat. Braun, fast so wie deines, und –“

„Kovu“, hauchte Talita.

Veith schlug auf den Felsen.

„Nein, wartet, wahrscheinlich geht es ihm gut.“ Zumindest hoffte ich das.

„Ach ja?“, raunzte Veith mich an. „Eben hast du noch gesagt, er wäre tödlich erkrankt. Wie kann es ihm da gut gehen?“

„Weil ich ihm den Ring gegeben habe.“ Als sie mich nur verständnislos ansahen, erklärte ich: „In Sternheim habe ich einen Ring gekauft, der Krankheiten zwar nicht heilen kann, sie aber stoppt. Solange er den Ring trägt, kann keine Krankheit ihm gefährlich werden.“

„Und er trägt diesen Ring?“, wollte Veith wissen.

„Ich hoffe es. Ich meine, ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Ich habe den Ring zusammen mit einem Brief in den Wald gelegt, genau an die Stelle, an der ich ihn getroffen habe. Im Brief habe ich erklärt, wie der Ring funktioniert.“ Ich schaute zu Talita. „Als er deinen Namen gesagt hat, wusste ich, dass du ihn kennst, und musste ihm einfach helfen, aber mehr konnte ich nicht tun.“

Veith presste die Lippen aufeinander und rieb sich mit den Fingern über den Nasenrücken.

„Es tut mir leid. Ich hoffe, dein Freund –“

„Kovu ist Veiths kleiner Bruder“, unterbrach Talita mich.

Bruder?! Diese Eröffnung machte mich vor Bestürzung einen Moment sprachlos. Der junge Wolf war nicht irgendwer, nein, viel schlimmer, er war direkt mit meinem zukünftigen Schwager verwandt. „Er hat den Ring ganz bestimmt genommen“, versuchte ich die beiden zu beruhigen.

„Ja“, stimmte Veith mir zu, schien jedoch nicht sehr überzeugt davon zu sein.

Um keine drückende Stille aufkommen zu lassen, nahm ich einfach wieder den Faden der Geschichte auf. „Eigentlich habe ich von ihm ja nur angefangen … Also …“ Okay, vielleicht war das nicht die beste Methode, die beiden auf andere Gedanken zu bringen.

„Erzähl es einfach“, bat Veith mich.

Scheiße. „Der Mann war nicht der einzige Kranke auf meinem Weg. Ich habe euch doch von dem Tier erzählt, das vor meinen Augen aus dem Baum gefallen ist. Es war auch krank und ist noch im gleichen Moment gestorben.“ Die genauen Einzelheiten ersparte ich ihnen lieber. „Aber nicht nur die Bewohner des Waldes waren krank, auch die Bäume. Amir und Kiran haben es dem Hohen Rat gesagt, als wir in der Stadt waren. Ich weiß nicht, was danach passiert ist.“

Einen Moment schwiegen die beiden, dann erhob sich Veith. „Okay“, sagte er und strich sich unruhig übers Kinn. „Damit steht es fest.“

Verwirrt schaute ich zu ihm auf. „Was steht fest?“

„Veith und ich haben darüber geredet, was wir hier in der Wüste gesehen haben. Nicht nur das mit dem Drachen, auch das mit der Landschaft, dem Rauch, dem Drachengebirge. Alles ist irgendwie kaputt. Und jetzt, nachdem du uns das gesagt hast … Wir werden morgen früh aufbrechen und in den Wolfsbaumwald gehen.“ Sie war entschlossen. „Wir müssen einfach nachsehen, ob es dem Rudel gut geht.“

Oh, okay. Damit hatte ich nicht gerechnet, obwohl ich es eigentlich hätte tun müssen. Ich verstand sie sehr gut. An ihrer Stelle würde ich nicht anders handeln.

Talita griff nach meiner Hand. „Und wir wollen, dass du und Phinchen mitkommt.“

Das überraschte mich dann doch. „Das kann ich machen, aber … warum?“

Wieder tauschten die beiden diesen Blick aus.

„Wir wollen euch nicht bei den Dämonen lassen“, sagte Veith dann geradeheraus.

Mir klappte die Kinnlade hinunter.

„Und du bist meine Schwester“, fügte Talita noch schnell hinzu und warf Veith einen mahnenden Blick zu. „Auch wenn du eine Hexe bist und ich nicht – was ich immer noch nicht so ganz verstehe –, du bist mein Zwilling. Ich möchte dich nicht zurücklassen. Wir gehören doch zusammen, oder?“

Mein Blick verhärtete sich unter ihrem schiefen Lächeln, als ich meine Hand unter ihrer wegzog. „Askea würde mir niemals etwas tun.“

So wie Veith mich daraufhin anschaute, fehlte da nur noch das spöttische Schnauben.

„Und Nubia?“, fragte Talita, bevor ich ihren Verlobten für sein Verhalten anfahren konnte.

Okay, Nubia war dann doch wieder eine ganz andere Sache. „Askea würde niemals zulassen, dass sie mir oder unserer Familie etwas antut. Eher würde er sie davonjagen.“

„Zusammen ist es einfacher, in den Wald zu kommen. Du kennst die Wüste, wir nicht“, erklärte sie, ohne auf meine Worte einzugehen. „Außerdem“, sie zögerte einen Moment, „… Vielleicht würde es dir ganz gut tun, wenn du eine kleine Auszeit nimmst. So wie Askea mit dir umspringt … Ich merke doch, wie sehr sein Verhalten dich belastet.“

Ich wollte sie für ihre Worte anfahren, ihr sagen, dass das nicht stimmte. Aber war das nicht genau der Grund, warum ich hier draußen saß und nicht drinnen in der Höhle?

„Ich weiß, was du für ihn empfindest“, wirkte Talita weiter auf mich ein. „Glaub mir, ich weiß, wie schwer das ist. Du hast keine Ahnung, wie sehr ich darum kämpfen musste, Veith für mich zu gewinnen, denn bei uns gab es immer irgendwelche Probleme und … Was ich damit sagen will: Ein bisschen Abstand tut dir vielleicht ganz gut und gibt dir Zeit zum Nachdenken.“

Alles, was sie sagte, war schon wahr – aber einfach verschwinden?

„Und das Rudel ist auch deine Familie“, fügte Talita noch hinzu. „Kovu und Tyge und all die anderen. Selbst wenn man nicht miteinander verwandt ist, Rudel ist Familie. Sie würden dich sicher auch gerne kennenlernen wollen.“

Das wiederum nahm ich ihr nicht ab. Aber ein paar Tage Abstand wären vielleicht wirklich nicht so schlecht. Davon abgesehen, dass Askea ja Nubia hatte, mit der er sich die Zeit vertrödeln konnte, versuchte er mich sowieso seit zwei Tagen ununterbrochen loszuwerden. Doch so, wie die Dinge standen, war ich noch lange nicht bereit dazu, wieder in die magielose Welt zurückzukehren. Dafür gab es hier einfach zu viele Dinge, die mich beschäftigten.

Ich wäre ja nicht für immer weg. Sobald wir uns versichert hatten, dass mit dem Rudel alles in Ordnung war, würden wir hierher zurückkommen. Vielleicht würde es dann zwischen Askea und mir besser werden. Außerdem könnte ich mich unterwegs auf die Suche nach einem Spiegel machen. Irgendwann würde meine Rückkehr unausweichlich sein, und da war es besser, sich schon im Vorfeld vorzubereiten.

Es gab eine Menge Punkte, die dafür sprachen, mit ihnen zu gehen, und dennoch wurde mein Herz allein bei dem Gedanken daran noch schwerer, als es ohnehin schon war.

Diese ganze Reise … Nichts davon war geplant gewesen, und nichts war so, wie ich es mir vorgestellt hatte.

„Tia, bitte.“ Talita flehte mich schon beinahe an.

„Okay“, sagte ich, obwohl ich mir noch immer nicht sicher war, ob das die richtige Entscheidung war. „Ja, okay, Phinchen und ich kommen mit. Aber sobald wir uns versichert haben, dass alles in Ordnung ist, komme ich hierher zurück.“

Talita lächelte. „Nichts anderes habe ich erwartet.“

Ich schaute zur Höhle. Die Entscheidung mitzugehen, würde nicht das Schwerste an dieser Sache sein. Askea benahm sich im Moment vielleicht wie der größte Idiot auf Erden, aber da war auch noch Fax, und der konnte nichts für das Benehmen seines Vaters. „Wann gehen wir?“

„Wir brechen gleich morgen früh auf“, entschied Veith. „Heute ist es schon zu spät.“

Dann würde mir also nicht mehr viel Zeit bleiben. Das war gut. Und schlecht. Beides gleichzeitig.

Seufzend erhob ich mich auf die Beine. „Ich muss mit Askea und Fax sprechen.“

„Hältst du das für eine gute Idee?“

Dafür bekam sie einen bösen Blick. „Ich werde hier nicht still und heimlich verschwinden. Erstens kann Fax nichts dafür und zweitens kennst du Askea nicht. Auch wenn er sauer auf mich ist, würde er mich suchen. Und er würde ziemlich wütend sein, wenn er mich findet.“ Oh ja. Davon mal abgesehen, wollte ich das auch gar nicht. Ich wollte mich verabschieden, auch wenn es nur für ein paar Tage war. Dieses Mal konnte ich es schließlich – beim letzten Mal hatte ich dazu keine Gelegenheit gehabt.

„Wird schon schiefgehen“, grinste ich.

So, wie die beiden mich daraufhin ansahen, befürchteten sie genau das.

 

°°°

 

„Ich lasse dich einfach nicht gehen!“ Askea funkelte mich an, aber das konnte ich genauso gut. „Ich habe es schon einmal geschafft, die Verbindung zu blockieren. Wenn es sein muss, schaffe ich das auch ein zweites Mal.“ Und dann war es egal, dass er meinen Willen durch die Markierung unterdrücken konnte.

Eigentlich hatte ich vorgehabt, das Ganze in einem ruhigen Gespräch zu regeln, doch sobald Askea auch nur mitbekommen hatte, wohin ich morgen früh aufbrechen wollte, war er aufgesprungen, hatte sich vor mir aufgebaut und schrie mich seitdem pausenlos an.

Nubia genoss die Show. Wahrscheinlich würde sie mir sogar beim Packen helfen, wenn ich sie darum bat. Vielleicht würde sie es auch tun, ohne dass ich das Wort an sie richten musste.

Nur Fax schien nicht so ganz zu wissen, was er denken sollte. Sein Blick flitzte zwischen Askea und mir hin und her. Das war aber auch seine einzige Reaktion auf meine Ankündigung– nicht, dass Askea ihn hätte zu Wort kommen lassen

Besagter Dämon funkelte über meine Schulter hinweg Talita und Veith an. Wahrscheinlich machte er die beiden dafür verantwortlich.

„Askea, eine kleine Auszeit –“

„Du gehst nicht da raus!“, fauchte er mich sofort wieder an. Dabei zeigte er mit dem Finger auch noch in Richtung Ausgang, damit ich auch ja verstand, von was er genau sprach. „Hat dir die Sache mit dem Drachen nicht gereicht? Die Magie spielt zurzeit völlig verrückt! Dort draußen rumzulaufen, ist viel zu gefährlich!“

„Würdest du bitte nicht so schreien? Deine Tochter schläft.“

Nach diesem Satz schaute er mich an, als wollte er mir dringend ein wenig Vernunft in den Kopf hämmern. „Es ist viel zu gefährlich, draußen rumzulaufen“, knurrte er mich an – wesentlich leiser als vorher. „Das Land ist zu unberechenbar geworden.“

„Ich bitte dich nicht um Erlaubnis, ich teile es dir mit. Wir gehen doch nur nachgucken, ob bei den Lykanern alles in Ordnung ist, dann komme ich schon zurück. Außerdem kann ich unterwegs vielleicht einen Spiegel auftreiben und –“

„Nein!“ Jetzt wurde er wieder lauter.

Die Hände in die Hüften gestemmt, giftete ich: „Und wie soll ich sonst an einen Spiegel kommen?“

„Ich besorge dir schon einen!“

„Ach, ich dachte, es sei zu gefährlich! Aber du darfst da draußen rumspazieren, ja?“

„Ich werde von der Magie auch nicht krank!“

Nein, nicht das schon wieder. „Askea, mir geht es gut.“

„Ja, im Moment vielleicht, aber wie lange noch?“ Er warf die Hände in die Luft – wahrscheinlich besser, als damit nach mir zu schlagen. „Die Magie ist überall, verstehst du nicht? Sie ist völlig unberechenbar geworden!“

Okay, ich hatte genug davon, dass er mich anschrie. Wenn er zu keinem manierlichen Gespräch fähig war, würde ich es hier und jetzt beenden. „Ich werde gehen, und damit ist mein letztes Wort gesagt.“ Ich wollte an ihm vorbei zu Seraphine, doch er packte mich am Arm und hielt mich fest.

Verdammt, warum nur konnte er es nicht einmal gut sein lassen?

„Dann werde ich dich begleiten“, sagte er plötzlich, und zwar so ruhig, dass ich mich fragte, ob ich mir das gerade eingebildet hatte.

„Hä?“ Sehr geistreich, ich weiß. „Du willst mitkommen?“ Nein, er konnte nicht mitkommen, schließlich brach ich doch auf, um ein bisschen Zeit zum Nachdenken zu haben – weit weg von ihm. Wenn er mitkam, wäre das keine Auszeit. „Du bleibst hier.“ Ja, auch ich konnte manchmal befehlend sein.

Askea ließ mich los und trat über die Lager hinweg zum Regal, wo er einen der großen Seesäcke herauszog. „Wann brechen wir auf?“

Na, sag mal … „Du kommst nicht mit.“

„Doch, werde ich.“

„Wirst du nicht!“

„Wer sollte mich daran hindern?“

Ich drückte die Lippen fest aufeinander. Niemand konnte ihn daran hindern. Dann vielleicht anders. „Das ist doch albern. Willst du Fax wirklich durch die halbe Weltgeschichte schleppen? Ihr dürft doch sowieso nicht in das Revier der Lykaner hinein.“

„Du wirst nicht alleine gehen.“

„Ich bin gar nicht alleine.“

„Du weißt genau, was ich meine. Du gehörst mir.“

Ich glaubte, irgendwas mit meinem Gehör stimmte nicht. „Hast du gerade wirklich Besitzansprüche auf mich erhoben?!“ Nachdem du dich mit Nubia in der Kiste amüsiert hast? Zweimal?!

Askea hielt es nicht einmal für nötig, mir einen Blick zuzuwerfen, während er begann, den Seesack zu befüllen. „Tia, du bist meine Gefährtin, und solange du hier bist, ist es meine Aufgabe, auf dich aufzupassen. Du willst nicht bleiben? Das gefällt mir nicht. Genaugenommen gefällt es mir nicht, dass ich dich nicht daran hindern kann zu gehen, aber du kannst nicht von mir erwarten, dass ich hier zurückbleibe. Fax und ich werden mitkommen, und das ist mein letztes Wort.“

„Was?“, rief da plötzlich Nubia. Ich bekam nicht einmal die Gelegenheit, meiner Wut Luft zu machen. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? „Und was ist mit mir?“, fragte die Dämonin. „Du kannst mich hier doch nicht einfach zurücklassen.“

„Ich wollte dich nie hier haben, das weißt du genau.“

„Das ist doch völlig egal!“

„Du kannst in der Höhle bleiben.“

Nubia sah aus, als würde sie gleich explodieren. Ich trat lieber einen Schritt zurück, und das lag nicht nur an den mordlüsternen Blicken, die sie mir zuwarf. „Du kannst deine Höhle behalten!“, fauchte sie. „So etwas Erbärmliches wie dich habe ich nicht nötig! Ich hoffe nur, dir ist klar, dass du eine Frau vorziehst, die eine Jägerin ist.“

„Ich bin keine –“

Nubia fuhr zu mir herum. „Einmal Jäger, immer Jäger! Dass damals so viele gestorben sind, ist deine Schuld. Du hast die Jäger in den Klüngel gebracht und nun willst du auch noch den Rest von uns dem Untergang weihen!“

„Nein, so war das –“

Sie fauchte und ließ mich damit verstummen. Dann stampfte sie einfach an mir vorbei aus der Höhle hinaus.

„Leg dich jetzt schlafen“, befahl Askea mir, als hätte dieses Gespräch mit Nubia überhaupt nicht stattgefunden. „Der Weg wird anstrengend werden und du musst ausgeruht sein. Du auch, Fax, leg dich hin.“

„Ja, Papá.“

„Ich habe gesagt, du kommst nicht mit.“ Wie oft musste ich das eigentlich noch erwähnen?

Askea fuhr zu mir herum und stand so plötzlich vor mir, dass ich fast vor ihm zurückgewichen wäre. Seine Augen sprühten vor Zorn. „Pass ganz genau auf, Tiara, dort draußen ist es sehr gefährlich geworden. Du warst die letzten Jahre nicht hier, ich schon. Ich habe wenigstens eine Ahnung von dem, was uns erwarten könnte, du nicht. Du willst nicht durch den Spiegel gehen? In Ordnung. Aber ich werde dich dort draußen nicht alleine rumlaufen lassen.“

Verdammt, warum war er nur so …? So …? Ahrrr! „Mach doch, was du willst, das tust du ja sowieso immer.“ Ich kehrte ihm den Rücken zu, ignorierte die Blicke unserer Zuschauer und warf mich neben Seraphine auf Askeas Lager, aber schlafen konnte ich natürlich nicht. Ich hörte die ganze Zeit, wie Mister Ich-hab-das-Sagen in der Höhle herumlief und die Reise vorbereitete. Und auch, wie Talita und Veith sich nach einiger Zeit auf ihr Lager legten. Selbst dann war Askea noch beschäftigt.

Fax‘ Atem wurde mit der Zeit gleichmäßig. Langsam wurde es ruhiger. Mir allerdings blieb der Schlaf weiterhin fern.

Als Askea sich dann nach einer Ewigkeit zu mir legte, wurde es nicht wirklich besser. Samt meinem Phinchen versuchte ich von ihm abzurücken, doch er schlang einfach den Arm um mich und hielt mich fest.

„Lass –“

Sein Grollen ließ mich verstummen.

Mit der Wange strich er mir das zerrissene Shirt von der Schulter, und schon waren seine Lippen auf dem Mal. Natürlich. Wir konnten uns streiten, bis die Fetzen flogen, aber darauf würde er niemals verzichten. Und wenn ich nicht mitmachte, tat er es eben gegen meinem Willen.

Aber es kam mir gar nicht in den Sinn, mich von ihm loszumachen. Wenn Askea mich brannte, überkam mich immer eine innere Ruhe, die die Probleme dieser Welt für diese Zeit einfach aussperren konnte. Geborgenheit, Zuneigung, Wärme. In dieser schützenden Umarmung konnte mir nichts geschehen. Nur Askea war in der Lage, mir dieses Gefühl zu vermitteln.

Ich spürte, wie seine Magie in mich hineinfloss und jeden Teil von mir wie einen schützenden Kokon umschloss. Darin konnte ich mich nicht nur entspannen, sondern auch wohlfühlen.

Aber irgendwo in meinem Hinterkopf war noch immer unser Streit vom Vormittag. Ohne die kleinste Spur von Reue hatte er Nubias Behauptung, dass sie miteinander ins Bett gestiegen waren, bestätigt. Der feste Ring um mein Herz schloss sich ein wenig enger.

Wäre es mir vielleicht lieber gewesen, wenn er mich belogen hätte? Ich war mir nicht sicher. Am besten jedoch wäre es gewesen, er hätte niemals die Hand an sie gelegt.

Als Askea spürte, wie ich mich anspannte, zog er mich näher an sich. Doch nun waren diese Gedanken wieder da und ließen sich nicht so einfach verdrängen.

Ich versuchte zwar, zurück in seine Ruhe zu finden, doch es gelang mir nicht. Sobald er fertig war, rückte ich auch sofort von ihm ab. Ihn so nahe bei mir zu haben … Es tat weh – genauso weh, wie zu wissen, dass er nur wenige Zentimeter hinter mir lag und ich ihn nicht berühren konnte.

In dieser Nacht bekam ich nicht viel Schlaf.

 

°°°°°

Tag Drei

 

Batsch!

Ich schreckte auf und sah in das strahlende Gesicht meiner Tochter.

„Mamam.“ Und nochmal landete ihr Patschehändchen auf meiner Wange.

Verschlafen sank mein Kopf zurück an Askeas Schulter. Selbst für Seraphines Verhältnisse war es noch zu früh. Waren die Sonnen überhaupt schon aufgegangen? Ich seufzte an der warmen Haut und … Moment, was?

Irritiert schlug ich meine Augen auf und musste feststellen, dass ich mich in der Nacht an Askea angekuschelt haben musste. Na toll.

„Aja!“, rief mein kleiner Engel und krabbelte tollpatschig über mich, nur um ihren Vater auf die gleiche Weise zu wecken wie mich. Doch statt dem Gesicht nahm sie dieses Mal den Bauch. „Aja!“, quietschte sie wieder und trommelte auf seinen Rippen herum.

Klatsch, klatsch, klatsch.

Ohne die Augen zu öffnen, zog Askea die Oberlippe ein wenig hoch und zeigte ihr die Zähne.

Na, sag mal … ich schlug ihm gegen die Schulter. „Lass das!“

Nun öffneten sich seine Augen doch einen Spalt.

„Machst du das nochmal, werde ich dir wehtun“, drohte ich ihm.

Er sagte nichts dazu, schaute mich nur verschlafen an. Doch dann spürte ich seine Hand auf meinem Rücken. Sein Finger strich über mein Shirt zum Saum, schob es langsam hoch und …

„Das lässt du auch!“, fauchte ich und machte mich von ihm frei. Soweit kam es noch! Erst begattete er Nubia  und dann versuchte er mich zu befummeln.

Ungelenk schob ich die Felle zur Seite, die uns als Decken dienten, und stieg über ihn hinweg. Dabei bemerkte ich erst, wie verschwitzt meine Kleidung war. Nach zwei Tagen in der Wüste kein Wunder. Waschen würde zu lange dauern, und wenn ich Magie benutzen würde, hätte ich gleich das nächste Wortgefecht mit Askea an der Backe. „Hast du noch etwas von meiner Kleidung?“

Da Seraphine ihm ihr Knie in die Rippen bohrte, schob er sie ein wenig zur Seite. „Sie liegen in dem Beutel unten im Regal.“

Kleidung. Regal. Mein Mund ging auf, doch ich war sprachlos. Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass er noch etwas von mir besaß. Andererseits trug Seraphine ja das Armband. „Danke“, sagte ich leise und begann das Regal zu durchsuchen.

Viel war nicht übriggeblieben – ein Kleid, eine Hose und zwei Westen –, aber eigentlich war es schon ein Wunder, dass überhaupt irgendwas das Feuer überlebt hatte. Das lag wahrscheinlich nur daran, dass ich meine Sachen in einer Truhe aufbewahrt hatte.

„In dem Beutel daneben findest du auch noch alte Sachen von Fax. Vielleicht passt Seraphine etwas davon.“

Ich antwortete nicht, machte mich aber sofort auf die Suche nach den Kleidungsstücken. Doch schon auf den ersten Blick wurde mir klar, dass sie viel zu groß waren. Jedoch … Wozu war ich eine Hexe? Er musste ja nicht sehen, dass ich zauberte.

Mit einem kurzen Blick versicherte ich mich, dass mich niemand beobachtete, und ließ die Sachen ein wenig schrumpfen. Ja, ich wusste, dass es gefährlich war, und auch, dass ich meine Gesundheit damit sehr leicht aufs Spiel setzte, aber die Gabe des Zauberns war so tief in mir verankert, dass ich einfach nicht gegen den Wunsch ankam, meine Magie zu benutzen. Das war wie mit dem Rauchen. Man wusste, dass es schlecht war und einen töten konnte, und doch gab es tausende von Menschen, die einfach nicht die Finger davon lassen konnten.

Seufz.

Danach brach der Morgen richtig an. Fax war der Erste, der erwachte, als ich gerade damit beschäftigt war, Seraphine umzuziehen. Das fand sie nicht lustig, weil sie lieber weiter auf Askea herumgetrommelt hätte, aber der war nun wieder mit Packen beschäftigt und weckte durch das laute Treiben auch Veith und Talita.

Nubias Lager war leer. Sie war in der Nacht also nicht zurückgekommen.

Vielleicht hatte mir ja die Hitze der letzten Tage auf den Kopf geschlagen, aber irgendwie tat sie mir leid. Auch wenn sie ein Miststück war, hatte es niemand verdient, so abgeschoben zu werden. Andererseits konnte ich auch keinen Hehl daraus machen, dass ihr Verschwinden mich erleichterte. Wenn ich weggeblieben wäre, wäre es für sie vielleicht anders gekommen. Und auch, wenn ich von Askea enttäuscht war, gehörte er immer noch zu mir, und deswegen konnte sie ihn nicht haben.

Kopfschüttelnd wandte ich den Blick ab und verkrümelte mich für einen Moment nach draußen. Die Höhle war so voll, dass ich keine Chance hatte, mich dort ungesehen umzuziehen. Nicht, dass es mich stören würde, wenn mir jemand dabei zusah, aber ich war mir ziemlich sicher, dass Talita das nicht so toll gefunden hätte. Hier draußen hingegen war es menschenleer.

Nach kurzer Überlegung entschied ich mich für das Kleid. Das Leder war locker und luftig und die Schultern wie bei allen Kleidungsstücken der Dämonen frei – na ja, bei der Kleidung der weiblichen Dämonen.

Die Perlen an den Fransen klickten aneinander, als ich meine Sachen aufklaubte und mich dazu entschloss, die Hose und eine Weste Talita zu geben. Sie war bestimmt auch froh, aus den verschwitzten Sachen herauszukommen.

Als ich wieder reinkam und zu der Waschschüssel in der Ecke ging, hing Seraphine gerade an Askeas Bein und freute sich einen Kullerkeks. Sie hatte Arme und Beine darum geschlungen und lachte, weil Askea so tat, als würde er es nicht bemerkten. Unbeirrt lief er durch die Höhle und stolperte nicht einmal dabei.

Ich schmunzelte.

„Aja“, sagte sie wieder, und zum ersten Mal hörte ich wirklich hin.

Aja. Zu Hause vor dem Spiegel hatte sie das auch immer gesagt. Meinte sie damit etwa … Askea?

Unsicher folgte mein Blick ihm so lange, bis er es bemerkte und fragend zurückschaute. Meine Augen jedoch glitten zu meiner Tochter. War es möglich, dass sie die ganze Zeit etwas gesehen hatte, was mir verwehrt geblieben war?

 

°°°

 

Die Sonnen begrüßten uns mit ihrem warmen Licht, als wir kurz nach dem Morgengrauen aus der Höhle traten. Noch war es hier draußen angenehm, aber ich wusste, wie schnell die Temperaturen im Roten Hinterland in die Höhe schnellen konnten.

„Tia“, rief Askea hinter mir.

Es passte mir immer noch nicht, dass er uns begleitete, und doch blieb ich stehen und drehte mich zu ihm um.

„Aja!“, quietschte Seraphine und wollte sich von meiner Hand losreißen, doch ich behielt sie fest im Griff. „Mamam“, protestierte sie und zog einen Schmollmund.

Askea trat vor mich. Genau wie Fax hatte er auf seinem Rücken einen Sack aus Tierleder, nur war der von Fax bei weitem nicht so gut gefüllt wie Askeas. „Hier.“ Er hob seinen Arm und hielt mir den Kampfstab entgegen. „Trag ihn und benutze ihn auch, wenn es sein muss.“

Es war der Stab, den er mir schon einmal gegeben hatte. Er war nie zum Einsatz gekommen. Damals war er noch unfertig gewesen und jetzt fand ich ihn fast zu schön, um ihn zum Kämpfen zu benutzen.

„Nimm ihn“, befahl Askea nun schon ungeduldiger und streckte ihn mir sehr nachdrücklich entgegen.

Ich wollte ihn nehmen, gleichzeitig aber auch nicht. Trotzdem hob ich meine Hand und schloss sie um das kühle Holz. „Danke“, sagte ich leise.

Zwischen den Griffen war ein lockerer Lederriemen gespannt.

„Schnall ihn dir auf den Rücken.“

Wie …? Ach so, der Riemen. Ohne Seraphines Hand loszulassen, hängte ich ihn mir über den Rücken. Das erforderte einiges Geschick, da ich ja nur eine Hand freihatte, aber es gelang mir.

„Bleib immer in meiner Nähe, ich will nicht –“

„Oh mein Gott, seht ihr das auch?!“

Aufgeschreckt durch Talitas Ruf, drehte ich mich um. Sie stand mit Veith am Rand des Pfades und starrte mit weitaufgerissenen Augen hinunter.

Fax hielt sich ein wenig zurück. „Das passiert manchmal“, kommentierte er lediglich.

Neugierig trat ich zu den anderen nach vorne und konnte nicht verhindern, dass mir die Kinnlade runterfiel.

„Wassa!“, rief Seraphine freudig und hüpfte an meiner Hand. „Baden!“

Oh. Mein. Gott. Die Wüste war verschwunden. Fassungslos starrte ich auf die ausgedehnte Landschaft und konnte einfach nicht glauben, was meine Augen mir da weismachen wollten. Die Wüste war nicht nur einfach verschwunden; sie hatte sich in ein Meer verwandelt! Die Dünen waren verschollen, nur noch an manchen Stellen erhoben sie sich wie kleine Inseln an die Oberfläche. Ansonsten war da nur Wasser. Soweit das Auge reichte, nichts als klares Wasser – zumindest in die eine Richtung. In der anderen Richtung wurden diese Massen an Wasser durch das Drachengebirge aufgehalten. Die Berge lagen etwas höher; das feuchte Nass hätte ein paar hundert Meter weiter ansteigen müssen, um darüber zu kommen. Doch das Erstaunlichste war wohl die Farbe: Es war so rot wie der Sand des Hinterlandes.

„Es ist nicht tief“, sagte Askea. „Wir können problemlos hindurchlaufen.“ Wie um es uns vorzumachen, setzte er sich auch sofort in Bewegung und sprang einfach hinein. Tropfen spritzten umher und glitzerten im Sonnenlicht, aber Askea hatte Recht: Das Wasser ging ihm gerade mal bis zum unteren Bereich seiner Schienbeine. „Achtet aber darauf, wohin ihr tretet.“

Keiner wollte den Anfang machen, nur Fax sprang seinem Vater vertrauensvoll hinterher und blieb dann wartend neben ihm stehen.

Askea grummelte etwas, das nicht bis zu uns hinaufdrang, und verschränkte dann genervt die Arme vor der Brust. „Wart ihr es nicht, die unbedingt losziehen wollten?“

Ich tauschte einen Blick mit Talita. In der Kleidung der Dämonen sah sie irgendwie seltsam aus – besonders mit den grünen Haaren – aber sie hatte sich gefreut, etwas Sauberes zum Anziehen zu bekommen. Auch Veith trug ein ausrangiertes Stück von Askea – eine alte Hose, nur eine Hose. Er schien sich darin nicht besonders wohlzufühlen.

„Auf ins Abenteuer würde ich sagen.“ Ich zog meine Schuhe von den Füßen, hob Seraphine auf den Arm und trat vorsichtig den Abhang hinunter. Sie strampelte und wollte plantschen, doch ich war mir nicht so ganz sicher, ob das eine gute Idee war. Vorsichtig tastete ich mich in das Wasser hinein. Wie nicht anders zu erwarten, war es nass. Und auch warm. Wie ein Sommertag am Meer.

„Baden!“, rief mein kleiner Engel wieder.

Der feuchte Sand zwischen meinen Zehen war weich und die rötliche Färbung des Wassers kam von ihm. Die Wüste war nicht verschwunden, das Wasser verbarg sie nur. „Als ich mich umgezogen habe, war das aber noch nicht dagewesen“, murmelte ich. Das wäre mir sicher aufgefallen.

„Es taucht ganz plötzlich auf“, erklärte Askea. „Und genauso plötzlich wird es auch wieder verschwinden.“

„Wann?“

„Das ist ganz unterschiedlich.“ Sein Blick schweifte über das scheinbar unendliche Meer. „Manchmal dauert es nur eine halbe Stunde, manchmal aber auch mehrere Tage.“

Das war faszinierend, wie die Magie selbst.

Als Talita und Veith Hand in Hand ins Wasser traten, plätscherte es neben mir. Auch sie tasteten sich erstmal vorsichtig vor.

„Mamam, runter!“ Seraphine versuchte sich von mir wegzudrücken.

„Lass sie runter, es ist ungefährlich. Und komm.“ Askea drehte mir den Rücken zu und übernahm die Führung Richtung Drachengebirge.

Ich zögerte noch, tauschte einen weiteren Blick mit meiner Schwester. Sie schien das Ganze ein wenig bedenklicher einzustufen als ich, doch ich vertraute Askea. Also gab ich dem Drängen meiner Tochter nach und ließ sie hinunter.

Sofort hüpfte sie, versuchte dann jauchzend loszurennen und fiel platschend auf die Nase. Doch davon ließ sie sich nicht stören. Mit der Zunge zwischen den Lippen rappelte sie sich wieder auf die Beine, und weiter ging es. Dabei schwappte ihr das Wasser bis an die Hüfte.

„Na dann los“, murmelte ich und folgte meinen beiden Männern. Dabei stopfte ich meine Lederlatschen in die kleine Tasche in meinem Rock.

Auch Talita und Veith setzten sich in Bewegung.

Die Stille zwischen uns dauerte nur wenige Minuten an.

„Wie lange werden wir brauchen?“, fragte meine Schwester und ließ ihren Blick zum Himmel wandern.

Ich schmunzelte. „Jetzt schon k.o.? Schlechte Kondition, muss ich sagen.“

„Das ist es nicht, aber es ist so warm.“

Oh je. „Wenn du das schon als warm bezeichnest, dann warte erstmal ab, bis wir ein paar Stunden gelaufen sind. Ich hab dir ja erzählt, dass ich bei meinem ersten Ausflug durch die Wüste wegen der Hitze fast gestorben wäre.“

Das war wohl nicht das, was sie hatte hören wollen.

„Spätestens heute Abend sind wir am Drachengebirge“, erklärte Fax und ließ sich an meine Seite zurückfallen. „Außer natürlich, es passiert etwas Seltsames.“

Talita hob eine Augenbraue. „Noch seltsamer als das hier?“

„Denk nur mal an den Drachen von gestern“, rief ich ihr in Erinnerung und beobachtete, wie Seraphine sich ins Wasser fallen ließ, um mit den Händchen auf die Oberfläche zu trommeln.

Askea stellte sie einfach zurück auf die Beine, nahm sie an die Hand und lief mit ihr weiter.

„Das gefällt mir nicht“, sagte Talita. Bei jedem ihrer Schritte spritzte das Wasser um sie herum.

„Ich finde es eigentlich ganz witzig.“

Ihrem skeptischen Blick entnahm ich, dass sie mich für verrückt hielt, aber ich konnte daran im Moment wirklich nichts Schlechtes sehen.

Veith schaute in die Ferne. „Hoffen wir einfach, dass nichts Schlimmeres passiert.“

 

°°°

 

Wie ein Frosch hüpfte Seraphine durch das Wasser und machte dabei Geräusche, die mich an eine Mischung aus Ente und Schwein denken ließen. Wassertropfen spritzten glitzernd in der Sonne umher. Seraphine lachte vor Freude und sprang gleich noch einmal.

„… der alle Fische hier kennt“, sang ich leise. „Er hüpft von Welle zu Welle, er hüpft auch gerne an Land. Er liebt das Schwimmen im Tropenmeer und Sonnenbaden am Strand. Er ist ein Wasser-Landfrosch vom Inselstrand. Er liebt die Palmen und das himmelblaue Meer. Der Wasser-Landfrosch vom Inselstrand, ein Land und auch Wasser …“

„Was singst du da eigentlich die ganze Zeit?“, wollte Talita auf einmal wissen.

Ich unterbrach mich und grinste sie an. „Das Lied vom Wasser-Landfrosch.“

Sie runzelte die Stirn. „Was ist denn ein Wasser-Landfrosch?“

Oh Mann. „Das ist ein Kinderlied. Es muss keinen Sinn haben, nur schön klingen.“ Ich schaute wieder nach vorne auf unser Zwischenziel. Nur noch ein paar hundert Meter trennten uns von den steilen Klippen des Drachengebirges und es sah noch schlimmer aus als aus der Entfernung.

Tiefe Krater und Risse durchzogen den grauen Felsen. Ganze Teile waren herausgebrochen und hatten sich samt Geröll rundum verteilt. Scharfe Kanten, herausragende Spitzen, abgebrochene Teile. Nichts war mehr so wie bei meinem Besuch damals. Wüsste ich es nicht besser, würde ich schwören, dass das hier nicht das Drachengebirge war.

Schon seit Stunden waren wir unterwegs. Die gröbste Hitze hatten wir bereits hinter uns gelassen und die Sonnen sanken nun dem Abend entgegen. Das Meer in der Wüste war noch immer da, deswegen hatten wir auch kaum Pausen einlegen können. Mitten im Wasser zu sitzen und zu essen, war wirklich sehr ungewohnt. Ich konnte mich nicht erinnern, so etwas schon einmal getan zu haben.

Aber viel schlimmer fand ich eigentlich meine Füße. Die Haut unterhalb meiner Knie war schon ganz runzelig und aufgeweicht. Mit dieser Haut könnte ich jeder Oma Konkurrenz machen, überlegte ich.

Die Einzige, die sich noch immer an dem Wasser erfreute, war Seraphine. Doch ich merkte, wie sie langsam müde wurde. Immer öfter fiel sie hin und rieb sich die Augen. Der kleine Mittagsschlaf, den sie vor Stunden in meinen Armen gemacht hatte, reichte für so ein kleines Kind einfach nicht.

„Wie alt ist sie eigentlich?“, fragte Talita.

„Zwei Jahre, fast zweieinhalb.“

„Ein ganz schönes Energiebündel.“

Grinsend schaute ich sie an. „Das waren wir in dem Alter auch. Liegt in der Familie.“

Sie musterte mich mit einem wachsamen Ausdruck in den Augen. „Du kannst dich wirklich an alles erinnern?“

„Ja.“ Ich nickte. „Ich weiß selbst nicht, warum. Als ich das erste Mal hier gelandet bin, ist alles, was mich an mein Leben erinnerte, einfach weg gewesen. Ich hatte nur einen Brief, den ich an mich geschrieben habe, und die wenigen Informationen, die ich darin hinterlassen habe.“ Nachdenklich neigte ich den Kopf. „Dieses Mal jedoch ist es ganz anders.“

„Warum?“, fragte sie. „Was hat sich geändert?“

Das war eine ausgesprochen gute Frage, auf die ich leider so schnell keine Antwort fand. „Ich weiß es nicht. Und eigentlich ist es mir auch egal.“

Langsam versanken die Sonnen hinter den Gipfeln des Gebirges und warfen lange Schatten über das Land. Das Zwielicht, das sie dabei erschufen, ließ das Wasser noch dunkler erscheinen, fast wie Blut.

Okay, dieser Gedanke war selbst für meine Verhältnisse unheimlich.

Talita runzelte, nichtsahnend von den Phantasien in meinem Kopf, die Stirn. „Wie kann dir das egal sein? Ich meine, Erinnerungen sind schließlich das, was uns ausmacht. Niemand würde das so leichtfertig abtun wie du. Ich würde morden, um das zurückzubekommen, was ich vergessen habe.“

Da sah man es mal wieder: Zwar glichen wir uns äußerlich so sehr, dass sogar unsere Eltern uns schon verwechselt hatten, doch innerlich waren wir völlig verschieden. Und das auf mehr Arten, als bloß unsere Magie betreffend.

Da ich auf Talita achtete und nicht darauf, wohin ich meine Füße setzte, stolperte ich über einen Stein und wäre fast im Wasser gelandet. Nur meinen schnellen Reflexen verdankte ich es, in der Senkrechten geblieben zu sein. Das Wasser spritzte trotzdem zu allen Seiten und weichte mein halbes Kleid ein. Und das ausgerechnet jetzt zum Abend hin, wo es kälter wurde.

Ganz toll.

Talita kicherte.

Schon seit einer halben Stunde war der Boden unter meinen Füßen nicht mehr ganz so glatt wie noch zu Beginn unserer Reise. Immer wieder konnte ich spitze Steine spüren oder musste über Geröll klettern, das sich von den Berghängen gelöst und mit der Zeit über die Ausläufer des Gebirges verteilt hatte. Es war so schlimm, dass ich meine Schuhe angezogen hatte. Besser nasse Schuhe als aufgerissene Fußsohlen.

„Mamam Aua?“

Auch wenn ich nun an einen nassen Pudel erinnerte, schaffte ich es, meine Tochter beruhigend anzulächeln. „Nein, ich bin nur gestolpert.“

Seraphine runzelte angestrengt die Stirn, während sie ihren Blick über mich wandern ließ. Dann nickte sie, als hätte sie sich selbst von meinen Worten überzeugt, und rannte eilig zu Askea.

„Ich sollte wohl besser aufpassen, wohin ich trete“, murmelte ich.

Talita grinste. „Das war die Sache mit der Koordination.“

Ich kniff die Augen leicht zusammen. „Sag mal, warum hast du eigentlich grüne Haare?“ So gut es ging, wrang ich meine Kleidung aus, und gesellte mich dann wieder an ihre Seite.

Veith lief ein wenig vor uns und kletterte gerade über einen zerbrochenen Felsen. Askea stand schon darauf und ließ sich von Fax Seraphine hochreichen, um mit ihr gemeinsam auf der anderen Seite hinunterzuspringen.

Talita machte ein düsteres Gesicht. „Ich bin Opfer eines Streiches geworden.“

„Was?“

Sie seufzte. „Vor ein paar Wochen gab es ein kleines … nennen wir es Missverständnis. Also bei den Lykanern.“

„Du meinst wohl ein paar Wochen, bevor du wieder nach Hause gekommen bist. Das liegt jetzt schon ein paar Jahre zurück“, belehrte ich sie.

Sie runzelte die Stirn, weil sie sich mit dieser Tatsache noch immer nicht richtig vertraut machen konnte. „Ja, genau das meine ich.“ Sie hielt vor dem Felsen, auf dem Veith auf sie wartete, und streckte ihm die Hand entgegen.

Er packte sie und zog sie hoch, als würde sie nichts wiegen. Auch mir reichte er die Hand, doch ich schüttelte lächelnd den Kopf. Das kleine Hindernis konnte ich auch alleine überwinden. Es war nicht einmal wirklich schwer.

Auf der anderen Seite jedoch veränderte sich das Bild der Landschaft. Steinhaufen und Geröll, wohin das Auge fiel. Manche Felsen ragten nur ein kleines Stückchen aus dem Wasser, andere würden wir umrunden müssen, weil wir ansonsten Ewigkeiten brauchen würden, um über sie hinüberzuklettern.

Wir hatten die Ausläufer des Gebirges fast hinter uns gelassen.

„Kommt“, sagte Askea, sobald wir vollzählig waren, und suchte uns einen Weg durch den Schutt. Seraphine behielt er nun auf dem Arm. Scheinbar war es ihm jetzt wohl auch zu riskant, sie einfach hier rumhüpfen zu lassen.

Es war schon erstaunlich, wie schnell er sich auf die Kleine eingelassen hatte. Natürlich, sie war seine Tochter, aber im Grunde war sie ein fremdes Kind für ihn. Und nicht nur sein Verhalten hatte mich an diesem Tag überrascht. Mein kleiner Engel schien gar nicht genug von diesem Mann zu bekommen. Ständig war sie um ihn herumgehüpft und hatte ihm Steine gezeigt, die sie im Sand gefunden hatte. Und auch jetzt kuschelte sie vertrauensvoll den Kopf an seine Schulter und beobachtete dabei mit einem Daumen im Mund schläfrig ihre Umgebung.

Wenn man die beiden so sah, konnte man leicht auf den Gedanken kommen, dass sie sich schon länger als nur drei Tage kannten.

Gott, waren das wirklich erst drei Tage gewesen? Es war so viel passiert. Nicht nur die Magie und das zerstörte Land – selbst die Streitereien waren nicht wirklich schlimm gewesen –, aber diese Eröffnung, die Askea gemacht hatte …

Ich schüttelte den Kopf und verbot mir weitere Gedanken in diese Richtung, bevor sie mich auf gefährliches Terrain führen konnten. Stattdessen konzentrierte ich mich lieber auf Talita. „Also“, fuhr ich fort, sobald ich wieder an ihrer Seite war. „Du wolltest mir gerade von deinen grünen Haaren erzählen.“

Sie verzog das Gesicht. „Na ja, wie gesagt, da gab es dieses Missverständnis, weswegen ich nicht mehr zu den Lykanern durfte. Ein gewisser Wolf war darüber nicht sehr glücklich.“

Ah, ich wusste, wovon sie sprach. „Du redest von Pal.“

Überrascht schaute sie mich an, doch dann schien ihr zu dämmern, woher ich das wusste. „Ich habe es dir bereits erzählt.“

Ich machte mit der Hand eine vage Bewegung. „Ein paar Dinge schon, aber niemals von grünen Haaren.“

„Dann weißt du also von Kaj und Pal und dass die beiden bei mir gewohnt haben?“

Ich nickte. „Und auch, dass sie sich am Anfang absolut nicht leiden konnten.“ Um es mal harmlos auszudrücken. Als Kaj und Pal in Talitas Wohnung aufeinandergetroffen waren, sollen laut ihren Erzählung die Fetzen geflogen sein.

„So könnte man das auch bezeichnen.“ Sie seufzte. „Auf jeden Fall haben sich die beiden ständig in die Flicken bekommen. Für Kaj schien das alles ein riesiger Witz zu sein, und damit hat sie Pal zur Weißglut getrieben. Und irgendwann fingen die beiden dann an, sich gegenseitig Streiche zu spielen.“

Ich schmunzelte. Die beiden schienen ganz nach meinem Geschmack zu sein.

„Bei einem dieser Streiche hat Pal grüne Farbe in ein Shampoo gefüllt, nur leider war es nicht Kaj, die sich damit die Haare gewaschen hat.“

Ich konnte nicht anders als zu lachen, selbst als sie mich böse anschaute. Das Gesicht, das sie gemacht haben musste, als sie es entdeckt hatte … Ich hätte sie nur zu gerne dabei beobachtet.

„Das ist nicht komisch“, grummelte sie.

„Für dich vielleicht nicht“, grinste ich sie an. „Ich finde das äußerst komisch.“

Was auch immer sie danach in ihren nicht vorhandenen Bart murmelte, war bestimmt nichts Nettes.

„Ach, komm schon“, zog ich sie auf. „So schlimm ist es doch gar nicht.“

„Das sagst du nur, weil du nicht aussiehst wie ein grünes Marsmännchen.“

Das war gut möglich. Allerdings wäre ich auch nicht ewig mit dieser seltsamen Haarfarbe herumgerannt.  

Da kam mir doch glatt eine Idee. „Warte mal.“ Ich griff nach ihrem Arm und brachte sie damit zum Stehen. Mit einem vorsichtigen Blick versicherte ich mich, dass Askea bereits um die nächste Ecke verschwunden war, dann legte ich ihr meine Hände auf den Kopf, konzentrierte mich und ließ meine Magie spielen. Schon die ganze Zeit erfüllte sie mich und schien mich verführen zu wollen, sie endlich mal wieder zu benutzen. Und nun hatte ich auch einen guten Grund dazu.

Es war ein leichtes Kribbeln auf meiner Haut, das langsam zu einem Glühen wurde. Die Magie floss aus mir heraus und lief wie Wasser über Talitas Haare.

Ihre Augen wurden groß, als sie es spürte. „Was …?“

„Pssst“, zischte ich. Askea musste nicht unbedingt wissen, was ich hier hinten trieb. Er würde es nur wieder als Grund nehmen, mich erneut anzuschreien, und darauf konnte ich verzichten. Natürlich wusste ich, dass er das nur aus der Sorge heraus tat, aber mir ging es gut. Ich verstand es ja selbst nicht so recht, aber ich hatte mich in meinem ganzen Leben noch nie so prächtig gefühlt wie in den letzten Tagen – meine Gefühlswelt einmal außen vor gelassen.

Veith hingegen, der auch stehen geblieben war und uns beide beobachtete, konnte ich getrost ignorieren. Er würde mir nicht sagen, was ich zu tun hatte. Das war einfach nicht seine Art.

Konzentrier dich! Tief durchatmen.

Am Anfang war kaum etwas zu sehen, nur ein kleiner Schimmer an ihrem Scheitel, doch langsam verblasste das dunkle Grün, wurde heller, bis kaum noch ein Schatten davon zu erkennen war. Dann war es einfach fort und hinterließ nichts als weißblondes Haar.

Zufrieden mit mir, nahm ich meine Hände von ihrem Schopf und trat einen Schritt zurück. „So, jetzt wird dich keiner mehr schräg anschauen.“

Sie griff nach einer blonden Strähne und begutachtete sie zwischen ihren Fingern. Dann lächelte sie. „Danke.“

„Nichts zu danken. Aber jetzt lass uns gehen, bevor mein drakonischer Dämon noch –“

„Tiara!“, hallte seine Stimme zu uns hinüber.

„Zu spät.“ Ich seufzte.

Talita kicherte.

Trotz seines Rufs sah ich nicht ein, mich zu beeilen, sondern umkreiste den hohen Felsen in meinem eigenen Tempo. Okay, vielleicht lief ich sogar aus Trotz ein klein wenig langsamer, einfach nur, um ihm zu zeigen, dass er mich nicht herumkommandieren konnte. Kaum waren wir auf der anderen Seite des Felsens angekommen, standen wir auch schon direkt vor einer Schlucht, die sich mitten durch das Drachengebirge zog.

Wir hatten unser Tagesziel erreicht.

Direkt vor mit erhob sich der Steilhang des Gebirges in schwindelerregende Höhen. Von Nahem sah es noch schlimmer aus, als ich es aus der Ferne hatte erkennen können. Nicht nur, dass der Steilhang aussah wie ein Schweizer Käse mit so vielen Rissen und Löchern, dass sie kaum zu zählen waren, die Schlucht zwischen den beiden Seiten machte den Eindruck, als wäre sie einfach in der Mitte durchgebrochen. Bis auf ein paar Unebenheiten und Vorsprünge waren die Wände fast unnatürlich glatt – so, als wären sie mit einer riesigen Axt gespalten worden. Damit war auf gerader Ebene ein Weg aus dem Roten Hinterland direkt in den Wolfsbaumwald geschaffen worden. 

Eine graue, scheinbar endlose, ausgestorbene Schlucht. Soweit mein Auge reichte, konnte ich an den kahlen Felshängen kein Grün ausmachen. Da war nicht einmal ein vertrocknetes Grasbüschel oder ein knochiger Baum. Auch kein Moos, das sich an den Felsen klammerte. Nichts außer dieser unnatürlichen Leere. Ich konnte gerade noch dem Drang widerstehen, die Arme um mich selbst zu schlingen, als mich ein Frösteln überlief.

Talita dagegen konnte ihre Fassungslosigkeit kaum verbergen. Ihre Augen waren riesig und ihr Kopf ging von einer Seite zur anderen, als könnte sie einfach nicht glauben, dass dies hier die Realität war. „Was ist hier passiert?“

„Magie“, flüsterte Veith. Sein Gesicht war zu einer grimmigen Maske geworden.

Askea und Fax dagegen waren von dem Anblick weder besonders überrascht, noch schien es sie zu kümmern. Ungeduldig standen sie ein Stück weiter und warteten auf uns.

Ich war die Erste, die sich von der Aussicht losreißen konnte und zu den Dämonen aufschloss. Dabei warf ich einen Blick auf mein kleines Phinchen. Sie war eingeschlafen. Wie ein kleiner Engel.

„Wir müssen dort hinauf.“ Askea zeigte auf einen Felsvorsprung, der etwa acht Meter über unseren Köpfen in die Schlucht hineinragte. „Dort oben werden wir die Nacht verbringen. Das ist sicherer als hier unten.“

Ich folgte seinem ausgereckten Finger. Was ich da sah, gefiel mir allerdings nicht besonders. In meinem Kopf machten sich leise Zweifel breit. Nicht nur, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich dort raufkommen sollte, der Vorsprung machte auch keinen besonders sicheren Eindruck. „Und wenn er unter unserem Gewicht abbricht?“

„Wir lassen einfach den Wolf und seine Gefährtin unten.“

Veith knurrte.

Ich seufzte. Irgendwie tat ich das heute sehr oft. „Haben wir da oben überhaupt alle Platz?“

„Wollen wir es hoffen. Ansonsten müssten wir uns einen anderen Schlafplatz suchen, und ich würde ungern in dieser Schlucht herumirren, wenn es dunkel wird.“

‚Dunkel‘ war gut, die Nacht dämmerte bereits. „Na dann, sag mir, wie ich da raufkomme.“

„Mit Klettern.“

„Sehr witzig.“ Wenn ich versuchte, da hochzuklettern, würde ich mir vermutlich den Hals brechen – im besten Fall.

Etwas umständlich, um Seraphine nicht zu wecken, nahm Askea seine Tasche vom Rücken und ließ sie zu Boden gleiten. Nach einigem Suchen zog er ein altes Tuch hervor, mit dem er meinen kleinen Engel an seine Brust band. Unter meinem wachsamen Blick überprüfte er den Knoten und die Lage des Stoffes dreimal, bevor er sich die Tasche wieder auf den Rücken schwang und an die Felswand trat.

Mit einem mulmigen Gefühl schaute ich ihm dabei zu. „Du meinst das ernst.“

„Natürlich.“ Er schaute an dem Steilhang hinauf, als würde er etwas suchen. Dann griff er nach der ersten Möglichkeit, die Halt versprach. „Mach einfach das, was ich mache.“

Zweifelnd beobachtete ich, wie er das erste Stück erklomm und dabei jeden Fuß und jede Hand sicher an den Unebenheiten und Rissen im Felsen ansetzte, um sich weiter in die Höhe zu schieben. So, wie er das machte, schien es ganz einfach zu sein. Kein einziges Mal geriet er ins Straucheln oder rutschte gar weg. Trotzdem machte mein Herz bei jedem Stück, das er sich höher schob, einen unsicheren Satz. Schließlich hing an dieser Wand nicht nur der Mann, nach dem ich mich die letzten drei Jahre verzehrt hatte, sondern auch mein Phinchen.

Erst, als Askea sich das letzte Stück auf den Felsvorsprung hochgezogen hatte und sicher oben stand, erlaubte ich es mir, tief durchzuatmen. Das wäre geschafft.

„Nun kommt“, wies er mich und Fax an. Veith und Talita hingegen wurden von ihm rigoros ignoriert. Ich glaubte, er mochte sie nicht.

Ich warf meinem Ziehsohn ein klägliches Lächeln zu, welches er aufmunternd erwiderte, und trat dann an den Felsen. „Dann wollen wir mal.“

Wie ich es mir schon gedacht hatte, war es nicht annähernd so einfach, wie es ausgesehen hatte. Der kantige Felsen grub sich immer wieder in meine Haut und ließ meine Hände schmerzen. Auf halber Höhe rutschte ich nicht nur ab, sondern verlor sogar meinen Schuh, der den hinter mir kletternden Fax beinahe getroffen hätte. Als ich endlich oben ankam, war ich so außer Puste, dass ich mich erstmal auf Hände und Knie sinken ließ und mir schwor, sowas kein zweites Mal zu machen.

Allen anderen wiederum schien der Aufstieg überhaupt keine Probleme zu bereiten. Besonders Talita bewegte sich mit einer Leichtigkeit, die ich ihr niemals zugetraut hätte. „Wie hast du das gemacht?“, fragte ich ganz direkt, kaum dass sie oben stand und in die Tiefe spähte.

Sie grinste mich an. „Ich bin eine Katze“, sagte sie leichthin. „Das Klettern liegt mir im Blut.“

Theoretisch war ich auch eine Katze, irgendwie, doch ich fand das absolut nicht leicht. Als ich auch noch einen Blick über die Kante riskierte und meinen Schuh dort unten entdeckte, musste ich schlucken. Das hätte ich sein können.

„Lasst uns aufbauen“, forderte Askea.

Ich atmete noch einmal tief durch und stemmte mich dann hoch, um unser kleines Nachtlager in Augenschein zu nehmen.

Der Vorsprung war nicht wirklich groß, doch wir würden hier bequem Platz finden, ohne fürchten zu müssen, ausversehen runterzufallen oder gar geschubst zu werden. An der Seite führte ein sehr schmaler Pfad fast in gerader Linie am Steilhang entlang. Er wirkte nicht besonders sicher.

Leider gab es hier auch keine Sicherheitsnetze oder Kindersicherungen, die verhinderten, dass kleine neugierige Mädchen einfach von der Kante in die Tiefe stürzten. „Wir müssen ein Auge auf Seraphine haben.“ Ich streifte mir meinen verbliebenen Schuh vom Fuß, da es sich komisch anfühlte, nur einen zu tragen, und hoffte einfach mal, dass die Steine hier oben nicht so spitz waren. Sobald wir morgen runterkletterten, konnte ich sie ja beide wieder anziehen.

„Es wird ihr nichts geschehen“, versicherte Askea mir und begann ein paar Dinge aus seinem Beutel zu kramen – einen Topf, etwas Holz und einen gut gefüllten Wasserschlauch. „Fax, leg die Felle aus.“

„Ja, Papá.“ Sofort machte sich der Kleine über seine eigene Tasche her.

Ein Gefühl der Sehnsucht überkam mich. Das alles hier war so vertraut.

„Tia, mach Essen.“

Ja, auch das.

Talita blies empört die Backen auf, doch ich winkte einfach nur ab. „Ignorier Askea einfach“, riet ich ihr und schnappte mir den Topf.

Mit dem Wort „Olus“ drückte er mir den vollen Schlauch und einen Beutel mit Trockenfleisch in die Hand.

Suppe, mhm, lecker. „Weißt du, ‚Bitte‘ und ‚Danke‘ sind immer noch Worte, die ich gerne hören würde.“

„Und ich würde gerne hören, dass du in deine Welt zurückkehrst.“

Oh dieser … grrr! Da blieb mir gar nichts anderes übrig, als ihm eingeschnappt den Rücken zuzukehren und mich an dem Abendessen zu versuchen.

Es war schon erstaunlich, dass ich noch genau wusste, was ich zu tun hatte, obwohl so viele Jahre vergangen waren.

Talita und Veith halfen Fax dabei, die Felle auf dem Vorsprung auszubreiten, während Askea ein Lagerfeuer aufbaute. Um es zu entzünden, brauchte er nicht einmal ein Streichholz. Er blies einfach seinen Atem auf das trockene Holz, bis die Hitze alleine ein Feuer entfachte.

Ja, das hier hatte ich wirklich vermisst.

Als ich die Suppe soweit vorbereitet hatte, ließ ich mich auf eines der Felle direkt am Feuer sinken und stellte den Topf in die Flammen. Dabei musste ich die ganze Zeit umrühren, damit das Essen nicht anbrannte.

Auch die anderen ließen sich um das Feuer nieder. Askea jedoch bastelte zuvor noch eine Art Nest aus den Taschen und einem Fell und bettete Seraphine hinein. Dann streckte er sich hinter mir aus, den Kopf auf den Arm gestützt, und hüllte sich in Schweigen.

„Ich bin das echt nicht mehr gewohnt“, sagte Talita irgendwann. Sie saß zwischen Veiths Beinen und hatte sich mit dem Rücken an seine Brust gekuschelt. „Im Moment gibt es wohl keinen Muskel, der mir nicht wehtut. Und dann erst diese Hitze den ganzen Tag.“

Ich grinste und rührte noch ein wenig in der Suppe. „Du hast es ja jetzt hinter dir. Nur noch durch die Berge, dann sind wir auch schon in deinem Wald.“

„Das ist gut“, sagte sie, doch der Ton in ihrer Stimme verriet etwas ganz anderes. Sie machte sich Sorgen. Keiner von uns wusste, was uns auf der anderen Seite des Gebirges erwarten würde, doch wenn ich daran dachte, was ich dort vor drei Jahren zurückgelassen hatte, und es mit dem verglich, was mir in den letzten drei Tagen in der Wüste vor Augen gekommen war, dann konnte es unterm Strich nichts wirklich Gutes sein.

Aber sich deswegen jetzt verrücktzumachen, würde an der ganzen Sache auch nichts ändern. Deswegen fand ich es im Moment angebrachter, alle auf andere Gedanken zu bringen. Etwas, das nicht wirklich schwer war. Mit den Worten: „Die Suppe ist fertig“, hob ich den Topf aus den Flammen und stellte ihn zwischen die Felle.

Fax griff sofort nach den Schüsseln, die Askea bereitgestellt hatte. Drei Schüsseln. Warum wunderte mich das überhaupt noch? Ich erhob mich, um in den Taschen nachzusehen, ob wir noch zwei weitere Schüsseln dabei hatten – oder wenigstens irgendwas, das Talita und Veith zum Essen nutzen konnten.

Meine Schwester warf einen Blick auf meine Kochkünste und verzog angewidert das Gesicht. „Was zur Hölle ist das?“

„Olus.“ Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. „Suppe.“

Was sie sah? Grünen Schleim, der fröhlich Blasen warf und dabei einen unglaublich angenehmen Geruch verströmte.

„Die ist aus Heilkräutern gemacht. Sehr lecker.“ Der Ekel in ihrem Gesicht ließ mich noch breiter grinsen. „Ob du es glaubst oder nicht, man kann es wirklich essen.“ Um es ihr zu beweisen, ließ ich die Taschen in Frieden, schnappte mir eine der Schüsseln und befüllte sie. Dann setzte ich sie an die Lippen an und nahm einen Schluck. „Mhmmm“, machte ich genüsslich.

Sie verzog ihre Lippen noch mehr.

„Talita war den Speisen hier gegenüber schon immer ein wenig skeptisch“, sagte Veith.

„Aber nur, weil Pal mich mit den Rothoden aufs Kreuz gelegt hat.“  

„Ich mag Rothoden.“ Grinsend setzte ich die Schüssel ein weiteres Mal an die Lippen.

 

°°°°°

Tag Vier

 

Ein verschlafenes Schmatzen kam mir über die Lippen. Ich kuschelte meinen Rücken näher an die warme Brust und sonnte mich an dieser Nähe. Es war wie ein Magnet, dem ich nur zu gerne entgegenkam. Die Hitze kroch über meinen Nacken, senkte sich auf meine Schulter, doch erst die Berührung meiner Markierung, die wie sengendes Feuer in meinen Leib fuhr, ließ mich vollends erwachen.

Mein ganzer Körper verkrampfte sich. Nein.

Ich spürte Askeas Lippen auf meiner Haut, fühlte, wie er der Verbindung zwischen uns neues Leben einhauchte, während seine Hand meine Taille umfasste und mich näher an sich zog. „Hör auf“, flüsterte ich. „Bitte.“

Statt meinem leisen Flehen nachzukommen, wurde sein Griff noch fester. Aus seiner Kehle drang ein nahezu lautloses Grollen, dessen Nachhall in meinem Blut vibrierte und das Sehnen nach diesem Mann nur noch verstärkte.

Doch egal, wie gut es sich in diesem Moment anfühlte, ich konnte mich unter seinen Berührungen einfach nicht entspannen. Nicht nur, dass wir hier auf diesem Felsvorsprung nicht alleine waren, da waren plötzlich Bilder in meinem Kopf. Bilder von Askea und einer anderen Frau. Bilder, die ihn und Nubia in der gleichen Situation zeigten. Wie er sie an sich zog. Wie er mit ihr verschmolz. Und auch, wie sehr sie es genossen haben musste.

Meine Finger krallten sich in das weiche Fell des Nachtlagers. Das Brennen machte es mir fast unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Mein Körper wollte das, was er dort tat – so sehr. Ich spürte seine Nähe bis in die kleineste Zelle, doch mein Kopf konnte da einfach nicht mitspielen.

Als er dann auch noch seine Hand unter mein Kleid schob, versteifte ich mich völlig. „Wenn du nicht aufhörst, werde ich dir das niemals verzeihen.“

Seine Finger verharrten auf meinem Oberschenkel. Und dann tat er etwas völlig Unerwartetes, etwas, das er noch nie gemacht hatte, selbst wenn ich ihn angefleht hatte: Er unterbrach das Brennen. Der Magiefluss stoppte, die Verbindung brach ab, seine Lippen hoben sich von meiner Haut und die Hand unter meinem Kleid verschwand, doch er rückte nicht von mir ab.

„Es wird nichts ändern, nur weil du es hinauszögerst“, sagte er leise.

„Nein, wird es nicht. Nichts kann an dieser Situation etwas ändern.“ Ich zwang meine Finger, sich aus dem Fell des Nachtlagers zu lösen, und erhob mich langsam auf die Knie, bis ich ihn ansehen konnte. „Aber ich kann auch nicht einfach so tun, als wäre alles völlig in Ordnung, nur um mit dir in den Sonnenuntergang zu reiten. Das geht nicht, Askea.“

Sein Blick schien mich zu durchbohren. Ich kannte den Ausdruck darin nur zu gut, dieses urtümliche Verlangen, und wusste, dass ich ihm nicht ewig entgehen konnte. Doch im Moment tat es einfach noch zu weh.

Askea sah den Schmerz in meinen Augen. Er wusste, dass er verloren hatte, und ausnahmsweise akzeptierte er seine Niederlage. Seufzend ließ er sich auf den Rücken sinken und schloss die Augen. „Nubia ist nicht du. Es ist falsch, dass du dich mit ihr vergleichst.“

Der Schmerz verwandelte sich in etwas mit Zähnen, das ihm nur zu gerne die Fänge gezeigt hätte. Doch stattdessen kniff ich einfach nur die Lippen zusammen, erhob mich auf die Beine und versuchte den Drang, ihn zu schlagen, zu unterdrücken.

Natürlich war ich nicht Nubia, das war mir schon klar, und ich war mir sogar fast hundertprozentig sicher, dass er sie nun nicht einmal mehr mit dem Arsch ansehen würde, aber – na ja, ich war mir eben nur fast sicher. Ein kleiner Zweifel blieb, und dieser war auch für die widerlichen Bilder in meinem Kopf zuständig, die sich einfach nicht vertreiben lassen wollten.

Um mich schnellstmöglich von Askea zu entfernen und meine Gedanken in eine andere Bahn zu lenken, schaute ich nach meinem kleinen Engel. Sie schlief noch. Nach der gestrigen Anstrengung sollte mich das nicht wirklich überraschen, doch es war so ungewohnt. Die meiste Zeit ihres bisher kurzen Lebens war sie vor mir wachgewesen.

Während ich meinen kleinen Schatz beim Schlafen beobachtete, bekam ich plötzlich das bohrende Gefühl, selbst unter Beobachtung zu stehen. Doch als ich mich umsah, musste ich feststellen, dass alle noch schliefen. Kein Wunder. Stundenlange Wanderungen durch ein Wüstenmeer und die trockene Hitze des Roten Hinterlandes konnten schon ziemlich kräftezehrend sein.

Nur warum fühlte ich mich auf einmal wie auf einem Präsentierteller?

Mein Blick schweifte hinauf zum Himmel. Die erste Sonne schickte sich gerade an, über den Gipfeln des Gebirges aufzugehen, doch bis auf uns schien diese Schlucht von jedem Leben befreit zu sein. 

Seufz. Nicht nur, dass meine Phantasie mir Bilder vorgaukelte, um die ich niemals gebeten hatte, jetzt wurde ich auch noch paranoid. Fehlten nur noch Verfolgungswahn und ein paar Halluzinationen, dann konnte ich mich direkt einweisen lassen.

Das ist doch albern, schalt ich mich, nahm aus der Tasche neben Seraphine einen Wasserschlauch und verzog mich damit an die Kante des Vorsprungs. Wenn ich mich selbst verrücktmachen wollte, gab es dazu bestimmt bessere Möglichkeiten. Ich könnte zum Beispiel einen auf Huhn und Himmel machen und kreischend durch die Gegend rennen, weil ich immer in der Befürchtung lebte, uns könnte jeden Moment der Himmel auf den Kopf stürzen.

Okay, das war erst recht albern.

Schwer seufzend schaute ich in den kleinen Canyon und jeglicher Gedanke in meinem Kopf verschwand einfach. Ich hatte mich noch nicht einmal richtig hingesetzt, doch für einen Augenblick hatte ich sogar vergessen, wie man sich bewegte. Die ganze Schlucht war mit einem grünen fluoreszierenden Nebel erfüllt, dessen Schwaden langsam über den Boden krochen und versuchten, an den Steilhängen hinaufzuklettern. Doch sie schafften es nicht. Keine drei Meter unter mir fielen sie einfach wieder zurück, nur um erneut aufzuwallen.

Verborgen in dem milchigen Dunst, zuckten immer wieder kleine Blitze wie elektrische Ladungen und ließen das Ganze noch unheimlicher wirken. Besonders verstörend fand ich die Tatsache, dass dabei nicht das kleinste Geräusch entstand. Es machte sogar den Eindruck, als würde der Nebel die Geräusche, die ich machte, verschlucken, und das, obwohl er mich nicht erreichte.

Langsam schweifte mein Blick über die wallende Oberfläche, aus der Schlucht hinaus und in die Wüste.

Mir stockte der Atem.

Das Meer … Es war verschwunden. Aber nicht nur das. Der vertraute Anblick der Wüste war nicht zurückgekehrt, stattdessen kroch nun auch dort der grüne Nebel in trägen Bewegungen über den Boden und ließ alles Vertraute unheimlich und fremd wirken.

Eine eiskalte Gänsehaut kroch über meinen Rücken. „Askea“, rief ich. „Askea, schau dir das an.“

Mein drakonischer Dämon ließ sich gerade mal dazu herab, ein Auge einen Spalt zu öffnen. „Was ist?“

„Schau dir den Boden an.“ Ich beugte mich so weit, wie ich es wagte, über die Kante und spähte in die Tiefe hinab. Der Dunst war so dicht, dass ich nicht einmal mehr meinen verlorenen Schuh sehen konnte. „Da ist so ein grüner Nebel, der –“

„Komm von der Kante weg!“, fauchte er mich plötzlich an und sprang auf die Beine. Er war so schnell bei mir und riss mich zurück, dass ich nicht einmal die Chance hatte, von seinem harschen Ton überrascht zu sein. „Komm dem Nebel niemals zu nahe, hast du verstanden?!“

Ich blinzelte.

„Was ist denn los?“, fragte eine verschlafene Stimme. Müde blinzelnd richtete sich Talita auf. Auch Fax war durch den Ruf seines Vaters hochgeschreckt und schaute sich wachsam auf dem Vorsprung um.

„In Ordnung, aber …“ Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter, bevor ich ihn wieder auf Askea richtete. „Warum? Was ist mit dem Nebel?“ Oh Gott, waren das vielleicht sowas wie fleischfressende Bakterien, die sich zur Brunftzeit versammelt hatten, oder Giftnebel, der einem die Haut verätzte?

„Ich weiß es nicht.“ Askea schob mich ein Stück weiter zur Wand und spähte dann selbst in die Tiefe, als wollte er die Gefahr abschätzen. „Dieser Nebel erscheint nicht oft, aber … er ist gefährlich.“

Wenn mich nicht allein seine plötzliche Wachsamkeit verunsichert hätte, dann spätestens der Ton in seiner Stimme. „Warum denn?“, fragte ich, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich es wirklich wissen wollte.

„Wenn ich das nur wüsste …“ Sehr langsam wanderten seine Augen über die wallende Oberfläche. „In dem Nebel lauert etwas. Ich habe noch nie gesehen, was es ist, doch ich habe es schon gehört“, er drehte sich zu mir um, „und auch die Schreie der Wesen, die es getötet hat.“

Talita rieb sich über die Arme. „Okay, im Gruselgeschichten Erzählen bist du echt gut.“

Natürlich wurde das von meinem Mann einfach überhört. „Ich will dich niemals in der Nähe des Nebels sehen. Hast du verstanden?“

Ich nickte. Was hätte ich auch sonst tun sollen?

Wachsam erhob sich nun auch Veith von seinem Lager und trat an den Rand, um sich die Sache einmal selbst anzusehen.

Askea schaute ihn an, als wäre er am Überlegen, den Lykaner in die Tiefe zu schubsen – einfach weil der andere Mann sich in seine Nähe gewagt hatte –, wandte sich dann jedoch nur mit einem Knurren von ihm ab und hielt mit langen Schritten auf sein Lager zu. „Fax, steh auf und pack die Felle zusammen. Wir ziehen weiter.“

„Ja, Papá.“

„Tiara …“

„Ja, ja, ich weiß schon, einpacken und aufbrechen.“ Ich machte mich daran, Seraphine aufzuwecken und mit ihr unser allmorgendliches Ritual zu vollziehen – zumindest, so gut das eben auf einem Felsvorsprung in einer Schlucht möglich war: Wickeln – obwohl hier ‚zaubern‘ wohl der passendere Begriff war – füttern und dann auf den vollen Bauch prusten. Das liebte sie; es ließ sie immer lachen. Aber selbst mein kleines Mädchen schien die Anspannung der Erwachsenen zu spüren. Immer wieder ließ sie sich ablenken und fand es überhaupt nicht lustig, dass sie sich nicht frei auf dem Vorsprung bewegen durfte.

Talita dagegen schaffte es irgendwie, sich mit vom Schlaf verquollenen Augen von ihrem Lager zu erheben und Fax zu helfen, während Askea die restlichen Sachen einpackte.

Veith jedoch bewegte sich nicht von der Stelle. Der Nebel schien im Augenblick alles zu sein, für das er sich interessierte. Dann sprach er eine Frage aus, die ihm unsere volle Aufmerksamkeit einbrachte: „Wenn wir den Nebel nicht betreten dürfen, wie sollen wir dann von hier fortkommen?“

Das ließ alle einen Moment innehalten – alle außer Askea, der unbeirrt die Schüsseln in seine Tasche räumte. „Über den Pfad“, sagte er, als wäre das völlig klar.

Nicht nur mein Blick ging zu dem schmalen Sims, der sich über die komplette Länge der Schlucht zu ziehen schien.

Davon abgesehen, dass sich dort immer wieder Risse durch das Gestein zogen, die nicht sehr verlockend waren, an manchen Stellen wirkte der Felsen auch so dünn und brüchig, dass er vermutlich nicht einmal Seraphine würde tragen können. „Hältst du das für eine gute Idee?“, fragte ich deswegen auch ganz direkt.

„Entweder das oder wir können mitunter tagelang hier festsitzen.“ Askea schloss den Beutel und wandte sich mir zu. „Aber das bedeutet noch lange nicht, dass wir dann sicher wären, denn der Nebel wird steigen.“

Das waren keine allzu guten Nachrichten.

„Na dann“, etwas zu übermütig klatschte ich in die Hände und hob meinen kleinen Engel auf meine Hüfte, „lasst uns aufbrechen.“

Zwiegespalten schaute Talita zwischen dem Pfad und dem grünen Nebel hin und her. „Wahrscheinlich immer noch besser, als sich wegen eines unsichtbaren Monsters verrücktzumachen.“

Als würde Veith spüren, dass ihr der Gedanke daran Unwohlsein bereitete, trat er zu ihr und zog sie in seine Arme, als könnte er sie so vor allem Unheil der Welt beschützen.

Der Anblick der beiden, wie sie so vertrauensvoll miteinander umgingen, war nicht fremd für mich. Veith war vielleicht kein Mann großer Worte und lächelte meiner Auffassung nach viel zu selten, aber solange ich ihn kannte, hatte er noch nie Probleme damit gehabt, ihr seine Zuneigung zu zeigen. Selbst wenn es nur kleine Gesten waren, wie ihr einen Krümel von der Wange zu wischen.

Natürlich gab es da auch noch ganz andere Situationen. Nicht selten versuchte er mich von Talita wegzuschieben – wortwörtlich –, aber auch das bewies mir, wie nahe die beiden sich eigentlich standen.

Allein seine Anwesenheit schien sie zu beruhigen.

Bevor ich noch auf die Idee kam, Veiths offensichtliche Zurschaustellung seiner Zuneigung mit der von Askea zu vergleichen, wandte ich lieber den Blick von dem glücklichen Pärchen ab. Man konnte die beiden nicht miteinander vergleichen, denn Askea war ein Dämon und seine Mentalität völlig anders.

„Fax, gib dem Wolf deine Tasche, er trägt sie. Und dann kommt.“ Askea schwang sich seinen eigenen Sack auf den Rücken und achtete gar nicht auf den Rest von uns. Er ging einfach davon aus, dass wir seinem Wort Folge leisten würden. Irgendwas in seinem verschlossenen Gesichtsausdruck irritierte mich. War er verärgert?

„Heute noch, Tiara“, fauchte er mich an.

Meine Mundwinkel sanken herab. Ja, er war verärgert, nur hatte ich keine Ahnung, warum.

Als Askea den ersten Schritt auf den Pfad setzte, war Fax direkt hinter ihm.

Ich warf noch einen Blick zu meiner Schwester und ihrem Mafiabruder, nahm Seraphine auf die andere Hüfte und folgte ihnen.

Der schmale Sims war wirklich sehr eng. Zwischen mir und dem Abgrund lagen nur wenige Zentimeter, was den Beginn unserer kleinen Wanderung nicht sehr angenehm machte. Obwohl ich mir immer wieder sagte, dass ich nicht in die Tiefe schauen durfte, konnte ich es nicht vermeiden, den grünen Nebel im Auge zu behalten.

Langsam wurde es am Horizont immer heller, und als sich dann die zweite Sonne zur ersten gesellte, konnte man sagen, dass dieser Tag endgültig angebrochen war.

Bis auf ein paar Worte, die hin und wieder von Seraphine kamen und meine Aufmerksamkeit erforderten, blieb es zwischen uns sehr still. Selbst das Geräusch unserer Schritte schien von dem wallenden Nebel in der Schlucht absorbiert zu werden.

Die Zeit verstrich nur sehr langsam. Im Grunde war nicht einmal anhand des Standes der Sonnen zu erraten, wie viel Zeit genau vergangen war, da der kahle Felsen nur einen beschränkten Blick auf den Himmel zuließ. Erst als Seraphine quengelte, weil ich sie die ganze Zeit auf dem Arm behielt und ihr Magen knurrte, wurde mir klar, dass wir bereits ein paar Stunden unterwegs sein mussten. Doch das Landschaftsbild, durch das wir uns bewegten, schien sich keinen Augenblick zu ändern.

„Ich hätte nie gedacht, dass dieses Gebirge sooo riesig ist“, merkte Talita irgendwann an und machte einen großen Schritt über eine wenig vertrauenserweckende Spalte.

„Was hast du denn geglaubt, welche Ausmaße so ein Gebirge hat?“, zog ich sie auf. Ich schob ein kleines Steinchen mit dem Fuß zur Seite, bevor ich diesen dorthin setzte.

„Na ja, irgendwie nicht ganz so groß. Man kommt sich vor, als würde man die ganze Zeit auf der Stelle treten.“

Vorne schüttelte Askea den Kopf, als könnte er nicht glauben, was er da hörte.

Fax warf einen Blick nach hinten. „Diese Stelle des Gebirges ist noch ziemlich schmal.“

„Schmal?“, Talita schnaubte. „Das einzig Schmale hier ist dieser Sims. Wäre ich nicht –“

Plötzlich schallte ein ohrenbetäubendes Kreischen durch die Schlucht, das Talita nicht nur zum Verstummen brachte, sondern uns alle innehalten ließ. Es schwoll an, bis es in meinen Ohren schmerzte, hallte von den Wänden wider und wurde hundertfach zurückgeworfen.

Dann wurde es auf einmal wieder viel zu still.

Talita griff nach Veiths Hand, während Askea wachsam seinen Blick schweifen ließ. „Was war das?“

„Ich bin mir nicht so sicher, ob ich das wirklich wissen möchte.“ Eine Bewegung im Augenwinkel veranlasste mich dazu, hinunter in den Nebel zu spähen. Schon die ganze Zeit wallte er unnatürlich ruhig durch die Schlucht, während kleine Blitze seltsame Schatten in dem Dunst erscheinen ließen. Ich kniff die Augen leicht zusammen, auf der Suche nach etwas, das dort nicht hingehörte.

„Weiter“, befahl Askea und wandte sich wieder um.

In dem Moment entdeckte ich ihn: Ein dunkler Schatten, der sich durch den Nebel bewegte. „Unter uns ist –“, begann ich, da wurde der graue Stein unter meinen Füßen erschüttert. Während ich mich mit Seraphine hastig an die Wand drückte und um mein Gleichgewicht bangte, gab Talita einen überraschten Laut von sich.

„Was zum …?“

Die zweite Erschütterung ließ mich in die Knie gehen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und mein Adrenalinpegel war so schnell in die Höhe geschossen, dass es sicher nicht gesund war. Es war kein Erdbeben. Irgendwas schien mit einem riesigen Vorschlaghammer immer wieder gegen die Felswand zu schlagen. Viel wahrscheinlicher war allerdings, dass dieses Wesen das Gestein selbst rammte.

„Lauft!“, rief Askea, als der Sims unter ihm plötzlich zu bröckeln begann.

Da Fax es schon verinnerlicht hatte, immer auf Askeas Anweisungen zu reagieren, war es wohl nicht verwunderlich, dass er seinem Vater sofort hinterher wollte.

Und da wurde das Gestein auch schon ein drittes Mal erschüttert.

Die Zeit schien für einen kurzen Moment in Zeitraffer abzulaufen. Der Sims direkt vor Fax war plötzlich mit Rissen durchzogen. Ich wollte ihm noch eine Warnung zurufen, da setzte er seinen Fuß bereits auf das bröckelnde Gestein. Unter seinem Gewicht brach der Sims einfach weg.

Ich sah noch seinen überraschten Gesichtsausdruck, dann fiel er auch schon.

„Fax!“

Woher Askea so schnell gekommen war, vermochte ich nicht zu sagen, doch noch während ich versuchte, nach meinem Ziehsohn zu greifen, warf er sich bereits auf den Bauch und streckte die Arme in die Lücke.

In diesem Moment hallte wieder dieses unnatürliche Kreischen durch die Schlucht und ein weiteres Beben erschütterte den Untergrund.

Die Zeit schnappte wieder in ihre normale Geschwindigkeit.

„Feuer!“, fauchte Askea, während er versuchte, seinen Sohn in die Höhe zu ziehen – er hatte ihn erwischt. Er hatte ihn wirklich gehalten, bevor er in die Tiefe stürzen konnte!

Der Nebel unter uns war unruhig und wurde von dem riesigen Schatten aufgewirbelt. Ich sah, wie er ein weiteres Mal die Felswand rammen wollte, um an seine Beute zu kommen, doch in dem Moment Fax seine Hand Richtung Boden und entließ eine mächtige Feuerlohe, die direkt in den grünen Dunst hineinfuhr.

Ein unmenschliches Kreischen schallte zu uns hinauf. Der ganze Nebel wallte auf, als die Kreatur darin das Weite suchte und als körperloser Schatten wieder in dem Dunst untertauchte, bis sie nicht mehr zu sehen war.

Während Veith, Talita und ich noch nach Atem rangen, zog Askea seinen Sohn wieder auf den Sims hinauf, bis dieser schweratmend mit dem Oberkörper oben lag.

Ich versuchte währenddessen, Seraphine zu beruhigen. Sie verstand zwar noch nicht, was hier gerade geschehen war, aber auch sie hatte sicher die Gefahr gespürt, weswegen sie ihr Gesicht an meiner Brust versteckte. Nicht einmal meine feste Umarmung konnte ihrem Zittern Einhalt gebieten. „Schhhh“, machte ich beruhigend. „Hab keine Angst, alles ist gut.“

Das letzte Stück zog Fax sich alleine hinauf. Seine Augen waren vor Schreck geweitet und seine schmale Brust hob und senkte sich hektisch. Doch sein ängstlicher Blick galt nur der Tiefe unter sich.

„Fax.“ Meine Stimme zitterte leicht. „Alles okay?“

Nein, das war es sicher nicht, dennoch nickte er.

„Ist es weg?“, fragte Talita.

„Für den Moment.“ Mit einem prüfenden Blick versicherte sich Askea, ob seinem Sohn wirklich nichts fehlte, dann rappelte er sich wieder auf die Beine. „Lasst uns gehen, bevor es zurückkommt.“

„Es kommt zurück?!“ Talitas Stimme war so hoch, dass sie erschreckend nach Minnie Mouse klang.

„Es ist ein Räuber, Tal“, erklärte Veith, den Blick wachsam in die Tiefe gerichtet. „Wenn er sich von seinem Schreck erholt hat, ist es gut möglich, dass er einen zweiten Versuch startet.“

So wie sie aussah, hatte sie das nicht unbedingt hören wollen – und ich auch nicht, wenn ich ehrlich zu mir selbst war. „Dann sollten wir uns schleunigst verziehen.“ Leider lag zwischen mir und meiner Flucht ein Abgrund, der einen tiefen Fall in den Nebel versprach.

Es war vielleicht ein knapper Meter, den ich überwinden musste, aber mit meinem kleinen Engel auf dem Arm wagte ich mich nicht auch nur einen Schritt näher heran.

„Zauber doch einfach eine Brücke“, schlug Talita vor, als sie mein Zögern bemerkte.

Sofort bedachte mich Askea mit einem drohenden Blick. „Nein.“

Warum immer ich? „Ich hab doch gar –“

„Ich komme rüber.“

Genau das geschah dann auch. Askea ließ seinen Beutel auf den schmalen Steg sinken, trat über seinen Sohn hinweg und nahm ein wenig Anlauf. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, sprang er über die Lücke.

Ich hielt den Atem an. Die Befürchtung, dass der Boden am Rand nun so instabil war, dass er durch das plötzliche Gewicht von Askea einfach abbrach und ihn mit sich in die Tiefe riss, kam leider völlig ungebeten, doch nicht unbegründet. Doch trotz meiner lebhaften Phantasie passierte gar nichts. Askea kam auf, richtete sich dann zu seiner vollen Größe auf und trat vor mich.

„Gib sie mir.“

Natürlich wusste ich, was er von mir wollte, doch ich konnte einfach nicht verhindern, dass ich Phinchen ein wenig fester an mich drückte.

Askea kniff die Augen leicht zusammen. Ich wusste, wenn ich sie ihm jetzt nicht aushändigte, war das ein deutliches Zeichen dafür, dass ich an seinen Fähigkeiten zweifelte – und zwar an der wichtigsten Fähigkeit von allen: seine Familie schützen zu können.

Aber sie war mein wertvollster Schatz. Wenn ihr nun etwas geschah … Ich würde es weder ihm noch mir jemals verzeihen können. Vielleicht war es ja doch dumm von mir gewesen, nicht sofort wieder durch den Spiegel zu steigen und meinen kleinen Engel in Sicherheit zu bringen, doch jetzt war es zu spät. Wir standen hier auf diesem schmalen Felsvorsprung, und es gab nur eine Richtung, in die wir gehen konnten.

Einen langen Moment schaute ich Askea einfach nur an. Ich musste es tun. Nicht nur, um ihn in seinen Fähigkeiten zu bestärken, sondern auch, weil ich genau wusste, dass ich Seraphine nicht sicher über die Lücke würde bringen können. „Okay“, flüsterte ich deswegen und strich meinem kleinen Schatz beruhigend über den Kopf. „Das –“ Da kamen Worte über Askeas Lippen, die ich wohl niemals für möglich gehalten hätte: „Vertrau mir.“ Er sprach sie so leise aus, dass nur ich sie hören konnte, aber diese Worte waren es, die den Knoten der Angst in meiner Brust endlich etwas lockern konnten. Trotzdem übergab ich sie mehr als widerwillig an ihn.

Genau wie ich drückte er sie schützend an seine Brust und strich ihr behutsam über den Rücken. Einen langen Augenblick schaute er mir noch in die Augen, und ich hatte das starke Gefühl, dass er mir noch etwas sagen wollte, doch dann wandte er sich einfach ab, nahm Anlauf und sprang …

Mein Herz schien stehenbleiben zu wollen, und selbst, als er mit ihr sicher auf der anderen Seite gelandet war, schlug es nur in einem holprigen Rhythmus weiter.

„Jetzt du“, wies er mich an.

Ich wollte nicht, aber mir war klar, dass es keinen anderen Weg gab. Trotzdem zögerte ich noch ein Weilchen, bevor ich mich dazu überwand, seinem Beispiel zu folgen. Meine Landung war zwar nicht ganz so elegant und gekonnt wie die von Askea, aber ich stürzte auch nicht in den sicheren Tod, und das verbuchte ich als einen kleinen Erfolg.

Trotzdem konnte ich es nicht lassen, noch einen Blick auf die Lücke zu werfen und mich zu fragen, was in dem grünen Nebel wohl lauerte. Nur ein falscher Schritt und das Ganze konnte extrem böse enden.

Mit einem: „Lasst uns gehen“, nahm er Seraphine auf den anderen Arm, schwang sich seine Tasche auf den Rücken und übernahm wieder die Führung. Dass Veith und Talita noch auf der anderen Seite waren, interessierte ihn nicht im Geringsten. Ich widersprach ihm nicht. Ganz im Gegenteil, sobald wir aus dieser verdammten Schlucht endlich heil raus wären, würde ich ein Dankesgebet an den lieben Herrgott sprechen.  

 

°°°

 

Misstrauisch beobachtete ich, wie Askea meine Kleine an sich drückte und sich dann einfach die letzten zwei Meter bis zum Boden fallen ließ. Nicht dass ich glaubte, er würde unsere Tochter nicht sicher den Abhang hinunterbringen, aber sie war eben mein kleines Mädchen und bei dem Sechsmeterabstieg konnte eine Menge passieren.

Erst als Askea unten gelandet war und abwartend zu mir hinaufblickte – wobei er Seraphine, die begeistert in die Hände klatschte, ignorierte –, atmete ich wieder auf. Dann wurde mir bewusst, dass ich selbst noch da hinunter musste. Na toll.

„Komm“, sagte Talita und stieß mich kameradschaftlich an. „Wir machen das zusammen.“  

„Glaubst du, das erhöht meine Chancen, heil unten anzukommen?“

„Wer weiß?“ Sie lächelte mich an.

Na ja, ich fürchtete ja eher, dass damit ihre Chancen, ohne gebrochene Knochen auf dem Boden zu landen, erheblich sanken. Wenn ich sie versehentlich mit hinunterriss … ähm …

„Ach, komm schon, denk einfach nicht zu viel darüber nach.“

Da ich nicht ewig hier oben bleiben konnte, blieb mir ja sowieso keine Wahl. Ich schaute in die Tiefe, von wo aus mir bereits vier Gesichter erwartungsvoll entgegenblickten. Okay, Askea schien nicht sehr erwartungsvoll, eher so, als würde ihm das alles viel zu lange dauern. „Na, dann mal los.“

„Es ist nicht schwer. Mach einfach das, was ich mache“, instruierte mich Talita.  

Das tat ich dann auch. Dabei versuchte ich, wie sie schon gesagt hatte, nicht so viel nachzudenken, weder über das, was unter mir war – nämlich Luft –, oder vor mir – eine im Moment noch ungewisse Zukunft –, oder hinter mir.

Bei dem letzten Gedanken rann mir eine Gänsehaut über den Rücken.

Den grünen Nebel hatten wir vor einer guten Stunde hinter uns gelassen. Er hatte so abrupt aufgehört, als hätte jemand eine unsichtbare Wand aufgestellt, die sein Vorwärtskommen verweigerte. Dem riesigen Schatten waren wir auch nicht mehr begegnet – wofür ich sehr dankbar war –, trotzdem schien uns die Nervosität auf Schritt und Tritt zu folgen. Na ja, zumindest mir, die anderen wirkten nicht ganz so konfus.

Während ich ein Stück über meiner Schwester hinunterkletterte und versuchte, die letzten drei Meter nicht zu stürzen, obwohl sich scharfe Kanten in meine Haut bohrten, hoffte ich, dass wir damit den schwierigsten Teil dieser Reise hinter uns hatten. So etwas wie den lauernden Schatten wollte ich kein zweites Mal erleben. Oder wie das mit dem Drachenei. Oder mit der Verwüstung, die die Magie nach sich gezogen hatte. Dabei war ich mir nicht einmal sicher, was von diesen Dingen eigentlich am schlimmsten war.

Eigentlich war ich im Moment nur froh darüber, nicht noch ein paar weitere Stunden auf diesem schmalen Sims entlanglaufen zu müssen. Unten war es wesentlich sicherer. Obwohl, so verrückt wie das Land spielte, war eigentlich nur sicher, dass im Moment gar nichts wirklich sicher war.

Vorsichtig tastete ich mit einem Fuß tiefer und verkniff mir einen Fluch, als ich dabei ein paar Steinchen lostrat. Zweifelnd warf ich ein Blick zu Talita hinunter, die mich jedoch nur aufbauend anlächelte. Nein, diese ganze Kletterei störte sie wirklich nicht. Es machte ihr richtig Spaß.

Als Veith auch noch hinter sie trat und sie von der Wand pflückte, wurde ihr Lächeln sogar noch breiter. Sie vertraute ihm voll und ganz. Und so vorsichtig, wie er sie auf dem Boden absetzte, konnte man glauben, sie wäre aus Glas.

Die beiden so zu sehen, wie sie aufeinander achteten und einander vertrauten … Ein Gefühl von giftgrünem Neid sickerte in mein Herz.

Bevor sich der Stachel der Eifersucht zu tief in mein Fleisch graben konnte, wandte ich mich ab. Warum nur kam Askea nicht auf die Idee, hinter mich zu treten, um mir hinunterzuhelfen, fragte ich mich, als ich mich den letzten Meter einfach fallen ließ. Dabei knickte ich weg und knallte mit dem Fuß auch noch gegen den Felsen. Schmerz schoss in meinen Zeh. Mist. Warum musste ich das alleine machen und mir unten dann auch noch den Zeh anstoßen?

„Uh, das hat schmerzhaft ausgesehen“, kommentierte Talita nicht sehr hilfreich und lehnte sich vertrauensvoll an Veith.

Ich funkelte sie an, erhob mich so würdevoll wie möglich auf die Beine und tat so, als würde ich mich dafür interessieren, wie die Schlucht von hier unten aussah – nicht viel anders als von oben. Dabei bemerkte ich, wie Askea mich beobachtete.

Er hatte Seraphine auf den Boden gesetzt und scheinbar Fax den Auftrag gegeben, meinen kleinen Engel im Auge zu behalten, während er selbst damit beschäftigt war, mich einfach nur anzustarren.

Ich verkniff es mir, ihn darauf hinzuweisen, dass er mir auch hätte helfen können, wenn er eh bloß nutzlos in der Gegen herumstand, und kümmerte mich stattdessen lieber um meinen schmerzenden Zeh. Doch Askeas Blick konnte ich weiterhin auf mir spüren.

„Wir machen eine Pause“, verkündete mein drakonischer Dämon und ließ seine Tasche von der Schulter rutschen.

Talita seufzte erleichtert auf. „Gott sei Dank, meine Füße bringen mich noch um.“

Auch mir gefiel diese Idee, doch freute ich mich still und heimlich, bevor ich mich an Ort und Stelle einfach auf den Boden sinken ließ. Mein Zeh tat wirklich weh. Hoffentlich hatte ich ihn mir nicht geprellt.

Während Askea Trockenfrüchte und gesalzenes Fleisch auspackte und an Fax und Seraphine verteilte, ignorierte er den Rest meiner Familie mal wieder. Das nahm Veith zum Anlass, Askea anzuknurren, also so richtig, und sich und Talita selbst zu versorgen.

Ich beobachtete Seraphine dabei, wie sie mit einem Stück Trockenobst in der Hand zu ihrer Tante rannte und es ihr freudestrahlend zeigte. Dabei beachtete ich Askea nicht weiter, der sich neben mich setzte und auch mir etwas zu essen in die Hand drückte.

„Iss“, sagte er nur.

Wäre ich nicht so hungrig gewesen, hätte ich ihm den Beutel mit dem Fleisch vielleicht einfach an den Kopf geworfen. So jedoch verlegte ich mich darauf, ihn einfach weiterhin zu ignorieren.

Natürlich ließ sich der Herr davon nicht beirren und tat so, als würde er nicht bemerkten, dass ich verärgert war – vielleicht bemerkte er es auch wirklich nicht.

„Bei Anbruch der Nacht sollten wir den Wald erreichen“, erklärte er mit stoischer Ruhe.

Ich schwieg mich aus. Ja, das war kindisch, besonders da ich wusste, dass ich von Askea niemals solch offene Zuneigung erwarten konnte, wie Veith sie zeigte. Aber nach dem, was er getan hatte, war es doch eigentlich nicht zu viel verlangt, dass er sich ein wenig Mühe gab, oder? Nur ein kleines bisschen.

Ich war so in diesen Gedanken vertieft, dass ich gar nicht bemerkte, was Askea trieb, bis er eine kleine Schale vor sich stellte und Kräuter aus dem Säckchen an seinem Gürtel hineinschüttete. Erst, als er ein paar Tropfen Wasser hinzugab und begann, das Ganze mit einem Stein zu mörsern, schenkte ich ihm meine Aufmerksamkeit.

Der Anblick dessen, was er dort tat, ließ das gesalzene Fleisch in meinem Mund gleich noch trockener werden. Ich kannte diese Paste, daher wunderte ich mich auch nicht, als er mit einem: „Das wird etwas brennen“, mein Bein nahm und es sich über den Schoß legte.

Mit geübten Fingern nahm er die Paste und verstrich sie nicht nur auf meinem schmerzenden Zeh, sondern auch auf meinen wunden Fußsohlen. Und ja, es brannte wirklich ein bisschen. Doch in dem Moment, in dem ich ihn dabei beobachtete, wie er sich um mich kümmerte, wurde mir deutlich vor Augen geführt, dass er seine Zuneigung durchaus zeigte – wenn auch nicht so offensichtlich wie der Verlobte meiner Schwester.

„Mamam!“, rief mein kleines Engelchen und ließ sich im nächsten Moment bäuchlings auf meinen Schoß fallen. Ich schaffte es gerade noch, sie so aufzufangen, dass sie mit dem Kopf nicht auf einen Stein knallte.

Askea zog die rechte Oberlippe ein wenig hoch. Ich konnte nicht sagen, ob es daran lag, dass Seraphine meine Behandlung störte, sich mit ihrer Aktion fast selbst verletzt hätte oder daran, dass Talita und Veith sich zu uns setzten. Vielleicht gingen ihm auch alle drei Punkte gegen den Strich.

Ein heftiger Windstoß fuhr durch die Schlucht und wirbelte mein Haar durcheinander, während ich Seraphine ordentlich auf meinem Schoß platzierte, damit sie endlich ihr Essen aß. Er war angenehm warm und erinnerte mich an frischen Frühling.

„Würde ich nie wieder einen Stein sehen müssen, wäre das ein Segen.“ Talita seufzte und lehnte sich an Veiths Schulter. „Ich meine, ich habe nichts gegen Steine, aber diese Schlucht … Ich kann sie langsam einfach nicht mehr sehen.“

„Dann lass dir Flügel wachsen und verschwinde.“

„Askea!“, empörte ich mich.

Er ignorierte es natürlich. „Lass die Paste auf deinem Fuß, wenn wir weitergehen.“

Talita schluckte ihren Bissen hinunter. „Was uns wohl auf der anderen Seite des Gebirges erwartet?“

„Vielleicht ein nackter Mann“, schäkerte ich.

Sie schaffte es, ein kleines Lächeln zustande zu bringen, aber es wirkte sehr gezwungen.

Ich tätschelte ihr das Bein. „Mach dir keine Sorgen, es wird schon alles gut werden. Was kann schlimmstenfalls schon geschehen sein?“

Der Wind heulte an den Steilhängen entlang und trug Sand mit sich.

Askea hob wachsam den Kopf und ließ seinen Blick durch die Schlucht gleiten.

„Ich weiß nicht“, murmelte Talita und zuckte mit den Schultern. „Wenn der Wald wirklich krank war, dann … Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir das wirklich vorstellen will.“

Veiths Lippen wurden zu einem schmalen Streifen. „Die Lykaner sind ein starkes Volk.“

Aber auch sie waren nicht unverwundbar – das war niemand. „Am besten fangen wir erst gar nicht mit Spekulationen an“, riet ich ihnen. „Damit würden wir uns nur selbst verrücktmachen. Am Ende –“

„Magnar!“, brüllte Fax plötzlich. Seine Stimme hallte dabei durch die ganze Schlucht.

Jeder Kopf wirbelte zu ihm herum. Er stand ein Stück weiter auf einem Felsen und deutete in den Himmel, auf eine glitzernde Stelle. Es sah aus, als würde der Wind tausende von kleinen Partikeln durch die Luft tragen, die wie das Sonnenlicht funkelten. Der Anblick war wunderschön.

Seraphine hüpfte aufgeregt auf meinem Schoß. „Mamam, gug!“

Es war nicht ganz einfach, mich von dem Anblick loszureißen, der sich uns da bot, doch ich schaute zu meinem kleinen Phinchen. Mein Herz setzte vor Bestürzung einen Schlag aus. Die Handfläche von meinem kleinen Schatz … Sie stand in Flammen! „Phinchen!“

Sofort wollte ich das Feuer ersticken, doch soweit kam es nicht. Noch bevor ich überhaupt einen Muskel bewegen konnte, riss mir Askea die Kleine aus den Armen.

„Nein!“ Ich wollte wieder nach ihr greifen, doch er sprang auf die Beine und entfernte sich ein Stück von mir.

Das Feuer auf Seraphines Hand kletterte ihren Arm hinauf, dann brach es auch noch aus ihrem Bein hervor.

„Was zum …?“, begann Talita und stieß dann einen überraschten Schrei aus.

Der Wind um uns herum wurde stärker, trug die glitzernden Partikel durch die Luft und setzte sie auf alles, was ihnen dabei begegnete.

Veith stöhnte gequält.

Ich sprang Hals über Kopf auf die Beine und wollte Seraphine aus Askeas Armen reißen, doch er wich nur wieder vor mir zurück.

„Nein“, fauchte er mit einem scharfen Unterton in der Stimme.

Plötzlich brachen auch aus seiner Haut Flammen hervor und begannen an seinem Körper zu lecken.

Panik machte sich in mir breit. Mein Kind stand in Flammen. Ich musste etwas tun. Ohne lange darüber nachzudenken, befahl ich meiner Magie, Wasser heranzuschaffen. Das sollte eigentlich nicht weiter schwer sein, da es überall Wasser gab, doch hier in der Schlucht lag das Grundwasser so tief im Gestein verborgen, dass es seine Zeit brauchte, um zu reagieren. Allerdings wurde das Feuer um Seraphine und Askea herum in der Zwischenzeit immer größer.

Ich verstand nicht ganz, was sich vor mir abspielte, merkte nicht, dass mein Kind von den Flammen nicht verletzt wurde. Ich sah nur das Feuer und die Gefahr, die davon ausging.

„Ihr passiert nichts“, sagte Askea.

Ich strengte mich an, zwang das Grundwasser an die Oberfläche, konnte spüren, wie es immer höher stieg. Mein Herz schlug wie wild. Die Angst hatte mich in ihren Klauen. Ich konnte nur noch daran denken, mein Kind vor der Gefahr zu retten, obwohl die Kleine nur etwas verwirrt zwischen mir und Askea hin und her schaute.

Nun waren sie schon fast vollständig von den Flammen eingeschlossen.

Fax kam angerannt. Auch an seiner Haut loderten die Flammen, die sonst tief in seinem Inneren verborgen waren.

Der Wind um uns herum wurde stärker.

Hinter mir jaulte und knurrte Veith.

Talita fluchte.

In dem Moment brach das Wasser endlich aus dem Boden hervor und übergoss Seraphine, doch die Feuchtigkeit verdampfte einfach in der Hitze. Schwarzer Rauch stieg zum Himmel und mein kleiner Engel quietschte vor Freude. Die Flammen wollten einfach nicht verschwinden.

Askea wiederum sah ziemlich verärgert aus.

Plötzlich pulsierte das Mal auf meiner Schulter. Ich war noch immer dabei, Wasser an die Oberfläche zu zwingen – und wenn ich die ganze verdammte Schlucht fluten müsste, um mein Kind der Gefahr zu entreißen, ich würde es tun –, doch war ich auf einmal von meiner Magie abgeschnitten. Der Zauber verflog und ich konnte mich nicht mehr bewegen.

Mein Atem wurde immer hektischer. Die Flammen hatten sie nun vollkommen eingeschlossen. Ihre Kleidung war halb verbrannt, genau wie der Teil von Askeas Weste, an den er sie drückte. Ich musste mich gegen die mentalen Fesseln wehren, ich musste meinem Kind helfen!

Oh Gott, Seraphine!

Das Mal an meiner Schulter pulsierte heftiger, als ich versuchte, mich seiner Kontrolle zu entreißen.

„Wirst du mir jetzt wohl zuhören!“, fauchte Askea mich an. Sein Gesicht war von seiner Wut umwölkt. „Sie ist meine Tochter, ihr passiert nichts!“

Ich konnte ihn nur mit weitaufgerissenen Augen anstarren. Zu seltsam waren die Worte, die er mir entgegenschleuderte. Ich verstand sie einfach nicht.

„Seraphine ist –“

„Sie brennt!“, kreischte ich. Ein Kribbeln lief über meine Haut. Es war … vertraut.

Die Partikel in der Luft umschwirrten uns. Der Wind wurde immer heftiger.

Askea sah aus, als hätte er in eine saure Zitrone gebissen. „Seraphine ist zum Teil ein Rubin“, erklärte er mit vor Ungeduld brodelnder Stimme. „Das ist ihr Feuer. Die Flammen kommen aus ihrem Inneren.“
„Aber das Feuer …“

„Sieht sie aus, als würde sie sich fürchten? Schreit sie vor Schmerz? Nein, das tut sie nicht.“

Er hatte Recht.

Nur sehr langsam drang diese Erkenntnis zu mir durch. Das Feuer … Es zerfraß zwar ihre Kleidung, aber verletzte sie nicht. Sie schien einfach nur erstaunt zu sein, dass die Flammen sie umgaben. Sie versuchte sogar, sie mit den Händen einzufangen, und jauchzte vor Freude, wenn sie glaubte, dass es ihr gelungen war, weil die Flammen auf ihrer Hand tanzten.

Trotz dieser Erkenntnis wollte die Panik sich einfach nicht legen. Mein Kind stand in Flammen!

„Hast du es verstanden?“, fragte Askea beinahe abfällig. „Ihr kann nichts passieren. Sie ist meine Tochter. Und deswegen darfst du sie jetzt auch nicht anfassen.“

Ja, weil ich kein Rubin war und mich das Feuer sehr wohl verbrennen würde. „Aber … warum ist das überhaupt passiert?“

„Halt doch still!“, fluchte Talita in dem Moment.

Ich versuchte den Kopf zu wenden, und spürte, wie der Zwang durch die Markierung langsam nachließ. Doch was meine Augen dort erblicken, ließ mich vollends an meinem Verstand zweifeln. Das war so surreal.

Talita, sie war nicht mehr … Talita. Ihr Körper hatte sich verändert – oder war noch dabei. Das blonde Haar war verschwunden. Dafür besaß sie nun am ganzen Körper weißes Fell mit schwarzen Tupfen und einen langen, behaarten Schwanz, der oben über ihrem Hosenbund herausschaute. Ihre Beine schienen etwas länger als zuvor, dafür waren ihre Finger nun etwas kürzer und mit Krallen versehen. Ihr Gesicht, ihre Stirn und ihre Augen sagten: „Ich bin ein Mensch“, ihre kurze Schnauze, die runden Ohren und die Zähne hingegen: „Nein, ein Schneeleopard“. Das ging nahtlos ineinander über. Sie war die perfekte Verschmelzung zweier Gattungen.

Sie beugte sich gerade über einen großen braunen Wolf, der die Zähne fletschte, und versuchte, die Kleidung, die ihn einengte, aufzureißen. Die Nähte waren zu stabil, wollten unter dem Druck einfach nicht aufplatzen und drohten den Wolf zu ersticken.

Ich hatte erst einmal in meinem Leben einen Lykaner in seiner Tiergestalt gesehen. Damals war mir die Verwandlung nicht so grausam vorgekommen.

Talita schaffte es endlich, ihre Hände – Pfoten? – in Veiths Halsausschnitt zu schieben und das Leder seiner Kleidung mit den Krallen aufzuschlitzen. Erst nur ein Stück, dann riss sie es über seinen ganzen Rücken in zwei Teile.

Veith schnappte hastig nach Luft.

„Was zur Hölle ist hier los?“ Es war sicher nicht normal, dass ein Lykaner sich so schnell verwandelte, dass er fast in seiner Kleidung krepierte. Oder dass meine ganze Familie plötzlich in Flammen aufging.

„Magnar.“ Askea schob Seraphine auf seiner Hüfte ein wenig nach hinten, als sie damit begann, systematisch verkohlte Flecken auf seiner Weste zu hinterlassen. Warum nur verbrannte sein Feuer seine Kleidung nicht, ihres aber schon?

„Es sind die magischen Winde.“ Fax deutete in die Luft auf die glitzernden Partikel, die sich in der Zwischenzeit zu einem kleinen Sturm entwickelt hatten und mir an den Haaren rissen. „Ein Magiesturm.“

„Magiesturm?“

„Schau auf deine Hände.“

Ich tat es. Meine Hände leuchteten schwach. Aber nicht nur sie, sondern mein ganzer Körper. Ich sah aus wie ein verdammtes Glühwürmchen! Ein Glühwürmchen, von dessen Fingerspitzen bunte Lichtfunken hüpften.

„Der Magnar kam in den letzten Wochen sehr häufig auf.“ Askea hob den Kopf, um abzuschätzen, wie lange dieser Sturm wohl anhalten würde. „Er ist nicht gefährlich, nur lästig.“

Hinter mir gab es ein lautes Ritsch, dann war Veith auch seine Hose los. Talita warf sie einfach achtlos zur Seite, während er sein Fell ausschüttelte und versuchte, seine Überraschung zu verarbeiten.

„Also, ich finde das schon ziemlich gefährlich, wenn meine Tochter ganz plötzlich in Flammen aufgeht!“, hielt ich dagegen.

Askea sah aus, als würde er gleich die Augen verdrehen. „Sie ist ein Rubin, Tia, das Feuer ist ihr Element. Es kann ihr nichts anhaben.“

Das klang schon irgendwie logisch und vernünftig – zumindest von einem sehr verdrehten Standpunkt aus gesehen –, trotzdem blieb ich skeptisch. Ich konnte einfach nichts dagegen machen, dass ich Feuer als Gefahr für meine zweijährige Tochter einstufte. Das würde doch jeder vernünftige Mensch tun, oder?

Aber Seraphine schien es zu gefallen.

Die Welt stand wirklich Kopf.

Veith knurrte unwillig. „Das heißt, dieser Magiesturm ist schuld daran, dass wir uns verwandelt haben?“

Ein knappes Nicken, mehr bekam er von Askea nicht als Erwiderung. Es war ihm einfach zuwider, diesen anderen Mann in seiner Gegenwart dulden zu müssen.

Meine Haut begann unangenehm zu spannen. Das Leuchten wurde ein wenig intensiver. Ich rieb mir unauffällig über die Arme.

„Und wie lange dauert er an?“, wollte Talita wissen und zupfte ununterbrochen an ihrer Kleidung. Es machte den Anschein, als würde sie den Stoff als störend empfinden. 

„Bis er vorbei ist.“ Askea richtete seinen Blick auf mich. „Du musst zaubern.“ Diese drei Worte brachte er mit so viel Widerwillen über die Lippen, dass man ihm seinen Schmerz förmlich ansehen konnte.

Ich blinzelte. „Was hast du gesagt?“ Ich hatte doch wirklich den Eindruck, als hätte er mich gerade aufgefordert, Magie auszuüben.

Sein Blick wurde wirklich finster. „Du bist eine Hexe. Du nimmst die Magie um dich herum auf.“ Er fuchtelte mit der Hand in der Luft herum. „Wenn du sie nicht willentlich nutzt, wird sie bald einfach unkontrolliert aus dir herausbrechen. Und ich habe keine Ahnung, was das für Konsequenzen hätte.“

Ja, er hatte mich wirklich aufgefordert, Magie einzusetzen. Askea, der Mann, der mich anschrie, wenn ich überhaupt nur darüber nachdachte, wollte, dass ich sie nun willentlich benutzte. „Die Welt ist verrückt geworden.“ Doch instinktiv wusste ich, dass er Recht hatte. Der Druck unter meiner Haut wurde immer stärker.

 Es war nicht so schlimm wie damals in Sternheim, als ich die wilde Magie in mich aufgenommen hatte, doch wirklich angenehm war das langsam auch nicht mehr. „Was soll ich zaubern?“

Ein furchtbares Brüllen ertönte über der Schlucht.

Wir rissen unsere Köpfe hoch. Meine Augen wurden riesig.

Direkt über uns fiel ein Drache vom Himmel. Er schlug mit dem Schwanz und den Flügeln, als versuchte er, das Gleichgewicht zurückzuerlangen. Gleichzeitig krampfte sich aber sein ganzer Körper zusammen und ließ seine Muskeln unkontrolliert zucken. Flammen brachen aus seinem Körper hervor. Er brüllte wieder. Im nächsten Moment verschwand er hinter der zerklüfteten Landschaft des Gebirges aus unserem Sichtfeld. Trotzdem hörten wir ihn noch ein weiteres Mal brüllen.

„Oh Gott.“ Talita schüttelte den Kopf, als könnte sie das nicht glauben.

„Es ist wie damals“, flüsterte ich.

Wie ein Meteorit schoss er über den Himmel, doch sein Flug war unkontrolliert. Es wirkte fast wie eine Sternschnuppe, aber das war es nicht. Er stürzte ab, wurde immer schneller und krachte mit einer Geschwindigkeit auf den Boden, dass die Staubwolke einen Moment das Feuer verdeckte.

„Damals?“, fragte Veith.

Ich schüttelte den Kopf, nicht fähig, das Erlebte in Worte zu fassen.

„Er hat zu viel wilde Magie zu schnell aufgenommen“, erklärte Askea. „Das ist wie mit einem Ballon; irgendwann platzt er einfach.“

„Er muss einer der Letzten gewesen sein“, fügte Fax noch hinzu.

„Das ist grausam.“ In Talitas Stimme schwang ihre Fassungslosigkeit mit.

Askeas Blick richtete sich wieder auf mich. „Das Gleiche wird mit dir passieren, wenn du nicht endlich zauberst.“

Direkter ging es nicht mehr.

Na gut. Ich schloss die Augen, stellte mir eine Blume vor und ließ die Magie über meine Füße in den Boden eindringen.

„Oh“, hauchte Talita, während ich der Vibration der Magie in meinem Körper folgte. Doch statt weniger schien es immer mehr zu werden.

Ich ließ die Blüte in meinem Geiste erblühen, tauchte sie in magisches Licht und in solch kompliziert gemusterte Blätter, dass es meine ganze Konzentration erforderte, die Magie in die richtigen Bahnen zu lenken.

Lange Zeit blieb es still. Die Magie nahm nur sehr langsam ab. Ich spürte, wie der Wind noch immer an mir zerrte, und hörte, wie Seraphine quietschende Laute von sich gab.

Erst eine Ewigkeit später schlug ich die Augen auf und fand mich in einem Meer riesiger Blumen wieder. Die ganze Schlucht war von ihnen bedeckt. Nicht nur der Boden, auch die Steilhänge. Sie wuchsen aus jedem Loch und jeder Spalte und strahlten ein ganz eigenes Licht ab. Und sie alle überragten uns. Ein Wald aus Blumen.

Während meine Augen umherwanderten, schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. Das hatte ich erschaffen. Diese Schönheit … Sie war von mir.

Im Zentrum der Schlucht bildete sich eine grüne Blase, wuchs zur Größe eines Fußballs an und platzte. Smaragdgrüner Staub schoss heraus. Sporen. Millionen von Sporen zerbarsten in der Luft und schossen  in alle Richtungen davon. Sie legten sich über die Klippen und Hänge, schlugen Wurzeln und sprossen. Ein dichter Moosteich in vielen Schattierungen wuchs und überzog den ganzen Stein wie eine Samtdecke. Über dem kaum noch erkennbaren Untergrund bildeten sich feine violette Halme. Winzige rote Blüten öffneten sich an den Enden der Halme, mit winzigen fluoreszierenden Punkten.

Die Luft duftete süß wie frischgemähter Rasen nach einem verregneten Morgen.

Weitere Blasen stiegen aus dem Boden auf und erblickten das Licht der Welt. Sie schwebten ein Stück über der Erde und platzten dann auf, um ihre Saat in alle Himmelsrichtungen zu schicken. Sie machten aus der kahlen Schlucht eine blühende Insel der Ruhe.

Es war wunderschön.

Der Ausdruck in Askeas Gesicht war jedoch undeutbar. „Lasst uns gehen“, befahl er und wandte sich ab.

Ich ließ meinen Blick noch einmal umhergleiten, bevor ich ihm folgte. Dabei merkte ich, wie die Magie in mir schon wieder zunahm. Dieses Mal jedoch stellte ich mir keine Blumen vor, sondern Farne und Pilze, so wie sie mir aus dem Tal des Lichts in Erinnerung waren. Ab diesem Moment säumten sie jeden meiner Schritte.

 

°°°

 

„Hast du Schmerzen?“, fragte Talita.

„Hä?“ Sprach sie mit mir?

Sofort wirbelte Askea zu mir herum und nahm mich wie ein Insekt von oben bis unten genauestens unter die Lupe.

„Ob du Schmerzen hast? Dein Gesicht, es wirkte irgendwie verkrampft.“

Oh Mann. „Ich habe nachgedacht“, klärte ich sie auf. „Wirklich“, fügte ich an Askea gewandt hinzu.

„Bist du sicher?“, wollte Talita wissen.

Dafür bekam sie den bösen Blick. „Wenn du nachdenkst, siehst du genauso aus.“

„Tu ich gar nicht.“

Ich grinste in mich hinein.

Langsam näherten wir uns dem Ende der Schlucht, aber meine Gedanken waren die ganze Zeit auf den Magiesturm gerichtet – oder eher auf seine Folgen. Ich hatte keine Schmerzen, und das war es, was mich so nachdenklich machte. Kein Nasenbluten, Kopfdröhnen, keine Krämpfe, Übelkeit oder Koordinationsschwierigkeiten. Nichts. Alles war super, ich fühlte mich glänzend.

In der magischen Welt gab es eigentlich nur eine Regel, die so fest in Stein gemeißelt stand, dass nichts und niemand daran rütteln konnte: Magie war Leben. Leider hatte sie nicht für mich gegolten. Schon das erste Mal, als ich wirklich mit Magie in Berührung gekommen war, hatte ich mit den Symptomen meiner Krankheit zu kämpfen gehabt. Anfangs hatte ich es noch auf die Hitze der Wüste geschoben, doch mit der Zeit hatte ich mich der Wahrheit stellen müssen: Die Magie machte mich krank. Je häufiger ich sie gebraucht hatte, desto schneller war es gegangen. Am Ende war mein Leben nur noch an einem seidenen Faden gehangen.

Dieses Mal jedoch war es völlig anders.

Ich befand mich nun schon seit vier Tagen in der magischen Welt, und besonders jetzt, nach dem Magnar, hatte ich stundenlang zaubern müssen, um den angestauten Druck abzubauen. Trotzdem war da nichts, nicht einmal der kleinste Schwindel. Es war, als wäre ich niemals krank gewesen. Vielleicht war die Barriere in meinem Inneren, die meine Magien voneinander trennte, durch meine Abwesenheit von der magischen Welt wieder geheilt worden. Was mich an dieser Theorie jedoch irritierte, war die Erinnerung an die Aussage der Hexe Boudicca. Als Oberhexe des Zirkels der Schwestern des schwarzen Mondes war sie nicht nur sehr mächtig, sondern verfügte auch über eine hohe Intelligenz. Laut ihren Worten gab es für mich keine Heilung. Andererseits war ich eine Kuriosität.

Doch wenn man das Ganze aus einem anderen Sichtwinkel abschätzte, war es eigentlich nicht möglich, dass mein Körper den Schutz gegen die Magie wiederhergestellt hatte, nur weil ich ihr eine Weile nicht ausgesetzt gewesen war.

Nahm man doch nur mal Talitas Haare: Es war Jahre her, dass ihr dieser Streich mit dem Shampoo gespielt worden war. Ich wusste nicht genau, was es gewesen war, aber diese Farbe hatte etwas Magisches an sich gehabt, weswegen Talita sie nicht einfach so losgeworden war. Da Magie auf der Erde aber nicht vorhanden war, war das Grün verschwunden, als sie nach Hause gekommen war. Es war aber trotz fünf Jahren Abwesenheit, tausender Pflegeprodukte und häufigen Besuchen beim Friseur wieder aufgetaucht, sobald sie durch den Spiegel gestiegen war, als wäre es niemals fort gewesen.

Dieser kleine Beweis zeigte mir, dass eine Spontanheilung aufgrund des Entzugs der Magie ziemlich unwahrscheinlich war. Die Krankheit war in dem Moment gestoppt worden, in dem mich Askea durch den Spiegel gestoßen hatte, und hätte an der gleichen Stelle fortfahren müssen, sobald ich mit Magie in Berührung gekommen war.

Damit war ich wieder am Anfang meiner Gedanken. Warum machte die Magie mich nicht mehr krank? War dies nur eine kurze Verschnaufpause oder war ich wirklich geheilt? Würde es klein anfangen oder mich gleich wie ein Schlag vor den Kopf treffen? Hatte sich die Trennwand in meinem Inneren dauerhaft regeneriert oder würde sie wieder einreißen und mich damit erneut verfluchen?

So wie Askea mich die ganze Zeit beobachtete, schienen sich die Gedanken in seinem Kopf in ähnlichen Kreisen zu drehen, fast so, als rechnete er damit, dass ich jeden Moment einfach zusammenklappte. Seit dem Magnar ließ er mich kaum aus den Augen. Und das hatte ich nicht nur bemerkt, weil ich Seraphine kaum einen Moment aus den Augen gelassen hatte.

Ich konnte nichts dagegen tun! Sie war mein kleines Baby, und urplötzlich hatte sie in Flammen gestanden. Dass ich nicht augenblicklich an einem Schock gestorben war, schrieb ich meinen mütterlichen Instinkten zu, die nur eines tun wollten: Mein Kind beschützen.

Okay, ich war ein klein wenig hysterisch geworden, aber das konnte mir wohl keiner verübeln. Schließlich geschah es nicht jeden Tag, dass Kinder sich in kleine Feuerbälle verwandelten – nicht einmal in der magischen Welt.

Jetzt jedoch schlief meine Kleine tief und fest an Askeas Brust gekuschelt und völlig nackig. Ihre Kleidung, inklusive der Windel, hatte ihr Feuer nicht überlebt, genauso wenig wie die Weste ihres Vaters. Irgendwann hatte er die verkohlten Überreste einfach ausgezogen und weggeworfen. Seitdem stellte er seine preisgekrönte Brust zur Schau. Jetzt, im Dämmerlicht der untergehenden Sonnen und im Schatten der Berge, war sie nicht mehr ganz so klar zu erkennen wie noch vorhin im strahlenden Sonnenschein, doch es reichte auch so, dass ich am liebsten mein Kleid ausgezogen hätte, damit er es anziehen konnte.

Ich wollte das nicht sehen. Es könnte meine Gedanken in verbotene Gefilde führen. Ja, verdammt, ich war eine erwachsene Frau und hatte seit Jahren keinen Sex gehabt. Und nun turnte er ständig um mich herum. Doch immer, wenn ich ihn sah, musste ich unwillkürlich an Nubia denken. Das versetzte meinen Phantasien dann wieder einen kräftigen Dämpfer. Da war es doch besser, über meine Krankheit – oder deren momentanen Abwesenheit – nachzugrübeln, oder darüber, ob es für Seraphine nicht langsam zu kalt wurde.

Fax hatte ihr vorhin seine Weste geben wollen, doch nachdem der Magnar vorübergezogen war, waren immer wieder kleine Nachzügler von ihm aufgetaucht. Diese hatten meine Tochter dazu veranlasst, sich spontan selbst zu entzünden. Das war auch der Grund, warum sie noch immer bei Askea auf dem Arm war anstatt auf meinem. Er wollte einfach nicht riskieren, dass sie mich ausversehen verbrannte.

Eigentlich brauchte Seraphine im Moment auch keine Kleidung. Askea konnte seine Körpertemperatur so hochschrauben, dass er selbst mich noch damit wärmen konnte, und das, obwohl zwischen uns ein Abstand von mindestens zwei Metern lag. Er würde schon dafür sorgen, dass es ihr gut ging.

Um Askeas bohrendem Blick zu entgehen, konzentrierte ich mich lieber auf den Boden vor meinen Füßen. Zwischen meinen Zehen klebten noch immer Reste von der Paste, die er mir aufgetragen hatte, zusammen mit einer Menge Staub. Mittlerweile begann es sogar schon unangenehm zu jucken. Ich brauchte dringend einen Bachlauf oder einen kleinen See, um die Kruste abzuwaschen. Meinetwegen würde auch schon eine saubere Pfütze reichen.

Ein kleines Steinchen, das meinen Weg kreuzte, wurde von mir fortgekickt. Ich folgte ihm mit den Augen. Es flog an Talita und Veith vorbei und blieb in einem kleinen verdorrten Grasbüschel hängen.

Ich machte mir aus dem Anblick nichts, bis ich ein Stück weiter noch ein Grasbüschel entdeckte, dem gleich darauf ein weiteres folgte. Erst da wurde mir klar, dass ich wohl zum ersten Mal, seit wir diese verfluchte Schlucht betreten hatten, natürlich gewachsene Pflanzen sah. Zwar sahen sie aus, als wären sie schon vor einiger Zeit abgestorben, aber die Tatsache, dass sie da waren, zeigte mir, dass wir uns dem Ende der Schlucht näherten.

Als mir das bewusst wurde, bemerkte ich auch die wachsende Anspannung bei Talita und Veith. Die Katzenfrau und der Wolf hatten schon seit geraumer Zeit kein Wort mehr gesagt. Sie wussten, dass wir bald am Ziel waren. Doch mit dem, was uns dort erwartete, hatte wohl keiner von uns gerechnet.

Es dauerte vielleicht noch eine halbe Stunde. Die Sonnen waren so gut wie verschwunden und tauchten das Gebirge in tiefe Schatten, als die Schlucht ganz plötzlich endete. Es war, als hätte jemand mit einem Messer einen geraden Schnitt mitten in die Landschaft gemacht. Eben waren zu unseren Seiten noch wolkenkratzermäßige Berghänge und im nächsten Moment standen wir mitten im Wald.

Oder in dem, was davon noch übrig geblieben war.

Unsere Schritte erstarben, während wir versuchten, das Bild vor uns zu begreifen. Talita schlug sogar vor Entsetzen die Hände vor den Mund und sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen, während Veith vor kaltem Grauen einfach nur starr wurde.

Ich konnte sie verstehen. Dieser Landstrich bedeutete den beiden sehr viel, und obwohl der Wald für mich kein besonderer Ort war, wurde selbst mir bei diesem Anblick ganz anders.

Dort, wo einst riesenhafte Bäume in den Himmel aufgeragt waren, die den Wald in ein Spiel aus Licht und Schatten verwandelt hatten, sah es nun aus wie in der Todesszene in einem Horrorstreifen.

Die Bäume … Sie waren tot – alle. Dort war kein Grün mehr, kein Leben. Das Gezwitscher der Vögel war verstummt, genau wie das Rascheln der kleinen Nagetiere, die sich durch das Unterholz bewegt hatten. Genaugenommen gab es hier nicht einmal mehr Unterholz.

Der einst so dichte Wald hatte sich gelichtet und nichts als verdorrtes Land mit vielen skelettierten Bäumen zurückgelassen. Dies war nur noch ein Meer aus vertrocknetem Geäst, das schon vor langer Zeit sein Leben ausgehaucht hatte.

Vorsichtig trat ich einen Schritt vorwärts und legte meine Hand auf einen der Bäume. Er besaß nicht einmal mehr Rinde. Da war nur noch das glatte, ausgetrocknete Holz. Es war nicht das erste Mal, dass ich dies tat. Schon damals, bei meinem ersten Besuch im Wolfsbaumwald, war ich diesem Impuls gefolgt. Als Hexe konnte ich Magie spüren, als wären es meine Gefühle. Der Baum, den ich damals berührt hatte, war krank gewesen und hatte in seinem Schmerz geschrien. Jetzt spürte ich nicht einmal mehr ein hohles Echo. Er war nicht einfach nur tot, er war auch frei von jeder Magie. Da war nur ein riesiges Nichts.

Auch Talita trat nun vor. „Was ist hier geschehen?“

„Ich weiß es nicht.“ Grübelnd ließ ich die Hand sinken und schaute mich um. Ein Stück weiter war eine große Freifläche mit einer tiefen Mulde im Boden. Das war sicher einmal ein großer See gewesen, doch nun war er vollkommen ausgetrocknet. Nicht einmal totes Laub hatte sich in ihm gesammelt; er war einfach nur leer. Genaugenommen sah ich eigentlich nirgends verdorrte Blätter. Nicht nur die kahlen Äste der skelettierten Bäume waren frei von Blättern, auch der Boden. Da war nichts als dunkelbraune Erde, auf der hin und wieder mal ein Stock lag.  

Askea ließ wachsam seinen Blick umherwandern. „Hier gibt es kein Leben mehr, nur noch den Tod.“

Ja, das war jetzt sicher genau das, was meine Schwester hatte hören wollen. Ich warf ihm einen bösen Blick zu, doch er beachtete mich nicht weiter.

Veith gab ein unwilliges Knurren von sich. „Kommt, wir müssen hier entlang.“

Als ich mich in Bewegung setzte, um dem Wolf in den Wald zu folgen, beschlich mich eine böse Vorahnung. Das hier war nur der Rand der Wälder, doch ich musste mich einfach fragen, was uns in seinem Inneren erwartete.

Plötzlich wollte ich nicht mehr mit ihnen mitgehen. Es war nicht, weil ich feige war, sondern, weil ich mich unwohl fühlte. Doch da Talita und Veith schon dabei waren, zwischen den Bäumen zu verschwinden, blieb mir eigentlich keine andere Wahl, als ihnen zu folgen. Ich konnte sie nicht einfach alleinlassen. Trotzdem bewegte ich mich sehr wachsam zwischen den verdorrten Stämmen vorwärts, und wäre fast aus der Haut gefahren, als mich etwas an der Hand berührte. Gott sei Dank es war nur Fax, der nach mir griff.

Natürlich. Es war nicht nur das erste Mal, dass er die Wüste verließ; er war auch noch ein Kind. Zwar war er mittlerweile fast so groß wie ich, aber wenn dieses Umfeld mich schon nervös machte, dann würde es ihn sicher ängstigen. Es war so völlig anders als alles, was er kannte.

Ich versuchte mich an einem Lächeln, das wohl genauso missglückte wie das, das er erwiderte, und zog ihn dann hinter mir her.

Askea folgte uns wie ein Schatten und ließ die Umgebung keinen Moment aus den Augen. Mit dem Verlassen der Wüste hatten wir nicht nur das Gebiet der Mortatia betreten, sondern auch ein Revier der Lykaner. Das ließ ihn gleich doppelt wachsam werden.

Talita und Veith schienen es ziemlich eilig zu haben. Es dauerte ein paar Minuten, bis wir sie soweit eingeholt hatten, dass ich die Worte aus ihren Mündern auch verstand.

„… nirgends riechen“, sagte Veith gerade. „Es ist, als wären sie niemals hier gewesen.“

Der Anblick eines sprechenden Wolfs war wohl eines der faszinierendsten Dinge, die mir in dieser Welt jemals begegnet waren. Es gab hier viele Kuriositäten zu sehen, besonders im Moment, trotzdem rangierte dies in den Top Ten.

„Vielleicht sind wir einfach zu weit von der nächsten Grenze entfernt“, überlegte Talita und blieb mit ihrem Blick einen Moment an ein paar Knochen am Boden hängen – ein skelettiertes Tier, vielleicht ein Wildschwein.

„Aber der Wind müsste ihren Geruch in jeden Winkel tragen“, widersprach Veith. „Normalerweise kann man uns sogar außerhalb der Grenzen riechen.“ In seinem Blick stand ehrliche Sorge. „Ich kann nicht einmal Duftmarken finden, die die Grenzen markieren.“

Talita drückte die Lippen zusammen. „Ich auch nicht.“

Ich brauchte einen Moment, um mir einen Reim darauf zu machen. „Ihr sprecht von den Lykanern.“

Veith warf einen kurzen Blick in meine Richtung und trottete dann weiter. „Ich kann sie nicht riechen“, sagte er leise. „Es ist, als wären sie niemals hier gewesen. Da ist nicht der kleinste Hauch ihres Geruchs.“

Das war nicht gut. „Vielleicht sind sie ja weitergezogen.“ Ich schaute zu Askea, in der Hoffnung, dass er meine Vermutung unterstützen würde. Vielleicht konnte ich Talita und Veith ja so ein klein wenig beruhigen, schließlich war diese Möglichkeit ja wirklich nicht ausgeschlossen. Anstatt mir beizupflichten, fixierte Askea jedoch nur einen Punkt zwischen zwei Bäumen, wandte sich dann ab und lief weiter.

„Es gibt nicht allzu viele Orte, an denen Lykaner sich niederlassen können“, erklärte Talita. „Und es müsste schon etwas sehr Gravierendes passieren, damit sie ihr Territorium freiwillig verlassen.“

„Aber selbst, wenn sie gegangen wären“, entgegnete Veith, „müsste ich wenigstens eine alte Witterung von ihnen aufnehmen können. Aber da ist gar nichts. Nicht einmal eine schale, verwaschene Spur.“

„Und wenn sie schon vor einer ganzen Weile gegangen sind?“, fragte ich vorsichtig. „Von uns war seit Jahren niemand mehr hier.“

Talita schüttelte schon den Kopf, bevor ich zu Ende gesprochen hatte. „Es gibt so gut wie nichts, was einen Lykaner dazu bewegen könnte, sein Territorium freiwillig aufzugeben.“

Nein, ich würde jetzt nicht sagen, dass sie vielleicht von jemandem dazu gezwungen worden waren. Das würde ihre Sorge nur noch anfeuern. „Also, wenn du mich fragst, ist so ein grusliger Wald schon ein ziemlich guter Grund, umzusiedeln.“

Talita schüttelte abermals den Kopf. „Nein, du kennst die Lykaner nicht. Sie würden nicht …“ Sie suchte nach dem passenden Wort. „Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber ein grusliger Wald würde sie nicht in die Flucht schlagen. Er wäre ihnen wahrscheinlich sogar sehr willkommen, da er den anderen Mortatian einen weiteren Grund liefern würde, sich von den Territorien fernzuhalten.“

Da war etwas Wahres dran. Doch wenn der Tod des Waldes sie nicht verscheucht hatte und Veith keine Gerüche von ihnen auffangen konnte, mussten wir uns unweigerlich fragen, was hier geschehen war.

„Es muss einen anderen Grund für das Fehlen ihres Geruches geben“, überlegte Talita.

Veith nickte. „Ja. Der Geruch der Lykaner ist nicht der einzige, der fehlt. Bis auf die vertrockneten Bäume liegt überhaupt kein Geruch in der Luft.“

Und das in einem Wald. Diese Situation gefiel mir mit jedem Moment weniger. „Wie weit ist es denn bis zum Lager der Waldwölfe?“

„Lykaner von unter den Wolfsbäumen“, korrigierte Talita mich. „Wenn wir die ganze Nacht laufen, dann müssten wir es kurz vor dem Morgengrauen erreichen.“

Eine unangenehme Gänsehaut kroch schaudernd über meinen Rücken. „Ich weiß, ihr habt es eilig, aber ich weiß nicht, ob ich es schaffe, die ganze Nacht durch einen dunklen Wald zu laufen.“ Und vor allen Dingen, ob ich es überhaupt wollte.

„Das werden wir auch nicht“, verkündete Askea und schaute Veith an, als wollte er ihm raten, ihm bloß nicht zu widersprechen, weil er ihm sonst den Hintern versohlen würde. Die Umgebung machte auch ihn ein wenig nervös. „Wir werden uns einen sicheren Platz für die Nacht suchen.“

Veith sagte nichts, doch das Fell in seinem Nacken sträubte sich leicht.

„Ich weiß“, beruhigte Talita ihn leise und legte ihm die Hand auf das Fell. „Aber er hat Recht. Wir sind schon seit zwei Tagen unterwegs und haben die letzte Nacht kaum Schlaf bekommen. Er hat Recht, und das weißt du.“

So wie Veith knurrte, wusste er es durchaus. Deswegen musste es ihm aber noch lange nicht gefallen. „Ich kenne eine Höhle. Sie liegt ungefähr zwei Stunden von hier entfernt.“

„Dann sollten wir uns wohl ein bisschen beeilen, bevor es gänzlich dunkel wird.“ Nicht, dass wir noch viel Tageslicht hatten, aber die ganze Nacht durch einen finsteren Wald zu stolpern, war fast noch unheimlicher als der grüne Nebel in der Schlucht.

„Folgt mir“, sagte Veith und übernahm die Führung.

Ich drückte Fax‘ Hand ein wenig fester und gemeinsam schlossen wir uns ihm an.

 

°°°°°

Tag Fünf

 

„Wir sind gleich da.“ Talita beschleunigte ihren Schritt, konnte aber trotzdem kaum mit Veith mithalten. Er galoppierte beinahe, um an sein Ziel zu gelangen. Nur wenige Sekunden später war er schon fast außer Sichtweite, Talita direkt hinter ihm.

Die Höhle, in die Veith uns für die Nacht geführt hatte, war kalt und nicht wirklich einladender als der Wald darum herum gewesen, aber dafür wenigstens trocken. Viel Schlaf hatte ich dennoch nicht bekommen. Die flüsternden Worte, die meine Schwester die ganze Nacht mit ihrem Verlobten getauscht hatte, hatten mich fast genauso wirksam wachgehalten wie Seraphine, auf deren Haut immer mal wieder Flammen getanzt hatten.

Askea meinte, dass dies völlig normal wäre. Ihre Magie war erwacht und sie musste erst noch lernen, sie zu kontrollieren, besonders jetzt, nach dem ersten Mal, wenn sie im Traum ihren Tag verarbeitete.

Kontrolle hin oder her, der Anblick meiner brennenden Tochter, die im Schlaf selig vor sich hin schmatzte, hatte mich effektiver wachgehalten, als es fünf Litern schwarzen Kaffee möglich gewesen wäre. Dass Askea in der Nacht immer wieder versucht hatte, den Arm um mich zu legen, um mich an sich zu ziehen, hatte den Rest dazu beigetragen. Ihn so nahe bei mir zu haben, ging einfach nicht – nicht, wenn ich daran dachte, dass er auch Nubia so nahe bei sich gehabt hatte. Das war wie eine innere Sperre.

Als die erste Sonne den Morgen angekündigt hatte, hatte ich es aufgegeben, auf Schlaf zu hoffen. Das war wohl auch der Grund, warum ich mich ein wenig geschlaucht fühlte.

Dies war nun der dritte Tag, der uns mehr oder weniger durch unwegsames Gelände führte. Die Sonnen standen mittlerweile hoch am Himmel, was mich zu dem Schluss kommen ließ, dass es Mittag sein musste. Wahrscheinlich sogar etwas später, wenn ich meine zerschundenen Füße betrachtete. Früher Nachmittag vielleicht. Das hieß, dass wir auch jetzt bereits wieder seit Stunden unterwegs waren. Doch trotz der Strecke, die wir heute bereits zurückgelegt hatten, änderte sich eine Sache die ganze Zeit über nicht: die Aussicht.

Jeder Baum in diesem Wald war nicht nur mumifiziert, sondern regelrecht skelettiert. Die Bäume waren so ausgetrocknet, dass ein Funke ausreichen würde, um den kompletten Wald in ein tosendes Flammenmeer zu verwandeln. Kein besonders angenehmer Gedanke, wenn man bedachte, dass ich eine zweijährige Tochter hatte, die gerade Feuer als ihre magische Fähigkeit entdeckte.

Der Boden blieb weiterhin nichts als ausgedörrte Erde ohne jedes Leben. Keine Pflanzen, nicht einmal ausgetrocknete, keine Tiere, überhaupt nichts Lebendiges – bis auf uns. Okay, nicht ganz. Seraphine hatte einen wirklich ekligen Käfer gefunden und ihn ausversehen geröstet. Ansonsten war uns niemand begegnet, weder Tier noch Mortatia.

Der modrige Geruch blieb den ganzen Tag unser ständiger Begleiter. Es war weiterhin die einzige Witterung, die Veith aufnehmen konnte. Nicht einmal die Bäume gaben einen Geruch ab, was er sehr irritierend fand. Genau wie die Tatsache, dass wir selbst unseren Geruch zu verlieren schienen, je tiefer wir in den Wald vordrangen. Das war seltsam und faszinierend zugleich, und ließ darauf hoffen, was uns am Ziel erwartete.

Je tiefer wir vordrangen, desto breiter und höher wurden die Bäume. Mittlerweile kam ich mir vor wie ein Zwerg zwischen Riesen. Selbst ohne Blätter waren die Verästelungen der Wolfsbäume teilweise so dicht, dass wir oft im Schatten liefen. So düster und kalt war das schon unheimlich. Da gefiel mir die Wüste mit ihrer offenen Weite wesentlich besser. Zwar gab es da fleischfressende Einhörner, aber wenigstens sah man sie schon von weitem und konnte rechtzeitig die Beine in die Hand nehmen, um Reißaus zu nehmen. Hier im Wald würde ich ein Einhorn wahrscheinlich erst entdecken, wenn es direkt vor mir stünde.

Meine Tochter schien das Ganze aber nicht so zu sehen. Sie rannte von links nach rechts, schaute sich hier etwas an, dann dort. Und wenn sie etwas besonders interessant fand, hob sie es sogar auf und brachte es Askea.

Genau wie jetzt.

„Aja!“, rief sie und rannte mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. Er blieb nur einen kurzen Moment stehen, um den kleinen Stein in ihrer Hand zu bewundern, dann strich er ihr über den Kopf und ging einfach weiter. Trotzdem zauberte er ihr damit ein Lächeln ins Gesicht.

Ich bückte mich nach ihr und nahm sie auf den Arm. „Der ist wirklich hübsch.“

Mit stolzgeschwellter Brust drückte sie ihn an sich. „Hübsch.“

„Ja, wirklich –“

Plötzlich schoss Askeas Arm zur Seite und brachte mich damit nicht nur zum Verstummen, sondern hinderte mich und Fax auch am Weitergehen. Bevor ich fragen konnte, was los war, bemerkte ich den konzentrierten Ausdruck in seinem Gesicht. Er lauschte auf die Geräusche in der Ferne und … Moment. Wir befanden uns nun schon seit gestern Abend in diesem Wald, und die einzigen Geräusche, die wir seit dem Betreten gehört hatten, waren von uns gekommen. Nun hörte auch ich etwas. Es war ein Knarzen wie von altem Holz.

„Was ist das?“

Askea zuckte mit dem Kopf in meine Richtung. „Ich weiß es nicht.“ Genau das war es, was ihm daran missfiel. Dieses Geräusch könnte völlig unbedeutend sein, genauso gut konnte es aber auch eine Gefahr ankündigen. Da Askea nun einmal war, wer er war, stufte er es natürlich sofort als bedrohlich ein.

Ich strengte mein Gehör an und maß die Richtung, aus der das Geräusch kam. „Das könnte von dem Lager der Lykaner stammen.“ Die Richtung würde jedenfalls stimmen, denn dorthin waren Talita und Veith verschwunden.

Askeas Kiefer spannte sich an und auch Fax wurde unruhig. Immer wieder schaute er über die Schulter, als erwartete er jeden Moment, hinterrücks attackiert zu werden. Da half es auch nicht, dass ich ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter legte.

Ich brauchte einen Moment, um zu kapieren, woher die plötzliche Unruhe der beiden kam. Wir befanden uns nicht nur im Revier der Lykaner; sie waren auch noch Dämonen. Die Mortatia verabscheuten Dämonen und ließen sie das sehr deutlich spüren. Die Jäger aus dem Roten Hinterland waren das beste Beispiel dafür. Würde man sie mit Heugabeln und brennenden Fackeln davonjagen, wäre das noch human. „Vielleicht solltet ihr hier warten“, überlegte ich.

Askea schaute mich an, als hätte ich ihm gerade den Vorschlag gemacht, in einem Tutu durch den Wald zu tanzen und dabei die Ballade vom Erlkönig zum Besten zu geben.

„War ja nur so eine Überlegung“, murmelte ich.

„Ich bleibe bei dir.“ Er spießte mich mit seinem Blick auf, um mich zu warnen, ihm auf keinen Fall zu widersprechen, und setzte sich dann langsam wieder in Bewegung.

Nein, ich hatte nicht vorgehabt, ihm Widerworte zu geben, aber wenn ich es geschickt anstellte, konnte ich mich vielleicht vor ihn drängen. Sollten die Lykaner seiner ansichtig werden, würden sie sich ohne zu zögern auf ihn stürzen. Bei mir würden sie wenigstens so lange abwarten, bis Talita und Veith alles geklärt hatten, da ich nicht nur das Gesicht meiner Schwester trug, sondern auch noch ein Kleinkind auf dem Arm hielt.

Doch als ich versuchte, meine Idee in die Tat umzusetzen, begann die Markierung auf meiner Schulter zu kribbeln. Um seine Kontrolle über meine Glieder noch zu bekräftigen, bekam ich noch einen warnenden Blick von ihm, der deutlich machte, dass ich das Lager auf keinen Fall vor ihm betreten würde. Sollte ich es dennoch versuchen, würde er mich vermutlich einfach wie ein Neandertaler über die Schulter werfen und mich zurück ins Rote Hinterland tragen – geknebelt und gefesselt, versteht sich.  

Nun gut, dann würde ich eben sofort ein Schutzschild um ihn errichten, sobald wir dem ersten Lykaner begegneten.

Schon nach ein paar Metern entdeckte ich die ersten Häuser. Hier ein Dach, das hinter einem knochigen Baum hervorschaute, dort eine Wand, halb verborgen hinter zwei gewaltigen Stämmen. Es waren viele kleine Häuser, die zwischen den Bäumen errichtet worden waren, ohne den Wald um sie herum zu beschädigen. Blockhütten, zusammengezimmert aus allem, was der Wald den Bewohnern bot.  

Zwischen den Stämmen führten ein paar ausgetretene Trampelpfade hindurch. Von der häufigen Benutzung waren sie festgestampft, was wohl erklärte, warum ich keinen einzigen Fußabdruck auf ihnen finden konnte. Ich wartete darauf, dass uns auf einem von ihnen ein Lykaner begegnete, der uns aufhalten wollte, doch wir kamen völlig unbehelligt an dem ersten Haus vorbei und …

Oh nein.

Mein Mund öffnete sich einen Spalt, doch es kam kein Wort heraus. Das war wie ein Déjà-vu. Was von weiter hinten wie eine völlig normale Blockhütte aussah, stellte sich bei näherer Betrachtung als eingefallene Ruine heraus.

Das ist wie damals, bevor Ryu mich gefunden hat.

Auch da hatten plötzlich Häuser in einer sonst leeren Wüste vor mir aufgeragt. Doch leider hatte ich feststellen müssen, dass sie zu einer Geisterstadt gehörten.

Ich blieb stehen und schaute mir das Haus genauer an. Die Fenster auf der linken Seite waren zerbrochen. Auf der rechten Seite war das komplette Haus in sich zusammengesackt. Da war nur noch ein Trümmerhaufen.

Ein Stück weiter entdeckten wir noch eine Hütte. Sie hatte kein Dach mehr und nur noch zwei Wände.

„Kovu!“, hallte plötzlich Talitas Stimme durch den Wald. „Tyge!“

Das klang nicht danach, als würde sie jemanden mit einem freudigen Ruf begrüßen. Dieser panische Unterton in der Stimme passte einfach nicht.

„Prisca! Domina! Irgendwer?“

Ich schaute kurz zu Askea, drückte dann mein Phinchen an mich und eilte der Stimme meiner Schwester hinterher.

Irgendwo krachte es. Für einen kurzen Moment war der Wald von dem Geräusch von brechendem Holz erfüllt.

„Papá! Banu!“ Das war Veiths Stimme. „Febe! Narra!“

„Rem! Fang!“

Ich umrundete einen extrem breiten Baum und …

Meine Augen wurden kreisrund.

Das Haus, das plötzlich vor mir aufragte … Das war mein Haus! Der Anblick brachte mich einen Moment so sehr aus dem Konzept, dass ich blinzeln musste und mir über die Augen rieb. Als ich sie wieder öffnete, hatte sich nichts verändert. Das große Gebäude vor mir … Es sah genauso aus wie das Haus meines Vaters. Der Aufbau, die Farbe der Außenwände, ja, selbst die Blumenkästen an den Fenstern waren vorhanden.

Ich erinnerte mich daran, wie Talita mir davon erzählt hatte, doch erst jetzt, wo ich es mit meinen eigenen Augen sah, konnte ich es wirklich glauben. Der einzige Unterschied zwischen diesem Gebäude und dem, in dem ich aufgewachsen war, bestand in der Tatsache, dass dieses Gebäude viel heruntergekommener war. Und dass ein Teil des Daches so sehr eingesunken war, dass es vermutlich den Boden im Erdgeschoss berührte. Und doch …

Ein Knarren links von mir zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Das Geräusch kam von einer Tür, die schief in den Angeln hing.

Als Askea stumm neben mich trat, sagte ich: „Das ist mein Haus.“

„Kovu!“, rief Talita wieder. Sie schien kurz vor einem hysterischen Anfall zu sein. „KOVU!“

Vor uns im Haus krachte etwas. Fax zuckte bei dem Geräusch leicht zusammen und schob sich näher an mich heran. Im nächsten Moment stürmte Veith aus dem Haus. Die schiefe Tür wurde dabei aus den Angeln gerissen und landete ein paar Meter weiter vergessen im Staub.

Veiths Augen waren weit aufgerissen. Er schaute sich hektisch um, drehte sich im Kreis und schien einfach nicht erfassen zu können, was er sah. „Papá!“, rief er. „Wulf!“

Talita kam um die Ecke gerannt. Ihre Wangen waren gerötet, in ihren Augen schimmerte die Angst. „Ich kann niemanden finden!“

Veith sah sie an, warf dann den Kopf in den Nacken und stieß ein markerschütterndes Heulen aus, das mich bis auf die Knochen erschaudern ließ. Das war ein verzweifelter Ruf. Er schallte durch den ganzen Wald und drang bis in die hintersten Winkel der Wälder, doch als er verstummte, wurde die Stille, die uns schon seit Stunden begleitete, noch drückender.

„Sie sind weg.“ Talitas Stimme zitterte. Ihre Beine knickten einfach ein und sie sank zu Boden. Tränen liefen über ihre Wangen. „Das ganze Rudel … alle sind verschwunden.“

Weg? Aber … Wie sollte das möglich sein? Ein ganzes Rudel Lykaner konnte sich doch nicht einfach in Luft auflösen. Irgendwo gab es sicher einen Hinweis auf ihren Verbleib. Bevor ich mich allerdings auf die Suche danach machen konnte, musste ich erstmal Talita beruhigen.

Ich setzte mich in Bewegung, als Veith unwillig den Kopf schüttelte und wieder losstürmte, um das nächste Haus zu durchsuchen. Dabei entdeckte ich den Rest des Lagers.

Das verschlug mir die Sprache.

Das große Haus hatte mir die Sicht darauf verstellt, aber jetzt … Der Anblick war entsetzlich.

Mein Gedanke von vorhin kam mir wieder in den Sinn.

Nur ein Funke …

Das Lager war abgebrannt. Da waren nicht nur verkohlte Bäume; das halbe Dorf musste in Flammen gestanden haben. Die Fläche war völlig schwarz. Die Häuser dort waren nur noch verkohlte Ruinen, die dem Brand zum Opfer gefallen waren. Baumstümpfe, Ruß, verbrannte Erde – das Feuer hatte alles vernichtet, was sich ihm in den Weg gestellt hatte.

Was das bedeutete … Ich wollte gar nicht so genau darüber nachdenken.

Ich zwang mich, den Blick abzuwenden und neben Talita auf die Knie zu gehen. Um das, was hier geschehen war, konnte ich mich später noch kümmern. Jetzt brauchte Talita mich erstmal. „Hey.“ Vorsichtig stellte ich Seraphine neben mir ab und legte meiner Schwester eine Hand auf die Schulter. Sie zitterte am ganzen Körper. „Schhh, ganz ruhig. Wir werden sie schon finden.“

„Und wie?“, wollte sie wissen. „Wir haben keine Ahnung, was hier geschehen ist.“

„Aber es muss jemanden geben, der es weiß.“ Ich sah ihr fest in die Augen. „Wir müssen ihn nur finden.“

Talita schluchzte auf und schlang die Arme um sich selbst, als wollte sie verhindern, dass der Schmerz sie einfach in zwei Teile riss. Ich wusste genau, wie sich das anfühlte. „Kovu“, flüsterte sie erstickt. „Wo sind Kovu und Tyge?“

Wenn ich es wüsste, würde ich es ihr sagen, doch so konnte ich nur ratlos zu Askea schauen.

Wieder hallte ein durchdringendes Wolfsheulen durch das Lager der Lykaner. Veith versuchte, das Rudel seiner Geburt zu rufen, aber sie antworteten nicht.

Ratlos ließ ich meinen Blick schweifen, um das ganze Ausmaß dessen zu erfassen, was uns umgab. Die Häuser im Lager waren alle halb zerfallen und völlig heruntergekommen, ausgebrannt und teilweise völlig eingestürzt. Ich konnte keines entdecken, das wenigstens noch halbwegs bewohnbar wäre. Es gab hier kein Leben mehr. Wie der restliche Wald war auch dieser Ort völlig verlassen.

Vor manchen Häusern lag kaputter Hausrat herum – zerborstene Möbel, verbeulte Töpfe, zerfledderte Bücher. Alles war … zerfallen. Hier war sicher schon seit einer Ewigkeit niemand mehr gewesen.

„Was ist hier geschehen?“, fragte Talita leise. „Wie konnte das passieren?“

„Ich weiß es nicht.“

Seraphine legte ihrer Tante die kleine Hand auf die Schulter. „Aua?“, fragte sie.

Talita hob den Blick. „Nein, Mäuschen“, sagte sie sehr leise. Sie löste die Arme um sich und wischte sich über die Wangen, doch es half nichts. „Ich bin nur … ich …“ Sie schaffte es nicht, den Satz zu Ende zu bringen.

Weiter hinten krachte es. Ein weiteres Heulen hallte durch den Wald. Veith rief noch immer nach seiner Familie.

Ich schaute zu Askea hoch. „Hast du etwas gehört?“, fragte ich ihn. „Irgendwelche Gerüchte? Weißt du, was hier passiert ist?“

„Nein.“ Er lief ein paar Schritte, um sich das Innere des Hauses genauer anzusehen. „Mich hat nie interessiert, was außerhalb der Wüste geschieht.“

„Du hast also nichts gehört?“

Er schüttelte den Kopf und wandte sich mir zu. „Doch wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass der Wald gestorben ist und die Lykaner deswegen gezwungen waren zu gehen.“

„Sie würden nicht einfach gehen“, widersprach Talita leise.

Askea gab ein verächtliches Geräusch von sich „Dumme Katze. Wenn der Wald tot ist, können die Lykaner sich nicht mehr ernähren. Hier gibt es kein Leben mehr, nicht einmal mehr eine Maus. Entweder sie sind gegangen oder gestorben.“

„Askea!“ Warum nur musste er immer so unverblümt sein?

Talita gab ein ersticktes Geräusch von sich.

„Es ist die Wahrheit“, verteidigte er sich.

Ob es helfen würde, wenn ich ihn einmal kräftig durchschüttelte? Zweifelhaft.

„Entschuldigt mich, ich muss nach Veith sehen.“ Talita erhob sich auf die Beine und folgte dem verzweifelten Heulen ihres Verlobten.

Ich wartete, bis sie um die Ecke verschwunden war, bevor ich Askea fixierte. „Hast du das Wort ‚Taktgefühl‘ schon einmal gehört?“

Seine Augen verengten sich leicht. „Es ist nicht meine Aufgabe, mich um sie zu kümmern.“

„Das ist wieder so typisch für dich!“, fauchte ich, und erinnerte mich deutlich daran, wie er es auch einmal zu mir gesagt hatte. „Sie ist meine Schwester. Ob es dir nun passt oder nicht, sie gehört zur Familie.“

„Nicht zu meiner Familie.“

Arrrh! Ich warf ihm einen finsteren Blick zu, erhob mich und kehrte ihm den Rücken zu.

„Wo willst du hin?“

„Mich umsehen. Vielleicht finde ich einen Hinweis darauf, was hier passiert ist.“

„Dazu brauchst du dich nicht umzusehen. Ich kann dir ganz genau sagen, was geschehen ist.“

Ich drehte mich wieder zu ihm um und verengte die Augen. „Aber eben hast du noch gesagt, du hast keine Ahnung, was hier passiert ist.“

„Ich weiß es ja auch nicht, aber ich habe eine ziemlich gute Vorstellung davon. Seraphine, lass das liegen.“

Mein kleiner Engel hielt mitten in der Bewegung inne. Ein altes Buch, dessen zerfledderte Seiten im Wind flatterten, hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Doch jetzt schien sie nicht mehr recht zu wissen, ob sie tun sollte, was auch immer sie gerade hatte tun wollen.

Ich nahm ihr die Entscheidung ab, indem ich sie an die Hand nahm. „Dann erklär es mir“, forderte ich Askea auf. „Wo sind die Lykaner hin?“

„Das habe ich bereits gesagt. Entweder sie sind gegangen oder gestorben.“ Er drehte sich halb herum. Das große Haus ragte vor ihm auf. „Diese Gebäude sehen aus, als wären sie seit mehreren Jahrzehnten unbewohnt, doch das kann unmöglich sein. Daher bleibt nur eine Möglichkeit übrig.“

„Und welche?“

„Magie.“

„Das heißt, du glaubst, die Magie hätte das Lager zerstört?“

Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Vielleicht. Auf jeden Fall hat sie ihren Teil dazu beigetragen.“

„Aber die Bäume? Als ich das letzte Mal hier war, spürte ich, wie krank sie waren.“

„Dann liegt es vielleicht daran. Vielleicht war der Wald krank und ist gestorben.“

Allein dieser Gedanke war so erschreckend, dass ich fröstelte. Es war nicht allein der Wald gewesen, der krank gewesen war. Auch die Bewohner hatte es erwischt. Ich hatte es mit eigenen Augen gesehen. Das kleine Tier, das aus dem Baum gestürzt war, und der Lykaner. „Wenn die Krankheit für das hier verantwortlich ist, dann sind die Lykaner vielleicht wirklich tot.“ Dieser Gedanke gefiel mir noch viel weniger als der andere.

Askea schien das nicht im Mindesten zu berühren, und ich konnte es ihm nicht einmal zum Vorwurf machen. Er und seinesgleichen wurden seit Jahrhunderten fast bis zur Ausrottung gejagt. Ich selbst hatte mich eine Zeitlang daran beteiligt.

Das alles schien so ewig lange zurückzuliegen.

Über uns schoben sich ein paar Wolken vor die Sonnen und warfen lange Schatten über den Wald.

Als würde er über uns eine Gefahr vermuten, schnellte Askeas Blick sofort nach oben.  

„Glaubst du, dass ein paar von ihnen überlebt haben könnten? Vielleicht … Hey!“

Askea riss Phinchen auf seinen Arm, packte mich an der Hand und zog mich so plötzlich hinter sich her, als wäre uns Satan persönlich dicht auf den Fersen. Auch Seraphine schien etwas verwundert zu sein und steckte sich erst einmal den Daumen in den Mund. 

„Was soll das?“

„Wir müssen sofort einen Unterschlupf finden.“

„Was?“

Über uns grollte es und der Himmel wurde dunkler. Innerhalb von Sekunden war aus einem wolkenfreien Horizont eine Kulisse geworden, die zu einem düsteren Horrorfilm passte.

Hektisch sah sich Askea nach einem Unterschlupf um. „Regen ist gefährlich. Er birgt seltsame Magie.“

„Was soll das heißen?“ Ich riss mich aus seinem Griff los, weil ich es einfach nicht mochte, so durch die Gegend gezogen zu werden, und lief aus eigenem Antrieb neben ihm her.

„Das, was ich sage.“ Er umrundete ein scheinbar intaktes Haus; doch auf der anderen Seite offenbarte das Gebäude ein klaffendes Loch, durch das locker ein LKW gepasst hätte. „Manchmal ist es einfach nur Regen. Manchmal verätzen dir die Tropfen die Haut und fressen sich bis auf deine Knochen durch.“

Ich schluckte. Das hörte sich alles andere als angenehm an. „Ich muss Talita holen.“ Leider sah Askea das ganz anders. Bevor ich mich auch nur einen halben Meter von ihm entfernen konnte, pulsierte das Mal auf meiner Schulter so heftig, dass ich einfach mitten in der Bewegung erstarrte.

„Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe?!“

Verdammt, ich hasste es, wenn er das tat. „Ja, habe ich, aber du scheinbar nicht das, was ich gesagt habe! Sie ist meine Schwester!“

„Dann ruf sie einfach!“

Der Himmel wurde immer dunkler. Ein Donnern grollte durch die schwarzen Wolken.

„Papá!“, rief Fax. „Ich habe einen Unterschlupf gefunden.“

Ich funkelte Askea an. Leider war das alles, was ich tun konnte, denn er hatte Recht. Talita und Veith zu suchen, könnte ein wenig dauern. Ich hatte schon seit ein paar Minuten nichts mehr von ihnen gehört. Es war also nur logisch, dass ich nach ihnen rief. Natürlich würde ich Askea das niemals unter die Nase reiben, deswegen kehrte ich ihm auch den Rücken und rief solange nach Talita, bis sie mit Veith aus den Schatten auftauchte.

Gerade als die ersten Tropfen vom Himmel fielen, verschanzten wir uns alle in dem Haus, das Fax entdeckt hatte.

 

°°°

 

Wie kleine Kanonen trommelte der Regen gegen die Fenster. Mein Blick wanderte nach oben zum Dach des Hauses, in das wir uns bei dem plötzlichen Regenguss gerettet hatten. Es war undicht. An mehr als nur einer Spalte tropfte es in das Innere des Hauses, aber es bot uns immer noch mehr Schutz als all die anderen Bauten. Die Frage war nur, wie lange diese heruntergekommene Kiste dem monsunartigen Winden noch standhalten konnte. Es wunderte mich schon, dass es noch nicht über uns zusammengebrochen war.

Der Raum, in den wir uns geflüchtet hatten – der einzige noch intakte in diesem Haus, ohne eingestürzte Wände und kaputte Fenster –, war ziemlich klein. Es gab zwei schmale Betten, die ihre besten Zeiten schon lange hinter sich gelassen hatten, aber wenigstens waren sie trocken und halbwegs staubfrei. In das rechte hatte ich vor einer guten Stunde Seraphine gelegt. Der Tag hatte sie mal wieder so sehr erschöpft, dass sie praktisch sofort in einen Winterschlaf gefallen war. Neben ihr hatte sich Fax ausgestreckt. Er war zwar still, schlief jedoch nicht.

Auf dem Bett an der Stirnseite saß Veith – ja, er hatte sich wieder in einen Menschen verwandelt. In dem Raum gab es auch ein paar alte Truhen, in denen er auf Kleidung gestoßen war. Jetzt trug er einen Lendenschurz, der kaum seinen Hintern bedeckte. Wäre die ganze Situation nicht so grotesk, würde ich sicher einmal einen Blick riskieren. Doch so verweint, wie Talita auf seinem Schoß hockte, konnte ich einfach nicht vergessen, was wir hier entdeckt hatten. Keiner von uns konnte das.

„Wir könnten zu einer höheren Stelle gehen“, überlegte ich. „In Sternheim, meine ich.“ Ich hatte mich an Fax‘ Tasche vergriffen und die Felle rausgeholt. Dadurch, dass die Kinder und Veith und Talita sich die Betten teilten, konnte ich sie aufeinanderstapeln. Ein Nachtlager für mich und eines für Askea. Seines befand sich am Kopfende von Fax‘ Bett, meines davor. Damit hatte ich eine klare Grenze gezogen, die wohl auch der Grund dafür war, warum er nun auf seinem Lager hockte und stur vor sich hin starrte.

Leider lastete diese räumliche Trennung zwischen uns nicht nur auf seinem Gemüt.

„Du meinst den Hohen Rat.“ Veiths Finger glitten beruhigend über Talitas Rücken. Seit wir den Raum betreten hatten, war kaum ein Wort aus ihrem Mund gekommen. Mit dem, was wir hier vorgefunden hatten, kam sie noch schlechter klar als ihr Verlobter.

Ich zuckte nichtssagend mit den Schultern. „Ja, vielleicht. Oder zu den Wächtern. Wenn ein ganzes Rudel verschwindet, müssen sie doch wissen, was geschehen ist, und so können wir die Lykaner aufspüren.“

„Das wird nicht funktionieren.“ Veiths Stimme klang, als versuchte er, ein Knurren zu unterdrücken. „Die Lykaner wollen nichts mit den Wächtern zu tun haben. Es ist gut möglich, dass sie keine Kenntnisse davon haben, dass ein ganzes Rudel verschollen ist.“

Das könnte durchaus ein Problem sein. Seufzend streckte ich mich auf den Fellen aus und starrte an die Decke. „Aber der Hohe Rat müsste es doch wissen, oder? Das ist schließlich sowas wie die Regierung.“ Andererseits interessierte sich die Regierung einer ganzen Welt vielleicht nicht unbedingt für den Verbleib eines Einzelnen.

Talita drückte sich ein wenig fester an Veith. „Obsessantia könnte es wissen.“

Ihr Verlobter schien nicht bereit zu sein, sich Hoffnungen zu machen. „Vielleicht“, sagte er schlicht und zog sie näher an sich heran.

Obsessantia … Warum kam mir der Name nur so bekannt vor? „Da sich jeder Geruch in diesem Wald scheinbar in nichts aufzulösen scheint, werden wir sie durch Fährtensuche wahrscheinlich nicht finden, aber …“ Da kam mir eine Idee. „Amir hat mir erzählt, dass in diesem Gebiet sehr viele Rudel leben. Wir könnten doch zu einem von denen gehen und dort fragen, ob die was wissen.“ Ich drehte den Kopf zur Seite. „Könnten sie etwas wissen?“

„Ich weiß es nicht.“ Veith schloss die Augen. „Vielleicht.“

„Wir könnten zu den Höhlenwölfen gehen“, überlegte Talita leise. „Cui wird mit uns reden. Oder wir gehen zu Najat.“

Veith schwieg einen Moment. Er schien mit sich zu ringen, bevor er die nächsten Worte rausbrachte. „Und was ist, wenn sie auch verschwunden sind?“

Das ließ Talita erstarren. Ich sah ganz genau, wie sich ihre Muskeln anspannten. „Du glaubst, alle Lykaner sind verschwunden?“

Er reagierte nicht sofort, schüttelte dann aber den Kopf. Dabei sah er aus wie ein getretener Hund. Vielleicht zeigte er es nicht so deutlich wie Talita, doch diese Sache ging auch ihm sehr nahe. „Ich weiß nicht, was ich glauben soll.“

Das verstand ich nur zu gut. Wenn ich bei meiner Rückkehr Askea und Fax nicht vorgefunden hätte … Ich wusste nicht, was ich dann getan hätte. So sehr es mich auch schmerzte, zu wissen, was in meiner Abwesenheit geschehen war, wenigstens wusste ich, dass er wohlauf war. Und nicht nur das, er befand sich sogar mit mir im selben Raum.

Ob er mich auch so tröstend halten würde, wenn ich ihn ließe? Wahrscheinlich nicht. Es war einfach nicht seine Art, und dabei war es egal, ob wir Publikum hatten oder nicht. Er konnte seine Zuneigung einfach nicht so ausdrücken wie andere Männer. „Was ist mit deinem Freund?“, fragte ich, um diese Gedanken aus meinem Kopf zu bekommen. „Du weißt schon, der, mit dem du zusammengewohnt hast.“

„Du meinst Pal?“

Ich nickte. „Dieses Rudel ist doch seine Familie, wenn ich mich richtig erinnere. So jedenfalls hast du es mir erzählt.“

„Er wohnt mit Kaj und Raissa in Sternheim.“ Sie schwieg einen Moment. „Aber ich weiß nicht, ob er überhaupt noch Kontakt zu seiner Familie hat. Fang hat ihn verstoßen.“

„Aber Rem nicht“, sagte Veith leise.

Ich wusste, Talita hatte mir von diesen Namen bereits erzählt, doch in meinem Kopf war so viel los, dass ich sie gerade nicht zuordnen konnte. Das war nicht weiter wichtig; im Augenblick zählte etwas ganz anderes. „Dann machen wir es doch so: Wir gehen nach Sternheim und besuchen deinen Freund. Wenn er nichts weiß, können wir noch immer die anderen Rudel aufsuchen.“

Talita hatte mir das Gesicht leicht zugewandt. Wirklich überzeugt sah sie nicht aus. „Und wenn das auch nur in eine Sackgasse führt?“

„Dann können wir uns noch immer an die Stadt wenden. Oder ich spreche einen Zauber.“

Der letzte Teil brachte Askea dazu, mich mit einem wütenden Blick zu durchbohren. Ich sah es nicht, aber ich konnte es überdeutlich spüren. Mein ganzer Körper begann zu kribbeln und die feinen Härchen in meinem Nacken stellten sich auf. Es war, als versuchte er, mich aus der Ferne zu brennen, damit ich keinen Unfug machen konnte.

Talita dagegen horchte bei diesen Worten auf. „Der Finde-Zauber, natürlich. Damit kann man Leute aufspüren und ihre Lebenswege verfolgen.“

Das war eine ziemlich gute Zusammenfassung.

„Hast du den schon einmal benutzt?“

„Nein.“ Aber er war bei mir benutzt worden. Die Erinnerung schmeckte bitter.

 Diesen Ort suchen wir schon sehr lange. Und nur, weil du nun hier bist, war es uns möglich, ihn zu finden. Du hast uns praktisch hergeführt.

Mehr als bitter sogar. „Aber ich denke, dass ich ihn hinbekomme. Ich brauche nur etwas von den Lykanern, etwas, das ihnen viel bedeutet.“

„Ti-a-ra.“ Das Wort kam in einem solchen Grollen über Askeas Lippen, dass ich einen Moment befürchtete, einen wütenden Wolf im Rücken zu haben. Oder einen drakonischen Dämon – was es auch nicht wirklich besser machte.

„Askea, es ist nur ein kleiner Zauber. Er wird –“

„Es ist egal, ob er klein oder groß ist, es ist ein Zauber!“, fauchte er.

Verdammt, wie konnte ich ihm bloß verständlich machen, dass es mir gut ging? Abgesehen von meinen Füßen, die mich wegen der Wanderung beinahe umbrachten, ging es mir besser als jemals zuvor – mein Gefühlsleben einmal ausgeschlossen.

Wenn ich seinen Blick allerdings richtig deutete, gab es rein gar nichts, dass ihn von meinem Zustand überzeugen konnte. „Es ist der letzte Ausweg“, versuchte ich einen Kompromiss zu machen. „Ich spreche ihn erst, wenn wir nicht weiterkommen.“

„Du wirst ihn gar nicht sprechen.“

Ich schwieg und schaute betont hinauf zur Decke. Als ob ich mir von ihm etwas sagen lassen würde!

„Tiara!“

Über uns krachte es.

Ich zuckte zusammen. Hoffentlich war das nur Donner, und kein Blitz, der irgendwo in der Nähe eingeschlagen hatte.

In der drückenden Stille, die entstand, seufzte Veith. „Wahrscheinlich werden wir den Zauber gar nicht brauchen.“ Ob er es wirklich so meinte, wie er es sagte, konnte ich nicht erkennen. Dieser Tag schien ihn einfach zu sehr fertiggemacht zu haben, um sich mal wieder einen Streit zwischen Askea und mir anzuhören.

Askea fauchte unwillig.

Ich seufzte und rollte mich auf meinen Fellen zusammen. Ich konnte Veith schon verstehen. Die letzten Tage waren zum Teil sehr nervenaufreibend gewesen, besonders, da keiner von uns gewusst hatte, was uns an unserem Ziel erwarten würde. Und jetzt, da wir dieses Ziel erreicht hatten, war es auch nicht viel besser.

Draußen rollte ein leichter Donner über uns hinweg. Der Wind streifte heulend durch die Bäume, rüttelte am Haus und trieb die Regentropfen gegen das Fenster.

Diese Geräusche lullten mich ein. Ich hatte die letzten Tage wirklich nicht viel Schlaf bekommen.

„Was kann hier nur geschehen sein?“, fragte Talita leise. „So wie es hier aussieht … Ich meine …“ Sie stockte kurz und ließ dann geräuschvoll die Luft aus ihren Lungen. „Ich weiß nicht, was ich meine.“

Veith zog sie enger auf seinen Schoß und bettete sein Kinn auf ihrem Kopf. „Wir werden sie schon finden“, sagte er leise.

Nicht nur die Frage nach der Wahrheit seiner Worte stand im Raum, sondern auch die nach der Dauer. Wenn die Suche zu lange dauerte, war es fraglich, ob ich bis zum Ende dabei sein konnte.

Ich war nicht lebensmüde. So etwas wie beim letzten Mal würde ich kein zweites Mal tun. Klar, im Moment ging es mir super, aber ich hatte nichts von dem vergessen, was geschehen war. Außerdem hatte ich jetzt eine Tochter. Ich würde nicht riskieren, dass sie ohne Mutter aufwuchs, nur weil ich so einen Dickkopf hatte.

Noch konnte ich hier bleiben, doch sobald ich die ersten Anzeichen der wiederkehrenden Krankheit spürte, würde ich gehen.

Der Gedanke ließ mein Herz zu einem schmerzenden Klumpen werden. Wenn ich ginge, würde ich Askea und Fax ein weiteres Mal zurücklassen müssen.

Würde es dieses Mal einfacher sein, weil ich wusste, dass es ihnen gut ging? Aber so, wie die Welt im Moment war, wie konnte ich da wissen, wie lange es so blieb? Und dann war da noch Nubia. Sollte ich wirklich gezwungen sein, mit Seraphine nach Hause zu gehen, würde er sich dann wieder ihr zuwenden?

Du warst jahrelang weg und du hättest nie wiederkommen sollen. Glaubst du wirklich, dass ich bis ans Ende meiner Tage kein weibliches Wesen mehr berührt hätte?

Aber er hatte sie nicht zu seiner Gefährtin gemacht. Er hatte sich ihr nur zugewandt, als sie fruchtbar gewesen war. Das war nicht wirklich eine Erleichterung für mich, aber … Was hatte das alles nur zu bedeuten? Das war … unsinnig. Ich hatte mehr als genug über Dämonen gelernt, um zu wissen, dass die Männer sich den Frauen nur näherten, wenn sie sie gebrannt hatten, weil es sonst einfach zu gefährlich war. Die Männer setzten sonst ihr eigenes Leben aufs Spiel. Askea hatte es dennoch getan. Und nicht nur das, er hatte auch Fax der Gefahr ausgesetzt, die von dieser Frau ausging.

Das machte kein Sinn.

Genauso wenig wie die Tatsache, dass Nubia Fax in Ruhe gelassen hatte. Natürlich hatte ich die Spannungen zwischen ihnen gespürt, aber mehr war da nicht gewesen. Weibliche Dämonen akzeptierten keine fremden Kinder in ihrer Gegenwart. Warum also hatte sie nicht versucht, Fax zu töten, wie sie es früher immer getan hatte?

Nicht, dass mich das störte, ganz im Gegenteil. Ich war dankbar dafür, meinen kleinen Jungen wohlbehalten wiederzuhaben, aber … es passte einfach nicht. War Askea einsam gewesen und hatte ihr deswegen erlaubt, bei ihnen zu bleiben? Hatte er sich weitere Kinder gewünscht und deshalb mir ihr geschlafen? War Nubia einsam gewesen und hatte Fax als notwendiges Übel akzeptiert?

Irgendwas in mir sagte mir, dass all diese Fragen mit einem dicken, fetten Nein zu beantworten waren. Es war gegen ihre Natur, gegen ihre Instinkte und gegen all das, was sie ausmachte. Aber wenn das nicht die Gründe waren, welche denn dann?

Vielleicht hatte das ja auch etwas mit der Magie zu tun. Die spielte im Moment so verrückt, dass ich es durchaus in Betracht zog, dass sie nicht nur die Natur, sondern auch die Wesen dieser Welt beeinflusste. Ganze Landstriche hatten sich verändert und die Lykaner … Ja, das war auch ein Rätsel, für das ich absolut keine Lösung hatte.

Ich drehte mich auf die Seite und starrte vor mich hin. Die Fragen in meinem Kopf drehten sich im Kreis und wollten mir einfach keine Antworten liefern.

Donner grollte über den Himmel. Der Regen prasselte unaufhörlich auf das Haus. Meine Augen wurden schwer und die Gedanken in meinem Kopf lösten sich langsam auf.

Ich war so müde, dass ich das murmelnde Gespräch von Veith und Talita nur noch am Rande meines Bewusstseins wahrnahm. Es vermengte sich mit den Bildern der Vergangenheit. Ich lief durch eine endlose Wüste, an dessen Ende eine rote Gestalt stand. Askea. Er stand einfach da und wartete, doch egal, wie schnell ich lief und wie viel Strecke ich auch zurücklegte, der Abstand zwischen und schien sich einfach nicht zu verringern.

Plötzlich fiel ein Engel vom Himmel. Er nahm mich mit in ein Meer aus Zelten. Schreie und Klagen drangen an meine Ohren. Ich flog über die Zelte hinweg und sah Dämonen, die wie wertloser Dreck an Pfähle gebunden waren. Ausgesetzt in der Hitze der Wüste, litten sie unendliche Qualen. Aufgeplatzte Haut, blutige Finger.

Ich rief, dass man sie freilassen sollte.

In weiter Ferne stieg eine Säule aus Licht in den Himmel empor. Ihr Schein war so gleißend hell, dass ich den Blick abwenden musste. Dabei sah ich ihn: Amir. Er stand auf dem Boden, die Arme wie zu einem göttlichen Gruß ausgebreitet. In seinem Gesicht brannte eine beinahe fanatische Freude.

Ich sah, wie sich seine Lippen bewegten, doch ich konnte nicht verstehen, was er sagte.

Hinter ihm stieg eine weitere Lichtsäule zum Himmel empor. Dann noch eine. Auf einmal tauchten überall zwischen den Zelten Säulen aus reinem Licht auf und schossen in die Höhe. Über all dem Getöse hörte ich das begeisterte Lachen von Amir, der …

Ein Krachen und Scheppern von Metall ließ mich aus dem Schlaf hochschrecken. Panisch sah ich mich nach allen Seiten um. Da war Askea auch schon neben mir und legte mir die Hand auf den Mund. Seine Augen schienen in der Dunkelheit rot zu glühen. Das Feuer in seinem Inneren zeigte sich in ihnen.

Der Regen hatte aufgehört. Der Wind war still. Das war wohl der einzige Grund, warum ich den derben Fluch hörte, der draußen ausgestoßen wurde.

Ich schaute zu den Kindern. Fax war wach und hatte die Tür im Visier, doch er bewegte sich nicht.

Askea bedeutete mir, ruhig zu sein, und schlich ans Fußende des Bettes.

Als neben mir plötzlich ein Schatten vorbeischlich, hätte ich fast einen Herzinfarkt bekommen, doch es war nur Veith. Auch er und Talita waren von den Geräuschen wachgeworden.

Meine Schwester schlich ihrem Verlobten hinterher. Sie bauten sich zu beiden Seiten der Tür auf.

Dann warteten wir angestrengt.

Ich versuchte meinen Herzschlag zu beruhigen und auf die Nacht draußen zu lauschen. Dadurch, dass dieser Wald jedes Geräusch verschluckte, waren die Schritte draußen nur umso lauter zu hören. Sie näherten sich eindeutig dem Haus.

Wusste jemand, dass wir hier waren? Wussten sie von Askea und Fax?

Plötzlich hatte ich den letzten Morgen im Klüngel im Kopf. Wie die Jäger uns überfallen hatten, der Rauch und die Schreie. Gab es vielleicht noch Jäger? Hatten sie Askea und Fax verfolgt?

Meine Sinne erwachten mit all ihrer Aufmerksamkeit. Niemals würde ich zulassen, dass sich jemand an meiner Familie vergriff. Egal, wer dort draußen war, er würde es bereuen, uns hierher gefolgt zu sein.

Ohne Askeas verärgerten Blick zu beachten, richtete ich mich auf und rief meine Magie. Ich spürte, wie sie unter meiner Haut lauerte und nur darauf wartete, dass ich sie freiließ.

Die Schritte kamen näher.

Ich lauschte auf sie, hörte genau den Moment, als sie das Haus betraten und sich über knarrende Bodendielen dem Zimmer näherten. Dann stoppten sie für einen Augenblick.

Die Anspannung stieg.

Jemand griff nach der Klinke. Die Tür wurde geöffnet.

 

°°°°°

Tag Sechs

 

Der schwache Schein einer alten Laterne tauchte auf und beleuchtete die Umrisse einer eindeutig männlichen Person, die abrupt stehen blieb, als sie uns erblickte. Der Mann hatte offensichtlich nicht damit gerechnet, jemanden hier vorzufinden. Wer auch immer das war, aus seiner Position fiel sein Blick als allererstes auf mich.

Veith machte eine Bewegung. In diesem Moment erblickte der Fremde Askea. Dann ging alles ganz schnell. Keiner konnte so schnell reagieren, wie dieser Typ die Laterne fallen ließ und sich mit einem Knurren auf meinen Mann stürzte.

„Nein!“, rief Talita.

Askea wich nicht aus, ganz im Gegenteil. Er stand vor den Kindern. Keine Macht der Welt hätte ihn dort wegbekommen, und das bekam der Fremde auch zu spüren. Die beiden krachten frontal zusammen. Pech nur für den anderen, dass Askea standfester war und den Fremden einfach von sich stieß. Der knallte auf den Rücken, und so, wie es lärmte und er zischte, musste das ziemlich wehgetan haben.

„Nicht!“, rief Talita wieder und preschte vor, als Askea sich auf den Kerl stürzen wollte. Sie stellte sich schützend vor ihn und hielt den Dämon auf Abstand, indem sie ihm eine Hand auf die Brust legte. „Das ist Kovu!“

Askea fauchte. Er schlug Talitas Hand weg und zeigte ihr seine beeindruckenden Fänge. „Fass mich nicht an!“

In meinem Augenwinkel flackerte Feuer auf.

Das war der Moment, in dem sich Veith einmischte. Er brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um vor meinem drakonischen Dämon aufzuragen. Er stieß ihn so heftig vor die Brust, dass Askea fast über die Felle fiel, auf denen ich noch saß. „Mach das nie wieder, sonst vergesse ich mich!“

„Verdammt!“ Ich sprang auf die Beine und griff nach Askeas Arm. Ich packte so fest zu, wie ich nur konnte, weil ich genau wusste, was sonst passieren würde. „Nicht!“

„Sie hat mich nicht anzufassen!“, fauchte er nun mich an.

„Schrei mich nicht an“, sagte ich und ließ den Blick zum Bett gleiten. „Und du, mach das Feuer aus.“

Halb kauernd hockte Fax über Seraphine, die trotz des Lärms einfach selig weiterschlief. Er war es, dessen Schultern in Flammen standen – einen kurzen Augenblick zumindest noch. Er funkelte mich auf eine trotzige Weise an, wie es nur Kindern zu eigen war, ließ die Flammen dann aber erlöschen.

Nanu, kam da jemand in die Pubertät?

„Warum nicht?“, knurrte Askea und gewann damit meine Aufmerksamkeit zurück. „Wenn ich dich anschreie, dann redest du wenigstens mit mir!“

„Ich rede auch so mit dir.“ Ich schob mich halb vor ihn – nur zur Sicherheit.

„Nein, tust du nicht, nicht wirklich.“

Eine Erwiderung darauf blieb mir erspart, da sich nun der Fremde zum ersten Mal zu Wort meldete – was wohl ein Glück war, sonst hätte das Gespräch nur wieder in einem Streit geendet.

„Veith?“, fragte er so zögerlich, als könnte er nicht fassen, was sich hier vor seinen Augen abspielte.

Der Kerl war so gefallen, dass das Licht der Laterne sein Gesicht erhellte. Ich kannte ihn: Es war der Lykaner aus dem Wald.

Wachsam, in dem Glauben, seine Augen würden ihm einen Streich spielen, kam er auf die Beine.

„Kovu!“, rief Talita in diesem Moment und warf sich ihm um den Hals. Sie war so stürmisch, dass sie ihn damit ein paar Schritte zurückstolpern ließ.

Völlig perplex ließ der Kerl es über sich ergehen. Noch immer huschten seine Augen von einem zum anderen, blieben einen Augenblick an mir hängen und richteten sich dann auf Veith. Als würde es plötzlich in seinem Kopf Klick machen, schlang er nun seinerseits einen Arm um Talita. Den anderen brauchte er, um ihren Verlobten an sich zu ziehen.

Ich beobachtete, wie die drei sich umarmten. Selbst von hier aus konnte ich sehen, dass der junge Mann am ganzen Körper zitterte, und das hatte nichts mit der nächtlichen Kälte zu tun, die er von draußen mit hineingebracht hatte.

„Oh Gott, Kovu“, flüsterte Talita. „Dir geht es gut.“

„Ihr seid wirklich hier.“ Auch die Worte von diesem Kovu waren kaum mehr als ein Hauch. Er zog Talita nur noch fester an sich.

Ich ließ Askea los und trat einen Schritt von ihm zurück. Dabei achtete ich peinlich genau darauf, ihn nicht anzusehen. Trotzdem konnte ich spüren, wie sauer er war – ob nun wegen der Rangelei mit den Lykanern oder weil ich mich weigerte, einen weiteren Streit mit ihm auszufechten. Er setzte sich einfach nur still und leise auf die Bettkannte und ließ keinen von uns aus den Augen.

Da ich nicht wirklich wusste, was ich sonst tun sollte, schaute ich kurz nach Phinchen und ließ mich dann im Schneidersitz auf meinen Fellen nieder. Diese Bewegung zog die Aufmerksamkeit unseres Gastes auf mich.

„Du bist die Frau aus dem Wald, die falsche Talita.“

Wie nett. „Ich bin Tiara, Tals Zwillingsschwester.“ Meine Mundwinkel verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. „Ihre eineiige Zwillingsschwester, wenn man es ganz genau nimmt.“

„Zwillingsschwester.“ Das schien er erstmal einen Augenblick verdauen zu müssen. Er löste sich ein wenig von Veith, ohne dessen Arm loszulassen, und schaute zwischen Talita und mir hin und her. „Wahrhaftig, Zwillinge“, wiederholte er, als würde es das realer machen. Dann blieb sein Blick wieder an Askea hängen. Er knurrte.

„Lass das.“ Ich fixierte den Unruhestifter des Abends. „Wenn du ihnen wehtust, dann tue ich dir weh.“ Das war keine leere Drohung.

„Verdammt, was …?“ Erst in diesem Moment entdeckte er Fax mit dem kleinen Mädchen auf dem Bett. „Was ist hier eigentlich los? Was macht ihr hier? Was machen … diese Kreaturen hier?“

Askea zog die Oberlippe hoch.

Meine Mundwinkel sanken herab. „Bezeichne die beiden nochmal so, und du wirst lernen müssen, aus einer Schnabeltasse zu –“

„Das reicht!“, unterbrach mich Talita und funkelte mich an. „Das ist Askea“, erklärte sie Kovu. „Er ist ihr … Er ist Tias Freund.“

„Freund?!“

Jetzt schaute ich ihn wirklich finster an. „Er ist mehr als nur ein Freund.“ Egal, wer dieser Kovu war und wie viel er Talita auch bedeutete, ich würde es nicht durchgehen lassen, dass er auf meine Familie herabsah, nur weil sie nicht in sein Weltbild passte.

Das schien er nun noch weniger zu verstehen. „Aber … warum? Was macht ihr hier? Ihr seid doch durch das Portal getreten.“

„Tiaras Tochter ist durch den Spiegel gegangen“, sagte Veith. Seine Stimme klang rauer als sonst, so als versuchte er, seine Gefühle für sich zu behalten. „Wir sind ihr hinterher und haben gesehen, was hier los ist. Wir wollten schauen, ob mit dem Rudel alles in Ordnung ist.“

„Aber das Rudel ist weg“, fügte Talita hinzu. „Wo sind alle hin?“ In ihrer Stimme klang ein Flehen mit, das mit Verzweiflung getränkt war.

„Weg“, war Kovus schlichte Antwort. Er schaute von einem zum anderen, als wäre er nicht sicher, was er sonst noch sagen sollte. „Sie sind einfach weg.“

„Aber wie können sie so einfach weg sein?“ Talita schüttelte den Kopf. „Das ist doch nicht möglich.“

„Es ist … Ihr versteht das nicht. Ihr wart so lange fort. Alles ist so anders.“ Er drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.

„Dann sag uns, was passiert ist“, forderte Veith ihn auf. „Von Anfang an.“

Der kleine Bruder nickte und schien auch nach Worten zu suchen, doch er blieb still. Sein Blick war gen Boden gerichtet. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Mir fiel auf, dass er seit unserer letzten Begegnung abgenommen hatte. Ich hatte ihn zwar nur ein paar Minuten gesehen, aber ich war mir sicher, dass seine Rippen damals noch nicht so hervorgestanden hatten. Dadurch, dass er wie Veith nur einen Lendenschurz trug, konnte ich sie deutlich zählen.

Und doch war die Ähnlichkeit zu Veith nicht zu bestreiten. Kovu war nicht wirklich kleiner, aber seine Statur konnte einen das annehmen lassen. Er war schmaler, sehniger. Die schokobraune Haarfarbe war nahezu gleich, nur dass Veith seine Haare kurzgeschnitten hatte und Kovu sie zu einem langen Zopf geflochten trug. Auch waren die Gesichtszüge des Jüngeren nicht so markant. Wo Veith scharfe Kanten aufwies, zeigten sie bei Kovu weiche Linien, die ihn auf den ersten Blick viel sympathischer wirken ließen. 

Noch etwas fiel mir während der Betrachtung auf. Vorher war alles so schnell gegangen, dass ich keine Zeit gehabt hatte, darauf zu achten. Auch war das Licht im Zimmer nicht gerade besonders erhellend. Dennoch konnte ich die kleinen Pocken auf seinem rechten Oberarm erkennen. Doch sie sahen nicht mehr eitrig und entzündet aus, eher … eingetrocknet. Da fiel mir auch der kleine Gegenstand auf, den er an einer Lederschnur um den Hals trug. „Du hast den Ring gefunden“, murmelte ich leise.

Er blickte auf und nahm besagtes Stück fast geistesverloren zwischen die Finger. „Papá hat mich gezwungen ihn anzulegen.“ Dieser Gedanke ließ etwas Wehmütiges in ihm aufsteigen.

„Kovu.“ Talita legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Er schüttelte den Kopf, machte sich von ihr los und begann damit, im Raum auf und ab zu laufen. Er versuchte nicht nur seine Gedanken, sondern auch seine Gefühle zu ordnen. Es endete damit, dass er sich auf der Kante des anderen Bettes niederließ und das Gesicht in den Händen vergrub. „Ich dachte … ich bin allein.“

Talita warf Veith einen dieser Blicke zu, die wohl nur Pärchen verstanden, und ließ sich neben Kovu auf der Bettkannte nieder. Sie schlang die Arme um seine Schultern und vergrub das Gesicht an seiner Halsbeuge.

„Sag uns, was passiert ist“, verlangte Veith erneut, nur war seine Stimme dabei so sanft, dass es auf eine Bitte hinauslief.

Kovu ließ die Hände sinken und starrte auf den Boden. „Ich weiß nicht genau, wann es angefangen hat, aber … nicht lange, nachdem ihr weg wart, begann der Wald zu sterben.“ Der Schmerz dieser Erinnerung huschte über sein Gesicht. „Am Anfang haben wir dem keine Beachtung geschenkt. Es waren nur vereinzelte Bäume, und sie waren so weit weg, dass wir es nicht einmal wirklich registriert haben. Aber dann fand Fang diesen Hirsch.“

Als Kovu nicht sofort weitererzählte, setzte sich Veith auch noch neben ihn und legte seine Hand auf das Knie seines kleinen Bruders. „Was war mit diesem Hirsch?“

„Er war tot.“ Er schaute auf. „Sein ganzer Körper war übersät mit schwarzen Pocken und eitrigen Beulen. Als Fang ihn gefunden hat, musste er bereits seit Stunden tot gewesen sein, doch die Beulen bebten noch. Sie platzten auf und verspritzten eitriges Sekret. Er sagte … Er hat uns erzählt, dass es nach allen Seiten gespritzt hat und alles sterben ließ, was es berührte.“

Veiths Stirn war gefurcht. „Was meinst du mit ‚sterben ließ‘?“

„Genau das, was ich sage. Alles, was von dem Sekret berührt wurde, starb direkt vor seinen Augen.“

„Ich weiß, was er meint. Ich habe es bereits mit eigenen Augen gesehen“, warf ich ein. „Der Zersetzungsprozess wurde beschleunigt.“

Veith sah zu mir.

„Grüne Blätter wurden braun und zerfielen zu Staub. Bäume wurden innerhalb von Sekunden so morsch, dass sie einfach in sich zusammenfielen.“ Ich seufzte. „Ein Tropfen hat gereicht, um den Baum zum Schreien zu bringen.“ Und wie er geschrien hatte! Noch heute konnte ich mich viel zu deutlich daran erinnern.

Talita hob den Kopf von Kovus Schulter. „Was meinst du mit ‚schreien‘?“

„Genau das, was ich sage.“ Ich überlegte, wie ich es erklären sollte. „Alles in dieser Welt ist von Magie durchdrungen, weil … Na ja, Magie ist Leben. Und dieses Sekret, es war … Ich weiß nicht genau, wie ich es beschreiben soll. Vielleicht … Man könnte es mit Salzsäure vergleichen. Es frisst sich in das Gewebe und bringt den größtmöglichen Schaden.“

„Ja, aber … das mit dem Schreien verstehe ich nicht. Bäume können nicht schreien.“

„Nein, das können sie nicht, aber ein Baum ist kein totes Objekt. Es lebt nicht nur, es ist auch in jeder Faser mit Magie durchdrungen. Sie ist … Na ja, sie ist nicht direkt ein Lebewesen, aber auch sie verspürt Schmerz und versucht –“

„Moment“, unterbrach mich Talita. „Soll das heißen, dieser Eiter hat die Magie angegriffen?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht genau. Ich kann dir nur sagen, wie es sich angefühlt hat. Die Magie dort … Sie war falsch, irgendwie … verdorben. Als ich den Baum berührt habe, hat er geschrien. In meinem Kopf.“ Etwas verlegen tippte ich mir gegen die Schläfe. „Tut mir leid, ich weiß nicht, wie ich es sonst beschreiben soll.“

Kovu verengte seine Augen leicht. „Du bist eine Hexe.“ Wieder griff er nach dem Ring. Es schien eine unbewusste Handlung zu sein.

Ich zuckte nur mit den Schultern. Was hätte ich dem Offensichtlichen noch hinzuzufügen gehabt?

In seinem Kopf ratterte es, doch bevor er weiter nachbohren konnte, fragte Veith: „Was ist weiter passiert? Mit dem Hirsch.“

Einen Moment schwieg Kovu, nicht wirklich sicher, ob er das Thema um mich ruhen lassen sollte, doch dann seufzte er. „Nichts weiter. Fang fand ihn und begrub ihn in einem tiefen Loch. Dann ging er zu Prisca und erzählte es ihr.“ Er lehnte sich ein wenig an Talita, als würde er dort Trost finden. „Abgesehen von dem weiteren Absterben der Bäume war das vorerst der einzige Vorfall. Doch schon bald fanden wir immer wieder solche verendeten Tiere oder welche, die von der Krankheit befallen waren. Langsam wurde auch der Zerfall des Waldes deutlicher. Ganze Gebiete starben ab. Und dann wurde Febe krank.“

Veiths Muskeln spannten sich an.

„Es waren die schwarzen Pocken. Niemand konnte ihr helfen. Sie starb daran.“

Ich hatte keine Ahnung, wer diese Febe war, aber sie schien zumindest den beiden Lykanern viel bedeutet zu haben. Aus Talitas Anspannung schloss ich, dass auch sie diese Eröffnung nicht kaltließ.

„Sie war die Erste“, redete Kovu leise weiter, „aber nicht die Letzte. Von da an wurden immer wieder Leute krank. Nicht nur bei uns, auch bei anderen Rudeln, sofern sie unter den Wolfsbäumen lebten. Dann wurde auch ich krank.“ Der Griff um seinen Ring wurde fester. „Als es passierte … Es waren schon so viele von uns gestorben, und ich dachte, ich wäre der Nächste. Papá versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, doch ich sah die Sorge in seinen Augen und … Ich weiß nicht warum, aber an diesem einen Tag wurde mir das alles viel zu viel. Ich wollte nicht sterben. Ich wollte einfach nur den Kopf freikriegen und bin gerannt. Ich bin stundenlang durch den Wald gerannt, dann hörte ich die Karawane an der Grenze.“

Er hob den Blick zu mir. „Das waren die Leute aus dem Roten Hinterland. Sie fuhren alle paar Wochen bei uns vorbei und machten auf diesem Abschnitt immer mal wieder Pause. Als sie hielten, wollte ich mich schon abwenden, aber dann stieg diese Frau vom Kutschbock.“ Sein Mundwinkel zuckte. „Zuerst glaubte ich, Halluzinationen zu haben. Die Frau … Sie sah nicht nur aus wie du, Talita, sie sprach auch ganz ähnlich. Aber irgendwas mit ihr stimmte nicht.“

Was? Er hatte mich schon beobachtet, als ich von der Kutsche gestiegen war? Stalker.

„Ich beschloss, sie mir näher anzusehen, um ganz sicherzugehen. Sie war eine Fremde.“ Er hob den Blick zu mir. „Und ihre … Freunde waren nicht besonders begeistert, mich zu sehen.“

„Das tut mir leid. Ich wollte nicht, dass sie so grob zu dir sind.“

Er schnaubte nur, als wäre das völlig bedeutungslos. „Ich bin abgehauen und hab Papá davon berichtet. Dann, ein paar Tage später – ich weiß nicht einmal genau, warum – ist er zu der Stelle gegangen, an der ich sie gesehen habe, und kam mit dem Heilenden Herz und einem seltsamen Brief wieder.“ Etwas daran ließ ihn lächeln. „‚An den nackten Mann aus dem Wald‘, stand darauf.“

Talita warf mir einen Blick zu.

Ich konnte nur unschuldig mit den Schultern zucken. „Was hätte ich sonst schreiben sollen? Ich kannte seinen Namen ja nicht.“

„Wir haben es nicht so mit Vorstellungen bei Fremden“, erklärte Kovu.

Meine Schwester schaute wieder zu ihm. „Was ist das Heilende Herz?“

„Das hier.“ Er hielt den Ring hoch. „In dem Brief stand, dass sie dein Zwilling sei und möchte, dass ich diesen Ring trage. Er könne Krankheiten nicht heilen, sie dafür aber stoppen. Der Ring hat mir das Leben gerettet.“

„Du hast ihn wirklich angelegt?“, fragte Talita überrascht.

Er schnaubte. „Natürlich nicht. Es hat fast zwei Wochen und mehrere Predigten von Papá gedauert, die mich dazu gebracht haben, ihn mir umzuhängen. Er hat gesagt …“ Er stockte. „Er sagte, dass ich nichts zu verlieren hätte, und auch wenn wir nicht wussten, wer die Fremde sei, so könnte der Brief ehrlich gemeint sein. Es war auf jeden Fall einen Versuch wert.“

Fast überschwänglich schlang Talita die Arme um Kovu. „Ich bin froh, dass du es getan hast.“

„Ich bereue es manchmal“, sagte er leise, was Veith ein tiefes Stirnrunzeln entlockte. „Ich glaube, der Ring ist der Grund, warum ich noch hier bin.“

„Dafür ist er ja auch gedacht“, sagte Talita. „Damit du nicht stirbst.“

„Nein, das meine ich nicht. Was ich sagen will … Diese Krankheit, sie war nicht die einzige Bedrohung. Also zu Anfang schon, aber dann, ein paar Wochen nach der Begegnung im Wald, gab es so einen Ruck.“

„Einen Ruck?“

Veith sprach mir aus der Seele.

„Ja. Es ist … Das kann man nicht erklären. Es war irgendwie … keine Ahnung. Durch alles schien dieser Ruck zu gehen. Durch den Wald, die Tiere und auch das Rudel. Es war wie ein kurzer Schmerz. Alle haben es gespürt. Und nicht nur wir, auch alle in Sternheim und überall sonst. Durch Gebäude und Steine und … einfach alles.“

„Durch die Magie.“

Wieder richtete Kovu seine Augen auf mich. „Ja, genau. Als hätte die Magie gezuckt, und zwar heftig.“

„Das verstehe ich nicht.“ Talita zog die Augenbrauen kraus.  

„Ist auch nicht so einfach zu erklären.“ Kovu ließ den Kopf hängen. „Da begann die Sache wirklich aus dem Ruder zu laufen. Eines Morgens wachte ich auf und der Himmel war giftgrün. An einem anderen Tag schneite es so heftig, dass der Schnee innerhalb von Stunden mehrere Meter hoch lag. Dann war der Wald plötzlich eine Moorlandschaft, in der seltsame Wesen und Pflanzen hausten. Und … Ich könnte endlos damit weitermachen. Ständig veränderte sich das Bild. Nicht nur hier; es passierte auf der ganzen Welt. Mit jeder Woche wurde es schlimmer. Rätselhafte, unerklärliche Dinge geschahen, Sachen, die einfach nicht möglich waren. Und der Wald starb weiterhin. Jeden Tag Naturkatastrophen und Unwetter, dann wieder strahlender Sonnenschein, als wäre nichts gewesen.“

Mir kroch eine Gänsehaut über den Rücken. Ein paar von diesen Dingen hatte ich selbst gesehen – sowohl bei meiner ersten Reise als auch jetzt.

„Dann begannen wir zu verschwinden.“ Er schaute zu Veith auf. „Wir konnten nichts dagegen tun.“

„Was meinst du mit ‚Verschwinden‘?“, wollte ich wissen.

„Genau das, was ich sage. Die Leute verschwanden einfach.“

„Das ist doch gar nicht möglich“, hielt Talita dagegen. „Niemand verschwindet einfach so.“

„Anfangs haben wir das auch gedacht, aber es war so. Prisca war die Erste. Am Abend war sie noch mit Amo-te bei uns im Rudelhaus und am nächsten Morgen war sie einfach weg. Wir haben alles nach ihr abgesucht, doch ihre Witterung endete in ihrem Bett. Es war, als hätte sie sich schlafen gelegt und dann einfach in Luft aufgelöst.“ Er schnaubte verächtlich. „Zu diesem Zeitpunkt wusste keiner, dass es genau das war, was geschehen war.“

„Was?“

„Dass sie sich in Luft aufgelöst hat. In den nächsten Wochen und Monaten ist das immer wieder passiert. Eben noch waren die Leute da, und kaum, dass wir uns umdrehten, waren sie plötzlich unauffindbar.“

„Wie mit Erion?“, wollte Talita wissen.

„Nicht ganz. Aber ja, das haben auch wir eine Zeitlang gedacht. Nur leider ist das nicht nur bei uns so gewesen. Es geschah überall. ‚Überdurchschnittlich viele Vermisstenmeldungen‘ hieß es am Anfang noch. Bald war die halbe Bevölkerung verschwunden.“

„Aber …“ Talita schüttelte den Kopf, ohne es wirklich zu glauben. „Wie ist das möglich?“

Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Bis ich es das erste Mal gesehen habe, bekam ich es auch nicht richtig zu fassen, aber dann ist Modre direkt vor meinen Augen verschwunden. Er ist … Er hat sich gewissermaßen einfach aufgelöst. Eben noch war alles in Ordnung und er lachte, dann wurde er auf einmal ganz starr und … Na ja, er löste sich einfach auf. Es blieb nichts von ihm übrig.“ Seine Stimme wurde ganz leise. „Nicht die kleinste Spur.“

Eisige Stille folgte. Seine Worte trieben mir eine kalte Gänsehaut über den Rücken. Ich schaute zu Askea, der der ganzen Geschichte mit einer stoischen Ruhe folgte, genau wie Fax. Keiner der beiden schien sonderlich überrascht oder gar beeindruckt von diesen Ereignissen zu sein. „Hast du etwas davon gewusst?“

„Nein.“ Er senkte seinen Blick auf mich, verhakte ihn mit meinem. Einen Moment lang schien alles in Ordnung zu sein und dieses Chaos nichts weiter als ein dummes Gerücht.

„Dann brach der erste Magnar über uns her und zog über die Welt. Danach wurde es richtig schlimm. Dabei wurde so viel Magie freigesetzt …“ Kovu schüttelte sich.

Ich konnte es ihm nachfühlen.

„Er kam einfach über uns. Was folgte, war Chaos. Innerhalb von Stunden löste sich das ganze Rudel auf. Bis auf mich und Isla verschwanden sie alle.“ Seine Hände begannen zu zittern. „Wir konnten es nicht aufhalten. Sie haben sich einfach aufgelöst, direkt vor unseren Augen, und wir konnten nichts tun.“

Veith stand so abrupt auf, dass ich nicht die Einzige war, die zusammenzuckte.

„Es tut mir leid“, flüsterte Kovu. „Es tut mir so leid.“

„Schhh“, machte Talita und zog ihn an sich. „Du kannst nichts dafür.“

„Wo ist Isla jetzt?“, fragte Veith.

Kovu schien in diesem Moment sehr mit seinen Gefühlen zu kämpfen zu haben. Es dauerte eine ganze Weile, bis er den Mund das nächste Mal öffnete. „Nach dem …“ Seine Stimme klang belegt. Er räusperte sich. „Nach dem Magnar wussten wir erst nicht, was wir tun sollten. Wir haben gewartet und gehofft, dass sie wieder auftauchen würden. Wir haben wochenlang gewartet, aber keiner kam zurück, und dann … Ihr müsst verstehen, wir konnten hier nichts mehr tun. Wir sind nach Sternheim gegangen. Ich wollte wissen, was mit Pal ist.“

Talitas Arme spannten sich an. „Was ist mit Pal?“

„Wir haben ihn nicht gefunden. Er und Raissa waren verschwunden, genau wie die anderen. Da war nur noch Kaj. Aber sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Die beiden waren weg, und das hat sie einfach nicht verkraftet.“

„Nein, bitte nicht.“ Talita schluckte. In ihren Augen standen Tränen.

„Wir haben sie mitgenommen, zurück zum Rudel, aber nach nur wenigen Tagen hat sie sich auch aufgelöst. Vor ein paar Wochen war auch Isla weg. Seitdem … ich bin ganz allein. Es ist niemand mehr da.“

„Ich bin noch da“, sagte Veith brüsk. Er hockte sich vor Kovu und riss ihn in seine Arme. „Ich bin hier.“

„Es ist überall passiert.“ Kovus Stimme war sehr leise. „Chaos und Katastrophen. Die magische Welt … Irgendwas zerstört sie. So wie hier sieht es überall aus. Jeder ist betroffen, nicht nur die Lykaner. Sie alle verschwinden einfach, und keiner weiß, warum.“

Talita legte ihm eine Hand auf die Schulter. Sie sah selbst aus, als könnte sie dringend Trost gebrauchen.

„Wir hatten überlegt, in Sternheim zu bleiben, aber … es gab Straßenkämpfe. Niemand ist mehr sicher. Es gibt keine Regierung mehr, keine Wächter. Nur noch Unruhen und Chaos. Es wird von Tag zu Tag schlimmer.“

In meinem Magen machte sich ein sehr ungutes Gefühl breit. Es war kein einfaches Unwohlsein; es war viel schlimmer.

„Wir sind jetzt hier“, sagte Talita. „Du bist nicht mehr allein.“

Kovu gab ein Geräusch von sich, das wohl eine Mischung aus einem Schluchzen und einem Lachen war. „Ihr habt mich zu Tode erschreckt.“

„Und du uns“, gab sie sanft zurück.

„Nach diesem Unwetter … Ich wollte nur noch schlafen, aber jetzt …“ Er sprach nicht weiter, dafür löste er sich von seinem Bruder. Seine Augen waren eindeutig gerötet. „Ich war eigentlich nur unterwegs, um mir was zu essen zu besorgen. Dass ihr jetzt hier seid … Ich hätte nicht geglaubt, nochmal einen von euch wiederzusehen.“

„Hätten wir nur gewusst, was hier vor sich geht, wären wir schon viel früher gekommen“, versicherte Talita ihm.

„Warum seid ihr hier?“ Er wischte sich über die Nase. „Das habe ich nicht verstanden.“

„Wegen Tiaras Tochter.“

Als Talita zu erzählen begann, was ich mit der magischen Welt zu tun hatte und warum wir nun alle hier waren, blendete ich ihre Stimme aus und machte mir meine eigenen Gedanken. Dass die magische Welt im Moment verrücktspielte, war nicht zu übersehen, aber ich hätte niemals mit diesem Ausmaß gerechnet. So wie Kovu es erzählte, konnte man glatt glauben, dass die Apokalypse kurz bevorstand.

Wahrscheinlich war es nicht ganz so schlimm, wie es sich anhörte, aber es war nicht von der Hand zu weisen, dass etwas im Gange war. Nicht nur die Krankheit und das Verschwinden der Wesen. Diese ganzen Katastrophen und Magieschwankungen … Dafür musste es einen Ursprung geben.

Ich lehnte mich gegen das Bett und schaute zu Askea hoch. Er beobachtete mich. Tat er das schon die ganze Zeit? „Hast du sowas schon einmal gehört?“

„Nein.“

„Ich meine nicht nur jetzt, sondern … Na ja, in der Geschichte dieser Welt. Ist schon einmal etwas Ähnliches passiert?“

Er schüttelte den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste. Früher gab es viele Kriege, aber in einem solchen Ausmaß? Nein.“

„Aber diese Welt … Sie existiert schon, keine Ahnung, sicher ein paar Jahrtausende. Vielleicht –“

„Tia“, unterbrach er mich. „Mein Vater war Forscher. Der Tempel, in dem ich lebte, beschäftigte sich mit Kunst, Kultur und Geschichte. Wäre etwas Ähnliches schon einmal geschehen, hätte ich sicher davon gehört.“

Ja, da hatte er wahrscheinlich recht. Aber wenn das noch nie passiert war, warum dann jetzt? Was war der Auslöser dafür? Es war schließlich nicht immer so gewesen. Noch bei meinem letzten Besuch hatte diese Welt geblüht und gedeiht. „Es muss einen Ursprung für all das geben.“

„Der Ursprung für alles liegt in der Magie.“

„Danke, Freud.“ So weit war ich auch schon.

Askea starrte mich eine Zeitlang an, dann rutschte er von der Kante und setzte sich direkt neben mich. „Ich weiß nicht, was hier vor sich geht, aber es wird sich sicher wieder alles finden.“

Das konnte ich nur hoffen. Wenn die Leute sich wirklich einfach in Nichts auflösten, dann … Bei dem Gedanken wurde mir ganz kalt. Was, wenn Askea oder Fax sich einfach auflösten? Oder Phinchen und Talita? Laut Kovu gab es keinen Weg, sie zurückzuholen. Wenn ich auch nur einen von ihnen verlieren würde … Das würde ich nicht überleben. Egal, wie beschissen die Situation zwischen Askea und mir im Moment war, ich wollte nicht, dass er sich einfach in Luft auflöste und mich allein zurückließ. Nur wie konnte ich das verhindern?

Die einfachste Möglichkeit wäre, wieder durch den Spiegel zu steigen. Aber ich glaubte nicht, dass Askea mich begleiten würde. Nicht nur, dass diese Welt alles war, was er kannte, ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass er als normaler Mensch auf der anderen Seite ankommen würde.

Musternd glitt mein Blick über ihn und blieb an seinen Augen hängen. Diese unendlichen roten Tiefen, die das Einzige waren, das manchmal seine Gefühle spiegelte. „Was, wenn sich nicht alles irgendwann einfach findet?“

„Dann müssen wir lernen, damit zu leben.“

Das war nicht die Antwort, die ich hatte hören wollen.

Seufzend schaute ich zum anderen Bett. Talita saß am Kopfende und strich Kovu unablässig durchs Haar. Er hatte seinen Kopf in ihrem Schoß gebettet. Veith saß daneben auf dem Boden und hielt seine Hand fest.

Ich konnte mir wahrscheinlich gar nicht vorstellen, was der junge Mann in den letzten Monaten und Jahren durchgemacht haben musste. Dass sein Bruder und Talita nun hier waren, musste ihm wie ein Wunder vorkommen. Doch wie lange würde dieses Wunder anhalten? Niemand von uns konnte sich sicher sein, dass wir nicht die Nächsten waren, die sich einfach in Luft auflösten. Außer …

Plötzlich kam mir eine Idee. „Kovu?“, rief ich und unterbrach Talita damit mitten in der Bewegung.

Er hob den Kopf nicht, richtete seinen Blick aber auf mich.

„Du hast da vorhin etwas gesagt; wegen des Heilenden Herzens. Du hast gesagt, dass der Ring der Grund ist, warum du noch hier bist.“

So wie er nach der Kette griff, konnte es wirklich nur ein Reflex sein. „Ich weiß nicht, ob das stimmt. Es ist nur … Ich war krank und alle anderen sind verschwunden. Ich bin der Letzte, der hier ist. Der Ring ist das Einzige, was mich von ihnen unterscheidet.“

Da war etwas Wahres dran.

Vielleicht war es ja wirklich der Ring, der verhinderte, dass er sich einfach in Luft auflöste. Ich versuchte mich daran zu erinnern, was die Verkäuferin in dem Laden damals zu mir gesagt hatte.

Dieser Ring wurde von einer Hexe geschmiedet, die um das Leben ihres Mannes bangte. Er war sterbenskrank, und ihr Wunsch, ihm noch ein langes Leben zu ermöglichen, verwob sich mit dem Zauber, den sie spinnte, und floss in das Silber hinein. Die Magie in ihm ist von einer solch unschuldigen Reinheit, dass sie ihrem Mann noch viele Jahre schenken konnte. Erst als er alt war und ein langes Leben geführt hatte, nahm er ihn wieder ab.

Der Mann war also gestorben, weil er den Ring abgenommen hatte. War es möglich, dass auch ich einen solchen Ring herstellen konnte? Für jeden von uns? Ich wusste es nicht. Ein solcher Zauber war sicher keine Kleinigkeit. Dann war da auch noch die Frage, ob er wirklich das erfüllte, was ich mir erhoffte. Und ob es wirklich reichen würde, um uns zu schützen.

 

°°°

 

Rot glühend verformte sich die Silbergabel zwischen Fax‘ Fingern. Seine Hände waren so heiß, dass nicht nur die Gabel in der Mitte durchschmolz, sondern auch ich die Hitze auf der Haut spüren konnte. Es war, als würde ich direkt neben einem Brennofen sitzen.

Der Kopf und ein Teil des Stiels fielen zu Boden. Aus dem Rest formte Fax einen Ring, rundete die Seiten und ließ die Enden miteinander verschmelzen. Er ließ den Ring mit einem Zischen in den Wassereimer neben uns fallen. Es brodelte und für einen kurzen Augenblick stieg Wasserdampf auf. 

Ich wartete einen Moment, dann angelte ich das Schmuckstück heraus und drehte es zwischen den Fingern. Die grobe Naht war noch zu erkennen, aber es würde schon gehen.

„Papá hätte das bestimmt besser hinbekommen.“

„Askea würde mir wahrscheinlich den Kopf abreißen, wenn er wüsste, was ich hier treibe.“ Nicht, dass mich das sonderlich ängstigte – was vielleicht auch daran lag, dass er im Moment nicht in der Nähe war, sondern sich im Wald herumtrieb. Seinen Worten nach wollte er versuchen, etwas Essbares zu finden, aber ich hegte den Verdacht, dass er vor allen Dingen etwas Abstand zu den Lykanern brauchte. Ihm behagte diese Nähe einfach nicht; sie machte ihn angespannt und rastlos. Mir sollte es recht sein. So konnte ich wenigstens in Ruhe meinen Versuchen nachgehen.

Auch in dieser Nacht hatte ich kaum Schlaf gefunden. Immerzu hatte ich daran denken müssen, wie ich meine Familie schützen konnte. Das einer von uns einfach so verschwand … Ich wollte es nicht riskieren.

Ich warf einen Blick hinüber zu Seraphine, die kaum einen Meter von mir entfernt auf dem Boden hockte und einen Käfer mit den Augen verfolgte. Solange sie ihn sich nicht in den Mund steckte, war das in Ordnung.

Wir befanden uns draußen im Freien an dem alten Brunnen im Lager der Lykaner. Ich hatte mir diesen Platz ausgesucht, weil die Bäume hier nicht so dicht standen und ich so die Wärme der Sonnen im Nacken spürte.

Fax saß neben mir auf dem Boden und beobachtete, wie ich den Ring in meinen Schoß legte. Es war der vierte in den letzten zwei Stunden, den er für mich gemacht hatte. Der erste Ring war unter meinem Zauber einfach zu Staub zerfallen, der zweite mittendurchgebrochen. Der dritte hatte sehr vielversprechend gewirkt. Na ja, zumindest solange, bis Fax ihn in die Hand genommen und sofort wieder fluchend von sich geworfen hatte. Er meinte, der Ring sei kochend heiß, und wenn ein Rubin das sagte, sollte es schon etwas heißen. Seltsam war nur, dass ich ihn trotzdem anfassen konnte. Nichtsdestotrotz hielt ich es für besser, ihn auch auszusortieren. Dieser Versuch war hoffentlich erfolgreicher; so viele Gabeln aus reinem Silber hatte ich nämlich nicht gefunden.

„Dann mal los.“ In meiner Zeit bei den Jägern hatte ich nicht nur gelernt, Dämonen zu jagen, sondern auch, wie ich mit meiner Magie umgehen musste. Asha, meine Mentorin, hatte mir viel beigebracht, unter anderem auch, wie man Zauber webte. Und genau das war es, was ich gerade tat.

Ich versuchte mir noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, was die Hexe, der ich das Heilende Herz abgekauft hatte, genau gesagt hatte. Es war nicht nur der Wille gewesen, der den Zauber geformt hatte, sondern auch der herzensreine Wunsch, der beim Weben ihren Geist erfüllt hatte.

Langsam zog ich einen Faden reiner Magie aus meiner Handfläche und steckte das Ende in die Bruchstelle des Rings. Dann begann ich zu wickeln. Die Maschen zog ich dabei so dicht, dass das Metall unter ihnen nicht mehr zu sehen war.

Beim Zaubern war der Wille das Wichtigste. Ich tränkte die Magie geradezu damit, befahl ihr, mir zu gehorchen, und hoffte dabei inständig, dass es dieses Mal gelang.

Der Ring war vielleicht halb fertig, als Seraphine angerannt kam, sich auf meinem Rücken warf und mir die Arme von hinten um den Hals schlang. Sie spähte über meine Schulter, sah den leuchtenden Faden in meiner Hand und kletterte auf meinen Schoß.

Ich ließ mich davon nicht stören. Halte, sinnierte ich nur immer wieder in meinen Gedanken. Halte sie in dieser Welt.

Phinchen schaute sich das Ganze ein paar Minuten an, dann wurde ihr das zu langweilig. Sie krabbelte wieder von mir herunter und ließ sich bäuchlings auf Fax‘ Schoß fallen. Leider hatte er im Moment aber viel mehr Interesse daran, was ich hier machte, und schenkte ihr auch kaum Aufmerksamkeit. Da half es auch nicht, dass sie ihn anlächelte und dann auch noch ihre kleinen Händchen auf seine Wangen legte. „Aks!“

Er wand einfach das Gesicht aus ihrem Griff.

Ich legte die letzte Schlaufe um den Ring, riss den Faden ab und zwang die Magie dazu, in das Metall einzudringen.

Der Ring leuchtete auf, dann sackte das Licht in ihn hinein. Weiter geschah nichts.

Ich hielt den Atem an.

Fax beugte sich ein Stück vor. „Hat es geklappt?“

„Weiß nicht.“ Ich schüttelte den Ring auf meiner Handfläche hin und her, und plötzlich begann er zu zittern. Es war nur eine ganz leichte Vibration. Auf einmal kreischte das Silber und das Metall verbog sich direkt vor meinen Augen zu einem unförmigen Klumpen.

Ich starrte auf meine Hand. Verdammt, warum klappte das denn nicht? So schwer dürfte das doch gar nicht sein! Es war nicht das erste Mal, dass ich sowas tat. Mit Asha hatte ich öfter versucht, Sachen zu verzaubern, aber dabei war nie so etwas herausgekommen.

„War das so gewollt?“, fragte Fax überflüssigerweise.

Dafür bekam er einen bösen Blick. „Ich versuche hier, einen Ring zu verzaubern, und nicht, einen magischen Klumpen herzustellen.“ Seufzend ließ ich den Ring zu den anderen fallen und reichte Fax die nächste und auch letzte Gabel.

Er nahm sie wortlos entgegen, setzte Seraphine neben sich und begann wieder zu schmelzen.

Meine Tochter fand das nicht sonderlich interessant und begab sich auf Abenteuerreise. Erst rannte sie zum Haus und piekte dort ein wenig im Dreck herum, dann ging es weiter zu einem Baum mit einem Loch, in dem sie herumstochern konnte, und dann erweckte das Buch von gestern ihr Interesse.

Ich ließ sie einfach machen. Spielzeug hatte sie schließlich nicht und mit irgendwas musste sie sich ja beschäftigen.

Nachdem Fax den neuen Ring in den Eimer geworfen hatte, fischte ich ihn heraus und versuchte mich ein weiteres Mal an dem Projekt. Wieder drehte ich den Ring zwischen meinen Fingern. „Vielleicht sollte ich mir mal das Heilende Herz ansehen, einfach, um mir ein besseres Bild von dem zu machen, was ich tun muss.“

„Du meinst, bevor uns die Gabeln ausgehen?“, fragte er sarkastisch.

Ja, auch dafür bekam er einen bösen Blick, aber er lächelte nur.

Seufzend machte ich mich ein weiteres Mal ans Werk. Fax griff währenddessen nach den Resten der Gabeln und versuchte weitere Ringe zu formen. Zwei Stück ließ er in den Eimer fallen und war gerade mit dem dritten beschäftigt, als seine Schwester seine Aufmerksamkeit erregte. Sie marschierte schnurstracks auf den Wald zu. „Phinchens Kopf brennt.“

Mein Blick schnellte hoch. Ja, es war immer noch ungewohnt – und auch beängstigend –, so etwas über das eigene Kind zu hören. Wahrscheinlich würde ich mich niemals daran gewöhnen können.

Seraphines Kopf stand in Flammen. Mitten in einem vertrockneten Wald. Das war fast noch schlimmer als das Feuer auf ihrem Kopf. Wenigstens schaffte ich es nun, nicht gleich in Panik auszubrechen und es mit einer gewissen Ruhe in mich aufzunehmen.

„Könntest du das löschen?“

Fax nickte und erhob sich auf die Beine, doch bevor er auch nur einen Schritt gemacht hatte, erschien zwischen den Bäumen eine weitere Gestalt. Seraphine erblicke sie sofort. „Aja!“, rief sie begeistert und lief freudestrahlend auf ihn zu, so schnell ihre kleinen Beinchen das zuließen.

Askea fing sie auf halbem Wege ab, strich ihr über den Kopf, um damit die Flammen zu löschen, und nahm sie an die Hand. Zwei Schritte lief er, dann entdeckte er mich und seinen Sohn vor dem Brunnen. Oder besser gesagt, er entdeckte die Magie, die zwischen meinen Händen glühte. Sein ganzer Ausdruck verfinsterte sich.

Mist.

Ich versuchte es mit einem unschuldigen Lächeln, doch sobald er bei mir angekommen war, schnappte er sich einfach den Ring aus meiner Hand und warf ihn in den Brunnen.

„Hey!“

„Ich habe dir gesagt, du sollst nicht zaubern!“

„Du hast mir aber nichts zu sagen!“, fauchte ich ihn an, stand auf und schaute in den Brunnen. Vergeblich. An den Ring würde ich nicht mehr rankommen.

Askea grollte leise. „Fax, nimm deine Schwester und geh mit ihr in Haus.“

„Ja, Papá.“

Ich fuhr zu ihm herum. „Wie kommst du dazu, hier aufzutauchen und schon wieder Befehle in alle Richtungen zu bellen?!“

„Das müsste ich nicht tun, wenn du einfach mal auf das hören würdest, was ich dir sage!“

„Wenn es etwas Sinnvolles wäre, würde ich auch hören!“

Nur nebenbei bemerkte ich, wie Fax Seraphine vom Boden aufklaubte und mit ihr ins Haus verschwand.

Askea funkelte mich an. „Sinnvolles?“, fragte er gefährlich ruhig. „Deine Gesundheit ist also nichts Sinnvolles?“

Okay, nicht aufregen. Er tut das nur, weil er sich Sorgen macht. Wie lange dieses Mantra wohl noch halten würde, bevor ich ihm den Hals umdrehte?

Selbst um Ruhe bemüht, schaute ich zu ihm auf. Ich musste ihm endlich klarmachen, dass mit mir – warum auch immer – alles in Ordnung war. „Wie viele Tage bin ich jetzt wieder hier?“

Er kniff die Augen leicht zusammen und musterte mich. Der Themenwechsel schien ihn leicht zu irritieren. „Heute ist der sechste Tag.“

„Genau, sechs Tage. In diesen sechs Tagen habe ich bereits mehr Magie gewirkt, als dir überhaupt klar ist …“

Er zog die Oberlippe hoch.

Beeindruckte mich nicht wirklich. „… und du mir erlaubt hast. Was meinst du, warum Phinchens Windeln immer sauber sind? Oder warum ich seit Tagen dieses Kleid trage und nicht wie eine Männersporttasche rieche? Ich habe das Essen, das wir haben, durch Magie vermehrt, damit wir genug davon haben, und Fax‘ alte Kleidung verkleinert, damit Phinchen hineinpasst. Ich habe die halbe Schlucht in einen tropischen Urwald verwandelt. Und trotzdem spüre ich rein gar nichts von der Krankheit.“

„Und was glaubst du, wie lange das noch so bleibt?“, fauchte er mich erneut an.

„Ich habe keine Ahnung. Das Einzige, was ich sagen kann, ist, dass es mir im Moment so gut geht wie schon lange nicht mehr.“ Ich fixierte ihn. „Als ich das erste Mal hierherkam, hat mir schon die kleinste Berührung mit Magie geschadet – vom ersten Moment an. Mir war schlecht, ich hatte Kopfschmerzen und Schwächeanfälle. Manchmal bin ich einfach bewusstlos zusammengesackt. Dieses Mal jedoch ist es anders. Ich bin völlig gesund.“

„Ja, aber wie lange noch?“

Das ist eine gedankliche Einbahnstraße, Mister Macho. „Darum geht es doch gar nicht. Pass auf, ich will das nicht heimlich machen müssen, nur damit du dich nicht aufregst. Aber die Magie … Du weißt nicht, wie das ist. Wenn ich …“

Er packte mich nicht allzu sanft bei den Armen. „Aber ich weiß, was passieren wird, wenn du nicht damit aufhörst, also lass es!“

Okay, jetzt wurde ich auch langsam wütend. „Davon abgesehen, dass du mir nichts zu sagen hast, glaubst du wirklich, ich würde meine Gesundheit noch einmal riskieren? Verdammt, Askea, wir haben eine Tochter! Aber ich muss das hier machen!“

„Nein, musst du nicht“, grollte er.

„Ach, dann soll ich also einfach zusehen, wie du oder die anderen sich in Luft auflösen? Diese Ringe sind nicht für mich! Ich versuche damit, euch am Leben zu halten, und das geht nun mal nicht ohne Magie!“

„Du wirst nicht noch einmal zaubern.“

Ahhhr! „Hörst du überhaupt zu? Warst du gestern Abend dabei, als Kovu erzählt hat, was mit den Leuten in dieser Welt passiert?! Ich kann doch nicht tatenlos danebensitzen …“ Ich erstarrte, sodass mir die Worte regelrecht im Hals stecken blieben.

Sein Griff wurde fester. „Du tust, was ich dir sage.“ Damit drückte er mich gegen den Brunnen und legte seine Lippen auf das Mal.

Schon die erste Berührung ließ mich aufkeuchen. Angenehme Wärme flutete in mich hinein und ließ mich weich und anschmiegsam werden. Ich wollte ihn verfluchen, als er sich gegen mich drängte. Ich wollte mich verfluchen, weil ich so stark auf diese Bindung reagierte und ihn in diesem Moment am liebsten an mich gezogen hätte.

Ich versuchte durch den Mund zu atmen, um nicht so viel von seinem Geruch abzubekommen. Nicht, dass er schlecht roch, aber … genau das war das Problem. Er roch viel zu gut. Dann auch noch seine Nähe …

Mein Puls schnellte in die Höhe und mein verräterisches Herz klopfte mit einer Begeisterung, für die ich es am liebsten auch noch verflucht hätte.

Obwohl sich alles in mir dagegen sträubte, kam ich einfach nicht davon ab, mir noch mehr zu wünschen. Das war wirklich ein mieser Weg, einen Streit zu beenden, und nicht nur Askeas Körpertemperatur stieg an. Sein Atem ging viel heftiger, als normal war – selbst fürs Brennen. Doch als er dann meine Hüfte packte und sich fester gegen mich drängte, war der Zauber plötzlich dahin und ich wurde ganz starr.

Er braucht dich nicht. Alles, was er braucht, kann ich ihm geben – alles.

Ich spürte genau, was er wollte. So nahe, wie er mir war, konnte ich das sogar sehr genau spüren. Aber … nein. Nein!

Es war das erste Mal, dass ich mich aus eigener Kraft aus seinem Bann befreien konnte. Ich stieß ihn so heftig von mir, dass er überrascht zurückstolperte und meinen Blick erstaunt erwiderte.

„Nein“, sagte ich, als er wieder einen Schritt auf mich zu machte. „Komm mir nicht zu nahe.“

Er grollte leise.

„Nein!“, wiederholte ich. Genau wie mein Atem ging seiner schneller als normal. „Du kannst nicht versuchen, jeden Streit auf diese Weise zu lösen! Und wenn du glaubst, dass ich mit dir schlafe, nur weil du deinen kleinen Zaubertrick durchziehst, hast du dich aber geschnitten! Wenn du Druck hast, dann geh doch zu Nubia!“

„Tiara.“ In dem Namen lag eine Drohung, aber ich konnte auch das Flackern in seinen Augen sehen. Dass ich ihn zurückgewiesen hatte, verletzte ihn.

Wenn ich ehrlich war, dann tat es mir auch weh. Ich wollte ihn so gerne einfach wieder in den Arm nehmen und das alles vergessen, aber ich konnte einfach nicht. Da war eine innere Sperre in mir, die das nicht zulassen wollte.

„Es tut mir leid“, sagte ich leise, schnappte mir die restlichen Ringe aus dem Wassereimer und kehrte ihm den Rücken zu. Während ich zum Haus flüchtete, konnte ich seine stumme Wut spüren. Ich war auch wütend. Ich war auf ihn wütend und auch auf mich. Einen Moment lang war ich auf die ganze Welt wütend. Warum nur musste alles immer so kompliziert sein? Die Welt war doch so schon chaotisch genug.

Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass ich ihn verstand. Was Nubia betraf … hatte er Recht. Egal, von welcher Seite aus ich es betrachtete, es gab keinen Grund, ihm einen Vorwurf zu machen. Und doch ließen mich diese Gedanken einfach nicht in Ruhe.

Er braucht dich nicht. Alles, was er braucht, kann ich ihm geben – alles.

Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn er mich belogen hätte. Das würde es einfacher machen – für alle.

Seufzend schritt ich hinter das Haus und ließ mich dort auf den Boden sinken. Ich wollte allein sein, wenigstens für einen Moment. Die Ringe in meiner Hand klimperten leise.

Langsam wusste ich wirklich nicht mehr weiter, aber in Anbetracht der Situation, in der wir uns befanden, war das fast ein unbedeutendes Problem. Ich musste die Ringe herstellen. Egal, ob es ihm passte oder nicht. Er musste verstehen, wie wichtig das war. Und wir mussten uns überlegen, wie es weitergehen sollte.

Eines jedoch ließ sich nicht leugnen: Ich musste mit ihm sprechen – in Ruhe. Dieses ständige Angekeife und Dominanzzeug musste ein Ende haben.

 

°°°

 

Werwölfe – oder Lykaner, wie man hierzulande sagte – in ihrem natürlichen Umfeld zu sehen, war schon etwas … kurios. Von Talitas Erzählungen her wusste ich natürlich schon lange, wie diese Leutchen miteinander umgingen, aber es war doch etwas anderes, es leibhaftig zu erleben.

Die Nacht – oder besser gesagt die frühen Morgenstunden – hatten Talita, Veith und Kovu zusammen in dem schmalen Bett verbracht. Mir war es immer noch schleierhaft, wie die drei es geschafft hatten, sich da reinzuquetschen. Es hatte geklappt. Und alle drei hatten selig in ihrem Schlummer gelegen, ohne dabei über die Kante zu fallen und auf den Boden zu klatschen.

Als ich nun ins Haus kam, bot sich mir ein ganz ähnliches Bild. Veith saß an die Wand gelehnt am Kopfende des Bettes, in seinem Schoß lag Kovus Kopf. Meine Schwester hatte sich sehr vertraut an die Seite des kleinen Bruders gekuschelt und kraulte ihm den Bauch. Dabei hatte sie sogar eines ihrer Beine über seine gelegt.

Von der Absurdität des Bildes einmal abgesehen, wunderte es mich schon, dass Veith das ohne Probleme zuließ. Würde ich mich so an einen Kerl schmiegen, wie Talita das gerade tat, würde Askea den Typen vermutlich zu einem Haufen Asche verbrennen und mir anschließend die Hölle heißmachen. Nicht, dass ich glaubte, dass er mir wehtun würde, aber er würde mir sehr deutlich machen, dass er das kein weiteres Mal dulden würde und absolut enttäuscht von mir war.

Auch Fax beobachtete das Dreiergespann misstrauisch. Er hockte mit Seraphine an einer der großen Truhen und vertrieb sich die Zeit damit, nach Schätzen zu suchen – obwohl er eher seine kleine Schwester dazu beglückwünschte, was sie alles für Schätze fand. Einen Lappen. Ein zerfleddertes Buch. Etwas, das aussah wie ein zusammengewürfelter Haufen aus bunten Armbändern. Sie klimperte damit vor seiner Nase herum.

Ich versicherte mich mit einem Blick, dass mit den beiden alles in Ordnung war, und wandte mich dann an die anderen drei, genauer gesagt an Kovu. „Darf ich dich um etwas bitten?“

Das gemurmelte Gespräch zwischen ihm und Talita brach ab. Er nahm mich in Augenschein. Etwas Argwöhnisches lag in seinem Blick. „Kommt darauf an.“

„Ich würde mir gerne das Heilende Herz ein wenig genauer ansehen.“

Wie schon gestern – oder besser gesagt heute in den frühen Morgenstunden – griff er sofort unbewusst danach. Seine Augen verengten sich leicht. „Wieso?“

Ohje, fürchtete er etwa, dass ich es ihm klauen würde? Dabei war ich es doch gewesen, die ihm den Ring erst gegeben hatte. „Wegen dem, was du gestern gesagt hast.“ Ich kniete mich vor das Bett. „Du hast gesagt, dass du glaubst, der Ring habe etwas damit zu tun, dass du dich bis jetzt nicht aufgelöst hast, dass du nur noch seinetwegen hier bist.“

„Und deswegen willst du ihn nun haben?“

„Nein, nicht haben, nur seine magische Beschaffenheit ansehen. Ich will versuchen, für uns alle solche Ringe herzustellen.“ Wie zum Beweis meiner Aussage präsentierte ich ihm die etwas deformierten Ringe, die ich vor Askea hatte retten können. „Ich will nicht, dass noch jemand verschwindet.“

Talita richtete sich ein wenig auf. „Kannst du das denn?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich hoffe es. Meine bisherigen Versuche waren nicht gerade von Erfolg gekrönt.“ Und das ist noch harmlos ausgedrückt. „Deswegen will ich mir den Ring ansehen. Ich will ihn kopieren.“

Kovu zögerte. Sein Blick ging zu Talita und Veith. Auch zu Fax huschte er einen Moment, bevor er ihn wieder auf mich richtete. „Ich kann ihn nicht abnehmen.“

Echt jetzt? Musste ich jetzt wirklich anfangen zu betteln? „Warum? Glaubst du, ich würde ihn dir nicht wiedergeben?“

„Darum geht es nicht. Wenn ich den Ring abnehme, breitet sich die Krankheit in Blitzgeschwindigkeit aus. Es kann passieren, dass ich den Ring abnehme und im gleichen Moment einfach tot umfalle, weil die schwarzen Pocken mich ohne ihn schon längst dahingerafft hätten.“ Nun befreite er sich von Talita und richtete sich auf. Dabei bemerkte ich sehr wohl, dass er es vermied, mich zu berühren. „Und davon abgesehen, bist du eine Hexe.“ Wieder huschte sein Blick zu Fax. „Noch dazu eine, die mit Dämonen verkehrt.“

Das wischte mir das Lächeln aus dem Gesicht. „Tu nicht so, als wären sie weniger wert als du.“

„Sie sind keine Mortatia“ hielt er dagegen.

„Hm, ja, da hast du wohl Recht. Sie sind keine Mortatia. Es waren wohl die Vorurteile, die sie zu dem gemacht haben, was sie heute sind und … Moment, hat man das mit dir und deinesgleichen nicht auch erst vor ein paar Jahren getan? Alle über einen Kamm geschert? Verfolgung? Gewalt? Ausschluss aus dem Codex? Na, klingelt es da bei dir?“

Er schaute mich an, und dann breitete sich sehr langsam ein Lächeln auf seinen Lippen aus, das ihn noch jünger wirken ließ. „Du bist zwar eine Hexe mit reichlich seltsamem Umgang, aber ich glaube, ich könnte dich mögen.“

Talita schüttelte den Kopf und kramte sich hinter ihm hervor. „Verhex ihn einfach. Am besten ein paar Hasenohren.“

„Hey!“, protestierte er.

Ähm … ja. Was sollte ich dazu noch großartig sagen? „Das heißt, ich darf mir den Ring ansehen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Wie schon gesagt, ich darf ihn nicht abnehmen.“

„Darf ich dann …“ Ich fasste nach dem Ring, hielt aber auf halbem Wege inne und sah ihn fragend an.

Wieder zuckte er nur mit den Schultern. Ich nahm jedoch deutlich wahr, wie sehr er sich anspannte, als ich das warme Metall in seiner Halsbeuge berührte.

„Keine Sorge“, tröstete ich ihn, „das wird nicht wehtun. Ich muss nur sehen, welches Muster sie gewebt hat und wie der Zauber darin eingeflochten ist.“

So genau wie er meine Hände in Auge behielt, glaubte er mir wohl nicht.

Talita stieß ihn sanft mit der Schulter an. „Hast du etwa Angst vor kleinen Mädchen?“

„Nein, ich traue nur keiner Hexe.“

„Ich werde das jetzt einfach mal nicht als Beleidigung auffassen.“ Meine Augen schlossen sich flackernd. Die Magie im Inneren eines Objekts zu sehen, hatte weniger etwas mit den Augen zu tun als mit dem Gefühl. Es war, als würde man eine Form mit dem Geist ergründen und sie auf ihre Beschaffenheit prüfen. Hörte sich im ersten Moment einfach an, war es aber nicht. Es gehörte sehr viel Konzentration dazu, und auch, wenn ich die letzten Tage immer mal wieder gezaubert hatte, wurde mir schnell klar, dass ich doch ein bisschen aus der Übung war.

Ich beugte mich so weit vor, dass ich seine Körperwärme spüren konnte. Und auch, wie er sich von mir wegbeugte – immer weiter.

Talita lachte.

Langsam, so als würde etwas aus den Tiefen des Wassers aufsteigen, begann sich ein kompliziertes Muster auf meinem inneren Augenlid abzuzeichnen. Eine dreifache Schlaufe mit einem Knoten, den ich noch nie gesehen hatte. Ich folgte dem Verlauf. Der Zauber war nicht auf den Ring gerichtet, sondern so gewebt, dass Zacken aus Magie um ihn in der Luft schwebten – innen und außen. „Das wird schwierig“, sagte ich leise.

Kovu knurrte leise.

Ich schlug verwirrt die Augen auf. „Was …? Huch!“

Jemand packte mich unter den Achseln und zog mich auf die Beine. Der Ring rutschte aus meinen Fingern, als ich den Boden unter den Füßen verlor und durch den Raum getragen wurde. Erst auf der anderen Seite des Zimmers wurde ich wieder abgestellt. Ich musste mich gar nicht erst umdrehen, um zu wissen, dass es Askea war. Ich tat es trotzdem. Hätte ich es mal gelassen!

So böse, wie er mich anfunkelte, blieb mir jedes Wort in der Kehle stecken. Und ihm jetzt einen Vorwurf zu machen, würde nur wieder zum Streit führen. Stattdessen drehte ich ihm lieber wieder den Rücken zu und ließ mich auf Fax‘ Bett nieder.

„Und?“, fragte Talita, als wäre Askea einfach Luft. „Glaubst du, dass du den Zauber kopieren kannst?“

„Ich weiß es nicht.“ Ich klimperte mit den Ringen in meiner Hand. „Ich werde es auf jeden Fall versuchen.“

Askeas Grollen wurde von mir rigoros ignoriert. Ich verstand ihn ja, aber ich hatte einfach keine Lust mehr, mich mit ihm zu streiten.

„Aber selbst, wenn ich den Schutzzauber hinbekomme, ist das noch lange keine dauerhafte Lösung.“

„Wie meinst du das?“, wollte Talita wissen.

Veith gab ein „Uff“ von sich, als Seraphine durch den Raum schoss, etwas umständlich aufs Bett kletterte und sich bäuchlings auf seinen Schoß fallen ließ – etwas, das sie sehr gerne tat. Sie setzte sich auf und schaute dann ihren Onkel erwartungsvoll an.

„Na ja,  dieser Schutzzauber ist nur nötig, weil mit der Magie etwas nicht stimmt. Dieser Ring wäre …“ Wie erklärte ich das am besten? „Das ist, als wäre die Welt krank und das Verschwinden der Leute eines der Symptome. Dieser Ring heilt also nur ein Symptom, aber nicht die Krankheit.“ Ich schaute zu Veith, der etwas hilflos herauszufinden versuchte, was mein Phinchen von ihm wollte. „Du sollst Grimassen schneiden.“

Sein verständnisloser Blick ließ mich lächeln.

„Das ist ein Spiel, das du ihr beigebracht hast. Du schneidest eine Grimasse und sie macht sie nach.“

Dem Unverständnis folgte skeptischer Zweifel.

Talita währenddessen wirkte nicht viel überzeugter – weniger wegen der Grimassen, sondern wegen der Krankheit. „Du willst also, dass wir die Krankheit diagnostizieren und heilen? Ist das dein Ernst?“

„Ja“, kam es ganz direkt von mir. „Ich habe die halbe Nacht darüber nachgedacht. Es muss für all das einen Grund geben. Ich meine, nichts passiert ohne einen Grund. Alles hat eine Ursache. Und wenn wir die finden, können wir vielleicht all das wieder rückgängig machen.“

„Du meinst …“, Kovu zögerte, „das Rudel würde zurückkehren?“

„Vielleicht. Vielleicht heilt der Wald wieder, vielleicht können wir es aber auch einfach nur aufhalten. Aber wir müssen es wenigstens versuchen, sonst wird es so weitergehen. Und dann … Es könnte noch schlimmer werden. Viel schlimmer.“ Grauenhafte Vorstellung.

„Und was sollen wir versuchen?“

„Die Ursache finden.“

„Und die wäre?“

„Das müssen wir eben herausbekommen. Wenn wir den Grund kennen, können wir das alles vielleicht stoppen.“

Kovu schnaubte ungläubig. „Wir?“

„Na, irgendjemand muss es ja tun.“ Und so, wie die magische Welt im Moment drauf war, konnte ich sie einfach nicht lassen. Ich liebte diese Welt. Die Wesen hier faszinierten mich, und außerdem war das Askeas Heimat. Das war wohl der wichtigste Grund für mich. Wenn ich irgendwann wieder durch den Spiegel stieg, würde Askea mich nicht begleiten. Das hier war seine Welt, sein Zuhause, und egal, wie grausam es mitunter zu ihm war, er würde es nicht verlassen wollen. Ich konnte nicht gehen, bevor ich mir nicht sicher war, dass es ihm gut gehen würde.

Deswegen ignorierte ich auch seinen bohrenden Blick und schaute stattdessen zu Veith, der zögerlich eine Grimasse schnitt, die Phinchens sofort begeistert nachahmte.

„Und wie sollen wir mit der Diagnose beginnen?“, wollte Talita wissen. „Es ist ja nun nicht so, als könnten wir einfach ein MRT oder sowas machen und die Organe der magischen Welt durchleuchten oder einen Bluttest durchführen.“

Nein, wahrscheinlich nicht. „Am besten wäre es, wenn wir den Ursprung finden würden, den Ort, an dem alles begonnen hat.“

Kovu lehnte sich zurück an die Wand. „Also finden wir erst den Ort und dann die Krankheit. Ein Klacks, würde ich sagen.“

„Sarkasmus ist ein Schutzmechanismus, um seine Angst zu kaschieren“, teilte ich ihm mit.

Er zog einen Flunsch.

„Was wir herausfinden müssen, ist, wie es angefangen hat, wo es angefangen hat, wann die ersten Seltsamkeiten aufgetreten sind und welcher Art sie waren.“

„Wenn das alles ist.“ Talita seufzte. „Aber es stellt sich trotzdem die Frage, wie wir das herausbekommen. Ist ja nun nicht so, als würden dafür Flyer verteilt werden.“

„Wie kommt ihr eigentlich darauf“, fragte Veith da unvermittelt, „dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, genau das zu tun? Diese magischen Ereignisse laufen jetzt schon seit einigen Jahren. Es gibt sicher Leute, die sich bereits mit diesem Problem beschäftigen.“

„Sehr erfolgreich“, kommentierte ich ein wenig zu spitz und ignorierte den beißenden Blick. „Ihr versteht das nicht, weil ihr die Magie nicht so spüren könnt wie ich. Sie ist … Na ja, sie ist wie ein eigenständiges Wesen. Sie kann denken, wenn auch anders als wir, und kein Wesen, das halbwegs bei Verstand ist, tut etwas ohne ersichtlichen Grund.“

„Du meinst, die Magie ist verrückt geworden?“ Kovu lachte scharf auf. „Da kann ich dir nur zustimmen.“

„Nein, das habe ich nicht gemeint. Ich meine, dass es eine Ursache dafür geben muss, dass die Magie sich so verhält und sich praktisch selbst zerstört.“

Talita schüttelte den Kopf. „Die Magie zerstört sich nicht selbst; sie zerstört das, was sie geschaffen hat.“

„Und alles in dieser Welt besteht aus Magie, wurde aus ihr geschaffen und ist somit Magie, also zerstört die Magie sich auch selbst“, hielt ich dagegen. „Verstehst du, was ich meine?“

„Also, ich verstehe es und muss ihr Recht geben“, stimmte Kovu mir zu.

„Nur leider hilft uns das auch nicht weiter.“ Talita seufzte. „Solange wir keinen Anhaltspunkt haben, der uns den Weg weist, ist dieses Gespräch überflüssig.“

Überflüssig? „Nur wenn wir aufgeben, bevor wir begonnen haben. Wir müssen einfach herausfinden, wo die ganze Sache angefangen hat. Das wäre zumindest schon mal ein Schritt in die richtige Richtung.“

„Ja, aber wo?“, wollte Talita wissen.

„Ich weiß es nicht.“ Es könnte wohl überall begonnen haben. Solange wir nicht wussten, mit was genau wir es zu tun hatten, gab es nicht wirklich einen Hinweis, an dem wir ansetzen konnten. Aber wie Veith schon gesagt hatte, gab es sicherlich noch mehr Leute, die versuchten, das Problem in den Griff zu bekommen. Oder wenigstens Aufzeichnungen über den Verlauf … Natürlich! „Der Hohe Rat.“ Ich schaute zu Talita. „Damals bin ich mit den Jägern nach Sternheim gegangen. Kiran hat darauf bestanden, dass wir den Hohen Rat über den kranken Wald und den Drachen informieren. Wir waren bestimmt nicht die Einzigen, die sich an ihn gewandt haben. Vielleicht können die uns weiterhelfen.“

„Nein, können sie nicht“, warf Kovu ein.

„Natürlich. Wir müssen nur fragen und –“

„Nein.“ Kovu schüttelte den Kopf. „Schon vergessen? Es gibt keinen Hohen Rat mehr.“

Verdammt! Aber … „Das vielleicht nicht, aber sie haben sicher Aufzeichnungen über die Vorgänge gemacht. Wir müssen sie nur finden.“

Talita zweifelte. „Wenn der Hohe Rat nicht mehr existiert, hat sich bestimmt jemand anderes diese Aufzeichnungen zu eigen gemacht.“

„Dann müssen wir den eben finden.“

Kovu gab etwas wie ein Lachen von sich. „Also noch etwas, das wir auf unsere Liste setzen müssen.“

„Du bist nicht wirklich hilfreich“, informierte ich ihn, woraufhin er mir ein zähnebleckendes Lächeln schenkte, dem etwas Psychopathisches anhaftete.

„Ich zeige dir nur die Fehler in deinen Überlegungen.“

Was mir auch nicht wirklich half.

„So kommen wir nicht weiter.“ Talita blies sich eine blonde Strähne aus den Augen. „Wir brauchen jemanden, der sich mit Magie auskennt.“

„Hallo?“ Ich winkte und zeigte dann auf mich. „Hexe.“

„Ja, ich weiß, aber deine Zeit in dieser Welt war noch kürzer als meine. Du verstehst vielleicht ein bisschen mehr davon als wir, aber ein Überflieger bist du sicher nicht.“

Autsch. Das tat weh, auch wenn sie Recht hatte. „Und was schlägst du stattdessen vor?“

„Wir brauchen jemanden, der wirklich Ahnung von der Materie hat, einen großen Zauberer oder eine herausragende Hexe. Jemanden wirklich Vorbildliches in diesem Zweig der Magie.“

Ja, das wäre wirklich vorteilhaft, nur … „Wo finden wir so jemanden?“ Ein Name erschien in meiner Erinnerung. Ich wischte ihn sofort beiseite. Nie und nimmer würde ich an diese Tür klopfen und um Hilfe bitten.

„Gaare war ein großer Magier“, sagte Kovu und schaute zu Talita. „Nur glaube ich nicht, dass er sehr hilfsbereit wäre.“

Gaare, Gaare … Wo hatte ich diesen Namen schon mal gehört? „Ist das nicht der alte Magier, der die Rasse der Lykaner auslöschen wollte?“

„Eben der“, brummte Talita und zog eine Grimasse.

„Ich denke nicht“, meinte Veith langsam, „dass Gaare ein Interesse daran hat, uns zu helfen.“

Das vielleicht nicht, aber es war schließlich auch seine Welt, die hier den Bach runterging. „Ist es nicht einen Versuch wert?“, fragte ich.

„Nur als letzter Ausweg.“ Talita verlagerte unruhig ihr Gewicht. „Und davon abgesehen, müssten wir ihn auch erstmal finden.“

„Und dann ist es auch noch fraglich, ob es ihn überhaupt noch gibt“, fügte Kovu hinzu.

Die beiden waren wirklich große Meister darin, jemanden aufzubauen. „Wenn er wirklich ein so großer Zauberer ist, wie ihr sagt, dann hat er sich doch sicher mit einem Schutzzauber versehen.“

So wie Talita sich wand, war das wohl kein Thema, mit dem sie sich allzu genau befassen wollte. „Vielleicht, aber wir sollten ihn trotzdem nur als letzten Ausweg nehmen. Gaare kann man nicht trauen.“ 

Da hatte sie wohl Recht. „Wer kommt denn sonst noch in Frage?“

Kovu blickte zu Talita. „Wie wäre es denn mit den Hexen, die dir damals geholfen haben?“

„Du meinst Boudicca?“ Sie richtete sich ein wenig gerader auf. „Natürlich, die Schwestern des schwarzen Mondes.“

Oh. „Ähm …“

„Boudicca ist eine sehr starke Hexe.“ Talita wurde richtig aufgeregt. „Und sie hegt uns gegenüber keinen Hass, nicht so wie Gaare. Bei ihr hätten wir vielleicht mehr Glück.“

„Falls es sie noch gibt“, wandte Veith ein.

Das ließ Talitas Hochgefühl ein wenig sinken. „Es muss sie noch geben.“

„Selbst wenn nicht“, sagte Kovu, „war sie Teil eines riesigen Zirkels – des größten dieses Kontinents. Da muss noch jemand übrig sein, mit dem wir sprechen können.“

Plötzlich waren die beiden Feuer und Flamme. Jetzt, wo sie scheinbar einen Weg gefunden hatten, schienen sie voller Tatendrang. Es war wohl die Hoffnung, dass sie doch etwas bewirken konnten, und auch der Wunsch, das Rudel zurückzubringen.

„Ihr vergesst da nur eine Sache“, unterbrach Veith ihre Euphorie. „Hexen sind mächtig, noch mächtiger als Magier. Außerdem sind sie sehr heimlichtuerisch und teilen ihr Wissen nicht gerne.“

„Du hast Recht.“ Talita verzog nachdenklich die Lippen. „Aber sie kennen uns. Wir sollten es auf jeden Fall versuchen.“

„Außerdem“, fügte Kovu hinzu, „haben wir auch eine Hexe. Mit ihr werden sie schon sprechen.“

Alle Blicke richteten sich auf mich, und erst jetzt schien ihnen aufzugehen, dass ich ziemlich ruhig geworden war. Es war nicht so, dass ich etwas gegen den Zirkel hatte, nur … Na ja, unsere einzige Begegnung war nicht wirklich unkompliziert gewesen. Von der Tatsache abgesehen, dass dort Ashas Schwester lebte, hatte ich das Oberhaupt auch ziemlich vor den Kopf gestoßen, indem ich sie der Lüge und des Neides bezichtigt hatte.

„Was meinst du?“, wollte Talita wissen.

„Wenn die Hexen einen Ausweg aus all dieser Zerstörung wüssten, hätten sie dann nicht schon geholfen?“

Sie runzelte die Stirn. „Du willst nicht?“

„Hm, das ist es nicht. Ich weiß nur nicht, wie sie mich empfangen werden. Ich war ein wenig … stur.“

„Du kennst sie.“

„Ein wenig“, räumte ich ein.

„Das ist gut.“ Talita richtete sich ein wenig gerader auf. „Außerdem, Fragen kostet ja bekanntlich nichts, und da Tia eine Hexe ist, sind sie vielleicht auch bereit, mit uns zu sprechen.“ Sie sah mich so flehend an, dass ich unmöglich Nein sagen konnte.

„Ich denke … Na ja, einen Versuch ist es sicher wert.“ Mehr als mir die Tür vor der Nase zuschlagen, konnten sie eigentlich auch nicht tun. Okay, konnten sie schon, aber ich vertraute einfach mal darauf, dass sie es nicht tun würden. Hexensolidarität sozusagen.

„Dann haben wir also einen Plan.“ Talita sprang auf. „Am besten machen wir uns gleich morgen früh auf den Weg, heute ist es schon zu spät.“

„Wir können schauen, ob wir noch einen Kinderzug finden. Dann geht es schneller.“

Sie nickte. „Gute Idee.“

„Ähm“, machte Kovu da und blickte etwas unbehaglich in Askeas Richtung. „Und was machen wir mit ihm?“

Ich kniff die Augen leicht zusammen. „Was glaubst du denn? Er kommt mit.“

„Und du glaubst wirklich, dass wir uns mit jemandem wie ihm in der Stadt blicken lassen sollten?“

„Was ist denn mit ihm?“

„Er ist ein Dämon.“

„Offensichtlich“, bemerkte ich trocken. „Sonst noch was?“

Kovu schien sich nicht recht wohl in seiner Haut zu fühlen, aber ich würde es ihm sicher nicht einfacher machen. Ich hasste diese Vorurteile gegen Dämonen und würde niemanden mehr darin unterstützen – diese Zeiten waren lange vorbei.

„Dämonen sind nicht sehr beliebt.“

„Lykaner auch nicht, und auch ihr werdet mitkommen. Außerdem, selbst wenn ich das nicht wollte, würde er es tun. Und da es nun einmal wahrscheinlicher ist, dass die Hexen des schwarzen Mondes mit mir sprechen als mit euch, wirst du dich mit seiner Anwesenheit wohl abfinden müssen.“

Er zuckte mit der Schulter. „Soll mich nicht stören. Ich wollte nur darauf hinweisen.“

„Wo wir das nun geklärt haben“, unterbrach Talita, bevor ich noch etwas sagen konnte, „sollten wir uns einen Plan zurechtlegen. Wenn wir morgen früh aufbrechen, können wir die Stadt vielleicht sogar schon am Abend erreichen. Gehen wir dann direkt zum Zirkel?“

„Ja“, bestätigte ich. „Am besten ist es, wenn ich –“

„Das reicht!“, fauchte Askea in diesem Moment. Er sah so wütend aus, als wollte er gleich jemanden bei lebendigem Leibe verspreisen. „Du brauchst nicht in die Stadt zu gehen, denn es wird sowieso nichts bringen! Und du stürzt dich damit nur unnötig in Gefahr!“

„Es wird was bringen“, erwiderte ich ganz ruhig. Es musste einfach etwas bringen! Ich musste diese Sache in Ordnung bringen – für ihn und Fax. Ich musste dafür sorgen, dass sie sicher waren. Wenn er deswegen sauer auf mich war, würde ich das in Kauf nehmen.

„Nein, wird es nicht!“ Er richtete sich halb auf und wirkte dadurch noch bedrohlicher. Kovu knurrte sogar. „Wir haben gesagt, wir gehen zum Lager und dann zurück in die Wüste. Es war nie die Rede davon, dass du dich weiter in der Weltgeschichte herumtreibst! Der kleine Hund hat ganz Recht, ich kann nicht einfach so in eine Stadt spazieren. Das müsstest du doch am besten wissen!“

„Hey, ich bin kein Hund!“

Niemand schenkte Kovu Beachtung.

„Askea, so wie es im Moment ist, wird niemand darauf achten, wer oder was du bist. Es ist ja nun nicht so, dass ich bei den Hexen einziehen will. Wir werden uns nur mit ihnen unterhalten.“

„Und was dann? Wirst du die Welt retten?!“ Er beugte sich zu mir vor. „Ich will dir mal etwas verraten: Niemand, der dieser Welt etwas Gutes bringen wollte, hat es je geschafft.“

 „Aber ich kann nicht dabei zusehen, wie alles den Bach runtergeht.“

„Doch, genau das wird geschehen, ganz egal, was du tust“, prophezeite er mir. „Und ich werde nicht tatenlos dabei zusehen, wie du mit ihr untergehst.“

Mein Geduldsfaden riss. „Aber ich soll zusehen, oder was?!“

„Ja, genau das wirst du tun.“

„Du bist so ein sturer Esel! Warum kannst du nicht einsehen, dass es das Richtige ist?“

„Weil es das nicht ist!“, fauchte er mich an und zeigte mir die Fänge.

Seraphine gab ein klägliches Wimmern von sich.

Mein Blick schnellte zu ihr. Sie drückte sich an Veith und starrte uns mit weitaufgerissenen Augen an. Auch Fax schien sehr unruhig.

Das hier war wohl nicht das richtige Umfeld für ein solches Gespräch. Ich überlegte nur einen Moment, dann griff ich Askea bei der Hand und zerrte ihn mit nach draußen, damit wir uns ungestört unterhalten konnten.

Die Wut, die von ihm ausging, konnte ich körperlich fühlen. Es war die Hitze, die er ausstrahlte – mehr noch als sonst. Er war ein Rubin.

Warum tat er das bloß? Warum versuchte er sich ständig mit mir zu streiten und aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen? So wie er sich hier aufführte, musste da mehr als nur unser bevorstehendes Abenteuer dahinterstecken, und ich würde jetzt herausbekommen, was es damit auf sich hatte.

Erst als wir zwischen die Bäume getaucht waren, ließ ich ihn los und wirbelte zu ihm herum. Das hier, diese ganzen Streitereien, musste endlich aufhören. „Was ist eigentlich dein verdammtes Problem?“

„Das habe ich dir ja wohl mehr als deutlich gesagt.“ Seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Nicht nur, dass du an dieses sinnlose Unterfangen gehen willst, du riskierst dabei auch noch deine Gesundheit, ja, sogar dein Leben. Statt hier die Heldin zu spielen, solltest du dir lieber einen Spiegel suchen und nach Hause gehen.“

„Aber das kann ich nicht!“, fauchte ich ihn an, und hatte auf einmal das unbändige Verlangen, ihn zu schlagen. „Seit drei Jahren bin ich nur noch ein Schatten meiner selbst. Jeden Tag habe ich mich nach dir gesehnt, und wäre Seraphine nicht gewesen, weiß ich genau, dass ich schon lange aufgegeben hätte! Jetzt bin ich hier und sehe die Gefahr; ich sehe, was dir und Fax droht, und deswegen kann ich nicht einfach gehen!“

„Aber du musst“, sagte er ganz ruhig.

„Nein, muss ich nicht! Ich muss hier bleiben und dafür sorgen, dass ihr sicher seid! Ich muss Talita helfen! Dieses Rudel bedeutet ihr so viel. Ich kann nicht einfach gehen, versteh das doch!“

Er musterte mich. Sein Verhalten war viel zu ruhig für die Hitze, die er abstrahlte. Aber es war nicht nur Wut, es war so viel mehr. „Ich werde dich zwingen zu gehen.“ Diese Worte verließen seinen Mund ganz leise.  

Das war wie ein Schlag ins Gesicht. „Du kannst mich nicht zwingen.“

„Nicht mit der Markierung, da hast du Recht. Aber erinnere dich nur an das letzte Mal. Ich war es, der dafür gesorgt hat, dass du heute noch lebst. Und ich werde auch weiterhin dafür sorgen – ob du nun willst oder nicht.“

Unwillkürlich wich ich einen Schritt vor ihm zurück. Er hatte Recht. Als ich das erste und einzige Mal nach Hause zurückgekehrt war, war das sein Verdienst gewesen. Ich hatte nichts anderes mehr tun können, als sterbend auf dem Boden zu liegen, deswegen hatte Askea das Portal für mich geöffnet und mich durch den Spiegel gestoßen.

Ich traute ihm zu, dass er diese Prozedur wiederholen würde. Ob ich nun wollte oder nicht, wenn ich nicht aufpasste, konnte es durchaus sein, dass ich mich auf der falschen Seite des Spiegels wiederfand. „Das kannst du nicht tun.“

„Ich kann und ich werde.“

„Dann werde ich einfach wieder zurückkommen.“

„Es gibt Mittel und Wege, das zu verhindern.“

Was?! „Du lügst.“

„Wenn du dich damit besser fühlst, dann glaub das ruhig.“ Sein Blick wurde bohrend. „Ich werde kein weiteres Mal dabei zusehen, wie du langsam, aber sicher stirbst.“

Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Ich wollte ihn schlagen. Er sollte es endlich verstehen. Ja, vielleicht hatte er Recht und ich würde nichts ausrichten können, aber wenn ich es nicht versuchte, würde ich mir ewig Vorwürfe machen. Und er … Ihm war das völlig egal. „Warum bist du nur so stur?“

Was er dann sagte, verschlug mir erstmal die Sprache.  

„Ich bin halt nicht wie dieser Wolf.“

„Was?“ Diese wenigen Worte brachten mich so aus dem Konzept, dass ich im ersten Moment überhaupt nicht verstand, was er damit meinte, und auch im zweiten Moment tat ich mir damit schwer.

„Glaubst du, ich habe nicht bemerkt, wie du ihn und deine Schwester angesehen hast?“, fragte er leise. „In den Bergen und im Wald? Glaubst du, ich würde nicht sehen, wie dein Blick ständig an ihm hängt?“

Meine Schwester? „Redest du von Veith?“

Er bleckte die Fänge. „Stell dich nicht dumm, das passt nicht zu dir!“

Er meinte das wirklich ernst. Aber … Was?! „Ich hab nicht –“

„Belüg mich nicht!“ Er packte mich an den Oberarmen und rammte mich mit dem Rücken an den Baum. Es tat ziemlich weh. „Ich bin nicht blind.“

Das konnte doch nicht wirklich sein Ernst sein.

„Und jetzt willst du auch noch dein Leben riskieren, um diese bedeutungslosen Lykaner zu retten.“ Sein Griff wurde fester. „Dabei solltest du es in der Zwischenzeit besser wissen.“

Er glaubte, dass ich wegen der Lykaner hierbleiben wollte, wegen Veith. Das gab es doch wohl nicht! „Verdammt! Hier geht es um uns, nicht um Veith! Glaubst du, ich habe Interesse an dem Verlobten meiner Schwester?!“

„Nein.“ Sein Blick wurde dunkler. „Doch ich glaube, dass du möchtest, dass ich ein bisschen mehr wie er bin.“

Und in dem Moment verstand ich erst, worauf er genau hinauswollte. Dass ich Interesse an Veith hatte, war für ihn unvorstellbar, was er glaubte, war jedoch viel schlimmer. „Das ist doch Schwachsinn! Klar, Veith ist ein toller Typ, aber ich habe mich schon vor Jahren für dich entschieden! Und ja, er ist anders als du, aber das heißt noch lange nicht, dass er besser ist! Weder er noch Talita haben etwas mit unseren Problemen zu tun, das ist alleine eine Sache zwischen dir und mir und … Scheiße nochmal!“ Ich stampfte mit dem Fuß auf. „Warum bist du nur mit Nubia ins Bett gegangen?! Ja, ich weiß schon, aber das hilft mir nicht. Es tut weh, verstehst du? Das Wissen und die Vorstellung schmerzen so sehr, dass ich dich manchmal einfach hassen möchte, aber es geht nicht und –“

„Es tut mir leid!“ Er ließ mich so abrupt los, dass ich fast gefallen wäre, und strich sich wütend über den Kopf. „Ist es das, was du hören willst? Aber diese Entschuldigung ist wertlos! Es ist nun mal geschehen und nichts in dieser oder deiner Welt kann es rückgängig machen!“

Das Einzige, was ich nach diesen Worten tat, war ihn anzustarren. Beim besten Willen fiel mir absolut nichts ein, was ich dazu hätte sagen sollen. Aber etwas anderes wurde mir bewusst: Die ganzen Streits, sein Verhalten und die ständige Bevormundung … Es hatte gar nichts mit der Krankheit zu tun oder damit, was ich als nächstes vorhatte. Es hatte auch nichts mit Veith oder Talita zu tun. Nubia war das Problem. Askea hatte Angst, mich ihretwegen zu verlieren.

Er schüttelte den Kopf, als wüsste er selbst auch nicht mehr weiter. „Ich kann nur das sagen: Hätte ich gewusst, dass du zu mir zurückkehren würdest, hätte ich mich gewehrt und es niemals getan.“

Oh, dieser dumme, drakonische Dämon.

Noch bevor ich recht wusste, was ich da eigentlich trieb, hatte ich meine Arme um seinen Hals geschlungen und küsste ihn. Er strahlte eine solche Hitze aus, dass ich mich fast an ihm verbrannte, aber ich wich nicht zurück. Ich drängte mich ihm entgegen, bis auch er seine Arme um mich schlang – was vielleicht zwei Schrecksekunden dauerte. Dann erwiderte er den Kuss so heftig, dass sich in meinem Kopf alles drehte. 

Hast du sie geküsst?

Sie ist nicht du.

Nein, das hier gehörte uns alleine. Askea gehörte mir, und egal, was geschehen war, niemand würde sich noch einmal zwischen uns drängen können.

Als er mich an den Hüften packte und rückwärts stieß, hielt ich ihn so fest, dass er mitgezogen wurde. Er grollte leise und grub seine Hände in meine Taille. Seine Lippen lösten sich von meinem, zogen eine Spur über meinen Hals und legten sich auf das Mal.

Die Hitze, die im Moment der Berührung durch meinen Körper schoss, ließ mich aufkeuchen. Nicht nur mein Herzschlag raste, auch mein Puls würde sich so schnell nicht beruhigen.

Es war so lange her; meine ganze Sehnsucht schien in diesem Moment einfach explodieren zu wollen. „Küss mich“, verlangte ich.

Er fauchte. Seine Hand glitt zu meinem Schenkel und schob das Kleid hoch. Sein ganzer Körper strahlte eine Hitze aus, in der ich mich nur zu gerne sonnte.

„Tu es, Askea!“, verlangte ich und versuchte sein Gesicht zu mir zu drehen. Es war, als wollte man einen Berg mit bloßen Händen verschieben.

Der Fluss durch das Mal nahm zu. Mein Blut schien kurz vor dem Kochen zu stehen, und dennoch war seine Hitze genauso willkommen wie seine Nähe, die alle meine Sinne überflutete.

Meine Finger glitten über seinen Rücken. Dadurch, dass Seraphine seine Weste verbrannt hatte, hatte ich nun freien Zugang zu jeder Menge nackter Haut. Das kostete ich voll aus. Dass ich dabei nicht besonders sanft war, ließ ihn wieder grollen. Damit jagte er einen Schauder nach dem anderen über meinen Rücken.

Plötzlich packte er mich am Arm, drehte mich herum und presste mich mit dem Gesicht gegen den Baum. Keine Sekunde später war sein Mund wieder auf der Markierung und entflammte damit die Glut in meinem Inneren zu einem Waldbrand – keine besonders gute Metapher in einem Wald.

Ich spürte seine Magie in mich fluten. Seine Hand schob wieder mein Kleid hoch. Seine Berührungen sandten elektrische Stöße durch meine Haut, die jede Zelle meines Körpers in Aufruhe versetzten.

Es war herrlich.

Er drängte sich so fest gegen mich, dass ich mich an der rauen Rinde des Baumes abstützen musste. Doch so wunderbar dieser Moment auch war, ich wollte ihn auch berühren. Leider packte er mich umso fester, als ich versuchte mich zu drehen, und knurrte mich an. „Nicht“, zischte er an meiner Schulter.

Seine rechte Hand wanderte vorne an meinem Kleid hinauf und begann damit, die obersten Knöpfe zu öffnen. Die Berührung, die diese Handlung versprach, löste ein solch tiefes Sehen in mir aus, dass ich ihm am liebsten helfen wollte. Doch Askea hatte ganz andere Pläne mit mir. Er berührte meine Brust mit einer solchen Gier, dass mit der Atem stockte. Diese Lust und Erregung von ihm waren so greifbar, dass ich sie nicht nur auf der Zunge schmecken konnte – sie ergriffen Besitz von mir.

„Askea“, flüsterte ich, und wusste dabei selbst nicht so genau, was ich eigentlich von ihm wollte.

Ihm schien es nicht so zu gehen. Plötzlich zog er mich an den Hüften zurück und vereinigte uns auf die urtümlichste Art, die nur möglich war.

Mein Stöhnen ging in ein Keuchen über. Seine Magie machte es zu einem Erlebnis, wie man es nur einmal im Leben hatte. Obwohl … Mit diesem Dämon an der Seite konnte es durchaus sein, dass mir das öfter widerfuhr.

Als Askea sich so tief in mir vergrub, wie es nur möglich war, geriet mein Denken ins Taumeln. Ich konnte nichts weiter tun, als mich festhalten, zu fühlen und dabei zu hoffen, dass ich mich in diesem Augenblick nicht völlig verlor.

Ich war so allein gewesen. Drei Jahre. Ich hatte ihn so vermisst, hatte das hier vermisst. Alles an ihm hatte ich vermisst. Und so, wie er sich an mich klammerte, musste es ihm ganz genauso ergangen sein. Es schein, als würde er nie wieder von mir ablassen wollen – worüber ich mich nicht beschweren würde.

Als dann die Wogen über uns zusammenbrachen und ich mich darin zu verlieren begann, schlang er die Arme so fest um mich, als befürchtete er, ich könnte mich einfach auflösen. Aber ich löste mich nicht auf. Ich blieb hier bei ihm, halbnackt in seinen Armen, mitten im Wald, und versuchte langsam wieder zu Atem zu kommen und meine Beine dazu zu überreden, nicht zu Wackelpudding zu werden, wobei es dazu eigentlich schon zu spät war.

Noch immer strahlte er diese enorme Hitze ab, doch auch er wurde ruhiger. Der Zustrom seiner Magie nahm langsam ab und sein Körper erschauerte in den Nachbeben. Obwohl er mich praktisch gefangen hielt und nicht bereit war, mich in der nächsten Zeit loszulassen, konnte ich noch immer seine Furcht spüren.

Ja, es gab Gründe, die uns zu diesem Moment geführt hatten, und die durften wir trotz allem nicht aus den Augen lassen. „Vielleicht kann ich nichts ausrichten“, flüsterte ich, „aber wir können uns doch wenigstens Gewissheit verschaffen.“

Seine Lippen lösten sich und er spannte sich deutlich an, blieb aber still.

„Du musst es einsehen, Askea. Wenn es so weitergeht, wird die Magie langsam, aber sicher alles zerstören, was wir kennen.“ Inklusive ihm und Fax. Das konnte ich nicht über die Lippen bringen. „Willst du das?“

Er grollte leise und drückte sein Gesicht in mein Nacken. Dann sprach er das eine Wort, das unsere Zukunft besiegelte. „Nein.“

 

°°°°°

Tag Acht

 

Verwaschenes Braun; das war der Farbton, den die schweren Wolken heute trugen. Obwohl es gerade einmal Mittag war, drang kaum ein Sonnenstrahl durch die dicke Decke hindurch. Doch in Anbetracht des Bildes, das sich uns bot, war das völlig bedeutungslos. Wir hatten vor einer halben Stunde Sternheim betreten, und was sich uns hier offenbarte, war so unfassbar, dass es uns allen die Sprache verschlagen hatte.

Die gläserner Stadt … Sie war verschwunden. Geblieben waren nur Ruinen. Zersplittertes Glas, wohin das Auge reichte. Die Straßen und Wege waren aufgerissen, ganze Gebäude eingestürzt. Trümmer und Chaos. Es erinnerte an eine Geisterstadt. Das Leben hier war zum Erliegen gekommen.

Doch noch viel hervorstechender als die Zerstörung und Verwahrlosung war die Verwüstung durch die Massen an Wurzeln und Ranken, die überall aus dem Boden hervorgebrochen waren. Sie verwandelten die Stadt nicht nur in unwegsames Gelände; sie verschlangen sie geradezu. Manche der Wurzeln waren so dick wie der Stamm eines Mammutbaumes. Wir mussten über sie hinüberklettern oder unter ihnen hindurchkriechen, um vorwärtszukommen.

Die Ranken kletterten an den Resten der Ruinen hinauf und schienen sie zu verschlingen. Es waren auch keine schönen Windungen, kein Efeu oder Wildreben, keine Kletterrosen, die nur so vor Farbenpracht strahlten. Genaugenommen gab es nicht einmal ein klein wenig Grün, nein, nichts als knochig-braune Ranken, die die Stadt unter sich zu begraben drohten. Selbst die Moose, Flechten und Fahne waren nichts weiter als vertrocknete und verkümmerte Parasiten, die sich an die Wurzeln klammerten, als wollten sie ihnen auch noch das letzte bisschen Leben aussaugen.

Wo bei meinem letzten Besuch in der Stadt Leben geherrscht hatte, war jetzt nichts weiter als eine trostlose Einöde. Die Schönheit war verblasst, die Vielfalt erloschen, das Leben verkümmert. Dies war nur noch eine verwilderte Ruine einer einstigen Zivilisation.

„Es sieht schlimmer aus als bei meinem letzten Besuch“, sagte Kovu und sprang aus dem Lauf heraus auf eine Wurzel, um darauf zu balancieren. Sie verlief parallel zu dem dürftigen Weg, der sich vor uns offenbart hatte. Hier waren die Wurzeln nur spärlich aus dem Boden gebrochen. Man konnte problemlos über sie hinübersteigen. „Der Park breitet sich immer weiter aus.“

„Der Park?“ Ich schaute zu ihm auf. Dabei stieß ich wie zufällig gegen Askeas Arm. Seit dem Abend vor zwei Tagen war er mir ständig so nahe, dass unsere vielen Berührungen kein Zufall mehr sein konnten. Und ich genoss es.

„Der Dschungelpark“, erklärte Kovu. „Nachdem dieser Ruck durch die Welt gegangen ist, begann er sich auszubreiten. Anfangs hat der Hohe Rat wohl noch versucht, ihn durch Zauber einzudämmen und die Wildwuchse zu entfernen, aber das war einfach nur ein besserer Dünger für die –“

„Moment“, unterbrach Talita ihn. „Du meinst … das alles hier ist der Dschungelpark?“

„Das habe ich ja wohl gerade gesagt.“

Talita wirkte fassungslos. „Aber der Park … Er ist am anderen Ende der Stadt und … nicht so düster.“

„Ich weiß.“ Er sprang wieder auf den Boden und lief neben seinem Bruder her. „Als wir nach Pal gesucht haben, mussten wir an ihm vorbei. Hindurch kommt man nicht mehr, viel zu gefährlich.“

Diese Unterhaltung verwirrte mich ein wenig. „Soll das heißen, in dieser Stadt gibt es ein Dschungel?“

„Nur einen kleinen“, murmelte Talita gedankenverloren.

Kovu schnaubte. „Klein ist der sicher nicht mehr. Er hat sich über die ganze Stadt ausgebreitet. Die Gebiete um sein Zentrum herum sind aber viel schlimmer betroffen. Das hier sind nur die Ausläufer.“

Wenn das hier nur die Ausläufer waren, wollte ich gar nicht wissen, wie es im Zentrum aussah. Schon das hier kam einem kaum zu durchdringenden Urwald nahe. In Ordnung, ganz so schlimm war es dann doch nicht, aber als ‚ländlich‘ würde ich diesen Teil der Stadt mit Sicherheit nicht bezeichnen – oder als ‚gepflegt‘.

„Wie ist das nur möglich?“, fragte Talita leise. Sie hatte hier gewohnt und gearbeitet. Sie hatte hier gelebt und geliebt. Dieses Ausmaß an Zerstörung war für sie unbegreiflich.

Ich dagegen hatte eine Ahnung, wie es geschehen sein konnte. „Es hat schon begonnen, als ich das letzte Mal hier war.“ Ich drückte Fax‘ Hand und schaute zu Askea auf, der Seraphine auf dem Arm trug. „Aber dass es so schlimm werden würde … Es ist unfassbar.“

Talita fasste mich ins Auge. „Was meinst du damit, dass es schon bei deinem letzten Besuch begonnen hat?“

„Genau das, was ich sage.“ Ich stieg über eine Wurzel und war froh, dass Kovu mir im Lager der Lykaner ein paar Schuhe gegeben hatte. So viel Glas, wie hier wuchs … Ich wollte gar nicht wissen, wie meine Füße ohne Schuhe aussehen würden. Andererseits liefen alle unsere Männer barfuß durch die Stadt und hatten noch kein blutiges Hackfleisch an den Beinstumpen. „Bei meinem Besuch hier sind die Magieadern aufgebrochen und haben ein heilloses Chaos veranstaltet.“

Veith wandte sich mir einen Augenblick zu. „Wie können die Magieadern einfach aufbrechen?“

Ich zuckte ahnungslos mit den Schultern. „So genau weiß ich das nicht. Vielleicht lag es an dem Erdbeben. Der Boden ist aufgebrochen und hat sie freigelegt. Aber wirklich gelöst habe ich dieses Rätsel nie.“ Was mir in diesem Moment ziemlich töricht vorkam. Ich hätte wirklich genauer nachforschen, mehr Fragen stellen und Antworten finden sollen. Ich hätte mich nicht so in die Irre führen lassen und Amir das Recht geben dürfen, mich zu bevormunden. Es war nicht einfach, das einzugestehen, aber Amir hatte Recht gehabt: Ich war wirklich nicht mehr als ein kleines Mädchen gewesen.

Indem ich rasch hinzufügte: „Ich kann dir nur sagen, dass es so gewesen ist“, versuchte ich diese Gedanken abzuschütteln. Die Erinnerung daran verharrte noch heute in meinem Gedächtnis, als wäre es gerade erst geschehen. Wie sollte dem auch nicht so sein? Schließlich war das der Grund für meinen raschen Zerfall gewesen – von meinem drohenden Tod in diesem Moment einmal ganz abgesehen.

Mist. Das mit dem Gedanken abschütteln klappte wohl doch nicht so gut.

Wieder rempelte Askea mich leicht an und sandte mir damit seine Hitze.

„Vielleicht waren das ja wirklich die ersten Hinweise auf die drohende Katastrophe“, überlegte Kovu.

Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Das ist durchaus möglich. Die Hexen und Magier hatten damals jedenfalls alle Hände voll zu tun, die Risse in der Membrane wieder zu schließen. Wilde Magie ist nämlich kein Streichelzoo mit Bugs Bunny. Oder Tweety.“ Ich liebte Tweety. Wäre ich nicht so verantwortungsbewusst, hätte ich Seraphine wahrscheinlich so genannt.

„Würde ich diese Anspielung verstehen, wäre sie sicherlich witzig“, kommentierte Kovu und lächelte dabei so unbeschwert, dass er einen fast über seine Gemütsverfassung hätte hinwegtäuschen können, wären da nicht die dunklen Ringe unter seinen Augen oder die ausgemergelte Gestalt.

„Sind wir noch auf dem richtigen Weg?“, wollte Askea wissen. Seit wir die Stadt betreten hatten, war er nicht nur in eine angespannte Wachsamkeit verfallen, sondern auch noch überaus nervös. Jede Bewegung, jeder Schatten und Windzug machten ihn unruhig.

„Ich glaube schon.“ Talita prüfte unsere Lage, die überwucherten Straßen und zerfallenen Gebäude um uns herum. Sie schaute ein paar Elfen in lumpigen Kleidern hinterher, die eilig durch die Schatten huschten.

In der letzten halben Stunde hatten wir immer wieder verwahrloste Gestalten und gehetzte Individuen gesehen, die durch die Straßen gestreift waren. Sie alle hatten den gleichen vom Leben gezeichneten Ausdruck: Furcht.

„Wenn ich mich nicht irre, müssten wir in der nächsten halben Stunde das Haus der Zirkelschwestern erreichen“, erklärte Talita. „Glaube ich.“ Sie kratzte sich am Kopf. „Aber so, wie es hier aussieht … Ich bin mir nicht ganz sicher.“

Ich griff nach Askeas Hand und drückte sie beruhigend, als seine wachsamen Augen sich einfach nicht von den Elfen losreißen konnten. „Sollen wir vielleicht mal nach einem Straßenschild Ausschau halten?“

„Nicht nötig.“ Veith blickte an dem gläsernen Hochhaus zu unserer Rechten hinauf. „Noch zwei Blocks, dann müssen wir nach links.“

Ich grinste ihn an. „Sagt dir das etwa deine Nase?“

„Nein, mein Orientierungssinn.“

Wie sich herausstellte, brachte uns sein Orientierungssinn nur einen Teilerfolg. Das konnte geschehen, wenn die magische Welt sich nicht mehr an Regeln halten wollte und alles Bekannte sich ununterbrochen veränderte. Daher passierten wir den ersten Block ohne weitere Besonderheiten. Den zweite jedoch gab es nicht mehr. Da, wo er sein sollte, waren nicht einmal mehr die Ruinen der Häuser übriggeblieben. Stattdessen wurde uns der Weg nun von einem See versperrt.

Auf der anderen Seite des Ufers konnte ich den Fortlauf der Stadt erkennen. Links und rechts jedoch … Ich sah weder den Anfang noch das Ende. Vielleicht war das ja doch kein See, jedenfalls nicht im üblichen Sinne.

„Das Wasser ist seltsam.“ Fax‘ Stimme war leise.  

Genau wie die anderen stand er unweit vom Ufer entfernt und starrte auf die samtweiche Oberfläche.

„Es wohnt etwas darin.“ Askeas Blick glitt wachsam über die glatte Ebene. Seraphine war noch immer auf seinem Arm. „Es beobachtet uns.“

„Okay.“ Talita rieb sich fröstelnd über die Arme und schaute sich unruhig um. „Bin ich die Einzige, die das gruselig findet?“

„Nein, bist du nicht.“ Kovu grinste sie an, doch auch in seinem Blick lag die Vorsicht eines Tieres, das die Gefahr witterte.

Am Ufer wuchs ein violettes Kraut, das einen süßlichen Duft absonderte. Es war der erste Farbtupfer, den ich in dieser Stadt neben dem tristen Grau und Braun bemerkte.

Ich hielt mich tunlichst davon fern.

„Die Schwestern des schwarzen Mondes leben auf der anderen Seite des Ufers“, erklärte Veith.

„Das heißt dann wohl, dass wir einen Weg hinüber finden müssen.“ Leider hatten die Architekten vergessen, eine Brücke über dem See zu errichten. Auch Schiffe lagen hier nicht vor Anker oder wenigstens ein großer Baum mit einer Liliane, an der wir uns auf die andere Seite schwingen konnten.

„Wie wäre es mit schwimmen?“, fragte Kovu.

Talita verzog angewidert das Gesicht. „Also solange da etwas lauert, würde ich nur ungern darin schwimmen gehen. Außerdem … Kann man darin überhaupt schwimmen?“

Das war eine ausgezeichnete Frage, denn wie Fax schon gesagt hatte: Das schwarze Wasser war seltsam, irgendwie nicht … nass. Ja, genau das war es. Das Wasser wirkte nicht nass. Die Oberfläche spiegelte nichts. Es wirkte viel mehr stumpf oder matt.

„Aber irgendwie müssen wir da rüberkommen.“ Veith sah sich nachdenklich um. Wurzeln wucherten über das Ufer und verschwanden in der Tiefe. Manche waren so dick, dass sie unser Gewicht problemlos tragen konnten, doch sie reichten höchstens ein paar Meter hinein.

„Wir könnten ein Floß bauen“, überlegte Kovu.

Ob das wirklich die Lösung war?

„Dazu bräuchten wir nur …“

Während die anderen weiter das Problem besprachen, trat ich näher an die Böschung heran, so weit, dass ich das Wasser locker berühren konnte. Auch das Ufer war trocken.

„Was tust du da?“, wollte Askea wissen.

Ich beachtete ihn nicht weiter, stattdessen nahm ich meinen Stab vom Rücken und hielt ihn ins Wasser. So zumindest war der Plan gewesen, doch … es klappte nicht. „Seht ihr das?“

Die Aufmerksamkeit fiel auf das Ende meines Stabs. Er berührte die glatte Fläche, aber er konnte nicht hineintauchen. Die Oberfläche sank unter ihm ein, als wäre sie aus besonders weichem Gummi oder Elasthan. Das Material – was immer es auch war – schmiegte sich perfekt an die Form meines Stabs.

Kovu verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich schätze mal, das ist kein Wasser.“

„Nein.“ Ich ging in die Knie und legte meinen Starb dabei neben mich. Dann streckte ich vorsichtig die Hand aus.

„Tiara“, knurrte Askea warnend.

Die anderen schienen einfach nur den Atem anzuhalten, während sie beobachteten, wie ich meine Hand auf die Oberfläche legte. Mein Herz schlug deutlich schneller, aber es geschah nichts. Es fühlte sich an wie … „Marshmallows.“ … Oder auch Schaumstoff, dabei aber fest und widerstandsfähig. Hauchdünn, samtweich und reißfest. Das war eine äußerst seltsame Beschaffenheit.

„Hä?“, machte Kovu. „Was soll Marsch-äh-irgendwas sein?“

„Das wollte ich auch gerade fragen“, erklärte Talita. „Na ja, bis auf den Teil mit den Marshmallows.“

„So fühlt es sich an“, sagte ich und strich mit der Hand über die Oberfläche. „Bis auf den klebrigen Zucker.“

Kovu schaute verständnislos zwischen uns hin und her. „Und nochmal: Was soll dieses Marsch-Dings sein?“

„Marshmallows sind eine Süßigkeit“, erklärte Veith. „Kleine weiße Schaumstücke aus Zucker und …“ Urplötzlich verstummte er, dann saß wieder seine ganz persönliche Falte zwischen seinen Augen.

Talita musterte ihn. „Woher weißt du das?“

„Keine Ahnung.“

Ich beugte mich ein wenig weiter vor. Unter dieser Elasthanhaut schien sich irgendwas zu regen. Ich sah nichts, da war eher so ein Gefühl, als würde …

Als sich plötzlich ein Gesicht von innen gegen die Oberfläche drückte, riss ich nicht nur meine Hand zurück, sondern fiel auch noch mit einem Schrei auf meinen Hosenboden und robbte rasch ein Stück rückwärts.

Alle zuckten zusammen. Talita machte sogar einen Satz zurück und Fax ging vor Schreck in Flammen auf.

Das Gesicht blieb noch eine Sekunde da, dann verschwand es wieder in der Tiefe. Mein Herz allerdings wollte sich nicht so schnell beruhigen. Es hämmerte so stark in meiner Brust, als wäre es auf der Flucht.

„Gott!“, fluchte Talita. „Musst du mich so erschrecken?!“

„Habt ihr das nicht gesehen?“ Dieses Bild brannte noch immer in meiner Netzhaut. „Da … da war etwas. Jemand. Es hat mich angestarrt.“

„Ich habe es gesehen“, sagte Fax und wich einen weiteren Schritt vom Ufer zurück. Er musste mehrmals tief durchatmen, um sein Feuer wieder zum Erlöschen zu bringen. „Es war ein Gesicht, das Gesicht einer Frau.“

Wow, darauf hatte er geachtet? Ich hatte einfach nur schnell weggewollt.

„Ich habe doch gesagt, darin wohnt etwas.“

„Eine Frau?“ Kovu sah zweifelnd drein.

„Ich habe nicht gesagt, dass es eine Frau war, sondern nur, dass es wie eine aussah!“, fauchte Fax und zeigte ihm die Fänge. Die waren noch nicht so beeindruckend wie die seines Vaters, aber die Geste dahinter war deutlich.

Kovu hob ergeben die Hände. „Ruhig Blut, kleiner Dämon.“

„Schluss!“, fauchte Askea, als Fax den Mund erneut öffnen wollte.

O-kay. Das war ungewöhnlich. Ich musterte meinen Ziehsohn. Er wirkte verärgert, irgendwie … frustriert, so als hätte Kovu ihn persönlich beleidigt.

Askea warf seinem Sohn einen warnenden Blick zu, dieser jedoch wandte sich einfach von ihm ab und kickte eine dicke Glasscherbe mit dem Fuß weg. Sie landete auf der Marshmallowhaut, verharrte dort einen Moment und wurde dann sehr, sehr langsam von der Masse geschluckt, bis nichts mehr von ihr zu sehen war. Danach wirkte die Fläche wieder unberührt.

„Das gefällt mir nicht.“ Talita schaute sich unruhig um. „Das ist nicht richtig.“

„Meinst du diesen See oder die ganze Situation?“ Ich erhob mich vom Boden und klopfte mir den Dreck von der Kleidung. Mein Herz hatte sich zwar immer noch nicht normalisiert, aber nun trommelte es wenigstens nicht mehr so wild in meiner Brust, als wollte es mir aus dem Hals hüpfen und die Flucht ergreifen.

„Es ist unnatürlich“, murmelte Veith.

Als ob wir das nicht bereits bemerkt hätten! „Und was machen wir jetzt? Hinüberschwimmen fällt jedenfalls aus. Sowohl mit als auch ohne Boot.“ Denn ein Boot oder Floß bedeutete noch lange nicht, dass das Etwas in diesem See uns nicht zum kentern bringen konnte. Und ein Bad in dieser Schaumstoffdecke wollte ich dann doch vermeiden. Aber wir mussten auf die andere Seite.

„Wir können ja am Ufer entlanglaufen und schauen, ob wir eine Brücke oder sowas finden“, schlug Talita vor.

Kovu spitzte die Ohren und schärfte seine Aufmerksamkeit. Die schien nicht mehr bei uns zu liegen, sondern bei einer großen Wurzel vor dem halbzerfallenen Hochhaus neben uns.

Ich schenkte dem nicht viel Beachtung. „Sowohl links als auch rechts kann ich nichts sehen, was auch nur andeutungsweise nach einer Brücke aussieht.“

Auch Askea und Veith schienen diese Wurzel plötzlich sehr interessant zu finden.

„Aber ich könnte versuchen, eine zu zaubern.“ Da ich mit einem Rüffel von Askea rechnete, warf ich ihm einen kurzen Blick zu, doch er konzentrierte sich immer noch auf das Bodengeflecht.

„So aus dem Nichts?“, fragte Talita.

Ich zuckte mit den Schultern. „Das würde wahrscheinlich auch gehen, aber einfacher wäre es doch, wenn ich das Material, das ich zur Verfügung habe, benutze. Wurzeln und Glasscheiben und … Was soll das werden?“ Ich stemmte die Hände in die Hüften, als Kovu in die Hocke ging und langsam Richtung Wurzel schlich. Askea hatte sogar die Fänge gebleckt und Seraphine in den linken Arm genommen. Rechts war seine stärkere Hand.

Kovu grinste mich breit an, rannte los, sprang auf die Wurzel und machte. „Buh!“

Hinter dem Geflecht erklang ein hoher, erschrockener Laut. In nächsten Moment sprang eine kleine, schmale Gestalt hervor, nahm die Beine in die Hand und rannte, was das Zeug hielt. Das Überraschende an dieser Situation war nicht, dass das kleine Männlein Fersengeld gab, sondern dass es direkt auf den See zulief und dann … einfach über ihn hinüber. Er rannte einfach mit einem Affenzahn über die Marshmallowoberfläche und war weg.

Da blieb mir glatt die Spucke weg.

Kovu sprang wieder hinunter. „Na, dann wissen wir jetzt wohl, wie wir am besten über den See kommen.“

Talita brauchte einen Moment länger als er, um sich von dem Schreck zu erholen. „War das ein Kind?“

„Ja.“ Kovu trat neben sie. „Der Kleine hat es wahrscheinlich auf unsere Taschen abgesehen.“

„Was?“ Halleluja, da war meine Stimme ja wieder!

„Schau nicht so entsetzt“, tadelte mich Kovu. „Die Struktur dieser Welt hat sich aufgelöst. Armut ist nun an der Vorherrschaft und, nun ja, wenn man Hunger hat, wird man auch mal zum Dieb.“

„Oh Gott“, war alles, was ich sagen konnte, als mir seine Worte deutlich bewusst wurden. Der kleine Junge hatte uns aufgelauert, um unsere Vorräte zu klauen. Und das nur, weil er Hunger hatte. Wahrscheinlich. Aber jetzt war er nicht nur ohne Essen davongelaufen, sondern hatte außerdem noch einen riesigen Schreck bekommen. Dabei war er … Er konnte kaum älter als Fax gewesen sein.

Aus einem Impuls heraus legte ich meinem kleinen Jungen den Arm um die Schulter und zog ihn an mich. Er ließ es zu und schien den Schutz zu genießen.

„Das ist grausam“, sagte Talita.

„Und wir können nichts dagegen tun“, fügte Veith pragmatisch hinzu.

„Jedenfalls nicht, wenn wir weiter nur hier herumstehen und Reden schwingen.“ Ich wandte mich wieder zum Wasser um – oder was auch immer dieser See beherbergte. „Er ist einfach darübergelaufen.“

„Und so, wie du schaust, willst du, dass wir nun das Gleiche versuchen.“ Kovu verzog das Gesicht.

„Na ja … ja.“ Ich zuckte mit der Schulter. „Bei ihm hat es doch geklappt.“

„Aber das heißt noch lange nicht, dass es auch bei uns klappt“, kritisierte Talita meinen Plan. „Oder dass das Ding, das darin haust, nicht einen nach dem anderen von uns schnappt und in die Tiefe reißt.“ Sie drängte sich ein wenig an Veith. „Ich will in keinem Marshmallowsee verloren gehen.“

Irgendwie hatte diese Vorstellung schon etwas Faszinierendes. „Aber wir können auch nicht ewig hier rumstehen.“

„Du hast Recht.“ Askea schaute von mir und Fax zu Talita und Veith. Er musterte den Lykaner kritisch, trat dann zu mir und übergab mir Seraphine.

„Was hast du vor?“, fragte ich misstrauisch. Es gefiel mir so gar nicht, dass er direkt auf den See zuhielt.

Er antwortete nicht. Stattdessen blieb er direkt vor dem Wasser stehen und starrte auf die Oberfläche, als wollte er ihre Geheimnisse ergründen. Und dann trat er darauf.

In dem Moment glaubte ich, dass mein Herz stehen bleiben wollte. Es setzte einfach einen Schlag aus. „Askea!“

„Still“, sagte er nur und wartete. Einen Fuß, mehr nicht. Und er tat nichts außer dazustehen.

Er testete die Oberfläche, wurde mir klar. Es geschah genau das Gleiche, was auch vorhin mit der Scheibe geschehen war. Das Gummi oder Elasthan – oder was auch immer das war – bog sich unter seinem Gewicht leicht, blieb aber ansonsten standhaft. Zumindest am Anfang. Dann begann Askeas Fuß einzusinken.

„Askea!“

Bevor sein Fuß ganz verschluckt werden konnte, zog er ihn heraus und trat einen Schritt zurück. Er warf mir einen kurzen Blick zu, doch bevor mir klar werden konnte, was er vorhatte, holte er bereits tief Luft und rannte los.

Mir rutschte das Herz in die Hose. Ich konnte nur noch nach ihm rufen, doch er rannte bereits. Nicht auf die andere Seite, nein. Er machte einen Halbkreis und kam ein Stück von uns entfernt wieder am Ufer an.

Mich hielt nichts mehr. Ich drückte Seraphine in Fax‘ Arme, lief zu ihm und versetzte ihm einen Schwinger in den Magen.

Seine Bauchmuskeln waren steinhart, aber ich konnte Karate, und so ein Schlag von mir hatte schon einiges an Schwung. Es war ihm zugutezuhalten, dass er kein Geräusch von sich gab, aber er beugte sich leicht vor und verzog das Gesicht. Ich hatte gut getroffen.

„Spinnst du?“, fauchte ich ihn an. „Wolltest du dich umbringen?!“

„Wir mussten es wissen“, erklärte er ruhig und rieb sich über den schmerzenden Bauch. „Und da die Lykaner nutzlos sind und ich dir das nicht erlauben konnte, musste ich es tun.“

Von dieser Aussage war ich so fassungslos, dass ich nichts anderes tun konnte, als die Arme in die Luft zu werfen. Natürlich konnte er es mir nicht erlauben. Ich war seine Frau, ich musste beschützt werden. Dieser elende … ahhhr!

„Abgesehen von der Beleidigung hat er Recht.“ Kovu ließ seinen Blick über die Wasseroberfläche wandern. „Und jetzt wissen wir wenigstens, wie wir es machen müssen.“

„Ach ja? Das ist ja phantastisch! Und die Tatsache, dass er dabei hätte draufgehen können, ignorieren wir einfach.“ Als ich erneut nach ihm ausholen wollte, begann das Mal auf meiner Schulter zu kribbeln und ich konnte mich nicht mehr bewegen.

„Beruhige dich, oder ich werde dich auf der Stelle brennen.“

Das war nicht wirklich eine Drohung, wenn man bedachte, wie sehr ich das Brennen genoss. Trotzdem reichte es aus, um ihm einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen.

Als er sicher war, dass ich nicht erneut auf ihn losgehen würde, konnte ich mich wieder bewegen.

„Jetzt wissen wir wenigstens, wie es funktioniert.“ Er marschierte an mir vorbei, nahm Fax seine Tochter ab, die sich sofort vertrauensselig an ihm kuschelte und den Daumen in den Mund steckte, und wandte sich dem See zu. „Rennt“, befahl er. „Ihr dürft nicht stehen bleiben, denn dann sinkt ihr ein.“ Er nahm mich ins Visier. „Unter keinen Umständen stehen bleiben, bevor ihr das andere Ufer erreicht habt.“

Ich wusste genau, dass er nur zu mir und Fax sprach, doch die anderen hörten seine Worte natürlich auch. Und sie überzeugten Talita nicht wirklich.

„Und wenn dieses Frauengesicht wieder auftaucht?“

„Genau.“ Kovu nickte. „Und wer weiß, was da noch alles lauert? Ich möchte es jedenfalls nicht herausfinden.“

Askea beachtete sie gar nicht. „Wenn ich ‚los‘ sage, dann rennt ihr beiden, verstanden?“

Selbst Dummköpfe hätten das wohl verstanden. Ich nahm meinem Stab vom Boden und hängte ihn mir wieder auf den Rücken. „Aber was ist mit dem, was Talita gesagt hat? Was, wenn da wirklich etwas aus der Tiefe auftaucht?“

Talita und die beiden Lykaner gesellten sich nun auch ans Ufer. Meiner Schwester und Kovu war die Nervosität deutlich anzusehen.

„Nicht stehen bleiben“, wiederholte Askea. „Egal, was passiert, lauft ans andere Ufer.“

Das waren doch mal sehr ermutigende Worte.

Ich atmete noch einmal tief durch, während Askea wieder das zerrissene Tuch zutage förderte und Seraphine damit zusätzlich an seinem Körper sicherte. „Nicht stehen bleiben“, befahl er ein weiteres Mal.

Ich schnappte mir Fax‘ Hand und drückte sie fest.

„Los!“

Und dann rannten wir.

Askea, Veith und Talita kamen am besten weg. Kovu stolperte und wäre fast gefallen. Ich kam nicht so schnell vorwärts, da Fax‘ Beine viel kürzer waren als meine eigenen. Ich musste mich ihm anpassen, damit er nicht stürzte und mich dann auch noch mit runterzog. Das machte mich nervös. Dennoch versuchte ich mich seinem Tempo anzugleichen.

Der Boden unter meinen Füßen war … gewöhnungsbedürftig. Es war, als liefe man über Eier oder eine Matratze. Das machte das Vorwärtskommen nicht gerade einfacher.

Talita und Veith hatten schon mehrere Meter Vorsprung. Askea und Kovu folgten ihnen dicht auf. Ich bildete mit Fax das Schlusslicht, und obwohl wir rannten, als wäre der Teufel persönlich hinter uns her, wurde der Abstand zwischen uns und den anderen immer größer. Plötzlich schien der Untergrund weicher zu werden, elastischer.

Ich wollte mein Ziel – das andere Ufer –fest im Blick behalten, doch ich konnte gar nicht anders, als immer wieder die Beschaffenheit der Oberfläche zu überprüfen. Dann entdeckte ich das Frauengesicht. Nicht weit von mir entfernt drückten sich ihre Züge von unten in die Oberfläche. Es erschien noch eines. Und noch eines. Aber es blieben keine Gesichter. Ganze Köpfe tauchten auf, ihre Körper. Sie wanden sich aus der Masse heraus, bis sie obenauf knieten, und lächelten uns an.

Frauen so schwarz wie das Gefieder eines Raben. In ihren Augen war kein Leben, nur eine tiefe Dunkelheit. Sie selbst bestanden aus der Marshmallowmasse, schienen ein Teil davon zu sein.

Veith knurrte, als direkt vor ihm eine Frau auftauchte, und schlug einen Haken um sie. Auch Askea wich einer aus.

Mein Herz schlug viel zu schnell. Von meinem Puls oder meinem Atem sollte ich erst gar nicht anfangen.

„Bleibt doch“, flüsterte eine liebliche Frauenstimme verlockend zu meiner Rechten.

„Rennt nicht weg“, sagte eine andere.

Ich schaute mich hektisch um. Diese Frauen waren plötzlich überall. Ihre vielen Stimmen verbanden sich zu einem lieblichen Gesang, der uns aufforderte, bei ihnen zu verharren und ihnen Gesellschaft zu leisten.

Die halbe Strecke hatte ich hinter mir. Die anderen hatten sie schon zu einem Dreiviertel geschafft.

Meine Lunge brannte, und dennoch musste ich mich zwingen, nicht schneller zu laufen.

„Nicht weglaufen.“

„Bleibt bei uns.“

„Bei uns wird es euch gut gehen.“

Plötzlich wurde ich zurückgerissen und wäre fast gefallen. Ich blickte mich hektisch um und sah, dass eine von diesen Weibern Fax am Bein gepackt hatte. Vor Schreck ging er in Flammen auf. Leider hielt ich ihn noch immer fest.

Die Flammen waren heiß und zwangen nicht nur die Kreaturen, von ihm abzulassen. Ich schrie auf und fiel. Scheiße!

„Lauf!“, fauchte ich Fax an, als er sich panisch zu mir umdrehte. Ich versuchte, sofort wieder auf die Beine zu kommen, doch der Untergrund schien noch weicher geworden zu sein.

Fax zögerte nur einen Moment, dann kam er meiner Anweisung nach und rannte.

Ich rappelte mich auf wackligen Beinen wieder auf, sank aber nun leicht ein. Etwas schien mich einsaugen zu wollen. Nicht mit mir! Es dauerte vielleicht zwei Sekunden, dann befand ich mich wieder in der Senkrechten, doch nun war es deutlich schwieriger voranzukommen.

„Komm zu uns.“

„Es wird dir gefallen.“

Ob sie wirklich glaubten, ihr Sirenengesang würde bei mir zum Erfolg führen? Wahrscheinlich nicht, aber ihre ausgestreckten Arme, die mich immer wieder zu packen versuchten, machten es mir auch nicht wirklich einfacher. „Lass mich los!“ fauchte ich, als ein besonders anhängliches Exemplar mein Bein erwischte und drohte, mich erneut zu Fall zu bringen.

In dem Moment schoss eine Feuerfontäne an mir vorbei. Im nächsten Augenblick wurde ich von Askea am Handgelenk gepackt und rücksichtslos vorwärtsgezerrt – nicht, dass ich mich beschweren wollte.

Ich verkniff es mir, einen Blick zurückzuwerfen, und fixierte stattdessen lieber das rettende Ufer. Fax erreichte es gerade, stolperte auf der Böschung und knallte auf die Knie. Wenigstens war er in Sicherheit.

Seraphine wurde von Talita auf dem Arm gehalten. Kovu schien vor Ungeduld am liebsten wieder aufs Wasser rennen zu wollen, um mich persönlich in Sicherheit zu tragen.

Uns trennten vielleicht noch zwanzig Meter vom Ufer, als der Gesang der Frauen anschwoll und zu einem ohrenbetäubenden Kreischen wurde. Jeder Schritt war mittlerweile ein Kraftakt, so tief sanken wir bereits ein. Es war wohl allein Askea und seiner Stärke zu verdanken, dass ich nicht stecken blieb. Er zog und zerrte so heftig an mir, dass mein Arm fürchterlich schmerzte.

Ich beklagte mich nicht.

Noch sieben Meter.

Sechs.

Fünf.

Veith und Kovu gaben Vollgas und rasten auf uns zu. Jeder von ihnen packte einen von uns, woraufhin Askea die beachtlichen Fänge bleckte.

Leider schien Veith die Drohgebärde nicht zu interessierten. Er zog ihn einfach weiter, bis wir endlich das andere Ufer erreichten.

Ich ließ mich auf den Boden fallen, sobald Kovu mich losließ. Leider dachte ich dabei nicht an meine verbrannte Hand. Schon die kleinste Berührung ließ mich schmerzhaft zischen und sie wieder hochreißen. Tränen schossen mir in die Augen.

Hinter uns wurde Wutgeheul laut. Nur für einen kurzen Moment, dann war es plötzlich viel zu still.

Askea stieß Veith weg und kniete sich vor mich. Vorsichtig nahm er meinen Arm und besah sich die Hand.

Die Haut sah scheußlich aus, rot und blasig. Und sie tat höllisch weh.

Fax kam auf Knien nähergekrochen. „Es tut mir leid“, flüsterte er. „Das wollte ich nicht.“

„Ich weiß.“ Ich schaffe es, ein halbwegs überzeugendes Lächeln aufzusetzen und ihm mit meiner unverletzten Hand über die Wange zu streichen. Zumindest solange, bis Askea an eine der Blasen kam. „Verdammt!“

Mein ganz persönlicher Tyrann drückte die Lippen zusammen. Er sah unzufrieden aus, beinahe frustriert. Dann blickte er mir in die Augen. „Heile dich.“

Einen Moment konnte ich ihn nur wortlos anschauen. Was er da von mir verlangte, war nur logisch und auch vernünftig, aber es war von ihm gekommen. Sein Blick jedoch war unbeugsam.

Ich schloss die Augen und befahl meiner Magie, mich zu heilen, so wie Asha es mir gezeigt hatte. Zuerst brannte es einfach nur, doch langsam wurde der Schmerz erträglicher und ich konnte die Wärme meiner Magie spüren. Es prickelte und kitzelte ein wenig. Dann war alles wieder normal. 

Als ich die Augen aufschlug, waren sogar die Muskelkrämpfe in meinen Beinen und der Schmerz von dem Gezerre in meinem Arm verschwunden. Askea war so dicht vor mir, dass ich seinen Atem im Gesicht spüren könnte.

Er sah mich einfach nur an. Dann bleckte er die Zähne.

„Nein“, sagte ich mit fester Stimme. Ich wusste genau, was dieser Ausdruck bedeutete, aber das hier war nun wirklich nicht der richtige Moment, um mich zu brennen. „Später“, versprach ich ihm und strich ihm über die Wange.

Er fauchte unzufrieden, ließ aber von mir ab und kam wieder auf die Beine.

Auch ich blickte mich um.

Die Wasseroberfläche lag wieder still und ruhig vor uns. Die Frauen waren verschwunden und nichts erinnerte mehr an den Schrecken der letzten Minuten. Für einen Moment konnte ich mir wirklich vorstellen, dass das alles gar nicht geschehen war. Nur ein Traum – wenn auch ein ziemlich gruseliger.

Seltsamerweise hatte ich meine Schuhe in der klebrigen Masse nicht verloren. Was für banale Gedanken einen in solchen Momenten erfassten! Merkwürdig.

„So etwas will ich nie wieder machen“, erklärte Talita und drückte Phinchen ein wenig fester an sich. „Was waren das nur für Kreaturen?“

„Das wüsste ich auch gerne.“ Veith schaute grimmig auf die Marshmallowhaut.

Askea begann damit, seine Tasche und die Sachen, die rausgefallen waren, vom Boden aufzuklauben. Als er mir zur Hilfe geeilt war, musste er sie einfach weggeschleudert haben. Dafür war ich unendlich dankbar. Ich wollte gar nicht wissen, was geschehen wäre, wenn er mich alleingelassen hätte.

Kovu verschränkte die Arme vor der Brust. „Was auch immer das für Weiber waren, ich hoffe, wir sehen sie nie wieder.“

„Amen.“ Auch für mich war es jetzt an der Zeit, auf die Beine zu kommen. Gleichzeitig half ich Fax hoch und schloss ihn fest in meine Arme. „Mit dir ist alles in Ordnung?“

Er nickte nur zaghaft.

„Und was machen wir jetzt?“, wollte Kovu wissen. Er war unruhig. Genau wie allen anderen raste bei ihm noch das Adrenalin durch die Adern.

„Den Zirkel der Mondschwestern aufsuchen.“ Veith wandte sich nach links. „Das Gebäude dort hinten.“

Ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, machten wir uns auf den Weg. Wir waren wohl alle einfach nur froh, endlich von diesem See wegzukommen. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was geschehen wäre, wenn diese flüsternden Verführerinnen einen von uns mit in die Tiefe gerissen hätten. Vielleicht wären wir zu einer der ihren geworden. Gänsehaut.

‚Dort hinten‘ entpuppte sich als ein Katzensprung vom Ufer entfernt. Das machte mich ein wenig nervös. Mein erstes und einziges Treffen mit den Zirkelschwestern war nicht gerade das gewesen, was man allgemein als ‚angenehm‘ bezeichnete. Genaugenommen hatte ich die Hexen als Lügner hingestellt und sie des Neides beschuldigt. Hoffentlich waren sie nicht nachtragend.

Ich war erst ein einziges Mal hier gewesen, was vielleicht mit ein Grund dafür war, dass ich das Haus des schwarzen Mondes nicht auf Anhieb erkannte. Das konnte aber auch an den zerfallenen und überwucherten Gebäuden darum herum liegen – die konnten ein bekanntes Bild deutlich umformen. Es konnte aber auch daran liegen, dass die Fenster vernagelt waren und die Vordertür verrammelt.

„Wenn ich denke, dass das kein gutes Zeichen ist“, fragte Kovu, „würde mir dann einer von euch zustimmen?“

„Bei meinem letzten Besuch sah es hier auf jeden Fall wesentlich einladender aus“, erwiderte Talita.

Ich blickte an dem Gebäude hinauf und hinunter. Der Vorgarten war nicht nur verwildert; er bestand nur noch aus wucherndem Unkraut. Bei dieser Pflanze dahinten am zerbrochenen Zaun hatte ich das Gefühl, sie würde mich beobachten. Das konnte aber auch von den beweglichen Tentakeln liegen, die sanft um sie herum schwangen.

Das Gebäude selbst war heruntergekommen. Risse zogen sich durch das Glas der Außenwände. Spinnenweben und blinde Flecken. Die Treppenstufen zur Haustür waren eingesunken und die Fassaden von wuchernden Ranken bedeckt.

Ein Teil des Daches schien zu fehlen, aber das war von hier unten schwer zu erkennen. Dafür sah ich umso deutlicher das Fenster oben. Oder, besser gesagt, bemerkte ich sein Fehlen, denn es war nicht mehr vorhanden. Und egal, wo es abgeblieben war, es hatte auch noch ein Stück der Mauer um sich herum mit sich genommen. Seltsam war nur, dass die Ranken sich davon scheinbar fernhielten. Sie wuchsen in respektvollem Abstand dort oben herum.

„Ich glaub nicht, dass wir hier noch jemanden finden werden“, kommentierte Veith und besah sich die verrammelte Tür.

„Nein, sieht nicht so aus“, stimmte Talita ihm zu.

Zögernd legte ich meine Hand auf die Außenwand. Ich hoffte … Ich wusste eigentlich gar nicht, worauf ich hoffte. Vielleicht auf etwas, das mir sagte, was hier geschehen war. Doch das Gebäude blieb stumm. Da war nur eine kleine Vibration, dumpf und tief versteckt. Ich konnte sie nicht zuordnen.

Kovu rieb sich unwillig über den Nacken, „Heißt das, wir sind völlig umsonst hergekommen?“

„Es sieht jedenfalls nicht so aus, als würde hier noch irgendjemand leben.“ Ich ließ meine Hand wieder sinken. „Oder etwas.“

„Kein Etwas?“ Kovu grinste. „Na, das ist doch mal eine gute Nachricht.“

In Anbetracht der Tatsache, was uns gerade widerfahren war, konnte ich ihm da nur zustimmen. „Wir sollten trotzdem versuchen, ins Haus zu gelangen.“

„Warum?“ Talita drückte die Lippen aufeinander. „Glaubst du etwa, sie haben eine Nachsendeadresse auf den Tisch hinterlegt?“

„Vielleicht.“ Ich schaute zu ihr und wunderte mich ehrlich darüber, dass Askea ihr Seraphine nicht wieder abgenommen hatte. „Es kann auf jeden Fall nicht schaden, sich einmal umzuschauen. Vielleicht finden wir ja wirklich einen Hinweis auf ihren Verblieb oder etwas anderes, das uns weiterhelfen könnte.“

„‚Weiterhelfen‘ ist gut. Vielleicht haben die Hexen sich ja auch einfach aufgelöst“, fügte Kovu noch hinzu.

Galgenhumor. Wie nett. „Du bist ein richtiges Sonnenscheinchen“, teilte ich ihm mit und trat einen Schritt zurück. „Die Außenwand ist ziemlich glatt, aber mithilfe der Ranken könnte ich hinaufklettern, um durch das Loch zu kommen. Dann kann ich –“

Neben mir knarrte es. Askea rammte mit der Schulter die Eingangstür. Ein Krachen. Noch ein Tritt. Die Tür brach auf und knallte mit einem ohrenbetäubenden Getöse in das Innere des Hauses.

„Oder – und das ist nur so eine Idee – wir nehmen einfach die Eingangstür.“ 

Kovu lachte bellend auf.

Ich trat neben Askea und spähte durch die aufgebrochene Tür. Mein drakonischer Dämon hatte sie regelrecht aus den Angeln gerissen. Plötzlich war ich heilfroh, dass ich ihn noch nie wirklich wütend auf mich gemacht hatte. „Na, dann wollen wir mal.“

Leider sah Askea das ganz anders. Sobald ich einen Fuß über die Schwelle setzen wollte, schob er mich zur Seite, warf mir einen warnenden Blick a lá ‚ich zuerst, du wartest‘ zu und betrat wachsam den Höllenschlund.

Da ich seine Blicke gewohnt war und mir nicht viel aus seiner Bevormundung machte, folgte ich ihm auf dem Fuße. Auch den Blick, den ich dafür kassierte, ignorierte ich.

‚Höllenschlund‘ war wohl ziemlich übertrieben gewesen, ‚Staubfänger‘ wäre treffender. Der Schmutz hier lag so hoch, dass sehr deutlich wurde, wie lange dieses Gebäude schon leer stehen musste. Der Boden war übersät mit Trümmern aus alten Möbeln und Teilen, die wohl einmal das Haus zusammengehalten hatten. In der Treppe, die in die oberen Etagen führte, fehlte ein großes Stück. Es sah beinahe so aus, als hätte etwas mit einem sehr großen Maul dieses Stück herausgebissen.

Ich hoffte stark, dass dieses Etwas nicht mehr hier war.

Wachsam folgte ich Askea durch den schmalen Korridor und warf einen Blick in das Zimmer, in dem ich damals untergebracht worden war. Auch hier war von der behaglichen Atmosphäre nichts mehr übrig. Dafür war auf dem Boden jetzt eine große Wasserlache. Von der Decke leckte es, doch das Geräusch der fallenden Tropfen erreichte mein Gehör nicht.

Jupp, das hier war echt gruselig.

„Da sollte wohl mal jemand den Klempner rufen“, kommentierte Kovu. Er stand hinter Talita und blickte ihr über die Schulter.

„Ein ganzer Bautrupp wäre vermutlich hilfreicher“, überlegte ich und wandte mich in den Raum zu meiner Rechten. Hier schien es genauso zu sein wie im Rest des Hauses. Offene Türen, knarzende Dielen, seltsame Flecken an den Wänden, von denen ich inständig hoffte, dass es nur Schimmelbefall war. In einem anderen Zimmer entdeckte ich eine verlassene Frisierkommode. Der Stuhl stand noch dort, wo er hingehörte. Der Spiegel war blind. Kleine Tiegel und Töpfe standen ordentlich nebeneinander. Eine Haarspange mit einem wunderschönen Schmetterling, gezeichnet von der Zeit. Selbst die Haarbürste war noch dort, wo sie hingehörte.

Als ich das alles sah, wurde ich traurig. Das alles hatte einmal einer Frau gehört; einer Frau, die vermutlich nichts davon jemals wieder benutzen würde.

Doch diese Frisierkommode war nicht das Einzige, was noch im tadellosen Zustand war. Da wir wegen der kaputten Treppe vorerst nicht nach oben kamen, ging ich mit Askea und Fax nach unten in den Keller, während die anderen sich weiter im Erdgeschoss umsahen. Dort entdeckten wir einen kleinen Saal, in dessen Raummitte ein einsamer Flügel stand und nur darauf zu warten schien, dass ihn jemand nutzte.

Auch das würde wohl nicht mehr geschehen.

Bei der weiteren Untersuchung des Hauses entdeckte Fax einen kleinen Raum, der über und über mit Büchern und Papieren übersät war. Der ganze Boden war bedeckt, als hätte es Papier geregnet. Möbel dagegen gab es dort keine mehr.

„Das könnte es sein“, sagte ich und drängte mich an Askea vorbei, um die Dokumente zu untersuchen.

Askea sah sich wachsam um. „Das könnte ein Archiv gewesen sein.“

Ich fand Bücher über Heilkunde und Kräuternutzung und ein altes Grimoire, das halb zerfiel, als ich es aufhob. Weiße Magie, die Nutzung der Elemente, die Kunst der Flüche, Naturenergien, Runenmagie und die Kunde der Tränke. Hier war so gut wie alles zu finden, was das kleine Hexenherz begehrte. Leider waren es nur oberflächliche Beschreibungen und Geschichten um bestimmte Themen. Ich konnte nichts von Bedeutung finden oder etwas, das uns weiterhelfen konnte. Da waren nicht einmal Zaubersprüche. Alles nur oberflächliche Beschreibungen und staubtrockene Geschichte.

Die interessanten Sachen waren wohl alle bereits entwendet worden, was dieses Durcheinander erklären würde. Oder … Vielleicht hatten die Hexen ja auch ihre Zelte abgebrochen und alles von Bedeutung mitgenommen. Dieser Gedanke machte mir neuen Mut.

„Und?“, fragte Fax. Er drückte sich am Türrahmen herum. „Kannst du damit etwas anfangen?“

„Es sagt mir zumindest, dass wir nicht die Ersten sind, die dieses Haus betreten haben.“ Ich ließ die Papiere in meinem Schoß wieder auf den Boden gleiten und erhob mich. „Und egal, wer vor uns hier gewesen ist, er wusste, was er tut. Hier gibt es nichts mehr von Wert.“

„Und auch keine Hexen“, fügte Askea bedeutungsvoll hinzu.

Ich schüttelte den Kopf, weil ich ganz genau wusste, worauf er hinauswollte. „Hexen sind die stärkste magische Macht in dieser Welt. Wenn jemand dieses Chaos überleben kann, dann sie.“ Da war ich mir sogar ziemlich sicher.

„Mag sein, aber sie sind nicht hier.“

„Dann suchen wir eben woanders nach ihnen.“

„Und wo?“

„Keine Ahnung.“ Ich schaute mich noch einmal um, als würde hier irgendwo die Antwort auf diese Frage versteckt liegen. „Wir müssen uns einfach weiter in der Stadt umschauen. Wir können die Leute hier fragen. Die müssten doch wissen, wo wir die Hexen finden können.“

„Wenn es sie noch gibt“, hielt er sofort dagegen.

Ich funkelte ihn an. „Wenn du nichts Konstruktives beizutragen hast, würde ich vorschlagen, du hältst den Mund.“

„Tia!“, rief Talita von oben, bevor Askea eine Erwiderung loswurde. „Komm schnell, das musst du dir ansehen!“

Ich hielt inne und warf einen Blick in den Korridor. Talita stand oben am Treppenabsatz und winkte mich aufgeregt zu sich.

„Los, komm schon!“

Das bedeutete dann wohl, sie hatten etwas entdeckt. Ich warf Askea noch einen kurzen Blick zu, dann folgte ich meiner Schwester. Leider wirkte sie bei näherer Betrachtung nicht positiv aufgeregt, sondern eher leicht verstört. „Was hast du gefunden?“

„Das wirst du gleich sehen.“

Sie führte uns in den hinteren Teil des Hauses, durch eine Tür in die Küche.

Ich riss die Augen auf. Das … Was …? Oh mein Gott! Das halbe Haus war weg! Nicht irgendwie zerstört oder aufgerissen, nein, es war einfach weg, als hätte jemand mit einem Skalpell das Haus fein säuberlich geteilt. Und dort, wo eigentlich der Rest des Hauses sein sollte, erstrahlte eine wunderschöne Wiese mit prächtigen Blumen in all ihrer Farbenpracht. Ich konnte beinahe spüren, wie der Wind seidig über die grünen Halme strich und sie liebkoste.

Veith und Kovu standen in der Mitte des Raumes und starrten wohl genauso fasziniert und misstrauisch in den Garten. Seraphine war an Veiths Hand und hüpfte aufgeregt auf und ab, als sie einen farbenfrohen Schmetterling entdeckte.

„Schmetterling!“, jauchzte sie begeistert. „Flieg, flieg!“

Ich machte ein paar wachsame Schritte in den Raum hinein. Das Seltsame an diesem Raum war nicht nur der Garten und sein offensichtlicher Beschnitt; es waren vor allen Dingen die Möbel. Dieser Küche war noch voll eingerichtet. Und die Möbel … An der Stelle, wo das Haus aufhörte, waren auch sie einfach abgeschnitten. Der Küchentisch stand nur noch auf zwei Beinen, der Rest ragte ins Nichts. Der Kühlschrank … Es fehlte ihm ein Teil; der Teil, an dem die Tür befestigt war, und dennoch fiel sie nicht einfach aus dem Rahmen.

Das war … unheimlich. „Ich hoffe, ihr habt hier nichts angefasst.“ Ich wollte gar nicht wissen, ob das Konsequenzen haben konnte, und wenn ja, welche.

Veith schüttelte den Kopf. „Nein.“

Ich trat an ihm vorbei zum abgeschnittenen Ende des Raumes und blieb an der Kante stehen. Dabei achtete ich peinlichst genau darauf, dass ich nichts, bis auf den Boden, berührte. Leider entdeckte ich dabei etwas viel Grausameres.

Direkt an der Schnittstelle lag das Skelett einer halben Katze. Es sah aus, als hätte sie in der Küche gesessen und wäre, genau wie der Rest des Hauses, in zwei Teilte geteilt worden, als Was-auch-immer dieses Gebäude zerschnitten hatte. Jetzt war nur noch der vordere Teil von ihr vorhanden und der Rest verschollen.

Offensichtlicher Fall von ‚zur falschen Zeit am falschen Ort‘.

Armes Kätzchen.

„Spürst du irgendwas?“, fragte Talita. „Also etwas Magisches?“

„Ja.“ Ich beugte mich ein wenig vor und gewann so einen Blick auf den Rest des Hauses. Wie es aussah, war nicht nur dieser Raum dem Skalpell zum Opfer gefallen, sondern das ganze Haus. Ich konnte weitere offene Räume sehen, aber nichts Genaues.

„Und was?“

„Magie.“

Kovu schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Gut, dass wir eine Hexe dabei haben.“

Diesen Seitenhieb ignorierte ich beflissen. „Vom Garten sollten wir uns fernhalten, mit dem stimmt etwas nicht.“ Ich zog den Kopf wieder ins Haus, bevor er mir noch abhandenkam. „Und auch von der Kante.“

„Kannst du uns sagen, was hier geschehen ist?“

Ich drehte mich herum und zog eine Augenbraue hoch. „Ich bin kein Orakel. Ich kann magische Schwingungen spüren und ihre Struktur erkennen. Ich kann sie lenken und formen, aber nicht sehen, was in der Vergangenheit passiert ist. Nicht ohne einen Zauber.“ Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Und obwohl ich schon einmal gesehen habe, wie er ausgeführt wurde, weiß ich nicht, wie ich ihn anwenden –“

Eine plötzliche Bewegung zu meiner Linken ließ mich herumwirbeln, doch da waren nur die Küchenschränke. Staubbedeckt und völlig unberührt. Und doch …

Ich kniff die Augen leicht zusammen. Flimmerte da nicht die Luft?

„Tiara?“ Talita beugte sich leicht vor. „Alles okay mit dir?“

Statt zu antworten, fragte ich: „Seht ihr das auch?“

Sie starrten auf den Fleck vor der Anrichte.

„Was sollen wir sehen?“, wollte Kovu wissen.

„Das Flimmern.“ Ich neigte den Kopf leicht zur Seite. Da, jetzt sah ich es ganz deutlich. Es war wie ein leichtes Zerrbild von heißer Luft. Es wurde deutlicher und verblasste dann wieder.

„Also ich sehe nichts“, erklärte Kovu.

Plötzlich erschien in dem Flimmern ein weibliches Antlitz, so deutlich, als wollte es uns ins Gesicht springen.

Fax fauchte und Talita stolperte zurück.

Es verblasste wieder.

Kovu war der Erste von uns, der sich wieder fasste. „Also, das habe ich jetzt gesehen.“

Und wie es aussah, war er nicht der Einzige.

Das Flimmern wurde heftiger. Wieder erschien die Gestalt. Eine junge Frau, wenn ich das richtig erkannte. Sie war nur kurz zu sehen, bevor sie wieder verschwand. Doch der Ausdruck in ihrem Gesicht … Sie wirkte völlig verloren in der Einsamkeit.

„Was ist das?“, wollte Veith wissen.

„Nicht ‚was‘“, korrigierte ich ihn. „Wer.“ Fast ohne mein Zutun trat ich näher an das Flimmern heran.

„Tia“, warnte Askea, als ich meine Hand danach ausstreckte. Ich konnte gar nichts dagegen tun, es war wie ein innerer Sog.

Wieder erschien die Frau, nun direkt vor mir. Ich wusste nicht genau, was ich da tat, als ich Magie in meiner Hand sammelte und sie dann einfach in das Flimmern stieß.

„Tiara!“, fauchte Askea.

Ich bekam etwas zu fassen. Haut … das war Haut. Askea packte mich an der Schulter und riss mich zurück. Im gleichen Moment griff ich fester zu.

Ich hatte keine Ahnung, was genau geschah oder was ich da getan hatte. Plötzlich gab es einen Knall, dann fiel ich auf Askea und riss ihn mit mir zu Boden.

Eine Frau schrie fürchterlich.

Ich wirbelte herum und sah eine zusammengesunkene Gestalt auf dem Boden, die sich die Hände gegen die Ohren drückte. Ihr Schreien wurde zu einem Schluchzen, während sie immer wieder den Kopf schüttelte.

Fassungslos schaute ich vom einen zum anderen, doch es war Talita, die sich der Frau vorsichtig näherte. Auch wenn sich Veith leicht anspannte, so hinderte er sie nicht daran. Askea hätte das bei mir niemals zugelassen.

Unsere Vorsicht war unbegründet. Als Talita die Frau vorsichtig an der Schulter berührte, wich sie so hektisch vor ihr zurück, dass sie gegen den Schrank knallte. Ihr panischer Blick huschte dabei unkontrolliert hin und her, und ihr Atem ging so schnell, dass ich schon befürchtete, sie würde jeden Moment einfach kollabieren.

„Hey“, sagte Talita leise. „Ganz ruhig, dir wird nichts passieren.“

„Meine Schwestern“, flüsterte sie. Ihr Blick glitt immer noch sprunghaft hin und her. „Wo sind meine Schwestern? Der schwarze Mond, wir wollten uns schützen. Der Zauber, was ist geschehen? Warum …?“

„Keine Sorge, alles ist gut“, versuchte Talita sie zu beruhigen, doch sie wurde immer hektischer.

„Nichts“, flüsterte sie. „Alles schwarz, nichts da. Die Schwestern, sie müssen es erfahren. Der Zauber, er vergeht … Alles vergeht, nur noch schwarz, nur …“

Als Talita sie an der Schulter berührte, warf sie in ihrer Panik eine Energiewelle von sich, die uns alle ein Stück zurückschleuderte. Dann hob sie die Arme in die Luft, die Handflächen offen zum Himmel, sagte: „Führ sie!“, und warf einen leuchtenden Impuls in die Luft. Er schwebte einen Moment über ihr, dann zischte er an uns vorbei durch die Wand. Weg war er.

Die Frau – offensichtlich eine Hexe – starrte uns noch einen Moment angstgelähmt an, dann verdrehte sie die Augen und sackte in sich zusammen.

Wir standen einfach nur da und fragten uns, was das nun wieder zu bedeuten hatte.

Es war Fax, der das Schweigen brach, und zwar mit folgenden Worten: „Ist sie tot?“

Nach dem, was hier gerade geschehen war, war die Frage gar nicht so abwegig. „Ich weiß es nicht.“

„Sie sieht nicht tot aus“, warf Talita ein.

„Sie atmet.“ Veith fixierte die Frau wie eine drohende Gefahr. „Seht ihr ihren Brustkorb? Sie kann nicht tot sein.“

Ich wusste nicht, ob das wirklich beruhigender war.

„Okay.“ Kovu rieb sich nervös über den Nacken. „Das war … Ich habe keine Ahnung, was das war. Was war das?“

„Eine Hexe“, sagte ich leise und ließ mich auf die Knie sinken. „Ich habe sie aus dem Flimmern gezogen.“

Kovu schnaubte. „Da war kein Flimmern. Du hast sie einfach aus dem Nichts herbeigezaubert und … Das geht nicht, so funktioniert Magie nicht. Man kann niemanden einfach so aus der Luft zaubern!“

Die Anwesenheit der Hexe schien den Kleinen wirklich zu verstören.

„Da war ein Flimmern“, widersprach ich ihm. „Nur, weil du es nicht gesehen hast –“

„Äh, Leute“, unterbrach mich Talita. „Was war das eigentlich für ein Licht, das da weggeflogen ist?“

Ich schaute auf die Stelle, an der es durch die Wand verschwunden war. Die Spuren der Magie klebten noch immer dort, und auch wenn sie bereits verblassten, so konnte ich sie erkennen. „Es war ein Ruf.“

„Ruf?“, fragte Talita. „Was bitte soll sie denn gerufen haben?“

Da gab es eigentlich nur eine Antwort. „Die Schwestern des schwarzen Mondes.“

 

°°°

 

„Glaubst du wirklich, sie hat die Hexen gerufen?“

Ich war mir nicht sicher. Die Frau hatte so verstört gewirkt. Doch da Talita auf eine Antwort hoffte, gab ich sie ihr auch: „Warten wir einfach etwas ab. Wenn niemand kommt, müssen wir uns halt wieder auf die Suche machen.“

„Also sind wir im Grunde immer noch nicht weiter als vor zwei Tagen.“ Frustriert lehnte sie sich an die Wand und verschränkte ihre Beine an den Fußknöcheln.

Wir hatten uns in den Raum mit der Pfütze verzogen. Er erschien mir irgendwie am sichersten in diesem Haus. Vielleicht, weil ich ihn heute nicht zum ersten Mal sah, aber viel wahrscheinlicher war, dass es daran lag, dass er sich in der Nähe der Haustür befand, die gleich um die Ecke war.

Die Hexe hatten wir auch hier hineingetragen. Sie war immer noch bewusstlos. Ich hatte ihr eine unserer Taschen unter den Kopf geschoben und eine Decke über sie ausgebreitet. Askea, der neben dem Türrahmen an der Wand lehnte, ließ sie keinen Moment aus den Augen.

Seraphine saß auf meinem Schoß und spielte mit einem schwebenden Lichtfunken, den ich für sie beschworen hatte. Sie machte sich eine Spaß daraus, ihn zu fangen und dann wieder freizulassen.

Fax saß neben mir auf dem Boden und hatte sich erschöpft an meine Schulter gelehnt. Tja, unsere heutigen Abenteuer erschöpften eben auch einen kleinen Rubin.

„Eigentlich bin ich von uns beiden die Ungeduldige“, teilte ich Talita mit und warf einen Blick durch die Glaswände. Viel war nicht zu erkennen, da die Ranken und Flechten die Sicht stark einschränkten, aber zumindest konnte ich noch das Tageslicht erkennen.

Die Sonnen standen schon tief. Es war früher Abend, aber die Dämmerung hatte noch nicht eingesetzt.

„Wir warten schon seit Stunden.“ Tal drückte für einen Augenblick die Lippen zusammen. „Das Haus ist unheimlich.“

Da konnte ich ihr nur zustimmen. Vielleicht war das ja auch der Grund, warum die beiden Lykaner draußen waren und die Ankunft der Hexen dort abwarteten. „Wir werden es schon früh genug verlassen.“

Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich will die Nacht nicht hier drinnen verbringen. Hier ist es so … Ich bekomme hier eine Gänsehaut.“

„Es ist sicherer als draußen.“ Nach diesen Marshmallowsirenen wollte ich nicht wissen, was es dort draußen noch so alles gab. Besonders nicht, wenn wir die Nacht in der Gegend verbringen mussten.

Außerdem wusste ich nicht mit Sicherheit, wen oder was die Hexe gerufen hatte. Es war besser, sich in einem geschützten Raum zu befinden. Das hatten wir so besprochen. Genau wie die Tatsache, dass wir hier bis morgen früh ausharren würden. Wäre bis dahin niemand erschienen, würden wir uns erneut auf die Socken machen.

Bei Nacht war das jedoch witzlos und viel zu gefährlich.

„Oh Gott.“ Talita rieb sich über die Schläfen. „Wie konnte das alles nur so weit kommen?“

„Das herauszufinden, ist unsere Mission.“ Ich schenkte ihr ein klägliches Lächeln.

Ihre Imitation war jämmerlich.

Am Türrahmen richtete sich Askea auf und wandte seine Aufmerksamkeit durch das Glas nach draußen. Dabei ging seine Oberlippe in einer Drohgebärde nach oben.

Weder mir noch Talita entging diese Geste. „Was ist los?“, wollte sie wissen.

Ich schaute zum Glas. Da kam etwas auf uns zu. Ich konnte es spüren. Diese magischen Schwingungen, sie …

Mit den Worten: „Sie kommen“, kam Kovu ins Haus gestürmt.

„Die Hexen?“, fragte Talita, nicht sehr gescheit.

„Die Zirkelschwestern“, korrigierte ich sie. Ich konnte sie spüren – jede einzelne von ihnen. Die Magie in ihnen war ein Widerhall der meinen, und so blickte ich genau in dem Moment auf, als sie die eingesunkenen Stufen zum Haus betraten.

Ich setzte Seraphine in Fax‘ Schoß und erhob mich vom Boden. Sie quengelte ein wenig, weil ihr leuchtender Funke dabei erlosch. Das verging jedoch sofort, als Fax eine Flamme über seine Hand tanzen ließ und sie sich mit neuem Elan darauf stürzen konnte.

Askea trat von der Tür zurück, als Veith: „Da drin“, sagte und vor den Hexen in den Raum trat.

Kovu machte ihnen Platz und dann sah ich ein paar vertraute Gesichter. Das erste gehörte einer schmalen Frau mit spitzem Kinn. Seit unserer letzten Begegnung hatten sich in ihre braune Lockenpracht ein paar graue Strähnen geschlichen und gaben ihr damit etwas Würdevolles. Damit wirkte sie nicht mehr ganz so arrogant.

Die beiden Frauen hinter ihr kannte ich nicht, dafür jedoch das freundliche Gesicht, das sich mit einem „‘tschuldigung“ vor die beiden drängte.

Bei ihrem Anblick musste ich schlucken. Das war Ashas ältere Schwester. Sie war ein wenig füllig um die Hüften, ihre schwarzen Haare waren heute länger als bei unserer letzten Begegnung und die lange Nase in ihrem Gesicht … Sie erinnerte mich so sehr an Asha, dass ich den Kloß in meinem Hals runterschlucken musste.

„Saana“, sagte ich leise.

Sie schaute überrascht auf, lächelte aber, als sie mich erkannte. Zumindest bis zu dem Moment, als Chana „Dämonen!“ schrie. Da war es mit der freundlichen Atmosphäre ganz plötzlich vorbei.

Ich hatte kaum Zeit zu reagieren, als vier Hexen plötzlich ihre Zauber nach Askea und Fax warfen. Es war wohl ein einfacher Instinkt, der mich dazu trieb, meine Hände hochzureißen und meine Rubine unter einem magischen Schild zu begraben. Ihre Zauber prallten daran ab und fuhren in die Wände. Glas splitterte. Talita kreischte auf und Veith stieß Kovu hinaus in den Flur.

Das Haus erbebte unter uns.

Ich warf einen schnellen Blick über die Schulter, um mich zu versichern, dass es meinen Dämonen gut ging. Fax war aufgesprungen und vor Schreck in Flammen aufgegangen. Seraphine drückte sich ängstlich an ihn, und Askea sah aus, als wollte er den Hexen jeden Moment den Kopf abreißen. Ansonsten schienen sie nichts abbekommen zu haben. Trotzdem behielt ich den Schild aufrecht.

„Was soll das?“, schrie Chana mich an.

„Das könnte ich Sie auch fragen!“, schrie ich zurück.

Veith eilte unterdessen durch den Raum und half Talita auf die Beine. Ein paar herabfallende Scherben hatten sie getroffen und an der Wange und am Arm geschnitten. Ein bedrohliches Knurren grollte in seiner Kehle, und plötzlich war der Wolf in ihm deutlich an die Oberfläche getreten.

Um dem Ganzen noch einen extra Touch zu geben, begann dann auch noch Kovu zu knurren.

„Das sind Dämonen“, sagte die kleine, zierliche Hexe und beschwor erneut Magie zwischen ihren Händen.

„Lassen Sie das!“ Ich stärkte meinen Schild mit weiterer Magie und ließ keine von ihnen aus den Augen. „Sie tun Ihnen nichts, sie gehören zu mir!“

„Was soll das heißen, sie gehören zu Ihnen?“, wünschte Chana zu erfahren.

„Das sind Dämonen“, erklärte die kleine Frau ein weiteres Mal, als wäre ich mir dieser Tatsache nicht bewusst.

Ich atmete einmal tief durch, um die Frauen nicht nochmal anzufauchen – oder ihnen in den Hintern zu treten. „Ich weiß, was sie sind. Das sind mein Mann und meine Kinder, und Sie begehen einen gewaltigen Fehler, wenn Sie sie noch einmal angreifen.“

Damit sorgte ich erstmal für Stille. In den schwarzen Roben wirkten die vier Frauen auf einmal ziemlich blass. Und nicht nur das: Die Magie der zierlichen Frau verpuffte einfach zwischen ihren Händen. Das war sicher der Schock.

Kovu schlich an der Wand entlang, bis er Talita erreichte, und begann damit, ihre Wunden zu untersuchen, während Veith die potentielle Bedrohung nicht aus den Augen ließ.

„Das ist … das …“ Vor Unglaube und Empörung schien Chana keinen verständlichen Satz über die Lippen zu bringen.

 „In Ordnung.“ Saana drängte sich in die vorderste Reihe. „Ich glaube, wir sollten uns beruhigen.“ Leider sah sie nicht sehr beruhigt aus, als sie ihren Blick durch den Raum schweifen ließ und dabei die Stärke meines Schildes abschätzte.

Vorsichtshalber ließ ich noch mehr Magie hineinfließen.

„Beruhigen?“, fragte Chana aufgebracht. „Das hier ist eine Falle! Sie locken uns mit dem Licht der Führung hierher und hetzen uns dann ihre Dämonen auf den Hals!“

Bitte? „Warum zur Hölle sollte ich so etwas Beschränktes tun?“

„Woher soll ich das denn wissen?“

„So kommen wir nicht weiter.“ Talita schob Kovu ein Stück zur Seite, der nun damit begonnen hatte, ihre Schnitte mit einem Tuch zu versorgen. Das passte ihm nicht und er zog einen Flunsch. „Bevor Sie meine halbe Familie niedermetzen, sollten Sie sich vielleicht erstmal anhören, was wir zu sagen haben.“

Talita zu sehen, überraschte Saana wohl noch mehr als meine Dämonen – zumindest, wenn ich den Ausdruck in ihrem Gesicht richtig deutete. Sie schaute von ihr zu mir und wieder zurück. „Talita Kleiber aus München und Tiara Kleiber aus München.“

Ähm …

Tal nickte. „Ja, aber das ist egal. Das hier ist ein Missverständnis.“

„Missverständnis.“ Chana schnaubte. Da weder Askea noch Fax oder Seraphine angriffen, schien sie sich doch ein wenig sicherer zu fühlen. „Was bitte soll das für ein Missverständnis –“

„Chana, es reicht“, unterbrach Saana, doch auch ihr Blick ging von mir zu Talita und wieder zurück. „In Ordnung. Das … Ich glaube, einer von Ihnen sollte uns erklären, was hier vor sich geht.“

Ich fixierte sie. „Aber nur, wenn Sie versprechen, meine Familie nicht noch einmal anzugreifen.“

 „Wir werden friedlich bleiben“, stimmte Saana zu. „Solange uns keine Gefahr droht, werden wir unsere Magie bei uns behalten.“ Bei diesen Worten lag ihr Blick auf Fax.

„Lösch dein Feuer“, ordnete ich an und ließ die Hände sinken. Der Schild hielt auch noch ohne Zufuhr von Magie. Er würde nur langsam verblassen.

Fax‘ Augen verdunkelten sich vor Trotz, doch er gehorchte mir.

„Bitte“, sagte Saana, „erklärt es uns.“

Wo sollte ich da am besten anfangen?

Die Antwort wurde mir abgenommen, als Talita das Wort ergriff. „Wir sind seit einer guten Woche wieder in der magischen Welt und, na ja, wir haben sehr schnell gemerkt, dass hier einiges nicht so läuft, wie es soll.“

Das war doch mal stark untertrieben.

„Deswegen haben wir uns auf den Weg zum Rudel gemacht, dort aber außer Kovu niemanden mehr vorgefunden. Er sagte, dass alle sich in Luft aufgelöst haben, einfach so. Puff.“ Sie veranschaulichte das Wort mit einer Geste. „Aber das geht nicht. Wir können nicht zulassen, dass sie verschwunden bleiben oder andere auch noch verschwinden, und da haben wir hin und her überlegt und –“

„Um es kurz zu machen“, unterbrach ich Talita, „wir haben Sie gesucht.“

„Wen ‚Sie‘?“, fragte Chana. „Uns?“

Ich nickte. „Wir brauchen Informationen über dieses ganze Chaos hier, und haben uns gedacht, dass wir sie bei den Hexen wohl am ehesten bekommen würden.“

Chana lachte auf. „Warum bitte sollten wir Informationen für euch haben?“

„Davon abgesehen, dass ich selbst eine Hexe bin?“ Ich lächelte etwas schief. „Sie – besonders Hexen eines Zirkels – sind wohl die magiebegabtesten Wesen dieser Welt, und da der Zirkel des schwarzen Mondes der mächtigste dieses Erdteils ist, fiel unsere Wahl auf ihn.“ Und es hatte nur geringfügig damit zu tun, dass wir gar keinen anderen Zirkel kannten.

Die vierte Hexe, die bisher nichts gesagt hatte, schnaubte spöttisch.

„Aber“, die zierliche Frau warf Askea einen wachsamen Blick zu, „wie passen diese Dämonen dabei hinein?“

„An sich überhaupt nicht. Genaugenommen würde Askea mich am liebsten über die Schulter werfen und zurück ins Rote Hinterland schleppen.“

Kovu lachte. „Das ist wohl wahr.“

„Das heißt“, wieder ein wachsamer Blick auf meinen drakonischen Dämon, „er ist wirklich Ihr Gefährte? Sie sind bei ihm, weil … also … ganz freiwillig?“

Ich grinste sie an und zeigte ihr das Mal auf meiner Schulter. „Jetzt schon.“

„Und Sie haben – entschuldigen Sie bitte meine Indiskretion, aber – Sie haben mit ihm Kinder?“

„Sie sind ja wohl schwer zu übersehen.“

Saana lächelte etwas verkniffen. „Das ist wohl wahr.“

„Nur leider erklärt es nicht, wie Sie uns hierher gelockt haben“, warf Chana ein. „Dieses Licht kann nur von Zirkelschwestern heraufbeschworen werden!“

„Das waren wir ja auch nicht.“ Ich trat ein wenig zur Seite und zeigte auf den Stoffhaufen in der Ecke hinter Askea. „Sie war das.“

Es dauerte einen Moment, bis die Hexen die Frau unter der Decke erkannten. Die stumme Hexe keuchte auf. „Szylla.“ Sie lief los, doch mein Schild war noch im Weg. „Mach es weg!“, forderte sie mich auf.

Ich zögerte einen Moment, ließ es dann aber mit einem Wink aus dem Handgelenk sinken.

Sofort eilten die Hexen zu der bewusstlosen Frau in der Ecke; alle bis auf Saana, die mich nur mit großen Augen anstarrte. „Wie ist das möglich?“, fragte sie leise. „Szylla hatte sich bereits aufgelöst. Wir glaubten, sie sei verloren.“

„Na ja, sie war hier. In der Küche … irgendwie.“ Ich zuckte unbestimmt mit den Schultern.

 „Erzähl es mir“, forderte Saana mich auf. „Erzähl mir, wie ihr sie gefunden habt.“

Ich erzählte es ihr, und während ich sprach, schob Fax sich unbemerkt so nahe an mich heran, dass er direkt hinter mir stand. Die Hexen waren ihm wohl suspekt. Auch Askea ließ die Frauen nicht aus den Augen.

„Du hast sie aus dem Flimmern gezogen?“

Ich nickte. „Sie sah so verloren aus.“

„Und dann ist sie bewusstlos geworden?“

„Sie hat noch dieses Licht losgeschickt, aber ja.“

Saana nickte und begann damit, auf und ab zu laufen. „Das muss ich überprüfen“, murmelte sie. „Vielleicht ist das ein Hinweis. Das könnte alles ändern und …“ Abrupt drehte sie sich zu mir herum. „Du willst Informationen von uns?“

„Ähm … ja?“

„Ich möchte dafür Informationen von dir.“

„Von mir?“ Was hatte ich schon groß mitzuteilen?

„Ja. Sowas ist bisher noch nie geschehen. Ich möchte, dass du uns in den Zirkel begleitest. Du kannst dort wohnen und bekommst Essen. Ich gebe dir die Informationen, die du haben möchtest, aber im Gegenzug beantwortest du all meine Fragen.“

Das war eigentlich kein schlechter Deal, trotzdem schaute ich erstmal zu Talita und wartete darauf, dass sie zustimmte. „Okay“, sagte ich dann, als sie genickt hatte. „Informationen gegen Informationen.“

„Abgemacht. Du musst aber ein paar Tage bleiben, falls sich noch Fragen auftun.“

„Das … Ich denke nicht, dass das ein großes Problem wäre.“

Fax drängte sich näher an mich, und Seraphine begann, unzufrieden an meinem Kleid zu zupfen, bis ich sie auf den Arm nahm.

„Wir werden bestimmt nicht viel Platz brauchen.“ Ich lächelte sie an.

„Wir?“ Ihr Blick glitt über Talita und die Lykaner und blieb dann an Fax und Askea hängen.

Mein Lächeln fiel in sich zusammen. „Ich weiß, was Sie denken, und es ist falsch. Aber davon abgesehen, werde ich ohne meine Familie nirgendwo hingehen. Eher suche ich woanders nach Hinweisen, die mich weiterbringen.“

Saanas Blick verlor ein wenig von ihrer Freundlichkeit. Nachdenklich schaute sie zwischen mir und Askea hin und her und blieb dann schließlich an Szylla hängen, die fachmännisch von den anderen Hexen untersucht wurde. „Es sind Dämonen, Tiara.“

„Das ist mir sehr wohl bewusst. Genauso bewusst ist mir aber auch, dass sie meine Familie sind. Sagen Sie selbst: Würden Sie nicht genauso handeln, wenn es dabei um Asha ginge?“

Verlustschmerz flackerte über ihr Gesicht. „Asha war eine Hexe; eine Hexe, die von einem Dämon getötet wurde.“

Wie bitte?

Ohne auf das Entsetzen in meinem Gesicht zu achten, sprach sie einfach weiter: „Aber ich verstehe, was du sagen willst. Nun gut, sie können dich begleiten, aber sie werden Regeln auferlegt bekommen, die sie beachten müssen.“

Askea bleckte die Fänge.

„Vorsicht, Dämon“, warnte sie.

„Wir werden Ihre Regeln beachten, sofern er dabei wie ein Mortatia behandelt wird. Und ich rede hier nicht von einem Schwerverbrecher.“

Das schien ihr nicht zu gefallen, trotzdem sagte sie: „Abgemacht.“

Irgendwie erstaunte mich das mehr als alles andere, was hier gerade passiert war. Was glaubte sie nur, was für wichtige Informationen ich für sie haben könnte?

„Wir werden das noch mit einem Schwur besiegeln“, erklärte Saana. „Doch nun lasst uns erstmal aufbrechen.“

 

°°°

 

„… nicht so unheimlich wären, dann … Au!“ Kovu torkelte rückwärts und hielt sich die Nase. „Mist, das hat echt wehgetan.“

Ich war wohl nicht die Einzige, die ihn ein wenig verständnislos ansah.

„Da ist eine Wand“, beschwerte er sich und fuchtelte mit der Hand in der Luft herum, bis sie auf einen Widerstand zu treffen schien.

„Eine Wand?“ Ich nahm Seraphine auf meine andere Hüfte und streckte die Hand aus. Tatsächlich, da war eine feste Barriere, die vor Magie nur so vibrierte. „Keine Wand, ein Schutzschild“, korrigierte ich ihn. Ein unsichtbarer Schutzschild. Er war besser als der Schild, den ich vorhin vor Askea und Fax errichtet hatte, stärker und schwerer zu finden. Es sei denn, man war Kovu und rannte mit der Nase voran dagegen. Selbst jetzt, als ich ihn berührte, musste ich den magischen Blick benutzen, um ihn wirklich zu erkennen.

Das einzige andere Anzeichen für das Vorhandensein des Schildes waren die Wurzeln und Ranken: Sie stoppten direkt vor dem Schild.

„Es schützt das Anwesen des Zirkels“, erklärte Saana. Sie strich darüber und der Schild begann an dieser Stelle zu schimmern, als wäre er eine Seifenblase.

„‚Anwesen‘ ist gut“, sagte Talita. „Das ist eine Burg!“

Damit hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Wir waren fast im Zentrum der Stadt angelangt. Nicht weit von hier standen die Reste des damaligen Ratsgebäudes – so jedenfalls hatte man uns berichtet. Um uns herum befanden sich die Ruinen der Stadt und mittendrin ragte eine Burg in den Nachthimmel.

Der äußere Wall, der diese Festung umgab, war bestimmt zehn Meter hoch. Dahinter reckten Türme und Zinnen ihre Hälse in den Himmel. Erkerfenster und hoch aufragende Bogenfenster ließen Licht in das Innere. Einen Burggraben gab es aber nicht – bei dem starken Schild war das wahrscheinlich nicht nötig. Außerdem, was konnten pfeilschnelle Piranhas, bissige Haie und blutrünstige Alligatoren schon gegen die Tücken der Magie ausrichten?

Die Burg konnte durch ein großes, steinernes Tor betreten werden, allerdings erst, wenn man durch den magischen Schild kam.

„Warum Stein?“, fragte ich und ließ die Hand wieder sinken. In dieser Stadt hatte man doch sonst eine Vorliebe für Glas. Eine gläserne Bastion würde sicher nicht ganz so bedrückend wirken. 

„In diesen Zeiten ist Glas zu zerbrechlich geworden“, erklärte Saana und sah den drei Zirkelschwestern zu, die sie zu dem Haus am See begleitet hatten. Zwischen den drei Frauen schwebte die bewusstlose Szylla. Sie wirkte blass und zerbrechlich. „Außerdem kann Stein Magie, wie zum Beispiel Schutzzauber, viel besser halten als Glas.“

„Aber es sieht so … düster aus.“

Sie lächelte leicht. „Der äußere Eindruck kann täuschen.“

Als wäre der Schild nicht vorhanden, marschierten die drei Hexen mit ihrem Anhang hindurch und verschwanden kurz darauf durch das Tor.

„Außerdem geht es hier weniger um Aussehen als vielmehr um Schutz. Dies sind schwierige Zeiten, und nachdem die Magie unser altes Anwesen überrollt hat, hielten wir es für besser, etwas zu bauen, was ihr standhalten kann.“

„Die Magie kommt dort nicht hinein?“, fragte Talita zweifelnd.

„Leider doch“, gab Saana zu. „Aber sie hat es viel schwerer als in der übrigen Stadt. Bisher sind wir darin mehr oder weniger von ihr verschont geblieben.“

Kovu rieb sich die Hände. „Na, dann lasst uns reingehen.“

„Moment.“ Saana drehte sich zu mir herum. „Bevor wir den Schild durchschreiten, müssen Sie erst den Schwur leisten. Vorher kann ich niemanden von Ihnen hineinlassen.“

„Okay.“ Ich verlagerte mein Gewicht leicht. „Was muss ich tun?“

„Haben Sie noch nie einen bindenden Schwur geleistet?

Ich schüttelte den Kopf. „Und bitte duzen Sie mich.“

Sie lächelte. „Wenn du das möchtest. Dann tu aber bitte das Gleiche.“

Dafür bekam sie von mir ein Lächeln zurück.

„Nun gut. Der Schwur sieht folgendermaßen aus: Jeder aus deiner Familie muss die Regeln des Hauses beachten – ohne Wenn und Aber. Die Anwohner dürfen weder belästigt noch auf irgendeine Art gefährdet werden. Ich heiße euch in unseren Schutz willkommen. Als Gegenleistung erwarte ich die Information, um die ich dich bitten werde, und du wirst sie mir geben.“

„So wie wir es besprochen haben“, stimmte ich ihr zu. „Informationen gegen Informationen, das war der Deal.“

Sie nickte.

„Und der andere Teil ist selbstverständlich: Wir alle werden uns vernünftig verhalten. Dennoch verlange ich im Gegenzug, dass wir alle als Gäste behandelt werden. Wir sind keine Aussätzigen, keiner von uns. Und ja, die Vorurteile gegen Dämonen sind mir sehr wohl bekannt, aber das ändert nichts an dieser Abmachung.“

Dieser Teil schien Saana nicht so sehr zu gefallen. Ich sah, wie sich die Rädchen in ihrem Kopf drehten, ihr Blick ein paarmal zu Askea und Fax huschte und auch, wie er an Seraphine hängen blieb, an ihren leicht spitzen Ohren und dem roten Haar. „Sie ist die Tochter eines Rubins.“

„Ja, und seit neuestem geht sie deswegen immer wieder in Flammen auf, nicht wahr, mein Schatz?“ Ich ließ sie auf meiner Hüfte hüpfen, doch sie war so mit dem Armband an ihrem Handgelenk beschäftigt, dass sie es ignorierte.

„Ist das gefährlich?“, wollte Saana wissen.

„Für sie? Nein. Für ihr Umfeld?“ Ich machte eine vage Bewegung mit meiner freien Hand. „Aber Askea hat das unter Kontrolle. Bis auf Kleidung hat sie bisher noch nichts verbrannt.“

Wirklich zu beruhigen schien sie das nicht. „Nun gut“, sagte sie trotzdem und reichte mir ihre Hand. „Dann lass uns den Schwur sprechen.“

„Halt, warte“, rief Talita, als ich gerade nach der Hand griff. „Dieser Schwur … Was passiert, wenn er nicht eingehalten wird?“

„Tiara wird von der Magie bestraft. Das Maß wird an der Größe des Vergehens festgelegt.“

„Und wer legt das fest?“, wollte Veith wissen.

„Die Magie“, entgegnete Saana schlicht. „Meist werden die Vergehen mit Schmerz gesühnt.“

Ich schluckte. Das hörte sich nicht sonderlich nett an. 

„Aber es wird sie nicht umbringen.“ Talita versuchte das im Brustton der Überzeugung rüberzubringen, doch ihrer Stimme hafteten leise Zweifel an.  

„Die Magie bestimmt das Strafmaß.“ Saana sah sie durchdingend an. „Ich spreche nur den Schwur.“

Das schien den anderen genauso wenig zu gefallen wie mir. Nicht, dass einer von uns vorhatte, etwas Dummes zu tun und mich damit in Gefahr zu bringen. Trotzdem, dieser Schwur … Er wäre wie eine Fessel. Ich mochte keine Fesseln, aber wir brauchten die Informationen. Nicht nur, um die Lykaner zurückzuholen, sondern auch, um den Schutz herzustellen und vielleicht sogar dieses Chaos wieder in Ordnung zu bringen.

„Okay“, sagte ich und nahm ihre Hand. „Sprich den Schwur.“

Askea zog die Oberlippe hoch. Das hier gefiel ihm ganz und gar nicht.

„Lass Magie in deine Hand fließen“, verlangte Sanna.

Ich tat es und spürte, wie auch sie es tat.

„Schwörst du, die Regeln des Zirkels zu achten? Die Hexen mit Respekt zu behandeln und ihnen kein Leid zuzufügen? Dann sage: Ich schwöre.“

„Ich schwöre.“

Ein Impuls ging durch meine Hand, weißglühend. Etwas schien sich um meine Brust zu legen.

„Schwörst du, dass auch deine Familie sich an diesen Schwur halten wird?“

„Ich schwöre.“

Ein weiterer Impuls. Saana begann schwach zu leuchten, und auch um mich breitete sich ein Licht aus. Aber das war nicht alles. Plötzlich spürte ich ein Band, das zu jedem einzelnen meiner Familie reichte. Nicht nur Fax, Phine und Askea, auch Talita, Veith und Kovu.

„Schwörst du, mir die Informationen zu geben, die ich benötige, wenn du dafür im Gegenzug die Informationen bekommst, die du benötigst?“

„Ich schwöre.“

Wieder pulsierte die Magie in uns.

„So sei es“, sprach Saana. Sie wollte sich von mir lösen, doch ich hielt sie fest, denn wir waren hier noch nicht fertig.

„Du hast etwas vergessen“, sagte ich leise, aber sehr eindringlich.

Ihr Blick huschte zu Askea.

„Ja, genau. Auch du musst deinen Teil zum Schwur beitragen.“ Da würde ich nicht mit mir reden lassen. Mortatia waren einfach zu unberechenbar, was Dämonen anging. „Ansonsten ist unsere Abmachung sofort hinfällig.“ Ich fixierte sie.

Widerwillig trennte Saana ihre Lippen voneinander. „Dann sprich.“

„Schwörst du, meine Familie zu achten? Sie mit Respekt zu behandeln und ihnen kein Leid zuzufügen?“

Sie zögerte. „Ich schwöre.“

Dieses Mal ging der Impuls in die andere Richtung. Er lege sich um Saana.

„Schwörst du, dass auch deine Zirkelschwestern sich an diesen Schwur halten werden?“

„Ich schwöre.“

Hunderte weißglühender, feiner Fäden streben auf die Burg zu und verschwanden hinter den Mauern.

„Schwörst du, Askea, Fax und Seraphine wie Mortatia zu behandeln und sie nicht aufgrund deiner Vorurteile zu Aussätzigen zu machen?“ Dieser Teil war mir besonders wichtig.

„Ich schwöre“, erklärte sie mit äußerstem Widerwillen.

„Dann sei es so.“

Das Licht um uns herum löste sich einfach auf.

Nun gab ich auch ihre Hand frei. Trotzdem spürte ich, dass sich etwas verändert hatte. Ich konnte nicht mit dem Finger darauf deuten, aber es war so. Ich spürte es selbst dann noch, als Saana von mir zurücktrat und sich dem Schild zuwandte.  

„Folgt mir“, forderte sie uns mit rüdem Ton auf und schritt durch die Magiebarriere auf das offene Tor zu.

Ich zögerte einen Moment, sah mich erst nach den anderen um, bevor ich die Schultern straffte und ihrer Aufforderung nachkam. 

Die anderen schlossen sich mir mit der gleichen Wachsamkeit an, die ich selbst verspürte. Unsere kleine Gruppe klebte so dicht aneinander, dass wir uns praktisch ständig gegenseitig anrempelten.

Von nahem war der Steinwall noch viel beeindruckender. Die einzelnen Steine vibrierten geradezu vor Magie. „Wie lange hat es gedauert, den zu errichten?“, fragte ich leise.

„Die ganze Anlange wurde in elf Wochen hochgezogen.“

„Elf Wochen?!“

„Durch die ständigen Magieschwankungen hat es etwas länger gedauert. Angesetzt waren nur fünf Wochen, aber es kam immer wieder zu Verzögerungen.“

Fünf Wochen. Oha. Was sollte man dazu noch sagen, außer: Die Magie machte es möglich.

Wir passierten das Tor. Beim Durchgehen warf ich einen Blick nach oben, aber da gab es kein Fallgitter, wie es in den mittelalterlichen Burgen in unserer Welt üblich war, nur die riesigen steinernen Tore. Sie waren verziert mit Runen und Mustern. Ich wusste nicht, was sie bedeuteten, aber sicher gehörte das mit zu dem Schutz für die Hexen.

Der halbrunde Vorhof bestand aus nichts als festgestampfter Erde. Gerade mal der Weg vom Tor in der Außenmauer bis zu dem in der Burg war mit Steinen gepflastert. Keine Blumen, kein Grün. Soweit ich sehen konnte, diente dieser Vorhof überhaupt keinem Zweck. Er war wie ausgestorben. Jetzt jedoch konnte ich die Burg besser erkennen.

Viele Fenster waren erhellt. Ich sah immer wieder Schatten an ihnen vorbeigleiten und bildete mir sogar ein, aus einem offenen Fenster Musik und Lachen zu hören.

„In diesen Mauern befinden sich die Wohntrakte“, erklärte Saana. „Viele der Zirkelschwestern haben dort ihre Zimmer.“

Das Zweite Tor, das uns aus dem Vorhof in den Innenhof brachte, sah im Grunde genauso aus wie das erste. Doch dieses hier besaß zusätzlich ein Fallgitter.

Langsam fragte ich mich, ob die Magie wirklich das Einzige war, wovor sich die Hexen schützen wollten, und prompt tauchten die Marshmallowladys in meinem Gedächtnis auf. Ja, in diesen Zeiten war es wirklich schwer zu sagen, welche Gefahren die Magie hervorbringen konnte. Zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen waren also nicht verkehrt.

Im Innenhof herrschte trotz der späten Stunde ein wenig mehr Betrieb. Ich sah eine Gruppe von Hexen, die eilig in dem Gebäude auf der linken Seite verschwanden. Zwei andere unterhielten sich in der Nähe des Turms und warfen immer wieder Blicke in den Himmel, als würden sie dort etwas überaus Interessantes betrachten. Ich konnte nicht erkennen, was es war.

Saana führte uns über das Gelände. Dabei erklärte sie uns, wo das Vorratsgebäude und das Wirtschaftshaus waren. Sie zeigte uns das Torhaus, die Pechnase und den Wachturm. Im Vorbeigehen deutete sie auch noch auf die Ställe und das Gebäude, in dem die Hexen dreimal am Tag ihre Mahlzeiten einnahmen. Direkt davor stand ein Brunnen im Innenhof.

„Wir würden uns freuen, wenn du an unseren Mahlzeiten teilnehmen würdest“, lächelte sie und trat an eine unscheinbare Tür am hintersten Gebäude. Leider wirkte das Lächeln ein wenig aufgesetzt. Sie nahm es mir wohl übel, dass ich auf ihren Teil des Schwurs bestanden hatte. Auch in diesem Teil des Gebäudes waren überall Lichter in den Fenstern zu sehen. „Neue Hexen sind uns immer willkommen.“

„Aber nur Hexen“, sagte ich ein wenig enttäuscht. Es hatte schon etwas Verlockendes, sich mit seinesgleichen unbeschwert unterhalten zu können, aber was war mit den anderen?

„Ja, nur Hexen.“ Ihr Blick blieb einen Moment widerwillig an Askea hängen, dann zog sie die Tür auf und beförderte uns mit einer Geste nacheinander hinein.

Wie hatte sie vorhin so schön gesagt? Der äußere Eindruck kann täuschen. Das war noch harmlos ausgedrückt gewesen.

Wir fanden uns in einem langen Korridor wieder. Die Wände waren verputzt und erstrahlten in einem hellen cremefarbenen Ton. Goldgeschwungene Ornamente zogen sich über die Wände und Decken, vereinigten sich zu einem einzigartigen Kunstwerk aus verschnörkelten Ranken und wunderschönen Blüten, die immer wieder die gleichen Symbole umkreisten: Monde. Genaugenommen waren das alles Monde, in denen das Zeichen der Hexen prangte: ein Pentagramm. Es war das gleiche Zeichen, das jede Hexe in dieser Burg auf ihrer schwarzen Robe trug.

In regelmäßigen Abständen war das Zeichen auch in den polierten Steinboden geätzt worden. Immer in gleichbleibender Distanz von einer Wand zur anderen.

Wenn ich es nur anschaute, konnte ich die Macht, die darin wohnte, spüren.

Noch etwas fiel mir auf. „Keine Magieadern.“ Normalerweise wurden Magieadern in die Wände eingearbeitet. Sie gaben nicht nur Licht, sondern bei Bedarf auch Wärme ab. Hier jedoch schien das Licht von den goldenen Mustern zu kommen.

Saana nickte. „Wir haben uns dazu entschlossen, auf Magieadern zu verzichten. Wilde Magie ist einfach zu unberechenbar geworden. Auf dem gesamten Anwesen gibt es keine Magieader und auch keinen Knotenpunkt. Daher nutzen wir hier das Akroterium. Es funktioniert genauso wie die Magieadern. Bitte folgt mir.“

Na ja, bis auf den Punkt, dass man dem Akroterium keine Magie abziehen konnte, sondern es damit speiste, damit es funktionierte. Wieder eine Facette der Sicherheit. Was war den Hexen wohl widerfahren, dass sie mittlerweile so sehr auf ihren Schutz achteten?

Saana führte uns den Korridor hinunter. Links und rechts waren immer wieder Türen ins Mauerwerk eingelassen. Manche standen offen, andere waren verschlossen. Ein paar Treppen führten in die oberen Etagen. Sie spiegelten die gleiche Architektur wie der Korridor wider: Gold und Muster und immer wieder das Zeichen des Zirkels.

„Am Ende dieses Korridors befindet sich mein Büro und mein Zimmer. Wenn du etwas brauchst, kannst du mich meistens dort finden.“

Ich nickte.

Immer wieder kamen uns andere Hexen entgegen. Manche von ihnen schauten uns neugierig hinterher, aber die meisten wirkten eher verschreckt, und das lag sicher nicht an unserer ungewöhnlichen Aufmachung.

Mit jedem Auftauchen einer neuen Hexe wurde Askea nervöser. Er drängte sich gegen mich, als wollte er mich vor ihnen abschirmen, aber es gab einfach zu viele von ihnen. Er konnte sie unmöglich alle im Auge behalten.

Als dann eine besonders neugierige Hexe ein wenig zu nahe kam, fletschte Askea mit einem warnenden Fauchen die Fänge, um sie auf Abstand zu halten.

Der Schmerz kam noch in der gleichen Sekunde. Es war ein Brennen auf meiner Wange. Ich zischte und fasste an die Stelle.

Alarmiert wirbelte Askea zu mir herum. Seine Nasenflügel blähten sich, als er meine Hand von meinem Gesicht zog.

„Was zum …?“ An meinen Fingern klebte Blut. Den Anblick fand ich so irritierend, dass ich im ersten Moment gar nichts damit anzufangen wusste.

„Der Schwur“, kommentierte Saana nüchtern. „Auch ein Akt der Aggression wird bestraft.“

Weil Askea gefaucht hatte, wurde ich … Was? Es fühlte sich an wie ein Kratzer, aber ohne Spiegel würde ich das nicht genau beurteilen können.

Fax rückte ein wenig näher an mich heran, doch der wirklich Leidtragende in diesem Moment schien Askea zu sein. Er wirkte geschockt darüber, dass ich seinetwegen verletzt worden war – wegen so einer eigentlich unbedeutenden Kleinigkeit.

„Ist nicht schlimm“, versuchte ich ihn zu beruhigen. Ich nahm sein Kinn in die Hand und zwang ihn, statt auf die Wunde in meine Augen zu sehen. „Hörst du? Mit mir ist alles in Ordnung.“

Das schien ihn nicht wirklich zu beruhigen. Er drückte die Lippen zu einem festen Strich zusammen und wich meinem Blick aus. Sein ganzer Körper zitterte vor Anspannung.

Ich würde mit ihm reden müssen, aber nicht hier vor dem neugierigen Publikum. Hier würde ich nicht zu ihm durchdringen können. Daher blieb mir nichts anderes übrig, als seine Hand zu nehmen, um ihn zum Weitergehen zu bewegen. Dabei ignorierte ich sowohl den Blick von Saana als auch die von Talita und den Lykanern.

Unsere Führerin brachte uns in ein Zimmer, das nur wenige Meter weiter lag. Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf.

Dieser Raum war eine Mischung aus einer Fünf-Sterne-Hotelsuite und einer erstklassigen VIP-Lounge. Die Lilien und Farben in diesem Raum waren perfekt aufeinander abgestimmt. Modern, mit einem Touch von Eleganz. Alles offen, wie bei einem Loft. Hohe Fenster, Glas und Chrom.

„Wow“, sagte Talita und trat weiter in den Raum hinein. „Der äußere Anschein täuscht wirklich.“

Der Raum war in ein Abschnitte unterteilt. Durch die Essecke war die Küchenzeile vom Wohnbereich abgetrennt. Durch einen Rundbogen gelangte man in das Schlafzimmer, wenn man es so nennen konnte.

Rechts stand ein elegantes Doppelbett im Futonstil, links und rechts daneben jeweils zwei schmale Futonbetten. Eines davon war mit einem Gitter versehen. Das war dann wohl Seraphines Nachtstätte – ausbruchsicher, wie ich vermutete.

An der Frontseite befand sich ein weiteres Doppelbett, daneben noch ein Einzelbett.

„Ich habe Chana gebeten, schon mal alles vorzubereiten. Der Feuchtraum ist neben der Küche. In den Schränken befindet sich Kleidung, die während des Aufenthalts genutzt werden kann.“

Ich setzte Seraphine auf dem Boden ab und schaute mir den Inhalt der Schränke an. Hosen und Hemden. Und Roben, richtige Hexenroben. Sowas hatte ich noch nie getragen.

„Die Betten schieben wir einfach zusammen“, erläuterte Kovu und zeigte auf das Einzelbett an der Frontseite.

Veith schnaubte. „Wer sagt denn, dass ich dich in meinem Bett haben möchte?“

„Talita sagt das.“ Er grinste sie an. „Oder ich lege mich einfach direkt zu euch ins Bett.“

„Wäre nicht das erste Mal“, kam es leise von Talita.

Saana folgte der Unterhaltung aufmerksam, dann schwang sie den Arm. Das Einzelbett geriet plötzlich in Bewegung. Langsam schob es sich auf das Doppelbett zu, bis es dagegenstieß. Magie begann zu summen.

Die Holzrahmen verschmolzen, die Stoffe der Matratzen und Decken verwoben sich miteinander. Auf einmal war es kein Doppelbett mehr, sondern ein Dreifachbett.

„Cool.“ Kovu nahm Anlauf und sprang darauf. Die Federung ließ ihn einmal kurz hüpfen, bevor er sich der Länge nach hinwarf und in die Runde grinste.

Saana wandte sich an mich. „Wenn ich sonst noch etwas tun kann, sag mir Bescheid und ich werde sehen, was sich machen lässt.“

„Danke.“

Sie warf einen Blick auf Fax, der sich zögernd seinem Bett näherte und auf die Matratze drückte, als wollte er die Beschaffenheit überprüfen.

Seraphine hatte währenddessen eine tiefliegende Kommode entdeckt, auf der in Reih und Glied Figuren aus Holz aufgebaut worden waren – zumindest, bis sie sie in die Finger bekam.

„Ich werde mich dann jetzt verabschieden und wünsche euch allen eine geruhsame Nacht“, sagte Saana und richtete ihre Aufmerksamkeit auf mich. „Könnte ich dich noch kurz sprechen?“

„Natürlich.“ Ich folgte ihr zur Tür und warf Askea dabei einen aufmunternden Blick zu. Er war nicht zufrieden. Diese Situation behagte ihm nicht.

Sobald wir außer Hörweite waren, kam Saana direkt zum Punkt, ohne lange um den heißen Brei herumzureden. „Ich hoffe, dass du die Dämonen unter Kontrolle halten kannst.“

Damit überrumpelte sie mich so sehr, dass ich erst nicht wusste, was ich sagen sollte, und dann lachte. „Einen Dämon kontrollieren?“ Ich schnaubte. „Wohl eher nicht. Dafür sind sie viel zu stur.“

Das hatte sie wohl nicht hören wollen.

„Aber ich vertraue meiner Familie“, fügte ich noch hinzu. „Sie würden nichts tun, was mir schaden kann.“

Ihr Blick blieb einen Moment an meiner Wange haften, dann seufzte sie. „Vielleicht … Wir könnten sie an diesen Raum binden, mit einem Zauber. Die Dämonen könnten das Zimmer dann nicht mehr verlassen, aber für uns wäre es sicherer.“

Nach diesen Worten war meine gute Laune dahin. „Wir sind Gäste und keine Gefangenen.“

„Ja, ich weiß, aber …“ Sie verstummte kurz. „Dämonen sind nicht wie wir.“

„Aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie böse sind“, hielt ich dagegen.

Sie musterte mich, schien dann aber einzusehen, dass es keinen Sinn hatte, mich weiter in diese Richtung zu bedrängen, und änderte einfach das Thema. „Ich werde jetzt erstmal nach Szylla schauen. Da sie zurückgekehrt ist … Es gleicht einem Wunder. Das ist bisher noch nie geschehen.“

„Vielleicht ist es ja ein gutes Zeichen.“

„Ja, vielleicht.“ Für einen kurzen Moment schien sie in ihre Gedanken abzudriften. „Wie dem auch sei. Sobald ich morgen Zeit habe, können wir uns unterhalten.“

„Informationen gegen Informationen.“

„Boudicca wird bei dem Gespräch sicher dabei sein wollen, ich kann also noch nicht genau sagen, wann es stattfinden wird.“

„Wir werden hier sein.“ Ja, ich wusste, dass ich mich ein wenig kühl anhörte, aber ich mochte es einfach nicht, wenn man in Askea nichts als ein Monster sah. Er hatte so viel mehr zu bieten, doch die Vorurteile gegen die Dämonen verhinderten, dass die Welt die Wahrheit erfahren konnte.

„Dann wünsche ich nun auch dir eine gute Nacht. Wir sehen uns morgen.“

Auch ich verabschiedete mich von ihr und schloss die Tür, doch dann zögerte ich einen Moment, wartete darauf, dass sich die Schritte draußen entfernten, und drückte die Klinke erneut. Die Tür ließ sich problemlos öffnen.

Ein Stein, von dem ich bisher nicht bemerkt hatte, dass er da war, fiel mir vom Herzen. Wir waren durch einen Schwur gebunden, aber wir waren keine Gefangenen.

„Was machst du da?“, wollte Kovu wissen. Er stand an der Küchenzeile, einen vollen Teller in der Hand, und kickte mit dem Fuß gerade den Kühlschrank zu.

Talita und Veith hatten es sich in der offenen Sitzecke vor dem Kamin bequem gemacht.

„Ich wollte nur etwas wissen.“ Ich schloss die Tür und überlegte, was ich jetzt tun sollte. Eigentlich gab es da nur eine Sache, die dringend erledigt werden musste. Askea. Mittlerweile wirkte er so unglücklich, dass die Situation einfach keinen Aufschub mehr gewährte. Daher schnappte ich mir Seraphine und verkündete: „Wir nehmen dann mal ein Bad.“

Der Feuchtraum war in den Farben ein Spiegel des Zimmers. Alle Linien waren hell und klar definiert. Es gab eine offene Dusche. Die Badewanne war eine große Schale, die in den Boden eingelassen war und nur darauf zu warten schien, endlich benutzt zu werden.

Ich hatte den Raum kaum betreten und Seraphine auf dem Boden abgesetzt, da schlüpfte Askea auch schon durch die Tür.

Er brauchte gar nicht zu sagen, was er wollte. Er stand so unter Strom, dass es nur eine einzige Möglichkeit gab, daher lächelte ich ihn einfach an und neigte den Kopf einladend zur Seite. Er stürzte sich auf mich, als wäre ich der rettende Anker in seiner Welt, dabei hätte ich es ohne ihn doch niemals so weit geschafft.

Er hielt mich so sanft im Arm, als fürchtete er, ich könnte sonst zerbrechen. Seine Hand strich immer wieder über die Haut auf meinem Arm, während er die Verbindung zwischen uns erneuerte. Das war es, was er brauchte: Die Sicherheit, dass nicht alles anders war. Etwas Kontrolle in einem sonst so abnormen Tag. Das Wissen, dass ich ihm nicht einfach verloren gehen konnte.

Heute war das Brennen anders. Es hatte mehr von einer Umarmung als von der sonstigen Wildheit, mit der er mich zu überfallen pflegte, und doch beruhigte ihn diese alltägliche Handlung. Es war, als würde man etwas Normalität in einen stressigen Tag bringen. Es war das Einzige, was den Druck ein wenig von ihm nehmen konnte. Daher war ich auch ein wenig verwundert, dass er sich bereits nach wenigen Minuten zurückzog und einfach stumm an die Wand lehnte. Er wich meinem Blick nicht aus, aber dort schien etwas Distanziertes zu liegen – etwas, das mir nicht gefiel.

„Was hast du?“ Ich trat wieder an ihn heran und bemerkte, wie er den Kratzer auf meiner Wange begutachtete. „Es ist nichts“, sagte ich leise und hob den Finger an die lange Narbe in seinem Gesicht. „Nichts, was nicht wieder verheilt.“

Die Tür öffnete sich einen Spalt. Fax spähte vorsichtig hinein, warf dann noch einen schnellen Blick über die Schulter und schlüpfte zu uns ins Bad. Dann ließ er sich einfach stumm in der Ecke auf den Boden nieder.

Er schien nichts zu brauchen, wollte jedoch nicht draußen bei den anderen bleiben.

Seraphine nutzte die Gunst der Stunde, um sich auf den Schoß ihres Bruders zu stürzen und ihm die Seife zu zeigen, die sie gefunden hatte.

„Du möchtest nicht hier sein“, sagte ich leise zu Askea. „Es behagt dir nicht.“

„Ich kann euch hier nicht schützen.“

Nein, nicht mit diesem Schwur im Nacken. Zumindest nicht vor den Hexen. „Wir werden nur ein paar Tage bleiben. Du wirst sehen, es ist halb so schlimm.“

„Und was dann?“, wollte er wissen. „Was passiert nach diesen paar Tagen?“

„Das werden wir sehen, wenn es so weit ist.“ Eine bessere Antwort konnte ich ihm nicht geben.

 

°°°°°

Tag Neun

 

Die Strahlen der Sonnen sickerten durch das Fenster und tauchten den mit hellen Möbeln ausgestatteten Raum in ein sanftes Licht, das die angespannte Stimmung der Anwesenden zu verhöhnen schien.

Als die Hexen endlich Zeit für ein Gespräch fanden, war der Mittag bereits angebrochen.

Vor vielleicht zehn Minuten hatte Saana uns geholt und in einen großen Saal gebracht, der eher danach aussah, als würde er in eine Burg gehören. Die Wände waren aus grobgehauenen Stein, die große, runde Tafel in der Mitte aus Massivholz und die Fenster kaum mehr als Schießscharten. Entweder hatte der Innenarchitekt der Hexen sich hier noch nicht ausgetobt oder diese Halle hatte einfach nicht solche Priorität wie die Zimmer der Zirkelschwestern.

Bis auf Fax und Seraphine hatten wir uns alle hier am Tisch versammelt. Fax hatte sich in der Ecke niedergelassen und beobachtete alles aus sicherer Entfernung. Mein kleiner Engel dagegen rannte umher und erkundete den Raum.

Die anderen Plätze am Tisch waren von einem Dutzend Hexen eingenommen worden. Unter ihnen waren nicht nur Saana und Chana, sondern auch Boudicca, die Oberhexe des Schwarzmondzirkels.

Sie schien mir unsere letzte Begegnung nicht nachzutragen, auch wenn sie dazu wohl jedes Recht gehabt hätte. Bei unserem Eintritt hatte sie mir sogar zugezwinkert und uns willkommen geheißen. Im Gegensatz zu den anderen schien sie sich auch nicht an der Anwesenheit von Askea und Fax zu stören. Zumindest von ihr blieben den beiden furchtsame und misstrauische Blicke erspart.

Als Boudicca um Ruhe bat, griff ich unterm Tisch nach Askeas Hand und hoffte, ihn damit ein wenig zu beruhigen. Die Wärme, die er schon die ganze Zeit abstrahlte, zeigte mir seine tiefe Unruhe. Und auch das Mahlen seines Kiefers war ein Zeichen für seine wachsende Unzufriedenheit. Er musste verstehen, dass uns hier keine Gefahr drohte und er sich entspannen konnte.

„Ihr seid mit einem Anliegen zu uns gekommen“, eröffnete Boudicca das Gespräch. „Aber bevor wir damit beginnen, habe ich noch eine Frage an dich, Tiara.“

„Ähm …“ Das kam ein wenig unerwartet. Wollte sie mich jetzt doch für mein Verhalten bei unserer letzten Begegnung rügen? Verdient hätte ich es. Da es keinen Weg gab, der daran vorbeiführte, konnte ich nur eines sagen: „Okay.“

Sie lächelte so wohlwollend wie das sprichwörtliche Großmütterchen. Doch man sollte sich nicht von ihren weißen Haaren, den funkelnden Augen, aus denen der Schalk sprach, und den Pausbacken täuschen lassen, denn weder die bunten Tücher noch der alberne Turban konnten von ihrer machtvollen Aura ablenken. Zumindest, wenn man selbst eine Hexe war.

„Wie kommt es, dass du noch lebst?“

Das nannte ich doch mal sehr direkt. „Askea hat mich gerettet“, sagte ich genauso gerade heraus. Jetzt war es wohl doch Zeit, etwas Reue zu zeigen. „Es tut mir leid, was ich damals gesagt habe. Sie hatten Recht. Hätte Askea mich nicht rechtzeitig durch den Spiegel gestoßen, wäre ich wohl auch gestorben.“

Talita, Veith und Kovu saßen rechts neben Askea. So wie ihre Blicke zwischen Boudicca und mir hin und her gingen, fragten sie sich wohl, was ich angestellt hatte.

„Und doch bist du jetzt wieder hier. Lebendig und gesund, soweit ich das beurteilen kann. Wie ist das möglich?“

„Ich habe gehofft, dass Sie mir das sagen könnten. Also, warum ich wieder gesund bin, denn ich kann mir darauf keinen Reim machen.“  

Sie lachte so herzlich, dass sich ihre Wangen röteten. „Das ist ein Rätsel, das ich gerne ergründen würde. Aber nun wollen wir uns wichtigeren Dingen widmen. Saana, du hast das Wort.“

Die leicht mollige Hexe nickte dankend, strich sich eine Strähne ihrer zerzausten Haare hinters Ohr und richtete ihre Aufmerksamkeit auf mich. „Wenn ich das richtig verstanden habe, bist du erst seit kurzem wieder in der magischen Welt.“

Ich nickte. „Ja, seit etwas mehr als einer Woche.“

„Du bist die Hexe mit der wohl größten magischen Kraft, die ich jemals kennenlernen durfte.“

„Ähm … danke.“

Sie lächelte etwas gezwungen. „Das war kein Lob, sondern eine Feststellung. Das ist auch einer der Gründe, warum ich dich gebeten habe, uns zu begleiten.“

Bei diesen Worten schrillten bei mir sofort die Alarmglocken. Der Letzte, der mich wegen meiner außergewöhnlichen Macht hatte haben wollen, hatte am Ende nicht nur versucht mich umzubringen, sondern auch Askea und Fax – keine tolle Erfahrung. Okay, er war Dämonenjäger gewesen, aber das rechtfertigte seine Taten deswegen noch lange nicht. „Wie nett“, sagte ich daher auch eher misstrauisch und lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. Dabei raschelte der Stoff meiner Robe über den Tisch. Ja, genau wie Talita und Kovu hatte ich mich heute Morgen über den Schrank in unserem Zimmer hergemacht und mir eine meerblaue Robe übergezogen. Meine anderen Sachen mussten wirklich mal manierlich gereinigt werden.

Ich drückte Askeas Hand ein wenig fester. Nicht, weil er das brauchte, sondern weil ich mich damit beruhigen wollte.

„Es kann nicht schaden, in einer solchen Zeit jemanden sehr Mächtigen in seiner Nähe zu haben“, erklärte Saana ganz direkt. „Der Hauptgrund für deine Anwesenheit jedoch ist ein ganz anderer.“

„Sie wollen Informationen von mir.“

„Und ihr von uns.“

Ich nickte. „Es geht um all die Veränderungen in der magischen Welt. Wir wollen –“

„Darum kümmern wir uns im Anschluss“, unterbrach sie mich sofort. Sie verschränkte die Hände auf dem Tisch und beugte sich leicht vor. Dabei rutschte die vorwitzige Strähne hinter ihrem Ohr wieder hervor. „Der Grund, warum du uns im alten Zirkelhaus gesucht hast, ist uns allen bekannt. Ich habe die anderen Schwestern darüber informiert. Jetzt möchten wir noch einmal in allen Einzelheiten wissen, was genau in diesem Haus vorgefallen ist. Von Anfang an, bitte.“

Ob es mir nun gefiel oder nicht, ich kam ihrer Bitte nach.

Zwölf Paar Ohren lauschten meinen Erläuterungen ohne die kleinste Unterbrechung. Hin und wieder warfen Talita und Kovu noch Kleinigkeiten ein, doch erst als ich zu der Stelle mit dem Flimmern kam, wurden sie wirklich aufmerksam. Die kleine, zierliche Hexe, die auch gestern mit dabei gewesen war, streckte sogar ein wenig den Hals, als ob sie so besser hören könnte.

Danach kehrte einen Moment Stille ein. Einige von ihnen musterten uns argwöhnisch. Boudicca hatte ihren Blick nachdenklich auf den Tisch geheftet.

Chana brach das Schweigen als Erste. „War es das erste Mal, dass du ein solches Flimmern in der Luft wahrgenommen hast, oder ist es dir vorher schon einmal aufgefallen?“

„Nein, es war das erste Mal.“

„Und außer dir konnte es niemand sehen?“, wollte die kleine Hexe wissen.

Ich schüttelte den Kopf. „Das Flimmern nicht, doch als der Schatten kräftiger geworden ist –“

„Ich hab es gesehen“, kam es da ganz unvermittelt aus der Ecke des Raumes.

Alle wandten sich zu Fax um.

Ich schaute ihn verblüfft an. „Du hast es auch gesehen?“

Zögernd, als wäre er nicht sicher, ob er es wirklich zugeben durfte, nickte er.

Saanas Blick lag so kalt auf ihm, als wollte sie ihn damit einfrieren. „Sag uns, was du gesehen hast, Dämon.“

Noch bevor ich Saana für den harschen Ton einem Kind gegenüber zurechtweisen konnte, zuckte sie plötzlich zusammen und griff sich an den Kopf, als würde er schmerzen.

Boudicca kicherte. „Du solltest es besser wissen, Saana, denn du warst es, die sie als Gäste eingelassen hat.“

Der Sinn dieser Worte erschloss sich mir nicht sofort. Erst als sie die Hände wieder sinken ließ und meinem Blick auswich, wurde es mir klar. Der Schwur. Nicht nur wir hatten ihn geleistet – auch sie. Fax und Askea mochten Dämonen sein, aber vor allen Dingen waren sie im Moment Gäste. Mit solch einer Abneigung, mit der Saana Fax gerade bedacht hatte, behandelte man keine geladenen Gäste. Der Schwur war auf sie zurückgefallen.

Da brauchte ich sie dann wohl doch nicht mehr anzufahren. Ihre Strafe war auf dem Fuße gefolgt.

„Fax?“ Ich sah zu meinem kleinen Jungen hinüber – okay, so klein war er gar nicht mehr. „Erzählst du uns, was genau du gesehen hast?“

„Es war wie in der Wüste“, begann Fax vorsichtig. „Wenn die Sonnen am höchsten Punkt stehen, beginnt die Luft zu flimmern. Die Hitze spielt uns Streiche. Aber in dem Haus war es nicht heiß. Da war nur dieses Flimmern, das die Luft verzerrte, und aus ihm tauchte die Frau auf.“ Er warf mir einen schnellen Blick zu. „Mamá hat sie rausgezogen, obwohl Papá das nicht wollte.“

Jetzt stand Askea plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, und die Hexen sahen nicht gerade so aus, als wollten sie ihn zu einer Tasse Tee einladen, um über alte Zeiten zu schwätzen.

„Sie wollten nicht, dass eine der unseren gerettet wird?“, fragte Chana spitz. So wie sie die Nase verzog, schien ihr irgendwas Übelriechendes darunter zu kleben.

Askea kniff die Augen leicht zusammen. „Die Hexe war mir egal.“

Eine der Zirkelschwestern schnappte empört nach Luft.

Oh je. „Wenn ich das mal erklären dürfte: Es ist nicht so, dass –“

„Schon in Ordnung“, unterbrach Boudicca mich gelassen. „Das Gemüt eines Dämons ist mir wohl bekannt. Szylla gehört nicht zu ihm. Ob sie lebt oder nicht, ist für ihn nicht von Bedeutung. Sie dagegen, Tiara, sind das, was er schützen muss. Und da er nicht wusste, was geschehen würde, wenn Sie in das Flimmern greifen, wollte er Sie davon abhalten.“

Da war ich baff. Die Frau wusste wirklich, wovon sie sprach. Ob sie in ihrem Leben auch einmal einen Dämon kennengelernt hatte?

Boudicca schenkte mir ein kleines Lächeln und wandte sich dann direkt an Askea. „Nun zu dir, mein Hübscher.“

Bei diesen Kosenamen sanken Askeas Mundwinkel deutlich herab.

„Mich würde interessieren, ob du das Flimmern auch gesehen hast.“

Er schwieg.

„Denk daran: Durch den Schwur seid ihr gebunden, alle Informationen herauszugeben, die wir für relevant halten.“

Das gefiel ihm noch weniger. „Ja“, knurrte er. Das war aber auch schon alles, was er dazu sagte.

Ich schaute ihn überrascht an. Er auch?

Boudicca lächelte zufrieden. „Fassen wir zusammen: Eine überaus mächtige Hexe und zwei Rubine waren in der Lage, das Flimmern zu erkennen.“

„Was bedeutet das?“, wollte Chana wissen.

„Das, meine Liebe, ist es, was wir herausfinden müssen. Das, und wie wir es uns zunutze machen können, um auch die anderen Verlorenen zurückzuholen.“ Sie schaute zu Fax herüber. „Hast du das Flimmern früher schon einmal gesehen?“

Wachsam schnellte sein Blick zu mir und Askea. „Die Luft in der Wüste flimmert.“

„Ich weiß, aber das war es nicht, was ich gefragt habe.“

„In der Schlucht“, kam es von Askea. Wahrscheinlich wollte er nicht, dass die Hexe Fax ängstigte. „Auch dort habe ich das Flimmern gesehen. Im Wald. In der Stadt. Draußen vor diesem Anwesen.“

„Askea.“ Das zu hören … Ich war fassungslos. „Warum hast du mir davon nichts gesagt?“

Er antwortete nicht. Natürlich nicht. Hier waren zu viele Zuhörer und die ganze Situation behagte ihm sowieso nicht.

Saana jedoch wurde hellhörig. „Das heißt, jeder dieser Luftflimmer könnte ein verlorenes Wesen sein.“

Auf einmal begannen alle Hexen wild durcheinander zu reden. Es waren so viele Stimmen, dass sie kaum auseinanderzuhalten waren. Im Grunde jedoch sagten sie, dass sie damit vielleicht endlich einen Weg gefunden hatten, die verlorenen Wesen zurückzubringen.

„Vorausgesetzt“, unterbrach Boudicca ihre Zirkelschwestern, „wir haben einen Dämon, der sich dazu bereit erklärt, uns die passenden Stellen zu zeigen.“ Ihr Blick richtete sich wieder auf Askea. „Haben wir denn einen solchen Dämon?“

„Nein.“ Klipp und klar.

Die Hexen begehrten auf, Boudicca jedoch lächelte nur. „Und ich kann es ihnen nicht mal verübeln.“ Sie richtete sich ein wenig gerader auf. „Nun gut. Hat sonst noch jemand Fragen zu diesem Thema?“

„Ich muss einige Recherchen machen“, erklärte Saana. „Was sie gesagt haben … Die Schrift von Ana des Hochreichs könnte uns Aufschluss geben, ich –“

„Saana, möchtest du jetzt noch etwas wissen?“, präzisierte Boudicca.

Die Frage schien sie aufzuschrecken. „Nein … ähm, jetzt nicht. Später, aber nicht jetzt.“

„Dann werden unsere Fragen jetzt beantwortet?“, wollte Talita wissen.

„Ich halte das für keine gute Idee“, verkündete die kleine, zierliche Hexe. „Sie sind keine Hexen.“

Chana nickte. „Sie sind keine von uns.“

„Ein paar von ihnen sind nicht mal Mortatia“, fügte eine etwas untersetzte Hexe hinzu.

Der einzige Grund, warum Askea sie dafür nicht anfauchte, war wohl die Lehre, die er aus dem gestrigen Abend gezogen hatte.

„Was?!“ Talita sprang halb von ihrem Stuhl auf. „Das können Sie nicht machen!“

Ich kniff die Augen leicht zusammen und fixierte Saana. „Wir haben eine Abmachung“, erinnerte ich sie.

Kovu schnaubte. „Hexen stehen über so etwas, wusstest du das nicht? Sie brauchen sich nicht an Abmachungen zu halten. Sie sind geheimnistuerisch, hinterlistig, misstrauisch und wollen niemals etwas preisgeben.“ Er starrte die Frauen auf der anderen Seite finster an. „Es könnte ihnen ja etwas von ihrer wertlosen Macht flöten gehen.“

Chana ballte auf dem Tisch eine Faust. „Pass auf, was du sagst, kleiner Hund.“

„Nein, Chana.“ Saana richtete sich ein wenig auf. „Er hat ganz Recht. Aber es ist an der Zeit, etwas zu ändern. Davon abgesehen, dass ich eine Abmachung getroffen habe und Boudicca mir auch die Erlaubnis gegeben hat, ist Tiara eine sehr mächtige Hexe, deren Hilfe wir gut gebrauchen können. Die Welt stirbt, und das weiß du genauso gut wie jeder andere an diesem Tisch.“

Chana schnaubte.

„Willst du etwa bestreiten, dass wir Hilfe gebrauchen können?“  

„Nein, aber woher willst du wissen, dass wir diese Hilfe ausgerechnet von ihr bekommen?“

Meine Mundwinkel sanken herab. ‚Miststück‘ war nur eine Bezeichnung, die mir in diesem Moment durch den Kopf schoss.

„Ich weiß es nicht“, gab Saana zu. „Aber ich weiß, dass wir nicht länger schweigen können. Nicht, wenn so viel davon abhängt. Außerdem kann die Frage genauso gut andersherum formuliert werden: Woher wissen wir denn, dass es nicht ihre Hilfe sein wird, die die Entscheidung bringt?“

Als die beiden Frauen sich daraufhin anschwiegen, ergriff Talita das Wort. „Es ist wie in diesem alten Kinderfilm“, sagte sie ruhig. „Schon ein Reiskorn kann die Waage kippen, Sieg und Niederlage kann von einem Mann abhängen.“

Die verständnislosen Blicke, die auf sie einregneten, ließen mich schmunzeln.

Saana seufzte. „Ob ihr nun damit einverstanden seid oder nicht, die Entscheidung ist gefallen.“

Die kleine, zierliche Zirkelschwester sprang auf und stürmte wütend aus dem Raum.

Nein, Hexen teilten ihr Wissen wirklich nicht gerne.

„Möchte sonst noch jemand gehen?“ Boudicca ließ ihren Blick von einem zum anderen wandern. Ein paar schauten finster zurück, aber keiner erhob sich von seinem Platz. „Sehr schön. Dann fahr bitte fort, Saana.“

„Also gut.“ Wieder verschränkte Saana ihre Hände auf dem Tisch. „Was genau sind das für Informationen, die ihr von uns haben wollt?“

„Wir wollen wissen, was hier passiert ist“, erklärte ich ganz direkt. „Warum spielt die Magie so verrückt? Wir wollen herausfinden, wie es soweit kommen konnte und was die Ursache ist, damit wir es stoppen und vielleicht sogar rückgängig machen können.“

„Und wie kommt ihr darauf, dass wir solche Informationen besitzen?“, wollte Chana wissen.

„Es ist weniger das Wissen als eher die Hoffnung, die uns hierhergeführt hat.“ Ich lächelte ein wenig schief. „Als Hexen in einem Zirkel von solcher Größe …“ Ich gestikulierte mit den Händen, weil ich nicht so genau wusste, wie ich den Satz beenden sollte. Dann eben anders. „Ihr seid einfach die magiekundigsten Wesen, die uns eingefallen sind, und da liegt die Vermutung nicht fern, dass ihr etwas wissen könntet. Schließlich geht es hier um die Magie.“

Boudicca erwiderte meinen Blick ruhig. „Worauf gründet euer Wunsch, dieses Wissen zu erlangen?“

Hatte ich mich undeutlich ausgedrückt? „Das habe ich doch eben gesagt.“

Sie schüttelte den Kopf, bevor ich zu Ende gesprochen hatte. „Nein, Liebes, du verstehst mich falsch. Der Grund, zu helfen und all das rückgängig zu machen … Willst du das aus Eigennutz oder weil es für diese Welt das Beste ist?“

Mein Mund ging auf, doch es war nichts weiter als heiße Luft, die über meine Lippen kam. Eigennutz? Nein, es war, weil ich etwas bewirken wollte. Oder?

„Es ist Unrecht“, mischte sich Talita ein. „Die Lykaner und … was da geschehen ist. Ich will sie wiederhaben. Ich kann nicht akzeptieren, dass sie einfach verschwunden sein sollen.“

Diese Antwort klang schon ein wenig eigennützig und ließ Boudicca seltsamerweise lächeln. „Wenn wir von etwas persönlich betroffen sind, ist der Wille, für ein solches Problem eine Lösung zu finden, stärker, als wenn wir die Probleme bloß aus der Ferne betrachten. Was ist mit dir, Tiara, warum willst das unbedingt?“

Die Antwort, die mir auf den Lippen lag, war: Askea und Fax. Doch es kam etwas ganz anderes aus meinem Mund. „Die Magie schreit“, sagte ich leise. „Es … Wenn ich sie berühre, kann ich es fühlen. Sie hat Schmerzen.“

„Weil sie sich selbst zerstört“, erklärte Saana.

Verwirrt runzelte ich die Stirn. „Nein, nicht sie zerstört sich. Es ist eher wie eine Krankheit. Ich habe es gespürt. Wie sonst soll man erklären, dass sich die Wesen dieser Welt einfach so im Nichts auflösen? Das ist wie ein Symptom dieser Krankheit.“

„Die Magie löst sich auf, also auch die Wesen, die aus ihr bestehen“, erklärte Boudicca.

„Aber …“ Das ergab noch weniger Sinn als meine Theorie. „Warum sollte die Magie sich selbst zerstören? Was würde dann noch bleiben?“ Diese Welt bestand schließlich aus Magie. Wenn sie weg war, blieb nur noch …

„Nichts“, schloss Boudicca und breitete resigniert die Hände aus. „Was bleibt, ist das Nichts.“

So wie sie das sagte … „Du sprichst von dem Nichts, als wäre es ein Ort. Wo soll der sein? Was ist das Nichts?“

„Das Nichts ist das, was bleibt, wenn der Zerfall weiter fortschreitet.“

Okay, langsam wurde das doch ein wenig zu kryptisch. „Das heißt, die Magie ist nicht von einem Virus oder einen Tumor befallen, sondern zerstört sich selbst wie ein Kannibale, der von seinem eigenen Fleisch gekostet hat?“

Kovu verzog das Gesicht. „Die Vorstellung deiner Worte … widerlich.“

„Und es ist auch nicht so“, korrigierte Saana mich. „Um zu erklären, was hier vor sich geht, muss ich ein wenig weiter ausholen. Was wisst ihr über die Entstehungsgeschichte dieser Welt?“

Da ich davon keine Ahnung hatte, schaute ich nur etwas ratlos drein. Veith und Kovu dagegen tauschten Blicke aus. „Sie wurde durch die erste Seele geformt.“

Kovu schnaubte. „Das ist nur ein Märchen.“

„Und wie geht dieses Märchen?“, wollte Saana wissen.

„Die erste Seele war ein Wesen aus wilder Magie“, erklärte Kovu. „Sie wanderte über diese Welt und formte sie damit. Sie bekam Kinder, die wiederum Kinder bekamen, und so weiter. Diese Kinder lebten sich auseinander, und je nachdem, wohin sie gingen, zu dem wurden sie auch.“

Hat Ähnlichkeit mit Adam und Eva, überlegte ich im Stillen. Fehlt nur noch das Paradies.

Saana nickte. „Im Kern stimmt deine Antwort. Nun, ich befasse mich schon seit meiner Jugend mit der Geschichte um die Entstehung der magischen Welt und der ersten Seele. Im Laufe meiner Studien bin ich über so einige Dinge und andere Gelehrte, die sich mit dem gleichen Thema beschäftigt haben, gestolpert. Da ist zum Bespiel die Arbeit von Irina von Sternheim, da sind die Gelehrten von Rajatal und die Schriften aus dem Zuchtdiwan und …“ Als sie die Fragezeichen in unseren Gesichtern erkannte, verstummte sie einen Augenblick. „Wie dem auch sei. Während meiner Forschung gab es Dinge, auf die ich immer wieder gestoßen bin: die Obelisken. In der Geschichte werden sie auch gerne als Anker, Knoten oder Stützpfeiler bezeichnet. Sie sind Leiter zwischen der Magie und der magischen Welt. Sie lenken die wilde Magie gewissermaßen, führen sie den richtigen Stellen zu und sorgen dafür, dass alles im Gleichgewicht ist. Wird dieser Leiter aber nun beschädigt, kann die Magie nicht mehr in den richtigen Bahnen fließen. Sie tritt aus, wo sie gerade ist, verursacht damit Chaos und Zerstörung und das Leben verlischt einfach. Sie –“

„Moment“, unterbrach ich sie. „Soll das heißen, diese … Stützfeiler sind kaputt?“

Saana nickte. „Das ist zumindest das, was wir annehmen.“ Sie seufzte. „So wie die Magie sich verhält, haben wir guten Grund zur Annahme, dass mit den Obelisken etwas nicht in Ordnung ist – immer vorausgesetzt, dass es sie wirklich gibt. Sie müssen beschädigt worden sein, darum tritt die Magie so unkonventionell zutage. Manche Bereiche sind völlig von der Magie abgeschnitten und verlöschen einfach. Andere bekommen zu viel und verändern sich. Dann wieder zieht ein Magnar mit ungeahnten Konsequenzen auf.“

„Das heißt“, sagte Kovu langsam, „wir müssen nur zu den Obelisken gehen und sie reparieren. Dann ist alles wieder in Ordnung.“

Da die Zerstörung schon so weit fortgeschritten war, konnte ich mir nicht vorstellen, dass es so leicht sein sollte.

„So einfach ist es leider nicht“, nahm Saana ihm seinen Überschwung.

Manchmal mochte ich es nicht, Recht zu behalten.

„Seit die ersten Zeichen für die drohende Katastrophe aufgetaucht sind, forsche ich nun schon in alten Texten und suche nach einer Lösung, aber egal wie tief ich auch grabe, bisher ist es weder mir noch einer meiner Schwestern vergönnt gewesen, herauszufinden, wer oder was mit der Bezeichnung der Obelisken gemeint ist.“

„Es könnte alles sein“, fügte Boudicca hinzu. „Ein uralter Ort, ein geheimer Tempel, ein heiliger Baum, ein Stein auf einem Knotenpunkt oder einfach nur eine besonders reine Magieader.“

„Alles, was wir über die Obelisken wissen, ist, dass sie sehr alt sind.“ Saana schaute von einem zum anderen. „In alter Zeit wurden sie auch als die erste Seele bezeichnet, als ein Wesen aus reiner Magie, das über die Welt wanderte. Das legt nahe, dass es sich durchaus auch um ein Wesen handeln könnte. Aber falls es so sein sollte“, sie hob hilflos die Hände, „dann habe ich keine Ahnung, welches.“

„Es muss große Macht haben“, erklärte Chana und überraschte mich damit doch ein wenig. „Etwas so Machtvolles würden wir über viele Kilometer hinweg spüren können. Doch keine Hexe aus der jetzigen oder früheren Zeit hat jemals über so etwas berichtet.“

„Darum gehen wir auch davon aus, dass der Obelisk in einem tiefen Schlaf liegt“, fügte Saana noch hinzu. „Vorausgesetzt natürlich, an dieser Theorie ist etwas Wahres dran.“

Das bedeutete, dass wir im Grunde nicht weiter waren als vorher. Zwar hatten wir jetzt einen Namen für das Etwas, das wir suchten, doch keinen weiteren Anhaltspunkt. „Wir müssen also diesen Obelisken finden und nachschauen, was mit ihm nicht stimmt. Dann könnten wir alles wieder in Ordnung bringen.“

„Hypothetisch, ja.“ Saana nickte. „Aber an dieser Stelle taucht bereits die nächste Frage auf: Es ist zwar immer nur von der ersten Seele die Rede, also Einzahl, aber wir können uns nicht sicher sein, dass es sich auch wirklich nur um ein Objekt handelt. Es könnten auch zehn sein oder hundert.“

„Die Kinder der ersten Seele“, sagte Kovu.

Boudicca nickte. „Wenn man die Geschichte denn wörtlich nehmen kann. Genauso gut könnte es auch sein, dass die erste Seele genau das ist, was ihr Bezeichnung aussagt: ein Obelisk.“

„Oder hunderte von Obelisken“, fügte Talita niedergeschlagen hinzu.

„Das heißt, wir müssten nicht nur einen Obelisken finden, sondern vielleicht hunderte. Und dann müssten wir noch herausfinden, welcher von ihnen der beschädigte ist.“ Ich sank ein wenig in mich zusammen. Das hörte sich gar nicht gut an. Hundert Obelisken? Wo sollte man mit der Suche beginnen? Was genau sollten wir eigentlich suchen? Wie Boudicca bereits erklärt hatte: Es könnte einfach alles sein.

Da fiel mir etwas ein, das Gaio einmal zu mir gesagt hatte: ‚Der Obelisk ist ein sehr altes Zeichen. Es wurde schon in der Zeit vor dem großen Krieg von den Oberhäuptern der Welt genutzt, um ihren Status zu symbolisieren.‘ Ich richtete mich ein wenig auf. „Man sagt, der Obelisk sei der steingewordene Strahl der Magie, eine Verbindung zwischen der wilden Magie und dem Leben.“

„Das ist richtig.“ Saana nickte.  

Kovu lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Aber es hilft uns nicht weiter.“

Nein, weil ich im Grunde einfach nur wiederholt hatte, was die Zirkelschwestern bereits gesagt hatten. Außer … „Gibt es Aufzeichnungen über die Herrscher aus der Zeit vor dem großen Krieg? Sie haben dieses Symbol schließlich genutzt, vielleicht wussten sie ja etwas darüber.“

Saana lächelte nachsichtig. „Meine Forschungen ziehen sich über viele Jahrhunderte hinweg. Ich hatte auch schon Einsicht in die Zeugnisse der vergangenen Herrscher, doch etwas Präzises zu den Obelisken ist mir bis heute leider noch nicht vor die Nase gekommen.“

Seufz. „Also wissen wir im Grunde … dass wir gar nichts wissen.“ Denn wir wussten ja nicht einmal, was sich hinter der Bezeichnung des Obelisken wirklich verbarg. Ich stützte mein Gesicht in die Hand. Irgendwas in diesen ganzen Berichten musste uns doch weiterhelfen. Es konnte doch nicht sein, dass es einfach gar nichts gab. Dann wäre unser Weg hierher völlig umsonst gewesen.

„Das ist es“, sagte Talita plötzlich und richtete sich auf. „Wissen.“

Ich drehte mein Gesicht, ohne es aus der Hand zu heben. „Was meinst du?“

„Okay. Also, ich hab keine Ahnung, ob das was bringen würde, aber Erion hat mir mal einen Stein gezeigt. Er war von …“ Sie fuchtelte mit der Hand in der Luft herum. „Ich hab den Namen vergessen, aber der ist nicht so wichtig. Erion hatte einen Stein in seinem Besitz. Er hat einmal einem Engel gehört, und dieser Engel hat sein gesamtes Wissen in den Stein fließen lassen. Erion hat gesagt –“

„Redest du von Bonifatius‘ Amethyst?“, fragte Chana.

Sie nickte. „Ja, genau.“

Saana neigte den Kopf leicht zur Seite. „Die Weisheit der Welt, verborgen im Stein, die Weisheit bedeutet Sein. Die Macht, die er birgt, die Bürde verleiht, das Wissen so selten wie rein. Das Rätsel liegt im Inneren selbst, das weder man hört noch sieht. Ein Rätsel, das keiner lösen kann, das Rätsel des Steines Gemüt.“

„Bitte?“ Ich verstand nur Bahnhof.

„Es ist ein altes Artefakt, das noch aus der Zeit vor dem Krieg stammt“, erklärte Boudicca. „Der Amethyst von Bonifatius vom Zuchtdiwan, dem weisesten Wesen, das jemals unter uns gelebt hat. Laut den Gerüchten hat Bonifatius seine gesamte Weisheit in diesen Stein fließen lassen, und nur ein ebenso weiser Geist kann sich den Amethyst dienlich machen und das Wissen aus ihm nutzen.“

Sollte das etwa heißen …? „Also, wenn ich das jetzt richtig verstanden habe, war dieser Bonifatius also sowas wie Einstein.“

Talita schüttelte den Kopf. „Nein, er war viel mehr. Erion hat behauptet, dass der Stein großes Wissen birgt. In ihm liegt vielleicht die Antwort nach den Obelisken.“

Das hörte sich doch sehr gut an.

„Da gibt es nur ein Problem“, war Kovu ein. „Ein Rätsel, das keiner lösen kann, das Rätsel des Steines Gemüt“, zitierte er. „Wenn man dieses Rätsel nicht lösen kann, wie kann man dann an das Wissen gelangen?“

„Der Amethyst entscheidet, wem er sein Wissen anvertraut“, erklärte Talita. „Das hat Erion damals zumindest behauptet.“

„Es ist nur ein Zauber.“ Saana schien plötzlich tief in Gedanken versunken zu sein. „Auch Artefakte wurden durch Magie geschaffen. Die Lösung liegt in den Zeilen verborgen, man darf sie nur nicht wörtlich nehmen.“ Als sie sich plötzlich erhob, scharrte ihr Stuhl über den Boden. „Vielleicht liegt in dem Stein wirklich die Lösung unserer Probleme, nur … wo befindet er sich?“

Mehr als ein erwartungsvoller Blick richtete sich auf Talita.

„Äh …“, machte sie nur. „Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, befand er sich in Erions Sammlung. Das war im Haus seines Vaters.“

„Wir reden hier von Erion von Sternheim, richtig?“, fragte Boudicca.

Tal nickte. „Ja. Aber das ist … ähm … bestimmt fünf Jahre her. Ich hab keine Ahnung, ob er noch da ist oder woanders hingebracht wurde.“

„Auf den Besitz von Anwar von Sternheim hat nie jemand Anspruch erhoben“, berichtete eine etwas untersetzte Hexe neben Boudicca.

„Dann bleibt also nur noch die Frage, ob Erions Sammlung jemals aufgelöst wurde“, überlegte die Oberhexe.

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist“, warf Chana ein. „In dem Haus wurde unheilvolle Magie gewirkt, und auch ohne diese mysteriöse Sammlung beherbergte das Anwesen schon immer Dinge von großer Macht. Soweit wir wissen, hat niemand mehr das Gelände betreten, seit Anwar von Sternheim verschieden ist.“

„Ja“, sagte eine andere Hexe. „Dort gehen seltsame Dinge vor sich. Niemand, der noch bei Verstand ist, würde sich dem Haus freiwillig näheren.“

Das klang plötzlich gar nicht mehr so gut.

„Aber wir wissen nicht mit Sicherheit, ob der Stein noch dort ist“, erklärte Saana eifrig. „Vielleicht wurde er schon vor Jahren fortgeschafft und … Ich werde auf der Stelle ein paar Anrufe führen und den Aufenthaltsort des Steines auswindig machen.“ Noch während des Sprechens wirbelte sie herum und marschierte eilig auf die Tür zu. „Notfalls werde ich einen Zauber sprechen. Ich finde den Amethyst.“ Damit verschwand sie aus dem Raum.

„Da hat es aber plötzlich jemand eilig“, überlegte ich laut.

Boudicca lächelte gutmütig. „Saana hat es sich inzwischen zur Lebensaufgabe gemacht, die Obelisken zu finden. Nicht nur wegen dem, was im Moment vor sich geht, sondern auch schon früher. Dieses Thema fasziniert sie.“

„Von Faszination kann ich ein Lied singen.“ Denn diese Welt war nun einmal zauberhaft gewesen.

„Der Amethyst ist seit Monaten der erste Schritt, den wir auf dem Weg zu einer möglichen Lösung gehen können. Es war wirklich eine gute Idee“, lobte Boudicca Talita.

„Na ja, nur wenn sie auch den Erfolg bringt, den wir uns erhoffen.“

„Wir können zumindest endlich wieder etwas tun und müssen nicht mehr warten.“ Boudicca stieß Chana leicht mit dem Ellenbogen an. „Na, hab ich es dir doch gesagt. Es war eine gute Idee, unser Wissen mit ihnen zu teilen.“

Chana hätte sicher die Augen verdreht, wenn sie nur der Typ dafür gewesen wäre. „Es ist ein weiteres Hindernis auf unserem Weg zur Lösung, aber … Was, wenn wir damit nicht weiterkommen? Es ist ja nun nicht so, dass wir nicht eigentlich schon genug zu tun haben, als jetzt auch noch ein unlösbares Rätsel zu lösen, um an eine Macht zu kommen, die jedem bisher vorenthalten blieb.“

„Chana, Chana, Chana“, seufzte Boudicca. „Du findest aber auch immer ein Haar in der Suppe, oder?“

„Ich zähle nur Möglichkeiten auf. Einfach nur –“

Plötzlich hallte ein lautes Klirren durch die Hallen und Korridore. Ich war nicht die Einzige, die vor Schreck auf die Beine sprang und sich bestürzt umsah.

„Was war das?“

„Das Alarmsignal“, sagte Boudicca. „Ein Magnar ist im Anmarsch.“

 

°°°

 

Seine Blicke bohrten sich in meine Seite, und ich wusste, dass er mir das Zaubern nur zu gerne verboten hätte, aber er hielt sich zurück. Er wusste genauso gut wie ich, dass ich die angestaute Energie durch den Magnar kontrolliert loswerden musste, wenn sie nicht einfach irgendwann hervorbrechen sollte. „Ich kann jetzt auch Feuer machen, so wie du“, lächelte ich meinen drakonischen Dämon an. „Soll ich es dir zeigen?“

„Nein“, murrte er missmutig und rollte sich auf die Seite, sodass er es nicht mehr sehen musste. Das Bett unter uns knarrte dabei leicht.

Ja, es war gemein von mir, ihn zu piesacken, aber das war einer der seltenen Fälle, in denen er sich nicht gegen die Magie aussprach. Nicht, dass ich ihn nicht verstand, aber … Na ja, es war immer das gleiche Lied.

„Dieses Warten macht mich wahnsinnig“, schimpfte Talita. Seit wir vor sechs Stunden in unser Zimmer zurückgekehrt waren, bewegte sie sich unruhig von einem Zimmer in das andere. Mal starrte sie aus dem Fenster, dann lief sie wieder Furchen in den Boden oder begann, alle blitzblanken Oberflächen abzuwischen. Nicht einmal Veith hatte sie dazu bewegen können, sich hinzusetzen.

Eindeutig zu viel angestaute Energie. Ob das wohl etwas damit zu tun hatte, dass sie sich durch den Magnar wieder in einen Katzenmenschen verwandelt hatte? Vielleicht wollte sie ja in den Wald laufen und auf Bäume klettern? Oder in der Burg umherstreifen, um Mäuse zu fangen? Aßen Katzenmenschen Mäuse? Meine Phantasie ging wohl gerade wieder ein wenig mit mir durch.

„Ich will endlich etwas tun.“ Schwungvoll ließ sie sich auf ihr Bett fallen – und fast noch auf Kovu drauf.

„Hey“, beschwerte er sich und kletterte über seinen Bruder an die Wand.

Auch die beiden hatten sich wieder verwandelt, und durch die aufgestaute Magie war es ihnen bisher noch nicht gelungen, wieder menschliche Gestalt anzunehmen. Wenigstens schaffte es Askea, sein Feuer zu kontrollieren. Fax und Seraphine dagegen mussten auf dem Boden sitzen, weil immer wieder kleine Feuerzungen aus ihrer Haut hervorbrachen. Das war aber kein Problem, solange ich nur genug leuchtende Lichter um mein Phinchen herumfliegen ließ, denen sie nachjagen konnte. Sie liebte die leuchtenden Lichter.

Immer wieder griff sie nach ihnen und jauchzte vor Freude, wenn sie wie Seifenblasen in ihrer Hand zerplatzten. Vielleicht war es auch der Funkenregen, der dann immer folgte. Ja, kleine, bunte Lichter konnten schon faszinierend sein.

„Wie lange kann es denn dauern, herauszufinden, ob der Amethyst noch in Anwars Haus ist?“, fragte Talita.

„In der zusammengebrochenen Gesellschaft dieser Stadt, in der normale Kommunikation kaum noch möglich ist und die Leute, die man anruft, vielleicht gar nicht mehr existieren?“ Ich blies auf meine Hand. Drei leuchtend rote Kugeln erhoben sich von ihr, kreisten um Seraphine herum und platzten in einem Sternenschauer über ihrem Kopf. „Könnte schwierig sein.“

Kovu lachte und bekam deswegen, genau wie ich, einen bösen Blick von meiner Schwester.

„Das war eine rhetorische Frage“, maulte sie.

Veith kroch näher an sie heran und legte ihr seinen großen Kopf in den Schoß.

Ich formte ein paar neue Lichter. „Du musst nur etwas Geduld haben. Wir werden schon noch herausfinden, was aus dem Stein geworden ist.“

„Aber das Warten macht mich wahnsinnig.“

„Das hast du heute bereits zweimal erwähnt.“ Oder auch fünftausend Mal. 

„Aber wenn es doch wahr ist! Ich meine, dieses Rumsitzen … So kommt das Rudel auch nicht wieder. Oder all die anderen.“ Sie drückte die Lippen fest aufeinander. „Sie fehlen mir.“

Langsam ließ ich die Hände sinken. Es war nicht das erste Mal, dass ich bemerkte, wie sehr diese Situation Talita zu schaffen machte. Ich fand es zwar auch nicht gerade super, was hier lief, und auch ich konnte mir etwas besseres vorstellen, als eine Ewigkeit zu warten, aber ich hatte es noch nie aus Talitas Sichtwinkel betrachtet.

Sie hatte viel mehr Zeit in der magischen Welt verbracht. Sie hatte hier fast zwei Jahre lang gelebt, Freunde gehabt und viel durchgemacht. All die Wesen aus ihrem Leben – bis auf Kovu und Veith – waren weg. Und im Moment war der Amethyst die einzige Möglichkeit, sie wiederzubekommen. „Es wird bestimmt nicht mehr lange dauern“, versuchte ich sie zu trösten.

Bevor sie antworten konnte, kam Seraphine angestürmt und kletterte ein wenig unbeholfen aufs Bett. „Lichter“, sagte sie, während sie auf meinen Schoß stieg. „Sing.“

„Ich soll singen?“ Meine Hand beschrieb eine Drehung, dann lag eine leuchtende Kugel in meiner Hand, die sie begeistert an sich nahm.

„Mamam, sing!“

„Hm.“ Gespielt nachdenklich tippte ich mir mit dem Finger gegen mein Kinn und überlegte, was ich denn singen könnte. „Was für ein Lied möchtest du hören?“

„Licht!“, rief sie begeistert, und während ich noch darüber nachsann, was ich denn zum Besten geben könnte, öffnete Talita den Mund.

„Als wär dein Kopf ein Karussell.“ Sie lächelte mich an.

Ah, Christina Stürmer, das passte. Ich lächelte zurück. „Und alles dreht sich irgendwie … zu schnell.“

„Die Straßen sind leer, denn du bist es auch.“

„Als wär das Leben, das hier einmal war, … verbraucht.“ 

Wild grinsend schmetterten wir die nächsten Zeilen gemeinsam in den Raum. Als wir dann zum Refrain kamen, gaben wir alles, was wir hatten.

„Da sind Millionen Lichter in der Welt, Milliarden Farben, sie leuchten so hell. Millionen Lichter über der Stadt, sie bringen uns sicher durch die Nacht. Da sind Millionen Lichter, siehst du sie nicht? Millionen Gesichter … wie du und ich.“

Seraphine klatschte begeistert in die Hände. Die Lichtkugel lag vergessen auf der Decke und löste sich langsam auf, als sie sich auf die Beine arbeitete und anfing, im Bett zu tanzen. Dass sie dabei das Gleichgewicht verlor und fast auf den Boden purzelte – Askea hatte wirklich verdammt schnelle Reflexe – störte sie dabei nicht. Selbst als ihr durch ihr Rumgefuchtel das Armband vom Handgelenk rutschte und mir fast ins Gesicht flog, hielt sie nicht inne. Sie zappelte einfach fröhlich weiter und versuchte dabei sogar mitzusingen. Das Ende schaffte sie.

Askea klaubte das Armband vom Bett und steckte es in seine Hosentasche, bevor es zwischen den Decken verloren ging.

„Wie du und ich“, sang sie. „Wie du und ich. Wie du und ich.“

Ich jubelte und schnappte sie mir, um ihren Bauch zu kitzeln, als aus Richtung Tür unverhofft Beifall erklang.

Askea fuhr auf und er war auch nicht der Einzige, der erschrak. Selbst die beiden Wölfe standen plötzlich mit gesträubtem Nackenfell im Bett.

Dabei war es nur Saana, die uns entschuldigend anlächelte. „Es tut mir leid, ich wollte euch nicht stören. Und ganz sicher nicht erschrecken.“

„Schon gut.“ Talita strich sich das Haar aus dem Gesicht und rutschte an die Bettkannte. „Gibt es etwas Neues über den Amethyst?“

„Das tut es in der Tat. Deswegen bin ich hier.“

Damit hatte sie die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden – wobei ich bei Askea glaubte, dass er sie nur im Auge behielt, um sie drohend anzufunkeln. Dass sie ihn so überrascht hatte, gefiel ihm gar nicht.

„Und?“, fragte Talita ungeduldig. „Wo ist der Stein?“

„Soweit ich es in Erfahrung bringen konnte, müsste er sich noch immer auf dem Anwesen von Anwar von Sternheim befinden.“

„Müsste?“ Ich zog die Stirn kraus. „Was heißt ‚müsste‘?“

„Das heißt, dass es keine Aufzeichnungen darüber gibt, dass der Amethyst von Bonifatius vom Zuchtdiwan von dem Grundstück entfernt wurde. Auch mein Zauber hat darauf hingedeutet, dass er sich weiterhin in der Sammlung befindet.“

„Das heißt, wir können ihn holen?“ Talita sprang aus dem Bett. „Und sobald wir ihn haben, können wir das Rudel und Big Daddy zurückholen!“

Big Daddy?

Saana nickte. „Im Prinzip schon, aber jemand muss sich dazu bereit erklären, den Amethyst zu holen.“

„Das mach ich“, erklärte Talita sofort.

Das Lächeln auf Saanas Gesicht geriet etwas schief. „Dein Eifer in allen Ehren, aber es gibt dabei ein kleines Problem.“

„So?“ Ich richtete mich ein wenig auf. „Und welches?“

Sie schaute zwischen Talita und mir hin und her und entschied sich dann dazu, sich auf mich zu konzentrieren. „Wie wir vorhin bereits besprochen haben, gehen in dem Haus des ehemaligen Wesensmeisters merkwürdige Dinge vor sich. Es hat einen Grund, warum sich seit seinem Ableben niemand mehr hineingewagt hat.“

„Das Haus ist verflucht“, sagte ich vorsichtig. Das hatte Amir mir einmal erzählt. „Dort sind unreine Energien geflossen.“

Saana nickte. „Während meiner Recherche in den letzten Stunden wurde ich auf zwei Fälle aufmerksam, in denen man versucht hat, in das Haus hineinzugelangen. In einem davon ist niemand mehr aus dem Haus herausgekommen.“

Das war … übel. „Soll das heißen, dass wir keine Chance haben, an den Stein heranzukommen?“

„Aber das müssen wir!“, protestierte Talita sofort. „Mit ihm können wir die Obelisken finden. Wir brauchen ihn!“

Saana seufzte. „Ich glaube nicht, dass es unmöglich ist, den Amethyst zu bekommen, nur … es ist nicht ganz einfach.“

„Nicht einfach, aber möglich.“ Talitas intensiver Blick schien sie durchbohren zu wollen.  

Für einen kurzen Moment kehrte Ruhe ein. Saana schien ihre Gedanken sortieren zu müssen. Dann sagte sie: „Ich will ganz ehrlich mit euch sein. Der Amethyst könnte uns helfen, endlich voranzukommen und das alles aufzuhalten. Aber es ist gefährlich. Unter den Zirkelschwestern gibt es niemanden, der euch freiwillig begleiten würde. Sie haben zu viel Angst – und wenn ich ehrlich bin, ich auch.“

Oh, oh. Wenn so mächtige Hexen wie die Zirkelschwestern sich davor fürchteten, was lauerte dann hinter den Mauern des Anwesens?

„Die vielen magischen Artefakte, die das Haus beherbergt, und diese unruhige Zeit lassen das Anwesen verrücktspielen. Der Amethyst kann von unschätzbarem Wert für uns sein, und jede der Schwestern wäre bereit, sich mit seinem Geheimnis zu befassen, um an das eingeschlossene Wissen zu gelangen. Aber niemand von uns wird ihn holen gehen.“

Veith legte die Ohren an. „Das heißt, es bleibt an uns hängen.“

Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Ich werde nicht versuchen, euch dazu zu drängen, in das Haus zu gehen, denn ich kann nicht dafür garantieren, dass ihr es wieder verlassen werdet. Diese Entscheidung liegt nicht in meinen Händen.“

„Aber du bittest uns darum“, sagte ich gerade heraus.

„Ich bitte dich darum, Tiara. Du birgst eine solche Macht in dir, dass es dir vielleicht als Einzige möglich ist, Bonifatius‘ Erbe zu erreichen.“

„Und wenn wir ablehnen?“, wollte Kovu wissen.

„Dann werde ich wie bisher weiterforschen und hoffen, dass ich auf den entscheidenden Hinweis stoße.“

Eine Wahrscheinlichkeit, die wohl genauso gering war, wie ohne unsere Hilfe an den Stein zu gelangen.

„Wir werden es tun“, erklärte Talita.

Askea bleckte die Fänge. „Du vielleicht, aber Tiara wird nicht in dieses Haus gehen!“

Oh nein, bitte nicht. „Askea …“

„Nein!“, fauchte er mich an. „Das ist zu gefährlich für dich!“

Da er wahrscheinlich Recht hatte, konnte ich nicht einmal widersprechen. „Haben wir nicht schon darüber gesprochen?“, fragte ich ihn leise. „Willst du, dass die Zerstörung weiter voranschreitet?“

Nun fauchte er wirklich. Er stieg aus dem Bett und begann, unruhig im Raum auf- und abzulaufen. „Warum du?!“, fragte er aufgebracht. „Du hast nichts damit zu tun! Du kannst einfach wieder durch den Spiegel gehen!“

„Aber das werde ich nicht“, erwiderte ich ruhig.

Als er darauf nichts entgegnete, rutschte ich über die Bettkante und stellte mich ihm in den Weg. Er hielt so dicht vor mir an, dass ich einen Moment befürchtete, er würde mich einfach über den Haufen rennen. Doch er blieb stehen und durchbohrte mich wieder mit diesem Blick, als wollte er mich damit strafen.

„Gehst du mit mir?“, fragte ich so leise, dass niemand es hören konnte – außer vielleicht die Lykaner mit ihren guten Ohren, aber die zählten im Augenblick nicht. „Begleitest du mich durch den Spiegel?“

Er schwieg, was mir Antwort genug war.

Ich lächelte schief. „Siehst du, das ist der Grund, warum ich das machen muss.“

Seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich.

„Komm mit mir zu dem Haus.“ Ich legte meine Hand an seine Wange, direkt über die lange Narbe. „Wenn du bei mir bist, fühle ich mich sicherer.“ Ich versuchte es mit einem Lächeln. „Dann kannst du nicht nur auf mich aufpassen, sondern mich auch zurechtstutzen, wenn ich nicht vorsichtig bin.“

Es dauerte einen Moment, doch dann seufzte er ergeben. „Du wirst tun, was ich dir sage.“

„Ohne Wenn und Aber.“

Er funkelte mich verärgert an. Wir beide wussten, dass das nicht unbedingt stimmen musste. „Wenn etwas passiert, werde ich sauer.“

Ich beugte mich vor und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. Da ich nicht damit rechnete, dass er ihn erwiderte, war ich auch nicht weiter überrascht, als er mich nur weiter böse anschaute. „Du bist der tollste Mann, den ich kenne.“

Warum ich nach diesen Worten noch ein Zähnefletschen bekam, war mir nicht so ganz klar, doch ich ließ es ihm durchgehen. „Okay“, sagte ich dann laut. „Wir holen den Amethyst.“

Saana schien ein ganzer Haufen Steine vom Herzen zu fallen. „Ich werde Chana Bescheid sagen. Sie wird euch zu dem Haus bringen.“

 

°°°

 

Von dem Glanz und der Glorie meines letzten Besuches in dieser Allee war nichts mehr übrig. Der ganze Straßenzug war aufgebrochen, und wo es vorher nur Licht gegeben hatte, herrschten nun die Schatten vor. Alles war zerstört, genau wie in der restlichen Stadt. Nur ein Haus nicht. Die Auffahrt sah aus wie geleckt und die blühenden Sträucher zu beiden Seiten strahlten in ihrer ganzen Pracht.

Wir standen vor dem Anwesen des verstorbenen Wesensmeisters der Stadt, das den Eindruck erweckte, das Chaos der Magie wäre an diesem Gelände einfach vorbeigezogen, ohne es zu berühren. Das fand ich gruseliger als all die Schrecken, die mir in den letzten Tagen begegnet waren. Warum war dieses Haus in einwandfreiem Zustand? Warum hielt die wilde Magie sich von diesem Ort fern? Ich würde es sicher gleich erfahren, auch wenn sich mir allein bei dem Gedanken daran, dieses Haus zu betreten, die Nackenhärchen aufstellten.

„Wie spät ist es?“, wollte Talita wissen. Neben Veith und Askea war sie die Einzige, die mitgekommen war. Kovu hatten wir als Aufpasser für die Kinder zurückgelassen. Es hatte ihm nicht besonders gut gefallen.

Mein Blick glitt zum finsteren Nachthimmel. „Geisterstunde.“

„Wie passend“, kommentierte sie. 

Vielleicht hätten wir doch lieber am Tag herkommen sollen, aber die Aussicht darauf, endlich etwas bewirken zu können, hatte uns hinausgetrieben. Talita hatte schon Recht: Es war viel besser, etwas zu tun, als tatenlos herumzusitzen und auf etwas zu warten, das nicht von alleine kommen würde.

„Ich wünsche euch viel Glück.“

Ich drehte mich zu Chana um. „Du kommst also wirklich nicht mit rein?“ Nicht, dass es mich wunderte, es wäre nur schön gewesen, jemanden Fachkundiges dabeizuhaben.

„Ich habe zu viele Geschichten über dieses Haus gehört.“

Ja, sowas konnte abschreckend wirken. „Na dann, danke fürs Herbringen.“

Chana hatte uns mit drei weiteren Zirkelschwestern durch die Stadt gebracht, doch keine von ihnen wagte es, der Auffahrt auch nur zu nahe zu kommen.

Wieder schweifte mein Blick über die Fassade. Ich konnte die magischen Schwingungen, die davon ausgingen, bis hier draußen spüren. Sie fühlten sich lebendig an.

Irgendwas Unheimliches ging hier vor, und wir würden wahrscheinlich gleich erfahren, um was genau es sich dabei handelte. „Lasst uns gehen.“ Ich griff nach Askeas Hand und trat in die Einfahrt.

 

°°°°°

Tag Zehn

 

Auf der Dachkante der Garage saß eine große, groteske Statue mit einem Vogelkopf und dem Körper eines Krokodils, dem lustige Federn aus dem Rücken wuchsen. Aber irgendwie wollten die Proportionen dieses Viehs nicht so ganz passen. Meines Erachtens war der Kopf viel zu klein und unförmig. Vögel hatten doch normalerweise keine Delle in der Stirn, oder?

„An die erinnere ich mich gar nicht“, überlegte Talita.

Veith kniff die Augen leicht zusammen. „Der war früher auch nicht da.“

Ich starrte die Figur an, und plötzlich hatte ich das Gefühl, sie würde zurückstarren. Hatte sie nicht gerade geblinzelt? Unwillkürlich machte ich einen Schritt zurück. Das war beklemmend. „Wir sollten besser schauen, wie wir ins Haus kommen.“

„Vielleicht steht hinten ein Fenster offen.“ Talita wandte sich nach rechts. „Oder wir kommen durch die Tür im Garten hinein.“

Über dem Sturz der Eingangstür entdeckte ich ein Zeichen, das in das Glas geätzt worden war. Ein sehr kunstvoll gestaltetes Abbild. „Ein Obelisk.“

Meine Schwester richtete ihre Aufmerksamkeit dort hinauf. „Der war schon bei meinem ersten Besuch da. Anwar hat für den Hohen Rat gearbeitet. Der Obelisk war das Zeichen des Rats.“

„Schon seltsam, dass wir ausgerechnet hier darauf treffen“, überlegte ich.

Talita zuckte mit der Schulter. „Nicht wirklich. Das Abbild des Obelisken findest du überall in der Stadt, besonders an Orten, die eine Bedeutung in der Geschichte von Florescere haben.“

„Flo-was?“

„Das ist der Kontinent, auf dem wir uns befinden. Die magische Welt hat drei Kontinente: Incredibilis, Horrifer und Florescere.“

„Was du so alles weißt!“

„Ich habe hier gelebt, und eine Zeitlang hat es so ausgesehen, als würde ich die magische Welt nie verlassen können.“

Und deswegen hatte sie sich hier ein Leben mit Freunden, Familie und sogar einem Job aufgebaut.

Ob ich das auch getan hätte, wenn sich mir die Chance dazu geboten hätte? Vielleicht, aber bei mir wäre es sicher anders abgelaufen als bei Talita, denn Dämonen waren bei der Allgemeinheit nicht besonders beliebt.

„Lasst uns in den Garten gehen“, forderte Veith und bewegte sich wachsam am Gebäude entlang.

Mein Blick wanderte noch einmal an der sauberen Fassade des Hauses empor, dann folgte ich Talita und ihrem Verlobten um das Gebäude herum in den Garten.

Askea lauerte dabei wie ein Schatten immer direkt hinter mir.

Es war seltsam. Obwohl wir wussten, dass wir uns in diesem Moment wahrscheinlich in Gefahr begaben, schien er ruhiger und aufmerksamer als die ganze Zeit im Hexenzirkel. Vielleicht war es, weil er nicht länger zwischen den Feinden eingesperrt war, oder auch, weil er hier nicht durch einen Schwur zum Nichtstun verdammt war. Sein Gemütszustand schien jedenfalls … besser.

Das gläserne Herrenhaus mit den gelbgetönten Milchglaswänden war in einer L-Form angelegt. Mehrere Etagen zog es sich in die Höhe. Die Balkone waren mit Grün und einer Vielzahl von Blüten bepflanzt und verliehen dem Anwesen etwas Idyllisches. 

Eines jedoch unterschied dieses Gelände von den übrigen Häusern der Stadt – davon abgesehen, dass es keine Ruine war: Die Mauer, die das Grundstück begrenzte. Sie war nicht aus Glas, sondern aus einem hellen Stein, gerade hoch genug, damit niemand hinüberspähen konnte, und sie rahmte den wohl schönsten Garten ein, der mir in meinem ganzen Leben jemals untergekommen war.

„So habe ich das auch nicht in Erinnerung“, erklärte Talita und ließ ihren Blick über das gleiten, was sich vor uns ausbreitete.

Genau in der Mitte des Gartens stand ein kunstvoller Pavillon. Nein, eigentlich war es eher eine offene Pagode mit zwei Dächern, die auf einem großen Podest thronte. Die Pagode war sechseckig und konnte von allen Seiten über eine niedrige Treppe betreten werden.  

Und hier begann es seltsam zu werden. Jede Treppe teilte den Garten von der Pagode bis zur Mauer in einen eigenen Bereich und damit in völlig verschiedene Gärten. Da war ein ordentlich arrangierter Steingarten direkt neben einem japanischen Garten, der einen kleinen Wasserfall beherbergte. Direkt daneben lag ein akribisch gepflegter englischer Garten neben einem Abschnitt, der nur so mit formgeschnittenen Bäumen und Büschen verziert war.

Durch all diese Gärten führte ein verschlungener Weg, der mich doch sehr an die gelbe Steinstraße aus Der Zauberer von Oz erinnerte.

Der Abschnitt des Gartens, der bis ans Haus grenzte, bestand zu einem Großteil aus kristallklarem Wasser. Auf der Oberfläche trieben gebeizte Plattformen, die alle durch Gartenstege miteinander verknüpft waren, an denen langes Zypressengras, Sumpfschwertlilien und Japanorchideen wuchsen. Auf der Wasseroberfläche trieben Seerosen und andere Blüten, die ich nicht zu benennen wusste. Auf einer hockte ein Frosch.

„Tal, wo ist die Tür, von der du gesprochen hast?“

„Dort hinten.“ Sie zeigte über das Wasser zu einer unscheinbaren Milchglastür am Haus. „Dahinter liegt die Küche. Früher zumindest einmal.“

Schon klar, was sie damit aussagen wollte. Nachdem der Garten nicht mehr das war, was er einmal gewesen war, konnte sie sich nicht sicher sein, dass es im Haus noch genauso aussah wie bei ihrem letzten Aufenthalt hier. Nur was konnte eine so große Veränderung hervorgerufen haben? Ja klar, die Magie, aber es brauchte jemanden, der sie so steuerte, dass etwas derart Kompliziertes und Prächtiges dabei herauskam. Wer konnte das gewesen sein? Laut Saana stand das Haus bereits seit Jahren leer. Oder gab es hier eine weitere Partei, von der wir bisher nichts wussten? Ein Hausbesetzer? Wenn ja, wie war es ihm möglich gewesen, die Magie derart zu kontrollieren, wo der Rest der Welt langsam, aber sicher zugrunde ging?

Das waren einfach zu viele Fragen, und vom Herumstehen würden wir darauf sicher keine Antworten bekommen. „Lasst uns gehen“, schlug ich deswegen vor und trat in den Garten hinein. Ich kam zwei Schritte weit, bevor Askea sich vor mich drängte und mir mit einem Blick verdeutlichte, dass ich nicht die Erste sein würde, die sich in die drohende Gefahr stürzte.

Es war vergebliche Liebesmüh, sich darüber zu ärgern, da er es ja nur gut meinte. Trotzdem konnte ich mich des Gefühls der Bevormundung nicht erwehren.

Ich ließ ihn anstandslos gewähren, nahm mir aber vor, darüber nochmal zu sprechen, wenn wir das alles hinter uns hatten.

Unser erster Schritt brachte uns praktisch sofort auf einen Steg, der uns tiefer in den Garten hineinführte. Ich rechnete schon mit Knarzen und Knarren des Holzes oder dass es gar unter Askeas Gewicht zusammenbrach, doch nichts dergleichen geschah. Wir konnten es unbehelligt betreten.

Schon nach wenigen Schritten wurden unsere vorsichtigen Bewegungen sicherer. Die Stege schienen in einem einwandfreien Zustand zu sein.

Alles war friedlich. Unter der Wasseroberfläche tummelten sich bunte Fische, und mehr als einmal entdeckte ich einen Frosch, der sich eilig ins Wasser rettete.

Es war fast zu einfach, über die Stege zum Haus zu gelangen. Keine Wesen, die versuchten, uns in die Tiefe zu reißen, keine Monster, die plötzlich durch die glatte Oberfläche brachen, um uns zu verschlingen, und auch kein Geisterschiff, das uns angriff.

Mein Argwohn stieg, als wir die Tür erreichten.

„Ich hab mir das schwieriger vorgestellt“, überlegte Talita.

Also war ich hier nicht die Einzige, die ein wenig paranoid war. „Na ja, es war ja immer die Rede davon, dass in dem Haus seltsame Dinge vor sich gehen“, versuchte ich uns zu beruhigen. „Und auch, wenn der Garten zum Haus gehört, so sind wir noch immer nicht drin.“

„Das wird sich gleich ändern.“ Askea sondierte die Fassade und blieb mit dem Blick an der unscheinbaren Tür hängen. „Bleib hinter mir“, wies er mich an, als er nach dem Knauf griff und ihn drehte.

Nichts rührte sich.

Er versuchte es noch einmal und ließ dann von ihr ab. „Verschlossen.“

Wir starrten die Tür an.

„Wir könnten sie aufbrechen“, überlegte Veith.

Ein plötzliches Ächzen ließ uns alle zurückschrecken, dann begann die Tür direkt vor unseren Augen mit der Glaswand zu verschmelzen. Das dauerte nur wenige Sekunden. Als Schlussakt fiel die Türklinke ab und blieb regungslos vor meinen Füßen liegen.

„Oder auch nicht“, kommentierte Talita.

Ich neigte den Kopf leicht zur Seite. „Da scheint uns jemand nicht hineinlassen zu wollen.“

„Ja“, stimmte Veith mir zu. „Die Frage ist nur, wer?“

Das war eine ausgezeichnete Frage.

„Lasst uns nach einem anderen Weg suchen“, forderte Askea und machte sogleich auf dem Absatz kehrt.

Vorsichtig und wachsam wanderten wir am Haus entlang. Wir entdeckten noch ein halbgeöffnetes Fenster, doch als Askea es hochschieben wollte, verklemmte es. Da es sich nicht von allein bewegen wollte, wurde Askea gröber, woraufhin das Fenster, genau wie die Tür, einfach verschwand und uns somit den Zutritt verweigerte.

Ein anderes Fenster versuchten wir einzuschlagen. Der Erfolg war der Gleiche.

Am Ende fanden wir uns wieder vor dem Haus ein. Ich schaute die Eingangstür böse an. Sie weigerte sich, meinen Blicken zu weichen.

„Wir müsse da rein“, drängte Talita.

„Das sieht das Haus scheinbar anders.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und ließ meinen Blick ein weiteres Mal über die Fassade gleiten.

„Aber wir brauchen den Stein.“

Leider verschlossen sich die Wege ins Innere bei jedem Vorstoß. Nur …

Da kam mir plötzlich eine Idee. „Wir haben die ganze Zeit versucht, gewaltsam ins Haus zu kommen.“

„Ja, und?“ Talita rüttelte an einem verschlossenen Fenster neben der Tür. Fast noch in der gleichen Sekunde wurde es zur Wand.

„Wie wäre es, wenn wir um Zutritt bitten würden?“

Meine Schwester starrte mich an wie ein Pferd. „Wen willst du denn bitten? Hier wohnt doch niemand.“

„Zumindest nicht, dass wir wüssten.“ Trotzdem war es einen Versuch wert.

Der Gedanke, der in meinem Kopf herumspukte, war folgender: Wenn man ein Haus betreten wollte, dass einem nicht gehörte, versuchte man in den seltensten Fällen, durch ein Fenster zu steigen oder sich gewaltsam durch die Tür Zutritt zu verschaffen. Im Allgemeinen trat man einfach vor die Eingangstür und klingelte.

Und genau das war es, was ich nun tat.

Sobald mein Finger den Summer berührte, vibrierte die Magie des Hauses geradezu in mir. Es war so überwältigend, dass ich fast aufgekeucht hätte. Hier spielte nicht nur viel, sondern auch noch sehr alte und intensive Magie ihre Spielchen mit uns.

Es klingelte.

Ich hielt den Atem an.

Ein paar Sekunden lang geschah gar nichts, dann öffnete sich die Tür mit einem Knarzen direkt vor unseren Augen und öffnete uns den tiefen Schlund in einen … ganz normalen Korridor.

Ich blinzelte. Vor uns erstreckte sich ein Flur, der nicht einmal gähnende Leere versprach. Er war völlig normal möbliert. Da waren zwar ein paar ausgestopfte Tierköpfe an den Wänden, die dem Ganzen eine etwas morbide Note verliehen, aber ansonsten schien alles völlig normal zu sein. Da lauerten kein Monster und auch kein endlos tiefer Abgrund, in den wir stürzen konnten.

Nur ein einfacher Korridor.

„Und jetzt?“ Talita drängte sich neben mich und stieß dabei fast den Blumenkübel um, der neben der Tür stand.

„Hast du das so in Erinnerung?“, fragte ich sie.

„Bis auf Lewis, ja.“

„Lewis?“

„Er war Anwars Butler und hat immer die Tür geöffnet.“

Von einem Buttler war hier weit und breit keine Spur zu entdecken. Und da unser Auftrag lautete, den Amethyst von Bonifatius zu besorgen, und nicht, uns vor der Tür die Beine in den Bauch zu stehen, atmete ich noch einmal tief durch und trat über die Schwelle.

Ich hörte Askea hinter mir grollen, doch da er mir so dichtauf folgte, dass er praktisch an meinem Rücken klebte, machte ich mir nichts daraus.

Die Dielen unter meinen Füßen quietschten leicht, als ich sie mit meinem Gewicht belastete, ansonsten blieb aber alles ruhig.

Ich trat noch einen Schritt in den Flur hinein und begann gerade, damit meine Umgebung zu scannen, als ich hinter mir ein Klirren von zerbrechender Keramik hörte. Ich glaubte nicht, dass ich in meinem ganzen Leben schon einmal so schnell herumgewirbelt war wie in diesem Augenblick. Das war wohl auch nur der einzige Grund, warum ich noch den zerbrochenen Blumenkübel sah, den Talita in ihrer Eile umgerannt hatte, bevor die Tür direkt vor ihrer Nase zuschlug und sie damit aussperrte.

Ich hörte sie noch „Nein!“ rufen, dann verschmolz die Tür auch schon mit dem Mauerwerk und sperrte sie nicht nur aus, sondern uns auch noch ein.

Das einzige Geräusch, das dann noch folgte, war der Aufprall der nutzlos gewordenen Türklinke, die zu unseren Füßen einfach liegen blieb.

Der Anblick schockte mich so sehr, dass ich mich nicht vom Fleck rühren konnte. Wir waren eingesperrt.

Von draußen hörte ich, wie jemand gegen die Wand hämmerte, ansonsten war aber alles ruhig. Dann verklang selbst dieses Geräusch und wir wurden von einer unheilvollen Stille umschlossen.

Ich drängte mich ein wenig näher an Askea, dessen Argusaugen jeden Zentimeter des Korridors abmaßen. „So war das aber nicht geplant.“

„Es ist, wie du gesagt hast: Das Haus reagiert auf Aggression.“ Er nahm die offene Flügeltür zu unserer Rechten in Augenschein. Sie war mit Schnitzereien verziert und führte in eine riesige Empfangshalle, kreisrund, mit Bogenfenstern, und jedes Fleckchen der Wand mit Bildern bedeckt, zwischen denen immer wieder Jagdtrophäen hingen. „Gewalt begegnet es mit Verweigerung.“

„Du meinst, es verweigert Talita den Zutritt, weil sie den Blumenkübel kaputt gemacht hat?“

„Genau wie bei der Tür und den Fenstern.“

Das fand ich doch sehr beunruhigend. Das Haus reagierte auf unsere Handlungen? Sollte das bedeuten, dass dieses Gebäude denken konnte? Und in diesem Haus war ich jetzt? Das wurde ja immer besser. „Und jetzt?“

„Wir machen genau das, weswegen wir hergekommen sind, und suchen uns dann einen Weg nach draußen.“

Guter Plan, aber … „Was ist mit Tal und Veith?“

„Sie sind nicht hier, also brauchen wir keine Rücksicht auf sie zu nehmen.“ Nicht dass er das je getan hätte.

Auch wenn es mir nicht passte, so konnte ich ihm in diesem Punkt nicht widersprechen. Andererseits waren Talita und Veith draußen wahrscheinlich sicherer als wir hier drinnen. „Und wohin?“, wollte ich wissen und schaute mir den Raum zu unserer Rechten ein wenig genauer an. Die Einrichtung erinnerte mich an die Möblierung im alten Rom. In der Ecke gab es sogar einen kleinen Springbrunnen, es fehlten nur die Marmorsäulen. Und auch der Teppich wollte nicht so ganz passen.

„Hat die Katze dir gesagt, wo der Amethyst sich genau befindet?“

Konnte er nicht einfach mal ihren Namen aussprechen oder sich gar daran erinnern, dass es sich bei dieser Frau um meine Schwester handelte? Wenn man nach unserem Äußeren ging, dürfte ihm das eigentlich nicht entgangen sein. „Nein, hat sie nicht.“

Er schnaubte, als hätte er nichts anderes von ihr erwartet.

„Fällt es dir wirklich so schwer, mal etwas Gutes in anderen zu sehen?“

Diese Frage wurde wohl schon aus Prinzip nicht weiter beachtet. „Siehst du das auch?“, fragte er stattdessen.

Ich folgte seiner Blickrichtung, konnte aber nichts erkennen. „Wo?“

„Bei der Lampe in der Ecke.“

Ich kniff die Augen leicht zusammen, konnte aber immer noch nichts entdecken. Erst als ich nach magischen Elementen in der Luft suchte, bemerkte ich plötzlich ein sanftes grünes Licht direkt über der Lampe. Ein Licht, das Geräusche machte. Es war wie ein Flüstern von Wind, gemischt mit dem Kichern eines Kindes.

Jetzt, wo ich es bemerkt hatte, war es ganz deutlich.

Ich blinzelte und plötzlich war da noch ein Licht. Es schwebte über einem Tisch. Aber die beiden blieben nicht die Einzigen. Plötzlich erschienen überall im Raum diese schwebenden Lichter. Sie trieben durch die Luft und tanzten umeinander mit diesem Kichern im Wind. „Sie sind wunderschön.“

Askea schien das nicht so zu sehen. Er behielt sie im Auge, als befürchtete er, dass sie jeden Moment zum Angriff übergehen könnten.

Ich trat einen Schritt in den Raum hinein. Woran erinnerten mich diese schwebenden Fünkchen nur? „Irrlichter“, gab ich mir selbst die Antwort.

Askea folgte einem Funken, der ziemlich dicht an uns vorbeischwebte, argwöhnisch mit den Augen. „Was sind Irrlichter?“

„Kleine Leuchterscheinungen, die einen in Sümpfen und Mooren des Nachts in die Irre führen.“

Der Seitenblick, den Askea mir zuwarf, bedurfte keiner Erklärung.

„Guck nicht so. Das ist ein Mythos aus meiner Welt.“ Als eines der Irrlichter neugierig näher schwebte, streckte ich ihm lächelnd die Hand entgegen.

Es umkreiste meine Finger und schwebte über meinen Arm.

Von diesem Irrlicht ermutigt, schwebte ein weiteres heran. Und noch eines. Sie umkreisten mich in kindlicher Unschuld, und als mich eines berührte, kitzelte es auf meiner Haut.

Ich kicherte.

Ein leises Grollen stieg aus Askeas Kehle auf.

Ich hörte es kaum. Meine Augen waren wie gebannt auf die Lichter geheftet. Es wurden immer mehr. Eines war sogar so dreist und setzte sich auf meine Schulter.

Das war Askea eindeutig zu nahe. Noch ehe ich reagieren konnte, hatte er es von meiner Schulter geschlagen.

„Nein!“, rief ich noch, doch da flog es bereits Richtung Flur und zerschellte an der Wand in hundert kleine Funken.

Die Irrlichter um mich herum erstarrten mitten in der Bewegung und selbst das Säuseln ihres Kicherns verschwand. Da war nur noch ein unheilvolles Summen in der Luft, das immer lauter wurde.

„Geh zurück“, sagte Askea leise. „Ganz langsam.“

Bevor ich auch nur einen Schritt tun konnte, sausten die Irrlichter plötzlich mit Lichtgeschwindigkeit an uns vorbei in den Korridor und verschwanden funkensprühend in den ausgestopften Tierköpfen an den Wänden.

Das Summen erstarb.

Ich hielt die Luft an.

Nichts geschah. Zumindest nicht, bis die toten Knopfaugen der präparierten Köpfe auf einmal in der grünlichen Farbe der Irrlichter aufleuchteten.

„Das ist bestimmt kein gutes Zeichen.“

Die ausgestopften Wesen erwachten zum Leben.

„Ganz und gar nicht gut.“

Hinter uns brüllte etwas auf.

Wir wirbelten beide herum und entdeckten zeitgleich den Bären, der von seinem Sockel stieg und uns ins Visier nahm.

„Lauf!“, war alles, was Askea schrie, bevor er mir einen kräftigen Stoß in den Rücken gab, der mich vorwärtsstolpern ließ. Dabei hätte ich das gar nicht gebraucht. Die Aussicht darauf, von einem wütenden Bären in eine erdrückende Umarmung geschlossen zu werden, ließ meine Beine von ganz alleine agieren.

Ich rannte. Da die Tür mit dem Haus verschmolzen war, blieb mir nur die Flucht tiefer in das Haus hinein. Leider schien der frühere Besitzer ein Faible für tote Tiere an seinen Wänden gehabt zu haben, denn sie waren überall. Doch die wirkliche Bedrohung ging nicht von den knurrenden und schnappenden Mäulern an den Wänden aus, sondern von präparierten Giganten, die er überall im Haus auf Marmorsockeln zur Schau gestellt hatte.

So lange sie stillstanden, konnte man sich an der Schönheit gefahrlos erfreuen, doch wenn sie zum Leben erwachten, blieb einem nichts anderes mehr übrig, als die Beine in die Hand zu nehmen. Leider war das gar nicht so einfach, wenn direkt vor einem plötzlich ein Gorilla aus einem angrenzenden Zimmer trat und die beindruckenden Zähne zur Schau stellte.

Ich schaffte es gerade noch so, abzubremsen und meinen Kampfstab vom Rücken zu reißen, um ihm damit eine zu verpassen, bevor seine Pranke mich erwischte. Leider schien das Biest keinen Schmerz zu empfinden. Mein Schwung brachte ihn gerademal ein wenig aus dem Gleichgewicht.

„Duck dich!“, brüllte Askea.

Er ließ mir gerade noch genug Zeit, den Kopf einzuziehen, da zischte auch schon eine Flammenzuge über mich hinweg und setzte das Vieh in Flammen. Die Hitze, die dabei abgestrahlt wurde, versenkte mir die Härchen auf den Armen und sorgte für leichte Schweißausbrüche. Den brutzelnden Silberrücken dagegen ließ das Flammenbad völlig kalt. Das einzige Glück, das uns in diesem Moment beschert war, bestand in dem leicht entzündlichen Material, mit dem der tote Körper gefüllt worden war. Trotzdem blieb es mir nicht erspart, noch ein paar Schläge auszuteilen, mit denen ich das Biest auf Abstand halten musste, bevor es so sehr verbrannt war, dass es nur noch schwerlich über den Boden kriechen konnte.

„Weiter!“ Askea packte mich bei der Hand und zog mich geduckt an dem Biest vorbei.

Ein Blick nach hinten zeigte mir den Bären, dem die Beine abgesenkt worden waren. Das hinderte ihn aber nicht daran, uns kriechend wie eine Raupe weiter zu verfolgen.

„Du hättest das Irrlicht nicht schlagen dürfen“, teilte ich Askea atemlos mit und hetzte mit ihm zusammen um die nächste Ecke.

Askea knurrte, enthielt sich aber jeglichen Kommentars. Zumindest bis zu dem Moment, als plötzlich ein Wildschweinkopf von der Wand fiel und versuchte, uns während des Falls mit seinen Hauern zu erwischen. Eine Feuerlohe brachte das Vieh von seinem Vorhaben ab, kostete uns aber ein wenig Zeit, die ein weiteres ausgestopftes Tier nutzte, um uns den Weg zu versperren.

Dieses Mal jedoch hatten wir Glück, denn es war nur ein kleiner Fuchs, der von Askea in wenigen Sekunden zu einem Häufchen Asche verwandelt wurde.

Ein weiterer Kopf fiel von der Wand und schlug mit einem Krachen direkt neben mir auf den Boden. Mir stockte der Atem. Ein Tier mit einem so großen Maul, dass Askea mich zur Seite riss, damit ich nicht von den riesigen Zähnen erwischt wurde. Noch nie hatte ich so ein Lebewesen gesehen. Seine Augen funkelten uns an, die Zähne schlugen aufeinander. Bei jedem Zusammentreffen seiner Kiefer lief mir ein Schauder über den Rücken. Geifer tropfte dem Biest aus dem Maul.

Askea griff meine Hand und hastete mit mir im Schlepptau davon. Wir stolperten durch den Korridor, die Blicke immer hinter und neben uns gerichtet. Wir wurden zwar nicht verfolgt, doch trotzdem rannten wir so schnell es ging, wichen den schnappenden Mäulern an den Wänden aus und hielten uns von den Türen fern. Mein Herz raste, trieb mir Schweißperlen auf die Stirn.  

Von links kam etwas in den Flur gestolpert, das mich entfernt an die Meerversion eines Löwen denken ließ. Es war grün, hatte eine Flosse auf dem Rücken, Schwimmhäute zwischen den Zehen und Kiemen auf der breiten Brust. Und es sah ziemlich angepisst aus.

Augenblicklich wurde ich von Askea zurückgedrängt und in einen anderen Korridor geschoben, der durch eine Treppe mit dem Stockwerk darüber verbunden war.

Einen Moment lang zog ich es in Betracht, die Stufen nach oben zu stürmen, doch ein Wolf mit gefährlich scharfen Zähnen, der oben am Geländer auf der Lauer lag, ließ diesen Gedanken ganz schnell wieder schwinden. Also an der Treppe vorbei, tiefer in den Irrgarten aus Korridoren hinein.

Leider wurde aus dieser Überlegung auch nichts, denn dort warteten bereits weitere ausgestopfte Tiere, die wohl anderes mit uns im Sinn hatten. Zurück konnten wir aber auch nicht, denn das komische Vieh hing an unseren Fersen.

Hektisch flog mein Kopf auf der Suche nach einem Ausweg hin und her. „Wir sind eingekesselt.“

Askea bleckte die Fänge. Die Temperatur um ihn herum stieg an, bis die Luft flimmerte.

Eine Feuerwalze wäre sicherlich hilfreich, doch leider war ich nicht feuerfest.

„Ich mache den Weg frei, dann rennst du.“

„Guter Vorschlag. Und später werde ich mir dann über deinem Grab die Augen ausweinen.“

„Ti-a.“

„Nein, Askea, vergiss es.“ Außerdem war ich eine Hexe, warum sollte ich also weglaufen? „Jetzt bin ich dran“, verkündete ich und sammelte meine Magie um mich herum.

Natürlich spürte meine drakonischer Dämon das sofort, und noch während er mich am Arm packte und herumwirbelte, begann das Mal auf meiner Schulter zu kribbeln. Er versuchte mich an meinem Vorhaben zu hindern, doch nicht nur die wilde Magie war stark und unberechenbar geworden.

Ich spürte das Wirbeln unter meine Haut, die Macht, die darauf drängte, freigelassen zu werden, und haderte einen Moment mit meiner Entscheidung. Vielleicht war es doch keine so gute Idee. In diesem Haus gingen seltsame Mächte umher, und die versuchten nun, meine eigene Magie zu beeinflussen. Nicht einmal Askeas Einfluss auf mich kam dagegen an.

Langsam schien mir die Kontrolle zu entgleiten. Es erforderte meine ganze Konzentration, die Magie in die richtigen Bahnen zu lenken und ihr meinen Wunsch aufzuzwängen. Zerstöre sie!

Die Freisetzung kam einer explosionsartigen Welle gleich. Sie schwappte aus mir heraus, überrollte die Böden und Wände und ließ alles Tote auf den Korridoren und angrenzenden Zimmern zu Staub zerfallen.

Die Irrwichte flüchteten in alle Richtungen, drangen in hektischen, singenden Winden durch Wände und Decken, während ich noch zu Luft zu kommen versuchte.

So viel Magie auf einmal hatte ich noch nie gewirkt. Ich wusste nicht einmal, wo all das hergekommen war. Selbst Askea schien davon überrascht, doch der Ausdruck in seinem Gesicht wich aufkommender Sorge. Er packte meinen Arm, riss ihn hoch und führte ihn mir genau vor Augen. „Sieh!“, fuhr er mich an.

Dunkle Rosetten zeichneten sich auf meiner Haut ab. Es war lange her, dass ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Nur wenige Sekunden später begann die Magie unter meiner Haut erneut zu vibrieren, und dieses Mal schaffte ich es nicht, ihr meinen Willen aufzuzwingen.

Es war genau wie damals in der Wüste. Hitzewallungen liefen über mich hinweg. Der Schmerz kam so plötzlich, dass er mir die Beine unter dem Körper wegriss. Askea fing mich noch auf, bevor ich zu Boden ging, und dann schrie ich. Als die Magie in mir explodierte, versank die Welt um mich herum in Schmerz.

Gleißendes Licht strömte von allen Seiten auf mich ein. Der singende Wind der Irrwichte wurde zu einem fernen Rauschen. Nichts schien mehr einen Sinn zu ergeben, als die Macht mich umschlang und in jede Faser meines Körpers eindrang.

Meine Haut juckte, mein Herz raste, und auch wenn meine Augen weit aufgerissen waren, konnte ich nichts sehen. Nichts außer diesem gleißenden Licht.

Ein Pochen auf meiner Schulter durchdrang diesen Nebel, der mich zu verschlingen drohte. Stark und drängend versuchte es mir etwas zu sagen, zwang mich dazu, meine Magie unter Kontrolle zu bringen, und bot mir einen Weg aus meinem Leid.

Und dann … war es einfach vorbei.

Mein Herz raste und mein Atem wollte sich nicht beruhigen. Es fiel mir schwer, meinen Blick zu klären und mich auf etwas zu konzentrieren. Irgendwie wirkte alles … falsch.

Moment, das hatten wir doch schon einmal.

Unter mir spürte ich den harten Boden. Er vibrierte leicht. Das war doch nicht normal, oder? Ich zwang mich, meinen Blick auf den Schatten vor mir zu fokussieren. Er wurde deutlicher und verschwamm dann wieder. Lippen. Vor mir waren Lippen und bewegten sich, doch außer diesem Rauschen drang nichts an meine Ohren. Nein, kein Rauschen, das war Wind. Sturmartige Böen fegten durch die Korridore und Räume und rissen alles mit sich, dessen sie habhaft werden konnten. Als ich versuchte aufzustehen, stießen sie mich einfach wieder zur Seite. Sie rissen auch an meinem … Fell?

Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich hatte mich verwandelt, so wie damals in der Wüste, als Ryu versucht hatte, mich zu töten. Ich war ein Schneeleopard.

„… auf!“ Etwas zerrte an mir.

Ich blinzelte. Das war Askea.

„Sofort!“, brüllte er mich an. „Los!“

„Askea?“ Meine Stimme klang aber seltsam. Viel zu tief.

„Du musst aufstehen!“ In seinen Augen stand ein Drängen, dessen Ursache mir verschlossen blieb.

Ich verstand nicht, was er von mir wollte, bis ich das Grummeln des Hauses ein weiteres Mal spürte. Es kam tief aus seinem Inneren. Eine Vibration, die sich über alles ausbreitete und …

Mein Blick klärte sich endlich, und was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Der Boden bröckelte. Der halbe Korridor hatte sich bereits in einen schwarzen Schlund verwandelt, der so tief war, dass der Boden unerreichbar schien, und die Kanten brachen weiter kontinuierlich ab – immer auf uns zu. Wir würden abstürzen. Wir würden von den Untiefen einfach verschlungen werden, wenn wir hier hocken blieben.

Ich sprang so hektisch auf die Beine, dass ich über die zerrissenen Reste meiner Robe stolperte und auf die Nase fiel. Ich versuchte mich aus dem Stoff zu winden, aber es wollte mir nicht gelingen. Nicht nur, dass dieser Körper völlig ungewohnt war, mein Mittelpunkt hatte sich auch vollkommen verschoben. Ich war plötzlich so tollpatschig wie ein kleines Kätzchen, das seine ersten Gehversuche unternahm, nur brachte ich dabei fast hundert Pfund auf die Waage.

Askea musste den festen Stoff zerreißen, damit ich mich herauswinden konnte und auf die Pfoten kam. Doch da begann bereits mein nächstes Problem. Ich hatte keine Ahnung, wie man sich auf vier Beinen bewegte, und der Schwanz an meinem Hintern war mehr als nur ein wenig ungewohnt. Das mit dem Gleichgewicht wollte einfach nicht klappen.

Als ich auch bei meinem dritten Versuch wieder wegrutschte und von den orkanartigen Winden fast umgeworfen wurde, packte mich Askea unter den Achseln und stemmte mich hoch. Dabei gab er kein Geräusch von sich. Es war einfache Entschlossenheit, die ihn antrieb.

Die ausgestopften Viecher waren Vergangenheit. Der Feind, der uns jetzt bedrohte, war viel gefährlicher. Er griff von allen Seiten an, bewegte sich unaufhörlich auf uns zu. Den Korridor hinunter trennten uns vielleicht drei Meter vom Abgrund. Vor uns waren es noch mindestens zehn Meter, doch die nächstgelegene Tür würden wir auf diesem Weg nicht erreichen; die Untiefen hatten den Weg dorthin bereits versperrt. Trotzdem lief Askea in diese Richtung.

In meiner aufkommenden Panik versuchte ich meine Krallen zu zügeln und sie ihm nicht aus Angst, ich könnte verloren gehen, in die Schultern zu bohren.

Hinter uns knirschte und bröckelte es weiter. Vor uns hatte der Abgrund sich bereits bis zur Treppe vorgearbeitet und riss nun den Boden vor den untersten Stufen mit sich in die Tiefe. Die Treppe jedoch blieb unberührt.

Dort wollte Askea also hin. Wenn wir es bis zur Treppe schafften, konnte der Abgrund uns nichts mehr anhaben.

Mein gehetzter Blick ging über Askeas Schulter. Der Abgrund war gefährlich nahgekommen, etwas mehr als ein Meter. Er würde uns einholen. Vor uns sah es kaum besser aus. Vier, vielleicht fünf Meter, dann endete der Boden einfach. Und es wurde immer weniger, was nicht nur daran lag, dass mein drakonischer Dämon sich darauf zu bewegte.

„Askea!“ Die Panik in meiner Stimme ließ sich einfach nicht verschleiern. Wir würden abstürzen. Wir würden einfach in diese unendlichen Tiefen fallen, ohne etwas dagegen tun zu können.

Plötzlich bremste Askea, drehte seinen Oberkörper ein wenig und straffte die Muskeln. Noch bevor mir aufging, was er damit bezweckte, warf er mich auch schon.

Die böenartigen Winde ergriffen mich, gaben mir extra Schub über den Abgrund und schmetterten mich gegen die Treppe. Der Aufprall war hart und ließ meine Rippen schmerzen, trotzdem schaffte ich es rein instinktiv, die Krallen auszufahren und sie in das Holz der Treppe zu bohren. Noch in der gleichen Sekunde wurde mir etwas furchtbar bewusst.

Mein Kopf wirbelte herum. Askea stand auf einem kleinen Rest des Korridorbodens, der gerade unter ihm wegbröckelte. Dann fiel er.

„Nein!“

Mein Schrei hallte durch das Haus. Es dauerte vielleicht zwei Sekunden, bis Askea aus meinem Blickfeld verschwunden war und nichts als die Untiefen aus Schwärze zurückblieben, in denen der Wind heulte, als müsste er das Geschehene betrauern.

Wieder vibrierte das Haus.

Ich hockte da, die Krallen in der Treppe, um nicht davongeweht zu werden, und stellte mich blind für das, was gerade passiert war. Das konnte nicht sein. Egal, was da gerade geschehen war, es war nicht Askea gewesen, der dort in die Tiefe gestürzt war. Das konnte ich einfach nicht glauben.

Aber wenn er es nicht gewesen war, wo befand er sich dann? In einem solchen Moment würde er mich niemals im Stich lassen. Er würde bei mir sein, mich trösten und retten und …

Er hatte mich gerettet. Er hatte mich über den Abgrund geworfen, um mich zu retten, und war dafür in den Tod gegangen. Diesen Sturz konnte niemand überleben.

Ein Wimmern kam mir über die Lippen. Mein ganzer Körper wurde kalt und begann zu zittern. Askea war nicht mehr da. Er war weg.

Dieser Gedanke … Alles schien zu verblassen. Selbst das Tosen des Windes um mich herum wurde plötzlich zu einem entfernten Rauschen. Ich spürte nichts mehr. Da war auf einmal nur noch eine unendliche Leere in meinem Inneren. Askea war mit mir in dieses Haus gegangen, weil ich das so gewollt hatte, und nun war er nicht mehr bei mir. Er würde mich nie wieder einfach packen, um seinen Instinkten zu folgen. Er würde mich nie wieder anfauchen, weil ich seinen Befehlen nicht gehorchte. Er würde nie wieder versuchen, mich mit einem bösen Blick zu strafen. Und er würde mich nie wieder in die Arme schließen und mir damit eine Sicherheit geben, zu der kein anderes Wesen fähig war.

Niemals wieder.

Nein, bitte, nein.

Ich merkte kaum, wie ich die Krallen aus dem Holz löste und zur untersten Stufe kroch. Der gähnende Abgrund vor mir war so tief, dass Schwärze das Einzige war, was meinen verschleierten Blick erwiderte.

Meine Augen brannten. Mein Herz schien vor Schmerz in der Brust zerspringen zu wollen. Plötzlich bekam ich viel zu schwer Luft. Da war nichts anderes mehr als dieses unendliche Leid, das sich mit Klauen und Zähnen immer tiefer in meinem Körper schlug.

Ich konnte nichts machen.

Ich starrte in diese Untiefen, und mir wurde bewusst, dass ich zur Ohnmacht verdammt war. Es gab absolut nichts, was diesen Schmerz, der durch mein Innerstes tobte, auch nur im Entferntesten erträglich machen konnte. Nichts und niemanden …

Die Treppe unter mir bebte, das Geländer zitterte wie Espenlaub. Der Orkan zerrte an dem Holz, brach es entzwei und versenkte es in der Tiefe. Die Stufen vibrierten, das Holz zersplitterte in kleine Teile. Der Sturm begann damit, die Treppe Stück für Stück zu zerreißen und in den Schlund unter mir zu zerren.

Wäre ich in diesem Moment noch zu einem Gefühl fähig gewesen, so wäre ich vielleicht in Panik geraten, doch so wie die Dinge lagen, schoss mir ein völlig irrationaler Gedanke durch den Kopf: Wenn der Sturm mich in die Tiefe reißt, bin ich wenigstens wieder bei ihm.

Ich schloss die Augen und wollte es geschehen lassen.

Um mich herum knarrte und knirschte das Holz. Es stemmte sich ächzend gegen diese Urgewalt, hatte dem Sturm jedoch nichts entgegenzusetzen.

Langsam und schleichend wand sich die Angst durch meinen Leib, und plötzlich sah ich die Gesichter von Fax und Seraphine vor meinem inneren Auge. Er, mit dem viel zu ernsten Gesicht, und sie, mit dem ewigen Lächeln auf den Lippen. Wenn ich mich in die Tiefe zerren ließ, um meinem Leid zu entkommen, würden sie niemanden mehr haben. Sie würden Gejagte werden, Verdammte, Unwürdige in den Augen Fremder.

Ich riss die Augen auf und starrte in das endlose Nichts, während der Orkan an meinem Fell zerrte und alles daransetzte, mich in den Abgrund stürzen zu lassen.

Nein. Ich konnte das nicht tun. Ich konnte meine Kinder nicht im Stich lassen. So sehr mein Herz auch danach schrie, Askea zu folgen, ich konnte es einfach nicht.

In meinem ganzen Leben war mir wohl noch nie etwas so schwergefallen, wie mich in diesem Moment von dem Abgrund abzuwenden. Ich musste die Treppe hinaufklettern und mich in Sicherheit bringen, doch meine Beine wollten noch immer nicht so wie ich, und die Winde machten es mir noch viel schwerer, mein Gleichgewicht zu finden.

Das Holz knarrte und ächzte. Weitere Teile stürzten in die Tiefe.

Ich drängte mich an die Wand, benutzte meine Krallen, um mich nach oben zu ziehen.

Plötzlich war ein Knacksen und Brechen zu hören. Die ganze Treppe zitterte. Der Sturm griff fester zu. Direkt vor mir brach die Treppe auseinander.

Ich riss die Augen auf, versuchte noch meine Pfote auszustrecken, um den oberen Teil der Treppe zu erreichen, da fiel ich auch schon …

… und schlug hart mit dem Rücken auf. Mein Blick flitzte panisch hin und her. Der Fall hatte nicht mal eine Sekunde gedauert, und jetzt …

Verdammt, was war hier los?!

Mein Herz trommelte so wild in meiner Brust, als wollte es jeden Moment einfach den Dienst quittieren. Meine Lunge schien jeden Moment einfach zu kollabieren. Mein ganzer Körper vibrierte, so stark zitterte ich, und meine Wahrnehmung schien sich einen schlechten Scherz mit mir zu erlauben.

Der Boden, auf dem ich saß, war der Boden des Korridors. An den Wänden hingen die ausgestopften Tierköpfe – leblos zur Ewigkeit erstarrt. Auf dem oberen Absatz der Treppe stand der Wolf auf seinem Sockel, den Kopf majestätisch erhoben. Die Treppe war unversehrt, der Boden ein wenig verstaubt, aber ansonsten völlig in Ordnung. Da waren kein Abgrund, kein Sturm und auch keine Irrwichte. Nur ein alter, vergessener Korridor in einem seltsamen Haus.

Alles war genau so, wie es sein sollte. Selbst meine Hände waren wieder da. Keine Haare, kein Schwanz, keine Krallen. Sogar meine Robe war in einem annehmbaren Zustand. Ein wenig dreckig, aber nicht zerrissen. Es war, als hätte ich mich nie verwandelt. Vielleicht … Hatte ich mich überhaupt verwandelt?

Ich wurde verrückt, ganz eindeutig. Ich war definitiv nicht mehr bei Sinnen. Anders war das einfach nicht zu erklären.

Neben mir stöhnte jemand.

Ich wirbelte so schnell herum, dass ich mir beinahe den Hals verrenkt hätte.

Askea.

Er lag ausgestreckt neben mir auf dem Boden und stützte sich gerade auf die Unterarme, um sich zu erheben.

Ohne lange darüber nachzudenken, warf ich mich ihm einfach um den Hals und streckte ihn dabei erneut zu Boden.

Der Aufprall entlockte ihm ein Grunzen.

„Oh Gott, du lebst“, flüsterte ich und drückte ihn, so fest ich konnte. „Du lebst, du lebst.“ Meine Augen brannten. Ich konnte es nicht fassen. Ich hatte ihn in den Abgrund stürzen sehen, und doch hielt ich ihn nun in meinen Armen.

„Was …?“, fragte er leicht desorientiert und legte mir die Hand auf den Hinterkopf. Die Zärtlichkeit in dieser Geste ließ mein Herz springen. „Dir geht es gut“, flüsterte er. Es war fast ein Staunen, das nur so von Erleichterung durchdrungen war.

Ich gab ein abgehacktes Lachen von mir, das von meinen Tränen erzählte, bevor ich mich so weit löste, dass ich in sein Gesicht sehen konnte. „Mir geht es gut? Ich dachte, ich hätte dich verloren.“

Seine Augen forschten so tief in meinem Blick, dass es sich plötzlich sehr intim anfühlte.

„Mach das nie wieder“, flehte ich ihn an. „Ich will dich nicht verlieren.“

„Tia.“ Er beugte sich vor und strich mit der Nase an meinem Gesicht entlang. Ich konnte seinen Atem auf meiner Haut spüren und glaubte sogar, die zögernde Berührung seiner Lippen zu fühlen, so als wäre er sich nicht sicher, ob das so richtig war.  

„Tu mir das nie wieder an“, flüsterte ich erneut und vergrub das Gesicht an seiner Halsbeuge.

Er schlang die Arme um mich und hielt mich fest.

Der Moment wurde gestört, als das Haus wieder leicht vibrierte.

Es war der Schreck, der uns beide auf die Beine trieb. Unsere Blicke glitten wachsam über unsere Umgebung. Alles war ruhig und … viel zu normal.

„Wie ist das möglich?“, fragte ich leise.

Askea antwortete nicht. Das hieß dann wohl, dass er mit seinem Latein auch am Ende war.

„Haben wir uns das nur eingebildet?“

„Es hat sich echt angefühlt.“ Er machte ein paar Schritte, als wollte er die Stabilität des Bodens überprüfen. Alles war, wie es sein sollte. „Vielleicht sollten wir gehen.“

„Aber wir brauchen den Amethyst.“ Von ihm hing alles ab. Wir konnten nicht einfach erfolglos verschwinden. Andererseits, war es das wert? Ich hätte Askea fast verloren. Aber ohne diesen Stein bestand auch weiterhin die Gefahr, dass ich ihn verlieren könnte. Nein, ich konnte nicht einfach so gehen.

„Dann lass ihn uns suchen und dann das Haus verlassen.“

Wieder glitt eine leichte Vibration durch Boden und Wände.

Was hatte das zu bedeuten? Das war mir absolut nicht geheuer.

„Vergiss deinen Stab nicht.“

Nein, das würde ich nicht. Ich suchte den Boden mit meinen Augen ab. Der Stab lag noch immer dort, wo ich mich verwandelt hatte. Wenn ich mich denn verwandelt hatte. War das alles nur eine Illusion gewesen? Bildete ich mir diesen Moment einfach nur ein? Das Gefühl von Angst kehrte zurück. Ich packte Askeas Hand, um mich zu versichern, dass er wirklich neben mir stand.

Aber wenn das wirklich nur eine Illusion gewesen war, warum lag der Stab dann da auf dem Boden und befand sich nicht auf meinem Rücken, wo er hingehörte? Wenn das alles nur Einbildung gewesen war, warum standen Askea und ich dann hier bei der Treppe und nicht hinten bei der verschwundenen Eingangstür, wo all das begonnen hatte? Aber Askea hatte das alles auch erlebt. Es waren nicht nur seine wenigen Worte, die mir das bestätigten, sondern auch das wachsame Verhalten. Wenn es also nicht nur unserer Phantasie entsprungen war, was war es dann gewesen?

„Da entlang“, sagte Askea und zog mich damit aus meinen kopfschmerzbereitenden Gedanken heraus.

„Woher weißt du das?“

„Ich weiß es nicht, aber irgendwo müssen wir anfangen.“

Da war etwas Wahres dran. „Wir müssen auch die Räume durchsuchen.“

Als hätte das Haus meine Worte verstanden, knallten plötzlich im ganzen Haus die Türen zu. Es klickte unzählige Male, als die Schlösser sich verschlossen und uns damit auf den Korridor verbannten.

„Da will wohl jemand nicht, dass wir herumschnüffeln.“ Ohne Askea loszulassen, schnappte ich mir meinen Stab und schnallte ihn mir wieder auf den Rücken. Dann warf ich ihm noch einen wachsamen Blich zu, bevor wir uns tiefer in das Haus hineinwagten.

Vielleicht wäre es förderlich gewesen, wenn Talita uns vor dem Betreten des Hauses einen Grundriss davon gezeichnet hätte, dann müssten wir jetzt nicht ziellos herumsuchen. Wenigstens hatte sie erwähnt, dass sich die Schatzkammer im Erdgeschoss befand; das begrenzte unseren Suchradius etwas. Die verschlossenen Türen taten ihr Übriges. Es blieb uns gar nichts anderes übrig, als wachsam durch die Korridore zu schleichen.

Ich entdeckte eine Tür mit sehr makabren Verzierungen. In das Holz war eine Darstellung von einem Jäger und Wölfen eingearbeitet. Nein, keine Wölfe, Werwölfe. Lykaner. „Könnte es das sein?“

Askea starrte die Tür an, schüttelte dann aber den Kopf. „Zu wenig Magie.“

Er hatte Recht. Wir suchten einen Ort, dem die Magie aus allen Poren drang, und wir fanden ihn.

Wir hatten das Ende des Korridors erreicht. Direkt vor uns war eine schlichte Tür, die nicht mal eine Klinke besaß. Direkt in ihrer Mitte war eine kleine, verzierte Vertiefung von der Größe eines Cent-Stücks. Die Vertiefung zeigte ein kaum erkennbares Muster. Würde ich hinter dieser Tür nicht diese absonderlich starke Magie spüren, hätte ich ihr wohl kaum einen zweiten Blick gewidmet. Aber ich spürte sie. Sie war so stark, dass sich die Härchen auf meinen Armen aufstellten.

„Das muss es sein.“

Askea neigte den Kopf leicht zur Seite und untersuchte die Tür mit den Augen. „Keine Klinke.“

Ja, das war seltsam. Die anderen Türen, an denen wir vorbeigekommen waren, hatte das Haus zwar verschlossen, aber die Klinken waren noch vorhanden gewesen. Zwei Türen allerdings hatten während unseres Aufenthalts hier ihre Klinken verloren, als sie mit den Wänden verschmolzen waren.

Hier jedoch war die Tür nicht verschmolzen und auf dem Boden fand ich auch keine Klinke, die abgefallen war. Wenn ich mir all diese Punkte vor Augen führte, konnte das unterm Strich nur eines bedeuten: Die Tür war genau so, wie sie sein sollte.

Leider half mir das nicht bei der Frage, wie ich sie öffnen sollte.

Mein Blick fiel wieder auf die Vertiefung. Sie passte nicht ins Bild. Die Tür war makellos – schlicht, aber makellos –, und wenn sich dahinter wirklich die Schatzkammer befand, war die gewiss irgendwie gesichert. „Ich glaube, das ist das Schloss.“

Askea konzentrierte sich auf die Vertiefung. „So ein Schloss habe ich noch nie gesehen.“

„Und wir haben auch keinen Schlüssel.“

Seine Stirn legte sich in Falten. Seine Miene zeigte Widerwillen, und für einen Moment schien er mit sich selbst zu ringen und die Situation abzuwägen. Dann fragte er: „Bekommst du sie auf?“

Bat er mich etwa gerade darum, Magie anzuwenden? Ich ließ mir nicht anmerken, wie sehr mich das überraschte, und versuchte so zu tun, als wäre alles ganz normal. „Das werden wir wohl herausfinden müssen.“ Etwas widerstrebend ließ ich ihn los, trat direkt vor die Tür und legte meine Handflächen auf das glatte Holz. Die Magie, die mir entgegenschlug, löste eine solche Euphorie in mir aus, dass ich fast vor Wonne gestöhnt hätte. So etwas hatte ich noch nie gespürt. Das Einzige, was mich davon abhielt, sofort weiche Knie zu bekommen und mich einfach in Entzücken fallenzulassen, war der wachsame Blick von Askea.

Konzentrier dich!, ermahnte ich mich.

Okay. Ich atmete tief durch. Ich bin hier die Hexe, ich kontrolliere die Magie, nicht umgekehrt. Du kriegst mich nicht klein. Sehr langsam ließ ich Magie in meine Hände gleiten, um erstmal die Beschaffenheit dieser Tür zu testen. Sie war verzaubert. Ein sehr alter und sehr starker Zauber. „Ohne den Schlüssel wird es schwer, da reinzukommen.“

Askea erwiderte nichts.

In Ordnung, ich schaff das. Ich atmete noch einmal aus, schloss dann die Augen und konzentrierte mich auf das Muster der Magie. Etwas so Kompliziertes hatte ich noch nie gesehen. Das würde dauern.

Zuerst versuchte ich die Verschlüsselung der Magie zu entwirren, aber jeder Faden, dem ich folgte, führte mindestens zu drei anderen, die sich wieder zu drei anderen aufspalteten. Es war komplizierter als ein Labyrinth, und jedes Mal, wenn ich glaubte, endlich einen Faden gefunden zu haben, der mich meinem Ziel ein Stück näherbrachte, stellte es sich als Enttäuschung heraus. Das war schlimmer als die Nadel im Heuhaufen; das war ein Sandkorn am Praia do Cassino – der mit zweihundertvierundfünfzig Kilometern wohl der längste Strand der Welt war.

Die Zeit verstrich im Schneckentempo. Ich versuchte Ruhe zu bewahren und mich in Geduld zu üben, suchte fieberhaft nach einem Weg, diese Tür zu öffnen, doch als ein Krampf meinen linken Arm hochwanderte, nahm ich die Hände von der Tür und schüttelte ihn aus. „So komme ich nicht weiter.“

„Dann versuche es mit einer Überladung.“

Ich schaute zu ihm auf. „Überladung? Du meinst, ich soll das System der Tür kurzschließen?“

Seine Verwirrung ließ seine Stirn kraus werden. „Du sollst Magie in den Zauber pumpen, bis er platzt.“

„Also ja.“ Aber wenn ich Magie in den Zauber gab, wurde er dann nicht einfach nur stärker werden? Andererseits konnte eine Batterie auch nur eine begrenzte Stärke an Energie aufnehmen. „Okay, ich versuche es.“ Ich schüttelte meine Arme aus, legte sie wieder auf die Tür und konzentrierte mich. Gehorche mir, folge meinem Willen.

Die Magie schoss aus mir heraus. Ich entlud sie einfach in die Tür hinein. Die Reaktion kam umgehend. Das Haus kreischte, dann wurde die Magie in Sekundenbruchteilen auf mich zurückgeworfen. Es passierte so schnell, dass mir keine Zeit zum Ausweichen blieb. Die Wucht erfasste mich und schleuderte mich zurück. Nicht einmal Askea war schnell genug, um mich aufzufangen. Ich knallte mit voller Wucht auf den Rücken.

Der Sturz war hart. Die Magiewelle, die mich überrollte, noch härter.  

„Tia!“

Einen Moment sah ich Sterne, dann war Askea auch schon neben mir und berührte mich besorgt an der Wange.

„Schon gut“, versuchte ich ihn zu beruhigen. „Mir geht es gut.“

Ein leises Grollen drang aus seiner Kehle.

Sehr vorsichtig und mit ein wenig Hilfe von Askea setzte ich mich auf und rieb mir den schmerzenden Kopf. „Das wird bestimmt eine Beule geben.“

Er funkelte mich an. Anscheinend fand er das nicht so amüsant wie ich. Okay, eigentlich fand ich das auch nicht besonders amüsant, aber bevor mich der Stress der Situation überfiel, war es doch besser, sich in Galgenhumor zu retten.

„So komme ich auf jeden Fall nicht hinein. Die Tür wehrt sich gegen fremde Magie.“

„Dann bleibt nur noch rohe Gewalt.“

Ich sah ihn an, dann die Tür, dann wieder ihn. „Willst du die Tür eintreten? Tut mir leid, dir das zu sagen, aber ich glaube nicht, dass du das schaffst.“

„Ich werde sie verbrennen.“

Ach so. „Das wiederum schaffst du vermutlich.“ Mann, das tat wirklich weh. Ich traute mich nicht einmal, über die schmerzende Stelle zu streichen. Wahrscheinlich würde das am Ende nicht nur eine Beule, sondern ein ganzes Horn werden. „Hilfst du mir hoch?“ Ich traute meinen Beinen nicht so ganz.

Askea griff mir unter die Achseln und stellte mich zurück auf die Beine. „Bleib hinter mir“, befahl er, schob mich noch ein wenig den Korridor hinunter und baute sich dann mit dem Gesicht zur Tür vor mir auf.

Sein Blick war konzentriert. Die Luft um ihn herum erwärmte sich so schnell, dass mir der Schweiß ausbrach und die Luft zu flimmern begann. Würde ich ihn jetzt anfassen, würde ich mir wahrscheinlich Verbrennungen dritten Grades zuziehen. Daher beließ ich es bei einem Blick über seine Schulter.

Askea stellte die Beine ein wenig weiter auseinander und streckte seine Arme in Richtung Tür aus. Er atmete paarmal tief durch. Die Hitze um ihn herum nahm weiter zu, er glühte geradezu, dann entließ er sein Feuer. Es schoss nicht nur aus seinen Händen; es brach sich aus seinem ganzen Körper Bahn und walzte mit solcher Kraft auf die Tür zu, dass ich den Aufprall durch den Boden spüren konnte. Die Hitze, die dabei entstand, ließ die Tapeten an den Wänden innerhalb von Sekunden schwarz werden, doch die Tür gab nicht nach.

Dafür hallte ein Laut durch das Gebäude, der mir die Nackenhärchen aufstellte. Es war ein Kreischen des Schmerzes. So etwas hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört. Es war, als würde jemand bei lebendigem Leibe gegrillt werden. Plötzlich bebte der Boden, und noch während ich um mein Gleichgewicht bangte, begannen sich die Wände zu bewegen. Die Oberfläche wölbte sich. Sie schienen zu atmen, als wären sie lebendig, dann schoss eine riesige gläserne Hand aus der Wand hervor.

Mein Schrei steckte mir noch in der Kehle, als sie sich um Askea schloss und versuchte, ihn in die Wand hineinzuziehen. Sein Feuer erstarb.

„Nein!“

Askea schmiss den Kopf in den Nacken und schrie. Die Faust presste ihm nicht nur die Arme an den Körper, sie versuchte ihn zu zerquetschen.

Es geschah alles so schnell, dass ich nichts anderes tun konnte, als instinktiv zu handeln. Den Großteil meiner Magie hatte ich bereits aufgebraucht, aber es war noch genug für einen letzten heftigen Schlag übrig – und genau den setzte ich nun ein.

Meine Hände fuhren einfach in die Höhe und warfen alles, was sie hatten, gegen die Faust, die bereits halb in der Wand verschwunden war und Askea mit sich hineinzerrte.

Der Aufprall brachte die Glaswand zum Glühen.

„Zerspringe!“, befahl ich.

Risse kletterten über das Glas. Ein feines Spinnennetz, das sich auch über die Hand ausbreitete.

Das Haus stieß einen Laut des Leidens aus, dann explodierte die Außenwand.

Von der Wucht wurde ich zurückgeworfen. Ich knallte gegen die gegenüberliegende Wand und schaffte es gerade noch, die Arme hochzureißen, bevor der Scherbenregen auf mich niederging.

Der Krach war gigantisch. Das Glas fiel klirrend zu Boden. Askea kam mit einem dumpfen Aufprall auf und das Haus schrie in seinem Schmerz.

Die Robe der Hexen war leider nicht sehr dick. Die Scherben schnitten durch den Stoff, als wäre es Butter. Meine Haut brannte und aus vielen kleinen Schnitten sickerte Blut.

Die letzten Scherben fielen zu Boden, dann war nur noch das Wehklagen des alten Herrenhauses zu hören.

Nur sehr zögernd nahm ich die schützenden Arme herunter und ließ meinen Blick durch den Korridor gleiten. Askea saß ein Stück weiter und tat es mir gleich.

Der Korridor war zerstört. Die innere Wand war völlig verbrannt, in der anderen klaffte ein riesiges Loch mit scharfen Kanten.

Ich versuchte meinen Atem zu beruhigen, während ich mich neben Askea hockte. Sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt. „Geht es dir gut?“

„Rippen“, presste er zwischen den Zähnen hervor.

Sehr vorsichtig tastete ich seinen Brustkasten ab.

Er zischte.

„Tut mir leid.“ Wenn er bei einer so kleinen Berührung bereits Schmerzenslaute von sich gab, musste es ihm wirklich dreckig gehen. Meine Magie war fast aufgezehrt und würde einige Zeit brauchen, um sich zu regenerieren, doch für ein paar Heilzauber würde ich noch genug aufbringen können, ohne in Ohnmacht zu fallen. „Das wir jetzt wehtun“, warnte ich ihn vor und legte meine Handflächen auf seinen Rippenbogen.

Er zuckte und stieß einen Fluch aus, versuchte aber stillzuhalten, während meine Magie in seinem Körper arbeitete. Drei Rippen waren gebrochen, zwei weitere angeknackst, und seine rechte Schulter schien sich nicht im richtigen Winkel zu befinden.

Es brauchte meine ganze Konzentration und fast zwanzig Minuten, um ihn so weit zu reparieren, dass er wieder frei atmen konnte und die Fähigkeit wiedererlangte, sich halbwegs schmerzfrei zu bewegen. Die Schmerzensschreie des Hauses hallten die ganze Zeit in meinen Ohren wider.

Es war verletzt.

Ich hatte es verletzt.

Es war genau, wie Askea es vorhin bereits gesagt hatte: Das Haus reagierte auf Gewalt. Aber nicht, weil es böse war, nein. Langsam glaubte ich, dass es sich damit nur schützen wollte. Aber es war zu weit gegangen; es konnte Askea nicht haben – egal, was er getan hatte –, denn er gehörte mir. Doch ich konnte das Haus auch nicht leiden lassen, denn das alles war nur passiert, weil wir hier eingedrungen waren. Darum heilte ich Askea auch nicht vollständig. Ich brauchte meine Reserven.

Ich erklärte meinem drakonischen Dämon nicht, was ich vorhatte, als ich die Hände von ihm nahm und mich erhob. Kein Wort kam über meine Lippen – nicht bis zu dem Moment, in dem ich die gläserne Wand berührte. „Es tut mir leid“, sagte ich leise, „aber ich konnte ihn dir nicht überlassen.“ Damit setzte ich meine Magie frei und tat das, was ich gerade schon mit Askea getan hatte: Ich heilte das Haus.

Kleine und große Scherben erhoben sich vom Boden und flogen durch die Luft zum Loch in der Wand. Askea musste hastig zur Seite treten, um von ihnen nicht erwischt zu werden und sich weitere Schnitte zuzuziehen. Staub wirbelte auf. Erst ging alles noch sehr langsam, doch es wurde schnell mehr. Das Geräusch von Klirren und Klicken erfüllte den Raum. Scherbe um Scherbe fügte sich wieder in die Wand ein, formte die Hand neu, die sich dabei langsam in das Glas zurückzog.

Die Risse waren noch zu sehen und heilten nur sehr langsam.

Mir trat der Schweiß auf die Stirn. Das war anstrengender, als ich angenommen hatte, doch ich gab nicht nach, bis auch die letzte Scherbe wieder an ihrem Platz und verschmolzen war. Selbst dann leitete ich noch weitere Magie in das Haus, um die Verbrennungen zu heilen.

Mein Atem wurde immer schwerer und eine aufzehrende Erschöpfung schlich sich langsam in meine Glieder. Während noch der letzte Rußfleck verschwand, musste ich mich an der Glaswand abstützen, um nicht in die Knie zu gehen. Ich war plötzlich so müde.

Ich bemerkte erst, dass ich die Augen geschlossen hatte, als Askea seinen Arm um mich legte und ich sie wieder öffnete. In seinen Iriden funkelte das Feuer, aber nicht wütend oder vorwurfsvoll, weil ich es so übertrieben hatte, sondern sorgenvoll.

„Es lebt“, flüsterte ich mit schwacher Stimme. „Das Haus ist lebendig.“

Verstehen machte sich auf seinem Gesicht breit.

Ich schloss die Augen und lehnte mich an ihn. „Wir dürfen die Tür nicht aufbrechen. Es tut ihm weh.“

„Dann tu das, was du schon einmal getan hast.“

Meine Gedanken waren ein wenig träge, was wahrscheinlich der Grund dafür war, dass ich keine Ahnung hatte, wovon er sprach. „Was habe ich denn schon einmal getan?“

„Um Erlaubnis gefragt.“

Ach ja. Als wir nicht in das Haus hineingekommen waren, war der Vorschlag mit dem Klingeln von mir gekommen. Ich blinzelte. Hier gab es aber keine Klingel. Hier gab es nur eine verschlossene Tür ohne Schloss und Klinke. Andererseits, das Haus reagierte auf unsere Handlungen. Das würde anstrengend werden, aber noch war ich nicht bereit aufzugeben; dafür war es einfach zu wichtig.

Seufzend löste ich mich von Askea und schwankte ein wenig, als ich auf die Tür zuging. Mein ständiger Schatten blieb direkt hinter mir. Wahrscheinlich hatte er Angst, dass ich einfach im Stehen einschlief.

Die Tür fühlte sich unter meinen Fingern glatt und kühl an. Okay, wahrscheinlich würde das für Außenstehende jetzt ein wenig verrückt aussehen, aber ich musste es versuchen. „Ich möchte dir dafür danken, dass du uns hineingelassen hast, und mich dafür entschuldigen, dass wir dich erschreckt und dir Schmerzen bereitet haben. Es war nie unsere Absicht, dich zu verletzen.“

Ein leichtes Summen kam von den Wänden.

Das es mich lächeln ließ, sollte mich vielleicht nachdenklich stimmen. Genau wie die Tatsache, dass ich mir bei der Unterhaltung mit dem Haus gar nicht so lächerlich vorkam. „Unser Kommen hat einen Grund, weißt du? Du hast etwas, das wir benötigen, etwas sehr Wichtiges, und es liegt hinter dieser Tür.“

Wieder summten die Wände.

„Ich weiß nicht, wie gut du mich verstehst. Was wir brauchen, wird der Amethyst von Bonifatius genannt, und wir brauchen ihn ganz dringend. Deswegen möchte ich dich bitten, diese Tür zu öffnen, damit wir den Stein nehmen können.“

Jetzt summten die Wände nicht mehr, sie grummelten unzufrieden. Das Haus wollte seinen Schatz nicht verlieren, er gehörte ihm.

„Wir brauchen ihn wirklich“, versuchte ich weiter in das Haus zu dringen. „Viele Leben hängen davon ab, dass wir ihn bekommen. Ich würde dich nicht bitten, ihn uns zu geben, wenn wir ihn nicht so dringend benötigen würden.“

Das Grummeln wurde zu einem Grollen. Der Stein gehörte dem Haus, und es wollte keinen seiner Schätze einbüßen.

Ich drückte die Lippen zusammen. „Und wenn ich dir etwas dafür gebe? Ein Tausch. Ich bekomme den Stein und gebe dir dafür etwas von mir.“

Kein Summen, kein Grollen. Das Haus lauschte meinen Worten. Wahrscheinlich wartete es darauf, was ich ihm anbot.

Aber was konnte ich ihm denn anbieten? Vielleicht hätte ich mir über diese Frage vorher Gedanken machen müssen. Etwas ratlos begann ich damit, in meinen Taschen zu kramen, doch bis auf die Kleidung, die ich am Leib trug, und den Stab auf meinem Rücken hatte ich nichts bei mir.

Der Stab.

Bei dem Gedanken, ihn weggeben zu müssen, verspürte ich einen schmerzlichen Stich. Askea hatte ihn für mich gemacht. Er hatte so viel Mühe und Handarbeit darin investiert, ganz allein für mich, dass es schon einem Verbrechen gleichkam, nur daran zu denken, ihn wegzugeben. Aber was sollte ich denn sonst tun?

Schweren Herzens warf ich Askea einen Blick zu und griff nach dem Stab, doch bevor ich ihn vom Rücken nehmen konnte, hielt Askea mir seine Hand hin. Darin lag das Armband von Seraphine.

Ich hatte es einmal für ihn gemacht. Dieses kleine Teil hatte schon so viel mitgemacht, dass es ganze Geschichten erzählen konnte. Irgendwie schien es mir auf einmal wertvoller als der Starb, und doch schlossen sich meine Finger darum.

„Es ist nicht magisch“, erklärte ich dem Haus. „Und es ist auch nicht alt.“ Ich ließ die kleinen Perlen auf meiner Handfläche klicken. „Doch ich habe es selbst gemacht. Es gehörte erst mir, dann Askea und dann meiner Tochter. Und jetzt würde ich es dir geben, wenn du mir dafür den Amethyst von Bonifatius aushändigst.“

Tausch.

Es war nur ein einziges Wort, das durch meinen Geist flatterte, dann gab die Tür unter meinen Händen plötzlich mit einem Knarren nach und öffnete sich langsam nach innen.

Ich wusste nicht, was mich in diesem Moment mehr überraschte: Dass das Haus sprechen konnte, dass die Tür sich wirklich geöffnet hatte oder der Anblick des Raumes, der sich vor uns erstreckte.

Es war eine Halle. Drei Wände waren aus Glas und ermöglichten einen spektakulären Blick hinaus in den Garten. Der Holzboden war mit goldenen Ornamenten verziert, die im Licht der Sonnen glitzerten. Reihe um Reihe war der Raum mit Glaskästen gefüllt. Es gab so viele von ihnen, dass ich gar nicht wusste, wohin ich meinen Blick als erstes wenden sollte.

Doch das alles war nichts im Gegensatz zu der geballten magischen Energie, die in diesem Raum floss. Wie ein Wasserfall ergoss sie sich über mich und brachte mich einen Moment ins Straucheln, doch die Tür blieb einladend geöffnet.

Ich zögerte. Unser Ziel lag direkt vor uns, und doch musste ich mich mit einem Blick auf Askea erst versichern, dass ich das tun sollte, bevor ich einen Schritt in den Raum hineinwagte. Nur … Wo sollte ich nach dem Stein suchen?

Mein Blick glitt über die vielen Glasvitrinen mit den magischen Schätzen darin. Ich sah Waffen und Schmuck, und wurde mir erst in diesem Moment bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, wie der Stein aussah. Ich wusste nur, dass ein Amethyst violett war, mehr aber auch nicht. War es ein einfacher Edelstein? War er in ein Schmuckstück gefasst? Vielleicht sogar in eine Waffe einarbeitet? „Zeigst du mir, wo ich den Amethyst finde?“, fragte ich in den Raum hinein.

Links von mir begann eine der Vitrinen leicht zu vibrieren. Mein Blick richtete sich auf den Schaukasten. Ich warf Askea einen weiteren Blick zu, bevor ich mich vor ihn stellte und in das Innere spähte. Fünf Dinge waren darin ausgestellt. Vier davon befanden sich auf roten Samtkissen und eines – eine Kristallkugel – hockte auf einem goldenen Ständerwerk. Ansonsten befanden sich darin ein kleiner Bronzering, ein silbernes Diadem aus Ranken und Blättern, ein violetter ungeschliffener Kristall und ein goldener Skarabäus mit einem roten Edelstein.

Ein Blick reichte, um mir darüber klarzuwerden, welches von diesen Dingen der Amethyst von Bonifatius sein musste: der violette Kristall. Nur wie bekam ich ihn aus der Vitrine heraus? Es gab keine sichtbaren Schlösser oder Klappen. Auch schien man die Scheiben nicht zur Seite schieben zu können.

Ich legte meine Hand direkt über dem Stein auf die Vitrine, um so vielleicht eine magische Schwingung aufzufangen, die mich ans Ziel führen konnte. Das Glas gab nach, wurde weich und ließ meine Hand hindurchtauchen.

Zuerst bekam ich einen solchen Schreck, dass ich meine Hand sofort wieder zurückriss, dann rief ich mich zur Ruhe, nahm das Armband in die andere Hand und legte sie erneut auf das Glas. Wieder wurde es weich und nachgiebig. Dieses Mal jedoch war ich darauf vorbereitet.

Meine Faust glitt langsam in das Glas hinein. Es formte sich perfekt um meinen Arm herum, sodass es zu keiner Lücke kam.

Ich ließ das alte, bereits halbverbrannte Armband in die Vitrine fallen und schloss meine Hand dann um den kalten Kristall. „Danke“, sagte ich und zog meinen Arm wieder heraus. Der Stein lag bewegungslos in meiner Hand.

Er war unförmig, glänzte nicht und schien über keinerlei magische Fähigkeiten zu verfügen. Ich spürte zumindest nichts. Und doch war er genau das, was wir brauchten. Mit ihm würden wir nicht nur die Lykaner retten können, sondern auch die Obelisken finden. Mit ihm würden wir alles wieder in Ordnung bringen. Wir mussten ihm nur sein Wissen entlocken.

Ich hob meinen Blick zu Askea. „Lass uns gehen.“

 

°°°

 

„Oh mein Gott, was ist denn mit euch beiden passiert?!“

Der erwartungsvolle Ausdruck in Talitas Gesicht wich, als sie ihren Blick an sich hinuntergleiten ließ. Die Hexenrobe, die sie heute Morgen angezogen hatte, war nur noch ein Fetzen Stoff, der verdreckt und zerrissen an ihr hinunterhing – nicht, dass ich viel besser aussah. „Da war eine Kohleluke in den Keller. Wir haben versucht, so ins Haus zu gelangen“, erklärte sie und verzog das Gesicht. „Im Nachhinein war das keine besonders gute Idee.“

So wie sie aussah, konnte ich ihr da nur zustimmen. Ihr Verlobter sah auch nicht besser aus. Sein Fell war mit Blut und Dreck verklebt und er belastete das linke Vorderbein nicht unnötig.

„Hat euch im Keller ein Drache erwartet, oder was?“ Nach dem, was Askea und mir gerade widerfahren war, war das ein nachvollziehbarer Gedanke, wie ich fand. Die beiden sahen wirklich echt zerschunden aus.

Talita schüttelte den Kopf. „Ein Drache war wohl das Einzige, was uns in diesem Labyrinth nicht begegnet ist. Aber ansonsten … Sagen wir einfach mal so: Ich empfehle niemandem, dort hinunterzusteigen.“

„Ein Labyrinth?“

„Ja. Der Keller … Da waren unendlich viele Räume. Wenn du durch eine Tür gegangen bist, hieß das noch lange nicht, dass man durch diese Tür wieder zurückgehen konnte oder sie einen gar in den vorherigen Raum gebracht hat. Es war … verwirrend.“ Sie schüttelte sich. „Da will ich nie wieder runter.“

„Und wie seid ihr aus dem Labyrinth wieder herausgekommen?“

„Ghost hat uns geholfen.“

Die drei Fragezeichen in meinem Gesicht beantwortete sie mit einem Lächeln.

„Ghost ist eine Geisterkatze, die hier schon seit Jahren umherspukt. Er mag mich und hat uns den Weg hinaus gezeigt.“ Sie sah sich um, als würde sie ihn suchen. „Keine Ahnung, wo er jetzt schon wieder abgeblieben ist, aber viel wichtiger: Habt ihr den Amethyst?“

Kurz war ich am Überlegen, sie ein wenig zappeln zu lassen, einfach nur, um diesen Moment auskosten zu können, doch ich konnte mein Lächeln nicht unterdrücken. Die Freude über diesen – wenn auch kleinen – Erfolg wollte sich einfach nicht verstecken lassen. Darum hob ich einfach nur die Hand und präsentierte den Stein.

Sie starrte ihn an, blinzelte und sprang mir dann freudekreischend um den Hals. „Wir haben ihn!“, schrie sie mir dabei ins Ohr. „Oh Gott, wir haben ihn wirklich!“

Ihre Euphorie war so heftig, dass ich um mein Gleichgewicht bangte. Ich war immer noch müde. Dieses kleine Abenteuer hatte mich mehr als nur ausgelaugt. Auch wenn uns das Haus anstandslos ziehen lassen und uns sogar die Haustür zurückgegeben hatte, war ich froh, endlich raus zu sein. Ich wollte nur noch ins Bett und mindestens hundert Jahre schlafen.

Als Talita sich wieder von mir trennte, nahm sie den Amethyst ehrfürchtig in die Hand und drehte ihn nach allen Seiten. „Er ist wunderschön.“

„Ich finde ihn eher …“ Die restlichen Worte wurden von einem plötzlichen Schwindelanfall abgewürgt. Die Welt um mich herum drehte sich, und ich schlug nur nicht auf dem Boden auf, weil Askea mich auffing.

„Tiara!“ Talita stürzte an meine Seite, als Askea einen Arm unter meine Beine schob und mich hochhob. „Was ist mir ihr?“

„Sie ist erschöpft, weil sie sich übernommen hat.“

„Ich hab mich nicht übernommen“, murmelte ich und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. „Das war alles genau kalkuliert.“

Veith schnaubte. „Woher kenne ich das nur?“

Das brachte ihm einen bösen Blick von Talita ein. „Möchtest du mir damit etwas sagen?“

Zur Antwort rieb er seinen großen Kopf an ihrem Bein.

„Typisch Wolf.“ Sie seufzte. „Lasst uns gehen.“

Keiner erhob Einwände. Wir waren wohl alle froh, endlich von dem Haus wegzukommen.

Das Letzte, was ich sah, bevor ich in Askeas Armen einschlief, waren die Zirkelschwestern auf der anderen Straßenseite, die auf uns warteten. Dann umfing mich selige Ruhe.

 

 

°°°°°

Tag Dreizehn

 

Drei Tage waren vergangen. Drei Tage, in denen ich nichts hatte tun können, die Situation mit der unkontrollierbaren, wilden Magie sich aber weiter zugespitzt hatte. Drei Tage, in denen ich meine Erschöpfung durch viel Schlaf ausgeglichen hatte. Drei Tage, in denen die Hexen Zeit gehabt hatten, dem Amethyst des Wissens von Bonifatius seine Geheimnisse zu entlocken. Doch wenn ich danach fragte, bekam ich immer nur die gleiche Antwort: „Bisher ist es uns nicht gelungen, das Wissen zu offenbaren.“

Ja, mittlerweile frustrierte mich diese Situation. Einfach rumzusitzen und nichts zu tun, während dort draußen langsam, aber sicher die Welt unterging, konnte einem dieses Gefühl schon einmal entlocken.

Seufzend strich ich mir die Haare aus der Stirn und blickte zu Askea, der ausgestreckt auf unserem Bett lag und Seraphine – die halb auf ihm saß und seinen Bauch als Trommel benutzte – nicht weiter beachtete. „Aja!“

„Schaut euch das an“, sagte Kovu in diesem Moment und strich mit der Hand übers Fenster. Die Scheibe wurde schwarz. Dann strich er in die entgegengesetzte Richtung und sie wurde wieder klar.

Jalousie mit magischen Mitteln, würde ich sagen.

Talita ließ ihr Buch in den Schoß sinken und nahm ihn in Augenschein. „Sag mal, kann es sein, dass du Langeweile hast?“

Er zeigte ihr die Zähne. „Wer hat denn heute Morgen noch rumgeheult, dass ihm hier die Decke auf den Kopf fällt?“

Das wurde mit Nichtbeachtung gestraft. Talita hob einfach wieder ihr Buch an und vertiefte sich in die Lektüre.

Ich legte den Kopf schief, um den Titel zu entziffern. Schwüle Nächte. „Was liest du da eigentlich?“

„Das hat mir Boudicca gegeben.“

„Das war keine Antwort auf meine Frage.“

„Es ist ein Liebesroman über eine Hexe ohne nennenswerte magische Kräfte, die von Piraten entführt wurde und sich unsterblich in einen Matrosen verliebt. Da der Kapitän aber scharf auf sie ist, können sie sich nur heimlich treffen.“

„Und bei diesen heimlichen Treffen spielen sie nur Karten.“

Talita grinste dreckig. „Das tun sie wirklich einmal. Aber erst, nachdem sie ihre heißen, verschwitzen Körper aneinander gerieben haben, bis sie in Ektase vergangen sind und der Leidenschaft Tribut gezollt haben.“

Veith, der mit Fax am Tisch saß und ein Würfelspiel spielte, hob eine Augenbraue an. „Sollte es mir zu denken geben, dass du sowas liest?“

„Nein. Obwohl diese Piraten klasse sind, bleibe ich doch lieber bei meinem großen, bösen Wolf.“

„Euch ist klar, dass Kinder anwesend sind?“, warf ich einfach mal so in den Raum und erhob mich von meinem Platz am Fensterbrett. Draußen hatte bereits die Dämmerung eingesetzt. Im Raum wurde es allmählich dunkel, weswegen ich das Licht einschaltete, dann steuerte ich die Zimmertür an. Dieses nichtssagende Geplänkel war zwar ganz nett, aber wenn ich nicht bald etwas zu tun bekam, würde ich noch die Wände hochgehen.

Askea bemerkte meinen Abgang natürlich sofort. „Wo gehst du hin?“

„Zu Saana.“ Sie war zwar schon heute Morgen beim Frühstück bei uns gewesen, um uns mitzuteilen, dass sie mit dem Amethyst noch nicht weitergekommen waren und auch ihre Recherchen ihr bisher keine neuen Erkenntnisse gebracht hatten, aber das war bereits Stunden her. In der Zwischenzeit konnte sich durchaus etwas ergeben haben. „Bin bald wieder da.“

„Warte, ich komme mit.“ Kovu sprang von seinem Platz auf, was ihm einen äußerst misstrauischen Blick von Askea einbrachte. Mein Wachhund akzeptierte den Rest der Familie mittlerweile in seiner Gegenwart, solange er sie alle im Blick hatte, aber Kovu schien er absolut nicht ausstehen zu können. Warum er Kovu allerdings verabscheuungswürdiger fand als Veith oder Talita, hatte ich bisher noch nicht rausgefunden.

Zu Askeas Leidwesen ließ Kovu sich von seinem Verhalten nicht beeindrucken. Er ignorierte den misstrauischen Blick einfach und huschte zusammen mit mir hinaus auf den Korridor.

„Wenn er könnte, würde er Feuer spucken“, sagte Kovu und hakte sich bei mir ein.

„Wer?“

Wir schlugen den Weg nach rechts ein. Um diese Zeit befanden sich kaum Hexen auf den Korridoren. Das Abendessen war gerade im vollen Gange. Saana jedoch arbeitete so viel, dass sie selten daran teilnahm. Die Chance, sie in ihrem Büro anzutreffen, war also gar nicht so gering.

„Askea.“ Kovu grinste spitzbübisch. „Hast du nicht seinen Blick gesehen?“

Ihm war es also auch aufgefallen. „Dir ist schon bewusst, dass Askea ein Rubin ist und Feuerspucken damit praktisch in seiner Stellenbeschreibung als Pflichtfach aufgeführt ist?“

Dafür bekam ich ein so strahlendes Lächeln, dass seine weißen Zähne mich praktisch blendeten. „Aber ich gehöre zum Rudel, und das Rudel wird nicht verletzt.“

Ohje. „Ähm … Dir ist klar, dass Askea kein Lykaner ist?“

Er zuckte nur mit den Schultern und zog mich ein wenig zur Seite, um den drei Hexen Platz zu machen, die uns entgegenkamen. „Du bist Talitas Schwester. Sie zählt dich zum Rudel, genau wie deine Kinder. Und Askea ist dein Gefährte.“

Das war dann wohl die Logik eines Lykaners. Andererseits … Lykaner brauchten ihr Rudel zum Überleben. Kovu hatte alles verloren. Ihm waren nur noch sein Bruder und Talita geblieben, die – soweit ich wusste – nie richtig zum Rudel gehört hatte. Er war wahrscheinlich einfach nur einsam und suchte sich nun das, was seiner Natur entsprach.

Na ja, solange er nicht versuchte, zu uns ins Bett zu klettern, so wie er es immer bei Tal und Veith tat, sollten seine Ansichten kein Problem sein. Trotzdem beschäftigte mich plötzlich die Frage, was Askea tun würde, wenn Kovu mich genauso wie Talita behandeln würde. Würde er ihm eher den Kopf abreißen oder ihn gleich zu Grillkohle verarbeiten?

Über diese Frage grübelte ich noch immer nach, als wir am Ende des Korridors an Saanas Büro angelangt waren.

Der Raum war eigentlich recht groß, doch die vielen überfüllten Regale an den Wänden und der riesige Schreibtisch in der Mitte, der unter seiner Last aus Büchern und alten Dokumenten zusammenzubrechen drohte, gaukelten einem das Gegenteil vor. Es konnte auch an den vielen Ständern mit Lederrollen oder den gestapelten Kisten liegen. Ja, nicht einmal mehr die Wände waren zu sehen, weil sie jedes Fleckchen, das nicht hinter Regalen verschwand, mit Pinnwänden, Papieren, Karten und Darstellungen irgendwelcher Texte zugekleistert hatte.

Dieser Raum wäre für jeden Brandschutzermittler ein Albtraum. Für Saana jedoch schien es das Paradies zu sein.

Wie ich vermutet hatte, befand sie sich nicht wie die anderen Hexen im Speisesaal oder auf dem Weg dorthin. Stattdessen saß sie an ihrem Schreibtisch, tief über ein altes Dokument gebeugt, und brütete über diesem Text. Ein inzwischen sehr vertrautes Bild; schließlich hatte ich sie in den letzten Tagen immer mal wieder aufgesucht, um meinem Bett und der Langweile zu entkommen. Und jedes einzelne Mal hatte sie hier gesessen, den Stift zwischen den Zähnen, die Brille so weit vorne auf der Nasenspitze, dass sie beinahe zu fallen drohte. Fast wie Asha, damals im Lager der Jäger.

Um sie nicht zu erschrecken, machte ich mich mit Klopfen an der offenen Tür bemerkbar.

Sie blickte nicht einmal auf. Das Einzige, was sie zustande brachte, war ein: „Ja?“

„Hey.“ Ich trat einen Schritt in den Raum hinein und warf Kovu einen wachsamen Blick zu, als er sich neugierig dem Regal neben den Karten näherte. „Ich wollte nur mal fragen, ob es vielleicht schon etwas Neues gibt.“

„Ich weiß von nichts. Die Hexen, die sich um die Lösung bemühen, kommen nur langsam voran. Ein paar versuchen noch immer, der Legende die Lösung zu entlocken, während die anderen es auf die altmodische Weise probieren. Leider prallen unsere Zauber an dem Kristall immer ab. Bis jetzt sind mir also keine neuen Erkenntnisse bekannt.“ Sie hob den Kopf und fixierte Kovu. „Wenn du meine Sachen anfasst, werde ich deine Hände an deinen Hintern hexen.“

„Könnte hilfreich sein, wenn man sich dort kratzen will.“ Er grinste spitzbübisch, trat aber einen Schritt von dem Regal zurück. „Mich hat es nur gewundert, warum Sie ein Buch über Dämonen haben.“

Dämonen?

Saana kniff die Augen leicht zusammen. „Ich habe viele Bücher über viele Dinge.“

„Ja, aber an diesem ist ein sehr intensiver Geruch von Ihnen. Sie nehmen es sehr oft zur Hand.“

Sie drückte die Lippen zu einem festen Strich zusammen.

Mein Blick glitt zwischen den beiden hin und her und blieb dann an dem Buch hängen.

Asha war eine Hexe, eine Hexe, die von einem Dämon getötet wurde.

Sie hatte es mir gesagt. Als wir uns in dem alten Zirkelhaus gesehen hatten, waren genau das ihre Worte gewesen. Dieses Buch bewies, dass das Thema sie noch immer beschäftigte. „Es war kein Dämon“, sagte ich leise und wandte mich ihr zu. „Ich weiß nicht, wer dir das gesagt hat, aber Asha wurde nicht von einem Dämon getötet, sondern von einem Jäger.“

„Einem Jäger.“ Der Ausdruck in ihrem Gesicht verschloss sich. „Ich wurde vom Hohen Rat über die Vorfälle im Roten Hinterland in Kenntnis gesetzt. Ich glaube nicht, dass sie falsche Informationen weiterleiten würden.“

„Doch, wenn sie ihre Informationen von Amir erhalten haben. Ich war da, als es passierte, und ich kann dir versichern, dass Amir gelogen hat.“

„Ach ja?“ Sie schob ihr Dokument zur Seite, verschränkte die Hände auf dem Tisch und schenkte mir ihre ganze Aufmerksamkeit. „Wenn es nicht so gewesen ist, wie es mir mitgeteilt wurde, wie war es dann?“

Mit meinen nächsten Worten zögerte ich. Ich wollte schließlich keine Katastrophe heraufbeschwören. Am besten wäre es vermutlich, ich würde Askea und mich aus der Erzählung heraushalten. „Es war Gaio.“

„Gaio? Der Gargoyle? Amirs rechte Hand?“

Die plötzliche Anspannung im Raum verleitete Kovu dazu, näher an mich heranzurücken; so nahe, dass sich unsere Arme berührten.

Ich warf ihm einen unwirschen Blick zu und wich ein Stück zur Seite – ich war nicht Talita und das war mir, ehrlich gesagt, unangenehm. „In der Nacht, als Asha starb … Es hat einen Streit zwischen ihr und Amir gegeben. Sie wollte etwas von ihm. Sie hat gedroht, irgendwas auffliegen zu lassen und zum Hohen Rat zu gehen, wenn er nicht aufhört.“

„Sie hat ihm gedroht?“

„Ja, aber“, ich zuckte mir den Schultern, „ich weiß nicht, worum es dabei ging. Amir hat es mir gesagt, kurz bevor Askea unsere Höhle in ein Flammenmeer verwandelt hat. Soweit ich weiß, hat er das nicht überlebt.“

Saana hatte sich halb von ihrem Stuhl erhoben. Sie schien völlig fassungslos. „Gaio hat meine Schwester getötet?“

„Es tut mir leid, aber … ja. Das hat Amir mir erzählt. Gaio wollte verhindern, dass Asha sie aufhält, und sah das wohl als einzigen Ausweg.“

„Er hat Asha getötet.“ Sie schüttelte den Kopf und ließ sich langsam wieder auf ihren Stuhl sinken. „Aber Ryu …?“

„Ryu wusste es nicht.“ Ich trat zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Außer Amir wussten nur Gaio und ich Bescheid, aber ich konnte nichts sagen, weil Askea mich zurück in meine Welt gestoßen hat. Mir war nicht klar, dass man dich belogen hat, sonst hätte ich es dir schon längst gesagt.“

„Gaio.“ Wieder schüttelte sie den Kopf, als könnte sie es nicht glauben.

Ich verstand sie. Gaio war mein Freund gewesen. Unter all den anderen Jägern war er der Einzige gewesen, dem ich wirklich vertraut hatte. Mir wäre niemals in den Sinn gekommen, dass er dazu fähig wäre, einem anderen Wesen solches Leid zuzufügen.

Obwohl … Er war ein Jäger. Sein Beruf war es, Dämonen zu töten. Vielleicht war es doch nicht so unwahrscheinlich.

„Aber warum sollte er sowas tun?“

„Das weiß ich wirklich nicht.“ Ich drückte Saana beruhigend die Schulter. Sie schien es nicht einmal zu bemerken. Wie sollte sie auch? Ich hatte ihr gerade erzählt, dass ihre Schwester hinterrücks erstochen worden war. Zwar hatte sie sich mit ihrem Tod schon vor Jahren auseinandergesetzt, doch es war ein Unterschied, ob man von einem Monster getötet wurde oder von jenen, denen man vertraute.

Und die Dämonen waren in Saanas Augen Monster – da brauchte ich mir gar nichts vormachen. Doch jetzt, da ich so darüber nachdachte, war es wirklich interessant zu erfahren, was die beiden Männer so unbedingt hatten verbergen wollen, dass sie deswegen sogar eine unschuldige Frau hatten töten müssen. Was hatte Asha gewusst? Was hatte Amir geplant? Was konnte so wertvoll sein wie das Leben selbst?

Als Saana nur stumpf vor sich hinstarrte, ließ ich meine Hand sinken und bemerkte Kovu, der die Karten an der Wand aufmerksam studierte. Da ich gerade nicht viel tun konnte und, ehrlich gesagt, auch gar nicht so richtig wusste, wie ich mich in dieser Situation verhalten sollte, trat ich neben ihn und schaute mir die gezeichneten Karten selbst an. Saana jedenfalls wollte ich im Augenblick nicht alleinlassen. Sie zu bedrängen, kam aber auch nicht infrage.

Die halbe Wand war mir akribisch genau gemalten Karten gepflastert. Sie waren alle von Hand gezeichnet, mit Tinte. Sie waren so detailliert, dass sie schon ein Kunstwerk waren.

„Hier.“ Kovu deutete auf einen Fleck mitten in einem Wald an einer großen Bergkette. „Das Lager der Lykaner von unter den Wolfsbäumen.“

Da dort keine Kennzeichnung war, konnte ich nicht sagen, ob es stimmte, aber bei der Betrachtung fiel mir etwas anderes auf: Wenn das der Wolfsbaumwald war, dann war das daneben das Drachengebirge. Und darunter das Rote Hinterland.

Überall auf der Karte waren Punkte verteilt. Rote, blaue, gelbe und grüne. Die gelben waren zumeist im Roten Hinterland und verteilten sich dann sporadisch auf das Gebiet darum herum. Je weiter man sich vom Roten Hinterland entfernte, desto weniger Punkte wurden es. Die blauen Punkte waren ziemlich gleichmäßig über die ganze Karte verteilt. Es waren nicht wirklich viele, eher so Mittelmaß. Die grünen Punkte konzentrierten sich hauptsächlich auf das Gebiet hinter dem Drachengebirge und wurden dann langsam in alle Richtungen immer weniger. Mit den roten Punkten verhielt es sich ganz anders. Es waren viele – sehr, sehr viele. Sie waren völlig sinnlos über die ganze Karte verstreut. An manchen Stellen konzentrierten sie sich, an anderen waren sie nur ganz vereinzelt. Zwei Tatsachen jedoch wurden mir beim Anschauen deutlich vor Augen geführt.

Erstens: In Städten und Dörfern – dort, wo besonders viele Wesen lebten – gab es mehr rote Punkte als in anderen Gebieten. Und zweitens: Im Roten Hinterland gab es so gut wie gar keine Punkte. Ein gutes Dreiviertel dort machten gelbe Punkte aus. Dann kam blau, grün und rot. Es wurden immer weniger. Und es war auch nicht die einzige Karte. Genaugenommen gab es drei: eine für jeden Kontinent.

„Was bedeutet diese Karte?“, wollte ich von Saana wissen.

„Hm?“ Sie schaute geistesabwesend auf. „Ach so. Sie markieren die magischen Vorfälle der letzten Jahre.“

„Magische Vorfälle?“

„Man könnte auch sagen, sie zeigen uns das ganze katastrophale Ausmaß unserer Situation auf.“ Als würde sie die ihr auferlegte Last niederdrücken, erhob sie sich nur schwerlich von ihrem Stuhl, bevor sie sich neben mich stellte. „Hier kannst du sehen, was in den letzten Jahren mit der magischen Welt geschehen ist. Die verschieden Farben sind die Jahre. Gelb für das erste, Blau für das zweite. Grün war das letzte Jahr und Rot … Na ja, in diesem Jahr befinden wir uns gerade.“

Von Jahr zu Jahr waren es mehr Punkte geworden. Dieses Jahr befand sich noch in der ersten Hälfte, und trotzdem schienen daraus schon mehr Punkte zu kleben als aus all den anderen Jahren zusammen. „Und was sagt dir dieses Schaubild?“

„Es zeigt mir den Verlauf der Vorkommnisse auf. Hier.“ Sie fuhr mit dem Finger eine Linie vom Roten Hinterland nach und tat das Gleiche auch auf einer anderen Karte. Vielleicht wollte sie sich einfach nur von dem ablenken, was ich ihr gerade gesagt hatte, aber plötzlich schien wieder etwas Leben in sie zurückzukehren. „Die Ursprünge liegen hier auf Florescere im Roten Hinterland und in Incredibilis auf den Rajaebenen.“

Es gab also zwei Ursprünge und … Moment. „Hast du gerade gesagt im Roten Hinterland?“

Sie nickte. „Ja. Wenn du dir die Karten genau ansiehst, kannst du des deutlich erkennen. Es breitete sich von Jahr zu Jahr mehr aus – sowohl vom Hinterland als auch von den Ebenen. Deswegen habe ich zu Anfang auch geglaubt, dass ich die Obelisken dort finden würde. Aber mit den Jahren wurde es auf der ganzen Welt so schlimm. Gleichzeitig ist zu sehen, dass sich die Ursprünge von dort wegbewegen, um über den Rest der Welt herzufallen, diese beiden Regionen dann aber weitestgehend in Ruhe lassen. Dort geschehen nur kleine, meist ungefährliche Dinge.“

Na ja, wenn ich da an die Sache mit dem alternden Drachen dachte, war ich mir gar nicht so sicher, ob ‚ungefährlich‘ hier der passende Begriff war.

„Als wäre das Land immun geworden“, überlegte Kovu.

Saana machte eine vage Bewegung mit dem Kopf. „Dieser Gedanke ist mir auch schon gekommen, aber meine Forschungen haben zu keinem Ergebnis geführt. Ich weiß nicht, was dort vor sich geht, oder was die wilde Magie dazu bringt, diese Orte zu meiden, obwohl dort doch scheinbar alles angefangen hat. Aber ich bin entschlossen, es herausfinden.“

„Vielleicht liegt es an den Lichtsäulen“, erwog ich. Keine Ahnung, woher dieser Gedanke plötzlich kam. Es war nur der einzige Unterschied, den ich zu dem Rest der Welt fand. Ob es die in den Rajaebenen auch gab? Das konnte ich nicht sagen, aber diese Lichtsäulen hatte ich bisher noch nirgendwo sonst gesehen.

„Was für Lichtsäulen?“, wollte Saana wissen.

Nach dieser Frage war mir klar, dass scheinbar auch kein anderer sie sonst irgendwo gesehen hatte. „Na ja, diese Lichtsäulen halt. Riesige Säulen aus … Licht.“ Okay, diese Erklärung hörte sich sogar in meinen eigenen Ohren außerordentlich beschränkt an. „Die sind da manchmal aufgetaucht. Ich war nie nah genug dran, um sie mir genauer anzusehen.“

„Lichtsäulen.“ Saanas Augenbrauen waren zusammengezogen. Dann machte sie plötzlich auf dem Absatz kehrt, rannte praktisch zu ihrem Schreibtisch und begann wild zwischen ihren Unterlagen herumzukramen. Es dauerte zwei, drei Minuten, in denen Kovu und ich sie still beobachteten, bis sie eine kleine Fernbedienung hervorzauberte. Nein, keine Fernbedienung. Wie hießen die Teile hier nochmal? Irgendwas mit ‚A‘.

Ich hatte sowas erst einmal in der Hand gehalten. Amir hatte mir damals gezeigt, wie es funktionierte. Mit Hilfe von diesem A-was-auch-immer konnte man seine Gedanken auf ein schwarzes Glas projizieren und sie damit anderen zeigen.

Mit der magischen Fernbedienung in der Hand eilte Saana zu einem Schrank hinten im Raum und öffnete die Türen. Dahinter kam ein schwarzes Glas zum Vorschein. „Kannst du mir die Lichtsäulen zeigen?“

„Ich habe sowas aber erst einmal gemacht“, warnte ich sie vor, bevor ich mich zu ihr gesellte und das kleine schwarze Holz mit den Ornamenten darauf in die Hand nahm.

„Es ist nicht schwer“, beruhigte sie mich. „Konzentrier dich einfach auf das, was du mir zeigen möchtest.“

„Okay.“ Als ich plötzlich warmen Atem in meinem Nacken spürte, machte ich unwillkürlich einen Schritt zur Seite und funkelte Kovu an. Er folgte mir? In Ordnung. Aber er brauchte mir nicht so sehr auf die Pelle zu rücken.

Ich schob ihn nachdrücklich von mir, was ihn nur lächeln ließ, und widmete mich dann dem kleinen magischen Gerät in meiner Hand.

Es war ein etwa handgroßes, schwarzes und ovales Holzstück mit einem goldenen Muster aus Metall, das in das Holz getrieben worden war. Und es war magisch so aufgeladen, dass die Magie angenehm auf meiner Haut kribbelte. Ich lächelte.

„Bitte“, forderte Saana mich ungeduldig auf.

Nun gut. Ich strengte mein Gedächtnis an und erinnerte mich an den Moment zurück, als die erste Lichtsäule meinen Weg gekreuzt hatte, dann legte ich meine Hand auf die … äh … Azalee! Genau, so hieß dieses Teil. Ich legte also meine freie Hand auf die Azalee und ließ meine Erinnerung auf dem Flimmerglas noch einmal zum Leben erwachen.

Eine Lichtsäule. In weiter Ferne fuhr eine blendende Lichtsäule zum Himmel. Sie war so gleißend hell, dass sie die morgendliche Dämmerung um sich herum vertrieb und ich die Augen ein wenig zusammenkneifen musste, um nicht geblendet zu werden.

„Du hast es doch auch gesehen, oder?“, hörte ich mich selbst fragen. „Ich werde doch nicht verrückt.“

„Na ja“, gab Kovu seinen Senf dazu. „Nur Verrückte führen Selbstgespräche.“

Dafür bekam er den bösen Blick. „Ich habe keine Selbstgespräche geführt, sondern mich mit Guardian unterhalten.“ Ich ließ das Bild stoppen, bevor der Hyperscheinwerfer – wie ich ihn damals genannt hatte – sich auflöste.

„Faszinierend“, kommentierte Saana und trat näher an das Flimmerglas heran. Ihre Finger strichen über das Glas, während ihre Augen zu erfassen versuchten, was sie dort vor sich sah.

„Es war das erste Mal, dass ich eine Lichtsäule gesehen habe“, erklärte ich.

„Das erste?“

Ohne zu antworten, rief ich meine nächste Erinnerung auf.

Ein gewaltiger Knall ließ mich so schnell herumfahren, dass ich mir den Knöcheln verdrehte. Guardian sprang alarmiert auf die Beine und fauchte und Okano kreischte erschrocken auf und stieg. Das Einzige, was verhinderte, dass der Greif einfach davonlief, war die Leine, mit der Ryu ihn festgebunden hatte.

Ich schaute mich erschrocken um, und dann entdeckte ich sie, die Lichtsäule.

Es war genau wie das letzte Mal, als ich sie gesehen hatte. Riesig groß stieg sie in den Himmel hinauf, so gleißend hell, dass sie sogar den Schein der Sonnen übertrumpfte.

„Zweimal.“ Saana neigte den Kopf leicht zur Seite, um einen anderen Blickwinkel auf das Bild zu bekommen.

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „In meiner Zeit in der Wüste habe ich dieses Phänomen dreimal beobachtet.“ Ohne auf eine weitere Aufforderung zu warten, rief ich meine dritte Erinnerung auf.

Ich schloss die Augen und wartete, zählte leise die Sekunden. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Doch es geschah nichts. Niemand sprach mich an, kein Geräusch unterbrach die nächtliche Ruhe. Trotzdem zögerte ich, bevor ich mich umdrehte, doch statt einen Jäger mit einer Laterne erblickte ich in der Ferne eine Lichtsäule, die langsam verlosch. Sie schien größer und mächtiger als die anderen, die ich bisher gesehen hatte. Und ihr Licht war so intensiv, dass ich die Augen dagegen zukneifen musste.

Doch auch sie erlosch, bis nichts anderes als ihr Nachhall auf meiner Netzhaut zurückblieb.

Saana kniff die Augen leicht zusammen. „Das ist Magie.“ Plötzlich wurde sie ganz aufgeregt und begann damit, im Raum umherzulaufen. Dort aus dem Regal riss sie ein Buch heraus. Zwei Regale weiter waren es sogar drei Bücher. Dann machte sie sich über die Schriftstücke in den Lederrollen her und trug ihre Ausbeute zum überladenen Tisch. „Das ist pure, gebündelte, wilde Magie, so etwas dürfte es gar nicht geben.“

„Warum nicht?“ Ich trat zur Seite, als sie zur anderen Seite des Raumes eilte, um sich dort über die Regale herzumachen – schließlich wollte ich nicht über den Haufen gerannt werden.

„Die Kräfte, die bei einer solchen Magiemenge entstehen, sind zerstörerisch. Nicht mal die Magieadern in der Erde führen solche gebündelten Magiemengen. Vielleicht tragen die Drachen sie in ihren Herzen, aber die gibt es nicht in den Rajaebenen, also muss es einen anderen Ursprung geben.“ Sie zog ein Buch aus dem Schrank, studierte kurz den Namen und ließ es dann einfach auf den Boden fallen, um sich dem nächsten zu widmen. Es war wohl nicht das Buch gewesen, das sie gesucht hatte. „In so einem Magiestrom wie du ihn mir gezeigt hast, würde man sich auflösen, wenn man ihm zu nahe kommt. Solche Magiemengen könnten alles zerstören, was wir kennen.“

Das hörte sich nicht sehr gut an. Genaugenommen hörte sich das nach einer bevorstehenden Apokalypse an. Kein besonders erheiternder Gedanke.

„Die Frage lautet jetzt also: Gibt es diese Lichtsäulen nur im Roten Hinterland oder auch auf den Rajaebenen? Und wenn es sie dort auch gibt, warum entstehen sie an diesen beiden Orten? Wie und warum entstehen sie, und wie stehen sie im Zusammenhang mit den extremen Magieschwankungen? Stehen sie damit überhaupt in Verbindung oder ist das einfach nur ein weiteres Merkmal der voranschreitenden Zerstörung? Sind die Lichtsäulen der Grund, warum es in diesen beiden Gebieten so ruhig zugeht? Sind sie der Grund für die Zerstörung?“

„Ähm.“ Ja, keine besonders gescheite Erwiderung, aber davon abgesehen, dass ich die Hälfte der Fragen bereits wieder vergessen hatte, wusste ich auch auf keine Antwort.

Kovu verlagerte sein Gewicht aufs rechte Bein. „Sollten wir uns nicht eher fragen, was wir jetzt tun sollen?“

„Nein.“ Saana trug ein weiteres Buch zum Schreibtisch und schlug es ungefähr in der Mitte auf. „Die Frage, was wir tun können, stellt sich uns erst, wenn wir wissen, mit was wir es zu tun haben. Bis dahin können wir gar nichts tun außer herauszufinden, was diese Lichtsäulen sind und was für eine Bedeutung sie haben.“

Jetzt war ich verwirrt. „Das heißt, wir sollen jetzt was tun?“, fragte ich vorsichtig.

„Gar nichts.“ Saana wedelte mit der Hand in unsere Richtung, ohne uns weiter zu beachten. Die Lektüre vor ihrer Nase musste wirklich sehr interessant sein. „Ich versuche jetzt herauszufinden, was das zu bedeuten hat, und dafür brauche ich Ruhe, also geht jetzt.“

Ich wollte den Mund aufmachen, um zu widersprechen, doch sie strafte mich mit einem Blick, der mich grummelnd den Raum verlassen ließ. „Und wieder zur Untätigkeit verdammt“, murmelte ich.

Kovu hakte sich grinsend bei mir ein und stieß mich leicht an. „Sieh es doch mal so: Vielleicht hast du uns gerade den entscheidenden Hinweis geliefert, der zur Rettung dieser Welt beiträgt.“

Er sagte das leichthin, doch in seinen Augen las ich den Hauch der Hoffnung, in seinen Worten möge die Wahrheit stecken.

Ich stieß ihn leicht zurück. „Das wird schon werden. Man darf nur nicht aufgeben, dann wendet sich alles dem Guten zu.“

„Welch weise Worte.“ Er rempelte mich erneut an, und plötzlich wurde daraus ein Spiel, das wir noch immer spielten, als unsere Zimmertür in Sicht kam.

Neben dem Rahmen lehnte Askea an der Wand und blickte auf, sobald er uns hörte. Seine Augen verengten sich leicht und sein Mund bekam einen verkniffenen Zug.

Kichernd und mit einer angehenden Vertrautheit kamen wir näher. Ich zwinkerte Askea verspielt zu.

Im nächsten Moment bewegte er sich so schnell durch den Korridor, dass ich glaubte, er wollte mich über den Haufen rennen. Doch dann sah ich seinen Gesichtsausdruck und wie er Kovu fixierte. Noch bevor ich einen Ton über die Lippen bringen konnte, stieß er dem Lykaner so fest gegen den Brustkorb, dass dieser von meinem Arm gerissen wurde und mit dem Rücken auf den Boden knallte.

„Askea!“ Ich wollte zu Kovu eilen, doch Askea packte mich am Arm und hielt mich fest. Dabei ließ er den Wolf keine Sekunde aus den Augen.

„Komm ihr nicht zu nahe“, grollte er. „Sie ist meine Gefährtin.“

„Verdammt, Askea!“ Ich riss an seinem Arm. Er ignorierte mich.

„Hast du mich verstanden?“

Wie es unter Wölfen nun mal so Sitte war, zeigte Kovu ihm die Zähne.

„Askea!“ Ich riss so heftig an ihm, dass er seine Aufmerksamkeit endlich auf mich richtete. „Er hat nur mit mir rumgealbert!“

„Er hat dich angefasst.“

Das … Da fehlten mir doch glatt die Worte. Oh nein, doch nicht, ich wusste genau, was ich sagen konnte. „Er hat mich am Arm berührt und mich nicht flachgelegt, so wie du es mit Nubia getan hast!“

Seine Mundwinkel sanken noch weiter herab. „Warum lässt du dieses Thema nicht endlich ruhen? Ich habe es dir doch bereits erklärt.“

„Ja, und ich verstehe auch deine Bewegründe und –“

„Du verstehst gar nichts!“, fauchte er mich an. „Du kannst es nicht verstehen, weil ich es ja selbst nicht verstehe! Ich habe sie nicht gebrannt! Verstehst du? Es war wie ein Zwang, als befände ich mich in einer Art Trance, ich wusste nicht mal, was ich da tat, bis es vorbei war!“

Bitte? Sollte das heißen, er hatte es gegen seinen Willen getan? Das war wohl die dümmste Rechtfertigung, die ein Mann jemals von sich gegeben hatte. Doch in diesem Moment war mir das völlig egal, weil es gar nicht darum ging. „Das gibt dir noch lange nicht das Recht, auf andere loszugehen!“

„Wenn er dich berührt, habe ich jedes Recht der Welt! Ich –“

„Nein hast du nicht, weil ich nicht dein Eigentum bin! Ach, weißt du was? Vergiss es einfach! Ich gehe spazieren!“ Ich zerrte an meinem Arm, bis er mich endlich losließ, und wich einen Schritt vor ihm zurück. Dann begann das Mal zu puckern und ließ mich in der Bewegung verharren. „Tu das nicht“, sagte ich mit fester Stimme.

Er drückte nur die Lippen aufeinander.

„Wenn du mich jetzt nicht gehen lässt, verzeihe ich dir das nie. Ich bin nicht dein Eigentum.“

Unendliche Sekunden starrten wir uns einfach nur an. Keiner wollte nachgeben. Doch dann, als ich schon glaubte, er würde mich gleich mit Gewalt in das Zimmer zurückzerren, beruhigte sich das Brandmal wieder und ich konnte mich frei bewegen. „Folge mir nicht.“

 

°°°

 

Die kühle Luft der Nacht strich ungebeten über meine Haut und ließ mich frösteln. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich bereits unterwegs war und durch eine Stadt spazierte, die man nur mit dem Wort ‚sterbend‘ beschreiben konnte,

Es war dunkel. Die Sonnen waren schon hinter dem Horizont verschwunden gewesen, als ich die Burg der Hexen verlassen hatte, und ließen Schatten in finsteren Ecken erwachen.

Ja, ich war geflohen. Diese kleine Auseinandersetzung mit Askea … Eigentlich war sie gar nicht so schlimm gewesen. Natürlich störte es mich, wie er mit anderen umging – besonders, wenn es mit mir zu tun hatte –, aber so war er nun einmal. Ich hatte gelernt, damit zurechtzukommen.

Es war einfach alles. Das Wissen um das, was hier geschah, das Warten und untätige Rumsitzen, die Gewissheit, was uns bevorstand, wenn wir nicht bald die Obelisken fanden. Das mit Askea war halt einfach das Tüpfelchen auf dem i gewesen. Die Gedanken in meinem Kopf drehten sich nur noch. Deswegen hatte ich gehen müssen – wenigstens für einige Zeit. In den letzten drei Jahren hatte mir das manchmal geholfen, doch heute Nacht schien es nicht funktionieren zu wollen. Egal wie weit ich ging und wie viele Straßen meinen Weg kreuzten, ich bekam den Kopf nicht klar. Nun befand ich mich bereits auf den Rückweg. Ganz in der Nähe vom Ratsplatz setzte ich einen Fuß vor den anderen und wusste immer noch nicht so genau, wie es eigentlich weitergehen sollte. Abwarten erschien einfach nicht eine besonders gescheite Idee zu sein.

Leider hatte Saana Recht; im Moment konnte ich nicht viel tun. Nicht bevor sie das Geheimnis des Amethysten oder das Rätsel um die Lichtsäulen geknackt hatten. Obwohl sich da immer noch die Frage stellte, ob diese überhaupt etwas mit der ganzen Sache zu tun hatten. Vielleicht waren sie auch nur ein weiteres Merkmal der drohenden Zerstörung. Ein Zeichen von Vergänglichkeit.

Ich verzog die Lippen zu einem abschätzigen Schnauben. Das hatte sich jetzt ein wenig zu poetisch angehört, dabei war da überhaupt nichts Poetisches dran. Es waren einfach nur unendlich viele Geheimnisse, die wir lösen mussten, und das am besten schon gestern.

Aber Saana forschte bereits seit Jahren nach der Ursache. War es vielleicht doch ein wenig zu dreist von mir, zu glauben, dass ausgerechnet ich an dieser verkorksten Situation etwas ändern könnte? Andererseits hatte Saana von den Lichtsäulen nichts gewusst.

Da stellte sich mir doch die Frage, warum eigentlich nicht. Es war schließlich nicht so, dass ich die Einzige gewesen war, die sie jemals zu Gesicht bekommen hatte. Die Jäger mussten sie gesehen haben. Und auch die anderen Bewohner der Wüste. Warum also war diese Information niemals bis zum Hexenzirkel durchgedrungen?

Wenn ich paranoid wäre, würde ich jetzt einfach behaupten, dass man versucht hatte, dieses Phänomen zu verheimlichen. Nur … warum? Was war so bedeutend an diesen Lichtsäulen, dass sie …

Ein plötzlicher Gedanke brachte mich einen Moment aus dem Tritt. Konnte es sein …? War es vielleicht möglich, dass diese Lichtsäulen die Obelisken waren? Saana hatte gesagt, die Obelisken seien Leiter, die die Welt stützten. Sie verteilten die Magie über die Welt wie Stützpfeiler. Und wenn zu viele Stützpfeiler kaputt waren, brach das, was sie stützten, einfach über sie zusammen.

Diese Lichtsäulen verfügten über eine Menge Magie. Auch die Obelisken müssten darüber verfügen. Und vielleicht … ja, vielleicht wurden die Lichtsäulen nur kurz bevor sie kaputtgingen sichtbar. Hieß das, dass man sie gar nicht reparieren konnte? Und falls doch, wie reparierte man Licht?

Auch wenn ich diese Fragen nicht beantworten konnte, es würde passen.

Aber sollte an dieser Theorie wirklich etwas dran sein, warum hatten die Bewohner des Roten Hinterlands dann ihre Existenz verschwiegen? Das ergab einfach keinen Sinn. Wussten sie vielleicht nicht, was es damit auf sich hatte? Nein, das passte auch nicht. Wenn sie es nicht gewusst hätten, würden sie vermutlich erst recht versuchen herauszufinden, mit was sie es zu tun hatten. So tickte der Mensch nun einmal – oder eben der Mortatia. Also mussten sie es gewusst haben. Nur warum hatten sie es dann verschwiegen?

Diese Frage warf meine ganze Theorie über den Haufen. Am einfachsten wäre es wirklich, wenn der blöde Stein sein Wissen preisgeben würde, aber das schien ein unüberwindbares Hindernis zu sein.

Seufzend strich ich mir über die Arme und trat aus einer Seitenstraße auf den Ratsplatz – oder besser gesagt auf das, was davon noch übrig war. Das Gebäude war völlig in sich zusammengefallen. Was auch immer hier geschehen war, es hatte die Trümmer des Hauses über den ganzen Platz verteilt. Was übrig war, konnte man kaum noch als eine Ruine bezeichnen. Die von Ranken und Wurzeln überwucherten Überbleibsel waren nichts als ein vergessenes Trümmerfeld mit einem Berg aus Schutt. Ein Kriegsschauplatz, der seine Geheimnisse in der Vergangenheit begraben hatte. Selbst die Gebäude darum herum hatten ordentlich etwas abbekommen. Umso mehr erstaunte es mich, als ich zwischen den eingefallenen Wänden und heruntergekrachten Dächern Bewegungen wahrnahm.

Da lebten Leute!

Ich kniff die Augen leicht zusammen, weil ich glaubte, mich verguckt zu haben, aber nein, da saß eine Frau mit ihrem Baby im Arm auf einer Wurzel und unterhielt sich mit einem kleinen Jungen. Sie waren dünn und dreckig, die Kleidung nicht mehr als Lumpen, die nur notdürftig alles verdeckten.

Und dort hinten kam gerade ein Serpens, eine männliche Variante der Gorgonen, aus einem halb zusammengebrochenen Haus.

Ich ließ meinen Blick schweifen und entdeckte immer mehr Leute. Sie lebten hier. Sie lebten in diesen Ruinen. Und sie alle schienen am Ende ihrer Kraft zu sein. Verdreckt, ausgezehrt und leidgeplagt krallten sie sich an das, was von ihrem Leben noch übrig geblieben war, und versuchten auszuharren, bis das bisschen Hoffnung, das sie noch verspürten, sich bewahrheitete.

Während ich einen Elfen beobachtete, der in den verstreuten Trümmern etwas zu suchen schien, bemerkte ich einen Teil vom Ratsgebäude, der mir bekannt vorkam. Ja, es hatte über dem Eingang gehangen. Das war der obere Teil des Obelisken, der in das Glas geätzt worden war.

Wieder dieses Zeichen.

Ich hatte es damals gesehen, als ich zusammen mit Gaio auf diesem Platz gestanden hatte. Was hatte er mir noch darüber erzählt? Der Obelisk vor den drei Kreisen war das Zeichen des Hohen Rats gewesen. Es hatte die Verbundenheit zwischen den Völkern repräsentiert. Aber der Obelisk hatte auch noch eine andere Bedeutung. Nicht nur, dass das Zeichen sehr alt war, es symbolisierte auch die zu Stein gewordene Magie.

Es ist ein sehr altes Zeichen, das schon in der Zeit vor dem großen Krieg von den Oberhäuptern der Welt genutzt wurde, um ihren Status zu symbolisieren. Woher er stammt, weiß keiner so genau, aber man sagt, der Obelisk sei die steingewordenen Strahlen der Magie, die gleichzeitig eine Verbindung zwischen der Magie selbst und den Lebewesen der Welt darstellen.

Genau das waren seine Worte gewesen.

Ich setzte mich in Bewegung, um meinen Weg fortzusetzen und zurück auf die Burg zu kommen, bevor Askea auf die Idee kam, die Mauern niederzubrennen, als ich ein Schaben hörte. Erst dachte ich mir nichts dabei, doch das Geräusch wiederholte sich und wurde von einem irren Kichern begleitet – nein, anders konnte man dieses Geräusch nun wirklich nicht beschreiben.

Mir stellten sich die Nackenhärchen auf.

Ich suchte in den dunklen Schatten der Ruine nach der Ursache. Das Kichern kam aus einer Gasse, die sich zwischen einem Mauerrest und einer großen Wurzel gebildet hatte. Etwas bewegte sich dort. Es war groß und … unförmig.

Das Schaben wiederholte sich, das Kichern wurde lauter, als der Schatten sich in meine Richtung bewegte. Das Licht der Nacht reichte nicht aus, um mir zu zeigen, was genau ich da vor mir hatte. Und die Gestalt war mir echt unheimlich.

Ich war kurz davor, die Beine in die Hand zu nehmen und mich davon zu machen, als sie zu murmeln begann. Es war ein tiefes Murmeln, die Stimme eines Mannes. Was genau er sagte, verstand ich nicht. Zumindest nicht bis auf dieses eine Wort, und genau dieses Wort sorgte dafür, dass ich blieb, wo ich war.

Die Gestalt sagte: „Dämonenhure.“ Und dann kicherte sie wieder.

 

°°°°°

Tag Vierzehn

 

Woher zum Teufel weiß der Kerl, dass ich etwas mit Dämonen zu tun habe?! Das war mein erster Gedanke, schließlich war es selbst in der magischen Welt nichts Alltägliches, mit einem Dämon zu verkehren. Kannte er mich? Das konnte einfach nichts Gutes bedeuten.

Der dunkle Umriss bewegte sich im Schatten des Hauseingangs. Er bäumte sich auf, wurde größer und größer. „Kleine Dämonenfreundin“, kicherte das Wesen und machte einen Schritt nach vorne ins Licht der abgeknickten Straßenlaterne. „Dämonenliebchen.“

Ich kniff die Augen leicht zusammen, nicht sicher, ob ich wirklich sah, was sich dort in den Lichtschein schob.

„Verräterin.“

Die Überraschung wich schnell Entsetzen und zwang mich dazu, einen Schritt zurückzuweichen.

Der Mann vor mir … Er war ein Gargoyle. Ein völlig verwahrloster und entstellter Gargoyle. Er trug nur eine zerfledderte Hose, die so dreckig war, dass die ursprüngliche Farbe gar nicht mehr zu erkennen war. Und seine Haut … Überall hatte er fürchterliche Brandnarben, die nur noch ein verzerrtes Bild seiner selbst zeigten. Das rechte Auge war milchig und seine Flügel … Oh Gott. Der linke Flügel war nur noch ein vernarbter Stumpf und dem rechten fehlte die komplette Handschwinge. Auch eines seiner Hörner fehlte.

„Gaio.“ Dieser Name kam in einem Flüstern über meine Lippen.

„Du erinnerst dich also noch an mich.“ Die Gestalt vor mir zeigte mir ein verzerrtes Bild eines Lächelns. „Ich habe dich durch den Spiegel gehen sehen, Dämonenhure. Du bist durch den Spiegel verschwunden, bevor das Inferno losbrach. Und jetzt bist du hier.“

Inferno? Er meinte doch wohl nicht die Feuerbrunst, die Askea heraufbeschworen hatte. Welch äußerst dummer Gedanke, natürlich meinte er die! Deswegen sah er auch so aus. Askea hatte ihn so entstellt.

Ich hatte geglaubt, dass die Jäger damals alle in der Höhle verbrannt waren, aber nun stand er hier vor mir, und ich wusste, ehrlich gesagt, nicht, was ich tun sollte. „Du lebst“, flüsterte ich hin- und hergerissen. Gaio war einmal mein Freund gewesen, aber das war, bevor er Asha getötet hatte. Andererseits hatte er mir selbst danach noch geholfen. Er hatte mir nie etwas Böses getan.

Nein, mir nicht, aber anderen.

„Verschwinde“, forderte ich ihn auf. „Mach, dass du wegkommst, bevor ich mich vergesse!“

Das hysterische Kichern aus seiner Kehle ließ mir die Haare zu Berge stehen. „Ich gehe nicht, nicht vor dem Ende. Es ist fast geschafft. Die Wahre … die einzig Wahre. Ich werde sie in die Arme schließen. Der goldene Vogel wird es möglich machen. Amir hat es prophezeit, es wird geschehen.“ Als hätte ihn plötzlich die Kraft verlassen, sank er auf die Knie und begann wieder zu kichern.

Er war verrückt. Das Feuer und die Umstände hatten ihn verrückt werden lassen.

„Sie wird gereinigt. Es wird geschehen, siehst du das, Dämonenliebchen?“ Er ließ sich auf die Hacken zurückfallen und blickte zu mir auf. „Es wird alles enden, und dann wird es besser. Amir hat es geschworen, es wird besser werden. Ich folge ihm, ich helfe ihm. Bald ist es vorbei. Wenn die Welt gereinigt wird, dann ist sie bei mir.“

In seinen Augen schimmerte es. Das Licht brach sich darin und folgte den Spuren aus Tränen, die über seine Wangen liefen. Er sah so verzweifelt aus. „Ich brauche sie doch. Die Obelisken müssen verschwinden …“

Moment. „Was hast du gerade gesagt?“

„… dann ist sie bei mir. Wir müssen die Obelisken zerstören. Die Reinigung … alles hängt mit …“ Seine Worte wurden zu einem unverständlichen Murmeln. Er schien mich gar nicht gehört zu haben. Aber ich hatte ihn gehört, und ich hatte auch gehört, was er gesagt hatte.

Obelisk.

Die Obelisken müssen verschwinden.

Die Jäger hatten sich im Roten Hinterland aufgehalten. Dort waren auch die Lichtsäulen, und laut Saana hatte genau dort alles seinen Anfang genommen.

Aber dieses Wort … In diesem Zusammenhang wurde es nur von wenigen benutzt. Fast niemand wusste von den Obelisken. Und wenn doch, sprach er im Allgemeinen von der ersten Seele, aber dann ging es um die Entstehung und nicht um die Stützpfeiler. Doch so wie er es gesagt hatte … Es musste etwas bedeuten.

Ich biss mir auf die Lippe und zögerte. Gaio war nicht mehr ganz richtig im Kopf. Das war keine Beleidigung, es war einfach eine Tatsache. Er war ein Jäger. Andererseits schien er etwas zu wissen. Zufall?

Das schien ein wenig zu viel des Zufalls zu sein. Erst musste ich ständig an ihn denken und nun stand er auch noch direkt vor mir und faselte von Obelisken und Reinigung.

Die Reinigung. Das war es, was Amir hatte erreichen wollen. Die Reinigung der Welt von den Dämonen. Aber vielleicht war das nur ein Deckmantel gewesen. Woher sollte ich wissen, dass Amir im Geheimen nicht etwas ganz anderes getrieben hatte? Er war oft unterwegs gewesen, hatte mit seinem inneren Kreis geheime Touren unternommen, die ihn was-weiß-ich-wohin geführt haben mochten. Ich wusste, dass er viel gelogen hatte, um das zu bekommen, was er haben wollte. Die Sache mit den Jägern konnte eine einfache Täuschung gewesen sein, die ihm geholfen hatte, seine wahren Absichten zu verschleiern.

Und nun saß Gaio vor mir. Der letzte Jäger. Der Mörder von Asha. Ein Freund.

Ich haderte mit mir, beobachtete, wie er das Gesicht in den Händen vergrub und dabei unverständliches Zeug vor sich hin murmelte. Aber diese Chance konnte sie mir nicht entgehen lassen.

Entschlossen hockte ich mich neben ihn. „Gaio?“ Als er nicht reagierte, berührte ich ihn zögernd an der Schulter. Seine Reaktion folgte umgehend.

Ich konnte gar nicht so schnell schauen, wie er herumwirbelte und nach mir schlug. Ich schaffte es gerade noch so, ihm auszuweichen, fiel dabei aber auf den Rücken. Er stürzte sich auf mich. Ich hatte keine Chance, mich vorher wegzurollen. Es ging einfach zu schnell. Plötzlich waren seine Hände an meinem Hals. Kraftvoll drückten sie zu, schnürten mir die Luft ab.

 Der Hass, der sein Gesicht verzerrte, war gewaltig.

Angst ließ mein Herz gegen meine Rippen trommeln. Meine Lungen bekamen keinen Sauerstoff mehr und vor meinen Augen taten sich kleine schwarze Flecken auf. Ich versuchte zu schreien und ihn von mir zu stoßen, aber er war zu stark. In meiner Verzweiflung zerkratzte ich ihm die Handrücken, um seine Hände loszuwerden, doch er schien es nicht einmal zu spüren.

Warum hilft mir denn keiner? Hier waren doch genug Leute, die uns sehen mussten. Aber es kam niemand. Ich konnte mir nur selbst helfen.

Ich handelte rein instinktiv. Meine Magie bündelte sich in mir, mein ganzer Körper begann zu leuchten. Ich musste meine Hand nur auf seine legen. Die Magie explodierte und katapultierte ihn von mir herunter. Ich wurde ein Stück mitgerissen, weil er nicht bereit war, seine Beute loszulassen. Dann krachte er unweit von mir gegen einen Mauerrest und blieb bewegungslos auf dem Boden liegen.

Ich krabbelte hastig ein Stück von ihm weg und sog den lebensrettenden Sauerstoff in meine Lungen. Mein Herz schlug mir bis zum schmerzenden Hals und in meinem Körper befand sich plötzlich so viel Adrenalin, dass es für drei Leute gereicht hätte.

Gaio hatte mich angegriffen. Gaio hatte versucht, mich zu erwürgen. Er hätte mich getötet, wenn ich ihn gelassen hätte!

„Oh Gott.“ Ein Geräusch neben mir ließ mich panisch herumfahren. Die Bewohner aus den Häusern waren herausgekommen und beobachteten mich im stillen Schweigen. Das sorgte nicht gerade dafür, dass mein Puls herunterfuhr.

Ich musste hier weg. Das war die einzige vernünftige Lösung. Doch kaum, dass ich auf den Beinen stand, zögerte ich wieder. Gaio wusste etwas, ich war mir sicher. Ich konnte ihn nicht hierlassen. Freiwillig würde er mir aber sicher nicht folgen.

Lebte er überhaupt noch? Er war mit dem Kopf voran gehen das Glas geflogen und bewegte sich seitdem nicht mehr. Aus einer Wunde an seinem Kopf sickerte ein Rinnsal Blut. Vielleicht war er ja nur bewusstlos. Oder er spielt mir nur etwas vor und stürzt sich wieder auf mich, sobald ich ihm zu nahe komme.

Unentschlossen biss ich auf meiner Unterlippe herum. Mein Hals schmerzte noch immer und machte mir damit sehr deutlich, was hier fast geschehen wäre. Und doch … Ich konnte nicht einfach verschwinden. „Verdammt!“

Sehr vorsichtig und wachsam näherte ich mich ihm. Mein Herz schlug immer schneller. Meine Augen klebten an ihm fest.

Da …

Sein Brustkorb hob und senkte sich. Er lebte. Er war nicht tot, er war nur bewusstlos. Im besten Falle.

Nein, ich konnte mich ihm nicht noch einmal so näheren, aber hierlassen konnte ich ihn auch nicht. Kurzentschlossen webte ich einen Zauber über ihn, der ihn einschloss und damit bewegungsunfähig machte. Zwei Handgriffe später schwebte er in der Luft. Er war einfach zu schwer, als dass ich ihn tragen könnte, und das bisschen Magie, das es brauchte, ihn schweben zu lassen, fiel kaum ins Gewischt.

Ich warf noch einen Blick in die Runde und stellte fest, dass sich mir keiner der Anwohner genähert hatte. Dann kehrte ich dem Ratsplatz den Rücken, während Gaio in seinen magischen Fesseln hinter mir herschwebte.

Ich wollte hier nur noch weg.

 

°°°

 

Die Tür zum Haupthaus ging auf und Boudicca fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. Der Anblick, der sich ihr bot, musste auch ziemlich seltsam wirken.

Das kurze Stück vom Ratsplatz hierher war ohne größere Komplikationen verlaufen. Das Schwierigste war es gewesen, den bewusstlosen Gargoyle durch den Schild zu bekommen. Ich hatte fast zehn Minuten auf die Hexen einreden müssen, damit ich ihn mitnehmen konnte. Ich glaubte, sie hatten nur die Hälfte von dem, was ich gesagt hatte, überhaupt verstanden. Am Ende jedoch hatten sie uns hineingelassen und in den hinteren Hof geführt, wo ich unter strengen Blicken bewacht wurde.

Als Folge meines ungewöhnlichen Mitbringsels wurde natürlich Boudicca verständigt, in deren Anhang sich nun auch Chana und Saana befanden. Sie alle drei hatten den gleichen Ausdruck im Gesicht: Verblüffung, Unverständnis, Verwirrung.

Wie der bewusstlose, verdreckte und missgestaltete Gargoyle da neben mir schwebte, musste wirklich ein bizarrer Anblick sein.

„Ich habe ja schon viel gesehen“, erklärte Boudicca und zupfte ihren Morgenmantel zurecht – das war wohl das erste Mal, dass ich sie ohne bunte Tücher und Turban sah. „Aber das ist selbst mir noch nicht untergekommen.“

Chana rümpfte die Nase. „Ich würde wirklich gerne wissen, was das zu bedeuten hat.“

„Er ist ein Jäger“, erklärte ich und zeigte auf Gaio. „Ich bin zufällig auf ihn gestoßen und –“

„Du kannst nicht alle deine Freunde bei uns einquartieren“, fauchte Chana.

Und das kam von einer Frau, die nach einem Pilz benannt war. „Er ist nicht mein Freund. Das war er einmal, früher, bevor er …“ Ich schaffte es gerade noch, den Mund zu verschließen. Wenn ich Saana nun eröffnete, wer genau dieser Mann war, konnte das böse für ihn enden. Andererseits hatte sie ein Recht darauf zu erfahren, mit wem sie es zu tun bekam. „Okay, hört zu. Wir müssen die Obelisken zerstören.“

Keuchen und aufgerissene Augen begegneten mir.

„Was hast du gesagt?“, wollte Saana wissen.

„Nicht ich war es, die das gesagt hat, sondern er.“ Ich zeigte auf Gaio. „Er ist mir begegnet und hat von Reinigung und dem Untergang gefaselt.“ Bevor er versucht hatte, mich zu erwürgen – mein Hals schmerzte immer noch. „Und er hat gesagt, die Obelisken müssten zerstört werden. Außerdem …“ Wieder zögerte ich. „Saana, das ist Gaio.“

Ihre Augen wurden noch größer. Die Worte jedoch blieben in ihrem Halse stecken, während sie eine Schritt zurücktaumelte, als hätte ich ihr einen Schlag versetzt.

Die anderen Hexen schauten verwirrt zwischen uns hin und her.

„Amirs Gaio?“, fragte Saana leise.

Ich nickte vorsichtig und behielt sie wachsam im Auge. Falls sie etwas Unüberlegtes versuchte, konnte ich ihr das nicht verübeln, aber es konnte sein, dass wir den Gargoyle noch brauchten, und dann wäre es wenig hilfreich, wenn Saana ihn vorher in seine Einzelteile zerlegte.

„Und er hat von den Obelisken gesprochen?“

„Unter anderem.“

Wie ein Falke fixierte Boudicca mich und ließ ihren Blick dann zu Gaio schweifen. Sie schien mehr zu verstehen, als es den Anschein erweckte. Vielleicht hatte Saana ihr nach meinem Besuch auch von Gaio berichtet. „Das Leben und seine Zufälle“, murmelte sie und richtete ihren Blick dann wieder auf mich. „Wo bist du ihm begegnet?“

„Am Ratsplatz.“

„Und warum warst du dort?“

Bei dieser Frage wollte ich mich winden. Was zwischen mir du Askea gelaufen war, ging niemanden von ihnen etwas an. Doch so wie die Dinge lagen, war ihr Misstrauen gerechtfertigt. Dass ich Gaio ausgerechnet heute über den Weg gelaufen war, fand ich ja selbst beunruhigend. „Ich habe nachgedacht“, erklärte ich ausweichend. „Ich musste hier einfach mal raus.“

Ob sie meinen Worten Glauben schenkte oder nicht, sie ließ sie einfach so stehen und wandte sich den anderen Hexen zu. „Versorgt seine Wunden und gebt ihm etwas zu essen. Ich will, dass er in einem Zimmer im Westflügel untergebracht wird. Sicherheitsmaßnahmen der Stufe drei. Und nun hopp, bevor er uns noch verblutet.“ Sie klatschte in die Hände und gab damit das Startsignal.

„Ihr müsst aufpassen“, sagte ich noch, als die Hexen um mich herum in Bewegung kamen und meinen Zauber durch ihren eigenen ersetzten. „Er ist nicht ganz richtig im Kopf.“

„Wir werden uns schon gebührend um ihn bemühen“, erklärte Chana erhaben und führte die anderen Hexen mit Gaio in ihrer Mitte ins Haus hinein.

Boudicca wandte sich mir zu. „Du gehst mit Saana. Sie ist sicher erpicht darauf zu erfahren, was der Jäger zu sagen hatte, nicht wahr, Saana?“

Die Hexe blinzelte irritiert, als sie ihren Namen hörte, nickte dann aber. „Ja, natürlich. Es könnte wichtig sein. Komm, Tia.“

Ohne auf mich zu warten, verschwand sie im Haus

Ich warf Boudicca noch einen entschuldigenden Blick zu und folgte Saana dann. Schließlich war ich Schuld an diesen Unruhen mitten in der Nacht.

„Erzähl es mir“, verlangte Saana, sobald ich zu ihr aufgeschlossen hatte. „Ich will genau wissen, was er gesagt hat.“

Also erzählte ich ihr die ganze Geschichte von dem Moment an, als ich auf den Ratsplatz getreten war. Als sie erfuhr, dass Gaio seine Entstellung wahrscheinlich Askea zu verdanken hatte, marschierte ein ganzes Kaleidoskop von Gefühlen über ihr Gesicht. Sie hatte gelernt, dass Dämonen die Feinde waren, und erst heute erfahren, dass es ein Jäger gewesen war, der ihr die Schwester genommen hatte. Damit hatten die Jäger den Platz der Dämonen eingenommen. Doch etwas zu wissen und auch zu akzeptieren, waren zwei Paar Schuhe. Sie konnte Askea wohl nicht dankbar sein, auch wenn er Gaio in ihren Augen zurecht bestraft hatte.

Den Äußerungen über Gaio dagegen lauschte sie mir äußerster Konzentration.

Ich war gerade an der Stelle angekommen, als mein ehemaliger Kollege in schräges Murmeln versank, ohne noch etwas von seiner Umwelt mitzubekommen, als Askea um die Ecke bog und mit eiserner Entschlossenheit auf mich zumarschierte.

Der wütende Ausdruck in seinem Gesicht ließ mich verharren. Nicht, dass ich Angst vor ihm hatte, nur wollte ich nicht schon wieder streiten und war einen Moment lang versucht, einfach die Flucht zu ergreifen.

„Wo bist du gewesen?!“, fauchte er auch schon, bevor er mich erreicht hatte. Bevor ich mich der Situation mit Rechtfertigungen und Ausflüchten entziehen konnte, entdeckte der die Schwellung und die Verfärbung an meinem Hals. „Verdammt, was …?“ Er riss mich an der Schulter zu sich heran, bog meinen Kopf zur Seite und untersuchte die Male an meinem Hals. Seine Körperwärme nahm so schnell zu, dass es unangenehm wurde. Die ansteigende Wut schien in Wellen von ihm auszugehen.

„Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht“, versicherte ich ihm. „Es …“

Sein Blick ließ mich verstummen. „Geh ins Zimmer.“

„Askea, ich –“

„Sofort!“

Saana wich einen Schritt vor uns zurück, doch ich konnte die Magie spüren, die sie herbeirief. Vielleicht war es doch besser, das erstmal unter vier Augen zu klären.

„Ich komme morgen nochmal zu dir, dann erzähle ich dir den Rest.“

Askea wartete nicht einmal das zustimmende Nicken ab, als er mir auch schon einen sanften, aber sehr nachdrücklichen Stoß versetzte.

Ich funkelte ihn an, hob beleidigt die Nase in die Luft und marschierte voran. Nicht, dass ich ihn nicht verstand, aber ich hasste es, von ihm herumgeschubst zu werden.

Bei uns im Zimmer war zu meiner Verblüffung noch keine Nachtruhe eingekehrt. Talita, Veith und Kovu saßen und lagen halb übereinandergestapelt auf der Couch und schauten sich Erinnerungen an. Fax saß ein Stück weiter in einem Sessel und ließ immer wieder Karten durch seine Hände gleiten, während er versuchte, so zu tun, als würde es ihn nicht interessieren, was auf dem Flimmerglas lief. Seraphine war wahrscheinlich schon im Bett und schlief den Schlaf der Gerechten.

Als sich die Tür öffnete, schauten alle auf, doch bevor irgendjemand von uns auch nur einen Ton über die Lippen bringen konnte, schlug Askea die Tür bereits wieder zu und schob mich Richtung Badezimmer.

Ich schaffte es noch, meiner Familie einen entschuldigenden Blick zuzuwerfen, da war ich auch schon im Feuchtraum und hörte die nächste Tür knallen.

Askea stand direkt davor. Sein Atem ging schwer und die Hitze, die er abstrahlte, war schon schweißtreibend. „Das lass ich nie wieder zu.“ Er schaute mich an. In seinen Augen stand ein alles verzehrendes Feuer. „Ich lasse dich nie wieder alleine gehen, egal, ob du hinterher noch mit mir sprichst oder nicht.“

„Askea –“

„Nein!“ Er baute sich vor mir auf, drängte mich gegen die Wand und stützte die Hände links und rechts von mir ab. Jemand anderes würde nun vielleicht um sein Leben bangen, doch ich verstand ihn. Er versuchte nicht mir Angst einzujagen, er versuchte einfach mit dieser Situation fertig zu werden.

Man hatte mir wehgetan und er war nicht da gewesen, um den Schuldigen zu bestrafen. Er hatte mich einfach gehen lassen, als ich es verlangt hatte, um den Frieden zwischen uns zu wahren, und es war nicht gut für mich ausgegangen.

„Es ist nicht deine Schuld. Du konntest –“

„Sei still“, zischte er mich an. Er schloss die Augen, atmete ein paarmal tief durch und regelte seine Temperatur herunter. „Ich will nichts mehr von dir hören“, sagte er leise, dann schlossen sich seine Arme um mich und hielten mich in dem Verlangen, mich nie wieder loszulassen.

Eine Gefährtin hatte er bereits verloren. Als Aamu gestorben war, war er nicht bei ihr gewesen. Er hatte sie gehen lassen, weil sie Pilze sammeln wollte, und danach nur noch ihren toten Körper gefunden. Ein zweiter Verlust würde ihn seine komplette Selbstkontrolle kosten.

Ich schlang die Arme um ihn und versuchte das Zittern seinen Körpers so zu lindern. „Es tut mir leid.“

 

°°°

 

Seraphine  trommelte mit ihrem Löffel auf ihrer leeren Frühstücksschale herum und rief lautstark: „Aja!“

Das ließ mich schmunzeln. „Ich glaube, sie hat einen Narren an dir gefressen.“

„Sie ist meine Tochter“, erwiderte Askea schlicht, als würde das alles erklären. Er benahm sich, als hätte es den vergangenen Abend und die folgende Nacht nie gegeben. Weder den eifersuchtstreibenden Streit, noch die Zeit im Badezimmer, als wir nur engumschlungen dagestanden hatten, bis Talita irgendwann vorsichtig gegen die Tür geklopft und uns damit herausgelockt hatte. Selbst als wir uns in den frühen Morgenstunden – nachdem ich allen erzählt hatte, wo ich die letzten Stunden gewesen war – endlich schlafen gelegt hatten, war der einzige Unterschied zu seinem sonstigen Verhalten die Tatsache gewesen, dass er mich festgehalten hatte, als würde ich mich sonst einfach in Luft auflösen.

Aber jetzt? Alles völlig normal – na ja, so normal wie mein Leben in der Zwischenzeit eben war. Nicht einmal die Anwesenheit eines Jägers auf der Burg schien ihn zu beunruhigen. Genaugenommen war er eigentlich viel zu ruhig, ganz ungewohnt.

Eine meiner verbliebenden Waffeln wanderte in meine Hand – zumindest glaubte ich, dass es Waffeln waren – damit ich sie mir in den Mund stecken konnte, doch da bemerkte ich Kovus sehnsüchtigen Blick. Sein Teller war schon lange leergeputzt. Da war nicht einmal mehr ein Krümel drauf zu finden. „Hoffst du, dass mein Essen in deinen Mund fliegt?“

Er lächelte mich breit an.

Na gut. Ich wollte das zwar selbst aufessen, aber ein Stück abzugeben, würde mich schon nicht vom Fleisch fallen lassen. Ich riss die eine Waffel in zwei Teile und reichte ihm den einen. „Hier, das kannst du –“

Mit einem panischen „Nein!“ sprang Talita halb über den Tisch und schlug mir die Waffelhälfte aus der Hand. Sie flog gegen Askeas Arm, prallte dort ab und landete schlussendlich auf dem Boden.

Etwas verdutzt schaute ich auf das verlorene Frühstück. „Irgendwie hab ich das Gefühl, die Waffel hätte dich persönlich beleidigt.“

Kovu lachte schnaubend und kassierte von Talita einen Knuff gegen die Schulter. „Aua!“

„Tut mir leid“, sagte sie entschuldigend. „Aber du darfst dein Essen nicht mit ihm teilen.“

„Warum? Hat er was angestellt und jetzt Waffelverbot?“

„Nein, es … Pass auf.“ Sie stützte sich mit den Unterarmen auf den Tisch und beugte sich mir leicht entgegen. „Essen hat bei den Lykanern einen ganz eigenen Stellenwert. Würdest du dein Essen mit einem Kind teilen, wäre das ganz egal, aber mit einem Mann? Keine gute Idee.“

„Weil er merken würde, dass wir den gleichen Geschmack haben?“

„Nein, weil es bedeutet, dass du an ihm interessiert bist. In romantischer Hinsicht.“

Das war Askeas Stichpunkt, ruckartig aufzublicken und Kovu einen drohenden Blick zuzuwerfen. Seine Augen verengten sich leicht und die Oberlippe hob sich drohend.

Ich tätschelte meinem drakonischen Dämon besänftigend die Hand und hielt sie anschließend fest. Vorsicht war immerhin besser als Nachsicht. „Nein, das verstehe ich nicht“, erklärte ich Talita währenddessen.  

„Das ist … Okay.“ Sie nahm sich die letzten Brotscheiben aus dem Korb und legte sie auf ihren Teller. „Zwei Toasts. Würde ich Kovu eine Scheibe davon geben“, zur Veranschaulichung hob sie eine hoch, „wäre das völlig in Ordnung. Wir sind ein Rudel, wir machen das so. Keine Komplikationen. Selbst wenn er einem das Essen vom Teller klauen würde, würde sich niemand daran stören. Das ist völlig normal. Würde ich die eine Scheibe allerdings entzwei teilen und Kovu davon die eine Hälfe geben“, wieder demonstrierte sie es, indem sie das Brot verstümmelte und die eine Hälfte des Toasts hochhielt, „würde ich ihm damit ein deutliches Signal schicken. Ich gebe ihm einen Teil und behalte den zweiten selbst. Durch dieses Toast wären wir jetzt gewissermaßen miteinander verbunden. Es verbindet uns, weil jeder davon eine Hälfte hat.“

Das war doch mal ein schräger Brauch. „Blumensträuße und Pralinenschachteln sind wohl out.“

Sie lächelte. „Nahrung ist ein Grundbedürfnis.“

Trotzdem fand ich es nicht viel einleuchtender.

„Vielmehr ist es ein Versprechen an den anderen, ihn zu umsorgen, sollte er sich darauf einlassen“, sagte Kovu. So lässig wie er da auf seinem Stuhl lehnte und lächelte, schien er sich pudelwohl zu fühlen. „Aber davon einmal abgesehen, hätte ich deine Gabe sowieso nicht angenommen. Du bist zwar hübsch, dennoch würde ich mich deswegen noch lange nicht mit deinem Dämon anlegen.“

„Glaubst du etwa, du könntest nicht gegen Askea bestehen?“

„Ich weiß, dass ich gegen ihn nicht bestehen kann. Ich meine, hallo? Hast du dir den Kerl mal angesehen? Oder bemerkt, wie er dich ansieht? Ich wünsche sicher keine Wiederholung unserer gestrigen Begegnung. Er würde vermutlich ein Brathündchen aus mir machen. Also, nein danke, kein Bedarf.“

Das sorgte für einiges Gelächter am Tisch. Selbst Askea schien einen Augenblick zufrieden mit sich und der Welt und widmete sich wieder seinem Essen.

Um die Waffel allerdings war es schade – die waren wirklich lecker.

„Aja“, rief Seraphine wieder und fuchtelte mit ihrem Löffel in der Luft herum.

Ich schob meinen Stuhl zurück und bückte mich nach der Waffel. Dass so ein kleines Ding so viel Ärger machen konnte … erstaunlich.

In dem Moment klopfte es an der Zimmertür, und nachdem Veith „Herein“ gebrummt hatte, traten Saana und Boudicca zu uns hinein.

Boudicca erschien wieder in alter Frische. Ein bunter Tornado mit Turban und klimpernden Münzen an allen nur erdenklichen Stellen. Saana dagegen hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sie sah nicht so aus, als hätte sie in den letzten Stunden überhaupt einen Moment Schlaf bekommen. Wahrscheinlich hatte sie sich die ganze Nacht in ihrem Arbeitszimmer verkrochen und über ihren Büchern gebrütet. Natürlich konnte es aber auch daran liegen, dass sich der Mörder ihrer Schwester unter ein und demselben Dach befand.

Da würde ich wohl auch nicht gut schlafen, wenn ich mich überhaupt dazu aufraffen könnte, mein Bett aufzusuchen.

Da niemand etwas sagte, lud Boudicca sich in unsere illustre Runde ein und nahm zwischen Kovu und Askea am Tisch Platz. Saana blieb neben ihr stehen.

„Ich hoffe, wir stören nicht.“ Boudicca ließ den Blick über uns gleiten.

Ich schüttelte den Kopf und ließ die Bodenwaffel auf meinen Teller fallen. „Wie geht es Gaio?“ Bei dieser Frage lag meine Aufmerksamkeit auf Askea, doch er aß einfach ruhig weiter. Langsam wurde das unheimlich.

„Er randaliert.“ Boudicca stützte einen Ellenbogen auf den Tisch und legte den Kopf in die Hand. „Er ist erst seit zwei Stunden wach, und in dieser Zeit hat er sein Zimmer zerlegt, wenn er nicht gerade befahl, dass man ihn freilässt oder in unverständliches Gefasel ausbrach.“

Das zu hören machte mich traurig. Es war nicht einfach, sich mit dem Gedanken, dass Gaio der Mörder von Asha war, vertraut zu machen. Ich hatte eigentlich die ganzen letzten Jahre nie ein Problem damit gehabt, das zu akzeptieren, aber ihn jetzt wiederzusehen … Er war doch mal ein Freund gewesen. „Hat er denn noch irgendwas zu den Obelisken gesagt?“

„Nein, hat er nicht.“ Boudicca trommelte mit ihrer freien Hand auf den Tisch. „Und das ist auch nicht das Schlimmste.“ Sie machte eine kurze Pause und sah jeden von uns an, bevor sie hinzufügte: „Szylla hat sich wieder aufgelöst. Und das trotz unserer ganzen Schutzzauber.“

Szylla … Szylla … „Ist das nicht die Hexe aus dem alten Zirkelhaus?“

Sanna nickte. „Von wo auch immer du sie zurückgeholt hast, es hat sie sich wiedergeholt. Und wir konnten nichts dagegen tun.“

Das war wohl ein weiterer Grund ihres Schlafmangels.

„Deswegen wollten wir noch einmal mit dir reden“, erklärte Boudicca. „Ich will von dir hören, was der Gargoyle gesagt hat, denn alles, was er uns sagt, ist nichts weiter als wirres Zeug, das keinen Sinn ergibt.“

„Erzähl uns genau, wer er ist“, fügte Saana noch hinzu. „Vielleicht bekommen wir so etwas heraus, das uns weiterbringt.“

„Na ja.“ Wo sollte ich da anfangen? „Gaio … Er war ein Freund. Das heißt, als ich ihn kennenlernte, konnte er mich eigentlich gar nicht leiden, aber mit der Zeit wurden wir Freunde.“ Ich stockte kurz, dann erzählte ich ihnen alles, was ich über Gaio wusste. Wie er am Anfang unserer Bekanntschaft alles darangesetzt hatte, mich bei Amir schlechtzumachen, weil er geglaubt hatte, ich wäre Talita. Wie er mich in Amirs Abwesenheit unterrichtet und mir gezeigt hatte, worauf ich bei der Dämonenjagd achten sollte. Oder auch, wie er mich vor den anderen oft in Schutz genommen hatte. Ich erzählte ihnen von unserer gemeinsamen Reise nach Sternheim und wie er sich mir anvertraut hatte. Bevor er zu den Jägern gekommen war, war er Geschichtslehrer gewesen, aber dann hatten Dämonen bei einem Klassenausfug alle seine Schützlinge getötet, was ihn zur Dämonenjagd geführt hatte.

Es war nicht viel, was ich berichten konnte, hauptsächlich nur oberflächliche Dinge. Während ich dasaß und die Worte eines nach dem anderen über meine Lippen purzelten, wurde mir erst richtig bewusst, wie wenig ich eigentlich über Gaio wusste.

„… Als er dann gestern aus dieser Gasse kam, war ich echt erschrocken. Wie er aussah und wie er mit mir gesprochen hat … Das war nicht der Mann, den ich gekannt habe.“

„Und was genau hat er gesagt?“, fragte Saana. „Ich weiß, du hast es mir schon erzählt, aber wenn ich ihn über die Obelisken ausfrage, fängt er immer nur an wie verrückt zu kichern und sagt, dass wir alle dem Untergang geweiht seien, weil es keine Rettung vor der Reinigung gibt.“

„Er hat nicht wirklich viel erzählt.“ Hilflos zuckte ich mit den Schultern. „Vieles davon war nur wirres Zeug, das keinen Sinn ergibt. Nur die Aussage, dass wir die Obelisken zerstören müssen, hat mich dazu veranlasst, ihn mitzunehmen. Aber …“ Ich zögerte kurz. „Er muss verstehen, was wir sagen. Er hat mir erklärt, wie ich durch den Spiegel gegangen bin – damals. Ich glaube, er hat von einer ‚sie‘ gesprochen, aber ich habe keine Ahnung, wen er damit gemeint haben könnte.“ Ich zuckte entschuldigend mit meinen Schultern. „Tut mir leid, mehr habe ich nicht zu bieten.“

„Hm“, macht Boudicca. „Aber du bist der Meinung, dass er etwas weiß? Etwas, das uns helfen kann?“

„Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. So wie er gesprochen hat … Er weiß etwas, da besteht kein Zweifel, aber ich kann nicht sagen, ob es uns helfen wird.“

„Und solange er nicht redet, finden wir es auch nicht heraus.“ Verärgert strich sich Saana eine Strähne hinters Ohr.

„Ein Druckmittel“, sagte Talita da. „Wenn wir etwas hätten, womit wir ihn nur zum Reden bringen könnten.“

„Und was soll das sein?“, fragte Boudicca.

Da konnte meine Schwester nur ratlos mit den Schultern zucken.

„Wir haben einen Dämon“, warf Kovu ein. Damit bekam er nicht nur die Aufmerksamkeit aller, sondern auch noch einen extrem bösen Blick von Askea.

„Was meinst du damit?“, wollte Veith wissen.

„Na ja, er ist doch ein Dämonenjäger. So wie Tia sich ausgedrückt hat, hasst der Kerl nichts mehr als Dämonen. Also warum setzen wir ihm nicht einfach unser Sonnenscheinchen vor die Nase und schauen, was passiert? Vielleicht bringen wir ihn damit so in Rage, dass er anfängt zu sprechen.“

Dieser Plan war … kacke.

„Außerdem“, fügte Kovu noch hinzu, „ist Askea daran schuld, dass er nie wieder fliegen kann. Seine Anwesenheit wird dem Gargoyle sicher eine Reaktion entlocken.“

„Die Frage ist nur, was für eine“, erklärte Talita zweifelnd. Auch sie schien von der Idee nicht sonderlich angetan zu sein.

Saana dagegen war auf einmal sehr nachdenklich. „Ich denke, es ist einen Versuch wert. Wir könnten …“

Askea schob seinen Stuhl so plötzlich zurück, dass er lautstark über den Boden scharrte. „Ich soll Wesen helfen, die mich mein ganzes Leben lang verdammt haben und in deren Augen ich schuld am Unglück der Welt bin?“ Er zeigte der Hexe den sprichwörtlichen Vogel, schnappte sich dann Seraphine aus dem Kinderstuhl und gab Fax ein Zeichen, ihm zu folgen. „Ihr wolltet mich an dieses Zimmer ketten wie ein Tier!“, fauchte er, während er ins Schlafzimmer verschwand.

Ich brachte es nicht einmal über mich, mich für sein Verhalten zu entschuldigen, denn er hatte Recht. „Vielleicht reicht es ja, wenn ich mit Gaio rede“, sagte ich und schob meinen Stuhl zurück. Meine letzte Begegnung mit dem Gargoyle hatte nicht sehr glücklich geendet – für keinen von uns. Vielleicht hatte er jetzt ja bessere Laune.

 

°°°

 

Noch bevor Saana den Türknauf berührte, bereitete mich der Krach auf der anderen Seite darauf vor, was mich dahinter erwartete. Das zumindest glaubte ich. Leider war die Realität sehr viel erschreckender. Das Zimmer … Gaio hatte es sprichwörtlich auseinandergenommen – zumindest den Teil, an den er herangekommen war.

Der Raum, in dem der Gargoyle von den Hexen untergebracht worden war, befand sich auf der Südseite des Anwesens. Das Licht des Tages flutete durch die großen vergitterten Fenster – oder besser gesagt durch die Scherben, die noch im Rahmen steckten. Das vordere Drittel des Raumes war durch magisch aufgeladene Gitterstäbe von dem Rest des Zimmers abgeschnitten. Und der Rest war eine einzige Katastrophe.

Gaio hatte gewütet wie ein Hurrikan. Das Regal war umgeworfen und der Kleiderschrank in seine Einzelteile zerlegt worden. Die Matratze hatte er mit seinem Klauen aufgerissen. Stofffetzen flogen im ganzen Zimmer umher. Das Bett sah aus, als hätte er es mit einem Vorschlaghammer bearbeitet. Nachttische und Stühle waren durch den Raum geworfen worden und hatten Dellen in den Wänden hinterlassen. Und nun schlug er mit einem Tischbein wie ein Berserker auf die Gitterstäbe ein.

Bei jedem Treffer zuckte ich innerlich zusammen. „Gaio“, sagte ich leise. Trotz allem, was er getan hatte, versetzte es mir doch einen Stich, ihn so zu sehen.

Während er bewusstlos gewesen war, mussten die Hexen ihn gewaschen haben. Er war sauber, doch die Furchen seiner Verbrennungen traten so nur noch deutlicher hervor. Gaio sah grauenhaft aus, wie ein Dämon aus der leibhaftigen Hölle. Wenn das mal keine Ironie war.

Zu unserer Linken, außerhalb der Gitter, befand sich eine Sofaecke, auf der zwei Hexen saßen, die den Gargoyle im Auge behielten. Das waren dann wohl seine Kerkermeister.

„Irgendwas Neues?“, fragte Saana die beiden.

Sie schüttelten die Köpfe. „Durch seine Tobsuchtsanfälle war er zwischendurch so erschöpft, dass er sich in die Ecke verzogen hat und eingeschlafen ist. Aber nur eine halbe Stunde.“

„Ich glaube, er hatte einen Albtraum“, fügte die andere Hexe hinzu. „Der hat ihn aufschrecken lassen. Dann ging es wieder von vorne los. Erst saß er murmelnd in der Ecke, dann hat er wieder angefangen zu randalieren.“

„Armes Geschöpf“, murmelte Boudicca hinter mir und beobachtete ihn voller Mitgefühl.

Die kleinere der Hexen auf dem Sofa schnaubte. „Du solltest dir dein Mitgefühl für jemanden aufsparen, der es auch verdient hat, und nicht für einen Mörder.“

Saana sagte nichts dazu, doch ihre stumme Zustimmung war in ihrem Blick zu erkennen.

„Aber er leidet.“ Boudicca ging so nahe an das Gitter heran, wie sie es wagte. Gaio schien nicht einmal zu bemerken, dass wir den Raum betreten hatten. Ununterbrochen schlug er mit dem Tischbein um sich. Von den Gittern hatte er in der Zwischenzeit zwar abgelassen, sich dafür aber wieder den Fenstern zugewandt. „Sein Schmerz und sein Kummer sind so groß. Könnt ihr es denn nicht fühlen?“

Die kleinere Hexe schnaubte.

„Du musst verstehen, Jordana, kein Wesen wird böse geboren. Es sind das Leben und die Umstände, die uns zu dem machen, was wir sind. Nun frag dich doch einmal, was dieses Wesen erlebt haben muss, dass es heute so verstört ist.“

Das war eine weitsichtige Einstellung, aber nachdem er Asha umgebracht hatte … Ich wusste nicht, wie ich mich darauf einlassen sollte. Dieses Wesen da drinnen konnte ich einfach nicht mit dem Mann zusammenbringen, der mich so viel gelehrt hatte.

„Tiara?“

Meine Aufmerksamkeit flog zu Saana. So erwartungsvoll wie sie aussah, hatte sie mich wohl schon mehrmals angesprochen. „Entschuldigung, was hast du gesagt?“

„Sprich mit ihm. Schau, ob du etwas aus ihm herausbekommst.“

Ich schluckte. Genau das hatte ich gewollt, aber ich wusste nicht, wie ich ihn zum Reden bringen sollte. Die Wut in seinen Augen … Mein Hals begann wieder zu schmerzen. Er hatte mich angegriffen, und es war nicht das erste Mal gewesen. Aber wir brauchten alle nötigen Informationen, die wir bekommen konnten. Ich musste es tun, denn wenn diese Welt auseinanderbrach, würde ich meine Familie verlieren.

Du schaffst das. Nur Mut. Außerdem, was soll er dir schon anhaben können? Da sind magische Gitterstäbe, die dich schützen. Ich hoffte nur, dass das reichen würde. „Gaio“, rief ich meinen einstigen Jagdgefährten.

Er beachtete mich nicht, schlug nur immer weiter auf das Fester ein. Glasscherben knirschten unter seinen Füßen. Zum Glück war seine Haut so dick.

Ich trat näher an das Gitter, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Es würde mich nämlich nicht wundern, wenn er nur so tat, als ob, und plötzlich auf mich losging. „Gaio aus den Parinwäldern.“

Sein voller Name ließ ihn mitten in der Bewegung innehalten. Er wirbelte zu mir herum, das Tischbein noch immer erhoben, und starrte mich an. In seinen Augen lag so viel Hass, dennoch ließ er das Holzstück langsam sinken. „Du“, flüsterte er. „Liebling der Dämonen, Hure der Monster. Verräterin der Jäger.“

Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich diese Bezeichnungen aus seinem Mund trafen. „Ich habe euch nicht verraten. Ich –“

Er warf das Tischbein mit so viel Wucht in meine Richtung, dass es beim Aufprall das ganze Gitter vibrieren ließ. „Du bist in das Bett eines Dämons gestiegen, anstatt ihn zu töten!“

„Ich bin ausgezogen, um ihn zu töten, aber ich konnte nicht.“

„Du warst zu weichherzig. Das bist du schon immer gewesen.“

„Er hat mich gebrannt.“ Das war eine sehr wirksame Methode gewesen, um zu verhindern, dass ich Askea erstach. Heute war ich natürlich froh, dass es mir nicht gelungen war, aber damals … Ich hatte ihn für das gehasst, was ich zu wissen glaubte. „Ich konnte es nicht tun.“

„Du hast uns in eine Falle gelockt. Du hast Amir und Elias auf dem Gewissen. Deinetwegen ist Ryu gestorben.“

„Und deinetwegen ist Asha tot.“

Das ließ ihn wirklich verstummen. Er musterte mich mit einem unergründlichen Blick, dann warf er plötzlich den Kopf in den Nacken und stieß ein bellendes Lachen aus. Seine Augen waren wild und bar jeder Vernunft. Der Wahnsinn hatte sich in ihnen festgesetzt. „Sie ist nicht fort!“, brüllte er uns entgegen. Sein kaputter Flügel spreizte sich leicht. „Niemand ist fort! Sie alle warten auf die Reinigung!“

Da war es wieder, dieses Wort. „Von was für einer Reinigung sprichst du?“

„Die Zeit des Phönix.“ Aufgeregt sprang er auf mich zu, doch als er mit den Händen das Gitter berührte, riss er sie zischend wieder zurück. „Ihr Unwissenden seid alle dem Untergang geweiht“, flüsterte er mit einer Stimme, die mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Und dann lachte er wieder. Ein unheimliches Geräusch, das schnell zu einem Schluchzen wurde, bis er sich in die Ecke zurückzog und dort leise murmelnd eine Träne nach der anderen vergoss.

Ja, Boudicca hatte Recht, Gaio war wirklich ein zutiefst verletztes Wesen. Und trotz allem, was er getan hatte, konnte ich mich des Mitleids für ihn nicht erwehren.

 

°°°°°

Tag Achtzehn

 

Staub rieselte von der Decke. Es grummelte noch einmal, dann schien die Erde einen tiefen, seufzenden Atemzug zu nehmen und verstummte. Zurück blieb nichts als Stille und Wachsamkeit.

Aufmerksam blickten wir uns um.

„Ist es vorbei?“ Ich drückte Fax schützend an mich und beäugte misstrauisch die Umgebung.

„Für den Moment“, lautete Boudiccas Antwort. „Glaub ich.“

Na, das war nicht sehr ermutigend.

Widerwillig löste ich meinen Arm von Fax und trat unter dem Türrahmen hervor. Auch aus den anderen Zimmern kamen nach und nach Hexen heraus, die sich wachsam umsahen.

„Saana, mach dich kundig, ob es allen gut geht und welche Schäden das Erdbeben verursacht hat“, befahl Boudicca und wandte sich dann zu einer sehr schmalen Hexe um, die gerade aus dem angrenzenden Zimmer taumelte.

Während die Oberhexe sich bemühte, Ordnung in das entstandene Chaos zu bringen, schaute ich zurück zu Gaios Zimmer. Wir hatten es gerade verlassen, als das Beben begonnen hatte.

Vier Tage war es nun schon her, dass ich Gaio in die Burg der Hexen gebracht hatte. Obwohl Askea nicht begeistert davon war, war ich jeden Tag bei dem Gargoyle gewesen, immer in der Hoffnung, endlich etwas Neues von ihm zu erfahren. Doch es war jedes Mal das Gleiche. Ein Wutanfall folgte dem nächsten, immer wieder unterbrochen von Weinkrämpfen und sinnlosem Gelaber.

Er sprach vom Phönix und der Reinigung, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er damit keinen Wischmop schwingenden Vogel meinte. Auch sprach er immer wieder von einer ‚sie‘. Leider fehlten uns auch dort weitere Hinweise, die uns verraten konnten, wen genau er damit meinte. Im Grunde waren wir also keinen Schritt weitergekommen. Mit gar nichts.

Die Zeichen sind deutlich. Der Phönix … Wir befinden uns mitten in ihm. Er tut das, was die Natur ihm vorschreibt. Wir werden in Flammen baden und gereinigt werden, und dann kann ich sie endlich wieder in die Arme nehmen. Das war wohl noch das Verständlichste, war er von sich gegeben hatte.

Gestern hatte ich mich nach Saanas Drängen dazu durchgerungen, Askea noch einmal um Hilfe zu bitten, denn die magische Welt trug mittlerweile ein Verfallsdatum. Die wilde Magie wurde jeden Tag schlimmer. Dies war das fünfte Erdbeben in den letzten vier Tagen gewesen. Das schlimmste hatten wir gestern erlebt. Wäre die Burg nicht so mit der Magie der Hexen verwoben, wäre sie vermutlich über unseren Köpfen zusammengebrochen.

 Aber die Erbeben waren im Moment unsere kleinere Sorge. Seit zwei Tagen prasselte ununterbrochen Lichtregen auf die Erde. Dieser Regen war Magie pur. Wer davon berührt wurde, bekam Verätzungen auf der Haut – im besten Fall. Gestern hatte ich beobachtet, wie eine Hexe damit in Berührung gekommen war und sich daraufhin in einen Baum verwandelt hatte. Bisher war es niemandem gelungen, sie wieder in ihre ursprüngliche Form zu bringen.

Von den Veränderungen, die der Regen bei all den anderen Sachen verursachte, wollte ich lieber gar nicht erst anfangen. Die Magie war in der Zwischenzeit noch unberechenbarer geworden und tat Dinge, die niemand für möglich gehalten hatte. Mit Bonifatius‘ Amethyst kamen wir auch nicht weiter, daher war unsere beste Informationsquelle im Moment Gaio. Doch der wollte einfach nicht reden – nicht wirklich und nicht verständlich.

Wir hatten gehofft, dass Askeas Anwesenheit Gaios Zunge lockern könnte, aber mein drakonischer Dämon weigerte sich weiterhin, etwas für die Hexen – oder besser gesagt für die Mortatia – zu tun. Egal was ich sagte, er knurrte mich nur an. Daher hatte ich einen Entschluss gefasst: Wenn Askea nicht helfen wollte, würde Fax es eben tun. Seine Anwesenheit würde dem Gargoyle schon eine Reaktion entlocken.

Das hatte sie auch.

Gaio hatte Fax gesehen und einen Tobsuchtsanfall bekommen. Er war völlig ausgerastet. Sein Verhalten hatte meinen kleinen Jungen so sehr erschreckt, dass Gaio sich noch weiter in seinen Ausbruch hineingesteigert hatte. Vielleicht hätte es geholfen, wenn Fax ruhig geblieben wäre.

Ich glaubte nicht, dass er ihn als den kleinen Dämonenjungen von damals erkannt hatte, doch seine Reaktion war so extrem gewesen, dass wir ihn mit einem Schlafzauber hatten belegen müssen, um zu verhindern, dass er sich selbst verletzte oder durch die Gitter brach, die gefährlich gezittert hatten. Die Laute, die er von sich gegeben hatte, waren nicht mehr menschlich gewesen. Nicht einmal Tiere hätten solche Geräusche von sich geben können.

Uns war gar nichts anderes übriggeblieben, als den Rückzug anzutreten. Dann hatte das Erdbeben eingesetzt, dessen Folgen Boudicca nun entgegenzuwirken versuchte, indem sie den Hexen Anweisungen zurief und Aufgaben verteilte.

„Es wird schlimmer“, sagte Fax leise.

Wir gerne würde ich ihm sagen, dass er sich täuschte und alles wieder gut werden würde, aber er würde mir nicht glauben. Dafür war er einfach zu intelligent. Und ich war mir nicht sicher, ob so eine gutgemeinte Lüge bei ihm auf Verständnis treffen würde. „Wir dürfen nicht aufgeben“, sagte ich daher. „Es gibt noch immer Hoffnung.“

„Glaubst du das wirklich?“

Das war eine schwere Frage. „Ich muss einfach daran glauben.“ Liebevoll strich ich ihm über die Wange. „Denn wenn die Hoffnung vergeht, was bleibt dann noch?“ Ja, ziemlich klischeehaft, das wusste ich, aber mehr fiel mir auf die Schnelle nicht ein.

„Tia?“, rief mich Boudicca in dem Moment.

„Ja?“ Es wurde schlimmer und wir mussten uns ganz dringend etwas einfallen lassen, wenn wir nicht untergehen wollten.

Sie seufzte und deutete den Korridor hinunter. „Begleite mich ein Stück.“

Das hörte sich gar nicht gut an, dennoch drückte ich Fax‘ Hand und gesellte mich mit ihm an ihre Seite.

Ein Stück liefen wir schweigend, vorbei an aufgeregten Hexen, umgekippten Möbelstücken und verstreutem Nippes. Wenigstens schien niemandem etwas geschehen zu sein.

„Dein kleiner Junge hat bei Gaio ganz schön für Aufregung gesorgt.“

So konnte man das auch bezeichnen. „Sein Hass ist tief verwurzelt.“

„Das müssen wir uns zunutze machen.“ Sie behielt mich fest im Blick. „Ist er deinem Sohn schon einmal begegnet?“

„Ja, vor ein paar Jahren, als Fax noch jünger war. Und auch nur sehr kurz. Ich glaube nicht, dass er Fax mit dem kleinen Jungen von damals in Verbindung gebracht hat.“

„Nein, das glaube ich auch nicht. Aber ich denke, dass er sich an einen anderen Dämon durchaus erinnert.“

Mir war sofort klar, von wem sie sprach. „Askea wird nicht mit ihm sprechen.“

„Ich weiß.“ Sie seufzte. „Und ich verstehe auch, warum. In seinem Leben ist er sicher auf sehr viel Ablehnung gestoßen.“

‚Ablehnung‘ würde ich das nicht gerade nennen. Unmenschliche Grausamkeit. Abgründe der Verkommenheit. Askea hatte nie viel von sich erzählt, doch das Wenige, das er von sich preisgegeben hatte, war nicht schön gewesen. Und es waren nicht nur die Mortatia gewesen, die ihm das Leben schwer gemacht hatten. Dämonen waren auch keine netten Zeitgenossen.

Eigentlich waren es sogar die Dämonen gewesen, die ihm alles und jeden genommen hatten. Zumindest bevor die Jäger auf den Plan getreten waren. „Askea vertraut niemandem.“

„Er vertraut dir“, ein Lächeln fiel auf Fax, „und seinen Kindern.“

Da war ich mir nicht so ganz sicher. Ich wusste, wie er zu mir stand. Ob er mich liebte? Manchmal glaubte ich es. Aber Vertrauen? Ich war mir nicht einmal sicher, ob er wusste, was dieses Wort bedeutete. „Ich weiß, was du möchtest, und ich habe bereits versucht, mit ihm zu reden, aber er weigert sich strikt. Ich weiß nicht, wie ich ihn davon überzeugen könnte, uns zu helfen.“

„Versuche es trotzdem weiter. Wenn jemand einen Weg findet, dann du.“

Ich schnaubte. „Sie haben aber eine Menge Vertrauen in meine Fähigkeiten.“

„Ach was.“ Sie winkte ab und bog um die nächste Ecke in den Korridor, den ich mit meiner Familie bewohnte. „Es ist nur einfach eine logische Schlussfolgerung. Du bist seine Gefährtin. Damit hast du eine Macht über ihn wie kein anderes Wesen. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Ich war auch einmal verbunden.“ Sie zwinkerte mir zu. „Ein Hexer. Er war meine große Liebe.“

Na, ob das wirklich so einfach war, wie sie sich das vorstellte? Askeas Hass auf die Wesen dieser Welt war so groß, dass es für ihn keinen Grund gab, davon abzulassen. Er würde ihnen nicht helfen, nicht einmal mit etwas so Simplen wie einem Gespräch.

„Es ist schon erstaunlich, findest du nicht?“, fragte sie plötzlich.

„Was?“

Ein Stück den Korridor hinunter ging die Tür zu unserem Zimmer auf, und noch bevor ich ihn sah, wusste ich, dass es Askea sein würde, der auf den Flur trat. Es war nicht nur ein Gefühl. Ich wusste es einfach.

Aber er kam nicht zu mir. Er sah mich neben Boudicca auf ihn zulaufen, lehnte sich neben der offenen Tür an die Wand und wartete auf mich. Sehr seltsam.

„Dein Gesundheitszustand natürlich.“

Etwas verwirrt richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf meine Begleitung. „Was?“

Sie schmunzelte. „Ich verstehe schon. Wenn ein solcher Mann mich so ansehen würde, wüsste ich wahrscheinlich auch nicht mehr, was um mich herum vor sich geht.“

Ähm … nein, jetzt hatte ich vollkommen den Faden verloren. Worüber hatten wir noch einmal gesprochen?

„Hast du eine Theorie dazu?“

Alles, was sie zur Antwort bekam, waren drei große Fragezeichen in meinem Gesicht.

Sie lachte laut auf, was ihren Turban gefährlich zum Schwanken brachte. „Dein gesundheitlicher Zustand. Hast du eine Theorie dazu, warum du noch lebst?“

Ach so, darum ging es. „Nein, keine Ahnung. Als Askea mich vor drei Jahren durch den Spiegel gestoßen hat, hing mein Leben nur noch an einem seidenen Faden. In dieser Höhle … Ich habe so viel Magie benutzt, dass ich mich selbst ans Limit gebracht habe. Wenn er nicht gewesen wäre …“ Mein Blick fiel auf ihn, auf meinen drakonischen Dämon, der zwar nicht immer einfach war, aber im Grunde nur versuchte, alles richtig zu machen. „Ich habe immer geglaubt, dass ich sofort sterben würde, wenn ich wieder auf diese Seite des Spiegels komme, aber als Phinchen hindurchgestiegen ist … Ich habe gar nicht weiter darüber nachgedacht und bin ihr einfach gefolgt.“

„Deine Tochter ist durch den Spiegel gegangen? Eigenmächtig?“

Ich nickte. „Ich weiß bis heute nicht, wie sie das gemacht hat. Ich meine, sie hat kein Hexenzeichen benutzt. Sie weiß nicht einmal, was das bedeutet, und …“ Ich brauchte eine Sekunde, um zu bemerken, dass Boudicca stehen geblieben war. „Alles in Ordnung?“

„Ja.“ Sie musterte mich. „Nur … Deine Familie ist wohl die außergewöhnlichste, der ich jemals begegnet bin.“

War das ein Kompliment oder eine einfache Feststellung?

„So, ich werde dich dann jetzt auch alleine lassen. Die Pflicht ruft, und dein Mann wartet auch schon ungeduldig auf dich.“

Besonders ungeduldig sah er nicht aus, doch ich widersprach ihr auch nicht.

Als sie sich mit einem Lächeln von mir abwandte und in die entgegengesetzte Richtung davonging, fiel mir auf, dass sie der erste Mortatia war, der Askea nicht als Dämon oder schlimmeres bezeichnete. Für sie war er mein Mann. Dieser Gedanke gefiel mir, und so hatte auch ich ein Lächeln auf meinen Lippen, als ich Fax‘ Hand losließ und zu Askea trat. „Hi.“

Er musterte mich mit einem Blick, der tiefer zu gehen schien, als er sollte, legte mir dann eine Hand auf den Rücken und schob mich in das Zimmer. In diesem Moment begann die Welt erneut zu beben.

 

°°°

 

Prasseln. Kleine goldene Tropfen, die rhythmisch ans Fenster klopften. Mit dem Finger folgte ich den Schlieren über das Glas. Ich konnte sie spüren, jede einzelne von ihnen. Die Magie in ihnen pulsierte, rief nach mir. Tausend kleine Sternschnuppen, schoss es mir durch den Kopf. Gleich darauf schnaubte ich über diesen gedanklichen Vergleich. Keine Sternschnuppe konnte dafür sorgen, dass man plötzlich einen dritten Arm hatte oder sich an Ort und Stelle in einen Baum verwandelte. Das vermochte nur reine Magie.

Seufzend wandte ich mich vom Fenster ab und klaubte Seraphine vom Boden, die gerade dabei war, den schlafenden Kovu mit ein paar Farbtupfern ihrer Stifte aufzuhübschen.

„Malen!“, quakte sie protestierend.

Kovu schmatzte im Schlaf und drehte sich auf die andere Seite. Sollte er jemals dazu kommen, seinen Rücken zu begutachten, würde ihn wahrscheinlich der Schlag treffen.

„Dafür gibt es Blätter“, erklärte ich ihr und setzte sie neben dem Waschbecken auf die Anrichte, um ihre Hände zu säubern.

Natürlich zappelte sie herum, aber nur solange, bis ich mit dem Seifenschaum ein paar Seifenblasen auf ihren Händen erschuf.

„Mehr“, quietschte sie. „Mehr!“

„Kinder lassen sich so leicht beschäftigen“, seufzte Talita. Sie saß zusammen mit Veith auf der Couch.

Askea saß daneben auf dem Sessel und beobachtete alles aufmerksam. Fax war schon vor einer Weile im Bad verschwunden und bisher nicht wieder aufgetaucht. Ich glaubte, der Zusammenstoß mit Gaio hatte ihn doch mehr erschreckt, als ich zu Anfang angenommen hatte. Leider wollte er mit mir nicht darüber sprechen.

Nicht einmal auf mein Klopfen hatte er reagiert. Vor einer Stunde war dann Askea zu ihm hineingegangen und kurz darauf ohne seinen Sohn wieder herausgekommen. Er hatte mir nicht gesagt, was da drin losgewesen war. Sein einziger Kommentar hatte gelautet: „Lass ihn in Ruhe. Er kommt raus, wenn er soweit ist.“

Das war weder aufschlussreich noch hilfreich gewesen.

Vielleicht sollte ich ihn fragen, ob er mir wieder mit den Ringen helfen würde. Dabei konnte ich mit ihm reden, und vielleicht bekam ich auf diese Art heraus, was los war. Ich musste sowieso dringend an den Ringen weiterarbeiten.

Aber bis es soweit war, war ich wieder zur Untätigkeit verdammt.

„Hat Saana eigentlich irgendwelche neuen Erkenntnisse?“, fragte Talita halb hoffnungsvoll.

„Nicht, dass ich wüsste.“ Ich spülte Seraphines Hände unter klarem Wasser ab und setzte sie auf den Boden, von wo aus sie direkt zu Askea watschelte und versuchte, auf seinen Schoß zu klettern. „Zumindest heute Morgen gab es noch keine Neuigkeiten.“ Mit der Hüfte lehnte ich mich an die Anrichte.

„Wenn es was Neues geben würde, hätten sie uns sicher schon Bescheid gegeben.“ Veith zog Talita an sich heran und gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. „Du musst dich gedulden.“

„Ich tue seit Tagen nicht anderes. Es nervt langsam.“

Da sprichst du mir aus der Seele, Schwesterherz. Mir ging es nicht anders. Eigentlich ging es keinem von uns anders.

Seit wir den Amethyst geholt hatten, taten wir nichts anderes als zu warten. Auf eine Lösung, auf Rettung. Auf den Untergang. Das konnte schon ziemlich nervenaufreibend sein. „Ich glaube, ich vertrete mir mal ein bisschen die Füße.“

Sofort schnellte Askeas Blick zu mir.

„Ich werde die Burg nicht verlassen“, versprach ich. „Ich will mich nur mal ein wenig bewegen.“ … Und damit wenigstens den Anschein erwecken, etwas zu tun.

„Bleib in der Nähe“, befahl er und streckte seine Beine aus, damit Seraphine es einfacher hatte, auf seinen Schoß zu klettern.

Ich würde mich hüten und ihn für seinen herrischen Tonfall anfahren. Aber die Augen verdrehen, das konnte ich wenigstens.

„Warte, ich begleite dich.“ Talita drückte Veith einen Kuss auf die Wange und machte dann einen großen Schritt über den schlafenden Kovu hinweg, der genau in diesem Moment einen lauten Schnarcher von sich gab.

Schnell schlüpften wir aus dem Zimmer in den Korridor, sodass unseren Männern gar keine Zeit mehr blieb, irgendwelche Einwände zu erheben.

Die Schäden von dem letzten Erdbeben waren schon beinahe alle behoben worden. Manchmal zahlte Magie sich eben doch aus.

„Glaubst du wirklich, dass sie uns alle Neuigkeiten mitteilen würden?“, fragte Talita, kaum dass die Tür hinter uns geschlossen war und wir uns in Bewegung gesetzt hatten.

Ich zuckte nichtssagend mit den Schultern. „Ich denke, dass sie mir alles Wichtige mitteilen. Bei euch allerdings … Na ja, ihr seid keine Hexen.“

„Wenn die Lykaner nicht genauso drauf wären, wäre ich jetzt vielleicht ein klein wenig gekränkt.“ Ihre Lippen verzogen sich zu einem schlechten Abklatsch eines Lächelns. „Andererseits ging es bei den Lykanern niemals um die Rettung der Welt.“

„Lass uns erstmal mit der Rettung unserer Liebsten anfangen, bevor wir versuchen, die Welt aus dem Schlund der Hölle zu ziehen.“

„Das eine zieht das andere mit sich. Zumindest im Moment.“ Sie seufzte schwer. „Wenn ich nur wüsste, was wir tun können. Das Schlimmste an dieser Situation ist die Ungewissheit und dass wir nichts anderes tun können, als zu warten, während alles immer schlimmer wird.“

Ich wusste genau, was sie meinte.

„Wenn sie nur endlich den Stein knacken könnten oder … Oder wenn dein Freund nur reden würde.“

Ich verkniff es mir, darauf hinzuweisen, dass Gaio schon lange nicht mehr mein Freund war. „Ich versuche ja schon mein Bestes.“

„Ich weiß, aber …“ Sie unterbrach sich einen Moment, bevor sie seufzend um die Ecke lief. „Es gibt jemanden, der ihn vielleicht zum Reden bringen könnte.“

Na super, jetzt fing sie auch noch damit an. „Askea will aber nicht mit ihm reden.“

„Ja, schon klar, aber es muss doch eine Möglichkeit geben, ihn davon zu überzeugen.“

Das ließ mich auflachen. „Glaubst du das wirklich?“

„Na ja, eine Sache könntest du vielleicht noch probieren.“

„Und die wäre?“

„Sex.“

Eine meiner Augenbrauen wanderte meine Stirn hinauf. „Ist das dein Ernst? Du glaubst, ein bisschen Sex mit mir würde ihn von seiner qualvollen Vergangenheit heilen und … Moment, wir sprechen hier doch von Sex mit mir, oder?“

Das ließ sie zum ersten Mal heute ehrlich lachen. „Natürlich, Dummchen. Oder glaubst du, ich würde ihm eine andere Frau vor die Nase setzen wollen? Davon abgesehen, dass er die dann wahrscheinlich zu einem Stück Brennholz verarbeiten würde, um zu dir zu kommen.“

Diese Worte sollten mich nicht so erfreuen, aber insgeheim musste ich ihr rechtgeben. Andererseits … Da war noch immer Nubia. Eine andere Frau für ihn war also vielleicht gar nicht so abwegig. „Ich glaube nicht, dass das die Lösung dieses Problems ist.“

„Vielleicht nicht, aber wir müssen alles ausprobieren. Oder hast du etwa schon aufgegeben?“

„Nein.“ Natürlich hatte ich das nicht. Das konnte ich einfach nicht, denn wenn ich aufgab, würde die Welt auf jeden Fall untergehen und nur das Nichts zurücklassen – das war die bittere Wahrheit. Genaugenommen war ich mir nicht einmal sicher, ob mein Engagement in diesem Fall überhaupt etwas bringen würde, aber ich musste es zumindest versuchen. Einfach aufzugeben kam auf keinen Fall in Frage.

„Dann versuch ihn mit den Waffen einer Frau zu bezirzen. Was hast du schon zu verlieren?“

Da Armageddon direkt vor der Tür stand oder, besser gesagt, bereits mit einem Fuß hindurchgegangen war, eigentlich nichts.

 

°°°

 

Der Magiesturm zog so plötzlich auf, dass ich von der Wucht beinahe aus dem Bett fiel. Ich konnte mich gerade noch stöhnend auf der Kante halten, nur um im nächsten Moment von Askea einen Stoß zu erhalten und auf den Boden zu klatschen.

Rums!

Aua.

Er riss die schlafende Seraphine aus dem Knäuel von Decken und schaffte es gerade noch so, aus dem Bett zu springen, bevor beide in Flammen aufgingen.

Und ich? Ich war auf der Nase gelandet – schmerzhaft. Der Boden war hart. Fluchend rappelte ich mich auf die Beine, als Kovu in dem anderen Bett lautstark aufjaulte. Talita gab etwas sehr Obszönes von sich, während sie versuchte, den Wölfen die wenigen Kleidungsstücke vom Leib zu reißen, um ihnen die Verwandlung zu erleichtern. Der Magnar zwang sie gegen ihren Willen in ihre andere Gestalt.

Gerade wollte ich zu den dreien laufen, um ihnen zu helfen, als ich Fax bemerkte, der sich in seinem Bett verschlafen aufrichtete. Er schien gar nicht so genau zu realisieren, dass er nicht nur sich, sondern auch die Matratze samt Decke unbeabsichtigt in Brand setzte.

„Fax!“, rief ich, als bereits dunkle Rauchwolken von dem Stoff aufstiegen. „Raus aus dem Bett!“ Ich schnappte mir meine Decke und rannte zu ihm hinüber, während er noch zu begreifen versuchte, was um ihn herum los war.

Askea war da nicht so human. Er packte seinen Sohn einfach und riss ihn aus dem Bett. Leider leckten die Feuerlohen, die immer wieder aus seiner Haut schossen, über den Nachttisch daneben und steckten ihn auch gleich in Brand.

Ich unterdrückte einen weiteren Fluch und versuchte, das Feuer mit der Decke zu löschen. Dabei spürte ich die Magie um uns herum. Sie tränkte die Luft geradezu, drang in mich ein und baute innerhalb kürzester Zeit einen solchen Druck auf, dass mir Schweißperlen auf die Stirn traten.

„Versuch es zu kontrollieren!“, wies Askea seinen Sohn an, als dieser zurücktaumelte und dabei auch noch das Bett meiner Schwester anzündete.

„Scheiße!“ Talita sprang auf den Boden und riss Kovu dabei mit sich. Irgendwas schien mit dem Kleinen nicht zu stimmen, aber ich konnte mich nicht darauf konzentrieren, denn die Flammen wurden immer größer statt kleiner.

„Tia, raus hier!“, fauchte Askea mich an und schubste Fax in den anderen Raum.

Der Rauch brannte in meiner Lunge, und in meiner Brust baute sich ein so großer Magiedruck auf, dass ich ihn kaum bei mir behalten konnte.

„Versuch es mit Wasser!“, rief Talita und rannte auch aus dem Raum. Veith und Kovu folgten ihr auf dem Fuße, wobei Kovu leicht desorientiert wirkte und fast gegen den Torbogen krachte. Die unfreiwillige Verwandlung hatte bei dem Kleinen wohl einen Kurzschluss verursacht.

„Wasser bringt nichts“, rief ich ihr zu und wich hustend zurück, als auch die Decke in meiner Hand Feuer fing. Verdammt, gleich würde das ganze Zimmer brennen.

„Tiara!“, fauchte Askea. Er stand im Türrahmen und wartete auf mich, aber da er selbst in Flammen stand, wagte er es im Moment nicht, mir zu nahe zu kommen.

Ich wich weiter zurück und überlegte fieberhaft, was ich gegen die Flammen unternehmen konnte. Draußen regnete es noch immer, aber der Lichtregen würde mir sicher nicht weiterhelfen. Wahrscheinlich würde er es sogar nur noch schlimmer machen, wenn ich ihn hineinließe.

„Denk nach“, flüsterte ich und rieb mir über die Arme. Meine Haut spannte unangenehm. Es war wie tausend kleine Nadelstiche; als würde die Magie versuchen, durch meine Poren ins Freie zu gelangen. „Denk nach.“

„Tiara!“

Die Flammen leckten bereits an den Wänden und griffen langsam auf die Vorhänge über. Weitere Rauchschwaden brachten mich zum Husten. Wenn es so weiterging, würde mir irgendwann die Luft ausgehen, und … Aber natürlich, Luft!

„Wenn du nicht gleich kommst, werde ich –“

„Geh raus“, befahl ich ihm und wich weiter zur Tür zurück. Zum ersten Mal, seit ich Askea näher kennengelernt hatte, war ich froh darüber, bei den Dämonenjägern meine Magie gelernt zu haben, denn nur deswegen wusste ich genau, was ich jetzt tun musste. Elementmagie hatte dort sozusagen zur Standardausbildung gehört, und genau das brauchte ich jetzt.

Ich schüttelte die Ärmel meines knielangen Schlafhemdes zurück, hob die Hände und bediente mich endlich der Magie.

Meine Gedanken nahmen in Form von Licht Gestalt an. Ich konzentrierte mich und schluckte das Brennen durch den Rauch hinunter. Dann, bevor Askea noch einmal meinen Namen knurren konnte, ließ ich die Magie mit einem Schlag frei.

Ich wurde zurückgeschleudert, als ich dem Raum sämtlichen Sauerstoff entzog, und knallte mit dem Rücken gegen die Wand. Mein Nacken knackte unangenehm, mein Kopf schlug so hart gegen den Putz, dass ein kleines Universum vor meinem inneren Auge aufblitzte, und dann rutschte ich leicht benommen zu Boden.

Das hatte verdammt nochmal wehgetan!

„Verdammt, Frau!“

Bildete ich mir das ein, oder war es das erste Mal, dass ich Askea fluchen gehört hatte?

Ich drehte meinen Kopf zur Seite, als Askea sich neben mich kniete, und lächelte ihn an. Dabei versuchte ich das leise Pfeifen in meinen Ohren zu ignorieren. „Hi.“

„Ich weiß nicht, ob ich einfach nur wütend auf dich sein soll oder es besser wäre, dich ordentlich durchzuschütteln.“ Er hob die Hand, um mich zu berühren, ließ sie dann aber wieder sinken, als eine kleine Flamme über seine Finger huschte.

„Ordentlich durchgeschüttelt wurde ich gerade schon.“ Ich blinzelte ein paarmal, um mich im Raum umzusehen. Die Magie juckte noch immer unnatürlich unter meiner Haut und auch der Rauch war nicht verschwunden, aber wenigstens waren die Flammen verloschen.

Askea funkelte mich böse an und fing Seraphines Hand ein, als mein Engel nach mir greifen wollte, da auch sie noch in Flammen stand.

„Mamam, aua?“

„Nein.“ Na ja, abgesehen von ordentlichen Kopfschmerzen. Dass Wände aber auch so hart sein mussten! „Mir geht es gut, mein Schatz.“

„Das war töricht.“ Askea stand auf und wich zur Seite, als ich mich langsam auf die Beine bemühte. Zwar war ich mit mörderischen Kopfschmerzen geplagt, aber wenigstens konnte ich mich in der Senkrechten halten.

„Besser als wenn die ganze Burg abgefackelt wäre. Das hätten die Hexen uns vielleicht ein wenig übelgenommen.“

Er kniff die Augen leicht zusammen. „Die Hexen interessieren mich nicht.“

„Aber mich.“ Ich stützte mich an der Wand ab und rieb mir mit der freien Hand vorsichtig über den Hinterkopf. Da war eine Beule so groß wie ein Ei. Als ich dagegen kam, zischte ich – das tat wirklich weh.

Sofort wollte Askea wieder nach mir greifen, besann sich dann aber eines Besseren.

„Keine Sorge, das ist gleich vorbei.“ Die Magie war noch so allgegenwärtig, dass ein kleiner Heilzauber mir nicht nur die Kopfschmerzen nahm, sondern auch noch gleich das Ei an meinem Schädel verschwinden ließ. Dabei sah ich Askea genau an, wie sehr er sich zurückhielt, um mich deswegen nicht anzuherrschen. Er wusste genauso gut wie ich, dass ich die Magie loswerden musste, damit sie nicht einfach aus mir hervorbrach. „Bist du verletzt?“, fragte ich ihn.

Sein Mund wurde zu einer dünnen Linie.

Seufz. „Ich muss doch sowieso zaubern. Dann kann ich auch gleich was Nützliches –“

Ein gellender Schrei ließ uns beide herumfahren. Wir warfen uns einen kurzen Blick zu und rannten dann in den Nebenraum, in dem sich Talita über den größten Topf, den sie hatte finden können, hergemacht hatte, um damit den Boden um Fax‘ Füße mit Wasser zu tränken. Feuerschutzmaßnahmen mal anders. Die schwarzverkohlte Armlehne an der Couch sagte mir auch ganz genau, warum.

„Wer hat geschrien?“, fragte ich hektisch und sah mich nach allen Seiten um.

„Keine Ahnung.“ Veith hatte die Ohren gespitzt.

Talita stellte den großen Topf auf den Boden. „Das kam von draußen, von –“

Ein weiterer Schrei durchdrang das Gebäude.

Dann fiel plötzlich das Licht aus.

 

°°°°° 

Tag Neunzehn

 

„Was war das?“, flüsterte Talita in der Dunkelheit.

„Ein Schrei“, kam es nicht sehr geistreich von Kovu.

„Wie hast du es nur geschafft, erwachsen zu werden, ohne dir dabei das Genick zu brechen?“, fragte ich einfach mal so in den Raum hinein und ignorierte sein empörtes Luftschnappen.

In dem Moment schallte ein weiterer Schrei durch das Haus. Der nächste kam von draußen aus dem Hof.

„Das gefällt mir nicht“, erklärte meine Schwester. In ihrer Stimme klang eine ängstliche Unruhe mit.

Ich huschte zum Fenster, um einen Blick nach draußen zu erhaschen. Im Raum war es ziemlich finster, nur das flackernde Licht meines Dämons drängte die Dunkelheit ein wenig in die Schatten zurück. Auch draußen gab es kein Licht, wenn man von dem fluoreszierenden Regen absah, aber der half nicht wirklich. „Die ganze Burg ist dunkel.“

„Vielleicht …“, begann Talita und wurde unterbrochen, als die Mauern und Wände plötzlich von einer heftigen Erschütterung gepackt wurden.

Ich schaffte es gerade noch, nach dem Fensterrahmen zu greifen, bevor der wackelnde Boden mich von den Beinen riss. Leider beschloss die Scheibe in diesem Moment, in einem Regen aus Scherben zu Bruch zu gehen. Eine Druckwelle schien sie nach innen zu drücken und explodieren zu lassen.

Mit einem Schrei riss ich die Arme vors Gesicht und taumelte zurück. Ich verlor den Halt und stürzte. Scherben regneten auf mich herab und zerschnitten mir Arme und Beine. Mein Herzschlag hatte sich noch nicht einmal beruhigt, da raste es schon von neuem los.

„Tia!“

Seraphine stieß einen spitzen Schrei aus und klammerte sich an Askea, während Fax zu Boden knallte und Talita sich nur mit Mühe und Not an der Einrichtung festhalten konnte. Die Wölfe hatten weniger Probleme, auf den Pfoten zu bleiben. Vier Beine sorgten scheinbar für ein besseres Gleichgewicht auf dem bebenden Untergrund.

Meine Arme brannten, meine Beine brannten und auch meine Wange brannte. Der dünne Stoff meines Hemdes hatte die Scherben nicht aufhalten können. Verdammt, tat das weh.

Der ersten Erschütterung folgte eine zweite, stärkere. Dann rief Talita plötzlich: „Was ist das?!“

Ich brauchte nicht lange, um herauszufinden, was genau sie damit meinte. Direkt durch die Außenwand wand sich eine goldleuchtende Tentakel. Ich konnte die Vibration spüren, die von ihr ausging. Die leuchtende Aura pulsierte. Das war pure, unverfälschte, wilde Magie. Sie tastete sich langsam in unsere Richtung. Es sah aus, als würde sie direkt aus der Wand wachsen.

„Da ist noch eine!“, rief Fax in dem Moment, in dem eine weitere Erschütterung die Burg erbeben ließ.

Das Gemäuer ächzte und stöhnte. Im Putz bildeten sich lange Risse, die in Blitzgeschwindigkeit vom Boden bis zur Decke kletterten. Staub und Mörtel rieselten herab. Die Steine in den Wänden knirschten aufeinander.

Ein weiterer, hysterischer Schrei schallte vom Korridor zu uns herein.

Doch das wirklich Entsetzliche begann erst in der Sekunde darauf. Plötzlich war die Luft erfüllt vom Geräusch brechenden Gesteins. Das Kreischen sich verbiegenden Metalls schallte durch die Räume, und das Knacken und Splittern von Holzbalken ließen mich befürchten, dass uns jeden Moment die Decke auf den Kopf stürzen würde – wortwörtlich. Das Getöse war so laut, dass ich meine eigenen Gedanken kaum verstehen konnte.

„Wir müssen hier raus!“, reif Veith auf einmal, stieß Talita in die Kniekehlen, damit sie sich zur Tür bewegte, und rannte dann selbst dorthin.

In der gleichen Sekunde geschah es dann.

Das Gerumpel wurde noch lauter. Dann konnte ich beobachten, sie ein Teil der Außenwand in sich zusammensackte und Decken und Böden mit sich mitriss. Ich schaffte es kaum schnell genug, rückwärts zu krabbeln, um dem wegbrechenden Parkett zu entkommen. Die Scherben schnitten mir in die Handflächen. Ich hinterließ eine blutige Spur auf dem Untergrund.

Ein Gefühl von Déjà-vu überkam mich. Das war wie in dem Haus des verstorbenen Wesensmeisters, nur befürchtete ich dieses Mal, dass es sich hierbei nicht um eine Illusion handelte. Nicht, dass ich das beim letzten Mal geglaubt hatte, aber das hier …

Etwas packte mich von hinten an der Schulter. Ein scharfer Schmerz drang in meine Haut. Ich zischte und wollte mich wegdrehen. Es dauerte einen kurzen Moment, bis ich verstand, dass es Kovu war, der versuchte mich wegzuzerren. In der Hektik hatte er nicht nur mein Nachthemd erwischt, sondern auch noch meine Schulter, und zerrte mich nun quer durch den Raum, damit ich von dem drohenden Abgrund wegkam. Und von der seltsamen Schlingpflanze, die immer größer und länger wurde. Dabei schien sie nach etwas zu tasten.

„Tiara!“, brüllte Askea. Er stand bereits in der offenen Tür und schob gerade Fax aus dem Raum. Seraphine hatte er in die Hände unseres Sohnes gegeben, um die Arme freizuhaben. Ich sah in seinen Augen, wie gern er mich holen gekommen wäre, doch er hatte Angst, dass sein Feuer mich verbrennen könnte. Die Magie tobte noch immer um uns herum, und jetzt, da ein Teil der Wand fehlte, drang der Sturm umso heftiger in die Burg herein. Ich hörte das Klatschen des Regens, als würde ich direkt unter ihm stehen. Der Wind zerrte an meinem Hemd.

Ohne auf die Schmerzen durch die Schnitte zu achten, schob ich den Wolf nachdrücklich von mir und rappelte mich auf die Beine. Schon in der nächsten Sekunde war ich an der Tür, doch das Bild, das mich dort erwartete, ließ mich auf der Stelle verharren.

Die halbe Burg war nicht mehr vorhanden. Eingestürzt. Ich konnte von hier oben in die unteren Etagen schauen. Böden, Decken, Wände … Es war nur noch ein großer Geröllhaufen, zwischen dem ich das Schreien, Wimmern und Weinen der Hexen hören konnte. Genau in der Mitte befand sich eine Schlingpflanze, die mich an einen sehr mächtigen Baum erinnerte. Sie war gigantisch. Hunderte von tentakelähnlichen goldenen Fühlern wirbelten herum und tasteten nach allem, was sie finden konnten.

Ich entdeckte eine kleine, pummlige Hexe, die gerade versuchte aus dem Geröll zu entkommen. Eine der Tentakel glitt direkt auf sie zu. Sie bemerkte es nicht. In dem Moment, in dem die Frau von der formgewordenen Magie berührt wurde, erstarrte sie einfach.

Ein goldener Schimmer kroch über ihren Leib, schloss sie in sich ein und schien sie zu verschlingen. Und dann verwandelte sie sich in Stein.

Eine andere Hexe war in die Gewalt eines Tentakels geraten und schrie wie am Spieß. Dann … löste sie sich einfach in Nichts auf.

„Oh mein Gott“, flüsterte Talita. Sie hatte die Tatze vor den Mund geschlagen und schaute fassungslos zu, wie sich eine dritte Hexe nach der Berührung eines Magietentakels in Wasser verwandelte. In einem lautlosen Schrei riss sie den Mund auf. Ihre Kleidung wurde von innen nass, dann zerfloss sie einfach. Sie platschte auf das Geröll und verschwand zwischen den Ritzen und Steinbrocken aus dem Mauerwerk

Veith biss in Talitas Hemd und zog sie mit sich, während von Kovu nur noch die Rute zu sehen war, als er um die nächste Ecke verschwand.

Die Magietentakel drangen weiter vor.

„Lauf endlich!“, fauchte Askea mich an und stieß Fax vor sich den Korridor entlang.

Mich hielt nichts mehr auf meinem Platz. Ich wirbelte herum und rannte den anderen hinterher. Gerade als sie um die Ecke verschwanden, begann die Burg wieder zu ächzen und zu stöhnen. Der Klangteppich war unglaublich. Staub und Putz rieselten von der Decke, der Boden vibrierte wieder, und ich musste mich an der Wand abstützen, um nicht über meine eigenen Füße zu stolpern.

Dann hörte ich den Schrei. Gerade als ich um die Ecke bog, stieß eine Frau einen so schrillen Schrei aus, dass mir davon die Ohren klingelten. Aber auf das, was mich in dem anderen Korridor erwartete, war ich nicht vorbereitet.

Mehrere panische Frauen kamen mir entgegengerannt und rissen mich einfach von den Füßen. Ich wurde zur Seite geschleudert und krachte heftig auf meine Schulter. Der Schmerzenslaut blieb mir in der Kehle stecken, als ich sah, wovor die Frauen wegrannten. Die Wand samt Treppe war verschwunden und der leuchtende Regen drang in die Burg ein.

Talita und die Wölfe hatten sich auf der einen Seite an die Wand gedrängt, um nicht umgerannt zu werden. Fax und Askea wichen von dem bröckelnden Boden zurück und sahen sich fieberhaft nach einer Fluchtmöglichkeit um, während eine der Hexen es nicht mehr rechtzeitig schaffte, von dem eindringenden Regen wegzukommen. Die schimmernden Tropfen verätzten ihr die Haut und ließen sie kreischen. Ihre Schmerzen … Es musste wie Säure für sie sein.

„Wir müssen zurück!“, schrie Talita und schob sich an der Wand entlang.

„Wohin denn?“, wollte Kovu wissen. „Da ist diese Schlingpflanze.“

Er hatte Recht. Wir saßen in der Falle. Die Magie griff uns von allen Seiten an und wir konnten nicht entkommen – nicht solange es noch regnete.

„Vielleicht gibt es hier ja sowas wie einen Keller“, überlegte Veith.

Askea drängte Fax hinter sich. „Das bringt nichts. Wir –“

„Pass auf!“, schrie ich.

Mein Ruf ließ ihn herumwirbeln, doch es war zu spät. Ein Tentakel der Schlingpflanze war durch die Wand gedrungen, und in dem Moment, als er sich drehte, legte sich der Fühler um Seraphines Bein.

Augenblicklich schrie mein kleiner Engel auf und fing fürchterlich an zu weinen.

„NEIN!“ Ich sprang auf die Beine und rannte zu ihr. Das durfte nicht sein! Oh Gott, nein, bitte nicht.

Noch in der gleichen Sekunde packte Askea die Schlingpflanze, riss sie aus der Wand und schleuderte sie auf den Boden, wo sie sich noch paarmal um sich selbst wand, bevor sie regungslos liegen blieb und einfach verlosch. Es blieb nichts von ihr übrig.

Ich blieb wie angewurzelt stehen. Mein Herz hatte einen Moment ausgesetzt und wagte es nur stotternd, wieder zum Leben zu erwachen.

Askea hatte die Tentakel angefasst. Und nicht nur das: Er hatte sie gepackt und von sich geworfen. Seraphine weinte noch immer und versteckte ihr Gesicht an Fax‘ Schulter, doch es schien ihr nichts weiter passiert zu sein.

Ich eilte zu meiner Tochter, aber da sie immer noch brannte, konnte ich sie nicht tröstend in den Arm nehmen. Askea dagegen untersuchte bereits ihr Bein mit vorsichtigen Fingern. Meine Kleine allerdings hörte nicht auf zu weinen.

Oh Gott, hatte der Tentakel vielleicht doch etwas angerichtet? „Nein, nein, nein …“

„Da ist noch eine!“, schrie Talita.

Diese hielt direkt auf Fax zu, doch bevor sie ihn erreichen konnte, schoss Askeas Hand nach vorne und entließ eine heiße Feuerlohe, die den Fühler nicht nur aufhielt, sondern komplett verbrannte.

In meinem Kopf ging ein Kreischen los, das mir das Trommelfell zu sprengen drohte. Ich drückte mir die Hände auf die Ohren und versuchte das Geräusch auszuschließen, doch es wurde immer schlimmer. Es fühlte sich an, als würde mein Kopf gleich explodieren.

Das war die Magie. Egal was Askea da mit ihr machte, es tat der Magie weh und sie schrie ihren Schmerz in die Welt hinaus – oder besser gesagt in meinen Kopf hinein.

Langsam sank ich auf die Knie. Mein Herz ratterte und plötzlich … war alles still.

Mein Hirn schmerzte, meine Atmung ging viel zu schnell und von meinem Herzschlag fing ich besser gar nicht erst an, doch in meinem Kopf herrschte Stille.

Eine Hand berührte mich an der Schulter, und vorsichtig blinzelnd stellte ich fest, dass Talita vor mir hockte und mir beunruhigt über die Wange strich.

Askea kniete gleich neben ihr, wagte es aber nicht, mich anzufassen. Ich konnte sehen, dass er es wollte. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, um sich selbst daran zu hindern.

„Mir geht’s gut“, murmelte ich und versuchte auf die Beine zu kommen. Leider wollte mein Gleichgewicht da nicht so ganz mitspielen. Irgendwie zog die Schwerkraft mich leicht nach rechts, weswegen ich gleich wieder auf dem Boden landete. Ein blutiger Abdruck meiner Hand blieb darauf zurück.

„Bleib sitzen.“ Talita drückte mich an der Schulter auf den Boden und warf einen Blick auf etwas, das hinter mir lag. „Oh Scheiße.“ Ihre Augen wurden riesig.

In dem Moment rastete Askea völlig aus. Er wurde mit einem Mal so heiß, dass die Luft um ihn herum innerhalb von Sekunden flimmerte.

Talita riss mich mit sich zurück. Dabei fiel ich auf die Seite und entdeckte die Tentakel, die um die Ecke kamen. Das mussten hunderte sein. „Nein, nein, nein, nein, nein.“ Wie sollten wir hier wieder rauskommen?

An mir raste eine Feuerlohe vorbei, gefolgt von einer zweiten. Das war der Augenblick, in dem der Schmerz mich erneut überfiel. Hatte ich es vorher schon für eine Tortur gehalten, so war es nichts im Vergleich zu dem, was mich jetzt übermannte.

Das Kreischen in meinem Kopf wurde nur von meinen eigenen Schreien übertönt. Halb blind vor Schmerz stürzte ich zur Seite und drückte mir wieder die Hände auf die Ohren. Doch ich war nicht die Einzige, die schrie. In der ganzen Burg erklangen plötzlich die Schreie der Hexen in all ihrer grausamen Glorie. Sie alle spürten das Leid und den Schmerz der Magie und verliehen ihrem Elend Ausdruck.

Ich wusste nicht, wie lange ich dort lag und mich in Schmerzen wand. Ich sah nicht den Kummer in Askeas Gesicht, weil er dafür verantwortlich war. Ich spürte auch nicht, wie Talita sich bemühte, mir zu helfen. Doch würde ich mir jemals vorstellen müssen, welche grausigen Qualen eine gemarterte Seele in der Hölle erwarteten, würde ich an diesen Moment zurückdenken.

Es war unerträglich.

Ich wollte sterben.

Alles war besser, als diesen verzweifelten Schmerz auch nur noch einen weiteren Moment ertragen zu müssen.

Mein Herz schlug ums Überleben und meine Lunge bekam nicht genug Sauerstoff. Die Marter ließ meinen ganzen Körper krampfen, bis die Muskeln sich schmerzhaft zusammenzogen.

Dann war der ganze Spuk plötzlich vorbei. Von einem Augenblick auf den anderen verstummte das Kreischen in meinem Kopf, allerdings ließ es mir als Erinnerung einen mörderischen Brummschädel. Und nicht nur das. Die ganze Burg wurde mit einem Schlag still. Kein Ächzen und kein Stöhnen. Keine Gemäuerteile, die einfach in sich zusammenbrachen und uns zu begraben drohten. Nur weinende und wimmernde Stimmen, die aus jedem Winkel der Burg zu kommen schienen.

Schweratmend ließ ich die Arme sinken.

Askea stand kaum einen Meter von mir entfernt. Noch immer strahlte er eine unnatürliche Hitze aus, die mir den Schweiß aus den Poren trieb. Seine Brust hob und senkte sich hektisch, während er sich wachsam umschaute. Doch da waren keine Tentakel mehr, keine Erschütterungen und auch keine plötzlichen Gefahren. Nur doch der leuchtende Regen, der den Hintergrund zu dieser schrecklichen Kulisse lieferte.

In seinem Blick lag Schmerz. Nicht, weil er sich verletzt hatte, sondern weil er wusste, dass er mir wehgetan hatte. Das Verbrennen der Magie hatte mich schreien lassen, doch er hatte damit nicht aufhören können – nicht bevor der Gegner vernichtet war, sonst wären wir alle vernichtet worden.

Ich konnte nichts anderes tun, als ihn anzustarren. Askea hatte die Magie nicht nur berührt, er hatte sie auch verbrannt.

Wie war das möglich?

 

°°°

 

Jetzt, wo ich es im Hellen begutachten konnte, sah ich die stark gerötete Stelle sehr genau. Es machte den Eindruck einer kleinen Brandwunde oder eines allergischen Ausschlags.

„Ist es schlimm?“

Talita lehnte sich an das Gestell meines Bettes und beobachtete das entspannte Gesicht meines kleinen Engels. Nachdem wieder etwas Ruhe eingekehrt war, konnte sie den Schlaf nachholen, den die wilde Magie ihr vor Stunden streitig gemacht hatte.

„Nein. Ich denke, sie hat sich hauptsächlich erschreckt.“ Ich sah zu meinem Zwilling auf und streichelte vorsichtig über Seraphines Bein. Außer mir war sie die einzige in unserem Zimmer. Die anderen waren alle noch draußen und halfen, sogar Askea. Oder was wahrscheinlicher war: Er musste einfach nur mal pinkeln.

Es hatte Stunden gedauert, bis die Bewohner wieder halbwegs Ordnung geschaffen hatten. Die Verletzten waren geborgen und versorgt worden. Jetzt versuchten die unversehrten Hexen, die Burg notdürftig zu reparieren und zu sichern, was zu sichern war.

Wir selbst waren nun in einem anderen Teil der Burg untergebracht worden; unser Zimmer hatte nicht mehr gerettet werden können. Jetzt bewohnten wir erstmal einen kleinen Raum mit drei Stockbetten. Na ja, es waren nur noch zwei, da Kovu das dritte Bett hinaus auf den Korridor geschoben hatte, um auf seinem Platz die beiden Matratzen nebeneinander auf den Boden zu legen. Irgendwo hatte er auch noch einen Haufen Decken und Kissen aufgetrieben und ein richtiges Nest daraus gebaut. Sah irgendwie seltsam aus.

„Da kann man nur von Glück reden.“ Talita ließ sich in der Mitte ihres kleinen Lagers in den Schneidersitz fallen. „Das hätte wesentlich schlimmer ausgehen können.“

Genau das war das Problem, das ich bereits die ganze Zeit von einer Seite auf die andere wälzte. Warum war es nicht schlimmer ausgegangen? Nicht, dass ich mich beschweren wollte. Ich war wirklich heilfroh, dass eine kleine Rötung alles war, was Seraphine davongetragen hatte, aber ich verstand es einfach nicht. Ich hatte gesehen, was diese Tentakel mit den Hexen getan hatten. Eine kleine Berührung, mehr hatte es nicht gebraucht und sie hatten sich verwandelt oder einfach aufgelöst. Bei Seraphine dagegen nichts!

Aber das war nichts in Vergleich zu dem, was Askea getan hatte. Er hatte dieses Ding angefasst, als wäre es nichts weiter gewesen als eine lästige Schmeißfliege. „Ich verstehe es nicht“, sagte ich leise.

„Was?“ Talita gähnte herzhaft und ließ sich dann rücklings in den Berg aus Kissen und Decken fallen. Genau wie ich hatte sie sich aus dem Schrank in der Ecke eine Hexenrobe geschnappt und übergezogen, nur leider wurden dadurch die Ringe unter ihren Augen nur umso deutlicher.

„Hast du nicht gesehen, was Askea getan hat?“

„Klar habe ich das. Er hat uns den Arsch gerettet, um es mal deutlich zu sagen.“

Das hatte er wirklich.

„Du glaubst gar nicht, wie dankbar ich ihm dafür bin. Ich hatte schon …“ Sie stockte einen Moment. „Ich habe wirklich schon mit dem Schlimmsten gerechnet.“

„Du meinst, dich einfach in Luft aufzulösen?“ Vorsichtig strich ich über Seraphines Wunde und ließ langsam heilende Magie in sie fließen. Sie zuckte kurz, wachte aber nicht auf.

„Was ich da gesehen habe … Es gibt wohl Schlimmeres, als sich einfach in Luft aufzulösen.“

Da hatte sie wohl Recht. Das erinnerte mich daran, dass ich dringend an den Ringen arbeiten musste, egal was Askea dazu zu sagen hatte. „Ich weiß, aber das habe ich nicht gemeint.“

„Was denn dann?“

Langsam verschwand die kleine Wunde, bis sie nichts weiter als eine unschöne Erinnerung war. Dann begann ich damit, meine unzähligen Schnitte zu heilen. Bereits vorhin hatte ich sie notdürftig gereinigt. „Ich meine Askea. Er hat diesen Tentakel angefasst, und nichts ist passiert.“ Ja, er hatte sogar die Magie verbrannt, was ich immer noch unerklärlich fand.

„Vielleicht, weil er ein Dämon ist.“

Ich drehte mich auf der Bettkannte zu ihr um. „Wie meinst du das?“

„Na ja, ich weiß nicht genau, wie ich das beschreiben soll, aber du und die anderen Hexen habt irgendwie ein … äh …“ Sie fuchtelte mit der Hand herum, als würde so das gesuchte Wort auf ihrer Zunge erscheinen. „Eine Verbindung, so könnte man das wohl nennen. Ihr Hexen habt eine spezielle Verbindung zur Magie. Vielleicht ist das der Grund, warum ihr für ihre Macht so angreifbar seid.“

Das hieße ja … „Dann wurde Seraphine also nur wenig verletzt, weil sie zur Hälfte ein Dämon ist und nur ein ganz kleines bisschen Hexe?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Da bin ich, ehrlich gesagt, überfragt, aber das ist die einzige Erklärung, die mir auf die Schnelle einfällt. Kovu, Veith und ich wurden ja auch nicht verletzt.“

„Wurdet ihr denn von den Tentakeln berührt?“

„Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Es ging alles so schnell. Vielleicht.“

Was ja dann wieder hieß, dass diese magische Schlingpflanze nur für Hexen eine Bedrohung war. Das sollte ich wohl besser für mich behalten. Wenn Askea davon erfuhr, würde er mich glatt irgendwo wegsperren. Zwar war das leuchtende Gewächs verschwunden, aber so verrückt wie die Welt spielte, konnte es jederzeit wieder auftauchen. „Wie wunderbar es doch ist, eine Hexe zu sein.“

Talita grinste. „Wie geht es deinem Kopf?“

„Besser.“ Die Kopfschmerzen waren zwar noch nicht ganz verschwunden, aber ich hatte wenigstens nicht mehr das Gefühl, er könnte jeden Moment einfach abfallen und explodieren.

„Du siehst auch nicht mehr ganz so beschissen aus.“

„Vielen Dank für die Blumen.“ Meine Schnitte verschwanden. Meine Kopfschmerzen lösten sich einfach auf. Das Leuchten meiner Hände erstarb. Ich streckte mich neben Seraphine auf dem unteren Doppelstockbett aus und legte einen Arm um sie. „Leider kann ich das von dir nicht behaupten.“

Sie öffnete gerade den Mund für eine Erwiderung, als die Tür zu unserem Zimmer geöffnet wurde und Kovu in den Raum schlüpfte. Selbst in dem spärlichen Licht der angehenden Abenddämmerung konnte ich sehen, wie erschöpft er war. „Schlaft ihr etwa schon?“

„Noch nicht ganz.“ Talita winkte ihn mit dem Arm zu sich. „Komm her und sag uns, was da draußen los ist.“

Als er sich durch den Raum bewegte, blinzelte ich verdutzt „Hast du da etwa eine Hose an?“ Und nicht nur das. Sein Haar war offen und fiel ihm etwas wirr bis auf dem Hintern.

Er blieb stehen, blickte an sich hinunter und verzog das Gesicht. „Mein Lendenschurz ist bei der Verwandlung draufgegangen und mein nackter Hintern hat die Hexen bei der Aufräumarbeit wohl ein wenig zu sehr abgelenkt. Deswegen wurde ich höflichst gebeten, das hier überzuziehen.“

Talita schmunzelte. „Oh, du Armer.“

„Hey, mach dich nicht lustig. Jedenfalls nicht, bevor du siehst, was Veith anziehen musste.“ Er ließ sich neben Talita auf das kleine Lager plumpsen und bettete seinen Kopf auf ihrem Bauch. Schon automatisch begann sie sofort damit, ihm durch das offene Haar zu kraulen.

Ein wohliger Seufzer kam ihm über die Lippen.

„Und?“, fragte ich. „Welche Neuigkeiten bringst du uns?“

Er grinste. „Das wirst du mir nie glauben.“

„Versuch es mal.“

„Einige der Hexen haben sich bei deinem Dämon für seine Hilfe bedankt. Du weißt schon, dafür, dass er dieses leuchtende Gewächs in die Flucht geschlagen hat.“

Ich richtete mich ein wenig auf. „Verscheiß mich nicht.“

„Wirklich.“ Er schlang einen Arm um Talita und kuschelte sich enger an sie heran. „Wir haben gerade ein paar Trümmer zur Seite geräumt, da kam ´ne kleine Gruppe von denen auf uns zu, stellte sich vor Askea und dankte ihm für seine Hilfe. Trotz der Kopfschmerzen, die sie noch immer plagen.“

O-kay. „Und was hat Askea getan?“

„Er hat sie angefunkelt, sich umgedreht und ist in den nächsten Korridor verschwunden.“

Das war irgendwie typisch, aber so war er nun mal, mein drakonischer Dämon. Ich ließ mich zurück auf die Matratze sinken und zog dabei die Decke über mich und Seraphine.

„Und sonst?“, wollte Talita wissen. „Helfen die anderen draußen noch immer?“

„Mehr oder weniger. Fax ist bei Veith und lässt sich von ihm herumkommandieren. Was Askea macht, weiß ich nicht. Nachdem er verschwunden ist, hab ich ihn nicht mehr gesehen.“

Das waren keine wirklich guten Nachrichten. Askea war hier nicht besonders beliebt, und alleine hier rumzustromern … Nee, das gefiel mir nicht. Warum war er nicht ins Zimmer gekommen? Zu mir? Warf er sich immer noch vor, mir diesen Schmerz zugefügt zu haben? Aber etwas anderes war ihm doch gar nicht übriggeblieben!

„Und kurz bevor ich abgehauen bin, habe ich Boudicca und Saana gesehen.“

„Und?“ Talita strich ihm die Haare aus dem Nacken, um ihre Finger darüber wandern zu lassen. „Haben sie was gesagt?“

„Sie haben die Ursache für all das herausgefunden.“ Er machte eine weitausholende Geste, die wohl die ganze Burg mit einschließen sollte. „Der Lichtregen ist schuld.“

„Was?“ Mein Blick wanderte zu den Fenstern, die unter den Schlieren der Wassertropfen nur eine verschwommene Sicht in die abendliche Dämmerung gewährten. „Der Regen?“

Kovu nickte. „Wenn ich es richtig verstanden habe, hat sich an einer Stelle unter dem Schutzschild eine Wasserpfütze gebildet, die den Schild an dieser Stelle bröselig werden ließ. Die Magie in dem Wasser hat sich dadurch gebündelt, konnte durch den kaputten Schild in die Festung fließen und hast sich an dem Gemäuer gesammelt.“

„Und daraus ist diese leuchtende Schlingpflanze entstanden“, reimte ich mir zusammen.

„Boudicca sagt, das war wie Nährboden und Dünger. Perfekte Bedingungen für ein magisches Gewächs, das uns allen an den Kragen will.“

Die Worte ließen mich schlucken. Hieß das, die Magie hatte uns vorsätzlich angegriffen und sich so geformt, dass sie nur den Hexen schaden konnte? Wollte sie uns vernichten? Warum?

„Ich bin nur froh, dass sie weg ist“, erklärte Talita und ließ ihre Augen auf Halbmast sinken.

„Ja, ich auch“, flüsterte ich, doch Kovus Worte hatten sich in mein Gedächtnis gebrannt und wollten mir nun keine Ruhe mehr lassen. Wenn das wirklich stimmte, was er da sagte, wurde die Magie langsam wirklich zu einer Gefahr für uns. Ich meinte, gezielte Angriffe waren nun wirklich kein Kavaliersdelikt mehr. Und wenn das nicht der einzige Angriff dieser Art war? Was, wenn das ganze kein riesiger Zufall war und die Magie nun Jagd auf die Wesen dieser Welt machte? Wer wäre ihr nächstes Opfer? Wie viel Schaden konnte sie noch anrichten, bevor die Welt endgültig unterging?

Oh Gott, wir mussten dringend etwas unternehmen, denn wenn nicht bald etwas passierte, waren wir alle verloren. 

 

°°°°°

Tag Zweiundzwanzig

Nichts. Gar nichts. Wieder waren drei Tage ins Land gezogen und es hatte sich absolut rein gar nichts geändert. Ganz im Gegenteil, es schien mit jedem Tag schlimmer zu werden. Wer hätte gedacht, dass es von ‚schlecht‘ eine vierte Steigerung gab? Schlecht, schlechter, am schlechtesten, Katastrophe. Und auf diese steuerten wir geradewegs zu.

Es musste endlich etwas passieren.

Ich war nun bereits seit knapp drei Wochen zurück in der magischen Welt, und das Einzige, was ich in dieser Zeit geschafft hatte, war, mir ein Bild von der Situation zu machen. Wir hatten die Obelisken nicht gefunden oder auch nur den Hauch einer Ahnung, was es mit ihnen auf sich hatte. Wir hatten das Geheimnis von Bonifatius‘ Amethyst nicht entschlüsseln können, und auch aus Gaio war bisher kein vernünftiges Wort herauszuholen gewesen. Na, wenigstens hatte der Lichtregen endlich aufgehört. Das war zwar nur ein kleiner Trost, aber immerhin ein Anfang.

Seufzend beugte ich mich tiefer über den Tisch und verfolgte durch geschlossene Augen den Zauber auf dem Ring in meiner Hand. Er war gerade fertig geworden, aber etwas stimmte nicht damit. Er hatte ziemliche Ähnlichkeit mit dem heilenden Herz – auf jeden Fall mehr als all meine anderen Versuche – doch als eine Kopie würde ich ihn nicht bezeichnen können.

„Wieder nichts?“, fragte Talita und beugte sich ebenfalls vor. Sie saß neben mir in unserem kleinen Zimmer und leistete mir am Tisch Gesellschaft. Askea tat so, als würde er mich und meine Magie nicht bemerken. Das war auf jeden Fall besser, als mich wieder von ihm anschreien zu lassen.

„Nein. Irgendwie … Er ist nicht richtig.“ Ich ließ den Ring zu den vier anderen fallen, die ich in den letzten Stunden geschaffen hatte.

„Willst du dir nochmal Kovus Ring anschauen?“

Ich schüttelte den Kopf. Davon abgesehen, dass ich meiner Tochter ihren Spielekameraden nicht streitig machen wollte, würde das auch nichts bringen. Ich hatte mir den Ring in den letzten Tagen so oft angesehen, dass sich jede Welle und jede Schlaufe in mein Hirn eingebrannt hatten. Ich bekam es einfach nur nicht auf die Reihe, eine Kopie davon anzufertigen. „Ich versuche es einfach nochmal.“

„Vielleicht ist das ja gar nicht mehr nötig.“ Ihre Augen blitzten in dem Wissen, was heute noch geschehen würde.

Nach so vielen Rückschlägen und nutzlosem Rumsitzen hatte ich gestern Abend den Entschluss gefasst, endlich etwas zu tun. Genaugenommen würde ich Talitas Plan umsetzen und Askea mit den Waffen einer Frau angreifen.

Nicht, dass ich glaubte, ein wenig Sex würde Askea dazu bringen, alles zu tun, was ich von ihm verlangte. Es war eher ein wenig Hoffnung. Befriedigt, entspannt und mit sich und der Welt zufrieden, würde er vielleicht zugänglicher für meinen Plan sein. Es war auf jeden Fall einen Versuch wert.

Ob es klappen würde? Das war ein zweischneidiges Schwert. Askeas Reaktionen waren selten vorhersehbar. Ich wusste nur eines mit Gewissheit: Er würde nie etwas tun, was mir oder unseren Kindern schaden könnte. Was die anderen allerdings anging … Na ja, für die würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen.

„Ich will lieber auf Nummer sicher gehen“, erklärte ich und begann damit, meinen Zauber um den nächsten Ring zu weben.

„Ja, ein Ausweichplan ist vermutlich keine schlechte Idee.“

‚Ausweichplan‘ war gut. Es war der einzige Plan, den ich hatte, wenn Askea sich weiterhin weigerte, mit Gaio zu sprechen. Dabei konnten wir uns nicht einmal sicher sein, dass bei einem Gespräch zwischen den beiden Männern wirklich etwas herauskam.

Ich war in den letzten Tagen öfter bei dem Gargoyle gewesen. Den Magieangriff vor drei Tagen hatte er mehr oder weniger unbeschadet überstanden, aber redseliger war er deswegen noch lange nicht gewesen – leider. Askea zu verführen, war gewissermaßen eine der letzten Möglichkeiten, die mir blieb.

Um das in die Tat umsetzen zu können, brauchte ich aber Talitas Hilfe. Sie würde nachher mit den Wölfen und den Kindern unter einem Vorwand das Zimmer verlassen, damit wir es für uns ganz allein hatten.

Dieser Gedanke bereitete mir Unwohlsein. Nicht, dass ein Stelldichein mit Askea etwas war, vor dem ich mich fürchtete. Was mich daran störte, war die eiskalte Berechnung, die sich dahinter verbarg. Ich tat das nicht, weil ich meinem Mann nahe sein wollte, sondern weil ich damit ein Ziel verfolgte.

Aber wie hieß es so schön? Der Zweck heiligte die Mittel. Und es war ja auch nicht so, dass ich damit irgendjemandem schaden würde. Wir alle konnten dabei nur gewinnen. Jetzt konnte ich nur noch hoffen, dass mein Plan auch funktionierte.

Ich konzentrierte mich auf den nächsten Ring und begann zu weben.

 

°°°

 

„Ich geh mal pinkeln“, teilte Kovu uns lautstark mit und erhob sich aus seinem Bett. „Und danach schau ich mal, was die Küche so hergibt. Wollt ihr auch etwas?“ Er sah zwischen mir und Askea hin und her. Tal und Veith hatten den Raum mit den Kindern schon vor einer halben Stunde verlassen, angeblich, um sich mit ihnen ein wenig die Beine im Hof zu vertreten.

„Nein, danke“, lehnte ich ab und fragte mich, was das sollte.

„Askea?“, fragte er den Dämon nochmal direkt, als er beim ersten Mal nicht reagierte.

Dieses Mal bekam er wenigstens einen unfreundlichen Blick, der ihn allerdings nur schmunzeln ließ.

„Dein Verlust.“ Grinsend schlenderte er aus dem Raum und zog die Tür hinter sich ins Schloss.

Nun war es so weit, ich war mit Askea allein. Das war eine Situation, die wir schon seit Wochen nicht mehr gehabt hatten, und langsam wurde mir unbehaglich zumute. Vielleicht lag das aber auch nur daran, dass ich Askea auf eine gewisse Weise manipulieren wollte, und dieser Gedanke gefiel mir einfach nicht.

Nun hab dich mal nicht so, immerhin schadet es doch niemandem!

Entschlossen legte ich mein Buch zur Seite und erhob mich von meinem Bett. Natürlich spürte ich, wie Askea mich vom Fenster aus beobachtete und sehr wohl registrierte, wie ich die Zimmertür von innen verschloss. Das war mir nur recht, so hatte ich wenigstens sofort seine Aufmerksamkeit.

Okay, jetzt gab es kein Zurück mehr. Langsam drehte ich mich zu ihm um und nahm Blickkontakt zu ihm auf.

Er saß auf dem Fensterbrett. Die letzte Stunde hatte er schweigend durch das Glas hinausgestarrt, doch nun lag sein ganzes Interesse auf mir. Er schien zu spüren, dass ich etwas vorhatte.

Für einen Moment war ich versucht, etwas zu sagen, doch dann überlegte ich es mir anders und schlenderte mit wiegenden Hüften schweigend auf ihn zu. Dabei öffnete ich langsam die Knöpfe meiner Hexenrobe, unter der ich vorsorglich nichts angezogen hatte. Das wurde ihm mit jedem weiteren Kopf, den ich öffnete, bewusster. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er mich keinen Moment aus den Augen ließ und jede meiner Bewegungen verfolgte.

Langsam zog er die Oberlippe hoch und zeigte mir die Fänge.

Das ließ mich lächeln. Ich trat genau vor ihn, als der letzte Knopf durchs Loch sprang, und hielt ihn mit dem Blick gefangen.

Auch wenn mein Herz nun einen Tick schneller schlug, fand ich langsam Gefallen an diesem Spiel.

Sehr langsam hob ich meine Hand und legte sie an seine Wange. Mein Daumen folgte der wulstigen Narbe in seinem Gesicht, während ich ganz genau seine Reaktion abschätzte. Er tat nichts. Er wartete einfach nur ab, ohne mich dabei auch nur für ein Sekündchen aus den Augen zu lassen. Worauf wartete er noch? Es war doch ziemlich eindeutig, nach was mir der Sinn stand.

„Bist du plötzlich schüchtern?“, fragte ich leise und hauchte ihm einen Kuss auf den Mundwinkel. „Das kenne ich gar nicht von dir.“ Und noch einen. Langsam begann ich ihn zu küssen und sein Gesicht zu liebkosen, und obwohl er sich nicht dagegen wehrte, erwiderte er meine offene Zuneigung nicht.

„Was ist los?“, fragte ich leise und sah meinen Plan in diesem Moment schon den Bach runtergehen, denn mal ehrlich: Dies war ganz und gar keine normale Reaktion von ihm.

Da er still blieb, forschte ich in seinen Augen nach der Antwort, und fand darin den gleichen Ausdruck wie bereits vor drei Tagen: Kummer.

Oh nein, er machte sich noch immer Vorwürfe. „Askea, hör auf, dir den Kopf zu zerbrechen, du hast nichts Falsches getan.“

„Ach, nicht? Dann hast du wohl nicht das Gleiche gehört wie ich.“

Meine Schreie. Warum war mir in den letzten Tagen nicht aufgefallen, wie sehr ihn dieser Zwischenfall noch belastete? „Es war richtig, was du getan hast. Du hast das kleinere von zwei Übeln gewählt und uns alle damit gerettet.“ Ich nahm seine Hand und legte sie unter meine Robe auf meine Taille. Dann beugte ich mich vor, bis meine Lippen nur noch einen Hauch von seinen entfernt waren. „Du hast mir das Leben gerettet“, sagte ich leise.

Wieder wanderte seine Oberlippe nach oben, um mir seine Fänge zu präsentieren. Gleichzeitig packte er meine Taille mit festem Griff und zog mich ein klein wenig näher. „Ich habe dir Schmerzen bereitet.“

„… Und mich und unsere Kinder damit beschützt.“ Langsam trat ich zwischen seine Beine und strich mit der Hand über seinen freien Oberkörper. „Du warst der Einzige, der das tun konnte. Du hast genau das Richtige getan.“

Seine Augen verengten sich leicht, aber er sagte kein Wort mehr dazu.

Verdammt, so sollte das nicht laufen. Ich stand hier praktisch nackt vor ihm, so nahe, dass wir uns an mehr als nur einer Stelle berührten, doch er ging nicht darauf ein. Langsam bezweifelte ich, dass mein Plan noch aufgehen würde.

Aber vielleicht, wenn ich nun an seine Instinkte appellierte … „Du hast deine Aufgabe erfüllt. Und ich brauche dich.“ Das war nicht einmal eine Lüge. Ich würde Askea immer brauchen. Nicht, damit er mich rettete; ich brauchte ihn, weil er der war, der er war: mein drakonischer Dämon. „Aber jetzt glaube ich, dass du mich einmal brauchst.“

Ich ließ meine Hand über seine Brust wandern, fuhr die Konturen seiner Muskeln nach und freute mich insgeheim, dass sie unter meinen Berührungen zuckten. Das war der Moment, in dem ich beschloss, dass wir genug geredet hatten, und zum Angriff überging.

Ohne seine gefletschten Fänge zu beachten, küsste ich ihn erneut. Erst nur vorsichtig, aber ich machte ihm sehr schnell deutlich, worauf das hier hinauslaufen sollte. Ich drängte mich zwischen seine Beine, ließ meine Hände zu seinen Schultern wandern und begann ihn mit den Lippen zu verführen, bis er meinen Kuss endlich erwiderte. Damit entlockte er mir ein Geräusch, das ihn knurren ließ.

Im nächsten Moment wurde ich herumgewirbelt, sodass nun ich auf der Fensterbank saß und er es war, der sich zwischen meine Schenkel drängte. Gleichzeitig streifte er mir die Robe von der Schulter und wanderte mit den Lippen zur Markierung.

„Nein, warte“, flüsterte ich und wand mich in seinem Griff. Ich verfolgte eigentlich einem Plan, und wenn ich ihm jetzt freie Hand ließ, wäre es das damit gewesen. 

Askea knurrte nur unwillig und packte mich fester.

Das Kichern entschlüpfte mir ohne mein Zutun. „Jetzt sei doch nicht so ungeduldig.“ Ich nahm sein Gesicht zwischen die Hände und hielt ihn fest, ohne auf die gebleckten Fänge zu achten. „Ich würde gerne etwas ausprobieren.“

Wie nicht anders zu erwarten, blieb er stumm.

„Du musst nur stillhalten, okay?“

Er sah nicht wirklich so aus, als wäre das okay, doch wenigstens stürzte er sich nicht wieder auf mich, als ich meine Hand von seiner Wange gleiten ließ und sie auf Wanderschaft über seinen Körper schickte, bis sie seinen Hosenbund erreichte.

„Vertraust du mir?“

„Ja.“ Klipp und klar, ohne auch nur einen Moment zu zögern.

Das Hochgefühl nach diesem einen Wort beflügelte mein Vorhaben noch. Langsam schob ich ihn ein Stück von mir und ließ mich dann vor ihm auf die Knie sinken. Dabei zog ich seinen Hosenbund mit hinunter und spürte seinen wachsamen Blick auf mir.

Ich lächelte zu ihm hinauf, dann kam mein Mund ins Spiel.

Die erste Berührung meiner Lippen ließ ihn keuchen. Ich spürte, wie sein ganzer Körper in plötzlicher Anspannung erstarrte, dann grub sich seine Hand fast schmerzhaft in mein Haar, während er den Kopf in den Nacken warf und einen hektischen Atemzug ausstieß.

Lächelnd klopfte ich mir innerlich selbst auf die Schulter. Da es bei Dämonen eher raubeinig zuging, war ich mir fast hundertprozentig sicher gewesen, dass er das hier noch nie gemacht hatte. Aber er war ein Mann, und ich hatte noch nie von einem gehört, dem das nicht gefallen hätte.

Als meine Bemühungen intensiver wurden, begann er zu knurren, und dieses Geräusch löste etwas sehr Weibliches in mir aus. Auch mich ließ das nicht kalt.

Sein Atem flog keuchend über seine Lippen, sein Körper zitterte unter meinen Händen und sein Griff machte deutlich, dass ihm gefiel, was ich hier tat. Ich hatte ihn praktisch in der Hand – oder im Mund. Zumindest bis zu dem Moment, als er mich hochriss, gegen die Wand drückte und uns so plötzlich miteinander verband, dass ich es nun war, der ein Keuchen über die Lippen kam.

Mit einem urtümlichen Knurren legte er seinen Mund auf die Markierung und ließ seine Essenz mit einer Intensität in mich hineinfließen, die mich nach Luft schnappen ließ. Innerhalb von Sekunden erhitzte sich mein Körper so sehr, dass sich eine feine Schweißschicht auf meiner Haut bildete.

Das Feuer in meinem Inneren loderte nicht nur auf, es verbrannte mich geradezu, während Askea mich in Besitz nahm und als die Seine zeichnete.

Die Geräusche, die ich ausstieß, heizten ihn noch weiter an. Meine Hände klammerten sich an seinen Armen fest, mein Körper glühte und ließ meine Haut prickeln.

Plötzlich riss er mich von der Wand fort und trug mich quer durch den Raum zu unserem Bett. Ich klammerte mich an ihm fest, während er mich auf die Matratze bettete, ohne seinen Mund von der Markierung zu nehmen. Doch sobald ich sein Gewicht angenehm auf mir spürte, überraschte er mich damit, dass er diese urtümliche Verbindung zwischen uns löste. Ich wollte schon protestieren, als er mich noch ein zweites Mal überraschte, indem er seine Lippen auf meine presste.

Das war das erste Mal, dass er dies ohne meine Aufforderung ganz von sich aus tat, und das Gefühl, das dadurch entstand, war so süß. Ich schlang die Arme um seine breiten Schultern und wir versanken in unserer eigenen kleinen Welt. Hier gab es keine Fragen, keine Unsicherheiten und auch keinen Kummer. Hier gab es nur ihn und mich und das, was wir miteinander teilten.

Wellen der Wonne brachen über uns herein. Unsere Nähe verband uns auf einer Ebene, die weit über das Körperliche hinausging und so ursprünglich war, dass ich dafür keine Worte fand. Es war mehr als ein Geben und Nehmen, es war alles, was zählte, alles, was wir brauchten. Selbst als das Feuer langsam zur Glut wurde, die direkt unter der Oberfläche darauf wartete, wieder entfacht zu werden, riss diese Verbindung nicht.

Ich wusste nicht, was es war, doch gerade war zwischen uns etwas geschehen, das ich mir nie hatte vorstellen können. Es war so … so … Ich fand keine Worte dafür.

Nur langsam kühlten unsere Körper wieder ab, und in der wohligen Wärme kuschelte ich mich so eng an ihn, dass ich seinen Herzschlag spüren konnte, als wäre es mein eigener. Seine Finger strichen sanft über meinen Hals, während seine Lippen erneut auf meiner Markierung lagen und ich meine Hand zärtlich über seinen verschwitzen Rücken wandern ließ.

„Ich denke, das sollten wir öfter tun“, überlegte ich leise.

Und dann passierte etwas, womit ich nicht gerechnet hatte: Er lachte. Es war nur leise und ich spürte es mehr, als dass ich es hörte, doch er hatte eindeutig gelacht. Erst in diesem Moment wurde mir klar, dass es das erste Mal war. Er war immer so ernst und verschlossen, aber in diesem Moment … Mir ging das Herz auf.

„Ich hätte nichts dagegen“, flüsterte er und ließ seine Lippen über meine empfindliche Haut wandern. Er küsste meine Halsbeuge, sog meinen Geruch tief in die Lungen. Nein, Moment, er schnüffelte regelrecht an mir.

„Ähm … was machst du da?“

„Ich prüfe, ob du fruchtbar bist.“ Er rieb seine Nase an meinem Hals.

Fruchtbar? Oh nein! „Falls es dir nicht aufgefallen ist, wir haben bereits zwei Kinder.“

„Wir könnten noch mehr haben.“ Seine Fänge zwickten mich leicht in die Haut. „Aber heute bist du nicht fruchtbar.“

Ähm … Puh, das erleichterte mich doch erheblich. Der Gedanke, mit Askea weitere Kinder zu haben … Nun ja, ich war nicht gerade abgeneigt, aber im Moment hatten wir eindeutig anderes zu tun. „Du kannst das wirklich riechen?“

„Es sind die Pheromone in deinem Duft.“ Noch einmal sog er meinen Geruch tief in die Lungen. „Wenn du empfänglich bist, riechst du anders. Süßlicher.“

„Genau wie Nubia, was?“ Die Worte waren heraus, bevor ich mir überhaupt klar darüber war, dass ich sie ausgesprochen hatte. Mit einem Schlag war die ganze Stimmung dahin und machte einer gewissen Anspannung Platz.

Ich kniff die Lippen zusammen und wandte das Gesicht ab. „Tut mir leid, das wollte ich nicht.“

Askea seufzte nur und stützte sich auf die Unterarme, um mich ansehen zu können. „Ich kann es nicht rückgängig machen.“

Leider war mir das viel zu bewusst. „Ist schon okay. Ich verstehe es.“ Auch wenn es mir nicht gefiel.

„Nein, tust du nicht.“ Er ließ seine Stirn auf meine Schulter sinken. „Ich verstehe es ja selbst nicht.“

Meine Stirn warf Falten. Mir wurde bewusst, dass er das schon einmal gesagt hatte. „Wie kann man das nicht verstehen? Du warst einsam und bist deinen Instinkten gefolgt.“

Noch bevor ich geendet hatte, schüttelte er bereits den Kopf und hob ihn wieder an. „Nein, so war das nicht.“

Mein Stirnrunzeln vertiefte sich. „Was meinst du damit?“

Als er nur schweigend die Augenlider senkte, nahm ich sein Gesicht zwischen die Hände. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass seine nächsten Worte unheimlich wichtig waren.

„Was verstehst du nicht? Erklär es mir.“

„Das ist … Es ist Vergangenheit.“

„Bitte.“ Ich sah ihm fest in die Augen. „Bitte rede mit mir.“

Er wollte nicht, ich sah es ihm genau an, und doch öffnete er den Mund: „Ich habe sie nicht gebrannt.“

„Ja, ich weiß, und darüber bin ich sehr froh.“

„Nein, du verstehst nicht. Ich habe sie nicht gebrannt.“

Nein, ich hatte immer noch keine Ahnung, worauf er damit hinauswollte.

„Tiara, was weißt du über weibliche Dämonen?“

Und in diesem Augenblick fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Weibliche Dämonen konnten unberechenbar sein. Das hatte ich schon gewusst, bevor ich Askea näher kennengelernt hatte. Es war Amir gewesen, der es mir damals erklärt hatte. Dämoninnen konnten sehr aggressiv und grausam werden – auch während des Liebesakts. Die Männer markierten sie, um sich und den Nachwuchs vor ihnen zu schützen. Mit einer Dämonin zu schlafen, ohne sie markiert zu haben, kam einen Gang zum Schafott gleich. „Aber warum …?“

„Ich weiß es nicht.“ Gedankenverloren strich er mir eine blonde Strähne aus dem Gesicht. „Es war wie ein Traum, als würde ich jemand anderen beobachten. Ich war zwar da, aber auch irgendwie weit weg, als wäre ich in einer Art Trance. Mir war nicht bewusst, was ich da machte, bis es vorbei war.“

Das ergab keinen Sinn. „Hat sie dich verzaubert?“

Sein Mundwinkel zuckte. „In meinem Leben gibt es nur eine Frau, die mich verzaubern kann.“

Oh mein Gott. Ich glaubte, das war das Süßeste, was er jemals zu mir gesagt hatte. Ja, ich gab’s zu, nach diesen Worten schmolz ich förmlich dahin. „Ich wusste ja gar nicht, dass du so ein Süßholzraspler sein kannst.“

„Ich habe halt viele Facetten.“ Seine Lippen senkten sich sanft auf meine und liebkosten mich, bis ich Wachs in seinen Händen war.

Eine Weile genoss ich unser inniges Zusammensein noch, aber irgendwann erinnerte ich mich daran, dass mein Handeln ja eigentlich einem Zweck diente. So befriedigt und entspannt, wie er im Moment war, glaubte ich, den Vorstoß wagen zu können. Im Moment war ich so glücklich, dass ich gar nicht anders konnte, als zu glauben, heute alles schaffen zu können.

Ich ließ mir noch ein wenig Zeit damit, bis er seinen Kopf schläfrig auf meiner Brust gebettet hatte und schon halb am Eindösen war. „Askea?“

„Hm?“

Meine Finger zogen gleichmäßige Kreise auf seinem Rücken. Selbst jetzt noch war seine Haut unnatürlich warm, weswegen wir alle Decken auf den Boden geworfen hatten. Wer brauchte schließlich schon eine Decke, wenn er so einen heißblütigen Mann an seiner Seite hatte? „Ich habe nachgedacht, weißt du? Und, na ja, mit dem Amethyst kommen wir im Moment nicht wirklich weiter, aber wir müssen endlich etwas unternehmen, weil das sonst ganz böse Konsequenzen haben könnte.“

Er lauschte meinen Worten, blieb jedoch stumm.

„Es gibt da noch eine Möglichkeit, die uns endlich darüber Aufschluss geben könnte, wer – oder besser gesagt was – die Obelisken sind, aber dafür brauche ich deine Hilfe.“

Ich spürte ganz deutlich, wie er sich langsam, aber sicher anspannte. „Meine Hilfe?“

„Ja, also … ähm …“ Nun sag es einfach, er wird dir schon nicht den Kopf abreißen. Das blieb abzuwarten. „Könntest du dir vielleicht vorstellen, doch mit Gaio zu sprechen?“

Askea fuhr mit einem Ruck auf und kniff die Augen leicht zusammen.

„Schau mich nicht so an, das ist eine ganz zumutbare Bitte. Sieh mal, ich weiß ja, dass du das nicht willst, aber Gaio weiß etwas über die Obelisken und wenn er dich sieht, dann wird er vielleicht –“

„Was? Sich mit mir über alte Zeiten unterhalten?!“ Er rollte sich aus dem Bett und griff nach seiner Hose. „Ich soll ein ganz vernünftiges Gespräch mit dem Mann führen, der nicht nur mich, sondern auch dich und unseren Sohn umgebracht hätte, wenn er die Gelegenheit bekommen hätte? Und dabei darf ich ihm noch nicht mal den Kopf abreißen?!“

„Ähm …“

„Und was dann? Wir finden mit seiner Hilfe die Obelisken, und weiter? Kehren wir alle zu unserem alten Leben zurück, und er darf wieder Jagd auf mich und meine Familie machen?“

Langsam richtete ich mich auf. „Askea, ich –“

„Nein!“ Er bleckte die Zähne. Seine Wut steigerte sich mittlerweile so sehr, dass er Hitze abstrahlte. „In meinem ganzen Leben haben die Mortatia nichts für mich getan, nichts! Und jetzt soll ich aus reiner Herzensgüte etwas für sie in die Bresche werfen?“

„Sie haben dich aufgenommen, als du schutzlos in der Wüste gelegen hast. Sie haben dich großgezogen.“

„Großgezogen?!“ Er gab ein bitteres Schnauben von sich. „Ich war ein Versuchskaninchen! Sie haben mich studiert und versucht, aus mir etwas zu machen, was ich nicht bin. Nichts von dem, was sie getan haben, haben sie für mich getan. Warum also sollte ich jetzt etwas für sie tun?“

Jetzt wurde auch ich langsam sauer. „Vielleicht, weil es auch deine Welt ist, die hier auf dem Spiel steht?“, fragte ich ein wenig sarkastisch. „Was glaubst du, wie lange du und Fax hier noch leben könnt, wenn die Magie weiter zerfällt?“

„Wir kommen klar!“ Er stieß seine Beine in seine Hose und zog sie sich über den Hintern.

„Das kommt ihr eben nicht! Verdammt, Askea, wir müssen etwas tun, und zwar jetzt und nicht erst in ein paar Wochen, wenn es zu spät ist! Der schnellste Weg ans Ziel führt nun mal über Gaio, und da ich und die anderen nichts aus ihm herausbekommen, bist du unsere letzte Chance!“

„Niemals.“ Er drehte mir den Rücken zu und lief zur Tür.

„Askea …“

„Nein, hab ich gesagt!“, fauchte er. Dann schlug er die Tür hinter sich zu und ich war alleine.

Ich gab ein wütendes Geräusch von mir und ließ mich dann zurück in die Kissen fallen. Nein, das reichte nicht. Aufgebracht schlug ich die Fäuste auf die Matratze. Das war ja gut gelaufen.

 

°°°°°

Tag Dreiundzwanzig

 

„Es ist zwecklos“, schimpfte ich und bog mit Talita an der Seite in den Korridor zum Anbau ab. „Ich kann sagen und machen, was ich will, er weigert sich.“

„Aber wenn du –“

„Nein“, unterbrach ich sie, bevor sie die Gelegenheit bekam, ihren Satz zu beenden. „Er wird nicht helfen. Er hasst die Mortatia, und das kannst du ihm auch nicht wirklich ankreiden. Nicht, wenn man bedenkt, wie er und seinesgleichen von ihnen behandelt werden.“ Das war wohl das Schlimmste daran, denn es konnte unser aller Untergang bedeuten. Deswegen blieb mir nur noch eine Möglichkeit: Wenn Askea nicht zu Gaio gehen wollte, mussten wir den Gargoyle eben zu ihm bringen.

Das war nicht nur riskant, sondern geradezu dämlich – ein ‚dämlich‘ von der dümmsten Sorte, die es gab. Mir war sehr wohl bewusst, dass das nur schiefgegen konnte, und trotzdem würden wir es versuchen. Na ja, nachdem wir Saana von meinem Plan überzeugt hatten.

Das war auch der Grund, warum ich mich mit Talita aus dem Staub gemacht hatte. Nach gestern Abend hatte Askea nicht mehr mit sich reden lassen. Immer wenn ich ihn angesprochen hatte, hatte er mich nur angeknurrt. Das war so schlimm geworden, dass ich zum Schluss zurückgeknurrt und meine Schwester aus dem Zimmer gezerrt hatte. Gut, mein Knurren war nicht so beeindruckend wie das von Askea gewesen, aber es hatte ihn wenigstens für einen klitzekleinen Moment irritiert.

„Aber du musst auch einsehen, dass die Dämonen daran nicht ganz unschuldig sind“, warf Talita vorsichtig ein. „Ich meine, mit den Lykanern war es das Gleiche. Die anderen nehmen einen, wie man sich gibt.“

„Hast du die Geschichte dieser Welt studiert?“

„Ähm … nein.“

„Dann halt die Klappe“, schnappte ich und hielt auf das geschlossene Büro am Ende des Flurs zu.

„Hmpf“, machte Talita und zog eine Schnute.

Ja, ich wusste, dass es falsch war, meinen Frust an ihr auszulassen, aber ich konnte es einfach nicht mehr hören. Buh-hu, böse Dämonen. Immer das gleiche Lied. Sie waren eben anders, viel urtümlicher und aggressiver als andere Völker, aber das machte sie noch lange nicht zu den Monstern, als die sie gerne angesehen wurden.

Ich warf einen Blick auf meine Schwester und spürte, wie die Reue in mich einsickerte. „Tut mir leid“, sagte ich kleinlaut.

„Schon gut.“ Sie schenkte mir ein schiefes Lächeln. „Wir sind alle ein wenig angespannt.“

Na ja, eigentlich war ich nach der Sache mit Askea heute recht entspannt, seine ewige Verweigerung ging mir nur tierisch auf den Sack. Dennoch beließ ich es einfach dabei, als ich an Saanas Bürotür klopfte. Sie war nicht verschlossen und schwang einfach auf.

Saana kramte mit hektischen roten Flecken auf den Wangen in ihrem Regal herum und wuselte dann eilig zu ihrem Schreibtisch. Ihre Frisur war ein wenig schief. Zahllose Strähnen hatten sich daraus gelöst und flogen ihr wild um den Kopf. Ihre Bluse war zerknittert, der Rock wies einen großen Fleck am unteren Saum auf und unter ihren Augen lagen dunkle Ringe. Doch von ihr ging eine ansteckende Energie aus - im positiven Sinne. Irgendwas war passiert.

Wortlos tauschte ich einen Blick mit Talita und machte einen Schritt in das Büro hinein. „Saana?“

Bei meiner Stimme wirbelte sie erschrocken herum und drückte sich die Hand auf die Brust. „Bei der Caput Vena, habt ihr mich erschreckt!“

„Entschuldige.“

Auch Talita trat nun ins Büro. „Ist bei dir alles in Ordnung?“

Diese Frage ließ Saana strahlen. „Besser als in Ordnung. Ihr werdet nicht glauben, was ich gerade erfahren habe.“ Wieder begann sie damit, auf ihrem Schreibtisch herumzuwühlen. „Ich wollte grade zu euch gehen, um euch die tollen Neuigkeiten zu bringen.“

Tolle Neuigkeiten? Sie meinte doch nicht etwa … Hoffnung und Unglaube blühten in mir auf. „Du weißt endlich, wer die Obelisken sind?“

„Was?“ Sie hielt einen Moment inne, schaute uns an und schüttelte dann bedauernd den Kopf. „Nein. Es geht um den Stein, Bonifatius‘ Amethyst. Die Schwestern glauben, einen Weg gefunden zu haben, ihm seine Geheimnisse zu entlocken. Sie bereiten gerade alles vor.“

Ich fiel vom Glauben ab. „Wirklich?“

„Das sind fantastische Neuigkeiten!“ Aufgeregt schlag Talita die Arme um mich und hüpfte auf und ab. „Wenn wir das Wissen haben, können wir die Lykaner retten!“

Nicht nur die Lykaner. Wir würden die ganze magische Welt retten können, mit allen Wesen, die in ihr wohnten. Wir würden alles in Ordnung bringen können – endlich.

„Es ist ein schweres Ritual und sein Ausgang ungewiss“, erklärte Saana und zog ein Buch zwischen den Papieren hervor. „Wir müssen sehr genau arbeiten, damit nichts schiefgeht.“

Bei so viel Zeit, wie sie bereits in die Entschlüsselung gesetzt hatten, gab es darauf nur eine passende Erwiderung: „Ihr schafft das schon.“

„Hoffentlich.“ Sanna presste das Buch an ihre Brust. „Das ist das erste Mal seit Jahren, dass wir im Begriff sind, einen Schritt vorwärts zu kommen, und das haben wir euch zu verdanken.“

„Wird schon schiefgehen“, erwiderte ich nur und fragte mich insgeheim, ob ich damit nicht vielleicht ein böses Omen heraufbeschwor.

Talitas Hände zitterten geradezu vor Freude. „Wann soll das Ritual stattfinden? Ich meine, wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.“

„Das Ritual wird zum Erwachen der Geisterstunde vollzogen.“

Hä? „Was?“

„Gegen Mitternacht.“

Ach so, Mitternacht, natürlich. Die Schwestern des Mondes arbeiteten mit den Kräften des Mondes, und die waren natürlich nachts am stärksten. Das hieß, dass schon morgen alles anders sein würde. Endlich konnten wir herausfinden, wo sich die Obelisken befanden, und damit den drohenden Untergang der magischen Welt abwenden. „Das müssen wir den anderen erzählen. Sofort.“

 

°°°

 

Der Moment war gekommen. Die Anspannung in der Luft war praktisch mit Händen zu greifen. Jetzt war es soweit, gleich würde der Amethyst des Wissens seine Geheimnisse preisgeben. Nur ein kleines Ritual stand noch zwischen uns und der Antwort, die wir so dringend brauchten. Dann würden wir endlich handeln können.

Vor uns erstreckte sich ein Kunstwerk aus Scherben über den Boden, ein Mosaik ohne Muster oder Kontur. Nur das Pentagramm aus farblosem Glas ließ erkennen, wofür es geschaffen war. Ein Mittelpunkt der Magie, die Kraft der Hexen.

Wir befanden uns nicht in der Burg, sondern einen paar hundert Meter außerhalb der Mauern. Eine solche Magie innerhalb zu nutzen, wäre viel zu gefährlich. Keiner konnte sagen, wie die Essenz unseres Lebens reagieren würde. Sie in der Burg zu wirken, konnte alles vernichten, was der Zirkel noch besaß.

Ich kaute nervös auf meiner Unterlippe herum, als ich dabei zusah, wie Boudicca Bonifatius‘ Stein an uns vorbei auf den Sockel in der Mitte des Mosaiks trug und ihn vorsichtig darauf platzierte.

 Außer ihr und mir beteiligten sich noch an die vierzig Hexen an diesem Ritual. Na ja, gut, die meisten waren wie wir zum Zuschauen gekommen. An dem Ritual selbst waren nur sechzehn beteiligt.

Mit jeder verstreichenden Minute wuchs meine Unruhe. Ich hampelte von einem Bein auf das andere und konnte damit nicht einmal aufhören, als Askea mir seine Hand auf die Schulter legte, um mich damit zur Ruhe zu zwingen.

Direkt neben mir standen Talita und Veith händchenhaltend und beobachteten, wie Chana an den Sockel in der Mitte trat. Sie war dafür auserwählt worden, Bonifatius‘ Wissen zu empfangen. Nicht unbedingt eine Wahl, die ich getroffen hätte, aber die Hexen wussten schon, was sie taten. Das blieb zumindest zu hoffen.

Die Kinder hatten wir samt Kovu auf unserem Zimmer in der Burg gelassen. Nicht weil Kovu ein Kind war, sondern weil er einen prima Babysitter abgab und sogar mit Fax klarkam – so mehr oder weniger.

Als ich wieder anfing, mein Gewicht von einem Bein auf das andere zu verlagern, trat Askea hinter mich und nahm mich in die Arme. Hätte ich nicht gewusst, dass er das nur tat, weil ihn mein Rumgezappel nervte, hätte ich mich vielleicht ein wenig besser gefühlt. So half es nur wenig.

Seufzend ließ ich meinen Kopf an seine Schulter fallen und suchte die Menge nach Saana ab. Sie stand weiter hinten mit einer Gruppe Hexen und schien letzte Anweisungen zu geben. In ihren Schultern hatte sich eine deutliche Anspannung breitgemacht.

„Also, wenn die nicht bald anfangen“, erklärte Talita, „sterbe ich hier gleich vor Aufregung.“

„Ein paar Minuten müssen wir uns noch gedulden.“ Da ich nicht mehr rumzappeln konnte, verlegte ich mich darauf, an Askeas Fingern herumzuzupfen. Ihn schien das nicht zu stören und ich hatte etwas zu tun. Das war die beste Lösung für uns beide.

„Wenn es doch nur schon vorbei wäre.“

Ich warf meiner Schwester ein kleines, beruhigendes Lächeln zu. „Keine Sorge, bald ist es vorbei, und dann können wir endlich handeln.“

„Dein Wort in Gottes Ohr.“

Schade nur, dass ich nicht an Gott glaubte, sonst würde ich vielleicht auch noch schnell ein Gebet aussprechen. So konnten wir uns nur auf das verlassen, was wir direkt vor uns hatten: Die Macht des Zirkels.

Als die Hexen um Saana sich von ihr entfernten und ihre Plätze an dem Pentagramm einnahmen, richtete ich mich mit einem: „Ich glaube, es geht los“, ein wenig gerader auf.

An jedem der fünf Zacken nahm eine Hexe ihren Platz ein. Hinter jeder von ihnen postierten sich zwei weitere, um ihnen die Hände auf die Schultern legen zu können. Dieses Ritual erforderte sehr viel Magie, zu viel für fünf Hexen.

Chana hatte ihre Hände links und rechts neben dem Amethyst auf den Sockel gelegt und wartete ruhig auf ihren Einsatz.

Hoch am Himmel zogen Wolkenfetzen vorbei, verdeckten die Sterne und dimmten das Mondlicht.

„Incepto!“, rief Boudicca, und die fünf Hexen auf den Zacken streckten dem Amethyst synchron ihre rechten Hände entgegen. „Magie.“

Die Hexen murmelten etwas, das ich nicht verstand. Es war ein Chor aus leisen Stimmen, eine Art Gesang, der nicht mehr war als ein Rauschen im Wind.

Auf meiner Haut spürte ich die Magie, die sie um sich sammelten; ein Flüstern, das mich streifte und schaudern ließ. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich die magische Essenz deutlich sehen. Wie Nebel sammelte sie sich um die Frauen und konzentrierte sich an ihren ausgestreckten Händen, wo sie sich langsam zu einer feinen Linie formte, die suchend die Luft vor ihnen abtastete.

Die Strahlen aus Licht ließen mich an Keimlinge denken, die langsam ihren Weg in die Welt fanden. Fünf kleine Lianen, die achtsam auf den Amethyst zustrebten und dabei immer wieder die Luft um sich herum abtasteten.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Magiefäden ihr Ziel erreicht hatten. Schon die erste Berührung ließ eine wohlige Welle über uns hinwegfluten. So wie Askea sich in diesem Moment anspannte, waren wir Hexen nicht die Einzigen, die es spüren konnten.

Langsam wanden sich die magischen Fäden um den Amethyst, bis er in einen leuchtenden Kokon eingeschlossen war, der wie eine strahlende Blüte wirkte. In seinem Inneren pulsierte es. Ich konnte es nicht nur sehen, sondern auch bis tief in meine Knochen spüren.

„Die Weisheit der Welt, verborgen im Stein, die Weisheit bedeutet sein“, rezitierten die Hexen im Chor. „Die Macht, die du birgst, die Bürde verleiht, das Wissen so selten wie rein. Das Rätsel liegt im Inneren selbst, das weder man hört noch sieht. Ein Rätsel, das keiner lösen kann, das Rätsel des Steines Gemüt.“

Chana legte ihre Hände um die geschlossene Knospe. „Nun stehe ich hier, verlange das dein‘, verlange Eintritt zu dir. Offenbare nun, was du in dir birgst, und entsende alles zu mir!“

Wie auf einem Befehl hin fiel ein Strahl aus purem Mondlicht auf den Sockel.

Die Knospe vibrierte unter Chanas Händen. Ihre Lippen waren zu einer verkniffenen Linie zusammengepresst und auf ihrer Stirn sammelten sich kleine Schweißperlen. Sonst geschah nichts.

„Nochmal“, befahl Boudicca.

Verunsichert warf Chana ihr einen Blick zu, konzentrierte sich dann aber wieder auf den Amethyst. Ihre Brust hob sich unter einem tiefen Atemzug, bevor sie das Gesagte wiederholte. „Nun stehe ich hier, verlange das dein‘, verlange Eintritt zu dir. Offenbare nun, was du in dir birgst, und entsende alles zu mir!“

Ich hielt die Luft an und starrte auf die pulsierende Knospe, die nicht so aussah, als würde sie sich von Chana irgendetwas sagen lassen wollen.

Auch die umstehenden Hexen wurden langsam unruhig, während den am Ritual Beteiligten vor Anstrengung der Schweiß ausbrach.

Boudiccas Augen waren allein auf den Sockel gerichtet. „Nochmal“, flüsterte sie eindringlich. „Versuche es nochmal, Chana.“

Chana starrte den Amethyst wütend an, schloss dann die Augen und wiederholte ein weiteres Mal: „Nun stehe ich hier, verlange das dein‘, verlange Eintritt zu dir. Offenbare nun, was du in dir birgst, und entsende alles zu mir!“ Zeitgleich mit ihren Worten entließ sie eine Welle purer Magie in die Blüte, und als hätte diese nur darauf gewartet, öffneten sich die Spitzen ihrer Blätter.

Ein Strahl weichen Lichts bahnte sich seinen Weg in die Freiheit. Er fuhr hinauf zum Himmel und wurde immer breiter.

Die Hexen im Pentagramm begannen wieder unverständliche Zeilen zu rezitieren. Egal was sie da sagten, die Worte schienen auf die Blüte wie Dünger zu wirken. Nach und nach öffneten sich die Blütenblätter. Das Licht wurde nicht nur heller und intensiver, es wuchs zu den Seiten.

Nur noch Sekunden trennten uns von der Geisterstunde.

Der Kern der Blüte wurde sichtbar. Der Amethyst erstrahlte in all seinen Facetten, warf das Leuchten hin und her, ließ die Magie pulsieren. 

„Gib es mir“, verlangte Chana.

Das Leuchten des Amethysts wurde so gleißend, dass es in den Augen schmerzte. Ich musste das Gesicht abwenden und sah trotzdem noch kleine weiße Lichter auf meiner Netzhaut.

Die Luft schien von der Magie nur so zu vibrieren, während die Worte der Hexen immer hektischer wurden. Aus der einstimmigen Formel war ein mehrstimmiger Kanon geworden, der immer weiter anschwoll.

Plötzlich stieß Askea ein Fauchen aus und riss mich schützend mit sich zu Boden, als das Licht des Amethysts in einer Explosion aus gleißenden Funken barst.

 

°°°°°

Tag Vierundzwanzig

 

Spitze Schreie wurden ausgestoßen. Der Geruch von Ozon erfüllte die Luft und elektrisches Knistern ließ die Härchen auf meinen Armen stramm stehen. Kleine Steinchen gruben sich schmerzhaft in meine Knie, während Askea schützend über mir kauerte. Es gab einen Knall, der nicht nur meine Ohren klingeln ließ. Das Echo hallte durch die leeren Straßen der Stadt und schreckte einige ahnungslose Bewohner auf.

Dann war es mit einem Mal einfach vorbei. Der Geruch verschwand, das Knistern erlosch und die Magie löste sich einfach auf. Es blieb nichts weiter als eine beängstigende Ruhe zurück. Verdammt nochmal, was war hier eigentlich gerade passiert?!

Wachsam ließ Askea die Arme sinken und gab mich nur widerstrebend frei.

Ich wagte es kaum, den Kopf zu heben, um nachzuschauen, was geschehen war. Genau wie Askea es mit mir getan hatte, war Talita von Veith aus der Gefahrenzone gerissen geworden. Nur hatte er sie hinter einen Mauerteil in Sicherheit gebracht, anstatt sie zu Boden zu werfen. Die meiste Hexen hatten nicht so ein Glück gehabt. Sie waren gestürzt oder hatten versucht, sich hinter ihren Schwestern zu verbergen. Doch im Moment interessierte ich mich nur für eine Frau.

„Chana“, flüsterte ich entsetzt, als ich die zusammengesunkene Gestalt neben dem Sockel entdeckte. Sie regte sich nicht. 

Gerade schob ich Askea von mir, um zu ihr zu eilen, da ließ Saana sich bereits neben ihr nieder und fühlte voller Sorge nach ihrem Puls.

Ich hielt den Atem an, genau wie ein Dutzend der Hexen, und beobachtete die angespannten Schultern von Ashas großer Schwester.

„Sie lebt“, hauchte sie erleichtert und beugte sich über sie.

Ich gestattete es mir für einen Moment, ein wenig in mich zusammenzusinken.

„Das heißt, das Ritual ist gelungen?“, fragte eine mollige Hexe mit krausem schwarzem Haar. Sie hatte im Pentagramm gestanden.

Saana antwortete nicht. Ihre Lippen waren verkniffen, während sie versuchte, Chana zum Aufwachen zu bekommen.

Boudicca ließ sich neben ihr nieder, genau wie zwei andere Hexen. Sie redeten leise miteinander und bewegten ihre Finger in Heilzaubern.

„Woher hast du es gewusst?“

Überrascht schaute ich zu Talita auf, doch ihr Blick war auf Askea gerichtet.

Er erwiderte ihn nur ruhig, ohne auf ihre Frage zu antworten, doch so leicht wollte Talita nicht nachgeben.

„Du hast gefaucht. Woher hast du gewusst, dass etwas passieren würde?“

Talita hatte Recht. Verwirrt ließ ich meinen Blick zu Askea gleiten. „Ja, woher?“

„Ich habe die Gefahr gespürt.“ Mit dieser spärlichen Begründung erhob er sich auf die Beine und zog mich gleich mit hoch.

„Du meinst die Magie?“

Seine Stirn legte sich leicht in Falten. „Nein.“

Nein? Was bitte hieß jetzt ‚Nein‘? „Aber …?“

„Sie kommt zu sich!“, rief Saana.

Argwöhnisch musterte ich Askea, eilte dann aber zu der Gruppe von Hexen. Dabei fiel mein Blick auf den Sockel und … Oh nein, der Amethyst war zerstört! Nein, nicht einfach nur zerstört; der Stein hatte sich praktisch in seine Bestandteile aufgelöst. Sand. Alles, was davon noch übrig war, war violetter Sand, der träge durch die Hand einer der Hexen rieselte. Sie konnte diesen Anblick wohl genauso wenig fassen wie ich.

„Chana?“ Boudicca tätschelte die Wange ihrer Zirkelschwester sachte. „Kannst du mich hören?“

Sie gab einen seltsamen Laut von sich und blinzelte in die Runde. Ein Zischen kam über ihre Lippen, als sie den Kopf bewegte.

„Halt still.“ Saana rieb ihre Hände aneinander, bis sie leuchteten, und legte sie der anderen Hexe dann an die Schläfen. „Nur einen Moment, dann geht es dir besser.“

„Hat es geklappt?“, fragte da die ungeduldige Stimme einer noch sehr jungen Hexe.

Ein paar der Älteren warfen ihr böse Blicke zu, doch insgeheim wollten sie es selbst wissen. Wir alle wollten es wissen.

Etwas unkontrolliert hob Chana ihren Arm und schob Saana von sich. Sie blinzelte ein paarmal, als könnte sie ihre Umwelt nicht richtig fokussieren. „Was … Was ist passiert?“

„Weißt du das nicht mehr?“ Boudicca beugte sich ihr ein wenig entgegen. „Du hast versucht, das Wissen aus Bonifatius‘ Amethyst zu erlangen.“

Einen Moment schienen ihre Gedanken noch wirr, dann weiteten sich ihre Augen. „Hat es funktioniert?“

Die umstehenden Hexen sahen sich etwas ratlos an, während Boudiccas Mundwinkel leicht zuckte. „Diese Frage wirst du uns beantworten müssen. Wie fühlst du dich?“

„Ich habe mich schon besser gefühlt.“ Mit Saanas Hilfe setzte sie sich vorsichtig auf.

„Und die Obelisken?“, fragte ich, einfach weil ich es nicht länger aushielt. „Weißt du jetzt, wo wir sie finden können?“

Chana runzelte die Stirn. Sie schaute mich an, als versuchte sie herauszufinden, wovon zum Teufel ich da eigentlich sprach. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein“, sagte sie enttäuscht. „Nein, ich weiß nicht, wo sich die Obelisken befinden.“

Ein bleiernes Gewicht rutschte mir in den Magen und nahm all meine Hoffnungen mit sich. „Was?“

„Aber …“ Talita trat nervös von einem Fuß auf den anderen. „Bist du dir sicher? Vielleicht solltest du noch mal darüber nachdenken.“

„Ich weiß, was ich weiß, und das weiß ich nicht.“ Sie schüttelte den Kopf, als würden diese Worte überhaupt keinen Sinn ergeben. „Ich weiß gar nichts Neues. Ich habe nur Kopfschmerzen.“

Nein. Nein, das durfte einfach nicht wahr sein.

Die junge Hexe schüttelte unwillig den Kopf. „Soll das heißen, alles war umsonst? Wir haben Tage und Nächte gearbeitet, und das soll das Ergebnis sein?“

„Vielleicht dauert es einfach ein bisschen, bis das Wissen sich in ihrem Kopf gefestigt hat und sie darauf zugreifen kann“, überlegte die Frau neben mir.

„Das glaubst du doch selbst nicht.“ Die junge Hexe schien den Tränen nahe zu sein. „Alles umsonst. Der Amethyst ist dahin und wir sind keinen Schritt weiter.“

„Faye, wir –“

„Nein!“ Die junge Hexe riss abwehrend die Arme hoch, als die Frau neben ihr eine Hand auf ihre Schulter legen wollte. „Das war´s, wir sind am Ende.“ Sie machte einen Schritt rückwärts. „Es gibt nichts mehr, was wir noch tun können.“ Damit wirbelte sie herum und marschierte mit langen Schritten und bebenden Schultern zurück zur Burg. Was sie hinterließ, war bleiernes Schweigen.

Als ich hinter mir ein Schluchzen hörte, brauchte ich einen Moment, um zu verstehen, dass es von Talita kam. „Sie hat Recht“, murmelte sie und zuckte dabei hilflos mit den Schultern. „Egal was wir versuchen, hinterher ist es immer schlimmer als vorher.“

„Aber so viel haben wir doch noch gar nicht versucht“, widersprach ich ihr.

„Wir vielleicht nicht, aber sie.“ Mit einer weitausholenden Geste schloss sie alle versammelten Hexen ein. „Sie suchen bereits seit Jahren nach den Obelisken und haben nichts erreicht. Wie konnten wir nur glauben, dass es anders wird, nur weil wir jetzt mithelfen?“ Ungeschickt wischte sie sich eine Träne aus dem Gesicht. „Es ist vorbei.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, es muss noch einen Weg geben, wir müssen ihn nur –“

„Finden?“ Sie lachte auf, doch diesem Laut haftete nichts Glückliches an. „Sieh es ein, Tiara, die Welt wird untergehen und nichts wird daran noch etwas ändern.“

Nein. Nein, das konnte ich einfach nicht hinnehmen, doch ich schaffte es auch nicht mehr, meiner Schwester zu widersprechen, denn sie wandte sich einfach ab und lief weinend in die Nacht davon. Der Impuls, ihr zu folgen, verflüchtigte sich, denn Veith war schneller. Schon bald waren die beiden in der Nacht verschwunden.

„Sie irrt sich.“ Hilfesuchend sah ich von einer Hexe zur anderen. „Wir dürfen nur nicht aufgeben.“

Keine von ihnen wirkte auf mich, als hätte sie noch die Kraft weiterzumachen. All ihre Hoffnungen hatten auf dem Amethyst gelegen, doch nun existierte er nicht mehr, und sein Verlust schien den Kampfgeist der Hexen einfach mit sich genommen zu haben.

„Wenn wir jetzt aufgeben, ist alles verloren.“ Ich schaute zu Saana, die gebeugt neben Chana kniete. Selbst ihr Mut schien sie verlassen zu haben.

Boudicca seufzte. „Wir sollten uns ein wenig in Geduld üben. Vielleicht hat Forma ja Recht und wir müssen der Sache nur ein wenig Zeit geben. Vielleicht wird das Wissen sich noch in Chanas Gedanken festsetzen.“

Ihre Worte klangen wenig überzeugend. Sie glaubte selbst nicht daran, und das war der Moment, in dem die Angst in mir aufkeimte. Wenn selbst Boudicca nicht mehr daran glaubte, dass wir noch etwas tun konnten, wie konnte ich das dann?

Fröstelnd wich ich zurück, bis ich Askeas warme Brust im Rücken spürte. „Was machen wir denn jetzt?“, fragte ich ihn leise.

Ich bekam keine Antwort, doch die Anspannung in seinem Körper war deutlich. Den Blick abgewandt, waren seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Er schien tief in Gedanken zu sein, und was er da in seinem Köpfchen produzierte, schien ihm nicht sehr zu gefallen. Das zumindest nahm ich an, als ich seine geballten Fäuste bemerkte.

„Askea?“

Er schüttelte nur den Kopf und schloss für einen Augenblick die Augen. Was hier gerade geschehen war,  ließ auch ihn natürlich nicht kalt. Er wusste, was nun passieren würde, er wusste es genauso gut wie jeder andere von uns, denn wenn die Hoffnung versiegte, blieb nichts als Verzweiflung und die Gewissheit, dass wir unausweichlich auf eine Katastrophe zusteuerten.

 

°°°

 

Müde blinzelte ich in den Morgen. Sanfte Sonnenstrahlen schienen durch die Fenster und malten mit ihrem Licht Sprenkel auf alles, was sie berührten. Im Zimmer war es still, alle schliefen noch. Ich konnte ihre gleichmäßigen Atemzüge hören.

Ich schloss die Augen und kuschelte mein Gesicht an Askeas Brust, um seine Nähe noch ein wenig zu genießen. Ich atmete diesen unvergleichlichen Geruch ein und konnte es mir einfach nicht verkneifen, mit den Fingern über seinen Bauch zu streichen.

Zur Antwort zog er mich ein wenig fester an sich.

Okay, ich musste mich korrigieren: Nicht alle schliefen noch; mein drakonischer Dämon war bereits wach. Wären wir jetzt allein, würde ich höchstwahrscheinlich die unanständigen Gedanken in meinem Kopf in die Tat umsetzen. So jedoch beließ ich es einfach dabei, ein wenig hochzurutschen und an seinem Kinn zu knabbern. „Wie kommt´s, dass du schon wach bist?“

„Ich habe nicht geschlafen.“

„Gar nicht?“ Ich richtete mich ein wenig auf. „Die ganze Nacht nicht?“

„Die Welt wird untergehen“, sagte er sehr leise.

Das kleine Hochgefühl, das ich eben noch gehabt hatte, war mit einem Schlag auf und davon. Die Realität brach über mir zusammen. Wir hatten den Amethyst verloren und damit auch unsere letzte Hoffnung. „Nur wenn wir aufgeben.“

Mit einem tiefen Seufzer starrte Askea die Unterseite des Etagenbettes an. „Es waren die Jäger.“

Ähm … Themenwechsel, Schleudertrauma. „Bitte?“

„Aamu. Sie wurde von den Jägern getötet.“

Das hörte ich aber zum ersten Mal. „Moment, ich habe immer angenommen … Ich dachte immer, du weißt nicht, wie sie zu Tode kam.“

„Doch. Ihre Verletzungen waren eindeutig. Es war nicht das erste Mal, dass ich solche Wunden sah.“

Oh Gott. Das hatte ich gar nicht gewusst. Und trotz allem hatte er mich gebrannt, eine Jägerin.

„Nachdem mein Vater verstorben war, fand ich in seinen Forschungen die ersten Einträge, die er über mich verfasst hatte. Da stand, wie er mich gefunden hat, und … was mit meiner Mutter geschehen ist.“ Er schwieg einen Moment. „Ich weiß es nicht mit Sicherheit, aber mein Vater glaubte, dass meine Mutter ebenfalls ein Opfer der Dämonenjäger gewesen ist und sie mich einfach zum Sterben bei ihr zurückgelassen haben. Sie glaubten wohl nicht, dass es den Aufwand wert wäre, auch Hand an mich zu legen. Ich war ein Baby, verloren in der Wüste. Meine Überlebenschancen tendierten gegen Null.“

Oh nein.

„Damals waren sie noch nicht so verbreitet und durchorganisiert, doch es hat sie schon gegeben.“

„Es tut mir leid“, flüsterte ich. „Ich habe das nicht gewusst.“

„Es bringt nichts, sich an die Vergangenheit zu klammern. Doch nach dem, was in der letzten Nacht geschehen ist, musste ich daran denken.“

Weil ihm sein eigener Tod nun vor Augen geführt worden war? Oh Gott, was dachte ich denn da? Wollte ich jetzt etwa auch das Handtuch werfen? Nein. Nein! Das war nur ein kleiner Rückschlag gewesen. Ich konnte jetzt noch nicht aufgeben.

„Dann kam der Tag, an dem ich selbst in die Fänge der Jäger geraten bin. Als sie mich fanden … Ich schaffte es gerade noch, Fax hinter einen Felsen zu stoßen und sie von ihm abzulenken, doch ich konnte ihnen nicht entkommen. An diesem Tag habe ich geglaubt, sterben zu müssen.“ Sanft ließ er seine Hand über meinen Rücken streichen, doch meinen Blick erwiderte er noch immer nicht. „Aber dann kamst du. Du hast Fax und mir nicht nur das Leben gerettet; du hast uns eine neue Familie gegeben, eine mit Zukunft.“

„Und jetzt hast du Angst, diese Zukunft zu verlieren?“

„Ich habe sie verloren. Die Jäger lauerten uns auf. Sie zwangen dich dazu, Magie auszuüben. Immer wieder kommen sie und zerstören alles.“

Ihn das sagen zu hören, schmerzte. Ich hatte mir nie wirklich Gedanken darüber gemacht, was Askea in seinem Leben alles hatte durchmachen müssen. „Es tut mir so leid.“

Askea schien das gar nicht wirklich zu hören. „Ich will nicht mit ihm reden.“

Bitte? „Ich verstehe nicht.“

„Der Jäger, Gaio. Ich will nicht mit ihm sprechen.“

Nach diesen Worten wurde mir alles klar. Oh mein Gott, ich war ja so dumm gewesen, dabei hatte Fax es mir doch schon vor so vielen Jahren gesagt: Alle Dämonen fürchteten sich vor den Jägern, und Askea bildete da keine Ausnahme. Die Aussicht darauf, ein Gespräch mit dem Gargoyle zu führen, musste an einer seiner Urängste rütteln. Es war nicht einfach nur die Tatsache, dass er ein Mortatia war, Gaio war mit Leib und Seele ein Jäger. Und nicht irgendeiner; er gehörte zu den Jägern, die ihm persönlich geschadet hatten.

„Ich habe es nicht verstanden“, flüsterte ich und vergrub mein Gesicht an seinem Hals. „Es tut mir leid, aber ich habe es einfach nicht kapiert.“ Askea fürchtete sich vor einem Jäger. Dieser Gedanke war so absurd, dass ich in hundert Jahren nicht darauf gekommen wäre. Doch es war wahr.

„Als ich dich damals durch den Spiegel stieß … Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich getötet habe. Sowas wollte ich niemals tun, aber sie haben mich dazu gezwungen. Sie verbrannten einfach in meinem Feuer, während ich mit Fax das Weite suchte. Ich habe geglaubt, dass sie alle dort gestorben sind, doch dann brachtest du den Gargoyle in die Burg.“

Mich nochmal bei ihm zu entschuldigen, würde ihm wohl keinen Trost spenden. Doch einen Arm um ihn schlingen und ihn fest an mich drücken, das konnte ich.

„Ich werde mit ihm sprechen, Tia.“

Nach diesen Worten ließ ich ihn sofort wieder los und richtete mich auf. „Ist das dein Ernst?“

Sein Blick ruhte ruhig auf mir, doch den Schimmer von Furcht konnte er vor mir nicht verbergen – das hatte er noch nie gekonnt. „Deine Schwester hat Recht. Die Zeit ist einfach zu kurz, um neue Wege zu finden.“

Ich war gerade dabei, den Mund für eine Erwiderung zu öffnen, als ich Talita in einem perfekten Bühnenflüstern fragen hörte: „Hat er gerade wirklich gesagt, dass ich Recht habe?“

„Pssst“, machte Kovu. „Ich will wissen, was er sonst noch zu sagen hat.“

Das finstere Gesicht, das ich dem Bettenlager in der Ecke zuwarf, hätte sie eigentlich in die Flucht schlagen sollen, doch es wurde nur von zwei völlig unschuldigen Gesichtern erwidert – unschuldig, von wegen! „Ihr wisst schon, dass das ein Privatgespräch ist?“

„Klar.“ Kovu richtete sich auf und strich durch sein zerzaustes Haar. Er hatte es immer noch nicht wieder zu einem Zopf geflochten. „Sonst hätte ich schon längst etwas dazu gesagt.“

„Ja.“ Talita nickte zustimmend. „Ich meine, ich wusste ja, dass Askea von seiner Familie besessen ist, aber ich hätte nie gedacht, dass er so … so …“

„… familiär ist?“, bot Kovu an.

Talita nickte. „Genau das ist er. Familiär. Und so liebevoll.“

Besessen? Die nahmen mich doch auf den Arm, oder?

„Ja, genau. Wie er das gesagt hat: Du hast ihm eine Zukunft gegeben, eine –“

Kovu kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden, denn Askea streckte ihm eine Hand entgegen und entließ eine Feuerlohe.

„Au! Verdammt! Was soll das?“ Der Lykaner sprang nicht nur auf die Beine, sondern versuchte gleichzeitig auch, die Flamme auf seiner Decke zu löschen. Dabei hampelte er ziemlich herum, sodass auch Veith und Fax davon geweckt wurden. Kaum hatten Kovu und Talita die kleine Flamme zwischen den Decken erstickt, schickte Askea ihnen die nächste.

„Hey, hör auf damit!“, beschwerte sich meine Schwester und schlug hektisch auf das Bettzeug ein.

„Das geschieht euch recht.“ Lauschen gehörte sich einfach nicht.

 

°°°

 

„… nicht provozieren und versuch ihn nicht aufzuregen. Am besten –“

Askea funkelte Saana an. „Ich kann auch einfach wieder gehen.“

„Askea“, mahnte ich ihn und zog ihn an der Hand weiter. Die Tür zu Gaio befand sich praktisch nur noch einen Katzensprung von uns entfernt und trotzdem hatte ich irgendwie Angst, dass er wirklich einfach abhauen würde, sollte ich auch nur versucht sein, meinen Griff ein wenig zu lockern. Er wollte das hier nicht, das wusste ich genau, und ich verstand immer noch nicht ganz, was ihn dazu bewogen hatte, es durchzuziehen. Andererseits, die Aussicht auf den Weltuntergang, der unser aller Ableben beinhaltete, war wohl eine Begründung für seine Entscheidung. Wie auch immer, ich wollte einfach nicht riskieren, dass er mir auf den letzten Metern doch noch entkam. Dennoch zögerte ich an der Tür einen kurzen Moment. „Vielleicht sollte ich … Ich glaube, es ist das Beste, wenn ich kurz allein mit ihm rede.“

Askea ließ nicht erkennen, was diese Worte für ihn bedeuteten.

„Nur damit er bei deinem Anblick nicht völlig ausrastet, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Um ehrlich zu sein, nein.“

Okay, dann eben nicht. „Warte hier einfach einen Moment.“ Ich drückte ihm noch einen schnellen Kuss auf die Wange und schlüpfte dann durch die Tür.

Draußen vor dem Gitter saß eine Hexe in der Sitzecke. Eigentlich war es ihre Aufgabe, Gaio im Auge zu behalten, doch sie schlief. Das Kinn auf die Brust gesenkt, ein Buch auf dem Schoß, schnarchte sie leise vor sich hin. Dazu fiel mir wirklich nichts mehr ein.

Hinter dem Gitter sah es noch schlimmer aus als bei meinem letzten Besuch – soweit das überhaupt möglich war. Jedes Möbelstück war zertrümmert und in seine Einzelteile zerlegt. Gaio hatte sogar damit begonnen, die Tapeten von den Wänden zu reißen und sie achtlos in seinem Zimmer zu verteilen. Das war wirklich das reinste Schlachtfeld.

Ich versuchte mich davon nicht einschüchtern zu lassen und die verwahrloste Gestalt in der Ecke mit meinem früheren Freund bei den Jägern in Einklang zu bringen – kein leichtes Unterfangen. „Hallo Gaio.“

Sein Kopf ruckte so schnell zu mir herum, dass er sich sicher den Hals verrenkte. Trotzdem erschien auf seinen Lippen ein Lächeln. Ein leicht verrücktes Lächeln, aber wenigstens war es ein Lächeln. Das war bereits mehr, als ich bei unseren anderen Treffen bekommen hatte. „Kleine Dämonenhure. Kommst du mich besuchen, um mich von meinem monotonen Alltag abzulenken?“

„Du sollst mich nicht so nennen.“

Er sprang so plötzlich auf, dass ich mich reflexartig einen Schritt vom Gitter entfernte, als er darauf zustürmte. „Ich nenne dich, wie ich will!“, keifte er mir entgegen und drosch mit einem Stuhlbein gegen das Gitter. Wo hatte er das plötzlich her? Die Hexe in der Ecke gab ein Schmatzen von sich, schlief aber weiter. „Du kannst mich nicht daran hindern.“

Oh Gott, fast hätte ich mir vor Schreck in die Hose gemacht. „Nein, das kann ich wohl nicht, aber ich kann dich darum bitten, mich Tiara zu nennen.“

„Tiara.“ Er kicherte. „Tiara, das Dämonenliebchen.“

Nein, auf diese Diskussion würde ich mich jetzt nicht einlassen. „Ich habe dir jemanden mitgebracht. Er wartet draußen auf dich und würde gerne mit dir sprechen.“

„Sprechen, sprechen. Wir brauchen nicht sprechen, das letzte Wort ist bereits gefallen. Niemand wird sie mehr von mir fernhalten können. Ich bekomme sie zurück. Er hat es versprochen. Er hat´s versprochen, verstehst du? Versprochen!“

Oh nein, wenn er jetzt wieder in sein Faseln verfiel, würden wir nichts aus ihm herausbekommen. „Gaio.“

„Er kann es nicht zurücknehmen, denn er ist tot. Tot, tot, tot.“ Er kicherte leicht psychotisch. „Das hat er nicht kommen sehen, aber jetzt ist er tot.“

„Gaio, bitte hör mir zu, ich –“

„Nein!“ Von einem Moment auf den anderen war sein Gesicht nichts weiter als eine grausige Maske. „Nein, nein, nein!“ Bei jedem Wort schlug er gegen das Gitter.

In Ordnung, das brachte nichts. Dann würde ich ihn eben doch einfach ins kalte Wasser stoßen und abwarten, was dann geschah. „Ich hole ihn jetzt rein“, teilte ich ihm mit, während Gaio noch immer alles verneinte.

Ohne ihn aus den Augen zu lassen, öffnete ich die Tür und war wirklich leicht erstaunt, dass Askea draußen gewartet hatte. Ich hatte ja schon halb damit gerechnet, dass er einfach wieder verschwunden war. „Er ist heute in keiner guten Verfassung“, sagte ich leise und trat zur Seite, damit Saana an mir vorbeikam.

Askea dagegen zögerte einen Moment. Er brauchte etwas, um sich zu sammeln und die Maske der Gleichgültigkeit aufzusetzen, bevor auch er in den Raum trat.

Der Augenblick, in dem Gaio meinen drakonischen Dämon bemerkte, wurde nicht nur von einer absoluten Stille begleitet. Gaio wurde so starr, dass er wirklich aus Stein zu sein schien. Dann stieß er plötzlich einen ohrenbetäubenden Schrei aus und warf sich mit voller Wucht gegen die Gitterstäbe. Die Magie in dem Metall stieß ihn zurück, doch er merkte es nicht und ging erneut darauf los.

Sein Gesicht war so verzerrt, dass ich es nicht wiedererkannte. In seinen Augen loderte ein Hass, der jeden Schmerz zu betäuben schien. Anders konnte ich mir nicht erklären, dass er sich immer wieder nach vorne warf und versuchte, mit den Klauen nach Askea zu greifen.

„Gaio“, sagte ich sehr eindringlich. „Hör auf damit.“

Natürlich tat er das nicht. Er schien mich nicht einmal zu hören. „Mörder“, flüsterte er nur und stieß dann wieder einen Schrei aus. „Untier, Monster!“

Askea blieb äußerlich völlig ruhig, doch in der Anspannung seines Körpers konnte ich nur zu deutlich lesen, dass ihm diese Situation nicht behagte. Seine Körperwärme nahm leicht zu.

„Gaio, hör auf damit, du tust dir nur selbst weh.“

Er ignorierte mich weiter oder nahm einfach nicht wahr, dass ich noch anwesend war. Völlig in Rage benutzte er nun wieder das abgebrochene Stuhlbein und schlug damit auf das Gitter ein. „Brut der Finsternis. Ihr müsst sterben, ihr alle müsst sterben!“

„Keiner von uns muss sterben“, erwiderte Askea völlig ruhig. „Nicht, wenn du uns hilfst.“

Der Gargoyle erstarrte mitten in der Bewegung. Er gaffte Askea an, als hätte ein Frosch ihn gerade dazu aufgefordert, Kaulquappen zu rülpsen, und lachte dann wie von Sinnen. Dieses Lachen … Etwas daran irritierte mich. Es war so anders als die Laute, die er sonst von sich gab. Zum ersten Mal, seit ich ihn in der Stadt gefunden hatte, wirkte er ehrlich erheitert.

„Gaio?“

„Ihr habt es nicht verstanden!“, gackerte er und musste sich sogar mit dem Stuhlbein an den Gitterstäben abstützen, um nicht einfach umzufallen. „Die Antwort, Liebchen, die Antwort. Der Phönix ist die Zeit, versteht ihr? Die Welt muss in Flammen stehen, damit der Boden fruchtbar wird.“ Er begann unruhig mit dem Kopf zu wippen. „Geburt und Wiedergeburt. Alles wird anders. Wenn alles vorbei ist, wird sie wieder bei mir sein. Wiedergeburt. Wiedergeburt. Die Obelisken müssen zerstört werden. Dann –“

„Aber die Obelisken wurden nicht zerstört.“ Askeas Ton war eindringlich.  

Diese Worte ließen Gaio ein weiteres Mal erstarren. Sehr langsam drehte er seinen Kopf, und zum ersten Mal schien er Askea wirklich wahrzunehmen. „Du.“ Dieses eine Wort war so leise, dass ich es kaum verstehen konnte. „Das Monster aus dem Krater, Mörder meiner Freunde.“

Oh, oh, das lief jetzt aber nicht mehr so gut. Na ja, okay, eigentlich lief es schon die ganze Zeit nicht sehr gut. „Askea ist kein –“

„Still!“, zischte Gaio mich an und schlug unruhig mit den Resten seiner Flügel. „Das ist nicht schlimm. Die Reinigung ist zu weit fortgeschritten, die Welt wird untergehen. Ihr könnt nichts mehr tun.“ Und da war wieder dieses völlig durchgeknallte Lächeln auf seinen Lippen. „Die Obelisken sind am Ende, es ist zu spät. Ich habe alles dafür getan. Ich habe sie vernichtet. Wir haben sie vernichtet – einen nach dem anderen.“ Sein Arm begann unruhig zu zucken, dann schlug er plötzlich gegen das Gitter.

Saana und ich wichen sofort einen Schritt zurück, Askea jedoch blieb wie ein Fels in der Brandung einfach stehen.

„Es sind nur noch wenige übrig. Darum der Phönix. Nichts kann uns noch aufhalten.“ Ein Kichern kroch seine Kehle hinauf. „Die Welt wird ein Phönix sein, und dann werde ich sie wieder in die Arme nehmen können.“

„Wen?“, fragte ich, ohne wirklich mit einer Antwort zu rechnen.

„Lana.“ Plötzlich schlug er sich mit dem Handballen gegen die Stirn. „Lana, Lana, Lana. Mein wunderschöner Sukkubus.“ Tränen traten plötzlich in seine Augen, doch er hörte einfach nicht auf, sich die Hand immer wieder ins Gesicht zu klatschen. „Sie schreit. Nein, nein, nein. Hör auf zu schreien, bitte. Bitte hör auf zu schreien.“

Wahrscheinlich war das einfach nur dumm, dennoch trat ich wieder an das Gitter heran. „Gaio?“

„Sie haben sie getötet!“, schrie er mich an. „Sie hörten nicht auf. Erst die Kinder, dann sie.“ Kopfschüttelnd wich er vor mir zurück und presste sich die Hände auf die Ohren. „Ich höre sie schreien. Hör doch bitte auf zu schreien.“

Kinder? Aber Moment mal, sprach er etwa von dem Tag, als seine Klasse von zwei Smaragden getötet wurde? Damals war doch auch eine Frau gestorben, wenn ich mich recht erinnerte. „Lana schreit nicht mehr, Gaio. Gaio, hör mir zu. Niemand schreit hier. Lana …“ Oh je, sollte ich das wirklich sagen? „Lana ist tot, Gaio.“

„Ich weiß.“ Ein irres Grinsen verzerrte sein Gesicht. Die Tränen auf seinen Wangen ließen es noch abstrakter wirken. „Doch bald besteht die Welt aus Asche und ist bereit für die Wiedergeburt. Amir hat es versprochen, sie wird zu mir zurückkehren. Ich tue, was Amir sagt, dann wird alles wieder gut.“

„Tote kommen nicht zurück.“

Askeas eiskalte Worte sorgten dafür, dass er wieder in Gaios Fokus geriet. „Unwissend und dumm. Alle sind unwissend und dumm, keiner versteht es.“

„Wenn wir es nicht verstehen, dann erkläre es uns doch.“

„Ich rede nicht mit Monstern.“ Er wollte wieder gegen das Gitter schlagen, doch er war zu weit weg. Sein eigener Schwung riss ihn zu Boden, wo er einfach liegen blieb.

„Redest du mit mir?“, fragte ich ihn. „Kannst du uns sagen, wo wir die Obelisken finden?“

„Sie sind hier“, flüsterte er.

„Was?!“ Hatte ich ihn gerade richtig verstanden?

Auch Saana trat wieder näher an die Streben heran. „Was soll das heißen, sie sind hier?“

„Sie bewegen sich. Hier und dort. Versteckt, viel zu gut versteckt. Wir konnten sie nicht alle finden. Rar, das hat Amir gesagt. Sie sind rar. Rar, rar, rar, rar, rar.“ Wieder begann er zu kichern, doch dieses Mal wurde es sehr schnell zu einem Schluchzen.

Es tat mir in der Seele weh, ihn so zu sehen. Natürlich wusste ich, dass er unverzeihliche Dinge getan hatte, aber er litt so schrecklich. „Gaio?“

 Er reagierte nicht.

„In dem Zustand bekommt ihr nichts mehr aus ihm heraus“, teilte mir die Hexe in der Ecke mit. Der Radau hatte sie wohl aus dem Schlaf gerissen. „Er ist jetzt in seiner eigenen Welt, er kann euch nicht hören.“ Mitleidig betrachtete sie die zusammengekrümmte Gestalt auf dem Boden. „Jetzt hört er nur noch die Geister seiner Vergangenheit.“

Wahrscheinlich hatte sie Recht, doch ihn so zu sehen, schmerzte. Und wenn es mir schon einen solchen Schmerz bereitete, wollte ich gar nicht erst wissen, wie es in seinem Inneren aussah.

„Geht jetzt“, forderte die Hexe uns auf.

Ich zögerte. In diesem Zustand konnte ich ihn doch nicht alleinlassen, aber Saana ließ einfach nur die Schultern hängen und verließ den Raum. Auch Askea wollte nicht länger bleiben, und da er mich mit seinem Feind schon aus Prinzip nicht alleinlassen konnte, zog er mich einfach mit sich hinaus. Ich wollte nicht, dennoch wehrte ich mich nicht dagegen. Ich sah einfach dabei zu, wie er die Tür schloss und das gebrochene Wesen, das einmal mein Freund gewesen war, zurückließ.

„Das war‘s dann“, sagte Saana. Sie lehnte mit geschlossenen Augen im Korridor an der Wand.

„Was meinst du damit?“

„Was soll ich schon meinen? All die Hoffnungen, die wir noch hatten, sind gerade gestorben. Er hat uns nichts Neues erzählt. Der Amethyst hat nichts gebracht. Die Luft ist schon wieder so sehr mit Magie aufgeladen, dass ich jeden Moment mit einem Magnar rechne.“

Moment, das konnte doch nicht sein. „Gibst du etwa auf?“

„Nein, natürlich nicht.“ Sie ließ seufzend den Kopf hängen. „Ich werde einfach weitermachen.“

Aber sie hatte die Hoffnung aufgegeben; ich konnte es ihrer Stimme anhören. Genau wie Talita und diese Hexe Faye. Ein Gefühl aufkeimender Angst machte sich in mir breit. Wenn jetzt schon Saana zweifelte, wer würde als nächstes aufgeben? „Aber wir haben das, was Gaio gesagt hat, doch noch gar nicht ausgewertet. Er hat … ähm … Der Phönix! Er redet immer wieder vom Phönix, das muss doch etwas zu bedeuten haben.“

Saana schaute mich beinahe mitleidig an. „Der Phönix ist eine Metapher. Ein Phönix wird nach seinem Tod zu Asche, um aus derselben zurückzukehren. Damit sagt er nichts anderes, als dass die Welt untergeht und zu Asche wird.“

„Um dann neu zu entstehen.“

„Im besten Fall. Du musst verstehen, der Phönix ist in diesem Fall kein Lebewesen. Er ist kein Ort und auch kein Gegenstand. Er ist nichts, was wir berühren können, und auch nichts, was wir jemals in den Händen halten werden.“

„Aber … ich verstehe nicht.“

„Der Phönix ist das, was schon immer da war und auch noch existieren wird, wenn alles andere schon lange vergangen ist.“

„Nein, ich verstehe es immer noch nicht.“

„Die Zeit“, sagte sie und schüttelte den Kopf, als hätte sie es mit einem dummen Kind zu tun. „Es ist eine Metapher. Den Phönix kannst du nicht erfassen, denn die Zeit ist unaufhaltsam.“

„Moment, willst du damit sagen, dass der Phönix nichts anderes als die Zeit ist?“

„Nein. Ich will damit sagen, dass die Zeit – die Gegenwart, in der wir uns gerade befinden –der Phönix ist.“ Saana stieß sich von der Wand ab. „Darum glaubt Gaio auch, dass alles aus der Asche zurückkehren wird. Aber viel wahrscheinlicher ist, dass es sich dabei um nichts weiter als einen Wunschtraum handelt. Du hast ihn doch gehört. Er wurde von einem heftigen Schicksalsschlag getroffen, und die einzige Möglichkeit für ihn, das zu verkraften, war, auf ein Ziel zuzuarbeiten, das alles ungeschehen machen würde.“

„Er denkt also wirklich, dass er seine Lana zurückbekommt, wenn er den Weltuntergang herbeiführt?“ Nein, das konnte nicht sein. So verrückt war doch niemand. Es musste etwas anderes dahinterstecken.

Der Blick, den Saana mir zuwarf, war mehr als nur bemitleidend. „Du hast noch nie jemanden verloren, der dir mehr bedeutet hat als dein Leben, oder? Du musstest nie jemanden betrauern, der in deinen Augen mehr wert war als jedes andere Lebewesen der Welt.“

Ich hatte Menschen verloren, Menschen, die mir nahegestanden hatten, Menschen, die mir viel bedeutet hatten. Aber die Welt untergehen lassen, um sie zurückzubekommen? Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Askea. Vielleicht konnte ich ja doch nachvollziehen, was Gaio durchgemacht hatte. „Aber was ist mit dem anderen, was Gaio gesagt hat? Dass die Obelisken hier sind, dass sie sich bewegen und sich verstecken? Das könnte doch ein Hinweis darauf sein, dass es sich bei ihnen um Lebewesen handelt.“

Saana seufzte schwer. „Ja, könnte es. Genauso gut könnte man seine Worte aber auch anders interpretieren. Wenn die Obelisken Bäume sind, dann bewegen sie sich im Wind. Wenn es Statuen sind, dann können sie irgendwo versteckt sein. Gaio hat nicht gesagt, dass sie sich verstecken, sondern dass sie versteckt sind und er sie nicht finden konnte.“

„Er und Amir.“

„Ja, und Amir. Vielleicht noch ein paar andere. Aber es ist hoffnungslos, darüber Spekulationen anzustellen. Es tut mir leid, Tiara, aber so, wie die Dinge stehen, haben wir im Moment keinen neuen Anhaltspunkt, an dem wir ansetzen können. Und bei der Geschwindigkeit, in der der Zerfall fortschreitet …“ Sie verstummte einen Moment. „Wir müssen davon ausgehen, dass wir nichts mehr tun können, um es aufzuhalten.“

„Aber –“

„Im Moment können wir nur eines tun: Uns auf den schlimmsten Fall vorbereiten und hoffen, dass wir überleben werden.“

Mein Mund klappte zu. Ich konnte nichts weiter tun, als ihr nachzustarren, als sie sich abwandte und mit hängenden Schultern den Korridor hinunter verschwand.

Genau wie ich hatte sie sich viel von diesem Gespräch zwischen Askea und Gaio erhofft, doch im Grunde war nichts herausgekommen. Keine neuen Erkenntnisse, kein Hinweis, der uns weiterhelfen würde. Wir waren noch genau dort, wo wir begonnen hatten: am Anfang. Und nun begann die Hoffnung zu sterben. Damit war der schlimmstmögliche Fall eingetreten. Wenn wir nicht mehr glaubten, konnten wir uns dann noch retten? Konnten wir diese Welt dann noch retten? Und was war mit mir? Glaubte ich noch daran, etwas ausrichten zu können?

Eine eiskalte Klaue griff nach meinem Herzen.

„Ich will, dass du gehst“, sagte Askea aus heiterem Himmel.

Ich wollte daran glauben. Ich wollte kämpfen und alles zum Besseren wenden, damit … Sekunde, was hatte er gerade gesagt? „Gehen? Wohin?“

„Nach Hause.“ Der Blick, mit dem er mich fixierte, war hart. Eine Maske der Abstumpfung schien sich über ihn gelegt zu haben. „Durch den Spiegel. Und zwar noch heute.“

Sieben. Ich brauchte wirklich volle sieben Sekunden, bis die Worte, die er mir da um die Ohren haute, bis zu mir durchdrangen, denn im ersten Moment wollten sie keinen Sinn ergeben. Wahrscheinlich, weil ich einfach nicht damit gerechnet hatte. In den letzten Tagen hatte er das Thema schließlich ruhen lassen. „Warum fängst du jetzt schon wieder damit an? Ich habe dir gesagt –“

„Tiara“, unterbrach er mich und schaute mich so seltsam an, dass ich instinktiv einen Schritt vor ihm zurückwich. „Du hast es mir versprochen.“

„Bitte?“

„Wenn es nicht mehr geht, trittst du wieder durch den Spiegel. Das hast du mir versprochen.“

Das sollte ich versprochen haben? Ich wusste, dass wir viel über das Thema geredet hatten, und sogar, dass er mir gedroht hatte, mich einfach durch den nächsten Spiegel zu schubsen, den er fand, aber da war es immer um meine Krankheit gegangen, oder? An dieses Versprechen konnte ich mich jedenfalls nicht erinnern. „Askea“, begann ich leicht gequält. Ich wollte nicht schon wieder einen Streit provozieren; wir hatten im Moment wirklich größere Probleme. „Wenn wir jetzt aufgeben, dann –“

„Bitte.“

Dieses eine Wort ließ mich sofort verstummen. Dieser drakonische Dämon bat nie um etwas – niemals. Und doch war es ihm gerade über die Lippen gekommen.

„Die Hexen geben auf“, sagte er leise. „Deine Schwester und ihr Wolf haben aufgegeben. Der Amethyst ist zerstört. Das Gespräch mit dem Jäger hat nichts gebracht. Wir haben keine neuen Anhaltspunkte. Die Magie wird immer unberechenbarer. Es wird nicht mehr lange dauern, bis aus dem Schrecken das Undenkbare wird und diese Welt keine Sicherheit mehr bietet.“ Er stockte kurz, griff meine Hand und senkte den Blick darauf. „Hier kann ich dich nicht davor beschützen. Diese Gefahr ist zu groß, und mit jeder Stunde wird sie größer.“

So sehr es mir auch missfiel, bei diesen Argumenten konnte ich nicht widersprechen. Aber einfach gehen?

„Tu es für mich.“ Seine Stimme war so leise und sein Blick so eindringlich … Es nahm mir beinahe die Kraft, ihm Widerworte zu geben – beinahe.

„Noch ist Zeit.“

Sein Griff wurde ein wenig fester. „Kannst du dir da wirklich sicher sein? Weißt du mit absoluter Sicherheit, dass die Welt nicht innerhalb der nächsten Stunde untergeht und alles und jeden mit sich reißt?“

Die Antwort darauf lautete: Nein, ich konnte mir nicht sicher sein. Ich brauchte es nicht auszusprechen, meine Gedanken standen mir ins Gesicht geschrieben.

„Du musst an Seraphine denken“, flüsterte er. „Dein Kind weiterhin dieser Gefahr auszusetzen, wäre verantwortungslos.“

Seraphine und Fax. Allein bei dem Gedanken daran, dass ihnen etwas zustoßen könnte, entstand eine verzweifelte Angst in meiner Brust, die mir die Luft abzuschnüren drohte. Ich würde es niemals zulassen, dass ihnen etwas geschah. Aber ich wollte nicht gehen. Wenn ich jetzt verschwand, würde ich diese Welt niemals wiedersehen. Ich würde meine Magie zurücklassen. Doch es wäre ein geringer Preis, wenn ich dafür meine Kinder in Sicherheit wüsste.

Hatten meine Eltern damals auch gezögert? Sie hatten die magische Welt nur verlassen, um ihr ungeborenes Kind zu schützen. Wie hatten sie das nur geschafft?

„Tiara, geh.“

Ich wollte nicht. Ich wollte absolut nicht. Doch das Leben meiner Familie war wichtiger als meine selbstsüchtigen Wünsche.

Fast hätte ich gelacht. Jetzt hatte ich die Antwort auf meine Frage: Nein, ich glaubte nicht mehr daran, noch etwas ausrichten zu können, denn auch meine Hoffnung starb mit jeder verstreichenden Minute ein klein wenig mehr. „Okay“, sagte ich dann leise und spürte, wie mir die Trauer die Kehle zuschnürte. „Du hast Recht und ich werde gehen. Lass mich nur … Ich will mich noch von Saana und Boudicca verabschieden, dann können wir gehen.“ Ich musste schlucken, denn meine Stimme drohte zu brechen.

Erleichtert lehnte er seine Stirn an meine. „Ihr werdet in Sicherheit sein.“

„Ja, werden wir.“ Ich verzog leicht das Gesicht. „Am Anfang wird es für dich und Fax wahrscheinlich etwas seltsam sein, aber das bekommen wir schon hin. Und unter den Homo sapiens gibt es wenigstens keine Jäger, die uns das Leben schwermachen können.“ Meine Lippen verzogen sich zu etwas, das wohl nur entfernt an ein Lächeln erinnerte, aber mehr war gerade einfach nicht drinnen. Der Gedanke, von hier fort zu müssen … ‚Es trübte meine Stimmung‘, wäre wohl ein wenig zu gelinde ausgedrückt gewesen.

Askea erwiderte das Lächeln nicht. Dafür hatten seine Augen einen seltsamen Ausdruck angenommen.

„Was?“, fragte ich verwirrt.

„Fax und ich werden euch nicht begleiten.“

Das war eine heftige Ohrfeige. Ich wich nicht nur abrupt vor ihm zurück, sondern konnte den Schmerz geradezu fühlen. „Was soll das heißen, ihr werdet uns nicht begleiten? Natürlich werdet ihr uns begleiten.“

„Diese Welt ohne Magie … Es ist nicht meine Welt.“

Das war doch wohl nicht sein Ernst! „Du machst Scherze.“

Nein, er sah nicht so aus, als würde er scherzen, und das machte diesen Moment umso erschreckender.

„Tia …“

„Nein!“ Ich hielt den Finger hoch und ließ ihn damit verstummen. „Du hast mir gerade groß und breit erklärt, warum es das Richtige ist, am besten noch in dieser Sekunde das Weite zu suchen, und jetzt sagst du mir, dass das nur für mich gilt? Bist du bescheuert?!“

Mein kleiner Ausbruch beeindruckte ihn nicht im Geringsten – natürlich nicht. „Magie ist Leben, Tiara. Magie ist mein Leben und das Leben von Fax. In deiner Welt gibt es keine Magie.“

Das war doch wirklich nicht zu fassen. „Jetzt hör mir mal gut zu. Du selbst hast es gerade gesagt: Diese Welt könnte jeden Moment sterben und alles mit sich reißen, was darin wohnt. Ich will nicht gehen. Trotz allem, was hier im Moment vor sich geht, liebe ich es, hier zu sein, und dennoch werde ich durch den Spiegel treten, einfach weil du Recht hast. Hierzubleiben ist viel zu gefährlich. Aber wenn du glaubst, ich würde auch dir den Rücken kehren, dann bist du mehr als einfach nur dumm.“ Ich baute mich in all meiner Bedrohlichkeit direkt vor ihm auf. Okay, das war nicht wirklich viel, aber die Absicht zählte. „Ich werde gehen. Und ich werde dich und Fax mitnehmen.“

All die Sanftheit und Vorsicht der letzten Minuten fiel von ihm ab. „Nein, wirst du nicht. Fax und ich sind Dämonen. Wir kämpfen seit jeher ums Überleben. Die wilde Magie kann uns nicht gefährlich werden. Wir werden es durchstehen, aber du nicht. Du bist nur eine Hexe und damit einfach anfällig. Du wirst gehen, wir bleiben.“

Ein Geräusch kam mir über die Lippen. Es war eine Mischung aus Schnauben und Lachen, mit einer Prise Ungläubigkeit. „Das kannst du vergessen.“ Ich machte auf dem Absatz kehrt und marschierte Richtung Zimmer.

Einen Schritt weit kam ich, dann begann das Mal auf meiner Schulter zu pulsieren und nagelte mich an Ort und Stelle am Boden fest.

„Du wirst tun, was ich sage“, grollte Askea.

„Wenn du das glaubst, kennst du mich aber wirklich schlecht.“

Die Luft um mich herum erwärmte sich. Ein klares Zeichen dafür, dass Askea langsam aber sicher die Geduld verlor. Er trat um mich herum und baute sich genau vor mir auf.

Ich hatte vorhin versucht bedrohlich zu wirken, und dabei mit Sicherheit kläglich versagt. Askea dagegen gelang es ganz hervorragend, dabei beabsichtigte er es wahrscheinlich nicht einmal. „Das hier ist kein Spiel, Tiara, mittlerweile geht es nur noch ums Überleben. Deswegen ist dein Trotz hier völlig fehl am Platz.“

Trotz? Trotz?! Oh, dieser miese Mistkerl. Ich stand kurz vor einem Wutausbruch. „Wenn du glaubst, dass es hier um einfachen Trotz geht, hast du wohl den IQ von Plankton!“ Ich versuchte mich aus der Erstarrung zu befreien. Das Mal pulsierte heftiger. „Du erwartest von mir, den Mann, den ich am meisten liebe – in meiner und in seiner Welt –, einfach im Stich zu lassen. Hast du eigentlich eine Ahnung davon, was genau du da von mir verlangst?“

Sein Blick wurde grimmig.

„Ich sage es dir nur einmal: Ich werde gehen. Ich werde Seraphine nehmen und mit ihr durch den Spiegel treten, aber ich werde es nur tun, wenn du und Fax mich begleiten.“

Askea zog die Oberlippe hoch. Leider hatte er das schon zu oft getan; diese Drohgebärde funktionierte bei mir nicht mehr.

„Es liegt also an dir. Wirst du mich und dein Kind beschützen oder wirst du uns in einer erlöschenden Welt sterben lassen, weil du Angst vor dem Unbekannten hast? Es ist deine Entscheidung. Aber sei dir im Klaren darüber, wenn Seraphine oder mir etwas passiert, dann ist es deine Schuld. Wenn wir hier sterben, trägst du dafür die Verantwortung, und dann hättest du in der Rolle als Beschützer versagt.“

Ja, es war grausam, so etwas zu ihm zu sagen, doch seine Haltung ließ mich verzweifeln. Er war so stur. Ich wusste genau, er würde nicht gehen, und das war der einzige Weg, ihn unter Druck zu setzen.

Askea entrang sich ein tiefes Grollen. Seine Augen schienen zu glühen, während die Hitze in Wellen von ihm ausging und mir langsam, aber sicher den Schweiß auf die Stirn trieb. „Ich werde dich zwingen.“

„Das kannst du gar nicht.“ Ich starrte ihn mit all der Kälte an, die ich aufbringen konnte. „Ich bin die mächtigste Hexe dieser Welt. Ich kann Dinge vollbringen, von denen andere nur träumen können. Die Welt beugt sich meinem Willen. Wenn du versuchst, mich durch einen Spiegel zu stoßen, brauche ich nur einen Gedanken, um ihn in tausend Scherben zerspringen zu lassen.“

Er fletschte die Zähne und sah einen Moment so aus, als wollte er einfach nach mir schnappen.

„Ich brauche nur einen einzigen Gedanken, um jeden Spiegel dieser Welt zu zerstören.“

Eine Sekunde, mehr brauchte er nicht, um mich zu packen, gegen die Wand zu drücken und seinen Mund auf das Brandmal zu legen. Die unbändige Hitze, die in diesem Moment in mich eindrang, ließ mich nach Luft schnappen.

Seine Finger bohrten sich in meine Oberarme. Sein Körper war zum Zerreißen gespannt. Was er hier tat, war nichts weiter als ein Akt der Verzweiflung, denn er wusste, dass ich Recht hatte. Wenn ich nicht gehen wollte, würde er mich nicht dazu zwingen können. Für ihn gab es nur einen Weg, mich zu retten, doch vor diesem fürchtete er sich. Ein Leben ohne Magie? Undenkbar für einen Dämon.

„Wir gehen zusammen oder bleiben gemeinsam“, flüsterte ich und schlang meine Arme um seine Mitte. „Anders geht es nicht.“

Askea stieß ein ersticktes Geräusch aus und drückte sich zitternd gegen mich. Er war nicht wütend, er hatte einfach nur Angst vor dem Unbekannten. Er hatte keine Angst vor dem, was hier geschehen könnte, er fürchtete sich vor dem, was auf der anderen Seite des Spiegels wartete: Ein Leben ohne Magie.

 

°°°

 

Die Welt, sie wird ein Phönix sein.

Die Worte von Gaio ließen mir einfach keine Ruhe.

Nicht zum ersten Mal waren sie mir zu Ohren gekommen. Es war lange her, und doch konnte ich mich sehr genau daran erinnern, wie ein anderer Mann sie mir einst mit einem fanatischen Enthusiasmus ins Ohr geflüstert hatte.

Die Welt wird ein Phönix sein. Altersschwach wird sie sich selbst vernichten, um dann aus der Asche neu zu erstehen. Jung, gesund und ohne Verderbnis.

Diese Worte waren es gewesen, die Asha vor so vielen Jahren das Leben gekostet hatten, denn die Bedeutung, die sich hinter ihnen verbarg, war ihr klar gewesen: Amir und Gaio hatten den Weltuntergang geplant gehabt und sich von nichts und niemanden davon aufhalten lassen wollen.

Tief einatmend kuschelte ich mich enger in Askeas Arme. Wir waren vor Stunden zu Bett gegangen, und bis auf mich hatten es alle ins Land der Träume geschafft. Mein Körper jedoch streikte aus dem einfachen Grund, dass meine Gedanken keine Ruhe geben wollten.

Die Auseinandersetzung mit Askea war nur eines der Dinge, die mich beschäftigten. Ich konnte es immer noch nicht glauben, was er von mir verlangte. Einfach abzuhauen, während hier die Erde aufbrach und die Hölle entließ. Nicht, dass ich noch große Hoffnung hatte, etwas dagegen unternehmen zu können, aber ich würde ihn auf keinen Fall zurücklassen.

Leider schien ihm die Tatsache, mich nicht loszuwerden, weniger Angst zu machen als die Aussicht darauf, einen Fuß auf unbekanntes Gebiet zu setzen. Andererseits schmiedete er wahrscheinlich bereits Pläne, wie er mich durch den Spiegel bekam. Das würde bedeuten, dass er hier zurückblieb. Damit wäre ich wieder bei meiner eigentlichen Aufgabe: Wie konnte ich die Apokalypse verhindern?

Warum nur machte Gaio nicht einfach den Mund auf? In der Zwischenzeit hatte ich sogar schon überlegt, ihn ein wenig zu foltern, um mehr Informationen aus ihm herauszubekommen. Noch in der gleichen Minute hatte ich die Idee wieder verworfen, aber der Gedanke war mir gekommen.

Er wusste etwas, da war ich mir ganz sicher, aber er wollte einfach nicht auspacken und mit seinem kryptischen Gequatsche konnte ich nichts anfangen.

Okay, vielleicht sollte ich noch einmal ganz woanders ansetzen. Gedanken ordnen, das war wahrscheinlich das Beste. Ich atmete tief durch und besann mich auf all die Informationen, die ich in den letzten Wochen erhalten hatte.

Die Obelisken. Geheimnisvoll, nicht auffindbar und das wohl mystischste Objekt, von dem ich jemals gehört hatte. Doch ein Rätsel hatten wir gelöst: Es mussten mehrere sein. Gaio hatte es gesagt. Ich habe sie vernichtet. Wir haben sie vernichtet – einen nach dem anderen. Das implizierte doch, dass es mehrere von ihnen gegeben hatte, und auch, dass sie nicht alle gefunden hatten. Nur wie hatten er und Amir das gemacht?

Ich runzelte die Stirn. Das war falsch. Die Frage lautete nicht wie, sondern wann? Ich hatte mehrere Monate bei ihnen verbracht und war in dieser Zeit ständig mit ihnen zusammen gewesen, beim Training und auch auf der Jagd. Gut, anfangs nicht, aber später. Obwohl sie schon manchmal allein losgezogen waren, zusammen mit Kiran, Ryu und Elias. Hieß das, diese drei waren auch daran beteiligt gewesen?

Aber natürlich, Amirs innerer Kreis. Sie mussten dazugehört haben. Andererseits, wenn sie auf die Jagd gegangen waren, waren sie meist mit einem Dämon zurückgekommen – einmal sogar mit zweien. Ich war selbst oft genug dabei gewesen, um zu wissen, wie lange so eine Jagd dauern konnte. Um noch etwas anderes zu suchen, dazu hatten sie gar keine Zeit gehabt. Hatten sie sich vielleicht aufgeteilt? 

Oh Gott, jetzt bastelte ich mir schon Verschwörungstheorien zusammen. Jetzt fehlte nur noch, dass ich paranoid wurde.

„Konzentrier dich“, befahl ich mir selbst und besann mich auf meinen eigentlichen Gedankengang. Was wusste ich, was zur Auffindung der Obelisken beitragen konnte?

Im Grunde nicht viel, wie ich mir eingestehen musste. Ich kannte das Ausmaß, die wahrscheinlichen Ursprünge und wusste auch, dass es immer schlimmer wurde.

Und es gab noch eine Sache, die mir keine Ruhe lassen wollte. Es war etwas, das Gaio ganz zum Schluss unserer Unterredung gesagt hatte: Die Obelisken, sie waren hier. War das nur verwirrtes Gerede gewesen oder steckte vielleicht ein Sinn hinter diesen Worten? Sie bewegten sich, aber wo? In ihren Verstecken? Ich konnte an Saanas Theorie mit dem Baum irgendwie nicht glauben.

Sie bewegen sich. Hier und dort. Versteckt. Viel zu gut versteckt. Wir konnten sie nicht alle finden.

Aber wo haben sie denn gesucht? Sie waren doch nie lange genug fort gewesen, um etwas weiter weg zu suchen. Aber das würde ja dann bedeuten, dass sie in unserer Nähe …

Mit einem Mal saß ich kerzengrade im Bett. „Das ist es“, flüsterte ich. „Oh mein Gott, das ist es! Askea!“ Aufgeregt rüttelte ich an seiner Schulter, bis er mich murrend anknurrte. „Askea, jetzt hör mir doch zu, ich weiß, wo wir die Obelisken finden!“

 

°°°°°

Tag Fünfundzwanzig

Er blinzelte mich verschlafen an. „Was?“

„Nicht was, wo!“

„Was wo?“

„Na, die Obelisken! Hörst du mir gar nicht zu?“

Müde rieb sich Askea die Augen. „Tia, natürlich höre ich dir nicht zu, ich schlafe noch.“

„Dann wach endlich auf!“ Mein Befehl war wohl etwas zu harsch, denn plötzlich saßen alle mehr oder weniger in ihren Betten und schauten sich verwirrt um. Na ja, außer Kovu, der fiel vor Schreck von der Matratze. Das folgerte ich zumindest aus dem Rums und dem anschließenden Fluchen. So wie die Welt im Moment drauf war, sollte ich nicht allzu oft rumschreien. Wir waren alle ein wenig angespannt und in einem Zustand der ständigen Wachsamkeit.

Ich fackelte nicht lange, schlüpfte unter der Decke hervor und griff den Morgenmantel, den die Hexen mir zur Verfügung gestellt hatten.

„Was ist denn los?“, wollte Talita verschlafen wissen. Da keine akute Gefahr zu drohen schien, konnte sie ihr Gähnen genüsslich in die Länge ziehen.

Ich bückte mich zu Seraphine und hob sie aus ihrem Bett. Sie blinzelte verschlafen und kuschelte sich an mich. „Wir waren so blind“, erklärte ich dabei. „Die ganze Zeit lag die Antwort direkt vor unseren Augen, aber wir haben es einfach nicht kapiert.“ Ich schnappte mir noch eine Decke vom Bett und wickelte meinen Engel darin ein.

„Welche Antwort?“ Kovu schob sich murrend zurück auf die Matratze. Durch das Mondlicht konnte ich nur seine Silhouette erkennen, doch selbst die wirkte noch müde und verschlafen.

„Na, die Antwort auf die Frage, wo wir die Obelisken finden können.“ Ich eilte an den Betten vorbei, um das Licht einzuschalten. Leider fing Askea mich ab, indem er mich am Arm packte.

„Du weißt, wo wir die Obelisken finden?“

Das ausgerechnet er diese Frage stellte, brachte mich fast zum Lachen. „Ich weiß nicht nur wo, ich weiß noch viel mehr.“ Denn plötzlich lag alles glasklar direkt vor meinen Augen. Ob uns das jetzt noch helfen konnte, wusste ich nicht, aber endlich waren wir einen entscheidenden Schritt weitergekommen, und diese Chance würde ich nicht verstreichen lassen.

„Zufällig auch, wie spät es ist?“, murrte Kovu und vergrub seinen Kopf unter einem Kissen.

„Kurz nach Mitternacht.“ Ja klar, ich wusste, dass das eine rhetorische Frage gewesen war, aber im Moment konnte mir absolut nichts die Laune verderben. „Und jetzt müssen wir die Hexen wecken. Talita, kannst du Boudicca holen? Dann gehe ich schnell zu Saana … Huch!“ Ich wollte schon wieder loseilen, doch Askea zog mich einfach zurück.

„Tiara.“ Er sah mir sehr eindringlich in die Augen. „Wo sind die Obelisken?“

„Sie sind hier.“ Ich beugte mich vor und gab ihm einen kleinen Kuss direkt auf die Lippen. „Direkt vor mir.“

„Du meinst doch nicht …?“ Talitas Augen wurden riesig.

„Doch, genau das meine ich.“

Veiths Blick glitt von meinem drakonischen Dämon zu Fax, der stumm auf dem oberen Bett hockte und alles beobachtete, und blieb schließlich an dem schlafenden Kind in meinen Armen hängen. „Unglaublich.“

Und dennoch wahr.

 

°°°

 

„Es ist ganz einfach“, begann ich und sah den Anwesenden nacheinander in die Augen. Talita hatte sich auf Veiths Schoß gesetzt und kuschelte sich an ihn, während er sie festhielt, als hätte er Angst, dass sie sonst einfach verschwinden könnte. Dieser Gedanke war in der momentanen Situation gar nicht so abwegig.

Kovu saß neben seinem Bruder auf dem Boden. Die Unterarme auf die Knie gestützt, wartete er gespannt auf meine Ausführungen.

Auf der Couch gegenüber hatten sich Boudicca, Chana und Saana in ihren Morgenmänteln niedergelassen, und weitere Hexen standen im Raum, um zu erfahren, warum ich das ganze Haus um so eine Uhrzeit geweckt hatte.

„Es sind die Dämonen.“ Ich drehte mich zu Askea, der mit Seraphine auf dem Schoß neben mir auf dem kleinen Zweisitzer saß. Dann ließ ich meinen Blick zu Fax wandern, der sich einen Platz auf dem Boden gesucht hatte. „Feuer, Erde, Wind, Wasser. Die vier Elemente, ohne die eine Welt nicht existieren kann. Sie schaffen und nehmen Leben. Sie sind die Stützpfeiler, das Gleichgewicht der Welt, die Obelisken, die Anker, die erste Seele. Die Dämonen sind das, was diese Welt aufrechterhält.“

Darauf folgte erstmal Schweigen, bis Kovu den Kopf schüttelte. „Nein, das kapier ich nicht.“

So wie die anderen meine kleine Familie anstarrten, ergab das wohl auch in ihren Ohren keinerlei Sinn.

Okay, dann eben anders. „Passt auf. Dämonen sind ursprünglich und wild. In ihrem Verhalten können sie überaus aggressiv sein. Sie verfügen über eine beachtliche Intelligenz, werden aber weder als Mortatia noch als Tier angesehen. Sie passen in keine Kategorie, denn sie sind etwas anderes – etwas ganz anderes. Aber sie sind nicht allein, denn es gibt in dieser Welt noch ein weiteres Wesen, das genauso ist wie sie.“

Ratlose Blicke.

„Die Magie! Auch sie ist ursprünglich und wild und kann, wenn sie freikommt, ziemlich aggressiv werden. Und sie verfügt über ihre eigene Intelligenz.“

Nein, auch damit schien ich sie nicht überzeugt zu haben; leicht zu erkennen an Saana, die den Kopf schüttelte. „Ich kann nicht bestreiten, dass es zwischen ihnen gewisse Ähnlichkeiten gibt, wenn man es genau betrachtet, aber –“

„Nein, nein, nein“, unterbrach ich sie. „Ich weiß, dass es stimmt. Hört mir einfach nur einen Augenblick zu. Saana, du selbst hast uns die Ursprungsorte dieser ganzen Katastrophe auf deinen Karten gezeigt. Alles hat im Roten Hinterland und in den Rajaebenen begonnen und sich von dort aus nach und nach über die ganze Welt ausgebreitet. Jetzt jedoch sind es die stabilsten Gebiete, und das, obwohl der Rest der Welt wohl gerade die Hölle durchlebt. Warum? Was verbindet diese beiden Gebiete?“

Alle schwiegen, bis auf Fax. „Die Dämonen“, sagte er leise. „Nur dort leben wir.“

„Genau!“ Aufgeregt sprang ich auf die Beine und begann hin und her zu laufen. „Dort leben die Dämonen, und durch sie ist in diese Gegenden wieder halbwegs Normalität eingekehrt. Na ja, zumindest ist es dort nicht ganz so schlimm wie in den übrigen Regionen. Und das ist so, weil es mittlerweile zu wenige von ihnen gibt. Wo vorher Tausende die Welt stabil halten konnten, sind es jetzt vielleicht nur noch ein paar Hundert, und die reichen für mehrere Kontinente einfach nicht aus. Darum ist diese Welt dabei zu sterben.“

Ein paar von ihnen schienen mittlerweile zu verstehen, worauf ich hinauswollte, aber überzeugt hatte ich sie deswegen noch lange nicht.

„Ich weiß nicht, wie Amir es herausgefunden hat – vielleicht war es einfach nur Zufall –, aber er wusste, dass die Dämonen die Obelisken sind. Und er hat auch verstanden, was geschieht, wenn er sie alle umbringt.“

„Dann hat er Armageddon also mit Absicht herbeigeführt“, fasste Talita zusammen.

Nickend stimmte ich ihr zu. „Natürlich. Genau wie der ganze Innere Kreis. Ryu, Elias, Kiran, Gaio und Amir. Sie alle haben durch die Dämonen Verluste erlitten, das hat jeder Jäger. Gaio hat es mir gesagt und auch Amir hat damals etwas Ähnliches vom Stapel gelassen. Sein Rücken war deswegen voller Narben und –“

„Sie haben die Dämonen gejagt, weil sie böse sind“, warf eine etwas untersetzte Hexe ein.

Askea präsentierte ihr in bester Manier seine Fänge.

„Nein, so ist das nicht“, widersprach ich ihr sofort. „Genau wie jeder andere von uns tun Dämonen genau das, wofür sie geschaffen wurden: Sie halten die Ordnung aufrecht.“

„Indem sie töten?“, fragte Kovu zweifelnd.

Ich verzog das Gesicht. „Ihr versteht das nicht. Sie sind urtümlicher, und im Gegensatz zu den Mortatian haben sie sich seit der alten Zeit nicht weiterentwickelt, dafür sind sie viel zu nahe mit der Magie verbunden. Die Magie fühlt nicht wie wir, aber sie tut alles, um ihren Regeln Geltung zu verschaffen. Darum tun Dämonen, was Dämonen tun. Sie sind nicht unnötig grausam, sie befolgen einfach nur die Regeln der Magie, beziehungsweise sorgen sie dafür, dass sie eingehalten werden.“

„Das ergibt keinen Sinn“, erklärte Chana hochmütig.

„Doch, tut es“, hielt Boudicca dagegen. „Wir müssen und nur einmal ansehen, welche Gruppe von ihnen meistens angegriffen wird.“

„Die Gemischten“, flüsterte Saana.

„Gemischt?“ Talita runzelte die Stirn.

„Paare, die sich außerhalb ihrer Spezies nach einem geeigneten Partner umgeschaut haben“, erklärte Veith.

Saana nickte. „In der alten Zeit vor dem Codex waren sie die bevorzugten Ziele der Dämonen. Damals waren die Dämonen auch noch über alle Kontinente verbreitet. Erst mit ihrem Ausschluss aus dem Codex hat man sie ins Rote Hinterland und in die Rajaebenen verbannt.“

„Aber es sind auch andere Leute den Dämonen zum Opfer gefallen“, widersprach Chana. „Einzelne Mortatia, ganze Gruppen.“

„Ja“, stimmte ich ihr zu. „Wie bei Gaio. Er liebte Lana, aber sie war kein Gargoyle, sondern ein Sukkubus. Und die Kinder, die sie an diesem Tag bei sich hatten, waren nichts als Kollateralschäden. Doch der eigentliche Angriff galt Gaio und Lana, um die beiden voneinander fernzuhalten.“

„Denn ein Kind von verschiedenen Spezies kann nicht überleben.“ Boudiccas Blick huschte von Talita zu mir. „Oder entwickelt ungeahnte Fähigkeiten.“

Hm, das hatte sich jetzt aber nicht wie ein Kompliment angehört. „Und dann gibt es da noch die Bedeutung der Obelisken. Früher haben die Herrscher der Welt den Obelisk als Zeichen von Macht getragen. Selbst beim Hohen Rat hatte er noch diese Bedeutung inne. Und was sagt man über den Obelisk? Er ist der steingewordene Strahl der Magie, eine Verbindung zwischen dem, was uns geschaffen hat, und dem, was wir sind.“

Die Hexen schienen noch immer nicht überzeugt zu sein. Besonders die lange Dürre in der Ecke schaute sehr zweifelnd drein. „Die Geschichte ist uns wohl bekannt, aber sie unterstreicht nichts von dem, was du bisher gesagt hast.“

Verdammt, warum waren die nur so blind?! „Okay, dann eben anders. Ich erzähl euch jetzt mal die Geschichte, wie ich sie mir zusammengereimt habe. Amir hat irgendwie herausbekommen, wer die Obelisken sind. Wahrscheinlich durch Zufall, als er auf sie Jagd machte. Dann hat er eine Armee um sich herum aufgebaut und sie zu Dämonenjägern ausgebildet, um die Welt von dem Unheil durch ihre Taten zu befreien. In Wirklichkeit jedoch war er darauf aus, die Zeit des Phönix herbeizuführen. Im Tal des Lichtes gibt es eine alte Höhlenmalerei, eine Art Zukunftsvision, die genau dieses Szenario, in dem wir uns befinden, darstellt. Grüner Himmel, Tod und Verwüstung. Es ist das Schicksal dieser Welt.“ Das zumindest hatte Mae damals behauptet.

„Und hier beginnt die Geschichte, wie ich sie kenne. Als ich damals zu den Jägern kam, sprach Amir immer wieder von der Reinigung. Ich habe angenommen, dass er damit meint, die Welt von den Dämonen zu reinigen, um weitere Untaten zu verhindern und das Böse vom Erdboden zu tilgen, aber in Wirklichkeit hat er etwas ganz anderes gemeint: Er wollte die Welt von allem reinigen, was sich darauf befand, in dem irren Glauben, damit eine neue Welt zu erschaffen, in der die Toten zurückkehren, damit wir alle wieder mit denen vereint sein können, die wir einst verloren haben.“

Ich schaute von einem zum anderen. „Als ich Askea kennenlernte, hat er etwas zu mir gesagt, das mich schon damals nachdenklich gestimmt hat. Er hat gesagt, er wüsste nicht, warum die Jäger sie so besessen jagten, nur dass die Gründe, die sie hervorbrachten, nichts als Lügen seien. Und dann begannen diese seltsamen Dinge. Der grüne Himmel, die Lichtsäulen, das brodelnde Wasser oder der Nebel in dem Wald. Oder auch die Drachen! Sie sind einfach vom Himmel gefallen. All das waren Zeichen für das, was uns bevorstand. Deswegen war Amir damals auch nicht beunruhigt. Ganz im Gegenteil, er schien über die seltsamen Dinge geradezu entzückt zu sein. Und Asha …“ Ich stockte in meinen begeisterten Ausführungen einen Moment und schaute Saana an. „Asha hat gewusst, was Amir vorhatte, weil Ryu keine Geheimnisse vor ihr hatte. Sie hat die Zeichen erkannt und wollte Amir dazu bringen, von seinem Plan abzulassen. Das ist der Grund, warum sie sterben musste.“

„Das passt zusammen“, erkälte Chana widerstrebend. „Aber wo ist der Beweis, der deine Vermutung untermauert?“

Beweis? Sie wollte wirklich noch einen Beweis? „Erinnerst du dich an das Magiegewächs hier in der Burg?“

Natürlich erinnerte sie sich. Keiner der Anwesenden hatte es vergessen, dafür war einfach zu viel Schaden entstanden. Und zu viele Hexen waren gestorben. Schwestern, Mütter, Cousinen, Freunde.

„Und du weißt sicher auch noch, was mit denen geschehen ist, die an diesem Tag von der wilden Magie berührt wurden.“

„Ja.“

„Auch Askea hat sie berührt. Genaugenommen hat er nach ihr gegriffen, sie aus der Wand gerissen und weggeworfen, ohne auch nur den kleinesten Schaden davonzutragen. Wir haben angenommen, dass er das konnte, weil die Magie es nur auf die Hexen abgesehen hat, weil wir so empfänglich für sie sind. Aber was, wenn es einfach nur daran lag, das er ein Dämon ist und damit immun gegen die Magie? Die wilde Magie kann ihm einfach nichts anhaben. Und nicht nur das. Als sie begann, überhand zu nehmen, hat er sie gebändigt. Er hat sie verbrannt. Hast du schon jemals davon gehört, dass irgendein Wesen der magischen Welt dazu imstande wäre?“

Darauf brauchte sie nichts zu erwidern, denn jeder in diesem Raum kannte die Antwort.

„Dann noch all die Dinge, die Gaio gesagt hat. Die Obelisken sind unter uns und bewegen sich, verstecken sich. Das war kein sinnloses Kauderwelsch, sondern die Wahrheit. Alles was er gesagt hat, ergibt einen Sinn. Natürlich bewegen sich Dämonen, sie sind Lebewesen. Und natürlich verstecken sie sich, denn man trachtet ihnen nach dem Leben und auch wenn sie anders denken und handeln als wir, wollen sie nicht sterben.“

Ich richtete meinen Blick auf Boudicca. „Die Welt muss in Flammen stehen, damit der Boden fruchtbar wird. Es sind nur noch wenige übrig, denn wir haben die anderen vernichtet. Wie konnte ihnen das neben der Jagd noch gelingen? Ganz einfach, sie haben die ganze Zeit nichts anderes getan, als unter dem Deckmantel einer Lüge die Obelisken zu zerstören. Der Hohe Rat hat das zugelassen und sogar unterstützt, denn sie glaubten Amir. Deswegen hat Gaio auch keine Gewissensbisse wegen dem Mord an Asha. Er ist fest davon überzeugt, dass sie nach der Reinigung zurückkehren wird.“

Nach diesen Worten kehrte für einige Zeit Ruhe im Raum ein. Nur meine Schritte waren zu hören, denn ich war zu aufgeregt, um mich hinzusetzen. Amirs und Gaios Fanatismus hatten nur eine schwerwiegende Schwachstelle. Sie glaubten daran, dass die Toten zurückkehren würden. Welche Toten genau? Nur die ihren? Die aus den letzten hundert Jahren oder alle seit der Entstehung? Was auch immer sie auf die Idee gebracht hatte, dieser Plan könnte funktionieren, war nichts als fiktives Wunschdenken. Allein die Logik sagte mir, dass es nicht funktionieren würde. Wie nur hatten sie glauben können, es wäre anders?

Sie hatten abertausende Leben riskiert und die Welt dem Untergang geweiht, nur wegen eines unbegreiflichen Hirngespinsts.

Verrückt. Sie waren verrückt gewesen, sie alle.

„Es passt alles zusammen und erklärt auch vieles von dem, was Gaio gesagt hat“, kam es schlussendlich von Boudicca.

Chana schüttelte noch immer ungläubig den Kopf. „Das heißt, die Dämonen sind die Obelisken?“

„Ja.“ Saana blickte zu mir auf. „Diese Theorie passt auch zu vielen Texten, die ich in meinem Leben studiert habe. Außerdem ist der Begriff ‚Dämon‘ ziemlich neu, er tauchte zum ersten Mal in der Geschichte mit der Entstehung des Codex auf.“

„Ja, natürlich.“ Boudicca rutschte so weit an die Sofakante, dass nicht mehr viel fehlte, bis sie auf den Boden plumpsen würde. „Vorher trugen sie den Namen ‚Stele‘.“

Stele? Diese Bezeichnung war mir völlig fremd. 

„Und Stele ist gleichbedeutend mit Obelisk“, erkannte Saana. „Warum nur ist mir das früher nie aufgefallen?“

„Es stimmt also wirklich.“ Fast ehrfürchtig betrachtete meine große Schwester meinen Mann. „Du bist ein Obelisk.“

Askea hatte nur einen abschätzigen Blick für sie, bevor er demonstrativ zu mir schaute. Zu der ganzen Sache hatte er also nichts beizutragen. Wahrscheinlich war er von diesen ganzen Erkenntnissen selbst ziemlich überwältigt, auch wenn er dazu nichts sagte und sich lieber in Schweigen hüllte.

„Und was heißt das jetzt für uns?“, wollte Kovu wissen. „Müssen wir die Dämonen reparieren, um das Gleichgewicht der Welt wiederherzustellen?“

„Reparieren?“ Talita schaute ihn an wie ein Pferd. „Wie bitte soll man einen Dämon reparieren?“

Er zuckte nur mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht nicht reparieren, sondern heilen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Unser Problem ist nicht, dass die Dämonen krank sind, sondern dass es zu wenige von ihnen gibt.“

„Das heißt also“, überlegte Talita, „wir müssen die Dämonen reproduzieren.“

Bei diesen Worten verzog ich gequält das Gesicht. „Wie willst du denn einen Dämon reproduzieren?“

„Ich weiß nicht. Gibt es dafür vielleicht einen Zauber?“

Diese Frage wurde von de Hexen einstimmig verneint. Sogar von mir.

Zwischen Veiths Augenbrauen hatte sich eine kleine Falte gebildet. „Wir können sie weder heilen noch auf magischem Wege Neue beschaffen. Was die Dämonen brauchen, ist Zeit. Sie müssen sich regenerieren, bis es wieder genug Säulen gibt, um die magische Welt im Gleichgewicht zu halten.“

„Aber Zeit ist etwas, das wir nicht haben“, stellte Chana klar.

Anstatt wie die anderen über Askea und sein Volk zu sprechen, als wäre er nicht anwesend, wandte Boudicca sich direkt an ihn. „Hast du zu dem Ganzen gar nichts zu sagen?“

Er fixierte sie. „Nein.“

Ihr Mundwinkel zuckte. „Immer so einsilbig.“

„Ich weiß nichts davon, eine Stütze dieser Welt zu sein. Alles was ich gelernt habe, ist, mich möglichst weit von den Mortatian fernzuhalten, wenn ich den nächsten Tag noch erleben möchte.“ Seine Worte waren kalt, brachten es aber auf den Punkt.

Unbehagliches Schweigen folgte, denn plötzlich war es Askea, der die Macht hatte, sie zu retten oder untergehen zu lassen – theoretisch zumindest –, und das gefiel den Hexen nicht. Manchmal konnte das Schicksal wirklich ein gemeines Arschloch sein und jene, die sich ihr Leben lang im Recht gefühlt hatten, dazu zwingen, auf einmal die Dinge in einem anderen Licht zu sehen.

Ausgleichende Gerechtigkeit nannte man das wohl.

Da wir so aber nicht weiterkamen, ließ ich mich vor Askea auf die Knie sinken. „Hast du denn keine Idee?“, fragte ich. „Wenn jetzt noch jemand etwas ausrichten kann, dann doch du und die anderen Dämonen, oder?“

„Ich weiß es nicht.“

„Jedenfalls nicht allein“, warf Saana ein. „Herauszufinden, wer die Obelisken sind, hat uns ein großes Stück vorangebracht, aber er allein wird niemals so viel Kraft aufbringen können, um die ganze Welt zu retten. Wir brauchen mehr Dämonen. Dann –“

„Brauchen?“, unterbrach Fax sie mir einer sehr angriffslustigen Stimme. „Wir sind keine Gegenstände, die man einfach gebrauchen kann!“ Er sah aus, als würde er sie gleich anspringen wollen.

Holla, was war denn jetzt los?

„Das habe ich auch nicht gemeint“, verteidigte sich Saana. „Was ich sagen wollte: Die Dämonen können noch etwas ausrichten – vielleicht, wenn noch genug von ihnen übrig sind und sie sich bereit erklären zu helfen.“

„Was zweifelhaft ist nach allem, was sie durch Mortatia haben alles erleiden müssen.“ Veith sah zu Askea hinüber. „Ich kann es ihnen nicht einmal verdenken.“

„Dämonen sind auch keine Unschuldslämmer“, echauffierte sich Chana.

Fax sprang in die Hocke und bleckte die Fänge.

„Fax!“ Was war denn mit ihm los?

Er warf mir nur einen trotzigen Blick zu, ließ sich dann aber wieder auf den Hintern fallen. Seine feindselige Haltung allerdings legte er nicht ab.

„In Ordnung.“ Boudicca faltete ihre Hände im Schoß. „Nach allem, was hier gesagt wurde, ist klar, was wir als nächstes zu tun haben.“

Nein, nicht nur in meinem Gesicht taten sich Fragezeichen auf.

„Wir müssen mit den Dämonen sprechen – mit allen Dämonen. Wir müssen mit ihnen zusammenarbeiten und gemeinsam einen Weg finden, um den drohenden Untergang abzuwenden. Als Gleichberechtigte.“

Das klang schon ganz gut, aber in diesem Raum schien niemand allzu offen für ihren Vorschlag zu sein. Außerdem gab es da noch ein weiteres Problem. „Und wie willst du das in Angriff nehmen? Die Dämonen sind weit verbreitet und verstecken sich. Wir haben nicht die Zeit, alle zu suchen. Und ich glaube auch nicht, dass sie uns zuhören werden. Sie fürchten und hassen uns.“

„Sie hat Recht“, stimmte Veith mir zu. „Die Zeit ist viel zu kurz, um sie alle ausfindig zu machen. Sie alle zu finden, könnte Jahre in Anspruch nehmen.“

„Ja“, sagte Kovu. „Und wir haben keine Jahre mehr. Die magische Welt kann jeden Moment einen neuen Tiefschlag erhalten.“

„Stimmt.“ Saana trommelte mit ihrem Fingern auf ihrem Knie herum. „Am besten wäre es, wenn wir die Dämonen zusammenrufen könnten, alle an denselben Fleck.“

„Und wie soll das gehen?“, fragte Kovu. „Ist ja nicht so, als würden sie ein Vox besitzen und man müsste sie einfach nur mal schnell anrufen.“

Sie hatten Recht, sie alle. Verdammt! Das konnte doch einfach nicht sein. Endlich – nachdem unserer aller Hoffnung schon beinahe gestorben war – waren wir einen Schritt weitergekommen, und jetzt sollte alles daran scheitern, dass wir sie nicht würden finden können, obwohl wir endlich wussten, wonach wir suchen mussten?

Nein, das konnte ich nicht hinnehmen, das ging einfach nicht.

Ich schaute Askea flehentlich an. Die Dämonen waren seine Leute, er musste doch wissen, wie man sie zusammenrufen konnte.

„Das kann ich nicht“, nahm Askea meiner Frage vorweg. „Es gibt keine Möglichkeit, sie alle zu rufen.“

„Doch, gibt es“, widersprach eine junge Hexe, die am Bücheregal lehnte. Ich erkannte sie als die junge Frau vom Ritual. Faye. „Wir können den Lockruf anwenden.“

Lockruf? Hörte sich in meinen Ohren irgendwie nach Balzgesang an.

Chana runzelte die Stirn. „Der Lockruf-Zauber wurde für Tiere kreiert. Er funktioniert nur bei Wesen niederer Intelligenz.“

Womit die Dämonen dann ja wohl ausschieden, auch wenn böse Zungen etwas anderes behaupten würden. Dämonen waren nicht dumm, sie waren einfach nur … eigen. Ja, ‚eigen‘ war ein gutes Wort für sie.

„Natürlich können wir ihn nicht so nutzen, wie er ist“, führte Faye aus. „Wir müssen ihn modifizieren und auf die Dämonen zuschneiden, damit er wirksam ist.“

„Das ist eine gute Idee“, erklärte Boudicca. „So müssten wir die Dämonen nicht suchen. Sie würden einfach zu uns kommen.“

„Aber ihr vergesst da eine Kleinigkeit“, unterbrach Chana ihre Begeisterung. „Wir brauchen ihre Essenz.“

Boudicca winkte ab, als wäre das nicht nennenswert. „Das ist wohl das Geringste unserer Probleme, schließlich haben wir hier ein Prachtexemplar direkt vor uns.“

Nicht nur ihr Blick fiel auf Askea, der sich unter der plötzlichen Aufmerksamkeit schlich unwohl fühlte.

„Und du glaubst, dass er das macht?“, fragte Chana zweifelnd.

Unwillkürlich hob sich Askeas Oberlippe einen kleinen Hauch.

Bevor er noch etwas Törichtes tun konnte, schaltete ich mich wieder in das Gespräch ein. „Was genau meint ihr denn damit, dass ihr seine Essenz braucht?“

„Im Grunde bedeutet das einfach nur, dass er am Ritual teilnehmen muss“, erklärte Saana. „Er wird sozusagen der Mittelpunkt unseres Zaubers sein. Er wäre … Na ja, er wäre der Lockstoff, mit dem wir die anderen Dämonen zwingen, zu uns zu kommen.“

„Zwingen?“ Talita klang nicht sehr begeistert.

Da konnte ich ihr nur zustimmen. „Der Zauber zwingt sie zu uns?“

„Es ist, als würden sie in eine leichte Trance versetzt werden. Sie schlafwandeln dann praktisch zu uns.“

Das hörte sich nicht wirklich schlimm an, wenn man mal von dem Zeitpunkt absah, wenn sie alle bei uns waren und dann erwachten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Dämonen sehr begeistert wären, wenn sie herausfanden, was mit ihnen geschehen war.

Andererseits hatten wir keinen anderen Plan, und so würden die Dämonen am schnellsten zu uns gelangen. Und schnell war das, was wir im Moment brauchten. Eine Sache jedoch musste ich noch geklärt haben. „Für Askea ist es doch ungefährlich, oder?“

Darauf folgte ein kollektives Zögern, das nicht sehr beruhigend war.

„Er wird keine bleibenden Schäden davontragen“, erklärte Saana nach einem Moment.

Keine bleibenden Schäden? War das eine nette Umschreibung für: ‚Das wird kein Zuckerschlecken‘? „Was genau bedeutet das?“ Ich würde es sicher nicht erlauben, wenn Askea dabei in Gefahr geriet. Lieber sollte diese Welt untergehen.

Seufzend schlug Chana die Beine übereinander und lehnte sich zurück. „Der Prozess ist anstrengend, er laugt den Essenzgeber aus und schwächt ihn. Es kann sogar zum kurzzeitigen Verlust des Gleichgewichtssinns kommen.“

Das hörte sich nicht gut an, aber auch nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. „Sonst noch etwas?“

„Je nachdem, wie lange der Zauber auf den Essenzgeber gewirkt wird, kann es passieren, dass er nach Ende des Rituals in einen sehr tiefen Schlaf fällt. Der Körper ist dann so erschöpft, dass er Ruhe braucht, um sich von den Strapazen zu erholen.“

„Wie lange?“, fragte ich. „ Wie lange würde er schlafen?“

Chana zuckte unwissend mit den Schultern. „Das kann ich nicht genau sagen. Es kommt, wie gesagt, auf die Länge des Rituals an. Wir müssen den Zauber schließlich aufrechterhalten, bis die Dämonen bei uns eintreffen. Das wird vermutlich mehrere Stunden dauern, wahrscheinlich sogar mehr. Noch dazu wurde der Zauber bisher nur bei Tieren benutzt, damit kommt noch eine unbestimmte Variable hinzu, die ich im Moment nicht einschätzen kann.“

Wollte die mich verwirren? „Wie lange? Nenn mir eine Zahl.“

Ihre Lippen spitzten sich beleidigt. „Vielleicht ein oder zwei Tage.“

Tage?!

„Aber das ist nur eine Vermutung.“

Sie wollten Askea für einen Zauber benutzen, der ihn mehrere Tage außer Gefecht setzen konnte. Ich wusste, wie er antworten würde, noch bevor ich ihm in die Augen sah.

„Auf keinen Fall.“ Gerade heraus. „Ich werde es nicht tun.“

„Askea, ich verstehe ja –“

„Nein!“, fauchte er mich an. Die Luft um ihn herum erwärmte sich leicht. „Wenn ich das mache, bin ich handlungsunfähig! Was glaubst du, was die anderen Dämonen tun werden, wenn sie zu uns kommen? Ich werde dich dann nicht beschützen können!“

Verdammt!

„Dann mache ich es.“

Wir alle drehten uns geschlossen zu der Gestalt neben dem Sessel um. Mit trotzig vorgestrecktem Kinn und angespannten Schultern schaute Fax uns allen entgegen, ohne sich das kleinste bisschen einschüchtern zu lassen.

„Ich werde an dem Ritual teilnehmen“, fügte er noch hinzu, damit auch keine Zweifel daran aufkamen, was genau er gemeint hatte.

Askea kniff die Augen leicht zusammen. Er setzte Seraphine neben sich auf den Zweisitzer und fixierte seinen Sohn. „Nein, wirst du nicht.“

Aufmüpfig schob Fax das Kinn vor. Das war schon fast eine Herausforderung an seinen Vater. „Doch.“

Meine Augen wurden riesig. Er hatte Askea widersprochen. Er hatte es wirklich gewagt, wie jedes andere Kind Widerworte zu geben. Das hatte ich noch nie erlebt.

Plötzlich sprang Askea seinen Sohn fauchend an. Fax knallte auf den Rücken, sein Vater hockte auf ihm und zeigte ihm die Fänge, während er seine Hand um Fax‘ Kehle legte.

„Askea!“ Ich wollte losstürzen, um die beiden zu trennen, aber mein Mal prickelte und ich konnte mich nicht bewegen. Askea blockierte mich! Scheiße! „Lass mich los, verdammt nochmal!“

Mein drakonischer Dämon ignorierte mich. Seine ganze Aufmerksamkeit lag auf seinem Kind, das mühevoll schluckte. Die Wut seines Vaters ließ ihn eben doch nicht kalt.

„Glaubst du wirklich, du bist bereits alt genug, um mir Widerworte geben zu können?“ Gefährlich leise, ja, fast lauernd kamen diese Worte über seine Lippen.

„Askea!“ Ich schaute zu den anderen Anwesenden, aber die schienen sich nicht einmischen zu wollen. Die beiden Lykaner saßen sogar völlig entspannt da, als wäre das alles ganz normal. Auch Talita folgte nur mit mäßigem Interesse.

Obwohl in seinen Augen leichte Furcht lag, ließ Fax seinen Trotz nicht fallen. „Ich bin zwölf“, erwiderte er stur und zeigte damit sehr deutlich, wie ähnlich er seinem Vater eigentlich war.

„Und damit glaubst du, dir das Recht erworben zu haben, deine eigenen Entscheidungen zu treffen?“

„Ja.“ Kurz und bündig.

Ich biss mir nervös auf die Unterlippe, nicht sicher, wie ich diese Situation finden sollte.

Zu allem Überfluss wählte mein Phinchen auch noch genau diesen Moment, um vom Sitz zu klettern und zu den beiden zu rennen, als wäre das alles nur ein großes Spiel. Sie warf sich Askea einfach auf den Rücken und klammerte sich an seinem Hals fest. „Aja!“

Ich glaubte, mir würde gleich einfach das Herz stehen bleiben. Doch Askea beachtete sie gar nicht und ließ sie einfach auf seinem Rücken herumturnen.

„Du denkst also wirklich, dass du mich nicht mehr brauchst.“ Die Worte waren ein warnendes Knurren.

„Das habe ich nicht gesagt“, er zögerte einen Moment, „aber bei dieser Sache brauchst du mich.“ Pause. „Ich will nicht sterben, Papá.“

Und genau das würde passieren, wenn wir nichts unternahmen. Wir alle würden sterben, da Askea sich weigerte, in die nicht-magische Welt zu gehen.

Unwillig spannten sich Askeas Schultern an, doch er nahm die Hand von Fax‘ Kehle und ließ sie auf seiner Brust ruhen.  „Du hast keine Ahnung, auf was du dich da einlassen willst.“

„Nein, weiß ich nicht, aber du wirst da sein und aufpassen.“

Das nannte man dann wohl grenzenloses Vertrauen.

Das Prickeln auf meiner Schulter ließ nach und ich konnte mich wieder bewegen, doch jetzt hatte ich dazu eigentlich gar keine Ambitionen mehr.

„Ist es damit entschieden?“, fragte Boudicca vorsichtig.

Die Feindseligkeit, die in diesem Moment von meinem drakonischen Dämon ausging, war geradezu mit Händen zu greifen. Doch wenigstens stieg er endlich von seinem Sohn herunter und ließ ihn sich wieder aufsetzen.

„Ja“, sagte ich, weil von Askea sicher keine Antwort gekommen wäre. „Fax wird an dem Ritual teilnehmen.“ Doch schon während ich diese Worte aussprach, befiel mich ein Gefühl der Unruhe. Fax war schließlich noch ein Kind. Eigentlich war ich mir gar nicht so sicher, ob ich ihm das erlauben wollte.

„Und wie wollen wir das machen?“, fragte Talita. „Ich glaube nicht, dass es so eine gute Idee wäre, die ganzen Dämonen hier in die Stadt zu locken. Es gibt zwar nicht mehr so viele Mortatia, aber die übrigen haben sicher keine plötzliche Sympathie für die Dämonen entwickelt.“

„Nein, hier wäre nicht gut“, stimmte Boudicca ihr zu. „Von deinen Argumenten einmal abgesehen, lauern auf dem Weg in die Stadt mittlerweile auch viel zu viele Gefahren. Die Hälfte der Dämonen könnte verloren gehen, während sie zu uns unterwegs wären, und das können wir nicht riskieren.“

„Das bedeutet, sie kommen nicht zu uns, sondern wir gehen zu ihnen“, fasste ich zusammen und klaubte Seraphine von Askeas Rücken, damit er wieder aufstehen konnte. Sie protestierte und wollte wieder runter, doch ich behielt sie auf dem Arm.

Sanna nickte. „Ja, wir werden ins Rote Hinterland aufbrechen und das Ritual dort vollziehen. Ich weiß auch bereits genau, wohin wir gehen werden.“

„Und die anderen Dämonen?“, fragte Kovu. „Also die in den Rajaebenen?“

„Was soll mit ihnen sein?“, wollte Chana wissen.

„Na, wir brauchen doch jeden Dämon, den wir kriegen können, aber ich glaube kaum, dass die bis ins Rote Hinterland wandern werden.“

„Der Lockruf wird nicht so weit reichen“, erklärte Boudicca. „Natürlich wäre es hilfreich, wenn auch sie kommen würden, aber im Moment müssen wir uns an die halten, die wir erreichen können.“

Da stellte sich doch nur noch die Frage: Würden diese Dämonen auch ausreichen?

 

°°°°°

Tag Siebenundzwanzig

 

Knarrend stöhnten die Bretter unter meinem Gewicht. Nicht, dass ich plötzlich die Maße eines Elefanten angenommen hatte, die Ladefläche der Kutsche war einfach sehr alt. Na ja, nicht nur die Ladefläche. Schon der erste Blick auf dieses Fahrzeug hatte mich daran zweifeln lassen, ob wir es damit überhaupt aus der Burg hinausschaffen würden. Zu meinem Erstaunen hatte es die bisher zweitägige Fahrt überlebt und schien nicht gewillt, in den nächsten Minuten einfach auseinanderzufallen – auch wenn es so aussah. Wahrscheinlich wurde die alte Kutsche von irgendeinem Zauber zusammengehalten.

Suchend schob ich eine weitere Kiste auf der Ladefläche zur Seite und hoffte, dort auf Seraphines Schuh zu treffen. Auf der Fahrt hatte sie ihn noch gehabt. Dass er fehlte, war mir erst aufgefallen, als wir begonnen hatten, unser Lager für die Nacht aufzubauen.

Mittlerweile schlief mein Phinchen, aber sie konnte schließlich nicht ohne Schuhe herumlaufen.

Seufzend ließ ich mich auf die Fußballen zurücksinken und schaute zu den Zelten hinüber. Vier Stück, alle von den Hexen bewohnt. Meine Familie hatte sich nicht die Mühe gemacht, ein befestigtes Lager für sich zu errichten. Unter freiem Himmel schlief es sich schließlich auch ganz gut.

Etwas mehr als zwei Tage waren wir nun unterwegs. Noch am Tag unserer Entscheidung hatten die Hexen vier riesige kohlrabenschwarze Laufvögel mit mörderisch langen Schnäbeln aus ihren Ställen geführt und sie vor die Kutschen gespannt. ‚Negru‘ hatten die Hexen dieses Geflügel mit dem seidigen Kamm auf dem Kopf genannt. Wenig später schon waren wir unterwegs gewesen. Und was wir bisher gesehen hatten … Nicht einmal in meinen Albträumen hätte ich das voraussehen können. Die Zerstörung war bereits so weit vorangeschritten, dass ich kaum noch etwas wiedererkannte. Chaos, Verwüstung  und Verfall.

Das Gebiet rund um die Stadt war nun ein düsteres Moor. Mehr als einmal waren wir in dem Schlamm stecken geblieben, und das war auch der Grund, warum wir jetzt nur noch drei Kutschen hatten, obwohl wir mit vier losgefahren waren. Wenigstens hatte niemand von uns dabei Schaden genommen.

Nach dem Moor waren wir in den Wolfsbaumwald gelangt, und dort war es wirklich unheimlich gewesen – noch mehr als beim ersten Mal. Die Bäume waren zum Leben erwacht. Sie hatten versucht nach uns zu greifen und uns in ihr Inneres zu ziehen. Askea hatte den halben Wald abbrennen müssen, damit wir gefahrenlos durchkamen. Doch dann hatten die Bäume angefangen zu schreien und der Boden war aufgebrochen. Dampffontänen waren in die Luft geschossen, roter Nebel hatte über der Erde gehangen. Und alles war so still gewesen. Das Gruseligste an all dem war diese undurchdringliche Stille gewesen.

Im Wald hatte es kein Geräusch mehr gegeben. Nicht einmal unsere eigenen Stimmen waren zu hören gewesen.

Als wir die Schlucht erreicht hatten, die durch das Gebirge führte, war das eine Erleichterung gewesen, und das, obwohl dort aus jeder Spalte und jeder Ritze seltsame Käfer gekrabbelt waren, die den Stein um sich herum verspeist hatten. Sowas hatte ich noch nie gesehen und sowas wollte ich auch nie wiedersehen.

In der Dämmerung hatten wir dann endlich die Ausläufer des Gebirges erreicht und uns einen Platz zum Lagern für die Nacht gesucht.

Jetzt hatte uns das Rote Hinterland endlich wieder. Über uns funkelte ein Meer aus tausenden von Sternen und vor mir, weit bis zum Horizont, erstreckte sich die endlose Weite der Wüste. Wenn man nicht zu genau hinsah, konnte man sich fast einbilden, es wäre alles wieder wie früher.

Den Gedanken abschüttelnd, räumte ich einen Beutel zur Seite, stockte aber sofort, als vor mir eine kleine Ascheflocke vorbeiflog. Sie schwebte einfach so in der Luft und löste sich im nächsten Moment in Nichts auf. 

Leider war das keine Ascheflocke.

Zum ersten Mal hatte ich dieses Phänomen gestern gesehen, als wir gerade Pause gemacht hatten. Seraphine war herumgerannt und hatte Steine gesammelt, die sie mir dann freudig präsentiert hatte. Unter dem kleinen Haufen war ein grauer Stein gewesen. Zuerst war er mir gar nicht weiter aufgefallen, doch als Seraphine ihn mir unter die Nase gehalten hatte, hatte sich von ihm plötzlich die oberste Schichte abgelöst. Nur ein kleines bisschen, hauchdünn und kaum zu bemerken. Es hatte sich einfach abgelöst, war eine Weile in der Luft geschwebt und dann zu nichts zerfallen.

Ich hatte mir nichts weiter dabei gedacht, aber es war nicht das letzte Mal gewesen, dass mir dieses Mysterium vor die Augen gekommen war. Seitdem sah ich es immer wieder und überall. Kleine, hauchdünne Teilchen, die sich aus allem, was greifbar war, lösten, durch die Luft schwebten und dann einfach zerfielen, so als würde die Welt sich nach und nach einfach auflösen.

Der Zerfall hat begonnen, war das, was Boudicca dazu gesagt hatte.

Ich konnte ihr nur zustimmen. Und ich musste ehrlich gestehen, dass es mir Angst machte. Wenn die Welt sich jetzt schon auflöste, was würde dann als nächstes geschehen? Oder viel wichtiger: Konnten wir es noch aufhalten?

„Was machst du da?“

Nein, ich zuckte bei Askeas Stimme nicht zusammen, es war schon mehr ein Hüpfen, bei dem ich mir auch noch das Knie stieß. Aua. „Musst du dich so anschleichen?“

„Es ist gut zu wissen, dass ich es noch kann.“

Blödmann.

„Also, was suchst du?“

„Phinchens Schuh. Sie muss ihn irgendwo auf dem Karren verloren haben.“

„Nein, hat sie nicht.“

Ich ließ den Beutel sinken. „Du weißt, wo ihr Schuh ist?“

„Sie hat ihn verbrannt. Als wir in der Schlucht waren.“

Na super. Dann war es ja auch kein Wunder, dass ich ihn nicht finden konnte. „Und wo bekomme ich jetzt einen neuen Schuh her?“ Hier in der Wüste wuchsen die schließlich nicht gerade an Bäumen.

Askea trat an die Ladefläche der Kutsche und hielt mir auffordernd die Hand hin. „Der Sand ist weich. Sie kann ohne Schuhe laufen.“

„Ja, aber der Sand wird furchtbar heiß.“ Ich nahm seine Hand und sprang mit seiner Hilfe vom Wagen. „Sie wird sich die Füße verbrennen.“

„Sie ist ein Rubin, Tia. Ihr liebstes Spielzeug ist zurzeit Feuer.“

Ähm … ja, okay, verstanden. „Aber sie könnte sich Steinchen eintreten“, murmelte ich noch, um meine Suchaktion nicht als völlig unnütz abtun zu müssen.

Askea lächelte nicht, was mich nicht weiter verwunderte, da er das sowieso nur äußerst selten tat. Doch er tat etwas anderes, das mich fast genauso sehr umhaute. Seine Hände legten sich auf meine Wangen, dann beugte er sich vor und küsste mich.

Die erste Berührung war so zart, dass ich sie kaum spürte. Die zweite zögernd, als wüsste er noch immer nicht ganz genau, was er da tat. Dann schaute er mich einfach nur an.

Mein Mundwinkel zuckte nach oben. „Wofür war das?“

In seinem Gesicht zeichnete sich keine Belustigung ab. Es war ernst, ruhig, beinahe stoisch. „Das letzte Mal blieb mir nicht die Zeit, mich von dir zu verabschieden. Das wird mir kein zweites Mal passieren.“

Wie bitte?! Mein Lächeln verblasste. „Ich glaube, mir gefällt die Richtung, in die dieses Gespräch führt, nicht mehr.“

„Ich habe dich vermisst, Tiara“, flüsterte er. „Mehr als einmal habe ich darüber nachgedacht, dir durch den Spiegel zu folgen, nur um noch einmal dein Gesicht zu sehen, aber ich konnte es nicht. Ein Leben ohne meine Magie … Es wäre nur ein halbes Leben.“

„Selbst mit mir an deiner Seite?“

Dazu schwieg er, was sowohl als ‚Ja‘ wie auch als ‚Nein‘ interpretiert werden konnte.

„Es ist nicht der Verlust deiner Magie, die dich hier hält“, flüsterte ich. „Du fürchtest dich einfach vor dem Unbekannten.“

Seine Oberlippe hob sich ein wenig.

„Ich weiß, du willst das nicht hören, und ich kann auch verstehen, dass dich das Unbekannte ängstigt, aber es hat sich nichts geändert. Nach wie vor gilt: gemeinsam oder gar nicht. Ich werde dich nicht in einer sterbenden Welt zurücklassen, nur weil du deiner Angst nicht begegnen willst.“

Jetzt bleckte er nicht nur die Zähne, sondern grollte mich auch noch an. „Du wirst gehen. Wenn es Zeit wird, sollst du in Sicherheit sein.“

„Nur mit dir zusammen.“ Ich konnte mindestens genauso stur sein wie er.

Die Luft um ihn herum erwärmte sich leicht. „Du wirst gehen“, knurrte er.

Darauf brauchte ich nichts mehr zu erwidern.

„Ich befehle dir zu gehen!“, fauchte er mich an.

„Na, dann befehle mal weiter, aber denk daran, an mir wirst du dir die Zähne ausbeißen!“ Mehr gab es dazu nicht zu sagen.

Das Geräusch, das er von sich gab, war schon beinahe ein Wutgeheul. Im nächsten Moment hatte er mir die Hexenrobe von der Schulter gerissen und brannte mich mit einer solchen Intensität, dass ich nach Luft schnappte und mich an ihm festklammern musste, denn plötzlich schienen meine Beine aus Wackelpudding zu bestehen.

Ein Seufzen der Verzückung kroch mir über die Lippen, während er sich gegen mich presste. Falls er glaubte, mich so zum Gehen zu bewegen, dann hatte er sich aber getäuscht. Das spornte mich erst recht an, in seiner Nähe zu bleiben.

Viel wahrscheinlicher war es aber, dass er so seine Verzweiflung zum Ausdruck brachte. Das war sein Weg, über mich zu herrschen und wenigstens den Anschein zu erhalten, dass die Dinge ihm nicht völlig entglitten.

Ich war so auf Askea und seine Magie konzentriert, dass ich die näherkommenden Schritte nicht hörte. Auch Askea wurde auf den Eindringling erst aufmerksam, als er aus heiterem Himmel „Aber natürlich!“ rief.

Dann ging alles ganz schnell. Askea wirbelte herum und stieß eine Feuerlohe in Richtung der Stimme. Boudicca schaffte es gerade noch so, die Arme hochzureißen und den Angriff abzuwehren. Das Feuer prallte an ihrem Zauber ab, schlug nutzlos in den Felsen hinter der Kutsche und ließ die Negrus nervös in der Erde scharren.

Und Boudicca? Die stürzte einfach nur auf uns zu und schien vor Freude gleich platzen zu wollen. Ihr war es völlig egal, dass sie Askea so sehr erschreckt hatte, dass er sie sogar angegriffen hatte.

„Jetzt weiß ich es!“, erklärte sie begeistert und versuchte an Askea vorbei zu mir zu gelangen, ohne ihn weiter zu beachten. „Es ist das Brennen!“

„W-was?“ Ich hielt Askea am Arm fest, als er Boudicca wegstoßen wollte, und zog ihn ein wenig zur Seite. Es war besser, wenn ich zwischen den beiden stand. „Was ist mit dem Brennen?“

„Natürlich habe ich es vorher nicht erkennen können, einfach, weil ich nicht alle Puzzleteilchen hatte, aber jetzt sehe ich es ganz deutlich.“

Ich verstand immer noch nur Bahnhof.

In der gleichen Manier wie Askea riss sie mir einfach die Hexenrobe von der Schulter.

„He!“

„Darum wirst du nicht mehr krank.“ Staunend besah sie sich das kleine, runde Brandzeichen. „Das muss es sein.“

„Ähm … Könntest du mich jetzt bitte wieder loslassen?“ Bevor Askea auf die Idee kommt, dich einfach in den Dreck zu schubsen? Der sah nämlich gerade nicht sehr glücklich aus.

Boudicca ließ von mir ab und strahlte mich an. „Ist dir eigentlich bewusst, was geschieht, wenn Askea dich brennt?“

Ähm … War das eine Fangfrage? „Du meinst auf magischer Ebene?“ Ich zog die Robe wieder über meine Schulter.

„Ja, die magische Ebene.“ Sie starrte meine Schulter an, als würde sie durch den Stoff hindurchschauen können.

„Das Brennen sorgt dafür, dass es eine psychische Verbindung zwischen uns gibt.“

„Es ist viel mehr als das.“ Sie hob die Hand, als wollte sie mich berühren, hielt dann aber wieder inne. „Ich würde dich gerne einmal untersuchen. Wenn du es erlaubst.“

Oh je. Ich erinnerte mich sehr genau daran, was das letzte Mal geschehen war, als diese Worte ihren Mund verlassen hatten. „Wollen Sie mir wieder erklären, dass ich sterbenskrank bin?“

Askea knurrte.

„Aber nein“, lächelte Boudicca. „Nein, ich will nur sehen, wie deine Magie aussieht.“

Irgendwie bereitete mir das kein besseres Gefühl. „Wenn Sie schlechte Nachrichten haben, dann behalten Sie die aber bitte für sich, okay?“

„Aber natürlich.“

So wie sie das sagte, glaubte ich ihr kein Wort. Dennoch hielt ich ganz still, als sie die Hände hob und begann, mit geübten Bewegungen Zeichen in die Luft zu malen. Ihre Finger skizzierten komplizierte Muster, die nach ihrer Fertigstellung aufglühten und auf mich zuflogen. Ihre Bewegungen waren so schnell, dass es nur wenig Zeit in Anspruch nahm, bis ich von leuchtenden Runen nur so umgeben war. Manche streiften mich, ließen meine Haut kribbeln und verpufften dann. Andere drangen in meinen Körper ein und ließen ihn vor Energie summen. Und wieder andere zogen einfach nur ihre Bahnen um mich herum.

Boudiccas Augen waren geschlossen. Ein Ausdruck äußerster Konzentration mit einem Hauch von Staunen.

Ich musste nicht fragen, um zu wissen, was sie da tat. Sie durchleuchtete mich und meine Magie.

„Erstaunlich“, flüsterte sie. „Absolut erstaunlich.“

„Ist das gut oder … schlecht?“ Das letzte Wort kam mir etwas zögerlich über die Lippen.

„Es ist ein Wunder.“ Sie klatschte in die Hände und ließ den ganzen Zauber damit einfach verpuffen.

„Ein gutes Wunder, wie ich hoffe.“

„Ja und nein.“ Sie kaute einen Moment auf ihrer Unterlippe, als müsste sie ihre Gedanken erstmal ordnen. „Du bist nicht mehr krank, Tiara, aber du bist auch nicht geheilt.“

„Äh … okay.“ Oder?

Boudicca lächelte. „Es ist ein wenig seltsam. Deine Magien scheinen sich immer noch gegenseitig bekämpfen zu wollen, aber es gelingt ihnen nicht.“

„Aha.“ Ja, ich war ein Pfuhl an Weisheit.

„Die Membrane, die deine Magien voneinander getrennt hat, wurde auf einzigartige Weise repariert. Aber es ist keine klare Linie, sondern viel mehr einzelne Flecken, die alle ihre eigene Membrane haben. Du musst dir das so vorstellen, als wäre deine Magie viele kleine Schmetterlinge, und jeder einzelne dieser Schmetterlinge befindet sich in seinem eigenen schützenden Kokon. Du beherbergst ein Meer aus Schmetterlingen, doch keiner kommt an den anderen heran.“

Dieses Bild war irgendwie leicht verstörend. Ein Körper angefüllt mit kleinen, geflügelten Insekten. Ähm, nein, das wollte ich mich nicht wirklich vorstellen. „Und wie ist das passiert?“

„Es muss durch das Brennen geschehen sein.“

„Aber Askea hat mich auch früher schon gebrannt. Damals hat es mir nicht geholfen.“

„Du meinst bei deinem ersten Besuch in der magischen Welt?“ Boudicca brauchte keine Antwort darauf, sie war schon wieder in ihre Gedanken versunken. „Du warst schwanger von ihm, oder?“

Ich nickte.

„Das bedeutet, du warst mindestens neun Monate ununterbrochen seinen Genen ausgesetzt.“

Na, das hörte sich jetzt aber nicht sehr nett an.

„Es ist nur eine Theorie, aber ich glaube, es hängt damit zusammen. Während der Schwangerschaft gibt der Embryo Abfallprodukte von sich, die über die Nabelschnur in die Plazenta geleitet werden. Dort hat auch dein Körper Zugriff darauf. Es scheint fast so, als sei deine Physiologie durch die Schwangerschaft dauerhaft verändert worden. Die Membrane hat sich auf unkonventionelle Art regeneriert und bietet somit nun einen doppelten Schutz. Und immer wenn Askea dich brennt, wird er erneuert und verstärkt.“

„Da heißt, Askea ist meine Medizin?“

Das ließ meinen drakonischen Dämon aufhorchen.

„Solange er bei dir ist, kann dir nichts geschehen.“ Nachdenklich tippte sie sich mit dem Finger gegen das Kinn. „Das würde auch erklären, warum deine Tochter kerngesund ist, obwohl sie doch ein Mischling ist.“

Seraphine? Um ehrlich zu sein, hatte ich darüber nie nachgedacht.

„Es muss daran liegen, dass ihr die Obelisken seid“, erklärte sie Askea. „Ihr seid zu Dingen fähig, die keinem anderen Wesen zu eigen sind.“

„Das ist dann wohl auch der Grund, warum ich und auch Seraphine noch unsere Erinnerung besitzen, obwohl wir durch den Spiegel gegangen sind.“

„Ja, natürlich.“ Boudicca klatschte lachend ihre Hände zusammen. „Du und deine Tochter, ihr seid ein magisches Wunder. Du warst vorher schon so mächtig, jetzt brauchst du wahrscheinlich nicht einmal mehr das Zeichen der Hexen, um ein Portal zu passieren. Und die wilde Magie …“ Sie stockte einen Moment. „Vielleicht bist du nun selbst zum Stützpfeiler dieser Welt geworden.“

Na, das bezweifelte ich dann aber doch, aber es war schmeichelhaft, dass sie mir das zutraute.

„Tiara, du bist nun etwas ganz Besonderes.“

„Ja“, sagte ich und schaute zu Askea auf. „Aber nur zusammen mit ihm.“ Denn er war es, der mich zu etwas Besonderem, zu etwas Einzigartigem machte. Und ich wollte niemals etwas daran ändern.

„Sie war schon immer etwas Besonders“, knurrte Askea, als wollte er hier keine falschen Schlüsse zulassen.

Boudicca lachte herzlich, und auch ich musste lächeln.

 

°°°°°

Tag Neunundzwanzig

 

Oh mein Gott, das war doch wohl ein schlechter Scherz!

Die klare Linie des weiten Horizonts wurde von eingefallenen Mauern und halb unter Sanddünen verborgenen Häusern durchbrochen. Das war bereits vor Stunden vor uns aufgetaucht, doch erst jetzt wurde mir bewusst, auf was wir uns hier zubewegten.

Als Saana von einem geeigneten Ort im Roten Hinterland gesprochen hatte, wäre ich niemals auf den Gedanken gekommen, ausgerechnet hier zu landen.

Was da vor uns aufragte, war ein Ort, an dem wohl hunderte von Dämonen ihr Leben gelassen hatten. Die Oase des Todes, der Tempel Sandbrach.

Askeas früheres Zuhause.

Unter uns rumpelte die Kutsche über den weichen Sand. Die Negrus schienen keinerlei Probleme zu haben, sich auf dem losen Boden fortzubewegen und uns unaufhaltsam zu unserem Ziel zu bringen.

Auf der vordersten Kutsche fuhren Boudicca, Saana und drei ihrer Schwestern und führten unseren kleinen Konvoi an. Meine Schwester, ihr Verlobter und Kovu fuhren zusammen mit zwei anderen Hexen auf dem mittleren Wagen. Die Junghexe Faye war unter ihnen. Das Schlusslicht bildeten wir mit einer recht nervösen Hexe auf dem Kutschbock. Die Tatsache, dass sie mit den Dämonen fuhr, beunruhigte sie trotz der vier Tage, die wir schon gemeinsam unterwegs waren, noch immer.

Das Einzige, was mich jedoch beunruhigte, war im Moment unser Zielort und Askea neben mir. Seit Sandbrach am Horizont aufgetaucht war, hatte er keinen Ton mehr von sich gegeben. Er hatte sich nicht einmal mehr bewegt. Er starrte nur die Ruinen des Tempels an, als könnte er sie allein durch seine Willenskraft verschwinden lassen.

„Ich kann mit Saana reden“, sagte ich leise, und das nicht nur, damit Phinchen bei ihrem Mittagschlaf neben mir nicht gestört wurde. „Wir werden einen anderen Platz für das Ritual suchen.“

„Dafür ist keine Zeit.“ Er fixierte das zerklüftete Land. Der Boden war voller Kerben und Spalten, in denen es immer wieder rumorte. Der rote Sand war zu einem verwaschenen Orange verblichen, das einen kränklichen Eindruck machte. Unter den wenigen, noch übrig geblieben Sandwehen bewegte sich immer mal wieder etwas. Das war unheimlich.

Und dann waren da noch die Ascheflocken. Die kleinen, dicken Partikel flogen nun vermehrt durch die Luft. Wo ich gestern vielleicht zwei in einer Stunde gesehen hatte, konnte ich nun jederzeit welche finden. Ich musste mich nur einmal umschauen und sie waren da.

Nein, Askea hatte Recht. Auch wenn es mir nicht passte; wir hatten wirklich keine Zeit, einen anderen Platz zu suchen. Das gefiel mir gar nicht. Wie hatte Saana nur von diesem Ort erfahren? Wusste sie um die Bedeutung der Ruinen? Wenn ja, wäre das ein grausames Spielchen, das sie hier spielte.

Ich griff nach Askeas Hand, während wir den Überresten des alten Tempels immer näherkamen. Er erwiderte den Druck nicht, schüttelte mich aber auch nicht ab.

Unaufhaltsam näherten wir uns unserem Ziel. Vor uns auf der Kutsche lachten Talita und Kovu ausgelassen, ich dagegen wurde immer angespannter. Es waren vielleicht noch zwei Kilometer, die uns vom Tempel trennen. Kurz darauf war es nicht einmal mehr einer.

Nur noch ein paar hundert Meter.

Die halb eingestürzten Tempelmauern aus ausgeblichenem Sandstein ragten vor uns auf. Was nicht durch den Zahn der Zeit zerstört worden war, war durch hohe Sandwehen verschüttet worden. Nur wenige Teile der einstigen Außenmauer waren noch als solche zu erkennen. Genau wie die Risse und Kerben, mit denen sie durchzogen waren.

Da Sanna scheinbar nicht wusste, wo sich der Eingang befand, fuhren wir halb um die Anlage herum, bevor wir auf das alte, zerfallene Tor stießen, dass uns ins Innere einlud.

Bei meinem letzten Besuch hier hatte es noch ein schmiedeeisernes Tor gegeben, das verbogen neben den eingestürzten Säulen gelegen hatte. Als ich nun hinter den anderen Kutschen in den Tempel einfuhr, war von früheren Schmuckstücken nichts mehr zu sehen und auch die zweite Säule, die den Eingang markiert hatte, war verschwunden.

„Es ist so still“, flüsterte Fax. Seine Augen tasteten wachsam jedes Gebäude ab, an dem wir vorbeifuhren. Häuser aus verblichenem Sandstein, rissige und bröckelnde Fassaden und eingesunkene Dächer.

Eines jedoch war seltsam. Und nein, damit meinte ich nicht das unheimliche Heulen des Windes, der gespenstisch zwischen den Gebäuden umherschlich und Türen und Fenster in den Angeln quietschen und knarren ließ. Es war der Sand.

Wo sich an der Mauer noch meterhohe Sandwehen gestapelt hatten und kaum einen Blick dahinter gestatteten, fehlte er im Innersten. Bei meinem letzten und einzigen Besuch an diesem Ort war die ganze Tempelanlage quasi unter dem Sand der Wüste begraben gewesen. Nun war er nur noch an den Rändern und in den Schatten zu finden. Es war, als wäre er weggeweht worden, um das vergessene Dorf der Welt zurückzugeben.

Das war noch unheimlicher als diese drückende Stille.

„Habt ihr das gesehen?“, fragte Fax plötzlich.

Askea sprang halb auf die Beine und starrte in die Richtung, in die Fax zeigte.

„Da hat sich etwas bewegt“, fügte er noch hinzu.

Ähm … das fand ich nicht gut. „Bist du dir sicher? Vielleicht haben deine Augen dir ja nur einen Streich gespielt.“ Hey, es war heiß, die Reise hatte uns erschöpft und Kinder hatten bekanntlich eine blühende Phantasie. Da war diese Überlegung also gar nicht so weit hergeholt.

Fax schien beinahe beleidigt, dass ich sowas auch nur gedacht hatte. „Ich bin mir sicher. Da hat sich etwas bewegt, und das war sicherlich kein Tier.“ Er schaute wieder in die Richtung. „Dafür war es zu groß.“

Wie beruhigend – ja, in so einer Situation durfte ich auch mal sarkastisch sein.

„Ich werde mal nachschauen“, erklärte Askea und schwang sich mitten in der Fahrt einfach vom Karren. Zum Glück brachten wir gerade mal fünf Kilometer die Stunde auf den Tacho. Gleich darauf war er zwischen den Gebäuden verschwunden und wir bewegten uns weiter auf die Ortsmitte zu.

Das gefiel mir immer weniger.

Unruhig verlagerte ich mein Gewicht. Die Gebäude waren heruntergekommen und zerstört. Alles was ich hier zu sehen bekam, wirkte alt und verlassen. Aber wirklich irritierend fand ich das Fehlen des Sandes.

Vor uns teilte sich die Gasse und weitete sich zu einem großen, kreisrunden Platz, dessen Boden mit dem wunderschönen Mosaik einer exotischen Blume aus bunten Scherben geschmückt war. Es nahm den kompletten Platz ein und auch hier gab es nicht ein einziges Sandkorn. Dafür schwebten hier aber vermehrt diese Aschepartikel durch die Luft.

Die vorderste Kutsche hielt auf dem Kunstwerk, die zweite direkt daneben.

Unsere rumpelte noch ein Stück vorwärts, bevor die Hexe ihren Negru zügelte und die Bremse anzog.

Ich zögerte einen Moment mit dem Aussteigen und beobachtete in Ruhe, wie die anderen in reges Treiben ausbrachen. Die Hexen auf der ersten Kutsche waren bereits abgestiegen und begannen mit dem Abladen ihrer Sachen. Auch Kovu und Veith schwangen sich von der Ladefläche. Der kleine Bruder begann sogleich damit, die Umgebung neugierig zu mustern, während der große meiner Schwester herunterhalf.

Boudicca ließ einmal den Blick schweifen und nickte dann zufrieden. „Der Platz ist gut. Säubert das Mosaik und beginnt mit den Vorbereitungen.“

Bei so viel Betriebsamkeit erhob nun auch ich mich und kletterte hinunter. Dabei konnte ich nicht verhindern, dass mein geistiges Auge mir die Bilder der Vergangenheit präsentierte – und zwar in all ihren grausamen Einzelheiten.

Abbilder der Vergangenheit, die geisterhaft durch die Straßen liefen. Männer, Frauen und Kinder, ganze Familien. Drei Dämonen, die in dieses idyllische Paradies eindrangen. Blut, das durch die Straßen floss, und Tod hinter jeder Ecke. Das war es, was Amir und Kiran mir hier einst gezeigt hatten. Und das waren die Bilder, die sich nun nicht mehr vertreiben lassen wollten.

„Mamá?“, fragte Fax.

Ich schaute zu ihm auf. „Ja?“

„Was ist mit Seraphine?“

„Lass sie schlafen, sie braucht das.“

„Gut, dann pass ich auf sie auf.“

Seine Worte ließen mich lächeln, genau wie die Tatsache, dass er sich schützend wie ein Pitbull neben seine Schwester setzte und alle wachsam im Auge behielt. Ganz der Vater. „Achte bitte darauf, dass sie nicht in der Sonne liegt.“

„Mach ich.“

Ich kehrte dem Treiben auf dem Mosaik einen Moment den Rücken zu und hielt nach Askea Ausschau. Er war immer noch zwischen den Häusern verschwunden.

Talita trat neben mich, während ihre beiden Wölfe durch ein Fenster in ein Haus spähten. „Der Ort ist irgendwie seltsam.“

„Dieser Ort ist eine Hinrichtungsstätte. Saana hätte keine schlechtere Wahl treffen können.“

Meine Schwester blinzelte und krauste dann die Stirn. „Eine Hinrichtungsstätte?“ Sie schaute sich um, als würde sie erwarten, einen Haufen Leichen vorzufinden. „Wie meinst du das?“

„Die Jäger haben hier immer die Dämonen hingebracht, um sie zu töten. Genau auf diesem Platz sind hunderte von ihnen gestorben.“

Talita wurde eine Spur blasser um die Nase und ihre Stimme bekam mal wieder diesen fiependen Minnie-Mouse-Ton. „Und jetzt wollen wir die noch Lebenden hierher locken?“

Ich nickte.

„Hältst du das für eine gute Idee?“

„Nein. Aber wir haben keine Zeit mehr, woanders hinzufahren.“ Ich drehte mich wieder zu den Hexen um. „Ich würde nur gerne wissen, woher Saana diesen Ort kennt.“

„Vielleicht von ihrer Tante? Die war doch bei den Jägern.“

„Das war nicht ihre Tante, das war ihre kleine Schwester.“ Und es war wahrscheinlich die Antwort auf die Frage. Asha könnte Saana von diesem Ort erzählt haben. Nur leider hatte sie dabei wohl ein paar Kleinigkeiten zu erwähnen vergessen.

„Wir sollten es ihr sagen.“

Ja, das sollten wir. „Ich werde mit ihr sprechen.“

Saana stand bei einer Gruppe von drei Hexen, unter denen sich auch Boudicca befand, und besprach gerade das weitere Vorgehen. Als ich zu ihr trat, wies die Junghexe Faye gerade darauf hin, dass wir die Kutschen vom Mosaik schaffen mussten. „Wir brauchen den Platz“, sagte sie. „Das Ritual nimmt bereits den ganzen Innenkreis ein und ihr müsst ja auch in der Blase stehen. Da ist für die Kutschen kein Platz mehr.“

Nein, ich verstand nicht genau, was sie da erklärte.

„Wir können eines der Häuser entfernen“, überlegte Saana. „Dann haben wir dort Platz für die Kutschen.“

„Aber wir können sie nicht mit in die Blase nehmen.“ Boudicca neigte den Kopf leicht. „Das würde zu viel Magie benötigen.“

„Dann müssen wir darauf hoffen, dass die Dämonen kein Interesse an den Kutschen haben.“

„Ungeschützt stehen lassen?“ Die Kutschbockführerin öffnete fassungslos den Mund. „Und wie sollen wir dann zurückkommen? Die Dämonen werden sich darauf stürzen!“

„Dämonen sind keine streitsüchtigen Hinterwäldler, die über alles herfallen, das ihnen in den Weg kommt“, gab ich zu bedenken.

Sie schnaubte nur abfällig. „Das sowas von dir kommt, war ja klar. Ich sage, wir nehmen ein Haus weg und legen ein Trugbild über die Karren, dann –“

Ein Feuerstrahl zischte ganz knapp an ihr vorbei. Sie schrie erschrocken auf, alle sprangen auseinander und ich wirbelte herum.

Am anderen Ende des Mosaiks stand eine menschliche Fackel. Askea war komplett in sein Feuer eingehüllt. Nein, er bestand nur noch aus seinem Feuer, und starrte die Hexen an, als wollte er sie zu Grillkohle verarbeiten.

„Was …?“, begann Saana.

„Ihr werdet hier nichts zerstören!“, fauchte Askea. „Wenn ihr hier irgendwas anfasst, werdet ihr alle brennen!“

Alle Hexen traten vor ihm zurück, nur ich nicht; ich machte einen Schritt auf ihn zu. „Askea.“

Er beachtete mich nicht. Drohend wie ein Dämon aus den Tiefen der Hölle stand er da, bereit, sein Feuer auf den Nächsten zu schleudern, der sich bewegte.

Ich spürte, wie die Hexen um mich herum ihre Magie sammelten und sich für einen Angriff bereitmachten. „Lasst das!“, fuhr ich sie an und trat weiter auf meinen Mann zu.

Nein, er war nicht grausam oder plötzlich durchgeknallt. Es ging auch nicht darum, wofür die Jäger diesen Ort genutzt hatten. Dies hier war einst sein Zuhause gewesen, ein Ort, an dem er glücklich gewesen war, akzeptiert und frei von jeder Gefahr. Dies war alles, was ihm von seiner Vergangenheit noch geblieben war, und die Hexen sprachen darüber, als wäre es eine wertlose Ruine, die man auch einfach von Erdboden tilgen könnte.

Es war sein Schmerz, den er uns hier zeigte, aber die Hexen würden das nicht verstehen, weil sie ihn einfach nicht so kannten wie ich. Es tat weh, ihn so zu sehen.

Immer weiter trat ich auf ihn zu. Uns trennten vielleicht noch zwei Meter, und schon jetzt spürte ich die Hitze der Flammen und wie sie nach Nahrung gierten.

„Askea, bitte.“ Ich machte noch zwei Schritte auf ihn zu.

Seine Flammen wichen vor mir zurück. Nein, das war nicht mein Verdienst, er machte das. Er würde mich nicht von sich stoßen. Und er würde mich nicht verletzen – niemals, nicht mit Absicht oder wenn er es verhindern konnte.

Ich streckte die Arme aus und griff nach ihm. Mein Instinkt schrie mir zu, den Rückwärtsgang einzulegen und vor den Flammen zurückzuweichen, aber wenn ich das tat, konnte die ganze Situation eskalieren, und das würde für niemanden schön enden.

Askea war von den letzten Wochen so frustriert und eingeengt, dass er ein Ventil brauchte. Und jetzt hier zu sein, machte das Ganze nur noch schlimmer für ihn.

„Sie werden das Haus nicht anrühren“, versprach ich, und zwang mich dazu, meine Hand auf seine Brust zu legen.

Die Haut war heiß und verbrannte mir fast die Finger, doch die Flammen erloschen. Erst nur die auf seiner Brust, doch je näher ich mich schob, desto weiter brannte sein Feuer herunter. Kurz bevor ich dann die Arme um seine Mitte schloss und meinen Kopf unter sein Kinn bettete, ging von ihm immer noch eine unglaubliche Hitze aus, doch sein Feuer erstarb einfach auf seiner Haut.

„Ich werde nicht erlauben, dass sie hier etwas kaputtmachen“, versprach ich ihm.

Askea rührte sich nicht. Er nahm mich nicht in die Arme, aber wenigstens stieß mich nicht von sich und stand nicht mehr im Begriff, die Schwesternschaft einfach niederzubrennen. „Am Ende der Straße gibt es eine große Stallung. Wenn sie noch nicht zerstört wurde, müsste dort genug Platz für die Kutschen sein.“

Die Hexen schauten zögernd, doch Boudicca nickte dankend. „Wir werden nachsehen.“

„Rührt nichts anderes an, geht nicht in die Häuser, lasst den Tempel in Frieden.“

„Ich verspreche es.“ Boudicca klatschte in die Hände. „Na los, die Damen, ihr habt den Herren gehört.“

Das hatten sie, aber es passte ihnen nicht. Egal ob er ein Obelisk war und die Rettung der Welt bedeuten konnte, er war immer noch ein Dämon. Jahrhundertelange Abneigung ließ sich in vier Tagen nicht einfach ablegen.

Askea schien nicht recht zu wissen, was er jetzt tun sollte. Sein Instinkt riet ihm, die Eindringlinge zu verjagen, aber im Moment musste er sie dulden. Kurzerhand löste er sich einfach von mir, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand hinter das nächste Haus.

Mist, das war nicht gut. „Askea“, rief ich und folgte ihm auf dem Fuße. So schnell wie er unterwegs war, kam ich ganz schön ins Schwitzen und sah gerade noch so, wie er in einem der Häuser verschwand.

Verdammt sollte Saana sein! Warum nur hatte sie uns ausgerechnet hierher führen müssen?

Ohne weiter auf meine Umgebung zu achten, trat ich eilig hinter Askea ins Haus. Meine Augen brauchten einen Moment, um sich an die schummerige Dunkelheit hier drinnen zu gewöhnen. Darum stieß ich auch einen überraschten Schrei aus, als man mich plötzlich am Arm packte und gegen die nächste Wand drückte. Ich spürte nur noch, wie die Hexenrobe von meiner Schulter gerissen wurde, und dann war ich erfüllt von Askeas Magie.

Keuchend drückte er mich gegen die Wand und presste seinen ganzen Körper gegen mich. Das war ein Überfall, sein Versuch, die Kontrolle zurückzuerlangen – wenigstens auf einer kleinen, unbedeutenden Ebene.

Ich spürte, wie er tastend meine Robe aus dem Weg schob und mich dann hochhob, um mich auf seine Hüften zu setzen. Ich war ihm hilflos ausgeliefert und genoss es, wie er die komplette Kontrolle an sich riss. In diesem Moment war ich seine ganze Welt und er regierte mich.

 

°°°

 

Wachsam glitt mein Blick zwischen dem geschäftigen Treiben der Hexen hin und her. Es war weniger eine Überwachung der Vorbereitungen auf das Ritual als vielmehr eine angehende Panik – nur eine kleine, aber sie war vorhanden. Natürlich wusste ich, wie wichtig unser Vorhaben war, und auch, dass sie Fax dazu brauchten, aber wir sprachen hier immerhin von meinem Kind. Was, wenn etwas schiefging? Was, wenn sie uns nicht die ganze Wahrheit gesagt hatten und es gar nicht so ungefährlich war, wie sie behauptet hatten? Ich war vielleicht eine der mächtigsten Hexen dieser Welt, aber ich war in der Magie nicht besonders bewandert und konnte beim besten Willen nicht sagen, welche Risiken hier wirklich auf Fax lauerten. Und so konnte ich nichts anderes tun als zuzuschauen, wie eine der Hexen mit Kreide ein Pentagramm auf den Boden zeichnete, während die zwei anderen Schutzbanne um den Mosaikplatz legten.

Und ich war hier auch nicht die Einzige auf dem Beobachtungsposten. Ein Stück weiter stand Talita mit ihren beiden Wölfen. Ihre Gesichter drückten eine Mischung aus Sorge und Hoffnung aus. 

Und Askea.

Er lehnte direkt neben mir an der Wand und schwieg sich aus. Seit unserer netten kleinen Begegnung in der Hütte vor einer halben Stunde hatte er keinen Ton mehr von sich gegeben und das machte mir mehr Sorgen, als wenn er hier wie ein verschnupftes Nashorn herumgetobt hätte. Gut, er war noch nie sonderlich mitteilsam gewesen – besonders nicht, wenn andere dabei waren, die ihn hören konnten –, doch diesem Schweigen haftete eine beunruhigende Note an, die mich immer nervöser werden ließ.

„Mamam!“, rief ein aufgeregtes Stimmchen, dann schlossen sich zwei kleine, pummelige Ärmchen um mein rechtes Bein und mein Engelchen strahlte mich in ihrer ganzen Pracht an.

Direkt hinter ihr kam Fax angeschlendert. Die beiden hatten sich auf Erkundungstour begeben. Wahrscheinlich wurde Fax auch langsam nervös. „Du musst das nicht tun, das weißt du, oder?“ Ich bückte mich, um Seraphine auf meinen Arm zu heben. Sofort nahm sie den Kragen meiner violetten Hexenrobe ein wenig genauer unter die Lupe und zupfte an einem losen Faden. „Keiner wird dich dazu zwingen.“

„Ich weiß.“

„Es ist ja auch nicht gerade ungefährlich.“ Ich schuckelte Seraphine ein wenig auf meinen Armen und war mir kaum bewusst, dass ich das nur tat, um mich selbst ein wenig zu beruhigen.

„Ja, ich weiß, die Hexen haben es mir schon erklärt.“

Stimmt, das hatten sie. „Wir können auch einfach losziehen und die Dämonen suchen. Das wäre viel sicherer.“

„Die Jagd auf Dämonen findest du sicherer?“

Na, wenn er das so ausdrückte. „Es ist einfach … Es kann so viel schiefgehen. Wenn dir nun etwas passiert, was soll ich dann –“

Aus heiterem Himmel nahm er mich in den Arm und drückte mich kurz an sich. „Ich kann das“, flüsterte er und nahm sofort wieder Abstand, als wäre es ihm unangenehm.

Um das mal festzuhalten: Ich zweifelte nicht an seinem Können oder gar an seinem Mut, ich fürchte mich einfach vor den Folgen dieses Zaubers. Eine Horde Dämonen zu rufen, war schließlich nicht gerade ein Zuckerschlecken. Niemand wusste mit Sicherheit, was geschehen würde. Der Lockruf wurde das erste Mal an einem Mortatia benutzt – na ja, einem ehemaligen Mortatia.

„Es wird alles gut gehen“, versicherte er mir. „Und dann können –“

„Fax?“, rief Boudicca und winkte ihn zum Pentagramm, wo sie mit fünf anderen Hexen auf ihn wartete.

Ein schiefes Lächeln für mich flog über sein Gesicht, bevor er sich zu ihnen gesellte. Auch wenn er sich dazu bereit erklärt hatte, die Nähe der Hexen behagte ihm nicht. Ich sah es an seinen angespannten Schultern und dem misstrauischen Zug um seinen Mund. Seine ganze Haltung strömte Argwohn aus.

Boudicca tat so, als würde sie es nicht bemerken. „So, dann pass mal auf. Du wirst dich gleich in die Mitte setzen. Mach es dir bequem, du wirst nämlich eine ganze Weile dort verharren müssen.“

Er nickte.

„Am besten schließt du die Augen und konzentrierst dich nur darauf zu atmen. Wenn du einschläfst, ist das nicht schlimm, ganz im Gegenteil. Vielleicht könntest du dich ja auch selbst in eine Art Trance versetzen. Weißt du, wie das geht?“

Kopfschütteln.

„Na ja, dann muss es eben so gehen. Also, wie gesagt, konzentrier dich einfach auf deine Atmung, mehr hast du nicht zu tun.“

Sitzen und atmen. Hörte sich nicht wirklich gefährlich an.

„Gut, dann brauchen wir jetzt noch dein Blut.“

Blut?! Ich richtete mich kerzengrade auf. Wenn sie jetzt ein Messer zog, würde ich der großmütterlichen Lady alle Knochen brechen.

Nein, sie zog kein Messer. Und auch keine Axt oder sonst einen scharfen Gegenstand, der zum Malträtieren unschuldiger Wesen und kleiner Kinder benutzt wurde, wie meine Phantasie es mir gerade in all seinen bezaubernden Einzelheiten vorgaukeln wollte. Was sie aus ihrer Tasche zu Tage förderte, war nichts weiter als eine kleine Nadel.

„Ein Tropfen für jede Hexe.“ Sie hielt ihm die Nadel hin und wartete, bis er sie zögernd ergriff. „Damit sie einer Verbindung zu dir aufbauen können.“

Sein Blick huschte unsicher zu mir, bevor er sich dann einen kurzen Moment an seinen Vater wandte. Erst als dieser steif nickte, stach sich Fax mit der Nadel in den Zeigefinger. Er zuckte nicht zusammen, das tat ich für ihn. Dann stand er etwas verloren da und wusste nicht recht weiter.

Faye trat mit einem vorsichtigen Lächeln vor und hielt ihm die offene Handfläche hin. „Einfach da rein. Ein Tropfen reicht.“

Er streckte den Finger aus und ließ einen Tropfen seines Blutes in ihre Hand fallen. Das wiederholte er bei den nächsten drei Hexen. Bei der letzten musste er sich ein weiteres Mal in den Finger stechen, da der Fluss zum Versiegen gekommen war. Ich zuckte wieder für ihn zusammen, da er sich die Mühe scheinbar nicht machen wollte.

„Gut.“ Boudicca deutete auf das Pentagramm. „Nehmt eure Plätze ein. Alle anderen stellen sich bitte auf das Mosaik.“

Bewegung kam unter die Leute. Alle folgten Boudiccas Anweisungen, sogar Askea.

Er war immer noch so still.

„Saana, bitte errichte die Blase um uns herum.“

Blase? Also auch unter der Erde? „Braucht das nicht zu viel Magie?“, wollte ich wissen. „Eine Glocke über uns wäre doch viel einfacher.“

Boudicca lächelte mich nachsichtig an. „Ja, aber wir werden es mit Dämonen zu tun bekommen, von denen einige auch in der Lage sein werden, die Erde zu beeinflussen. Ich lege keinen Wert darauf, dass mir plötzlich der Boden unter den Füßen wegbricht.“

Ja, okay, das klang logisch. Ein wütender Smaragd sollte nicht unterschätzt werden.

„In den nächsten Stunden möchte ich, dass alle Hexen, die nicht am Ritual beteiligt sind, immer wieder Magie in die Blase fließen lassen, um sie zu verstärken. Ich habe keine Ahnung, inwieweit die Obelisken darauf Einfluss nehmen können, aber ich möchte kein Risiko eingehen.“

Ja, auch das klang vernünftig.

„Besonders von dir erwarte ich viel Magie, Tiara.“

Ähm … „Ich werde mein Bestes geben.“

„Gut. Dann beginnt.“

Saana und die gedrungene Hexe errichteten die Schutzblase um uns herum. Meine Aufmerksamkeit jedoch lag auf Fax.

Wie angewiesen, ließ er sich in der Mitte nieder, schlug die Beine unter und beobachtete die Hexen misstrauisch, die sich eine nach der anderen an den fünf Zacken des Pentagramms in den Schneidersitz fallen ließen. Sie murmeln Worte, zu leise, um sie zu verstehen.

Um mich herum begann die Magie zu pulsieren. Ich spürte, wie sie meine Haut streifte und für mich sang. Es war kein Laut, den man hören konnte, es war ein Gefühl.

Die fünf Hexen in der Mitte streckten langsam die Hände nach Fax aus, die offene Handfläche nach oben. Sie waren viel zu weit weg, um ihn berühren zu können, doch die Geste dahinter war klar: Hier ging es um meinen Sohn.

Nichts deutete auf etwas Magisches hin, jedenfalls nichts, was man mit dem Auge wahrnehmen konnte. Doch ich konnte den Zauber spüren und auch das Blut in den Händen der Hexen, das nach einer Verbindung zu Fax suchte.

Der Gesang der Hexen wurde nicht lauter oder schneller, doch er schien an Intensität zu gewinnen. Langsam verbanden sich sie Hexen mit der Essenz der Dämonen.

Fax schloss die Augen und atmete tief und gleichmäßig durch den Mund.

In diesem Moment schien eine unsichtbare Welle der Magie von ihm auszugehen. Sie überspülte uns wie eine … Na ja, wie eine Welle. Sie kroch in alle Richtungen, über das Tempelgelände, über die Mauer und verschwand in den Weiten der Wüste.

Eine zweite Welle folgte der ersten. Dann eine dritte. Und noch eine.

Neben mir gab Askea ein seltsames Geräusch von sich, halb Knurren, halb Seufzen, und wurde dann ganz starr. Er trat einen Schritt nach vorne, blieb dann stehen und starrte seinen Sohn an. Dabei war sein Blick irgendwie leer, so als wüsste er gar nicht recht, was er da tat.

Auch Seraphine wurde unruhig. Sie zappelte ein wenig und wollte zu Fax. Stumm streckte sie die Arme nach ihm aus, und als ihr klar wurde, dass sie jetzt nicht zu ihm konnte, starrte sie ihn einfach nur an. Sie blinzelte nicht einmal.

„Es funktioniert“, hauchte Saana. „Der Lockruf funktioniert.“

Schön für sie, doch leider beruhigte mich das nicht im Geringsten, denn meine ganze Familie schien plötzlich nicht mehr sie selbst zu sein.

„Dann können wir jetzt nur noch warten“, erklärte Boudicca und ließ sich an Ort und Stelle in den Schneidersitz fallen.

 

°°°

 

„Setz dich“, verlangte Talita.

Ich machte mir nicht einmal die Mühe, ihr einen Blick zuzuwerfen, dafür war ich viel zu beschäftigt damit, Gräben in den Boden zu laufen – immer um das Pentagramm herum.

Fax befand sich nun schon seit Stunden im Ritual. Stunden! Seit dem Betreten hatte er keinen Ton von sich gegeben, keine Bewegung gemacht und sogar die Augen geschlossen, als wollte er die Welt um sich herum ausschließen. Aber ich konnte sehen, welche Kraft es ihm abverlangte, dort hocken zu bleiben. Immer wieder zitterten seine Muskeln. Ein paarmal war sein Atem ins Stocken geraten und ihm anschließend viel zu hektisch über die Lippen gekommen. Sein Körper war trotz der Kälte der Nacht mit einer Schweißschicht bedeckt.

„Komm schon, Tia“, versuchte Talita es ein weiteres Mal. „Deine Rumrennerei hilft niemandem, sie macht uns nur nervös. Also setz dich bitte.“

Ich blieb stehen und funkelte sie an. „Tut mir leid, wenn ich dein Wohlbefinden störe, aber solange du keine eigenen Kinder hast, halt einfach die Klappe!“ Talita anzufahren war vielleicht nicht die feine englische Art, besonders da sie mir nur helfen wollte, aber im Moment war ich nicht ganz zurechnungsfähig. Genaugenommen stand ich kurz davor, das ganze Ritual zu sprengen.

Kovu duckte sich hinter Tal, während Veith mich mit einem Blick bedachte, den ich schon lange nicht mehr bei ihm gesehen hatte. Er vermittelte einem das Gefühl, gleich von ihm geschubst zu werden, und zwar in eine endlos tiefe Schlucht.

Für diesen Blick hätte ich ihn am liebsten auch noch angefaucht.

Ich lief eine weitere Runde und kam dabei ein weiteres Mal an Askea vorbei. Auch er hatte sich seit dem Beginn des Rituals nicht von der Stelle gerührt. Er stand einfach nur da und starrte seinen Sohn mit glasigem Blick an, als würde er auf etwas warten. Kein Muskelzucken, kein Blinzeln, so still. Es war unheimlich.

Wenigstens Seraphine hatte es nicht ganz so schlimm erwischt.

Genau wie ihr Vater konnte sie den Blick einfach nicht von Fax abwenden. Sie war müde und quengelig und sollte eigentlich bereits seit Stunden schlafen, aber der Zauber ließ das nicht zu. Ich hatte sie zwischen ein paar Decken zum Schlafen hingelegt, doch sie schloss ihre Augen einfach nicht. Stattdessen versuchte sie die Ascheflocken aus der Luft zu fangen und warf ihrem Bruder immer wieder Blicke zu, als wollte sie sich versichern, dass er noch da war.

Nach einer weiteren Runde stellte Boudicca sich mir in den Weg und brachte mich damit sehr wirkungsvoll zum Anhalten. „Du wirkst angespannt.“

Ach nee! Ich hielt den Mund und wartete lieber darauf, was sie zu sagen hatte.

„Vielleicht solltest du dich ein wenig ausruhen.“

Aber sicher doch. „Mir geht es gut.“

„Du machst uns aber nervös.“

Scheiß drauf. „Sollten Sie einmal in diese Situation geraten und jemand teilt Ihnen mit, dass Sie mit Ihrem Verhalten alle in den Wahnsinn treiben, dann denken Sie doch bitte an diesen Moment zurück und erinnern Sie sich daran, dass ich Sie nicht in den Orbit geschossen habe, obwohl mir im Moment sehr danach ist.“

Langsam kletterten ihre Mundwinkel hinauf. „Ich bezweifle doch sehr, dass ich jemals in eine solche Situation geraten werde.“

„Weil Sie sich niemals mit einem Dämonen einlassen würden?“

„Sag niemals nie.“ Sie zwinkerte mir zu. „Und nein, ich bin nur einfach zu alt für Kinder, also ist es ganz unmöglich, dass ich mich jemals in deinen Schuhen wiederfinden werde.“

Da war etwas Wahres dran. Ich seufzte. „Tut mir leid. Es ist nur einfach …“ Müde rieb ich mir über die Stirn. „Das ist nicht richtig.“

„Ich kann deine Sorge durchaus nachvollziehen, doch es hilft weder dir noch uns, wenn du alle verrückt machst. Auch wenn es schwer ist, du musst dich in Geduld üben.“ Fürsorglich legte sie mir eine Hand auf die Schulter und berührte dabei ausversehen Askeas Markierung.

Neben mir zog mein drakonischer Dämon die Oberlippe hoch und knurrte leise.

Boudicca zog eine Augenbraue hoch. „Na, sieh mal einer an.“ Sie nahm ihre Hand weg und legte sie dann ein weiteres Mal darauf.

Askea knurrte wieder, durchdringender. Er ließ Fax zwar nicht aus den Augen, doch er schien zu spüren, dass da jemand an meinem Brandmal war.

„Das ist ja interessant.“

Ich trat einen Schritt von ihr zurück. Es musste ja nicht sein, dass Askea unnötig gereizt wurde.

Boudicca musterte ihn eindringlich. „Er ist schon ziemlich besonders, selbst für einen Dämon.“

Du hast ja keine Ahnung wie besonders. „Das hört sich an, als würden Sie sich mit Dämonen auskennen.“

„Ich war früher mit ein paar befreundet. In den wilden Tagen meiner Jugend.“ Sie zwinkerte mir zu.

„Sie?“ Wirklich?

„Du klingst so erstaunt.“ Sie verschränkte die Arme locker vor der Brust und schaute in den nächtlichen Sternenhimmel, den Blick in eine lang vergessene Vergangenheit gerichtet. „Es waren zwei Smaragde, Aik und sein kleiner Bruder Vivan. Aik war damals ein wenig älter als ich, Vivan jünger.“ Ein Seufzen entwich ihren Lippen.

Also hatte mein Gefühl mich nicht getrogen. Ich hatte von Anfang an geglaubt, dass Boudicca schon einmal etwas mit Dämonen am Hut gehabt haben musste. „Was ist passiert?“

„Du meinst, wie ich sie kennengelernt habe? Sie haben sich zu viel zugemutet, als sie Jagd auf einen Felidae machten. Sie verfolgten ihn, doch plötzlich sahen sie sich dem ganzen Rudel gegenüber.“ Sie lächelte. „Ich habe ihnen den Hintern gerettet.“

Das erinnerte mich an meine erste Begegnung mit Askea. Ich hatte ihn nie gefragt, wie er in die Situation mit den Einhörnern gekommen war. Das sollte ich mal nachholen. „Nein, ich meinte, warum sind Sie nicht mehr mit ihnen befreundet?“

„Weil sie tot sind.“ Ihr Lächeln wurde zu etwas Traurigem.

Oh nein.

„Das zumindest nehme ich an. Ich habe nie einen Beweis dafür gefunden.“ Einen Moment lang verfiel sie in Schweigen. „Damals war ich gerade mal vierzehn Jahre alt und wir haben uns jeden Tag zur gleichen Zeit am selben Ort getroffen. Das ging weit über zwei Jahre so, aber eines Tages tauchten sie nicht mehr auf. Ich bin immer wieder dorthin gegangen und habe auf sie gewartet. Vergebens.“

„Das tut mir leid.“

„Das Schlimmste daran ist diese Ungewissheit. Anfangs habe ich mir noch eingeredet, dass es andere Dämonen waren, die sie fernhielten, vielleicht ihre Eltern. In der Zwischenzeit bin ich überzeugt davon, dass ihnen etwas zugestoßen sein muss. Aik hätte man vielleicht noch davon überzeugen können, dass es eine schlechte Idee war, sich mit einer Hexe zu treffen, aber Vivan hätte Berge versetzt, um mich zu sehen. Sie müssen tot sein.“

Wenn diese beiden so drauf gewesen waren wie die Dämonen, die ich kennengelernt hatte, dann konnte ich ihr nur zustimmen. „Vielleicht ein Unfall.“

„Vielleicht.“

Wir glaubten beide nicht daran. 

„Na ja, es ist schon viele Jahre her und gehört der Vergangenheit an. Jetzt müssen wir an die Zukunft denken und das –“ Sie verstummte im gleichen Moment, in dem ich es spürte. Eine Welle der Macht, die lautlos auf uns zuglitt.

Zeitgleich drehten wir uns herum.

„Spürst du das?“, fragte ich.

Sie nickte.

Auch die anderen Hexen hatten sich auf die Beine erhoben und blickten in die Schatten zwischen den Gassen – alle außer den Beteiligten am Ritual.

Meine Augen suchten die Schatten ab, die Dächer und verborgenen Winkel.

„Da“, sagte Saana und deutete auf eine Bewegung neben einem alten Tante-Emma-Laden.

Ich hielt die Luft an.

Langsam schob sich ein dunkler Umriss aus dem Schatten.

 

°°°°°

Tag Dreißig

 

Anfangs schien die Silhouette formlos, nichts weiter als ein dunkler Fleck in dem Blendwerk der Nacht. Doch je weiter sie sich auf uns zuschob, desto mehr Kontur bekam sie. Es dauerte kaum zwei Sekunden, dann konnte ich den Ankömmling als Mann identifizieren. Nach einer weiteren war er soweit aus dem Schatten getreten, dass das Mondlicht auf ihn fiel. Ein älterer Zirkon. Sein Körper war voller Narben und die Augen kälter als Eis.

Seine Bewegungen waren monoton und sein Blick glasig. Wie von einer Schnur gezogen, schritt er in einer geraden Linie auf uns zu und blieb erst stehen, als die Schutzblase ihm das weitere Vorankommen verwehrte.

Bei diesem Anblick streckte ich instinktiv den Arm aus, um den Schild um uns herum mit weiterer Magie zu stärken. Den wollte ich bestimmt nicht hier drinnen haben. Natürlich wusste ich, dass Dämonen nicht böse oder absichtlich grausam waren, aber diesen hier umgab eine finstere Aura, so als wäre das Leben niemals gnädig zu ihm gewesen und als hätte er sich den Umständen angepasst.

„Da, da sind noch mehr“, rief Saana.

„Hier auch“, kam es von der gedrungenen Hexe.

„Haltet das Ritual noch aufrecht“, wies Boudicca ihren Zirkel an.

Langsam drehte ich mich im Kreis. Zwischen den Häusern bewegte sich etwas. Ich konzentrierte mich darauf. Es bewegte sich weiter, die Schatten kräuselten sich leicht. Wenige Atemzüge später schälten sich aus dem Kräuseln einzelne Umrisse heraus, aufrechte Wesen, alle im gleichen Schritttempo mit merkwürdig glasigen Augen.

Dämonen. Unglaublich viele Dämonen. Viel zu viele Dämonen, mehr als ich jemals auf einem Haufen gesehen hatte. Smaragde, Zirkone, Rubine und Saphire. Wie eine Welle wurden sie zu uns gespült und machten erst halt, wenn sich ihnen auf dem Weg zu Fax ein Hindernis in den Weg stellte, das sie nicht umgehen konnten.

Oh nein, das würde sicher nicht gut ausgehen.

Auch meine Schwester und ihre Wölfe hatten sich erhoben und blickten wachsam auf die wachsende Menge. Kovu hatte Seraphine vom Boden geklaubt und drückte sie schützend an sich. Der kleine Klugscheißer war abnormal still. Das war ihm wohl auch unheimlich.

Die Dämonen bewegten sich aber auch so leise, so stumm, fast geräuschlos. Da war nur das Reiben ihrer Lederkleidung bei jedem Schritt.

Schip, schip, schip …

Wachsam schaute ich zwischen den ausdruckslosen Gesichtern hin und her. Frauen und Männer. Und Kinder. Viele Kinder. Ich runzelte die Stirn. Rein rechnerisch gesehen, waren das viel zu viele Kinder. Und sie waren alle noch so klein. Da war eine Saphirin. Ein vielleicht zweijähriger Junge lief an ihrer Hand. Auf ihrem Arm trug sie ein Baby und ihr Bauch war dick und gerundet. Direkt vor ihr war eine schwangere Rubinin und links von ihnen eine Zirkonin mit einem Kleinkind auf dem Arm und einem Baby auf dem Rücken.

Ich drehte mich einmal um meine Achse. Ein, zwei … sieben … dreizehn … Ich hörte auf zu zählen. Das waren so viele Frauen. Natürlich entdeckte ich auch ältere Kinder, Jugendliche und Halbstarke mit ihren Familien.

Ein unglaublicher Gedanke manifestierte sich in meinem Kopf. Hektisch schaute ich hin und her, kontrollierte die Schultern der Frauen und konnte kaum glauben, was ich da entdeckte. „Sie sind nicht markiert“, flüsterte ich.

„Was?“ Boudicca folgte meiner Blickrichtung.

Auf eine sehr verdrehte Art und Weise ergab das sogar einen Sinn. Wenn ich nur daran dachte, was wir in der Zwischenzeit über die Dämonen herausgefunden hatten, über ihre Bedeutung. Und dann auch noch Askeas Worte.

Es war wie ein Traum, als würde ich jemand anderen beobachten. Ich war zwar da, aber auch irgendwie weit weg, als wäre ich in einer Art Trance. Ich war mir nicht bewusst, was ich da machte, bis es vorbei war.

Wir waren hier nicht die Einzigen, die versuchten, diese Welt zu retten. Die Magie selbst griff tatkräftig mit ein, um das zu schützen, was sie erschaffen hatte. Sie sorgte dafür, dass es wieder mehr Obelisken gab, um die magische Welt zurück ins Gleichgewicht bringen zu können.

„Tia?“

Darum war Askea mit Nubia zusammen gewesen. Darum hatten all diese Frauen Kinder, obwohl es keinen Mann an ihrer Seite gab. Die Magie zwang sie dazu, sich so schnell wie möglich zu reproduzieren, um die Stützpfeiler wieder zu errichten. Wie krank was das denn?!

Und es würde auch nicht funktionieren. Bis diese Kinder ihre volle Macht erlangten, würden Jahre ins Land ziehen. Dieser Welt blieben aber nur noch ein paar Wochen – im besten Fall. „Sie hat zu spät angefangen, sich zu regenerieren.“

„Tiara“, schimpfte Boudicca. „Wenn du mir nicht auf der Stelle sagst, was du zu sagen hast …“

„Ich hab nichts zu sagen, ich habe nur laut gedacht.“

Sie kniff ihre Augen leicht zusammen.

„Wirklich.“ Es würde keinen Unterschied machen, ob ich ihr meine Entdeckung nun mitteilte oder sie für mich behielt. Es könnte alles nur noch viel komplizierter machen. Nein, ich würde den Mund halten. Der Einzige, der davon erfahren würde, wäre Askea. Er hatte ein Recht darauf.

Boudicca schüttelte ergeben den Kopf. „Hexen und ihre Geheimniskrämerei. Manchmal verstehe ich, warum andere Mortatia das so lästig finden.“

Ich lächelte einfach nichtssagend.

„Wie lange sollen wir das Ritual noch aufrechterhalten?“, wollte Saana wissen.

„Eine, vielleicht zwei Stunden.“ Boudicca besah sich die bereits versammelten Dämonen, die sich gegen den Schild drängten. Es waren gar nicht so viele, wie ich auf den ersten Blick vermutet hatte. Hundert, vielleicht ein bisschen mehr. Und die Hälfte von ihnen waren Kinder. Es waren weitaus weniger, als ich gehofft hatte. „Sie mussten alle verschiedene Entfernungen zurücklegen. Das können noch nicht alle gewesen sein.“

Und so standen wir still da und warteten. Eine Stunde, zwei Stunden, und dann noch ein bisschen länger.

Immer wieder tauchten einzelne Dämonen leise aus den Schatten auf, Frauen mit Kindern oder ganze Familien. Sie kamen durch die Straßen und über die Dächer. Ein paar versuchten auf die Kuppel zu springen, glitten dann aber von ihr ab und blieben auf dem Boden vor dem Schild stehen. Doch selbst nach fast drei Stunden hatte sich ihre Zahl nicht einmal verdoppelt. Und Fax wurde immer schwächer. Die Kraft schien nur so aus ihm herauszufließen.

„Wir müssen Schluss machen“, sagte die gedrungene Hexe irgendwann mit Blick auf meinen Sohn.

„Noch ein paar Minuten“, verlangte Boudicca.

„Wozu?“ Saana stellte sich vor sie. „Selbst wenn wir das Ritual noch mehrere Tage aufrechterhalten würden, würde die Zahl der Dämonen kaum noch zunehmen.“

Boudicca kniff angespannt die Lippen zusammen. „Aber das können nicht alle sein. Es sind viel zu wenige.“

„Und deswegen geht die Welt unter“, sagte ich leise. „Weil es einfach zu wenige sind. Das Ritual noch länger weiterzuführen, ändert auch nichts daran.“

Boudicca schien nicht gewillt, schon aufzugeben, aber sie war überstimmt worden. Sie sah wohl in meinem Blick, dass ich es beenden würde, wenn sie es nicht tat. Und mir wäre der Ausgang des Rituals egal, Hauptsache mein Kind wäre sicher.

„Nun gut, beendet das Ritual.“

Die Hexen brachen ihren Gesang nicht abrupt ab, wie ich es mir erhofft hatte. Sie machten einfach weiter. Ihre Stimmen wurden leiser, bis sie kaum noch ein Flüstern waren. Ihre Worte veränderten sich. Fax begann heftig zu zittern. Ich stand drei Meter entfernt und konnte sein Zähneklappern hören. Nicht einfach zu ihm zu rennen, um ihn aus ihrer Mitte zu reißen, verlangte mir meine ganze Selbstkontrolle ab. Zumindest bis zu dem Moment, als ihre Stimmen erloschen und Fax einfach in sich zusammensackte.

Mich hielt nichts mehr. Ich stürmte einfach zwischen den erschöpften Hexen hindurch und krachte neben Fax auf die Knie. Aua. „Fax?“ Vorsichtig zog ich ihn an mich und strich über seine schweißnasse Stirn. Er zitterte am ganzen Körper. „Fax? Hörst du mich?“ Bitte, mach doch den Mund auf.

Seine Augenlider hoben sich leicht, aber sein Blick blieb unfokussiert. „Bin müde“, nuschelte er.

„Alles okay mit ihm?“ Talita hockte sich neben uns.

„Er ist erschöpft.“ Genaugenommen stand er kurz vor dem Umfallen. Ich hätte das nicht zulassen dürfen.

„So müde“, flüsterte er. Im nächsten Moment verlor er das Bewusstsein.

Mir blieb fast das Herz stehen. „Fax?“ Ich rüttelte ihn leicht. „Fax!“

„Beruhige dich“, sagte Talita. „Er schläft nur.“

Ich öffnete den Mund …

„Und wage es ja nicht, mich jetzt wieder anzuknurren, nur weil ich dir helfen will.“

… und schloss ihn wieder. Das hätte sie sich gerade sowas von schenken können. Damit war offiziell klar, wer von uns beiden der böse Zwilling war, nämlich sie. Ich hatte es ja schon immer geahnt.

„Mach dir keine Sorgen, er braucht nur etwas Ruhe.“

Okay, sie versteckte es sehr gut, aber tief in ihrem Inneren war sie böse. Oder wenigstens ein bisschen gemein.

„Wir werden auf ihn aufpassen.“

Ein ganz kleines bisschen.

Etwas krachte laut gegen den magischen Schild. Nein, ich war nicht die Einzige, die vor Schreck zusammenzuckte und sich hastig umsah.

Ein zweiter Schlag ließ auf dem Schild wellenförmige Schlieren entstehen. Die Dämonen begannen aus ihrer Trance zu erwachen und waren nicht sehr begeistert von dieser Situation. An einem fremden Ort aufzuwachen, ohne zu wissen, wie man dorthin gekommen war, konnte einem aber auch die Laune verderben.

Ein älterer Rubin war schon wieder putzmunter. Er schien nicht glücklich über seinen Aufenthaltsort zu sein und tat seinen Unmut durch Feuerstöße kund. Nicht gut.

Auf der anderen Seite war ein Zirkon erwacht, der die Dämonen in der Nähe warnend anfauchte, um seine Familie zu schützen. Er hielt einen Speer in der Hand. Gar nicht gut.

„Die gehen gleich aufeinander los.“

Das befürchtete ich auch. Ich musste etwas tun. Vorsichtig bettete ich Fax auf dem Boden und erhob mich.

Immer mehr Dämonen erwachten. Orientierungslos und misstrauisch fauchten sie und griffen den Schild an. Ein Aufschlag folgte dem nächsten, ein paar brachten sich auf den Dächern in Sicherheit, doch seltsamerweise suchte keiner von ihnen das Weite. Weiter hinten entstand ein kleines Gerangel. Ein kleiner Rubin ging in Flammen auf, eine ältere Zirkonin fegte die Dämonen neben sich mit einem Windstoß von den Füßen. Die Erde begann zu beben, als ein Smaragd aufstampfte. Irgendwo schrie ein Kind.

Nein, überhaupt nicht gut.

„Hört bitte auf damit!“, rief ich, so laut ich konnte, und drehte mich um mich selbst, in der Hoffnung, jemanden zu entdecken, der auf mich hörte. „Hallo? Ihr müsst aufhören!“

Sie ignorierten mich.

Na gut, dann eben anders. „Ich war es, die euch alle hergeholt hat! Weil ich euch brauche! Weil ihr wichtig seid!“

Der Schild erzitterte unter den magischen Einschlägen der Dämonen. Wasser lief herab, verdunstete im Feuer und bildete Tropfen im Wind.

„Hört mir doch mal zu!“, verlangte ich. Dann hörte ich auch noch Askea knurren. Auch er war endlich wieder zu sich gekommen.

Deutlich angespannt grollte er aus der Kehle heraus und fixierte dabei den Zirkon, der als allererstes aufgetaucht war.

„Askea, du nicht auch noch!“ Das durfte doch wohl nicht wahr sein!

Er besaß wenigstens so viel Anstand, das Knurren einzustellen. Den Blick wandte er aber nicht ab. Das konnte aber auch daran liegen, dass der Zirkon genauso finster zurückstarrte und ihm die Zähne zeigte.

„So wird das nichts“, erklärte Kovu hilfreich und versuchte Seraphine mit seinem Körper vor den Blicken der Dämonen zu schützen.

Vielen Dank für deine aufmunternden Worte. „Hey!“, schrie ich, so laut ich konnte.

Ein paar Dämonen reagierten darauf. Sie sahen mich, beschworen ihre Magie und griffen gezielt mich an. Zum Glück prallten ihre Angriffe an dem Schild ab.

„Verdammt.“ So war das nicht geplant gewesen.

Die Hexen sammelten alles, was sie an Magie hatten, und speisten es in den Schild. Und ich stand da und wusste nicht recht, was ich tun sollte, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Wenn ich es nicht schaffte, sie zum Zuhören zu bewegen, dann … Ja, keine Ahnung, was ich dann tun sollte.

Jemand landete oben auf dem Schild. Es gab ein hohles Geräusch, dann starrte mich ein vertrautes Gesicht an. Dann kam laut und deutlich ein einziges Wort über seine Lippen. „Jägerin.“

Mit einem Schlag wurde es mucksmäuschenstill im alten Tempel. Nicht einmal die Grillen wagten es, ein Geräusch von sich zu geben. Alle Dämonen, wirklich alle, fürchteten sich vor den Jägern. Deswegen hatte ich eigentlich vorgehabt, diese kleine Tatsache für mich zu behalten. Dafür war es jetzt zu spät.

Die Dämonen wichen wachsam zurück. Eine Frau fauchte mich an, doch mein Blick heftete an dem Saphir über mir. „Davesh“, flüsterte ich. „Du lebst.“

„Und das, obwohl du mich an den Pfahl gebracht hast.“ Als wäre das nur eine Rutsche auf dem größten Spielplatz der Welt, schlitterte Davesh an dem Schild herunter und blieb dort stehen.

„Ich hab mich nur verteidigt“, erklärte ich und trat genau vor ihn. Dabei konnte ich es nicht vermeiden zu lächeln. „Du hast versucht, mich zu ertränken.“

„Ja. Es wäre mir sogar fast gelungen.“

Ein Stück hinter mir begann Askea wieder aus tiefster Kehle zu knurren.

Davesh beachtete ihn nicht. „Und dann hast du mir die Freiheit geschenkt.“

Hä? Ach so, weil ich ausversehen den Schild zerstört hatte, unter dem er und Askea gefangen gehalten worden waren. „So nett es wäre, diese Lorbeeren auf meine Kappe zu laden, das war nur ein Unfall.“

„Ja, aber du hast mich nicht sterben lassen.“

Nein, das hatte ich nicht. „Ich konnte nicht.“ Ich legte eine Hand an den Schild. Das markante Profil von Davesh wirkte härter als in meiner Erinnerung. Sein Körper wurde von unzähligen Narben geziert – ein Andenken an seine Zeit bei den Jägern, als sie ihn unter der Sonne der Wüste austrocknen hatten lassen. Nein, nicht sie, wir. Ich hatte damals dazugehört. „Es tut mir so leid, ich war dumm.“

Er zeigte mir die Zähne. Die Beißerchen waren echt nicht von schlechten Eltern. „Ja, das warst du. Sehr dumm sogar.“

Wie nett.

Askea trat neben mich und zeigte Davesh seinerseits die Fänge.

„Du hast sie also behalten.“ Daveshs Augen blitzten auf. „Wie ungewöhnlich.“

„Da ist nicht ungewöhnlich, das ist krank!“, echauffierte sich eine wohlbekannte Stimme aus der Menge. Zwischen den ganzen Dämonen tauchte Nubia auf. In ihrem Blick lag nichts als Verachtung. „Ein Dämon und ein Jäger? Genauso gut hättest du dir ein Tier ins Bett holen können.“

„Wenigstens habe ich jemanden, der mein Bett wärmt.“

Ähm … War ich plötzlich unsichtbar?

Als Nubia Davesh zu nahekam, fauchte er sie an und trat einen Schritt zur Seite.

O-kay. „Können wir diese ganzen Feindseligkeiten mal für einen Moment vergessen? Wir haben Wichtigeres zu tun.“ Ich wandte mich auch an die anderen, die wachsam im Hintergrund lauerten. „Wir alle.“

Irgendwo in der Menge hörte ich ein seltsam vertrautes Geräusch. Ein Fiepen oder Quietschen. Ich konnte es nicht recht zuordnen und ignorierte es deswegen.

„Was könnten wir mit dir schon zu tun haben?!“, fauchte Nubia.

„Den Untergang der Welt.“ Ich trat einen Schritt zurück und drehte mich einmal um meine eigene Achse. „Die magische Welt ist am Ende, und der einzige Grund, warum sie noch nicht vom Erdboden verschwunden ist, seid ihr. Die Mortatia sind dumm gewesen. Sie haben euch ausgeschlossen und verfolgt, weil sie ihre eigene Geschichte nicht kannten. Ihr seid das, was diese Welt am Leben erhält, ihr seid die Verbindung zur Magie, dafür wurdet ihr geschaffen. Ihr seid die Obelisken, und damit die letzte Hoffnung, die drohende Apokalypse zu überleben.“

Meine Worte sollten beeindruckend sein, die Wesen zusammenschließen. Ein bisschen Applaus hätte auch nicht geschadet. Was ich dagegen bekam, war etwas ganz anderes. Verwirrte und feindselige Blicke. Ein paar schienen zu denken, dass ich einen an der Waffel hatte.

„Vielleicht solltest du es ihnen ein wenig genauer erklären“ überlegte Veith laut.

Wahrscheinlich hatte er Recht. So begann ich ein zweites Mal zu erzählen, was ich mir zusammengereimt hatte und was es bedeutete. Was folgte, war Schweigen.

Es war Nubias fassungsloses Auflachen, das die Stille wie eine scharfe Klinge durchschnitt. „Ist das dein Ernst? Nach allem, was sie uns angetan haben, sollen wir die Mortatia jetzt retten?“

„Es geht weniger um die Mortatia als um diese Welt, und auch um euch selbst“, erklärte ich. „Auch ihr lebt hier, und wenn wir uns nicht zusammenschließen, um etwas zu unternehmen, wird bald alles vorbei sein. Dann ist es völlig egal, was sie euch angetan haben oder ihr ihnen, weil es euch dann einfach nicht mehr geben wird. Es fehlt nur noch so viel.“ Ich hielt Zeigefinder und Daumen kaum einen Zentimeter auseinander. „Dann ist alles vorbei.“

„Vielleicht für sie“, rief eine junge Frau aus der Menge. „Aber nicht für uns. Wir überleben. Immer.“

Vereinzelt war zustimmendes Gemurmel aus der Menge zu hören.

„Nun seid doch nicht dumm“, versuchte ich es ein weiteres Mal. „Wie wollt ihr überleben, wenn es keine Welt mehr gibt, auf der ihr leben könnt?“

„Weißt du es mit Sicherheit?“, fragte ein älterer Smaragd. „Weißt du wirklich, dass die Welt untergeht und nichts mehr übrigbleiben wird?“

War das sein Ernst? „Schau dich doch einmal um. Was glaubst du, warum das alles passiert?“

„Weil es die gerechte Strafe für alles ist, was uns angetan wurde!“, fauchte der Zirkon mit der dunklen Aura und fixierte Askea. „Und du wirst es wohl nie lernen! Was tust du da drinnen bei diesen Hexen? Du bist nicht wie sie und wirst es auch niemals sein!“

„Reiz mich nicht.“ Die Worte waren leise ausgesprochen worden, doch Askeas Körpertemperatur stieg so schnell, dass ich die Wut dahinter spüren konnte.

„Warum, was willst du tun?“ Er trat dichter an den Schild heran. „Willst du wieder betteln? Willst du auf die Knie fallen und mich anflehen, sie zu verschonen?“

Langsam bekam ich das Gefühl, die beiden kannten sich.

„Du bist keiner von ihnen, und du wirst auch niemals zu ihnen gehören. Das solltest du langsam verstanden haben.“

„Ich weiß genau, wer ich bin. Und ich bin nicht mehr der kleine Junge von damals.“ Geistesabwesend strich er sich mit dem Finger über die Narbe im Gesicht.

Verdammte Scheiße! Der gehörte doch wohl nicht zu den Dämonen, die damals diesen Tempel ausgelöscht hatten, weil sie geglaubt hatten, Askea vor den Mortatian retten zu müssen?

„Beweise es mir.“

„Ich muss dir gar nichts beweisen, alter Mann.“

Der Zirkon fletschte die Zähne. Diese Beleidigung hatte wohl gesessen.

„Hört jetzt auf!“, befahl ich, denn so kamen wir nicht weiter. „Es hilft niemandem, wenn wir uns anfeinden. Wir müssen zusammenarbeiten.“

Der Zirkon fixierte mich. „Komm raus und sag mir das nochmal ins Gesicht.“

„Du solltest sie nicht herausfordern“, kam es ganz ruhig von Askea. „Sie ist nicht, was sie zu sein scheint.“

Ach nein?

„Sie ist eine Hexe!“

„Sie ist eine Viator aus einer anderen Welt, die nicht nur zwei Magien beherbergt, sondern auch noch über die Macht der Obelisken verfügt.“

Trägst du nicht gerade ein bisschen dick auf, mein Schatz?

Der Zirkon bedachte mich mit einem feindseligen Blick und trat einen Schritt von mir zurück. „Wenn das so ist, wird sie die Welt ja auch allein retten können.“ Mit diesen Worten kehrte er uns den Rücken und verschwand in der Menge.

Ein paar andere folgten seinem Beispiel.

„Nein, wartet!“ Ich rannte zum Schild. „Bitte, ihr dürft nicht gehen. Wir brauchen eure Hilfe.“

Aus der Menge hörte ich wieder dieses hohe Pfeifen, das mir so bekannt vorkam.

„Wie ihr angekrochen kommt!“ Selbstgefällig verschränkte Nubia die Arme vor der Brust. „Ihr sitzt wie Ratten in der Falle. Das ist ein gutes Gefühl.“

„Bist du wirklich so verbohrt, dass du die Gefahr, in der wir uns befinden, völlig ausblenden kannst, nur um dein Selbstwertgefühl ein kleines bisschen zu steigern?“, fauchte ich sie an. „Das hier ist nicht irgendein Machtkampf; hier geht es um Leben und Tod. Willst du sterben? Ist es das, worauf du es abgesehen hast?“

„Nein, ich will nicht sterben. Aber was ich noch weniger will, ist dir und den ganzen anderen Schlächtern zu helfen.“ Nubias Augen hefteten sich auf meinen drakonischen Dämon. „Askea, sag doch selbst: Willst du diesen Undankbaren zur Seite stehen?“

Er sagte nichts, ließ den Mund geschlossen, und das war wohl die deutlichste Antwort, die er hätte geben können. Der Hass auf die Mortatia war auch in ihm tief verwurzelt.

„Das habe ich mir gedacht.“ Sie breitete die Arme aus. „Was wird geschehen, wenn wir ihnen helfen?“, fragte sie die anderen Dämonen mit lauter Stimme. „Werden sie plötzlich unsere Freunde? Werden wir wieder in den Codex aufgenommen und dürfen die Verbannung verlassen, um unter ihnen zu leben? Oder werden sie einfach vergessen, was wir für sie getan haben, und auf uns herabsehen, wie sie es immer gemacht haben?“

„Vergessen“, rief eine Frau.

„Vergessen.“

„Sie sind undankbar.“

„Sie wollen uns nur benutzen.“

Immer mehr Stimmen riefen durcheinander. Ich sah ein paar Wenige, die der Diskussion schweigend folgten, aber die meisten stimmten mit ein.

„Sie vergessen immer!“, rief eine alte Reibeisenstimme, die mir bekannt vorkam. Ich konnte den Urheber nur nicht ausmachen.

„Das könnt ihr nicht wissen!“, rief ich, glaubte jedoch nicht daran, dass mich jemand hörte.

Wir waren dabei zu verlieren. Ihr Hass war so mächtig, dass sie gar nicht erst in Betracht zogen, dass ich die Wahrheit sagen könnte. Keiner von ihnen wollte sterben, doch keiner von ihnen konnte vergessen – dafür hatten sie in ihren Leben einfach zu viel Leid ertragen müssen. Immer verfolgt, bei jedem Schritt ein wachsamer Blick über die Schulter, paranoid, ängstlich. Jeder Tag war ein Kampf ums Überleben gewesen.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Davesh sich zurückzog. Ich starrte ihm nach. Da war keine Entschuldigung in seinem Blick, nur eine eiskalte Absage. Er würde nicht helfen. Niemals. Und er war auch nicht der Einzige, der sich zurückzog. Frauen, Männer, ganze Familien wandten sich ab, während die anderen diskutieren und hinausschrien, dass die Zeit der Rache gekommen war.

Nein, bitte, nein.

„Ihr dürft nicht gehen!“, schrie Talita. Tränen rannen ihr über die Wangen.

Veith beobachtete mit versteinertem Gesicht die Menge, während Kovu vor Hoffnungslosigkeit in sich zusammensank.

Nein, bleibt!

„Bitte bleibt!“ Talita schluchzte.

Neben ihr hatte Faye die Hände vor den Mund geschlagen.

„Ihr seid feige!“, schrie ich sie an und bekam die Aufmerksamkeit damit wirklich zurück – hauptsächlich, damit sie mich wütend anfunkeln konnten. „Ihr seid wohl die mächtigsten Wesen in dieser Welt, und doch lasst ihr euch einfach herumschubsen und lauft weg. Feiglinge!“

„Die einzigen Feiglinge, die ich hier sehe, verstecken sich hinter einem Schild“, feixte Nubia. Sie schien vollauf mit sich zufrieden.

„Das ist es? Weil ich hinter einem Schild stehe?“ Bevor Askea reagieren konnte, war ich hindurchgetreten und stand direkt vor dieser kleinen, miesen Schlampe – ja, sowas zu sagen gehörte sich nicht, aber diese Tussi hatte versucht, mir meinen Freund wegzunehmen. „Bin ich jetzt immer noch feige?“

Sie schluckte und trat von mir zurück.

Askea knurrte und schlug gegen die magische Blase.

In dem Moment wurde die Menge von einem hämischen Lachen durchschnitten, das alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Dieses Gackern erkannte ich sofort. Mae.

Zwei Sekunden, mehr brauchte ich nicht, um die alte Vettel links neben einem halbeingefallenen Haus ausfindig zu machen. Und auf ihrem Arm … „Guardian“, flüsterte ich. Mein kleiner Fenlix, er war bei ihr.

Als er seinen Namen hörte, stellte er die Ohren auf und gab ein fiependes Zirpen von sich. Das war das Geräusch, das ich die ganze Zeit gehört hatte.

„Was für eine Ironie“, sagte Mae. „Jahrelang wurden die Dämonen aufgrund ihrer Natur gemieden und gejagt, und jetzt ist es diese Natur, die euch retten soll.“ Sie öffnete die Arme und ließ Guardian los.

Er sprang auf den Boden, machte ein paar unsichere Schritte, blieb aber bei ihr.

„Kusch“, machte sie und schubste ihn mit dem Fuß in meine Richtung.

Ich ging in die Hocke und breitete die Arme aus. Im nächsten Moment konnte ich ihn an meine Brust drücken. „Wo warst du nur die ganze Zeit?“

„Ich habe ihn im Krater gefunden“, erklärte Mae. „Du weißt schon, nach dem Überfall der Jäger.“

Hinter mir schlug Askea gegen den Schild und fauchte wütend, als er ihn nicht durchlassen wollte.

Ich konzentrierte mich allein auf die alte Vettel. „Wirst du uns helfen?“, frage ich kaum hoffungsvoll.

„Ich sterbe lieber, als für diese selbstgerechten Mortatia auch nur einen Finger krummzumachen“, erwiderte sie ungeschönt. „Die Welt geht unter? Sei es drum. Ich hatte ein langes und erfülltes Leben und bin nicht bereit, auch nur einen weiteren Gedanken an die Mortatia zu verschwenden.“

Nach allem, was ich bisher durchgemacht hatte, wollte nun auch sie mich zurückweisen. „Ich bin die Reine“, schleuderte ich ihr entgegen, obwohl ich immer noch nicht genau verstand, was das bedeutete. „Du hast gesagt, ich sei die Reine und könnte all das beeinflussen.“ Ja, es klang vorwurfsvoll, aber ich wusste mir einfach nicht mehr anders zu helfen.

„Tust du denn nicht genau das? Beeinflusst du nicht die Wesen in deiner Gegenwart allein durch deine Anwesenheit?“

„Das ist alles? Das ist der ganze Inhalt deiner Prophezeiung?“ Ich stellte Guardian zurück auf den Boden und richtete mich auf.

„Eine Prophezeiung ist nichts weiter als eine Voraussage über etwas, das geschehen wird. Und wie du siehst, ist es geschehen. Nichts, was du jetzt noch tust, wird etwas daran ändern können.“

„Warum hast du sie mir dann erzählt?“

„Damals hättest du noch etwas tun können, aber du hast es nicht verstanden und wolltest auch nicht zuhören. Und dann warst du verschwunden.“

Sollte das etwa heißen, das alles war meine Schuld?!

„Jetzt ist es zu spät.“ Sie schwang ihren Arm und ein Windstoß erfasste Guardian. Noch bevor ich reagieren konnte, trug er ihn in ihre Arme, und dann konnte ich nur noch dabei zusehen, wie sie in die Nacht verschwand.

„Wenn du jetzt gehst, ist alles zu Ende!“, schrie ich ihr hinterher und konnte fast körperlich spüren, wie ich mehr und mehr an Boden verlor.

Und sie war nicht die Einzige, die sich auf diese Art verabschiedete. Bis jetzt waren die Wenigsten gegangen, doch nun wandten sich die Dämonen wie eine Einheit ab und verschwanden genauso lautlos, wie sie durch den Zauber angelockt worden waren.

„Bitte, bleibt!“, rief ich und schaute mich hektisch nach allen Seiten um. „Ihr dürft nicht gehen. Wir brauchen einander.“

„Nein“, sagte Nubia. „Ihr braucht uns. Wir brauchen euch nicht.“ Ihr Blick richtete sich auf Askea. Ihr Mund öffnete sich, als wollte sie noch etwas sagen, doch egal, was es war, sie behielt es für sich, kehrte ihm den Rücken und zog wortlos davon.

Wir konnten nichts anderes tun, als machtlos zuzusehen, wie einer nach dem anderen in den Schatten verschwand. Mit jedem weiteren wuchs meine Verzweiflung ein klein wenig mehr. Wenn die Dämonen uns nicht halfen, was konnten wir dann noch tun?

Die Antwort lag klar auf der Hand: gar nichts. Wir konnten nichts mehr tun. Wir waren am Ende.

Kraftlos ließ ich mich in den Sand sinken.

Hinter mir löste sich die magische Blase langsam auf. Ich konnte spüren, wie die Magie darin immer schwächer wurde.

Talita weinte, während Veith ihr beruhigende Worte ins Ohr murmelte. Eine der Hexen schrie in ihrer Verzweiflung herum, eine andere brach einfach zusammen. Ihnen allen war klar, dass wir am Ende waren.

Es dauerte nicht lange, bis die Dämonen abgezogen waren.

Zu meiner Überraschung blieb jedoch eine Handvoll Dämonen zurück. Sie wollten nicht sterben. Vielleicht wollten sie den Mortatian nicht helfen, aber sie wollten auch leben. Doch es waren gerade mal vier – VIER! – was konnten die schon ausrichten?

Damit schien auch unsere letzte Hoffnung gestorben zu sein.

 

°°°

 

Ich sterbe lieber, als für diese selbstgerechten Mortatia auch nur einen Finger krummzumachen.

Maes düstere Worte klangen mir noch immer in den Ohren nach. Ich presste die Lippen fest aufeinander. Wie konnte das sein? Wir konnten doch nicht so kurz vor dem Ziel scheitern!

Und doch war nun das Schlimmste aller Szenarien eingetreten. Wir waren am Ende, und wir alle wussten es.

Über uns grollte der Donner. Der Morgen war bereits angebrochen, doch der Himmel war mit einer so dicken Wolkendecke bedeckt, dass es genauso gut Nacht hätte sein können. In der Ferne schlug ein Blitz ein. Ein zweiter folgte ihm kurz darauf. So ging es nun schon seit Stunden. Es war, als würde der Himmel seinen Groll über unser Versagen verkünden.

Damals hättest du noch etwas tun können, aber du hast es nicht verstanden und wolltest auch nicht zuhören. Und dann warst du verschwunden. Jetzt ist es zu spät.

Das war so unfair. Es war ja nicht so, dass ich hatte gehen wollen; mir war gar keine Wahl geblieben. Und hätte ich gewusst, was uns bevorstand, hätte ich schon damals reagiert. Aber woher hätte ich es wissen sollen? Wenn hier einer schuldig war, dann war es Mae! Genau, hätte sie sich deutlicher ausgedrückt, wäre sicher alles anders gekommen.

Wütend schmiss ich den Stein in meiner Hand von mir. Er knallte gegen eine Hauswand und fiel dann nutzlos zu Boden. Seraphine zuckte bei dem Geräusch zusammen, schlief aber weiter. Ich hatte sie neben Fax gelegt und saß nun schon seit Stunden neben ihnen, um ihren Schlaf zu überwachen.

Auf der anderen Seite von meinem Sohn saß Talita und wiegte Kovu in ihren Armen, als wäre er ein kleines Kind. Sie selbst hatte ganz verquollene Augen und schniefte immer wieder. Selbst Veith, der nicht gewillt war, ihre Hand in naher Zukunft wieder loszulassen, schien sie einfach nicht beruhigen zu können.

Und über alldem lastete eine drückende Stille, die durch Askeas ausdruckloses Starren nur noch verstärkt wurde.

Ziel seines stummen Drohens waren die anderen Dämonen, die sich am Rand des Mosaiks herumdrückten und nicht recht wussten, was sie mit sich anfangen sollten. Es war eine dreiköpfige Familie von Rubinen und eine etwas ältere Smaragdfrau, die sich an eine Hauswand gelehnt hatte und damit beschäftigt war, Perlen auf eine getrocknete Sehne zu fädeln.

Zu den Rubinen gehörte ein Mädchen, das nur wenig älter als Fax sein konnte. Es gefiel mir nicht, wie sie immer wieder meinen Sohn anstarrte. Aber was mir noch viel weniger gefiel, war die Tatsache, dass dies die einzigen Dämonen waren, die bereit waren, für das Überleben dieser Welt zu kämpfen – obwohl man die Tochter wahrscheinlich nicht unbedingt dazuzählen konnte; sie war einfach nur das Anhängsel ihrer Eltern.

Vier.

In den vergangenen Tagen hatte ich mit vielem gerechnet, aber nicht damit, die Dämonen nicht überzeugen zu können. Das war wohl die größte Niederlage der letzten Wochen.

Die Hexen hatten sich ein Stück weiter zusammengerottet und besprachen seit Stunden das weitere Vorgehen. Na ja, eigentlich beklagten sie eher die unausweichliche Zukunft. Ich hatte mich bereits nach zehn Minuten aus dem Gespräch ausgeklinkt.

„Wir können nicht bleiben“, sagte Veith leise und schaute zu den Wolken hinauf, die immer tiefer zu sinken schienen. „Wir müssen einen Spiegel finden.“

„Wir können doch nicht einfach feige davonlaufen!“, widersprach ich sofort.

Talita schnaubte abfällig. „Es ist nicht feige, sich einer ausweglosen Situation zu entziehen. Nicht wenn unser aller Leben auf dem Spiel steht.“ Beruhigend strich sie Kovu übers Haar. Er hatte die Augen geschlossen und klammerte sich an sie, als hätte er Angst, sie auch noch zu verlieren. „Denk doch mal an Phinchen und Fax.“

Genau das tat ich ja. Das Problem war nur, dass Askea nicht durch den Spiegel treten würde, und Fax würde nicht ohne seinen Vater gehen. „Ich kann nicht gehen.“

„Das ist das Dümmste, was ich seit langem gehört habe“, schoss sie zurück.

Askea knurrte leise. „Sprich nicht so mit ihr.“

Ich konnte geradezu sehen, wie sich Veiths Nackenfell sträubte. „Es wäre unvernünftig, noch länger hierzubleiben“, sagte er vorsichtig. „Und es geht hier nicht nur um uns. Wir müssen jeden mitnehmen, der gehen möchte.“

Talita schaute ihn an wie ein Pferd. „Jeden?!“

Das schloss dann wohl auch die Hexen und Dämonen mit ein. Und jeden anderen in dieser Welt, der sein Leben in Sicherheit bringen wollte. „Ich sehe schon die Nachrichten vor mir: Medusa und Co zum Leben erwacht. Oder auch: Ein Zentaur auf der Pferdefarm. Nein, noch besser: Der Yeti aus dem Spiegel, direkt in mein Schlafzimmer. Die Menschen werden begeistert sein.“

„Es gibt keine Yetis“, erwiderte Talita abwesend. „Aber wie sollen wir das machen? Wie können wir die ganze Bevölkerung dieser Welt in eine andere bringen?“

„Wir müssen diese Nachricht verbreiten und alle auffordern, sich zu den Portalen der Hexen zu begeben“, erklärte Veith.

„So eine Nachricht würde eine Massenpanik verursachen“, gab ich zu bedenken.

„Aber Veith hat Recht“, sagte Talita. „Wir können nicht einfach still und heimlich verschwinden und alle dem Untergang überlassen.“ Sie richtete sich ein wenig auf und spähte zu den Hexen hinüber. „Boudicca? Hast du einen Moment?“

Die Hexen unterbrachen ihre Unterredung, während die Oberhexe sich erhob und zu uns kam.

Das gefiel mir nicht. Ich wusste, die beiden hatten Recht, aber es gefiel mir trotzdem nicht. Magische Wesen unter den Menschen? Und dann auch noch so viele? Das konnte doch nur schiefgehen.

Boudicca sah erschöpft aus. Ihr Turban saß schief auf ihrem Kopf und ihre Röcke waren zerknittert und fleckig. Selbst das Klimpern der Münzen an ihren Tüchern klang nicht mehr so fröhlich. „Was habt ihr auf dem Herzen?“

„Eine Evakuierung“, sagte Veith gerade heraus.

Das war doch mal sehr direkt. „Was Veith sagen will: Die Situation ist ausweglos. Wir haben alle Möglichkeiten ausgeschöpft, und trotzdem dauert es vermutlich nur noch einen Wimpernschlag, bis uns die Erde unter unseren Füßen wegbricht.“ Wie zum Beweis meiner Worte schwebte in dem Moment eine Ascheflocke zwischen uns in der Luft und löste sich dann einfach auf. „Veith hatte die Idee, eine große Bekanntgabe zu machen, in der den Mortatian mitgeteilt wird, dass sie sich zum nächsten Hexenzirkel begeben sollen, um durch den Spiegel geschickt zu werden, wenn sie überleben wollen.“

Talita nickte zustimmend. „Ich weiß, dass dort vieles anders ist. Dort werden sie keine Magie mehr haben, aber sie wären am Leben. Und vielleicht … Vielleicht hat Gaio ja doch irgendwie Recht. Vielleicht wird die Magie sich eines Tages soweit regeneriert haben, dass wir alle zurückkehren können.“

Das war ein schöner Wunschtraum, nur so, wie es im Moment aussah, konnte ich nicht recht daran glauben.

„Es ist eine schwere Entscheidung“, sagte Veith. „Es wird keine Sicherheit geben, dass sie jemals wieder zurückkehren können. Ich weiß, wie es ist, durch den Spiegel zu treten. Man hat immer das Gefühl, als würde einem etwas fehlen.“

Ich runzelte die Stirn. „Du kannst dich an dein Leben auf der anderen Seite erinnern?“

„Nein, ich …“ Er stockte und runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht. Nicht wirklich. Irgendwie schon.“

Na, wenn das mal keine deutliche Aussage war.

Boudicca seufzte. „Wir haben eben das Gleiche besprochen. Wir wissen, dass die Magie nicht einfach verschwinden wird. Sie zerstört sich nicht selbst, sie zerstört nur das, was sie geschaffen hat. Obwohl ihr das Ganze eigentlich eher entgleitet, weil all ihre Sicherungen dieser Welt zusammenbrechen. Es bleibt also eine reelle Hoffnung, dass wir eines Tages zurückkehren könnten, auch wenn sie sehr klein ist.“

Aber ein Funke war besser als gar nichts.

„Es ist der letzte Ausweg, der uns bliebt“, kam es sehr leise von Kovu.

Askea zog die Oberlippe hoch und zeigte seine monströsen Fänge, als der Rubinmann sich von seiner Familie löste und wachsam auf uns zutrat. „Nicht zu nahe.“ Die Worte waren sehr leise, die Drohung dahinter überdeutlich.

Der Mann blieb stehen. „Ich habe gehört, was ihr gesagt habt. Ihr wollt uns ins magielose Land schicken. Wir werden gehen. Ich werde meine Familie nicht sterben lassen.“

Vernünftige Dämonen? Jetzt hatte ich alles gesehen. „Die Regeln auf der anderen Seite des Spiegels sind aber anders als hier“, erklärte ich ihm.

„Ich werde mit allem zurechtkommen, was das Leben mir vor die Füße wirft.“

Gute Einstellung. Mir schauderte es nur bei dem Gedanken daran, wie er seine Worte umsetzen würde. Ein Rubin im Supermarkt …

Okay, jetzt hätte ich beinahe gelacht. Ich konnte mir weder diesen Mann noch meinen eigenen an einer Kasse vorstellen, wo er ein Portemonnaie zog, um seine Einkäufe zu bezahlen. Wahrscheinlich würde er eher in den Laden stürmen, alles greifen, was er nur tragen konnte, und sich dann mit einem Speer den Weg in die Freiheit erkämpfen.

Ich nahm mir fest vor, ihn und seine Familie im Auge zu behalten, sollten wir wirklich durch den Spiegel treten.

„Damit ist es dann wohl beschlossen.“ Boudicca seufzte. „Wer hätte gedacht, dass es jemals so enden würde?“

„Sehen Sie es doch mal von der positiven Seite“, sagte Talita. „Sie werden sehr viele neue Dinge kennenlernen.“

Das Lächeln, das Boudicca ihr zuwarf, wirkte sehr gezwungen. „Ich werde mit den anderen Hexen sprechen. Am besten brechen wir bald auf, um alles vorzubereiten. So eine Nachricht verbreitet sich nicht von alleine. Und wir müssen mehr Tore erschaffen und den anderen Zirkeln Bescheid geben. Da kommt viel Arbeit auf uns zu.“

„Wir werden hierbleiben“, verkündete ich in diesem Moment.

Mit einem Mal war ich der Mittelpunkt der Gesellschaft.

„Wir haben hier sechs Dämonen. Was glauben Sie, wie die Mortatia reagieren werden, wenn sie sie sehen. Es ist für uns alle sicherer hierzubleiben. In einem der Häuser lässt sich sicher ein Spiegel finden. Ich werde dann hier unser eigenes Portal öffnen. Und wer weiß? Vielleicht überlegen sich ein paar der anderen Dämonen es sich ja doch noch anders, dann sollte jemand hier sein, der sie empfangen kann.“ Und außerdem war das hier Askeas Zuhause. Wenn ich ihn nicht dazu bringen konnte, diese Welt zu verlassen, würde er sich genau hier am wohlsten fühlen. Deswegen würde ich dann mit ihm zusammen genau hier bleiben.

„Wahrscheinlich hast du Recht“, überlegte Boudicca. „Ich werde dir zwei Hexen hier lassen. Mit ihnen kann ich kommunizieren, dann können wir uns verständigen, und bei dir sind sie genauso sicher wie bei mir.“

Aha, gut zu wissen.

„Mit den anderen werde ich dann am besten sobald wie möglich aufbrechen. Wir müssen zurück in die Burg, um alles vorzubereiten.“

Talita runzelte die Stirn. „Aber die Burg ist mehrere Tagesfahrten entfernt.“

„Ich weiß.“ Boudicca schaute zum Himmel hinauf. „Wir können nur hoffen, dass die Welt noch lange genug durchhält, damit wir uns alle in Sicherheit bringen können.“

Sie hatte ihren Mund noch nicht einmal richtig geschlossen, da durchschnitten Lichtblitze die herrschende Dunkelheit, um die Erde zu spalten, und erhellten die Luft, die nur so mit sich auflösenden Ascheflocken getränkt war.

 

°°°°°

Tag Einunddreißig

 

Fast ehrfürchtig ließ Askea seine Hand über das verwitterte Holz des Türsturzes gleiten. Kryptische Symbole und Zeichen, die für mich keinerlei Sinn ergaben, waren darin eingeritzt. In den Kerben klebte noch verblichene Farbe aus alter Zeit, aber das meiste davon war von dem Sand der vergangenen Jahre abgeschliffen worden.

Askea ließ seine Hand zurück an seine Seite fallen. Er stand einfach nur da und starrte in den leeren Türrahmen hinein.

Das zugehörige Haus war von den Sandwehen der Zeit völlig zugeschüttet worden. Ohne Askeas Führung hätte ich niemals geahnt, dass es hier ein kleines Gebäude gab. „Was ist das für ein Haus?“

„Hier bin ich aufgewachsen.“

Oh.

Hier hatte er mit seinem Vater gelebt. Hier war er als Kind durch die Zimmer gerannt. Obwohl ich bezweifelte, dass Askea ein typisches Kind gewesen war, das schreiend und spielend in der Gegend umhergeturnt war, immer auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer.

Aber das hier war der Ort seiner Kindheit. Damals, als das Leben für ihn noch normal und einfach gewesen war. „Willst du hineingehen?“ Ich nahm seine Hand und schmiegte mich an seine Schulter. Ja, ich gab es zu, ich war neugierig auf dieses Haus. Darum überraschte seine Antwort mich umso mehr.

„Nein.“

„Nein?“ Ich blickte zu ihm auf. „Aber –“

„Hier gibt es nichts mehr, was für mich von Bedeutung wäre.“ Er trat einen Schritt zurück und zog mich mit sich.

„Askea …“

Seine Oberlippe hob sich. Er wollte dort nicht hinein. Und weil er das nicht wollte, würde er es auch nicht tun. „Komm“, sagte er nur, wandte sich ab und zog mich ohne Rücksicht auf Verluste hinter sich her.

Kurz nach unserem Gespräch gestern hatten die Hexen ihre sieben Sachen gepackt und waren aufgebrochen. Faye und die gedrungene Hexe namens Alvina waren hiergeblieben. Die beiden hatten irgendeine magische Fähigkeit, die es ihnen erlaubte, mit den anderen Hexen kommunikativ in Verbindung zu bleiben.

Ich wusste genau, dass Boudicca sie nicht wegen uns hiergelassen hatte. Ihre Gründe waren einfacher Natur. Es ging ihr um die Dämonen. Vielleicht hatte unser kleiner Ausflug nicht das erhoffte Ergebnis gebracht, aber die wenigen Dämonen, die sie auf ihre Seite hatte ziehen können, wollte sie nicht einfach so verlieren. Es konnte ja immerhin sein, dass sie sie noch gebrauchen konnte.

Die Stimmung war noch immer gedrückt und von einer unterschwelligen Verzweiflung besessen, aus der es scheinbar kein Ausweg gab. Jeder von uns würde etwas verlieren. Land, Besitz, Freunde. Oder in meinem Fall: Familie.

Ich machte mir keine falschen Hoffnungen. Askea wollte noch immer nicht gehen. Er war nicht feige, doch er kannte nichts anderes als das hier. Er brauchte es zum Leben. Die Dämonen waren mit der Magie noch viel enger verbunden als Hexen. Sie ihnen zu entreißen, würde bedeuteten, ihnen einen Teil ihrer selbst wegzunehmen.

Ja, ich verstand meinen drakonischen Dämon, aber deswegen musste es mir noch lange nicht gefallen.

„Pass auf“, befahl Askea, als wir eine halb zugeschüttete Treppe emporstiegen. Links und rechts rieselte der feine Sand hinunter. Er erinnerte mich an eine Sanduhr. Eine Sanduhr, die langsam ablief. Super, jetzt auch noch apokalyptische Gedanken. Warum stürzte ich mich nicht einfach gleich von der nächsten Klippe?

Hör auf damit und konzentrier dich lieber auf deine Aufgabe! Ich lief hier nämlich nicht nur aus Spaß oder wegen zu viel Langeweile durch die Ruinen der Vergangenheit. Wir suchten etwas. Einen großen Spiegel. Genauer gesagt, wusste Askea wohl, wo wir einen finden konnten, und wollte ihn holen. Ich war ihm kurzerhand einfach gefolgt.

Es war nicht so, dass wir an den Hexen zweifelten, aber sicher war nun mal sicher. Und ich würde dafür sorgen, dass meine Familie in Sicherheit kam, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gab.

Askea führte mich durch die halbe Anlage, bis wir zu einem ziemlich pompösen Haus kamen – okay, pompös wirkte es nur, wenn man es mit den anderen Häusern hier verglich. Es war nicht nur dreimal so groß wie die anderen, es besaß auch mehrere Balkone und stuckverzierte Zierleisten, an denen noch Goldsprenkel hafteten. Früher musste das einmal sehr hübsch ausgesehen haben. Das Dach war flach, die Außenwände aus einem sehr hellen Sandstein. Ein wunderschöner Zierzaun zeigte an, wo einmal blühende Beete gewesen sein mussten.

Das ganze Gebäude war noch immer in einem sehr guten Zustand. Man konnte fast glauben, dass die Besitzer nur mal eben vor die Tür gegangen waren und jeden Moment wieder nach Hause kommen würden. „Wo sind wir hier?“

„Hier haben Mila und ihre Tochter Lahja gelebt.“

Lahja? Das war doch seine erste Freundin gewesen – na ja, sowas in der Art zumindest. Der Stich der Eifersucht traf mich völlig unvorbereitet. Es war albern, besonders, da zwischen den beiden nie etwas geschehen war, und auch, weil sie in der Zwischenzeit schon seit vielen Jahren tot war, aber Eifersucht folgte selten logischen Regeln.

Lahja hatte Askea aufwachsen gesehen. Während seiner ganze Kindheit war sie seine einzige Vertraute und der erste Mortatia gewesen, der ihn als ein Individuum gesehen hatte und nicht als Teil einer gefährlichen Rasse, die es zu erforschen galt. Wenn die Dämonen nicht gekommen wären, wer wusste schon, was zwischen ihnen noch geschehen wäre?

„Komm“, sagte Askea und zog mich auf das Haus zu. Das Haus, in dem er so oft gewesen war, bei einem Mädchen, für das er sich interessiert hatte. Das war es wohl, was dieses Gefühl hervorrief. Lahja war nicht irgendwer gewesen; sie war die Erste gewesen, die für ihn hätte mehr sein können.

Hör auf damit, das ist doch albern. Du kannst ihm doch nicht vorwerfen, dass er eine Vergangenheit hat und dass es dort jemanden gab, den er sehr gerne hatte.

Wie Lahja wohl ausgesehen hatte? Sie war eine Rakshasi gewesen, ein perfekte Verschmelzung von Katze und Mensch. Elegant, geschmeidig, anmutig. All das, war ich nicht war …

Schluss jetzt!

Askea, der von meinen Gedanken nichts ahnte, öffnete die schwere Holztür. Die Scharniere gaben ein protestierendes Knarzen von sich. Sie waren mit der Behandlung absolut nicht einverstanden.

Ich wollte nicht in dieses Haus, aber ich konnte Askea ja wohl schlecht meine Gründe darlegen, also ließ ich mich wortlos ins Innere ziehen.

Direkt hinter der Tür wartete ein großer offener Raum auf uns. In der Ecke gab es eine gemütliche Sitzlandschaft, die zum Faulenzen einlud. Drei Türen führten in andere Räume. In einem davon konnte ich eine Treppe erkennen, die wohl in die obere Etage führte. Ein paar Regale und Kommoden. Alles hatte diesen leicht orientalischen Touch.

Die Mitte des Raumes wurde von einem flachen Tisch eingenommen, der von vielen bunten Sitzkissen eingerahmt war. Ein alter gewebter Teppich ragte an allen Seiten heraus.

Alles war von einer dicken Staubschicht bedeckt. Genau wie das Buch, das einsam auf dem flachen Tisch lag.

Ich habe versucht, sie zu brennen. Als sie verstand, was ich vorhatte, hat sie mir ein Buch auf den Kopf gehauen, mir gesagt, ich solle mit diesem Unfug aufhören, und ist in die Küche gegangen, um sich etwas zu essen zu machen.

Und kurz darauf war sie tot gewesen. „Vermisst du sie?“, fragte ich leise und konnte meinen Blick einfach nicht von diesem Buch abwenden. War es das gleiche, das Lahja benutzt hatte, um Askea wieder zur Vernunft zu bringen?

„Jeden Tag.“ Seine Worte waren leise, aber darin klang eine Sehnsucht mit, die meine Eifersucht noch anstachelte.

„Manchmal wäre es für dich von Vorteil, wenn du nicht so ehrlich wärst.“ Ich machte mich von ihm los und trat einen Schritt zurück.

Verdutzt blickte er mir nach. Er musterte mich und versuchte herauszufinden, was in meinem Kopf vor sich ging.

Ich drehte mich von ihm weg. „Wollten wir nicht einen Spiegel holen gehen?“

„Was hast du?“

„Es ist hier unheimlich. Ich will hier so schnell wie möglich wieder raus.“ Als ich mich von ihm entfernen wollte, packte er meinen Arm und wirbelte mich zu sich herum. Nase an Nase standen wir da.

„Ich werde nicht noch einmal fragen.“ Seine Stimme sollte wohl bedrohlich wirken. Mich ließ das völlig kalt.

„Dann lass es.“

Natürlich zeigte er mir daraufhin die Zähne. „Ist es, weil ich nicht mit dir gehen werde?“

Ich wollte Ja sagen, ich wollte Nein sagen, ich wollte ihn zur Hölle schicken. Aber stattdessen kamen ganz andere Worte aus meinem Mund. „Liebst du mich?“

Seine Brauen zogen sich leicht zusammen. Er schien über diese Frage gründlich nachdenken zu müssen, bevor er den Mund öffnete. „Du gehörst mir.“

„Das war es nicht, was ich gefragt habe.“

„Ich weiß, dass dieses Wort für die Mortatia eine große Bedeutung hat, doch ich kenne sie nicht. Was sie damit sagen wollen … Ich habe es nie verstanden.“

Was? Sollte das heißen, er wusste nicht, wie man das Wort ‚Liebe‘ assoziierte? „Liebe bedeutet, einer anderen Person immer nahe sein zu wollen. Man vermisst sie, wenn sie nicht bei einem ist, und sorgt sich um sie. Es ist ein Gefühl, das dich mit jemand anderem verbindet. Manchmal würdest du am liebsten in ihn hineinkriechen, an anderen Tagen bist du so wütend, dass du ihm am liebsten den Kopf abreißen würdest. Es ist ein starkes Gefühl. Selbst wenn du nicht willst, fühlst du dich zu dem anderen hingezogen. Sowohl auf körperlicher als auch auf seelischer Ebene. Die Liebe sagt uns, zu wem wir gehören. Manchmal lässt sie uns die Welt sogar mit anderen Augen sehen.“

„Dann liebe ich dich.“

Phantastisch. Das hatte sich jetzt angehört, als würde er nur nebenbei etwas zugeben, was kaum erwähnenswert war. Ich musste trotzdem lächeln. „Liebst du mich genug, um immer an meiner Seite zu bleiben?“

Sein Gesicht verdüsterte sich. „Ich werde nicht durch den Spiegel treten, das habe ich dir bereits gesagt.“

„Also nicht.“

„So kannst du das nicht sehen.“

„Ach nein? Warum nicht?“

Dazu schien ihm keine Antwort einzufallen.

„Ich bin bereit, bei dir in einer sterbenden Welt zu bleiben, die mit Sicherheit unseren Tod bedeutet. Warum willst du nicht zusammen mit mir zusammen in einer Welt leben, in der wir eine Zukunft haben könnten?“

„Es gibt dort keine Magie.“

Ach nee, wirklich? „Wärst du für Lahja in die andere Welt gegangen?“

„Was?“ Diese Frage schien ihn völlig zu verwirren. „Lahja ist tot.“

„Und wenn sie es nicht wäre? Wenn sie nun hier stehen und dir ihre Hand reichen würde, was würdest du tun?“

„Du redest dummes Zeug.“

Das war die falsche Antwort. Ich pflückte seine Hand von meinem Arm und wandte mich von ihm ab.

Knurrend griff er nach mir, und als ich mich wehren wollte, drückte er mich mit dem Gesicht voran gegen die Wand, um mich zu fixieren. „Was wird das hier?“

„Das ist eine wirklich gute Frage.“ Ich versuchte mich so zu drehen, dass ich ihn anfunkeln konnte. Das war nicht ganz einfach, denn er ließ mir nur wenig Spielraum. „Was soll das hier werden? Diese Welt stirbt und du bist nicht bereit zu gehen. Warum? Hast du solche Angst? Bist du neuerdings ein Feigling? Oder ist es die Erinnerung, die dich hier hält? Ist es Lahja?“

„Ich bin kein Feigling.“

„Doch, genau das bist du. Was glaubst du, was passieren wird, wenn du mich begleitest?“

„Ich werde dich nicht mehr kontrollieren können.“

Ich öffnete den Mund, doch mir fehlten die Worte. Das war sein Problem? Er hatte Angst, die Kontrolle über mich zu verlieren?

„Wenn du gehst, werde ich dich nicht aufhalten können. Und was soll ich dann tun? Es ist nicht sicher, ob wir jemals zurückkehren können. Selbst wenn die magische Welt sich regenerieren sollte, wissen wir nicht, ob es noch Portale geben wird. Ohne die Magie kann ich dich nicht bei mir behalten.“

Ich konnte es nicht glauben. Nein, wirklich, das war einfach unglaublich. „Du vertraust mir nicht.“

„Ich vertraue dir. Doch irgendwann wird der Tag kommen, an dem auch du mir auf die eine oder andere Art genommen wirst. Jeder geht irgendwann.“

Er sprach von seinen Verlusten. In seinem ganzen Leben hatte er nie jemanden gehabt, der ihm erhalten geblieben war. Weder seine leiblichen Eltern noch seine Ersatzfamilie. Selbst die Familien, die er selbst gegründet hatte, waren vernichtet worden. Aamu war gestorben und ich hatte ihn verlassen müssen, um nicht zu sterben.

Jetzt verstand ich seine Worte erst. Er vermisste Lahja nicht, weil sie sein Ein und Alles gewesen war. Sie war Familie, genau wie jeder andere in seinem Leben, den er näher an sich herangelassen hatte. Und sie alle waren irgendwann verschwunden.

Wenn er mich nun in eine andere Welt schickte, war das seine Entscheidung. Wenn er mir folgen würde und mich dann verlor, würde er das nicht verhindern können.

Auf eine sehr verdrehte Weise ergab das wirklich einen Sinn. „Geh mit mir durch den Spiegel und du wirst sehen, dass du mich nicht mehr loswerden wirst.“

Seine Miene blieb unbewegt. Seine Vergangenheit stand im Widerspruch zu meinen Worten. Er konnte es einfach nicht glauben.

„Bitte Askea, wir –“

Eine plötzliche Vibration unter meinen Füßen ließ mich verstummen. Auch Askea hatte sie gespürt. Er schaute nach unten.

Der Boden beruhigte sich wieder, nur um im nächsten Moment so sehr erschüttert zu werden, dass ich das Gleichgewicht verlor und hinfiel. Askea schaffte es gerade noch so, auf den Beinen zu bleiben. Die Wände bebten, die Decke bebte, das ganze verfluchte Haus bebte.

Draußen gab es ein ohrenbetäubendes Krachen.

Staub und Putz rieselten von den Wänden.

„Raus!“, befahl Askea, riss mich am Arm zurück auf die Beine und schubste mich vorwärts.

Ich stolperte zur Tür hinaus und wäre um ein Haar in einen Graben gefallen. „Was zum …?“ Der war eben aber noch nicht da gewesen.

Meine Augen wurden riesig.

Ein weiteres Beben erschütterte das Erdreich. Der Boden riss auf. Wie eine Laufmasche grub sich der Spalt zwischen den Häusern hindurch. Eines ließ er sogar einstürzen und riss es mit sich in die Tiefe.

„Die Kinder!“, rief ich und wollte losstürmen. Seraphine und Fax waren bei Talita auf dem Mosaikplatz. Fax war nach dem Ritual noch immer nicht zu sich gekommen. Ich musste zu ihnen.

Askea riss mich zurück ins Haus, als der Spalt vor meinen Füßen sich erweiterte und der Boden, auf dem ich gerade gestanden hatte, in die Tiefe bröckelte. „Hinten raus!“, bellte er und führte mich durch das Gebäude.

Regale stürzten um, Nippes fiel auf den Boden und zerbrach dort in tausend Scherben. Ein Bild krachte von der Wand und ergoss sich im Scherenregen auf den alten Teppich.

Askea führte mich durch die Küche zu einem Seiteneingang. Er riss die Tür auf, brauchte eine Sekunde, um die Lage draußen zu überprüfen, und zog mich dann hinter sich hinaus.

Auf dem bebenden Boden war es nicht ganz einfach, sich fortzubewegen. Geröllteile regneten herab und versperrten uns den Weg. Neue Risse bildeten sich im Erdreich und verschlagen alles, was über ihnen lag.

Über das Donnern des Himmels hinweg konnte ich ein Zischen ausmachen, doch ich brauchte einen Moment, bis ich verstand, woher es kam.

Das kam von den Gräben.

Dickflüssiger Dunst stieg in wallenden Nebelschwaden empor und kroch über den Boden. Der Dampf stieg zum Himmel auf und verlor sich in der Dunkelheit der dicken Wolkendecke. Plötzlich wirkten die Geräusche um uns herum nur noch gedämpft.

Askea führte uns mitten hinein in den aufsteigenden Nebel, denn einen Weg darum herum gab es nicht.

Meine Haut begann vor Freude zu summen. Das war Magie. Der Dunst war unverfälschte, reine Magie, die aus dem Erdreich aufstieg und einfach verdunstete. Und es wurde immer mehr.

Die Erschütterungen wurden stärker. Direkt hinter uns bildete sich ein Graben, der mich fast mit sich riss. Dann ging alles ganz schnell. Ich spürte nur noch, wie der Boden unter mir verschwand und mein Magen sich plötzlich irgendwo in meinem Hals befand, doch Zeit zum Schreien blieb mir nicht. Askea riss mich einfach wieder hoch. Ich fiel in seine Arme und klammerte mich an ihn. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und mein Blut summte vor Adrenalin.

Ich wäre gerade fast abgestürzt.

Die Klarheit dieses Gedankens ließ meine Beine weich werden. Hätte Askea nicht meine Hand gehalten, wäre ich einfach in diesem Graben verschwunden. „Oh Gott.“

„Wir müssen weiter.“ Auf der Suche nach dem sichersten Weg aus diesem Chaos drehte Askea sich einmal um sich selbst, aber der Dunst war mittlerweile so dick, dass wir kaum noch etwas sehen konnten. „Wir müssen höher.“

„Lass mich nur nicht los.“ Hier wollte ich auf keinen Fall allein herumirren.

Es wurde zu einem Slalomlauf durch die kleine Tempelanlage. Mehr als einmal mussten wir umkehren und uns anders orientieren, weil der Boden unter unseren Füßen wegzubrechen drohte. Ich sah, wie sich ein Riss rasend schnell über den Boden ausbreitete und auf seinem Weg zwei kleine Häuser mit sich in die Tiefe zog. Geröll und Staub flogen durch die Luft. Der Himmel über unseren Köpfen grollte und verkündete seinen Unmut. Das Beben schien immer schlimmer zu werden.

Askea hatte mich mittlerweile zum Außenwall geführt und rannte mit mir daran entlang.

Mein Atem ging keuchend. Die Magie kitzelte mich in der Nase. Und die ganze Zeit galten meine Gedanken meinen Kindern. Die Ungewissheit und Sorge um sie fraß mich fast auf und zwang mich dazu, noch schneller zu laufen. Ich wusste, dass Talita und Veith auf sie aufpassen würden, aber was, wenn den beiden etwas geschah?

Ich musste mich vergewissern, dass es ihnen gut ging. Ich musste …

Mein Lauf wurde abrupt beendet, als Askea direkt vor mir schlagartig stehen blieb. Ich hatte so viel Schwung, dass ich einfach in ihn hineinlief und ihn damit noch ein Stück nach vorne stieß. Ich prallte ab und fiel nur nicht auf meinen Hintern, weil er noch immer meine Hand festhielt. „Was machst du? Wir müssen weiter!“

Wortlos deutete er auf den Graben direkt vor unseren Füßen. Er war nicht sehr breit, vielleicht zwei Meter, aber er schien sehr tief zu sein. „Wir müssen auf die andere Seite.“

Ich folgte mit dem Blick dem Verlauf des Grabens. „Dann müssen wir den ganzen Weg wieder zurück.“ Nein, bitte nicht.

„Dort ist der Boden auch schon aufgerissen, da werden wir nicht einfach vorbeikommen.“

„Aber –“

„Wir springen.“

Ähm … „Ich kann nicht so weit springen.“

„Du kannst und du wirst. Wir springen zusammen.“

Keine gute Idee. „Ich werde fallen und dich mit in die Tiefe reißen!“

„Du wirst nicht fallen.“

„Doch, ich werde –“

Er riss mich zu sich heran, packte meine Schultern mit festem Griff und sah mir tief in die Augen. „Wenn ich sage, dass du nicht fallen wirst, dann fällst du auch nicht.“

Ich hätte seiner Logik ja widersprochen, doch das wäre nur Zeitverschwendung gewesen.

„Zusammen“, sagte er ein weiteres Mal. Er ließ meine Schultern los, nahm meine Hand und wich mit mir ein paar Schritte von der bröckelnden Kante zurück.

Der Boden wurde von einem weiteren Rumoren erschüttert. Neben mir entstanden kleine Risse.

„Renn!“, befahl Askea und sprintete los.

Mir blieb gar nichts anderes übrig, als ihm nachzueifern, sonst wäre ich einfach auf der Nase gelandet.

Ich schaffe das. Ich schaffe das. Ich werde das schaffen!

Die Kante kam näher. Ich wollte langsamer laufen, doch Askea ließ es nicht zu.

Ich konnte das.

Noch zwei Schritte.

Einer.

„Jetzt!“, brüllte Askea.

Mit aller Kraft stieß ich mich vom Boden ab. Dabei kniff ich die Augen zusammen.

Der Wind riss an meinen Haaren und für einen kurzen Moment fühlte ich mich völlig schwerelos. Mein Herz raste und der Atem stockte mir in den Lungen. Dann begann ich zu fallen … und schlug hart auf dem Boden auf. Askea glitt mir aus der Hand.

Ein Laut des Schmerzes kam mir über die Lippen, als ich über den Boden schlitterte. Der Sand schmirgelte mir die Haut ab. Es brannte wie Feuer. Eine Wand stoppte meinen Rutsch. Ich knallte mit der Schulter dagegen, dann lag ich schweratmend da.

Wir hatten es geschafft. Einen Fluch unterdrückend, richtete ich mich halb auf und suchte nach Askea. Er hockte unweit von mir auf dem Boden – scheinbar war seine Landung besser verlaufen als meine.

„Komm.“ Er packte mich wieder an der Hand, riss mich zurück auf die Beine und rannte wieder los. Genau wie ich wollte er keine Zeit verlieren.  

Wir hatten vielleicht den halben Weg zu den Kindern zurückgelegt, als das Rumoren der Erde genauso plötzlich verschwand, wie es aufgetaucht war, und eine unnatürliche Stille zurückließ. Da war nur noch das Grollen des Himmels und die blassen Nebelschwaden, die unaufhaltsam aufstiegen und meine ganze Haut prickeln ließen.

Askea verlangsamte seinen Schritt und blieb dann ganz stehen.

Ich folgte seinem Beispiel. „Ist es vorbei?“

„Ich weiß es nicht.“ Wachsam sondierte er die Umgebung und suchte nach weiteren Gefahren. Da bebte der Boden ein weiteres Mal, doch es war nicht annähernd so schlimm wie zuvor. Eher wie ein letzter Rülpser, bevor sich die Magie zufrieden über den Bauch rieb und zurücklehnte, um sich ein kleines Schläfchen zu gönnen.

Dann war alles wieder ruhig.

„Lass uns weitergehen.“ Dieses Mal rannte Askea nicht los. Es war eher sowas wie ein vorsichtiges Vorantasten. Er traute der Ruhe nicht. Er traute dem Nebel nicht. Und er traute dem bröckligen Boden nicht. Kurz zusammengefasst, er traute der ganzen verfluchten Situation keinen Fingerbreit.

Da konnte ich mich nur anschließen.

Wachsam führte Askea uns durch die unheimliche Stille. Alles blieb ruhig. Erst nach ein paar Minuten wurde die unerträgliche Atmosphäre von ein paar Stimmen unterbrochen. Ich verstand nicht, was gesagt wurde, doch ich erkannte, wer da sprach. „Das ist Kovu.“

Hastig machte ich mich von Askea los und rannte, was die Beine hergaben. Geradeaus, um die Ecke, und dann stand ich am Rande des Mosaikplatzes.

Fassungslos riss ich die Augen auf. Der Platz war vollkommen zerstört. Ein tiefer Krater hatte nicht nur das wunderschöne Mosaik mit sich in die Tiefe gerissen, sondern auch noch ein paar der umstehenden Häuser. Und Kovu war zusammen mit den anderen auf der gegenüberliegenden Seite und drückte Seraphine an seine Brust. Veith hatte sich den bewusstlosen Fax über die Schulter geworfen. Sie befanden sich auf dem Dach eines Hauses, zusammen mit den Dämonen und Hexen, die einen Schutzschild um alle errichtet hatten. Ihnen ging es gut. Talita ging es gut. Meinen Kindern war nichts passiert.

Eine zentnerschwere Last fiel von mir ab. „Ihnen ist nichts passiert.“

„Die Wölfe haben aufgepasst.“

Ich schaute zu Askea auf. Das hatte sich ja fast wie ein Kompliment angehört. „Ist es das, was du einem Leben mit mir vorziehen willst?“, fragte ich leise, aber sehr eindringlich. „Wenn du bleibst, wirst du sterben. Fax wird sterben. Und auch ich, denn ich werde nicht ohne dich gehen.“

Sein Mund wurde zu einem dünnen Strich.

„Ich verstehe dich ja, aber sieh dich doch nur mal um. Nicht einmal du kannst es schaffen, in einer solchen Welt zu überleben. Es bliebt nicht mehr viel Zeit, Askea, wir müssen gehen.“

Er sagte kein Wort, doch seine Augen konnten nicht von der Zerstörung lassen.

„Soll ich betteln? Ist es das, was du willst?“ Ich baute mich vor ihm auf. „Soll ich auf die Knie gehen und dich anflehen? Ich werde es tun, nur bitte komm mit mir.“

Sehr langsam senkte er seinen Blick auf mich.

„Bitte“, flehte ich. „Ich tue alles, was du willst, nur begleite mich.“

Wortlos legte er die Arme um mich und zog mich ganz fest an sich. Ich spürte die Anspannung in seinem Körper. Natürlich ließ ihn das alles nicht kalt, doch er konnte mir keine zufriedenstellende Antwort geben. Deswegen schwieg er einfach.

Langsam begann ich zu verzweifeln. Ich wollte nicht sterben, aber ich konnte auch nicht ohne ihn gehen. Und dann die Kinder. Ich konnte nicht zulassen, dass sie hierblieben. Irgendwie musste ich Askea doch dazu bringen können, durch einen Spiegel zu treten. Es gab sicher einen Weg, aber uns lief die Zeit davon. „Bitte“, flehte ich noch einmal. „Bitte komm mit mir.“

 

°°°

 

„… kommt auch der Sandmann, leis` tritt er ins Haus, sucht aus seinen Träumen, dir den schönsten aus. Laaaleeeluuu, nur der Mann im Mond schaut zu, wenn die kleinen Babys schlafen, drum schlaf auch du.“ Ich beugte mich vor und gab der zufrieden schmatzenden Seraphine einen Kuss auf die Stirn. „Schlaf gut, mein Schatz.“

Erleichtert streckte ich mich neben ihr aus.

Die Erschütterungen hatten aufgehört und auch der Himmel hatte sich endlich etwas beruhigt. Es war schon sehr spät, doch endlich schien sich die Umgebung ein wenig zu stabilisieren. Wenn sich jetzt noch die Wolkendecke verziehen würde, könnte ich vielleicht sogar entspannt schlafen.

Leider war ich schon die ganze Zeit unruhig. Ich wusste nicht genau, woran es lag. Es war wie ein Jucken, das ich nicht kratzen konnte. Etwas lag in der Luft. Ich befürchtete, dass dies nur die Ruhe vor dem Sturm war, und wenn ich bedachte, was in der letzten Zeit so losgewesen war, wollte ich gar nicht wissen, wie dieser Sturm aussah.

Hinter mir saß Askea und bewachte uns wie ein Habicht. Die Anspannung schien in Wellen von ihm auszugehen und ließ mich noch unruhiger werden.

Nachdem wir die anderen auf dem Dach entdeckt hatten, war es an der Zeit gewesen, sich ein sicheres Plätzchen zu suchen. Nun gut, sicher war in unserer Situation im besten Fall zweifelhaft, einfach weil es im Moment nirgends wirklich sicher war. Jetzt saßen wir im Hof einer alten Stallung. Der Boden zwischen den Gebäuden war unbeschädigt und die Bauten selbst hatten das heftige Erdbeben recht gut überstanden. Trotzdem wollten wir uns nicht drinnen aufhalten. Nicht nur, dass uns dann etwas entgehen konnte; die Furcht, dass uns einfach die Decke auf den Kopf fallen könnte, war einfach zu groß.

Direkt neben Seraphine saß Fax auf seinem Lager und kratzte mit einem Messer auf einem Stein herum. Vor gut zwei Stunden hatte er endlich die Augen geöffnet und erstmal die Hälfte unserer Vorräte aufgefuttert. Der Anblick hatte mir Tränen in die Augen getrieben. Erst als ich gesehen hatte, wie er hungrig alles in sich hineinstopfte, hatte ich meiner Sorge freien Lauf lassen können. Gleichzeitig war ich überglücklich gewesen, dass es ihm gut ging.

Talita und ihre Wölfe hatten sich direkt neben uns auf ihren Lagern ausgestreckt und schliefen bereits. Na ja, Talita schlief, und Kovu vielleicht auch. Veith hatte die Augen offen und beobachtete unablässig die grüne Dämonin, die schon wieder Perlen aus der Tasche an ihrem Gürtel auf eine Sehne auffädelte. Was das wohl werden sollte? Unser Gepäck verdeckte dabei sein Gesicht, sodass sie es nicht sehen konnte.

Die beiden Hexen hatten sich ein wenig von uns entfernt und bewachten einen mannshohen Spiegel. Askea war nochmal allein in das Haus von Lahja gegangen, um ihn zu besorgen. Das war wohl die schlimmste halbe Stunde seit langem gewesen, aber ich hatte nicht mit ihm gehen können, ohne die Kinder ein weiteres Mal alleinzulassen.

Hinter mir hörte ich ein leises Knurren. Eine kurze Überprüfung von Talita und ihren Wölfen ergab, dass es nicht aus dieser Richtung gekommen war. Also drehte ich meinen Kopf und richtete meine Aufmerksamkeit auf den letzten Teil unserer seltsamen kleinen Truppe.

Die Rubine hielten sich ein wenig abseits von uns. Ihre Tochter schlief bereits und der Mann saß neben ihr. Die Frau allerdings lief unruhig vor ihrem Gefährten auf und ab und fixierte ihn mit einem äußerst merkwürdigen Blick.

Wieder stieß der Mann ein leises Knurren aus, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen.

Sie lächelte, hockte sich vor ihn und streckte eine Hand nach ihm aus, doch bevor sie ihn berühren konnte, hatte er sie bereits am Arm gepackt und riss sie auf seinen Schoß. Ich hätte auch ohne hinzuschauen gewusst, was jetzt kam. Er brannte sie, völlig ungeniert in aller Öffentlichkeit.

Meine Markierung begann zu kribbeln, und als ich Askea anschaute, begegnete ich seinem Blick. Ich zog nur eine Augenbraue hoch, denn diesen Blick kannte ich nur zu gut. „Nein“, sagte ich daher.

Unzufrieden zeigte er mir die Fänge.

Nun war es an mir zu lächeln.

Die beiden Rubine waren so beschäftigt miteinander, dass sie gar nicht mehr auf ihre Tochter achteten. Die schlief nämlich gar nicht, sondern hatte nur so getan. Ich jedoch bemerkte es.

Langsam, um auch nicht die Aufmerksamkeit ihrer Eltern auf sich zu ziehen, erhob sie sich auf alle Viere und krabbelte von ihnen weg – direkt auf Fax zu.

Mein Sohn bemerkte ihr Näherkommen sofort und ließ den Stein sinken. Wachsam beobachtete er, wie sie sich ihm näherte, bis sie nur noch den Arm hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Sie lächelte und versuchte dann genau das, doch ihre Hand ging ins Leere, da Fax sich kurzerhand erhob und zwischen mich und seinen Vater setzte.

Die Kleine sprang auf die Beine, umrundete uns zweimal und hockte sich in respektabler Entfernung vor meinen Sohn. „Ich bin Jiska.“

Fax kehrte ihr den Rücken zu.

„Wie ist dein Name?“

Er rutschte noch ein Stück weiter, bis er sich praktisch hinter seinem Vater versteckte.

O-kay.

„Du scheinst nicht sehr gesprächig zu sein.“

„Geh weg“, war seine Antwort. Im gleichen Moment schlug eine Flamme aus seinem Arm. Er zog die Schultern hoch, als wäre ihm das peinlich, und dass Jiska lachte, schien es auch nicht wirklich besser zu machen.

Mir wurde bewusst, dass es wohl das erste Mal war, dass Fax mit einem Kind konfrontiert wurde – einem, das nicht zu seiner Familie gehörte. Wahrscheinlich wusste er einfach nicht, wie er sich verhalten sollte. Da Askea aber auch nichts dagegen unternahm oder aggressiv reagierte, schien auch ich mir keine Sorgen machen zu müssen.

Jiska erhob sich wieder und umrundete Askea, bis sie wieder vor Fax war. „Was machst du da?“

Er warf einen verunsicherten Blick zu mir.

„Du kannst ihr ruhig antworten.“

So wie er mich anschaute, hatte er wohl gehofft, dass ich sie wegschicken würde. „Ich schleife mein Messer.“

„Das ist ein schönes Messer.“ Sie hockte sich vor ihn. „Hast du das selbst gemacht?“

Wieder ein Blick zu mir. „Nein, ich habe es gefunden.“

Sie beobachtete ihn ein paar Minuten beim Schleifen. „Sagst du mir jetzt, wie du heißt?“

Er schaute sie an, als wäre sie nicht ganz dicht. „Warum willst du das wissen?“

Ein einfaches Schulterzucken war ihre Antwort. „Mein Papá hat gesagt, dass du uns hergerufen hast.“

„Das waren die Hexen.“

„Ja, aber mit deiner Hilfe.“

Fax rutschte unbehaglich hin und her. „Kannst du nicht weggehen?“

„Nein.“ Wie um ihre Worte zu unterstreichen, ließ sie sich direkt vor ihm in den Schneidersitz fallen. „Bis heute habe ich noch nie andere Rubine gesehen. Wo ist deine Mutter?“

Oh, oh.

Fax‘ Schultern spannten sich deutlich an. Wieder schlugen ihm Flammen aus den Armen. „Geh weg.“

„Warum?“

„Weil ich nicht mit dir reden will.“ Er erhob sich und ließ ich jetzt neben mir und seiner Schwester nieder. Wahrscheinlich erhoffte er sich von mir die Unterstützung, die Askea ihm nicht zukommen ließ.

„Aber ich will mich mit dir unterhalten.“ Auch sie kam wieder auf die Beine, doch bevor sie Fax weiter belästigen konnte, schallte ein geknurrtes „Jiska!“ über den Hof.

Da war ihren Eltern wohl aufgefallen, dass in ihrem Dreiergespann jemand fehlte.

Ertappt zog sie den Kopf ein und trollte sich dann unter dem strengen Blick ihres Vaters zu ihrem Lager. Sie hatte es gerade erreicht, als ein heftiger Wind durch den Hof zog und Sand aufwirbelte. Ich musste den Kopf abwenden.

Wie von der Tarantel gestochen, sprang Askea auf die Beine und fixierte einen Punkt hoch oben auf dem Dach des Stallgebäudes. Er fletschte die Zähne und fauchte warnend.

Es war so dunkel, dass ich kaum etwas erkennen konnte. Der Mond und die Sterne waren verdeckt. Ohne unser Lagerfeuer wäre es stockdüster. Da oben auf dem Dach … Stand da nicht jemand? Bei dem schwachen Lichtschein war das schwer zu sagen, doch ich glaubte, eine menschliche Silhouette zu erkennen. „Wer ist das?“

Askea antwortete nicht, doch die Temperatur um ihn herum stieg bis in schweißtreibende Bereiche an.

Auch Jiskas Vater erhob sich und die Smaragdin steckte ihre Perlen ein. 

„So wollt ihr leben?“, spie uns eine Stimme von oben entgegen.

Moment, die Stimme kannte ich. Das war der Zirkon, der Askea so angegangen hatte, der Mann, der für die Narbe in seinem Gesicht verantwortlich war und mit seinen Freunden diese Stadt in einen toten Ort verwandelt hatte.

„Als Schoßhündchen der Mortatia?“ Ohne sich über Schwerkraft oder Knochenbrüche Gedanken zu machen, sprang er von der Dachkante. Ein heftiger Wind umwehte ihn, als er nur wenige Meter vor uns im Sand landete. „Glaubt ihr, sie werden euch wie Gleichberechtigte behandeln?“ Er richtete sich zu seiner vollen furchteinflößenden Größe auf. „Da irrt ihr euch.“

Plötzlich gab es über unseren Köpfen ein so lautes Krachen, dass ich einen Moment glaubte, der Himmel würde auf uns stürzen. Seraphine erwachte mit einem Schreck und fing an zu weinen, und auch Talita stand plötzlich auf den Beinen und schaute sich hektisch nach allen Seiten um.

„Sie werden euch nur so lange an ihrer Seite dulden, bis sie euch nicht mehr brauchen.“

„Was ist eigentlich dein verfluchtes Problem?“, fragte ich und hob die weinende Seraphine auf meine Arme. „Du weißt gar nichts über uns und glaubst trotzdem, uns mit deinen Weisheiten belästigen zu müssen?“

Wieder krachte es.

In der Ferne begann der Boden zu grollen und zu vibrieren.

Oh nein, bitte nicht jetzt.

Fax ging hinter mir in Deckung.

„Sei still, Frau, sonst stirbst du.“

Askea ging in Flammen auf. „Sprich sie nicht an.“

Der Himmel wurde kurz von einem Blitz erhellt und riss damit die Wolkendecke auf. Für einen klitzekleinen Moment sah ich ein winziges Stückchen Himmel. Oh Gott, er war blutrot!

Der Zirkon belauerte Askea. „Willst du mich daran hindern?“

„Stell mich besser nicht auf die Probe.“

Um uns herum kamen orkanartige Windböen auf, die mich von den Beinen zu reißen drohten. Faye wurde einfach gegen die Hauswand geweht und Talita ging in die Knie.

Das war der Zirkon! Er entfesselte seine Kraft. Verdammt, was hatte er vor?

Wieder zuckte ein Blitz über den Himmel. Es krachte, als würde die Welt einstürzen.

Nicht weit von mir tat sich ein Spalt im Boden auf. Dunstiger Nebel drang daraus hervor. Meine Haut begann zu prickeln.

Nein, nein, nein, nicht jetzt.

„Was willst du jetzt tun, kleiner Junge?“, höhnte der Zirkon. Die Winde wurden stärker. Hinter mir hörte ich ein lautes Klirren.

Ich wirbelte hastig herum und wurde von Entsetzen gepackt. Der Spiegel. Die Winde hatten den Spiegel umgeworfen, und jetzt waren nichts weiter als Scherben übrig.

„Du hast mir nichts entgegenzusetzen. Du kannst dich ja kaum auf den Beinen halten!“, höhnte er.

Askea antwortete auf die einzige Art, die der Zirkon verstehen würde: Er entließ sein Feuer, lenkte es in den Wind hinein und damit direkt auf den anderen Dämon zu.

Der Zirkon erkannte noch rechtzeitig, was da auf ihn zukam, lenkte die Winde hastig von sich und entkam so ganz knapp dem Schicksal als Grillkohle. Leider hatte er damit auch seine Verteidigung aufgegeben, und bevor er die Winde wieder zu sich rufen konnte, hatte Askea sich schon auf ihn gestürzt und ihn zu Boden gerissen.

Der Himmel wurde von weiteren Blitzen erhellt. Zwei, drei, vier. Sie folgten Schlag auf Schlag und machten die Nacht beinahe zum Tag.

„Was ist das?“, rief Fax plötzlich.

In der der Ferne wurde der Horizont von einem flackernden Licht erhellt. Aber nicht nur ein kleines Stück, nein, es sah aus, als würde der ganze Horizont in goldenem Feuer brennen.

„Es ist so weit“, sagte Faye. Ihre Augen waren vor Angst weit aufgerissen. „Die Welt geht unter.“

„Was?“ Jetzt? Das war doch wohl ein schlechter Scherz.

„Das ist Magie“, flüsterte die andere Hexe ehrfürchtig.

Das Licht kroch wie ein Lauffeuer auf uns zu. Es wurde immer heller.

Unter uns erbebte die Welt ein weiteres Mal.

„Wir müssen weg!“, schrie Talita.

„Und wohin?“, fragte ich. Der Spiegel, unser Fluchtweg, war eben zerbrochen, und Askea wälzte sich noch immer mit diesem Idioten auf dem Boden.

„Es muss hier noch andere Spiegel geben“, erklärte Veith und warf sich sein Gepäck über den Rücken.

Ich wusste nicht genau, was Jiskas Vater in diesem Moment ritt, denn Dämonen arbeiten äußerst selten und auch ungern zusammen, aber er sprang vor, packte den Zirkon und stieß ihn von Askea weg. Mit einer schnellen Handbewegung warf er ihm noch einen Feuerstrahl hinterher.

Der Zirkon konnte nicht ausweichen und gab einen beinahe unmenschlichen Schrei von sich, als er getroffen wurde.

Askea sprang wieder auf die Beine, aber in dem Moment verschwand der Zirkon in einem der Ställe.

Ich packte meinen drakonischen Dämon am Arm, als er ihm hinterher wollte. „Dafür haben wir keine Zeit, wir brauchen einen neuen Spiegel! Jetzt!“

Askea warf nur einen kurzen Blick auf den Scherbenhaufen, dann nahm er mir Seraphine aus den Armen. „Nimm deinen Stab“, befahl er mir. „Fax, die kleine Tasche.“

Ich nahm meinen Stab. „Was machen wir jetzt?“

„Im Haus der Künste gibt es eine verspiegelte Wand. Dort gehen wir hin.“ Er achtete gar nicht darauf, ob die anderen ihm folgten, als er aus der Stallanlage hinausrannte. Für ihn war nur wichtig, dass Fax und ich ihm hinterherkamen.

Wir waren kaum zwei Schritte auf die Straße getreten, als neben mir ein Haus einstürzte und einfach im Boden versank. Was zurückblieb, war nichts weiter als ein Loch, das hellen Nebel entließ.

„Passt auf, wohin ihr tretet“, ordnete Askea an und wich einem Riss im Boden aus.

Über uns gab es mehrere dicht aufeinanderfolgende Donnerschläge. Einen Moment später regneten Sternschnuppen vom Himmel und krachten auf die Erde. Eine davon knallte nur hundert Meter von uns in ein Haus ein. In der nächsten Sekunde stand es lichterloh in Flammen.

Ich sah die Ascheflocken in der Luft. Sie wurden immer dichter. Im Zeitraffer lösten sie sich von den Gebäuden und Möbelstücken. Faye hatte Recht, die Welt ging unter. Die Magie holte sich zurück, was sie einst erschaffen hatte. Es geschah genau jetzt.

„Da lang“, befahl Askea und scheuchte uns in eine dunkle Gasse. Talita und der Rest der Truppe folgten hinter uns.

Wir waren gerade aus der Gasse hinaus, als es direkt neben mir knallte. Ich sah nur noch ein großes Mauerteil auf mich zufliegen.

Als ich wieder zu mir kam, war mein Blickfeld unfokussiert und an den Rändern schwarz. Die Geräusche um mich herum drangen nur dumpf zu mir hindurch.

„…auf!“

Direkt vor mir stand Askea mit einem panischen Ausdruck im Gesicht.

„Steh endlich auf, Tiara!“

 Aufstehen?

Unter mir bebte die Erde.

Ein kleines Kind weinte.

Das war Seraphine.

„Tiara!“, schrie Askea mir direkt ins Gesicht.

Er hatte Recht, ich musste aufstehen, und zwar schleunigst.

Da Askea schon meinen kleinen Engel auf dem Arm hatte, kam Kovu zu mir gerannt und riss mich ohne viel Federlassen auf die Beine. „Wohin?!“, fragte er hektisch.

Weiter links von uns gab es ein weiteres Krachen.

Die Sternschnuppen fielen noch immer. Die Blitze kamen nicht mehr nur aus dem Himmel, sie bildeten sich auch in den Nebelschwaden über den Rissen und Spalten im Boden. Ich sah mehrere Häuser, die den Flammen zum Opfer fielen und die geisterhafte Nacht zum Tag werden ließen. Der ganze Tempel war das reinste Kriegsgebiet. 

„Hier lang.“ Mit einem schnellen Blick auf mich hetzte Askea weiter.

Ich hatte ein wenig Mühe, ihm zu folgen, und fiel zurück. Es half auch nicht wirklich, dass Kovu an meiner Seite war; meine Beine wollten mir nicht so recht gehorchen. Mein Schädel brummte und mir wurde schlecht.

Kovu hielt kurzerhand einfach an, schob mir die Arme unter die Beine und hob mich hoch.

Ich hielt mich hastig an seinem Hals fest, als er weiterrannte, um den Anschluss an die anderen nicht zu verlieren.

Wir hetzten gerade eine Art Hauptstraße entlang und wichen den Rissen im Boden aus, als der Himmel unzufrieden grollte. Im nächsten Augenblick platzte ein monsunartiger Regen auf uns nieder, der die Sicht innerhalb von Sekunden auf ein paar Meter begrenzte. Schon nach einer kurzen Minute hatte ich die anderen aus den Augen verloren. Stattdessen sah ich, was passierte, wenn die Tropfen auf den Boden schlugen. Blumen sprossen, ein Meer aus farbenprächtigen Blumen, die schon in der nächsten Sekunde wieder verblüht waren.

Das hatte ich doch schon einmal gesehen. Fehlte eigentlich nur noch das Drachenei.

Nein danke.

„Ich kann die anderen nicht mehr sehen.“

„Keine Sorge, ich kann sie riechen“, erklärte Kovu und sprintete zielsicher weiter.

„Bei dem Regen?“

„Ich hab eine sehr gute Nase.“

Hoffentlich.

Irgendwo krachte es laut. Der Boden brach auf. Chaos und Zerstörung kamen uns entgegen. Alles löste sich auf. Ich hörte eine Frau schreien, konnte aber nicht genau sagen, woher es kam.

Kovu machte abrupt eine Wendung nach rechts und glitt dabei auf dem matschigen Boden fast aus. Dann eilten wir in ein riesiges Gebäude hinein.

Es blieb nicht genug Zeit, um es mir genau anzusehen, doch es schien sich dabei um eine Art Tanzstudio zu handeln. Die vordere Wand fehlte. Sie schien gerade dabei zu sein, sich aufzulösen. Ascheflocken blätterten in Schichten davon ab und lösten sich einfach auf. Nun stand das ganze Gebäude offen.

Wir sprangen gerade aus dem Regen, als Askea direkt vor uns auftauchte. Wahrscheinlich hatte er sich nochmal draußen in Chaos stürzen wollen, um mich zu holen. Gott sei dank waren wir jetzt hier. „Du musst den Spiegel öffnen.“ Er nahm mich an der Hand und zog mich aus Kovus Armen – natürlich vergaß er dabei nicht, den Kleinen noch schnell anzufauchen. Zwei Sekunden später hatte er mich in einen prächtigen Saal geführt. Die ganze hintere Wand war ein einziger Spiegel. Stuck, Gold und Verzierungen schmückten den Raum. Ein Tanzsaal.

„Los!“, feuerte Talita mich an und ritzte sich mit einem Taschenmesser den Daumen auf. Blut tropfte auf den Boden. Dann gab sie das Taschenmesser an Veith weiter, der es ihr gleichtat.

Ich rannte zum Spiegel, legte meine Hand auf das Glas und beschwor meine Magie.

Ein Impuls raste aus meinem Körper und sickerte in das Glas hinein. Der Spiegel begann in einem sanften Blau zu leuchten.

„Ihr müsst euch das Zeichen der Hexen irgendwo auf den Körper malen.“ Bring uns an einen sicheren Ort. Führe uns zurück in die Welt ohne Magie.

„Schon erledigt“, schrie Faye und trat unruhig von einem Bein auf das andere. Ihr Blick blieb auf dem Messer liegen, das von einem zum anderen wanderte, bis jeder einen kleinen Schnitt an der Hand hatte. Sogar Seraphines Zeigefinger wurde malträtiert.

Draußen krachte es. Ein Donnern rollte über den Boden und erschütterte die Erde.

Ich ließ die Hand sinken. Das Portal blieb offen. Hoffentlich war die Magie noch stabil genug, damit wir alle durchkamen. „Los! Durch mit euch!“

Talita zögerte nicht. Sie ergriff Veiths Hand und zerrte ihm mit sich durch den Spiegel. Die Smaragdin folgte den beiden auf dem Fuße. Dann sprang Faye.  

„Wo ist die Hexe? Alvina“, fragte Kovu.

„Tot.“

Oh nein.

Die kleine Familie folgte ihnen. In dem Moment schrie Kovu: „Achtung!“

Ich warf mich herum, und das war wohl mein Glück, sonst wäre ich wahrscheinlich wegen einer Windböe gegen die nächste Wand geschleudert worden, denn direkt hinter dem Regenschleier stand der Zirkon.

„Ihr könnt mir nicht entkommen.“

Was war sein verfluchtes Problem?!

„Wir müssen durch das Portal!“, schrie ich und wollte Askea am Arm packen.

Das war der Moment, in dem ein Magnar über uns hinwegfegte.

Askea und Seraphine gingen in Flammen auf. Fax taumelte ein paar Schritte.

Kovu gab ein Heulen von sich und stürzte zu Boden.

„Ihr werdet diese Welt nicht verlassen“, fauchte der Zirkon.

Ich hasse dich!

Der Gedanke hatte sich in meinem Kopf noch nicht einmal gefestigt, als Askea eine gewaltige Feuersbrunst auf ihn schickte, die sogar den Monsun überlebte.

Der Zirkon wurde nach draußen geschleudert. Ich hörte einen schmerzerfüllten Schrei.

Plötzlich erbebte die Erde und eine Kraftwelle schleuderte uns alle nach hinten.

Ich landete auf der Seite und schlitterte ein Stück über den Boden. Direkt vor dem Gebäude entstand eine Lichtsäule. Sie wuchs und wuchs, stieg in den Himmel. In ihrem Inneren konnte ich eine männliche Gestalt sehen, die langsam darin verging.

Der Zirkon.

Auf einmal hatte ich Amirs Stimme in meinem Kopf, wie sie mir die Vergangenheit zuflüsterte.

Die Lichtsäulen waren gar kein Nebenprodukt des Untergangs, sie kennzeichneten den Tod eines Dämons. Aber natürlich. Dämonen waren reine, wilde Magie! Als es noch genug Dämonen gegeben hatte, war die wilde Magie einfach auf die anderen Dämonen übergegangen, um das Gleichgewicht der Welt beizubehalten. Aber mit der Zeit hatte es zu wenige Dämonen gegeben, und so war die Magie einfach an Ort und Stelle implodiert. Deswegen hatte Amir damals auch zu mir gesagt, dass man sich nicht in der Nähe eines Dämons aufhalten sollte, wenn er starb. Eine solche Menge an wilder Magie konnte man nämlich nicht überleben.

„Los, auf die Beine!“, befahl Askea.

Ich rappelte mich auf. Der Schmerz in meinem Kopf schlug zu wie eine Bombe. Ich schaffte es gerade noch, mich zur Seite zu beugen, bevor ich mich übergab. Na super. „In den Spiegel“, keuchte ich.

Kovu, der Wolf, fackelte nicht lange und brachte seinen haarigen Hintern in Sicherheit. Askea jedoch zögerte. Er fürchtete sich vor diesem Schritt.

„Bitte“, flehte ich. „Bitte lass uns gehen.“

Draußen krachte es. Staub und Putz rieselten von der Decke. Das ganze Gebäude würde gleich einstürzen.

„Ich will dich nicht verlieren, Askea.“

Fax trat unruhig von einem Bein auf das andere.

„Bitte.“ Ich griff nach seinem Arm, bereit, ihn notfalls auch in das Portal zu zerren.

Askea rang mit sich. Er sah das drohende Unheil und die ungewisse Zukunft.

„Ich brauche dich, Askea. Komm mit mir. Ohne dich kann ich nicht leben.“

Seine Furcht schwand nicht, doch um seinen Mund breitete sich ein entschlossener Zug aus. Er gab Fax einen Stoß, der ihn in das Portal beförderte, dann riss er sich an seinen Fängen den Handrücken auf, nahm meine Hand und biss mir in den Finger, sodass Blut floss. Es tat höllisch weh.

Seraphine wimmerte, als die Wände zu bröckeln begannen und der Spiegel einen Riss bekam.

„Du gehörst mir“ knurrte Askea, packte mich beim Arm und sprang in das blaue Licht hinein.

 

°°°°°

Zurück

 

Ich flog mit so viel Schwung aus dem Spiegel, dass ich gegen Askea prallte und ihn mit mir zu Boden riss. Ich landete auf seinem Rücken und knallte auch noch mit meinem Kopf gegen seinen Dickschädel. Aua, das tat weh und war dem Abklingen meiner Kopfschmerzen nicht gerade förderlich. Hoffentlich hatte ich mir keine Gehirnerschütterung eingefangen.

Der erschrockene Schrei einer Frau und das Fauchen eines Dämons ließen mich aufblicken.

Oh.

Mein.

Gott.

Mein Herz raste noch immer und der plötzliche Verlust meiner Magie ließ meine Glieder schmerzen, doch das war nichts im Vergleich zu dem Anblick, der sich mir in diesem Augenblick bot.

Als ich den Spiegel geöffnet hatte, hatte ich nicht darauf geachtet, wo er hinführen würde. Dafür war einfach keine Zeit gewesen, und um ehrlich zu sein, hatte ich Wichtigeres zu tun gehabt, als mir darüber Gedanken zu machen. Jetzt allerdings wünschte ich mir, doch eine oder zwei Sekunden für diese Überlegung entbehrt zu haben. Unser Zielort hätte kaum schlechter gewählt worden sein können.

Das Portal hatte uns in das Herz eines Theaters geführt. Wir waren mitten auf der Bühne gestrandet, auf der scheinbar gerade eine Mitternachtsvorstellung eines Balletts aufgeführt wurde.

Die Zuschauerreihen waren bis auf den letzten Platz gefüllt. Am anderen Ende der Bühne drängte sich ein Dutzend Balletttänzer und beäugte uns. Ihre Blicke gingen von ungläubig über verwirrt bis verunsichert und misstrauisch.

Alle starrten uns an. Der Saal war so still, dass man eine Grille hätte husten hören können, wenn Grillen denn überhaupt husten konnten. Klar. Die Magie hatten wir zwar zurückgelassen, doch äußerlich sahen wir alle noch wie vorher aus. Für normale Menschen war das schon ein Hingucker.

Während das Licht des Portals hinter uns langsam verblasste, rappelte ich mich auf die Beine. Mein Hirn arbeitete fieberhaft an einer Lösung unserer Situation. Wie erklärte man sechs Dämonen, zwei Hexen und drei Gestaltwandler, die frisch-fröhlich aus einem Spiegel gesprungen kamen und von denen einer einen Speer drohend auf die Tänzer richtete?

Scheiße, Speer! „Nein!“, rief ich und wollte Jiskas Vater den Speer aus der Hand reißen, doch der wich mir aus. „Nicht.“

Hinter mir rappelte sich Askea hoch. Schützend in seinen Armen hielt er Seraphine. Seine Augen waren ängstlich geweitet, und ich konnte mir gut vorstellen, dass sein Herz genauso schnell trommelte wie das meine. Sollte nur einer eine falsche Bewegung machen, würde das hier sehr unschön enden. Die Dämonen waren alle bis zum Zerreißen angespannt. Mit dieser Situation kamen sie nicht klar. Faye stand unsicher hinter Veith und Talita, die sich an den Kopf fasste und ihre Schläfen massierte, als wollte sie einen tiefsitzenden Schmerz verscheuchen. Und Kovu …

Oh nein.

Direkt neben Veith stand ein brauner Wolf und drückte sich an sein Bein. Sein Blick ging unruhig hin und her, während er die Lefzen hochzog, als wollte er alle warnen, ihm nicht zu nahe zu kommen.

Kovu war als Wolf durch das Portal gesprungen. Hieß das jetzt, er würde ein Wolf bleiben? Mist, Mist, Mist.

Plötzlich begann im Publikum jemand zu klatschen, was Jiskas Vater dazu animierte, seinen Speer wieder etwas höher zu halten. Eine zweite Person stieg mit ein. Und dann noch eine. Plötzlich wurde im ganzen Saal applaudiert. Ein bisschen verhalten, aber es war eindeutig Applaus. Hielten die das etwa für einen Teil der Show?

Mach was draus!, forderte ich mich selbst auf.

Wie selbstverständlich trat ich an den Rand der Bühne und verbeugte mich vor dem Publikum, ohne auf die Balletttänzer zu achten. Dabei schien mein Hirn in meinem Kopf hin und her zu schwappen. Mir wurde wieder übel. Okay, vielleicht doch einen Gehirnerschütterung. „Vielen Dank. Ich hoffe, unser kleiner Zaubertrick hat Ihnen gefallen. Wir überlegen sogar, damit auf Tournee zu gehen.“

Der Beifall wurde lauter.

Ich setzte ein Lächeln auf. „Und nun überlassen wir die Bühne wieder unseren exzellenten Tänzern. Wir wünschen viel Spaß bei der Darbietung.“ Bevor mich noch jemand darauf ansprechen konnte, drehte ich mich herum und scheuchte meine kleine Gruppe von der Bühne. Die Dämonen musste ich mehrmals zur Bewegung auffordern und Fax sogar an die Hand nehmen – der schien auf einmal am Boden festgeklebt.

Im Backstage-Bereich stellte sich uns ein fassungsloser Mann in den Weg. Seine Haare waren zerrupft, als hätte er sie sich gerauft, und das Klemmbrett in seiner Hand bog sich gefährlich. „Was fällt Ihnen ein?! Was glauben Sie, wer Sie sind?“, fuhr er uns an. „Sie können doch nicht einfach die Show sabotieren! Ich bin hier der Produzent, niemand betritt die Bühne ohne meine Erlaubnis!“

Leider richtete er seine Worte direkt an Jiskas Mutter. Die zog nur die Oberlippe hoch und zeigte ihm fauchend die Fänge.

Er erblasste und stolperte ein paar Schritte zurück. „W-w-was …?“

„Tut mir leid“, sagte ich schnell und schob die Dämonin zur Seite. Dafür wurde ich dann auch noch angefaucht. „Es war nicht unsere Absicht, jemanden zu stören.“

„Ich rufe die Polizei.“ Der Blick des Produzenten wanderte hektisch von einem zum anderen. „Ich werde die Polizei rufen.“

Jetzt versammelten sich auch noch andere Bühnenarbeiter hinter dem Mann. Schaulustige – das hatte uns gerade noch gefehlt.

Talita wählte genau diesen Moment, um mit einem Stöhnen in sich zusammenzusacken.

„Tal!“

„Ihre Erinnerungen“, sagte Veith und hob sie auf seine Arme. Den Blick dunkel vor Sorge, strich er ihr beruhigend über den Arm.

Talita stöhnte und hielt sich den Kopf.

Kovu begann zu knurren und streifte unruhig um die Beine seines Bruders.

So schnell wie die Angestellten des Theaters plötzlich vor uns zurückwichen, war ihnen wohl bewusst, dass es sich bei ihm nicht um einen einfachen Hund handelte.

„Ist das … ist das ein Wolf?“, fragte auch sogleich eine wunderschöne Blondine mit weitaufgerissenen Augen.

Verdammt. Okay, nur die Ruhe. Als erstes … ähm … Als erstes sollten wir zusehen, dass wir hier rauskamen. „Tut uns wirklich leid“, wiederholte ich noch einmal und schob Fax und Askea an dem Produzenten vorbei. „Wir müssen los. Sie wissen ja, wie das ist, the Show must go on.“ Ich lächelte ihm unverbindlich zu und scheuchte meine Weggefährten an ihm vorbei zu einer Tür, die mit dem Notausgang-Schild markiert war. Leider nahm die Übelkeit mit jedem Schritt zu. Ich schluckte, schluckte nochmal, dann erbrach ich mich direkt neben den Notausgang.

Na super.

Konnte mich mal bitte jemand erschießen?

Keuchend stützte ich mich an der Wand ab und versuchte zu Atem zu kommen. Ganz klar eine Gehirnerschütterung. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Wenigstens war mein Magen bereits zu leer, um eine wirklich große Sauerei zu veranstalten. „Tut mir leid“, entschuldigte ich mich und schluckte erneut angestrengt.

Der Produzent war völlig entgeistert. Das Klemmbrett in seinen Händen bog sich noch ein Stück, dann brach es.

Ich konnte ihn verstehen.

Hinter mir knurrte Askea warnend, während Veith mit Talita auf dem Arm umständlich die Tür öffnete und unsere Anhängsel hinausscheuchte.

Ja genau, als erstes mussten wir hier raus. Dann sollte ich wohl in Erfahrung bringen, wo wir uns überhaupt befanden. Und wenn wir das geklärt hatten, mussten wir uns nur überlegen, was passieren sollte, denn Dämonen waren selbst ohne elementare Magie nicht alltagstauglich.

Das war doch mal ein Plan. Jetzt musste ich ihn nur noch in die Tat umsetzen.

Der erste Schritt war, von dieser Wand wegzukommen. Das klappte mit einiger Anstrengung. Dann warf ich dem fassungslosen Angestellten noch einen entschuldigenden Blick zu und schob Askea aus dem Theater.

Das war doch mal eine Ankunft gewesen, aus der man eine bleibende Erinnerung machen konnte. Daraus konnte eine Geschichte entstehen, die man seinen Enkelkindern erzählen konnte, um sie in Staunen zu versetzen.

Kaum dass ich hinter Askea in die Gasse neben dem Theater schlüpfte, überwältigte mich die Übelkeit ein drittes Mal.

Das mit der Kotzerei sollte ich beim Geschichtenerzählen aber besser für mich behalten.

Oh Gott, war mir schlecht.

 

°°°°°

Warten

 

Sieben Jahre später …

 

Öffne dich.

Ich steckte all meinen Willen in diesen Wunsch, presste die Hand noch fester gegen den Spiegel und hoffte, dass ich dieses Mal etwas spüren würde.

Komm schon, öffne dich endlich.

Es tat sich nichts. Wie schon die letzten sieben Jahre blieb der Spiegel genau das, was er war: Ein Spiegel, der mir nichts als ein Abbild meiner selbst zeigte. Dabei sollte es mir laut Faye doch möglich sein, ein verdammtes Portal zu öffnen. Wenn die Möglichkeit besteht – falls sie jemals wieder bestehen sollte – dann bist du immer noch in der Lage, Portale zu öffnen. In der Welt der Menschen gibt es keine Magie, die kommt immer von der anderen Seite. Aber da du einen ausgesprochen starken Willen hast, kannst du die Magie von der anderen Seite zu dir zwingen. Damit würdest du einen neuen Pfad schaffen und uns einen Weg zurück in die Welt jenseits des Spiegels ebnen. Wenn es jemand kann, dann du, denn ich bin dafür nicht stark genug.

Das waren Fayes Worte gewesen. Es war schon Jahre her, dass sie das zu mir gesagt hatte, aber noch immer klammerte sich ein kleiner Teil von mir an ihnen fest. Die Hoffnung auf eine Rückkehr war nach den ersten Wochen und Monaten langsam gebröckelt, bis kaum noch etwas davon übriggeblieben war. Mittlerweile war es zu einer reinen Gewohnheit geworden, jeden Spiegel in meiner Umgebung zu berühren. Ich hatte kaum noch Vertrauen, dass es mir eines Tages doch noch gelingen sollte. Wenigstens war die Enttäuschung nicht mehr so schmerzhaft wie noch am Anfang.

Seufzend ließ ich die Hand sinken und starrte mich an; meine vom Duschen noch rosigen Wangen und natürlich meinen stark gerundeten Bauch. Zwei Monate noch, dann würde ich mein siebtes Kind zur Welt bringen.

Kinder kriegen – etwas, das den Wesen auf der anderen Seite dieses Spiegels wahrscheinlich verwehrt blieb. Wie es schien, war die Welt auf der anderen Seite untergegangen, und ob es dort jemals wieder eine Morgendämmerung geben würde, war sehr fraglich.

Wir hatten oft und viel darüber geredet, was nach unserer Flucht auf der anderen Seite geschehen sein könnte. Außer uns hatte es niemand zur Erde geschafft. Wir vermuteten, dass Saana und Boudicca es gar nicht zurück in die Stadt geschafft hatten, um den Zirkel über unsere Fluchtpläne zu informieren. Wahrscheinlich waren sie auf ihrer Reise vom endgültigen Untergang überrascht und mit jedem anderen Wesen ins Nichts gezogen worden. Und dass die Welt untergegangen war, daran hatte ich keinen Zweifel. Wie sonst wäre es zu erklären, dass ich kein Portal öffnen konnte? Das war einfach eine traurige Tatsache, mit der ich mich schon vor Jahren hatte abfinden müssen.

Mein Blick schweifte zum Fenster hinaus, zu den kleinen Hütten zwischen den Hügeln.

In den letzten sieben Jahren war so viel geschehen.

Nachdem wir aus dem Theater geflohen waren, hatte ich alle Hände voll damit zu tun gehabt, die Dämonen daran zu hindern durchzudrehen – ja, auch Askea und Fax. An jeder Straßenecke hatten sie Gefahren lauern gesehen und den Passanten ständig ihre Fänge gezeigt, um sie auf Abstand zu halten. Faye dagegen hatte sich die ganze Zeit an meinen Arm geklammert und unruhig von einer Seite zu anderen geschaut, während ich versucht hatte, mit dem Dröhnen in meinem Kopf klarzukommen. Talita war keine große Hilfe gewesen. Nicht nur, weil ihre Erinnerungen über sie hergefallen waren wie Mäuse über Käse, sondern auch, weil sie Kovu ruhighalten musste. Dass er sich nicht wieder in einen Menschen verwandeln konnte, hatte ihn so panisch werden lassen, dass er nach allem geschnappt hatte, was sich bewegte. Es hatte damit geendet, dass ein paar Passanten die Polizei gerufen hatten und wir uns schnellstens vom Acker hatten machen müssen. Die Leute, die wir bei uns hatten … Es wäre einfach nicht zu erklären gewesen. Im besten Fall hätte man uns alle als verrückt abgestempelt. Im schlimmsten wären wir alle weggesperrt worden. Nein, Flucht war in diesem Moment schon unsere beste Option gewesen.

Geendet hatte der Tag damit, dass wir meinen Vater angerufen hatten, der uns mit einem gemieteten Kleinbus eingesammelt hatte.

Die nächsten Tage und Wochen hatten wir alle zusammen in seinem Haus gelebt. Dort hatten Talita und ich versucht, den Dämonen beizubringen, wie sie sich verhalten mussten und dass sie am besten gar nicht erst rausgingen. Mit jedem Tag, den wir alle dort zusammengepfercht verbracht hatten, war die Atmosphäre aggressiver geworden. Geendet hatte es damit, dass Askea und der andere Rubin in einer wilden Schlägerei aufeinander losgegangen waren und dabei die halbe Einrichtung demoliert hatten. Sie hatten erst wieder aufgehört, als Askea dem anderen einen seiner Fänge ausgeschlagen hatte und er selbst mit ausgerenkter Schulter und aufgeplatzter Narbe fast zusammengebrochen war. Das war der Moment gewesen, in dem wir alle erkannt hatten, dass es so nicht länger weitergehen konnte – wir mussten etwas machen. Nicht nur, dass sie sich irgendwann gegenseitig umgebracht hätten, Talita und ich hatten auch Jobs gehabt, denen wir hatten nachkommen müssen. Und dann hatte ja auch noch die Hochzeit angestanden. Keine Braut wollte Blut auf ihrem Hochzeitskleid.

Noch am gleichen Tag hatte mein Vater einen Plan ausgearbeitet und ein paar Anrufe getätigt. Er hatte einen alten Bekannten gehabt, der ein großes Stück Land besessen hatte, jedoch niemanden, dem er es hätte vererben können. Der Mann war selbst schon zu alt gewesen, um sich darum zu kümmern, außerdem ein wenig exzentrisch. Ein seltsamer alter Kauz, wie man sagen würde. Und er war ein ausgesprochen lieber Kerl.

Ich hatte ihn noch aus meinen Kindertagen gekannt. Ihm hatte das Sommerhaus gehört, in dem mein Bruder Taylor gestorben war. Deswegen hatten wir den Kontakt zu ihm auch vor so langer Zeit abgebrochen. Es war einfach zu schmerzlich gewesen.

Aber damals war uns gar keine andere Wahl geblieben, als uns bei ihm zu melden und ihn um Hilfe zu bitten.

Mein Vater hatte so lange auf ihn eingeredet, bis er selbst der Überzeugung gewesen war, ohne uns nicht mehr leben zu können, weil es einfach zu einsam war, so allein ein so großes Stück Land zu bewohnen.

Am nächsten Tag waren er und Talita zu ihm gefahren, um sich alles anzusehen. Zwei Wochen später waren wir alle mit Sack und Pack zu ihm gezogen. Er hatte sich nicht einmal über die seltsamen Hautfarben der Dämonen gewundert. Endlich ist hier wieder Leben im Haus eingekehrt, hatte er nur gesagt. Und was für ein Haus das war!

Es war ein großes Herrenhaus, in dem man sich gut aus dem Weg gehen konnte. Dann gab es noch ein paar Nebengebäude.

Die Eingewöhnung hatte ein wenig gedauert, doch Ruhe war erst in die Gruppe eingekehrt, als wir alle ausquartiert hatten. Die Nebengebäude waren umgebaut worden, und jetzt hatte jeder sein eigenes kleines Häuschen auf dem Gelände. Nur mein Vater nicht. Der lebte zusammen mit dem alten Kauz in dem großen Herrenhaus und genoss seinen Lebensabend. Wir waren eine richtige kleine Kommune geworden.

Talita und Veith hatten geheiratet und Kovu als ihren wölfischen Hund adoptiert. Die alte Smaragdin lebte am weitesten von uns entfernt und tauchte eigentlich nur auf, wenn wir vom wöchentlichen Großeinkauf kamen. Sie verließ das Gelände nämlich nicht. Genaugenommen verließ keiner der Dämonen diesen Landstrich. Nach ein paar unangenehmen Vorfällen hatten wir uns alle darauf geeinigt, dass es besser wäre, wenn sie einfach hierblieben. Ihre Hautfarben und ihr Verhalten waren einfach viel zu auffällig.

Jetzt knurrten die Rubine sich nur noch gegenseitig an, wenn sie sich über den Weg liefen, oder warfen mit misstrauischen Blicken um sich.

Talita und ich arbeiteten nach wie vor, und sogar Veith hatte sich einen Job gesucht, nachdem für Jonas endlich ein Kindergartenplatz gefunden worden war. Ja, Talita und Veith waren nun seit vier Jahren Eltern eines entzückenden kleinen Jungen.

Insgesamt war das Leben einfach weitergegangen. Wochen, Monate, Jahre. Aber noch immer ließ der Spiegel sich nicht öffnen. Manchmal fragte ich mich, ob es nicht doch einfacher gewesen wäre, einfach dort zu bleiben statt hier als Verbannte zu leben. Hier waren wir von allen Informationen abgeschnitten. Auf diesem Weg erfuhr ich nicht, was aus der magischen Welt geworden war. Es gab keinen Funken Magie, der nur darauf wartete, dass ich ihn zu mir rief. Niemand konnte mir sagen, was nach unserer Flucht auf der anderen Seite geschehen war.

Seufzend nahm ich mir ein kleines Handtuch und begann mir damit die Haare trocken zu rubbeln. Ich war gerade fertig und griff nach meiner Bodylotion, als die Tür zum Bad aufging und Askea hineintrat. Er stockte einen Moment, als er mich in meiner ganzen nackten und schwangeren Glorie erblickte, schloss dann wieder die Tür und nahm mir die Lotion aus der Hand. Sein Blick verdunkelte sich ein wenig, was mir ein angenehmes Prickeln bescherte.

„Die Kinder schlafen“, erklärte er. Plopp. Die Flasche war offen. Er kleckste sich einen Spritzer in die Hand, griff nach meinem Arm und begann meine Haut einzucremen. „Fax habe ich rausgeschmissen.“

Bitte? „Warum? Was hat er gemacht?“

„Nichts.“

Ähm … ja. „Könntest du das ein wenig genauer erklären?“

„Im Grunde habe ich Jiska rausgeschmissen. Ich hatte keine Lust darauf, dass ihr Vater hier auftaucht und mit seinem Rumgeknurre die Kinder weckt. Da ist er kurzerhand mit ihr gegangen.“

Jiska, natürlich. Nicht, dass ich etwas gegen die kleine Rubinin hatte, die sich schon im zarten Alter von elf Jahren an meinen Sohn herangemacht hatte, doch sie sorgte immer wieder für Spannungen zwischen Fax und seinem Vater. Das mochte ich nicht.

Klar, er war in der Zwischenzeit neunzehn Jahre alt und zu einem stattlichen Kerl herangewachsen, doch er war noch immer mein kleiner Junge. Und er war voller Hormone, genau wie seine Freundin …

Oh Gott, diesen Gedanken wollte ich nicht weiterführen.

Ich reichte Askea meinen anderen Arm. „Sie werden sich später wieder reinschleichen.“

„Ich weiß.“

Es war jedes Mal das Gleiche. Irgendwann hatten die beiden keine Lust mehr, draußen rumzustromern, und verschwanden dann in seinem Zimmer. Wenn die Musik dann anging, um alle verdächtigen Geräusche zu überdecken, erinnerte ich mich daran zurück, wie unkompliziert und handzahm er gewesen war, bevor die Pubertät eingesetzt hatte.

Seufz.

„Dreh dich um.“

Ja, auch wenn er keine Magie mehr hatte, befehlen konnte er immer noch wie ein Großer.

Da er sowieso keine Ruhe geben würde, bevor er seinen Willen bekommen hatte, fügte ich mich einfach in mein Schicksal und kehrte ihm den Rücken zu.

Eine Hand legte sich darauf und rutschte tiefer.

Eine Augenbraue hochgezogen, blickte ich über die Schulter. „Hast du mir gerade an den Hintern gegrapscht?“

„Ja.“ Er ließ seine Hände zu meinen Hüften gleiten und zog mich an sich. „Ich mag deinen Hintern.“

Oh ja, manchmal war er wirklich süß. „Du magst ihn also?“ Ich wackelte ein wenig damit herum.

Er zog die Oberlippe hoch und ließ seine Hände weiter wandern, bis sie auf meinem geschwollenen Leib zum Liegen kamen. „Denk daran, was passiert, wenn du mich provozierst.“

Ich dachte daran und wackelte erst recht mit dem Hintern. 

„Du hast es nicht anders gewollt.“ Er beugte sich vor und biss mir in die Schulter. Natürlich verfügte er über keinerlei Magie mehr, doch dieses Verhalten war tief in ihm verwurzelt. Er konnte gar nicht damit aufhören. Und seltsamerweise gefiel mir das.

Er konnte mich vielleicht nicht mehr mit Magie markieren, doch er hatte Mittel und Wege gefunden, trotzdem seinen Instinkten zu folgen. Tja, einmal Dämon, immer Dämon.

 

°°°°°

Epilog

 

„Phinchen, bist du endlich fertig? Wir wollen gehen. Tante Tal wartet sicher schon.“

Statt eine Antwort zu geben, kam Seraphine zu mir in den Flur gerannt und präsentierte sich in ihrer ganzen chaotischen Pracht. „Fertig.“

Ich sah an ihr herab; über das zerknitterte Shirt mit dem braunen Fleck am Saum und die löchrige Jeans glitt mein Blick zu ihren abgetragenen Turnschuhen – die mussten dringend ersetzt werden. „Hast du etwa schon wieder zwei verschiedene Socken an?“

Sie folgte meinem Blick und versuchte unbemerkt mit den Füßen ihre Hose über die Socken zu streifen.

Als wenn es das besser machen würde. „Geh und zieh dir zwei gleiche Socken an. Und auch ein sauberes Shirt.“ Ich drehte mich um, ohne darauf zu achten, ob sie meiner Anweisung folgte, und klopfte gegen die nächstgelegene Zimmertür, aus der die Musik so laut dröhnte, dass sie vermutlich noch zwei Häuser weiter zu hören war. „Fax, wir wollen los. Wenn du nicht willst, dass ich reinkomme, dann komm raus.“

„Mama.“ Meine sechsjährige Tochter Lucinda, die bis auf die etwas spitzen Ohren genauso aussah wie ein kleiner goldhaariger Engel, zupfte mit verweinten Augen an meiner Hose. „Larysa hat mich geschubst.“

„Hab ich gar nicht!“, protestierte ihre eineiige Zwillingsschwester, die ein Stück hinter ihr stand, und stemmte die Fäuste in die Hüften.

„Doch, hast du!“

„Hab ich nicht!“

Ein Stück hinter den beiden, in dem Türrahmen zu einem unserer vier Kinderzimmer, stand mein fünfjähriger blonder Sohn Hayden mit dem Daumen im Mund und beobachtete seine Schwestern stumm.

„Doch, du hast mich geschubst!“

Mit einem: „Jetzt bin ich fertig“, kam Seraphine wieder in den Flur gestürzt.

„Mama.“ Wieder zupfte Lucinda an meinem Hosenbein.

In solchen Momenten sehnte ich mich manchmal nach den Abendstunden, wenn die Kinder bereits alle im Bett waren und ich es mir mit einem Buch auf der Couch gemütlich machen konnte. Okay, meistens schlief ich bereits nach ein paar Seiten ein, aber diese paar Seiten waren sehr erholsam.

Jetzt jedoch waren die Kinder wach und Talita wartete mit Kaffee und Kuchen auf uns. „Okay, Auszeit. Du“, ich zeigte auf Seraphine, „holst deinen großen Bruder aus seinem Zimmer. Sag ihm, wenn er nicht in fünf Minuten fertig im Flur steht, dann wird sein Vater seine Zimmertür ausbauen und im Garten damit ein Freudenfeuer veranstalten. Das war es dann mit der Privatsphäre.“

Sofort verschwand Seraphine in Fax‘ Zimmer, ohne das gezischte „Hey!“ von ihrem Bruder zu beachten.

„Du“, Fingerzeig auf Larysa, „hörst auf, deine Schwester zu schubsen, und holst bitte deine Jacke. Und keine Widerworte, verstanden?“

Larysa blies die Backen auf, verschwand aber in ihrem Zimmer.

Ich hockte mich schwerfällig vor Lucinda und wischte ihr die Tränen von den Bäckchen. „Und du hörst auf zu weinen, es ist schließlich noch alles dran. Okay?“

Sie schniefte noch einmal, nickte dann aber.

„Gut. Dann zieh dir jetzt bitte deine Schuhe an.“ Ich gab ihr noch einen Kuss auf die Stirn und nahm dann Hayden bei der Hand. „So, und wir werden jetzt mal deine Schuhe suchen.“

„Die stehen unter meinem Bett.“

Wie die da nun schon wieder hingekommen waren. „Askea!“, rief ich quer durch das Haus und machte mich mit Hayden daran, seine Schuhe zwischen Bauklötzen, Legosteinen und Actionfiguren ausfindig zu machen. Gar nicht so einfach, wenn man eine sieben Monate alte Kugel den ganzen Tag vor sich herschob.

Ich hatte gerade einen von Haydens Schuhen gefunden, als Askea mit meiner zweijährigen Violett auf dem Arm hereingeschlendert kam. Sie war das einzige unserer Kinder, das ihrem Vater praktisch aus dem Gesicht geschnitten war. Na ja, nur mit dem Unterschied, dass sie noch rote Haare hatte. Und dass sie ein Mädchen war. Aber sie hatte sogar seine Fänge und auch seine Hautfarbe geerbt. Wie ich das in vier Jahren der Schule erklären sollte, war mir schleierhaft. Nein, das Leben mit Dämonen war manchmal gar nicht so einfach.

„Du siehst erschöpft aus.“

Ich lachte auf, drückte Hayden seinen Schuh in die Hand und machte mich daran, in den verworrenen Tiefen unter seiner Matratze nach dem zweiten zu suchen. „Erinnere mich bitte daran, dich das nächste Mal, wenn du noch ein Kind haben willst, mit dem Nudelholz zu verhauen.“ Ich musste ein paar Wollmäuse zur Seite schieben, dann entdeckte ich das gesuchte Objekt.

„Werde ich machen.“ Er setzte Violett auf den Boden ab – Gott sei Dank war wenigstens sie schon fertig angezogen – und half mir wieder auf die Beine. Dann nahm er mir den Schuh aus der Hand, hockte sich vor Hayden und half seinem Sohn hinein.

Erleichtert ließ ich mich auf die Kante des Betts sinken. „Wir müssen uns etwas wegen Larysa überlegen. Sie triezt Lucinda, wo und wann sie nur kann.“

„Ich werde mich darum kümmern.“ Er zog Hayden in die Senkrechte und zog ihm seine Jacke über. Violett versuchte zu helfen, fiel dabei aber auf ihren Windelpopo und musste von Papa zurück auf die Beine gestellt werden.

„Und ich muss Phinchen neue Hosen besorgen. Ihre sind schon wieder alle voller Löcher.“

„Sie ist halt ein Wildfang.“ Er hob Violett zurück auf seinen Arm und half mir dann wieder auf die Beine. Das war‘s mit der kurzen Verschnaufpause. Dabei glitt sein Blick ein wenig zu selbstzufrieden über meinen gerundeten Bauch.

„Lass das“, tadelte ich ihn und ergriff Haydens Hand.

„Ich mag es aber, dich so zu sehen.“

„Nein, du magst es nur, den Beweis deines Erfolgs zu sehen.“ Wenn es nach ihm ginge, hätten wir bereits dreimal so viele Kinder, auch wenn das rein biologisch gar nicht möglich war.

„Das auch“, gab er unverblümt zurück.

Augenverdrehend marschierte ich in den Flur, wo Lucinda vor Freude kreischend von ihrem großen Bruder auf den Kopf gestellt wurde. Larysa hüpfte um die beiden herum, weil sie auch mal wollte, während Seraphine bereits die Haustür aufriss. „Ich geh schon mal!“

„Du wartest!“, ordnete ich an und scheuchte Larysa und Hayden hinter ihr her, hinaus in den Garten.

Fax stellte Lucinda zurück auf den Boden, damit sie ihren Geschwistern folgen konnte, und blickte mir trotzig entgegen. „Ich kann aber nicht lange, weil ich mich nachher noch mit Jiska treffen will.“

Seine Freundin, natürlich. Ich ergriff meine Handtasche und hängte sie mir über die Schulter, während ich versuchte, ohne Hände in meine Schuhe zu kommen. „Du wirst es wohl verkraften, ein paar Stunden mit deiner Familie zu verbringen. Und nun raus mit dir.“

„Ja, aber ich will –“

„Du tust, was deine Mutter sagt“, unterbrach Askea seinen Sohn, drückte ihm Violett in den Arm und hockte sich dann vor mich, um mir bei meinem Schuhproblem zu helfen – die rutschten ständig weg.

Fax zeigte seinem Vater die Fänge, drehte sich dann herum und stampfte mit seiner kleinsten Schwester auf dem Arm verärgert aus dem Haus.

Seufz. „Dir ist schon bewusst, dass er sich nicht mehr lange von dir rumkommandieren lassen wird?“ Ich stützte mich an der Wand ab, um nicht umzufallen, als Askea meinen Fuß hob.

„Ja, ein paar Wochen vielleicht noch, dann wird er mit Jiska wohl in ein eigenes Haus ziehen wollen.“

„Bitte?“ Ich starrte ihn an. „Er ist erst neunzehn.“

„Du vergisst, dass ich ihn bereits mit siebzehn bekam. Für einen Dämon ist Fax ein Spätzünder.“

Mein Mund ging auf, aber kein Wort kam heraus. Was sollte man dazu noch sagen? Oh, ich wusste schon: Man konnte zwar die Magie aus einem Dämon herausholen, aber nicht seine Natur. „Moment, heißt das, du billigst das?“

„Er ist erwachsen. Es ist seine Entscheidung. Und wenn er ein Kind bekommen will, dann –“

„Was?!“ Entsetzt starrte ich ihn an. „Aber … Nein! Ich weigere mich, jetzt schon Oma zu werden. Ich bin gerade mal einunddreißig!“

Ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen, griff er nach meinem zweiten Fuß und streifte mir auch dort den Schuh über. „Das ist nicht unsere Entscheidung.“

Oh, wenn er sich da mal nicht geschnitten hatte! Ich würde dringend ein Wörtchen mit meinem Sohn reden müssen. „Ich werde –“

„Mama!“ Lucinda kam ins Haus gestürzt. „Larysa hat mich schon wieder geschubst!“

„Hab ich gar nicht!“

Ja, ja, die lieben Kinder.

 

°°°

 

Die Haustür wurde von innen aufgerissen, dann sahen wir uns einem kleinen Jungen von vier Jahren gegenüber. Er hatte die grünen Augen seiner Mutter und das hellbraune Haar seines Vaters, doch mit diesen Pausbäckchen war er viel niedlicher.

„Tia!“, schrie er freudig und rannte zurück in die Eingeweide des Hauses. „Mama, es ist Tante Tia!“

„Jonas? Hast du etwa schon wieder alleine die Tür aufgemacht?“, hörte ich sie, während wir bereits das Haus stürmten und das Chaos aus Jackenausziehen und herumfliegenden Schuhen begann. Dabei musste ich Larysa zweimal ermahnen, damit sie aufhörte, ihre Schwester zu schubsen, und stellte fest, dass Violett eine volle Windel hatte – darum kümmerte sich zum Glück Askea.

Ich war gerade dabei, die Jacken meiner Kinder irgendwo in der Garderobe unterzubringen – die zugehörigen Kinder waren bereits irgendwo im Haus verschwunden – als Talita zu mir in den Flur kam. „Wow, manchmal frage ich mich, wie du wohl aussiehst, wenn du nicht schwanger bist.“

„Schau in den Spiegel, dann weißt du es.“ Ich schob die Schuhe meiner Rasselbande mit dem Fuß einfach zur Seite und nahm Tal in den Arm. In den letzten Jahren hatte sie sich kaum verändert. Sie war ein wenig älter geworden und trug heute eine Kurzhaarfrisur, aber ansonsten war sie ganz die Alte. Na ja, bis auf eine Sache: Jetzt war sie eine verheiratete Frau.

„Schön, dass ihr gekommen seid.“ Sie drückte mich noch einmal an sich und trat dann einen Schritt zurück. „Essen ist auch gleich fertig, Veith deckt gerade den Tisch. Zur Feier des Tages habe ich einen der Kuchen sogar selbst gebacken.“

„Und den kann man gefahrenlos essen?“

„Haha.“ Sie gab mir einen Klaps auf die Schulter und ging dann voran in den Wohnbereich.

Bei Talita und Veith sah es niemals so chaotisch aus wie bei mir, was wohl daran lag, dass bei uns die sechsfache Menge an Kinderspielzeug und Klamotten herumflog. Hier gab es nur eine kleine aufgeräumte Spielzeugkiste in der Ecke, den Rest hatte Jonas in seinem Zimmer.

Veith betrat gerade mit einem Stapel Teller den Wohnraum und begann sie nach einem freundlichen Zunicken auf dem großen Esstisch in der Ecke zu verteilen.

Auf dem braunen Ledersofa lag, alle Viere von sich gestreckt, Kovu und grummelte genüsslich vor sich hin, während Seraphine ihm den Bauch kratzte. Ja, er war immer noch ein Wolf. Dass er sich noch einmal verwandelt hatte, bevor er durch das Portal gesprungen war, hatte dafür gesorgt, dass er dieser Gestalt nicht mehr entfliehen konnte. Er dachte noch wie ein Mensch, und soweit es ihm möglich war, handelte er auch so – oder wie ein Lykaner eben – aber manchmal bemerkte ich sehr wohl, wie sehr ihn das belastete. Diese Gestalt schränkte ihn sehr ein. Aber wenigstens hatte er hier sein eigenes Zimmer.

„Kovu!“ Jonas kam in den Wohnraum gerannt, kletterte auf seinen Onkel hinauf und hüpfte auf ihm herum. Jonas liebte seinen Onkel und rannte den ganzen Tag hinter ihm her, doch ich bezweifelte, dass er in ihm viel mehr als ein Tier sah. Er kannte die Geschichte seiner Herkunft, doch etwas zu kennen und es auch zu verstehen, waren zwei Paar Schuhe.

Ich ließ mich erleichtert in einen der Sessel sinken und streckte die Beine von mir, während Talita in der Küche verschwand, um den Kuchen zu holen. Wie ich sie kannte, hatte sie mal wieder völlig übertrieben und praktisch für jedes Kind einen eigenen gekauft – ja, das schloss auch das ungeborene Kind in meinem Bauch mit ein.

„Möchtest du etwas trinken?“, fragte Veith und legte die letzte Gabel auf den Tisch.

„Nein danke, jetzt nicht.“ Ich beobachtete kritisch, wie Seraphine Jonas zur Seite schob, um selbst auf Kovu zu klettern, aber da er nichts sagte, hielt ich mich da raus. Stattdessen begann ich mich zu fragen, wo Fax abgeblieben war.

„Mama!“ Larysa kam durch die Tür geschossen. „Jonas hat eine Rutsche im Zimmer!“

„Das freut mich. Es heißt aber nicht, dass du auch eine bekommst.“

Sie zog einen Flunsch, aber nur solange, bis sie Jonas und ihre große Schwester bemerkte und sich mit neuem Enthusiasmus zu ihnen gesellte.

Veith ließ sich mir gegenüber in den anderen Sessel fallen, gerade als Askea mit einer frischgewickelten Violett im Arm in den Raum kam. In seinem Schatten wurde er von Hayden verfolgt, der sich ängstlich am Hosenbein seines Vaters festhielt. Dabei hatte er wieder einen seiner Daumen im Mund.

„Hast du Fax gesehen?“

Er zeigte auf die offene Küchentür, durch die mein Sohn mit Lucinda über der Schulter und einer Torte in der Hand gerade in den Wohnraum trat.

„Talita sagt, wir sollen uns alle schon hinsetzen“, erklärte mein Ältester und platzierte Lucinda auf einem der Stühle. Natürlich erst, nachdem er das Meisterwerk meiner Schwester auf dem Tisch abgestellt hatte.

„Das heißt, es gibt jetzt Kuchen?!“ Seraphine war so schnell von Kovu runter, dass sie dabei fast Larysa umrannte.

Askea übergab mir das jüngste unserer Kinder, hockte sich vor Hayden und zog ihm den Daumen aus dem Mund. „Nein“, war das Einzige, was er dazu sage, bevor er ihn an die Hand nahm und schon mal an den großen Esstisch setzte.

Schmunzelnd beobachtete ich, wie ein Kind nach dem anderen am Tisch Platz nahm, nur um mal wieder festzustellen, dass wir Erwachsenen damit auf die Couch verbannt waren – so groß war der Tisch nämlich auch wieder nicht.

Talita stellte insgesamt sechs verschiedene Kuchen zwischen die Teller und half Askea dabei, sie an die Kinder zu verteilen. Sie bereitete auch einen für Kovu vor, dem sie den Teller auf den Wohnzimmertisch stellte. Selbst nach so vielen Jahren war das noch immer ein Anblick, den ich seltsam fand.

„Hier.“ Askea reichte auch mir einen Teller und nahm dann unsere Jüngste wieder an sich. Ich wusste nicht warum, aber Violett war sein absoluter Liebling. Bei keinem anderen unserer Kinder war er so darauf bedacht, sie immer in seiner Nähe zu haben – nicht, dass er den restlichen Nachwuchs vernachlässigte.

Nachdem der Kuchen verteilt war, setzte Talita sich zu Kovu auf die Couch und erzählte von Viktoria, ihrer Arbeitskollegin, die demnächst die Firma verlassen wollte. Sie wollte sich für ihren Posten bewerben. Nicht nur, dass die dann mehr Geld verdienen würde, ihre Arbeitszeiten wären auch besser.

Sie erklärte uns gerade, wie groß die Konkurrenz um diesen Job war, als das Baby in meinem Bauch sich zu regen begann. Und wie sollte es auch anders sein, es trat mir gegen die Blase. Irgendwie hatten das alle meine Kinder gemeinsam. Wenn sie sich regten, griffen sie immer meine Blase an. Was hatte die ihnen nur getan?

Seufzend stellte ich meinen Teller auf den Tisch und hievte mich schwerfällig aus dem Sessel.

Sofort lagen Askeas Augen auf mir.

„Ich muss nur mal pinkeln“, beruhigte ich ihn. Er war ja so schon immer übervorsorglich – na ja, zumindest auf Dämonenart – aber wenn ich schwanger war, bekam ich so manches Mal die Krise mit ihm. Bei der Schwangerschaft mit den Zwillingen war er mir wirklich auf Schritt und Tritt gefolgt – ja, selbst aufs Klo. Es hatte mehr als einen Streit gegeben, in dem ich ihm verständlich gemacht hatte, dass ich sehr wohl in der Lage war, mehr als zwei Schritte ohne ihn zu gehen.

Mit den Jahren war es besser geworden, aber ich wusste genau, wenn ich ihn nur ließe, würde er mir auch jetzt folgen.

„Au-a!“, schrie in diesem Moment Lucinda. „Mama, Larissa hat mich gekniffen!“

„Du hast mich zuerst gekniffen!“

„Hab ich gar nicht!“

Ich seufzte. „Würdest du?“, fragte ich Askea.

Talita lachte. „Also, wir waren früher nicht so.“

„Hast du ´ne Ahnung.“ Als das Baby mich wieder trat, besann ich mich darauf, warum ich eigentlich aufgestanden war, und während ich im Bad verschwand, kümmerte sich Askea um die Diskrepanzen seiner Brut.

Nachdem ich dem Druck meiner Blase am ordnungsgemäßen Ort nachgegeben hatte, stand ich am Waschbecken und wusch mir die Hände. Dabei hielt ich den Blick fest auf den mannshohen Spiegel neben der Badewanne gerichtet. Ich wusste, dass es verschwendete Liebesmüh war, doch nach dem Händeabtrocknen konnte ich gar nicht anders, als meine Hand auf die glatte Oberfläche zu legen. Es war wie ein innerer Zwang, etwas, das ich mir so viele Jahre antrainiert hatte, dass ich es jetzt nicht einfach abstellen konnte.

Langsam ließ ich die Hand über das Glas streichen und erinnerte mich an das Gefühl der Magie unter der Haut. Ich schloss die Augen, um sie mit all meinem Willen zu mir zu rufen, und glaubte für einen Moment, ein leichtes Prickeln an den Fingerspitzen zu fühlen. Mit all meiner Kraft befahl ich dem Tor, sich zu öffnen. Ich wusste, wenn ich die Augen öffnete, würde ich nichts anderes als mein eigenes Spiegelbild sehen. Meine Lider flatterten auf und …

Vor Schreck machte ich einen Satz zurück und fiel dabei fast noch über die Badezimmermatte. Ich musste mich am Duschvorhang festhalten und riss dabei ausversehen einen Teil davon runter. Dann stand ich einfach nur da und starrte wie ein Frosch auf den Spiegel.

Aber nein … das … der … „Oh mein Gott“, hauchte ich. Das war kein Spiegel mehr, jedenfalls nicht im eigentlichen Sinne. Nein, eigentlich überhaupt nicht. Das war … Sowas hatte ich noch nie gesehen. Das war kein Portal. Portale leuchteten einfach nur. Das war aber auch kein Spiegel. Das war ein Fenster! Ein Fenster, das mir etwas Unglaubliches zeigte. Ein Waldrand. Und die Bäume … Sie leuchteten in einem tiefen Burgunderrot. Also sie leuchteten nicht, die Farbe war nur so leuchtend. Und die Stämme der Bäume waren schwarz. Kein verkohltes Schwarz, einfach nur … na ja, schwarz eben.

Davor erstreckte sich eine weite Wiesenlandschaft aus gelbem Gras mit zahllosen Wildblumen, wie ich sie noch nie gesehen hatte.

Und dieses Fenster … Auf der anderen Seite schien es einfach aus dem Boden gewachsen zu sein. Ein Tor, das sich mitten auf einer Weide geöffnet hatte.

Vorsichtig trat ich näher und legte meine Hände an den Spiegel- beziehungsweise Fensterrahmen. Die Landschaft, die sich vor mir befand, war eine idyllische Oase der Natur. Friedvoll, wunderschön und weit und breit kein Zeichen von Zerstörung oder den katastrophalen Auswirkungen des Untergangs wie in meiner Erinnerung. Was sich da vor mir ausdehnte … Ich würde es beinahe als Utopia bezeichnen.

Staunend ließ ich meine Augen über diesen Anblick gleiten und entdeckte ganz am Rand meines Sichtfeldes eine Klippenformation, hinter der sich ein tiefblaues Meer bis zum Horizont erstreckte.

Ich trat ein wenig zur Seite und war sogar versucht, meinen Kopf durch das Fenster zu stecken, als ich im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.

Wachsam kniff ich die Augen zusammen und musterte den Waldrand. Da! Ich sah es ganz genau, da bewegte sich ein weißer Fleck vor den schwarzen Stämmen. Nein, Moment, das war kein Fleck, das waren … Haare?

Konzentriert auf diesen Punkt konnte ich auch bald die dazugehörige Gestalt ausfindig machen. Ihre Hautfarbe war so schwarz wie die Bäume hinter ihr. Sie stand aufrecht wie ein humanoides Wesen und hatte einen langen Schwanz mit einer behaarten weißen Spitze.

Sie war zu weit entfernt, um sie genau anschauen zu können. Nur, dass die Gestalt männlich sein musste, erkannte ich sofort.

Der humanoide Mann bewegte sich am Waldrand entlang.

Ich musste zur Seite treten und den Kopf drehen, um ihm mit dem Blick folgen zu können. Und da entdeckte ich es.

Häuser.

Direkt vor dem Waldrand in den Hügeln der Weide lag ein kleines Dorf, dessen Architektur mich stark an die Ruinen der alten Mayastädte erinnerte – eben nur im Kleinformat.

Der Mann verschwand darin.

Von links hörte ich das Lachen eines Mädchens. Da ich hier im Bad aber allein war, konnte es nur aus dem Spiegel kommen. Und tatsächlich. Einen Moment später trat eine Jugendliche in mein Sichtfeld. Sie war näher als der schwarze Mann und erstarrte auf der Stelle, als sie das Tor in dem hohen Gras bemerkte.

Jetzt konnte ich sie richtig sehen.

Ihr Gesicht war langezogen und die Nase sehr flach. Ihre großen Augen hatten die Farbe von Nebel, der in Schwaden darin tanzte, wie Wolken, die in einem Sturm herumgewirbelt wurden. Erst jetzt bemerkte ich, dass die schwarze Färbung gar nicht ihre Haut war, sondern Schuppen. Tausende kleine Schuppen, deren Oberfläche mich an weichen Samt erinnerte. Ob sie sich wohl auch so anfühlten?

Ihr Leib steckte in einem dünnen Kleid. Ihr weißes Haar reichte ihr offen bis auf den Po.

Sie musterte mich genauso neugierig wie ich sie. „Talita?“, fragte sie leise mit einer seltsam klingenden Singstimme.

Oh mein Gott.

Oh.

Mein.

Gott!

Oh mein Gott. Oh Gott, oh Gott, oh Gott! Ich hatte wirklich ein Portal in die magische Welt geöffnet! Das da vor mir war die magische Welt. Das war … Oh mein Gott!

Und dieses Wesen, es kannte meine Schwester!

Das Mädchen trat zögernd auf mich zu. Sie musste im gleichen Alter wie Fax sein. Ich konnte die Magie spüren, die von ihr ausging. „Bist du es wirklich?“

„Ich … Nein.“ Hektisch begann ich mit den Armen zu wedeln, um … Ja, eigentlich hatte ich gar keine Ahnung, warum genau ich das tat. Dabei fegte ich Zahnputzbecher und Seife vom Schrank. Es krachte und alles landete auf dem Boden.

„Raissa!“, rief ein Mann.

Das Mädchen schaute nach links und trat dann einen Schritt von dem Spiegel zurück. Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, als gefielen ihr ihre eigenen Gedanken nicht.

„Nein, warte!“ Ich griff in ihre Richtung.

Als plötzlich von links eines der Wesen kam und damit praktisch aus dem Nichts vor dem Fenster auftauchte, stieß ich vor Schreck einen spitzen Schrei aus und stolperte einen Schritt zurück.

Ein Mann mit einem finsteren Blick schaute mich an. Er kniff die mandelförmigen Augen leicht zusammen und fixierte mich. Die eine Seite seines Gesichts wirkte irgendwie zerstört, das Auge war milchig und blind und die Wange wirkte, als wäre sie von Feuer zerfressen worden.

Hinter ihm stand noch eine Frau, die bei meinem Anblick fassungslos eine Hand vor den Mund schlug. Sie hatte Schwimmhäute zwischen den Fingern und seitlich an ihrem Hals entdeckte ich Kiemen. „Bei den Wassern, Talita?“

Dem Mann klappte der Unterkiefer herunter.

Als es dann plötzlich an der Badezimmertür knallte, zuckten wir alle vor Schreck zusammen. Der Mann zog sich etwas zurück, während im Flur Askea nach mir brüllte.

„Mach auf!“, verlangte er.

Mist. Hastig entriegelte ich die Badezimmertür und trat zur Seite, damit Askea ungebremst mit Violett auf dem Arm das Badezimmer stürmen konnte.

„Warum hast du geschrien?“ Sein Blick glitt auf der Suche nach möglichen Verletzungen über mich, dann suchte er das Bad nach eventuellen Gefahren ab. Und dann entdeckte er den Spiegel und die Kreaturen, die uns wachsam beobachteten.

„Ich hab mich erschrocken“, erklärte ich.

Am Dorfrand kam Bewegung auf. Ein paar der Wesen versammelten sich und kamen als geschlossene Gruppe zögernd auf uns zu.

Damit waren wir wohl nicht mehr länger unentdeckt.

Auch das Mädchen trat wieder näher und blieb völlig unbeeindruckt, als Askea ihr die Fänge zeigte.

Die Badezimmertür wurde weiter aufgestoßen, damit auch der Rest der Familie Platz hatte.

Hinter mir schnappte Talita nach Luft. „Was zum Teufel …?“

Die Tür knallte gegen die Wand, als Kovu sich zwischen Veith und Talita in den Raum drängte und seinen Bruder damit zur Seite schubste.

Plötzlich stieß Talita ein Schluchzen aus. „Pal“, flüsterte sie.

Der schwarze Mann wechselte seinen Fokus erstaunt von mir zu meiner Schwester und wieder zurück. „Aber wie …?“

„Pal?“ Ich schaute von ihm zu ihr. Neben ihr stand Veith zur Salzsäule erstarrt da. „Was meinst du mit Pal?“

„Das ist Pal.“ Mit ausgestrecktem Finger und Tränen in den Augen deutete sie auf das Wesen mit dem komischen Gesicht. „Das ist … Pal.“

Moment, hatte Kovu nicht gesagt, dass Pal sich aufgelöst hatte?

Diesen Moment nutzten meine Zwillinge, um ebenfalls einen Blick ins Bad zu werfen. „Was macht ihr hier?“, fragte Lucinda. „Und warum weint Tante Tal?“

Larysa schaute ihrer Schwester über die Schulter.

„Tal.“ Das Wesen bekam einen fast ungläubigen Gesichtsausdruck. „Talita.“ Vor Erstaunen weiteten sich seine Augen.

„Ich wusste gar nicht, dass Tante Tal einen Zwilling hat“, kam es da von dem schwarzen Mädchen.

Nun flossen bei Talita die Tränen richtig. „Raissa, Kaj.“

„Zwillinge.“ Das Erstaunen des Mannes wollte einfach nicht nachlassen.

Die Frau nutzte unsere Verwirrung, um das Fenster einmal in Augenschein zu nehmen. Vorsichtig, fast unbemerkt, rutschte sie immer näher und betastete den Rahmen, als fürchtete sie, dieser könnte sie beißen. In einem Anflug von Wagemut streckte sie dann ihre Hand vor, die direkt durch das Glas/Portal/Was-auch-immer hinein in unser Bad ging. Vor Schreck stieß sie einen Warnruf aus, der uns nicht nur in den Ohren schmerzte, sondern alle zurückweichen ließ. Es war wie der Schrei eines Vogels, hoch und durchdringend.

„Ahhh!“, machte Larysa und drückte die Hände gegen den Kopf. „Das hat wehgetan.“

„Meine Ohren“, stimmte ihr Lucinda zu.

Ich konnte meinen Kindern nur beipflichten.

Kovu fiepte und wedelte leicht mit der Rute.

„Die magische Welt“, hauchte Fax fast ehrfürchtig vom Türrahmen. Das Bad war zu klein, er passte nicht mehr hinein. Hayden, sein kleiner Bruder, hatte sich an sein Bein geklammert und beobachtete alles misstrauisch. Auch Jonas hatte seinen Weg zu uns gefunden. „Das ist die magische Welt.“

„Die magische Welt?“ Seraphine drängte sich neben ihren großen Bruder. „Das ist wirklich die magische Welt, von der ihr so oft erzählt?“

„Nein.“ Talita schüttelte den Kopf. In ihrer Stimme klangen Tränen mit. „Das ist die neue magische Welt. Und sie sind zurückgekehrt. Sie sind alle wieder da.“ 

Die Gruppe aus dem Dorf bewegte sich vorsichtig am Waldrand entlang und beobachtete uns voller Neugier und Argwohn. So viele. Es wurden immer mehr.

„Was meinst du damit, sie sind alle wieder da?“, wollte ich wissen.

„Najat.“ Sie zeigte auf einen kleinen Mann, dann zu einer wohl weiblichen Version des Wesens neben ihm. „Prisca.“ Ihr Finger wanderte weiter. „Tyge, Amo-te.“ Sie schluchzte auf. „Djenan.“

Ich schaute zu diesen Wesen und fragte mich, wie Talita in ihnen alte Bekannte erkennen konnte. Doch dann fielen mir ihre Unterschiede auf. Ihre Größen, kleine Makel, Macken in ihrer Haltung. Ihre Blicke. Auch ich bekam bei einzelnen von ihnen das Gefühl von Vertrautheit, als würde ich einen lange vermissten Freund wiedersehen.

Seitlich, ein wenig abseits von den anderen, stand ein großer Kerl. All meine Sinne schrien: ‚Gaio!‘ Vor ihm hockte wachsam eine kleine Frau, an der alles sagte: ‚Ich bin Saana.‘ Ich konnte es nicht richtig beschreiben, es war einfach ein Gefühl, und ich wusste, dass es richtig war. Aber da waren auch so viele andere, die ich nicht kannte, Fremde, die mir nie begegnet waren.

Die Welt wird ein Phönix sein. Altersschwach wird sie sich selbst vernichten, um dann aus der Asche neu zu erstehen.

… Und auch all die zurückbringen, die wir verloren geglaubt hatten. In diesem Moment wurde mir klar, dass die Magie die Mortatia nicht zerstört und ins Nichts geschickt hatte. Sie hatte sie sich nur zurückgeholt und bei sich verwahrt, um sie anschließend in die neue Welt bringen zu können. Das war so, als würde sie die Leute einige Zeit lang auf Eis legen. Aber die Wesen der alten Welt passten nicht in die Neue, darum hatte die Magie sie neu erschaffen, obwohl sie die Gleichen waren, als die sie bereits existiert hatten.

Die magische Welt war wirklich ein Phönix. Aus all der Zerstörung und den Katastrophen hatte sich etwas Neues entwickelt, etwas anderes und Gutes.

Und dann wurde mir plötzlich etwas bewusst. „Wir können zurück“, flüsterte ich. „Wir können wieder in die magische Welt.“

Veith trat vor, riss Talita in seine Arme und drückte sie ganz fest an sich. Seine Augen schimmerten verdächtig, während er das Gesicht an ihrem Hals vergrub.

Kovu fiepte erneut.

„Wir können nach Hause.“ Ich schaute zu Askea auf, der die Landschaft mit grimmigen Blicken bedachte, und spürte die Wahrheit in meinen Worten. Hier in der Welt der Menschen war ich geboren worden, doch meine Heimat lag auf der anderen Seite des Spiegels.

Nun traten auch mir die Tränen in die Augen. „Wir können wirklich wieder nach Hause.“

Askea beugte sich vor und drückte mir einen seiner seltenen Küsse auf die Schläfe. Nun war es endlich so weit, wir konnten zurück in die Welt jenseits des Spiegels.

Währenddessen blickte Larysa mit gerunzelter Stirn zwischen den Erwachsenen hin und her und stemmte einmal mehr die dünnen Ärmchen in die schmale Hüfte. „Warum weint ihr denn alle?“

Ich lachte auf. Kinder waren doch etwas Wunderbares.

 

°°°°°

 

Ende vierter Teil

Jenseits des Elysium

 

„Hier Papa!“ Voller Begeisterung hielt Larysa ihrem Vater einen Becher aus gebranntem rotem Ton unter die Nase und hopste dabei ungeduldig von einem Bein aufs anderen.

„Haben wir selber gemacht“, fügte ihr sechsjähriger Zwilling Lucinda hinzu und klatschte begeistert in die Hände.

Wie es nun mal Askeas Art war, musterte er das bräunliche Getränk erst misstrauisch, überwand dann aber seinen Argwohn und nahm den Becher.

„Trink!“, forderten Larysa und Lucinda ihn unison auf.

Er verzog die Nase als würde etwas Unappetitliches darunter kleben. Aber er war ein echter Kerl und echte Kerle ließen sich ihren zimperlichen Eckel nicht anmerken. So nahm er den Becher an den Mund und stürzte das Getränk in einem Zug herunter ohne überhaupt zu wissen, was er da trank – ganz ehrlich, ich hätte das sicher nicht getan. Dann gab er den Zwillingen den Becher zurück und sah zu wie sie lachend durch den Garten wieder ins Haus verschwanden.

Mein Mundwinkel zuckte. „War es sehr schlimm?“

„Nicht schlimmer als deine Kochversuche.“

„Hey!“ Ich schlug ihm gegen die Schulter und lehnte mich dann auf meinem Liegestuhl zurück.

Hicks!

Verwundert schaute ich zu Askea.

Hicks!

Mein Mundwinkel zuckte. „Da hat wohl jemand Schluckauf.“

Hicks! Zusammen mit dem Zucken seines Zwerchfells schoss eine Flamme aus seiner Brust und tanze munter darüber. Askea starrte sie an, als hätte sie ihn persönlich beleidigt und ließ sie sofort wieder verlöschen.

Leider tauchte die Flamme mit dem nächsten Hickser wieder auf. Und nicht nur das, eine zweite gesellte sich auf seiner Schulter dazu.

Ich konnte mich nicht länger zurückhalten und lachte auf. Selbst sein böser Blick, der mich eigentlich in Angst und Schrecken hätte versetzen sollen, konnte daran nichts ändern. Tja, Dämonen waren auch vor den einfachen Dingen des Lebens nicht gefeit – auch wenn sie das gerne so hätten.

Meine zweijährige Violett dagegen, die auf dem Schoß ihres Vaters saß, fand die Flamme ganz interessant. Sie griff nach ihr, aber sie blieb auf seiner Brust. Sie versuchte es noch einmal. Es klappte wieder nicht. Daraufhin begnügte sie sich damit sich an den Papa zu kuscheln, die Hand in die Flamme zu legen und immer wieder den Zeigefinger zu heben, als wäre es äußerst interessant, wie er in dem Feuer aussah.

Da es nicht das erste Mal in meinem Leben war, dass ich eines meiner Kinder mit Feuer spielen sah, sollte man doch wohl annehmen, dass es mich nicht stören würde. Falsch gedacht. Obwohl stören hier nicht ganz das richtige Wort war. Auch heute noch fand ich den Anblick einfach nur besorgniserregend. Das konnte aber auch daran liegen, dass ich es jetzt sieben lange Jahre nicht hatte sehen müssen. Doch jetzt war alles anders.

Vor knapp sechs Wochen waren wir in die magische Welt zurückgekehrt – die neue magische Welt.

Nach meiner Entdeckung in Talitas Badezimmer, waren Veith und Kovu zu mehreren Ausflügen in die magische Welt aufgebrochen, einfach um zu erfahren, ob unsere Kinder dort sicher sein konnten, denn sie alle waren Mischlinge.

Bei meinen Kindern hatte ich wenig Bedenken, denn sie waren zum Teil Dämonen, aber Talitas Sohn Jonas stand auf einem ganz anderen Blatt. Wir hatten mehrere Wochen darüber debattiert und schlussendlich mit mehreren Tagesausflügen Versuche gestartet.

Jonas ging es gut, meinen Kindern ging es gut und ich war überglücklich. Endlich hatte ich die Magie wieder. Sie fühlte sich anderes an als früher. Damals war es immer wie ein Prickeln auf der Haut gewesen. Heute war es eher ein Streicheln von Samt – als wäre die Magie ruhiger geworden, anschmiegsamer. Wie eine Katze die früher gerne mal die Krallen gezeigt hatte, heute aber lieber kuscheln wollte.

Und natürlich war das auch nicht der einzige Unterschied zu früher. Nicht nur das Aussehen der Welt hatte sich geändert, auch alles andere. Hier war alles noch ein bisschen … naja, zurückgeblieben war das falsche Wort. Rückständig. Ja, das war besser. Die Gesellschaft in der magischen Welt war rückständig, denn die Wesen hier konnten die Magie nicht mehr so nutzen wie früher.

Sie war immer noch allgegenwärtig und durchdrang selbst die kleinsten Partikel, doch die Novus waren nicht in der Lage sie zu formen oder gar ihrem Willen zu unterwerfen – das konnten nur noch Faye und ich.

Die Welt hatte sich verändert. Früher hatten die Kontinente nur so vor einer Artenvielfalt gestrotzt. Heute gab es – von den Tieren einmal abgesehen – nur noch zwei Völker, wobei das eine davon sich in zwei Unterarten aufspaltete.

Die Novus. Jedes Wesen, das der Wende zum Opfer gefallen war, kam als ein Novus zurück.

Novus waren die dominierende Spezies in der magischen Welt. Sie hatten lange Gesichter und flache Nasen.  Ihre Augen waren groß und hatten immer eine gräuliche Farbe. Aber keine normale Farbe wie bei mir oder meiner Familie. In ihren Augen wohnte wallender Nebel, der unablässig tanzte und herumwirbelte. Schwarze mit Schuppen bedeckte Haut, wie bei einer Eidechse, oder einer Schlange. Und Novus hatten immer weißes Haar, was doch einen sehr starken Kontrast zu ihren Schuppen bildete. Und Schwänze. Novus hatten lange Schwänze mit einem flauschigen Pinsel am Ende.

Doch auch bei ihnen fand man Unterschiede. Nicht nur in Größe, Form und Aussehen, nein, es gab zwei Arten von Novus. Die einen hatten Kiemen, Schwimmhäute und eine aufklappbare Flosse auf dem Rücken, die anderen besaßen Flügel auf dem Rücken, ledernde Schwingen die ausgebreitet fast drei Meter maßen. Die meisten Leute in unserem kleinen Dorf an den Meerklippen waren Wasser-Novus‘.

Und dann gab es da noch die Obelisken, jene Wesen, die früher einmal als Dämonen durch diese Welt gestreift waren.

Ein Obelisk war das genaue Gegenteil von einem Novus. Das Aussehen war mehr oder weniger gleich, doch ihre Schuppen waren weis und ihr Haar schwarz. Sie besaßen weder Flossen noch Schwingen. Und im Gegenteil zu einem Novus blieben sie lieber für sich allein.

Was wir auch schon festgestellt hatten, die Obelisken waren blind – so mehr oder weniger. Sie konnten hell und dunkel unterscheiden und Silhouetten erkennen, doch sehen taten sie ganz anders. Obelisken hatten ein Gespür für ihre Umgebung. Es war wie ein Sonar, oder auch Schallwellen. Und damit nahmen sie Dinge wahr, die weit über das normale Auge hinausreichten.

In den Wochen, die ich bereits hier lebte, war ich nur zwei verschiedenen Obelisken begegnet. Draußen an den Klippen lebte einer, ein junger Mann. Er kam nur selten ins Dorf und hielt sich meistens von den Bewohnern fern.

Außerdem waren Obelisken die einzigen Wesen, die die Magie beeinflussen konnten – naja, abgesehen von mir und Faye – die andere Hexe, die sich mit mir zusammen hatte aus der alten magischen Welt retten können. Und ich glaubte, dass auch Lucinda und Larysa eines Tages Magie würden formen können. Meine anderen Kinder dagegen schienen eher nach Askea zu geraten. Bei Seraphine wusste ich das ja schon. Auch Violett hatte das Feuer ihres Vaters geerbt. Hayden war bisher noch nicht in Brand geraten, doch Feuer machte ihm nichts aus. Er konnte es anfassen, als sei es Wasser und dann einfach schulterzuckend zur Tagesordnung übergehen.

Den Zwillingen dagegen machte Feuer sehr wohl etwas aus. Als Violett ihre Schwester Lucinda beim Spielen mit einer Flamme berührt hatte, war das Ergebnis eine große Brandblase und ein halbstündiger Heulkrampf, den sich Larysa aus reiner Sympathie gleichmal angeschlossen hatte.

Als Askea erneut hickste, strich ich lächelnd über meinen geschwollenen Bauch. Ja, ich war immer noch schwanger, aber lange konnte es nicht mehr dauern. Genauer gesagt, hätte das Siebente meiner Kinder bereits vor elf Tagen auf die Welt kommen sollen.

Askeas Blick folgte der Bewegung meiner Hände. „Alles in Ordnung?“

„Keine Sorge, ich werde dir schon sagen, wenn etwas nicht stimmt.“ Besonders nachdem ich in den letzten Wochen immer mal wieder Krämpfe in den unteren Regionen hatte. Anfangs hatte ich noch gedacht die Geburt würde früher losgehen, aber das waren keine Wehen gewesen. Ich wusste nicht was es war und auch die Heilerin des Dorfes hatte es mir nicht sagen können. Sie konnte nur bestätigen, dass es dem Ungeborenen gut ging.

Askea jedoch beobachtete mich seit dem ersten Krampf wie ein Schießhund. Vor drei Tagen war er sogar kurz davor gewesen, mich in die normale Welt zurückzubringen.

Ich nahm es ihm nicht übel, er machte sich einfach Sorgen. Obwohl mich seine Bevormundung im Moment doch manchmal in den Wahnsinn trieb. Gestern hatte ich mir den Zeh gestoßen. Mein Zischen war noch nicht mal verklungen gewesen, da war Askea schon im Schlafzimmer und begann für unsere Rückreise zu packen. Ich hatte fast zwei Stunden gebraucht um ihn davon zu überzeugen, dass mein Schmerzenslaut nichts mit dem Baby zu tun gehabt hatte.

Hicks!

Lächelnd erhob ich mich von meinen Stuhl in unserem Garten. Dabei bewegte ich mich etwas schwerfällig.

Sofort fixierte Askea mich mit Adleraugen.

„Ich geh nur in die Küche um dir etwas gegen deinen Schluckauf zu holen.“

Seine Aufmerksamkeit wich nicht.

„Ein Löffel Zucker. Altes Hausmittel, dann bist du den ganze schnell wieder los.“

Seine Augen verengten sich leicht.

„Ich werde doch wohl noch in der Lage sein einen Löffel Zucker zu holen, ohne auf dem Weg in die Küche ein Kind zu bekommen.“ Kopfschüttelnd wandte ich ihm den Rücken zu. Als wenn ich mir mit einem Löffel Zucker deinen Bruch heben würde. Und davon abgesehen, ich war bereits vier Mal schwanger gewesen und wusste besser als er wie es sich anfühlte, wenn die Geburt kurz bevor stand. Heute würde ich mit Sicherheit kein Kind mehr bekommen – leider. Langsam war ich es wirklich leid schwanger zu sein.

Unser Haus war in einen Hügel oben an den Meerklippen gebaut worden. Die Steinmetze des Dorfes hatten das Gebäude wie die anderen direkt in den Stein gehauen und damit eine behagliche Atmosphäre geschaffen, die im Winter die Wärme drinnen und im Sommer draußen hielt. Da wir aber eine sehr große Familie waren, hatte das Gebäude nicht gereicht und so war in den letzten Wochen noch Steinblöcke herangeschafft worden, um dem Gebäude ein zweistöckigen Vorbau hinzuzufügen.

In der Zwischenzeit war das Haus fast fertig. Gott sei Dank. Nicht nur das die ganzen Bauarbeiten an meinen Nerven zerrten, wenn das Gebäude endlich fertiggestellt war, dann würden wir mit dem Bau von Fax‘ Haus beginnen können. Die Steinmetze würden es direkt neben unserem in den Felsen schlagen. Und wenn es fertig war, müsste ich Jiska nicht mehr jeden Tag ertragen.

Ja vielleicht war das fies von mir, aber Fax‘ Freundin trieb mich langsam aber sicher in den Wahnsinn. Sie war einfach … schamlos – und das musste vor den Kindern nun wirklich nicht sein.

Ich war gerade dabei mir auszumalen wie das Leben ohne meinen ältesten Sohn im Haus sein würde – der Gedanke gefiel mir nicht besonders – als ich ihn in meiner Küche vorfand, genau in einer so kompromittierenden Situation, weswegen ich Jiska aus dem Haus haben wollte.

Sie lehnte mit dem Rücken an der Anrichte. Fax stand direkt vor ihr, die Lippen auf ihrer Schulter und brannte sie. Seit wir wieder in der magischen Welt waren, tat er eigentlich nichts anderes mehr. Als wenn er endlich ein langes und tiefes Bedürfnis erfüllen konnte, dass ihm die letzten Jahre verwehrt geblieben war.

Das Problem an diesem Anblick war nicht dass er sie brannte – nein wirklich, daran störte ich mich ganz und gar nicht – es war Jiskas Hand, die bei meinem Sohn in den unteren Regionen rumspielte. Das war etwas, dass eine Mutter nun wirklich nicht sehen wollte.

„Fax! Jiska!“

Jiskas Hand verharrte.

Fax Gesicht wandte sich mir zu, ohne das brennen zu unterrechen. Er zog die Oberlippe hoch und fauchte mich an.

Ganz der Papa.

Ich stemmte die Hände in die Hüfte. „In meiner Küche? Habe ich euch das nicht bereits mehr als einmal verboten? Geht raus in den Wald, oder nach oben in das kleine Zimmer. Deine kleinen Geschwister müssen das nun wirklich nicht sehen und ganz ehrlich, mir würde ich diesen Anblick auch gerne ersparen!“

„Dann schau doch einfach nicht hin“, erwiderte Jiska ruhig.

Und das meine werten Damen und Herren war genau der Grund, warum ich langsam aber sicher eine Abneigung gegen die Freundin meines Sohnes entwickelte. Ungeduldig tippte ich mit dem Fuß auf. „Wie wäre es wenn du deine Hormone besser unter Kontrolle bekommst, Jiska. Und nimm endlich die Hand da weg, wenn du sie nicht verlieren willst.“

Ihr Augenlid zuckte. Es passte ihr nicht Befehle von einer anderen Frau entgegennehmen zu müssen. Aber in diesem Haushalt war ich eben das weibliche Oberhaupt und stand damit im Dämonenrang über ihr.

Fax löste seine Lippen sehr langsam von Jiskas Haut und starrte mich an, als wäre ich diejenige, die sich hier nicht zu benehmen wusste. „Mamá, ich habe dir schon mal gesagt …“

Platsch!

Erschrocken starrte ich zu Boden, als ein plötzlicher Schwall von Flüssigkeit an meinen Beinen herunterlief, der sich zu meinen Füßen sammelte. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, ob ich mir gerade tatsächlich vor meinem Sohn in die nicht vorhandenen Hosen gemacht hatte – ich trug einen Rock. Schon die ganze Woche hatte ich mich den Freuden einer milden Inkontinenz hingeben dürfen, aber dieses Mal hatte ich weder gelacht noch genießt, oder sonst etwas getan, was diese Pfütze rechtfertigte. Und die Flüssigkeit war nicht gelb, sondern rosig. Und sie roch auch nicht nach Urin.

Ich starrte die Pfütze eine geschlagene Minute an, spürte die Feuchtigkeit an meinen Innenschenkeln und kam zu dem Schluss: „Meine Fruchtblase ist gerade geplatzt.“

Als hätte mein Körper auf diese Erkenntnis gewartet, setzte in diesem Moment die erste Wehe ein. Ich krümmte mich leicht zusammen und hielt mich am Türrahmen fest, atmete gegen den vorübergehenden Schmerz an.

Fax eilte an meine Seite. Vergessen war Jiska und unser kleiner Disput.

„Hol deinen Vater“, wies ich ihn an, als er mir helfen wollte und schob ihn von mir. „Los, geh schon“, fügte ich noch hinzu, als er zögerte.

Ich atmete gegen den Schmerz und warte darauf, dass er vorbei ging. Es dauerte nur einen kurzen Moment. Dann war wieder alles in Ordnung. Naja, von meinen nassen Beinen einmal abgesehen.

„Wie war das ich werde doch wohl noch in der Lage sein einen Löffel Zucker zu holen, ohne auf dem Weg in die Küche ein Kind zu bekommen?“, knurrte Askea mich an, kaum dass er in meine Reichweite kam. Dann hickste er wieder und eine Flamme schoss aus seiner Wange. Fluchend wich er einen Schritt vor mir zurück, damit er mich nicht ausersehen verbrannte.

Lächelnd löste ich mich vom Türrahmen. „Ich war ja gar nicht mehr auf dem Weg in die Küche, ich befand mich bereits im Raum.“

Das brachte mir einen bösen Blick ein. Da war im Moment wohl jemand nicht gerade zu Scherzen aufgelegt. Seufz.

„Fax“, sagte Askea und reichte Violett an seinen Sohn weiter. „Geh und hol Talita.“

Ich horchte auf. „Talita? Bist du sicher?“ Er wollte meine Schwester zur Geburt hinzuziehen? Als ich damals mit den Zwillingen ins Krankenhaus fuhr und er aufgrund seines Aussehens nicht hatte mir mitkommen können, hatte er vor Frustration unsere halbe Küche in Brand gesetzt. Natürlich nicht mit seiner Magie – oder mir Absicht – nein, es geschah bei dem Versuch den Kindern etwas zum Frühstück zu machen.

Bei Hayden hatte ich mich dann für eine Hausgeburt entschieden, damit er dieses Mal dabei sein konnte. Talita hatte ihn sogar hautfarbend geschminkt und verkleidet, damit er als Mensch durchging und wir die Hebamme problemlos ins Haus lassen konnten. Askea hatte das Spiel mitgespielt, bis meine Wehen stärker geworden waren. Dann hatte er die Hebamme angefaucht und seine prächtigen Fänge präsentiert. Die Frau war so erschrocken gewesen, dass sie sofort Reißaus genommen hatte. Seitdem hatte ich auch auf Nachfragen nichts mehr von ihr gehört.

Als Violett sich dann ankündigte, hatte ich mir gar nicht erst die Mühe gemacht meine Hebamme zu verständigen, oder sogar ins Krankenhaus zu fahren. Ich war einfach ins Schlafzimmer gegangen und bekam dort mein Kind mit Askeas Hilfe. Es war die entspannende Geburt die ich bis dahin jemals durchgestanden hatte.

Während eines unserer Kinder das Licht der Welt erblickte wollte Askea einfach niemanden zu mir lassen und jetzt wollte er, dass Talita dabei war?

„Ich kann dich nicht anfassen“, erklärte Askea und drängte mich dazu meinen Hintern endlich ins Schlafzimmer zu bewege. „Der blöde Schluckauf – Hicks!“ Eine Flamme schoss aus seinem Handrücken.

„Ich versteh schon.“

Ich versuchte meine Belustigung zu verbergen, während Fax sich auf den Weg zum Dorfrand machte und ich mich mit Askea auf den Fersen ins Schlafzimmer verzog.

Gerade als ich mich ins Bett sinken lassen wollte, begann die nächste Wehe. Sieben Minuten seit der Letzten, das war nicht wirklich viel.

Ein leichtes Unwohlsein entstand und wurde schon bald zu deutlich erkennbaren Wehen. Immer wenn ein neuer Stich des Schmerzes durch meinen Unterleib zuckte, machte Askea einen Satz in meine Richtung, nur um gleich darauf wieder vom Bett zurückzuweichen und unruhig im Zimmer auf und ab zu laufen. In seinen Augen dauerte es wohl eine Ewigkeit bis mein Zwillingsschwester Talita im Türrahmen auftauchte.

„Fax hat gesagt –“

Askea war es ziemlich egal was Fax gesagt hatte. Er packte Talita einfach am Arm und drapierte sie am Fußende meines Bettes. „Hilf ihr“, befahl er und trat wieder zurück. Keine Sekunde zu früh, denn kaum hatte er sie losgelassen, als der Schluckauf sich wieder bemerkbar machte. Dieses Mal geriet sein ganzer Arm in Brand.

Talita trat ein Schritt zurück, während Askea sichtlich genervt seinen Arm schüttelte, bis die Flammen erloschen waren.

„Was haben die Mädchen in dieses verdammte Getränk getan?!“, grollte er.

Das war eine ausgezeichnete Frage.

„Äh“, machte Talita und wandte sich ihrem Schwager zu. „Ich habe keine Ahnung wie man Kinder auf die Welt bringt.“

„Du bist eine Frau.“ Hicks! Flamme am Unterbauch. Askea klopfte sie aus. „Du hast selber bereits ein Kind bekommen.“

Askeas Logik. Ich versuchte nicht zu lachen. Ehrlich. Okay sooo große Mühe gab ich mir nun auch wieder nicht.

„Veith weiß wie das geht.“ Talita zeigte zur offenen Tür, wo Veith neben Kovu stand.

Kovu war wieder in Menschengestallt. Schon bei seinem ersten Übertritt in die magische Welt hatte er sich verwandelt. Ich hatte noch nie jemanden vor Freunde so hoch in die Luft springen sehen.

„In seinem Rudel hat er zwei Babys auf die Welt gebracht“, fügte Talita noch hinzu.

Ach wirklich?

Als die nächste Wehe sich anbahnte, drehte ich mich zur Seite um den Schmerz ein wenig erträglicher zu machen. Fehlentscheidung. Ein heftiger Schmerz zuckte durch meine Gebärmutter und ließ mich zischend zurücksinken.

Talita eilte zu mir und ergriff meine Hand, während Veith wachsam in den Raum trat, als rechnete er damit von Askea sofort wieder rausgeschmissen zu werden.

Mein drakonischer Dämon fletschte die Zähne.

Veith blieb sofort stehen.

„Askea.“ Ich atmete heftig gegen den Schmerz. Das war eine verdammt hartnäckige Wehe. Selbst als sie vorbei war, spürte ich noch einen dumpfen Schmerz, der meine Situation nicht unbedingt angenehmer machte. Ein Schwall von neuer Flüssigkeit bahnte ich ihren Weg zwischen meinen Beinen in die Freiheit.

Das Lacken wurde feucht.

Hicks! Flamme.

„Hey du Nase“, sage Talita. „Ich bin auch nicht begeistert von dem Gedanken, dass mein Mann meine Schwester nackt sieht, aber wenn ich mich damit arrangieren kann, dann wirst du es wohl auch können. Hier geht es schließlich nicht um dich sondern um Tiara.“

Askeas Oberlippe sank ein wenig herab, während er den Mann meiner Schwester anstarrte, als wäre er schuld an diesem Desaster.

Eine weitere Wehe bahnte sich an.

Diesen Moment nutzte mein jüngerer Sohn Hayden, um den Kopf ins Schlafzimmer zu stecken. „Mama? Warum bist du so rot im Gesicht? Wirst du jetzt auch ein Dämon?“

Ach du liebe Güte.

„Fax!“, brüllte Askea und schob seinen Sohn aus dem Raum. Er hickste uns steckte damit beinahe Haydens Shirt in Brand. Zum Glück war mein Kind Feuerfest.

„Ja?“

„Kümmere dich um deine Geschwister.“ Er wartete gar nicht erst auf eine Erwiderung, sondern schlug die Tür gleich zu und sperrte damit auch Kovu aus. Dann sah er Veith an und zeigte auf mich. „Kümmere dich um sie.“

Veith lag etwas auf der Zunge, ich konnte es genau sehen. Doch er verkniff es sich, knurrte nur und ließ sich dann bei mir am Bettende sinken. „Keine Angst, wir schaffen das schon.“

„Ich habe keine Angst.“ Nein wirklich nicht, nicht mal die Geburt meiner Erstgeborenen hatte mir Angst gemacht. Ich war nur aufgeregt gewesen und das war ich auch jetzt wieder.

„Ich werde mal nachschauen, wie weit du bist.“

„Okay.“ Ich biss die Zähne zusammen. So langsam sprangen die Wehen von „Ist doch gar nicht so schlimm“ zu „Verdammt noch mal, das tut weh!“. 

Askea fauchte als Veith meinen Rock an der Seite Aufschnürte und in mir vorsichtig abstreifte.

Hicks!

„Ich glaube wir sollten mal etwas gegen deinen Schluckauf tun.“ Talita tippte sich nachdenklich gegens Kinn. „Auf dem Kopf stehend ein Glas Wasser trinken soll helfen. Soll ich dir ein Glas Wasser holen?“

Dafür bekam sie nicht nur von Askea einen schiefen Blick.

„Was denn?“ Sie zuckte unschuldig mit den Schultern. „Ich habe doch nicht verlangt, dass er in einem Tüllröckchen auf dem Dorfplatz Tango tanzen soll.“

Die Blicke wichen nicht.

Also langsam bekam ich das Gefühl, dass diese Situation sie nervöser machte als mich. Dabei war ich es doch die hier gleich untenrum freie Körperkultur pflegen würde um ein Kind auf die Welt zu bringen.

„Na okay. Was wäre dir dann lieber? Luft anhalten? In eine Tüte atmen? Oder in Löffel Zucker?“ Sie überlegte weiter. „Ich könnte dich auch erschrecken.“

Er schnaubte nur.

Ja eindeutig nervös. Genau wie bei der Geburt ihres eigenen Sohnes. Obwohl ihre Nervosität an diesem Tag ziemlich schnell in Aggression umgeschlagen war. Kurz bevor Jonas es endlich ans Tageslicht schaffte, hatte sie Veith verflucht und ihm erklärt, dass sie ihn mit einem Brotmesser kastrieren würde, sobald das alles vorbei war, damit er ihr das nie wieder antun konnte.

Da sie bis heute kein weiteres Kind bekommen hatte, war ich mich nicht sicher, ob sie ihre Drohung vielleicht wahrgemacht hatte. Ich würde mich hüten zu fragen.

„Gib mir mal eine Schere“, bat Veith seine Frau. Kaum hatte er sie in der Hand, schnitt er mir mein Höschen vom Leib. Die Falte zwischen seinen Augen wurde tiefer.

Die nächste Wehe ließ mich heftig fluchen. Die Abstände wurden nicht nur kürzer, die ganze Angelegenheit schmerzte auch zusehends mehr.

„Ablenkung sollte auch gegen Schluckauf helfen“, überlegte Talita. „Müsste die Geburt deines Kindes nicht Ablenkung genug sein?“

Ich spürte wie es wieder feucht zwischen meinen Beinen wurde. Das war doch nicht normal, oder hatte ich das falsch in Erinnerung?

Askea grollte leise. „Da dein Mann hier ist, kannst du wieder gehen. Wir brauchen –“

„Ich glaub wir haben ein Problem“, sagte Veith zu keinem Bestimmten im Raum, sorgte aber dafür, dass alle verstummten.

Bevor ich nachfragen konnte, bahnte sich die nächste Wehe an.

„Talita, geh Rem holen. Sofort.“

Meine Schwester fragte gar nicht weiter nach. Sie war so schnell nach draußen verschwunden, dass ich nur noch ihren Luftzug wahrnehmen konnte.

Askea nährte sich vorsichtig dem Bett. Seine Schultern waren vor Anspannung ganz starr. „Was ist los?“

„Ich bin mir nicht sicher. Aber hier ist Blut.“

Ich schaffte es mich durch die Wehe zu arbeiten. „Es ist doch immer ein bisschen Blut dabei“, versuchte ich die Männer und vor allen Dingen mich selber zu beruhigen.

Veiths Lippen wurden zu einem dünnen Strich. „Du darfst dich jetzt nicht aufregen, Tia. Aber etwas stimmt nicht. Es ist zu viel Blut.“

Askea bewegte sich auf das Bettende zu als hätte er das Laufen verlernt und starrte zwischen meine Beine. Langsam schloss er die Augen und atmete tief ein.

„Askea?“ Meine Stimme zitterte. Der Schmerz im Unterleib nahm zu. Das Baby bewegte sich, ich konnte es spüren.

„Alles wird gut.“ Ohne darüber nachzudenken nahm Askea den Platz von Talita ein, beugte sich über mich und nahm mich in die Arme.

Dieses Verhalten machte mir mehr Angst als seine Drohgebärden. „Was ist mit meinem Baby.“ Ich versuchte mich aufzurichten, aber er ließ es nicht zu. „Sag mir was los ist.“

„Wir müssen auf Rem warten“, erklärte Veith.

Askea nahm mein Gesicht zwischen die Hände und legte die Stirn gegen meine. „Hast du dich schon für einen Namen entschieden?“

Versuchte er jetzt etwa mich abzulenken? In diesem Moment? „Was ist mit dem Baby, Askea?“

Er ignorierte die Frage. „Ein Mädchen könnten wir Vinalia nennen.“

„Askea, bitte.“ Eine Träne sammelte sich in meinem Augenwinkel. Der Schmerz schwoll wieder an und ich musste mich durch die nächste Wehe kämpfen.

„Aliter ist ein guter Name für einen Jungen.“

Ein neuer Schwall Flüssigkeit tränkte das Bett.

Die Angst kam langsam, krallte sich aber mit unnachgiebiger Effizienz an mir fest.

„Sag mir …“ Oh Gott tat das weh. „Sag mir … was ist mit dem Baby?“

„Bis das obere Stockwerk fertig ist, müssen wir es erstmal mit ins Schlafzimmer nehmen.“

Oh Gott, warum sagte er mir nicht was los war?

Als Veith kurz verschwand und dann mit einer Schüssel Wasser zurückkam, war ich schon halb verzweifelt, doch auch er weigerte sich etwas zu sagen, bevor Rem auftauchte.

Es konnte nicht länger als zehn Minuten gedauert haben, bevor Talita wieder im Raum erschien, doch mir kam es wie mehrere Stunden vor.

Direkt hinter ihr folgte eine große Frau, eine Wasser-Novus.

Vor der Wende war sie eine Lykanerin gewesen, die Heilerin des Rudels von unter den Wolfsbäumen. Heute lebte sie zusammen mit den anderen Novus in einem ähnlichen Verbund. Allerdings fand man im Dorf an den Meerklippen nicht nur ein ehemaliges Rudel, sondern gleich sieben. Und nicht nur frühere Lykaner. Auch einstige Hexen, Magier, Elfen und viel andere lebten unter ihnen.

Dass wir genau hier gelandet waren als ich das neue Portal zum ersten Mal geöffnet hatte, erklärte Faye sich ganz einfach. Es war die emotionale Verbindung zu genau diesen Wesen, die die Magie dazu brachte uns direkt hier her zu führen, anstatt uns auf einem anderen Kontinent abzusetzen.

Dass es immer noch andere Kontinente gab, wussten wir von den Anwohnern. Wir waren vielleicht erst seit sechs Wochen zurück, doch die ersten Novus‘ waren bereits kurz nach der Apokalypse erschienen.

Die Magie hatte etwa zwei Jahre gebraucht um die Welt so weit zu regenerieren, dass wieder Leben möglich war. Wie schon früher schickte sie Obelisken aus und sobald es sicher genug war, kreierte sie die Novus. Sie hatten jetzt fünf Jahre Zeit gehabt, um sich mit der neuen Welt vertraut zu machen.

Als Talita den Raum betrat, stürzte sie sofort zu mir an die Bettkante und nahm meine freie Hand.

Rem nahm sich eine halbe Minute, um sich einen Überblick zu verschaffen. Sie war eine große Frau in den mittleren Jahren, die größte die ich wohl jemals gesehen hatte. Sie hatten einen wachen und scharfen Verstand und ihren Augen entging nur selten etwas. In ihrer Hand trug sie einen großen Leberbeutel. „Geh zur Seite“, forderte sie Veith auf und nahm sofort seinen Platz ein. „Wie geht es dir Tia?“, fragte sie, während sie sich über meinen Unterleib hermachte.

„Mein Baby, was ist mit meinem Baby?“ Der Schmerz einer neuen Wehe überrollte mich. Schwindel erfasste mich.

„Entspann dich, es wird alles gut.“

Ich spürte wie ihr Finger mich untersuchten und meinen Bauch abtastete.

Das Askea einfach still neben mir hockte und nichts weiter tat als mich zu beobachten, machte mir am meisten Sogen. Er knurrte nicht und drohte nicht. Es saß einfach nur da und schaute mir in die Augen.

„Das Baby liegt in der richtigen Position“, erklärte Rem mit einem ruhigen Lächeln wie nur Ärzte zu eigen war. „Der Muttermund hat sich bereits sieben Zentimeter geöffnet.“

Das war doch gut. Dann fehlte nicht mehr viel. „Und warum schauen dann alle, als läge ich auf dem Sterbebett?“ Ja, vielleicht war ich ein wenig hysterisch. Verklag mich doch.

„Du verlierst sehr viel Blut. Zu viel Blut.“ Sie blickte auf. Ihre Hände waren ganz rot und das sicher nicht, weil sie in Farbe gespielt hatte. „Wir müssen das Baby sofort holen.“

Askea gab ein ersticktes Geräusch von sich.

„Aber … was ist denn los?“

„Ich bin mir nicht sicher.“ Sie schwieg einen Moment. „In Ordnung, ich werde offen sein. Soweit ich es beurteilen kann geht es dem Baby gut, aber dir nicht.“

„Was?“

„Ich glaube deine Gebärmutter ist gerissen.“

Neben mir wurde es heiß. Askea hatte die Augen geschlossen, doch seine ohnmächtige Wut konnte er damit nicht verbergen. Das war ein Feind vor dem er mich nicht schützen konnte und das war etwas, was jeden Dämon von innen heraus auffressen konnte.

„Was bedeutet das?“, wollte Talita wissen. Ihre Stimme war sehr dünn und voller Sorge.

„Wir müssen operieren.“ Rem steckte ihre Arme in die Wasserschüssel neben dem Bett und wusch sie notdürftig. „Wenn du nicht sterben willst, Tiara, dann müssen wir es sofort tun.“

Sterben?!

Askea spannte sich an.

„Aber mein Baby …“

„Ihm wird nichts passieren. Du bist es um die ich mir im Moment Sorgen mache.“ Sie griff in ihre Tasche und holte in kleines grünes Fläschchen heraus, das sie mir hinhielt. „Trink das.“

Bevor ich mir überhaupt Gedanken darüber machen konnte, ob ich es nehmen sollte oder nicht, war Askea bereits auf die Beine gesprungen und hatte es ihr aus den Händen gerissen. „Was ist das?“

„Ein Schlafmittel. Ich kann sie nicht operieren, solange sie bei vollem Bewusstsein ist.“

Seine Faust war so fest um das Fläschchen gedrückt, dass ich schon befürchtete es würde brechen.

„Und mein Baby? Was wird aus meinem Baby?“

Rem beugte sich zu mir vor. Ich konnte die Nebel in ihren Augen wallen sehen. „Dein Baby ist nicht in Gefahr. Tiara, du bist es die sterben wird, wenn wir nicht sofort handeln.“

Oh Gott.

Kalte Angst begann mein Herz zuzuschnüren. Ich begann hektisch zu atmen. Die Ränder meines Sichtfeldes wurden schwarz.

Askea fauchte und als sich niemand von seinem Posten bewegte, ließ er seine Hand in Flammen aufgehen und schlug nach ihnen. Alle sprangen vom Bett fort und entfernten sich.

Dann war er wieder bei mir und drückte mir das Fläschchen in die Hand. „Trink. Sofort.“

Mit angstgeweiteten Augen starrte ich ihn an.

Er nahm mir die Flasche wieder aus der Hand, entkorkte sie und hielt mir den Trank an die Lippen. „Trink.“

„Ich habe Angst“, flüsterte ich. Was wenn ich wirklich starb? Konnte mein Baby dann überleben? Und was war mit meinen anderen Kindern? Und mit Askea? Ich wollte nicht sterben, nicht heute. Ich wollte noch ein langes und erfülltes Leben haben, wollte meine Kinder aufwachsen sehen und ihnen vielleicht sogar noch ein paar hinzufügen. Ich wollte Askeas Arme um mich spüren wenn ich einschlief, wollte seine warme Haut fühlen, und mich von seinem Geruch einwickeln lassen.

Ich wollte die Sonne noch viele Male aufgehen sehen, und nachts die funkelnden Sterne am Himmel beobachten. Ich wollte meinen Kindern ihre Wehwehchen wegpusten und sie lachend über die Wiese tollen sehen. Ich wollte wissen, wie es mit Fax und Jiska weiter ging, wann Seraphine sich zum ersten Mal verliebte, ob Larysa und Lucinda es irgendwann schafften mit dem Streiten aufzuhören und wann Hayden es sich abgewöhnte den Daumen in den Mund zu stecken. Ich durfte nicht sterben, nicht bevor Violett ihren ersten Satz gesagt hatte. Und schon gar nicht, bevor ich mein Ungeborenes in den Händen hielt. „Ich will nicht sterben.“ Tränen rannen mir aus den Augen und tropften auf das Laken.

„Du wirst nicht sterben“, versprach Askea und hob meinen Kopf, damit ich endlich trank.

Das Gebräu schmeckte bitter. Und es begann schon zu wirken, als der erste Tropfen meine Zunge berührte. „Geh nicht weg“, flüsterte ich benommen, als Askea mich zurück aufs Bett sinken ließ.

„Ich werde nicht von deiner Seite weichen.“

 

°°°

 

Ein leichtes Quengeln durchdrang den Nebel in meinem Kopf. Es war das Wimmern einer hilflosen Kreatur, die ihrem Leid keinen anderen Ausdruck zu verleihen wusste.

Ich versuchte die Augenlider zu öffnen. Sie waren schwer wie Blei und brauchten einige Überredungskunst, um sich meinem Willen zu beugen.

Blinzelnd schaute ich in das Licht der untergehenden Sonne. Die Schatten vor den Fenstern hingen tief und bereiteten sich auf die Nacht vor.

Ich lag in meinem Bett. Jemand hatte mich bis zum Hals zugedeckt. Mein Bauch … er war ganz flach.

Ich blinzelte.

Draußen konnte ich das Kreischen und das Lachen von Kindern hören. Meine Kinder. Sie spielten im Garten. Kovu rief etwas und das freudige Kreischen wurde lauter.

Erneut drang das Geräusch eines kläglichen Wimmerns an mein Ohr.

Ich drehte den Kopf.

Neben mir auf dem Rücken lag Askea. Sein Kopf war zur Seite gesunken, der Mund leicht geöffnet. Unter seinen Augen lagen tiefe dunkle Ringe. Auf seiner Brust, schützend in seinen Armen lag ein Kokon aus Decken. Das Wimmern kroch unter den Schichten des Stoffes hervor.

Mein Hirn wollte nicht so recht in Fahrt kommen, daher brauchte ich einen Moment, um mir bewusst zu werden, was ich hier sah und was geschehen war. Die Wehen. Viel zu viel Blut. Der Schlaftrunk.

Sehr vorsichtig, um Askea nicht zu wecken, zog ich meine Arme unter der Decke hervor und hob sie an.

Ich war nackt. Mein Bauch war dick verbunden und schmerzte leicht. Und ich war ganz eindeutig nicht mehr schwanger. Keine Spur von Blut.

Leise ließ ich die Decke wieder sinken und rutschte auf dem Bett ein Stück nach oben. Schmerz zuckte durch meinen Bauch. Ich biss die Zähne zusammen. Askea sah so fertig aus, dass ich ihn nicht wecken wollte. Er brauchte den Schlaf.

Die Matratze wippte leicht, als ich noch höher rutschte und mich dann über das Bündel in Askeas Armen beugte. Ich konnte nur einen Kopf sehen aber … was war das? Das Gesicht des Babys war grau. Hohe Stirn, flache Nase, große offene Augen. Weiße Augen. Blinde Augen.

Ich streckte die Hand aus um die Decke ein wenig zur Seite zu schieben.

In dem Moment schoss Askeas Arm hoch und fing mich am Handgelenk ab, als hätte er mir einer Gefahr gerechnet und versuchte instinktiv das Baby in seinen Armen zu schützen.

Er blinzelte einmal, als müsste er noch den Schlaf vertreiben. Dann gab er mich frei und nutzte seine Hand dazu sie auf meine Wange zu legen. „Dir geht es gut.“ In diesen vier Worten schwang so viel Erleichterung mit, dass ich nicht umhin kam mich zu fragen, wie knapp es gewesen war.

Das leise Quengeln in Askeas Armen wurde stärker.

Er richtete seinen Blick darauf und wiegte das Bündel in seinem Arm leicht.

„Was ist passiert?“, fragte ich und schob die Decke aus dem Gesicht des Babys. Es hatte wirklich einen grauen Kopf. Graue Schuppen um genau zu sein. Spitze Ohren und einen schwarzen Haarflaum. „Ist das –“
„Unser Sohn.“ Askea richtete sich auf und legte das kleine Bündel vorsichtig in meine Arme. „Du musst ihm noch einen Namen geben.“

Mein Sohn? „Aber … er sieht aus wie ein Novus.“ Ein grauer Novus. Obwohl er auch Merkmale der Obelisken aufwies.

„Es ist die Magie“, erklärte Askea leise. „Als wir in diese Welt kamen, haben wir nicht nur unser Aussehen behalten, sondern auch unsere Fähigkeiten zurückbekommen. Das Ungeborene schein jedoch von der Magie beeinflusst worden zu sein, solange es in deinem Bauch war. Sie hat ihn verändert und zu dem gemacht, was auch alle anderen sind.“

„Ein Novus?“ Aber ich hatte bereist Babys der Novus gesehen und die sahen nicht so aus.

„Hätten wir die magische Welt damals nicht verlassen, wärst du ein Novus geworden und ich –“

„Ein Obelisk.“ Ich wiegte das Baby in meinen Armen ein wenig. „Also ist unser kleiner Mann eine Mischung aus dem was wir hätten sein sollen?“

„So hat Rem es erklärt.“ Er richtet seinen Blick auf mich. „Wie geht es dir?“

„Gut.“ Ich strich über die babyglatte Wange. „In bisschen schwach.“

Er nickte, als hätte er nichts anderes erwartet.

„Und dir? Du siehst müde aus.“

„Ich hab nicht viel geschlafen.“ Er streckte sich neben mir aus, schlag die Arme um meine Mitte und vergrub sein Gesicht an meiner Hüfte. „Es tut mir leid.“

Ich löste eine Hand von meinem Baby und legte sie ihm an den Kopf. „Du hast doch nichts Falsches gemacht.“

Seine Schultern spannten sich leicht an. „Ich musste eine Entscheidung treffen.“

Mein Daumen strich über den Rand seines Ohres. Eine Gänsehaut bildete sich auf seiner Haut. „Was für eine Entscheidung?“

„Du lagst im Sterben.“

Okay, langsam machte er mir Angst. „Ich lebe noch Askea, und mir und meinem Sohn geht es gut. Das ist doch das Wichtigste, oder?“

Er antwortete nicht, drückte mich nur noch fester an sich.

„Askea?“

„Du kannst keine Kinder mehr bekommen.“

Was? Ich runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“

Sehr langsam löste Askea sich von mir und stützte seinen Oberkörper auf seinem Arm am. „Rem hatte recht gehabt, deine Gebärmutter war gerissen. Sie musste sie entfernen, damit du nicht verblutest. Sie hätte auch versuchen können sie zu nähen, aber das war sehr riskant. Rem sagte, die einzige Möglichkeit dein Überleben zu sichern ist die Gebärmutter zu entfernen. Also hab ich ihr gesagt, dass sie es tun soll.“

Die Worte brauchten eine Weile, bis ihre Bedeutung in mein Hirn einsickerte. Wenn ich keine Gebärmutter mehr hatte, konnte ich nicht mehr schwanger werden und wenn ich nicht mehr schwanger werden konnte, dann konnten wir keine weiteren Kinder bekommen. Nie mehr.

Eine Träne sickerte mir aus dem Augenwinkel.

„Nicht weinen.“ Askea richtete sich auf und zog mich in seine Arme. Mein Kopf kam an seiner Brust zur Ruhe. Ich konnte seinen Herzschlag hören. „Es ist nicht so schlimm.“

Doch es war schlimm und das wussten wir beide. Ich meine, es war ja nicht so dass wir noch keine Kinder hatten. Gerade in diesem Moment hielt ich sogar eines in meinen Armen, ein wunderbarer kleiner Junge den wir genauso lieben würden wie unsere andern Kinder. Was es schlimm machte, war auch nicht dass wir keine weiteren mehr bekommen konnten. Was mir in diesem Moment das Herz zuschnürte war der Verlust der Möglichkeit. Wir konnten uns weder für noch gegen weitere Kinder aussprechen.

Diese Entscheidung war uns vom Schicksal abgenommen worden. „Wie …“ Ich versuchte den Kloß in meinem Hals runterzuschlucken. Ging nicht, er hing fest. „Wie ist das passiert? Wie konnte meine Gebärmutter einfach reißen?“

„Da gibt es mehrere Möglichkeiten.“

Mehrere? War es etwas meine Schuld? „Welche?“

Er schwieg.

„Willst du es nicht sagen?“

„Es tut nichts mehr zur Sache.“ Sein Daumen strich über meine Schulter.

Auch wenn er es sagte, es bedrückte ihn genauso sehr wie mich. Wir durften nie wieder dieses Glück erfahren.

Ein leises Klopfen an der Tür durchbrach die Stille. Gleich darauf steckte Talita ihren Kopf ins Zimmer. „Hey, du bist ja wach.“ Sie zögerte einen Moment, kam dann aber in den Raum hinein. „Dann braucht ihr die wohl nicht mehr.“ In ihrer Hand hielt sie eine Babyflasche.

Eigentlich stillte ich meine Kinder immer, aber da ich die letzten Stunden außer Gefecht war, hatten sie den kleinen Mann auf die Art füttern müssen. „Kann ich denn schon stillen? Ich hab schließlich diesen Schlaftrunk zu mir genommen.“

„Rem hat gesagt, dass du ihn stillen kannst, wenn du möchtest. Der Trank ist kein Problem.“

In meinen Armen war wieder ein kleines Wimmern zu hören, als wollte er uns mitteilen, dass er genau das jetzt erwartete.

Ich löste mich von Askea und tat was von der Natur so gedacht war.

Talita löste sich von der Tür und schlenderte zum Bett. Sie ließ sich auf die Kante sinken und ignorierte Askeas warnendes Knurren. So viel Angst wie in der Anfangszeit ihrer Bekanntschaft machte er ihr nicht mehr. Sie waren nun seit sieben Jahren eine Familie und da sie ihre Erinnerungen in die neue magische Welt hatte mitnehmen können, wusste sie wann sie seine Drohgebärden schlichtweg übergegen konnte.

„Wie geht es dir?“, fragte sie.

„Ganz gut.“ Der kleine Mann brauchte etwas, bis er richtig andockte. Dann spürte ich das vertraute Ziehen. „Nur ein bisschen müde.“

„Kann ich mir vorstellen.“ Sie beobachtete den Kleien in meinen Armen. „Hab ihr euch jetzt schon für einen Namen entschieden?“

„Nein, wir …“ Ich stockte. „Doch.“

Talita wartete. „Und der lautet?“

Ich grinste Askea an. „Aliter.“

Seine Augen glommen auf. Eine kleine Flamme tanzte in ihnen.

„Ja, ich habe zugehört.“ Ich bewunderte meinen kleinen Jungen. Aliter.

„Das ist … äh …“ Talita verstummte.

„Ein Dämonenname.“ Ich grinste.

Draußen vor der Tür wurde Fußgetrammpel laut. Im nächsten Moment späten die Köpfe von Larysa und Lucinda durch den Türspalt.

„Sie ist wach“, flüsterte Lucinda.

„Dann lass uns den Saft für sie holen.“

Und schon waren sie wieder weg.

„Saft?“ Fragend sah ich zwischen meinem Mann und meiner Schwester hin und her.

Askea verzog das Gesicht. „Sie haben das kochen für sich entdeckt. Naja, eigentlich kreieren sich nur Getränke.“

„So wie das für dich?“ Mein Mundwinkel zuckte nach oben. „Der Schluckaufsaft.“

So wie Askea mich anschaute, fand er es nicht besonders witzig.

Ich jedoch grinste und lehne mich mit dem Rücken gegen seine Brust. Ja, vielleicht war uns etwas genommen worden, aber das wichtigste in diesem Moment war das was uns Geschenkt wurde: Eine Zukunft.

 

°°°°°

Danksagung

 

Um so eine Geschichte zu schreiben, reichen nicht allein die Idee und ein Autor. Es gibt viele Menschen die bei der Entstehung helfen und die Umsetzung erst möglich machen. Daher geht mein ganz besonderer Dank an meine Betaleserin Marina Raisch, die mir während des Schreibprozesses die ganze Zeit mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat. Außerdem gilt mein Dank dem Team von Bookrix, das mir immer wieder eine helfende Hand gereicht hat.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.01.2016

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /